Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428425341, 9783428025343

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Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428425341, 9783428025343

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Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Band 1

Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland Von

Joseph Listl

Duncker & Humblot · Berlin

JOSEPH

LISTL

Das Grundrecht der Religionsfreiheit i n der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland

Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Ernst Friesenhahn · Alexander Hollerbach Hans Maier · Paul M i k a t · Klaus Mörsdorf · Ulrich Scheuner

Band 1

Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland

Von

Joseph Listi

D U N C K E R & H U M B L O T / B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1971 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1971 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02534 2

Vorwort Diese Arbeit hat i m Sommersemester 1970 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation vorgelegen. Für die Drucklegung konnten die Gerichtsentscheidungen, soweit sie bis zum 1. J u l i 1971 publiziert worden sind, noch berücksichtigt werden. Der Verfasser dankt allen seinen Bonner Rechtslehrern. A n erster Stelle und i n hervorragendem Maße gilt dieser Dank seinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Ulrich Scheuner, der das Interesse des Verfassers entscheidend auf das Gebiet des Staatskirchenrechts gelenkt, diese Arbeit angeregt und ihre Abfassung mit vielfältigem Rat, stets gleichbleibender Freundlichkeit und helfender Bereitschaft gefördert hat. Für bleibende Anregungen weiß sich der Verfasser auch Herrn Bundesverfassungsrichter a. D. Professor Dr. Dr. h. c. Ernst Friesenhahn dankbar verbunden, dessen ebenso kritischem wie diskussionsfreudigem öffentlich-rechtlichen Seminar er viele Jahre als Mitglied angehört hat. Wertvolle Hinweise und vielfache Unterstützung verdankt der Verfasser Herrn Dr. Heiner Marré, Essen, und Herrn Dr. Karl-Eugen Schlief, Münster. Bei der Herstellung der Register und beim Lesen der Umbruchkorrektur hat Herr Referendar Rudolf Seiler den Verfasser tatkräftig unterstützt. Dafür sei ihm, ebenso wie Herrn Ministerialrat Harald Kirchner, dessen Hilfe sich der Verfasser bei der Korrektur der Umbruchbogen erfreuen durfte, an dieser Stelle herzlich gedankt. Nicht zuletzt dankt der Verfasser Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, für die freundliche Bereitschaft, die Reihe Staatskirchenrechtliche Abhandlungen i n das Verlagsprogramm seines Hauses aufzunehmen. Bonn, i m September 1971 Dr. Joseph Listi

Inhaltsverzeichnis ERSTER A B S C H N I T T

Grundlegung Die Religion im modernen demokratischen Staat

Erstes Kapitel Zielsetzung und methodische Vorbemerkungen 1. Aufgabenstellung

1

2. Methodik

2

3. Beschränkung auf die Religionsfreiheit als staatliches Grundrecht

4

Zweites

Kapitel

Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates 1. Der Grundsatz der Nichtidentifikation 2. Religionsfreiheit u n d Toleranz

5 10

a) Der unterschiedliche Gehalt von Religionsfreiheit u n d Toleranz

10

b) Toleranz als Gruppenrecht i n der modernen Demokratie

11

3. Religiöse Neutralität und staatliche Indifferenz

Drittes

15

Kapitel

Die Religionsfreiheit in den modernen Verfassungen 1. Der Schutz der Religionsfreiheit i n den außerdeutschen Verfassungen

19

2. Der Schutz der Religionsfreiheit i m Grundgesetz

23

3. Der Schutz der Religionsfreiheit i n der Deutschen Demokratischen Republik

24

VIII

nsverzeichnis Viertes

Kapitel

Die Sicherung der Religionsfreiheit durch internationale Konventionen I. Die Sicherung der Religionsfreiheit i n den Friedens Verträgen des ] 7. u n d 18. Jahrhunderts I I . Der Völkerbund

26 28

I I I . Die Vereinten Nationen

29

1. Die „Allgemeine E r k l ä r u n g der Menschenrechte"

29

2. Konventionen i m Rahmen der Vereinten Nationen

31

a) Die Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung aller Formen religiöser Intoleranz

31

b) Die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen

32

I V . Die Europäische Menschenrechtskonvention

34

1. Die rechtliche Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention

34

2. Der Schutz der Religionsfreiheit i n der Europäischen Menschenrechtskonvention

35

a) Der normative Gehalt des A r t i k e l s 9 der Europäischen M e n schenrechtskonvention

35

b) Entscheidungen auf der Grundlage des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention

39

Fünftes

Kapitel

Das Verständnis der Religionsfreiheit im Bereich der christlichen Kirchen I. Die Stellungnahmen der Vollversammlungen des ökumenischen Rates der Kirchen

44

1. Die Erste Vollversammlung i n Amsterdam 1948

44

2. Die D r i t t e Vollversammlung i n Neu-Delhi 1961

46

3. Die Vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen i n Uppsala 1968

48

I I . Die E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils

48

1. Der I n h a l t der E r k l ä r u n g

48

2. Die geschichtliche Bedeutung der „Declaratio de übertäte religiosa"

50

IX

Inhaltsverzeichnis ZWEITER ABSCHNITT D i e Religionsfreiheit als Individualgrundrecht A. I m

Bereich

des ö f f e n t l i c h e n

Rechts

Sechstes Kapitel Inhaltliche Bestimmung und Grenzen des Grundrechts der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit I. Das Grundrecht der Religionsfreiheit i m öffentlich-rechtlichen waltverhältnis der Strafhaft

Ge-

1. Die Grenzen zulässiger Glaubenswerbung

54 54

a) Religion als Rechtsbegriff

56

b) Verfassungsrechtlich zulässige Formen religiöser Betätigung ..

57

c) Mißbräuchliche Formen religiöser Betätigung

58

* d) Schranken religiöser Betätigung

60

e) Die einzelnen Elemente des Grundrechts der Religionsfreiheit .. 2. Die Glaubensfreiheit als uneinschränkbarer Grundrechts der Religionsfreiheit

Kernbereich

des

62 64

3. Zulässigkeit modaler Einschränkungen der Ausübung der Bekenntnisfreiheit während der Strafhaft

65

I I . Unzulässigkeit exzessiver Glaubenswerbung i n anderen öffentlichrechtlichen Sonderstatusverhältnissen

68

1. Glaubenswerbung eines Polizeivollzugsbeamten i n seinem Dienstbezirk außerhalb der Dienstzeit

68

2. Unzulässigkeit fachfremder weltanschaulich-missionarischer kussionen eines Lehrers an höherer Schule

74

Dis-

3. Glaubenswerbung bei Lehrlingen durch den Lehrherrn i m Rahmen des Ausbildungsverhältnisses

76

I I I . Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Pflichten v o m religiösen Bekenntnis

81

1. Eidespflicht

81

a) Die Leistung des Eides keine ihrem Wesen nach sakrale Handlung

81

b) Verpflichtung barungseid)

83

zur

Eidesleistung

im

Zivilverfahren

(Offen-

c) Verpflichtung zur Leistung des Zeugeneides i m Strafverfahren

84

d) Zulässigkeit des Verfassungseides f ü r Beamte u n d Angestellte des öffentlichen Dienstes

85

X

nsverzeichnis 2. Gerichtliche Handlungen an religiösen Feiertagen und vor religiösen Symbolen a) Keine Verpflichtung zur Beschwerdeeinlegung für Staatsbürger am Sabbat

jüdischen

89 89

b) Keine Verpflichtung f ü r jüdischen Staatsbürger zu gerichtlicher Aussage am Sabbat

90

c) Zulässigkeit einer Vorladung zum Verkehrsunterricht für christliche Staatsbürger an Sonntagen

91

d) Unzulässigkeit einer Zeugnisverweigerung wegen Ausstattung der Gerichtsstätte m i t einem religiösen Symbol

92

I V . Die Freiheit des Gewissens i n A r t . 4 Abs. 1 GG

94

1. Die Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG keine allgemeine Protektion des Gewissensvorbehalts

94

2. Einzelfälle der Rechtsprechung

97

a) Weigerung zur M i t w i r k u n g bei Spruchkammertätigkeit aus Gewissensgründen

97

b) Verweigerung der E r f ü l l u n g rechtlicher Verpflichtungen aus Gewissensgründen

99

aa) Aussagverweigerung über politische Betätigung während der NS-Zeit

99

bb) Gehorsamsverweigerung eines Polizeibeamten aus Gewissensgründen

99

cc) Verschweigen früherer Tätigkeit i n Fragebogen durch Beamten 100 dd) Urnenbestattung auf Privatgrundstück

101

ee) Ablehnung der Übernahme des allgemeinen ärztlichen N o t dienstes durch Facharzt f ü r Nervenkrankheiten 103 c) Verweigerung der Vornahme oder Duldung medizinisch-somatischer Eingriffe aus Gewissensgründen 105 aa) Röntgenreihenuntersuchungen

105

bb) Pockenschutzimpfung

108

cc) Verweigerung der Zustimmung zur Vornahme lebensnotwendiger Blutaustauschtransfusion an K i n d durch sorgeberechtigten Vater 109 dd) Verweigerung der Veranlassung einer Bluttransfusion an lebensgefährlich erkrankter Ehefrau durch Ehemann 111 V. Anhang: Wehrdienst- u n d Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen 114 1. Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung des A r t . 4 Abs. 3 GG 114 a) Begriff des Gewissens i n A r t . 4 Abs. 3 GG b) Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Grundrecht Kriegsdienstverweigerung des A r t . 4 Abs. 3 GG

114 der

117

nsverzeichnis aa) Anforderungen an eine echte Gewissensentscheidung

117

bb) Säkularer Gewissensbegriff

121

2. Die Verweigerung des Wehrersatzdienstes

125

a) Die Bedeutung der Rechtsprechung zur Wehrersatzdienstverweigerung f ü r das Gebiet der Religionsfreiheit 125 b) Keine Gewährleistung der Wehrersatzdienstverweigerung A r t . 4 Abs. 3 u n d A r t . 4 Abs. 1 GG

in

126

c) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Bestrafung der Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes 129 d) Unzulässigkeit der Mehrfachbestrafung von Wehrersatzdienstverweigerern 133 Siebentes Kapitel Unabhängigkeit der statsbürgerlichen Rechtsstellung vom religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis I. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Parität 137 I I . Ausnahmeregelungen von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Gleichbehandlung aller Staatsbürger i m Ämterrecht u n d i n der E r f ü l l u n g staatsbürgerlicher Pflichten 138 1. Ausnahme von der Verpflichtung des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität i m Bereich der Schule 139 a) Lehrer der Theologie an staatlichen Hochschulen

139

b) Besetzung der Lehrstellen an Gemeinschaftsschulen nach dem Verhältnis der konfessionellen Zusammensetzung der Schülerschaft 141 c) Zulässigkeit der Einrichtung von Minderheitenlehrerstellen an Bekenntnisschulen 143 d) A m t eines Schulrats nicht konfessionsgebunden e) Die Stelle eines Schulleiters an christlicher schule ein nicht konfessionsgebundenes A m t f) Nicht konfessionsgebundene Schulpflegschaft

öffentliche

145 Gemeinschafts-

Ehrenämter

in

der

147 149

g) Recht einer freireligiösen Studentin auf Aufnahme i n konfessionell ausgerichtete pädagogische Akademie 150 h) Kirchenrechtlich ungültige Ehe kein Mangel der „Eignung" für an bayerischer Bekenntnischule unterrichtende L e h r k r a f t 154 i) Kirchenrechtlich ungültige Ehe als Mangel der „Eignung" für Beförderung zum Schulleiter eines an nordrhein-westfälischer Bekenntnisschule unterrichtenden Lehrers 157 k) Die Lehrtätigkeit an christlichen Gemeinschaftsschulen als konfessionell gebundenes A m t 159 2. Ausnahmen von der Verpflichtung des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität i m Bereich der Wehrpflicht 162

XII

nsverzeichnis a) Die Frage der Wehrpflichtbefreiung geistlicher Amtsträger der Zeugen Jehovas 162 aa) Die „Funktionstheorie" des Landesverwaltungsgerichts Düsseldorf 163 bb) Die „Standestheorie" des Bundesverwaltungsgerichts

165

b) Keine Verpflichtung zum Wehrdienst f ü r Prediger der „Gemeinde Gottes" 168 c) Keine Verpflichtung zum Wehrdienst für hauptamtliche Sonderpionierverkündiger u n d Missionsverkündiger der Zeugen Jehovas 169 3. Weitere Fälle zulässiger Berücksichtigung der Konfessionszugehörigkeit durch staatliche Behörden 172 a) Einweisung eines konfessionslosen Mieters durch Wohnungsbehörde i n Pfarrhaus 172 b) Berücksichtigung eines kirchlichen Ehrenamtes bei der Strafzumessung 174 Achtes Kapitel Verbot der Anwendung staatlicher Machtmittel zur Erfüllung kirchlicher Forderungen I. Grundsatz der Unzulässigkeit der Erforschung der religiösen Überzeugung der Staatsbürger durch staatliche Behörden 176 1. Das Recht der Staatsbürger zum Verschweigen religiöser Auffassungen 176 2. Ausnahmen v o m verfassungsrechtlichen Frageverbot nach der Religionszugehörigkeit 177 a) Religionsangabe bei der Meldebehörde

177

b) Religionsangabe auf der Lohnsteuerkarte

179

c) Offenbarungspflicht dienstverweigerern

religiöser

Gewissensgründe bei

I I . Staatliche Regelungen des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts

Kriegs-

180 181

Vorbemerkung: Kirchenmitgliedschaft i m rechtlich-formalen Sinn . . 181 1. Der E i n t r i t t i n eine Religionsgemeinschaft

181

a) Der E i n t r i t t bei Minderjährigen ohne persönliche Willenserklärung 181 b) Erwerb der Mitgliedschaft i n einer Religionsgemeinschaft bei Religionsmündigen n u r durch ausdrückliche Willenserklärung 184 c) Begründung der Mitgliedschaft ohne ausdrückliche Willenserklärung, lediglich durch Abstammung und Wohnsitznahme 185 2. Der A u s t r i t t aus einer Religionsgemeinschaft

187

a) Die rechtliche Bedeutung des staatlich geregelten Kirchenaustritts 187

nsverzeichnis b) Formvorschriften

188

c) Der Kirchenaustritt als höchstpersönliche Angelegenheit

189

d) Der Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Austrittserklärung

190

e) Unzulässigkeit erklärungen

196

sogenannter

„modifizierter"

3. Feststellung der Zugehörigkeit zu einer durch staatliche Gerichte

Kirchenaustritts-

Religionsgemeinschaft

a) Feststellung der Mitgliedschaft

200 200

b) Unzulässigkeit der Uberprüfung der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses aus einer Religionsgemeinschaft 201 c) Zulässigkeit einer Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der Mitgliedschaft i n einer Religionsgemeinschaft 202 d) Feststellung der Kirchenmitgliedschaft durch staatliche Gerichte bei zwischenkirchlichen Streitigkeiten innerhalb der evangelischen Gliedkirchen 204 aa) Wohnsitzwechsel v o m Gebiet der Evangelischen Kirche der altpreußischen U n i o n nach Hannover 204 bb) Wohnsitzwechsel von Mecklenburg nach Nordbaden

205

e) Feststellung der Religionszugehörigkeit von K i n d e r n aus geschiedenen Ehen durch staatliche Gerichte 208 I I I . . Staatlicher Schutz der Sonn- u n d Feiertage

210

1. Arbeitsruhe an staatlich geschützten kirchlichen Feiertagen

210

2. Verbot öffentlicher lichen Feiertagen

213

Tanzveranstaltungen an bestimmten kirch-

Neuntes

Kapitel

Rechtsnatur und Grenzen des kirchlichen Besteuerungsrechts 1. Bedeutung der Rechtsprechung zum Kirchensteuerrecht für das Grundrecht der Religionsfreiheit 217 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Kirchensteuer

218

a) Die Kirchensteuer als gemeinsame Angelegenheit von Staat u n d Kirche 218 b) Grundsätzliche verfassungsrechtliche lichen Besteuerungsrechts

Zulässigkeit des kirch-

c) Die Schuldner der Kirchensteuer

220 222

aa) N u r die Mitglieder der betreffenden Religionsgesellschaften 222 bb) Kirchenmitgliedschaft i m rechtlich-formalen Sinn

223

cc) K i n d e r als Kirchensteuerschuldner

224

d) Konkrete Ausgestaltungsmöglichkeiten der Kirchensteuergesetze durch den staatlichen Gesetzgeber u n d die Religionsgesellschaften 224

nsverzeichnis

XIV

aa) Kirchengrundsteuer

226

bb) Kirchgeld

226

cc) Kircheneinkommen- u n d -lohnsteuer

226

dd) Kirchenlohnsteuerabzug

226

ee) Mindestmitgliederzahl einer Religionsgemeinschaft als V o r aussetzung f ü r die Durchführung des Kirchenlohnsteuerabzugs 227 3. Die Heranziehung juristischer Personen zur Kirchensteuer

227

4. Die Steuerpflicht bei glaubensverschiedenen Ehen

231

a) Kirchenlohnsteuer

231

b) Kirchengrundsteuer

233

c) Kircheneinkommensteuer

234

aa) Die zwangsweise Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes bei glaubensverschiedenen Ehen 234 bb) Die einverständliche Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes bei glaubensverschiedenen Ehen 235 cc) Keine steuerrechtliche Haftung nicht kirchenangehörender Eltern für die Kirchensteuerschuld ihres minderjährigen Kindes 238 5. Besteuerung konfessionsverschiedener Ehen

238

6. Kirchenlohnsteuerabzug u n d Haftung des Arbeitgebers

241

a) Der Kirchenlohnsteuerabzug

241

b) Die Haftung des Arbeitgebers

246

7. Einzelprobleme des kirchlichen Besteuerungsrechts

247

a) Die Kirchensteuerpflicht geschiedener K a t h o l i k e n 247 b) Keine Heranziehung von Nichtmitgliedern zu Naturalabgaben (Prövenleistungen) an Kirchengemeinden 248 Zehntes

Kapitel

Die Religionsfreiheit im Bereich der Schule I. Vorbemerkung

250

1. Individualrechtliche u n d korporative Aspekte des Grundrechts der Religionsfreiheit i m Bereich der Schule. Das Komplementärprinzip der Toleranz 250 2. Der A b b a u des staatlichen konfessionellen Schulwesens durch die Landschulreform 251 I I . Die Bekenntnisschule 1. Die Bekenntnisschule als Regelschule a) Verfassungsmäßigkeit der Bekenntnisschule

253 253 253

nsverzeichnis b) Die Bekenntnisschule als Regelschule

254

c) Die Bekenntnisschule als inhaltliche Konkretisierung des Elternrechts 254 d) Verfassungsmäßigkeit Hochschulen

konfessionell

geprägter

Pädagogischer

255

aa) Bundesverwaltungsgericht

255

bb) Bayerischer Verfassungsgerichtshof

257

2. Bekenntnisfremde Minderheiten i n Konfessionsschulen

258

a) Das Bundesverfassungsgericht

258

b) Der Bayerische Verfassungsgerichtshof

259

3. Glaubensfremde Minoritäten i n öffentlichen Schulen m i t christlichem Charakter 263 4. Verpflichtung zur Einschulung i n die Konfessionsschule des eigenen Bekenntnisses 264 a) K e i n Rechtsanspruch auf Einschulung i n die Konfessionsschule des anderen Bekenntnisses 264 b) Anspruch der Erziehungsberechtigten auf Einschulung ihres Kindes i n Konfessionsschule des anderen Bekenntnisses aufgrund des Grundrechts der Glaubensfreiheit 266 I I I . K e i n Rechtsanspruch der Eltern auf Errichtung von Konfessionsschulen 268 1. K e i n grundrechtlicher Anspruch der Eltern aus A r t i k e l 4 GG

268

2. K e i n Rechtsanspruch der Diözesen auf Wahrung u n d Einrichtung von Konfessionsschulen 272 IV. Schulgebet u n d Schulandacht. Die „Freiheit des Schweigens" 1. U r t e i l des Hessischen Staatsgerichtshofs über das Schulgebet

274 274

a) Die tragenden Grundsätze des Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofs 274 b) Die fehlsame Argumentation des Hessischen Staatsgerichtshofs 276 2. Christliche Morgenandachten an niedersächsischen Gymnasien . . . . 281 V. „Bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht i n Biblischer Geschichte". Das U r t e i l des Bremischen Staatsgerichtshofs v o m 23.10. 1965 284 1. Der Sinngehalt des Artikels 32 Absatz 1 der Bremischen Verfassung 284 2. Bruch m i t der bremischen Tradition

286

3. Widersprüchlichkeiten i n der Argumentation des Staatsgerichtshofs 286 a) Der Schultyp der bremischen Gemeinschaftsschule

287

XVI

nsverzeichnis b) Der B G U als Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage . . 287 c) Der B G U als rein weltlicher Unterricht

289

4. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Artikels 141 GG

290

5. Ergebnis

291

6. Hein prozessuale Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

291

Elftes

Kapitel

Der besondere strafrechtliche Schutz der Religionsausübung und der kirchlichen Einrichtungen I. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Heligionsdelikte

293

1. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen besonderer strafrechtlicher Tatbestände zum Schutz des religiösen Friedens u n d der freien Betätigung der Religionsgesellschaften 293 a) Die Weimarer Reichsverfassung

293

b) Das Grundgesetz

293

2. Die Schutzfunktion der Religionsdelikte a) Schutz des Inhalts der Bekenntnisse b) Schutz der Religions- u n d Weltanschauungsgemeinschaften I I . Die Rechtsprechung zu den Religionsdelikten

294 294 295 295

1. Religionsdelikte u n d Freiheit der Meinungsäußerung

295

2. Religionsdelikte u n d Freiheit der K u n s t

297

3. Feuerbachdenkmal

299

4. K e i n strafrechtlicher Schutz kirchlicher Amtsbezeichnungen

300

B. I m

Bereich

des

Zwölftes

Privatrechts

Kapitel

Die Religionsfreiheit im Bereich des Familien- und Erbrechts (A) Ehe- und Familienrecht

301

Vorbemerkung: Der säkulare Ehebegriff des staatlichen Rechts

301

I. Eheschließung: Obligatorische Z i v i l t r a u u n g I I . Aufhebung u n d Scheidung der Ehe

302 304

nsverzeichnis 1. Eheaufhebung gemäß § 32 EheG

304

2. Ehescheidung

307

a) Glaubenswechsel grundsätzlich kein Scheidungsgrund

307

b) Einseitig vollzogener Glaubens Wechsel als „schwere Ehe Verfehlung" 308 c) Konkurrenz zwischen staatlicher u n d kirchlicher Eheauflösung 311 d) Privatrechtsgestaltende K r a f t des A r t i k e l 4 GG? I I I . Elterliches Erziehungsrecht

312 314

Das religiöse Erziehungsrecht der Eltern als Bestandteil des G r u n d rechts der Religionsfreiheit 314 1. Bestimmung der Religionszugehörigkeit u n d der religiösen Erziehung der K i n d e r 315 a) Vor E i n t r i t t der Religionsmündigkeit des Kindes

315

aa) Bei bestehender Ehe

315

bb) Nach Beendigung der Ehe

318

α) Nach Beendigung der Ehe durch den Tod eines Ehegatten 318 ß) Nach Beendigung der Ehe durch Scheidung der Ehe . . . . 320 b) Die elterliche reigiöse Erziehungsfreiheit nach E i n t r i t t der Religionsmündigkeit des Kindes 323 2. Religiös motivierte Verweigerung der elterlichen E i n w i l l i g u n g zur Eheschließung des Kindes gemäß § 3 Absatz 3 EheG 324 I V . Namensrecht

328

(B) Erbrecht

329

(C) Religionsfreiheit

und internationales

Dreizehntes

Privatrecht

330

Kapitel

Die Religionsfreiheit im Arbeitsrecht I. Unberechtigtes Fernbleiben v o m Arbeitsplatz aus religiösen Gründen 333 1. Arbeitspflicht für „Sieben-Tage-Adventisten" an Samstagen

333

2. Arbeitspflicht für türkischen Gastarbeiter a m muslimischen Religionsfest „ K u r b a n Beyram" 335 I I . Verstoß gegen die Zweckbestimmung religiöser Tendenzbetriebe als Kündigungsgrund 337 1. Katholisches Krankenhaus als Tendenzbetrieb

337

2. Evangelischer Kindergarten als Tendenzbetrieb

341

XVIII

nsverzeichnis Vierzehntes

Kapitel

Die Religionsfreiheit im Schuld- und Sachenrecht I. Schuldrecht

343

a) Kirchenaustritt als Kündigungsgrund bei Pachtverträgen über Kirchenland 343 b) Gültigkeit einer Klausel über das Verbot der Sonntagsarbeit i n Pachtverträgen über Kirchenland 344 I I . Sachenrecht

345

I I I . Verweigerung der Vertragserfüllung aus Gewissensgründen

347

1. Problemstellung

347

2. Einzelfälle

348

DRITTER ABSCHNITT

Die Religionsfreiheit als Grundrecht der Religionsgemeinschaften und ihrer Untergliederungen Fünfzehntes

Kapitel

Die Religionsgemeinschaften und ihre Unterverbände als Grundrechtsträger 1. Trennung von individueller Religionsfreiheit u n d institutioneller Kirchenfreiheit während des 19. Jahrhunderts u n d der Weimarer Zeit 354 2. Die Entwicklung unter dem Grundgesetz

355

a) Die Bestands- u n d Betätigungsfreiheit der Religions- u n d W e l t anschauungsgemeinschaften 355 b) Die Verbotsmöglichkeit von Religions- u n d Weltanschauungsgemeinschaften 362

Sechzehntes Kapitel Das Grundrecht der Religionsgemeinschaften auf selbständige Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten I. A r t . 137 Abs. 1 bis 3 WeimRV als deklaratorische Verdeutlichung des Grundrechts der Religionsfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 u n d 2 GG 368 1. A r t . 137 Abs. 1 WeimRV

369

nsverzeichnis 2. A r t . 137 Abs. 2 WeimRV

371

3. A r t . 137 Abs. 3 WeimRV

372

a) Identität des Schutzgegenstandes des A r t . 137 Abs. 3 WeimRV u n d des A r t . 4 Abs. 1 u n d 2 GG 372 b) Ungestörte Religionsausübung u n d kirchliches mungsrecht

Selbstbestim-

374

c) Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v o m 16.10.1968 .. 375 I I . Das Grundrecht der Religionsgemeinschaften i m Bereich der Lehre, Organisation u n d V e r w a l t u n g 379 1. Lehre, K u l t u s u n d Verfassung

379

2. Organisation u n d V e r w a l t u n g

383

a) B i l d u n g u n d Veränderung von Gemeinden und kirchlichen V e r waltungsbezirken 383 b) Kirchliches Prüfungswesen u n d Ämterverleihung

387

c) Lastenfreie Patronate

388

d) Kirchliche Vermögensverwaltung

389

aa) Das I n s t i t u t des „Bauresoluts"

389

bb) Das Gesetz über die V e r w a l t u n g des katholischen Kirchenvermögens 393 e) Gemeinsame Angelegenheiten von Staat u n d Kirche

394

I I I . Das Grundrecht der Religionsgemeinschaften auf eigenständige u n d v o m Staate unabhängige Gerichtsbarkeit i n eigenen Angelegenheiten 397 1. Die ausschließliche Zuständigkeit kirchlicher Gerichte zur Streitentscheidung i n kircheneigenen Angelegenheiten 397 2. Das kirchliche Verfassungs- u n d Organisationsrecht als Bereich ausschließlicher Zuständigkeit kirchlicher Gerichte 398 3. Zuständigkeit staatlicher Gerichte i m Kirchensteuer- u n d Friedhof s wesen 401 a) Das kirchliche Besteuerungsrecht

401

b) Die Rechtsprechung zum Friedhofsrecht

402

I V . Kirchliches Ämterrecht

403

a) Die staatliche Rechtsprechung zum kirchlichen Amtsrecht als umstrittenes Problem des gegenwärtigen Staat-Kirche-Verhältnisses i n der Bundesrepublik 403 b) Die E n t w i c k l u n g der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs u n d des Bundesverwaltungsgerichts zum kirchlichen Amtsrecht 406 c) Die Rechtsprechung der Instanzgerichte zum kirchlichen A m t s recht 409

d) Kritische Würdigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs u n d des Bundesverwaltungsgerichts zum kirchlichen A m t s recht 412

Siebzehntes

Kapitel

Das Grundrecht der Religionsgemeinschaften auf Veranstaltung kirchlicher und religiös-karitativer Sammlungen und auf freie, staatsunabhängige Wohlfahrtspflege I. Nichtigkeit des Sammlungsgesetzes v o m 5.11.1934

423

1. Das kirchliche Sammlungswesen als Gegenstand staatlicher Reglementierung 423 2. Nichtigkeitserklärung des Sammlungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht 425 3. Sonderstellung des kirchlichen Sammlungswesens

427

4. Staatliche Garantie der kirchlichen Sammlungstätigkeit i n Kirchenverträgen u n d Konkordaten 427 I I . Die Veranstaltung kirchlicher Sammlungen als Aktualisierung des Grundrechts der Religionsfreiheit 428 I I I . Das Recht der Religionsgemeinschaften auf freie u n d staatsunabhängige Wohlfahrtspflege 431 I V . Satzungsmäßige Bindung der Änderung der Zwecksetzung eingetragener religiöser und religiös-karitativer Vereine an die Zustimmung oder Genehmigung kirchlicher Stellen 433

Achtzehntes

Kapitel

Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Stellungnahme zu gesellschaftlichen und politischen Fragen als Bestandteil des Grundrechts der Religionsfreiheit I. Problemstellung

435

I I . Der Wahlhirtenbrief der nordrhein-westfälischen Bischöfe v o m 22. 2. 1961 436 1. U r t e i l des Oberverwaltungsgerichts Münster v o m 14. 2.1962

436

2. U r t e i l des Bundesverwaltungsgerichts v o m 17.1.1964

439

I I I . Der Wahlaufruf des evangelischen Dekans von Biberach an der Riß .. 442

nsverzeichnis Zusammenfassung I. Gang der Untersuchung

445

I I . Ergebnis

447 Literaturverzeichnis

453

Entscheidungsregister

483

Personenregister

511

Sach Wortregister

515

Abkürzungsverzeichnis a. Α . a.a.O. AAS abl. AB1EKD Abs. AcP AG AKathKR ALR a. M . AöR AP ArbG ARSPH ARSt Az. BAG BAGE BaWüVBl. Bay BS BayObLG BayVerf. BayVerfGH BayVerfGHG BayVBl. BayVGH BB BBG ber. Beschl. BDH BFH BGBl. BGH BGHSt

BGHZ

anderer Ansicht am angegebenen Ort Acta Apostolicae Sedis ablehnend Amtsblatt der Evangelischen Kirche i n Deutschland Absatz Archiv f ü r die civilistische Praxis Amtsgericht Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht Allgemeines Landrecht f ü r die Preußischen Staaten anderer Meinung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsgerichtliche Praxis Arbeitsgericht Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie Arbeitsrecht i n Stichworten Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt Bereinigte Sammlung des bayerischen Landesrechts Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verfassung Bayerischer Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Der Betriebsberater Bundesbeamtengesetz berichtigt Beschluß Bundesdisziplinarhof Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes i n Strafsachen. Herausgegeben v o n den Mitgliedern des Bundesgerichtshofes u n d der Bundesanwaltschaft Entscheidungen des Bundesgerichtshofes i n Zivilsachen. Herausgegeben v o n den Mitgliedern des Bundesgerichtshofes u n d der Bundesanwaltschaft

Abkürzungsverzeichnis BGU BERG BSG BSGE BSHG BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE can. CIC d. A .

DJT DÖV DVBl. E EFG EGBGB EheG EKD Erl. FamRZ FG FS G GG GBO GewO GVBl. GV / N W GVG HandwO HdbDStR i. d. F. d. B. IPO Jg. JöR JR JuS JW JWG JZ KABl.

XXIII

Unterricht i n Biblischer Geschichte (vgl. A r t . 32 Absatz 1 der Bremischen Verfassung) Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts canon Codex Iuris Canonici der Abschrift bzw. der Ausfertigung (Seitenangaben bei [ i m Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit noch] nicht veröffentlichten Entscheidungen) Deutscher Juristentag Die öffentliche V e r w a l t u n g Deutsches Verwaltungsblatt Entscheidungen der Europäischen Menschenrechts-Kommission Entscheidungen der Finanzgerichte Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Ehegesetz Evangelische Kirche i n Deutschland Erläuterung Zeitschrift f ü r das gesamte Familienrecht Finanzgericht Festschrift Gesetz Grundgesetz Grundbuchordnung Gewerbeordnung Gesetz- u n d Verordnungsblatt Gesetz- u n d Verordnungsblatt f ü r das L a n d NordrheinWestfalen Gerichtsverfassungsgesetz Handwerksordnung Handbuch des Deutschen Staatsrechts i n der Fassung der Bekanntmachung Instrumentum Pacis Osnabrugense Jahrgang Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Kirchliches Amtsblatt

XXIV Kap. KathKirchVermG KG KirchE KirchlBauG KirchVerfG KiStG KRABI. KSchG LAG LG LM LS, L.S. LSG MB1. MDR MRVO m. w. N. N. F. NJW NRW, N W NSDAP ÖArchKiR OLG OVG OVGE

Pr. A L R Pr. OVG PStG PVG Rc. Rdnr. RGBl. RKEG Rspr. RWS SAE SBZ SchOG

Abkürzungsverzeichnis Kapitel Preußisches Staatsgesetz über die V e r w a l t u n g des K a t h o lischen Kirchenvermögens v o m 24. 7.1924 Kammergericht Entscheidungen i n Kirchensachen Preußisches Staatsgesetz betr. Anordnung kirchlicher Neu- u n d Reparaturbauten i n den katholischen Diözesen v o m 24.11.1925 Preußisches Staatsgesetz betr. die Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen v o m 8.4.1924 Kirchensteuergesetz Amtsblatt des Kontrollrats i n Deutschland Kündigungsschutzgesetz Landesarbeitsgericht Landgericht Das Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs i n Z i v i l sachen, herausgegeben von Lindenmaier u n d Möhring Leitsatz, Leitsätze Landessozialgericht Ministerialblatt Monatsschrift des Deutschen Rechts Verordnung der Militärregierung m i t weiteren Nachweisen Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nordrhein-Westfalen Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei österreichisches Archiv f ü r Kirchenrecht Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte f ü r das L a n d Nordrhein-Westfalen i n Münster sowie f ü r die Länder Niedersachsen u n d Schleswig-Holstein i n Lüneburg Allgemeines Landrecht f ü r die Preußischen Staaten Preußisches Oberverwaltungsgericht; zugleich Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Personenstandsgesetz Polizei-Verwaltungsgesetz Conseil de l'Europe, Recueil de Décisions de la Commission européenne des Droits de l'Homme, Bd. 1 (1960) ff. Randnummer Reichsgesetzblatt Gesetz über die religiöse Kindererziehung v o m 15. 7.1921 Rechtsprechung Recht u n d Wirtschaft der Schule Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sowjetische Besatzungszone Deutschlands Schulorganisationsgesetz

Abkürzungsverzeichnis SGV / N W StGB StGH StPO StuW UFITA UN VELKD VersR VerwRspr. VG VGH VO VVDStRL VwGO WehrPflG WeimRV, W R V YB ZaöRVR ZB1UV ZBR ZevKR ZgesStW zit. A n m . ZPO ZRP zust.

XXV

Sammlung des bereinigten Gesetz- u n d Verordnungsblattes f ü r das L a n d Nordrhein-Westfalen Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof Strafprozeßordnung Steuer u n d Wirtschaft Archiv f ü r Urheber-, F i l m - , F u n k - u n d Theaterrecht United Nations Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands Versicherungsrecht Verwaltungsrechtsprechung Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Wehrpflichtgesetz Weimarer Reichsverfassung Yearbook of the European Convention on H u m a n Rights, The European Commission and European Court of H u m a n Rights. Bd. 1,1959 ff. Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht u n d V ö l kerrecht Zentralblatt f ü r die gesamte Unterrichtsverwaltung i n Preußen Zeitschrift f ü r Beamtenrecht Zeitschrift f ü r evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft zitierte A n m e r k u n g Zivilprozeßordnung Zeitschrift f ü r Rechtspolitik zustimmend

ERSTER ABSCHNITT

Grundlegung Die Religion im modernen demokratischen Staat Erstes Kapitel Zielsetzung und methodische Vorbemerkungen 1. Aufgabenstellung

Die Fülle des wirklichen Rechts erschließt sich nur demjenigen, der sich nicht m i t der Kenntnis der Normen allein begnügt, sondern auch das Verständnis hinzunimmt, das sie i n der Rechtsprechung gefunden haben 1 . Ausgehend von dieser Tatsache stellt sich die vorliegende Arbeit die Aufgabe, auf der Grundlage der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen, soweit sie i m Zeitraum vom Inkrafttreten des Grundgesetzes bis zur Mitte des Jahres 1971 zum Grundrecht der Religionsfreiheit i n seiner individuellen und korporativen Erscheinungsform ergangen sind, eine Gesamtdarstellung der Rechtsprechung zu diesem Gegenstand zu geben. A u f induktive Weise w i l l sie unter Verwertung aller einschlägigen Entscheidungen der verschiedenen Gerichtszweige und Instanzen eine lebendige Anschauung der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiete der individuellen und verbandsmäßigen Religionsfreiheit bieten. Die Rechtsprechung zum Individual- und Verbandsgrundrecht der Religionsfreiheit zeigt einerseits eine durch die Natur dieses Sachgebietes bedingte starke Verwurzelung i n den historischen Zusammenhängen des Staats- und Staatskirchenrechts 2 ; sie vermittelt auf der anderen Seite 1 Vgl. K . Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., B e r l i n Heidelberg - New Y o r k 1969, S. 407 m. w . N.; G. Dahm, Deutsches Recht. Die geschichtlichen u n d dogmatischen Grundlagen des geltenden Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 1963, § 7 I I I 1 (S. 35); W. Ecker, Das Recht w i r d i n u n d m i t der A u s legung, JZ 1969, S. 478. 2 Vgl. dazu J. HeckeZ, der darauf hinweist, daß die Vergangenheit i n keinem Rechtsgebiet so gegenwärtig sei, wie i m Kirchenrecht u n d i m Staatskirchenrecht. Die Beständigkeit der religiösen Idee, die i n der Kirche lebe, teile sich

1 Listi

2

I

.

Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

aber auch eine Vorstellung von der dynamisierenden Macht, die der Dritten Gewalt unter der Herrschaft des Grundgesetzes eingeräumt worden ist. Die Rechtsprechung hat während der ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik, i n manchen Fällen, wie es scheint, an Stelle des untätig verharrenden Gesetzgebers handelnd, i n schöpferischer Interpretation der Verfassung und anderer Rechtsnormen das geltende Recht i n vieler Hinsicht fortentwickelt 3 . Ebenso wie i n anderen Rechtsbereichen zeigen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch auf dem Gebiete der Rechtsprechung zu den religiösen Freiheitsrechten die dominierende Stellung dieses obersten deutschen Gerichts und bestätigen die Richtigkeit der Aussage Rudolf Smends, daß das Grundgesetz praktisch so gelte, wie das Bundesverfassungsgericht es auslege, und die Literatur es auch i n diesem Sinne kommentiere 4 . Gerade auf die Weiterentwicklung des Staatskirchenrechts haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig eingewirkt. Sie haben erst die Konturen des Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit i n voller Deutlichkeit hervortreten lassen und den Religionsgemeinschaften einen grundrechtlich gesicherten Freiheitsraum erschlossen, der ihnen vor Inkrafttreten des Grundgesetzes noch niemals i n dieser Form gewährleistet worden war. 2. Methodik

I n ihrem methodischen Aufbau ist die vorliegende Arbeit von dem Bestreben gekennzeichnet, die einzelnen Rechts- und Lebensbereiche, in denen sich das Grundrecht der Religionsfreiheit auswirkt, i n ihrer Vielfältigkeit unverkürzt zur Darstellung zu bringen. Der Verfasser sah sich deshalb genötigt, von der Anwendung einer anderen, für diese Darstellung sich gleichfalls anbietenden Einteilungsmöglichkeit Abstand zu nehmen, nämlich von der Gliederung des Stoffes nach rechtstypischen Problemstellungen, wie sie sich i m Bereich des Grundrechts der Religionsfreiheit, ζ. B. bei der Frage nach den Schranken dieses Grundrechts oder auch ihrem Rechtsleben m i t . J. Hechel, Kirchengut u n d u n d Staatsgewalt, i n : Rechtsprobleme i n Staat u n d Kirche. FS f ü r R. Smend zum 70. Geburtstag. Göttingen 1952, S. 105 ff.; abgedr. auch bei H. Quaritsch u n d H. Weber (Hrsg.), Staat u n d Kirchen i n der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950 - 1967. Bad Homburg v. d. H. 1967, S. 46 f. 3 Über den schöpferischen Charakter u n d die Bedingungen der Verfassungsinterpretation als einer konkretisierenden, v o m Verfassungsgeber nicht getroffenen Entscheidung, vgl. K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der B u n desrepublik Deutschland. 2. A u f l . 1968, § 2 I I I (S. 25 f.), m. w. N. 4 R. Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar 1962, i n : Das Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe 1963, S. 24; jetzt auch i n R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze. 2. Aufl., B e r l i n 1968, S. 582.

1. Kap. : Zielsetzung u n d methodische Vorbemerkungen

3

i m Hinblick auf das Problem der Geltung der Grundrechte i m Privatrecht, immer wieder ergeben. U m jedoch eine wiederholte Erörterung ein und derselben Fragestellung i m Verlaufe der Arbeit zu vermeiden, w i r d bei erneutem Auftauchen desselben rechtlichen Problems jeweils auf diejenige Stelle der Untersuchung verwiesen, an der die betreffende Frage eingehender behandelt ist. Eine zutreffende Gesamtwürdigung der Judikatur der Gerichte eines Staates zum Grundrecht der Religionsfreiheit erfordert einleitend die grundsätzliche Klärung des, wie die vergleichende Verfassungslehre beweist, von Staat zu Staat verschiedenen Stellenwertes, den die Verfassung als normative Grundordnung des betreffenden Staates dem Schutz der freien religiösen Betätigung der einzelnen Bürger und vor allem auch der Religionsgemeinschaften zuweist. Deshalb erschien es geboten, i n der Einleitung zuerst den spezifischen Sinngehalt der vom Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland dem Staat und seinen Organen auferlegten Verpflichtung zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität darzulegen. Das folgende Kapitel bietet, um eine introvertierte, allein auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkte Betrachtungsweise der Gewährleistung des Grundrechts der Religionsfreiheit zu vermeiden, einen kurzen Ausblick auf die Stellung der Religionsfreiheit i n verschiedenen modernen Verfassungen. Ein weiteres Kapitel i n diesem einleitenden Teil ist den Bemühungen gewidmet, die auf völkerrechtlicher Ebene, insbesondere i m Rahmen der Vereinten Nationen, unternommen werden, um m i t Hilfe internationaler Konventionen eine weltweite Intensivierung des Schutzes der religiösen Freiheitsrechte zu erreichen. Die Europäische Menschenrechtskonvention erfährt i n diesem Zusammenhang eine besondere Berücksichtigung. Schließlich darf eine juristische Darstellung der Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit i n der Bundesrepublik, deren Einwohner sich i n ihrer ganz überwiegenden Mehrheit zum Christentum i n der Form der beiden großen Konfessionen bekennen, die bedeutsamen Stellungnahmen der Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der K i r chen und des Zweiten Vatikanischen Konzils zu diesem Grundrecht nicht außer Betracht lassen5. Nach dem einleitenden und zugleich grundlegenden Teil behandelt der zweite Abschnitt der Arbeit die Rechtsprechung zum Grundrecht der Religionsfreiheit als Individualrecht. Die Untersuchung wendet sich dabei zuerst dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu und behandelt anschließend die verschiedenen Bereiche des Privatrechts. Der dritte Abschnitt befaßt 5 Vgl. dazu auch A. Hollerbach, W D S t R L 26 (1968), S. 68 ff., m. w . N.

1*

Die Kirchen unter dem

Grundgesetz,

4

I

.

Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

sich schließlich mit der Rechtsprechung zum Recht der Bestands- und Betätigungsfreiheit der Religionsgemeinschaften. 3. Beschränkung auf die Religionsfreiheit als staatliches Grundrecht

Zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung gehören nicht die theologischen Aspekte der Religionsfreiheit, die nur vom Selbstverständnis der einzelnen Kirchen und übrigen Religionsgemeinschaften her sachgerecht beurteilt werden könnten und notwendig die Frage nach der Wahrheit der einzelnen religiösen Lehren und Überzeugungen implizieren. Die Arbeit beschränkt sich vielmehr, ebenso wie die Declaratio de libertate religiosa des Zweiten Vatikanischen Konzils und weitgehend auch die Stellungnahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen, ausschließlich auf die staatsrechtliche Betrachtungsweise dieses Grundrechts. Es übersteigt die Grenzen des weltlich zu verstehenden Staates, m i t der Gewährleistung religiöser Freiheitsrechte an seinç Bürger die Frage nach der Wahrheit der i m Staate bestehenden religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse zu verbinden. Das Urteil über die Wahrheit eines Bekenntnisses liegt jenseits der Zuständigkeit staatlicher Gerichte. Dem zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichteten und insoweit „ekklesiologisch notwendig farbenblinden" Staat 6 , der Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person und Religion sein muß, ist es schlechthin verwehrt, bei der Gewährleistung des Grundrechts der Religionsfreiheit seinen Bürgern gegenüber einen Unterschied danach zu machen, ob sie nach den Worten der Declaratio de libertate religiosa des Zweiten Vatikanischen Konzils ihrer Verpflichtung, „an der erkannten Wahrheit festzuhalten und i h r ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen", nachkommen oder nicht 7 .

6 H. Barion, Ortung u n d Ordnung i m kanonischen Recht, i n : FS f ü r Carl Schmitt, B e r l i n 1959, S. 30. 7 E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit, lateinischer u n d deutscher Text, i n : L e x i k o n f ü r Theologie u n d Kirche. 2. Aufl., Ergänzungsbände: Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. 2, Freiburg - Basel - Wien 1967, Nr. 2, S. 719.

Zweites

Kapitel

D i e r e l i g i ö s e u n d w e l t a n s c h a u l i c h e N e u t r a l i t ä t des Staates 1. Der Grundsatz der Nichtidentifikation D u r c h das G r u n d r e c h t der R e l i g i o n s f r e i h e i t g e w ä h r l e i s t e t die V e r f a s sung d e m E i n z e l n e n e i n e n Rechtsraum, i n d e m er sich die L e b e n s f o r m z u geben v e r m a g , d i e seinen Ü b e r z e u g u n g e n entspricht, m a g es sich d a b e i u m e i n religiöses B e k e n n t n i s oder eine i r r e l i g i ö s e — r e l i g i o n s f e i n d l i c h e oder r e l i g i o n s f r e i e — W e l t a n s c h a u u n g h a n d e l n 1 . A u f diese i n A r t . 4 A b s . 1 u n d 2 G G e n t h a l t e n e V e r f a s s u n g s g a r a n t i e k ö n n e n sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts n e b e n d e n E i n z e l p e r s o n e n auch K i r c h e n , R e l i g i o n s - u n d W e l t a n s c h a u u n g s g e m e i n s c h a f t e n u n d f e r n e r auch solche V e r e i n i g u n g e n b e r u f e n , d i e sich n i c h t d i e allseitige, sondern n u r die p a r t i e l l e Pflege des r e l i g i ö s e n u n d w e l t a n s c h a u l i c h e n Lebens i h r e r M i t g l i e d e r z u m Z i e l e gesetzt h a b e n 2 . D a m i t g e w ä h r l e i s t e t 1

BVerfGE 12,1 (3). BVerfGE 24, 236 ff.; anders ζ. B. die österreichische Verfassungsrechtslehre, die die Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit n u r als Individual grundrecht anerkennt. Vgl. dazu L . Adamovich, Das Grundrecht der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit i m Lichte der J u d i k a t u r des Reichsgerichts u n d des Verfassungsgerichtshofs, ÖArchKiR, 2. Jg. (1951), S. 5; F. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten u n d der Menschenrechte. E i n Kommentar zu den österreichischen Grundrechtsbestimmungen, W i e n 1963, S. 363 f., der die österreichische Verfassungsrechtsprechung zu dieser Frage dahingehend zusammenfaßt u n d begründet: „Die Freiheit des Glaubens, der Religion (Bekenntnis) u n d des Gewissens setzt eine physische Person voraus. Denn n u r i h r sind Glauben, Religion u n d Gewissen wesensmäßig zumutbar" ; E. Melichar, Z u r neuen verfassungsrechtlichen Regelung der Religionsfreiheit i n Österreich, i n : Speculum I u r i s et Ecclesiarum. FS f ü r W i l l i b a l d M. Plöchl, Wien 1967, S. 289 ff., der überwiegend den Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit i n Österreich darlegt. Die i n A r t . 14 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger v o m 21. Dez. 1867, RGBl. Nr. 142, gewährleistete Glaubens- u n d Gewissensfreiheit ist nach H. Klecatsky - H. Weiler, österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1958, S. 17, „ e i n höchstpersönliches Recht". Das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung u n d die Befugnis, „ihre Angelegenheiten selbständig" zu ordnen u n d zu verwalten, w i r d jeder gesetzlich anerkannten Kirche u n d Religionsgesellschaft durch A r t . 15 des Staatsgrundgesetzes v o n 1867 garantiert. Nach W. Antonioiii, Die staatsfreie Sphäre der gesetzlich anerkannten Kirchen u n d Religionsgesellschaften, ÖArchKiR, 10. Jg. (1959), S. 229 (234), können die Religionsgesellschaften die ihnen i n A r t . 15 des Staatsgrundgesetzes von 1867 garantierten Rechte „ m i t Verfassungsbeschwerde geltend machen. Gegenüber Gesetzen 2

6

I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

das Grundrecht der Religionsfreiheit die Möglichkeit einer freien Kirche i m demokratischen Staat. Die Religionsfreiheit erweist sich damit als eines der tragenden Elemente der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes, insofern sie zusammen mit anderen Freiheitsgarantien, besonders der Meinungs-, der Vereinigungs- und der Versammlungsfreiheit 3 , die Möglichkeit eines freien und offenen Lebensprozesses sichert, der die rechtliche Gleichwertigkeit aller diesen Prozeß bejahenden Kräfte voraussetzt und darum jede Präponderanz und jede w i l l k ü r liche, d. h. sachlich nicht gerechtfertigte, Bevorzugung nur einer oder bestimmter einzelner dieser Kräfte ausschließt 4 . Bereits dadurch, daß A r t . 4 Abs. 1 und 2 allen Einzelpersonen volle individuelle Bekenntnisfreiheit und sämtlichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die ungestörte Religionsausübung gewährleistet, erklärt sich der Staat des Grundgesetzes i n religiöser Hinsicht als streng paritätisches anschaulich neutrales

u n d d a m i t i n s o w e i t auch als religiös Staatswesen.

und

welt-

Dieser sich bereits aus A r t . 4 GG mit zwingender Notwendigkeit ergebende Grundsatz der religiösen und weltanschaulichen Neutralität 5 w i r d noch zusätzlich bekräftigt durch die institutionelle Aussage des A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 1 WeimRV: „Es besteht keine Staatskirche." Dieses Trennungsgebot des A r t . 137 Abs. 1 WeimRV verbietet jede „Total-Identifikation" 6 des Staates und seiner Institutionen mit u n d Verordnungen des Staates ist dieser Anspruch freilich unzulänglich geschützt, da nach der derzeitigen Rechtslage die Legitimation zur Anfechtung fehlt". 8 H. Liermann hat am Beispiel der Unterdrückung des kirchlichen Lebens durch die Machthaber des D r i t t e n Reiches anschaulich gezeigt, daß die konkrete V e r w i r k l i c h u n g des Grundrechts der Religionsfreiheit v o n einer „ u n übersehbaren Menge v o n Spezialgesetzen, spezieller Gesetzesanwendung, Gesetzesauslegung u n d Verwaltungspraxis abhängig" ist. Vgl. ff. Liermann, Das Recht der Religionsfreiheit, i n : Die Ordnung Gottes u n d die Unordnung der Welt. Deutsche Beiträge zum Amsterdamer ökumenischen Gespräch 1948. Hrsg. v o n W. Menn, Bd. 6, Stuttgart - Tübingen 1948, S. 187 ff. 4 K. Hesse, Freie Kirche i m demokratischen Gemeinwesen. Z u r Gegenwartslage des Verhältnisses v o n Staat u n d Kirche i n der Bundesrepublik, ZevKR, 11, 354 f., unter Hinweis auf A r t . 3 Abs. 3 GG, 33 Abs. 3 GG u n d A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 WeimRV. + 5 Vgl. dazu BVerfGE 19, 206 (216); 19, 1 (8). Aus A r t . 4 Abs. 1 u n d 2 GG ergibt sich die Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform hinsichtlich ihrer grundrechtlichen Befugnis auf selbständige Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten. Vgl. dazu diese Arbeit, Kap. 16, 11,1. 6 Über die Mehrdeutigkeit u n d inhaltliche Unbestimmtheit des von ff. Krüger i n die staats- u n d staatskirchenrechtliche Diskussion eingeführten Begriffs der „Identifikation" des Staates m i t einer bestimmten Religion oder Konfession vgl. die zutreffenden Ausführungen bei K. Schiaich, Z u r weltanschaulichen u n d konfessionellen Neutralität des Staates. Eine staatsrechtliche Problemskizze, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche, Heft 4,

2. Kap. : Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

7

einer bestimmten Religion oder Konfession und ebenso m i t einer totalitären oder laizistischen, auf einer Weltanschauung beruhenden Staatsideologie, darf aber andererseits ebensowenig als Verfassungsgebot einer i m laizistischen Sinne verstandenen totalen Bereichsscheidung i n einen getrennten staatlichen und kirchlichen Bereich mißdeutet und veräußerlicht werden 7 . Wie M. Heckel i m Abschluß an G. J. Ebers 8 zeigt, bewirkt die durch das Neutralitätsgebot des Art. 4 GG und 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WeimRV ausgesprochene Trennung von Staat und Kirche 1. die Freiheit der Kirche vom Staat, 2. die Freiheit der Kirche i m Staat und 3. die Freiheit des Staates von der Kirche 9 . Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist, für sich allein genommen, ambivalent zum Aufbau sehr verschieden gearteter staatskirchenrechtlicher Systeme und bildet ohne komplementäre verfassungsrechtliche Organisationsprinzipien keine zureichende Gestaltungsgrundlage für ein konkretes Staat-Kirche-Verhältnis. Welche Bedeutung der Religionsfreiheit i n einem Staat tatsächlich zukommt, ergibt sich, wie H. Maier ausführt, erst aus ihrer Stellung i m Gesamtgefüge einer Verfassung, vor allem aber aus ihrem Zusammenhang m i t den A r t i k e l n über die Kirchen und Religionsgemeinschaften und nicht zuletzt aus der konkreten Verfassungs- und Verwaltungspraxis 1 0 . Die i m Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland sehr unterschiedliche Struktur des Verhältnisses von Staat und Kirche i n anderen freiheitlichen Demokratien, wie den Vereinigten Staaten von Amerika oder dem klassischen Trennungsland Frankreich, die ebenfalls beide für sich zu Recht i n Anspruch nehmen, volle Religionsfreiheit zu gewähren, beweist anschaulich die Richtigkeit der These, daß sich aus diesem Grundrecht allein ein bestimmtes staatskirchenrechtliches System nicht deduzieren läßt. Auch der Bedeutungsgehalt des dialektischen Begriffs „Neutralität", Münster 1970, S. 34 f. u n d S. 40. Schiaich verdient Zustimmung, w e n n er darauf hinweist, daß durch A r t . 137 Abs. 1 WeimRV nicht eine i m Jahre 1919 längst nicht mehr bestehende „Staatskirche", sondern der christlich-religiöse Charakter der deutschen Staaten, d. h. der „christliche" Staat i. S. des 19. Jahrhunderts, aufgehoben wurde. A r t . 137 Abs. 1 WeimRV müsse daher noch heute gelesen werden: „Es besteht keine Staatsreligion." Z u m „Prinzip der Nicht-Identifikation" vgl. bei Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 178 ff. 7 M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, W D S t R L 26 (1968), S. 31. 8 G. J. Ebers, Staat u n d Kirche i m neuen Deutschland. München 1930, S. 119 ff. 9 M. Heckel, Staat Kirche Kunst. Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler, Tübingen 1968, S. 199. 10 ff. Maier, Religionsfreiheit i n den staatlichen Verfassungen, i n : K . Rahner, H. Maier, U. Mann, M. Schmaus, Religionsfreiheit. E i n Problem f ü r Staat u n d Kirche. München 1966, S. 33.

