Wort halten - gestern, heute, morgen: Festschrift zum 850-jährigen Jubiläum des Klosters Loccum 9783666550669, 9783525550663, 9783647550664

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Wort halten - gestern, heute, morgen: Festschrift zum 850-jährigen Jubiläum des Klosters Loccum
 9783666550669, 9783525550663, 9783647550664

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Horst Hirschler / Hans Otte / Christian Stäblein (Hg.)

Wort halten – gestern, heute, morgen Festschrift zum 850-jährigen Jubiläum des Klosters Loccum

Mit zahlreichen Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55066-3 ISBN 978-3-647-55066-4 (E-Book) Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Wilhelm Heine Die Luccaburg und das Kloster Loccum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Ulrich Hucker Die Grafen von Lucca und Hallermund und die Anfänge der Zisterzienserabtei Loccum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hermann Josef Roth Zum inneren Leben im mittelalterlichen Zisterzienserkloster. Mit besonderer Berücksichtigung von Loccum . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hedwig Röckelein Heilige und Reliquien des Zisterzienserklosters Loccum im Mittelalter . .

77

Simon Sosnitza Über das Mühlenwesen der Zisterze Loccum. Von der Gründung bis zum Konfessionswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Arnd Reitemeier Die ökonomische Entwicklung des Klosters Loccum im Mittelalter bis 1589 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Gerald Kruhöffer Der Übergang zur Reformation – Kontinuität und Neubeginn

. . . . . . 141

Manfred von Boetticher Die Integration des Klosters Loccum in das Fürstentum Calenberg . . . . 163

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Inhalt

Martin Ohst Abt Molan und die Ökumene

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Heinrich Holze Das Predigerseminar im Kloster Loccum. Eine geschichtliche Einordnung Hans Otte Ein ›freies‹ Stift in preußischer Zeit. Das Kloster Loccum 1866 – 1924

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. . 241

Thomas Kück »Die Schwere der bischöflichen Verantwortung« – August Marahrens als Abt in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Martin Kruse Das Kloster aus der Sicht der Gemeinde

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Fritz Erich Anhelm Der Bischof, die Konvente und das Kloster – oder : Wie die Akademie nach Loccum kam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Christoph Wiesenfeldt Die »68er« und das Predigerseminar

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Michael Wöller Die Zukunft der kirchlichen Ausbildung für den Pfarrdienst

. . . . . . . 349

Christian Stäblein Das Predigerseminar im Kloster Loccum – Wandel, Beheimatung, Schwelle und Wegweiser. Ein Nachwort mit Rück- und Ausblick . . . . . 363 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Autorinnen und Autoren der Festschrift Loccum . . . . . . . . . . . . . . 371

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Vorwort

»Wort halten« ist unser Leitwort für das Jubiläumsjahr 2013 und bleibt es weiterhin. Es stammt aus dem Evangelium des Pfingstfestes: »Wer mich liebt – spricht Christus – der wird mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben« (Johannes 14, 23). In dieser Festschrift bekommen Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, Einblicke in die Geschichte des Klosters Loccum in 850 Jahren und manchen Ausblick darüber hinaus. Unser Leitwort spricht die Grundwahrheit unseres Klosters an und die daraus folgende Verpflichtung. Immer hat sich das Zisterzienserkloster vor und nach der Reformation am Wort Gottes festgehalten, und hat zu zeigen versucht, dass es durch dies Wort geprägt ist. Nach lutherischem Verständnis sind der verlorene Mensch und der rettende Gott die Grundwahrheit des Glaubens. Deshalb gehören zum Nachsinnen über die Geschichte sowohl der Blick auf das Versagen wie auch der Dank über den rettenden Gott. Solch ein Kloster mit seiner 850-jährigen Geschichte, die sich in den alten Bauwerken, in den über 1000 Urkunden bis heute zeigt, ist eine unendliche Fundgrube. Immer entdeckt man bislang Unentdecktes. Im Urlaub, die Kinder kannten das schon, haben wir die frühen Klöster der Zisterzienser in Burgund und der Provence erkundet. Senanque zuerst. Hingeduckt zwischen die Felsenwände. Grauweißer Stein auch das Kloster selbst. Sogar der Dachstuhl aus Stein. Wie für die Ewigkeit gebaut. Da haben sie also gesessen, gestanden, haben sich verneigt bei dem »Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist« nach jedem Psalm, die Stille nach dem Evangelium eingehalten. Da drüben die Treppe zum Dormitorium, dem großen Schlafsaal. Gemäuer voller alter Lebens- und Gotteserfahrung. Man muss eigentlich ihre gregorianischen Gesänge im Ohr haben. Sich vorstellen, wie sie zur Hora in die Kirche einziehen. Seit wir den Sandstein in unserer Loccumer Stiftskirche wieder in seiner

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Vorwort des Abts

ursprünglichen Gestalt herausgeholt haben, kann man sich das noch deutlicher vorstellen. Wir haben keine Mönche mehr. Aber dass das ein Ort der erlebten Gegenwart Gottes war und weiterhin ist, das wird den künftigen Pastorinnen und Pastoren, die hier ausgebildet werden, den Gemeindegliedern, den vielen Gästen immer aufs Neue klar. Wenn man sich in einer der Stuhlreihen einen Augenblick lang der Stille aussetzt, ist zu spüren, diese alten Gemäuer ermutigen zum Beten. Sie brauchen das gesprochene Wort Gottes. Es ist gut, sich hier ans Wort halten zu können. Die Gegenwart Gottes ist keine vom Menschen ablösbare, an Bauwerke übertragbare Heiligkeit. Die Gegenwart Gottes ist immer ein personales Geschehen, sie geschieht als Beziehung zwischen Gott und seinem Menschengeschöpf, zwischen Gott und der versammelten Gemeinde. Sie braucht das gesprochene Wort und das Gebet. Aber es ist auch deutlich, der gelebte Glaube kann diese durchbeteten archaischen Räume außerordentlich gut gebrauchen. Sie zu erhalten und zu erneuern ist immer wieder unsere Aufgabe. Am 21. März 1163, am Gedenktag Benedikts von Nursia, seinem Todestag, ist die Landschaft um die alte Luccaburg, nach der Messe im Dom zu Minden vom Grafen Wulbrandt von Hallermund, seiner Frau Beatrix und seinen drei Söhnen feierlich dem strengen Benediktinerorden, den Zisterziensern, gestiftet worden. Drei Monate später, im Juni, kamen zwölf junge Mönche und ihr jugendlicher Abt Ekkehard, vom Zisterzienserkloster Volkenroda in Thüringen ausgesandt, in diese Landschaft. Damals fing es an, das »ora et labora«, das Beten und Arbeiten. Seit 850 Jahren wird im Kloster Loccum gebetet und gebaut. Kommt man durchs Torhaus, so empfängt den Besucher eine große Stille. Die klösterliche Anlage hat von sich aus eine kontemplative, eine erstaunliche spirituelle Ausstrahlung. Die Stiftskirche lädt zur Einkehr ein. Vorn brennt die Osterkerze. Das Kreuz steht über dem Chorraum. Links brennen die Gebetslichter auf der Erdkugel. Manchmal erklingt die Orgel. Die seit 850 Jahren gefeierte Hora um 18.00 Uhr, die Gottesdienste und die sonntägliche besondere Einkehrmusik sind Hilfen zur inneren Beheimatung und Orientierung in einer erschreckenden und staunenswerten Welt. Die in diesem Buch versammelten Aufsätze beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten der Geschichte unseres Klosters. Letztlich geht es bei allem darum, ob wir mit unseren Erfolgen, unseren Fehlern und Irrwegen, mit unseren richtigen und falschen Begeisterungen dem »Wort halten«, d. h. der Gegenwart des dreieinigen Gottes in unsrer jeweiligen Zeit dienen. Möge es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, fröhliche Lichter aufstecken. Kloster Loccum, 15. Juni 2013

Landesbischof i.R. D. Horst Hirschler, Abt zu Loccum

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Hans-Wilhelm Heine

Die Luccaburg und das Kloster Loccum »Urplötzlich bauten sich die Mauern wieder auf Der stolzen Luccaburg und ihre Zinnen.« (Fr. Köster 1822)

Einleitung Im Jahre 2013 feiert das Zisterzienserkloster Loccum sein 850-jähriges Jubiläum. Ein Ausgangspunkt der Klostergründung war eine Burg, die Luccaburg südlich des Klosters mitten im Wald des Sündern. Heute liegt sie abseits im Wald und Niederung der Fulde als Ausflugsziel von Besuchern des Klosters, Teilnehmern der zahlreichen Tagungsstätten der Umgebung und nicht zuletzt der angehenden Pastorinnen und Pastoren der Evangelischen Landeskirche Hannover. Im Jahre 1981 wurde Verf. gebeten, einen kurzen Artikel über die Luccaburg für den »Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern in Deutschland« zu schreiben, dem neben kleineren Beiträgen vor allem ein Aufsatz zu den Keramikfunden aus der Luccaburg im Jahre 1982 folgte, auf die forschungsfortschrittsbedingt unten noch einmal eingegangen werden soll1. Seit 1959 erfolgt 1 Hans-Wilhelm Heine: Die Luccaburg bei Loccum, in: Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern 49. Mainz 1981, S. 141 – 146; ders.: Mittelalterliche Keramikfunde von der Luccaburg bei Loccum – Ein Beitrag zur archäologischen Burgenforschung – , in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 51, 1982, S. 171 – 188. – Vgl. u. a. auch: Hans-Wilhelm Heine: Die Luccaburg bei Loccum, in: Geschichten aus dem Kloster Loccum. Studien, Bilder, Dokumente, Hannover, 2.verb. Aufl. 1982, S. 235 – 236; ders.: Neue Ausgrabungen und Forschungen an früh- und hochmittelalterlichen Burgen im mittleren Niedersachsen, in: ArKB 13, 1983, S. 375 – 384; ders.: Burgen der salischen Zeit in Niedersachsen. Ein Überblick, in: H. W. Böhme (Hrsg.): Burgen der Salierzeit. Teil 1: In den nördlichen Landschaften des Reiches (= Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Monographien 25), Sigmaringen 1991, S. 9 – 84; hier S. 34 f. Abb. 19; ders.: Die ur- und frühgeschichtlichen Burgwälle im Regierungsbezirk Hannover (= Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens 28), Hannover 2000, S. 62 f. Abb. 14; ders.: Burgen vom Typ Motte im mittleren Niedersachsen, in: Interdisziplinäre Beiträge zur Siedlungsarchäologie. Gedenkschrift für Walter Janssen. Hrsg. v. Peter Ettel u. a. (= Internationale Archäologie. Studia honoraria 157), Rahden/Westf. 2002, S. 161 – 175; hier S. 165 f.; ders.: Burgen vom Typ Motte und Turmburgen in Niedersachsen und angrenzenden Landschaften, in: Tagung Motte-Turmhügelburg-Hausberg Oktober 2006 = Beiträge

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Hans-Wilhelm Heine

seitens der niedersächsischen Landesarchäologie eine Neuvermessung der urund frühgeschichtlichen Burgwälle sowie insbesondere der mittelalterlichen Burgen, von denen mehrheitlich Aufwürfe, Wälle und Gräben erhalten sind.2 Dieses bis 2012 vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (Ref. Archäologie) fortgesetzte Vermessungsprogramm hatte einen Vorgänger in dem »Atlas für vorgeschichtliche Befestigungen in Niedersachsen«.3 Das zwischen 1887 bis 1916 erschienene Werk entspricht aber nicht mehr den heutigen geodätischen Ansprüchen, die z. B. für digitale Aufnahmen im Maßstab 1:500 oder 1:1000, geschweige denn für Airborne-Laserscan gestützte Vermessungen gelten. Die Luccaburg selbst hat nach den Grabungen 1914 noch Aufnahme in den Atlas gefunden. Der einfache Vermessungsplan ist im Textteil samt Eintrag der Grabungsergebnisse von Carl Schuchhardt abgedruckt worden.4 Das Jubiläum gab noch einmal Anlass, für eine schon in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geplante Neuvermessung Mittel zu beantragen, die freundlicherweise das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege zur Verfügung stellte.5 Die Neuvermessung ist im Auftrage des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege mit freundlicher Unterstützung des Klosters Loccum vom Vermessungsbüro Dipl.-Ing. Maja Thede, Spenge, im November 2011 durchgeführt worden. Sie ist ein Beitrag des Referats Archäologie im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege zur 850-Jahr-Feier des Klosters Loccum 2013. Das Ziel einer erstmaligen digitalen, georeferenzierten und großmaßstäbigen Ver-

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zur Mittelalterarchäologie in Österreich 23, 2007 (2008), S. 61 – 84; hier S. 65 f.; Hery A. Lauer : Archäologische Wanderungen, nördliches Niedersachsen, westliche Lüneburger Heide, Mittelwesergebiet. Ein Führer zu Sehenswürdigkeiten der Ur- und Frühgeschichte, Angerstein 1983, S. 187 f.; Nicolaus Heutger: Das Kloster Loccum im Rahmen der zisterziensischen Ordensgeschichte (= Forschungen zur niedersächsischen Ordensgeschichte 4), Hannover 1999, S. 27 f.; Konrad Droste: Loccum. Ein Dorf. Das Kloster. Der Wald. Beiträge zu einer bemerkenswerten Ortsgeschichte, Loccum 1999, S. 16 – 18; Marco Adameck / Dieter Bishop: Archäologische Denkmale in den Landkreisen Diepholz und Nienburg/Weser. Diepholz, Nienburg/Weser, 2. Aufl. 2001, S.30. Vgl. u. a.: Hans-Wilhelm Heine: Zur Vermessung ur- und frühgeschichtlicher Burgen in Niedersachsen, in: ArKB 17, 1987, S. 253 – 264; ders.: Zur Inventarisation von Burgen in Niedersachsen aus Sicht der Archäologie, in: Festschrift für W.-D. Tempel, Rotenburg (Wümme), 2002, S. 341-355; hier S. 342 – 345; ders.: Archäologische Burgenforschung im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. Geophysikalische Prospektion – Airborne Laserscanning – Digitale Vermessung, in: Burgen und Schlösser 51(3), 2010, S. 135-143. August von Oppermann / Carl Schuchhardt: Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen in Niedersachsen, Hannover 1887 – 1916. Carl Schuchhardt, in: Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3); S. 91 Abb. 93 (M.1:3125) u. 92 Abb. 95 (M.1:100); vgl auch Otto Weerth: Die Burg Lucca beim Kloster Loccum mit Vor- und Nachsätzen von Carl Schuchhardt, Hannover 1916 (Sonderabdruck aus: ZHVNS 81, 1916, S. 125 – 142). Zu danken ist hier besonders dem Landesarchäologen Dr. Henning Haßmann. Für die Hilfe und Unterstützung vor Ort sei allen im Kloster Loccum recht herzlich gedankt.

