Das Naturrechtsdenken heute und morgen: Gedächtnisschrift für René Marcic [1 ed.] 9783428453368, 9783428053360

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Das Naturrechtsdenken heute und morgen: Gedächtnisschrift für René Marcic [1 ed.]
 9783428453368, 9783428053360

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Das Naturrechtsdenken heute und morgen Gedächtnisschrift für Rene Marcic

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Das Naturrechtsdenken heute und morgen: Gedächtnisschr. für Rene Marcic / hrsg. von Dorothea Mayer-Maly; Peter M. Simons. Berlin: Duncker und Humblot, 1983. ISBN 3-428-05336-2 NE: Mayer-Maly, Dorothea [Hrsg.]; Marcic, Rene: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der tlbersetzung, für Bämtllche Beiträge vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05336 2

Das Naturrechtsdenken heute und morgen Gedächtnisschrift für Rene Marcic

Herausgegeben von Dorothea Mayer.Maly . Peter M. Simons

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Vorwort Aus Anlaß der zehnten Wiederkehr des Todestages von Rene Marcic veranstaltete das ,ehemals von ihm geleitete Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre der Universität Salzburg gemeinsam mit dem Bildungshaus St. Virgil vom 5. bis 8. Oktober 1981 in Salzburg ein Symposion. Die Vorträge, die dem Rahmenthema "Das Naturrecht heute und morgen" galten, liegen nun in diesem Band vor. Darüber hinaus wurden auch Abhandlungen von Wissenschaftlern aufgenommen, die an der Teilnahme verhindert waren, aber Werk und Person von Rene Marcic nahestanden oder deren Mitarbeit im Hinblick auf ihre hervorragende Sachkompetenz unverzichtbar schien. Die Wahl des Themas erklärt sich zum einen aus Werk und Denken von Rene Marcic, zum anderen aus der Tatsache, daß gerade in letzter Zeit die Naturrechtsdiskussion allenthalben wieder in Gang gekommen ist. Es sei an dieser Stelle besonders des Anfang 1982 verstorbenen Ilmar Tammelo gedacht, der Rene Marcic 1973 auf den Lehrstuhl nachfolgte. Seinem Bemühen und seiner Persönlichkeit als Wissenschaftler und Mensch gelang es, Gelehrte aus fast allen Teilen der Welt zu dieser Tagung in Salzburg zu versammeln. Ihm selbst war es, bereits gezeichnet durch seine todbringende Krankheit, nicht mehr vergönnt, persönlich an diesem Symposion teilzunehmen. Ein Gelingen dieses Gedächtnissymposions wäre ohne finanzielle Hilfe zum Scheitern verurteilt gewesen. Unser aufrichtiger Dank gilt den folgenden Institutionen: allen voran der Fritz Thyssen-Stiftung, aber auch der Creditanstalt-Bankverein Wien, der Osterreichischen Kontrollbank, der Osterreichischen Nationalbank, dem ORF Salzburg, den "Salzburg,er Nachrichten", dem Verband Osterreichischer Banken und Bankiers, der Stadt Salzburg und dem Osterreichischen Gewerkschaftsbund. Den größten Anteil am Zustandekommen dieser Veröffentlichung hat der Verlag Duncker & Humblot, an seiner Spitze Prof. Dr. J. Broermann. Dank schulden wir auch der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris Lodron-Universität Salzburg, die als einzige finanziell zur Drucklegung dieses Bandes beigetragen hat. Wir hoffen, daß dieses Werk zur Naturrechtsdiskussion Beitrag und Anregung sein wird. Dezember 1982

Dorothea Mayer-Maly Peter M. Simons

Foreword From October 5th - 8th 1981 a symposium was held in Salzburg to mark the tenth anniversary of the death of Rene Marcic. It was organized jointly by the Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre of the University of Salzburg, of which he was formerly Head, and the Bildungshaus St. Virgil. The talks held there, on the theme "Natural Law Today and Tomorrow", are now collected in this volume. Additional contributions are inc1uded from researchers who were unable to attend the symposium, but who either knew Marcic and his 'Work well, or whose contribution was considered indispensable in view of their learning in the field. The choice of theme may be accounted for firstly by the work and thought of Rene Marcic and secondly by the renewed interest in and discussion of natural law making itself feIt onee more on all sides. We he re partieularly remember Ilmar Tammelo, who sueeeeded to Rene Marcic's chair in 1973, and who died at the beginning of 1982. Through his efforts, professional renown and personal qualities he was able to gather for the eonferenee scholars from most parts of the world. He was himself sadly unable to see the fruits of his work, being at the time of the eonferenee already in the grip of his final illness. This memorial symposium would have been impossible without financial support. We here express our sineere thanks to the folloWling institutions: the Fritz Thyssen-Stiftung, the CreditanstaIt-Bankverein, Vienna, the Österreichische Kontrollbank, the Österreichische Nationalbank, the ORF Salzburg, the "Salzburger Nachrichten", the Verband österreichischer Banken und Bankiers, the City of Salzburg and the Österreichische Gewerkschaften. We thank the publishers Duncker & Humblot,headed by Prof. Dr. J. Broermann, for their generous finanoial support and for their work in the preparation of this publieation. Thanks are due also to the Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris Lodron-Universität Salzburg, the only institution to eontribute financially towards the printing of this volume. We hope that this work will eneourage and eontribute to the diseussion of naturallaw. Deeember 1982

Dorothea Mayer-Maly Peter M. Simons

Inhaltsverzeichnis Ilmar Tammelo:

Meine Begegnung mit Rene Marcic über das Naturrecht

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I. Zur Ideengeschichte des Naturrechts Wilhelm Raimund Beyer:

Marcic' Denkweg zu Hegel

17

Thomas Chaimowiez:

Die Idee der Erblichkeit und die gemischte Verfassung in Burkes "Reflections on the Revolution in France" .......................... 23 Georges Kalinowski:

Notions de nature ................................................

45

Hermann Klenner:

Vom ius ad bellum zum ius ad pacem ..............................

57

Helmut Kohlenberger:

Das Naturrecht in kulturparadigmatischer Perspektive... ... . .. .....

67

Christoph Link:

Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens in der deutschen Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts.............. 77 Jose Llompart:

Die geschichtliche und übergeschichtliche Unbeliebigkeit im Naturrechtsdenken der Gegenwart. Eine rechtsphilosophisch-ideengeschichtliche Skizze ........................................................ 97 Peter Putzer:

Ius naturae an der Salzburger Baroclruniversität Christoph Sehe/old:

Souveränität als Naturrechtsproblem

117

137

Peter M. Simons:

Natural Kinds and Natural Rights .................................. 195 Heinrich SiTakoseh:

Das Naturrecht und die Revolution ................................ 207 Ivanhoe Tebaldesehi:

Legal Concepts and the Rights of Men ............................ 227 Wal/gang Waldstein:

Naturrecht bei den klassischen römischen Juristen .................. 239

Inhaltsverzeichnis

8 Gong Xiangrui:

The World-View and the Natural Law Thought of the Taoist School in Ancient China .................................................. 255 11. Naturrecht. und Positivismus Edgar Bodenheimer:

Die Beziehung des Naturrechts zu den Grundwerten der Rechtsordnung .............................................................. 265 Sergio Cotta:

Six theses sur les rapports entre droit naturel et droit positif .... . . .. 273 Ernst C. Hellbling:

Die Grundrechte im Spannungsfeld zwischen Naturrecht und Positivismus (auch in österreichischer Sicht) .............................. 291 Ot/ried Höfte: Das Naturrecht angesichts der Herausforderung durch den Rechtspositivismus ....................................................... 303 Peter Koller:

Zur Verträglichkeit von Rechtspositivismus und Naturrecht .......... 337 Werner Krawietz:

Theoriesubstitution in der Jurisprudenz

359

Walter Ott:

Was heißt .. Rechtspositivismus"?