8

I

.

Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

der, wie Schiaich zu Recht ausführt, i n einem teils ausgrenzenden, zugleich aber auch i n einem teils integrierenden Sinne verstanden werden kann, spannt sich von der Neutralität der Toleranz, die auch agnostisch und inhaltslos werden kann, über die Neutralität i m Sinne der Parität bis hin zur gleichen Teilhabe an staatlichen Leistungen 11 . Die staatskirchenrechtliche Ordnung i n den Vereinigten Staaten von Amerika ist, wie Scheuner dargelegt hat, gleichermaßen konstituiert von der „free exercise clause", die die Hauptgarantie der individuellen Glaubensfreiheit darstellt, wie von der „no establishment clause", die zur Garantie der freien Religionsausübung ergänzend hinzutritt und den einzelnen Gläubigen einen mittelbaren Schutz gewährt, indem sie die Glaubensgemeinschaft als solche vor Diskriminierungen von Seiten des Staates schützt 12 . Die Beziehungen von Staat und Kirche i n Frankreich erhalten ihre charakteristische Prägung nicht von der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit des Gewissens und der Kultusübung, sondern von dem positiven Bekenntnis der französischen Verfassung zum Laizismus 13 . Das Staat-Kirche-Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland erhält seine i n einer langen historischen Entwicklung geformte spezifische Ausprägung ebenfalls nicht nur aus der vollen Aktualisierung des Grundrechts der Religionsfreiheit als Individual- und Verbandsgrundrecht, sondern erst durch die auf einer verfassungspolitischen Grundentscheidung des Verfassungsgebers von Weimar und Bonn beruhende, von Johannes Heckel als „positive Religionspflege" 14 bezeichnete kooperative 11 K. Schiaich, Z u r weltanschaulichen u n d konfessionellen Neutralität des Staates (s. A n m . 6), S. 25. 12 U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 593; vgl. dazu H. W. Bayer, Das Prinzip der Trennung von Staat u n d Kirche als Problem der neueren Rechtsprechung des U n i t e d States Supreme Court, i n : ZaöRVR, Bd. 24 (1964), S. 232. 13 A. v. Campenhausen, A r t . „Laizismus", i n : Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966, Sp. 1203; ders., Staat u n d Kirche i n Frankreich, Göttingen 1962, S. 3 ff., 155 f. 14 J. Heckel, Kirchengut u n d Staatsgewalt. E i n Beitrag zur Geschichte u n d Ordnung des heutigen gesamtdeutschen Staatskirchenrechts, i n : Festgabe für Rudolf Smend. Göttingen 1952, S. 107; abgedr. auch bei H. Quaritsch u n d H. Weber (Hrsg.), Staat u n d Kirchen i n der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950 - 1967. B a d Homburg v. d. H. - B e r l i n - Zürich 1967, S. 48. Dieser Ausdruck auch bei K . Hesse, Der Rechtschutz durch staatliche Gerichte i m kirchlichen Bereich. Göttingen 1956, S. 59; H. Marré, Z u r Koordination v o n Staat u n d Kirche, D V B l . 1966, S. 13; sinngemäß auch bei A. Albrecht, K o ordination v o n Staat u n d Kirche i n der Demokratie. Freiburg - Basel - Wien 1965, S. 152 f. Bedenken dagegen offensichtlich bei A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d die besonderen Gewaltverhältnisse. B e r l i n 1969, S. 84, A n m . 42. Über den Sinngehalt u n d die Bedeutung dieser Aussage f ü r die moderne wertoffene Kulturstaatsgewährleistung vgl. i n der Aussprache auf der Staatsrechtslehrertagung 1967, W D S t R L 26 (1968), S. 111 ff., v o r allem die

2. Kap. : Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

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Förderung, die i n d e r d u r c h das Grundgesetz k o n s t i t u i e r t e n f r e i h e i t l i c h d e m o k r a t i s c h e n O r d n u n g j e d e r Religionsgemeinschaft, w e n n auch der I n t e n s i t ä t nach i n sachlich gebotener D i f f e r e n z i e r u n g , z u t e i l w i r d 1 5 . D e r d u r c h d i e W e i m a r e r V e r f a s s u n g geschaffene s t a a t s k i r c h e n r e c h t liche Z u s t a n d , d e r v e r s c h i e d e n t l i c h als „ T r e n n u n g eigener A r t " 1 6 oder „ h i n k e n d e T r e n n u n g " 1 7 oder „ p o s i t i v e T r e n n u n g " 1 8 v o n S t a a t u n d K i r c h e bezeichnet w u r d e , w i r d daher z u t r e f f e n d e r als „gelockerte Fortsetzung der Verbindung von Staat und Kirche" 19 umschrieben, die i n d e m d e n K i r c h e n u n d a n d e r e n Religionsgemeinschaften v e r l i e h e n e n ö f f e n t l i c h rechtlichen Status u n d verschiedenen i n s t i t u t i o n e l l e n G a r a n t i e n v e r fassungsrechtlichen A u s d r u c k findet u n d d u r c h e i n S y s t e m v o n K i r c h e n v e r t r ä g e n ausgebaut u n d v e r f e s t i g t w i r d 2 0 . D e r S t a a t des Grundgesetzes w i r d d u r c h die d e n g r o ß e n R e l i g i o n s gesellschaften z u t e i l g e w o r d e n e F ö r d e r u n g , die i n den B e s t i m m u n g e n der A r t . 7 A b s . 3 G G u n d 140 G G i. V . m . A r t . 137 A b s . 4 bis 7, 138 u n d 141 W e i m R V i h r e verfassungsrechtliche G r u n d l a g e h a t , jedoch n i c h t z u e i n e m

Ausführungen von M . Heckel. I n diesem Sinne auch E. Stein, Z u r staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : JuristenJahrbuch, Bd. 8 (1967/68), S. 136, der darauf hinweist, daß Kirchen u n d Staat, ungeachtet ihrer institutionellen u n d funktionellen Scheidung voneinander, doch auf Grund „ i h r e r allgemeinen K u l t u r f u n k t i o n " i n Beziehungen stehen, die staatliche Leistungen an die Kirchen u n d deren Heranziehung zu kulturellen Aufgaben i n mannigfacher Hinsicht zu rechtfertigen vermögen. 15 Vgl. dazu BVerfGE 19, 1 (9); Erwin Stein, Z u r staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Juristen-Jahrbuch, Bd. 8 (1967/68), S. 126; ferner BVerfGE 19, 129 (134); 17, 122 (130f.). Die rechtliche Situation während der Weimarer Zeit behandelt Ebers, Staat u n d Kirche (zit. A n m . 8), S. 63; vgl. ferner Scheuner, Erörterungen u n d Tendenzen i m gegenwärtigen Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche, Heft 1, Münster 1969, S. 127 f.; M . Heckel, Staat Kirche K u n s t (s. A n m . 9), S. 212 ff.; bes. S. 214 f. Z u r Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Förderung der Religionsgemeinschaften durch den modernen demokratischen Staat vgl. die beachtenswerten Ausführungen von W. Kewenig, Das Grundgesetz u n d die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche, Bd. 6, Münster 1971, S. 9 ff. 1β M. Heckel, Staat Kirche Kunst (s. A n m . 9), S. 198 m i t A n m . 606. 17 U. Stutz, Die päpstliche Diplomatie unter Leo X I I I . Nach den D e n k w ü r d i g keiten des Kardinals Domenico Ferrata. Abh. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1925, Phil.-Hist. Klasse Nr. 3/4, B e r l i n 1926, S. 54, A n m . 2. 18 H. K. J. Ridder, A r t . „Kirche u n d Staat", i n : Staatslexikon. Hrsg. v o n der Görresgesellschaft. 6. Aufl., Bd. 4, Freiburg 1959, Sp. 1028; A. Albrecht, K o ordination v o n Staat u n d Kirche i n der Demokratie, Freiburg - Basel - Wien 1965, S. 69. 19 17. Scheuner, Kirche u n d Staat i n der neueren deutschen Entwicklung, Z e v K R 7, 245; P. Mikat, Kirchen u n d Religionsgemeinschaften, i n : K. A. Bettermann, H. C. Nipper dey, U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie u n d Praxis der Grundrechte. Bd. IV/1, B e r l i n 1960, S. 129. 20 M. Heckel, Staat Kirche Kunst (s. A n m . 9), S. 197 f.

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

„ c h r i s t l i c h e n " Staat, er b l e i b t e i n religiös u n d w e l t a n s c h a u l i c h neutrales Staatswesen, das „ H e i m s t a t t a l l e r Staatsbürger ohne A n s e h e n der P e r son" zu sein h a t 2 1 .

2. Religionsfreiheit und Toleranz a) Der unterschiedliche Gehalt von freiheit und Toleranz

Religions-

Das i n A r t . 4 G G g r u n d g e l e g t e u n d d u r c h A r t . 140 G G i. V . m . A r t . 137 Abs. 1 W e i m R V v e r d e u t l i c h t e V e r b o t einer Staatskirche b z w . einer Staats- oder H a u p t r e l i g i o n u n d d a m i t einer i n s t i t u t i o n e l l e n V e r b i n d u n g v o n Staat u n d K i r c h e i m „ i n n e r e n V e r f a s s u n g s k r e i s " 2 2 b e w i r k t , daß es d e m Staat v e r w e h r t ist, selber eine b e s t i m m t e R e l i g i o n zu „ h a b e n " , b z w . sich zu einer b e s t i m m t e n R e l i g i o n oder auch m e h r e r e n H a u p t k o n f e s s i o n e n zu „ b e k e n n e n " , oder seinen E i n r i c h t u n g e n nach d e m V o r b i l d des A r t . 14 der Preußischen V e r f a s s u n g s u r k u n d e v o m 31. 1. 1850 eine bes t i m m t e R e l i g i o n oder W e l t a n s c h a u u n g z u g r u n d e zu legen. D a der m o derne, z u religiöser N e u t r a l i t ä t verpflichtete Staat sich demnach mit keiner Religion mehr im angegebenen Sinne "identifizieren" darf u n d daher i n s o w e i t „ekklesiologisch notwendig farbenblind" 23 g e w o r d e n ist, ist er auch n i c h t m e h r i n der Lage, w i e e t w a der konfessionelle S t a a t der N a c h r e f o r m a t i o n s - oder der „ c h r i s t l i c h e S t a a t " der A u f k l ä r u n g s z e i t u n d des 19. J a h r h u n d e r t s , gegenüber abweichenden K u l t e n u n d deren A n h ä n g e r n religiöse „Toleranz" zu üben24. Das Bundesverfassungsgericht 21 BVerfGE 19, 206 (216); vgl. dazu K . Schiaich, Z u r weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates (s. Anm. 6), S. 34 ff. 22 A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, W D S t R L 26 (1968), S. 62, der sich gegen die von E. Forsthoff vertretene Auffassung wendet, daß durch A r t . 137 Abs. 1 WeimRV „jede institutionelle Verbindung" von Staat und Kirche verboten sei; vgl. E. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft i m Bundesstaat, Tübingen 1931, S. 112; kritisch dagegen auch K. Schiaich, Z u r weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates (s. Anm. 6), S. 39. Vgl. ferner U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 588. 23 ff. Barion, Ortung u n d Ordnung i m kanonischen Recht, in: FS f ü r Carl Schmitt, B e r l i n 1959, S. 30. 24 Über die Toleranzgesetzgebung i m früheren Deutschen Reich vgl. die Vertragsbestimmungen i m Augsburger Religionsfrieden vom 25. 9.1555, Text bei C. Mirbt (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. 5. Aufl., Tübingen 1934, S. 286, Ziff. 4; auch bei H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung u n d heutigen Geltung i n Deutschland, Leipzig 1891, S. 280 ff.; ferner die Bestimmungen i m Westfälischen Frieden, A r t . V, §§ 31 u n d 34 IPO, A r t . V I I , § 1 IPO; Text bei Mirbt, a.a.O., S. 379, 380 ff.; ferner das Toleranzpatent Joseph I I . v. 13.10.1781; Text bei Mirbt, a.a.O., S. 413; das preußische (sog. Wöllnersche) Religionsedikt v o m 9. 7.1788, abgedr. bei C. L. ff. Rabe, Sammlung Preußischer Gesetze und Verordnungen. 1. Bd., 7. Abt., enthaltend die

2. Kap. : Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

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verdient deshalb volle Zustimmung, wenn es erklärt, daß die Glaubensfreiheit, die Art. 4 GG gewährleiste, mehr sei als „religiöse Toleranzdie in der bloßen Duldung religiöser Bekenntnisse oder irreligiöser Überzeugungen bestehe 25 . Daraus leitet das Gericht die Folgerung ab, daß Art. 4 GG — i m Gegensatz zu den Toleranzedikten und -patenten der Aufklärungszeit 2 6 — nicht nur die Glaubensfreiheit gewährleiste, sondern auch das Recht zur Werbung für den eigenen und zur Abwerbung von einem fremden Glauben schütze und sogar das Hecht einschließe, Glaubensabwerbung unabhängig von einer Glaubenswerbung zu betreiben 27 . b) Toleranz als Gruppenrecht in der modernen Demokratie Nach dem Grundgesetz kann somit hinsichtlich der verfassungsrechtlich gewährleisteten religiösen Freiheitsrechte i m Verhältnis des Staates zu den Bürgern und den Religions- und Weltanschauungsgesellschaften nicht mehr von religiöser Toleranz, sondern nur noch von Religionsfreiheit gesprochen werden. Trotzdem kommt der Toleranz i n einer religiös und weltanschaulich nicht homogenen Gesellschaft, wie der der Bundesrepublik und nahezu aller übrigen Staaten, als einer unentbehrlichen Grundhaltung für die vom Staat zu schaffende und zu schützende — auch religiöse — Friedensordnung große Bedeutung zu. Das gilt sowohl für das Verhältnis der einzelnen Staatsbürger zueinander, ganz besonders aber für die friedliche Koexistenz verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und religiösen Gruppen im Rahmen derselben staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. So verstanden bildet der Grundsatz der Toleranz ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip, das erst eine allseitige und befriedigende Aktualisierung des Grundrechts der

Jahre 1782- 1789. Halle 1823, S. 727; auszugsw. bei Mirbt, a.a.O., S. 416; vgl. auch § 1 I I 11 P r A L R . — Über die spätere „liberale" Interpretation des A r t . 14 der Preußischen Verfassungsurkunde v o m 31.1.1850, der bestimmte, daß bei denjenigen Einrichtungen des Staates, welche m i t der Religionsausübung i m Zusammenhange stehen, unbeschadet der i n A r t . 12 dieser Verfassung gewährleisteten Religionsfreiheit die christliche Religion zugrunde gelegt werde, vgl. bei G. Anschütz, Die Verfassungsurkunde f ü r den Preußischen Staat v o m 31. Januar 1850, Bd. I, B e r l i n 1912, S. 272 ff. 25 BVerfGE 12,1 (3). 26 Vgl. z.B. das preußische (Wöllnersche) Religionsedikt (s. A n m . 24) v o m 9. 7.1788, das zwar allen Bürgern f ü r die private Religionsausübung völlige Gewissensfreiheit einräumte, jedoch n u r „so lange ein Jeder ruhig als ein guter Bürger des Staates seine Pflichten erfüllet, seine jedesmalige besondere Meinung aber f ü r sich behält u n d sich sorgfältig hütet, solche nicht auszubreiten oder andere dazu zu überreden u n d i n ihrem Glauben irre oder w a n kend zu machen", a.a.O., S. 727; auszugsweise auch bei Mirbt, Quellen (s. A n m . 24), S. 416. 27 BVerfGE 12,1 (3 f.).

1 2 I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

Religionsfreiheit und der übrigen Grundrechte bei den einzelnen Staatsbürgern und den religiösen Gemeinschaften ermöglicht 28 . Erst bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Toleranz erweist sich das Problem, das das Zusammenleben von Staatsbürgern verschiedener religiöser und weltanschaulicher Auffassung i n der rechtlichen Einheit desselben Staates aufwirft, i n seiner vollen Tragweite 2 9 . Die Menschen, die verschiedenen Glaubens sind, müssen einen Weg suchen, wie sie in Frieden zusammenleben und wirken können. Diese Verpflichtung ist ihnen, wie A. Hartmann schreibt, nicht nur durch die Notwendigkeiten des menschlichen Gemeinschaftslebens aufgegeben, sie wird, tiefer begründet, auch als Gewissenspflicht von ihnen gefordert. Sie haben sich menschlich zusammenzufinden trotz des Gegensatzes, der sich aus ihren widersprechenden Überzeugungen ergibt und der ihnen, da es um ihre innerste persönliche Bindung an die Wahrheit geht, i n seiner ganzen Schwere bewußt ist. Das ist die Aufgabe, die die Toleranz, i m echten Sinne verstanden, aus Achtung vor der Würde, der Persönlichkeit und der Gewissensentscheidung der anderen zu lösen hat 3 0 . Für die einzelnen Religionsgemeinschaften und religiösen und weltanschaulichen Gruppen bedeutet der Grundsatz der Toleranz deshalb die Pflicht zur Anerkennung des gleichen Existenzrechts anderer konkurrierender Gemeinschaften und Gruppen auf der Grundlage der für alle i n gleichem Maße geltenden verfassungsrechtlichen Ordnung 3 1 . Von dieser i m zwischenmenschlichen Bereich gebotenen religiösen Toleranz spricht das Bundesverfassungsgericht, wenn es i n der Entscheidung über die Unzulässigkeit der Heranziehung nicht kirchenangehöri28 Damit grundsätzlich i m Einklang die Auffassung von U. Eisenhardt, Der Begriff der Toleranz i m öffentlichen Recht, JZ 1968, 214 ff. m. w . N., der i n dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Toleranz zwar einen Anspruch auf Duldung gewisser Handlungen u n d Unterlassungen innerhalb eines bestimmten Rahmens, aber keinen Rechtsanspruch auf paritätische Behandlung erblickt. M a n w i r d w o h l i m Toleranzprinzip einen objektiven Verfassungsgrundsatz zu sehen haben, vergleichbar dem f ü r B u n d u n d Länder gleichermaßen geltenden „Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens" (vgl. dazu BVerfGE 8, 122 [140]) oder dem allgemeinen „Wohlwollensgebot" gegenüber Gewissenstätern, das das BVerfG aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit als einer wertentscheidenden Grundsatznorm höchsten verfassungsrechtlichen Ranges hergeleitet hat; vgl. BVerfGE 23,127 (134). 29 E i n Beispiel eines unter schwierigsten Bedingungen getroffenen Ausgleichs i m Zusammenleben verschiedener Religionen, nämlich christlicher Religionsgemeinschaften verschiedener Riten, mahummedanischer Religionsgemeinschaften verschiedener Richtungen u n d Juden, bildet der Libanon. Vgl. darüber die Darstellung v o n W. Kewenig, Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften i m Libanon. B e r l i n 1965, bes. S. 70 ff., „Die politische Entscheidung f ü r das System der Koexistenz". 30 A. Hartmann, Toleranz u n d christlicher Glaube, Frankfurt a. M. 1965, S. 112. 31 O. Busch, Toleranz u n d Grundgesetz, Bonn 1967, S. 109.

2. Kap. : Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

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ger Ehegatten in glaubensverschiedenen Ehen zur Kirchensteuer ausführt, daß die Toleranz, die Ehegatten in solchen Ehen einander schulden, nicht dazu führen dürfe, daß durch den Staat ein unausweichlicher Zwang ausgeübt werde, um unmittelbare Beziehungen, wenn auch nur finanzieller Art, zu einer Glaubensgemeinschaft auch bei dem Ehegatten zu schaffen, der dieser Gemeinschaft nicht angehöre. Es müsse hier vielmehr den Ehegatten selbst überlassen bleiben, wie weit sie i n religiösen und weltanschaulichen Fragen Konzessionen zu machen bereit seien 32 . Besondere Bedeutung gewinnt der Grundsatz der Toleranz im Bereich der Schule. Wie verschiedene Gerichtsentscheidungen der letzten Jahre beweisen, kann das Grundrecht der Religionsfreiheit, für sich allein genommen, auch i n jenen schwierigen und komplexen Fällen keine befriedigende Lösungsmöglichkeit bieten, i n denen i m Rahmen derselben staatlichen Institution ein rechtlicher Ausgleich zwischen den divergierenden Wertvorstellungen und Ansprüchen verschiedener religiöser und weltanschaulicher Gruppen und Richtungen gefunden werden muß. Eine abgewogene und verfassungskonforme Lösung dieser durch den konfessionellen und weltanschaulichen Pluralismus vorgegebenen unausweichlichen Problematik kann nicht allein mit Hilfe des Grundrechts dei positiven oder negativen Religionsfreiheit 33 , sondern, wenn überhaupt, nur unter Beachtung des ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Komplementärprinzips der Toleranz gefunden werden 3 4 . Zutreffend bemerkt i n diesem Zusammenhang Fr. Müller zur Frage der Möglichkeit einer christlichen Gemeinschaftsschule i n einem religiös nicht homogenen, weltanschaulich neutralen Staat, daß jede öffentliche Schule das Recht der Eltern tangiere, ihre Kinder auch i n weltanschaulichen Fragen unbeeinflußt von staatlichen Institutionen zu erziehen. Die Lage 32 BVerfGE 19, 226 (238); über die i m Interesse des politischen Zusammenlebens i n der freiheitlichen Demokratie erforderliche „politische Toleranz" handeln die Entscheidungen des BVerfG i n BVerfGE 5, 85 (139, 224 u n d 206 f.); 13,46 (53) ; 12,205( 206, L S 10 u n d 262 f.). 33 So aber die i n Begründung u n d Ergebnis verfehlte Entscheidung des HessStGH i m sog. „Schulgebetsurteil" v o m 27.10.1965, E S V G H 16, 1 = N J W 1966,31 ff.; vgl. dazu i n dieser A r b e i t Kap. 10, I V , 1. 34 Vgl. dazu S. Grundmann, Die Schule als staatskirchenrechtliches Problem i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : Speculum Iuris et Ecclesiarum. FS f ü r W i l l i b a l d M . Plöchl, S. 141 ff., bes. S. 143 f.; abgedr. auch i n : S. Grundmann, Abhandlungen zum Kirchenrecht, K ö l n 1969, S. 362 ff. Grundmann weist hier wiederholt auf die Bedeutung des m i t dem Grundrecht der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit korrespondierenden Toleranzprinzips hin. I n diesem Sinne auch W. Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, i n : Die Grundrechte (s. A n m . 19), Bd. IV/1, S. 90. Verschiedene Länderverfassungen erklären die Toleranz oder den „Grundsatz der Duldsamkeit" ausdrücklich zu einem der obersten Erziehungsziele. Vgl. i n dieser Hinsicht z. B. die Verfassung v o n BadenWürttemberg (Art. 17), Bayern (Art. 131 Abs. 2), Bremen (Art. 33), RheinlandPfalz (Art. 33).

1 4 I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

christlicher Eltern angesichts der Gemeinschaftsschule sei spiegelbildlich gleich der Lage nichtchristlicher Eltern angesichts der christlichen Gemeinschaftsschule. Der Staat dürfe den Glauben seiner Bürger gerade auch i n diesem Sinn so wenig bewerten wie den Unglauben. Es sei ihm deshalb verwehrt, sich mit dem Weglassen, d. h. der Ignorierung aller Form von Glauben, praktisch mit dem irreligiösen Teil der Elternschaft zu identifizieren, und dies als reine Neutralität zu qualifizieren 35 . Es kann, wie Fr. Müller m i t Recht betont, nicht der Sinn der Verfassung sein, in einer pluralistischen Gesellschaft die das Gemeinwesen bestimmenden geistigen Kräfte bereits dann und nur deshalb auszuklammern, weil sie kontrovers seien. I n j e n e n gemeinschaftlichen L e b e n s -

formen, i n denen der Staat von Verfassungs wegen gehalten sei, eigene öffentliche Institutionen zur Verfügung zu stellen, müsse er zwischen den einander widerstreitenden beteiligten Gruppen denjenigen institutionellen Ausgleich finden, der jeder einzelnen Position i m Rahmen des praktisch Möglichen optimal gerecht werde und der die unvermeidlichen Rechtseinschränkungen aller unter der Herrschaft des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots einander verhältnismäßig und sachgerecht zuordnet 3 6 . Gerade diese schwierige Aufgabe ist nur zu lösen durch Verwirklichung des ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Gebotes der Toleranz, d. h. durch ein sachbezogenes und verantwortungsbewußtes Zusammenwirken und ein Verhalten gegenüber den Mitbürgern, das diese trotz ihrer unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen i n ihrer personalen Würde anerkennt. I m Urteil über das Jugendwohlfahrts- und das Bundessozialhilfegesetz verlangt das Bundesverfassungsgericht, worauf Scheuner 37 hinweist, eine „sinnvolle Zusammenarbeit" öffentlicher und privater Einrichtungen, und eine „vernünftige Aufgabenverteilung und eine möglichst wirtschaftliche Verwendung der zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten M i t t e l " 3 8 . Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruht somit letztlich auf dem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Toleranz, der von jeder Teilgemeinschaft und von sämtlichen ihrer Glieder gewisse Einschränkungen und Ermäßigungen ihrer Ansprüche erfordert 39 . 35 Fr. Müller, Christliche Gemeinschaftsschule u n d weltanschauliche Neutralität des Staates, DÖV 1969, S. 444. 38 Fr. Müller, a.a.O., S. 445. 37 U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 592. 38 BVerfGE 22,180 (201 u n d 206). 39 Vgl. H. Ehmke y Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L , Heft 20 (1963), S. 77 ff., der die Aufgabe der Verfassung i n dem neutralen Ausgleich widerstreitender Prinzipien erblickt. Dieser Ausgleich sei vorzunehmen i n gegenseitiger Begrenzung u n d Toleranz. I n diesem Sinne auch F. Ossenbühl, Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, DÖV 1965,654 f.

2. Kap.: Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

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3. Religiöse Neutralität und staatliche Indifferenz

Das Gebot religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet den Staat zu innerer Unabhängigkeit und zur Enthaltsamkeit von jedem Eingriff und jeder Parteinahme i m Wirken und i m Streit der Konfessionen und Weltanschauungen. Sie gewährleistet die Freiheit der individuellen Glaubensüberzeugung und fordert die Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechtsstellung und der Zulassung zu staatlichen Ämtern vom Bekenntnis. Insoweit eignet der religiösen Neutralität nach einem Wort M. Heckeis 40 ein die „Absolutheit religiöser Bindung ausgrenzendes und abwehrendes,säkulares' Moment". Es hieße jedoch das Neutralitätsverständnis des Grundgesetzes unter Verkennung der grundlegenden Prinzipien der Verfassungsinterpretation vom Ansatz her verfehlen 41 , wollte man das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität als staatliche Nötigung zum individuellen Agnostizismus und Indifferentismus und als „Diktat eines Neutralismus i m Sinne verordneter Standpunktlosigkeit" und eines weltanschaulichen Vakuums verstehen 42 . Wie K. Hesse dazu ausführt, begründet die Glaubens-, Bekenntnis- und Kultusfreiheit als ein Grundelement objektiver demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates als Voraussetzung eines freien politischen Prozesses und als Grundlage heutiger Rechtsstaatlichkeit. Sie gewährleistet darüber hinaus ein freies Geistesleben, i n dem sich die maßgeblichen Wertauffassungen frei von staatlicher Beeinflussung bilden sollen. Das Grundrecht der Religionsfreiheit darf daher nicht nur in seiner negativen Funktion, nämlich als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe oder kirchliche Über40

M . Heckel, Staat Kirche K u n s t (s. A n m . 9), S. 209. Vgl. dazu die Ausführungen bei F. Ossenbühl, Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, DÖV 1965, S. 654 f., der unter den Prinzipien der V e r fassungsauslegung an erster Stelle das Prinzip der „Einheit der Verfassung" nennt, u n d diesen Grundsatz dahin deutet, daß er für Rechtsprechung u n d Lehre eine Interpretationsrichtlinie darstelle, u m die naturgegebenen Spannungsverhältnisse i n das richtige Maß zu bringen. Das bedeutet die Aufgabe, die einander widerstreitenden Prinzipien u n d Normen des Grundgesetzes i n ihrer Bedeutung u n d ihrem Gewicht zu erkennen, u n d die sich überlagernden Wirkungsfelder nach beiden Seiten einzuengen. Über den zwischen den einzelnen Verfassungsbestimmungen bestehenden Sinnzusammenhang u n d die E i n heit der Verfassung vgl. auch BVerfGE 1,14 (32 f.); 1, 208 (227 f.); 7, 198 (205). 42 M . Heckel, Staat Kirche K u n s t (s. A n m . 9), S. 209; KZ. Schiaich, Z u r w e l t anschaulichen u n d konfessionellen Neutralität des Staates (s. A n m . 6), S. 12; U. Scheuner, Auseinandersetzungen u n d Tendenzen i m deutschen Staatskirchenrecht, Kirchenverträge u n d Gesetze, Kirchensteuern, Gemeinschaftsschule, Religionsfreiheit, DÖV 1966, S. 145; P. Mikat, Kirche u n d Staat i n nachkonziliarer Sicht, i n : Kirche u n d Staat, FS f ü r Hermann Kunst, B e r l i n 1967, S. 120; abgedr. a u d i bei H. Quaritsch u n d ff. Weber (s. A n m . 14), S. 439; R. Zippelius, Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), A r t . 4 Rdnr. 24. 41

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

griffe, verstanden werden; es wird vielmehr zugleich um seiner Aktualisierung willen gewährleistet und zur Ermöglichung jener pluralen und freien politischen und geistigen Auseinandersetzung, die die Verfassung durch die Garantie der Grund- und Menschenrechte gerade sichern will. Glaube und Bekenntnis werden daher, wie Hesse betont, nicht i n einen Bereich des für die verfassungsmäßige Ordnung Unwesentlichen abgeschoben; sie werden vielmehr von der Verfassung als positive Werte und bedeutsame Gestaltungskräfte anerkannt, die jenen geistigen Prozeß tragen, um dessen Schutz es der Verfassung zu t u n ist 4 3 . Der Staat des Grundgesetzes ist deshalb durch das verfassungsrechtliche Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität nicht gehindert, sondern vielmehr sogar verpflichtet, dem Bürger i n der allgemeinen Rechtsordnung Raum und Freiheit zu lassen, i n Wort und Tat, i n Beruf, Erziehung, Familie und i m kulturellen und gesellschaftlichen Bereich ein seinem Bekenntnis entsprechendes Leben zu führen 4 4 . Kann somit i n der durch das Grundgesetz konstituierten freiheitlichdemokratischen Grundordnung bereits das Grundrecht der individuellen Religionsfreiheit nicht nur als negatives Abwehrrecht i m Sinne einer doktrinären laizistischen Staatsideologie aufgefaßt werden, d. h. eines Staatsverständnisses, das neben der Durchführung einer radikalen Trennung von Staat und Kirche auch die Beseitigung der Religion in allen ihren Erscheinungsformen aus dem Bereich des öffentlichen Lebens erstrebt 45 , so verbietet sich eine solche Interpretation des Grundgesetzes vollends wegen der institutionellen Bestimmungen des A r t . 140 GG. Wenn man m i t dem Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, daß die Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes das vornehmste Interpretationsprinzip für jede Verfassungsauslegung darstellt, da die Aufgabe der Verfassung ja gerade darin besteht, eine ein43

Vgl. zum Ganzen K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Karlsruhe 1968, S. 147 f.; ders., Freie Kirche i m demokratischen Gemeinwesen, Z e v K R 11, 354 ff. m. A n m . 53; ders., A r t . „Staat u n d Kirche", i n : Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 1966, Sp. 921; darüber, daß sich der Sinn der religiösen Freiheitsrechte nicht i n der negativen Religionsfreiheit erschöpft, vgl. M. S. Bates, Glaubensfreiheit, New Y o r k 1947, S. 443; R. Schulz-Lessdorf, Der Grundsatz der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit als innerkirchliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Bereichs der evangelischen Landeskirchen, Jur. Diss., F r a n k f u r t a. M . 1960, S. 2. 44 Vgl. M . Heckel, Staat Kirche K u n s t (s. A n m . 9), S. 209. 45 Über das Phänomen dieser nach dem i n den romanischen Ländern gemeinh i n üblichen Sprachgebrauch als „Laizismus" bezeichneten Bestrebungen vgl. die informative, allerdings n u r die katholische Kirche berücksichtigende, überwiegend kirchenhistorische Untersuchung v o n Klaus Weber, Der moderne Staat u n d die katholische Kirche. Laizistische Tendenzen i m staatlichen Leben der D r i t t e n Französischen Republik, des D r i t t e n Deutschen Reiches u n d der Volksrepublik Polen, Essen 1967.

2. Kap. : Die religiöse u n d weltanschauliche Neutralität des Staates

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h e i t l i c h e O r d n u n g des p o l i t i s c h e n u n d gesellschaftlichen L e b e n s z u s e i n 4 6 , e r w e i s t sich d a m i t j e d e V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n als w i l l k ü r l i c h u n d u n h a l t b a r , die nach e i n e r F o r m u l i e r u n g H . W e b e r s a u f der G r u n d l a g e e i n e r ü b e r w i e g e n d i n s N e g a t i v e g e w e n d e t e n G l a u b e n s - u n d Gewissensf r e i h e i t die T r e n n u n g v o n S t a a t u n d K i r c h e i m G r u n d g e s e t z z u v e r a n k e r n sucht, e i n m e h r oder w e n i g e r w e i t reichendes B e t ä t i g u n g s v e r b o t des Staates auf r e l i g i ö s e m G e b i e t p o s t u l i e r t u n d v o n d a h e r d e n R e l i g i o n s u n t e r r i c h t u n d die B e k e n n t n i s s c h u l e ( A r t . 7 G G ) 4 7 , d i e ö f f e n t l i c h - r e c h t liche K o r p o r a t i o n s q u a l i t ä t u n d das k i r c h l i c h e Besteuerungsrecht ( A r t . 140 GG) n u r als lästige, l e t z t l i c h n i c h t i n s B i l d passende D u r c h b r e c h u n g e n des a l l g e m e i n e n Grundsatzes a n s i e h t 4 8 . D i e A n h ä n g e r dieser A u f f a s s u n g übersehen, daß d i e K i r c h e n a r t i k e l der W e i m a r e r Reichsverfassung d u r c h die I n k o r p o r a t i o n i n das G r u n d g e s e t z v o l l g ü l t i g e s Verfassungsrecht d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d g e w o r d e n s i n d u n d gegenüber d e n a n d e r e n A r t i k e l n des Grundgesetzes n i c h t e t w a a u f d e r S t u f e eines m i n d e r e n Rechtes s t e h e n 4 9 . M i t Recht bezeichnet es d a h e r Hesse g e g e n ü b e r v . Z e z s c h w i t z 5 0 u n d F i s c h e r 5 1 als unzulässig, i n das Grundgesetz laizistische V o r s t e l l u n g e n 46 BVerfGE 19, 206 (220); zust. A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, W D S t R L , Heft 26 (1968), S. 58. 47 Vgl. BVerfGE 6, 309 (339); B a y V e r f G H 20, 125 (128 ff.). Bereits der W o r t laut der Präambel des Grundgesetzes „ I m Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott u n d den Menschen" läßt erkennen, daß die Bundesrepublik sich nicht als „laizistisches Staatswesen" versteht. Uber den rechtlichen Gehalt u n d die Bedeutung der Präambel vgl. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, § 8, Der Zweck des Grundgesetzes nach seinem Vorspruch, 17. Aufl., München 1969, S. 41 ff. 48 H. Weber, Schule, Staat u n d Religion, i n : Der Staat, Jg. 8 (1969), S. 496. H. Weber nennt als Hauptvertreter dieser Richtung: E. Fischer, Trennung v o n Staat u n d Kirche, München 1964; ders., Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschule? Die A n t w o r t des Grundgesetzes. München 1966; Ekkehard Stein, Weltanschauung u n d Religion i m Schulunterricht, i n : Recht der Jugend 1967, S. 2 9 - 3 4 ; Herb. Krüger, Ausführungen, i n : F. Giese - F. A. Frhr. v. d. Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozeß, München 1958, Bd. 3, S. 1052ff. (bes. S. 1082ff.); F. v. Zezschwitz, Staatliche Neutralitätspflicht u n d Schulgebet. Z u m U r t e i l des Hess. S t G H v. 27.10.1965 (Az.: P.St. 388), i n : JZ 1966, 337 - 344; R. v. Drygalski, Die E i n w i r k u n g e n der Kirchen auf den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Göttingen 1967; i n etwas abgeschwächter F o r m auch K. Obermayer, Staatskirchenrecht i m Wandel, DÖV 1967, S. 9 - 17; abgedr. auch bei ff. Quaritsch u n d H. Weber (s. A n m . 9), S. 382 ff. 49 BVerfGE 19, 206 (219). Der Staat des Grundgesetzes ist, w i e Erwin Stein betont, „ k e i n laizistischer Staat"; vgl. E. Stein, Z u r staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Juristen-Jahrbuch, Jg. 8 (1967/68), S. 126; ebenso H. Marré, Staat u n d Kirche i n der Bundesrepublik Deutschland. Neue Entwicklungen i m Staatskirchenrecht, i n : Zeitschrift f ü r Politik, Jg. 13 (N.F. - 1966), S. 397 ff.; Th. Maunz, Toleranz u n d Parität i m deutschen Staatsrecht, München 1953, S. 8. 50 F. υ. Zezschwitz, Staatliche Neutralitätspflicht (s. A n m . 48), S. 339. 51 E. Fischer, Trennung v o n Staat u n d Kirche (s. A n m . 48), S. 32 f., 144, 230 ff., 261.

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1 8 I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

hineinzutragen, die diesem fremd seien. Damit würde die Bedeutung der Religionsfreiheit zu Unrecht auf das „Gebot zu religiöser Indifferenz des Staates" verkürzt und geradezu i n ihr Gegenteil verkehrt 5 2 .

52 Vgl. K . Hesse, Freie Kirche (s. A n m . 4), ZevKR, Bd. 11, S. 355; 17. Scheuner, Die Religionsfreiheit (s. A n m . 12), D Ö V 1967, S. 588. Z u dem falschen von E. Fischer vertretenen Interpretationsgrundsatz „ i n dubio pro separatione" vgl. die Ausführungen bei A. Hollerbach, Trennung v o n Staat u n d Kirche?, i n : Hochland, Jg. 58 (1965/66), S. 64 f.; ferner H. J. Becker, Rez. zu E. Fischer, Trennung v o n Staat u n d Kirche (s. A n m . 48), N J W 1964, S. 2005; H. Engelhardt, Staat u n d Religion, Lutherische Monatshefte, Jg. 4 (1965), S. 556 ff.; a. A . W. Keim, Schule u n d Religion. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates u n d die Verbreitung religiösen Gedankenguts m i t H i l f e des Schulwesens i n den Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a u n d i n Deutschland. 2. Aufl., Hamburg 1969, der zu Unrecht versucht, das dem Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland zugrundeliegende Verständnis der religiösen u n d weltanschaulichen Neutralität des Staates i m Sinne der i n dieser Hinsicht von einem gänzlich anderen Geiste getragenen Verfassung der Vereinigten Staaten von A m e r i k a zu interpretieren, u n d die Meinung vertritt, daß der Staat des Grundgesetzes gegenüber religiösen Vorstellungen „neutral, d. h. gleichgültig oder indifferent" sein müsse. Vgl. a.a.O., S. 131 m i t A n m . 675.

Drittes Kapitel

D i e Religionsfreiheit i n den modernen Verfassungen 1. Der Schutz der Religionsfreiheit in den außerdeutschen Verfassungen

A l l e modernen Verfassungen enthalten Bestimmungen zum Schutz der Religionsfreiheit. Hinter den oft nahezu gleichlautenden Verfassungsartikeln verbirgt sich jedoch nicht immer auch der gleiche Schutzgehalt. Welche Bedeutung dem Recht auf Religionsfreiheit i n einem Staate w i r k lich zukommt, ergibt sich erst aus dem Stellenwert der religiösen Freiheitsrechte i m Gesamtgefüge einer verfassungsrechtlichen Ordnung, aus dem Zusammenhang dieser Rechte mit den A r t i k e l n über die Kirchen und religiösen Gemeinschaften und letztlich aus der Verfassungs- und Verwaltungspraxis 1 . Das Grundrecht der Religionsfreiheit i m Vollsinn des Wortes ist i n einem Staat erst dann gewährleistet, wenn den Bürgern die i n der „Erklärung über die religiöse Freiheit" der Ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen von Amsterdam aufgeführten vier elementaren religiösen Einzelfreiheiten nicht nur nach dem Wortlaut der jeweiligen Verfassung, sondern auch i n der Verfassungswirklichkeit zustehen 2 : a) Liberty of conscience, d. h. das Recht, den eigenen Glauben frei zu wählen und den Inhalt des Bekenntnisses unbeeinflußt vom Staat frei zu bestimmen; b) Liberty of expression, d. h. die Freiheit, den Glauben allein oder i n Gemeinschaft offen zu bekennen; c) Liberty heit;

of religious association, d. h. die religiöse Vereinigungsfrei-

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H. Maier j Religionsfreiheit, i n : K . Rahner, ff. Maier, U. Mann, M . Schmaus (Hrsg.), Relgionsfreiheit. E i n Problem f ü r Staat u n d Kirche, München 1966, S. 33; U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 587. 2 Wortlaut der E r k l ä r u n g i n : W. A. Visser' t Hooft (Hrsg.), Die erste V o l l v e r sammlung des Oekumenischen Rates der Kirchen i n Amsterdam v o m 22. A u gust bis 4. September 1948. Genf 1948, S. 129 ff.; englischer Originaltext u. a. bei A. F. Carrillo de Albornoz, The Basis of Religious Liberty, New Y o r k 1963, S. 157 ff.; vgl. darüber auch diese Arbeit, Kap. 4, A n m . 1.

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

d) Corporate and institutional religious freedom, d. h. das Recht der Religionsgemeinschaften, eigenständig und unabhängig von jedem staatlichen Eingriff ihre religiösen Ziele zu bestimmen und zu verfolgen 3 . Untersucht man die Verfassungen der einzelnen Staaten unter der Rücksicht, i n welchem Umfang sie die genannten vier Elemente des voll aktualisierten Rechts auf Religionsfreiheit gewährleisten, so ergeben sich i m Sinne einer allgemeinen Typologie zwei konstitutionelle Grundformen des Schutzes religiöser Freiheitsrechte: Während die eine Gruppe von Staaten den Schutz der Religionsfreiheit auf den inneren Gewissensbezirk von oft nur minimaler Ausdehnung begrenzt, geht die andere Gruppe über diesen Minimalbereich hinaus und bezieht auch die öffentliche individuelle und gemeinschaftliche Religionsausübung, ihre korporativen Formen und Institutionen und schließlich die konkreten Religionsgemeinschaften selber i n den Verfassungsschutz ein 4 . Nur den innersten Bereich religiöser Betätigung schützen, ungeachtet des i m Einzelfall entgegenstehenden Wortlauts, die Verfassungen der kommunistischen Staaten. Diese Staaten geben überdies zu erkennen, daß es ihnen mehr u m das Recht der Staatsbürger, keine Religion zu haben, zu tun ist, als u m eine Verfassungsgarantie positiver religiöser Freiheitsrechte. I n diesem Sinne bestimmt Art. 124 der Verfassung der Sowjetunion vom 5.12.1936: „ Z u r Sicherung der Gewissensfreiheit der Staatsbürger sind i n der UdSSR die Kirche v o m Staate u n d die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser K u l t e u n d die Freiheit der antireligiösen Propaganda ist allen Staatsbürgern zuerkannt 5 ." 3

Vgl. bei Carrillo de Albornoz (s. A n m . 2), S. 157 ff. u n d S. 22. Vgl. zum Ganzen H. Maier, Religionsfreiheit (s. A n m . 1), S. 35; reichhaltiges Material zu dieser Frage auch i n der — staatsrechtlich betrachtet — nach A n lage u n d Durchführung allerdings nicht befriedigenden Untersuchung von J. Funk, Die Religionen i n den Verfassungen der Erde, Kaldenkirchen/Rhld. 1960. 5 Abgedruckt bei G. Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufl., München 1964, S. 560 ff. F ü r das Verständnis der Geltung u n d der F u n k t i o n von Grundrechten i n kommunistischen Staaten ist die Berücksichtigung der Tatsache von entscheidender Bedeutung, daß i n der marxistisch-leninistischen Rechtslehre dem Recht eine selbständige, unparteiliche u n d v o n der jeweiligen — v o n der k o m munistischen Partei festgesetzten — Staatszielsetzung u n d -Verwirklichung u n abhängige Stellung nicht zukommen kann. Vgl. dazu z.B. S. Mampel, Das Recht i n Mitteldeutschland, K ö l n - B e r l i n - Bonn - München 1966, S. 70. Nach der Staatslehre der kommunistischen Staaten ist i m marxistisch-leninistischen Staat die Einheit der Interessen der Einzelmenschen m i t denen der Gesellschaft erstmalig vollkommen erreicht. Vgl. dazu z. B. H. W. Bracht, Die Menschenrechte i m Marxismus-Leninismus, i n : Die Menschenrechte u n d die SBZ. Z u m „ J a h r der Menschenrechte", hrsg. v o m Mitteldeutschen K u l t u r r a t e.V., Bonn 1965, S. 51, m. w . N. Daraus folgt, daß die Grundrechte nicht gegen den Staat, sondern n u r i n seinem Interesse geltend gemacht werden können. Die Berufung auf ein 4

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Die Verfassungswirklichkeit der Sowjetunion kennt nur i n geringem Maße einen Schutz öffentlicher und gemeinschaftlicher religiöser Betätigung, sie ist jedoch auf der anderen Seite durch eine intensive staatliche Förderung atheistischer und kirchenfeindlicher Propaganda gekennzeichnet, die mit vielfältigen administrativen Behinderungen religiöser Betätigung und mit häufig schwerwiegenden Formen religiöser Diskriminierung verbunden ist 6 . Bereits der Verfassungstext ergibt, wie H. Maier schreibt, das bekannte B i l d einer auf den Sakristeibezirk zurückgedrängten, allenfalls der musealen, folkloristischen Schaustellung dienenden Kirche auf der einen und der offiziellen atheistischen Propaganda, hinter der die Fülle der staatlichen Machtmittel steht, auf der anderen Seite. Die Verfassungswirklichkeit der Sowjetunion und einer Reihe anderer kommunistischer Staaten bildet daher ein widersprüchliches Ganzes, das nur durch einen „völlig formalisierten Begriff der Religionsfreiheit" zusammengehalten w i r d 7 . I n Staaten wie Polen, wo die katholische Kirche nach wie vor eine starke Stellung einnimmt, ist die Situation für die Kirchen faktisch erträglicher als in der Sowjetunion. Gleiches gilt für Ungarn und Rumänien. Aber auch i n diesen Staaten ist die Religionspolitik der Regierungen langfristig auf die Beseitigung jeglichen religiösen Lebens gerichtet. Der Unterschied muß lediglich i n dem von der kommunistischen Ideologie bestimmten i m Vergleich zur Sowjetunion weniger radikalen taktischen Vorgehen der kommunistischen Parteien dieser Staaten gesehen werden. I n der mohammedanischen Staatenwelt, i n der, wie in den Territorien des europäischen Mittelalters, K u l t u r und Religion noch weithin eine Einheit bilden, gewinnt die Idee der allgemeinen Religionsfreiheit nur lang-

Grundrecht ist demnach ζ. B. i n der Sowjetunion dann ausgeschlossen, wenn damit gegen die jeweils geltende Generallinie der den Sowjetstaat führenden Kommunistischen Partei verstoßen würde. Vgl. R. Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 327. Z u m Grundrechtsverständnis der kommunistischen Staaten vgl. auch Stefan Rozmaryn, L a Constitution, loi fondamentale de l'État socialiste, i n : P. Biscaretti di Ruff ία et St. Rozmaryn , L a Constitution comme loi fondamentale dans les États de l'Europe occidentale et dans les États socialistes, Torino - Paris 1966, S. 77 ff. ( = Bibliothèque Européenne publiée sous les auspices de l ' I n s t i t u t Universitaire de T u r i n , Tome VI). 8 Über das konkrete Ausmaß der Behinderung der individuellen Religionsausübung u n d vor allem jeglicher dem Staate nicht genehmer kirchlicher Betätigung i n der Sowjetunion vgl. die umfangreiche Dokumentation „Die Kirche unter dem Sowjetregime. Z w e i russisch-orthodoxe Priester erheben Beschwerde über Eingriffe des Staates i n die Religions- u n d Gewissensfreiheit", i n : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 135 v o m 14. 6.1966, S. 13 f. I n diesem Z u sammenhang i n s t r u k t i v die Dokumentation von Nadeshda Theodorowitsch, Religion u n d Atheismus i n der UdSSR. Dokumente u n d Berichte. München 1970. 7 H. Maier, Religionsfreiheit (zit. A n m . 1), S. 36.

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sam Boden. Während einige islamische Staaten Asiens, wie ζ. B. Pakistan, innerhalb bestimmter Grenzen freie Religionsausübung gewähren, sind der Religionsfreiheit i n anderen islamischen Staaten nach wie vor enge Schranken gezogen. Volle „Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit" gewährt die Türkei i n A r t . 19 und 20 der Verfassung vom 9. 7.1961 8 . Große Bedeutung messen dem Schutz der individuellen und korporativen Religionsfreiheit die Verfassungen der Staaten Indien 9 , Indonesien 10 und Japan 1 1 bei. I n den Staatskirchenländern des europäischen Nordens sind i m Laufe der letzten achtzig Jahre ebenfalls zumindest die verfassungsrechtlichen Diskriminierungen religiöser Minderheiten beseitigt worden 1 2 . Auch Spanien konnte sich auf die Dauer den internationalen Forderungen nach voller Anerkennung der Menschenrechte nicht entziehen und die Entwicklung i n der katholischen Weltkirche nicht ignorieren. Durch die Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde jenen politischen und kirchlichen Kräften innerhalb Spanien, die seit Jahren gegen heftige Widerstände die Schaffung eines Gesetzes zum Schutze der Religionsfreiheit gefordert hatten, die volle Unterstützung der katholischen Kirche zuteil. A m 26. 6. 1967 haben die spanischen Cortes das Gesetz zur Regelung der Religionsfreiheit mit großer Mehrheit angenommen. Es gewährt auch den Nichtkatholiken das Recht auf öffentliche Religionsausübung und garantiert ihnen volle staatsbürgerliche Gleichheitsrechte. Das Gesetz bleibt freilich i n einigen 8 Über Pakistan vgl. A. Camps, A r t . Pakistan, i n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 6, Freiburg 1961, Sp. 130 f., I V , Religiöse Verhältnisse; über die T ü r k e i Ε. E. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, F r a n k f u r t 1966, S. 98 f. 9 Vgl. dazu bei J. Funk (s. A n m . 4), S. 90 f. u n d 253. I n einigen Staaten Indiens sind allerdings i n letzter Zeit erhebliche Behinderungen der Betätigung christlicher Kirchen festzustellen. Die von den indischen Bundesstaaten Orissa u n d Madhya Pradesh am 9. Januar bzw. am 19. September 1968 verabschiedeten „Religionsfreiheitsgesetze" sind i n Wirklichkeit „Antikonversionsgesetze", die v o m Geist einer extremen hinduistischen Richtung inspiriert sind. Vgl. dazu die Dokumentation „Sind die Missionare bedroht?", i n : Herderkorrespondenz, 23. Jg. (1969), S. 213 ff.; u n d den Bericht „ I n d i e n " v o n L. Wiedenmann, i n : Die Katholischen Missionen, 88. Jg. (1969), S. 59 ff. 10 Vgl. dazu A. Smetsers, A r t . „Indonesien", I V , Religiöse Verhältnisse, i n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 4, Freiburg 1959, Sp. 264 f.; auch bei J. Funk (s. A n m . 4), S. 92. 11 Über die japanische Verfassung vgl. bei J. Funk (zit. A n m . 4), S. 96 und 256; ferner J. Monsterleet, A r t . „Japan", I V , Die religiösen Verhältnisse, i n : Staatslexikon, Bd. 4, Freiburg 1959, Sp. 601 ff. 12 Norwegen hat bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention einen Vorbehalt gemacht des Inhalts, daß das i n der norwegischen Verfassung enthaltene Verbot des Jesuitenordens unberührt bleibe. Nach A u f hebung dieser Verfassungsbestimmung ist dieser Vorbehalt am 4.12.1956 zurückgezogen worden. Vgl. H. Guradze, Die europäische Menschenrechtskonvention. B e r l i n u n d Frankfurt a. M. 1968, A r t . 9, Erl. 1.

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Punkten hinter den Ausführungen der Konzilserklärung zurück und hat die Erwartungen der spanischen Protestanten nicht voll erfüllt 1 3 . Volle individuelle und korporative Religionsfreiheit herrscht i n den mitteleuropäischen und angelsächsischen Staaten. Gewisse Beschränkungen, wie die konfessionellen Ausnahmeartikel und insbesondere das Jesuitenverbot i n der Schweiz 14 und das Verbot religiöser Genossenschaften i n Frankreich, bilden dabei Relikte „liberaler Ressentiments und bestimmter Aspirationen des laizistischen K u l t u r staats" des 19. Jahrhunderts 15 . Die rechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche i n diesen Ländern reicht dabei von der absoluten Trennung i m laizistischen Frankreich 1 6 über die freundschaftliche Trennung, wie sie i n den Vereinigten Staaten von Amerika besteht 17 , bis zu der das StaatKirche-Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland kennzeichnenden lockeren Verbindung von Staat und Kirche, die eine paritätische Förderung der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch den Staat zuläßt. 2. Der Schutz der Religionsfreiheit im Grundgesetz

Das Grundgesetz schützt i m weitestgehenden Maße sämtliche Formen religiöser Betätigung, die die „Erklärung über die religiöse Freiheit" der Ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen zu A m sterdam vom Jahre 1948 enthält 1 8 . I m Parlamentarischen Rat führte ein heftiges Ringen um die Einfügung der Kirchenartikel i n das Grundgesetz zu einer systemwidrigen Trennung 13 Vgl. dazu die Berichte i n : Herderkorrespondenz, 21. Jg. (1967), S. 212 ff. u n d 356. 14 Über die Bemühungen, die konfessionellen A u s n a h m e - A r t i k e l (Art. 51 u n d 52) der schweizerischen Bundesverfassung zu beseitigen, vgl. das v o m E i d genössischen Departement des I n n e r n am 17.11.1969 veröffentlichte „Gutachten zum Jesuiten- u n d K l o s t e r - A r t i k e l der Bundesverfassung, I I I . Teil, Verfassungspolitische Folgerungen: Die Neuordnung anstelle der bisherigen A r t i kel 51 u n d 21 B V " des Zürcher Staatsrechtslehrers W. Kägi. 15 H. Maier, Religionsfreiheit (s. A n m . 1), S. 38. 16 Vgl. A r t . 2 der Verfassung der Französischen Republik v o m 28. 9. 1958: „ L a France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale"; abgedr. bei G. Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufl., München 1964, S. 454; vgl. auch G. Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem. K ö l n u n d Opladen 1960, S. 116; A. v. Campenhausen, A r t . „Laizismus", i n : Ev. Staatslexikon, Stuttgart 1966, Sp. 1203 f. m. w . N. 17 Vgl. ff.-W. Bayer, Das Prinzip der Trennung v o n Staat u n d Kirche als Problem der neueren Rechtsprechung des United States Supreme Court, i n : ZaöRVR, Jg. 24 (1964) ff.; W. K e i m , Schule u n d Religion. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates u n d die Verbreitung religiösen Gedankenguts m i t Hilfe des Schulwesens i n den Vereinigten Staaten von A m e r i k a u n d i n Deutschland. 2. Aufl., Hamburg 1969. Der Verfasser versucht allerdings zu Unrecht, das Neutralitätsverständnis der US-Verfassung auch i n das G r u n d gesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland hineinzuinterpretieren. Dazu ff. Weber, Schule, Staat, Religion, i n : Der Staat, 8. Jg. (1969), S. 497 ff. 18 Vgl. „ E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit" (s. A n m . 2 f.).