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Die Luccaburg und das Kloster Loccum

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messung der um 1163 aufgelassenen Luccaburg ist erreicht. Neben dem üblichen Höhenplan mit Böschungsschraffen (2D) besteht auch ein virtuelles 3D-Modell. Im Folgenden wird zuerst auf die Topographie, dann auf die älteren Nachforschungen und Grabungen eingegangen. Nach einigen kurzen Bemerkungen zur historischen Einordnung wird die Luccaburg in den Kontext der überregionalen Burgenforschung gestellt werden.

Topographie Endlich findet sich in dem, an das Kloster stoßende Gehölze, der Sündern genannt, ein erhöhter Platz, welcher noch jetzt die Luccaburg heißt, und dessen Umgebung die Burgwiese genannt wird. Ruinen von dieser Burg sind zwar nicht mehr vorhanden; aber die Ringmauer derselben kam beym Nachgraben im Jahre 1820 zum Vorschein, und wurde als Hintergrund zu dem Monumente des sel. Prior’s Franzen benutzt. Auch der Burggraben ist zwar zugeschlemmt, aber noch immer erkennbar.6 So beschreibt erstmals Christoph Erich Weidemann die Luccaburg und hat damit wesentliche Elemente der Burg erfasst. Die Luccaburg liegt ca. 1 km südlich des Klosters Loccum inmitten der »Burgwiese« , im Waldstück »Sündern« in der feuchten Niederung der Fulde, die im Westen von Süden nach Norden vorbeifließt (Abb. 1). Gemäß der Neuvermessung vom November 2011 ist festzustellen, dass der rundliche Hügel am Fuß einen Durchmesser von ca. 55 m besitzt (Abb. 2).7 Das Plateau hat dagegen einen Durchmesser von 44 bis 45 m. Der Hügel ist gegenüber der Umgebung von der Fulde im Westen her 4 m, von der Niederung im Osten her 3,5 m hoch. Im Norden ist in den Hügelfuß auf etwa 8 m Breite auf 10 m Länge im Jahre 1821 das Prior-Franzen-Denkmal eingebaut worden.8 Auffallend ist am Rande des Hügelplateaus ein kleiner treppenartig eingetiefter um das Plateau laufender Absatz von 2 m Breite, der nach einer Aktennotiz von einem 1915 hergerichteten Fußweg rings um die Mauer herum stammt.9 Um den Hügel herum sind die Spuren des Grabens, in feuchten Jahreszeiten z. T. noch mit Wasser gefüllt und 6 Christoph Erich Weidemann: Geschichte des Klosters Loccum. Hrsg. v. Friedrich Burchard Köster, Göttingen 1822, S. 2. 7 Ältere Beschreibungen der Burg und ihrer Topographie: Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 92 f. Abb. 93 – 95; Weerth (wie Anm. 4), S. 3 f. Abb 1; Taf 1; Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 172 f. 8 Zum Prior-Franzen-Denkmal vgl. Ernst Berneburg: Das Denkmal für den Prior Franzen an der Luccaburg, in: Geschichten aus dem Kloster Loccum. Studien, Bilder, Dokumente, Hannover, 2. verb. Aufl. 1982, S. 90; zum Landschaftspark im Sündern: Droste (wie Anm. 1), S. 158 – 161. 9 Archäologisches Archiv des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege, Ortsakte Loccum (gez. v. Abt Georg Hartwig, 23. 07. 1915).

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nur mit Gummistiefeln zu begehen, erkennbar. Der Graben ist im Norden durch Anlage des Denkmals gestört. Im Süden verschwindet er im Morast. Ansonsten hat er im Westen eine Breite von etwa 5 bis 6 m, im Osten von 8 bis 9 m. Die heutige Tiefe beträgt unterschiedlich etwa 30 bis 50 cm. Im Westen wie auch im Nordosten ist ein leichter Vorwall mit Höhen im Dezimeterbereich zu erkennen. Bei Weerth und Schuchhardt ist der Graben schmaler dargestellt, offensichtlich unter dem Eindruck ihrer Grabungsergebnisse (Abb. 3). Der westliche Grabenschnitt von 1914 ist im neuen Plan noch erkennbar. Die Schürfgräben im Norden des Plateau lassen sich nur teilweise mit dem Grabungsplan von Weerth und Schuchhardt übereinbringen. Nach der zitierten Aktennotiz sind sie im Wesentlichen zugefüllt worden. Auffallend ist die inselartige Lage der Luccaburg. Eigentlich müsste sie am Ende des leichten Geländerückens zwischen Fuldeniederung und der östlichen Aue liegen, der 20 m südlich des Hügels anschließt. Auffallend ist, dass das Gelände südlich offenbar zurückgeschnitten wurde und sich hier ein 7 bis 8 m breiter Damm von Osten nach Westen zieht. Schuchhardt nahm an, dass er über die Wiese nach Osten gereicht habe und den Zugang gewährte,10 was aber heute nicht mehr auszumachen ist. Vielmehr ist zu erkennen, dass jüngere Gräben am Rande der Aue den Damm am Ostende schneiden, aber dort an seiner Südseite eine flache Rinne nach Westen zieht, bis ein Durchbruch den Weg in den Sumpf südlich des Burghügels freigibt. Möglicherweise bestand hier eine alte kontrollierbare Wasserzuführung für den Burggraben. Bemerkenswert ist ja auch, dass der Tiergartenbach nicht durch die östliche Niederung in Richtung Fulde fließt, sondern quer über den südlich anschließenden etwas höher gelegenen Geländerücken künstlich umgeleitet wurde. Dies ist z. B schon auf der Karte des Klostergebietes Loccum von Johann Thomas Willich 1753 zu erkennen (Abb. 4).11 Das Gebiet um die Luccaburg konnte nur randlich in die Geländeuntersuchungen des Arbeitskreises Wasserwirtschaft einbezogen werden,12 sodass hier noch viele Fragen offenbleiben. Zumindest nach der Auflassung der Burg ist die unmittelbare Umgebung der Burg in der Niederung Wiese, im höheren Gelände immer Wald gewesen, was wohl auch schon vorher der Fall gewesen ist13 und die isolierte Lage der Luccaburg unterstreicht. Die Lage eines zugehörigen Wirtschaftshofes in der Nähe ist nicht bislang geklärt.

10 Carl Schuchhardt, in Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 93. 11 Klosterarchiv Loccum. 12 Wasserbaukunst im Kloster Loccum, hrsg. vom Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser 25), Berlin 2006. 13 Vgl. Wasserbaukunst (wie Anm. 12), S. 79; 84.

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Die Luccaburg und das Kloster Loccum

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Nachforschungen und Grabungen Erste Nachgrabungen fanden bereits 1820 statt, bei denen Teile der Ringmauer zu Tage traten und die man schließlich in das Prior-Franzen-Denkmal einbezog.14 1848 sollen Bewohner der umliegenden Ortschaften auf der Burg gegraben haben, 1893 ließ Abt Uhlhorn auf der Burg Grabungen vornehmen, wobei man weitere Reste der Ringmauer anschnitt. Grabungen mit verwertbaren Ergebnissen fanden schließlich vom 14. bis 28. Juli und am 28. und 29. September 1914 unter Leitung von Otto Weerth bei kurzzeitiger Anwesenheit von Carl Schuchhardt statt. Sie gingen auf eine Anregung des damaligen Abtes Georg Hartwig zurück, der 1904 die Grabungen Schuchhardts auf der Düsselburg aufgesucht hatte. Anlässlich des Besuches Kaiser Wilhelms II. im Kloster Loccum Juni 1913 wurde die Finanzierung der Grabung sichergestellt, die 1905 nicht zustande gekommen war. Weerth ließ aufgrund des Baumbewuchses ein unregelmäßiges Netz schmaler Schnitte von 1 bis 2 m Tiefe anlegen, bei denen er im Inneren des Hügels außer einer neuzeitlichen Eingrabung keine Bauspuren oder Holzverfärbungen fand. Dieses war wohl bei der Führung und Schmalheit der Schnitte ebenso wenig möglich, wie bei der kurzen Grabungsdauer eine genaue Analyse und Aufnahme der Erdprofile, abgesehen vom Mauer-Graben-Schnitt, der in schematischer Weise dargestellt wurde. Bei heutigen Grabungen hätte man mehr Wert auf flächige Befunde gelegt, die man vom Hügelplateau aus erhoben hätte, was methodisch damals aber noch nicht üblich war. Den Berichten nach besteht die Hügelschüttung aus einem Gemenge von Ton, Lehm und Sand. Die ca. 0,5 m unter der Hügeloberfläche an vielen Stellen freigelegte Ringmauer sitzt wohl der alten Oberfläche auf und war noch 2,5 bis 3,1 m hoch erhalten. Nach außen zeigte sich eine glatte Wand aus lagerhaft verlegten Sandsteinplatten der Rehburger Berge im Mörtelverband, nach innen eine ähnlich gestaltete, jedoch weniger lagerhaft und unsorgfältiger geschichtete in Lehmsetzung. Das Innere des Schalenmauerwerkes war mit Steinen verschiedener Größe und Formen versehen, wobei die Zwischenräume mit Lehm ausgefüllt waren. Die Stärke der Schalenmauer beträgt etwa 2 m. In 2 m Höhe über dem Mauerfuß springt die Innenseite um 0,5 m zurück. Die Ringmauer selbst beschreibt einen Kreis mit Radius von 19,6 m bis zur Außenfront. Davor befindet sich eine annähend 5 m breite und wohl ehemals 2 m hohe Berme bzw. die 14 Weidemann (wie Anm. 6), S. 2. – Zum Folgenden vgl. die Grabungsberichte und Notizen bei: W. Uhlhorn: Zur Geschichte des Klosters Loccum, in: Niedersachsen 18, 1913, S. 343 – 349; hier S. 343; Carl Schuchhardt, in: Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 93; Weerth (wie Anm. 4), S. 7 – 15; Taf. 1; zusammenfassend: Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 173 – 175; ferner : Matthias Untermann: Ausgrabungen und Bauuntersuchungen in Klöstern, Grangien und Stadthöfen. Forschungsbericht und kommentierte Bibliographie (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser 17), Berlin 2003, S. 206 f.

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Hans-Wilhelm Heine

Mauer im Unterteil abdeckende Aufschüttung, die lagenweise aus Ton und Sand aufgeschichtet worden war. Der umziehende Sohlgraben ist den Ausgräbern nach keine 1,5 m tief und hat eine obere Breite von bis zu 8 m (vgl. auch die Neuvermessung), die Breite der Grabensohle wird mit 5 m angegeben. Der Abbruchschutt der Mauer im Graben lag einer Schlammeinfüllung auf, was dafür spricht, dass der Mauerabbruch erst nach längerer Zeit erfolgt sein dürfte. Über den alten Toreingang lassen sich nur Vermutungen anstellen. Weerth und Schuchhardt glaubten ihn im Süden suchen zu dürfen, da sich hier Reste des oben besprochenen Dammes befinden, den sie mit der Burg im Zusammenhang bringen. Im Inneren der Ringmauer traf man keine eindeutigen Mauer- und Fundamentreste an. Die verhältnismäßig schnelle Grabung ließ mit großer Sicherheit die Beobachtung von Ausbruchsgruben oder Pfostengruben nicht zu. Die in geringer Tiefe ergrabene 5 bis 10 cm starke, zusammenhanglose Mörtellage auf der Ostseite des Innenraumes geht vermutlich auf den Abbruch der Burg zurück. Eine sich abzeichnende Grube in der Mitte des Hügels ließ sich aufgrund der Funde als neuzeitlicher Eingriff erweisen. Von den Funden wird berichtet, dass sie bei der Ausgrabung zu Tage gefördert wurden. Über die Fundverteilung oder eine Fundeinmessung ist nichts ausgesagt. Unzweifelhaft ist aber ihre Herkunft aus den Grabungsschnitten.

Funde Während im Grabungsbericht von O. Weerth der Verbleib der Funde mit Klosterarchiv Loccum angegeben wurde,15 fand sich in den Ortsakten des Archäologischen Archivs im Niedersächsischen Landesamt der Hinweis, dass sich die Funde seit vielen Jahrzehnten im Niedersächsischen Landesmuseum zu Hannover befinden sollen. Tatsächlich fand sich bei einer Durchsicht im Magazin des Landesmuseums ein Karton mit Scherben, die mit »Luccaburg« beschriftet sind.16 Es handelt sich dabei um spätmittelalterliche Keramik (hartgebrannte, blaugraue Irdenware, Siegburger Steinzeug), die den Ortsakten nach aus den Grabungen 1914 von 0. Weerth stammen soll. Der frühere Erste Direktor des Landesmuseums und Landesarchäologe Prof. Dr. K. H. Jacob-Friesen lernte bei einem gelegentlichen Besuch im Archiv des Klosters Loccum die nach seiner Meinung aus der Grabung 1914 stammenden Funde von der Luccaburg kennen und bat in einem Schreiben vom 11. bzw. 12. November 1931 Abt und Konvent 15 Weerth (wie Anm. 4), S. 25. 16 Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Inv.-Nr. 702131 – 711131.