413

Chaim Perelman:

Gesetz und Recht .................................................. 427 Wol/gang Schild:

Die nationalsozialistische Ideologie als Prüfstein des Naturrechtsgedankens ......................................................... 437 Rudol/ Stranzinger:

On Natural Law and the Is-Ought-Question. Philosophical Observations ............................................................ 455 Robert Weimar:

Grundlagen einer .. Einheit" materialer Rechtsbegründung im Naturrechtsdenken und Positivismus ...................................... 473

Ota Weinberger:

Die Naturrechtskonzeption von Ronald Dworkin .................... 497 Paul Weingartner:

Auf welchen Prinzipien beruht die Naturrechtslehre? ................ 517 111. Naturrecht und Methodologie Giovanni Ambrosetti:

Wahrheit und Geltendmachung der Rechte .......................... 547

Inhaltsverzeichnis

9

Michael W. Fischer:

Wissenschaftskritik und Naturrecht. Wider die Anmaßungen eines zur absoluten Wahrheit erhobenen Szientismus .................... 557

Norbert Hoerster:

"Wirksamkeit", "Geltung" und "Gültigkeit" von Normen. Ein empiristischer Definitionsvorschlag ....................................... 585 Arthur Kaufmann:

Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik .......................................................... 597 Gerhard Luf:

Naturrechtskritik im Lichte der Transzendentalphilosophie

609

Helmut Schreiner:

Das Naturrecht bei Rene Marcic .................................... 625 Michaela Strasser:

Historizität und Normativität der kritischen Theorie. Gedanken zur Traditionsgebundenheit einer kritischen Sozialwissenschaft ........ 633 Herlinde Studer:

Begründungsprobleme des ontologischen Naturrechts

651

Rudolf Weiler:

Die Begründung eines Menschenrechts auf Frieden .................. 669

IV. Naturrecht - Mensch - Moral: Neuere Ansätze WaM H. Balekjian:

Universelles Naturrecht. Tautologie oder zeitgemäße Weiterentwicklung des Begriffs Naturrecht? ...................................... 681 Virginia Black: Relating Ius to Lex ................................................ 691 H. J. M. Boukema:

Criteria for Good Law ............................................. 713 Hans-Ulrich Evers:

Naturrecht in der deutschen Rechtsprechung ........................ 725 Vittorio Frosini:

Die Menschenrechte in der technologischen Gesellschaft ............. 737 Josef Fuchs:

Glaube, Sittlichkeit, Recht ......................................... 751 Raimund Jakob:

überleben durch Naturrecht? Zur Ergänzungsbedürftigkeit der mit der menschlichen Existenz gegebenen elementaren Normen durch das moderne Rechtsdenken ............................................ 763 Helmut Knötig:

Relevanz human ökologischer Ergebnisse für juristische Regelungen. Skizze über das "Anliegen der Naturrechtslehre" in humanökologischer Sicht ........................................................ 773

10

Inhaltsverzeichnis

Heribert Franz Köck:

Die Funktion des Naturrechts in einer pluralistischen Gesellschaft

803

Kristian Kühl:

Zwei Aufgaben für ein modernes Naturrecht ........................ 817 Hans Lenk:

Erweiterte Verantwortung. Natur und künftige Generationen als ethische Gegenstände .............................................. 833 Nicolcis L6pez-Calera:

Naturrecht und soziales Bewußtsein ................................ 847 Theo Mayer-Maly:

Die natürlichen Rechtsgrundsätze als Teil des geltenden österreichischen Rechts ...................................................... 853 Erhard Mock:

Marcic' Seinsrecht und die menschliche Normativität

865

Franz Pototschnig:

"Ius naturale in iure canonico" .................................... 877 Francesca Puigpelat:

Vom Gesetzesstaat zum Verfassungsstaat. über das rechtsphilosophische Denken von Rene Marcic ...................................... 889 Stefan Rehrl:

Naturrecht -

Seinsrecht -

Ursprungsrecht

903

Herbert Schambeck:

Naturrecht und Verfassungsrecht ................................... 911 Ilmar Tammelo:

Zum Naturrecht des naturgerechten Weges .......................... 931 Arthur F. Utz:

Auf der Suche nach der Natur des Menschen - Ein Beitrag zum Begriff der Natur in der Naturrechtslehre ............................. 941

Hans-Jürgen Wipfelder:

Naturrecht und Gewohnheitsrecht als Quellen des Verfassungsrechts 947

Anhang Rene Marcic:

Natural Law called in Question

969

Julius Stone:

Natural Law and Human Predicament in the Age of Technology .... 979 Verzeichnis der Mitarbeiter

997

Meine Begegnung mit Rene Marcic über das Naturrecht Von Ilmar Tammelo Ich erblickte einen Anlaß dieses Symposiums in dem Impuls, den Rene Marcic nicht nur zur Bewahrung, sondern vor allem zur Weiterentwicklung des Naturrechtsdenkens gegeben hat. Er hat die bleibende Aufgabe dieses Denkens eben in der Bereitstellung zeitgerechter Maßstäbe für rechtliches und sittliches Handeln gesehen, die der gegenwärtigen Situation und den voraussehbaren zukünftigen Verhältnissen sub specie rationis et amoris entsprechen. Es war mir beschert, während der letzten Monate seines Lebens mit ihm zu sein. Hier möchte ich kurz über diese Begegnung mit ihm berichten. Seinen Wunsch, ein Semester am Department of International Law and Jurisprudence in Sydney, an dem ich damals tätig war, zu verbringen, erklärte Rene damit, daß er hier mit der zum Rechtspositivismus neigenden angelsächsischen Rechtswelt nähere Bekanntsch·aft machen wollte. Es stellte sich heraus, daß er keineswegs beabsichtigte, uns zur Naturrechtslehre zu bekehren, sondern zu erfahren, wie wir a1s Bewohner dieser Welt ZUiIll Naturrechtsdenken eigentlich stünden und ob seine Ansichten gegen unser Andersdenken sich bewähren könnten. Er stellte fest, daß wir uns des gewaltigen Beitrages dieses Denkens zur Rechtskultur, aber auch seiner Irrwege durchaus bewußt waren. Weiters erfuhr er, daß wir die Etikette "Naturrecht" nicht für notwendig hielten, um das Streben nach dem sittlichen und sonst guten Recht zu kennzeichnen. In diesem Zusammenhang ist seine, in einem Gespräch mit seinen Kollegen in Sydney gemachte Äußerung zu verstehen, daß gute Naturrechtier und gute Rechtspositivisten einander brauchen. Er, so wie wir, lehnte den naturrechtlichen wie auch den rechtspositivistischen Extremismus ab und ließ sich nicht von dessen berüchtigten oder berühmten Vertretern beeindrucken. Wir waren alle mit Rene einig darin, daß ein modus vivendri zwischen einem vernünftigen und verantwortungsbewußten Naturrecht und einem ebensolchen Rechtspositivismus möglich ist. Was die Vertreter beider DenkIlichtungen eigentlich trennt, ist jeweils die bevorzugte Art und Weise des Angehens der Rechtsprobleme und gewisse Wege der Lösung dieser Probleme. So konnten sowohl Naturrechtier als auch Rechtspositivisten als Menschen mit guten Absichten und von gutem Gewissen gelten.

12

Ilmar Tammelo

Rene hat sich als ein glühender NaturrechtIer bezeichnet, doch erlaubte es ihm diese Glut, von der Naturrechtskontroverse einen gelassenen Abstand zu halten und manches von den Naturrechtlern leidenschaftlich Vorgebrachte kühl zu beurteilen, gelegentlich sogar zu verurteilen. Seine Naturrechtskonzeption war ausgesprochen dynamisch. Er teilte mit uns die Auffassung, daß ein naturrechtlicher Dogmatismus mit einem scientific mind unvereinbar ist und daß dieser Geist ein intellectus cunctatus - eine zögernde, umsichtige und weiterdenkende Vernunft ist. Den Einsatz der so verstandenen Vernunft hielt Rene besonders in der gegenwärtigen, durch Wissenschaft und Technologie zustande gebrachten menschlichen Situation für notwendig. Ein besonderer Gegenstand seiner Besorgnis war ,die durch die technologische Zivilisation entstandene Mögldchkeit des Menschen, in die biologische und psychologische Natur dermaßen einzugreifen, daß diese nicht mehr eine feste Grundlage für das seinsollende Recht gewähren würde. So erhob sich für uns das Problem, was der Mensch, den wir - w~e zu erwarten - schon in naher Zukunft gründlich umformen können, eigentlich sein soll. Uns allen war dabei unheimlich zumute, wenn wir an die Verwirrung dachten, in der sich die Welt unserer Ideale jetzt befindet. Marcic war ein Historiker von überlegener Gelehrsamkeit. Aber er war nicht verfangen in der Vergangenheit. Für ihn war die Geschichte hauptsächlich eine Quelle von verwertbaren Einsichten und von Ansätzen zum Weiterdenken - etwas, worauf wir bauen könnten und sollten, nicht aber eine Fülle unantastbarer Weisungen. Weisheit war für ihn das in jeweiligen Situationen neu zu Erringende - nicht etwas, das wir uns ohne unser Zutun einfach aneignen könnten. Rene war ein tief religiöser Mensch. Jedoch war sein Naturrechtsdenken eher säkular als religiös - dies vielleicht, weil auch er dachte, daß ein religiös geprägtes Naturrecht auf religiös anders Denkende eine befremdliche Wirkung hat. Das theonomische Naturrecht war für ihn kein echtes Naturrecht, sondern eher ein göttlicher Rechtspositivismus. Auch das anthroponome Naturrecht sagte ihm nicht zu, anscheinend, weil er sich der Ansicht anschloß, daß natura autem hominis mutabilis est, und so auch dem :guten, richtigen Recht die Aufgabe gestellt ist, die menschliche Natur selbst zu gestalten, damit der Mensch seiner Berufung, Hüter und Heger des Seins zu sein, nachkommen könnte. Die erforderliche Verankerung des Naturrechts sah Rene im Sein selbst, das heißt in der Grundverfassung der Welt, welche Verfassung der denkende Mensch ständig zu ergründen versuchen soll. Also war das e~gentliche Naturrecht für ihn Seinsrecht und seine Naturrechtskonzeption eine ontonomische.