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Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

der individualrechtlichen Verbürgungen der Religionsfreiheit von den institutionellen staatskirchenrechtlichen Regelungen. Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, des Zentrums und der DP 1 9 , der eine verfassungsrechtliche Neuregelung des Staat-Kirche-Verhältnisses erstrebte, wurde vom Hauptausschuß am 29. 11. 1948 abgelehnt 20 . A u f Vorschlag der Abgeordneten Theodor Heuß und Hermann Höpker-Aschoff wurde schließlich ein Kompromiß erzielt und beschlossen, die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung i n das Grundgesetz zu inkorporieren und sie damit zum Bestandteil des Grundgesetzes zu machen 21 . Die individualrechtlichen Gewährleistungen der Glaubens-, Gewissens» und Bekenntnisfreiheit wurden i n Art. 4 Abs. 1 GG und das Grundrecht der Kultusfreiheit i n A r t . 4 Abs. 2 GG geregelt. Es verdient dabei Erwähnung, daß sich der Parlamentarische Rat den Vorschlag des Bonner Staatsrechtslehrers Richard Thoma nicht zu eigen gemacht hat, der i n einer für den Parlamentarischen Rat verfaßten „Kritischen Würdigung des vom Ausschuß für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates beschlossenen und veröffentlichten Grundrechtskatalogs" angeregt hatte, i n Art. 4 Abs. 1 GG nur die Freiheit des offenen Bekenntnisses aller Überzeugungen zu schützen, da für einen besonderen Schutz der Freiheit des Glaubens und der Überzeugung kein Grund bestehe, da diese ohnehin niemand antasten könne. Nach längerer Aussprache beschloß der Parlamentarische Rat i n Anbetracht der während der Zeit des Dritten Reiches gemachten Erfahrungen, dessen Machthaber häufig versucht hatten, m i t den Mitteln des staatlichen Machtapparates auch auf die Glaubensfreiheit vieler Staatsbürger Einfluß zu nehmen, i m Einklang mit der Tradition des deutschen Staatsrechts auch die innere Seite des Bekenntnisses und den Gewissensbereich i n den Schutz dieses Grundrechts miteinzubeziehen 22 . 3. Der Schutz der Religionsfreiheit in der Deutschen Demokratischen Republik

Während die Deutsche Demokratische Republik in ihrer Verfassung vom 7. 10. 1949 die individuellen religiösen Freiheitsrechte und die Frei19 Wortlaut des Antrags i n : Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N. F., Bd. 1 (1951), S. 899 f. 20 Einzelheiten vgl. bei K.-E. Schlief, Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat u n d Kirche u n d seine Ausgestaltung i m Bonner Grundgesetz. Geschichte, Entstehungsgeschichte u n d Auslegung des A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 WRV. Jur. Diss., Münster 1961, S. 78 ff.; vgl. auch BVerfGE 19, 206 (218 ff.). 21 Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 1 (s. A n m . 19), S. 901 ff.; vgl. auch bei Κ . E. Schlief (s. A n m . 20), S. 79 ff. 22 Vgl. JöR, Bd. 1 (s. A n m . 19), S. 73 u n d S. 49 m i t A n m . 11. Über die geschichtliche Entwicklung des Grundrechts der Religionsfreiheit i n der neueren deutschen Rechtsentwicklung vgl. J. Listi , Die Religionsfreiheit als I n d i v i d u a l - u n d Verbandsgrundrecht i n der neueren deutschen Rechtsentwicklung u n d i m Grundgesetz, i n : Essener Gespräche, Heft 3, Münster 1969, S. 39 ff.

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h e i t u n d die i n s t i t u t i o n e l l e S i c h e r u n g der Religonsgesellschaften i n d e n i h r e m W o r t l a u t nach eng a n die B e s t i m m u n g e n der W e i m a r e r Reichsverfassung a n g e l e h n t e n A r t i k e l n 41 bis 46 a u s f ü h r l i c h b e r ü c k s i c h t i g t e 2 3 , s i n d die B e s t i m m u n g e n z u m Schutze der R e l i g i o n u n d d e r i n d i v i d u e l l e n u n d k o r p o r a t i v e n R e l i g i o n s f r e i h e i t i n d e r a m 6. A p r i l 1968 d u r c h V o l k s entscheid beschlossenen u n d a m 8. A p r i l 1968 d u r c h d e n V o r s i t z e n d e n des Staatsrates der Deutschen D e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k v e r k ü n d e t e n n e u e n DDR-Verfassung auf einen einzigen A r t i k e l zusammengeschrumpft. A r t . 39 der D D R - V e r f a s s u n g v o m 8. 4. 1968, d i e das G r u n d r e c h t der R e l i g i o n s f r e i h e i t a n v o r l e t z t e r S t e l l e des m i t „ G r u n d r e c h t e u n d G r u n d p f l i c h t e n der B ü r g e r " überschriebenen A b s c h n i t t e s a u f f ü h r t 2 4 , l a u t e t : „(1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen u n d religiöse Handlungen auszuüben. (2) Die Kirchen u n d anderen Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus i n Übereinstimmung m i t der V e r fassung u n d den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik. Näheres k a n n durch Vereinbarungen geregelt werden." B e r e i t s d u r c h d e n W o r t l a u t dieses A r t i k e l s g i b t die V e r f a s s u n g der D D R z u e r k e n n e n , daß sie, ebenso w i e d i e V e r f a s s u n g e n a n d e r e r k o m m u n i s t i s c h e r Staaten, j e d e A k t u a l i s i e r u n g des G r u n d r e c h t s d e r R e l i g i o n s f r e i h e i t , insbesondere g i l t das f ü r die B e t ä t i g u n g der K i r c h e n u n d R e l i gionsgemeinschaften, u n t e r d e n V o r b e h a l t der staatlichen Gesetze s t e l l t u n d die K i r c h e n f r e i h e i t n u r nach M a ß g a b e u n d i m R a h m e n d e r j e w e i l s v o n der K o m m u n i s t i s c h e n P a r t e i festgesetzten Staatsziele g e w ä h r t 2 5 .

23 Vgl. dazu S. Mampel, Das Recht i n Mitteldeutschland (s. A n m . 5), Rdnr. 666,687 ff. 24 Diese Lokalisierung innerhalb des Grundrechtskatalogs der DDR-Verfassung muß auch als wertende Einstufung dieser Freiheitsgarantie durch den Verfassungsgeber angesehen werden. I n der Reihenfolge nach dem Grundrecht der Religionsfreiheit enthält die DDR-Verfassung i m Grundrechtsteil n u r noch den A r t . 40, der denjenigen Bürgern der DDR, die „sorbischer Nationalität" sind, das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache u n d K u l t u r garantiert und ihnen f ü r die Ausübung dieses Rechts die Förderung durch den Staat v e r spricht. 25 Über die vergeblichen Versuche der ev. u n d kath. Bischöfe der DDR, nach dem V o r b i l d des A r t . 4 Abs. 1 GG auch i n der neuen DDR-Verfassung eine ausdrückliche Garantie des Grundrechts der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit zu erreichen, sowie über den v o n der Regierung der DDR abgelehnten A l t e r nativ-Vorschlag zu A r t . 39 der Verfassung, m i t dem die Kirchen eine institutionelle verfassungsrechtliche Sicherung des Rechts, ihre Angelegenheiten selbständig nach Maßgabe der für alle geltenden Gesetze u n d ferner die ausdrückliche Gewährleistung ihrer Rechtsfähigkeit, ihres Eigentums u n d des Rechts, ihre Mitglieder zu geordneten Abgaben u n d zu Opfern heranzuziehen, erstrebten, vgl. J. Listi , Die Religionsfreiheit (s. A n m . 22), S. 70 f. u n d S. 90, jeweils m. w . N.

Viertes

Kapitel

D i e Sicherung der Religionsfreiheit durch internationale K o n v e n t i o n e n I. Die Sicherung der Religionsfreiheit in den Friedensverträgen des 17* und 18. Jahrhunderts Die fortschreitende Erkenntnis von der Notwendigkeit des Schutzes der freien Glaubensüberzeugung bewirkte, daß i n der Neuzeit die Religionsfreiheit nicht n u r unter einen qualifizierten staatlichen Schutz gestellt wurde, sie hatte auch zur Folge, daß der Sicherung religiöser Freiheitsrechte auch i n völkerrechtlichen Verträgen und Konventionen große Bedeutung beigemessen wurde. Bereits i n den Friedensschlüssen des 17. und 18. Jahrhunderts wurde bei territorialen Veränderungen der Schutz der Religionsfreiheit der Bewohner jener Gebiete, die an ein L a n d oder einen Herrscher anderer Konfessionen abgetreten werden mußten, häufig i n besonderer Weise geregelt. Die Religionsfreiheit wurde damit i n der Neuzeit 1 Gegenstand völkerrechtlicher und, soweit es sich u m Vereinbarungen der Stände des Deutschen Reiches untereinander handelte, auch staatsrechtlicher Verträge. I m Westfälischen Frieden von Osnabrück vom 24. 10. 1648 wurde z w i schen dem Kaiser, den Reichsständen u n d dem schwedischen K ö n i g eine konfessionsrechtliche Regelung vereinbart, die bis zum Untergang des Reiches verbindlich blieb 2 . Die Bestimmungen des Westfälischen Friedens g e w ä h r t e n jedoch kein

Recht auf individuelle

Religionsfreiheit

im

mo-

dernen Sinne, sondern anerkannten grundsätzlich die weiterbestehende 1 Bereits i m 9. Jahrhundert trafen K a r l der Große u n d der K a l i f Harun-alRaschid v o n Bagdad freundschaftliche Vereinbarungen zum Schutz der Palästina-Pilger; vgl. dazu P. Lanarès , L a Liberté Religieuse dans les conventions internationales et dans le Droit Public Général, Roanne 1964, S. 77. 2 Vgl. A r t . V § 8 des Instrumentum Pacis Osnabrugense, i n : Konrad Müller (Hrsg.), Instrumenta Pacis Westfalicae. Die westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text m i t Übersetzung der wichtigeren A b schnitte ( = Quellen zur Neueren Geschichte. Heft 12/13. Hrsg. v o m Histor. Seminar der Universität Bern). Bern 1949, S. 25 (27) u n d 113 (115); lat. Text auch bei K. Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung der Deutschen Reichsverfassung i m Mittelalter und i n der Neuzeit, 2. Aufl., 1913, S. 403 ff.

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

27

Religionshoheit der Fürsten und Reichsstände. Nur i n eingeschränktem Maße enthielten die §§31 und 35 des Art. 5 des Friedens von Osnabrück auch individualrechtliche Freiheitsgarantien insofern, als den Angehörigen der drei reichsrechtlich anerkannten Religionsparteien das Recht auf Beibehaltung der i m „Normaljahr" 1624 ausgeübten Religion zugesichert und den Angehörigen einer anderen Konfession als der des Landesherrn das Recht auf „Gewissensfreiheit", d. h. auf die private Hausandacht, eingeräumt wurde. § 36 regelte das Recht auf Emigration. I m Religionsrezeß vom 26. 4. 1672 verpflichtete sich Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg gegenüber Philipp Wilhelm von Pfalz-Neuburg, den Bewohnern der Gebiete Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg die Glaubens- und Kultusfreiheit sowie die bürgerlichen Freiheitsrechte auch i n Zukunft uneingeschränkt zu gewährleisten 3 . I n gleicher Weise verpflichtete sich Friedrich II. von Preußen i m Frieden von Hubertusburg vom 15. 2. 1763, die katholische Religion i n Schlesien i n dem Zustande zu erhalten, i n dem sie zur Zeit des Vorfriedens von Breslau und des Friedensvertrags von Berlin gewesen war. Außerdem garantierte er den Bewohnern Schlesiens ihre sämtlichen Besitzungen, Freiheiten und Privilegien 4 . Ebenso verpflichtete sich England in Art. 14 des Friedensvertrages von Utrecht vom 13.5.1713 gegenüber Frankreich, den Einwohnern der durch den Friedensvertrag an England fallenden Kolonien innerhalb eines Jahres die Auswanderung zu gestatten und denjenigen Bewohnern, die i n den ehemals französischen Territorien und Kolonien zu bleiben wünschten, die Ausübung der römisch-katholischen Religion zu erlauben 5 . Das Völkerrecht, insbesondere das des 19. Jahrhunderts, kennt zahlreiche internationale Abkommen, i n denen ein oder mehrere Staaten Schutzgarantien für religiöse Minderheiten übernahmen, und zwar sowohl für christliche Minderheiten in konfessionell anders strukturierten christlichen Ländern 6 als auch für christliche Minderheiten i n mohammedanischen 7 , und für nicht-christliche Minderheiten und Juden i n 3 Abgedruckt bei ff. Raab, Kirche u n d Staat. V o n der M i t t e des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. München 1966, S. 187 ff.; vgl. auch P. Mikat, Das Verhältnis von Kirche u n d Staat i m Lande Nordrhein-Westfalen i n Geschichte u n d Gegenwart. K ö l n u n d Opladen 1966, S. 21. 4 Vgl. M. Lehmann, Preußen u n d die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives. Bd. 4, Leipzig 1883, S. 96; auszugsweise auch bei H. Raab, a.a.O., S. 198. 5 Vgl. M . de Clercq, Recueil des traités de la France. Tome 1er (1713 - 1802), Paris 1880, S. 7; auszugsweise auch bei Lanarès, a.a.O., S. 111. 6 Vgl. Lanarès, a.a.O., S. 107 ff. 7 Vgl. Lanarès (zit. A n m . 1), S. 125 ff.

28

I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

christlichen Ländern 8 . I n diesem Sinne enthält ζ. B. der Berliner Vertrag vom Jahre 1878 Bestimmungen über die rechtliche Gleichstellung religiöser Minderheiten in Rumänien, Serbien, Bulgarien und Montenegro 9 . II. Der Völkerbund Nach dem Ersten Weltkrieg unternahmen die Großmächte den Versuch, durch die Gründung des Völkerbundes die internationale Friedensordnung auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Völkerbund betrachtete auch den Schutz der religiösen Freiheitsrechte, insbesondere bei nationalen Minderheiten, als eine seiner Aufgaben. Er suchte diesen Schutz dadurch zu verwirklichen, daß er 1. diejenigen Staaten, die mit der Verwaltung der dem Völkerbund unterstellten Mandatsgebiete betraut wurden, zur Gewährleistung religiöser Freiheitsrechte verpflichtete 10 , und 2. den Abschluß zahlreicher Verträge einzelner Staaten mit dem Völkerbund zum Schutze der politischen und religiösen Freiheitsrechte nationaler Minderheiten herbeiführte. I n Art. 63 Abs. 2 und 67 des Staatsvertrages von Saint Germain vom 10. 9. 1919 wurde allen Bewohnern Österreichs das Recht eingeräumt, öffentlich oder privat jede A r t Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Ausübung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten unvereinbar sei 11 . Ähnliche Bestimmungen finden sich i n insgesamt 13 Verträgen, die von den Nachfolgestaaten ÖsterreichUngarns sowie von anderen Staaten Osteuropas oder des vorderen Orients m i t dem Völkerbund oder auf seine Veranlassung h i n abgeschlossen wurden 1 2 . Wenn auch der Völkerbund die von vielen Seiten auf ihn gesetzten Hoffnungen auf dem Gebiete des Schutzes der Religionsfreiheit i n mancher Hinsicht unerfüllt ließ, so bildeten die unter seinem 8

Vgl. Lanarès , a.a.O., S. 134 ff. Vgl. M. S. Bates, Glaubensfreiheit, N e w Y o r k 1947, S. 713; Lanarès , a.a.O., S. 131; ff. Maier, Religionsfreiheit i n den staatlichen Verfassungen, i n : K. Rahner, ff. Maier, U. Mann, M. Schmaus, Religionsfreiheit. E i n Problem f ü r Staat u n d Kirche, München 1966, S. 42 ff. 10 Lanarès , a.a.O., S. 144 f. 11 Vgl. E. Melichar, Z u r neuen verfassungsrechtlichen Regelung der Religionsfreiheit i n Österreich, i n : Speculum I u r i s et Ecclesiarum, FS W i l l i b a l d Plöchl, Wien 1967, S. 295; auch bei Lanarès, a.a.O., S. 146. Über die A u s w i r kungen dieser Bestimmungen auf das i n A r t . 15 des Staatsgrundgesetzes gewährleistete Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung vgl. bei Ludwig Adamovich, Die Bundesverfassungsgesetze samt Ausführungs- u n d Nebengesetzen, Wien 1953, S. 257, A n m . 1 zu A r t . 15 des Staatsgrundgesetzes. 12 Lanarès, a.a.O., S. 145 ff. 9

4. Kap.: Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

29

Schutz zustande gekommenen vertraglichen Abmachungen dennoch einen verheißungsvollen Anfang der Bemühungen, die Frage des Schutzes der Religionsfreiheit religiöser Minderheiten auf eine breite völkerrechtliche Grundlage zu stellen. Zugleich weckte er das Bewußtsein für die Notwendigkeit internationaler Garantien zum Schutze der religiösen Freiheitsrechte. I I I . Die Vereinten Nationen 1. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte"

Nach dem zweiten Weltkrieg setzten sich die Vereinten Nationen das Ziel, einen verstärkten Schutz der Menschenrechte durch eine von allen Staaten der Welt angenommene Deklaration zu erreichen. A m 10.12.1948 nahm die Vollversammlung der UNO den von der am 21. 6. 1946 eingesetzten „Kommission für Menschenrechte" erarbeiteten Entwurf unter der Bezeichnung „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" an. A r t . 18 dieser Erklärung, der den Schutz der Religionsfreiheit zum Gegenstand hat, hat folgenden Wortlaut: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- u n d Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion allein oder i n Gemeinschaft m i t anderen i n der Öffentlichkeit oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst u n d Vollziehung v o n Riten zu bekunden 1 3 ."

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" gewann i m politischen Geschehen bald große Publizität und wurde, wie Louis Sohn bemerkt, „beständig in .der Praxis der Vereinten Nationen angewandt", was nicht zuletzt auch dadurch zum Ausdruck gekommen sei, daß selbst Staaten, die der Erklärung ursprünglich keinerlei rechtliche und verpflichtende Bedeutung zuerkannt hatten, nicht zögerten, sich auf sie zu berufen, wenn es darum ging, „andere Staaten der Nicht-Beachtung ihrer Verpflichtungen aus der Erklärung zu beschuldigen" 14 . 13 W. Schätzet, Die Charta der Vereinten Nationen. M i t Nebenbestimmungen, 2. Aufl., München 1957, S. 96; Wortlaut der Erklärung u.a. auch bei A . Wimmer (Hrsg.), Die Menschenrechte i n christlicher Sicht, Freiburg/Br. 1953, S. 74 ff. Die internationale Zusammenarbeit i m Rahmen des Völkerbundes hatte kein umfassendes Programm zum Schutz der Menschenrechte zustande gebracht. I n den Friedensverträgen von 1919 u n d i n den „Minoritätsverträgen" lag das Schwergewicht nicht auf den Individualrechten, sondern auf den Rechten der Nationen u n d Minderheitsgruppen innerhalb der Nationen. Vgl. dazu M. S. McDougal, Die Menschenrechte i n den Vereinten Nationen, in: Bettermann - Neumann - Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 1/1, B e r l i n 1966, S. 507 f. 14 L . Sohn, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, i n : Journal der Internationalen Juristen-Kommission. Bd. 8/2 (1967), S. 28. Die Bedeutung der UN-Deklaration unterstreicht auch W. Schaumann, Der völkerrechtliche

3 0 I .

Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

Die Schwierigkeiten, die sich bei der Auslegung und Anwendung der UN-Menschenrechts-Deklaration ergaben, hatten vor allem darin ihren Grund, daß nach der Lehre und Praxis des Völkerrechts subjektive Völkerrechtsnormen nur zwischen Staaten begründet werden konnten und privaten Personen deshalb durch die UN-Erklärung keine unmittelbaren Rechte gewährt wurden 1 5 . Aus diesem Grunde bezeichnet Charles de Visscher die Deklaration als ein Dokument von nur moralischer Tragweite und als einen Katalog von Rechten, die i n ihrer Gesamtheit heute von keinem einzigen Staat anerkannt seien 16 . Dieser Auffassung folgte auch das Kammergericht i n einem Beschluß vom 14. 9. 1961. Das Gericht erklärte i n dieser Entscheidung, die U N Menschenrechts-Deklaration enthalte kein positives i n den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht, sondern proklamiere nur eine gemeinsame Richtschnur. Ein verbindliches Abkommen über den Schutz der Menschenrechte sei innerhalb der Vereinten Nationen nicht zustandegekommen. Deshalb habe A r t . 16 Abs. 2 der UN-Menschenrechts-Deklaration, der heiratsfähigen Männern und Frauen ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht zuerkenne, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, das i n § 10 des Ehegesetzes vom 20. 2.1947 (KRABI. 77, ber. 294) statuierte aufschiebende Ehehindernis für ausländische Staatsangehörige nicht außer K r a f t gesetzt. Die Rechtsgültigkeit der Verpflichtung zur Beibringung eines Ehefähigkeits-

Schutz der Menschen- u n d Freiheitsrechte i n seiner V e r w i r k l i c h u n g durch die Vereinten Nationen, i n : Jahrbuch f ü r internationales Recht, Bd. 13 (1967), S. 133. Er bezeichnet die E r k l ä r u n g der Menschenrechte, v o m Staatsrecht aus gesehen, als eine Handlung v o n „revolutionärer Bedeutung", w e i l sich die Staaten i n ihrer Gesamtheit darin zum ersten M a l für eine grundsätzliche Beziehung des Einzelmenschen zum Völkerrecht ausgesprochen u n d den Schutz der Würde u n d Freiheit des Menschen als Z i e l der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit erklärt haben. Ebenso ff. Lauterpacht, International L a w and H u m a n Rights, London 1950, S. 33: „ I t is i n the Character of the United Nations that the i n d i v i d u a l human being first appears as entitled to fundamental rights and freedoms." 15 E Friesenhahn, Die internationale Deklaration der Menschenrechte, i n : „Recht, Staat, Wirtschaft", Bd. 2, Stuttgart - K ö l n 1950, S. 72 m. w . N. 16 Ch. d. Visscher, Théories et Réalités en Droit International Public. 3ème éd., Paris 1960, S. 165: " L a Déclaration universelle de l'Homme, document de portée simplement morale, se présente comme u n catalogue de droits qui, dans leur totalité, ne seraint reconnus aujourd'hui par aucun Etat." Übereinstimmend M. S. McDougal, Die Menschenrechte (s. A n m . 13), S. 510; U. Scheuner, Vergleich der Rechtsprechung der nationalen Gerichte m i t der Rechtsprechung der Konventionsorgane bezüglich der nicht verfahrensmäßigen Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, i n : Menschenrechte i m Staatsrecht u n d i m Völkerrecht. Vorträge u n d Diskussionen des Zweiten Internationalen Kolloquiums über die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten. Hrsg. v o n der Rechts- u n d staatswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Karlsruhe 1967, S. 199 u n d 201 m i t Anm. 21, m. w . N.; ebenso W. Schaumann (s. A n m . 14), S. 151.

4. Kap.: Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

31

Zeugnisses für Ausländer werde daher durch A r t . 16 der UN-Menschenrechts-Deklaration nicht beeinträchtigt 17 . 2. Konventionell im Rahmen der Vereinten Nationen a) Die Konvention

der Vereinten

aller Formen

Nationen

religiöser

zur

Beseitigung

Intoleranz

Da der UN-Menschenrechts-Deklaration keine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit zukommt, hat die Menschenrechtskommission der UN, um dem A r t . 18 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", der jedem Menschen das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zuerkennt, i m internationalen Recht eine größere rechtliche Effektivität zu verleihen, i n zweijähriger Beratung einen Entwurf einer „Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung aller Formen religiöser Intoleranz" ausgearbeitet, der i m März 1967 von der Kommission für Menschenrechte angenommen wurde und seither der Vollversammlung der U N zur Beratung und Beschlußfassung vorliegt 1 8 . Der Entwurf der Konvention, die die Religionsfreiheit allerdings nur i n einem sehr eingeschränkten Maße schützt und daher die auf sie, insbesondere von kirchlicher Seite, gesetzten Erwartungen nur zum Teil erfüllt, sieht vor, daß diejenigen Staaten, die der Konvention beitreten, ihren Einwohnern die Freiheit gewähren, 1. eine Religion oder einen Glauben zu behalten oder zu wechseln; 2. eine Religion oder einen Glauben zu bekennen. Ferner regelt die Konvention auch die Beschränkungen, denen die Religionsfreiheit unterliegen kann. Verfahrensrechtlich werden zwei Aspekte hervorgehoben: 1. Rechtshilfen zum Schutz der Religionsfreiheit i m innerstaatlichen Bereich; 2. Rechtshilfen i m Völkerrecht 1 9 . Der Entwurf dieser Konvention, die die bisher bedeutsamste Initiative der Vereinten Nationen darstellt, u m den Schutz der i n Art. 18 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" verkündeten religiösen Freiheitsrechte rechtlich auszubauen, ist bisher von der Vollversammlung der U N immer noch nicht beraten worden. Bedeutsam an diesem Konventionsentwurf ist die Tatsache, daß er auch die Religionsgemeinschaften i n seinen Schutz miteinbezieht. Der Begriff „religiöse Intoleranz" w i r d darin i n einem doppelten Sinne verstanden: er bezieht sich einmal auf jene Form von Diskriminierungen, 17

K G , Beschl. v. 14. 9.1961 (Az.: 1 W 1524/61), N J W 1961, 2209 ff. (2211). M . B. Abram, Die Gedanken-, Gewissens- u n d Religionsfreiheit, i n : Journal der Internationalen Juristen-Kommission, Bd. 8/2 (1967), S. 58. 19 Vgl. die ausführliche Darstellung des Sekretariats der Internationalen Juristen-Kommission: „ E n t w u r f einer Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung aller Formen religiöser Intoleranz", i n : Journal der Internationalen Juristen-Kommission, Bd. 6 (1965), S. 333. 18

3 2 I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

denen Einzelpersonen wegen ihrer Religionszugehörigkeit i m bürgerlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben ausgesetzt sind; er umfaßt aber auch alle Arten von Diskriminierungen, und darin liegt nach M. Abram die wesentliche Bedeutung der Konvention, die sich auf religiöse Institutionen und auf Gebräuche der einzelnen Religionen beziehen 20 . b) Die Menschenrechtskonventionen

der Vereinten

Nationen

U m den Schutz der i n der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" vom 10.12.1948 aufgeführten Freiheitsrechte auch mit rechtlicher Verbindlichkeit gewährleisten zu können, hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Entschließung vom 16. Dezember 1966 zwei Konventionen beschlossen: 1. Die internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und k u l turelle Rechte. 2. Die Internationale Konvention über staatsbürgerliche und politische Rechte, mit dem Fakultativprotokoll über die Zulässigkeit des Beschwerderechts einzelner Personen an den nach Teil I V (Art. 38 ff.) dieser Konvention zu errichtenden Menschenrechtsausschuß 21. Während die erste Konvention moderne Rechte betrifft, nämlich Rechte, die die Leistungspflicht von Staat und Gesellschaft festlegen, behandelt die Konvention über staatsbürgerliche und politische Rechte die sog. „klassischen" Freiheitsrechte, d. h. die gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte. Wie Ermacora bemerkt, darf die Bedeutung der Konventionen nicht überschätzt, sie sollte aber auch nicht unterschätzt werden. Eine Überschätzung würde darin liegen, wenn man i n den Konventionen eine wirksame Einrichtung gegen das Unrecht i n der Welt erblicken würde. Zweifellos bedeuten sie einen erheblichen Einbruch i n die Souveränitätssphäre der Staaten. Die Schwäche der Konventionen liegt jedoch darin, daß die Staaten durch das Votum ihrer Delegierten allein noch keine Verpflichtung übernommen haben. U m eine Verpflichtung zu über20 M. B. Abram, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (s. Anm. 18), S. 58 f. 21 UN-Doc. A/RES/2200 ( X X I ) v. 16.12.1966. Deutsche Übersetzung der K o n ventionen, i n : Vereinte Nationen, 15. Jg. (1967), S. 193 ff.; vgl. dazu F. Ermacora, Z u den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen, i n : Vereinte Nationen, 16. Jg. (1968), S. 133- 139; J. Soder, Die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, i n : Vereinte Nationen, 15. Jg. (1967), S. 167 - 173; ders., Das Bonner Grundgesetz u n d die Menschenrechtskonventionen der UN, i n : Vereinte Nationen, 16. Jg. (1968), S. 39 - 4 6 ; ders., Der Grundrechtskatalog der Menschenrechtskonventionen der U N als innerdeutsches Recht, i n : Vereinte Nationen, 16. Jg. (1968), S. 69 - 75 u n d S. 114 - 116.

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

33

n e h m e n , i s t die h e r k ö m m l i c h e T r a n s f o r m a t i o n der K o n v e n t i o n e n i n das i n n e r s t a a t l i c h e Recht n o t w e n d i g 2 2 . D i e b e i d e n K o n v e n t i o n e n l i e g e n g e g e n w ä r t i g f ü r die M i t g l i e d s t a a t e n der U N z u r B e i t r i t t s e r k l ä r u n g auf. Jede d e r b e i d e n K o n v e n t i o n e n t r i t t d r e i M o n a t e n a c h d e m Z e i t p u n k t i n K r a f t , a n d e m die 35. R a t i f i k a t i o n s oder B e i t r i t t s u r k u n d e b e i m G e n e r a l s e k r e t ä r der V e r e i n t e n N a t i o n e n hinterlegt worden ist23. A r t . 18 d e r K o n v e n t i o n ü b e r staatsbürgerliche u n d politische Rechte e n t h ä l t eingehende B e s t i m m u n g e n z u m Schutze d e r R e l i g i o n s f r e i h e i t . E r hat folgenden W o r t l a u t : „1. Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- u n d Religionsfreiheit. Hierzu gehört die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung eigener W a h l zu haben oder anzunehmen, sowie die Freiheit, die eigene Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Observanz, Ausübung u n d Lehre allein oder i n Gemeinschaft m i t anderen öffentlich oder p r i v a t zu bekunden. 2. A u f niemanden darf ein Zwang ausgeübt werden, der seine Freiheit beeinträchtigen würde, eine selbstgewählte Religion oder Weltanschauung zu haben oder anzunehmen. 3. Die Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung auszuüben, darf n u r solchen Einschränkungen unterliegen, die gesetzlich vorgeschrieben u n d z u m Schutz der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung, der Volksgesundheit oder Sittlichkeit oder der Grundrechte u n d Freiheiten anderer erforderlich sind. 4. Die Vertragsstaaten dieses Paktes verpflichten sich, die Freiheit der Eltern u n d gegebenenfalls des gesetzlichen Vormunds zu achten, f ü r die religiöse u n d sittliche Erziehung ihrer K i n d e r entsprechend ihren eigenen A n schauungen Sorge zu tragen." F e r n e r b e s t i m m t A r t i k e l 20 A b s . 2 dieser K o n v e n t i o n : „Jede Befürwortung nationalen, rassischen oder religiösen Hasses, die eine Aufhetzung zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt darstellt, ist gesetzlich verboten 2 4 ." D i e B e s t i m m u n g e n , die diese K o n v e n t i o n z u m Schutze der r e l i g i ö s e n F r e i h e i t s r e c h t e v o r s i e h t , s i n d sogar b e d e u t e n d präziser, als die m e h r

22

F. Ermacora, Z u den Menschenrechtspakten, a.a.O., S. 135 f. A r t . 49 Abs. 1 der Internationalen Konvention über staatsbürgerliche u n d politische Rechte. Über die Stimmverhältnisse bei den Abstimmungen über die beiden Konventionen u n d das Zusatzprotokoll vgl. i n : Vereinte Nationen, 15. Jg. (1967), S. 193. Die Staaten des kommunistischen Blocks stimmten geschlossen gegen die Vorschläge zur B i l d u n g nationaler Menschenrechtskommissionen oder zur Benennung anderer geeigneter Einrichtungen zur Durchführung bestimmter m i t der Einhaltung des Internationalen Paktes über staatsbürgerliche u n d politische Rechte u n d des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale u n d kulturelle Rechte zusammenhängender Aufgaben. 24 Vereinte Nationen, 15. Jg. (1967), S. 197. 23

3 Listi

34

I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

allgemein gehaltenen Formulierungen des Entwurfs der Konvention zur Beseitigung aller Formen religiöser Intoleranz 2 5 . Wenn auch die bisherigen Erfahrungen der Vereinten Nationen i m Hinblick auf die Anwendung der Menschenrechtsgrundsätze nicht i n allen Fällen zu großem Optimismus ermutigen 2 6 , so sind die Konventionen über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie über die staatsbürgerlichen und politischen Rechte und schließlich auch der Entw u r f der Konvention zur Beseitigung aller Formen religiöser Intoleranz dennoch als ein erster bedeutsamer Versuch zu würdigen, den Einzelmenschen und seine Grund- und Freiheitsrechte durch weltumspannende Konventionen i n den Schutz des Völkerrechts einzubeziehen. Die Bedeutung dieser Konventionen liegt, wie Mosler sagt, vor allem darin, daß hier menschenrechtliche Grundsätze formuliert werden, die infolge ihrer Anerkennung durch die überwältigende Mehrheit der Rechtsgenossen der Völkerrechtsordnung geeignet sind, Bestandteil der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu werden 2 7 . IV. Die Europäische Menschenrechtskonvention 1. Die rechtliche Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention

Ungeachtet ihrer hohen moralischen Bedeutung gewährt die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der U N bei Verletzungen dieser Rechte keine Möglichkeit eines effektiven Rechtsschutzes, da, wie bereits dargestellt, die Erklärung der U N nicht als bindende Verpflichtung der Staaten ausgestaltet ist 2 8 . Die Staaten Westeuropas haben deshalb, um die Anerkennung und Einhaltung der i n der UN-Deklaration proklamierten Menschenrechte w i r k sam zu gewährleisten, am 4. November 1950 i n Rom die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschlossen. Ihrem Wesen nach ist die Menschenrechtskonvention ein völkerrechtlicher Vertrag, der allerdings die Besonderheit aufweist, daß durch ihn nicht nur eine staatliche Verpflichtung zur Achtung der i n diesem Vertragswerk garantierten Freiheitsrechte geschaffen werden sollte. Die Menschen25

Vgl. U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 587. Uber die Erfahrungen bei der Anwendung der Prinzipien der Menschenrechte i m Völkerrecht vgl. bei M . S. McDougal, Die Menschenrechte (s. A n m . 13), S. 536 ff. 27 H. Mosler, Die Sicherung der Menschenrechte durch die internationale Rechtsordnung, i n : Die Menschenrechte i n christlicher Sicht. Hrsg. v o n A . Wimmer, Freiburg/Br. 1953, S. 45. 28 Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 201. 26

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

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rechtskonvention sollte darüber hinaus „ m i t unmittelbarer Wirkung auch Individualrechte begründen". Die Frage der Notwendigkeit einer Transformation des völkerrechtlichen Vertrages i n innerstaatliches Recht als Voraussetzung seiner Anwendung i m heimischen Bereich oder der Notwendigkeit eines innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls, der sich nach dem einzelstaatlichen Verfassungsrecht regelt, w i r d dadurch nicht berührt 2 9 . Die Europäische Menschenrechtskonvention, die nach ihrer Ratifikation aufgrund des Gesetzes vom 7. 8.1952 (BGBl. I I S. 685, 953) durch Bekanntmachung vom 15. 12. 1953 (BGBl. 1954 I I S. 14) am 3. September 1953 für die Bundesrepublik i n Kraft getreten ist, ist damit Bundesrecht i m Range eines Bundesgesetzes geworden 30 . Die Menschenrechte der Konvention gehen daher als Bundesrecht den i n den Landesverfassungen und i m sonstigen Landesrecht enthaltenen Grundrechten vor 3 1 . Wegen des eindeutigen Wortlauts des § 90 BVerfGG kann eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die Grundrechte der Menschenrechtskonvention gestützt werden 3 2 . Als Organe zur Sicherung der in der Konvention garantierten Menschenrechte sieht vielmehr A r t . 19 der Konvention die Europäische Kommission für Menschenrechte und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor. Die Menschenrechte der Konvention finden jedoch auch i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Interpretation von Bundesrecht i m Rahmen von Verfassungsbeschwerden Anwendung 3 3 . 2. Der Schutz der Religionsfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention

a) Der normative Gehalt des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention Art. 9 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention bestimmt i n enger Anlehnung an den Wortlaut des Art. 18 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen: 29 K . J. Partsch, Die Rechte u n d Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, i n : Bettermann - Neumann - Nipperdey (Hrsg.), Die G r u n d rechte, Bd. 1/1, B e r l i n 1966, S. 266; Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 206. 80 F. Münch, Z u r Anwendung der Menschenrechtskonvention i n der B u n desrepublik Deutschland, JZ 1961, S. 153; BVerfGE 6, 389 (440); BayVerfGH 14, 49 (52) ; vgl. Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 208 m. A n m . 64 m. w. N. 31 Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 17. Aufl., § 14, I V , S. 107. 32 BVerfGE 4, 110 (111 ff.); 6, 389 (440f.); 9, 36 (39); 10, 271 (274); vgl. auch Maunz - Dürig, Grundgesetz, A r t . 1 Abs. 2 Rdnr. 59; Maunz, Sigloch, SchmidtBleibtreu, Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 90, Rdnr. 51. 33 Vgl. BVerfGE 19, 342 (348); 19, 394 (396 f.); 20,162 (208).

3*

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

„Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- u n d Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder i n Gemeinschaft m i t anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung u n d Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben."

A r t . 9 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention, der kein unmittelbares Vorbild i n der UN-Deklaration besitzt, umschreibt die zulässigen Einschränkungen der Garantie der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Er lautet: „Die Religions- u n d Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als v o m Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen i m Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit, M o r a l oder für den Schutz der Rechte u n d Freiheiten anderer sind."

Wie Partsch betont, bezieht sich die i n A r t . 9 Abs. 2 der Konvention ausgesprochene Zulässigkeit von Einschränkungen der religiösen Freiheitsrechte nicht auf diese Freiheiten als solche, sondern nur auf die Freiheit ihrer Ausübung. Die offizielle deutsche Übersetzung gebe daher den Inhalt des A r t . 9 Abs. 2, 1. Halbsatz nicht adäquat wieder. Richtigerweise müßte der Absatz 2 des A r t . 9 beginnen: „Die Freiheit, eine Religion oder ein Bekenntnis auszuüben, darf nicht G e g e n s t a n d . . D a s sei für das richtige Verständnis dieser Bestimmung „von grundlegender Bedeutung" 3 4 . F ü r das Verständnis des A r t . 9 Abs. 1 der Konvention, dessen Wortlaut, bis auf ein Komma, m i t A r t . 18 der UN-Deklaration übereinstimmt, ist es ferner von entscheidender Wichtigkeit, zu wissen, daß der Inhalt der Begriffe „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit" i n dieser Konvention nicht i m Sinne der kontinental-europäischen und noch viel weniger i m Sinne der Tradition des deutschen Reichsrechts interpretiert werden darf. Bei der Formulierung des A r t . 18 der UN-Deklaration wurde unverkennbar das nordamerikanische Verständnis dieser Begriffe zugrundegelegt, das die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wenn nicht überhaupt als Synonyme, so doch jedenfalls als Aktualisierungsformen religiöser Betätigung ansieht, für die weder begrifflich noch der Sache nach eine feste Abgrenzung voneinander möglich erscheint. Gewissensfreiheit bedeutete i n der amerikanischen Geschichte i m Gegensatz zum früheren deutschen Reichsrecht niemals nur das Recht auf „einfache" Hausandacht, auf die sog. „devotio domestica simplex", sondern stets das Recht „to worship God according to the dictates of the own conscience" 35 . 84 K . J. Partsch , Die Rechte u n d Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention (s. A n m . 29), S. 430 m. A n m . 657; vgl. den englischen u n d französischen Wortlaut des A r t . 9 Abs. 2 der Konvention bei Partsch, a.a.O., S. 424 f. 85 So die Constitution of Massachusetts v o n 1780: Declaration of the rights of

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

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D i e i n A r t . 9 A b s . 1 d e r Europäischen M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n ausgesprochene G a r a n t i e der „ G e d a n k e n - u n d G e w i s s e n s f r e i h e i t "

schließt

neben d e n r e l i g i ö s e n auch d i e philosophischen, wissenschaftlichen u n d sogar die p o l i t i s c h e n Ü b e r z e u g u n g e n e i n 3 6 . D e r B e g r i f f

„Gedankenfrei-

h e i t " t a u c h t als Rechtsbegriff i n d e n a m e r i k a n i s c h e n V e r f a s s u n g e n n i c h t auf. E r w u r d e i n d e r A u f k l ä r u n g entsprechend d e r V o r s t e l l u n g s w e l t d e r deutschen idealistischen P h i l o s o p h i e g e p r ä g t u n d deckt sich seinem I n h a l t nach w e i t g e h e n d m i t d e m B e g r i f f „ F r e i h e i t des w e l t a n s c h a u l i c h e n Bekenntnisses", w i e er sich i n A r t . 4 A b s . 1 G G findet. A r t . 11 der D é c l a r a t i o n des d r o i t s de l ' h o m m e et d u c i t o y e n v o m 26. 8 . 1 7 8 9 3 7 h a t i m G e g e n satz z u r deutschen u n d angelsächsischen T r a d i t i o n die R e l i g i o n s f r e i h e i t n u r als M e i n u n g s f r e i h e i t geschützt u n d d a m i t i m G r u n d e a b g e w e r t e t . I n diesem S i n n e l a u t e t e A r t . 11 S. 1 der französischen D é c l a r a t i o n : " L a l i b r e c o m m u n i c a t i o n des pensées et des o p i n i o n s est u n des d r o i t s les p l u s p r é c i e u x de l ' h o m m e . " Ü b e r d i e R e l i g i o n s f r e i h e i t b e s t i m m t e A r t . 10 d i e ser D é c l a r a t i o n l e d i g l i c h : " n u l ne d o i t être i n q u i é t é p o u r ses o p i n i o n s m ê m e religieuses, p o u r v u q u e l e u r m a n i f e s t a t i o n ne t r o u b l e pas l ' o r d r e public établi par la l o i " 38 .

the inhabitants of the Commonwealth of Massachusetts, A r t . I I . Abgedr. bei Ζ. Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung v o n Staat u n d Kirche, Tübingen 1926, S. 682; ähnlich verschiedene andere Verfassungen der nordamerikanischen Staaten. Vgl. dazu bei H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, B e r l i n 1958, S. 38 ff. Der Begriff „religious l i b e r t y " findet sich i n den V e r fassungen der amerikanischen Einzelstaaten selten. Sie gebrauchen statt dessen den Ausdruck „ l i b e r t y of conscience". I n der Constitution der katholischen Kolonie M a r y l a n d v o n 1776 begegnet der Begriff „religious liberty". Vgl. H. J. Scholler, a.a.O., S. 38, m. A n m . 22. 3β Κ. J. Partsch, Die Rechte u n d Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention (zit. A n m . 29), S. 425 m. A n m . 641, unter Berufung auf N. Robinson, The Universal Declaration on H u m a n Rights; its origins, significance and interpretation. Institute of Jewish Affairs, W o r l d Jewish Congress. New York, 1. A u f l . (1948), S. 64; 2. A u f l . (1958), S. 128; u n d A. Verdoot, Naissance et signification de la Déclaration universelle des Droits de l'Homme, L o u v a i n Paris 1964, S. 176 f. 37 Abgedr. bei G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte, i n : R. Schnur (Hrsg.), Z u r Geschichte der E r k l ä r u n g der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 20 ff. 38 Darüber, daß die Verfasser der Déclaration von 1789 das Christentum u n d alle übrigen Religionen gering geschätzt haben, vgl. die Ausführungen v o n E. Boutmy, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte u n d Georg Jellinek, i n : R. Schnur (Hrsg.), Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte (s. A n m . 37), S. 98 f. I m selben Sinne hatte der v o n der protestantischen Orthodoxie des Atheismus beschuldigte J. G. Fichte i m Jahre 1793 eine anonyme Schrift publiziert, die den T i t e l trug: „Zurückforderung der Denkfreiheit v o n den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten", abgedr. i n : Johann G o t t lieb Fichte — Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v o n Reinhard L a u t h u n d Hans Jacob, Bd. I , 1, Stuttgart - Bad Cannstatt 1964, S. 162 ff.; vgl. auch F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd. 4, Die deutsche Philosophie des 19. Jh. u n d der Gegenwart, 13. Aufl.,

I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

M i t größerer Deutlichkeit als Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes interpretiert A r t . 9 Abs. 1, 2. Halbsatz der Europäischen Menschenrechtskonvention den Gehalt des Menschenrechts auf „Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit". Danach umfaßt dieses Recht neben der individuellen Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit auch die Kultusfreiheit und den „Unterricht". Der Begriff „Unterricht" bezieht sich i n A r t . 9 Abs. 1 nach dem Kontext ausschließlich auf die religiöse Unterweisung i m strengen Sinn, d. h. auf die Befugnis der Erziehungsberechtigten, über die ganzheitliche Erziehung ihrer Kinder entsprechend den Grundsätzen ihrer Religion oder Weltanschauung zu bestimmen. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß Art. 2 des Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. 3. 1952 (BGBl. 1956 II, S. 1880) ausdrücklich darauf hinweist, daß der Staat bei Ausübung der von i h m auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten habe, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Hinsichtlich der Schranken der Religionsfreiheit ist die Konvention nicht so weit gegangen wie das Grundgesetz, das dieses Grundrecht nach dem Wortlaut der Verfassung unbeschränkt gewährleistet und daher keine Einschränkungsmöglichkeit durch einfache Gesetze kennt 3 9 . Die Graz 1951 (unveränderter Neudruck der 12. Aufl.). Hrsg. von T. K . Oesterreich, S. 13 ff. Bei den Beratungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversamml u n g sah der dem späteren A r t . 135 entsprechende A r t . 132 des Entwurfs der WeimRV neben der Garantie der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit auch den Schutz der „Gedankenfreiheit" vor. A u f den v o n Wilhelm Kahl gestellten Streichungsantrag hin, den er damit begründete, daß m a n Gedankenfreiheit rechtlich nicht schützen könne, w e i l die Gedanken v o n N a t u r aus jeder Zwangsnorm entzogen seien, wurde der Ausdruck „Gedankenfreiheit" wieder gestrichen. F ü r die Glaubensfreiheit ließ K a h l dieses Argument jedoch nicht gelten. Vgl. die Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1646 D (Sitzung v. 17. 7.1917). Ferner H. Scholler (s. A n m . 35), S. 93 m. A n m . 22 f. 39 K . J. Partsch, Die Rechte u n d Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention (s. A n m . 29), S. 431. — I m Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention kennt das Grundgesetz n u r Begrenzungen dieses Grundrechts durch andere Grundrechtsgewährleistungen, die „immanente" Schranken der Religionsfreiheit darstellen u n d auf Verfassungsebene zu bestimmen sind. Materiell decken sie sich w e i t h i n m i t den Beschränkungen, denen die freie Religionsausübung nach der Konvention unterliegen kann. Vgl. dazu diese Arbeit, Kap. 6, I 1 d - e ; 2 u n d 3; ferner die „Zusammenfassung" I I , 1 - 3 . Vgl. auch BVerfGE 28, 243 (261), wonach die Notwendigkeit f ü r die Beschränkung bestimmter Betätigungsformen von Grundrechten i n k o l l i dierenden Grundrechten D r i t t e r u n d anderen m i t Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerten begründet ist, die m i t Rücksicht auf die Einheit der V e r fassung u n d die v o n i h r geschützte gesamte Wertordnung imstande sind, auch formell uneinschränkbare Grundrechte i n einzelnen Beziehungen zu begrenzen.

4. Kap.: Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

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Konvention läßt demgegenüber Beschränkungen der Religionsausübung durch einfaches Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral, sowie zum Schutz der Rechte anderer Bürger ausdrücklich zu. Das Grundgesetz geht damit in seinen rechtsstaatlichen Anforderungen hinsichtlich der Einschränkungsmöglichkeit der freien Religionsausübung über die Konvention hinaus. Überhaupt w i r d die Bedeutung der Art. 9 bis 11 der Konvention dadurch gemindert, daß auf diesem Gebiet die Bestimmungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention oft noch weitergehende Garantien enthalten. Darin liegt auch der Grund, weshalb sich die sonst so ausgedehnte Rechtsprechung der Bundesrepublik mit diesen A r t i k e l n weniger befaßt hat. Die A r t i k e l 4, 5, 8 und 9 des Grundgesetzes besitzen einen sehr weitgehenden Anwendungsbereich, der erheblich über den der Konvention hinausreicht 40 . Ferner können gem. A r t . 15 Abs. 1 der Konvention die Unterzeichnerstaaten i m Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes neben den anderen Grundrechten auch das Grundrecht der Religionsfreiheit i n dem Umfange außer Kraft setzen, den die Lage unbedingt erfordert. I m Grundgesetz ist eine solche Möglichkeit nicht vorgesehen. Art. 15 Abs. 1 der Konvention ist deshalb ebenfalls für den Geltungsbereich des Grundgesetzes i m Hinblick auf die Religionsfreiheit nicht anwendbar. b) Entscheidungen auf der Grundlage des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention I n den Entscheidungen sowohl der nationalen Gerichte wie der Europäischen Menschenrechtskommission kommt dem i n A r t i k e l 9 der Konvention gewährleisteten Menschenrecht der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit eine große Bedeutung zu. I n der Regel handelte es sich dabei u m die Frage, ob staatsbürgerliche Pflichten, die nur i n einem Randbereich mit dem Gebiet des Glaubens oder der Religion in Zusammenhang stehen, unter Berufung auf dieses Grundrecht verweigert werden dürfen. 1. Daß gegenüber einer gesetzlichen Versicherungspflicht eine Berufung auf eine entgegenstehende Gewissensentscheidung unzulässig ist, hat die Menschenrechtskommission i n mehreren Fällen entschieden. Das gilt von der Weigerung eines Landwirts, einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung der Viehhalter zur Bekämpfung der Rindertuberkulose beizu40 17. Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 227. Vgl. dazu auch Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 17. A u f l . (1969), § 14, I V , S. 107.

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I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

treten 4 1 , ebenso wie von der Weigerung eines anderen niederländischen Beschwerdeführers, die gesetzlich eingeführte Kraftfahrzeugversicherung abzuschließen 42 . I n mehreren Entscheidungen hat die Kommission die Auffassung vertreten, daß sich Prediger von Gemeinden der Niederländischen Gereformeerden Kirche gegenüber der Verpflichtung, Beiträge zur gesetzlich vorgeschriebenen Altersversicherung zu leisten, nicht mit der Begründung auf A r t . 9 der Menschenrechtskonvention berufen können, zu solchen Leistungen deshalb nicht verpflichtet zu sein, weil nach der Lehre ihrer Kirche ihre Gemeinden für ihr Alter vorzusorgen hätten 4 3 . Diese i m Ergebnis Zustimmung verdienenden Entscheidungen der Kommission decken sich inhaltlich mit einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. 3. 196244. Sie zeigen, daß fundamentale Grundsätze des modernen Sozialstaates auch der kirchlichen Autonomie Grenzen ziehen müssen, die frühere Generationen nicht akzeptiert hätten. Nicht vom Grundrecht der Gewissensfreiheit erfaßt ist auch die Weigerung eines niederländischen Staatsbürgers, der „Landbouwschap", einer Organisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, gesetzlich vorgeschriebene Auskünfte zu erteilen 4 5 . 2. Auch eine gesetzliche Wahlpflicht stellt keinen unzulässigen Eingriff i n die Freiheit des Gewissens dar, wenn dem Wähler die Möglichkeit eröffnet ist, einen weißen Stimmzettel abzugeben 46 . 3. Tiefergreifend sind die Beschränkungen der freien Religionsausübung, die die Menschenrechtskommission i n zwei Fällen für den Bereich des öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses des Strafvollzugs für zulässig erachtet hat. Die Weigerung einer österreichischen Haftanstalt, einem vom Judentum zum Buddhismus übergetretenen Strafgefangenen die Erlaubnis zu erteilen, sich einen Bart wachsen zu lassen und sich eine Gebetskette sowie bestimmte religiöse Bücher zu beschaffen, stellt nach Ansicht der Kommission keine Verletzung des Grundrechts des Art. 9 der Konven41

E 1068/61 v. 14.12.1962, Y B 5, 279. E 2988/60 v. 31. 5.1967, Y B 10,437. 43 E 1497/62 v. 14. 12. 1962, Y B 5, 286; E 2065/63 ν. 14. 2. 1965, Y B 8, 267. Die Kommission hat sich hier der Auffassung der niederländischen Gerichte angeschlossen u n d darauf hingewiesen, daß das niederländische Gesetz ausdrücklich gestatte, anstelle des Beitrags zur Versicherung bei Gewissensbedenken den gleichen Betrag als Steuer zu entrichten. Vgl. dazu auch U. Scheuner, Z w e i tes Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 228 f. m. w . N. 42

44 U r t . des BSG v. 29. 3.1962, BSGE 16, 289 = KirchE 6, 54; vgl. dazu auch diese Arbeit, Kap. 16, I V d, gegen Ende. 45 Hof Leuwarden, Ned. Jurisprudentie 1964, Nr. 401, 402; vgl. U. Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 228, A n m . 180. 4β E 1718/62 v o m 22.4.1965, Rc. 16, 30 (32).