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Die Luccaburg und das Kloster Loccum

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des Klosters Loccum,17 die für die archäologische Landesforschung wichtigen Scherben im Interesse der Wissenschaft dem Provinzialmuseum in Hannover zu überlassen, damit das Scherbenmaterial aus möglichst vielen ur- und frühgeschichtlichen Befestigungen der Provinz an einer Stelle zum Vergleich nebeneinander zu finden ist. Der damalige Abt und hannoversche Landesbischof D. Marahrens kam dem Wunsche Jacob-Friesens nach und ließ dem Provinzialmuseum in Hannover durch den Konventual-Studiendirektor einen Karton Scherben als Leihgabe senden, was am 25. Januar 1932 geschah. Diese Scherben sind jedoch in keinem Falle mit den von Schuchhardt und Weerth beschriebenen Grabungsfunden von 1914 identisch.18 Vielmehr konnte sie Verf. bei einem Besuch im Kloster Loccum Anfang 1982 noch in der alten Fundkiste – ein wenig durcheinander, aber fast alle mit Nummern beschriftet – einsehen. Sie wurden damals neu verpackt und liegen bis auf einige ausgeliehene Stücke im Klosterarchiv. Ein Vergleich mit den Abbildungen, Beschreibungen und der Nummerierung bei Weerth und Schuchhardt lässt keinen Zweifel, dass es sich um die Grabungsfunde von 1914 handelt (Abb. 5).19 Der damalige Konventual-Studiendirektor sandte einen Karton spätmittelalterlicher Scherben, die – wohl ohne die Grabungspublikation von Weerth und Schuchhardt zu prüfen – als von der Luccaburg stammend im Landesmuseum inventarisiert wurden. Ob dies irrtümlich oder wegen der sehr eindringlichen Bitte absichtlich geschah, möge man dahin gestellt sein lassen. Die Funde der Grabung 1914 dürften einigermaßen vollständig erhalten sein, darunter die 19 Randstücke und der Henkel, die im Ausgrabungsbericht genannt sind.20 1982 wurden sie nochmals nach damaligem Forschungsstand publiziert, wobei zusammengehörende Stücke zusammengefasst wurden (vgl. Abb. 6 u. Abb. 7). Innerhalb der Keramik konnten sechs Warenarten unterscheiden werden: Ware A: Schwarzbraune Irdenware In der Regel geglättete bzw. überzugähnliche Oberfläche, im Bruch schwarz, schwarzgrau, grauschwarz, braunschwarz bisweilen ins Gräuliche spielend, manchmal mit rötlichem Kern. Oberfläche gelegentlich ockerbräunlich bis rötlich. Weicher Brand, mittelgrob bis grob gemagert. 17 Vgl. den Briefwechsel in den Ortsakten der Archäologischen Denkmalpflege, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Hannover, zwischen 11. 11. 1931 und 27. 2.1932. 18 Vgl. Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 93; Bildtaf. C u. Weerth (wie Anm. 4) S. 15 – 17; Taf 2. 19 An die Hilfe bei der Fundaufnahme und die fruchtbaren Gespräche mit dem damaligen Klosterarchivar Dr. Ernst Berneburg erinnert sich Verf. noch gerne. 20 Zum folgenden vgl. Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 93 u. Weerth (wie Anm. 4) S. 15 – 17.

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Ware B: Schwarze bis schwarzgraue Irdenware Oberfläche schwankend zwischen körnig und geglättet. Farbe der Oberfläche entspricht im wesentlichen der des Bruches. Verhältnismäßig weicher Brand, selten hart, mittelgrob bis grob gemagert (häufig Quarz). Ware C: Graue Irdenware älterer Machart Oberfläche und Bruch weißgrau, mausgrau bis blaugrau. Oberfläche körnig. Brand unterschiedlich hart oder weich. Ware D: Ziegelrote Irdenware Oberfläche ziegelrot, rot, im Bruch ebenfalls bisweilen mit hellgrauem Kern. Ware E: Helltonige feine Irdenware Oberfläche rötlich gelb mit hellgrauem Bruch; Kat. Nr. 26 und 27 besonders dünn-wandig, äußere Oberfläche mittelgrau (Sekundärbrand?), sonst im Bruch und auf der Innenseite weißgrau. Harter Brand. Ware F : Blaugraue Ware Oberfläche und Bruch blaugrau, hart gebrannt, grob gemagert. Bis auf einen Henkel dürfte es sich mehrheitlich um Kugeltöpfe gehandelt haben. Die Randformen sind relativ breit gestreut: Rundlich auslaufende Schrägränder mit durch Rille eingeschnürtem Hals (Abb. 6,5) spitzauslaufender Schrägrander (Abb. 7,11.13) (Abb. 6,3), s-förmige Ränder, oben gratig auslaufend, Hohlkehlbildung (Abb. 6,4; 7,16.20.28), schräg abgestrichene Ränder z. T. mit Abstrichstauchung und Hohlkehlbildung (Abb. 6,1.2.6), horizontal abgestrichene, scharf abknickende Ränder mit Hohlkehlbildung (Abb. 7,12.21), horizontal oben abgestufte, profilierte Ränder (Abb. 7,10), verdickte facettierte, horizontal abgestrichene Ränder (Abb. 6,7.9; 7,24) und wenig profilierte, rundlich auslaufende Ränder (Abb. 7,15). Die Keramikdatierung von Weerth und Schuchhardt ist inzwischen forschungsgeschichtlich überholt.21 Anhand verschiedener Vergleiche, insbesondere aus Hannover, dem Lipper Land und dem Weserbergland war es möglich, die Keramik der Luccaburg in die Zeit um die Mitte bzw. nach der Mitte des 12. Jahrhunderts einzuordnen.22 Zieht man jüngere Arbeiten zur Mittelalterkeramik heran, die das 12. Jahr21 Nach Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), 93, und Weerth (wie Anm. 4), 16 f.; 18, sollte die Masse der Funde in das 9. /10. Jahrhundert gehören, wobei jedoch Schuchhardt und Weerth einige Stücke auch in die Zeit um 1100 datierten. 22 Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 181 – 183 (»nicht jünger als letztes Viertel 12. Jahrhundert«).

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hundert miteinschließen, dann scheint sich der Ansatz zu bestätigen. Annemarie Büscher weist die Keramik der Luccaburg ihrem Horizont 2 zu.23 Dabei setzt sie die Warenarten A und B mit ihrer Warengruppe 4100 gleich, die Ware C mit ihrer Warengruppe 4200 und die Ware F mit ihrer Warengruppe 4400. Auch in der Verteilung vergleichbarer Komplexe aus Höxter sei nach Büscher ähnliche Vergesellschaftung zu beobachten: 40 % schwarzgraue Irdenware A und B (Büscher 4100), etwa 20 % graue Irdenware älterer Machart C (Büscher 4200) und ca. 20 % die gelbe Irdenware E. Auf die Individuenzahl gerechnet ergibt sich ein noch eindeutigeres Bild zugunsten der schwarzgrauen Irdenwaren24 (vgl. Tabelle 1). Der Komplex aus der Aegidienkirche in Hannover, der kurz nach Mitte des 12. Jhs. münzdatiert wird, entspricht nach Büscher diesem Bild,25 sodass sich für die Luccaburg ein Datierungsspektrum etwa 1. bis 3. Viertel 12. Jahrhundert ergibt. Auch Tobias Gärtner befasste sich im Rahmen seiner Dissertation mit der Luccaburg-Keramik. Der Ansatz der Luccaburg-Keramik in die Zeit wohl vor 1163 beruht vor allem auf dem Fehlen der für die spätere Zeit üblichen Halsriefen, wenn man von der plumperen Ausführung zwei paralleler Breitriefen absieht.26 Soweit die Luccaburg-Funde ihm zugänglich waren, schreibt Gärtner diese seinen Warengruppen 2500, 2550 oder 4400 aus dem Bereich Hannover (Altstadt, Wüstung Edingerode u. a.) zu. Aus der Neubewertung Gärtners der münzdatierten Schicht aus der Aegidienkirche ergibt sich keine Datierungsänderung der Luccaburg-Funde.27 Die Tabelle 1 stellt zusätzlich die Synchronisation der Warenarten nach Heine28 und Stephan29 dar, dem Gärtner im Wesentlichen gefolgt ist. Stephans chronologische Einordnung der Warenarten widerspricht der gewonnenen Datierung nicht. Rand- und Schulterformen eines Kugeltopfes (»ältere graue Irdenware«) aus der Grabung Braunschweig-Altewiek, Aegidienmarkt 9, lässt sich mit Gefäßresten von der Luccaburg vergleichen,30 die einen verdickten facettierten, horizontal abgestrichen Rand sowie 23 Annemarie Büscher: Die mittelalterliche Keramik der Altstadt von Hannover (= Veröffentlichungen der urgeschichtlichen Sammlungen des Landesmuseums zu Hannover 46), Oldenburg 1996, S. 115 f. 24 Basis: Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 180 f. 25 Büscher (wie Anm. 23), S. 115. 26 Tobias Gärtner: Die mittelalterliche Wüstung Edingerode. Archäologische Untersuchungen auf dem Expogelände in Hannover (= Beiträge zur Archäologie in Niedersachsen 6), Rahden/Westf. 2004, S. 30 f. in Bezug auf Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 176 Abb. 3,9. 27 Gärtner (wie Anm. 26), S. 127 28 Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 175; 177 29 Hans-Georg Stephan: Studien zur Siedlungsentwicklung und -struktur von Stadt und Reichskloster Corvey (800 – 1670). Eine Gesamtdarstellung auf der Grundlage archäologischer und historischer Quellen (= Göttinger Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 26,1 – 3), Neumünster 2000, S. 60 – 66 bzw. 76 – 81. 30 Heine, Keramikfunde (wie Anm. 1), S. 176 Abb. 3,7.9; 4,24

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eine Innenkehlung aufweisen und dort um 1150 datiert werden.31 Die Funde legen somit eine enge zeitliche Ablösung von Burg und späterem Kloster nahe, obgleich die Gründungsgeschichte noch eine Nachnutzung kennt, die aber nicht lange gedauert hat. Die Funde dürften fast ausnahmslos in die Zeit um die Mitte des 12. Jahrhunderts bis etwa um 1160/70 datieren.

Historische Einordnung In seinem Artikel ist Bernd Ulrich Hucker schon ausführlich auf Frühgeschichte und die handelnden Adelsfamilien eigegangen, die mit der Gründung des Klosters 1163 in Zusammenhang stehen, sodass hier nur wenige Bemerkungen nötig sind.32 Die archäologische Datierung der Funde von 1914 stimmt auffallend mit der bekannten historischen Überlieferung und den aus ihr gezogenen Schlussfolgerungen überein. Die Datierung der Burganlage und ihrer Funde ergibt sich, abgesichert durch einen Vergleich der Luccaburg-Funde mit anderen Fundplätzen, auch aus der Gründungsgeschichte des Klosters Loccum. Der Überlieferung nach33 stifteten Graf Wilbrand von Hallermund und seine Gemahlin Beatrix als Erben des zwischen 1113/19 und 1130 genannten Grafen Burchard von Lucca34 1163 das Zisterzienserkloster Loccum. In der Bestätigungsurkunde von 1170/85 heißt es, dass Graf Wilbrand von Hallermund u. a. einen locum in Lucca cum villa für sich und seine Familie sowie dem Andenken 31 Vgl. Hartmut Rötting: Stadtarchäologie in Braunschweig. Ein fachübergreifender Arbeitsbericht zu den Grabungen 1976 – 1992. Erweiterte Neuauflage mit Forschungsbericht 1997 (= Forschungen zur Denkmalpflege in Niedersachen 3), Hameln 1997, S. 146 f. Abb. 80,2. 32 Bernd Ulrich Hucker: Die Grafen von Lucca und Hallermund und die Anfänge der Zisterzienserabtei in Loccum (in diesem Bande, S. 35). 33 Calenberger Urkundenbuch. 3. Abteilung. Archiv des Klosters Loccum. Heft 1bis zum Jahre 1300. Hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg (Hannover 1858), S. 1 f. Nr. 1 (= Cal. UB). (Neuedition in Vorbereitung, frdl. Hinweis M. von Boetticher). 34 Vgl. u. a. Klemens Löffler: Die Bischofschroniken des Mittelalters (= Mindener Geschichtsquellen 1), Münster in Westf. 1917, S. 52; 152; 157 – Zu den Grafen von LoccumHallermund mit älterer Literatur : Wolfgang Petke: Die Grafen von Wöltingerode-Wohldenberg. Adelsherrschaft, Königtum und Landesherrschaft am Nordwestharz im 12. und 13. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 4), Hildesheim 1971, S. 7 – 16; Gerd Steinwascher : Loccum, in: Ulrich Faust (Bearb.), Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg. (= GermBen12. Norddeutschland), München 1994, S. 308 – 348; hier S. 308 – 310; Heutger (wie Anm. 1), S. 23 – 26; Friedhelm Biermann: Der Weserraum im hohen und späten Mittelalter. Adelsherrschaften zwischen welfischer Hausmacht und geistlichen Territorien (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 49), Bielefeld 2007, S. 92 – 94; Hucker (wie Anm. 32).