Meine Begegnung mit Rene Marcic über das Naturrecht

13

Stark betonte Rene die Idee der Menschenwürde. Jedoch war er gegenüber der Würdelosigkeit der Menschen in ihrem tatsächlichen Verhalten und Vorgehen nicht blind für die Tatsache, daß der Mensch sich vielfach als Tor, als Feind und Henker seiner selbst und als Geißel und Parasit des Seins erwiesen hat. Es stellte sich heraus, daß Renes Konzeption der Menschenwürde eigentlich des Menschen Fähigkeit zur Vernunft bedeutet - ein Begleitumstand unserer Berufung, die übrige Natur zu hegen und zu hüten. Der Sinn, der aus der Idee der Menschenwürde sich ergebenden Gebote war mithin, die normative Grundlage zu schaffen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können. Trotz seiner ungeheuren Gelehrsamkeit war Rene ein demütiger Gelehrter. In unseren Diskussionen war er immer bereit, seine Überzeugungen zu überprüfen und auch zu revidieren. Er teilte mit uns die Ansicht, wonach argumenta plus quam testes valent, wobei er mit "argumenta" jene guten Gründe meinte, die in einer gediegenen, gelassenen Argumentation sich ergaben, und mit "testes" geschichtliche oder gegenwärtige geistige Autoritäten. Eine besonder,e Erinnerung an meine Begegnung mit Rene war sein damaliger Eifer, die Verfahren, die in Sydney zu logischen Entscheidungen im Rechtsdenken entwickelt wurden, zu erlernen. Unter Anleitung eines jüngeren, fähigen Kollegen eignete er sich erstaunlich schnell die Technik dieser Verfahren an, mit der Absicht, diese nach seiner Rückkehr nach Salzburg in seinen Lehrveranstaltungen und seiner weiteren Forschungstätigkeit zu verwenden. Wir beide hofften darauf, unsere geistige Kameradschaft fortzusetzen, dies auch in der Hoffnung, daß unser manchmal sehr abweichendes Denken im Aufeinanderprallen fruchtbringend sein werde. Nach seinem Tode habe ich versucht, diese Kameradschaft fortzusetzen und mein Möglichstes daranzusetzen, den teuren Funken zu erhalten, der dem Feuer unserer Geister entsprungen war. In diesem Sinne ist auch dieses Symposium gemeint - sein geistiges Erbe ertragbringend zu machen, in gediegener Argumentation, die sich als weiterführend erweisen wird.

I. Zur Ideengeschichte des Naturrechts

Marcic' Denkweg zu Hegel Von Wilhelm Raimund Beyer Die Hegel-Beschäftigung dieses unseres Jahrhunderts läßt viele und verschiedene Zugänge zu Hegel, sei es durch den einzelnen Philosophen, sei es durch phi~osophische Schulen, Weltanschauungen oder besondere Gruppierungen, zu Wort ocommen. Es wäre lehrreich, alle diese Zugänge zu systematisieren, um dadurch die Gründe der echt hegelischen Auf- und Ab-Bewegung innerhalb der "Hegel-Wirkung" in den Griff zu bekommen. Eine Skizze solcher Zugangsmöglichkeiten zum Thema "HegeI" mag zugleich mit der Besonderung des Denkwegs von Rene Marcic verbunden vorgestellt werden. a) Zum Denken Hegels hin führt jede historische Betrachtung der Philosophie. Die Station Hegel reizt dann zum längeren Verweilen, zum Rück- und Weitblick, zum Vergleich mit anderen Philosophien, zum Aufzeigen der Entwicklung der hegeIschen Denketappen wie der Geschichte der hegeIschen Philosophie. Zum Thema "Hegel" rechnet daher heute unerläßlich die Betrachtung der "Hegel-Wirkung", die allein berufen ist, das HegeIsche System zu rechtfertigen. Dabei kann sich der Betrachter, der ja nicht unbedingt "Hegelianer" oder "Hegeliter" sein muß, auf die gesamte Deutsche Klassik beschränken. Er kann aber auch ein spezielles Denkgebiet Hegels, die Rechtsphilosophie, die Aesthetik oder vor allem die Geschichtsphilosophie in eben solch historischer Auswertung angehen. Er kann auch den Reichtum des hegeIschen Denkens in der Weise darstellen, daß er die gesamte kulturelle und gesellschaftliche Position Hegels in dessen Zeit, eben hegelisch als "Zeit in Gedanken erfaßt", nun an Hegel selbst oder der jeweiligen Hegel-Wirkungs-Situation praktiziert. b) Eine andere, keineswegs rein geschichtliche Ausgangsstation für das Eindringen in das Denken Hegels wäre der Zugang von einer spezifisch und systemgerecht abgeschlossenen anderen Philosophie und deren Wirkung. Zu dieser steht alsdann Hegel in Verwandtschaft, in Kontrast oder operativ-philosophisch in enger Relation. Es sind dies die bekannten und fast .inflationsmäßig aufgekommenen "Hegel und ..."Titel. Für Österreich käme hier ein "Hegel und Grillparzer"-Titel vordringlich zur Geltung. Aber trotz einer umfassenden Arbeit von Friedrich Kainz über Grillparzer ist der österreichische Aspekt zu Hegels 2 Gedächtnisschri1t Marcic

n

18

Wilhelm Raimund Beyer

Philosophie noch keineswegs ausgeschöpft. Kainz wertet zu sehr Grillparzers Kant-Vorliebe, die gewiß nicht wegzustreiten ist. Zusammen mit Grillparzer käme jedoch eine andere österreichische, ja typisch österreichisch-ungarische Figur, ja "Gestalt", zum Aufschein: Saphir, der spätere Herausgeber der "Berliner Schnellpost" , dessen aktive Bedeutung im Leben Hegels noch nie thematisiert wurde. c) Besonderes Gewicht beanspruchen die Denkzugänge zu Hegel, die von der Hegel-Kritik gegangen werden. Da kommt schon Schelling in Betracht, der mit seinem Groß angriff bekanntlich wartete, bis Hegel tot war. Da zeigt sich aber auch Feuerbach in vorderster Linie. Nach ein und einhalb Jahrhunderten von "Hegel-Kritik" und "Hegel-Kritikern" steht fest, daß der beachtlichste Beitrag zur kritischen Denkhaltung gegenüber Hegel vom Marxismus stammt. Die DeIl!kbeziehung Marx-Hegel hat selbst schon in und an sich alle die Denkstationen, die die Hegel-Wirkung zeugte, auszutragen gehabt. Einst hatte aber auch der Neukantianismus sich lebhaft um Hegel bemüht. Es gab Zeiten, da waren die "Kant-Studien" mit vorsichtigen Hegel-Kritiken übersättigt. d) Eine Sondersparte des Denkansatzes von einer anderen Philosophie aus liefert die Zeichnung "Hegel im Zwielicht", wie solche jüngst plötzlich mit der Alternativ-Frage "Kant oder HegeI?" propagiert wurde. Dieses Alternativ-Fragen bringt zumeist die progressiven Gedanken Hegels in den Hintergrund, da bereits der Themenplafond als konstant, eben ohne Entwicklungschance eingebracht wird. e) Es läßt sich aber - und damit komme ich zum Denkzugang von Rene Marcic - ein origineller, aus der Denkentwicklung des den Zugang suchenden oder anstrebenden Philosophen resultierender DenkWeg herausarbeiten, wenn von dem Denken dieses, das hegeIsche Denken allein verarbeitenden Philosophen ausgegangen wird. Meist ist solcher Denkweg - Hegel liebte es ja, die und auch seine Denkbewegungals "Weg" vorzustellen - unabgeschlossen, ausbaufähig, weiterführend. Damit wird keine Hegel-NachfoLge vom Denker Hegels angestrebt, ja nicht einmal Zugehörigkeit zu einer Hegel-Schule oder Hegel-Facon. Der Grund des Ganges solchen Denkens ist allein in diesem selbst gründend, thematisch im eigenen Denken vorgezeichnet wie systematisch vorbereitet. Das Ziel dieses Denkens wird nicht vom hegeIschen System sondern vom Plan des Hegel-Benützers gesetzt. In unserer, seit 1945 sich originell entwickelnden Denk-Kommunikation würde ich hinsichtlich solcher Hegel-Anknüpfung und -Verknüpfung neben Rene Marcic hauptsächlich Jean Paul Sartre als Repräsentant intentional eingegrenzter Denkzugänge ansprechen. Beide kamen sehr spät zu Hegel und bekannten diese Vempätung.