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

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tion dar. Sie ist mit Rücksicht auf die Aufrechterhaltung der Ordnung i n der Haftanstalt gem. Art. 9 Abs. 2 der Konvention zulässig 47 . Ebensowenig hat nach Auffassung der Kommission ein wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Strafgefangener britischer Nationalität, der Mitglied der Church of England ist und seine Freiheitsstrafe i n einer süddeutschen Haftanstalt verbüßen muß, einen aus A r t . 9 der Konvention ableitbaren Rechtsanspruch darauf, i n ein norddeutsches Zuchthaus verlegt zu werden, wo sich i h m leichter die Möglichkeit des Zugangs zu einem Seelsorger der Church of England bieten würde. Die Kommission hat die Zurückweisung der Beschwerde damit begründet, daß dem Beschwerdeführer i n der süddeutschen Strafanstalt die Möglichkeit geboten sei, sich an einen evangelischen Pastor zu wenden und mühelos evangelische Gottesdienste zu besuchen 48 . Diese Entscheidung mag vielleicht aus dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründbar sein, sie ist jedoch nicht unbedenklich. Einem zu langjähriger oder gar lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen müßte mit Rücksicht auf das Grundrecht des Art. 4 GG bzw. A r t . 9 der Menschenrechtskonvention, wenn irgendwie möglich, jedenfalls gelegentlich der Zugang zu einem Seelsorger seines eigenen Bekenntnisses eröffnet werden. 4. Ein polnischer Staatsangehöriger, dessen zwischenzeitlich geschiedene Ehefrau und dessen K i n d illegal nach Schweden eingewandert sind und denen dort Asyl gewährt worden ist, kann nicht unter Berufung auf Art. 9 der Konvention gegen den schwedischen Staat einen Anspruch auf Einreisegenehmigung geltend machen mit der Begründung, für die religiöse Erziehung seines Kindes sorgen zu müssen 49 . Auch ein i n der Bundesrepublik lebender muselmanischer Beschwerdeführer kann nicht unter Berufung auf A r t . 9 der Konvention verlangen, anstelle seines in eine Trinkerheilanstalt eingewiesenen Bruders gegen den Widerspruch von dessen Ehefrau zum Vormund über seinen Neffen und seine Nichte bestellt zu werden, weil er für deren Erziehung i m mohammedanischen Glauben sorgen müsse 50 . Die Kommission hat diese Beschwerde mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Beschwerdeführer zu ihrer Erhebung nicht legitimiert sei. 5. Als unzulässig hat die Kommission eine gegen die Republik Island gerichtete Beschwerde bezeichnet, m i t der der Beschwerdeführer sich an die Menschenrechtskommission gewandt hatte, weil seiner Klage auf staatliche Annulierung seiner kirchlichen Taufe nicht stattgegeben wor47 48 49 50

E E E E

1753/63 v o m 15. 2.1965, Rc. 16,20 (26 f.). 2413/65 v o m 16.12.1966, Rc. 23,1 (8). 172/56 v o m 20.12.1957, Y B 1,211. 3110/67 v o m 19. 7.1968, Rc. 27, 77 (91).

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

den sei. Die Kommission führte dazu aus, daß A r t . 9 der Konvention ein solches Recht nicht gewähre 51 . 6. Auch die Sabbatruhe gehört i n bestimmtem Umfang zu den von Art. 9 der Konvention geschützten Formen der Religionsausübung. I n diesem Sinne verdient eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses des Arbeitsamtes i n Brüssel Zustimmung, der unter Hinweis auf Art. 9 der Konvention einem jüdischen Heimarbeiter die Arbeitslosenunterstützung wieder zugesprochen hatte, der am Sabatt nicht zum Stempeln gekommen war 5 2 . 7. Schwieriger ist die am 17. 12. 1968 von der Kommission getroffene Entscheidung zu beurteilen, die den englischen Zweig einer amerikanischen kirchlichen Gemeinschaft betraf, die nach Ansicht der britischen Regierung einen pseudophilosophischen K u l t darstellt, der seine M i t glieder zu einem intoleranten und gegenüber Andersgesinnten feindseligen Verhalten verleitet und ihren Familien entfremdet. Wegen ihrer autoritären Prinzipien und Methoden bildet diese Gemeinschaft nach Auffassung der britischen Regierung eine Gefahr für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit ihrer Mitglieder. Die britische Regierung erklärte deshalb auf eine Parlamentsanfrage, alles i n ihren Kräften stehende t u n zu wollen, u m ein Überhandnehmen dieser Gemeinschaft, die ihre Hauptausbildungsstätte in England eröffnet hatte, zu unterbinden. A u f die Beschwerde von Mitgliedern dieser Gemeinschaft erklärte die Kommission, daß die von der britischen Regierung bei einigen M i t gliedern dieser Gemeinschaft verfügte Entziehung des Studentenstatus und ferner die Verweigerung von Arbeitserlaubnissen und die Einziehung von Arbeitskarten sowie die Ablehnung von Anträgen auf Verlängerung von Arbeitserlaubnissen keine Behinderung der freien Religionsausübung der Angehörigen dieser Gemeinschaft darstellen. Ausländischen Staatsangehörigen gegenüber seien die Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgrund des Art. 14 dieser Konvention nicht zur Gleichbehandlung verpflichtet 53 . 8. Bedenken begegnen muß jedoch eine Entscheidung des niederländischen Höge Raad vom 19. 1. 196254, der unter Aufhebung eines entgegenstehenden Urteils des Appellationsgerichts Arnheim vom 8. 3. 196155 ein für den Ort Geertruidenberg i n der Provinz Brabant seit alters bestehen51

E 2525/65 v o m 6. 2.1967, Rc. 22, 33 (34). Entscheidung der Commission de réclamation de l'Office de l'Emploi de Bruxelles v o m 13.3.1962, Y B 5, 365; zust. U. Scheuner, Zweites K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 227 m. A n m . 176; H. Guradze, Die europäischen Menschenrechtskonvention, B e r l i n u n d Frankfurt a. M . 1968, A r t . 9, Erl. 9, S. 134. 53 E 3798/68 v o m 17.12.1968, Rc. 29,70 ff. 54 Entscheidung des Hof A r n h e i m v. 8. 3.1961, Y B 4,631 (640). 55 Entscheidung des niederländischen Höge Raad v o m 19.1.1962, Y B 4, 641 52

4. Kap. : Die Religionsfreiheit i n den internationalen Konventionen

43

des Verbot religiöser Prozessionen für zulässig und mit A r t . 9 Abs. 2 der Konvention i m Einklang stehend betrachtet hat. Dieses Prozessionsverbot war ursprünglich zur Sicherung des religiösen Friedens zwischen den Konfessionen und der öffentlichen Ordnung eingeführt worden. Es mag für frühere Zeiten seine Berechtigung besessen haben. Die Gegenwart verlangt jedoch auch von den Konfessionen ein höheres Maß gegenseitiger Toleranz 56 . 9. I n der Beurteilung der Frage, ob die Verpflichtung zur Ableistung des Wehrersatzdienstes

in der Bundesrepublik

Deutschland

aus G e w i s -

sensgründen verweigert werden könne, hat sich die Kommission der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen57. Nachdem sie zuerst die Beschwerde eines Mitglieds der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas wegen einer möglichen Verletzung des religiösen Diskriminierungsverbots des Art. 14 der Konvention angenommen hatte 5 8 , hat sie schließlich i n dem Bericht an den Ministerausschuß vom 11.1.1967 festgestellt, daß eine Verletzung der Konvention nicht vorliege. Der Ministerausschuß hat sich dieser Feststellung am 29. 6. 1967 angeschlossen 59 .

56

Kritisch zu dieser Entscheidung U. Scheuner, Zweites Internationales K o l l o q u i u m (s. A n m . 16), S. 230; ders., Die Grundrechte der Europäischen M e n schenrechtskonvention i n ihrer A n w e n d u n g durch die Organe der Konvention, i n : Festschrift f ü r Hermann Jahrreiss, K ö l n - Bonn - B e r l i n - München 1964; S. 381; ebenfalls K . J. Partsch (s. A n m . 29), S. 431 f.; Guradze (s. A n m . 52), A r t . 9, Erl. 17 I u n d A r t . 14 Erl. 9. Nach Guradze bedeutet das v o m Höge Raad gebilligte Prozessionsverbot zugleich eine Diskriminierung des kath. Bevölkerungsteils u n d seiner religiösen Gebräuche u n d stellt deshalb auch einen V e r stoß gegen A r t . 14 der Konvention dar. 57 BVerfGE 19, 135 ff.; Beschl. des Ersten Senats v o m 4.10.1965 (Az.: 1 B v R 112/63). 58 F a l l Grandrath: E 2299/64 ν. 23.4.1965, Y B 8, 32b' u n d Y B 10, 627 (629, 675, 689); vgl. dazu H. Guradze (s. A n m . 52), A r t . 14, Erl. 3; über die Zulässigkeit v o n Differenzierungen i m Rahmen des A r t . 14 der Konvention vgl. bei K . J. Partsch (s. A n m . 29), S. 326 ff.; zum F a l l Grandrath bei Partsch, a.a.O., S. 328 m i t A n m . 307; ferner J. E. S. Fawcett, The Application of the European Convention on H u m a n Rights, Oxford 1969, S. 201 ff. 59 Y B 10, 629.

Fünftes Kapitel Das Verständnis der Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen I. Die Stellungnahmen der Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen 1. Die erste Vollversammlung in Amsterdam 1948

Die große Bedeutung, die dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit und seiner universellen Anerkennung i n der Gegenwart allgemein zukommt, findet auch i n einer Reihe neuerer kirchlicher Dokumente ihren Ausdruck. Die Erste Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen, die 1948 i n Amsterdam tagte, bezeichnete i n ihrer historisch bedeutsamen „Erklärung über die religiöse Freiheit" dieses Menschenrecht als „wesentliches Element einer guten internationalen Ordnung" 1 . Die Religionsfreiheit folgt, wie die Vollversammlung erklärte, „notwendig aus dem christlichen Glauben und dem weltweiten Charakter des Christentums". Deshalb betrachteten die Christen die Frage der religiösen Freiheit auch als internationales Problem 2 . Die Vollversammlung forderte deshalb für jeden Menschen ohne Ansehen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion, und ohne daß damit bürgerliche oder staatsbürgerliche Benachteiligungen verbunden sein dürften, das Recht, a) seinen eigenen Glauben und sein Bekenntnis selbst, d. h. unbeeinflußt von der staatlichen Gewalt, zu bestimmen; b) seinen religiösen Überzeugungen im Gottesdienst, im Unterricht und im praktischen Leben Ausdruck zu geben und die Folgerungen aus ihnen für die Beziehungen i n der sozialen oder politischen Gemeinschaft offen auszusprechen; 1 Vgl. „Eine E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit", i n : W. A. Vissent Hooft (Hrsg.), Die erste Vollversammlung des Oekumenischen Rates der Kirchen i n Amsterdam v o m 22. August bis 4. September 1948. Genf 1948, S. 129; OriginalWortlaut der „Declaration on Religious L i b e r t y " bei Α. F. Carrillo de Albornoz, The Basis of Religious Liberty, New Y o r k 1963, S. 157 ff.; auch i n : Evanston to New Delhi 1954 - 1961. Report of the Central Committee to the T h i r d Assembly of the W o r l d Council of Churches. Geneva 1961. Appendix X I I I , Nr. 253 f. 2 „Eine E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit" (s. A n m . 1), Präambel, S. 129.

5. Kap. : Die Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen

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c) sich mit anderen zusammenzuschließen und mit ihnen eine gemeinsame Organisation für religiöse Zwecke zu bilden. d) Ferner fordert die Vollversammlung, daß jede religiöse Organisation, die entsprechend den Rechten der Einzelperson gebildet oder aufrechterhalten werde, das Recht haben müsse, selbst ihre Grundsätze und ihre Praxis im Dienste der Ziele zu bestimmen, für die sie sich entschieden habe9. Viel detaillierter als je irgendeine staatliche Verfassung akzentuiert die Vollversammlung von Amsterdam das korporative Element der Religionsfreiheit. Die Rechte, die für den Einzelmenschen bei der Ausübung seiner religiösen Freiheit beansprucht werden, müssen nach der Erklärung der Vollversammlung auch den religiösen Organisationen zustehen. Hierzu rechnet die Versammlung folgende Einzelberechtigungen: das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Glaubens und Bekenntnisses; das Recht auf religiösen Gottesdienst i n öffentlicher und privater Form; das Recht auf Unterricht, Erziehung, Predigt und Gewinnung anderer; das Recht, die Folgerungen des Glaubens für Gesellschaft und Regierung zum Ausdruck zu bringen. Zu den spezifisch-korporativen Elementen des Grundrechts der Religionsfreiheit rechnet die Vollversammlung ferner das Recht, die Form der Organisation, ihre Leitung sowie die Bedingungen für die Mitgliedschaft zu bestimmen; ferner das Recht auf freie Auswahl und Ausbildung ihrer eigenen Beamten, Leiter und Mitarbeiter; das Recht auf Veröffentlichung und Verbreitung religiöser Literatur; das Recht auf Dienst und Missionstätigkeit i n der Heimat und i m Ausland; das Recht, über Eigentum zu verfügen und Geld zu sammeln; das Recht auf Zusammenarbeit und Vereinigung mit anderen religiösen Körperschaften i n der Heimat und i n anderen Ländern und schließlich das Recht auf Inanspruchnahme aller Erleichterungen, die allen Staatsbürgern oder Vereinigungen gewährt werden und die das Erreichen religiöser Ziele ermöglichen 4 . A m Schluß der Deklaration weist die Versammlung darauf hin, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit nur verwirklicht werden könne, wenn der Staat den religiösen Gemeinschaften und Organisationen die gleichen Rechte gewähre, die er auch anderen Organisationen einräume, insbesondere das Recht auf Selbstverwaltung, öffentliche Versammlung, Rede, Presse und Veröffentlichung, Eigentum, Geldsammlung, Reise, Einreise und Ausreise sowie allgemein auf Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten. Die Religionsfreiheit ist somit, wie die vielfachen Erfahrungen 3 Vgl. zum Ganzen die „ E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit" (s. A n m . 1), S. 130 ff. 4 „ E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit" (s. A n m . 1), Nr. 4, S. 132 f.

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

der Kirchen immer wieder beweisen, i n seinem Vollsinn nur dann verwirklicht, wenn i n einem Staat neben den religiösen Freiheiten auch die übrigen Freiheitsrechte, insbesondere die Geistesfreiheiten, i n vollem Umfang gewährleistet sind. Auch die religiösen Freiheitsrechte können i n einem Staat nicht unbegrenzt, sondern nur i m Rahmen der öffentlichen Ordnung gewährleistet sein. Die Schranken der Religionsfreiheit bilden, wie die Versammlung i n der Erklärung betont, alle nichtdiskriminierenden Gesetze des Staates, die i m Interesse der öffentlichen Ordnung und Wohlfahrt ergangen sind. Für alle diese Gesetze kann der Staat auch von den Religionsgemeinschaften Gehorsam verlangen. Bei der Ausübung ihrer Rechte müssen die religiösen Gemeinschaften ferner die Rechte anderer religiöser Organisationen anerkennen und auf die korporativen und individuellen Rechte der gesamten Gesellschaft Rücksicht nehmen 5 . Die Erklärung über die religiöse Freiheit der ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen hat noch i m selben Jahre 1948 die Endfassung des Wortlauts des A r t . 18 der UN-Deklaration der Menschenrechte maßgeblich beeinflußt. I n jenem Jahre wurde auf der Pariser Sitzung der UN-Vollversammlung der Entwurf der UN-Erklärung der Menschenrechte behandelt und angenommen. Die Mitglieder der „ K o m mission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten" hatten vorher der UNO ein „Memorandum über Bestimmungen für die Religionsfreiheit i n einer internationalen Verfassung" unterbreitet und diese Stellungnahme durch mündliche Erläuterungen ergänzt. Der Einflußnahme der Mitglieder dieser Kommission ist es zu danken, daß der ursprünglich sehr unzulängliche A r t i k e l 18 der UN-Deklaration über die Religionsfreiheit i m Geiste der Amsterdamer Erklärung i n einer zufriedenstellenden Weise revidiert werden konnte und heute als „höchst brauchbare Vorlage für nationale Gesetze und Maßnahmen" dienen kann®. Damit war der Amsterdamer „Erklärung über die religiöse Freiheit" über den unmittelbar kirchlichen Bereich hinaus zum Schutze dieser Freiheit i m internationalen Recht eine nachhaltige Wirksamkeit beschieden. 2. Die Dritte Vollversammlung in Neu-Delhi 1961

Die Dritte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen bestätigte die Amsterdamer Erklärung vom Jahre 1948. Sie bekannte sich 5

„ E r k l ä r u n g über die religiöse Freiheit" (s. A n m . 1), Nr. 4, S. 133. Von Neu-Delhi nach XJppsala 1961 -1968. Bericht des Zentralausschusses an die Vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen. Genf 1968, ökumenischer Rat der Kirchen, S. 166. — Über die Bemühungen v e r schiedener christlicher Gruppen i m Bereich der Ökumene, bereits v o r der K o n ferenz von San Francisco 1945 u n d bei dieser Konferenz menschenrechtliche β

5. Kap. : Die Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen

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nachdrücklich zu der von den Vereinten Nationen am 10. 12. 1948 verkündeten Erklärung der Menschenrechte. Die Versammlung bezeichnete die UN-Deklaration als wichtiges Hilfsmittel, um die Achtung vor den Menschenrechten, ihre Beachtung und die Einhaltung der Grundfreiheiten zu fördern. I n ihrer auf Empfehlung des Weisungsausschusses für Grundsatzfragen durch Abstimmung beschlossenen „Stellungnahme zur Religionsfreiheit" erklärte die Vollversammlung, daß alle Versuche, durch gesetzliche Bestimmungen oder durch Druck der gesellschaftlichen Gewohnheit den Glauben zu erzwingen oder zu verbieten, als „Verstöße gegen die Wege Gottes m i t der Menschheit" und als Verletzung des Menschenrechtes auf religiöse Freiheit zu verurteilen seien 7 . I n dieser Stellungnahme weist die Vollversammlung erneut auf den engen Zusammenhang der Ausübung der Religionsfreiheit m i t der Gewährleistung der anderen Menschenrechte hin 8 . Sie bezeichnet dabei den Schutz der Menschenrechte durch internationale Verträge als das grundsätzliche Anliegen des internationalen Rechts und der internationalen Ordnung unserer Zeit. Die Versammlung erklärt, daß die Stellung des Menschen i n der Gesellschaft, wie sie i m Völkerrecht i n Erklärungen und Konventionen über Menschenrechte umschrieben sei, wirksamer gesichert werden würde, wenn internationale Garantien für die Beachtung dieser Rechte ins Leben gerufen würden. Einzelpersonen würden damit direkten Zugang zu internationalen Organisationen haben, falls die Regierungen i n ihren eigenen Ländern diese Freiheiten verletzten. Die Europäische Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten haben solche Einrichtungen geschaffen, die sich bewährt hätten. Die Religionsfreiheit müsse i n ihren grundlegenden Folgerungen unter jedem Regierungssystem und jedem Verhältnis von Staat und Kirche, sowohl i n einem Land m i t Staatsreligion als auch i n einem säkularen Staat respektiert werden 9 .

Garantien der Religionsfreiheit zu erreichen, vgl. O. Frederik Nolde, Free and equal. Geneva 1968, W o r l d Council of Churches, S. 16 ff., 21 ff. 7 Nr. 2 der „Stellungnahme zur Religionsfreiheit", i n : W. A. Visser't Hooft (Hrsg.), Neu-Delhi 1961. Dokumentarbericht über die Dritte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen. Stuttgart 1962, S. 179. Englischer W o r t laut des „Statement on Religious L i b e r t y " , New Delhi 1961, i n : Carrillo de Albornoz (s. A n m . 1), S. 159 ff. 8 Nr. 10 der „Stellungnahme zur Religionsfreiheit" (s. A n m . 7), S. 180. 9 Vgl. dazu Nr. 56, 57 u n d 61 i n dem „Bericht des Ausschusses f ü r die K o m mission der Kirchen f ü r Internationale Angelegenheiten", V. Abschnitt: M e n schenrechte u n d Religionsfreiheit, i n : W. A. Visser't Hooft (Hrsg.), Neu Delhi 1961 (s. A n m . 7), S. 298 ff., bes. S. 299.

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I . Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat 3. Die Vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968

Die Vierte Vollversammlung nahm das Anliegen der Vollversammlungen von Amsterdam 1948 und Neu-Delhi 1961 wieder auf und empfahl, a) daß die Kirchen i n ihren Ländern die Regierungen veranlassen sollten, den internationalen Vereinbarungen, die unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen angenommen wurden, sowie den Sondereinrichtungen beizutreten, bzw. sie zu ratifizieren, soweit das noch nicht geschehen sei. Die Kirchen sollten die Anwendung solcher Vereinbarungen i n der nationalen Praxis fördern. b) Ferner appellierte die Vollversammlung an die Vereinten Nationen, m i t erhöhter Dringlichkeit und i n angemessener Form den Entwurf für die Internationale Konvention über die Beseitigung jeder Form religiöser Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Überzeugung fertigzustellen. c) Schließlich sprach die Vollversammlung von Uppsala die Anregung aus, die Vereinten Nationen sollten ein A m t auf der höchstmöglichen Ebene, vielleicht eines stellvertretenden Sekretärs, schaffen, u m eine Koordinierung aller Aktionen zu erleichtern, die m i t den Menschenrechten i n Zusammenhang stehen 10 . II. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils 1. Der Inhalt der Erklärung

Auch das Zweite Vatikanische Konzil hat sich eingehend m i t dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit befaßt und nach langen und teilweise heftigen konziliaren Auseinandersetzungen schließlich m i t großer Mehrheit 1 1 die „Erklärung über die Religionsfreiheit" verabschiedet, die von den Theologen und Juristen als eines der bedeutsamsten Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils angesehen w i r d 1 2 . 10 N. Goodall (Hrsg.), Bericht aus Uppsala 1968. Offizieller Bericht über die Vierte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen. Uppsala 4. - 20. J u l i 1968. Genf 1968, S. 195. 11 Die „Declaratio de libertate religiosa" wurde i n der Schluß-Abstimmung am 7.12.1965 m i t 2308 Ja-Stimmen gegen 70 Nein-Stimmen angenommen. 8 Stimmen waren ungültig. Vgl. darüber J. H amer u n d Y. Congar (Hrsg.), Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit. Lateinischer u n d deutscher T e x t u n d Kommentare. Paderborn 1967, S. 120. 12 Lateinischer Originaltext der „Declaratio de libertate religiosa", i n : A A S 58 (1966), p. 929 - 946. Lateinisch-deutsche Textausgabe (mit Kommentar), i n : L e x i k o n f ü r Theologie u n d Kirche. Ergänzungsbände „Das Zweite V a t i k a n i -

5. Kap. : Die Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen

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Die „Declaratio de liberiate religiosa" behandelt das Problem der religiösen Freiheitsrechte nicht i n seinen sämtlichen theologisch relevanten Dimensionen, sie ist vielmehr — theologisch gesehen — ein Dokument von begrenzter Zielsetzung. Es ging dem Konzil i n dieser Erklärung ausschließlich um die Religionsfreiheit in der juridisch-gesellschaftlichen Ordnung, d. h. um das staatsbürgerliche Recht, die Religion innerhalb der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung frei auszuüben. Das Konzil begründet die i n diesem Dokument vollzogene Neuorientierung der lehramtlichen Auffassung der katholischen Kirche über die grundsätzliche Stellung des Staates zur Religion und seiner Verpflichtung zur Gewährleistung staatsbürgerlicher religiöser Freiheitsrechte nicht m i t Hilfe biblischer oder sonstiger theologischer Beweise, sondern m i t dem glücklich formulierten Argument, daß die Würde der menschlichen Person den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewußtsein komme und die Zahl derer wachse, die den Anspruch erheben, bei ihrem Tun ihrem eigenen Urteil zu folgen und i n eigener Verantwortlichkeit von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, nicht unter Zwang, sondern i m Bewußtsein ihrer Pflicht 13 . Das Recht auf Religionsfreiheit bedeutet nach den Aussagen des Konzils i m wesentlichen, daß der Mensch i n der Gesellschaft von jeder legalen oder illegalen Nötigung oder Behinderung auf dem Gebiet der Religion frei sein müsse, so daß er ungehindert glauben, Gott verehren, seinen Glauben bezeugen und ausüben könne oder nicht, und zwar ebenso in der privaten wie i n der öffentlichen Sphäre 14 . Diese den Einzelnen zukommende Freiheit, die als Freisein von jedem Zwang i n religiösen Dingen verstanden wird, muß ihnen, wie das Konzil i n weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung mit den Erklärungen des ökumenischen Rates der Kirchen betont, auch dann zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln. Denn die Sozialnatur des Menschen verlange ebenso wie die Religion selbst religiöse Gemeinschaften. Deshalb stehe auch diesen Gemeinschaften rechtens die Freiheit zu, sich gemäß ihren eigenen Normen zu leiten, öffentliche Kulthandlungen vorzunehmen, ihren Gliedern in der Betätigung ihres religiösen Lebens beizustehen, sie sehe K o n z i l " , Bd. 2 (1967), S. 703 - 748. Deutscher T e x t u. a. i n : K. Rahner u n d H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. A l l e Konstitutionen, Dekrete u n d Erklärungen des Zweiten Vatikanums i n der bischöflich beauftragten Übersetzung. Freiburg 1966 (Herder-Bücherei), S. 661 - 675. Aus ökumenischer Sicht vgl. A. F. Carrillo de Albornoz, The Ecumenical and W o r l d Significance of the Vatican Declaration on Religious Liberty, i n : The Ecumenical Review, Jg. 18 (1966), S. 5 8 - 8 4 ; ders., Le Concile et la Liberté Religieuse, Paris 1967, m i t u m fangreichen, bis zum Jahre 1966 fortgeführten Nachweisen der internationalen L i t e r a t u r ; a.a.O., S. 238 - 246. 13 Vgl. „ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit", Nr. 1, 2, 9; J. C. Murray, Die Erklärung über die Religionsfreiheit, i n : Concilium, Jg. 2 (1966), S. 320; ferner die ausführliche Darstellung v o n J. Hamer, Geschichte des Textes der E r k l ä rung zur Religionsfreiheit (s. A n m . 11), S. 68 ff. 14 „ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit", Nr. 2. 4 Listi

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

zu unterrichten und jene Einrichtungen zu fördern, i n denen die Glieder zusammenarbeiten, um das eigene Leben nach ihren religiösen Grundsätzen zu ordnen 15 . In dem Recht auf Religionsfreiheit ist, wie das Konzil ausführt, auch das Recht der Kirchen und religiösen Gemeinschaften enthalten, ungehindert von der staatlichen Gesetzgebung und von Eingriffen der staatlichen Verwaltung, ihre eigenen Amtsträger auszuwählen, auszubilden, zu ernennen und zu versetzen sowie das Recht, mit religiösen Autoritäten und Gemeinschaften über nationale Grenzen hinweg frei zu verkehren. Zur religiösen Freiheit gehört nach der „Declaratio de libertate religiosa" außerdem das Recht der Religionsgemeinschaften, „die besondere Fähigkeit ihrer Lehre zur Ordnung der Gesellschaft und zur Beseelung des ganzen menschlichen Tuns" unter Beweis zu stellen und Organisationen m i t pädagogischen, kulturellen, karitativen und sozialen Zielsetzungen ins Leben zu rufen 1 6 . M i t besonderem Nachdruck unterstützt das Konzil das aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit fließende Recht der Eltern, „die Art der religiösen Erziehung ihrer Kinder gemäß ihrer eigenen religiösen Überzeugung zu bestimmenOhne die Pflicht des Staates zur Finanzierung privater Schulen ausdrücklich auszusprechen, betont das Konzil, daß von Seiten der staatlichen Gewalt das Recht der Eltern anerkannt werden müsse, i n wahrer Freiheit Schulen und andere Erziehungseinrichtungen zu wählen, wobei ihnen aufgrund dieser Wahl weder direkt noch indirekt irgendwelche ungerechte Lasten auferlegt werden dürfen. Nach der A u f fassung des Konzils w i r d dieses Recht der Eltern verletzt, wenn die K i n der gezwungen werden, einen Schulunterricht zu besuchen, der der religiösen Überzeugung der Eltern nicht entspricht, oder wenn der Staat nur eine einzige Schulform für alle verpflichtend vorschreibt, „bei der die religiöse Ausbildung völlig ausgeschlossen ist" 1 7 . 2. Die geschichtliche Bedeutung der „Declaratio de libertate religiosa"

Die „unter heftigen Kämpfen und leidenschaftlicher Dramatik" erarbeitete Declaratio de libertate religiosa w i r d vor allem deshalb als der größte Fortschritt i n der Lehre, den das Konzil gemacht hat 1 8 , und als die 15

„ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit", Nr. 4. „ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit, Nr. 4; dazu P. Pavan, Die wesentlichen Elemente des Rechts auf Religionsfreiheit, i n : J. Hamer u n d Y. Congar, Die Konzilserklärung (s. A n m . 11), S. 175 ff. 17 „ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit", Nr. 5. 18 So P. Pavan, Die E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit. Einleitung u n d Kommentar, i n : L e x i k o n f ü r Theologie u n d Kirche. 2. A u f l . Ergänzungsbände: 16

5. Kap. : Die Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen

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i n ihren Auswirkungen bedeutsamste Stellungnahme des Zweiten Vatikanischen Konzils angesehen, weil die katholische Kirche i n diesem Dokument ihre seit Konstantin dem Großen vertretene Auffassung über das Verhältnis von Staat und Religion einer grundsätzlichen Revision unterzogen hat. Die Erklärung über die Religionsfreiheit bedeutet den endgültigen Abschied von der Idee des konfessionellen Staates und von der jedenfalls dem Grundsatz nach von namhaften Repräsentanten der katholischen Kirche bis zur Eröffnung des Konzils i n verschiedenen Staaten aufrechterhaltenen These der Notwendigkeit einer ausschließlichen Verbindung des Staates und seiner Institutionen mit der als wahr erkannten Religion. I n der Erklärung über die Religionsfreiheit hat sich die katholische Kirche von der das Mittelalter kennzeichnenden Idealvorstellung der Einheit von Staat und Religion, die die freie religiöse und rechtliche Betätigung Andersgläubiger ausschließen würde, lehramtlich und unwiderruflich losgesagt. Es übersteigt die Grenzen und Möglichkeiten des weltlich zu verstehenden Staates, zwischen einer „wahren" und einer „irrigen" Religion zu unterscheiden, weil dem zu religiöser Neutralität verpflichteten Staat überhaupt die Kriterien dazu fehlen, auf dem Gebiet der Religion solche Unterscheidungen zu treffen. Daraus folgt auch, daß der Staat seine Bürger wegen ihres religiösen Bekenntnisses keiner unterschiedlichen Behandlung unterwerfen darf. Die heftigen Auseinandersetzungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bei den Beratungen der Erklärung über die Religionsfreiheit hatten ihren Grund darin, daß sich i n der Frage, ob sich der Staat m i t einer bestimmten von ihm als „wahr" angesehenen Religion identifizieren und daher andere Religionen und Konfessionen i n ihrer freien Betätigung beschränken dürfe, drei gegensätzliche Auffassungen gegenüberstanden. Jede dieser Richtungen bildete das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, die i n verschiedenen Kulturkreisen verlaufen und von jeweils verschiedenen Vorstellungen über ein idealtypisches Staat-Kirche-Verhältnis geprägt war. a) Die Anhänger der einen Richtung, die i n bestimmten Modellen des konfessionellen Staates mediterraner Prägung i h r Leitbild erblickten, gingen i n ihrer Argumentation vom Primat der religiösen Wahrheit gegenüber der religiösen Freiheit aus und bekannten sich zu der A u f fassung, daß der Staat verpflichtet sei, die wahre Religion als seine Grundlage zu betrachten und sich deshalb nicht nur für das materielle Wohl seiner Bürger, sondern auch für deren religiöses und geistliches Wohl verantwortlich fühlen müsse. Aus der Verpflichtung des Staates, das kostbare Gut der wahren Religion zu fördern, leiteten die Anhänger Das Zweite Vatikanische Konzil. Bd. 2, Freiburg 1967, S. 711; ferner D. A . Seeber i n dem — nicht gezeichneten — Beitrag „ Z u r Konzilserklärung über die Religionsfreiheit", i n : Herderkorrespondenz, 20. Jg. (1965/66), S. 271 ff. 4*

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I. Grundlegung. Die Religion i m modernen demokratischen Staat

dieser Auffassung die Folgerung ab, daß der Religion des Staates eine privilegierte Stellung, den übrigen Kulten dagegen nur eine beschränkte Betätigungsfreiheit einzuräumen sei 19 . b) Eine weitere, auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil vertretene Auffassung ging davon aus, daß der Staat zwar grundsätzlich die Pflicht habe, sittliche und religiöse Irrtümer zu unterdrücken, daß aber diese Verpflichtung i n der Staatspraxis höheren und allgemeineren Normen, d. h. dem Gebot des Gemeinwohls, untergeordnet sei, das gebiete, daß auch i n einer religiös nicht homogenen Gesellschaft alle Staatsbürger i n Frieden und Freiheit zusammenleben. Deshalb könne es, wie die A n hänger dieser Richtung argumentierten, unter gewissen Verhältnissen, ζ. B. i n Staaten, deren Bevölkerung verschiedenen Religionen oder Konfessionen angehöre, nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sein, den „ I r r t u m " nicht zu verhindern, um ein höheres Gut, nämlich den Frieden und das Gemeinwohl, verwirklichen zu können. Diese Auffassung, die jedenfalls im Prinzip noch an der Idee des konfessionellen Staates festhielt, suchte die aus dem Wahrheitsanspruch der katholischen Religion fließende „dogmatische Intoleranz" aus Gründen des Gemeinwohls mit staatsbürgerlicher Toleranz zu vereinigen 20. c) Die dritte, entscheidend von der nordamerikanischen Denkart beeinflußte Auffassung, die sich schließlich auf dem Konzil voll durchsetzte, ging von der Vorstellung eines säkular zu verstehenden Staates aus. Der Regierung kommt nach dieser Auffassung nicht das A m t eines „Defensor fidei" zu. Die „cura religionis", die direkte Sorge für die Religion und die Einheit der Kirche innerhalb der Christenheit oder eines Nationalstaates, gehört nicht zu ihrer Pflicht und ihrem Recht. Die Regierung hat vielmehr eine rein weltliche Funktion, die sich darauf beschränkt, die freie Religionsausübung zu ermöglichen und somit für die Freiheit der Kirche und die Freiheit der menschlichen Person i n religiösen Angelegenheiten zu sorgen. Der Staat, der sich selber mit keiner „Staats"-Religion mehr identifizieren und deshalb zwischen seinen Bürgern nicht mehr nach kon19

Prominenter Vertreter dieser Auffassung A. Card. Ottaviani, auch noch i n seinem Lehrbuch Institutiones Juris Publici Ecclesiastici, vol. I I , Ecclesia et Status, 4. ed., Roma 1960, bes. S. 69 ff., 55 ff. m i t A n m . 163, 72 f.; vgl. dazu auch E. W. Böckenförde, Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen, i n : S t i m men der Zeit, 176. Band (1964/65), S. 204 f. 20 Diese Auffassung wurde u. a. vertreten v o n Papst Pius XII. i n einer A n sprache an den Verband der kath. Juristen Italiens am 6. 12. 1953. Wortlaut i n : A A S 45 (1953), S. 794 ff.; deutsche Übersetzung i n : A.-F. Utz u n d J.-F. Groner (Hrsg.), A u f b a u u n d Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius X I I . Bd. 2, Freiburg/Schweiz 1954, S. 2042 ff., bes. S. 2048 ff. ( = Nr. 3977 f.); abgedruckt auch i n Herderkorrespondenz, 8. Jg. (1953/54), S. 175; vgl. dazu J. C. Murray, Z u m Verständnis der Entwicklung der Lehre der Kirche über die Religionsfreiheit, i n : J. Hamer u n d Y. Congar (Hrsg.), Die Konzilserklärung (s. A n m . 11), S. 160 f.; E. W. Böckenförde, Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen (s. A n m . 19), S. 205.

5. Kap. : Die Religionsfreiheit i m Bereich der christlichen Kirchen

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fessionellen Rücksichten differenzieren darf, übt daher gegenüber den Mitgliedern einzelner Religionen oder religiösen Minderheiten nicht mehr Toleranz, sondern gewährt allen Personen, die sich auf seinem Territorium befinden, Religionsfreiheit 21. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils, deren Bedeutung für die weltweite Anerkennung der religiösen Freiheitsrechte auch von ökumenischer Seite gewürdigt wurde 2 2 , deckt sich inhaltlich weitgehend m i t den Stellungnahmen der Vollversammlungen des ökumenischen Rates der Kirchen und steht i m Einklang m i t Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen. Obwohl den kirchlichen Stellungnahmen keine unmittelbare staatsrechtliche Bedeutung zukommen kann, sind sie, da das Grundgesetz nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen w i l l , sondern diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen herausgebildet hat 2 3 , bei der Bestimmung des Sinngehalts des Grundrechts der Religionsfreiheit auch i m Bereich des Staatsrechts, das i n dieser Hinsicht das Selbstverständnis der großen Kirchen nicht ignorieren kann, von bedeutendem und nachhaltigem Einfluß 24 .

21 J. C. Murray, Die E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit (s. A n m . 13), S. 322; ders., The Problem of Religious Freedom, Westminster (Maryland) 1965 (Woodstock Papers, Number 7), S. 99 ff.; ders., Die religiöse Freiheit u n d das Konzil, i n : W o r t u n d Wahrheit, 20. Jg. (1965), S. 416 ff. u n d 529 ff.; ferner B. Schüller, Religionsfreiheit u n d Toleranz, i n : Κ . Rahner u n d O. Semmelroth (Hrsg.), Theologische Akademie, Bd. 1, F r a n k f u r t / M . 1965, S. 112 ff., der den U n t e r schied zwischen Religionsfreiheit u n d Toleranz k l a r herausstellt. Das Recht auf Religionsfreiheit, das den staatsbürgerlichen Bereich betrifft, steht dabei nicht i m Widerspruch zu der dogmatischen Lehre der Kirche v o n der einen wahren Religion, die sie unberührt läßt. Vgl. dazu J. Hamer, Geschichte des Textes der Erklärung, i n : J. Hamer u n d Y. Congar, Die Konzilserklärung (s. A n m . 11), S. 107. 22 Vgl. A. F. Carrillo de Albornoz, The Ecumenical and W o r l d Significance of the Vatican Declaration on Religious L i b e r t y (s. A n m . 12), S. 81 f.; ders., L e Concile et la Liberté Religieuse (s. A n m . 12), S .13; vgl. auch J. Willebrands, Religionsfreiheit u n d Ökumenismus, i n : J. Hamer u n d Y. Congar (Hrsg.), Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (s. A n m . 11), S. 261 ff. 23 Vgl. BVerfGE 12,1 (4). 24 Vgl. BVerfGE 24, 236 (248). Auch A. Hollerbach weist darauf hin, daß zur vollen Wirklichkeit des Staat-Kirche-Verhältnisses selbstverständlich auch die Lehren der Kirchen v o n eben diesem Verhältnis gehören, u n d daß die Theorie des Staatskirchenrechts insoweit auch „ekklesiologisch hellsichtig" sein müsse. Vgl. A. Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, W D S t R L , Heft 26 (1968), S. 68 ff. m i t A n m . 62. I n diesem Zusammenhang bedeutsam die Ausführungen von E.-W. Böckenförde, Einleitung zur „ E r k l ä r u n g über die Religionsfreiheit" des Zweiten Vatikanischen Konzils. Lateinisch u n d Deutsch. Münster 1968, S. 5 ff.

ZWEITER ABSCHNITT

Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht A. I m Bereich des öffentlichen Rechts Sechstes Kapitel Inhaltliche Bestimmung und Grenzen des Grundrechts der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit I. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis der Strafhaft 1. Die Grenzen zulässiger Glaubenswerbung

Die Rechtsprechung zum Grundrecht der individuellen Religionsfreiheit zeigt, daß die Ausübung dieses Grundrechts auch i m Rahmen des besonderen Unterordnungsverhältnisses der Strafhaft, die den schwersten rechtsstaatlich zulässigen Eingriff i n die Freiheitssphäre des Bürgers und damit i n die Ausübung seiner Grundrechte darstellt, nur solchen modalen Beschränkungen der freien Glaubensbetätigung unterworfen werden darf, die sich aus der Zweckbestimmung der jeweiligen Strafanstalt zwingend ergeben 1 . Gerade die Rechtsprechung zur Religionsfreiheit i m öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis der Strafhaft läßt den Gehalt und die rechtlichen Konturen dieses Grundrechts besonders deutlich hervortreten. Bereits die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Religionsfreiheit — ein Beschluß des Ersten Senats vom 8. 11. I960 2 — bot dem Gericht, das sich i m Hinblick auf grundsätzlich-systematische Ausführungen zum Grundrecht der Religionsfreiheit stets eine bemerkenswerte Zurückhaltung auferlegt hat 3 , Gelegenheit, das schwierige 1 Vgl. dazu A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d die besonderen Gewaltverhältnisse, B e r l i n 1969, S. 140 ff.; P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung i n Sonderstatusverhältnissen, JuS 1969, S. 265 ff. 2 BVerfG, Beschl. d. Ersten Senats v o m 8. 11. 1960 (Az.: 1 B v R 59/56), BVerfGE 12,1 ff. 3 H. Scholtissek, Die Religionsfreiheit i n der Verfassungsrechtsprechung, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche, Heft 3, Münster 1969, S. 96.

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

Problem der Bestimmung bung aufzugreifen.

der Grenzen einer zulässigen

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Glaubenswer-

Bei dieser berühmt gewordenen Entscheidung, die als „Tabak-Fall" oder „Ludendorffianer-Fall" 4 i n die rechtswissenschaftliche Diskussion eingegangen ist, handelte es sich um einen Beschwerdeführer, der bereits i n früher Jugend dem „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff) e. V." beigetreten und i m Sommer 1933 aus der evangelischen Kirche ausgeschieden war. I m selben Jahre Schloß er sich wegen ihres betont antichristlichen Charakters der SS an und bekleidete i n i h r zuletzt den Rang eines Obersturmführers. Seit 1938 war er außerdem i m Sicherheitsdienst (SD) tätig. Nach dem Zusammenbruch hatte er unter falschem Namen eine Beschäftigung bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) gefunden. Durch Angehörige dieser Vereinigung war er mit einem für die sowjetische Besatzungszone arbeitenden Nachrichtendienst i n Verbindung gekommen, als dessen Mitarbeiter er sich i n den Jahren 1950 bis 1952 bemühte, Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik Deutschland auszuspähen und sie seinen Auftraggebern i n der sowjetischen Besatzungszone zur Kenntnis zu bringen. Für diese Tätigkeit war er am 22. 12. 1953 vom Bundesgerichtshof wegen versuchten Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Sein Gesuch um bedingte Entlassung aus der Strafhaft gem. § 26 StGB i. d. F. d. Bek. vom 25. 8. 1953 (BGBl. I S. 1083) war vom Bundesgerichtshof mit der Begründung abgelehnt worden, daß der Beschwerdeführer bei der von i h m i n der Strafhaft unter seinen Mitgefangenen betriebenen intensiven Werbung für den Kirchenaustritt sogar so weit gegangen sei, einzelnen von ihnen für den Fall des Kirchenaustritts Tabak zu versprechen. I n diesem Verhalten des Strafgefangenen hatte der Bundesgerichtshof einen solchen „Grad von gemeiner Gesinnung und moralischer Niedertracht" erblickt, daß nach seiner Ansicht nicht erwartet werden konnte, daß der Beschwerdeführer i n Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen würde 5 . Die gegen diesen Beschluß des Bundesgerichtshofs gerichtete Verfassungsbeschwerde, in der der Strafgefangene neben einer Verletzung des Art. 3 GG vor allem eine Beeinträchtigung seines Grundrechts aus Art. 4 GG geltend machte, wurde vom Bundesverfassungsgericht als unbegründet zurückgewiesen®. Wenn die Entscheidung i m „Tabak-Fall" dem Bundesverfassungsgericht auch keine Veranlassung bot, sich m i t dem Grundrecht der individuellen Religionsfreiheit des Art. 4 GG i n ähnlich umfassender Weise auseinanderzusetzen, wie das ζ. B. i m Apothekenurteil i m Hinblick auf 4 A. Hollerbach, Das Staatskirchenrecht i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AÖR Bd. 92 (1967), S. 105. 5 BVerfGE 12,1 (3). 6 BVerfGE 12,1 (4).

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

das Grundrecht der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG 7 oder i m Fernsehstreit bezüglich der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG 8 der Fall war, so enthalten die i n der rechtswissenschaftlichen Literatur nahezu allgemein mit Zustimmung aufgenommenen Ausführungen des Gerichts zu dieser Verfassungsbeschwerde dennoch eine Reihe grundsätzlicher und i n ihrer Bedeutung weittragender Aussagen über den Umfang und die Grenzen des Schutzes jeder religiösen Betätigung i n der durch das Grundgesetz normierten freiheitlich-demokratischen Ordnung der Bundesrepublik. a) Religion als Rechtsbegriff Zustimmung verdient bereits das methodische Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts bei der Bestimmung des Inhalts des i n Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Grundrechts der Religionsfreiheit. Das Gericht verfährt dabei ähnlich wie i n seiner späteren Entscheidung vom 20. 12. 1960 über den Gehalt und den Umfang des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gem. Art. 4 Abs. 3 GG 9 , i n der es bei der Erörterung des Gewissensbegriffs („aus Gewissensgründen") zutreffend erklärt hat, daß es bei der von i h m zu beurteilenden Fragestellung keiner Auseinandersetzungen mit theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Wesen und Ursprung des Gewissens bedürfe, da dies die Kompetenz des Richters überschreiten würde und auch rechtlich unergiebig wäre, weil über viele der i n diesem Zusammenhang auftretenden Probleme i n den zuständigen Disziplinen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten bestünden 10 . Das Bundesverfassungsgericht vermeidet deshalb i m Tabak-Fall zu Recht alle religionswissenschaftlichen und theologischen Erörterungen über Wesen und Entstehung der Religion(en) und enthält sich auch einer materiellen Definition des Begriffes Religion 1 1 . Zutreffend erklärt das Gericht, ausgehend von dem i n der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zu weltanschaulicher, religiöser und konfessioneller Neutralität begründeten Verbot des Staates 12 , den Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten 13 , daß das Grundgesetz nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens 7

BVerfGE 7, 377 ff. BVerfGE 12, 205 (259 ff.). 9 BVerfGE 12,46 ff. 10 BVerfGE 12,46 (54 f.). 11 I m Gegensatz ζ. B. zu dem methodischen Vorgehen von E. Fischer, Trennung von Staat u n d Kirche. Die Gefährdung der Religionsfreiheit i n der B u n desrepublik, München 1964, S. 20 ff., dessen Buch einen das Phänomen Religion als solches abwertenden Grundzug erkennen läßt. 12 BVerfGE 12, 59 (85); 19, 206 (216); 19,1 (8); 18, 385 (386). 18 BVerfGE 12,1 (4). 8

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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schützen wolle, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet habe 14 . Das Grundgesetz respektiert i n A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG, wie Scheuner ausführt, die freie Religionsbetätigung i m Verständnis der i m Kreise der großen Kulturen der Welt und der Völker der Erde bestehenden A n schauungen und innerhalb deren Grenzen. Es wäre deshalb zu eng, i m Grundgesetz nur ein westliches oder abendländisch-christliches Verständnis der Glaubensfreiheit vorauszusetzen. Die Vorstellungsbreite des Grundgesetzes muß i m Bereich der religiösen Freiheiten vielmehr alle großen Kulturbereiche der Welt umfassen und bei aller Vertiefung, die christliche Einsicht hier bringen kann, i m Sinne des A r t . 18 der A l l gemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 ein universelles Verständnis der Religionsfreiheit anstreben und sich nach einer weltweiten menschenrechtlichen Deutung der Glaubensfreiheit ausrichten 15 . b) Verfassungsrechtlich

zulässige Formen religiöser

Bestätigung

Ebenso wie die Entscheidung i m Tabak-Fall dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit geboten hat, eine grundsätzliche Klärung des dem Menschenrecht der Glaubensfreiheit zugrundeliegenden Religionsbegriffs vorzunehmen, war das Gericht bei dieser Gelegenheit auch genötigt, zu der für die Interpretation dieses Menschenrechts und seiner V e r w i r k lichung i m religiös-neutralen Staat entscheidenden Frage Stellung zu nehmen, welche religiös motivierten positiven und negativen Verhaltensweisen von dem Grundrecht der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit i. S. des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfaßt werden. I n Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit, die bereits die Auffassung vertreten hat, daß die Glaubens- und Gewissensfreiheit das Recht gewährleiste, einen beliebigen religiösen Glauben zu haben oder auch keinen zu haben, erklärt das Bundesverfassungsgericht in nahezu wörtlicher Anlehnung an A n schütz, daß die Glaubensfreiheit nicht nur erlaube, auszusprechen oder auch zu verschweigen, daß und was man glaube oder nicht glaube 16 . Dem 14

BVerfGE 12,1 (4). 17. Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L , Heft 22 (1965), S. 48 m i t A n m . 138; vgl. auch A. F. Carrillo de Albornoz, The Basis of Religious Liberty, New Y o r k 1963, S. 91 ff.; ferner diese Arbeit, Kap. 3, I I I , 1 ; Kap. 5,1,1 u. 2. 16 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., B e r l i n 1933, A r t . 135, Erl. 4 m. A n m . 2 ( = S. 619); a. A . C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, HdbDStR, Bd. 2, Tübingen 1932, 15

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Sinne dieser i m Grundgesetz getroffenen politischen Entscheidung entspreche es vielmehr, die Glaubensfreiheit auch auf die Werbung für den eigenen Glauben wie auf die Abwerbung von einem fremden Glauben zu erstrecken. Das müsse auch das Recht einschließen, die Glaubensabwerbung unabhängig von einer Glaubenswerbung zu schützen 17 . Art 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet somit die Glaubensfreiheit nicht nur im positiven, sondern auch im negativen Sinne 18. Er umschließt die Freiheit auch zur Irreligiosität i n der Form der bloßen Areligiosität und der aktiven Antireligiosität. A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistet nicht nur die „Gedankenfreiheit", sondern auch die positive und die negative „ Missions " -Freiheit 1 9 . c) Mißbräuchliche Formen religiöser

Betätigung

M i t großer Behutsamkeit greift das Bundesverfassungsgericht das schwierige Problem der Bestimmung der Grenzen der religiösen Betätigungsfreiheit auf. Diese verständliche Zurückhaltung erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß dieses „klassische, durch die kategorische Formulierung des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG ausgezeichnete Grundrecht" der Glaubensfreiheit 20 durch keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt ist. Das Gericht verzichtet m i t Recht darauf, die Frage nach den immanenten Schranken der durch Art. 4 GG gewährleisteten religiösen Freiheitsrechte i n ihrer gesamten, weithin ungeklärten und umstrittenen Problematik einer grundsätzlichen Behandlung zu unterziehen 21 . Es beschränkt sich vielmehr auf die grundlegende Feststellung, daß jedenfalls für solche Handlungen, die einen Mißbrauch der Glaubensfreiheit darstellen, der Schutz des Grundrechts des A r t . 4 GG nicht i n Anspruch genommen werden könne. Das entscheidende K r i t e r i u m dafür, ob i n einem konkreten Falle eine mißbräuchliche Ausübung der Glaubensfreiheit vorliegt, erblickt das Bundesverfassungsgericht vor allem darin, S. 584, der die Auffassung vertrat, A r t . 135 WeimRV gewährleiste n u r die Freiheit der religiösen, nicht aber die der antireligiösen Überzeugung. 17 BVerfGE 12,1 (4). 18 Die Auffassung W. Hamels, daß jemand, der weder eine Religion noch eine Weltanschauung habe, nicht die „Freiheit des religiösen u n d weltanschaulichen Bekenntnisses" (Art. 4 Abs. 1 GG) i n Anspruch nehmen könne, u n d daß, w e r keinen Glauben habe, nicht die Freiheit des Glaubens fordern könne, ist m i t dem Grundgesetz nicht vereinbar. Vgl. W. Hamel, Die Gewissensfreiheit i m Grundgesetz, AöR, Bd. 89 (1964), S. 323. 19 A. Hollerbach, Das Staatskirchenrecht (s. A n m . 4), S. 105. 20 BVerfGE 12,1 (4). 21 Vgl. darüber i m einzelnen K. Vater, Die Schranken der Religionsfreiheit nach A r t . 4 des Bonner Grundgesetzes u n d A r t . 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten. Jur. Diss., K ö l n 1964, S. 50 ff.