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des Grafen Burchard schenkte, dessen Erbe und Nachfolger er war.35 Bei diesem Platz dürfte es sich nicht um die Burg gehandelt haben, sondern um das spätere Klostergelände,36 zumal es den Zisterziensern eigentlich nicht gestattet war, in einer Burg zu siedeln: In civitatibus, castellis, villis, nulla nostra construenda sunt cenobia (In Städten, Burgen, Dörfern darf keines unserer Klöster errichtet werden).37 Dass aber durchaus Burgplätze als Gründungsorte von Zisterzienserklöstern benutzt wurden, zeigt die Auswertung der Grabungen auf der Burg Berge / Altenberg (Rheinisch Bergischer Kreis) von Mattias Untermann. 1133 fällt der Burgplatz an die Gründermönche. Dort brachen die Mönche die Burggebäude weitgehend ab, planierten das Gelände und begannen mit Bauarbeiten. Doch schon gut ein Jahrzehnt später waren die Möglichkeiten erschöpft, sich auf dem begrenzten Burgareal baulich auszuweiten, sodass man, ohne die Bauten zu vollenden, ins Tal zog und 1145 eine neue Klosterkirche weihte, die Vorgängerin des späteren Altenberger Doms.38 Untermann führt noch einige weitere Gründungen des Zisterzienserordens in verlassenen Burgen an: Volkenroda, das Mutterkloster von Loccum, in Thüringen wurde in einer Reichsburg gegründet; auch Arnsburg in Hessen ist eng mit der Geschichte einer Burg verbunden, die schließlich verlassen wurde.39 In der Nähe des 1218 gegründeten Zisterzienserklosters Ihlow bei Aurich (Ostfriesland) stand ebenfalls eine Burg vom Typ Motte, die wie im Falle der Luccaburg unmittelbar danach aufgegeben wurde.40 Schon Gerhard Streich ist in seiner Dissertation auf den Funktionsverlust bzw. die Auflassung von Herrensitzen und Burgen im Zuge der Gründung

35 Cal. UB (wie Anm.33) 3, S. 10 Nr. 8. 36 So schon: Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 92 f.; Weerth (wie Anm. 3), S. 6 f. 37 Capitula c. 9 (vor 1123/24): Jean de la Croix Bouton / Jean-Baptiste van Damme: Les plus anciens texte de C„teaux (= C„teaux.SD 2), Achel, 2ed. 1985, S. 121; FranÅois de Place, C„teaux. Documents primitivs. text latin et tracduction franÅaise, C„teaux 1988, S. 126 f.); Instituta c. 1 (vor 1152): Joseph M. Canivez: Statuta captitolorum generalium ordinis Cistercoesnis ab anno 1116 ad annum 1786, Bd. 1, Louvain 1933, S. 13. – Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst, Köln 1969, S. 121; 300; Günther Binding / Matthias Untermann: Ordensbaukunst in Deutschland, Darmstadt 1985, S. 185; Matthias Untermann: Forma Ordinis. Die mittelalterliche Baukunst der Zisterzienser, München / Berlin 2001, S. 184 (Quellennachweis). 38 Mattias Untermann, Die Grabungen auf der Burg Berge (Mons)- Altenberg (Gem. Odenthal, Rheinisch-Bergischer Kreis), in: Beiträge zur Archäologie des Mittelalters (= Rheinische Ausgrabungen 25), Köln 1984, S. 1 – 170; hier S. 104 f.; ders.: Ausgrabungen (wie Anm. 14), S. 29 f. 39 Untermann, Berge (wie Anm. 38), S. 106; ders.: Ausgrabungen (wie Anm. 14), S. 28 – 36; ders.: Forma Ordinis (wie Anm. 37), S. 183 – 192. 40 Untermann, Ausgrabungen (wie Anm. 14), S. 36; Hans-Wilhelm Heine: Zur Archäologie mittelalterlicher Burgen aus Holz und Erde zwischen Ems und Ostsee. Ein Forschungsbericht, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 72, 2003, S. 75 – 110; hier S. 83 f. Abb. 17.

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von Klöstern und Stiftern eingegangen.41 Dieser Frage wird sich in Zukunft eine Osnabrücker Dissertation intensiver zuwenden.42 In der um 1260 entstandenen, 1344 niedergeschriebenen Vetus narratio de fundatione monasterii Luccensia wird außerdem vermerkt, dass der älteste Sohn Wilbrands, der Graf Burchard von Hallermund, nach seinem Tode im Turnier in Nienburg in insula, quae antiqua Lucca dicta est begraben wurde (um 1170).43 Bei dieser insula, die als Alt-Lucca bezeichnet wird, handelt es sich der älteren Forschung nach ohne Zweifel um die Luccaburg, wobei Gerhard Streich eine ältere Burgkirche auf der Luccaburg annimmt, neben der die ältere Klostersiedlung gelegen habe. Für diese gibt es bislang keinen archäologischen Beleg, der auch nicht zu erwarten ist. Wohl schon kurze Zeit später, nicht erst 1240, wie Gerhard Streich meint, wurden die Gebeine des Grafen Burchard von Hallermund in das neu entstandene Kloster überführt.44 Aus guten historischen Gründen wird man mit der Auflassung der Burgstelle um 1163 rechnen dürfen. Die Nachnutzung als Bestattungsort war nur von kurzer Dauer. Die Stätte des Begräbnisses (in einer älteren oder hierfür errichteten Kapelle?) ist bei den Grabungen 1914 nicht gefunden worden. Für die Grabungsfunde ergibt sich somit aus den Geschichtsdaten ein erschlossener terminus ante quem vor bzw. um 1163. Zum Begriff der insula schreibt Christoph Erich Weidemann: Die Luccaburg kommt auch in der Urkunde Nr II vor, unter dem Namen insula, quae antiqua Lucca dicta est; denn in Du Cange’s Glossar wird insula erklärt durch domus ab alliis separata. Damit ist für ihn klar, dass der Burghügel im Sündern in seiner inselhaften Lage, die offensichtlich durch Abgrabungen noch mehr herauskam, mit der Luccaburg gleichzusetzen ist.45 Dies blieb nicht unwidersprochen, da sie H. L. Ahrens sonst nirgends erwähnt findet.46 Der Begriff insula bzw. werder spielt aber als potenzieller Platz für eine Burg in den Rechtsquellen eine wichtige Rolle47. Der zwischen 1220 und 1235 entstandene Sachsenspiegel verlangt aus41 Gerhard Streich: Burg und Kirche während des deutschen Mittelalters. Untersuchungen zur Sakraltopographie von Pfalzen, Burgen und Herrensitzen (= VKAMAG 29/I u. II), Sigmaringen 1984, S. 466 – 481; vgl. auch ders.: Adel, Burg und Klostergründung. Motive und Familienkonstellationen zwischen »Haus«- und »Gedächtnisklöstern« im hohen Mittelalter, in: Sabine Arend u.a (Hrsg.): Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag (= Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 48), 2. Aufl. Bielefeld, 2007, S. 39 – 71. 42 Frdl. Hinweis Simon Haupt, Bramsche. 43 Cal. UB (wie Anm.33) 3, S. 2 f. Nr. 1. 44 Streich, Adel (wie Anm. 41), 67 f. 45 Weidemann (wie Anm. 6), S. 3; nach Du Cange, Charles du Fresne: Glossarium ad scriptores mediae et infimae Latinitatis, Frankfurt/Main 1710, Sp. 94. 46 H. L. Ahrens: Zur ältesten Geschichte des Klosters Loccum, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1872, S. 1 – 47; hier S. 62 f. 47 Vgl. zuletzt Hans-Wilhelm Heine, Burg und Recht – Zum Burgenbaurecht im »Sachsen-

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drücklich, dass die Bebauung eines werder (Insel) vom Landrichter genehmigt werden muss48. Das Suffix -werder kommt häufiger in Burg- und Stadtnamen vor und betont die inselhafte geschützte Lage (z. B. Marienwerder/Westpreußen, ehem. Burg Werder – Sitz gleichnamiger Grafen im Hildesheimischen – , Bodenwerder und Giselwerder an der Weser). Ein Vorläufer der Bestimmung im Sachsenspiegel findet sich bereits in den Consuetudines et justicie der Herzöge der Normandie (1091): Et in rupe et in insula nulli licuit facere fortitudinem,…49

Die Luccaburg im Kontext der europäischen Burgenforschung Dem Erscheinungsbild nach gehört die Luccaburg zu den Burgen vom Typ »Motte«50, deren Überreste jedoch nicht die Höhe eines Husterknupps (Rheinland)51 oder der ehemaligen Burg Elmendorf bei Bad Zwischenahn52 erreichen. Die Luccaburg zeigt aber das wesentliches Merkmal der Burgen vom Typ »Motte«: einen Graben umzogenen Hügel von 3,5 bis 4 m Höhe. Anstelle der zu erwartenden Vorburg wird man am Niederungsrand einen zugehörigen Wirtschaftshof suchen müssen. Die Luccaburg gehört aber zu den relativ frühen Burgen dieser Gattung in Niedersachsen, auch wenn sie nicht die Ausmaße der ehemaligen Burg Elmendorf bei Bad Zwischenahn erreicht, die ebenfalls in die erste Hälfte bzw. Mitte des 12. Jahrhunderts gesetzt wird. Ob die Luccaburg eine ältere Siedlungsstelle als Vorgänger hatte, bleibt zweifelhaft. Dagegen spricht ihre in Wald- und Niederungsgebiet isolierte Lage. Sie verkörpert damit die von der übrigen Bevölkerung abgesetzte Lage als Zeichen einer sozialen Segretion. Im Mittelgebirgsraum äußerte sich dies mit dem Bau von Burgen hoher Adeliger auf Bergeshöhen,53 wie man es auch schon im benachbarten Schaumburger

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spiegel«, in: Die Burg. Wissenschaftlicher Begleitband zu den Ausstellungen »Burg und Herrschaft« und »Mythos Burg«. Hrsg. v. G. Ulrich Großmann u. Hans Ottomeyer, Dresden 2010, S. 56 – 63; hier S. 58 (mit weit. Lit.). Sachsenspiegel, LdR III, 66 § 2: Karl August Eckhardt (Hrsg.): Sachsenspiegel. Landrecht (= MGH .F N. S . 1,1), Göttingen, verb. Nachdruck 1973, S. 252. Charles Homer Haskins: Norman Institutions, Cambridge MA 1918, S. 282. Vgl. schon Oppermann / Schuchhardt (wie Anm. 3), S. 18. Adolf Herrnbrodt: Der Husterknupp. Eine niederrheinische Burganlage des frühen Mittealters (= Bonner Jahrbücher, Beih 6), Köln / Graz 1958; ergänzend zum Forschungsstand: Reinhard Friedrich: Zum Forschungsstand der mittelalterlichen Motten am Niederrhein, in: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 23, 2007 (2008), S. 85 – 98. Vgl. Dieter Zoller: Beschreibung der Burgen und Adelssitze in der Gemeinde Bad Zwischenahn. In: Chronik der Gemeinde Bad Zwischenahn. Menschen – Geschichte – Landschaft (hrsg. von der Gemeinde Bad Zwischenahn). Bad Zwischenahn 1994, S. 137 – 164; hier S. 137 – 150 (letzte Zusammenfassung des Ausgräbers); Heine, Burgen 2008 (wie Anm. 1), S. 62 – 64. Streich, Burg und Kirche (wie Anm. 41), S. 465.

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Wesertal beobachten kann. Erstaunlicherweise finden sich gerade hier mit der Osterburg bei Deckbergen (Ldkr. Schaumburg) oder der ehemaligen Burg Rohden nahe Hess. Oldendorf (Ldkr. Hameln-Pyrmont) siedlungsferne Burgen der ersten Hälfte bzw. Mitte des 12. Jahrhunderts, bei denen die Idee der Motte ins Bergland übertragen wurde.54 Kern einer »Burg vom Typ Motte« ist ein Hügel, der in einer Niederung aufgeschüttet oder aus einem bergigen bzw. hügeligen Gelände heraus gestaltet worden ist.55 Dem Burghügel zugeordnet ist entweder eine ebenfalls befestigte Vorburg mit Wirtschafts- und Wohngebäuden oder ein in der Nähe befindlicher Meierhof, von denen aus in friedlichen Zeiten die Burg gepflegt und versorgt werden konnten. Auf dem Hügel steht meist ein repräsentativer Turm oder ein festes Haus, die in der Regel eng von einer Palisade oder Mauer umgeben sind. Die Bebauung kann aus Holz oder aus Stein bestanden haben. Daneben gibt es auch Burgen vom Typ Motte, die eine randliche oder lockere Bebauung auf dem Plateau aufweisen, weswegen von manchen die neutralere Bezeichnung »Burghügel« vorgezogen wird. »Burgen vom Typ Motte«, im deutschen Sprachgebiet regional u. a. als Turmhügel bzw. Turmhügelburg, Hausberg, Bühl, Büchel, Borwall, Boll, Wal, Wall oder Walberg bezeichnet, entstanden um bzw. nach 1000 im nördlichen Frankreich, von wo aus sie sich auf die Britischen Inseln, über ganz Frankreich, den Einzugsbereich des Rheines und mit gewissen zeitlichen Verzögerungen über ganz Mitteleuropa bis nach Polen, Tschechien, Slowakien, Ungarn, Rumänien sowie Südskandinavien und die baltischen Staaten ausbreiteten und noch bis ins 14./15. Jahrhundert angelegt wurden. Wie die Motten in ihrer Frühzeit ausgesehen haben, zeigt z. B. der bekannte Teppich von Bayeux (um 1070/80) in mehreren Darstellungen.56 Schaut man über die Elbe nach Norden und Nordosten, so finden sich die Burgen vom Typ Motte in der Masse erst relativ spät, vor allem im 14. Jahrhundert. Häufig sind es recht kleine Anlagen, sodass man sich häufig fragen darf, ob man es mit einer Motte oder Turmburg zu tun hat. Hier wird dann häufig der Begriff »Turmhügel« bzw. 54 Hans-Wilhelm Heine: Schaumburger Land – Burgenland. Die mittelalterlichen Burgen der alten Grafschaft Schaumburg (= Wegweiser zur Vor- und Frühgeschichte Niedersachsens 29), Oldenburg 2010, S. 17 f. 55 Zum europäischen Forschungsstand der Burgen vom Typ Motte: Les fortifications de terre en Europe occidentale du Xe au XIIe siÀcles. Colloque de Caen, 2 – 5 octobre 1980, in : ArMed 11, 1981, S. 5 – 123; Hermann Hinz: Motte und Donjon. Zur Frühgeschichte der mittelalterlichen Adelsburg (= Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beih. 1), Köln / Bonn 1981; Robert Higham / Philip Barker, Timber Castles, London 1992 /reissued: Exeter 2004; Sabine Felgenhauer-Schmiedt u. a. (Hrsg.): Motte – Turmhügelburg – Hausberg. Zum europäischen Forschungsstand eines mittelalterlichen Burgentypus, in: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 23, 2007 (2008) (ganzer Band). 56 Lucien Musset: La Tapisserie de Bayeux, nouvelle ¦dition, Paris 2002, 136 f. Sc. 18; 139 f. Sc. 19; 144 f. Sc. 22; 215 f. Sc. 45.