Marcic' Denkweg zu Hegel

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Beide kamen von einer bereits geprägten, ja durch ein heftiges, ernsthaftes Suchen geformten Denkhaltung zu Hegel, ohne diesen in der Rolle eines aufnahme bereiten Schülers anzunehmen oder als gehässige Kritiker abzulehnen. Das eigene, selbständige Denken war an einen Punkt gekommen, wo die Auseinandersetzung mit Hegel kommen mußte, sollte der bisherige Denkweg sich als ernsthaft bewähren und nicht ergebnislos abgebrochen werden. So ist es merkwürdig, daß beide genannten Denker erst nach Leerlauf ihrer existentialistischen Periode (Marcic nennt sie "Denkphase") zu Hegel vorstießen, nach einer nicht bewältigten Ontologie, die zur Hypothek verkleinert nunmehr den Fortgang des Denkens belastete. Die dadurch minimalisierte Seinsapotheose lieferte so keine Identifikationsfigur zwischen eigenem und fremdem Seinsdenken und wußte die entstandene Lücke nur durch eine Philosophie der Inhaltserfüllung zu decken. Dies aber leistete: Hegel. Sartre hat diesen seinen Denkweg im Kapitel "Zur Entstehung der Kritik der dialektischen Vernunft" selbst offen gelegt und "die Frage nach den Mitteln, um eine strukturelle und historische Anthropologie zu konzipieren" beantwortet mit "vom Hegelianismus geerbten" Denkoperaten und "der Rückführung des dialektischen Denkens von Marx von der bisherigen Beschäftigung mit seinem Gegenstand auf sich selbst". Rene Marcic hingegen, ebenfalls in Selbstbekanntgabe seiner Denketappen und Denkpositionen beim Zugang zu Hegel, hat in einem Südtiroler Vortrag (gedruckt bei Pustet 1970 unter dem Titel "Hegel und das Rechtsdenken") und im Referat auf dem VIII. Internationalen Hegel-Kongreß 1970 in Berlin (abgedruckt im "Hegel-Jahrbuch" 1971, S. 60 ff.) unter dem Titel "Bausteine zu einer Theorie der Demokratie" festgehalten, daß er von seinem eigenen, bisherigen Denken aus, gewissermaßen um den Inhalt dieses Denkens besser zu fassen, thematisch Staats-, Rechts-, Kultur- und Geschichtsphilosophie umgreifend, zu "HegeI" komme. Er bekennt: "Der Verfasser ist spät zu Hegel gestoßen." Er enumeriert für sich "eine kurze naturrechtliche Phase, dann den Rechtspositivismus, dann die klassische, ontologisch orientierte Naturrechtslehre, dann eine ,HeideggerPhase'" und fährt fort "Seit zwei Jahren fesselt ihn Hegei". Dabei rühmt er sich, selbst ,Idie Quellen preiszugeben, aus denen er philosophisch speist". Und für ,das letzte (hegelisch deshalb wichtigste) Denk-Kapitel ist diese Quelle: Hegel. Er ist für ihn die "Quelle", der Vorbereiter moderner, aktueller, zeitnaher demOkratischer Staatlichkeit.

"Bausteine" - das ist so recht ein Terminus für Marcic. Bausteine sie haben nur einen Wert für aktive, praktische Philosophie. Philosophie der Tat - war das Schlagwort vieler Junghegelianer. "Philosophie

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Wilhelm RaimundBeyer

der Praxis - Praxis der PhUosophie" - das war das Zentralthema des XII. Internationalen Hegel-Kongresses, den Marcic nicht mehr erlebte, der aber (zu recht und an ihn erinnernd) an seiner Wirkungsstätte, in Salzburg, stattfand. Und auch Sartre hatte dieses Moment der Anknüpfung an Hegel als einen praktischen Vorgang eingeschätzt, wenn er (S. 18) in "La 'Critique de la raison dialectique" schreibt: ,,11 n'est pas douteux qu'on peut tirer Hegel du cöte de l'existentialisme." Dieses "tirer HegeI" , das Sartre bis zu seinem Tode übte, dieses "tirer HegeI" , das Marcic mit "Bausteine"-Benützen (ohne Kenntnis des Zitats!) übersetzte, wußte Marcic in die Bildbenützung von "Weg" als Zeichnung des Denkvorgangs wie Denkfortgangs zu bannen. Marcic kennt: "Denkweg", "Denkstrecke", "Denkphase", "Denkstation", "Wendeltreppe des Gedankens" - wie auch "Steine auf dem Denkweg" . Wörtlich findet er eine Wegbezeichnung, die von Hegel stammt: Landstraße. Häufig benützt Hegel dieses Bild für sein eigenes Denken. Hegel kennt auch die "Heerstraße". Er wollte in Nürnberg eine "Landlogik" schreiben, deren Geschick und Denk-Komponenten ich jüngst in einem Beitrag zu einer Festschrift für meinen Freund Dusan Nedeljkovic zusammenstellte. "Heerstraße" - das war die breite, ausgetretene, für Pferd wie Reiter bereite Hauptstraße. Denken wendet sich also an die: Massen. In seiner Wegzeichnung im Berliner Hegelreferat und erst recht im Abschnitt "Die Herausforderung der Gegenwart und Hegels Antwort" im Hegel-Buch des Pustet-Verlages umreißt Marcic diese "Landstraße des Denkens" mit dem Hinweis auf ein Hegel-Zitat: "die Landstraße, wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet" (S.48). Auf dieser "Landstraße" weiterschreitend zieht Marcic mit Hilfe von Hegel-Zitaten Schlüsse, die individualistische wie kollektivistische Züge verraten und immer zeitnah gebunden bleiben: Freiheit besteht in Mitwirkung lImit anderen". Und das Ziel? Marcic nennt es offen: Weltfriede, Weltstaat, Weltgesellschaft, den Kampf gegen einen "perennierenden Bürgerkrieg", die "Verwandlung aller Außenpolitik in Weltinnenpolitik" und im letzten Satz (S.107) alsdann erneut: die Sache des Weltfriedens. Für solche Ziele kann der Denkweg nur die "Straße", eben die "Landstraße" sein. Da ist es nichts mit Heideggers "Holzwegen". Dazu meine ich, daß Heidegger wie so häufig (z. B. bei seiner Deutung der Phänomenologie-überschrift, bei seinen allzu zahlreichen SchellingGroß zitaten usw.) den falschen Weg, d. h. seinen Holzweg von der falschen Richtung her geht. Holzweg ist nicht, wie er belehren wollend schreibt, der "Weg, der jäh im Gestrüpp endet". Er ist: endlich ein Weg! Für den, der von der richtigen, der echten, der gefahrvollen, der geschichtsbeständigen Seite her kommt, ist er lIder Weg"! Wer über

Marcic' Denkweg zu Hegel

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den Gebirgskamm zu klettern vermag, begrüßt es beim schwierigen und gefährlichen Abstieg, wenn er endlich als das "Ende" seines bisher weglosen Vorwärtstastens, einen Holzweg findet, der nun für ihn ein "Anfang" ist. Diesen "Holzweg" weiterbenützend, kommt er zum Pfad, der abwärts führt. Vom Pfad gelangt er zum Weg und immer tiefer ins Tal und zum Ziel. Und endlich kommt er auf die Straße, die große, breite Straße, die: Landstraße. "Straße" - das klingt heute als Denkweg der Masse. Und Marcic hätte dies nie abgelehnt. Seine rein individualistisch verbleibende Sicht der Existentialismus-Phase war längst überwunden, als er zum Hegeischen Positivum einer "Allgemeinheit" vorstieß. WeZtgesellschajt - das kann nur die Masse der Menschen sein. Marcic schreibt: "Einmal meinen wir die totale mondiale Interdependenz, wonach der ganze Erdkreis eine einzige Seh- und Hörgemeinschaft ist. Wir leben schon in einer Weltgesellschaft, Weltzivilisation, Weltkultur, unter Beibehaltung nationaler Eigenarten" (S.31). Marcic geht bei seinem philosophischen Denkweg stets vom Thema des Politischen, des Staates, des Rechts, der Gesellschaft, der Menschen aus. Diese Grundkonzeptionen dienen ihm dafür, daß die Themen zeitnah, konkret, praktisch und auf Realisation hin angelegt untermauert werden. Philosophisch und am hegeischen Denkögut erarbeitet heißt es: "Es zeichnet Europa aus, daß Recht nicht eher als Vollrecht verstanden noch anerkannt wird, als es unter Mitwirkung der Rechtsgenossen, des Volkes, hergestellt wird" (S.33). Das ist der Hegel der Jenaer Zeit, aber auch der Heidelberger Landständeschrift und vor allem der Berliner Reformbillschrift und letztlich auch des § 4 der zu Unrecht als reaktionär verechrieenen "Rechtsphilosophie" . Marcic nennt alle seine Mitdenker, mit denen er sich im Gleichschritt denkend fühlt. So unter anderen mehrfach Adam von Trott zu Solz, den von Schicklgruber verbrecherisch Gehenkten. Und es war ihm, wie er mir oft versicherte, eine große gedankliche Genugtuung, als ich ihn der Witwe von Trott zu Solz am Hegel-Kongreß 1970 persönlich vorstellen konnte. In Trott zu Salz sah er Denkgröße und persönliche Tapferkeit als hegelische Spuren vereinigt, so wie er diese Ziele im Aufsatz "Weltfriede und Rechtswesen" (Band XVIII, S.4 der Osterr. Zeitschrift f. öffentI. Recht, 1968) als die seinen erarbeitet hatte. Das Denken von Rene Marcic zeichnet ein weiterer Umstand aus: die Ehrlichkeit, die Offenheit. Er nennt seine Denk-Quellen. Er bekennt zugleich, wie und in welchem Grade er diese nützt. Als der VI. Internationale Hegel-Kongreß in Prag anstand, lud ich Marcic dazu ein, da