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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ob durch ein bestimmtes Verhalten im konkreten Fall die Menschenwürde anderer verletzt wird 22. Das Bundesverfassungsgericht stellt damit die These auf, daß die Achtung der Grundrechte anderer, und insbesondere ihrer Personenwürde, eine verfassungsrechtlich gebotene immanente Schranke für die Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit darstellt 2 3 . M i t dieser Mißbrauchsformel hat das Bundesverfassungsgericht, wie Häberle anmerkt, eine genügend elastische und praktikable Handhabe zur fallweisen Konkretisierung der Glaubens(ab)werbung entwickelt. Da es sich nicht i m vorhinein generell und nach allgemeinverbindlichen Maßstäben festlegen läßt, wo die Grenzen einer zulässigen Glaubensabwerbung überschritten werden, bleibt damit der Weg frei, Glaubensabwerbungen, die die Würde der Person oder Einzelgrundrechte verletzten, ebenso den Schutz des A r t . 4 GG zu versagen wie solchen, die unter Ausnutzung besonderer Verhältnisse oder mit Hilfe unlauterer Methoden geschehen24. Wenn man m i t dem Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, daß das Grundrecht des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG eine Konkretisierung der Garantie der Menschenwürde darstellt, die den Sinngehalt des A r t . 1 Abs. 1 GG näher erhellt und ihrerseits ihre Sinndeutung wieder aus A r t . 1 GG empfängt 2 5 , ist die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zwingend, daß derjenige sich nicht auf den Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit berufen kann, der in Ausübung dieses Grundrechts die Würde der Person anderer verletzt. Eine an sich erlaubte Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung w i r d nach Ansicht des Gerichts dann zum Mißbrauch des Grundrechts, wenn sie darauf ausgeht, unmittelbar oder mittelbar m i t Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen. Einen solchen Fall des Mißbrauchs des Grundrechts des Art. 4 Abs. 1 GG sah das Gericht zu Recht in dem Verhalten des Beschwerdeführers gegeben. Wer unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Strafvollzugs durch Versprechen und Gewähren von Genußmitteln für den Glaubensabfall und den Austritt aus der Kirche wirbt, weil er sich der besonderen Wirksamkeit dieses Mittels bewußt ist, handelt mißbräuchlich und kann sich dafür nicht auf den Schutz des Art. 4 Abs. 1 GG berufen 26 . 22 BVerfGE 12, 1 (4). Z u r grundsätzlichen Frage der Begrenzungsmöglichkeit sog. uneinschränkbarer Grundrechte vgl. die Ausführungen des BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1970 (Az.: 1 B v R 83, 244 u n d 345/69), BVerfGE 28, 243 (260 f.). Darüber, daß auch die sittlichen Anschauungen der K u l t u r v ö l k e r eine Grenze der freien Religionsausübung darstellen, vgl. diese Arbeit, unten, I V , 2, c). 23 H. Scholtissek, Die Religionsfreiheit (s. A n m . 3), S. 100. 24 P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), JuS 1969, S. 266. 25 So zutreffend R. Zippelius, Bonner Kommentar, A r t . 4, Rdnr. 48. 26 Auch das religionswissenschaftlich als „Proselytismus" bezeichnete r e l i -

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Unter Bezugnahme auf diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts i m Tabak-Fall hat der Bundesgerichtshof i n einem Urteil vom 24.10.1962 27 eine Reihe von Formen religiös motivierten Verhaltens aufgezählt, die einen „wertev er neinenden Eingriff" in schutzwürdige Rechtsgüter anderer enthalten und deshalb auch durch das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht gerechtfertigt werden können. Zu diesen durch A r t . 4 GG nicht geschützten religiösen Verhaltensweisen rechnet der Bundesgerichtshof neben den „bekannten groben Verirrungen eines religiösen Aberglaubens", wie Menschenopfern, Witwen Verbrennung, Hexenverfolgung und dergleichen, auch heute noch anzutreffende, weniger auffallende, auf religiösen Vorstellungen beruhende Arten von Eingriffen in die Lebenssphäre oder i n das sittliche Empfinden anderer, wie die Fernhaltung ärztlicher Hilfe von einem lebensgefährlich! verletzten oder erkrankten Schutzbefohlenen, Polygamie (bei Mormonen), Diskriminierung religiös Andersdenkender, insbesondere deren Benachteiligung i n ihrem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen durch Mißbrauch privater oder öffentlicher Machtbefugnisse, und dergleichen. Derartige Erscheinungen des religiösen Denkens oder Verhaltens widerstreben, wie der Bundesgerichtshof erklärt, dem sittlichen Grundgehalt der verfassungsrechtlichen Ordnung und damit auch dem Wesens- und Wertgehalt des durch das Grundrecht der Religionsfreiheit zu schützenden Rechtsgutes selbst 28 . d) Schranken religiöser

Betätigung

Grundrechtssystematisch bedeutsam ist die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung i m Tabak-Fall anders als der Hessische Staatsgerichtshof i m Schulgebetsurteil 29 und i m Gegensatz zu zahlreichen Stimmen i n der Literatur 3 0 , die Schranken, die einer vergiöse Verhalten ist unzulässige Glaubenswerbung. Diese spielt jedoch n u r z w i schen den einzelnen Religionsgemeinschaften eine Rolle u n d tangiert nicht die Sphäre des Staates w i e hier i m öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis der Strafhaft. Vgl. dazu die Diskussion gelegentlich des 3. Essener Gesprächs zum Thema Staat u n d Kirche, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche. Hrsg. von J. Krautscheidt u n d H. Marré, Bd. 3, Münster 1969, S. 164 ff., bes. S. 167 ff. 27 BGH, U r t . V. 24. 10. 1962 (Az.: I V ZR 81/62), B G H Z 38, 317 = N J W 1963, 761 = KirchE 6,143. 28 B G H Z 38, 317 (321). 29 Vgl. HessStGH, Urt. v. 27.10.1965, E S V G H 16,1 = N J W 1968, 31. 30 ζ. Β . ff. Peters, Rezension zu G. Wacke, Polizeirecht, ZgesStW Bd. 110 (1954), S. 564; v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4 I I I 5 b ( = S. 221), hinsichtlich der Bekenntnisfreiheit; u. A r t . 4 Erl. I V 4 ( = S. 223), hinsichtlich der Kultusfreiheit; Wernicke , Bonner Kommentar, A r t . 4 Erl. I I 2 d; G. A. Zinn u n d E. Stein, Die Verfassung des Landes Hessen, Bd. I, Bad Homburg v. d. H. u n d Berlin 1954, Erl. 5 Abs. 2 zu A r t . 48 ( = S. 251), hinsichtlich der Kultsfreiheit.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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fassungsrechtlich zulässigen Aktualisierung des Grundrechts der Religionsfreiheit gezogen sind, nicht mit Hilfe der Vorstellung einer wie immer gearteten unmittelbaren oder mittelbaren Anwendung der auf A r t i k e l 4 GG übergreifenden Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG dem Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit entnommen, sondern unmittelbar aus Art. 4 GG bestimmt hat* 1. Das Bundesverfassungsgericht bekannte sich damit zu der Auffassung, daß alle Grundrechte, auch diejenigen, die i m Grundgesetz keine Einschränkung durch einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt erfahren haben, m i t der Zielrichtung des einzelnen Grundrechts zusammenhängende innere Beschränkungen, sog. immanente oder inhärente Schranken, aufweisen 32 . Diese aus der Sinngebung und der geschichtlichen Entfaltung der Grundrechtssätze herzuleitenden Abgrenzungen des Wirkungsbereichs eines Grundrechts dürfen, worauf Scheuner hinweist, nicht als eine von außen kommende Eingrenzung eines als unbegrenzt gedachten W i r kungsfeldes dieser Grundrechte verstanden werden. Die Lösung kann vielmehr allein von einem Standpunkt aus gefunden werden, der die Grundrechte nicht als System unbegrenzter Freiheiten versteht, sondern i n ihnen gegenständlich abgegrenzte Verstärkungen des rechtlichen Schutzes für bestimmte Rechte und Freiheiten sieht. Nur auf diese Weise ist es möglich, den Kernbereich und die Wesensgarantie eines Grundrechts von seiner historisch-verfassungsrechtlichen Sinngebung her zu bestimmen 33. Dahingestellt ließ das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob Äußerungen der Glaubensfreiheit des A r t . 4 GG, die eine Werbung für oder eine Abwerbung von einem Glauben oder einem weltanschaulichen Bekenntnis darstellen, grundrechtssystematisch als Unterfall des Grund31 I n diesem Sinne auch W. Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, i n : Die Grundrechte, Bd. IV/1, B e r l i n 1960, S. 68 f.; ders., Die Bekenntnisfreiheit i n der Schule. Z u m U r t . des HessStGH über das Schulgebet, N J W 1966, 18 f. m. w . N.; G. Schultz, A n m . z. U r t . des HessStGH v. 27. 10. 1965, M D R 1966, 472 f.; zust. U. Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L , Heft 22 (1965), S. 41 ff., bes. S. 47 m i t A n m . 137. 32 Diese Meinung v e r t r i t t auch der B a y V e r f G H i n seiner Entscheidung v. 26. 11. 1964 (Az.: Vf. 10 - V I I - 62), BayVerfGH 17, 94 (101) = DÖV 1965, 134 (136) = KirchE 7, 113, m. w . N. Die Entscheidung stellt fest, daß die allgemeine Eidespflicht f ü r Beamte m i t der BayVerf. i m Einklang steht. 33 U. Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L , Heft 22 (1965), S. 50 m i t A n m . 144, i m Unterschied zur gegenteiligen, u. a. von G. Dürig vertretenen Auffassung, die i m Hinblick auf die Schrankenziehung logisch eine dem Grundsatz nach unbegrenzte Freiheit voraussetzt, deren Ausdehnung aber v o n außen her w i e derum Einschränkungen erfährt. Vgl. dazu G. Dürig, i n : Maunz - Dürig, G r u n d gesetz, A r t . 2, Abs. 1, Rdnr. 25; vgl. dazu ferner U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1966, 586; Fr. Müller, Die Positivität der G r u n d rechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik. B e r l i n 1969, S. 41 ff. u n d S. 55 ff.; ders., Normbereiche v o n Einzelgrundrechten i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. B e r l i n 1968, S. 13 f.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

rechts der freien Meinungsäußerung des A r t . 5 GG angesehen werden können und daher insoweit auch den Schranken dieses Grundrechts unterliegen. Das Vorgehen des Gerichts ist deshalb bemerkenswert, weil der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde neben Art. 3 und 4 GG auch ausdrücklich auf eine Verletzung seines Grundrechts aus A r t . 5 GG gestützt hatte 3 4 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit jedenfalls die vom historischen Sinngehalt der religiösen Freiheitsrechte her unvollziehbare Auffassung nicht zu eigen gemacht, daß die Bekenntnisfreiheit einen Unterfall der Meinungsfreiheit darstelle und deshalb die Schranken des Art. 5 GG als systematische sachliche Gewährleistungsschranken auch für Art. 4 GG Geltung beanspruchen könnten 3 5 . Auch i m Verhältnis des A r t . 4 zu A r t . 5 GG hat damit das Bundesverfassungsgericht den A r t . 4 als selbständige Grundrechtsverbürgung angesehen, die zwar als besondere Ausgestaltung der Geistesfreiheit mit der Redefreiheit gedanklich und geschichtlich i m Zusammenhang steht, aber gegenüber der Rede- und Pressefreiheit einen eigenständigen Sinngehalt aufweist 3 6 . e) Die einzelnen Elemente des Grundrechts der Religionsfreiheit Keine Stellung bezogen hat das Bundesverfassungsgericht i n der Tabak-Fall-Entscheidung ferner zur Frage der Abgrenzung der Glaubens· von der Bekenntnisfreiheit. Das Gericht hat es hier offensichtlich bewußt vermieden, den Begriff „Bekenntnisfreiheit" überhaupt zu gebrauchen und verwendet statt dessen stets nur den i m allerweitesten Sinne verstandenen Begriff „Glaubensfreiheit", der die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG zugleich umfaßt 3 7 . Eine K l a r 34

BVerfGE 12,1 (3 u n d 4). Vertreter dieser Meinung ζ. B. v. Mangoldt-Klein (zit. A n m . 29), A r t . 4 I I 3 ( = S. 219 f.); A r t . 5 I I 4 ( = S. 237), Vorbem. Β X V 2 b ( = S. 125 f.); Wernicke , Bonner Kommentar, A r t . 4,Erl.II 1 c; f ü r die Weimarer Zeit bereits G. Anschütz, Die Verfassung (s. A n m . 16), A r t . 135, Erl. 4 (S. 619); ders., Die Religionsfreiheit, HdbDStR, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 684 f. Vgl. zu dieser Frage U. Scheuner, der darauf hinweist, daß die Wurzel aller geistigen Freiheiten i n der Idee der Toleranz u n d i n den religiösen Freiheiten liegt u n d diese daher nicht einen Unterfall der Meinungsfreiheit bilden können, i n : W D S t R L , Heft 22 (1965), S. 45. 36 Vgl. dazu i m einzelnen U. Scheuner, Pressefreiheit W D S t R L , Heft 22 (1965), S. 45 ff.; ferner E. Biebl, Z u dem I n h a l t u n d den Grenzen der Grundrechte des A r t . 4 Abs. 1 u n d 2 des Grundgesetzes. Jur. Diss, (maschinenschr.), Würzburg 1959, S. 125, die unter Berufung auf H. Mirbt, HdbDStR, Bd. 2, S. 329, ausführt, daß es als ausgeschlossen gelten müsse, daß das Grundgesetz die Bekenntnisfreiheit des A r t . 4 GG dem A r t . 5 u n d damit dessen Schranken u n d außerdem auch der V e r w i r k b a r k e i t nach A r t . 18 GG, i n dem zwar A r t . 5 GG, nicht jedoch A r t . 4 GG genannt sei, habe unterstellen wollen. 37 So E. Stein, Z u r staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Juristen-Jahrbuch, Bd. 8 (1967/68), S. 131, der darauf h i n 35

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Stellung des Unterschiedes zwischen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ist auch i n der späteren Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. IO. 196838 nicht erfolgt. Das Gericht grenzt i n dieser Entscheidung zwar die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG von der Freiheit der Religionsausübung des A r t . 4 Abs. 2 GG ab und vertritt dabei zu Recht die Auffassung, daß mindestens seit der Weimarer Zeit die Freiheit der Religionsausübung inhaltlich in der Bekenntnisfreiheit aufgehe. Die besondere Gewährleistung der gegen Eingriffe und Angriffe des Staates geschützten Religionsausübung i n Art. 4 Abs. 2 GG erklärt sich, wie das Gericht ausführt,, historisch aus der Vorstellung eines besonderen exercitium religionis, insbesondere aber aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Das Problem der Abgrenzung der Glaubens- von der Bekenntnisfreiheit i m Rahmen des A r t . 4 Abs. 1 GG läßt das Bundesverfassungsgericht auch i n der letztgenannten Entscheidung vom 16.10.1968 dahingestellt sein 39 . Ebenfalls unbeantwortet ließ das Gericht i m Tabak-Fall die Frage, i n welchem Umfang die Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit in der Strafhaft und in anderen staatlich normierten Sonderstatusverhältnissen Einschränkungen erleiden kann. Es hat sich lediglich darauf beschränkt, zu entscheiden, daß das Verhalten des Beschwerdeführers, der unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Strafvollzugs mittels Versprechens von Genußmitteln für den Kirchenaustritt geworben habe, den Schutz des Art. 4 Abs. 1 GG nicht genieße. Außerhalb des besonderen Gewaltverhältnisses des Strafvollzugs, also i m allgemeinen Freiheitsstatus, wäre ein Verhalten wie dasjenige des Beschwerdeführers zwar auch eine die Menschenwürde verletzende, unwürdige und sittlich verwerfliche Handlung; es gäbe aber i m allgemeinen Freiheitsstatus, abgesehen vielleicht von extremen Mißbrauchsfällen, die als Störung der öffentlichen Ordnung anzusehen wären, für die Organe des Staates keine rechtliche Möglichkeit, gegen solche i m Interesse des friedlichen religiösen Zusammenlebens der Bürger i m Staate zweifellos zu verurteilende Formen einer „Missionierung" und des Proselytismus einzuschreiten 40 . weist, daß eine Abgrenzung der Glaubensfreiheit von der Bekenntnisfreiheit noch ausstehe. 38 Vgl. BVerfG, Beschl. des Ersten Senats v o m 16. Oktober 1968 (Az.: 1 B v R 241/66), BVerfGE 24, 236; dazu P. Häberle, Grenzen der aktiven Glaubensfreiheit. Z u r Lumpensammlerentscheidung des BVerfG, DÖV 1969, 385. 39 Vgl. W. Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit (s. A n m . 31), S. 62, 54; ferner 17. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, D Ö V 1967, 589; k r i tisch dagegen zu Unrecht wegen angeblich mangelnder Berücksichtigung des A r t . 137 Abs. 3 WeimRV durch das BVerfG P. Häberle, Grenzen der aktiven Glaubensfreiheit (s. A n m . 38), DÖV 1969, S. 396. 40 Zust. P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), JuS 1969, 268; U. Scheuner, Die Religionsfreiheit (s. A n m . 39), D Ö V 1967, 586; vgl. ferner die

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht 2. Die Glaubensfreiheit als uneinschränkbarer Kernbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit

M i t der Frage, i n welchem Umfang i n dem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis der Strafhaft eine Ausübungsbeschränkung des Grundrechts der Religionsfreiheit der Strafgefangenen zulässig ist, hat sich auch das Oberlandesgericht Saarbrücken i n einem Beschluß vom 18. 11. 1965 befaßt 41 . Das Gericht verdient i m Ergebnis Zustimmung, wenn es erklärt, daß das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit auch i m Strafvollzug zu wahren sei und zu diesem Grundrecht auch die Befugnis gehöre, sich einem anderen Bekenntnis suchend zuzuwenden. Der Senat erklärte es daher — außer für den Fall des Mißbrauchs — für unzulässig, einem katholischen Strafgefangenen einen Briefwechsel mit der Kirche der Mormonen zu untersagen. Das Ausmaß des Briefverkehrs unterliege jedoch den durch die Anstaltsordnung gebotenen Einschränkungen 42 . Unbefriedigend erscheint dabei jedoch die vom Oberlandesgericht Saarbrücken verwendete Terminologie. Wenn dem verfassungsrechtlichen Begriff der Glaubensfreiheit neben der Bekenntnisfreiheit überhaupt ein spezifischer Sinngehalt zukommen soll, muß die Glaubensfreiheit i n der Befugnis bestehen, unbeeinflußt vom Staat einen beliebigen Glauben zu haben, diesen Glauben zu wechseln oder auch keinen Glauben zu haben. Die Glaubensfreiheit bildet ein reines Internum und stellt den Kernbereich des Grundrechts der Religionsfreiheit dar 4 3 . Einer rechtlichen Regelung ist sie nur insofern zugänglich, als es dem zu religiöser Neutralität verpflichteten Staat verwehrt ist, auf die Bildung dieser Glaubensüberzeugung Einfluß zu nehmen 44 . I m Gegensatz zum Recht der Glaubensfreiheit gewährt das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit die Befugnis, religiöse sowie religiös motivierte moralische Überzeugungen Diskussionsbeiträge beim 3. „Essener Gespräch zum Thema Staat u n d Kirche", i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche. Hrsg. v. J. Krautscheidt u n d H. Marré, Heft 3, Münster 1969, S. 164 ff. 41 O L G Saarbrücken, Beschl. v. 18. 11. 1965 (Az.: V As 12/65), KirchE 7, 308 = N J W 1966,1088 (nur LS). 42 KirchE 7, 308. 43 Der Parlamentarische Rat hat durch die gesonderte Erwähnung der Glaubens- u n d Gewissensfreiheit neben der Freiheit des religiösen u n d weltanschaulichen Bekenntnisses auch die „innere Seite" dieses Grundrechts i n den Schutz des A r t . 4 Abs. 1 GG miteinbeziehen wollen; a. A . R. Thoma i n seiner f ü r den Parlamentarischen Rat verfaßten „Kritischen Würdigung des v o m Ausschuß f ü r Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates beschlossenen u n d veröffentlichten Grundrechtskatalogs". Vgl. JöR, N. F., Bd. 1 (1951), S. 73 u n d 49 m i t A n m . 11 ; ferner diese Arbeit, Kap. 3,2, m i t A n m . 22. 44 R. Zippelius, Bonner Kommentar, A r t . 4, Rdnr. 39; i n diesem Sinne nachdrücklich Th. Mayer-Maly, Z u r Sinngebung v o n Glaubens- u n d Gewissensfreiheit i n der Verfassungsgeschichte der Neuzeit, ÖArchKiR, 5. Jg. (1954), S. 238 (247).

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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überall in der Öffentlichkeit zu vertreten. „Bekennen" i n diesem Sinne bedeutet somit nicht nur das Haben und Fürwahrhalten (confiteri), sondern, wie Anschütz ausführt, das Äußern und Aussprechen (profiteri) einer Glaubensüberzeugung. Die Bekenntnisfreiheit bedeutet damit auch die Freiheit, zu sagen, was man glaubt oder nicht glaubt, und zu verschweigen, daß und was man glaubt 4 5 . Maunz weist deshalb zutreffend darauf hin, daß das i n A r t . 136 Abs. 3 WeimRV ausdrücklich gewährleistete Schweigerecht eine Ausgestaltung der i n A r t . 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Bekenntnisfreiheit ist 4 6 . Wenn sich jemand suchend einer Religionsgemeinschaft zuwendet, u m sich i h r vielleicht später anzuschließen, stellt diese Handlung noch kein Bekenntnis zu dieser Gemeinschaft dar, sondern ist eine Aktualisierung des Grundrechts der Glaubensfreiheit, die notwendigerweise auch die Glaubenswahlfreiheit miteinschließt. Das Sammeln notwendiger Informationen und das Sichvertrautmachen m i t den Lehren einer Religion sind notwendige Vorstadien der Glaubenswahl. Sie werden daher von dem den innersten Kern der Religionsfreiheit bildenden Grundrecht der Glaubensfreiheit mitumfaßt. Das Oberlandesgericht Saarbrücken hat deshalb zwar terminologisch ungenau, der Sache nach aber i m Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Glaubenswahlfreiheit auch im Strafvollzug keinen inhaltlichen Schranken unterliegen könne. Die während der Strafhaft durch die Anstaltsordnung sachlich gebotenen Beschränkungen des Umfangs des Briefverkehrs und der den Strafgefangenen zur Abfassung von Briefen zur Verfügung stehenden freien Zeit stellen keinen inhaltlichen Eingriff i n das Grundrecht der Glaubensfreiheit dar, sondern sind lediglich unvermeidbare modale Beschränkungen der eine spätere Glaubenswahl möglicherweise vorbereitenden Handlungen. 3. Zulässigkeit modaler Einschränkungen der Ausübung der Bekenntnisfreiheit während der Strafhaft

Während das Grundrecht der Glaubensfreiheit i m Rahmen des Strafvollzugs nicht eingeschränkt werden kann, unterliegt die Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit i n der Form der Bekenntnis- und der Kultusfreiheit, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer am 8. 11. 1965 ergangenen Entscheidung festgestellt hat, den i n den Strafvollzugsvorschriften vorgesehenen notwendigen Beschränkungen 47 . Es 45 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (s. A n m . 16), A r t . 135, Erl. 4 (S. 619). 46 Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 17. Aufl., München 1969, § 19 I I 1 (S. 152). 47 BayVerfGH, Entscheidung v. 8. 11. 1965 (Az.: Vf. 52-VI-64), BayVerfGH 18,124 = KirchE 7, 299.

5 Listi

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

bedeutet deshalb keinen Verstoß gegen das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und auf ungestörte Religionsausübung, wenn die Besuche eines Laienpredigers der „Zeugen Jehovas" bei einem Sicherungsverwahrten von der Anstaltsleitung nach Maßgabe der Dienst- und Vollzugsordnung zeitlich beschränkt und überwacht werden 4 8 . Eine zeitliche Beschränkung und eine Beaufsichtigung der Besuche des Predigers bei dem Sicherungsverwahrten könne die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Beschwerdeführers nicht beeinträchtigen. Die Glaubensfreiheit als Glaubensw ahifreiheit und die Gewissensfreiheit als das Recht des Staatsbürgers, sich unbeeinflußt vom Staat religiös-sittliche Anschauungen zu bilden, können, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer anderen, am 26. 11. 1964 ergangenen Entscheidung ausgeführt hat, jedoch keinem äußeren Zwang unterliegen 4 9 . Auch auf dem Gebiete der Bekenntnis- und der Kultusfreiheit, die das Recht auf Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen gewähre, sei dem Staate jede inhaltliche Einflußnahme auf dieses Recht verwehrt. Dagegen sei der Umfang der Religionsausübung des Strafgefangenen, der sich aufgrund der Vorschriften des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung i n Strafhaft befinde, deren rechtliche Zulässigkeit sich aus Art. 104 und A r t . 12 Abs. 4 GG ergebe 50 , hinsichtlich des Ortes und der zur Verfügung stehenden Zeit i m Strafvollzug genauen Beschränkungen unterworfen, die i m Interesse der Durchführung eines geordneten Strafvollzugs notwendig seien und i n der Dienst- und Vollzugsordnung ihren rechtlichen Ausdruck fänden. Gründe der Sicherheit erforderten i m Strafvollzug auch bei gottesdienstlichen Handlungen die Anwesenheit von Strafvollzugsbeamten 51 . Nur innerhalb der von der Dienst- und Vollzugsordnung vorgesehenen Möglichkeiten, die zugleich Grenzen und Schranken des Grundrechts der Kultusfreiheit seien, stehe den Strafgefangenen ein Anspruch auf Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen zu. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verdient daher Zustimmung, wenn er erklärt, daß örtliche und zeitliche Beschränkungen der Kultusfreiheit keine Verletzung des Grundrechts der Strafgefangenen auf ungestörte Religionsausübung darstellen. Diese Entscheidung des Bayerischen Verfasungsgerichtshofs erweist zugleich den bedeutsamen Unterschied zwischen der Aktualisierungs48

BayVerfGH 18,124 (126). BayVerfGH, Entscheidung v. 26. 11. 1964 (Az.: Vf. 10-VII-62), BayVerfGH 17,94 = KirchE 7,113. 50 A r t . 12 Abs. 4 a. F. GG geändert durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24. 6. 1968 (BGBl. I S. 709); diese Vorschrift ist nunmehr i n Absatz 3 des A r t . 12 GG enthalten. 51 BayVerfGH 18,124 (125 f.). 49

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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möglichkeit der Glaubens- und der Bekenntnisfreiheit i m Strafvollzug. Einem christlichen Strafgefangenen wäre es daher auch i m besonderen Gewaltverhältnis der Strafhaft nicht verwehrt, von seiner Glaubensfreiheit dahingehend Gebrauch zu machen, daß er vom Christentum zum Islam übertritt. Die Ausübung seines Grundrechts der Bekenntnis freiheit wäre jedoch insofern eingeschränkt, als es ihm während der Dauer der Strafhaft ζ. B. untersagt wäre, Gebetsübungen zu Zeiten und i n einer Weise zu verrichten, die sich mit der Anstaltsordnung nicht vereinbaren ließen. Auch die Möglichkeit der Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen stünde i h m nur i m Rahmen der von der Dienst- und Vollzugsordnung vorgesehenen Möglichkeiten zu. Deshalb ist die globale Äußerung des Oberlandesgerichts Hamburg, daß Art. 4 GG i m Gegensatz zu anderen Grundrechten auch i m Rahmen des Strafvollzugs „unberührt" bleibe, i n dieser undifferenzierten Form nicht haltbar 5 2 . Zustimmung verdient dagegen die Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M., das die Aussage des Oberlandesgerichts Hamburg dahingehend einschränkt, daß die Glaubensfreiheit des Art. 4 GG auch i m Strafvollzug unberührt bleibe, weil der Strafzweck sie nicht beeinträchtigen könne und dürfe 5 3 . Die Bekenntnis- und Kultusfreiheit der Strafgefangenen darf jedoch durch den Strafvollzug insofern keine Beeinträchtigung erleiden, als die Strafvollzugsbehörden verpflichtet sind, einen Seelsorger zu bestellen. Art. 4 GG erschöpft sich daher nicht nur i n einem bloßen Abwehrrecht, sondern gewährt darüber hinaus einen positiven Anspruch des Strafgefangenen gegen den Staat auf die Möglichkeit ausreichender seelsorgerischer Betreuung 5 4 . I n diesem Sinne gewährleistet A r t . 141 WeimRV i. V. m. A r t . 140 GG auch den Religionsgesellschaften das Recht auf Zulassung zum Gottesdienst und zur Seelsorge in Strafanstalten, soweit danach ein Bedürfnis besteht. Jedoch kann ein Strafgefangener, von dem zu befürchten ist, daß er die Ruhe und Ordnung während des Gottesdienstes stören werde, von der Teilnahme daran ausgeschlossen werden 5 5 . Darin liegt keine verfassungswidrige Verletzung des Grundrechts der Kultusfreiheit des betreffenden Strafgefangenen, da ein Strafgefangener, 52

O L G Hamburg, Beschl. v. 8. 7.1963 (Az.: V As 67/62), N J W 1963, 1789 (1790). O L G Frankfurt (Main), Beschl. v. 11. 6. 1964 (Az.: 3 V As 20/63), N J W 1964, 2074; vgl. auch die Entscheidung der Europ. Kommission f ü r Menschenrechte v o m 15. 12. 1965 über die Beschränkung der freien Religionsausübung eines zum Buddhismus übergetretenen Strafgefangenen, i n dieser Arbeit, Kap. 4, I V . b 3, m i t A n m . 47. 54 So zutreffend I. v. Münch, Die Grundrechte des Strafgefangenen, JZ 1958, 74. 55 O L G Bremen, Beschl. v. 15. 4. 1964 (Az.: 3 V As 1/63), nicht veröffentlicht; Hinweis bei G. A. Altenhain, Die straf gerichtliche Rechtsprechung zum Rechtschutz gegen Justizverwaltungsakte, JZ 1966,20. 53

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

der beabsichtigt, den Gottesdienst zu stören, oder von dem dies begründetermaßen erwartet werden muß, das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung seiner Mitgefangenen verletzt. Dadurch mißbraucht er sein eigenes Grundrecht und kann sich deshalb insoweit nicht darauf berufen 58 . II. Unzulässigkeit exzessiver Glaubenswerbung in anderen öffentlich-rechtlichen Sonderstatusverhältnissen 1. Glaubenswerbung eines Polizeivollzugsbeamten in seinem Dienstbezirk außerhalb der Dienstzeit

Der Fall eines i m Dienste des Freistaates Bayern stehenden, i n der oberfränkischen Kreisstadt Wunsiedel stationierten Polizeimeisters, dem von der Landpolizeidirektion Oberfranken untersagt worden war, i n seinem Dienstbezirk auch außerhalb der Dienstzeit und i n Zivilkleidung durch Hausbesuche Glaubenswerbung für die Religionsgemeinschaft der „Zeugen Jehovas" zu betreiben, hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch drei Instanzen 57 zur Prüfung der schwierigen Frage veranlaßt, in welchem Umfang das Grundrecht des Art 4 Abs. 1 und 2 GG im Rahmen des freiwillig eingegangenen öffentlich-rechtlichen Sonderstatus des Beamtenverhältnisses und der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" (Art. 33 Abs. 5 GG) Einschränkungen erfahren kann. Trotz seiner i m Ergebnis von der Auffassung des Verwaltungsgerichts Bayreuth und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs abweichenden Entscheidung stimmt das Bundesverwaltungsgericht, das die exzessive missionarische Betätigung des Polizeibeamten i n dessen Dienstbezirk für zulässig erklärt hat, m i t den beiden Instanzgerichten i n der Beurteilung der Grundsatzfrage völlig überein, daß sich für Beamte aus dem Wesen des von ihnen eingegangenen Beamtenverhältnisses Beschränkungen in der Ausübung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte ergeben können 58. Wie der zweite Senat des Bundesverwaltungsgerichts 56 So zutreffend G. A. Altenhain, Die straf gerichtliche Rechtsprechung (s. A n m . 55), JZ 1966, S. 20. 57 V G Bayreuth, U r t . v. 10. 7. 1963 (Az.: 121-1/62), BayBeamtenzeitung 1964, S. 31 f.; das U r t e i l ist dort i r r t ü m l i c h als Entscheidung des V G Ansbach bezeichnet. Z u diesem U r t . kritisch B. Wilhelm, Die Glaubens- u n d Bekenntnisfreiheit i m Beamtenrecht, i n : BayBeamtenzeitung 1964, 17 ff.; BayVGH, U r t . v. 3. 7.1964 (Az.: Nr. 158-III-63), nicht veröffentlicht; BVerwG, U r t . v. 11. 6.1968 (Az.: I I C 101/64), B V e r w G E 30, 29 = DÖV 1968, 801 = D V B l . 1968, 801 = ZBR 1968, 409 f. m. A n m . B. Wilhelm. Vgl. zum Ganzen P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung i n Sonderstatusverhältnissen, JuS 1969, 265 ff. 58 Vgl. dazu die eingehend begründete Entscheidung des BayVerfGH v. 8. 7. 1965 (Az.: Vf. 20-VII-61), B a y V e r f G H 18, 59 = D Ö V 1966, 95 über die Verfassungsmäßigkeit des A r t . 4 Abs. 2 des bay. Polizeiorganisationsgesetzes v. 20. 10.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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unter Berufung auf seine frühere Entscheidung vom 22. 2. 196259 ausführt, ist das beiderseits freiwillig eingegangene Beamtenverhältnis nach den gemäß Art. 33 Abs. 5 GG zu berücksichtigenden hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ein gegenseitiges Dienst- und Treueverhältnis. Aus dem hergebrachten Wesen des Beamtenverhältnisses ergebe sich die Pflicht des Beamten, i m Dienst und auch außerhalb des amtlichen Pflichtenkreises alles zu vermeiden, „was die dienstlichen Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden könnte" 6 0 . Diese Pflicht könne — vorbehaltlich der Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 2 GG — bei einem Beamten zu einer Beschränkung i n der Ausübung auch solcher Rechte führen, die durch die Grundrechtsnormen der Verfassung besonders geschützt seien. Daraus folge, daß der Beamte auch i n der Ausübung seines Rechts, für seinen eigenen Glauben zu werben, beschränkt werden könne, wenn seine Werbung die dienstlichen Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden würde 6 1 . Dadurch, daß das Bundesverwaltungsgericht, inhaltlich insoweit m i t dem Verwaltungsgericht Bayreuth und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof übereinstimmend, die Ausübung des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit und die ungestörte Religionsausübung unter den Gemeinwohlvorbehalt stellt, gewinnt es eine zugleich tragfähige dogmatische und praktikable judizielle Basis für die Entscheidung des Falles 62 . Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Bayreuth und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs unterscheiden sich von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts lediglich hinsichtlich des Ergebnisses der Subsumtion des konkreten Verhaltens des Polizeibeamten unter den genannten generellen Obersatz.

1954 i. d. F. des A r t . 224 Abs. 1 Nr. 2 des Bayer. Beamtengesetzes v. 18. 7. 1960 (GVB1. S. 161), der bestimmt, daß sich die Beamten der Bereitschaftspolizei, unbeschadet der Mitgliedschaft i n einer politischen Partei u n d der Ausübung des Wahlrechts, nicht parteipolitisch betätigen dürfen. 59 Vgl. BVerwG, U r t . v. 22. 2.1962 (Az.: I I C 145/59), B V e r w G E 14, 21 = DVB1. 1962, 524. Das U r t e i l befaßt sich m i t der Frage, ob ein Verstoß eines saarländischen Beamten der Bereitschaftspolizei gegen eine vertraglich vereinbarte Zölibatsklausel als gröbliche Pflichtverletzung i. S. des Deutschen Polizeibeamtengesetzes v o m 24.6.1937 (RGBl. I S . 653) anzusehen ist. 60 B V e r w G E 14, 21 (24 f. m. w. N.) = DVB1.1962,524 (525). 61 B V e r w G E 30, 29 (31) = DVB1.1968,801. 62 I n diesem Sinne i m Grunde zutreffend P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), S. 270, der jedoch irrigerweise davon spricht, daß das B V e r w G die Glaubensfreiheit der Beamten unter den Gemeinwohlvorbehalt stelle. Das ist jedoch gerade nicht der Fall. Über die allgemeinen Pflichten des Beamten u n d seine Pflicht zur Amtsführung zum „ W o h l der Allgemeinheit" vgl. § 35 BRRG.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

I m Gegensatz zum Bundesverwaltungsgericht vertraten das Verwaltungsgericht Bayreuth und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Auffassung, daß die Hausbesuche des Polizeibeamten i m Bereich seines Dienstbezirks, die nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas als Missionierung und Hauspredigtdienst anzusehen seien, m i t der durch seine dienstliche Stellung gebotenen Mäßigung und Zurückhaltung, die ein Polizeibeamter auch außerhalb seiner Dienstzeit an den Tag zu legen habe, unvereinbar seien 63 . a) Das Verwaltungsgericht Bayreuth sah vor allem darin eine Gefahr, daß i n dem räumlich kleinen Dienstbezirk, i n dem der Polizeibeamte tätig und allgemein, zumindest von Ansehen, bekannt sei, einzelne Personen, die sonst ohne weiteres einem Bibelforscher die Tür gewiesen hätten, beim Kläger als Polizeivollzugsbeamten in ihrem Verhalten und ihrer freien Entscheidung gehemmt sein könnten. Das Gericht hielt es daher für durchaus denkbar, daß jemand nur deshalb gegen seine Überzeugung den Missionierungsversuchen des Klägers Gehör schenke oder sich überhaupt in ein religiöses Gespräch mit ihm einlasse, weil dieser eben Polizeibeamter sei und i m Falle einer Verweigerung des Gesprächs irgendwelche Nachteile zu befürchten seien. Neben diesem ersten, überwiegend auf die Reaktion der aufgesuchten Bürger und auf die Besorgnis der Nötigung zu unfreiwilligen religiösen Gesprächen abstellenden Argument weist das Verwaltungsgericht Bayreuth ferner darauf hin, daß bei Gestattung der Hauswerbung der Eindruck entstehen könnte, der Beamte sei Andersgläubigen gegenüber voreingenommen; und außerdem könnte bei Leuten, die den Kläger abgewiesen hätten, die Befürchtung auftreten, der Polizeibeamte werde sich zu gegebener Zeit revanchieren. Zusammenfassend kommt das Gericht schließlich zu dem Ergebnis, daß bereits die Möglichkeit, daß sich einzelne der von dem Polizeibeamten ohne ersichtlichen Grund angesprochenen Personen belästigt fühlen könnten, ausreiche, um das Verbot der Hauswerbung zu rechtfertigen 64 . b) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, der das erstinstanzliche Urteil inhaltlich voll bestätigte, legte besonderes Gewicht auf die zutreffende Feststellung, daß es „allgemeiner Erfahrung" entspreche, daß sich die Autorität und Amtsgewalt speziell eines Polizeivollzugsbeamten ganz von selbst auch dann auswirkten, wenn dieser lediglich i n Z i v i l und ohne sich auf seine Dienststellung zu berufen, innerhalb seines Dienstbereiches durch Hausbesuche Andersgläubige für seine religiöse Gemeinschaft zu gewinnen suche und dort als zuständiger Polizeivollzugsbeam63 V G Bayreuth, BayBeamtenzeitung 1964, S. 32; BayVGH, U r t . 3. 7. 1964 (s. A n m . 57), S. 13 d. A . 64 V G Bayreuth, BayBeamtenzeitung 1964, S. 32.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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ter bekannt sei. Die Aufgesuchten fühlten sich ihm gegenüber i n W i r k lichkeit, vor allem i n Kleinstädten und auf dem flachen Land, nicht derart frei und ungebunden, wie gegenüber einem anderen „Prediger", da sie damit rechnen müßten, daß sie es mit i h m als Hüter der öffentlichen Ordnung und als Gehilfen der Strafverfolgungsbehörden jederzeit zu tun haben könnten, auch wenn es sich nur um unbedeutende Verstöße, etwa um verkehrsrechtliche Übertretungen, handeln sollte. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof legte i m Unterschied zum V G Bayreuth entscheidendes Gewicht auf die Tatsache, daß es bei dem Verbot der Glaubenswerbung i n erster Linie um die „Verhinderung der faktischen Auswirkung" der Dienststellung des Beamten auf die Einstellung und das Verhalten der von i h m persönlich zur „Bekehrung" aufgesuchten Andersgläubigen seines Dienstbereiches gehe 65 . Übereinstimmend wiesen das Verwaltungsgericht Bayreuth und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof darauf hin, daß das Grundrecht der Glaubensfreiheit bzw. die innere religiöse Überzeugung des Klägers überhaupt nicht i m Streit stehe. Von der angefochtenen Maßnahme nicht betroffen sei der Kläger auch i n der gesamten sonstigen äußeren Bekundung und Betätigung seiner religiösen Überzeugung, z. B. i n der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen, an sonstigen öffentlichen Kundgebungen, Kongressen oder Umzügen seiner Glaubensgemeinschaft, auch nicht i n den Hausbesuchen bei Mitgliedern seines Bekenntnisses und bei Gleichgesinnten und ferner nicht i n Hausbesuchen bei Andersgläubigen außerhalb seines Dienstbereiches 66 . Die faktische Ausnutzung der Dienststellung des Klägers als Polizeivollzugsbeamten für die i n Frage stehende Glaubenswerbung lasse sich nicht anders als geschehen verhindern. Daher verstoße das Verbot der Missionierung i m örtlich begrenzten Dienstbereich auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 6 7 . Bei dem dem Polizeivollzugsbeamten auferlegten Verbot handelte es sich also um eine eng begrenzte, notwendige und daher zulässige modale Einschränkung der Ausübung des Grundrechts der Bekenntnis freiheit und des Grundrechts der freien Religionsausübung zum Zwecke des Schutzes des Grundrechts der freien Glaubenswahl der Bewohner dieses Bezirks und der Vermeidung einer möglichen dienstlichen Befangenheit des Polizeibeamten selber. c) Das Bundesverwaltungsgericht, das, wie erwähnt, m i t den beiden Instanzgerichten grundsätzlich darin übereinstimmt, daß ein Beamter auf Grund seines Beamtenverhältnisses auch i n der Ausübung seines 65

BayVGH, U r t . V G Bayreuth, (s. A n m . 57), S. 10 f. 67 BayVGH, Urt. 66

v. 3. 7.1964 (s. A n m . 57), S. 13 f. d. A . BayBeamtenzeitung 1964, S. 32; BayVGH, U r t . v. 3. 7. 1964 d. A . v. 3. 7.1964 (s. A n m . 57), S. 14 d. A .

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Rechts, für seinen eigenen Glauben zu werben, beschränkt werden könne, wenn diese Werbung sich als Schädigung seiner dienstlichen Interessen und damit des Wohls der Allgemeinheit erweisen sollte, hielt diese Voraussetzungen nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht für gegeben. Diese Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts w i r d jedoch der Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Zwar räumt das Bundesverwaltungsgericht ein, daß bei schwerwiegenden Verstößen gegen die religiöse Neutralitätspflicht des Staates, etwa wenn Beamte i n ihrer Eigenschaft als Amtsträger, i n Uniform, während ihrer Dienstzeit oder unter Ausnutzung ihrer dienstlichen Stellung, Glaubenswerbung oder -abwerbung betreiben würden, eine Gefährdung ihrer dienstlichen Interessen und damit zugleich des Wohles der Allgemeinheit vorläge, die eine Beschränkung des Rechts auf Glaubenswerbung und auf ungestörte Religionsausübung dieser Beamten rechtfertigte 6 8 . Eine solche Gefährdung des Wohles der Allgemeinheit und Verletzung dienstlicher Interessen liegt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts jedoch i m Falle der außerdienstlichen Ausübung einer Missionierungstätigkeit und des Hauspredigtamtes durch einen Polizeivollzugsbeamten i n seinem Dienstbereich nicht vor. Dies selbst dann nicht, wie das Gericht hervorhebt, wenn er bei seinen Hausbesuchen, die ja von den aufgesuchten Personen als Versuch der Abwerbung von ihrem Glauben gewertet werden müssen, als der zuständige Polizeivollzugsbeamte erkannt werde und sich seine „Autorität und Amtsgewalt" objektiv, d. h. ohne seinen dahin gehenden Willen, derart auswirke, daß sich die A u f gesuchten i h m gegenüber weniger frei und ungebunden fühlten als gegenüber anderen „Predigernweil sie damit rechnen müßten, m i t i h m als Hüter der öffentlichen Ordnung und als Gehilfen der Strafverfolgungsbehörden jederzeit zu t u n haben zu können 6 9 . Das Bundesverwaltungsgericht setzt i n dieser wenig überzeugenden Argumentation bereits voraus, was es erst beweisen müßte, wenn es behauptet, die Tatsache, daß die von dem Beamten Aufgesuchten sich gehemmt fühlen und nicht ebenso wie auf die Werbung eines anderen „Predigers" reagieren könnten, wäre i n einem solchen Fall nicht i n erster L i n i e dem von der Verfassung grundrechtlich geschützten Verhalten des Polizeibeamten zuzuschreiben, sondern vor allem einem „überholten Obrigkeitsdenken der Aufgesuchten" 7 0 . Es ist nämlich gerade die Frage, 68

I n diesem Sinne B. Wilhelm, Die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit i m Beamtenrecht, BayBeamtenzeitung 1964, S. 19; zust. P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), JuS 1969, S. 270 m i t A n m . 52. 69 B V e r w G E 30, 29 (32) = D V B l . 1968, 801 (802). 70 B V e r w G E 30, 29 (32 f.) = D V B l . 1968, 801 (802).

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ob die Figur des innerhalb der verhältnismäßig engen Grenzen seines Dienstbereiches „missionierenden Polizeivollzugsbeamten" für seine Tätigkeit den grundrechtlichen Schutz der Bekenntnisfreiheit und der ungestörten Religionsausübung beanspruchen kann. Ein Polizeivollzugsbeamter ist auch außerhalb seiner Dienstzeit stets Träger seines Amtes, Hüter der öffentlichen Ordnung, Gehilfe der Strafverfolgungsbehörden und deshalb niemals nur „Privatmann". Es kann deshalb entgegen Häberle nicht als ein „Stück staatsbürgerlicher Erziehung i m guten Sinn des Wortes" und als ein „Appell an die Eigenverantwortung des Staatsbürgers", die als erwünschtes Nebenprodukt einer öffentlich-rechtlichen Entscheidung durchaus mit „abfallen" dürfe 7 1 , angesehen werden, sondern lediglich als wenig überzeugende Behauptung, wenn das Bundesverwaltungsgericht erklärt, es müsse auf einem den Verhältnissen der Bundesrepublik nicht entsprechenden „überholten Obrigkeitsdenken" beruhen, wenn sich i n einer Kleinstadt oder auf dem Dorfe Personen beim Erscheinen eines für sie zuständigen und ihnen persönlich oder jedenfalls vom Sehen her bekannten Polizeivollzugsbeamten innerlich gehemmt und unangenehm berührt fühlten, wenn sie dieser als „Missionar" i n ihrer Wohnung aufsucht, um sie von ihrem Glauben abzuwerben und für seinen Glauben zu gewinnen. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt dabei die Ausstrahlungswirkung, die zumindest i n einem kleinstädtischen und dörflichen Milieu der Amtsstellung eines Polizeivollzugsbeamten über dessen unmittelbar persönlich-dienstliche Tätigkeit hinaus objektiv zukommt. Bereits die Möglichkeit, daß ein Polizeibeamter, der i n seiner dienstfreien Zeit als Missionar oder Hausprediger demselben Personenkreis gegenübertritt, dem er während seines Dienstes hoheitlich und als Träger der Staatsgewalt tagtäglich begegnet, eine durch die objektiv unvermeidliche Ausnutzung seiner Dienststellung vermittelte Einflußnahme auf das Grundrecht der Glaubenswahlfreiheit der von i h m i n ihrer Privatwohnung aufgesuchten Personen ausüben könnte, verpflichtet die zuständigen Behörden, jede Missionierungstätigkeit dieses Beamten innerhalb seines Dienstbereichs zu untersagen. Das geringfügige Maß an Beschränkung der Ausübung seiner Bekenntnisfreiheit und des Rechts auf ungestörte Religionsausübung, die das dem Polizeibeamten von der Landpolizeidirektion Oberfranken auferlegte Verbot der Glaubenswerbung innerhalb des örtlichen Bereichs seines Dienstbezirks darstellt, erweist sich somit zum Schutze des Grundrechts der Glaubens(w ahi)freiheit der Bewohner dieses Bezirks als verfassungsrechtlich geboten. Das Bundesverwaltungsgericht hätte deshalb das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bestätigen müssen. 71

So P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), JuS 1969, S. 270.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht 2. Unzulässigkeit fachfremder weltanschaulich-missionarischer Diskussionen eines Lehrers an höherer Schule

Daß ein Lehrer nicht unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG seine durch sein Lehramt begründeten Amtspflichten verletzen darf, hat der Disziplinarhof von Rheinland-Pfalz i n einem Beschluß vom 15.11.1963 72 entschieden. Bei dem dem Disziplinarhof vorliegenden Fall handelte es sich um einen an einem Gymnasium als Kunsterzieher tätigen Lehrer, der ganze Unterrichtsstunden darauf verwendet hatte, m i t seinen 14 bis 16 Jahre alten Schülern, die er damit nicht selten geistig überforderte, fachfremde Diskussionen zu führen, u. a. über das „Versagen des Christentums" und die „aggressive Politik der Bundesrepublik und der USA". Da er nicht zu bewegen war, davon Abstand zu nehmen, immer wieder seine durch eine betont pazifistische Einstellung geprägten Ansichten über den Kommunismus, die Atombombe, die Berliner Mauer, die Kuba-Krise und ähnliches vorzutragen, war er durch Disziplinarverfügung mit einer Warnung bestraft worden. M i t der Begründung, daß seine mißbilligten Äußerungen durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG geschützt seien, rief der Lehrer gegen diese Disziplinarverfügung den Disziplinarhof des Landes Rheinland-Pfalz an. I m einzelnen trug er dabei vor, von einem „missionarischen Drang" beseelt zu sein; was er i m Unterricht vertrete, sei seine Theologie. Er gehorche damit einem Auftrag Gottes, der ihn zwinge, seinen Unterricht so und nicht anders zu gestalten 73 . Der Disziplinarhof räumte ein, daß die Darstellung des Beschuldigten die Annahme zulasse, daß sein Verhalten einer ernsten sittlichen Entscheidung und einer echten Gewissensnot entspreche; er betonte jedoch gleichzeitig 74 , daß auch die Gewissensfreiheit nicht schrankenlos sei und eine unter dem Gewissensgebot stehende Handlung dann die Grenzen der Gewissensfreiheit überschreite, wenn sie i n die geschützten Rechte Dritter eingreife. Eine Verletzung von Rechten Dritter sah der Disziplinarhof infolge des Verhaltens des Lehrers in mehrfacher Hinsicht gegeben: a) einmal sei das Recht der Schüler auf einen fachgerechten Unterricht auf dem Gebiet „Bildende Kunst" verletzt;

72 Disziplinarhof Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 15. 11. 1963 (Az.: W 1/63), ZBR 1964,92 = RWS 1964,147 f. m i t Anm. Schreckenberger. 73 RWS 1964,148. 74 Unter Berufung auf die Entscheidung des BVerfG i m Tabak-Fall, BVerfGE 12,1 (4) ; vgl. dazu diese Arbeit, oben, 1 1 d.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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b) ferner verletze der Beschuldigte durch seine weltanschaulichen Unterrichtsgespräche das Recht der Eltern, denen „zuvörderst" (Art. 6 Abs. 2 GG) bzw. als „oberste Pflicht" (Art. 25 Abs. 1 Verf. des Landes Rheinland-Pfalz) die Erziehung ihrer Kinder obliege; c) schließlich störe er in empfindlicher Weise die Ordnung der Schule. Die pädagogische Freiheit des Lehrers habe sich den Zielen der Schule und den Unterrichtsplänen unterzuordnen. Der Lehrer sei verpflichtet, einen fachbezogenen Unterricht zu erteilen und sich unvertretbarer Übergriffe in die Fächer anderer Lehrer zu enthalten 75 . Obwohl die genaue gegenseitige Abgrenzung verschiedener Schulfächer im Einzelfall bekanntlich durchaus problematisch und umstritten sein kann, verdient diese Entscheidung des Disziplinarhofs Rheinland-Pfalz im Ergebnis volle Zustimmung. Einer genaueren Erörterung und präziseren Klärung hätte i n diesem Zusammenhang allerdings die Frage bedurft, welche Einzelgrundrechte bzw. welche der in Frage kommenden einzelnen Betätigungsformen — Weltanschauungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Bekenntnisfreiheit — des Art. 4 Abs. 1 GG durch die beamtenrechtliche Stellung eines Lehrers eingeschränkt sind, bzw. welche Betätigungsform des Grundrechts des Art. 4 Abs. 1 GG dieser als Kunsterzieher tätige Lehrer mißbräuchlich ausgeübt hat. Der Gerichtshof begnügte sich damit, global eine unzulässige Überschreitung der Grenzen des Grundrechts der „Gewissensfreiheit" festzustellen. Wie insbesondere auch die Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 1 GG zeigt 76 , kommt der gesonderten Erwähnung des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit gegenüber der Glaubens- und Gewissensfreiheit als eigenständigen Betätigungsformen der Religionsfreiheit verfassungsrechtliche Bedeutung zu 7 7 . Geht man davon aus, daß unter „Gewissen" i. S. des Art. 4 Abs. 1 GG das Bewußtsein von der Existenz eines — wie auch immer im einzelnen religiös oder weltanschaulich begründeten — Sittengesetzes und dessen verpflichtender Kraft zu verstehen ist, so schützt das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit die Kundgabe der aufgrund des Glaubens, der weltanschaulichen Überzeugung und des Gewissens getroffenen Entscheidungen an die Umwelt 78. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewährleistet jedermann das Recht, bei der Bildung religiös-moralischer Wert- und Unwertbegriffe unbeeinflußt von staatlichem Zwang oder sozialem Druck seinen eigenen Vorstellungen zu folgen und diese im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu 75

RWS 1964,148. JöR, N.F., Bd. 1 (1951), S. 73; vgl. dazu i m einzelnen H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, B e r l i n 1958, S. 117 ff. 77 Dazu R. Zippelius, i n Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, A r t . 4, Rdnr. 42. 78 Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht (s. A n m . 46), § 15 I V 1 (S. 116). 76

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

verwirklichen. I n diese Gewissensbildungsfreiheit als Kernbereich der Gewissensfreiheit darf der Staat ebenso wenig eingreifen wie i n die Glaubenswahlfreiheit. Die Mitteilung und werbende Äußerung der Gewissensinhalte an Dritte ist zufolge der vom Verfassungsgeber gewählten Begrifflichkeit jedoch nicht als Aktualisierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit, sondern der Bekenntnisfreiheit anzusehen. Bei den fachfremden Diskussionen des als Kunsterzieher tätigen Lehrers handelte es sich somit u m eine mißbräuchliche Ausübung des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit. Oder anders ausgedrückt: Die Pflicht zur Erteilung eines fachbezogenen Unterrichts und zur Erfüllung der Unterrichtspläne und die verfassungsrechtlich gebotene Respektierung des in erster Linie den Eltern zustehenden Erziehungsrechts bilden für einen Lehrer einer höheren Schule eine aus dem Zweck der Anstalt sich notwendig ergebende und daher zulässige Ausübungsbeschränkung seines Grundrechts der Bekenntnisfreiheit. 3. Glaubenswerbung bei Lehrlingen durch den Lehrherrn im Rahmen des Ausbildungsverhältnisses

Auch i m Rahmen des zwischen dem Lehrherrn und seinen Lehrlingen bestehenden Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisses sind einer Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung durch den Lehrherrn bei den seiner „väterlichen Obhut" 7 9 anvertrauten Lehrlingen enge Grenzen gezogen. Das hat das Oberverwaltungsgericht Koblenz i n einem vielbeachteten Urteil vom 16. 10. 195680, das vom Bundesverwaltungsgericht inhaltlich i n vollem Umfang bestätigt wurde 8 1 , festgestellt. I m sog. „Lehrlingsfall" war einem Strickermeister und Inhaber eines Strickereibetriebes, i n dem auch weibliche Lehrlinge als Maschinenstrickerinnen ausgebildet wurden, auf Antrag der zuständigen Handwerkskammer „die Befugnis zum Halten von Lehrlingen" entzogen worden, weil er die i h m als Lehrherrn gegenüber den i h m anvertrauten Lehrlingen obliegenden Pflichten wiederholt gröblich verletzt hatte. Die Verwaltungsbehörde erblickte die Pflichtverletzung des Lehrherrn darin, 79 Vgl. dazu § 24 Abs. 2 HandwO i. d. F. v. 17. 9. 1953 (BGBl. I S. 1411), bzw. § 28 Abs. 2 des Gesetzes zur Ordnung des Handwerks (HandwerksO) i. d. F. v. 28.12.1965 (BGBl. I S. 1). Über die Doppelnatur der Berufsausbildung als eines Erziehungs- u n d Arbeitsverhältnisses u n d dessen zugleich p r i v a t - u n d öffentlich-rechtlichen Charakter vgl. I. Richter, Die Rechtsprechung zur Berufsausbildung. Analyse u n d Entscheidungssammlung. Stuttgart 1969, S. 66 ff. 80 OVG Koblenz, U r t . v. 16. 10. 1956 (Az.: 2 A 15/56), OVGE RhPf. 5, 250 == DVB1.1957,138 = KirchE 3, 395. 81 BVerwG, U r t . v. 9. 11. 1962 (Az.: V I I C 84/59), B V e r w G E 15, 134 = N J W 1963, 1170 = DÖV 1963, 268 = KirchE 6, 154; zust. P. Häberle, Exzessive Glaubenswerbung (s. A n m . 1), JuS 1969, S. 205.