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»Turmhügelburg« verwendet. Die Turmburg mit ihrem – in der Regel – zentralen, festen Gebäude und eng umschließender Ringmauer oder Palisade bietet nur wenig Platz für Nebengebäude. Auch ihr können Vorburgen oder Wirtschaftshöfe zugeordnet sein. Der enge Zusammenhang von Burgen des Typs Motte, der Turmhügelburgen und der »Turmburgen«, aber auch der »Wohntürme« und sog. »Festen Häuser »auf Herrenhöfen und in größeren Burganlagen ist von der neueren Forschung weiter herausgearbeitet worden.57 Das Verbreitungsgebiet der Turmburgen geht über das der Motten noch weit hinaus, so z. B. bis in die Iberische Halbinsel oder die Kreuzfahrerstaaten hinein. Eine wissenschaftliche Zusammenstellung aller Burgen vom Typ Motte, geschweige denn der Turmburgen oder verwandter Kleinadelssitze, in Niedersachsen gibt es bislang nicht.58 Von den Anlage der ersten Hälfte bzw. Mitte des 12. Jahrhunderts, wie Elmendorf, die Luccaburg, die Osterburg bei Deckbergen oder die ehemalige Burg Rohden hebt sich eine größere Gruppe häufig kleinerer Burgen vom Typ Motte ab, die ihren Ausbau oder Neubau erst kurz vor oder um 1200 erfahren haben. Als Beispiel mag hier Bernshausen am Seeburger See (Ldkr. Göttingen) stehen. Der Burghügel (Borgwall) besitzt eine Höhe von 4 m Höhe über dem Wasserspiegel des nahen Sees und einen Durchmesser von ca. 50 m. In der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts entsteht ein erster kleinerer Burghügel, vermutlich mit Fachwerkbebauung. Danach folgt in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts eine kräftige Erhöhung.59 Die archäologisch spätestens 1220 datierte Motte Kahlenberg nahe Lutter am Barenberge (Ldkr. Goslar) liegt in einem Niederungsgebiet. Der steilwandige rundliche Hügel war ehemals 5 m hoch, hatte einen Durchmesser von 22 m und einen umlaufenden Graben. Der Hügel selbst besteht aus festen horizontalen Aufträgen. Gesichert ist die Existenz eines Ständersteines als Grundlage für ein hölzernes Gebäude oder einen Turm.60 Die Burg diente wohl einem Ministerialen der Hildesheimer Bischöfe als Stützpunkt, um dessen Rechte am Bergbau im nahen Harz zu sichern. Die Reste der ehemaligen Burg Blankenhagen finden sich ca. 600 m nordöstlich von Grethem, Ldkr. Soltau-Fallingbostel, im Niederungsgebiet der Aller. Kern der Burg ist ein Burghügel von ca. 25 m Durchmesser und ca. 4,5 m Höhe. Der Burghügel, Rest einer Motte, ist durch spätere Eingriffe und Tierbauten in 57 Vgl. hier z. B. Heinz Müller (Hrsg.): Wohntürme. Kolloquium 2001 auf Burg Kriebstein (= Burgenforschung aus Sachsen. Sonderheft), Langenweißbach 2002; Stefan Hesse: Die mittelalterliche Siedlung Vriemeensen im Rahmen der südniedersächsischen Wüstungsforschung (= Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte 28), Göttingen 2003, S. 16 – 38. 58 Zum Stand der Forschung über die Burgen von Typ Motte und Turmburgen in Niedersachsen: Heine, Burgen 2008 (wie Anm. 1) (dort auch weiterführende Literatur und Zusammenfassung wichtiger Grabungsergebnisse). 59 Klaus Grote: Bernshausen. Archäologie eines mittelalterlichen Zentralortes (= Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beih. 16), Köln / Bonn 2003, S. 94 – 108; 343 – 346. 60 Heine, Burgen 2008 (wie Anm. 1), S. 66.

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Mitleidenschaft gezogen. Um den Hügel ziehen sich auf 8 bis 12 m Breite in Form einer muldenförmigen Vertiefung die Spuren eines zugeworfenen Grabens. Ca. 40 m nordöstlich liegt ein weiterer unregelmäßiger Hügel von 30 auf 15 m Größe und mit einer Höhe von ca. 3 m, womöglich der Rest eines weiteren Mottenhügels. Östlich davon sind noch weitere Wall- und Grabenreste vorhanden. Die Burg Blankenhagen gilt als Gründung der Herren von Blankena, enger Verwandter der Edelherren von Hodenberg. Eine Gründung vor 1200 scheint ausgeschlossen.61 Durch die Arbeit der Denkmalpflege und im Zuge einer Durchmusterung des Raumes Hildesheim – Salzgitter – Wolfenbüttel – Braunschweig für die Historische Regionalkarte Niedersachsens nach Burgen ist die Forschung auf eine größere Anzahl, z. T neu entdeckter Burgen vom Typ Motte gestoßen, die meist Ministerialen des Bischofs von Hildesheim oder der Welfen gehört haben und ins ausgehende 12. bis 13. Jahrhundert datieren dürften.62 Kehrt man in das Gebiet zwischen Mittelweser und Leine zurück, so finden sich auch hier einige Burganlagen, die zum Motte-Typ gerechnet werden.63 So ist z. B. der Burghügel im Ringwall von Heeßel (knapp 2 m hoch) zu nennen, die kleine ›Motte‹ Himmelreich bei Neustadt a. Rbge. (2 – 3 m hoch), die ehemalige Burg Limmer (Stadt Hannover), die ehemalige Burg Lembruch am Dümmer (Ldkr. Diepholz), die ehemalige Burg Stumpenhausen bei Wietzen (Ldkr. Nienburg) oder eine verschwundene Motte mit Vorburg in der Weserniederung, der Hodenberg (Altenbücken, Ldkr. Nienburg), der als Sitz der gleichnamigen Edelherren 1189 erstmals bezeugt ist und 1206 zerstört wurde. Die Burg Wölpe (bei Nienburg) wird derzeit von Jens Berthold untersucht, wobei u. a. der Frage nachzugehen ist, ob sich unter dem Schutthügel Reste einer hochmittelalterlichen Motte befinden oder nicht, was aber wahrscheinlich wäre. Wie kann man sich nun auf Grund von Vergleichen die Luccaburg vorstellen? 61 Hans-Wilhelm Heine: Das Projekt »Burgenlandschaft Aller-Leine-Tal« – Burgen im Fluss, in: Burgen und Schlösser 47(1), 2006, S. 14 – 22; hier S. 16 f. Abb. 5 u. 6; 21 f. 62 Hans-Wilhelm Heine: Unbekannte Burghügel und Motten östlich von Hildesheim (Niedersachsen), in: Burgen und Schlösser 49(2), 2008, S. 77-82; ders.: Burgen, Bergfriede, Türme, in: Arnd Reitemeier / Gerhard Streich (Hrsg.): Regionalkarte zur Geschichte und Landeskunde, Blätter Braunschweig und Salzgitter im Maßstab 1:50 000 (= Regionalkarte zur Geschichte und Landeskunde, Teil 2), Hannover (im Druck 2012); ders.: Burgen, Bergfriede, Türme, in: Arnd Reitemeier / Gerhard Streich (Hrsg.), Regionalkarte zur Geschichte und Landeskunde, Blätter Hildesheim und Bad Salzdetfurth im Maßstab 1:50 000 (= Regionalkarte zur Geschichte und Landeskunde, Teil 3), Hannover (im Druck 2012); vgl. auch Lars Kretzschmar: Die Schunterburgen (= Beihefte zum Braunschweigischen Jahrbuch 14), Braunschweig 1997, S. 29; 265 – 267, oder Michael Geschwinde / Christian Schweitzer: Das Geheimnis der »Wasserburg«. Prospektion und Sondage einer hochmittelalterlichen Niederungsburg bei Vöhrum, Stadt Peine, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 76, 2007, S. 139 – 163 (Turmburg dendrochronologisch datiert 1180). 63 Heine, Burgen 2002 (wie Anm. 1), S. 165 – 175.

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Gesichert ist eine umlaufende Mauer, der außen im unteren Teil bis auf ca. 2 m Höhe eine geschichtete Erdpackung vorgesetzt worden war. Die Mauer könnte noch 2 bis 3 m über das heutige Hügelplateau hinausgeragt haben. Das Innere des Hügels bestand den Berichten nach aus Erde ohne Mauer-, Schutt- und Mörtelspuren, sodass hier mit einer Holzbebauung, einem Turm oder einem festem Gebäude und Nebengebäuden zu rechnen ist. Der Zugang ist unbekannt. Der sich andeutende Aufgang im Osten dürfte mit der Verschönerung 1915 zusammenhängen. Eine gewisse Ähnlichkeit hat die Luccaburg mit sog. ShellKeeps, wie man sie z. B. aus den Niederlanden oder England kennt.64 Motten wie Leiden (NL) oder Restormel (Cornwall) sind sehr viel größer angelegt. Doch zeigen die niederländischen Beispiele wie Leiden, Kessel oder Oostvorne im Größeren wie es in Loccum ausgesehen haben könnte (Abb. 8). Eine tief gegründete Ringmauer umgibt das Hügelplateau, eine Technik, die in den Niederlanden seit der ersten Hälfte bzw. Mitte des 12. Jahrhunderts nachgewiesen ist.65 Ob ein direkter Einfluss bestand, ist natürlich nicht nachweisbar. Verwandtschaftliche, freundschaftliche und Beziehungen des Familienverbandes der Grafen von Loccum-Hallermund sind weit nach Westen bis Friesland oder über die Herren von Gemen und die Grafen von Rheineck (Mittelrhein) / Bentheim nachweisbar und eng,66 was die Kenntnis moderner Burgenbautechniken ermöglichen konnte.

Zusammenfassung Die Bedeutung der Luccaburg für Denkmalpflege und Forschung liegt einmal darin, dass sie, wenn auch durch gewisse Eingriffe beeinträchtigt, als Anschauungsobjekt einer Burg vom Typ Motte des mittleren 12. Jahrhunderts im üblichen Verfallsstadium erhalten ist. Für die zukünftige Forschung bleibt hier die Frage, ob die Luccaburg den turmbewehrten ›Motten‹ zuzurechnen ist oder eher mit randständiger oder lockerer Bebauung auf dem Burghügel zu rechnen ist. Sicher wird den alten Grabungsbefunden nach mit einer Holzbebauung zu rechnen sein. Für das mittlere Wesergebiet liegt mit den Keramikfunden auf64 Hinz, Motte und Donjon (wie Anm. 55), S. 48 – 50 mit Abb. 26; Hans L. Janssen: The archaeology of the medieval castle in the Netherlands. Results and prospects for future research, in: J. C. Besteman u. a. (Hrsg.): Medieval Archaeology in the Netherlands (= Studies in Prae- en Protohistorie 4), Assen 1990, S. 219 – 264; hier S. 231 – 235 mit Fig. 12, 13 u. 15; ders.: Zwischen Befestigung und Residenz. Zur Burgenforschung in den Niederlanden, in: Forschungen zu Burgen und Schlösser 8, München / Berlin 2004, S. 9 – 34; hier S. 16 – 19 mit Abb. 6 u. 7. 65 Janssen, Befestigung (wie Anm. 64), S. 18. 66 Petke (wie Anm. 34), S. 12 f.; Streich, Adel (wie Anm. 41), S. 65 – 68; Hucker (wie Anm. 32).

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grund archäologischer und historischer Erwägungen ein zeitlicher Fixpunkt zur Keramikchronologie vor (um 1160/70). Baugeschichtlich hat sich ergeben, dass die Luccaburg mit ihrer den Hügel einfassenden Ringmauer einzigartig in Niedersachsen dasteht und nur mit entsprechenden Burgen vom Typ Motte in den Niederlanden und England zu vergleichen ist, die aber etwas größer ausfallen. Die Burgen vom Typ Motte sind ähnlich weit verbreitet wie die Klostergründungen der Zisterzienser und damit ein das christlich-abendländische Europa verbindendes Element.

Abb. 1. Historische Topographie zwischen Loccum und Steinhuder Meer. Luccaburg beim Kloster Loccum südlich des Klosters Loccum. Nach H. W. Böhme: Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern in Deutschland 49, Mainz 1981, S. 132 Abb. 1 (ergänzt).

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Abb. 2. Luccaburg beim Kloster Loccum im Sündern. Neuvermessung November 2011. Unten: Vermessungsplan. Oben: 3D-Darstellung des Hügels mit umlaufendem Graben. Planaufnahme und Datengrundlage: Vermessungsbüro M. Thede, Spenge; 3D-Darstellung: Verf.

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Abb. 3. Vermessungs- und Grabungsplan 1914. Links: Originalaquarell im Klosterarchiv Loccum; Foto: C.S. Fuchs, NLD. Rechts: umgezeichnet für den Druck, vgl. Anm. 7.

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Abb. 4. Gelände um die Luccaburg nach dem Plan von J. Th. Willich (1753). Deutlich sichtbar die Wasserführung von Fulde und Tiergartenbach. Letzterer über die flache Anhöhe südlich der Luccaburg herum geführt. Eingetragen die Flur- und Irtsbezeichnungen: 1753 (Foto: Verf. mit frdl. Erlaubnis des Klosterarchivs Loccum).

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Abb. 5. Funde von der Luccaburg aus den Grabungen 1914. Foto von Weerth (wie Anm. 4), Taf. 2.

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Abb. 6. Funde von der Luccaburg aus den Grabungen 1914. 1 – 7 Schwarzbraune Irdenware (A). 9 Schwarze bis Schwarzgraue Irdenware (B). Zeichnungen: Verf.

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Abb. 7. Funde von der Luccaburg aus den Grabungen 1914. 9 – 13 Schwarze bis Schwarzgraue Irdenware (B). 1 – 16 Graue Irdenware ältere Art (C). 19 – 21 Ziegelrote Irdenware (D). 24 Helltonige Irdenware (E). 28 Blaugraue Irdenware (F). Zeichnungen: Verf.

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Abb. 8. Luccaburg beim Kloster Loccum. Rekonstruktionsversuch / Burg vom Typ Motte mit sog. Shell-Keep (Leiden).

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Tabelle 1. Verteilung der Warenarten Luccaburg bei Loccum (St=Warenarten nach Stephan [wie Anm. 29]).