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Wilhelm Raimund Beyer

das Thema "Rechtsphilosophie" erörtert werden würde. Nach mehrfachen Gesprächen und zunächst mit großer Aufgeschlossenheit angenommener Bereitschaft, besonders in der Erwartung dort Kelsen zu treffen (der zuerst zugesagt hatte, dann aber aus rein persönlichen, emotional deutbaren Gründen nicht nach Prag und Brünn kommen wollte), sagte Marcicab mit dem Satz: "Ich bin bei meinem HegelStudium noch nicht so weit, als daß ich an einem so großen und schwierigen Kongreß aktiv teilnehmen könnte." Das war ehrlich. Erst beim übernächsten Hegel-Kongreß trat er auf, wobei er zugab, daß "er sein Pensum nun absolviert habe". Solche Offenheit ist mir, der ich nachweisbar seit 1919 eine ernsthafte Hegel-Thematik vertrete und dabei zahlreiche Hegel-Interpreten mit oft mangelnder Hegel-Kunde erlebte, selten begegnet. Marcic betätigte sich stets kulturphilosophisch. Ich würde seine Arbeit nicht auf Rechts- und Staatsprobleme einschränken, sondern das ganze Werk als eine kulturphilosophische Leistung buchen. Er vergleicht sich auch mit earl Burckhardt, der die "Denkstrecke bis zu HegeI" abmaß, um dann "aus diesem unerschöpflichen Speicher sich das herauszuholen, was er braucht" (S.92). Diese selbst betonte Nähe zu Burckhal'dt gibt mir Veranlassung, den Kulturphilosophen Marcic als einen Vertreter typisch österreichischen Denkens auf diesem Gebiet zu nennen und in Zusammenhang mit zwei weiteren, allerdings keineswegs von Hegel ausgehenden Denkern als Repräsentant fortschrittlichen, aufrechten Denkens dieses Jahrhunderts nach zwei überstandenen Weltkriegen zu nennen. Der eine wäre Ludwig von Ficker, dessen kultur- und geistesgeschichtlicher Rang meist nur im Zusammenhang mit Zeitschriftenherausgabe und Mitarbeiter-Suchkunst verbunden gewertet wird. In Innsbruck, 'an seinem 80. Geburtstag hat Martin Heidegger durch persönliche Anwesenheit und in glänzend formulierter Denkverschleierung des Nietzsche'schen Warnrufes "Weh dem, der Wüsten birgt" (mein verstorbener Freund Drexel hat, bisher vollkommen unbekannt, diese Rede in einem Privatdruck der Nachwelt, die nie davon Kenntnis nahm, überliefert) Ludwig von Ficker in solche Denkgemeinschaft kulturphilosophischer Denker aufgenommen. Und der andere österreichische Denker, den Marcic sicherlich sofort anerkannt hätte, wäre Hermann Broch, dessen Friedens-Aufruf an den Völkerbund zusammen mit Thomas Mann und Albert Einstein weltgeschichtliche Bedeutung beanspruchen kann. Und dieses, so erheblich kulturphilosophisch geprägte Denken lag - wie Marcic selbst schrieb - ihm "am Herzen". Und deshalb darf ich am Schlusse als zusammenfassende Wertung des Werkes von Rene Marcic einen einmal ihm selbst zugesprochenen Satz wiederholen: "cor facit disertum; pectus facit philosophum. "

Die Idee der Erblichkeit und die gemischte Verfassung in Burkes "Reflections on the Revolution in France" Von Thomas Chaimowicz Vorbemerkung Friedrich von Gentz hat in seiner Einleitung zu Burkes "Refleetions on the Revolution in France" das Werk als eine großartige "Rhapsodie" bezeichnet. Burke war nicht nur der größte Redner im Unterhaus seiner Tage, er war auch einer der bedeutendsten Staatsphilosophen der Angelsachsen und sicherlich ihr größter politischer Prophet. Wenn man darangeht, sich in die Schriften Burkes zu vertiefen, wird man gut daran tun, zu bedenken, daß er auch einer der Meister der englischen Prosa war. Seine Sprache ist erhaben und unübersetzbar. Selbst die übersetzung, die Friedrich von Gentz verfaßt hat, kann den hohen Geistesschwung der Sprache Burkes nicht wiedergeben. Ich habe mit voller Absicht die zitierten Stellen im englischen Original angeführt, da es eine Anmaßung wäre, ex tempore die Sprache Burkes zum Zwecke einer wissenschaftlichen Studie übersetzen zu wollen. Burkes "Refleetions" werden in der vorliegenden Arbeit nicht nach der klassischen Ausgabe zitiert, die für die anderen Schriften herangezogen wurde. Um dem interessierten Leser die Möglichkeit zu bieten, die angeführten Textstellen in ihrem größeren Zusammenhang nachzulesen, habe ich mich an die leicht erhältliche Ausgabe der "Everyman's Library" gehalten. Für die Briefe stand mir die große, erst in jüngster Zeit vollendete Sammlung "The Correspondence of Edmund Burke" zur Verfügung. Ich habe eine ausreichende Bibliographie hinzugefügt, um dem Leser einen besseren Einblick in die Dimensionen eines Forschungsgebietes zu geben, das von der Anglistik bis zur Rechtsphilosophie, von der Geschichte bis zur Latinistik weite Bereiche erfaßt, die unser dem Spezialistentum zuneigendes Jahrhundert nur mehr mit Mühe als zusammengehörend betrachtet, wogegen diese universale Sicht für einen Mann wie Burke noch eine Selbstverständlichkeit war. Man sollte auch bedenken, daß Burke zu dem in England bis in unsere Tage existierenden Menschentypus zu zählen ist, den man gemeinhin den "gelehrten Pragmatiker" nennt. Er war, nach dem Zeugnis Dr. Johnsons "der gelehrteste Mann im England seiner Zeit",

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das reich war an großen Männern. Nach dem Zeugnis von Adam Smith war er der einzige Zeitgenosse, der auf anderen Wegen zu den gleichen Ergebnissen gelangte wie der Stammvater der modernen Nationalökonomie. Wäre es nach dem "pragmatischen Geist" Burkes gegangen, so hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen und die Kolonien der Neuen Welt wären im Verband des Empire geblieben, wenigstens noch eine geraume Zeit. Ich habe versucht, im begrenzten Rahmen dieser Arbeit den eben erwähnten Gegebenheiten Rechnung zu tragen oder dem Leser wenigstens die Informationen zu bieten, die er benötigt, um die ihm interessant erscheinenden Fragen weiterzuverfolgen. Die Französische Revolution befand sich noch in ihrem frühen Stadium als Edmund Burke die rhetorische Frage stellte1 : "Have these gentleman never heard, in the whole circle of the worlds of theory and practice, of anything between the despotism of the monarch and the despotism of the multitude? Have they never heard of a monarchy directed by laws, controlled and balanced by the great heredetary wealth and the heredetary dignity of a nation; and both again controlled by a judicious check from the reason and feeling of the people at large, acting by a suitable and permanent organ?" Man schrieb das Jahr 1790 und ein Jahr nach dem Ausbruch der Revolution fand Burke alles bestätigt, was er bereits im November des Jahres 1789 an den Earl of Fitzwilliam geschrieben hatte2 : "As to France ... I should think it a country undone; and irretrievably lost for a very long Course of time ... There seems no Energy in the French Monarchy able to revive the Royal Authority. Its chief supports, the Nobility and the Clergy, are extinguished ... The National Assembly is nothing more than an organ of the Will of the Burghers of Paris." Um die gleiche Zeit anwortete Burke einem jungen französischen Freund, Charles-Jean Fran~ois Depont, dem Adressaten der "Reflections", der ihn bewundertes: "You may have subverted Monarchy, but not recover'd freedom4 ." 1

120.