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daß dieser geduldet hatte, daß seine Angehörigen die i m Strickereibetrieb beschäftigten Lehrmädchen zum Übertritt zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu bewegen suchten. Diese Beeinflussungsversuche, die m i t herabsetzenden Bemerkungen über die katholische Kirche verbunden waren und die Lehrmädchen teils weniger teils stärker beeindruckten, hatten bei einzelnen von ihnen zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit ihres Glaubens geführt. Der Werbung zum Übertritt zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas wurde noch dadurch ein besonderer Nachdruck verliehen, daß die solchen Einflüssen zugänglichen Lehrmädchen eine bevorzugte Behandlung gegenüber den ablehnend eingestellten erfuhren 8 2 . a) Das Oberverwaltungsgericht Koblenz erklärte die Entziehung der Befugnis, Lehrlinge zu halten, für rechtmäßig und begründete seine Entscheidung m i t dem Mißbrauchsargument. Aus dem i n erster Linie auf die handwerkliche Berufsausbildung ausgerichteten Zweck des Lehrverhältnisses folge zwangsläufig auch die Pflicht des Lehrherrn, dieses Vertrauensverhältnis gegenüber dem Lehrling nicht dazu auszunutzen oder zu mißbrauchen, um auf Gebieten, die mit der beruflichen Erziehung i n keinem Zusammenhang ständen, auf den Lehrling einzuwirken. Das gelte insbesondere auch für die religiöse und weltanschauliche Erziehung des Lehrlings, die primär Aufgabe seiner Eltern und Erziehungsberechtigten sei. Der Lehrherr sei zu „strikter religiöser Duldsamkeit und Zurückhaltung gegenüber den i h m anvertrauten Lehrlingen" verpflichtet 83 . Er habe sich auf religiösem Gebiet „jeder dem Eltern willen widersprechenden Beeinflussung der Lehrlinge" zu enthalten und vor allem religiöse Umerziehungsversuche zu unterlassen und zu verhindern, da gerade ein Hinwirken auf den Übertritt zu einem anderen Glauben i n den Jugendlichen erfahrungsgemäß schwere seelische Konflikte herbeiführen und häufig sogar eine Entfremdung mit dem Elternhaus zur Folge haben könne 8 4 . Jede nicht m i t dem Willen der Eltern und sonstigen Erziehungsberechtigten i n Einklang zu bringende religiöse Beeinflussung der Lehrlinge durch den Lehrherrn oder mit dessen Duldung durch dritte Personen stelle, wie das Gericht zutreffend ausführt, einen sehr schwerwiegenden Eingriff sowohl i n die grundrechtlich geschützte Persönlichkeitssphäre des Lehrlings (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) als auch i n das natürliche Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dar, das durch die Verfassung (Art. 6 und 7 Abs. 2 GG; Art. 25, 27, 35 Verf. Rh.-Pf.) gewährleistet und unter ihren besonderen Schutz gestellt sei. Der Lehrherr 82 83 84

B V e r w G E 15,134 (135) = DÖV 1963,269. OVGE RhPf. 5, 250 (252) = KirchE 3, 395 (403). OVGE RhPf. 5, 250 (253) = KirchE 3, 395 (403).

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

habe sich daher, wie das Oberverwaltungsgericht Koblenz erklärte, auf diesem Gebiet völlig zurückzuhalten und sich ganz dem eigentlichen Sinn und Zweck des Lehrverhältnisses, nämlich der Ausbildung der Jugendlichen zu widmen 8 5 . Nachdrücklich betonte das Gericht, daß hierin keine Verletzung eigener Grundrechte des Lehrherrn, insbesondere keine Beeinträchtigung seines Grundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG liege, und erklärte, daß auch der Ausübung dieses, durch keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt eingeschränkten Grundrechts allgemeine Schranken gesetzt seien, wobei es i n diesem Zusammenhang nur von untergeordneter und theoretischer Bedeutung sei, ob man diese immanenten Grundrechtsschranken aus dem Grundgedanken und Gemeinschaftsvorbehalt des A r t . 2 Abs. 1 GG 8 6 oder entsprechend der sog. I m manenztheorie aus dem Inbegriff der Grundrechte 87 herleite. Keineswegs dürfen, wie das Gericht m i t Nachdruck betont, bei der Ausübung eigener Grundrechte die Rechte anderer verletzt, noch dürfe dabei gegen die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz verstoßen werden. Diese allgemeine Einschränkung der Grundrechte gelte auch für die Glaubens- und Gewissensfreiheit und das Recht auf ungestörte Religionsausübung. Die Ausübung dieser Grundrechte dürfe nicht dazu führen, daß unter Ausnutzung des Lehrverhältnisses in das religiöse Erziehungsrecht der Eltern eingegriffen werde und die sich aus dem Lehrverhältnis ergebenden Pflichten verletzt werden. Wenn ein Lehrherr diese Toleranz gegenüber den ihm anvertrauten Lehrlingen aufgrund eigener weltanschaulicher Uberzeugung nicht wahren könne und dadurch i n einen Konflikt zwischen seinem eigenen Gewissen und den Pflichten aus dem Lehrverhältnis gerate, müsse er entweder auf die Lehrlingsausbildung ganz verzichten oder er dürfe nur solche Lehrlinge einstellen, deren gesetzliche Vertreter bereit seien, i h m in dieser Beziehung freie Hand zu lassen 88 . 85 OVGE RhPf. 5, 250 (253) = KirchE 3, 395 (403); m i t Recht weist das Gericht i n diesem Zusammenhang darauf hin, daß aus dem Reichsgesetz über die religiöse Kindererziehung v o m 15. J u l i 1921 (RGBl. I S. 939) nicht abgeleitet werden kann, daß die Eltern v o m Zeitpunkt der Vollendung des 14. Lebensjahres ihrer K i n d e r an kein Recht mehr besäßen, auf deren religiöse Erziehung Einfluß zu nehmen; vgl. dazu auch diese Arbeit, Kap. 12, I I 1 b. 86 Das Gericht beruft sich hier auf die Ausführungen von G. Dürig, Die V e r fassungswidrigkeit des § 67 des Personenstandsgesetzes, FamRZ 1955, S. 337 (339), wo D. die von i h m vertretene „Immanenzlehre" prägnant zusammenfaßt. Weitere Nachweise vgl. OVGE RhPf. 5, 250 (255) = KirchE 3, 395 (406). 87 Vgl. BVerwG, U r t . v. 21. 12. 1954, B V e r w G E 1, 303; BVerwG, U r t . v. 18. 8. 1955, N J W 1955, 1773; vgl. dazu BVerfGE 23, 127 (125). Das BVerfG erklärt i n dieser Entscheidung, daß A r t . 4 GG als Spezialnorm dem A r t . 2 Abs. 1 GG vorgehe. 88 OVGE RhPf. 5, 250 (256) = KirchE 3, 395 (405).

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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b) Das Bundesverwaltungsgericht, das die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz i m Ergebnis i n vollem Umfang bestätigt hat, wich i n der Begründung insofern von der Auffassung der Vorinstanz ab, als es erklärte, daß es einem Lehrherrn nicht schlechthin verwehrt sei, Gespräche über religiöse Fragen auch mit andersgläubigen i h m zur Ausbildung anvertrauten Lehrlingen zu führen und dabei die eigene religiöse Überzeugung sachlich zu vertreten. Aber auch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet es einen Mißbrauch des i n Art. 4 GG gewährleisteten Rechts, die eigene religiöse Überzeugung zu vertreten und für sie zu werben, wenn ein Lehrherr unter Ausnutzung des durch das Lehrverhältnis bedingten Abhängigkeitsverhältnisses den Werbungsbungsversuchen für seine religiösen Auffassungen dadurch einen besonderen Nachdruck verleiht, daß er die einer solchen Werbung zugänglichen Lehrmädchen gegenüber den ablehnend eingestellten bevorzugt behandelt 89. Einen Mißbrauch des Rechts, für den eigenen Glauben zu werben, sah das Bundesverwaltungsgericht ferner darin, daß die Werbung des Handwerksmeisters für die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas m i t herabsetzenden Bemerkungen über die katholische Kirche verbunden war, die überzeugte Angehörige dieser Kirche i n ihrem religiösen Empfinden verletzen und sich zu diesem Glauben bekennende junge Menschen i m Alter der vom Kläger auszubildenden, von i h m als Lehrherrn abhängigen Lehrmädchen i n ernste innere Konflikte bringen mußten 9 0 . Übereinstimmend mit dem Oberverwaltungsgericht Koblenz betont auch das Bundesverwaltungsgericht, daß der Kläger sein Verhalten nicht damit rechtfertigen könne, daß die bei ihm beschäftigten Lehrmädchen nach der Vorschrift des § 5 des Reichsgesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15. J u l i 1921 (RGBl. S. 939) bereits religionsmündig seien, da das i n Art. 4 GG begründete Recht, andere für einen Glaubenswechsel zu werben, gegenüber einem der elterlichen Erziehung unterliegenden Kinde auch nach der Vollendung des 14. Lebensjahres dort seine Grenze finde, wo ein solcher Glaubenswechsel auf einen in glaubensmäßiger Überzeugung begründeten Widerstand der Eltern stoße und deshalb geeignet sei, das harmonische Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehe (Art. 6 Abs. 1 GG), ernstlich zu gefährden. Zustimmung verdient das Bundesverwaltungsgericht schließlich auch insofern, als es die Auffassung des Klägers zurückweist, daß für die rechtliche Beurteilung des Streitfalles das aus der Verletzung des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) hergeleitete Argu89 90

B V e r w G E 15,134 (137) = KirchE 6,154 (159). B V e r w G E 15,134 (137) = KirchE 6,154 (159).

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

ment des Oberverwaltungsgerichts Koblenz schon deshalb außer Betracht bleiben müsse, weil für die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Maßnahmen nur eine Verletzung der dem Lehrherrn gegenüber seinen Lehrlingen — nicht aber gegenüber deren Eltern — obliegenden Pflichten bedeutsam sei. M i t Recht erklärt dazu das Bundesverwaltungsgericht, daß das den Eltern i n Art. 6 Abs. 2 GG eingeräumte Pflege- und Erziehungsrecht den Interessen des Kindes zu dienen bestimmt sei, was die Revision verkenne, und daß derjenige, welcher unbefugt i n das Pflege- und Erziehungsrecht der Eltern eingreife, damit auch die ihrer Obhut unterstellten Interessen des Kindes verletze 91 . Beide Gerichte stimmen damit i m Ergebnis insoweit überein, daß eine i m Rahmen eines Lehrverhältnisses vom Lehrherrn bei seinen Lehrlingen vorgenommene Glaubens(ab)Werbung jedenfalls dann einen Mißbrauch des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG darstellt, wenn sie durch Anwendung unlauterer Mittel, etwa durch Inaussichtstellen oder Gewährung einer beruflichen Vorzugstellung, oder im Widerspruch zu dem erklärten Willen der Eltern oder Erziehungsberechtigten erfolgt. I m Gegensatz zum Bundesverwaltungsgericht, das es einem Lehrherrn nicht grundsätzlich verwehrt, „Gespräche über religiöse Fragen auch mit andersgläubigen, i h m zur Ausbildung anvertrauten Lehrlingen zu führen und dabei die eigene religiöse Überzeugung sachlich zu vertreten" 9 2 und damit offensichtlich auch eine mit sachlichen Argumenten geführte Glaubenswerbung des Lehrherrn für zulässig ansieht und lediglich die A n wendung unlauterer oder anfechtbarer Mittel als Mißbrauch des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit betrachtet, hat sich nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz der Lehrherr auf diesem Gebiet „völlig zurückzuhalten und sich ganz dem eigentlichen Sinn und Zweck des Lehrverhältnisses, nämlich der Ausbildung des Jugendlichen zu widmen" 9 3 . Die „weitere" Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts begegnet jedoch vor allem deshalb schwerwiegenden Bedenken, weil i n vielen Fällen die Eltern und Erziehungsberechtigten von Lehrlingen daran gehindert sind, der — wenn auch auf sachliche Weise geführten Glaubenswerbung des Lehrherrn — einen nach der Ausdrucksweise des Bundesverwaltungsgerichts i n „glaubensmäßiger Überzeugung begründeten Widerstand" 9 4 entgegenzusetzen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Eltern gezwungen sind, ihre Kinder i n eine vom Elternhaus räumlich erheblich entfernte Lehre zu geben, so daß sie während der Lehrzeit dem 91 92 93 94

B V e r w G E 15,134 (139) = KirchE 6,154 (160 f.). B V e r w G E 15,134 (137) = KirchE 6,154 (159). OVGE RhPf. 5, 250 (253) = KirchE 3,395 (403). B V e r w G E 15,134 (138 f.) = KirchE 6,154 (160).

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erzieherischen und damit auch dem religiösen Einfluß des Elternhauses weitgehend entzogen sind. Die Eltern und Erziehungsberechtigten von Lehrlingen müssen auch i n solchen Fällen darauf vertrauen können, daß der Lehrherr sein i h m von ihnen übertragenes und gesetzlich normiertes Autoritätsverhältnis nicht dazu verwendet, gegen ihren Willen in ihr religiöses Erziehungsrecht einzugreifen und ihre Kinder vorsätzlich ihrem angestammten Glauben zu entfremden. Deshalb ist der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz zuzustimmen, daß sich ein Lehrherr aller Versuche, seine Lehrlinge einem anderen Glauben zuzuführen, „völlig" zu enthalten und sich ganz dem eigentlichen Sinn und Zweck des Lehrverhältnisses, nämlich der Ausbildung der Jugendlichen, zu widmen habe. I I I . Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Pflichten vom religiösen Bekenntnis 1. Eidespflicht

a) Die Leistung des Eides keine ihrem Wesen nach sakrale Handlung Nach den übereinstimmenden Entscheidungen verschiedener Gerichte kann die gesetzlich begründete Pflicht zur Leistung eines Eides nicht unter Berufung auf das Grundrecht des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG verweigert werden. Das gilt vom assertorischen Eid (Aussageeid) ebenso wie vom politischen (promissorischen) Eid. Ungeachtet der Tatsache, daß der Eid religiösen Ursprungs ist und nach gemeinchristlichem Verständnis eine Anrufung Gottes zur Bekräftigung und zum Zeugnis für die Wahrhaftigkeit einer Aussage oder die Ernsthaftigkeit eines Versprechens darstellt 9 5 , ist es dem zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat verwehrt, i n seiner Rechtsordnung den Eid als Rechtsinstitut als eine ihrem Wesen nach religiös-sakrale Einrichtung zu betrachten, auch wenn die bei weitem überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik i n der Eidesleistung eine Handlung religiössakralen Charakters erblickt. Für das säkularisierte Eidesverständnis des Staates ist der Eid daher seinem Wesen nach lediglich eine i n einem gesetzlich geordneten Verfahren auf behördliche oder gerichtliche Anordnung i n bestimmter Form abzugebende verbindliche Erklärung, die entweder die Versicherung enthält, daß eine Aussage der Wahrheit entspreche oder daß der den Eid

95

E. Friesenhahn,

6 Listi

Der politische Eid, Bonn 1928, S. 3 ff. m. w . N.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Leistende seine i n Verfassung oder Gesetz begründeten Pflichten erfüllen werde 9 6 . I n diesem Sinne hat der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs i n einem Beschluß vom 24. 10. 195597 bei der Prüfung des rechtlichen Verhältnisses des Tatbestandes der uneidlichen Falschaussage des § 153 StGB zum Tatbestand des Meineides in § 154 StGB festgestellt, daß dem Eid, soweit er unter Anrufung Gottes geschworen werde, zwar ein sakraler Charakter zukomme, wenn dies auch heute nicht mehr alle Schwörenden empfinden mögen. Strafrechtliche Bedeutung habe der Eid aber nur als Bekräftigung einer Aussage. Das Verbrechen des Meineides entstehe erst durch die Verbindung von unwahrer Aussage und Eid. Der Eid könne auch ohne Anrufung Gottes geschworen werden. Die sakrale Färbung sei dem Eid daher nicht wesentlich. Die Strafandrohungen aller Eidesdelikte dienten dem Schutz der Rechtspflege, indem sie die Beweiskraft der Eidesleistung und eidesstattlichen Versicherung verstärkten und sicherten. Die eidliche Beteuerung sei so gesehen nur ein straferhöhendes Merkmal zum Grunddelikt der uneidlichen Falschaussage des § 153 StGB 9 8 . M i t diesem Verständnis des Eides w i r d der Bundesgerichtshof der Verpflichtung des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität voll gerecht. Aus der i n A r t . 4 GG grundgelegten weltanschaulichen Neutralitätspflicht des Staates ergibt sich zwangsläufig die Folgerung, daß der Staat das Wesen des Eides nicht nach dem Eidesverständnis einer bestimmten Religion festlegen darf. Deshalb stellt die Bestimmung des A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WeimRV, daß niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden dürfe, lediglich eine deklaratorische Verdeutlichung des Grundrechts der Religionsfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG dar. Wenn i n § 481 ZPO und entsprechenden einschlägigen Bestimmungen die religiöse Eidesform an erster Stelle aufgeführt ist und erst dann auf 96 So zutreffend ζ. B. der A r t . „Eid", i n : Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. Wiesbaden 1968, Bd. 5. 97 BGH, Beschl. v. 24.10.1955 (Az.: GSSt 1/55), BGHSt 8, 301. 98 BGHSt 8, 301 (309); unzutreffend daher insoweit die Ausführungen bei A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d die besonderen Gewaltverhältnisse, B e r l i n 1969, S. 120, der davon spricht, daß die i n § 478 ZPO vorgeschriebene Eidesleistung nach den herrschenden gesellschaftlichen Normen eine „als religiös vermittelt aufgefaßte Zurechnung des beschworenen Verhaltens bewirke". Das ist nach dem der Rechtsordnung der Bundesrepublik zugrundeliegenden Eidesverständnis gerade nicht der Fall. Es ist ein A k t notwendiger Rücksichtnahme und Toleranz, w e n n der Staat dem Eidesverständnis der großen Mehrheit der Bevölkerung entsprechend die religiöse Eidesleistung ermöglicht; andererseits k a n n wegen des religiös-neutralen Charakters des Staates die religiöse Eidesform rechtlich nicht als zum Wesen des Eides gehörend angesehen werden.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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die Möglichkeit hingewiesen wird, daß der Eid auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden könne, so liegt darin weder eine Anerkennung des Vorranges der religiösen Eidesform vor dem ohne religiöse Beteuerungsform geleisteten Eid noch eine Verletzung der Religionsfreiheit Diese Regelung trägt lediglich der Tatsache Rechnung, daß die große Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik die Eidesleistung als eine religiös-sakrale Handlung betrachtet und ist damit lediglich ein verfassungsrechtlich zulässiger Ausdruck der auch vom Gesetzgeber zu wahrenden religiösen und weltanschaulichen Toleranz b) Verpflichtung im Zivilverfahren

zur Eidesleistung (Offenbarungseid)

Abzulehnen ist deshalb die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. 3. 1957 100 , das i n einem Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung dieses Gerichts gem. A r t . 100 Abs. 1 GG darüber einholen wollte, ob der Zwang zur Eidesleistung gem. § 481 Abs. 2 ZPO die A r t . 4 und 140 GG, letzteren i n Verbindung m i t Art. 136 Abs. 4 WeimRV vom 11. 8.1919, verletze 1 0 1 . I n dieser dem Bundesverfassungsgericht unterbreiteten Vorlage wollte das Oberlandesgericht Stuttgart die Rechtsfrage klären lassen, ob die einem zur Herausgabe des Nachlasses verpflichteten Erschaftsbesitzer gerichtlich auferlegte Verpflichtung zur Leistung des Offenbarungseides mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit des Art. 4 GG vereinbar sei. Das Landgericht Heilbronn hatte die beklagte Partei verurteilt, den Offenbarungseid dahin zu leisten, daß sie das Nachlaßverzeichnis so vollständig angegeben habe, wie sie dazu imstande gewesen sei. Als die Beklagte unter Hinweis darauf, daß sie „Mitglied des Evangelischen Brudervereins i n Stuttgart-Vaihingen" sei, die Leistung des Eides verweigerte 99 Α. Α. E. Fischer, Trennung v o n Staat u n d Kirche, München 1964, S. 98, der i n der Bestimmung des § 481 ZPO u n d den entsprechenden Vorschriften einen Verstoß gegen A r t . 136 Abs. 4 WeimRV — bei Fischer steht i r r t ü m l i c h A r t . 136 Abs. 3 WeimRV — erblickt, w e i l dadurch, daß die religiöse Eidesformel an erster Stelle genannt werde, faktisch jedermann gezwungen werde, den E i d i n religiöser Form zu leisten, da k a u m jemand wage, auch ohne religiöse Beteuerung zu schwören. Vgl. dagegen jedoch A r t . 38 Hamb Verf. u n d A r t . 23 Schlesw.-Holst. Verf., die die religiöse Eidesform erst an 2. Stelle vorsehen, u n d ferner A r t . 111 HessVerf., der überhaupt keine religiöse Eidesform erwähnt. 100 O L G Stuttgart, Vorlagebeschluß v. 8. 3. 1957 (Az.: 1 W 101/56), zitiert i n BVerfGE 14,140 f. Durch Gesetz v o m 27. 6. 1970 (BGBl. I 909) wurde das I n s t i t u t des vollstrekkungsrechtlichen u n d materiellrechtlichen Offenbarungseides abgeschafft. K r i tisch dazu W. J. Habscheid, Das Ende des Offenbarungseides, N J W 1970, S. 1669 ff. 101 O L G Stuttgart, vgl. BVerfGE 14,140 f.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

und auch nicht bereit war, den Eid ohne Anrufung Gottes zu schwören, weil Gottes Wort ihr verböte, überhaupt einen Schwur zu leisten, drohte ihr das Landgericht Heilbronn gem. §§ 889, 888 ZPO eine Geldstrafe i n Höhe von D M 50,— für den Fall an, daß sie den i h r auferlegten Offenbarungseid nicht leiste. I n dem Vorlagebeschluß vertrat das Oberlandesgericht Stuttgart u. a. die unzutreffende Rechtsauffassung, auch der gem. § 481 Abs. 2 ZPO ohne religiöse Beteuerung geleistete Eid habe sakralen Charakter, w e i l schon der Begriff „Eid" eine feierliche Verpflichtung zur Wahrheit bei Gott bedeute und vor allem das Wort „schwören" eine Beziehung zu dem Verhältnis des Menschen zu Gott ausdrücke 102 . Das Bundesverfassungsgericht sah sich jedoch daran gehindert, über die ursprünglich zulässige Vorlage des Oberlandesgerichts zu entscheiden, weil der Verzicht der Klägerin auf Ableistung des Offenbarungseides vom Oberlandesgericht Stuttgart als Rücknahme des Antrags gewertet wurde, die Beklagte gem. §§ 889, 888 ZPO durch Geld- oder Haftstrafen zur Eidesleistung anzuhalten 1 0 3 . Damit war die Vorlage gegenstandslos geworden. c) Verpflichtung zur Leistung des Zeugeneides im Strafverfahren I m Gegensatz zur Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart entschied das Oberlandesgericht Düsseldorf, daß ein Zeuge i n einem Strafverfahren die Eidesleistung nicht unter Berufung auf die B i b e l 1 0 4 und auf das i n A r t . 4 GG gewährleistete Grundrecht der Religionsfreiheit verweigern dürfe 1 0 5 . I m Ergebnis übereinstimmend m i t der Entscheidung des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 24. 10. 1955 108 folgerte das Oberlandesgericht Düsseldorf aus der Bestimmung des A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WeimRV, daß niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden dürfe, i m Wege des Umkehrschlusses logisch zwingend die für jedermann bestehende Pflicht, einen gesetzlich vorgeschriebenen Eid — wenn auch ohne religiöse Beteuerung — abzulegen. Die Verpflichtung zur Eidesleistung sei damit auch Gegenstand der verfassungsmäßigen Ordnung. 102 103 104 105 106

BVerfG, Beschl. v. 19. 6.1962 (Az.: 1 B v L 10/57), BVerfGE 14,140 (141). BVerfGE 14,140 (142). Vgl. Matth. Kap. 5, Vers 34 ff. O L G Düsseldorf, Beschl. v. 22. 7.1966 (Az.: 1 Ws 407/66), N J W 1966,1933. BGHSt 8,301 (s. A n m . 98).

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Für die rechtsprechende Gewalt sei, wie das Gericht betonte, die Eidesleistung im gerichtlichen Verfahren als Mittel der Wahrheitsfindung unerläßlich. Würde die Eidesleistung von der Gewissensentscheidung jedes einzelnen abhängig gemacht, so würde einer geordneten Rechtsprechung der Boden entzogen 107 . Jeder Staatsbürger habe auch entgegen seiner Überzeugung die in der Verfassung und dem Gesetz allgemein aufgestellten staatsbürgerlichen Pflichten zu befolgen, zu denen gem. §§ 59 ff. StPO auch die Eidesleistung des Zeugen gehöre. Die Gewissensgründe des Beschwerdeführers gegen die von ihm geforderte Eidesleistung seien zwar möglicherweise aus religiösen Gesichtspunkten beachtenswert, sie rechtfertigen es jedoch nicht, die Bestimmungen der StPO außer acht zu lassen. Bei seiner Entscheidung ging das Oberlandesgericht Düsseldorf davon aus, daß der Beschwerdeführer — es handelte sich um einen Pfarrer — d a s Unrechtmäßige seines Verhaltens bei gehöriger, ihm nach seiner Vorbildung zuzumutender Gewissensanspannung klar hätte erkennen können 1 0 8 . I n Übereinstimmung mit der späteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 3. 1968 109 hat das Oberlandesgericht Düsseldorf hier zu Recht festgestellt, daß eine Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit unzulässig ist, wenn damit ein Verhalten gerechtfertigt werden soll, das gegen die allgemeinen gesetzlichen staatsbürgerlichen Pflichten und die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Dieser Grundsatz gilt auch, wie das Bundesverfassungsgericht betont, für Entscheidungen, die „an sittlichen Werten" gewonnen wurden oder auf religiösen Motiven beruhen. Er beansprucht gegenüber Handlungen ebenso Gültigkeit wie gegenüber Unterlassungen. Das Gericht betrachtet damit zu Recht die verfassungsmäßige Ordnung als eine immanente Schranke des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG und betont, es gelte hier das gleiche wie für das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem i n A r t . 2 GG ebenfalls Schranken gesetzt seien 110 . d) Zulässigkeit des Verfassungseides für Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes Wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer eingehend begründeten Entscheidung dargelegt hat, steht auch die Vorschrift des 107 A . A . A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (s. A n m . 98), S. 148. — Die Rechtsordnung geht hier zu Recht davon aus, daß i n jedem Menschen die Möglichkeit zu einer Gewissensbindung gegeben ist. Diese kann, muß jedoch nicht religiös oder weltanschaulich fundiert sein. I m Falle der Verpflichtung zur Eidesleistung w i r d eine solche Gewissensbindung i n der einen oder anderen Form dem Eidleistenden v o n der Rechtsordnung zugemutet. 108 N J W 1966,1933. 109 BVerfGE 23,127 (135). 110 N J W 1966,1933.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

A r t . 187 BayVerf., die von allen Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes den Verfassungseid verlangt 1 1 1 , zu dem i n A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. und A r t . 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht im Widerspruch 112. Wegen der besonderen K r a f t des Eides, den Schwörenden in seinem Gewissen zu binden, konnte der Verfassungsgeber nach den Ausführungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs den Verfassungseid fordern, u m dadurch zur Sicherung der konstitutionellen Ordnung beizutragen 113 . Zu dem Antrag des Beschwerdeführers des vom Gerichtshof entschiedenen Falles, seine Treue zur Verfassung i n anderer Weise als durch einen Eid versprechen zu können, da ihm die Weisung Jesu Christi: „Ich aber sage euch, ihr sollt überhaupt nicht schwören" (Matth. 5, 34), die Leistung eines Eides aus Gewissensgründen unmöglich mache, erklärte das Gericht i n inhaltlicher Übereinstimmung m i t dem Beschluß des Großen Senats des Bundesgerichtshofs vom 24.10.1955 114 , daß die Anrufung Gottes heute kein „wesentliches Merkmal des Eides" mehr darstelle 115. Der Verfassungseid könne heute i n religiöser Form, gem. A r t . 107 Abs. 6 BayVerf. „aber auch ohne religiöse Formel" geleistet werden. Auch der seines religiösen Charakters entkleidete Eid behalte die Eigenschaft eines bindenden „ethischen Gelöbnisses" gegenüber der i m Staat vereinigten Volksgemeinschaft 116 . Die Wirkung des Eides sei erheblich gewichtiger als die eines einfachen Versprechens oder Gelöbnisses 117 . 111 Vgl. zu diesem Problemkreis neben den Beamtengesetzen auch das Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) v. 19. 3. 1956 (BGBl. I S. 114) i. d. F. d. Bek. v. 22. 4.1969 (BGBl. I S. 314). § 9 dieses Gesetzes sieht vor, daß die Berufssoldaten u n d Soldaten auf Zeit einen „Diensteid", die Soldaten dagegen, die aufgrund der Wehrpflicht Wehrdienst leisten, ein „feierliches Gelöbnis" ablegen. 112 BayVerfGH, Entscheidung v. 26. 11. 1964 (Az.: 10-VII-62), BayVerfGH 17, 94 = DÖV 1965, 134; vgl. dazu die abl. A n m e r k u n g v o n A. Podlech, Gewissensfreiheit u n d Beamteneid, JuS 1968, S. 120 ff. 113 BayVerfGH 17, 94 (102) = DÖV 1965,134 (137). 114 BGHSt. 8, 301 (309) (s. A n m . 98). 115 Das übersieht A. Podlech i n seiner A n m e r k u n g (s. A n m . 112), S. 122, der davon ausgeht, daß der E i d auch nach dem heutigen unserer Rechtsordnung zugrundeliegenden säkularisierten Eidesverständnis nach w i e v o r einen „Mythos" darstelle, wobei dunkel bleibt, was Podlech unter einem „Mythos" versteht. Außerdem erscheint die Argumentation Podlechs i n sich selbst w i d e r sprüchlich u n d w i l l k ü r l i c h , w e n n er bestimmte Formen des politischen Eides, w i e den Eid des Bundespräsidenten (Art. 56 GG) oder den Amtseid des Bundeskanzlers und der Bundesminister (Art. 64 GG) nicht unter den Gewissensvorbehalt stellen w i l l , w e i l hier das Interesse der staatlich verfaßten Gesellschaft an der persönlichen Zurechnung des Verhaltens solcher Organwalter „verhältnismäßig groß" sei. Bei den Beamten dagegen sei ein solches I n t e r esse der staatlich verfaßten Gesellschaft nicht i m gleichen Maße gegeben. Vgl. A. Podlech, a.a.O., S. 123 m i t A n m . 33. 116 v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 56, A n m . V u n d V I I I 1 = S. 1095; 1100). 117 B a y V e r f G H 17, 94 (98 f.) = DÖV 1965,134 (135).

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Überzeugend führt der Gerichtshof aus, daß gegenüber der i n A r t . 187 BayVerf. für die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes und i n Art. 56 BayVerf. für die Mitglieder der Staatsregierung normierten Eidespflicht eine Berufung auf ein angeblich i n A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. enthaltenes schrankenloses Recht auf Gewissensfreiheit nicht gegeben sei, weil sich Art. 107 Abs. 6 BayVerf. selbst mit dem Problem der Eidesleistung befasse und ausdrücklich regele, in welchem Umfang sich die von einer Eidespflicht Betroffenen auf das Grundrecht der Glaubens· und Gewissensfreiheit berufen können 1 1 8 . So sehr diese Entscheidung vom Ergebnis her Zustimmung verdient, so läßt sich dennoch eine exakte Klärung der Frage vermissen, welche einzelnen Betätigungsformen des generellen und i n der Begründung der Entscheidung auch ausdrücklich genannten Grundrechts der „Religions freiheit" 119, das als solches weder der Bayerischen Verfassung noch dem Grundgesetz bekannt ist, aus überragenden Gründen des Gemeinwohls eingeschränkt werden können. I m Gegensatz zum Grundgesetz, das i n A r t . 4 Abs. 1 GG neben der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses für unverletzlich erklärt, gewährleistet die Bayerische Verfassung, die darin der Vorschrift des A r t . 135 S. 1 WeimRV folgt, i n Art. 107 Abs. 1 nur die Glaubens- und Gewissensfreiheit, ohne die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses gesondert zu erwähnen. Ausgehend vom Wortlaut des Art. 107 Abs. 1 BayVerf. gelangt der Bayerische Verfassungsgerichtshof zu der auch von Anschütz vertretenen, jedoch schwerlich mit dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 GG zu vereinbarenden Auffassung, daß die Glaubens- und Gewissensfreiheit mit der Bekenntnisfreiheit identisch sei 1 2 0 . M i t dem Argument, daß die „innere Glaubens- und Gewissensfreiheit keinem äußeren Zwang unterliegen" könne, gelangt der Gerichtshof zu dem nicht überzeugenden Ergebnis, daß Art. 107 Abs. 1 BayVerf., der neben dem Art. 4 Abs. 1 GG weitergelte 1 2 1 , nur die individuelle „Bekenntnisfreiheit" verbürge 1 2 2 . Die Ausführungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs verkennen den Unterschied, der zwischen dem Art. 107 Abs. 1 BayVerf. und dem Art. 4 Abs. 1 GG besteht. Die den Kernbereich 118

BayVerfGH 17, 94 (100) = DÖV 1965,134 (136). BayVerfGH 17,94 (101) = DÖV 1965,134 (136). 120 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches (s. A n m . 16), A r t . 135, Erl. 4 (S. 619) ; vgl. dazu auch Th. Mayer-Maly, Z u r Sinngebung v o n Glaubensund Gewissensfreiheit (s. A n m . 44), ÖArchKiR, 5. Jg. (1954), S. 247. 121 BayVerfGH 7,49 (54) = KirchE 2, 269 (276). 122 Gegen diese Auffassung bereits der Parlamentarische Rat, der ausdrücklich neben der Bekenntnisfreiheit auch die „innere Seite" dieses Grundrechts, d. h. die Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, i n den Schutzbereich des A r t . 4 GG miteinbeziehen wollte. Vgl. dazu diese Arbeit, oben, A n m . 43, m. w . N. 119

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des Grundrechts der Religionsfreiheit bildenden religiösen Betätigungsformen der Glaubensfreiheit i. S. der Glaubenswahlfreiheit und der Gewissensfreiheit i m Sinne der Gewissensbildungsfreiheit müssen jedem staatlichen Einfluß entzogen bleiben. Lediglich die Ausübung der Bekenntnisfreiheit als Äußerungform der Glaubensfreiheit und der Gewissensfreiheit als religiös oder weltanschaulich motivierter Handlungsfreiheit darf aus überragenden Gründen des Gemeinwohls Einschränkungen erfahren. Der Gerichtshof begnügt sich statt dessen damit, zu erklären, daß, obgleich A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. und Art. 4 Abs. 1 GG — i m Gegensatz zu A r t . 135 WeimRV — keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt mehr enthielten, das Recht, sich zu einem Glauben zu bekennen und seinem Gewissen gemäß zu handeln, „nicht unbegrenzt gewährleistet" sei. Daß dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit Schranken inhärent seien, sei auch allgemein anerkannt 1 2 3 . Vom Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit springt die Begründung des Gerichtshofs sodann auf das allumfassende „Grundrecht der Religionsfreiheit" über. Ohne erkennbaren Zusammenhang führt das Gericht aus, daß dieses Grundrecht „staatliche Intoleranz" untersage. Verboten seien damit Gesetze, die sich gegen eine religiöse Anschauung als solche richteten. Art. 107 BayVerf. schließe aber nicht aus, daß der Staat die Regelung der i h m zustehenden Lebensgebiete zur Erfüllung der i h m obliegenden A u f gaben für sich i n Anspruch nehme, auch wenn sich dabei Auswirkungen auf die religiösen Grundrechte ergäben, „sofern sie nur eine notwendige Nebenfolge einer zu einem vordringlichen Zweck erforderlichen Regelung" seien 124 . Da die Festsetzung der Eidespflicht sich nicht gegen bestimmte religiöse Auffassungen und Weltanschauungen als solche wende und es andererseits durch schwerwiegende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei, daß sich der Staat der Verfassungstreue der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes durch einen sie i n ihrem Gewissen bindenden Eid versichere, sei die Eidespflicht mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 107 Abs. 1 BayVerf. vereinbar und habe der Verfassungsgeber den Verfassungseid fordern können 1 2 5 . Bei der Weigerung des Anwärters auf eine Beamtenstelle oder eine Stelle des öffentlichen Dienstes i n dem vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof zu entscheidenden Fall handelt es sich — ebenso wie bei der Wehrdienstverweigerung von Angehörigen der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas — nach der Terminologie des Grundgesetzes nicht um eine 123 124 125

B a y V e r f G H 17,94 (101 f. m. w . N.) = D Ö V 1965,134 (136 m. w. N.). B a y V e r f G H 17, 94 (101) = D Ö V 1965,134 (136). BayVerfGH 17,94 (102) = D Ö V 1965,134 (136 f.).

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Äußerung der Glaubensfreiheit oder der Freiheit des Bekenntnisses, sondern um eine Aktualisierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit Die Frage, die dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt war, lautete damit i n der Begrifflichkeit des Grundgesetzes präzise formuliert, ob im Falle einer entgegenstehenden Gewissensentscheidung durch einen Beamtenanwärter oder einen Anwärter des öffentlichen Dienstes der in Art 187 BayVerf. vorgeschriebene Verfassungseid unter Berufung auf Art. 107 Abs. 1 BayVerf. i. V. m. Art. 4 Abs. 1 GG verweigert werden dürfe. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat diese Frage zu Recht mit der Begründung verneint, daß das für alle Staatsbürger gleiche Bekenntnis zur Verfassung, das i m Verfassungseid seinen Ausdruck finde, zur Sicherung der demokratisch-konstitutionellen Ordnung unentbehrlich sei. Dieser schwerwiegende Grund rechtfertigt somit die i m Einzelfall möglicherweise i n der Eidespflicht liegende Beschränkung des Grundrechts der Gewissensfreiheit 126 . Somit bildet auch die Sicherung der demokratisch-konstitutionellen Ordnung des Staates eine immanente Schranke für die Ausübung des Grundrechts der Gewissensfreiheit. 2. Gerichtliche Handlungen an religiösen Feiertagen und vor religiösen Symbolen

a) Keine Verpflichtung zur Beschwerdeeinlegung für jüdischen Staatsbürger am Sabbat Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Bundesgerichtshofs wäre es ein Verstoß gegen das Grundrecht der Religionsfreiheit, wenn Anhänger des jüdischen Glaubens gezwungen würden, an jüdischen Feiertagen ihnen verbotene gerichtliche Handlungen vorzunehmen. I n einer Entscheidung vom 21. 6. 1956 127 geht der Bayerische Verfassungsgerichtshof davon aus, daß Staatsbürger j ü d i schen Glaubens daran gehindert seien, am Sabbat gerichtliche Handlungen vorzunehmen. Es würde daher nach Ansicht des Gerichtshofs eine Verletzung des i n A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. garantierten Grundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit bedeuten, wenn ein Staatsbürger j ü d i schen Glaubens verpflichtet wäre, am Sabbat eine gerichtliche Beschwerde einzulegen. Der Beschwerdeführer hatte m i t seiner Verfassungsbeschwerde i n dem konkreten Fall jedoch deshalb keinen Erfolg, ΐ2β Y g i dazu auch die Ausführungen des B a y V e r f G H über die Zulässigkeit von Röntgenreihenuntersuchungen i n der Entscheidung v. 13. 1. 1955 (Az.: Vf. 112-VII-53), BayVerfGH 8 , 1 = KirchE 3, 3; a. Α . A. Podlech, Gewissensfreiheit u n d Beamteneid, JuS 1968, S. 123. 127 BayVerfGH, Entscheidung v. 21. 6.1956 (Az.: Vf. 68-VI-55), B a y V e r f G H 9, 123.

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weil ihm genügend freie Tage zur Verfügung gestanden hätten, um seine Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof fristgemäß einzulegen 128 . b) Keine Verpflichtung für jüdischen Staatsbürger zu gerichtlicher Aussage am Sabbat Übereinstimmend mit dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof vertrat auch der Bundesgerichtshof i n einem Urteil vom 5. 5. 1959 129 die A u f fassung, daß ein gläubiger Jude, gegen den an einem hohen jüdischen Feiertag — bei dem dem Gericht zur Entscheidung vorliegenden Fall handelte es sich u m den ersten Tag des Laubhüttenfestes — eine Hauptverhandlung stattfinde, an diesem Tag nicht auszusagen brauche. Der Bundesgerichtshof begründet seine Entscheidung m i t dem überraschenden Argument, daß einem jüdischen Angeklagten, wenn er grundsätzlich bereit sei, sich in einem gerichtlichen Verfahren zur Sache zu erklären, sich aber daran durch das jüdische Gesetz gehindert sehe, das erforderliche rechtliche Gehör im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG verweigert werde. M i t dieser Begründung trägt der Bundesgerichtshof der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Nach Auffassung dieses Gerichts verlangt das Grundrecht auf rechtliches Gehör, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt werden dürfen, zu denen den Beteiligten Stellung zu nehmen Gelegenheit geboten w a r 1 3 0 . I m Gegensatz zu der Auffassung der Revision, die die Meinung vertreten hatte, die Vorinstanz, eine Strafkammer des Landgerichts Berlin, habe gegen das Grundrecht des Angeklagten aus Art. 4 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen, indem sie trotz der Erklärung des Angeklagten darauf bestanden hatte, an diesem Tage zu verhandeln, entschied der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, die Strafkammer habe das i n Art. 103 Abs. 1 GG unter Verfassungsschutz gestellte Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör vor Gericht beeinträchtigt; hierauf und nicht auf das i n Art. 4 GG gewährleistete Recht auf ungestörte Religionsausübung oder sein Verhältnis zu den allgemeinen Staatsbürgerpflichten komme es nach Auffassung des Senats entscheidend an 1 3 1 . 128

BayVerfGH 9,123 (124; 125 f.). BGH, U r t . v. 5. 5.1959 (Az.: 5 StR 92/59), BGHSt 13, 123 = N J W 1959, 1330. wo BVerfGE 6,12 (14); 7, 275 (278); 7, 340 (341); 9, 261 (267); 16, 283 (285). 129

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BGHSt 13,123 (124) = N J W 1959,1330 f.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Der Senat rechtfertigte das Verhalten des Angeklagten damit, daß dieser „achtenswerte" und „anerkennenswerte" religiöse Gründe dafür vorgebracht habe, daß er an dem Tage, an dem die Hauptverhandlung stattgefunden habe, nicht habe aussagen können. Deshalb hätte die Vorinstanz i n einem derartigen Falle dem Angeklagten an einem anderen Tage Gelegenheit zum rechtlichen Gehör geben müssen, falls sie nicht der Überzeugung gewesen sei, die vorgebrachten Gründe lägen nicht vor oder seien nicht ernst gemeint 1 3 2 . Diese Argumentation des Bundesgerichtshofs ist jedoch nur dann überzeugend, wenn man m i t der Revision davon ausgeht, daß die Verpflichtung des Angeklagten, i n der auf einen jüdischen Feiertag anberaumten Hauptverhandlung auszusagen, eine für ihn unzumutbare Beschränkung, d. h. eine Verletzung seines Grundrechts auf Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, bedeutet hatte. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Erklärung des Angeklagten, er habe aus religiösen Gründen nicht aussagen können, überhaupt beachtenswert und erweist sich für ihn dieses Aussagehindernis i m Ergebnis als Verweigerung des rechtlichen Gehörs gem. A r t . 103 Abs. 1 GG. Die Verweigerung des rechtlichen Gehörs bildet somit erst die Folge der dem Angeklagten angesonnenen Verletzung seines Grundrechts auf Gewissensfreiheit und — möglicherweise auch — ungestörte Religionsausübung. Sedes materiae auch dieser Entscheidung ist somit nicht Art. 103 Abs. 1 GG, sondern das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG. c) Zulässigkeit einer Vorladung zum Verkehrsunterricht für christliche Staatsbürger an Sonntagen Dagegen ist nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 15. 5. 1956 133 eine Vorladung durch die Straßenverkehrsbehörde zur Teilnahme an einem Unterricht über das Verhalten i m Straßenverkehr gem. § 6 StVO an Sonntagen zur Zeit des Hauptgottesdienstes nicht ohne weiteres wegen Verstoßes gegen Art. 4 GG oder Art. 25 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen nichtig. Das Gericht betont i n der Begründung des Urteils, daß die Vorschrift des § 216 Abs. 3 ZPO, wonach auf Sonntage, allgemeine Feiertage oder Sonnabende Termine nur in Notfällen anzuberaumen seien, einen allgemeinen Rechtsgedanken darstelle und daß nach Art. 25 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen die Sonntage Tage der Gottesverehrung, der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe seien. Aus all dem könne jedoch, wie das Gericht i m Ergebnis zutreffend feststellt, nicht gefolgert 132 133

BGHSt 13,123 (126) = N J W 1959,1330 f. O L G Hamm, U r t e i l v. 15. 5.1956 (Az.: 1 Ss 327/56), JZ 1956, 701.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

werden, daß die Anberaumung des Verkehrsunterrichts auf den Sonntag und zur gottesdienstlichen Zeit als schlechthin nichtig angesehen werden müßte. Diese Annahme wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Maßnahme aus reiner W i l l k ü r oder aus sonstigen Erwägungen getroffen wäre, die m i t den an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen schlechthin unvereinbar wären 1 3 4 . d) Unzulässigkeit einer Zeugnisverweigerung wegen Ausstattung der Gerichtsstätte mit einem religiösen Symbol Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 14. 7. 1966 135 ist ein Zeuge nicht berechtigt, das Zeugnis aus dem Grunde zu verweigern, weil der Gerichtssaal mit einem Wandkreuz ausgestattet sei. Nach Auffassung des Gerichts stellt die Anbringung von Wandkreuzen i n den Sitzungssälen der bayerischen Gerichte weder eine Verletzung der Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses noch eine Verletzung der Würde des Menschen oder des Gleichheitsgrundsatzes dar. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat sich dieser Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg angeschlossen 136 . I n der Begründung seiner Entscheidung hatte das Oberlandesgericht Nürnberg i m Anschluß an ν . Mangoldt-Klein ausgeführt, daß es ungeachtet eines i m Gerichtssaal angebrachten religiösen Symbols jedem, der vor Gericht zu erscheinen habe, unbenommen bleibe, „zu sagen, was er glaubt oder nicht glaubt, oder zu verschweigen, daß und was er glaubt" 1 3 7 . Durch das Vorhandensein eines Wandkreuzes i n einem Gerichtssaal werde auch keine Partei und kein Zeuge zur Offenbarung seiner religiösen oder antireligiösen Einstellung gezwungen 138 . Der sachlich gerechtfertigte Grund für die Ausstattung der gerichtlichen Sitzungssäle m i t Wandkreuzen, die i n Bayern aufgrund einer Justiz-Ministerial-Entschließung vom 25. 6.1958 erfolgt sei 1 3 9 , sei ausschließlich i n der religions soziologischen Tatsache zu erblicken, daß sich die überwältigende Mehrheit der bayerischen Bevölkerung zu einer christlichen Religionsgemeinschaft bekenne und der Prozentsatz derjenigen Staatsbürger, die keiner 134

JZ 1956, 701. O L G Nürnberg, Beschl. v. 14. 7.1956 (Az.: 1 W 37/66), N J W 1966,1926. 136 BayVerfGH, Entscheid, v. 10. 5. 1967 (Az.: Vf. 94-VI-66), B a y V e r f G H 20, 87 = DÖV 1967,419 = D V B l . 1967,453. 137 N J W 1966, 1927, i m Anschluß an v. Mangoldt-Klein f Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, Erl. I I I 1 (S. 219). 138 N J W 1966,1928. 189 Az. dieser Entschließung: 5360-5361-500/58; vgl. dazu den Tenor der E n t scheidung des B a y V e r f G H (s. A n m . 136). 135

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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christlichen Konfession angehörten, höchstens 1,6 v. H. betrage. Von der i m Gesetz vorgesehenen Möglichkeit, die Eidesformel ohne religiöse Beteuerung zu sprechen, mache i n Bayern nur eine ganz verschwindende Minderheit Gebrauch. Aufgrund dieser soziologischen Tatsache könne der Ministerialentschließung vom 25. 6.1958 über den unmittelbaren A n laß, der i n Bayern zur Ausstattung der Gerichtssäle m i t Kreuzen geführt habe, hinaus entnommen werden, daß die Kreuze deshalb i n den Gerichtssälen angebracht worden seien, um die Zeugen, die gem. § 481 ZPO bzw. § 66 c StPO ihre Aussage grundsätzlich m i t den Worten „Ich schwöre es, so wahr m i r Gott helfe" bekräftigen wollen, eindringlich i n Form dieses religiösen Symbols auf die Bedeutung des Eides hinzuweisen. Den Zeugen, die unter Anrufung Gottes die Wahrheit ihrer Aussage m i t dem Eid bekräftigten, sollte damit anschaulich auch ihre Verantwortung vor dem von ihnen als höchstes Wesen anerkannten Herrgott vor Augen geführt werden. Dies aber müsse als ein durchaus sachlich gerechtfertigter Grund für die Anbringung der Wandkreuze angesehen werden 1 4 0 . Den zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallenden Personen, die sich nicht zu einer der christlichen Konfessionen bekennen, könne es, wie der E r s t e Zivilsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg erklärt, ohne weiteres zugemutet werden, sich m i t dem Vorhandensein des nicht für sie bestimmten Kreuzes abzufinden 141 . Zwar kann es entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg nicht zu den Aufgaben des zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staates der Bundesrepublik Deutschland gehören, durch Aufstellen oder Anbringen eines religiösen Symbols denjenigen Staatsbürgern, die vor Gericht eine religiöse Eidesform gebrauchen, ihre 140

N J W 1966,1928. O L G Nürnberg, N J W 1966,1928; BayVerfGH 20, 87 (95). Auch das Bundesverfassungsgericht wurde m i t der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Ausstattung von Gerichtsstätten m i t Wandkreuzen i n einer allerdings nicht zur Entscheidung gelangten Verfassungsbeschwerde befaßt. I m Rahmen einer Verwaltungsstreitsache v o r dem Verwaltungsgerichtshof Düsseldorf hatte ein i n London lebender jüdischer Rechtsanwalt den A n t r a g gestellt, das i m Gerichtssaal befindliche Wandkreuz zu entfernen. Gegen den ablehnenden Bescheid des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen v o m 29. 4.1969 (Az.: I Β 1/304 Nr. 2/69) u n d gegen die Weigerung der 6. K a m m e r des V e r w a l tungsgerichts Düsseldorf, f ü r die Dauer der mündlichen Verhandlung i n dieser Streitsache das Wandkreuz zu entfernen, erhob der Rechtsanwalt Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Durch einstweilige Anordnung v o m 29. 10. 1969 (Az. 1 B v R 308/69), nicht veröffentlicht, hat daraufhin das Bundesverfassungsgericht gem. § 32 BVerfGG angeordnet, daß bis zu seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf i n der angegebenen Sache nicht durchgeführt werden dürfe. Wegen der zwischenzeitlich durch Verwaltungsverfügung erfolgten Entfernung der Kruzifixe aus den Gerichtssälen der Verwaltungsgerichte des Landes Nordrhein-Westfalen u n d der damit entfallenen Beschwer des Beschwerdeführers wurde das Verfahren v o m Bundesverfassungsgericht nicht mehr entschieden. 141

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Verantwortung vor dem von ihnen als höchstes Wesen anerkannten Herrgott vor Augen zu führen. M i t dieser Erwägung ließe sich die bayerische Justiz-Ministerial-Entschließung vom 25. 6. 1958 nicht rechtfertigen. Das Gericht verdient aber Zustimmung, wenn es gegen Schluß seiner eingehenden Begründung darauf hinweist, daß es sich bei der Ausstattung der bayerischen Gerichtssäle mit Wandkreuzen nicht um eine Frage der Verletzung des Grundrechts der Gewissensfreiheit der sich zu keiner christlichen Konfession bekennenden Staatsbürger, sondern um ein Problem der Toleranz handelt. M i t Recht erklärt das Gericht, daß der Staat durch die Anbringung der Wandkreuze weder einen Glauben „bekenne" oder „verkünde" noch den Glauben oder Unglauben seiner Bürger „bewerte". Er trage damit einfach der Tatsache Rechnung, daß die ganz überwiegende Mehrheit seiner Bevölkerung sich zur christlichen Religion bekenne und vor Gericht den Eid m i t der religiösen Beteuerungsformel „so wahr mir Gott helfe" leiste 1 4 2 . Von den Parteien und Zeugen könne daher ohne Verletzung des Gleichheitssatzes verlangt werden, daß sie auch i m Gerichtssaal die christlichen Symbole, die die religiöse Einstellung der ganz überwiegenden Mehrheit der bayerischen Bevölkerung widerspiegelten, ebenso tolerierten wie i m sonstigen täglichen Leben, wo sie ihnen ja auch auf Schritt und T r i t t begegneten 143 . IV. Die Freiheit des Gewissens in Art. 4 Abs. 1 GG 1. Die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG keine allgemeine Protektion des Gewissensvorbehalts

Der Inhalt des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG und das Verhältnis dieses Grundrechts zu der das Recht auf Kriegsdienst142 Das verkennt A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (s. A n m . 98), S. 149 m. A n m . 15 u n d 16, der die A n b r i n g u n g von Wandkreuzen i n Gerichtssälen f ü r „objektiv verfassungswidrig" hält u n d darin offenbar einen Verstoß gegen den Grundsatz der religiösen Neutralität des Staates erblickt, jedoch auf der anderen Seite selber nicht der Auffassung ist, daß ein Schwurpflichtiger unter Berufung auf A r t . 4 GG verlangen kann, seinen E i d n u r i n einer Gerichtsstätte abzulegen, i n der sich k e i n religiöses Symbol befindet. Ebensowenig, w i e eine Verletzung des religiös-neutralen Charakters des Staates der Bundesrepublik Deutschland darin gesehen werden kann, daß die Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck bringt, das Deutsche V o l k habe sich dieses Grundgesetz „ i m Bewußtsein seiner Verantwortung v o r Gott" gegeben, k a n n es gegen den religiös-neutralen Charakter der Verfassung verstoßen, w e n n i n einem Gerichtssaal m i t Rücksicht auf die religiösen Empfindungen der großen Mehrheit der Schwörenden ein Kreuz angebracht ist. Eine Verletzung der verfassungsrechtlich gebotenen religiösen Neutralität läge nur dann vor, w e n n durch ein deutsches Gericht i m Namen der durch das Kreuz symbolisierten Religion Recht gesprochen würde. Das ist jedoch nicht der Fall. I m übrigen ist eine Einrichtung, über deren Zweckmäßigkeit u n d Zeitangemessenheit rechts- u n d vertassungspolitisch durchaus mehrere Meinungen möglich sind, deshalb noch keineswegs verf assungswidrig. 143 O L G Nürnberg, N J W 1966,1928 f.; Bay Verf G H 20,87 (94).

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Verweigerung gewährleistenden Bestimmung des Art. 4 Abs. 3 GG ist i n der rechtswissenschaftlichen Literatur noch weithin umstritten und ungeklärt 1 4 4 . Nach einer neueren, zuerst von N. Luhmann entwickelten Auffassung 1 4 5 kommt diesem seinem Regelungsumfang nach umfassendsten Freiheitsrecht für das Rechtsstaatsverständnis eine „quasi-institutionelle Bedeut u n g " 1 4 6 zu. I m Sinne dieser maßgeblich von der Rechtssoziologie beeinflußten funktionalen Berachtungsweise und Deutung der Gewissensfreiheit w i r d dieses Grundrecht nicht mehr vorrangig als subjektivöffentliches Recht verstanden, sondern als Verpflichtung der öffentlichen, hoheitlich handelnden Gewalt zur Bereitstellung rechtlicher Alternativlösungen für den Fall, daß eine generelle rechtliche Regelung einzelne zu gewissenswidrigem Verhalten verpflichte, es sei denn, daß es Alternativlösungen nicht gebe oder mögliche Alternativlösungen für die rechtlich verfaßte Gesellschaft sich nicht als tragbar erweisen 147 . Systematische Ausgangsbasis der verfassungsrechtlichen Betrachtungsweise der Gewissensfreiheit ist danach nicht mehr das Grundrecht der Glaubens- bzw. der Religionsfreiheit. Vielmehr erscheint nach dieser Auffassung die Freiheit des religiösen Glaubens und des religiös oder weltanschaulich motivierten Gewissens als Äußerung und Unterfall einer allgemeinen — nicht religiös verstandenen — Überzeugungs- und Gewissensfreiheit 148.