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Bernd Ulrich Hucker

Die Grafen von Lucca und Hallermund und die Anfänge der Zisterzienserabtei Loccum

1.

Rote Rosen auf dem Stiftergrab

Bis zum heutigen Tage legt der Abt von Loccum am ersten Sonntag nach Trinitatis drei rote Rosen auf die Hallermunder Grabplatte im Kapitelsaal.1 Diese »stumme«, weil inschriftlose Sandsteinplatte zeigt einen Kreuzstab, der aus dem Hallermunder Schild emporwächst. Das Wappen besteht aus drei fünfblättrigen Rosen (2 : 1).2 Seine Schildform kann anhand heraldischen Vergleichsmaterials auf 1230/50 datiert werden3, womit die Grabplatte der Zeit des frühgotischen Neubaus des Klosters angehört. Wahrscheinlich ist sie gleichzeitig mit derjenigen für den Edelherren Dietrich I. von Adensen, der an einem 1. Juli bald nach 1236 verstarb und im Kloster als Stifter galt (Thidericus de Adenoys unus fundatorum), was sich nur auf eine Nachstiftung, also wohl den frühgotischen Neubau des Klosters ab 1217 beziehen kann.4 Zu einem Wappen gehören konstitutiv die Farben. Der hannoversche Numismatiker Hermann Grote gab die Tingierung des Hallermundschen Wappens wie folgt an: »3 Rosen weiß rot-besaamt in blau« und fügte hinzu, dass »spätere 1 Horst Hirschler/Ernst Berneburg (Hrsg.): Geschichten aus dem Kloster Loccum, 3. Aufl. Hannover 1992, S. 17 (Sp. b). 2 Hirschler (wie Anm. 1), S. 16; Hector Mithoff, Heinrich Wilhelm, Carl Ludwig Grotefend: Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen. Erster Band: Fürstenthum Calenberg, Hannover 1871, Taf. IV. 3 Otfried Neubecker : Heraldik. Wappen – ihr Ursprung, Sinn und Wert. Mit Beiträgen von J. P. Brooke-Little, gestaltet von R. Tobler, Frankfurt a. M. 1977, S. 76 (Spalte »Deutschland«). Nicht »Ende des 12. Jahrhunderts«, wie von Hirschler (wie Anm. 1) angenommen. 4 Calenberger Urkundenbuch III, hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg, Hannover 1858 (i.F.: Calenb. UB III), Nr. 1 (S. 4); die Inschrift bei Mithoff (wie Anm. 2), S. 130; über den Neubau des Klosters vgl. Urs Boeck und Joachim Gomolka: Wann entstand Kloster Loccums Kirche? Archivalien, Bauanalysen und die Dendrochronologie, Berichte z. Denkmalpflege in Niedersachsen 20 (2000), S. 55 – 60; Bernd Ulrich Hucker: Der monumentale Imperialstil in Deutschland 1206– 1218: Kaiser Otto IV., der Magdeburger Domneubau und die Zisterziensergotik, in: Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit. Landesausstellung Sachsen-Anhalt [Kat.], hrsg. von M. Puhle, 2 Bde., Mainz u. Magdeburg 2009, Bd. 1, S. 84 – 97.

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Wappenbücher« die »Rosen rot in weiß« führten.5 Das ist in der Tat im 18./ 19. Jahrhundert auch der Fall bei den Reichsgrafen von Platen-Hallermund.6 Die mittelalterlichen Quellen vermögen keine Entscheidung herbeizuführen: die älteste farbige Darstellung auf dem Quedlinburger Wappenkästchen Ottos IV. von 1209 zeigt drei silberne Rosen auf Rot7, während Gelres Wappenbuch und der Lüneburger Wappentisch – beide aus dem 14. Jahrhundert – die Silberrosen auf Blau haben.8 Auch das Wolfenbütteler Wappenbuch von 1473/82 zeigt dieselben Tinkturen9, ferner eine Gedenktafel des Herzogs Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg.10 Scheint nach all dem das Metall Silber im Wappen unstrittig zu sein, so irritieren wiederum die Farben der Siegelfäden, die die Grafen für ihre Beurkundungen benutzten und die sich doch gewöhnlich nach der Tingierung des Wappens richten: Graf Ludolf II. siegelte 1239 mit weißen und blauen Seidenfäden; 1243 jedoch mit roten.11 Es waren sich also offenbar selbst der Graf Ludolf und seine Kanzlei nicht im Klaren darüber, welche Farbe zu dem Metall (Silber) zu verwenden war : Rot oder Blau. Solche Schwankungen im Gebrauch der Tingierung sind in der Frühzeit der Heraldik nichts Seltenes. Die kommunale Heraldik der gräflichen Städte Springe und Eldagsen zeigen rote Rosen auf Silber bzw. eine silberne Rose auf Gold – letzteres ist heraldisch unzulässig.12 Das Blau mag eine Reminiszenz an die Farben der Käfernburg-Schwarzburger Grafen gewesen sein, die in die Familie der älteren Grafen von Hallermund einheirateten. Die Käfernburger führten nämlich einen goldenen Löwen auf Blau im Schilde.13 Auch die benachbarten und verwandten Edelherren von Adensen hatten Rosen als Wappenbild. Ihr Schild zeigt ein gegittertes, mit fünfblättrigen Rosen übersätes Feld, belegt von einem Sparren. 5 Hermann Grote: Stammtafeln. Europäische Herrscher- und Fürstenhäuser, Leipzig 1877, S. 244. 6 Otto Titan von Hefner : Neues Wappenbuch des blühenden Adels im Königreiche Hannover und Herzogthume Braunschweig … , München 1862, S. 22 u. Taf. 25. 7 Berent Schwineköper : Eine unbekannte heraldische Quelle zur Geschichte Kaiser Ottos IV. und seiner Anhänger, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 2, Göttingen 1972, S. 959 – 1022, hier : S. 979 (Nr. 6). 8 Adam-Even (Hrsg.):[Gelres Wappenbuch:] L‹ armorial universel du h¦raut Gelre (1370 – 1395). Claes Heinen, roi d‹armes des Ruyers, publi¦ et annot¦ par P. Adam-Even, Neuchatel 1971 [Gelres Wappenbuch], Nr. 180 (S. 25) u. Taf. IV (S. 26). 9 Wolfenbütteler Wappenbuch, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Aug. 4,3, S. 14. 10 Philipp Julius Rehtmeier : Braunschweig-Lüneburgische Chronica, Oder : historische Beschreibung der durchlauchtigsten Herzogen zu Braunschweig und Lüneburg …, 3 Bde., Braunschweig 1722, Bd. 1 Tabula VI. 11 Calenb. UB III (wie Anm. 4), Nr. 75 f. u. 90.. 12 Otto Hupp: Deutsche Ortswappen, Provinz Hannover, Bremen 1928, Regierungsbezirk Hannover Nr. 9 und 29. 13 J. Arndt (Hrsg.): Das Wappenbuch des Reichsherold Caspar Sturm (= Wappenbücher d. Mittelalters 1), Neustadt a. d. Aisch 1984, S. 208 f.

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Die Grafen von Lucca und Hallermund

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Übrigens war der letzte Graf von Hallermund ein geistlicher Reichsfürst: Wilbrand, 1396 bis 1406 Abt von Corvey und dann Bischof von Minden (†1436). Doch 370 Jahre nach dem Tod dieses letzten männlichen Erben der Grafschaft, im Jahre 1706, erfolgte durch den Kurfürsten Georg Ludwig von Hannover, den späteren König Georg I. von Großbritannien, die Erhebung des Oberhofmarschalls und General-Erbpostmeisters Franz Ernst von Platen zum Grafen von Hallermund, wodurch er zugleich vom Kaiser als Reichsgraf anerkannt wurde. Er führte nunmehr den Titel Graf und edler Herr von Platen und Hallermund14 und fügte seinem Familienwappen die Hallermunder Rosen hinzu. Der neue Reichsgraf verpflichtete sich allerdings gleichzeitig, keine Besitzungen der ehemaligen gravschafft Hallermund beanspruchen zu wollen.15 Das Geschlecht der Grafen Platen-Hallermund existiert noch heute.16

2.

Der Klostergründer: Graf Wilbrand d.Ä. von Hallermund, Erbe der Herrschaft Lucca

Die Rosengabe gibt exakt das Wappenbild der Grafen von Hallermund wieder ; doch der Tag des Gedenkens läßt sich mit dem Todesdatum des Klostergründers Wilbrand I. nicht in Übereinstimmung bringen. Trinitatis – der erste Sonntag nach dem Pfingstfest – gehört wie dieser Feiertag zu den beweglichen Festen und fällt in einem Zyklus von 35 Jahren auf die Tage 17. Mai bis zum 20. Juni. Der Todestag des Grafen wird indes vom Mindener Totenbuch für den 21. August bezeugt.17 Wir haben festgestellt, dass der Stein schon aus zeitlichen Gründen nicht als G r a b stein Wilbrands in Frage kommt, als der er gilt.18 Es handelt sich entweder um ein Kenotaph, also einen blossen Denkstein für Wilbrand, oder um die Kennzeichnung einer Familiengruft.19 Eher mögen die beiden kleineren wappen- und inschriftlosen Grabplatten daneben, der Loccumer Überlieferung

14 Johann Wolf: Versuch, die Geschichte der Grafen von Hallermund und der Stadt Eldagsen zu erläutern. Mit 38 Beylagen, Göttingen 1815, S. 45 f. 15 Christian Ludwig Scheidt: Anmerkungen und Zusätze zu des Herrn Geheimten Raths von Moser Einleitung in das Braunschweig-Lüneburgische Staats-Recht nebst vielen ungedruckten Urkunden zur Erläuterung der Geschichte dießer Lande, Göttingen 1757, S. 249. 16 Der Dichter August Graf von Platen-Hallermünde (1796 – 1835) gehörte ihm an. 17 U. Rasche (Hrsg.): Necrologien, Anniversarien- und Obödienzverzeichnisse des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert (= MGH Libri Memoriales V), Hannover 1998, S. 155 Z. 1 u. 7: Wilbrandus comes de Halremunt (Lesart comes in Alremunt) 18 Christoph Erich Weidemann: Geschichte des Klosters Loccum. Nach Weidemann’s Manuskripte bearbeitet, fortgesetzt u. hg. von Fr. Köster, Göttingen 1822, S. 5; von Mithoff (wie Anm. 2), S. 130, zu Recht als »Sage« bezeichnet. 19 Letzteres vermutete Grotefend in Mithoff (wie Anm. 2), S. 130.

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zufolge »Grabsteine seiner Kinder«, tatsächlich diejenigen Burchards und Ludolfs I. von Hallermund sein, der Söhne Wilbrands I. »Das Kloster zu Loccum wurde zu Ehren des ausgezeichneten Märtyrers, des Hl. Georg, im Jahre des Herrn 11[6]320 durch die Grafen von Hallermund und Oldenburg, die Erben der Herrschaft und des Grafen von Lucca waren, gegründet« so notiert die ältere Mindener Bischofschronik Hermanns von Lerbeck unmittelbar im Anschluss an die Notiz über die 1148 vorausgegangene Klostergründung Wilbrands in Schinna.21 Das Gründungsjahr und den Tag des Einzugs der Mönche stellt die Ordensüberlieferung sicher : Anno 1163 XIV Kalendis Aprilis fundata est abbatia Luccensis und die Abtei sei eine filia von Volkenrode und Enkelin von Kamp aus dem Morimonder Zweig des Zisterzienserordens.22 Das Jahr wird von der klostereigenen Gründungshistorie bestätigt, die aber den Tag des Einzugs abweichend mit den 11. Kalenden des Aprils, also dem 21. März, angibt.23 Die Differenz zum 17. März ist nicht sehr erheblich; umso aufschlussreicher sind die Tage, auf die diese beiden Termine im Jahre 1163 fielen: Palmsonntag und Gründonnerstag, also 7 bzw. 3 Tage vor Ostern.24 Sie sind offensichtlich so gelegt, dass der Konvent das Osterfest unmittelbar im Anschluß begehen konnte. Der 21. März scheint außerdem auch deshalb gewählt worden zu sein, weil die Mindener Kirche, zu der Loccum gehörte, an diesem Tag das officium des hl. Abtes Benedikt beging.25 Dessen Regel erwähnt die Loccumer Bestätigungsurkunde Bischof Annos von 1181/83 ausdrücklich (sub beati Be-

20 Die hier korrigierte, irrige Jahresangabe MCXLIII erklärt sich aus einer Verschreibung aus MCLXIII. 21 Heinrich Tribbe: Die jüngere Bischofschronik, in: Mindener Geschichtsquellen Bd. 1, hrsg. von K. Löffler, Münster 1917 (= VHKW), S. 91– 263, hier S. 52: Tempore istius [Bischof Heinrichs] coenobium Schinna ordinis sancti Benedicti in honorem sancti Viti sociorumque eius per comites de Halremont anno domini MCXLVIII. fundatum est. Et huius coenobii primus abbas de monasterio sancti Michaelis in Hildensem assumptus fuit. Item monasterium in Lucka sub honore sancti Georgii, martyris egregii … per comites de Halremont et Oldenborch, qui fuerant heredes dominii et comitis de Lucka, fundatum est – dominium ist wohl statt dominus …. de Lucka zu setzen; der jüngere Mindener Chronist Tribbe wiederholt den Text, korrigiert das Loccumer Gründungsjahr und ist nur zu Schinna leicht verändert (S. 151). 22 Tabula subscripta continet abbatias ordinis Cisterciensis …, sog. »Annales Cistercienses«, in: Franz Winter : Die Zisterzienser des nordöstlichen Deutschlands, Bd. 1, Gotha 1868 (Neudr. Aalen 1966), S. 315 – 364, hier : S. 338 (Nr. 421). 23 Calenb. UB III (wie Anm. 4, S. 1 f.); Weidemann (wie Anm. 18), S. 121: 1163 […] Termino paschali occurrente XIIII8. kal. April. Pascha vero existente XI8. kal. Aprilis. Post transitum beati Bernhardi abbatis anno XI8. Bernhard starb am 20. August 1153; das elfte Jahr danach reichte also vom 20.8. 1163 bis zum 20.8. 1164. 24 Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 14. Aufl., Hannover 2007, Taf. 3 (S. 148). 25 Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Hannover 1892 – 1898 (Neudr. Aalen 1970); Necrologien, ed. Rasche (wie Anm. 17), S. 90.