Burke, Reflections on the Revolution in France (Everyman's Library)

2 The Correspondence of Edmund Burke, vol. VI, 36. Brief an den Earl Fitzwilliam, 12. November 1789. S The Correspondence of Edmund Burke, vol. VI, 31. Brief von CharlesJean-Francois Depont an Edmund Burke, 4. November 1789: "Soyez Convaincu qu'il n'oubliera Jamais que son Coeur a battu pour la premiere fois au nom de Liberte en vous en entendant parler ..." , The Correspondence of Edmund Burke, vol. VI, 46. Brief Burkes an Depont, November 1789. Es handelt sich um Burkes Antwort auf Deponts Brief vom 4. November. Das genaue Datum steht nicht fest.

Erblichkeit und gemischte Verfassung bei Burke

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Bereits im November des Jahres 1789, also wenige Monate nach dem Ausbruch der Revolution sah Burke in den Ereignissen, die sich in Frankreich abspielten, weit mehr als einen auf Frankreich begrenzten Umsturz. An einer frühen Stelle der "Refleetions" heißt es5 : "It appears to me as if I were in a great crisis, not of France alone, but of a11 of Europe, perhaps of more than Europe. All circumstances taken together, the French Revolution is the most astonishing that has hitherto happened in the world .,. Everything is out of nature in this strange chaos of levity and ferocity, and a11 sorts of crimes jumbled together with a11 sorts of follies." Von dieser aus den Fugen geratenen Welt und ihren chaotischen Ideen sah Burke zwei Bereiche bedroht, zwei harmonisch und natürlich gewachsene Gebilde, die im Laufe vieler Jahrhunderte im Wechselspiel von Glück und Weisheit entstanden waren: Die Britische Verfassung und das "Christian Commonwealth of Europe" . Die Britische Verfassung war für Burke die weiseste, die freieste und die bewahrungswürdigste, die jemals entstanden war; ein Urteil, das so mancher Vater der amerikanischen Verfassung uneingeschränkt teilte8 • Diese Verfassung sah Burke gefährdet, weil die Ideen, welche von Paris ausgingen, in England Fuß zu fassen begannen, weil die Mitglieder der Revolution Society in England (eine Vereinigung, deren Burke, Reflections, 8. Friedrich Gentz, Einleitung zu den "Betrachtungen über die französische Revolution" (Berlin 1793) XXXIV. Vernon-Louis Parrington, Main Currents in American Thought (New York 1927) 303, wörtlich zitierte Bemerkung Ramiltons über die Britische Verfassung: "as it stands at present, with a11 its supposed defects, it is the most perfeet government which ever existed". Ibid. 302: "Re (sc. Ramilton) had no confidence in the Constitution as fina11y adopted, and spoke in contemptuous terms of its weakness; whereas for the British constitution he had only praise." Clinton Rossiter, Alexander Ramilton and the Constitution (New York 1964) 154 ff. "Raving paid tribute in the Convention of 1787 to the British government as ,the best in the world', Ramilton turned his back without much regret on that eminent model." Ramilton war jedoch nie ein überzeugter Republikaner, wenngleich er sehr genau wußte, daß Verfassungen den lokalen Gegebenheiten entsprechen mußten. Ibid: Ramilton in einem Brief an Lafayette: ,,'Tis needless to detail to you my political tenets. I sha11 only say that I hold with Montesquieu, that a government must be fitted to a nation, as much as a coat to the individual; and, consequently, that what may be good at Philadelphia may be bad at Paris, and ridiculous at Petersburgh." Im Jahre 1774 schrieb der jugendliche Alexander Ramilton: "I am a warm advocate for limited monarchy, and an unfeigned we11wisher to the present Royal Family." Vgl. Louise Burnham Dunbar, A Study of "Monarchieal" Tendencies in the United States from 1776 to 1801 (New York 1922; Reprint 1970) 20. Daß derartige Tendenzen im Jahre 1786 vorhanden waren zeigt ein Brief George Washingtons an John Jay. Vgl. Sources and Documents illustrating the American Revolution 1764 - 1788 and the Formation of the Federal Constitution, Selected and edited by Samuel E. Morison, (Oxford, Nachdruck der zweiten Auflage von 1929 [1951]). 6

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Anliegen ursprünglich die Würdigung der Glorreichen Revolution war) daran gingen, die britische Verfassung im Lichte der französischen Ideen zu interpretieren und zu verzerren7 • Die Britische Verfassung war für Burke eine Gemischte Verfassung, "a mixed and tempered government"8, eine "monarchy directed by laws"v. Mit dieser Vorstellung werden wir uns noch zu beschäftigen haben. Das "Christian Commonwealth of Europe" war die Vielfalt des geistigen und politischen Lebens der abendländischen Welt und es beruhte letztlich auf zwei Pfeilern, welche die Revolution zunächst einimal in Frankreich beseitigt hatte: Auf dem Glauben und auf dem Geist der Ritterlichkeit, auf dem "spirit of a gentleman" und dem "spirit of religion"IO. Dieses "Christian Commonwealth of Europe" war - hierin ähnlich dem Meisterwerk der Britischen Verfassung - die Verkörperung des Kapitals der Weisheit vieler Generationen11 , entstanden im Rahmen des einzigen und wahren Urvertrages, den es geben konnte, des Vertrages des Schöpfers mit seinen GeschÖpfenl2 • Es war Ausdruck der großen Kette der Generationen, der Toten, der Lebenden und der Ungeborenen - "a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born'- "Anerkennungstheorien ")

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Anknüpfen an das "Positiv Gegebene"

Rechtspositivismus im weiteren Sinne

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Gesetz und Recht Von Chaim Perelman Die Schlüsselbegriffe der Rechtsphilosophie, wie etwa "Recht" und "Gesetz", "Vernunft" und "Wille", "Gerechtigkeit" und "Gewalt" sind verschwommene Begriffe. Dies ist so, weil sich ihr Sinn und ihre Tragweite jeweils ändern, wenn sich ihre Beziehungen ändern; sie bleiben so lange verschwommen, als diese Beziehungen nicht im Rahmen eines Rechtssystems und einer Rechtsphilosophie präzisiert werden. Jedes System muß, indem es auf seine Art und Weise diese verschiedenen Begriffe wie auch deren Beziehungen zueinander definiert, zu den säkularen Kontroversen Stellung nehmen und die impliziten oder expliziten Werturteile festlegen oder voraussetzen. Wollen wir diese These an einigen Beispielen illustrieren, die von bekannten Juristen oder Philosophen entliehen sind. In Opposition zum mittelalterlichen Recht, als die christliche Monarchie von der Kirche und dem Papsttum abhängig war, führte Jean Bodin in seiner Republique den Begriff der Souveränität (summa potestas) ein. Im 8. Kapitel des 1. Buches definierte er die Souveränität als eine permanente und absolute Gewalt, die die Gesetze den Unterworfenen ohne ihre Zustimmung aufzwingen kann und dabei selbst keinem Gesetz unterworfen ist (legibus solutus). Auf den ersten Blick verfügte der Souverän über eine unbegrenzte Macht. Tatsächlich aber ist dies nicht der Fall, denn der Souverän ist - wie Bodin präzisiert dem göttlichen oder dem natürlichen Recht unterstellt; er ist verpflichtet, seine Versprechen zu halten und das Eigentum der ihm Unterworfenen zu respektieren: Sie sollen nicht ohne ihre Zustimmung besteuert werden. Weiters soll er die Vorschriften des Grundgesetzes beobachten, von dem er seine Macht erhält. Wir sehen, daß mit diesen Präzisierungen Bodin dem Gesetz - verstanden als Befehl des Souveräns, der nur seinem eigenen Willen unterliegt - das Recht gegenüberstellt, Ausdruck einer göttlichen oder natürlichen Gerechtigkeit, der der Souverän ebenso wie die ihm Unterworfenen unterstellt ist. Es ist dies jenes gerechte Recht, das bald vom Römischen Recht, bald vom Kanonischen Recht vertreten wird, das an den juristischen Fakultäten unterrichtet wurde, die den Grad des doctor utriusque iuris verliehen. Vom 17. Jahrhundert an traten zu diesen