144 Vgl. H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, B e r l i n 1958, S. 117 ff., 210 ff., der die „Geheimsphäre" (a.a.O., S. 212) des Menschen als neues Schutzobjekt der Gewissensfreiheit einführen w i l l ; nach einer anderen Auffassung sollen sämtliche menschlichen Handlungen bzw. Unterlassungen i m Einzelfall vom Grundrecht der Gewissensfreiheit umfaßt werden können; i n diesem Sinne v o r allem W. Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus, München 1963, S. 67 ff.; ders., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, i n : K . Forster (Hrsg.), Staat u n d Gewissen. Studien u n d Berichte der Kathol. A k a demie i n Bayern. Heft 8, München 1959, S. 17 ff., S. 23 ff.; F. W. Witte, Der Gewissensbegriff des A r t . 4 I I I GG, AöR, Bd. 87 (1962), S. 187 ff.; dagegen ζ. B. Ekkeh. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, Tübingen 1968, § 33 V 1, der m i t Recht betont, daß die Gewissensfreiheit ein „Spezialfall der Glaubensfreiheit" ist, u n d die Überzeugungen des einzelnen von den Konsequenzen schützt, die sich aus seinem Glauben f ü r sein Verhalten ergeben; a.a.O., S. 194. 145 N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR, Jg. 90 (1965), S. 257 u n d 280 f. 146 So H. J. Scholler, Gewissen, Gesetz u n d Rechtsstaat, DÖV 1969, S. 532. 147 I n diesem Sinne A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (s. Anm. 1), S. 41, m i t einer Reihe v o n Beispielen, a.a.O., S. 38 ff.; ferner R. Bäumlin, Die Gewissensfreiheit, Staatsrechtslehrertagung 1969. Leitsatz 6.3, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 31; E. W. Böckenförde, Leitsatz 15, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 84. 148 Vgl. R. Bäumlin, Die Gewissensfreiheit, Leitsatz 4.1, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 30; die dem i n diesem Sinne verstandenen Grundrecht der Gewissensfreiheit zukommende F u n k t i o n ist jedoch nach Bäumlin i n Anbetracht der i m Grundgesetz sehr weitgehenden Grundrechtsdifferenzierung gering; sie ist jedoch nach Bäumlin f ü r den Schutz der personalen Existenz des Menschen

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Jedoch sehen sich d i e V e r t r e t e r dieser A u f f a s s u n g , die i n der Gewissensf r e i h e i t des A r t . 4 A b s . 1 G G e i n g r u n d s ä t z l i c h die B e t ä t i g u n g s f r e i h e i t f ü r alle — u n a b h ä n g i g v o n i h r e r r e l i g i ö s e n oder w e l t a n s c h a u l i c h e n M o t i v a t i o n — Gewissensentscheidungen gewährleistendes Gundrecht e r b l i k k e n , v o r d i e N o t w e n d i g k e i t gestellt, diese F r e i h e i t d u r c h — j e nach d e m s u b j e k t i v e n S t a n d o r t u n d der T o l e r a n z g r e n z e zulässig erachtete — enger oder w e i t e r gezogene S c h r a n k e n w i e d e r e i n z u g r e n z e n 1 4 0 . I m Gegensatz z u diesen l i t e r a r i s c h e n A u f f a s s u n g e n h ä l t d i e R e c h t sprechung a m ü b e r k o m m e n d e n V e r s t ä n d n i s des G r u n d r e c h t s der G e w i s s e n s f r e i h e i t des A r t . 4 A b s . 1 G G f e s t 1 5 0 u n d v e r t r i t t eine judiziell praktikable, restriktive Interpretation der Gewissensfreiheit im Sinne einer religiös oder weltanschaulich motivierten bekenntnisbezogenen Entscheidungsund Handlungsfreiheit. Nach der Auffassung der Rechtsprechung k a n n das G r u n d r e c h t d e r G e w i s s e n s f r e i h e i t des A r t . 4 A b s . 1 G G n i c h t i m S i n n e einer „ a l l g e m e i n e n P r o t e k t i o n des Gewissensvorbe-

gegen staatliche Verplanung keineswegs bedeutungslos. Vgl. Leitsatz 7, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 32 = DÖV 1969, S. 709. Erhebliche Bedenken gegen die Tendenz, neben dem Grundrecht der w e l t anschaulichen Freiheit (Religionsfreiheit) ein übergreifendes neues Recht der Gewissensfreiheit zu entwickeln, äußert U. Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung der Gewissensfreiheit. E i n Bericht v o n der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer i n Bern 1969, i n : ZevKR, Bd. 15 (1970), S. 243, bes. S. 254 f. M i t Recht weist Scheuner darauf hin, daß dabei eine Neigung entstehen könnte, i m Rahmen säkularisierender Tendenzen der Gewissensfreiheit eine Stelle anstatt der Religionsfreiheit einzuräumen oder gar Ausprägungen der Religionsfreiheit v o n i h r aus überlagernd auszudeuten. A n die Stelle der Religionsfreiheit, deren Bedeutung auch als Schutz geistigen Lebens i n einer Welt, die zuweilen heute säkularer Intoleranz zuneige, eher i m Zunehmen begriffen sei, träte dann ein Freiheitsrecht, das v o n seiner H e r k u n f t aus neueren u n d stark individualistischen Auffassungen her n u r eine i n d i v i duelle weltliche Selbstbezeugung sicherte, die Gewährleistung religiöser Gemeinsamkeit aber zurückdrängen würde (Scheuner, a.a.O., S. 245). 149

I n diesem Sinne zutreffend R. Zippelius, Bonner Kommentar, A r t . 4, Rdnr. 43 ff.; E.-W. Böckenförde läßt als unüberschreitbare Grenzen u n d Zwecke einer möglichen Gewissensbetätigung n u r gelten: den innerstaatlichen Friedenszustand (Gewaltverbot), den Bestand des Staates u n d die Möglichkeit der Sicherung nach außen, die Sicherung v o n Leben u n d Freiheit der Person, sowie die Gewährleistung der unbedingt zu schützenden Rechte des einzelnen. L e i t satz 13, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 84. 150 Vgl. dazu i m Recht des Deutschen Reiches nach dem Westfälischen Frieden A r t . 5 § 34 I. P. O., abgedr. bei C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums u n d des römischen Katholizismus, Tübingen, 5. A u f l . 1934, S. 379; vgl. auch diese Arbeit, Kap. 4, A n m . 2; ferner bei Johann Jacob Moser, V o n der Teutschen Religions-Verfassung, Franckfurt u n d Leipzig 1774, S. 36: „Die Gewissensfreiheit bestehet überhaupt darinn, w a n n der Mensch i n Religionssachen denken u n d handeln darf, w i e er w i l l ; ohne von der geistlichen oder weltlichen Obrigkeit darinn verhindert, oder deswegen bestrafet zu werden". F ü r die Weimarer Zeit vgl. G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (s. A n m . 16), A r t . 135, Erl. 4 (S. 619); f ü r das Grundgesetz v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, Erl. I I 3 (S. 216).

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halts" interpretiert werden 1 5 1 . Die Erfüllung verfassungsgemäßer gesetzlicher Verpflichtungen kann deshalb nicht unter Berufung auf das i n Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht der Gewissensfreiheit verweigert werden, unabhängig davon, ob die entgegenstehende Gewissensentscheidung auf religiösen, allgemein-sittlichen, berufsethischen oder politischen Motiven oder Erwägungen beruht 1 5 2 . 2. Einzelfälle der Rechtsprechung

a) Weigerung zur Mitwirkung bei Spruchkammertätigkeit aus Gewissensgründen Daß unter Berufung auf eine entgegenstehende Gewissensentscheidung nicht die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen verweigert werden dürfe, hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof i n einem Urteil vom 17. 12. 1947 festgestellt 153 . Ein Rechtsanwalt und Notar, der auf Grund des hessischen Gesetzes vom 18. 4. 1947 „über die staatbürgerliche Pflicht zur Mitarbeit bei der Durchführung des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946" (GVB1. S. 17) als öffentlicher Kläger bei einer Berufungskammer verpflichtet worden war, hatte geltend gemacht, daß es für ihn einen Gewissenszwang bedeuten würde, wenn er bei der Durchführung des Befreiungsgesetzes m i t arbeiten müßte. Zutreffend führt der Hessische Verwaltungsgerichtshof dazu aus, dem Gesetz gegenüber könne sich niemand darauf berufen, daß seine Beachtung i h n i n einen Gewissenskonflikt bringen würde. A r t . 9 der Hess. Verfassung vom 1. 12. 1946, der die Freiheit des Gewissens garantiere („Glaube, Gewissen und Überzeugung sind frei"), sei keineswegs dahin zu verstehen, daß die Überzeugung des Betroffenen schwerer wiege als die ethische Pflicht der Gesetzesbeachtung. Eine solche Auffassung würde zu schwersten Erschütterungen der Rechtsordnung führen. Einzig aus dem Grund, weil das Befreiungsgesetz vom 18. 4.1947 i n § 1, Ziff. 2 i n unmittelbarem Anschluß an die Verpflichtung zur Mitarbeit den Satz an die Spitze gestellt habe, „ein Gewissenszwang darf nicht ausgeübt werden", und das Gericht keinen Zweifel daran hege, daß die Ausführungen

151 Zust. U. Scheuner, Pressefreiheit, W D S t R L , Heft 22 (1965). S. 48 m i t A n m . 140 u. S. 7 m i t A n m . 22; i m gleichen Sinne auch H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 193, der den Unterschied zwischen einer allgemeinen Gewissensklausel u n d dem Grundrecht der Gewissensfreiheit deutlich macht. 152 Über die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Gewissensfreiheit auf das Gebiet des Arbeitsrechts u n d generell auf die E r f ü l l u n g schuldrechtlicher Verpflichtungen vgl. Kap. 13 u n d 14 dieser Arbeit. 153 Hess. V G H , U r t . v. 17. 12. 1947 (Az.: Ο Nr. 31/47), N J W 1947/48, S. 319, m i t zust. A n m . G. Freytag.

7 Listi

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des Klägers der Wahrheit entsprächen, stellte es ihn von der Verpflichtung zur Mitarbeit bei der Spruchkammertätigkeit frei 1 5 4 . M i t dem gleichen Problem einer Berufung auf einen Gewissenskonflikt i m Falle einer Verpflichtung zu einer zwölfmonatigen Dienstleistung bei einer Spruchkammer hatte sich der Württemberg-Badische Verwaltungsgerichtshof i n einem am 14. 1. 1948 ergangenen Urteil zu befassen 155 . Da Art. 104 der Verfassung des Landes Württemberg-Baden vom 28.11.1946 (RegBl. S. 277) vorsah, daß zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus und zur Beseitigung ihrer Folgen für eine Übergangszeit Vorschriften erlassen werden konnten, die von den Bestimmungen der Verfassung abwichen 156 , sprach sich der Gerichtshof für die „Zulässigkeit eines für eine Übergangszeit beschränkten, wenn auch unerwünschten Gewissenszwanges aus" und verpflichtete den Anfechtungskläger, seiner Verpflichtung zum Dienst an einer der Spruchkammern Nordwürttembergs nachzukommen. Der Gerichtshof vertrat allerdings i n der Begründung die Rechtsauffassung, daß sich der Anfechtungskläger auf das i n A r t . 10 Abs. 2 der Landesverfassung garantierte Grundrecht der Gewissensfreiheit hätte berufen können 1 5 7 , wenn diese Berufungsmöglichkeit i m konkreten Fall nicht durch Art. 104 der Verfassung ausgeschlossen gewesen wäre 1 5 8 . A n dieser Entscheidung des Württembergisch-Badischen Verwaltungsgerichtshofs kritisieren Nebinger 1 5 9 und Grewe 1 6 0 zu Recht, daß keine Rede davon sein könne, daß der Einzelne sich i n allen möglichen Lebenslagen m i t Erfolg auf seine Gewissensfreiheit berufen könne. Grewe äußert sogar Zweifel, ob der Verwaltungsgerichtshof sich bei seiner offensichtlich als nicht weiter problematisch empfundenen Äußerung überhaupt der Tragweite der von i h m vorgenommenen „umstürzenden Neu-Interpretation" des Grundrechts der Gewissensfreiheit bewußt gewesen sei 1 6 1 .

154

N J W 1947/48, S. 319 f. Württemberg-Bad. V G H , U r t . v. 14. 1. 1948 (Az.: P L I I 82/47), AöR, Bd. 74 (1948), S. 265. 156 A r t . 104 der Verfassung v o n Württemberg-Baden trat am 1. Januar 1949 automatisch außer K r a f t . 157 A r t . 10 Abs. 2 der Württemberg-Bad. Verf. v. 28. 11. 1946 lautete: „ A l l e Menschen genießen volle Gewissens- u n d Glaubensfreiheit. Sie können ihre Religion frei ausüben u n d sich zu Religionsgemeinschaften zusammenschließen." 158 AöR, Bd. 74 (1948), S. 265. 159 R. Nebinger, Kommentar zur Verfassung f ü r Württemberg-Baden, S t u t t gart 1948, S. 31. 160 Vgl. die k r i t . A n m . v o n W. Grewe, AöR, Bd. 74 (1948), S. 269. 181 Ablehnend auch H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 193 f. 155

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b) Verweigerung der Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen aus Gewissensgründen aa) Aussageverweigerung über politische Betätigung während der NS-Zeit Schutzobjekt des Grundrechts der Gewissenfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG und der korrespondierenden Bestimmungen der Landesverfassungen ist, wie mehrere Gerichtsentscheidungen i n Übereinstimmung m i t der deutschen verfassungsrechtlichen Tradition zeigen, nicht die Privat- und Geheimsphäre des Staatsbürgers als solche, sondern nur die religiöse und weltanschauliche Privat- und Geheimsphäre 162 . Unter Zugrundelegung dieser restriktiven Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer am 24. 2. 1950 ergangenen Entscheidung 163 die Auffassung vertreten, daß sich i n einem Strafverfahren ein Angeklagter, der sich während der NSZeit i n seiner Eigenschaft als Funktionär der NSDAP an Gewaltaktionen gegen Gegner des NS-Regimes beteiligt habe, bei Befragung durch den Vorsitzenden über seine Vergangenheit, seine Zugehörigkeit zur NSDAP und der ihr angeschlossenen Gliederungen, über Dienstränge und Funktionen und über den Stand seiner Entnazifizierung nicht auf das i m Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. gewährleistete Schweigerecht berufen könne. Die Bestimmung des A r t . 107 Abs. 5 BayVerf., daß niemand verpflichtet sei, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, gestatte keine ausdehnende Auslegung 1 6 4 . bb) Gehorsamsverweigerung eines Polizeibeamten aus Gewissensgründen Noch viel eindeutiger vertrat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Auffassung, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit nur rein religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und Handlungen schütze, i n einer Entscheidung vom 7. 11. I960 1 6 5 . Ein Polizeibeamter, der von einer Dienststrafkammer wegen Gehorsamsverweigerung zu einer Dienststraf e verurteilt worden war, hatte u. a. deswegen Verfassungsbeschwerde zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof erhoben, weil er sich durch die Ausführungen der Dienststrafkammer über die Gehorsamspflicht der Be162 163

3,4.

A . A . H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 127 f. BayVerfGH, Entscheidung v. 24.2.1950 (Az.: Vf. 144-VI-49), BayVerfGH

164 BayVerfGH 3, 4 (10); a. A . H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 128. 165 BayVerfGH, Entscheid, v . 7.11.1960 (Az.: 33-VI-60), B a y V e r f G H 13,147. *

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amten in seinem durch A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit verletzt glaubte. Die Dienststrafkammer hatte i n der Entscheidungsbegründung erklärt, daß der Beamte rückhaltlos und ohne Einschränkung dort Dienst zu tun habe, wohin er von seinen Vorgesetzten befohlen sei 1 6 6 . Der Verfassungsgerichtshof verwarf die Beschwerde mit der Begründung, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit überhaupt nicht einschlägig sei. A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. entspreche seinem Inhalt nach dem Art. 135 Abs. 1 WeimRV. Unter Glaubens- und Gewissensfreiheit i. S. dieser Vorschrift sei, wie der Gerichtshof unter Berufung auf Anschütz 1 6 7 und M i r b t 1 6 8 ausführte, unstreitig die Bekenntnisfreiheit zu verstehen gewesen. Ebenso verbürge der dem Art. 135 Abs. 1 WeimRV nachgebildete Art. 107 Abs. 1 BayVerf. „die individuelle Bekenntnisfreiheit"169. Diese Entscheidung verkennt zwar, daß, wie bereits dargelegt, dem Grundrecht der Gewissensfreiheit gegenüber der Bekenntnisfreiheit ein eigenständiger und spezifischer Gehalt zukommt und A r t . 4 Abs. 1 GG und A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. daher nicht voll inhaltsgleich sind 1 7 0 ; sie verdient aber i m Ergebnis insofern Zustimmung, als der Gerichtshof die nicht religiös oder weltanschaulich motivierten bzw. bekenntnisbezogenen Gewissensentscheidungen, Handlungen und Unterlassungen nicht dem Schutzbereich des dem Art. 4 Abs. 1 GG entsprechenden Art. 107 Abs. 1 BayVerf. zurechnet. cc) Verschweigen früherer Tätigkeit i n Fragebogen durch Beamten I n inhaltlicher Ubereinstimmung m i t den vorstehend behandelten Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs steht ein Beschluß des Bundesdisziplinarhofs vom 4. 10. 1954, i n dem dieses Gericht die Auffassung vertreten hat, daß ein Beamter i n einem Fragebogen seine frühere Zugehörigkeit zur K P D nicht mit der Begründung verschweigen dürfe, es handle sich bei einer Parteizugehörigkeit u m eine Angelegenheit, die zur Privatsphäre gehöre, i n die dem Staat jeder Eingriff verwehrt sei 1 7 1 . Bei diesem durch den Bundesdisziplinaihof am 4. 10. 1954 1ββ

BayVerfGH 13,147 (151). G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (s. A n m . 16), A r t . 135, Erl. 3,4; S. 619. 188 H. Mirbt, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, i n : H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte der Reichsverfassung. Bd. 2, B e r l i n 1930, S. 310; 322; 328. 189 BayVerfGH 13,147 (152), unter Berufung auf Nawiasky-Leusser t Die V e r fassung des Freistaates Bayern, München 1948. Erl. zu A r t . 107, S. 188; v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, Erl. I I , 3, S. 216. 170 Vgl. oben I I I 1 d, m i t A n m . 122, m. w . N. 171 B D H , Beschl. v. 4.10.1956 (Az.: I D W 1/54), JZ 1956,94 ff. 167

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entschiedenen Fall handelte es sich u m einen Postassistenten, der i m Jahre 1934 i n einem Fragebogen verschwiegen hatte, daß er i m Jahre 1920 zwei Monate der K P D angehört hatte. Der Bundesdisziplinarhof rechtfertigte in seinem Beschluß nachträglich die wegen dieser unzutreffenden Angabe i m Jahre 1935 ausgesprochene Entlassung des Postassistenten aus dem Beamtenverhältnis mit der i n dieser Verallgemeinerung sicherlich unhaltbaren Begründung, daß der Staat ganz allgemein ein berechtigtes Interesse habe, die politische Zugehörigkeit seiner Beamten zu kennen, um deren zweckmäßigste Verwendung erreichen zu können 1 7 2 . Das Recht des Staates, die Parteizugehörigkeit seiner Beamten zu erfahren, kann sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes nur auf solche Parteien erstrecken, die die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ablehnen. Zustimmung verdient diese Entscheidung des Bundesdisziplinarhof s jedenfalls insoweit, als der Senat i n der Begründung erklärt hat, daß eine frühere Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei nicht deshalb verschwiegen werden dürfe, weil es sich bei einer entsprechenden Befragung um einen unzulässigen Eingriff i n die Privat- oder Geheimsphäre i m Sinne der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG handele 1 7 3 . dd) Urnenbestattung auf Privatgrundstück Ebensowenig kann sich, wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof 174 und der Hessische Staatsgerichtshof 175 entschieden haben, auf das m i t Art. 4 Abs. 1 GG inhaltsgleiche Grundrecht aus Art. 9 der Hessischen Verfassung berufen, wer die Genehmigung zur Beisetzung einer Urne mit Aschenresten eines Verstorbenen auf einem privaten Grundstück fordert. Die Beisetzung einer Urne ist, wie der Hessische Staatsgerichtshof ausgeführt hat, weder ein positives noch ein negatives religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis. Wohl könne dem Verlangen der Beisetzung auf einem konfessionellen Friedhof, der nur für die verstorbenen Angehörigen eines bestimmten religiösen Bekenntnisses angelegt sei, Bekenntnischarakter zukommen. Das gelte jedoch nicht für öffentliche Friedhöfe. Dort ruhten nicht nur die Toten verschiedener Bekenntnisse, sondern auch die Toten nebeneinander, die zu ihren Lebzeiten keinem religiösen Bekenntnis angehört, ja sogar die Zugehörigkeit zu einem solchen ausdrücklich abgelehnt hätten. 172

JZ 1956,95. JZ 1956, 95; a. A . H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 129; vgl. zu dieser Frage auch Ad. Arndt, Muß der Beamte seine Zugehörigkeit zu einer politischen Partei offenbaren? JZ 1956, S. 81 ff. 174 HessVGH, Urt. v. 6. 7.1966 (Az.: OS I I 146/65), M D R 1967, 72. 175 HessStGH, U r t . v. 3. 7. 1968 (Az.: P. St. 470), E S V G H 19, 7 = DÖV 1968, 693 = DVB1.1969,34, m i t A n m . V. Heydt, a.a.O., S. 38 ff. 173

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Ebensowenig wie die Beisetzung einer Urne mit den Aschenresten eines Verstorbenen auf einem öffentlichen Friedhof könne daher die Beisetzung auf einem privaten Grundstück Ausdruck eines — positiven oder negativen — religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses sein. Deshalb könne auch die Freiheit des Bekenntnisses nicht durch die Verweigerung der Beisetzung auf dem eigenen Grundstück verletzt sein 1 7 6 . Ersichtlich gehen daher sowohl der Hessische Verwaltungsgerichtshof wie der Hessische Staatsgerichtshof davon aus, daß unter der in Art. 9 der Hessischen Verfassung gewährleisteten Gewissensfreiheit nur das religiös oder weltanschaulich motivierte Gewissen zu verstehen sei. Der Hessische Staatsgerichtshof erklärt i n diesem Zusammenhang i m Anschluß an die kategorische Formulierung des A r t . 9 der Hessischen Verfassung: „Glauben, Gewissen und Überzeugung sind frei", daß die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung zwar nicht auf ein inneres Verhalten beschränkt sei, sondern auch die äußere Betätigung dieser Freiheit umfasse; der Hessische Verwaltungsgerichtshof habe aber dennoch zutreffend entschieden, daß der Kläger nicht unter Berufung auf A r t . 4 Abs. 1 GG bzw. A r t . 9 der Hessischen Verfassung verlangen könne, daß die Urnenbestattung i n seinem Garten gestattet werde, w e i l Art. 9 Hess. Verf. hier nicht einschlägig sei. Damit hat der Hessische Staatsgerichtshof zugleich festgestellt, daß die Genehmigung der Urnenbestattung auch nicht unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit, wie der Kläger geltend gemacht hatte, verlangt werden könne. Nicht weil die Verweigerung der Genehmigung der Urnenbestattung auf einem Privatgrundstück eine Verletzung des Grundrechts der Glaubens« und Gewissensfreiheit bedeuten, sondern weil sie einen unzulässigen Eingriff i n das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 Hess. Verf. und des inhaltlich m i t dieser Norm übereinstimmenden A r t . 2 Abs. 1 GG darstellen würde, hat der Hessische Staatsgerichtshof i m Gegensatz zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof die Urnenbestattung i m Ergebnis zugelassen. Der Staatsgerichtshof führte dazu aus, daß das Recht der Angehörigen eines Verstorbenen, Art und Ort der Bestattung unter Achtung des letzten Willens zu bestimmen, d. h. i n dem der Würde des Menschen zugeordneten Bereiche der Totenfürsorge eine individuelle Entscheidung zu treffen, zur allgemeinen Handlungsfreiheit i m Sinne des Art. 2 Abs. 1 Hess. Verf. bzw. des mit diesem inhaltsgleichen Art. 2 Abs. 1 GG als der notwendigen Folgerung aus der Freiheit der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde gehöre 177 . I n Anbetracht der besonderen Umstände dieser Entscheidung, die nach dem Sachverhalt eine nicht religiös geprägte Bestattungsform betraf, verdient der Hessische Staats176

HessStGH, E S V G H 19, 7 (10) = DVB1.1969,34 (36). HessStGH, E S V G H 19, 7 (11) = DVB1.1969, 36; i m Ergebnis zust. V. Heydt, DVB1.1969, S. 38 ff. 177

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gerichtshof Zustimmung, wenn er das Recht der Angehörigen eines Verstorbenen, die Form und den Ort der Bestattung zu bestimmen, nicht unter die Religions- und Gewissensfreiheit, sondern unter die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 Hess. Verf. subsumiert. Andererseits ist jedoch unbestreitbar, daß i n den Fällen, i n denen die Angehörigen eines Verstorbenen ein kirchliches Begräbnis oder eine religiöse Bestattungsform wünschen, diese Entscheidung durchaus religiösen Charakter hat und als Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG anzusehen ist. ee) Ablehnung der Übernahme des allgemeinen ärztlichen Notdienstes durch Facharzt für Nervenkrankheiten I n erklärtem Gegensatz zu der von A r n d t 1 7 8 und Geiger 1 7 9 vertretenen Auffassung, daß das i n Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht mehr, wie in der Weimarer Zeit, als Synonym für die Glaubens- und Religionsfreiheit anzusehen sei, sondern „die Gewissensentscheidungen i n allen Lebensbereichen, i m öffentlichen wie i m privaten, i m politischen, i m wirtschaftlichen und i m geistigen Bereich" 1 8 0 umfasse, hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 18. 7. 1967 entschieden, daß nicht jede Gewissensentscheidung und jeder Gewissenskonflikt in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG falle 181. Ein Facharzt für Nervenkrankheiten, der gem. § 17 der Berufsordnung der Ärztekammer Nordrhein vom 29. 12. 1956 (MB1. NRW 1957, S. 725) i. d. F. v. 3. 5. 1958 (MB1. NRW 1433) und v. 15. 6. 1959 (MB1. NRW 1599) zum allgemeinen ärztlichen Notfalldienst an Sonn- und Feiertagen sowie an Mittwochnachmittagen eingeteilt worden war, hatte diese Heranziehung abgelehnt, weil er die i h m auferlegte Pflicht nicht erfüllen könne. Er begründete seine Weigerung damit, daß er bei Ausübung des Notfalldienstes nicht die Fachkenntnis und Sachkunde besäße, die dem heutigen Stand der ärztlichen Kunst entspreche. Der Zwang, auf einem Gebiet tätig werden zu müssen, das er 20 Jahre nach seiner Staatsprüfung nicht mehr i m erforderlichen Umfange beherrsche, könne zu der ständigen Besorgnis führen, am Krankenbette zu versagen, falsche Diagnosen zu stellen und ärztliche Fehldispositionen zu treffen. I n seiner richtungweisenden und für die Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit bedeutungsvollen Entscheidung erkennt das 178

Ad. Arndt, U m w e l t u n d Recht: Die Zeugen Jehovas als Prüfung unserer Gewissensfreiheit, N J W 1965,433. 179 W. Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand (s. A n m . 144), S. 52 ff. 180 So W. Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand (s. A n m . 144), S. 67. 181 BVerwG, U r t . v. 18. 7. 1967 (Az.: I C 9/66), B V e r w G E 27, 303 = N J W 1968, 218; abl. W. Berg, Grundrechtskonkurrenzen — Z u m Verhältnis der A r t . 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 u n d 12 Abs. 1 GG, i n : JuS 1969,16 (19 f.).

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Bundesverwaltungsgericht dem Arzt, von dem es annimmt, daß er sich „aus echter Gewissensnot geweigert habe, am Notfalldienst teilzunehmen" 1 8 2 , das Recht zu, unter Berufung auf den i n Art. 2 GG gewährleisteten Schutz der Persönlichkeit, zu dem auch die Freiheit der ärztlichen Gewissensentscheidung gehöre, die Teilnahme am Notfalldienst zu verweigern. Das Bundesverwaltungsgericht verdient Zustimmung, wenn es eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen den spezifisch bekenntnisbezogenen und weltanschaulich geprägten Gewissensentscheidungen, die i n Ausübung des Grundrechts der Religionsfreiheit ergehen und daher i n den Schutzbereich des Art. 4 GG fallen, und jenen zahlreichen anderen Fällen des täglichen Lebens, i n denen der Mensch ebenfalls vor die unabweisbare Situation gestellt ist, sich in sittlicher Weise zu entscheiden und damit dem an ihn mit unbedingter Verbindlichkeit ergehenden Anruf des Gewissens zu folgen. Bei diesen Gewissensentscheidungen handelt es sich jedoch nach den Vorstellungen, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender Grundanschauungen über das Wesen und die typischen Erscheinungsformen der Religion i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben 1 8 8 , nicht um eine spezifische Aktualisierung des Grundrechts der Religionsfreiheit. Wie der Senat ausführt, gehöre zum rechtlichen Schutzbereich der Persönlichkeit auch die Freiheit der Gewissensentscheidung des einzelnen. Den einzelnen verfassungsrechtlichen Normierungen, die diese freie Gewissensentscheidung gewährleisteten, liege jedoch ein durchaus verschiedenes und spezifisches geschütztes Rechtsgut zugrunde. So garantiere Art. 4 GG die Gewissensfreiheit „für den Bereich religiöser und weltanschaulicher Entscheidungen" und gewähre „insbesondere auch für die Frage des Kriegsdienstes einen besonderen Grundrechtsschutz". Diese Ausführungen des Gerichts zu Art. 4 GG lassen die Deutung zu, daß auch dem Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung des A r t . 4 Abs. 3 GG gegenüber der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG ein eigenständiger Charakter zukommt. Wiederum ein besonderer Schutzgehalt liege der Gewissensfreiheit der Abgeordneten i n Art. 38 GG zugrunde, über den der Senat ausführt, daß sich der Schutz des Gewissens als Auftrag der Verfassung ferner in der Rechtstellung des Abgeordneten zeige, der als Persönlichkeit für sich i m Parlament die Freiheit der Gewissensentscheidung in Anspruch nehmen dürfe 1 8 4 . Die Bedeutung der Gewissensentscheidung für unsere Rechtsordnung zeige sich jedoch nicht nur i n diesen besonders i m Grundgesetz hervorgehobenen Fällen. Auch i m Rahmen des Schutzes der Persönlichkeit und 182 183 184

B V e r w G E 27, 303 (307) = N J W 1968, 219. Vgl. BVerfGE 12,1 (4). B V e r w G E 27,303 (305) = N J W 1969, 219.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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ihres Rechts auf Selbstbestimmung, wie es A r t . 2 GG verbürge, sei die Gewissensentscheidung rechtlich bedeutsam. Der Beruf des Arztes sei, was i m einzelnen nicht begründet zu werden brauche, i n einem hervorragenden Maße ein Beruf, bei dem die Gewissensentscheidung des einzelnen Berufsangehörigen i m Zentrum der Arbeit stehe. I n den entscheidenden Augenblicken seiner Tätigkeit befinde sich der Arzt i n einer unvertretbaren Einsamkeit, i n der er — gestützt auf sein fachliches Können — allein auf sein Gewissen gestellt sei. I n dieser begrüßenswerten und für die weitere Entwicklung der Grundrechtsdogmatik bedeutsamen Entscheidung hat der Erste Senat des Bundesverwaltungsgerichts die sedes materiae nicht nur für die Fälle ärztlicher Gewissenskonflikte, sondern auch für alle beruf s- und sonstigen allgemein ethischen Gewissensentscheidungen in einer glücklichen Weise in Art. 2 GG gefunden. Dieses Grundrecht verbürge, wie der Senat erklärt, jedermann das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletze und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoße. Art. 2 GG binde nicht nur die spezifisch staatliche Gewalt, sondern auch Selbstverwaltungsorgane wie die Ärztekammer. Er garantiere nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit, wie sie i m wirtschaftlichen Bereich anzutreffen sei, sondern fordere auch die Achtung vor der sittlichen Persönlichkeit. Daher könnten die von dem Kläger angefochtenen Bescheide der Ärztekammer nicht aufrechterhalten werden 1 8 5 . c) Verweigerung der Vornahme und Duldung medizinisch-somatischer Eingriffe aus Gewissensgründen aa) Röntgenreihenuntersuchungen Die Frage, ob unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit gesetzlich vorgeschriebene medizinisch-somatische Eingriffe verwei185

B V e r w G E 27, 303 (308) = N J W 1968, 220. Daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t i k e l s 4 Abs. 1 GG der Gefahr ausgesetzt ist, durch mißbräuchliche Inanspruchnahme gleichsam als „Vehikel" zur Beseitigung von i m Einzelfall mißliebigen rechtlichen u n d gesellschaftlichen Zuständen benutzt zu werden, beweist ζ. B. die von einem Freiburger Rechtsanwalt erhobene u n d v o m B V e r f G am 18. 2. 1970 entschiedene Verfassungsbeschwerde über die Amtstracht der Rechtsanwälte (Az.: 1 B v R 226/69 = BVerfGE 28, 21). Der Beschwerdeführer hatte seine v o m BVerfG zurückgewiesene Beschwerde gegen die f ü r Rechtsanwälte k r a f t Gesetzes oder auch gewohnheitsrechtlich bestehende Standespflicht, v o r Gericht i n A m t s tracht (Robe) aufzutreten, u. a. auch mit einer Verletzung seines Grundrechts der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG begründet u n d geltend gemacht, sein Gewissen hindere ihn, dem ungerechtfertigten Zwang zu einer „ K l e i d e r ordnung" nachzukommen (BVerfGE 18, 21 [23]). Das BVerfG maß dieser v e r fehlten Berufung des Beschwerdeführers auf das Grundrecht der Gewissens-

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gert werden können, hat i n mehreren Fällen die Gerichte beschäftigt. Als „sachlich nicht begründet" hat i n diesem Zusammenhang der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer Entscheidung vom 13.1.1955 186 eine Verfassungsbeschwerde bezeichnet, in der ein Mitglied der in Bayern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannten Religionsgemeinschaft „Christian Science" den Antrag gestellt hatte, das bayerische Gesetz über Röntgenreihenuntersuchungen vom 6. J u l i 1953 (GVB1. S. 103) deshalb für nichtig zu erklären, weil es das i n Art. 4 GG und A r t . 107 BayVerf. gewährleistete und gem. A r t . 4 Abs. 1 GG unverletzliche Grundrecht der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit verletze. Die Verletzung dieses Grundrechts sah der Beschwerdeführer deshalb als gegeben an, weil seine Religionsgemeinschaft aufgrund ihrer Glaubenslehre die körperliche Untersuchung und Behandlung Kranker und Leidender ablehne und davon ausgehe, daß die Heilung von Krankheiten nach ihrer religiösen Überzeugung durch geistige Mittel, insbesondere durch Gebet, erfolge 1 8 7 . Wie der Beschwerdeführer ausführte, verlange das Gesetz über Röntgenreihenuntersuchungen von den durch diese Regelung Betroffenen die Vornahme bzw. die Duldung einer Handlung. Insofern deren Vornahme m i t der Glaubenslehre der Anhänger der Religionsgemeinschaft „Christian Science" i m Widerspruch stehe, werde diesen durch das Gesetz ein Verhalten zugemutet, das m i t dem aufgrund ihrer Glaubenslehre gebildeten Gewissen unvereinbar sei. Als verletztes Grundrecht kam daher bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über Röntgenreihenuntersuchungen das Grundrecht der Gewissensfreiheit i n Frage. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof geht i n dieser Entscheidung unter Berufung auf die staatsrechtliche L i t e r a t u r 1 8 8 davon aus, daß dem i n A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. gewährleisteten Recht, sich zu einem Glauben zu bekennen und seinem sittlichen Gewissen gemäß zu handeln, ebenso wie dem Art. 4 GG „gewisse seit jeher beachtete Schranken inhärent" seien 189 . Das „Grundrecht der Religionsfreiheitunter der der freiheit des A r t . 4 Abs. 1 G G zu Recht keinerlei Bedeutung bei u n d erklärte dazu lediglich, daß die Grundrechte aus A r t . 1 Abs. 1 u n d A r t . 4 Abs. 1 GG „offensichtlich nicht verletzt" seien (BVerfGE 18,21 [36]). 186 BayVerfGH, Entscheid, v. 13. 1. 1955 (Az.: Vf. 112-VII-53), BayVerfGH 8,1 = KirchE 3, 3. 187 BayVerfGH 8,1 (3) = K i r c h E 3, 3 (4). 188 B a y V e r f G H 8 , 1 (3) = K i r c h E 3, 3 (4), i m Anschluß an Nawiasky - Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern (s. A n m . 167), Erl. zu A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. ( = S. 188); u n d Nawiasky - Lechner, Die Verfassung des Freistaates Bayern. Ergänzungsband. München 1953, Erl. zu A r t . 107 Abs. 1 BayVerf. ( = S. 116). Η . υ. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, B e r l i n u n d F r a n k f u r t a. M. 1953, A r t . 4, Erl. 2, S. 56. 189

BayVerfGH 8,1 (3) = KirchE 3,3 (5).

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Gerichtshof die Einzelgrundrechte der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit zusammenfaßt, verbiete „staatliche Intoleranz", d. h. nach der Auffassung des Gerichtshofs Gesetze, die sich gege eine religiöse Anschauung als solche richten. Das schließe jedoch nicht aus, daß der Staat die Regelung der ihm zustehenden Lebensgebiete seiner staatlichen Aufgaben für sich i n Anspruch nehme, auch wenn sich dabei Auswirkungen auf die Religionsfreiheit ergäben, sofern diese Auswirkungen nur eine unvermeidliche Nebenfolge einer zu einem anderen Zweck getroffenen gesetzlichen Regelung seien 190 . Das Gesetz über Röntgenreihenuntersuchungen bezwecke ausschließlich die Bekämpfung der T u berkulose und erlege nur aus diesem Grund den Bewohnern Bayerns die Verpflichtung auf, sich einer Röntgenuntersuchung zu unterziehen. Die religiöse Überzeugung oder Betätigung irgendeiner Glaubensgemeinschaft wolle das Gesetz nicht antasten. Wenn gleichwohl die Angehörigen der Christian Science sich i n ihrer religiösen Überzeugung beeinträchtigt fühlten, so sei dies eine außerhalb des Gesetzeszweckes liegende Folge. Das Grundrecht der Religionsfreiheit werde dadurch nicht verletzt. Die Begründung dieser i m Ergebnis billigenswerten Entscheidung vermag indes nicht voll zu überzeugen. Denn dadurch, daß das Gesetz über Röntgenreihenuntersuchungen die Mitglieder der Gemeinschaft „Christian Science" zur Teilnahme an diesen Untersuchungen verpflichtet, nötigt es sie zu einer Handlung, die einen Eingriff in ihr Grundrecht auf Gewissensfreiheit bedeutet, auch wenn dieser vom Gesetzgeber nicht intendiert ist. Die Frage, die sich hier erhebt, muß vielmehr lauten, ob die Volksgesundheit, zu deren Schutz das Gesetz über Röntgenreihenuntersuchungen erlassen wurde, für die Bevölkerung einen so überragenden Wert darstellt, daß in ihrem Interesse eine verhältnismäßig geringfügige Beschränkung der Verwirklichung der religiösen Gewissensfreiheit, wie sie in der Vornahme einer Röntgenuntersuchung zu sehen ist, gerechtfertigt werden kann 191. Diese Frage ist zu bejahen. Hier zieht der „iustus ordo publicus" 192 aus zwingenden und übergeordneten Erfordernissen des Gemeinwohls der freien, religiös motivierten Gewissensverwirklichung eine zulässige Grenze. 190

BayVerfGH 8,1 (3) = KirchE 3, 3 (5). Z u m Problem zulässiger Beschränkungen des Grundrechts der Gewissensfreiheit vgl. R. Herzog, Die Freiheit des Gewissens u n d der Gewissensverwirklichung, DVB1.1969, 718 ff., bes. S. 721. 192 Vgl. zu diesem Begriff die Declaratio de liberiate religiosa des Zweiten Vatikanischen Konzils (s. diese Arbeit, Kap. 5, A n m . 12), Nr. 2, 3, 4. Die Declaratio spricht v o m „iustus ordo publicus" bzw. von den „iustae exigentiae ordinis publici" (Nr. 4) u n d w i l l damit zum Ausdruck bringen, daß der materielle Gehalt des Begriffs „öffentliche Ordnung" bzw. „verfassungsmäßige Ordnung" v o m Staate nicht w i l l k ü r l i c h festgelegt werden darf, sondern nach objektiven und sachbezogenen K r i t e r i e n zu bestimmen ist. 191

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bb) Pockenschutzimpfung Mehrere deutsche Gerichte hatten sich i n der Nachkriegszeit m i t der Frage der Zulässigkeit des durch das Reichsgesetz vom 8. 4. 1874 (RGBl. S. 31) eingeführten Impfzwanges zu befassen. Der Bundesgerichtshof 193 , das Oberverwaltungsgericht Lüneburg 1 9 4 und das Bundesverwaltungsgericht 1 9 5 vertraten dabei übereinstimmend die Auffassung, daß der durch das Gesetz vom 8. 4. 1874 vorgeschriebene Impfzwang mit dem Grundgesetz vereinbar sei 1 9 6 , das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nicht verletze 1 9 7 und auch nicht gegen die durch das Grundgesetz geschützten Grundrechte verstoße 198 . Obgleich diese Entscheidungen den Impfzwang ausdrücklich nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung des Art. 2 Abs. 2 GG untersuchen und das Grundrecht der Gewissensfreiheit überhaupt nicht erwähnen, ist durch die Feststellung dieser Gerichte, daß der Impfzwang m i t dem Grundgesetz schlechthin vereinbar sei, implicite auch ausgesagt, daß das Gesetz vom 8. 4. 1874 auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG nicht verletze. Der Bundesgerichtshof weist i m Verlaufe seiner Ausführungen ausdrücklich auf die in England geltende Regelung hin, wo „infolge der dort bestehenden Gewissensklausel" nur etwa 50 Prozent der Kinder geimpft würden. Das habe jedoch dazu geführt, daß dort in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt kleinere Epidemien aufgetreten seien, während i n vielen anderen europäischen Ländern die planmäßige Impfung der Bevölkerung die noch i m vorigen Jahrhundert aufgetretenen Pockenepidemien zum Erlöschen gebracht habe 1 9 9 . Durch den Hinweis auf die i n der englischen Impfgesetzgebung enthaltene Gewissensklausel hat der Bundesgerichtshof zum Ausdruck gebracht, daß die Rechtsordnung der Bundesrepublik insoweit eine Berufung auf entgegenstehende Gewissensbedenken i m Falle der Impfpflicht nicht anerkenne. Auch der Impfzwang bildet somit eine i m Interesse des überragenden Gutes der Volksgesundheit erforderliche und daher legitime Beschränkung einer freien Verwirklichung des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG200. 193 Gutachten des Ersten Zivilsenats v. 25. 1. 1952 (Az.: V R G 5/51), abgedr. i n BGHSt 4, 375. 194 OVG Lüneburg, U r t . v. 18.5.1955 (Az.: I V A 183/54), D V B l . 1955, 539 = DÖV 1956,158. tee BVerwG, U r t . v. 14. 7.1959 (Az.: I C 170/56), B V e r w G E 9,78. 196

B V e r w G E 9,78 (79). BGHSt 4, 375 (376). 198 OVG Lüneburg, D V B l . 1955,539 (540). 199 BGHSt 4, 375 (378) ; zitiert auch i n B V e r w G E 9, 78 (80) = N J W 1959,2326. 200 I m Ergebnis zust. A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (s. A n m . 1), S. 138 f.; a. A . R. Herzog, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 191), D V B l . 1969,722, der hier f ü r eine größere Liberalität des Staates plädiert. 197

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cc) Verweigerung der Zustimmung zu lebensnotwendiger Blutaustauschtransfusion an K i n d durch sorgeberechtigten Vater Daß ein Vater die Zustimmung zu einer für die Rettung seines Kindes unerläßlichen Blutaustauschtransfusion nicht unter Berufung auf eine religiös motivierte entgegenstehende Gewissensentscheidung verweigern darf, hat das Oberlandesgericht Hamm i n einem eingehend und überzeugend begründeten Urteil vom 10. 10. 1967 entschieden 201 . Das Oberlandesgericht Hamm hatte i n diesem Urteil die Frage zu prüfen, ob ein Vater, ein Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, von der Vorinstanz, der Strafkammer eines Landgerichts, zu Recht wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 330 c StGB verurteilt worden war, weil er sich unter Berufung auf seine religiöse Überzeugung geweigert hatte, die aufgrund seines Personensorgerechts erforderliche Zustimmung zu einer Blutaustauschtransfusion an seinem erst zwei Tage alten Kinde zu erteilen. Die sofortige Vornahme eines Blutaustausches wurde von dem behandelnden Arzt als das einzige M i t t e l angesehen, um das K i n d vor dem Tode oder bleibenden schweren körperlichen oder geistigen Schäden zu bewahren. Das K i n d konnte schließlich nur dadurch gerettet werden, daß der Chefarzt des Krankenhauses, i n dem sich das K i n d befand, den zuständigen Vormundschaftsrichter benachrichtigte, der bald darauf i m Krankenhaus erschien. Obwohl der Vormundschaftsrichter dem Vater eindringlich vorhielt, daß er sich sogar strafbar mache, wenn er seine Zustimmung nicht erteile, verweigerte der Vater nach wie vor beharrlich die Zustimmung zur Vornahme des Blutaustausches. Der Vormundschaftsrichter entzog schließlich dem Vater und dessen Ehefrau das Personensorgerecht und bestellte den Chefarzt zum Sorgerechtspfleger über das Kind. Dieser veranlaßte die sofortige Durchführung der Blutaustauschtransfusion. Dadurch konnte das Leben des Kindes gerettet werden 2 0 2 . Zu dem Vorbringen der Revision, die unter Hinweis auf K . Peters 2 0 3 die Ansicht vertreten hatte, die Gewissensentscheidung des angeklagten Vaters müsse respekiert und es dürfe von i h m auch nicht verlangt werden, gegen sein Gewissen zu handeln, erklärte das Gericht unter H i n weis auf die Judikatur mehrerer Oberlandesgerichte zur Frage der Strafbarkeit der Verweigerung des Ersatzdienstes aus Gewissensgründen 2 0 4 und unter Berufung auf H. Welzel 2 0 5 , daß diese Auffassung „ i n 201

O L G Hamm, U r t . v. 10. 10. 1967 (Az.: 3 Ss 1150/67), N J W 1968, 212; m i t k r i t . A n m . A. Kreuzer, N J W 1968,1201. 202 N J W 1968, 213. 203 K. Peters, Uberzeugungstäter u n d Gewissenstäter. FS f ü r H e l l m u t h Mayer, B e r l i n 1966, 257 ff. 204 O L G Stuttgart, N J W 1963, 776; O L G Bremen, N J W 1963, 1932; O L G Karlsruhe, JZ 1964, 761.

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dieser Allgemeinheit" nicht zutreffe. Auch i m Falle des religiösen Gewissenstäters müsse der Grundsatz gelten, daß das Recht um des Schutzes derer willen, die auf diese Ordnung vertrauten, seine Geltung nicht von der Gewissensbilligung des einzelnen abhängig machen könne. Bei einem Widerstreit von Gesetz und Gewissen sei daher dem Gewissen nicht grundsätzlich der Vorzug zu geben 206 . I m vorliegenden Fall, i n dem es u m Leben und Gesundheit des Kindes des Angeklagten gegangen sei, könne die i m Religiösen motivierte, das Leben des Kindes aufs Spiel setzende Gewissensentscheidung des Angeklagten nicht anerkannt werden. Die Berufung auf die durch das Grundgesetz gewährleistete Freiheit des Gewissens und der Religion gehe insoweit fehl 2 0 7 . I m Anschluß an die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß das Grundgesetz nicht schlechthin jede religiöse Betätigung und Überzeugung schütze, sondern nur solche, die sich bei den heutigen K u l t u r v ö l kern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben 2 0 8 , erklärt das Oberlandesgericht Hamm zutreffend, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit seine Grenze i n der allgemeinen Sittenordnung finde, die von jedem verlange, bei einem Unglücksfall Hilfe zu leisten. Diese Verpflichtung sei um so stärker, je größer die Gefährdung des Verunglückten sei und je näher der zur Hilfe Fähige dem Unfallgeschehen stehe 209 . Das Oberlandesgericht Hamm hat damit i n dieser bedeutsamen Entscheidung festgestellt, daß auch ein religiöser — ebenso wie ein politischer — Überzeugungstäter, der wisse, daß das, was er tue, nach dem geltenden Recht verboten sei, von der Strafdrohung der staatlichen Gemeinschaft nicht ausgenommen sein könne. Daß er sein Tun aufgrund seiner persönlichen, sittlichen oder religiösen — oder politischen — Überzeugung für richtig halte, sei wie der Senat erklärte, „rechtlich bedeutungslos" 2 1 0 . Auch die Erhaltung des Lebens eines Menschen, dem aufgrund gesetzlicher Verpflichtung Hilfe zu leisten ist oder für den auf205 H. Welzel, Gesetz u n d Gewissen, i n : Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages. Bd. I, K a r l s ruhe 1960, S. 383 ff.; vgl. auch die Strafzumessungserwägungen bei Überzeugungstätern i m Falle eines Ersatzdienstverweigerers, Urt. des O L G H a m m v. 14. 9. 1964, N J W 1965, 777 ff.; dort S. 778 der allerdings auf die konkrete Situation bezogene Satz: „Die Rechtsordnung hat gegenüber der Überzeugung des Täters den Vorrang." 208 H. Welzel, Gesetz u n d Gewissen (s. A n m . 205), S. 398. 207 O L G Hamm, N J W 1968, 214. 208 BVerfGE 12,1 (4). 209

O L G Hamm, N J W 1968, 214. O L G Hamm, N J W 1968, 214, i m Anschluß an B G H S t 4,1; a. Α . A. Kreuzer i n seiner k r i t . A n m e r k u n g zu diesem Urteil, N J W 1968,1202. 210

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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grund einer Garantenstellung eine besondere Sorgepflicht besteht, stellt, wie das Oberlandesgericht Hamm zutreffend entschieden hat, ein so Überragendes Rechtsgut dar, daß in dessen Interesse auch eine entgegenstehende religiös fundierte Gewissensentscheidung keine Berücksichtigung finden kann. dd) Verweigerung der Veranlassung einer Bluttransfusion an lebensgefährlich erkrankter Ehefrau durch Ehemann Auch ein Ehegatte darf, wie das Oberlandesgericht Stuttgart i n einem Urteil vom 7. 7. 1964 211 entschieden hat, die M i t w i r k u n g zu einer medizinisch indizierten Bluttransfusion, die er aufgrund seiner Garantenstellung bei dem lebensgefährlich erkrankten anderen Ehegatten zu veranlassen hat, nicht unter Berufung auf eine entgegenstehende religiös motivierte Gewissensentscheidung verweigern. Bei dem angeklagten Ehemann handelte es sich in dem vom OLG Stuttgart zu entscheidenden Fall um ein „Mitglied des evangelischen Brüdervereins", einer vom Gericht als „schwarmgeistige Sekte" 2 1 2 bezeichneten Religionsgemeinschaft. Obwohl zwei Ärzte auf die akute Lebensgefahr hingewiesen hatten, in der sich seine Ehefrau nach der Geburt ihres vierten Kindes befand und angesichts des Ernstes der Situation dringend zur Vornahme einer B l u t transfusion rieten, erwiderte der Ehemann, daß seine Frau auch ohne Krankenhausbehandlung wieder gesund werde, wenn man sich an Gott um Hilfe wende und stark i m Glauben sei. Er selbst sei daher gegen die Verbringung ins Krankenhaus und die Vornahme einer Blutübertragung. Unter dem Einfluß ihres Ehemannes erklärte auch die Ehefrau, sie lehne eine Behandlung i m Krankenhaus ab. Alle Bemühungen der beiden Ärzte, den Ehemann umzustimmen, erwiesen sich als fruchtlos. Er versuchte mit Bibelzitaten zu belegen, daß seiner Überzeugung nach Gott helfen werde und, wenn Gott nicht helfe, auch menschliche Hilfe vergebens sei. Die Frau geriet nach einigen Stunden i n Atemnot, verlor das Bewußtsein und starb kurz danach. Das Schöffengericht hatte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Vom Landgericht war er m i t der Begründung, daß keine Gewißheit bestehe, daß die Verstorbene durch eine Krankenhausbehandlung gerettet worden wäre, freigesprochen worden. Das Landgericht hatte seine Entscheidung auch damit begründet, daß dem Angeklagten nicht zu widerlegen sei, daß sich seine Ehefrau aus eigenem Entschluß gegen eine i m Krankenhaus vorzunehmende B l u t transfusion ausgesprochen habe. 211 212

O L G Stuttgart, U r t . v. 6.7.1964 (Az.: 3 Ss 124/64), M D R 1964,1024. M D R 1964,1024.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Demgegenüber vertrat das Oberlandesgericht Stuttgart die Auffassung, der Angeklagte habe seine i n § 1353 Abs. 1 BGB begründete Hilfeleistungspflicht jedenfalls dadurch verletzt, daß er es unterlassen habe, seinen Einfluß auf seine Ehefrau i m Sinne des ärztlichen Ratschlags geltend zu machen, sie nicht umzustimmen versucht und ihre ablehnende Entschließung noch durch den Hinweis auf die Lehren des Brüdervereins gefördert habe. Das Oberlandesgericht kam zu dem Ergebnis, daß sich der Angeklagte eines Vergehens der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 330 c StGB schuldig gemacht habe. Auch § 170 StGB hielt das Oberlandesgericht wegen der Vaterstellung des Angeklagten für gegeben 213 . N u r i m Ergebnis kann dem Oberlandesgericht zugestimmt werden, wenn es erklärt, daß der Angeklagte sich auch nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen könne. I m Anschluß an Hamann 214 vertritt das Gericht die A u f fassung, daß der Angeklagte und seine Ehefrau nicht i n Ausübung des Grundrechts der Bekenntnisfreiheit gehandelt haben könnten, weil ihrem Verhalten der „Charakter der Bekundung der Zugehörigkeit zu ihrer Religionsgemeinschaft" gefehlt habe 2 1 5 . Nach Hamann, dessen Ansicht sich der Senat zu eigen machte, umfaßt der Begriff der Bekenntnisfreiheit zwar jede Äußerung und jedes Verhalten, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft kenntlich machen soll. Zum „Bekenntnis" gehört nach dieser Ansicht jedoch nicht die Befolgung jeder Verhaltensvorschrift religiöser oder weltanschaulicher Gemeinschaften und insbesondere nicht solcher Handlungen, denen der Charakter einer Bekundung der Zugehörigkeit fehle. Bereits hier w i r d man zweifeln müssen, ob das Gericht nicht den Begriff des Bekenntnisses i m Sinne des A r t . 4 Abs. 1 GG zu eng gefaßt hat, da als Bekenntnis auch Äußerungen singulärer Glaubensüberzeugungen und ferner solche religiös motivierte Handlungen angesehen werden müssen, die i n Befolgung der spezifischen Morallehre einer Religionsgemeinschaft vorgenommen werden, ohne daß damit i n jedem Fall eine ausdrückliche Bekundung der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft erklärt zu werden brauchte. Vollends abzulehnen ist jedoch die Auffassung des Gerichts, wenn es, wiederum i n Anlehnung an Hamann 216, bestreitet, daß der Angeklagte überhaupt eine „Gewissensentscheidung" i. S. des Art. 4 Abs. 1 GG getroffen habe, und dies damit zu beweisen sucht, daß der Angeklagte selbst nicht geltend gemacht habe, daß die Anschauungen des Brüdervereins i h m und seiner Frau die Verbringung ins Krankenhaus und die Vor213

M D R 1964,1024. A. Hamann, Das Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland v. 23. M a i 1949. 2. Aufl., Neuwied 1961, A r t . 4, Β 2 ( = S. 101). 215 O L G Stuttgart, M D R 1964,1026. 216 A. Hamann, Das Grundgesetz (s. A n m . 214), A r t . 4, Β 2 ( = S. 101). 214

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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nähme einer Bluttransfusion verboten hätten. Hier legt das Gericht i m Anschluß an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12. I960 2 1 7 seinen Ausführungen einen Begriff der Gewissensentscheidung zugrunde, den das Bundesverfassungsgericht für die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen i m Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG entwickelt hat. I n diesem Sinne erklärt das Oberlandesgericht Stuttgart, daß sich der undifferenziert angeführte „ A r t . 4 GG" nur auf Gewissensentscheidungen mit „kategorischem Charakter" beziehe, also auf solche, die der einzelne in bestimmter Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahre, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne. Aus diesem Grunde sei die von dem Angeklagten geforderte Verhaltensweise auch nicht unzumutbar gewesen. Hier verkennt das Gericht, daß eine Handlung auch dann i n Ausübung des Grundrechts der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG erfolgen und eine echte „Gewissensentscheidung" darstellen kann, wenn es einem Angehörigen einer Religionsgemeinschaft darum zu tun ist, von mehreren Verhaltensweisen, die nach der Morallehre einer Religionsgemeinschaft zulässig sind, die seiner Uberzeugung nach „vollkommenere" zu wählen. Nach der dem Gericht vorliegenden Fallgestaltung dürften der Angeklagte und seine Ehefrau gerade von dieser Absicht erfüllt gewesen sein. Das Oberlandesgericht Stuttgart hätte deshalb seine Entscheidung dahingehend treffen müssen, daß auch für den Fall, daß der Angeklagte in vermeintlicher Ausübung seines Grundrechts auf Gewissensfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 GG gehandelt und damit eine echte Gewissensentscheidung getroffen habe, sein Verhalten nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG falle und daher von diesem Grundrecht nicht mehr umfaßt werde. Das Oberlandesgericht verdient jedoch insofern Zustimmung, als es das angefochtene Urteil aufgehoben und das Landgericht angewiesen hat, davon auszugehen, daß den Angeklagten zwar eine Hilfspflicht getroffen habe, aber zugleich auch auf die Möglichkeit hingewiesen hat, daß der Ehemann aufgrund eines Tatbestands- oder Verbotsirrtums gehandelt haben könne 2 1 8 .