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nedicti regula), während sie der Ordenszugehörigkeit zu den Zisterziensern (noch?) nicht gedenkt.26 Wer sind nun die von der Mindener Chronik genannten Grafen von Lucca und wer die beiden Erben aus den Häusern Hallermund und Oldenburg? Der zuerst genannte Erbe der »Herrschaft Lucca« ist zweifellos Wilbrand I. von Hallermund (1148-†1167); ein weiterer Erbe war Heinrich II. (1167 – 1197/98), Ehemann der Beatrix von Hallermund, der Tochter Wilbrands I.27 und Sohn des Grafen Heinrich I. von Oldenburg. Er war der Begründer der älteren, der Wildeshauser Linie der Oldenburger. Er war aber nicht nur der Schwiegersohn Wilbrands I., sondern auch dessen Blutsverwandter, denn sein Großvater Egilmar II. von Oldenburg stammte ebenso wie Graf Burchard II. von Lucca (†1130), Wilbrands I. Bruder, von Ida von Elsdorf ab. Wilbrand I. von Hallermund ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit: Wie erwähnt, trat er bereits 1148/53 als Klostergründer hervor, indem er die Benediktinerabtei Schinna an der Weser bei Stolzenau stiftete. Man hat diese vorausgegangene Klostergründung deshalb für unwahrscheinlich gehalten, weil »ein Vater von 5 Kindern innerhalb zwanzig Jahren 2 Klöster« unmöglich gegründet haben könnte, da es ihn zu stark geschwächt haben würde.28 Abgesehen von diesem seltsamen Argument sind Gründung und Gründer durch chronikalische Notizen und eine Bischofsurkunde gut beglaubigt. Fundationsnotizen hat die Mindener Chronik Hermanns von Lerbeck sogar in zwei Einträgen zu den Amtszeiten der Bischöfe Heinrich und Werner bewahrt, wobei die Gründung Loccums – wie um den Zusammenhang zu verdeutlichen – sofort im Anschluss an die erste Notiz vermerkt ist: »Zur Zeit dieses [Bischofs Heinrich] wurde das Kloster Schinna Benediktinerordens 1148 zur Ehre des Heiligen Vitus und seiner Genossen von den Grafen von Hallermund gegründet. Und es kam der erste Abt dieses Klosters aus dem Kloster St. Michael zu Hildesheim«. Und: »Der vorgenannte Bischof [Werner] weihte das Kloster zu Schinna im Jahre Christi 1150 an den Kalenden des November im zweiten Kaiserjahr Friedrichs und im ersten Jahr seiner [nämlich des Bischofs] Ordination.«29 26 Calenb. UB III (wie Anm. 4, Nr. 8); Wilhelm Steinmann: Das Kloster und seine Wirtschaftspolitik im Mittelalter, in: Hirschler/Berneburg (wie Anm. 1), S. 196 – 208. Die Urkunde Bischof Annos wird von Steinmann auf 1181/82 datiert. 27 Diese Ehe geht aus der Nachricht der Loccumer Gründungshistorie, der »Narratio vetus« hervor, wonach Beatrix‹ Söhne die Grafen Heinrich III. und Burchard von OldenburgWildeshausen waren, Calenb. UB III Nr. 1 S. 4. 28 Wolf (wie Anm. 14), S. 6. 29 Die erste Notiz wurde schon oben, Anm. 21, zitiert, die zweite steht in Catalogus episcoporum Mindensium (Die Bischofschroniken des Mittelalters …), hrsg. von Klemens Löffler, Münster 1917 (= Mindener Geschichtsquellen 1), S 53: »Iste prefatus pontifex [Bischof Werner] monasterium in Schinne anno Christi MC. anno L., imperii Friderici secundo, kalendas Novembris, anno ordinationis eius primo dedicavit«; ähnlich der Schinnaer

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Offensichtlich sind hier fundatio und dedicatio, also Gründungsakt des Klosters und Weihe der Klosterkirche unterschieden, was durchaus der Realität entsprechen kann. Das Jahr der Weihe indes kann so nicht stimmen, da die Herrscherjahre des Kaisers erst ab dem 9. März 1152 zählen: Das zweite Königsjahr Friedrichs I. Babarossas erstreckte sich vom 9. März 1153 bis zum 8. März 1154. Der Weiheakt an einem 1. November kann folglich nur in das Jahr 1153 gehören. Das wäre auch plausibel, da es das erste Bischofsjahr Werners war, nachdem sein Vorgänger, der Benediktinermönch Heinrich, Ostern 1153 sein Amt niedergelegt hatte.30 Die Gründungsnachrichten werden bestätigt durch die Aussage der Dotationsurkunde Bischof Heinrichs von 1148, in der freilich bloß vom dominus W nomine als vom Stifter die Rede ist.31 Dass die Auflösung als Wilbrandus berechtigt ist, ergibt sich aus einer Urkunde des Schinnaer Abtes von 1220, worin des Ursprungs eines Klosterguts ex largitione domini Wilbrandi senioris comitis de Halremunt gedacht wird.32 Auch die Tätigkeit des Gründungsabtes von Schinna ist schon für 1149/50 im »Epistolarium« Wibalds von Corvey bezeugt.33 Die Klostervogtei hatten die Nachkommen von Wilbrands Tochter Beatrix inne, die Grafen von Oldenburg-Wildeshausen, bis sie sie 1238 bzw. 1241 veräußerten.34 Auffällig ist die Tatsache, wie dicht beide Hallermunder Klostergründungen beieinander liegen! Die Luftlinie von Schinna nach Loccum beträgt nur 10,5 km; aber auch der Landweg, der über Leese und Stolzenau führt, ist nicht viel weiter, nämlich 12 km. Unter Berücksichtigung der mittelalterlichen Weserarme läßt sich eine ungewöhnlich schnelle Verbindung über die Örtlichkeit Wasserstraße (!) – nur 4 12 km von Loccum entfernt – und dann nur 6 km flußabwärts bis an die Klostermauern von Schinna rekonstruieren, an denen der Strom einst unmittelbar vorüberfloss.

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Benediktiner Johannes Koßfeldt (1528-+1567): »Anno 1148 in Schinna fundatum et constructum est caenobium per nobiles comites de Hallermund Willebrandus nomine, in honorem sancti Viti praeclarissime martyris. Et primus abbas de monasterio sancti Michaelis e Hildensem constitutus est …« in: Archiv des Klosters Schinna, hrsg. von Wilhelm v. Hodenberg, Hannover 1848 (= Hoyer Urkundenbuch, Bd. 7 [i.F.: Hoyer UB]), Nr. 166 Anm 1.; zu Koßfelt vgl. H. L. Ahrens: Zur ältesten Geschichte des Klosters Loccum, in: Zs. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen (1872), S. 26 Anm. 25. Wie Anm. 21, S. 156. Hoyer UB Bd. 7, Nr. 1 (S. 1); vgl. dort Anm. 3; Faksimile des verlorenen Kopiars nach S. 99. Hoy UB Bd. 7, Nr. 7 (S. 6 f.). Ph. Jaffé (Hrsg.): Wibaldi epistolae, in: Bibliotheca rerum Germanicarum Bd. 1, Berlin 1864, S. 76 – 622 [von 1119/30, 1133/37 bzw. 1136 bis 1157 reichend]: S. 338: … intererat abbas Mindensis et Scinnensis. Westfälisches Urkunden-Buch, Bd. 6: Die Urkunden des Bisthums Minden vom J. 1201 – 1300, bearb. von H. Hoogeweg, Münster 1898, S. 95: »Sie verkaufen sie samt ihrem übrigen Besitz an der Mittelweser mit der Burg Venowe an das Mindener Hochstift«; vgl. ebd., Nr. 353 u. 354; vgl. auch Hoyer UB, Bd. 7, Nr. 4, 8, 15 u. 17.

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Die Gründungszeit und das Patrozinium von Schinna erlauben es, den Vorgang in einen bemerkenswerten allgemeingeschichtlichen Kontext zu stellen: St. Vitus war nämlich der Patron der bedeutenden Abtei Corvey an der Oberweser. Als deren Abt amtierte um 1148/53 der Benediktiner Wibald (1098 – 1158), einer der bedeutendsten Reichsfürsten dieser Zeit. Er war 1131 zum Abt der Reichsabtei Stablo aufgestiegen, befand sich dann im Umkreis Kaiser Lothars III. und rückte am Hof von dessen Nachfolger Konrad III. zu dessen »führendem Staatsmann« auf. Noch zu Beginn der Regierungszeit Friedrich I. Barbarossas spielte er eine wichtige Rolle in der Reichskanzlei.35 1146 hatte Konrad III. seine Erhebung zum Abt von Corvey durchgesetzt, ohne dass Wibald Stablo aufgeben mußte. 1147 entschlossen sich die sächsischen Fürsten »und viele Grafen«36 unter Führung des Erzbischofs Adalbero von Bremen, Herzog Heinrichs des Löwen und Markgraf Albrechts des Bären, anstatt mit Konrad III. nach Jerusalem zu ziehen, einen eigenen Kreuzzug gegen die Wenden durchzuführen. Die Teilnahme des Doppelabtes Wibalds an diesem Unternehmen sollte gewiß auch dazu dienen, den Einfluss des abwesenden Königs sicherzustellen. Sowohl sein Kloster Corvey als auch das Hildesheimer Michealiskloster, das den ersten Schinnaer Abt stellte, hatten sich der Hirsauer Reform angeschlossen. Wie es im Interesse Graf Wilbrands gelegen haben wird, sich den Hauptberater des Königs geneigt zu machen, so dürfte auch dem Abt eine Neugründung zugunsten der klösterlichen Reformbewegung willkommen gewesen sein. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Verbindung bei der gemeinsamen Feldzugteilnahme 1147/48 zustandekam. Gehörte Wilbrand zu den Teilnehmern des Wendenkreuzzuges, erklärte seine Stiftung sich zudem als Dankesgabe für seine glückliche Heimkehr. Außerdem wird es sich um den Versuch gehandelt haben, entlegenen Besitz, den man nicht mehr halten zu können glaubte, in Gestalt einer kirchlichen Stiftung zu sichern, denn schwerlich konnte ein Kloster an dieser Stelle Hallermunder Herrschaftskonzentration dienen.37 Der Kreuzzugskontext und die Verbindung zum königlichen Vertrauten Wibald sind eine Erklärung dafür, warum sich der Graf zu diesem Zeitpunkt noch nicht für die Ansiedlung der inzwischen beliebt gewordenen Zisterzienser entschied, die doch seit 1127/ 29 unter Mithilfe Lothars III. in Niedersachsen rasch Fuß gefasst hatten.38 35 Timothy Reuter : Wibald, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10 (2001), Sp. 1133 f.; Wolfgang Petke: Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125 – 1137), Köln u. Wien 1985 (= Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 5), S. 415 – 419. 36 Annales Magdeburgenses (Die Jahrbücher von Magdeburg), hrsg. von Heinrich Pertz, neubearb. von Wilhelm Wattenbach, 3. Aufl., Leipzig 1941 (MGH SS 16), anno 1147. 37 Ernst Schubert: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis 16. Jahrhunder, Hannover 1997 (= Geschichte Niedersachsens, hrsg. von H. Patze, Bd. II,1), S. 548; ebd., S. 553. Kloster Midlum ist der Fall einer Gründung wegen drohenden Verlustes. 38 Amelungsborn 1129/35; Mariental 1138/45; Riddagshausen 1145.

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Der zunehmende territoriale Einfluss Heinrichs des Löwen und des Grafen Konrad von Roden im Mittelweserraum lässt sich an dem Privileg des Herzogs von 1168 ablesen. Damit befreite er »die Kirche zu Schinna und den Hl. Vitus« vom Jahreszins bestimmter Besitzungen; unter den Zeugen Graf Konrad.39 Weder hier noch in den gleichzeitig gelegentlich des Mindener Hochzeitsfestes ausgestellten Urkunden erscheint ein Hallermunder.40 Das wird daran liegen, dass Graf Wilbrand im August 1167 auf einem Italienzug Kaiser Friedrichs I. »mit anderen Fürsten, Grafen, Freien und fürstlichen Ministerialen sowie mit einer Menge Volkes aus dem Heer« von der Pest hingerafft worden war und seine drei Söhne wohl noch minderjährig waren.41 Von einigen der beteiligten Fürsten sind genaue Todesdaten überliefert: 14., 19. und zweimal der 21. August.42 Deshalb wird Georg Friedrich August von Alten Recht haben, wenn er die chronikalische Aufzählung der Toten mit Borchardus de Alremond für ein Versehen hält und eine Verwechslung mit Wilbrand postuliert, dessen Todestag ja auf den 21. August fiel.43 Wilbrands Sohn Burchard kann nicht bei den Toten des Italienfeldzuges gewesen sein, da er vor 1163 infolge eines Turniers zu Nienburg ums Leben gekommen war.44 Zu seinem und seines Vaters Gedächtnis stiftete der Priester Reinhard dem Mindener Domkapitel eine Hufe in Marsle (Wüstung westlich von Loccum).45 Der von 1160/61 bis 1198 nachgewiesene Reinhard mag ein Verwandter der Grafen gewesen sein.46 Zuletzt 1162/63 bezeugte comes Burchardus de Luken, also Burchard III. von Lucca, in Gegenwart Heinrichs des Löwen eine Urkunde des Bischofs Werner von Minden.47 Ein bemerkenswerter Nachhall auf den Vitus-Kult Wilbrands I. von Haller39 Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern, bearb. von K. Jordan, Stuttgart 1941 – 1949 (Neudr. 1957 – 1960) (= MGH Laienfürsten- u. Dynastenurkunden d. Kaiserzeit 1), Nr. 79. 40 Wie Anm. 39, Nr. 77 f., vielleicht aufgrund gleicher Zeugen auch Nr. 75 für Kloster Obernkirchen. 41 Die Chronik Ottos von St. Blasien und die Marbacher Annalen, hg. von F.-J. Schmale (= Ausgewählte Quellen z. Geschichte d. Mittelalters – Frhr. vom Stein-Gedächtnisausgabe 18a), Darmstadt 1998, S. 60: cum aliis principibus, comitibus, liberis principumque ministerialibus, cum multitudine vulgi de exercitu hac pestilencia tacti occubuerunt.. 42 Wie Anm. 41, S. 59, Anm. 68 f. u. S. 61 Anm. 71 f. 43 Georg Friedrich August von Alten: Noch einige Bemerkungen zu der streitigen Frage über die Stiftung des Klosters Loccum, in: Zs. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen (1874/75), S. 254 (nach der »Vita Alexandri III. pape«). 44 Calenb. UB III (wie Anm. 4), S. 2; Weidemann (wie Anm. 18), S. 121 f.; der terminus ante quem ergibt sich aus der Tatsache, dass er auf der insula antiqua Lucca bestattet und erst später an den »neuen Ort« transloziert wurde. War das die Luccaburg, wie gewöhnlich angenommen wird, oder der allererste Klosterplatz an der Vogelsangsmühle, wie Abt Stracke annahm? 45 Necrologien (wie Anm. 17), S. 155, Z. 10 f.: comes Burhardi. 46 Wie Anm. 45, S. 155 f. 47 Druck: Hoy. UB, Bd. 8, Nr. 23; Regest, ebd., Bd. 5, Nr. 5 Anm.