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Lehrveranstaltungen jene des Naturrechts und der universellen Jurisprudenz hinzu. Die juristischen Fakultäten maßen den örtlichen Gewohnheiten und Gesetzen, die sehr oft von Region zu Region variierten, keinerlei Bedeutung bei. Nichts ist in dieser Hinsicht aufschlußreicher als die berühmte Bibliothek der juristischen Fakultät von Salamanca, die noch heute in dem Zustand erhalten ist, in dem sie sich 1750 befand: unter den 51 Titeln dieser Fakultätsbibliothek war nur ein einziger dem Gewohnheitsrecht und den Gesetzen Spaniens vorbehalten. Trotz der verwendeten Formeln, scheinen die Auffassungen von Jean Bodin doch auf der Linie des mittelalterlichen Denkens zu liegen, denn vom Souverän stammen nur die Gesetze, die er selbst gesetzt hat, nicht aber das Recht, das ihm auferlegt ist. Die große Neuheit, die sich aus dem Begriff der Souveränität ergibt, ist aber, daß außer Gott kein Richter für den Souverän zuständig ist, sollte dieser das göttliche oder das natürliche Recht verletzen. Die der Macht des Souveräns gesetzte Grenze ist also eine rein sittliche, fallweise eine politische, wenn seine Handlungen einen Aufstand seiner Untertanen hervorrufen sollten; diese Grenze kann aber nicht eine rechtliche sein. In den Schriften von Hobbes wird die klare Unterscheidung, die bei Bodin zwischen Gesetz und Recht zu finden ist, nicht getroffen. Alles Recht hängt vom Willen des Souveräns, vom Leviathan, ab, und die Gerechtigkeit wird als Gesetzmäßigkeit begriffen. Dies bedeutet aber nicht, daß die Art und Weise, in der der Souverän seine Macht ausübt, willkürlich wäre, denn er wird ausschließlich als vernünftig handelnd verstanden, das heißt unter Bezug auf das allgemeine Interesse. Die Theorien von Hobbes haben sich in England kaum durchgesetzt, denn die Revolutionen von 1648 und 1688 bedeuten entscheidende Niederlagen der königlichen Macht, die sich mit dem Parlament vergleichen mußte. Aber in Frankreich gelangten sie zum Durchbruch, und zwar mit der Revolution von 1789 unter dem Einfluß von Rosseau, der den Souverän nicht mit der Person des Monarchen gleichsetzte, sondern mit dem souveränen Volk, der organisierten politischen Gesellschaft, das heißt dem Staat. Der Volkswille ward in dem Maß, in dem er zum Gemeinwohl tendierte, zum Allgemeinwillen, der immer recht hat (Du Contrat Social, Buch II, Kap. II): dieser Wille manifestiert sich in gerechten Gesetzen, wobei die Gesetzgeber fast göttliche Wesen sind. Es ist wichtig, ihnen gleich den mosaischen Gesetzen einen göttlichen Ursprung zuzuerkennen, um die Achtung vor den Gesetzen zu steigern. übrigens erwähnt Rousseau innerhalb einer kleinen Zahl von positiven Dogmen seiner bürgerlichen Religion die Heiligkeit des contrat social und der Gesetze (Du Contrat Social, Buch IV, Kap. XIII). Nach Rous-

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seau unterliegt der Souverän keinen Beschränkungen, wenn er durch die Gesetze den Allgemeinwillen manifestiert: Das Recht ist nichts anderes als das Insgesamt der Gesetze, denen die Französische Revolution beinahe einen geradezu religiösen Kult hat angedeihen lassen. Diese Achtung vor den Gesetzen wurde durch das große kodifikatorische Bemühen verstärkt, das in Europa - und zwar in Bayern (1756), in Preußen (1794), in Frankreich (1804) und in Österreich (1811) - unternommen wurde - ein Bemühen, das mehr von Montesquieu und dem rationalistischen Geist des 18. Jahrhunderts als von Rousseau und seiner Theorie des Allgemeinwillens inspiriert war. Man erinnere sich an die berühmten Formeln, durch die Montesquieu in seinem Buch L'Esprit des Lais (1. Teil, Buch I, Kap. I) seine Auffassung über die Beziehungen zwischen Gesetz und Gerechtigkeit ausdrückte: "Die Behauptung, es gäbe nichts Gerechtes oder Ungerechtes, als das, was die positiven Gesetze gebieten oder verbieten, besagt soviel wie: bevor der erste Kreis gezogen wurde, wären nicht alle seine Radien gleich gewesen. Man muß daher Bezüge naturgegebener Rechtlichkeit einräumen, die dem positiven Gesetz vorausliegen, durch das sie verwirklicht werden." Für Montesquieu besteht die Rolle des Gesetzgebers darin, die Beziehungen der Gerechtigkeit, welche wahrzunehmen die Vernunft jedes einzelnen nicht umhin kann, zu positivieren, indem er sie formuliert und promulgiert, wobei er jene Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, die von der "Beziehung, die die Gesetze zur Verfassung jeder Regierung, zu den Gewohnheiten, zum Klima, zur Religion, zum Gewerbe und so weiter haben müssen" bedingt sind. So gab jedes der Gesetzbücher, das zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet wurde, vor, gerechtes Recht zu beinhalten, welches die Konzeptionen des Römischen Rechts und des Naturrechts aufnahm und die jeweils durch die Gewohnheiten und Gebräuche des Reiches ergänzt werden. Das Gesetzbuch ersetzte das Naturrecht, das heißt das gerechte Recht, indem es diesem einen positiven Status verlieh. Eine Ausnahme hievon bildete nur der Fall des "Schweigens, der Unklarheit oder der Mangelhaftigkeit des Gesetzes", wie dies Art. 4 des Code Napoleon vorsieht. Portalis, der Hauptredaktor dieses Gesetzbuches, äußert sich zum Inhalt dieses Artikels so: "Es ist dem Gesetzgeber unmöglich, für alles vorzusorgen. Eine Menge von Dingen ist notwendigerweise der Gewohnheit, der Diskussion der Gelehrten, dem Ermessen der Richter überlassen. Mangelt es an einer genauen Bestimmung für den Einzelfall, dann tritt eine ständige und wohletablierte übung, eine ununterbrochene Reihe ähnlicher Entscheidungen, eine anerkannte Meinung oder Maxime an die Stelle des Gesetzes ... Kann man sich aber nicht nach etwas Festgelegtem oder Bekanntem richten, handelt es sich um

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eine völlig neue Tatsache, dann greift man auf die Prinzipien des Naturrechts zurück. Wenn das Gesetz klar ist, ist es zu befolgen, ist es unklar, sind seine Bestimmungen zu ergründen. Wenn es an einer Gesetzesvorschrift mangelt, ist die Gewohnheit und die Billigkeit heranzuziehen. Schweigt das Gesetz, ist es widersprüchlich oder unklar, dann ist die Billigkeit die Rückkehr zum Naturrecht". (Locre, Discours Bd. I, S. 156 - 159). Nach der Kundmachung der Gesetzbücher wurden die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der betreffenden Länder aufgefordert, das nationale Recht zu lehren, das vorherrschend geworden war. Das Römische Recht und das Naturrecht, die im Laufe der Jahrhunderte das wesentliche Material für den Unterricht an den Hochschulen abgegeben hatten, wurden zu Einführungskursen in das nationale Recht oder zu einer Ergänzung mit einem mehr oder weniger unbestimmten Inhalt. Diese Tendenz, das Recht mit dem nationalen Gesetz zu identifizieren, erfuhr ihren Höhepunkt in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Theoretiker der exegetischen Schule die Unterweisung im bürgerlichen Recht auf den Code Napoleon beschränkten, als ob das gesamte Recht sich im Gesetz befände. Während bei Bodin es nicht das Recht, sondern allein das Gesetz ist, das den souveränen Willen ausdrückt, führt drei Jahrhunderte später die Gleichsetzung des Rechts mit dem Gesetz zum Rechtspositivismus. Dieser kurze Rückblick auf die Beziehungen zwischen Recht und Gesetz zeigt uns klar, daß die Definition des Rechts durch den Rechtspositivismus keineswegs neutral, wertfrei, ist. Sie ist das Ergebnis eines expliziten oder impliziten Werturteils, das keineswegs das juristische Phänomen beschreibt, wie es sich in der Geschichte kundtut, sondern alles Recht vernachlässigt, das nicht vom Staat und seinen Organen ausgeht. Diese Tatsache scheint mir die allgemeine These zu bestätigen, daß die Definitionen, Klassifikationen und Theorien des Rechts nicht rein deskriptiv sind, sondern die Ideologien prägen, die den Rechtspraktikern Anleitung sein sollen. Die Tendenz des Rechtspositivismus, eine objektive Rechtswissenschaft, frei von jedem Werturteil auszuarbeiten, war der Grundgedanke des beachtenswerten Werkes von Hans Kelsen. Nach der "Reinen Rechtslehre" ist jedes Rechtssystem eine hierarchische und dynamische Gesamtheit von Normen, die ihre Konsequenzen unabhängig von der sozialen Umgebung entwickeln, auf die sie anwendbar sind, fast in der Art und Weise eines formalen Systems. Jedes Mal, wenn eine für die Rechtsprechung zuständige Behörde von einem Werturteil geleitet wird, soll der Jurist sich damit zufrieden geben, zu prüfen, ob die Behörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit geblie-