217 218

8 Listi

Vgl. BVerfGE 12,45 (55). O L G Stuttgart, M D R 1964,1026.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

V. Anhang Wehrdienst- und Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen 1. Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung des Art. 4 Abs. 3 G G

a) Begriff

des Gewissens in Art. 4 Abs. 3 GG

Das durch A r t . 4 Abs. 3 GG in das deutsche Verfassungsrecht eingeführte Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war längere Zeit hindurch Gegenstand einer ebenso umfangreichen wie vorsichtig tastenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung. Die schwierige Aufgabe der Gerichte bestand vor allem darin, den Inhalt des i n Art. 4 Abs. 3 GG garantierten Grundrechts genau zu bestimmen und von dem allgemeineren Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG abzugrenzen. I m Gegensatz zum Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG, das nach der von der Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung nur spezifisch religiös oder weltanschaulich geprägte Verhaltensweisen sowie die von der staatlichen Gewalt unbeeinflußte Bildung von Vorstellungen über die Existenz und die verpflichtende Kraft des Sittengesetzes schützt, bildet A r t i k e l 4 Abs. 3 GG — rechtstechnisch betrachtet — lediglich eine grundrechtlich gesicherte Gewissensklausel 210 , die eine Freistellungsmöglichkeit von einer mit der grundgesetzlichen Ordnung prinzipiell zu vereinbarenden allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht besagt. Während die Kriegsdienstverweigerung i n denVereinigten Staaten von Amerika nur auf religiöse Gewissensgründe gestützt werden kann und auch die Staaten Australien und Finnland als Kriegsdienstverweigerungsgründe nur Motive religiöser oder gleichwertiger Natur anerkennen 2 2 0 , hat das Wehrpflichtgesetz (WehrpflG) vom 21. J u l i 1956 (BGBl. I S. 651) i n § 25 eine entsprechende Beschränkung auf religiöse Gewissensgründe nicht vorgenommen. Die sittlichen Auffassungen, Vorstellungen und Normen — i n der Literatur und Rechtsprechung zum Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung auch häufig als „Gewissensgründe" oder „Gewissensmotive" bezeichnet —, die i m Einzelfall zu Gewissenserleb219 Nach H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens (s. A n m . 144), S. 193, besteht der fundamentale Unterschied zwischen dem Grundrecht der Gewissensfreiheit u n d einer Gewissensklausel darin, daß die Gewissenfreiheit eine I n t e r vention der öffentlichen Gewalt oder sozialer Kräfte untersagt, während die Gewissensklausel eine konkrete Rechtspflicht i m Falle eines Gewissenskonfliktes ope exceptionis, also auf Antrag, suspendiert. 220 H. Geissler, Das Recht der Kriegsdienstverweigerung nach A r t . 4 Abs. I I I des Grundgesetzes. Reutlingen 1960, S. 13.

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nissen und -entscheidungen führen können, die zur Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG berechtigen, können damit sowohl religiöser oder weltanschaulicher als auch allgemein rationaler, ja sogar politischer Natur sein und somit keinerlei religiösen Bezug aufweisen 221. Andernfalls müßte es Staatsbürgern, die sich zu keiner Religion oder Weltanschauung bekennen, schlechthin verwehrt sein, sich auf das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus A r t . 4 Abs. 3 GG zu berufen, was weder aus Art. 4 Abs. 3 GG und § 25 WehrpflG abgeleitet noch m i t den Vorschriften der A r t . 3 Abs. 3 GG und 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WeimRV i n Einklang gebracht werden könnte. Da das Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG sich nur auf religiöse oder religiös motivierte Entscheidungen und Handlungen beschränkt, Art. 4 Abs. 3 GG dagegen die von der religiösen oder nichtreligiösen A r t der Motivation unabhängige Gewissensentscheidung des Wehrdienstverweigerers respektiert, kommt somit der mit Grundrechtsqualität ausgestatteten Gewissensklausel des Art. 4 Abs. 3 gegenüber dem allgemeinen Grundrecht der Gewissenfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG eine konstitutive Bedeutung zu. Art. 4 Abs. 3 GG kann daher nicht als ein bereits von A r t . 4 Abs. 1 GG mitumfaßter einzelner Anwendungsfall des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG angesehen und deshalb auch nicht aus dem Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG abgeleitet werden. Daraus folgt ferner, daß ein Verbot des Zwanges zum Wehrdienst bzw. Kriegsdienst nur in dem Umfage gilt, in dem Art. 4 Abs. 3 GG bzw. das zur Ausführung dieser Grundrechtsnorm erlassene Wehrpflichtgesetz ein solches Verbot aufstellt 222. Wie F. Klein 223 zutreffend i m Anschluß an Wernicke 2 2 4 erklärt, hätte eine systemgerechte Regelung der Kriegsdienstverweigerung i m Rahmen 221

H. Geissler (s. A n m . 220), S. 52. I n diesem Sinne O L G Karlsruhe, U r t . v. 25. 5.1964 (Az.: 2 Ss 63/64), JZ 1964, 761 (763), i m Anschluß an W. Scherer u. Th. Krekeler, Wehrpflichtgesetz, vgl. 3. Aufl., B e r l i n u n d F r a n k f u r t a. M . 1966, § 25 A n m . I I , 2; U. Scheuner, Z u r A u s führung des A r t . 4 Abs. 3 des Grundgesetzes. Gesetzgebung über Kriegsdienstverweigerung i m Ausland, DÖV 1951, S. 57 f.; ders., Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, i n : Der deutsche Soldat i n der Armee v o n morgen, M ü n chen 1964, S. 260; G. Hahnenfeld, Wehrpflichtgesetz. Kommentar. Loseblattausgabe. München 1962 ff., § 25, Rdnr. 4. Dieselbe Auffassung vertreten: BVerfGE 19, 135 (138); BVerfGE 23, 127 (132); H. Weber, Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen?, N J W 1968, 1610; a. A . W. Hamel, Glaubens- u n d Gewissensfreiheit (s. A n m . 31), S. 103 f.: „ A r t . 4 Abs. 3 stellt eine Legalinterpretation der Gewissensfreiheit dar"; ebenso H. Geissler (s. A n m . 221), S. 124 ff., der A r t . 4 Abs. 3 GG als „integrierenden Bestandteil" der allgemeinen Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG betrachtet; Ad. Arndt, A n m . zum Beschl. des BVerfG v. 4. 10. 1965 (Az.: 1 BvR 112/63) über die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzdienstpflicht des Kriegsdienstverweigerers, N J W 1965, 2195 f.; ders., Anm. zum Beschl. des BVerfG v. 5. 3. 1968 (Az.: 1 B v R 579/67), N J W 1968, 979 f.; G. Dürig, A r t . 103 GG u n d die „Zeugen Jehovas". Z u r Mehrfachbestrafung der Ersatzdienstverweigerer aus Gewissensgründen, JZ 1967,427. 222

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des Grundgesetzes i m Zusammenhang m i t Art. 26 GG erfolgen müssen. Wegen seines „ i n den Bereich der Gewissensfreiheit gehörigen Akzentes", wie K l e i n schreibt 225 , aber wohl noch mehr wegen des ebenso wie i n A r t . 4 Abs. 1 GG enthaltenen gleichlautenden Begriffs „Gewissen" und vor allem, weil die Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht ausgestaltet und daher i m Katalog der Grundrechte innerhalb der Art. 1 bis 17 GG aufgeführt werden sollte, wurde die Gewissensklausel für Kriegsdienstverweigerer dem Grundrecht des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG als besonderer Absatz angefügt. Aus dieser, systematisch betrachtet, unglücklichen Lokalisierung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen resultiert ein erheblicher Teil der Verwirrung, die i n Literatur und Rechtsprechung bei der Bestimmung dieser Vorschrift gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG festzustellen ist. Für die Einordnung des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung i n den Rahmen des A r t . 4 GG sprach zweifellos die Tatsache, daß dieses Recht sich verfassungsgeschichtlich aus der Tatsache ableitet, daß mehrere christliche Sekten auch i m Falle eines Krieges das Töten für schlechthin unsittlich und unerlaubt hielten und schließlich i n verschiedenen Ländern eine rechtliche Berücksichtigung der religiös motivierten Gewissensentscheidungen ihrer M i t glieder erreicht haben 2 2 6 . Insofern verdient Fr. Klein Zustimmung 2 2 7 , wenn er schreibt, daß es sich bei -der Kriegsdienstverweigerung, historisch gesehen, um ein von der religiösen Gewissensfreiheit abgeleitetes Grundrecht handelt. I m religiös-neutralen Staat der Bundesrepublik hat sich jedoch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gegenüber dem Grundrecht auf religiöse Gewissensfreiheit so weit verselbständigt 228 , daß es heute gegenüber A r t . 4 Abs. 1 GG als eigenständige und aus diesem Grundrecht nicht deduzierbare grundrechtliche Gewährleistung anzusehen ist.

223 Fr. Klein, i n : v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, Erl. I I 1 (S. 215). 224 Wernicke , i n : Bonner Kommentar, A r t . 4, Erl. I I 3 a (Erstbearbeitung). 225 v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, Erl. I I 1 (S. 215). 22β v g l dazu G. Leder, Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, Freiburg/Br. 1957, S. 101 f.; ferner J. Schreiber, Kriegsdienstverweigerung. Eine historische u n d rechtsvergleichende Untersuchung. Jur. Diss., Bonn 1952, S. 37 ff.; Η. Geissler, Das Recht der Kriegsdienstverweigerung (s. A n m . 220), S. 73 f. 227 ν . Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 4, V I 4 (S. 226). 228 U. Scheuner, Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, DÖV 1967, S. 588; ders., Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (s. A n m . 222), S. 260.

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b) Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung des Art. 4 Abs. 3 GG aa) Anforderungen an eine echte Gewissensentscheidung Erst i m Laufe einer längeren Reflexion ist es der Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts geglückt, den Unterschied des i n A r t . 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung und der i n Art. 4 Abs. 1 GG enthaltenen Gewissensfreiheit deutlich zu machen. I n seinem Urteil vom 24. 7.1959 229 betrachtete das Bundesverwaltungsgericht die Absätze 1 und 3 des A r t . 4 GG noch als eine Einheit und erklärte, daß das Weigerungsrecht des Art. 4 Abs. 3 GG seinem Wesen nach nichts anderes sei als ein Teil der i n A r t . 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheitsrechte. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit werde i n Art. 4 Abs. 3 GG i m Verhältnis zur Wehrpflicht lediglich ausgestaltet. Aus der Vorschrift des Art. 4 Abs. 3 GG ergebe sich daher, daß — ohne Einschränkung der Gewissensfreiheit selbst — ein Zwang zum Kriegsdienst m i t der Waffe nur dann verboten sei, wenn der Wehrpflichtige mit diesem Dienst gegen das Gebot seines Gewissens handeln würde. Den Freiheitsrechten des Art. 4 Abs. 1 GG wohne i m Hinblick auf die Wehrpflicht also die Beschränkung inne, daß sich nur derjenige darauf berufen könne, der sich durch den Kriegsdienst m i t der Waffe i n seinem Gewissen verletzt fühlen würde. Die Unverletzlichkeit des Gewissens bedeute nach A r t . 4 Abs. 1 und 3 GG jedoch nicht, daß allein um ihrer Gewährleistung willen jedermann den Kriegsdienst m i t der Waffe ablehnen könne. Für die Berufung auf A r t . 4 GG gegenüber diesem Dienst stelle das Grundgesetz vielmehr an den Betreffenden die Anforderung, daß er eine Gewissensentscheidung getroffen haben müsse und daß es nicht genüge, wenn er nur andere Gründe besitze oder gar das Gewissen nur vorschütze 230 . I n diesem Urteil, in dem das Bundesverwaltungsgericht zu Recht entschieden hat, daß ein Kriegsdienstverweigerer durch die Ausforschung seiner Gewissensgründe auch dann i n keinem seiner Rechte verletzt werde, wenn diese i m konkreten Fall ausschließlich religiöser Natur seien, argumentiert das Gericht noch so, als ob die eigentliche sedes materiae des Grundrechts der Wehrdienstverweigerung des Art. 4 Abs. 3 GG i m Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG zu suchen wäre. Lediglich die Frage, ob ein Wehrpflichtiger sich i m konkreten Fall überhaupt auf A r t . 4 Abs. 3 GG i. V. m. § 25 WehrpflG berufen könne, ent-

229 BVerwG, Urt. v. 24. 7.1959 (Az.: V I I C 129/59), B V e r w G E 9, 97 = N J W 1959, 1793. 230 B V e r w G E 9,97 (99).

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scheide sich danach, ob er nachweisbar eine „wirkliche Gewissensentscheidung" i. S. des A r t . 4 Abs. 3 GG getroffen habe oder nicht 2 3 1 . Eine solche Gewissensentscheidung liegt nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3.10.1958 232 nur dann vor, wenn es sich um eine ernste sittliche Entscheidung handelt, die für den Betroffenen verbindlich ist, so daß ein Zuwiderhandeln die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen würde. Eine solche „wirkliche Gewissensentscheidung" kommt nach diesem wegen der dabei verwendeten psychologie-wissenschaftlichen Terminologie sehr schwer verständlichen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts dadurch zustande, daß das Gewissen „entweder aus sich selbst heraus oder durch die von außen kommenden Einflüsse zu einer Prüfung und Entscheidung veranlaßt" werde, wobei das Prüfungsergebnis durch sittliche, ethische oder religiöse Erwägungen bestimmt sein könne. Dagegen gewährten nach der i n diesem Urteil noch vertretenen Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts „bloße verstandesmäßige, politische oder sonstige rationale Erwägungen und Erkenntnisse" keine Rechte zu einer Wehrdienstverweigerung gem. § 25 WehrpflG. Die von außen kommenden Anregungen, die schließlich zu einer Gewissensentscheidung führen, können nach der Auffassung des Gerichts sowohl aus religiösen oder ethischen Vorstellungen kommen, sie können aber auch i n gefühlsmäßigen Erwägungen, i n weltanschaulichen Grundsätzen oder politischen Überzeugungen wurzeln. Entscheidend ist für das Gericht, daß der Betreffende unter einem „unabweisbaren Zwang seines Gewissens" handelt; es kommt daher auf die A r t der Motive nicht an, die für die Auslösung der Gewissensentscheidung maßgeblich waren. Das Gericht hält es jedoch i n dieser Entscheidung noch für ausgeschlossen, daß „bloße verstandesmäßige, politische oder sonstige rationale Erwägungen und Erkenntnisse" eine solche „ernste, sittliche Entscheidung" herbeiführen könnten, die „für den Betreffenden als innerer Zwang verbindlich" wäre, so daß „ein Zuwiderhandeln gegen diesen Zwang die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen w ü r d e " 2 3 3 . 231

B V e r w G E 9,97 (100). BVerwG, U r t . v. 3. 10. 1958 (Az.: V I I C 235/57), B V e r w G E 7, 242 = DÖV 1959, 261, m i t i m Ergebnis zust. A n m . U. Scheuner, DÖV 1959, 264 ff. 233 B V e r w G E 7, 242 (247). Eine Gewissensentscheidung i. S. des A r t . 4 Abs. 3 GG könne jedoch auch, w i e das Gericht an anderer Stelle erklärt hat, „lediglich aus dem Gefühl getroffen sein". Sie setze zwar das subjektive Bewußtsein, aber keine rationale A b w ä g u n g ihrer sittlichen Berechtigung voraus. Eine Gewissensentscheidung, wie sie gem. A r t . 4 Abs. 3 GG verlangt werde, könne somit auch dann vorliegen, w e n n der Pflichtige nicht i n der Lage sei, die Motive, die zu seiner Gewissensentscheidung geführt haben, rational u n d reflex darzulegen, w e i l i h m dazu u. U. die sprachlichen oder sonstigen Ausdrucksmöglichkeiten fehlten. So das BVerwG, Urt. v. 23. 6. 1961 (Az.: V I I C 181/60), M D R 1961, 793 = BayVerwBl. 1961, 347. Für die Frage, ob der Wehrpflichtige eine Gewissensentscheidung gegen den 232

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Auch diesem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts liegt unausgesprochen noch die Auffassung zugrunde, daß das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung einen Bestandteil oder Unterfall des allgemeineren Grundrechts des A r t . 4 Abs. 1 GG bildet. Andernfalls hätte die Unterscheidung, daß das zur Wehrdienstverweigerung berechtigende Prüfungsergebnis des Gewissens zwar durch sittliche, ethische oder religiöse, nicht aber durch bloß verstandesmäßige, politische oder sonstige rationale Erwägungen und Erkenntnisse bestimmt worden sein könne, keinen Sinn 2 3 4 . I n zwei weiteren Entscheidungen vom 27. 5. I96 0 2 3 5 und vom 17. 12. 1965 238 sah sich das Bundesverwaltungsgericht genötigt, von seiner unhaltbaren, i n dem genannten Urteil vom 3. 10. 1958 enthaltenen A u f fassung abzugehen und zu erklären, daß eine zur Verweigerung des Kriegsdienstes m i t der Waffe berechtigende Gewissensentscheidung auch durch die Betätigung des Verstandes und der Vernunft ausgelöst worden sein könne. Das Bundesverwaltungsgericht bekennt sich i n diesen beiden Urteilen zu der Ansicht, daß ein Wehrpflichtiger, der unter Berufung auf Art. 4 Abs. 3 GG und § 25 WehrpflG den Kriegsdienst m i t der Waffe verweigern wolle, solange noch keine Gewissensentscheidung getroffen habe, als er sich auf „Erwägungen der Vernunft" beschränke, denn wer nur seinen Verstand betätige, erlange dadurch alleine noch keine innere Bindung an das gewonnene Ergebnis. Es sei aber möglich, daß das als richtig und vernünftig Erkannte „zu einem inneren Widerhall" führe, das innere Bewußtsein wecke oder aufrühre und sich über die verstandesmäßige Erkenntnis hinaus „als ein inneres Wissen, als Gewissen" i m Menschen festsetze. Dann fließe das, was dem Wehrdienstverweigerer als richtig erscheine, aus seinen inneren Erkenntnisquellen und könne als das Gute

Kriegsdienst m i t der Waffe getroffen habe, ist es nach einem U r t . des B V e r w G v o m 2. 4.1970 (Az.: V I I I C 61/68), DÖV 1970, 710 = N J W 1970,1653, ohne Bedeutung, ob seine Entscheidung sich auf logische Gedankengänge stützen oder aber m i t Gründen der L o g i k widerlegen lasse u n d ob die Begründung, die er f ü r sie gebe, innerlich widerspruchsfrei sei oder nicht. I m Zweifel sei die Behauptung eines Wehrpflichtigen, er stehe unter Gewissenszwang, für dessen tatsächliches Vorliegen er die Beweislast trage, nach seiner „allgemeinen Glaubwürdigkeit" zu beurteilen; vgl. dazu i m einzelnen BVerwG, U r t . v. 10. 11. 1961 (Az.: V I I C 16/61), B V e r w G E 13, 171; BVerwG, U r t . v. 9. 11. 1962 (Az.: V I I C 55/61), DÖV 1963, 113 (Fall eines Angehörigen der „Zeugen Jehovas"); BVerwG, U r t . v. 17. 12. 1965 (Az.: V I I C 9/62), DÖV 1966, 354 (nur LS). Z u r Frage, w a n n die Unterlassung einer persönlichen Vernehmung des Kriegsdienstverweigerers eine Verletzung der Aufklärungspflicht darstellt, vgl. BVerwG, U r t . v. 31.10.1968 (Az.: V I I I C 75/67), DVB1.1970,464. 234 B V e r w G E 7, 242 (247) = N J W 1959, 353 (355). 235 BVerwG, Urt. v. 27. 5.1960 (Az.: V I I C 171/59), JZ 1960, 699 = DÖV 1960, 754 = M D R 1960,1039. 236 BVerwG, Urt. v. 17.12.1965 (Az.: V I I C 84/63), B V e r w G E 23, 98 = N J W 1966, 948.

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

für ihn zu einem sittlichen Postulat werden; darin liege geradezu das höhere Ziel der menschlichen Vernunft 2 3 7 . Damit anerkennt das Bundesverwaltungsgericht, daß neben sittlichen, ethischen oder religiösen Erwägungen auch bloße „Vernunftgründe", ζ. B. daß der Staat nicht berechtigt sei, Millionen von Menschen zu vernichten und vom Wehrpflichtigen das Töten zu fordern 2 3 8 , „Gewissensgründe" darstellen können, die den Wehrpflichtigen berechtigen, den Wehrdienst abzulehnen. Der Wehrpflichtige meine i n solchen Fällen, das Richtige getroffen zu haben. Wenn das Ergebnis für ihn zu einem unabweisbaren, innerlich verpflichtenden Gebot geworden sei, sei dies für ihn das „Gebot seines Gewissens". Daher sei er zur Verweigerung des Dienstes gem. A r t . 4 Abs. 3 GG und § 25 WehrpflG berechtigt 239 . Auch die in dem konkreten Fall von dem wehrpflichtigen Kläger vertretene Auffassung, daß wegen der Atomwaffe jede bewaffnete Verteidigung sinnlos sei und er deshalb seine M i t w i r k u n g hieran für eine unsittliche, ja verbrecherische, mit den ethischen und moralischen Grundsätzen des Abendlandes nicht zu vereinbarende Tätigkeit halten müsse, rechnet das Bundesverwaltungsgericht i n seinem Urteil vom 17. 12. 1965 zu den „Vernunftgründen", die zu einer Gewissensentscheidung führen können, die zur Wehrdienstverweigerung gem. A r t . 4 Abs. 3 GG und § 25 WehrpflG berechtige 240 .

237 B V e r w G E 23,98. 238 B V e r w G E 23,98 (99). 239 BVerwG, U r t . v. 27. 5.1960 (s. A n m . 235), JZ 1960, 699 (700). 240 B V e r w G E 23, 98 (99) = N J W 1966, 948. I n einem weiteren U r t e i l v o m 24. 4.1969 (Az.: V I I I C 93/67), D V B l . 1969, 748, hat das B V e r w G seine Auffassung zu dieser Frage einschränkend dahingehend modifiziert, daß eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst m i t der Waffe n u r dann zu einer Kriegsdienstverweigerung berechtige, wenn sie auf der Erkenntnis des Wehrpflichtigen beruhe, nicht imstande zu sein, i m Kriege m i t der Waffe einen Menschen zu töten. Über die konkreten Schwierigkeiten, „das Gewissen eines Menschen i m Wege eines justizförmigen Verfahrens beweiskräftig zu erforschen" u n d den M i ß brauch, der m i t dem Grundrecht des A r t . 4 Abs. 3 GG mittels Aufforderung zu dessen kollektiver Ausübung betrieben werden k a n n u n d über die Bestrebungen gesellschaftlicher Kräfte, die Gewissen auf diese Weise zu „organisieren u n d zu manipulieren", wobei nicht selten verfassungswidrige Zielvorstellungen die auslösenden Momente agitatorischer u n d zersetzender Bestrebungen sind, vgl. den Jahresbericht 1969 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages v. 26. 2. 1970, Bundestags-Drucksache VI/553, S. 7 ff.; über die sprunghafte Zunahme von Anträgen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vgl. neben dem Bericht des Wehrbeauftragten auch die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP im Bundestag betr. „WehrersatzdienstVgl. dazu die A n t w o r t des Bundesministers f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung v o m 23. 3. 1970, Bundestags-Drucksache VI/569.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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bb) Säkulärer Gewissensbegriff I n den beiden Entscheidungen vom 27. 5. I960 2 4 1 und vom 17.12.1965 242 hat das Bundesverwaltungsgericht die in den Urteilen vom 3. 10. 1958 243 und vom 24. 7. 1959 244 vertretene Auffassung aufgegeben, daß es sich bei dem Grundrecht des A r t . 4 Abs. 3 GG um einen Bestandteil oder Unterfall oder eine Absplitterung des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG handle. Das Bundesverwaltungsgericht hat damit seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 3 GG endgültig einen säkularen Gewissensbegriff zugrundegelegt. Das Gericht unterscheidet, wie es i n seiner Entscheidung vom 17. 12. 1965 245 erklärt, hinsichtlich der Gründe, die zu einer Gewissensentscheidung führen können, nicht mehr zwischen ethischen, religiösen, rein rationalen und politischen. Entscheidend sei, daß der i n Art. 4 Abs. 3 GG als Grund für die Ablehnung einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht anerkannte Gewissenszwang in allen Fällen auf der Überzeugung von der sittlichen Verwerflichkeit des Tötens beruhe. Die verschiedenen „Anstöße" und „Beweggründe", die i m Einzelfall zur Bildung eines Gewissenszwanges geführt hätten, könnten dagegen verschiedener A r t sein 2 4 6 . Auch die bloße Tatsache der Zugehörigkeit zu einer nach ihrer Lehre den Wehrdienst ablehnenden Religionsgemeinschaft entbindet deren Mitglieder noch nicht automatisch von der Wehrdienstpflicht. Wie das Bundesverwaltungsgericht i m Hinblick auf die Wehrpflicht eines Sonderpioniers der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas i n einem Urteil vom 8. 2. 1963 247 ausgeführt hat, darf der Staat nach der grundgesetzlichen Ordnung die Wehrdienstpflicht als eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht einführen. Damit sei es unvereinbar, daß eine Religionsgemeinschaft als solche dieses Recht verneinen könne. Die Lehren einer Religionsgemeinschaft könnten nur für deren Anhänger Verbindlichkeit beanspruchen. Diese könnten sich „als einzelne" darauf berufen, daß sie aus religiösen Gründen keinen Wehrdienst leisten dürften. Das Grundgesetz berücksichtige diese Gründe i n Art. 4 Abs. 3 GG i n Gestalt des Gewissensschutzes und achte damit auch die religiöse Freiheit und die Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften auf dem Gebiete des Glaubens. Wenn sie aber kraft dessen bestimmen könnten, ob und auf welche 241

JZ 1960,699 (s. A n m . 235). B V e r w G E 23,98 (s. A n m . 236). 243 B V e r w G E 7, 242 (s. A n m . 232). 244 B V e r w G E 9, 97 (s. A n m . 229). 245 B V e r w G E 23, 98 (s. A n m . 236). 24β B V e r w G E 23, 98; i m gleichen Sinne BVerwG, U r t . v. 15. 3.1963 (Az.: V I I C 117/61), N J W 1963,1994. 242

247

BVerwG, U r t . v. 8. 2.1963 (Az.: V I I C 92/62), N J W 1963,1169.

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

ihrer Angehörigen der Staat die Wehrdienstpflicht zu beschränken habe, wäre seine legitime Aufgabe, den staatlichen Bereich rechtlich zu ordnen, gefährdet 248 . Daß der Verfassungsrechtliche Begriff des Gewissens i n A r t . 4 einheitlich zu interpretieren sei, hat auch das Bundesverfassungsgericht i n seinem Beschluß vom 20. 11. I960 2 4 9 nachdrücklich betont. Ebenso wie das Grundrecht der allgemeinen Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG betrachtet das Bundesverfassungsgericht auch die Freiheit einer Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst m i t der Waffe i n A r t . 4 Abs. 3 GG als rechtlichen Ausdruck der Tatsache, daß das Grundgesetz die freie menschliche Persönlichkeit und deren Würde als höchsten Rechtswert anerkennt. Aus diesem Grunde sei i n Art. 4 Abs. 1 GG die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, i n denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspreche, als „unverletzlich" anerkannt 2 5 0 . A u f diesem Grundsatz beruht, wie das Bundesverfassungsgericht erklärt, auch Art. 4 Abs. 3 GG. Er habe die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur zur allgemeinen ideologischen Voraussetzung. Ohne die Begriffsinhalte des „Gewissens" i n Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 GG i n ihrer gegenseitigen Bezogenheit einer genauen Bestimmung zu unterziehen, erklärt das Gericht, daß A r t . 4 Abs. 3 GG den Begriff des freien Gewissens wieder aufnehme und ihn zu einem eigenen normativen Bestandteil erhebe. I n der Konfliktslage zwischen der Gemeinschaft, die hier mit einer besonders ernsten Forderung an ihre Bürger herantrete, und dem Einzelnen, der nur seinem Gewissen folgen wolle, räume diese Verfassungsnorm dem Schutz des freien Einzelgewissens i n bemerkenswert weitgehender Weise den Vorrang ein. Das Phänomen „Gewissen" werde, wie das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte betont, i n Art. 4 GG i m Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verstanden 251 . Das Verfassungsrecht gehe davon aus, daß die Grundlagen des politischen Zusammenlebens einheitlich für alle Staatsbürger zu bestimmen seien. Daher seien Verfassungsbegriffe für alle Bekenntnisse und Weltanschauungen gleich zu interpretieren. Das Bundesverfassungsgericht verdient volle Zustimmung, wenn es der schwierigen Aufgabe, das Phänomen „Gewissen" nach Art. 4 Abs. 3 GG i m Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs bestimmt und m i t der Definition zu umschreiben versucht hat, daß darunter ein — wie immer begründbares, jedenfalls aber — real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen sei, dessen Forderungen, Mahnungen und 248

BVerwG, N J W 1963,1170. BVerfG, Beschl. v. 20.12.1960 (Az.: 1 B v L 21/60), BVerfGE 12,45. 250 BVerfGE 12,45 (53). 249

251 BVerfGE 12, 45 (54); über die Entstehungsgeschichte des Grundrechts des A r t . 4 Abs. 3 GG vgl. JöR, N. F., Bd. 1 (1951), S. 73 ff. u n d S. 76.

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens darstellen. M i t Recht erklärt das Gericht i n diesem Zusammenhang, daß es deshalb bei der Auslegung der Bestimmungen des A r t . 4 Abs. 3 GG und des § 25 WehrpflG keiner Auseinandersetzung m i t theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Wesen und Ursprung des Gewissens bedürfe, da eine solche die Kompetenz des Richters überschritte und zudem auch rechtlich unergiebig wäre, weil über viele der dabei auftretenden Probleme in den zuständigen Disziplinen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten bestünden 252 . Dogmatisch nicht völlig überzeugend und auch nicht ganz frei von Kasuistik, aber zweifellos durch übergeordnete Gesichtspunkte i m Interesse des Bestandes der Bundesrepublik zwingend geboten sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts über die „situationsbedingte" Kriegsdienstverweigerung 253 . Wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ist die „situationsbedingte" Kriegsdienstverweigerung nicht durch das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 GG gedeckt. A r t . 4 Abs. 3 GG anerkenne nur, wie sich aus Art. 12 Abs. 2 S. 2 ergebe 254 , eine Gewissensentscheidung, die den „Kriegsdienst mit der Waffe" ablehne. Die Entscheidung müsse sich deshalb ihrem Inhalt nach gegen den Waffendienst schlechthin richten. Hieraus ergebe sich, daß derjenige das Grundrecht nicht i n Anspruch nehmen könne, der geltend mache, sein Gewissen verbiete i h m nicht den Kriegsdienst m i t der Waffe schlechthin, sondern lediglich die Teilnahme an bestimmten Kriegen, etwa am Kriege gegen bestimmte Gegner, unter bestimmten Bedingungen, i n bestimmten historischen Situationen, mit bestimmten Waffen 2 5 5 . I n den Schutzbereich des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bzw. unter die Vorschrift des § 25 S. 1 WehrpflG 2 5 8 252

BVerfGE 12,45 (54 f.). Den Einwendungen, die A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (s. A n m . 1), S. 126 f., gegen die Rechtsauffassung des BVerfG zur situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung vorbringt, k a n n n u r m i t dem Argument begegnet werden, daß der Verfassungsgeber eine so motivierte Kriegsdienstverweigerung nicht mehr unter den Schutz des A r t . 4 Abs. 3 GG stellen wollte. Insoweit findet die freie Gewissensentscheidung an den Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes eine Schranke. 254 Durch das siebzehnte Gesetz zur Änderung des GG v. 24. 6. 1968 (BGBl. I S. 709) wurde diese Bestimmung dem A r t . 12 a Abs. 2 GG als Satz 1 eingefügt. 255 BVerfGE 12, 45 (56 f.). — Z u r Frage der Abgrenzung der grundgesetzlich nicht geschützten situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung v o n der durch A r t . 4 Abs. 3 GG geschützten Kriegsdienstverweigerung vgl. das Urt. des B V e r w G v. 31.10.1968 (Az.: V I I I C 28/67), DVB1.1970, S. 464 = DÖV 1969, S. 361, Nr. 114. 253

256 § 25 Satz 1 des Wehrpflichtgesetzes v o m 21. 7. 1956 (BGBl. I S. 651) hat folgenden Wortlaut: „ W e r sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt u n d deshalb den Kriegsdienst m i t der Waffe verweigert, hat statt des Wehrdienstes einen zivilen Ersatzdienst außerhalb der Bundeswehr zu leisten."

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

fallen, wie das Bundesverfassungsgericht i n seinem Beschluß vom 20. 12. 1960 entschieden hat, neben den dogmatischen Pazifisten, denen ihr Gewissen notwendig die Teilnahme an jedem Krieg verbiete, da sie eben den Krieg selbst unbedingt und in jeder historischen Situation verwürfen, auch jene Kriegsdienstverweigerer, die es „heute und hier allgemein" ablehnten, Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, weil sie Erlebnisse oder Überlegungen dazu bestimmten, die nur für die augenblickliche historisch-politische Situation Geltung besäßen, ohne daß sie notwendig zu jeder Zeit und für jeden Krieg gelten müßten. Nicht der Inhalt, das unmittelbare Ziel der Weigerung, sondern die Motive seien bei der zweiten Gruppe von Kriegsdienstverweigerern „situationsbedingt"; deshalb seien beide Gruppen durch A r t . 4 Abs. 3 GG geschützt 257 . Wie E. W. Böckenförde i m Anschluß an Ad. Arndt ausgeführt hat, ist i m modernen Staat, u m der Achtung des Gewissens willen i n den Bereichen, bei denen sich nicht um die elementaren Fragen des innerstaatlichen Gewaltsverbotes, des Bestandes des Staates und der Möglichkeit seiner Sicherung nach außen, der Sicherheit der Person und der Gewährleistung der unbedingt zu schützenden Rechte des einzelnen handelt, ein System von Toleranzen und partiellen Entpflichtungen möglich und angebracht 258 . Bei der Gewährleistung des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung handelt es sich um einen solchen A k t echter staatlicher Toleranz, d. h. der Duldung einer anderen Überzeugung um ihrer Ernsthaftigkeit w i l l e n 2 5 9 . Wie das Bundesverfassungsgericht dazu m i t Recht anmerkt, räumt der Verfassungsgeber i n Art. 4 Abs. 3 GG i m Interesse des einzelnen Staatsbürgers, der nur seinem Gewissen folgen wolle, dem Schutz des freien Einzelgewissens i n bemerkenswert weitgehender Weise den Vorrang ein. Das sei, wie das Gericht betont, einem Staate angemessen, der eine Gemeinschaft freier Menschen sein wolle und gerade i n der Möglichkeit freier Selbstbestimmung des Einzelnen einen gemeinschaftlichen Wert erkenne 2 6 0 .

257

BVerfGE 12,45 (60). E.-W. Böckenförde, Die Gewissenfreiheit, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 84 = DÖV 1969, 710, Leitsatz 14. 259 Vgl. U. Scheuner, Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (s. A n m . 222), S. 260; ebenso G. Hahnenfeld, Fünf Jahre Recht der Kriegsdienstverweigerung, D V B l . 1962, S. 285; Scherer-Krekeler, Wehrpflichtgesetz (s. A n m . 222, § 25 I I 2 ( = S. 250) ; a. A . O. Busch, Toleranz u n d Grundgesetz, Bonn 1967, S. 69, der allerdings f ü r seine Ansicht keinen überzeugenden Beweis erbringt. 260 BVerfGE 12,45 (54). 258

6. Kap.: Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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2. Die Verweigerung des Wehrersatzdienstes

a) Die Bedeutung der Rechtsprechung zur WehrersatzdienstVerweigerung für das Gebiet der Religionsfreiheit Partielle Entpflichtungen, die der Verfassungs- bzw. der einfache Gesetzgeber zum Schutze der Gewährleistung der Unverletzlichkeit des Gewissens bestimmten Staatsbürgern ermöglicht, gewähren diesen jedoch, wie E.-W. Böckenförde mit Recht erklärt 2 6 1 , keinen Anspruch auf ersatzlose Freistellung von gesetzlich begründeten Pflichten. Die staatlichen Organe haben vielmehr das Recht und i m Sinne der Wahrung der staatsbürgerlichen Gleichheit auch die Pflicht, an Stelle der gesetzlichen Verpflichtung anderweitige „lästige" Verhaltensalternativen bereitzustellen und aufzuerlegen. Für die Wehrdienstverweigerer ist dies durch die Einrichtung des Wehrersatzdienstes geschehen. Für die vorliegende Untersuchung kommt der verhältnismäßig umfangreichen Rechtsprechung zum Problemkreis der Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen deshalb besondere Bedeutung zu, w e i l sie, soweit ersichtlich, ausschließlich Angehörige der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas betrifft, die aus religiösen Motiven auch die Ableistung des Wehrersatzdienstes verweigerten. Diese Ersatzdienstverweigerer begründeten ihr Verhalten übereinstimmend i m wesentlichen damit, daß sie aufgrund eingehenden Bibelstudiums zu der Erkenntnis gekommen seien, daß jegliche Tötung von Menschen, wie sie der Kriegsdienst mit sich bringe, gegen die Gebote Gottes verstoße und deshalb verboten sei. Infolge der gesetzlichen Verbindung des Ersatzdienstes m i t dem Wehrdienst bestehe zwischen beiden Dienstleistungen ein untrennbarer Zusammenhang. Dieser mache es ihnen unmöglich, aufgrund eines gesetzlichen Zwanges karitative Dienste für andere zu leisten. Wenn sie diesem Gebot ihres Gewissens zuwiderhandelten, würden sie das ewige Leben verlieren 2 6 2 . Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Problemkreis der Wehrersatzdienstverweigerung, denen eine Reihe oberlandesgerichtlicher Urteile vorausging, erbrachten i n der Rechtsprechung eine endgültige Klärung des Verhältnisses des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung des Art. 4 Abs. 3 GG zur „allgemeinen Gewissensfreiheit" des Art. 4 Abs. 1 GG, ferner eine genauere Bestimmung des Unterschieds zwischen Überzeugungs- und Gewissenstätern und schließlich die verfassungsgerichtliche Entscheidung der Frage, ob i n Anbetracht der Tatsache, daß das Grund261 E.-W. Böckenförde, Die Gewissensfreiheit, W D S t R L , Heft 28 (1970), S. 84 = DÖV 1969, S. 710, Leitsatz 15. 262 BVerfG, Beschl. des Ersten Senats v. 5. 3. 1968 (Az.: 1 B v R 579/67), BVerfGE 23,127 (128).

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

recht der Gewissensfreiheit eine wertentscheidende Grundsatznorm höchsten verfassungsrechtlichen Ranges darstellt, der Anspruch des staatlichen Gesetzes vor der religiös motivierten Gewissensentscheidung des Einzelnen in allen Fällen zurückzutreten habe. b) Keine Gewährleistung der Wehrersatzdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 1 GG I n einem am 4. 10. 1965 ergangenen Beschluß hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage zu befassen, ob ein als Kriegsdienstverweigerer anerkannter Wehrpflichtiger — es handelte sich dabei u m ein Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas — unter Berufung auf das in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht der Gewissensfreiheit die Ableistung des Wehrersatzdienstes verweigern könne 2 6 3 . Unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 20. 12. I960 2 6 4 , i n der sich die später vertretene Auffassung des Gerichts zu dieser Frage allerdings noch nicht zu einem solchen Grad von Bestimmtheit verdichtet hatte, daß sich ein solcher Hinweis ohne weiteres von selbst verstehen würde, erklärt der Erste Senat nunmehr kategorisch, daß Art. 4 Abs. 3 GG „die Wirkungen der Gewissensfreiheit i m Bereich der Wehrpflicht abschließend" regle und der Beschwerdeführer sich deshalb gegenüber der i n Art. 12 Abs. 2 G G 2 6 5 ausdrücklich für zulässig erklärten Ersatzdienstpflicht nicht unmittelbar auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen könne. Dieses Ergebnis folge, wie das Gericht in seinem späteren Beschluß vom 5. 3. 1968 266 in deutlich erkennbarer Reaktion gegen die K r i t i k , die Adolf Arndt an seiner Rechtsprechung geübt hatte 2 6 7 , betont, nicht aus einem „formalen Umkehrschluß", sondern aus der Auslegung der hier i n Betracht kommenden Verfassungsbestimmungen (Art. 4 Abs. 3 GG und A r t . 12 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 GG), die auf der Grundlage des Wortlauts, der Entstehungsgeschichte und des offensichtlichen Sinnes Inhalt und Umfang des i n Art. 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundrechts bestimmt habe. A r t . 4 Abs. 3 GG konkretisiere und beschränke für den Fall der Wehrpflicht abschließend die Reichweite der freien Gewissensentscheidung. Wer aus Gewissensgründen glaube, seinem Land nicht mit der Waffe 2β3 BVerfG, Beschl. des Ersten Senats v. 4. 10. 1965 (Az.: 1 B v R 112/63), BVerfGE 19, 136; m i t zust. A n m . W. Lewald, N J W 1966, 151 f.; ebenfalls zust. die A n m . von Chr.-F. Menger u n d H.-U. Erichsen, VerwArch, Bd. 57 (1966), S. 175 f.; abl. Ad. Arndt, N J W 1965, 2195 f. 264

BVerfGE 12,45 (53 f.). Durch das 17. G zur Ergänzung des GG v. 24. 6.1968 (BGBl. I S. 709) wurde die bis dahin i n A r t . 12 Abs. 2 GG enthaltene Regelung des Wehrersatzdienstes dem neu geschaffenen A r t . 12 a als Absatz 2 eingefügt. 266 BVerfGE 23,127 (132). 267 Vgl. Ad. Arndt (s. A n m . 263), N J W 1965,2195. 265

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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dienen zu können, könne dazu herangezogen werden, seinen Dienst auf andere Weise zu verrichten. Das ergebe sich aus A r t . 12 Abs. 2 Sätze 2 - 4 GG, die sich unmittelbar an A r t . 4 Abs. 3 GG sachlich anschlössen, ohne diesen i n irgendeiner Weise einzuschränken. Gegenüber der Bestrafung wegen Ersatzdienstverweigerung versage daher die Berufung auf A r t . 4 Abs. 1 GG. M i t Rücksicht auf die vom Grundgesetz hier selbst getroffene Spezialregelung könne es demnach nicht darauf ankommen, daß es sich bei der Ersatzdienstverweigerung nicht um ein Tun, sondern immer nur um ein Unterlassen handele 268 . Wie das Bundesverfassungsgericht ausführt, wäre die ausdrückliche Beschränkung des A r t . 4 Abs. 3 GG auf das Verbot eines Zwanges zum Kriegsdienst „ m i t der Waffe" schlechterdings nicht verständlich, wenn ein Verbot des Zwanges zum Kriegsdienst „ohne Waffe" auch unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 GG hergeleitet werden könnte. Noch viel weniger könne sich ein Wehrpflichtiger gegenüber der Einberufung zum Ersatzdienst, der nicht einmal notwendig Kriegsdienst sein müsse, auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen *" Θ Die Durchführung des Wehrersatzdienstes bestimmt sich somit ausschließlich nach den i n Art. 12 Abs. 2 G G 2 7 0 enthaltenen Vorschriften. Danach darf das Gesetz, das die Ersatzdienstpflicht regelt, die „Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen". Der Erste Senat interpretiert diese Bestimmung unter Verweis auf ihre Entstehungsgeschichte zutreffend dahin, daß dadurch künstlich erschwerte Vollzugsformen des Ersatzdienstes unterbunden werden sollen, die den Kriegsdienstverweigerer abschrecken und damit auf seine Entscheidung, den Wehrdienst zu leisten oder zu verweigern, einen unzulässigen Druck ausüben könnten. Eine Erweiterung des bereits i n Art. 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundrechts sei mit diesem Vorschlag jedoch nicht beabsichtigt gewesen 271 . Mehrere Oberlandesgerichte hatten bereits vor diesem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts entschieden, daß der zivile Ersatzdienst nicht unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit des A r t . 4

2β8 BVerfGE 23,127 (132). 2β9 BVerfGE 19,135 (138); vgl. dagegen die abl. A n m . v. Ad. Arndt, N J W 1965, 2195 f., der A r t . 4 Abs. 3 GG nicht als abschließende Regelung der Wehrdienstverweigerung, sondern lediglich als exemplarisch „wichtigsten Fall u einer möglichen Berufung auf die Gewissensfreiheit betrachtet u n d deshalb die Gewissensentscheidung eines Wehrersatzdienstverweigerers als durch das G r u n d recht des A r t . 4 Abs. 1 GG gewährleistet betrachtet. M i t dem BVerfG i m Ergebnis übereinstimmend W. Lewald, N J W 1966, 151 f. und Menger - Erichsen (s. A n m . 263), VerwArch, Bd. 57 (1966), S. 175 f. 270 271

Nunmehr A r t . 12 a Abs. 2 GG (vgl. A n m . 265). BVerfGE 19,135 (137 f.).

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I I . Α . Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

Abs. 1 GG verweigert werden dürfe 2 7 2 . Sie begründeten ihre Aufassung in weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung i m Anschluß an das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. 2. 1963 273 vornehmlich mit zwei Argumenten. Einmal damit, daß die Gewissensfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt stehe, daß gemäß Art. 2 Abs. 1 GG seine Ausübung nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung geschützt werde. Eine der verfassungsmäßigen Ordnung widerstreitende Gewissensentscheidung könne keine Anerkennung finden, da sie den Bestand der verfassungsmäßigen Ordnung selbst i n Frage stellen würde. Da die Ableistung des Ersatzdienstes Gegenstand der verfassungsmäßigen Ordnung sei, könne sie auch aus Gewissensgründen nicht verweigert werden 2 7 4 . Noch größeres Gewicht maßen einige Oberlandesgerichte dem zweiten Argument bei, daß durch die in Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Freiheiten des Glaubens, des Gewissens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses die staatsbürgerlichen Pflichten gem. Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WeimRV nicht beschränkt werden. Deshalb dürfe niemand unter Berufung auf seinen Glauben und sein Gewissen die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten verweigern. Das gelte grundsätzlich auch für die Wehrpflicht und die damit zusammenhängende Pflicht zur Leistung des zivilen Ersatzdienstes. Ohne die besondere Bestimmung des A r t . 4 Abs. 3 GG wäre daher auch eine Verweigerung des Kriegsdienstes m i t der Waffe unzulässig. Eine gleichartige Ausnahmeregelung für die Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes habe der Grundgesetzgeber aber nicht getroffen 2 7 5 . Beide Begründungen setzen jedoch i m Grund bereits voraus, was in den Urteilen erst noch bewiesen werden müßte. Sie umgehen die Frage, ob § 25 WehrpflG und die Vorschriften des Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst vom 14. 1. 1960 (BGBl. I S. 10; i. d. F. vom 16. 7.1965, BGBl. I S. 984) als einfache Gesetze überhaupt das Grundrecht der Gewissensfreiheit einschränken können, da ein Grundrecht durch einfaches Gesetz i n seinem sachlichen Gehalt nur eingeschränkt werden kann, wenn und soweit die Verfassung dies zuläßt 2 7 6 . Das Bundesverfassungsgericht argumentiert deshalb unter Vermeidung der bedenklichen Begründungen aus 272 O L G Stuttgart, N J W 1963, 776; O L G Bremen, N J W 1963,1932; O L G K a r l s ruhe, JZ 1964, 761; O L G Hamm, JZ 1965, 488 (Anm. K . Peters); O L G K ö l n , N J W 1965, 1448; a. A . L G Baden-Baden, zitiert i n dem U r t e i l des O L G Karlsruhe, JZ 1964, 761 ff. 273 O L G Stuttgart, Urt. v. 8. 2.1963 (Az.: 1 Ss 23/63), N J W 1963,776. 274 O L G Bremen, U r t . v. 10. 5. 1963 (Az.: Ss 18, 23/63), N J W 1963, 1933; O L G Stuttgart 1963, 776. 275 O L G Karlsruhe, JZ 1964, 761 (763); O L G Stuttgart, N J W 1963, 776; O L G Köln, N J W 1965,1448. 276 Vgl. BVerfGE 12,45 (53).

6. Kap. : Der I n h a l t der Glaubens-, Gewissens- u n d Bekenntnisfreiheit

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Art. 2 Abs. 1 GG und A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 1 WeimRV zutreffend unmittelbar aus Art 4 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 12 Abs. 2 GG277 und betont, daß sich der Beschwerdeführer gegenüber der vom Verfassungsgeber in Art. 12 Abs. 2 GG ausdrücklich für zulässig erklärten Ersatzdienstpflicht auch nicht unmittelbar auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen könne 278. c) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Bestrafung der Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes I m Einklang und i n konsequenter Fortführung seiner i n dem Beschluß vom 14. 10. 1965 279 vertretenen Auffassung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine Verfasungsbeschwerde h i n i n dem weiteren Beschluß vom 5. 3.1968 280 entschieden, daß die i n § 53 Abs. 1 des Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst i. d. F. vom 16. 7. 1965 (BGBl. I S. 984) für den Fall der Dienstflucht oder des eigenmächtigen Fernbleibens vom Ersatzdienst ausgesprochene Strafandrohung auch gegenüber einer religiös motivierten Gewissensentscheidung keinen Verstoß gegen das Grundgesetz enthalte und daher bestehen bleibe. Wie sich aus der Regelung des Art. 12 Abs. 2 Sätze 2 - 4 GG 2 8 1 , die sich unmittelbar an Art. 4 Abs. 3 GG sachlich anschließe, ergebe, versage gegenüber der Bestrafung der Wehrersatzdienstverweigerung die Berufung auf A r t . 4 Abs. 1 GG. M i t Rücksicht auf die vom Grundgesetz hier selbst getroffene Spezialregelung könne es daher auch nicht darauf ankommen, daß es sich bei der Ersatzdienstverweigerung nicht um ein Tun, sondern immer nur um ein Unterlassen handele 282 . Wegen der abschließenden Regelung der Reichweite der Gewissensentscheidung für den Fall der Wehrpflicht durch A r t . 4 Abs. 3 GG müsse eine Berücksichtigung der die Ersatzdienstverweigerung motivierenden freien Gewissensentscheidung auch i m Bereich der strafrechtlichen Schuld ausgeschlossen erscheinen 288 . Das Bundesverfassungsgericht verkennt dabei freilich nicht, daß bei einem den Ersatzdienst verweigernden Angehörigen der Gemeinschaft 277 Seit dem 17. G zur Ä n d e r u n g des GG v. 24. 6.1968 nunmehr A r t . 12 a Abs. 2 GG (vgl. A n m . 265). 278 BVerfGE 19, 135 (138); dieses Argument findet sich auch i n den Urteilen des O L G Karlsruhe, JZ 1964, 763 u n d O L G Köln, N J W 1965,1448. 279 BVerfGE 19,135. 280 BVerfGE 23,127 (s. A n m . 262). 281

Seit dem 17. G zur Änderung des GG v. 24. 6. 1968 nunmehr A r t . 12 a Abs. 2 GG (vgl. A n m . 265). 282 BVerfGE 23,127 (132). 283 BVerfGE 23,127 (Leitsatz 3, S. 1 ; 133). 9 Listi

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I I . Α. Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht i m öff. Recht

der Zeugen Jehovas i m Einzelfall eine „übermächtige Motivation" oder ein „unüberwindlicher psychischer Zwang" zu einer Denkhaltung und Bewußtseinslage führen könne, die i h m ein gesetzmäßiges Verhalten innerlich schlechthin unmöglich machen. I n einem solchen Falle wäre allerdings, wie der Erste Senat erklärt, nicht die Gewissensentscheidung dieses Zeugen Jehovas als motivierende Ursache der inneren Einstellung zum Ersatzdienst und als Triebfeder für die daraus folgende Handlungsweise rechtlich erheblich, sondern allein der tatsächlich gegebene psychische Zustand. Ob bei einem Angeklagten eine solche Lage bestehe, die u. U. die Anwendung des § 51 StGB rechtfertige, sei eine Frage der Feststellung des Sachverhalts, die allein den Strafgerichten obliege und, da es sich hierbei u m die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts handele, einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sei 2 8 4 . I m Hinblick auf die Strafzumessung betont das Bundesverfassungsgericht i n dieser für die Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit richtungweisenden und i m Ergebnis volle Zustimmung verdienenden Entscheidung, daß die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes, die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergäben und deshalb Verfassungsrang besäßen 285 , den Versuch verböten, den Gewissenstäter durch übermäßig harte Strafen als Persönlichkeit m i t Selbstachtung „zu brechen" und dadurch i n eine innerlich ausweglose Lage zu treiben, so daß er gezwungen wäre, seine Gewissensentscheidung über jede zumutbare Opfergrenze hinaus zu verfechten 286 . Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Wehrdienstverweigerung war von K. Peters wiederholt deshalb angegriffen worden, weil i n ihr zwischen dem „Überzeugungstäterder durch eine strafbare Lebensführung die Ansprechbarkeit durch sittliche Werte verloren und damit die Fähigkeit eingebüßt habe, durch Gewissensanspannung zur Unrechtserkenntnis zu gelangen 287 , und dem „Gewissenstäter (