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ben ist; das übrige entgeht der Reinen Rechtslehre. Aber diese formalistische Rechtskonzeption, die gegenüber der Wechselbeziehung zwischen dem Recht und der Umgebung, auf die es angewendet wird, indifferent ist, erlaubt es nicht, das wirkliche Recht, das heißt das Recht in Aktion, ins Kalkül zu ziehen. Die Rechtspraxis, was immer sie auch sei, erfordert die Bedachtnahme auf die Wechselwirkungen zwischen dem geschriebenen Text und den Reaktionen, die sich aus seiner Anwendung in der jeweiligen Umgebung ergeben. Vernachlässigt man diese Wechselwirkung, versteht man gar nichts vom Leben des Rechts, das heißt der Art und Weise, in der sich seine Interpretation unter der Wirkung höchst verschiedenartiger juristischer Techniken entwickelt. Die juristischen Texte, seien es Gesetze oder richterliche Präzedenzen, stehen verschiedenen Interpretationsgewohnheiten offen, seien diese extensive, z. B. durch Analogie, oder seien sie restriktive dank der Unterscheidungen, die ein Interpret einführen kann. Die verschiedenen Interpretationen begünstigen das eine oder andere Interesse, den einen oder den anderen Wert, die im besonderen Fall miteinander in Konflikt stehen. Die gewählte Interpretation erklärt sich zugunsten eines der im Gegensatz befindlichen Werte, indem sie das Anwendungsgebiet der Norm einschränkt oder erweitert. Der Richter paßt sich durch seine Interpretation den Werten der Umgebung an. Dieses Bemühen um Anpassung wird durch den häufigen Rückgriff des Gesetzgebers (und des Richters im common law) auf Begriffe variablen Inhalts wie die "der guten Sitten", "der öffentlichen Ordnung", "des allgemeinen Interesses" und des "Vernünftigen" erleichtert, welche in jedem besonderen Fall je nach den Werten, Bestrebungen, Gebräuchen und Glauben definiert werden, die in der jeweiligen Umgebung vorherrschen. Die verschiedenen juristischen Theorien tragen zu dieser Anpassung bei. Ich möchte meine Darstellung gerne illustrieren und in einigen Sätzen die These über den Notstand im Strafrecht (Bruylant, Brüssel, 1951) zusammenfassen, welche mein nunmehr verstorbener Kollege und Freund Paul Foriers vor dreißig Jahren entwickelt hat. Diese These hat ihn schließlich dahin geführt, den paradoxen Begriff des "positiven Naturrechts" zu vertreten. Der Begriff des Notstandes wurde von dem hervorragenden belgischen Juristen Charles de Visscher in einer 1942 verfaßten Besprechung definiert, die Paul Foriers im Anhang zu seiner These veröffentlicht hat (S. 343 - 346). Indem De Visscher den Notstand dem sittlichen Zwang gegenüberstellt, der nach Art. 71 des belgischen Strafgesetzes einen Rechtfertigungsgrund darstellt, schreibt er: "Ein Notstand liegt dann vor, wenn sich jemand in einer Situation befindet, in welcher ihm zum Schutz eines höherstehenden Interesses

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kein anderes Mittel zur Verfügung steht, als eine Tat zu begehen, die vom Strafrecht verboten ist." Diese Definition ist von einem Kommentar begleitet, dem ich folgenden Passus entnehme: "Die beste Rechtfertigung für eine Ausnahme vom Strafrecht soll im Willen des Gesetzgebers selbst gesucht werden ... ; dieser ist so zu verstehen, daß er gewisse soziale Interessen mittels einer Strafdrohung verteidigt; aber es gibt Extremsituationen, in denen ein vom Gesetz nicht ins Auge ge faßt es Interesse nicht anders bewahrt werden kann als durch eine Verletzung des Strafrechts. In einem solchen Fall ist vernünftigerweise zuzugeben, daß der Gesetzgeber eine Strafe nicht beabsichtigt hat. Das Gesetz ist ein Werk der Vernunft; es rechtfertigt sich durch soziale Zwecke; es ist auf eine Hierarchie der Werte gegründet. Derjenige, der das Gesetz nur verletzt hat, um ein offensichtlich höheres soziales Interesse zu bewahren, soll, besonders wenn er ohne jeden persönlichen Beweggrund handelt, der Strafe entgehen." So soll, um ein klassisches Beispiel zu verwenden, man denjenigen nicht verurteilen, der, um ein gefährdetes menschliches Leben zu retten, ohne Bevollmächtigung in fremdes Eigentum eingreift, indem er Fensterscheiben zerbricht oder eine Tür aufbricht. Die sittliche Pflicht zur Solidarität geht der rechtlichen Pflicht, das Eigentum anderer zu achten, vor. Ein heiklerer Fall liegt bei einem Industriellen vor, der während der Besatzungszeit, um seine Arbeiter vor Deportation zu schützen, nicht zögert, für den Feind zu arbeiten und damit Art. 115 des belgischen Stl'afgesetzes verletzt; diese Gesetzesstelle be'droht jene mit der Todesstrafe, "die sie (die Feinde) mit Soldaten, Menschen, Geld, Lebensmitteln, Waffen oder Munition unterstützt haben". Welches ist hier das offensichtlich höhere Interesse? Die Sache ist diskutabel, eines aber ist sicher, daß nämlich in vielen Fällen der Notstand einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund abgibt. So wird einem Wert, der vom Gesetz nicht ausdrücklich als ein solcher anerkannt wird, gegenüber einem gesetzlich sanktionierten Wert der Vorzug gegeben. Die Rechtstexte umfassen also nicht alles Recht. Tatsächlich berücksichtigt der Richter alle Werte und Regeln, auch wenn über sie nicht formell abgestimmt wurde oder sie nicht kundgemacht sind. Es gibt, so sagt Paul Foriers, ein positives Naturrecht, das heißt eine Gesamtheit von Regeln und Prinzipien, die als nichtgeschriebenes Recht "eine beträchtliche Rolle nicht neben dem positiven Recht, sondern innerhalb der Grenzen des Rechts spielen, wenn man unter diesem Ausdruck ... die Regeln versteht, die in einem Staat zu einer gegebenen Zeit in Kraft stehen". Die Erfahrung erlaubt, i,eine Konzeption des Naturrechts" hervorzuheben, deren Be-

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sonderheit darin besteht, daß es in allen Fällen von Juristen akzeptiert, vom Richter sanktioniert, von der Gesellschaft gutgeheißen wird. Dieses Naturrecht ist nicht apriori ein moralisierendes Konzentrat, sondern Ergebnis eines soziologischen Versuches - um einen gelungenen Ausdruck Robert Legros' (gegenwärtig Präsident des Kassationsgerichtshofs von Belgien) zu verwenden (Droit naturel et droit penal, Journal des Tribunaux, 1958, S.38). Das ist mit anderen Worten ein Beispiel für Regeln, die für eine juristische Elite das Ideal des individuellen und sozialen Lebens darstellen. Noch besser und genauer gesagt, kann dieses Ideal als nicht weiter reduzierbarer Teil des geistigen und sozialen Lebens gelten, wie er sich aus der Erfahrung ergibt (P. Foriers, Le juriste et le droit naturel. Essai de Definition d'un droit naturel positif. Revue internationale de Philosophie, 1963, 65, 349 - 350). Es entspricht diesem Geist, wenn in den meisten Fällen die europäischen Kassationsgerichtshöfe, darunter der belgische Kassationsgerichtshof auf Anregung des bedeutenden Generalstaatsanwalts Ganshof van der Meersch, die Existenz allgemeiner Rechtsgrundsätze zugegeben haben, deren Verletzung eine Kassation zur Folge haben kann. Dabei wird hauptsächlich Art. 1080 des belgischen Code Judiciaire interpretiert, der die Kassation nur wegen einer Gesetzesverletzung ermöglicht (vgl. seine Staatsanwaltschaftsrede vom 1. September 1970: Propos sur le texte de la loi et les principes generaux du droit, Brüssel, Bruylant, 1970). Indem man die Regeln und die Werte in das positive Recht integriert, die als vom Gesetz verschieden anerkannt sind, versucht der Richter, das Gesetz mit der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, das heißt das Gesetz auf eine Weise anzuwenden, daß die richterlichen Entscheidungen sozial akzeptierbar werden. Es entspricht demselben Geist, daß mehrere europäische Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg Bestimmungen eingeführt haben, die die fundamentalen Werte einer demokratischen Gesellschaft, insbesondere die Menschenrechte, schützen. Die Fiktion im Recht findet sich in allen Rechtssystemen. Für einen Positivisten handelt es sich hier um eine klare Verletzung des Gesetzes oder wenigstens um die Weigerung, es anzuwenden. Aber die Fiktion gibt es wohl in allen Rechtssystemen, in allen Epochen, wenn der Richter keinen anderen Weg findet, das Recht sozial akzeptabel zu machen. So können, wenn ein Strafges