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mund ist die Tatsache, dass der Loccumer Konvent 1306 beabsichtigte, in Hamelspringe eine dem Heiligen Vitus gewidmete Zisterze neuzugründen.48 Zwar kam die neue Abtei nie zustande, doch beachte man die Parallelität der Ortsnamen Hamelspringe und Hallerspringe, das heutige Springe, in dem sich die Grafen von Hallermund 1282 niedergelassen hatten, nachdem sie den Welfen ihre Stammburg und die ideelle Hälfte ihrer Grafschaft abtreten mussten. Waren Name und Patrozinium eine politische Demonstration Loccums gegen die Grafen und die Herzöge, die die Mindener und Hildesheimer Kirche ab 1260 gewaltsam aus diesem Raum zurückdrängten?

3.

Der Graf von Lucca – ein »wahrer Mann«

Da der Mindener Fundationsbericht ausdrücklich »das dominium und d e n Grafen de Lucka« nennen, darf man voraussetzen, dass dieses Erbe als Grundlage für das Stiftungsgut Loccums gedient hat. Sitz der Grafen war eine Turmhügelburg südlich des Klostergeländes, die sog. Luccaburg, zu der die Kurie Lucca gehörte. Die Keramikfunde aus dem Hügel lassen eine Datierung der Motte auf das 11.–12. Jahrhundert zu.49 Aber wer war »der Graf« von Lucca, dessen Bekanntheit offenbar allseits vorausgesetzt wurde? Diese Frage ist schnell beantwortet, denn den Geschichtsschreibern der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts war er kein Unbekannter. Der wichtigste von ihnen ist der sog. Annalista Saxo, der seine »Reichschronik« um 1137/39 verfasste. Dieser Autor, der Kaiser Lothar III. nahestand, bezeichnet Burchardus de Lucca als »Freund des Königs und Grafen der Friesen« (amicus regis, comes Fresonum).50 Er sei vom Landgrafen von Thüringen, Hermann von Winzenburg, 1130 ermordet worden. Lothar III. »aus Trauer sowohl über den Verlust des Freundes als auch das geschehene Unrecht«51 habe den Winzenburger zur Re-

48 Calenb. UB III (wie Anm. 4), Nr. 621 (S. 380); vgl. Gerhard Uhlhorn: Die Kulturthätigkeit der Cisterzienser in Niedersachsen. Vortrag im Historischen Verein gehalten, in: Zs. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen (1890), S. 84 – 110; hier : S. 93 [Loccum eingehend behandelt S. 87 f. u. S. 91 – 108]; Nicolaus Heutger : Das Kloster Loccum im Rahmen der zisterziensischen Ordensgeschichte, Hannover 1999 (= Forschungen z. niedersächs. Ordensgeschichte 4), S. 50 – 57. 49 Hans-Wilhelm Heine: Die Luccaburg bei Loccum, in: Geschichten aus dem Kloster Loccum (wie Anm. 1), S. 235 f. 50 Die Reichschronik des Annalista Saxo, hrsg. von Klaus Nass, Hannover 2006 (= MGH SS 37), S. 593, Z. 1. 51 GH SS 37, S. 593, Z. 3 f.: Unde rex Liuderus non minima affectus animi tristicia tam de interitu amici quam de perpetrata iniusticia …

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chenschaft gezogen, indem er ihm die Landgrafschaft aberkannt und seine Burg belagert und schließlich 1131 eingenommen hätte. Die Mordtat, die auch von den (verlorenen) Paderborner und Nienburger Annalen, denjenigen von Pöhlde, Hildesheim und Magdeburg sowie der Kölner Königschronik berichtet wird, fällt in den Sommer oder Oktober bis Dezember 1130.52 Das ebenfalls zeitgenössische »Chronicon Gozecense« spezifiert noch, Burchard, consiliarius Lothars, also dessen Rat, sei ein »wahrer Mann« (homo vero sum) gewesen.53 Nun sind zwar Zweifel laut geworden, ob Burchard im Rat Lothars III. eine Rolle gespielt hat.54 Wenn »Freund« (amicus) als »Blutsfreund«, also Verwandter zu deuten ist, dann hätte er dem Kaiser jedoch auf jeden Fall nahegestanden. Tatsächlich war er von Seiten seiner Mutter mit Lothar verwandt. Sowohl Abt Albert von Stade als auch das »Chronicon monasterii Rosenfeldense« bezeugen – wenngleich erst im 13. Jahrhundert – die Abstammung Burchards über seine Mutter Aliarina (Lesart Akarina) von der legendären Ida von Elstorf.55 Diese Edeldame, die Mitte des 11. Jahrhunderts lebte, war eine Tochter Ottos, seit 1035 lothringischen Pfalzgrafen und seit 1045 Herzogs von Schwaben (†1047).56 Über dessen Mutter Mathilde stammte Ida von Elstorf vom ottonischen Kaiserhaus ab. Außerdem waren der Kölner Erzbischof Hermann (1037 – 1056) und Papst Leo IX. (1048 – 1054) ihre Onkel. Über ihre Schwester Richenza war sie mit dem 52 Annales Patherbrunnenses, hrsg. von Scheffer-Boichorst, S. 154 f.; Ann. Palid. (S. 78, Z. 36 – 38); Ann. Hildeshemenses (S. 67, Z. 16 – 19) und Ann. Magdeburgenses (S. 183, Z. 42 – 50); Chronica regia (S. 67, Z. 21 – 26); zur Datierung Petke, Kanzlei, Kapelle S. 38, Anm. 140. Annales Patherbrunnenses. Eine verlorene Quellenschrift des zwölften Jahrhunderts aus Bruchstücken wiederhergestellt, hrsg. von P. Scheffer-Boichorst, Innsbruck 1870,S. 154 f. Annales Palidenses, hrsg. von G. H. Pertz, MGH SS 16 (1859) S. 78, Z. 36 – 38 Annales Hildesheimenses, hrsg. von G. Waitz, MGH SS rer. Germ. [8], Hannover 1878, S. 67, Z. 16 – 19Annales Magdeburgenses, hrsg. von G. H. Pertz, MGH SS 16 (1859), S. 105 – 196 Chronica regia Coloniensis, hrsg. von G. Waitz, MGH SS rer. Germ. [18], Hannover 1880 zur Datierung Petke (wie Anm. 35), S. 38, Anm. 140. 53 Chronicon Gozecense (Die Gosecker Chronik) 1041– 1135, hrsg. von Richard Ahlfeld, Berlin 1968, S. 41: …. quia Burchardum de Lucken, regis quidem consiliarium, hominem vero sum, pro cuisdam castri exstructione fraude circumvenerit, et fide pace violata, gladio occiderit. 54 Petke (wie Anm. 35), S. 419. 55 Chronicon monasterii Rosenfeldensis seu Hassefeldensis, Dioeces. Bremen ante C & LXV. annos collectum, hrsg. von Johann Vogt: Monumenta inedita rerum, Bd. 1, Bremen 1740; Annales Stadenses a. 1112, in: Annales aevi Suevici hrsg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1858 (MGH SS 16), S. 319 f. 56 Über Ida vgl. vor allem Richard G. Hucke: Die Grafen von Stade 900 – 1144. Genealogie, politische Stellung, Comitat und Allodialbesitz der sächsischen Udonen, Stade 1956 (= Einzelschriften d. Stader Geschichts- u. Heimatvereins 8), S. 58 – 71 u. Stammtafel C; Dieter Riemer: Grafen und Herren im Erzstift Bremen im Spiegel der Geschichte Lehes, Phil. Diss. Oldenburg, Hamburg 1995, S. 71 – 75 u. 78 f. sowie die Tagungsakten der Ida-von-ElstorfTagung in Rotenburg/Wümme 2012.

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Bayernherzog Otto von Northeim (†1083) verschwägert. Aus der Tatsache, dass Richenza und Otto von Northeim die Großeltern von Lothars III. Kaiserin Richenza wurden, ergibt sich, dass Burchard von Lucca ihr Vetter zweiten Grades war – für mittelalterliche Verhältnisse eine recht nahe Verwandtschaft (bis zum 7. Grad galt nach kanonischem Recht ein Ehehindernis, selbst für die Schwäger!). Das Todesjahr der Ida ist nicht überliefert, da Graf Udo II. von Stade sie jedoch als ihr Adoptivsohn beerbte, gehört es in dessen Regierungszeit (1057 bis 1082). Im Gefolge Lothars III. erschien er freilich erst 1129.57 Die Verwandtschaft mit Lothar III. sowie die Vasallität zu den Northeimern erklärt auch, warum die Grafenfamilie von Lucca 1140 abermals durch eine Heirat diesen Familien nähertrat. Gertrud von Northeim, die Schwester der Kaiserin Richenza, in erster Ehe mit dem Rheinpfalzgrafen Siegfried von Orlamünde-Ballenstädt verheiratet, vermählte sich nach dessen Tod 1113 mit Otto von Rheineck, der infolgedessen ebenfalls Pfalzgraf bei Rhein wurde (1134†1150). Die Tochter des Pfalzgrafenpaares Gertrud und Otto, Beatrix, wurde 1140 mit Graf Wilbrand von Lucca-Hallermund verheiratet!58 Otto spielte eine »führende Rolle« am Hofe des Kaisers.59 Wilbrand war also der Schwiegersohn eines ehemaligen Beraters und Schwagers des 1137 verstorbenen Lothar III.

4.

Dynastiewechsel

Dass die alte Linie derer Graven von Hallermund bereits im 12. Jahrhundert im Mannesstamm ausgestorben ist und dass dies eine Folge des Kreuzzugs war, erkannte bereits der welfische Hofhistoriograph Christian Scheid.60 Im Mai 1189 brachen Liutoldus comes de Holremunt et frater eius Willibrandus im Gefolge Barbarossas zum ›Dritten Kreuzzug‹ auf.61 Um die Reise zu finanzieren, verpfändeten Ludolf und Wilbrand dem Hildesheimer Bischof für 60 Mark Silber ihre Burg Hallermund, die Kirchenlehen war.62 Das Osterfest 1189 feierte Ludolf 57 E. von Ottenthal/H. Hirsch (Hrsg.): Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza, Berlin 1927 (Neudr. München 1993) (= MGH Die Urkunden d. dt. Könige und Kaiser – Diplomata regum et imperatorum Germaniae 8), Nr. 18 (S. 23, Z. 6). 58 Zur Heirat Ottos mit Gertrud, der Schwester der späteren Königin und Kaiserin Lothars III. vgl. Petke (wie Anm. 35), S. 381. 59 Petke (wie Anm. 35), S. 380. 60 Scheidt (wie Anm. 15): § 78 S. 244 – 249, dort S. 245 Anm. **; ebd., S. 612 – 642 auch die Edition hallermundischer Urkunden. 61 Historia de expeditione Friderici imperatoris, hrsg. von Anton Chroust, Berlin 1928 (= MGH SS rer.Germ. N.S. 5), S. 20 Z. 4 f. 62 Chronicon episcoporum Hildeshemensium, ed. G. W. Leibniz, in: Scriptores rerum Brunsvicensium, Bd. 1, Hannover 1707, S. 742 – 762, hier : S. 748: Prestitit insuper muruo duobus fratribus Ludolfo et Wilbrando sexaginta marcas argenti, quando Iherosolimam proficiscebantur cum domino imperatore, castro ecclesie Halremunt, quod ipsi de manu

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im Mindener Dom und schenkte Loccum zu seinem und seiner Eltern Seelenheil die beiden Dörfer Vulvesborne und Hukeshole (wüst b. Münchehagen). Die bischöfliche Bestätigungsurkunde hebt ausdrücklich hervor, dass der Graf vorhabe, eine Pilgerfahrt zum Heiligen Grab zu unternehmen.63 Ein Graf Burchard von Hallermund, den die Teilnehmer des Vierten Kreuzzuges noch 1203 in Ragusa antrafen, wird gewiss auch 1189 mitgezogen sein. Wenn er nicht ausdrücklich genannt ist, so erklärt sich das wohl damit, dass er der nächsten Generation angehörte und noch ein ganz junger Mann war, vielleicht ein Sohn oder Neffe oder gar Bastard Ludolfs. Burchard lebte in der dalmatinischen Stadt als Einsiedler und prophezeite den Kreuzfahrern die Eroberung von Konstantinopel, die dann auch 1204 erfolgte.64 Alle drei Grafen kehren niemals zurück.65 Wilbrand kommt am 21. August 1190 ums Leben und findet in Antiochia sein Grab.66 Ludolf stirbt auf dem Heimweg und Graf Adolf III. von Holstein-Schaumburg bringt seine Überreste mit in die Heimat zurück. Der Kontext der Überlieferung, aus der wir das wissen, spricht dafür, dass der Schaumburger die ossa seines Weggefährten ins Kloster Loccum brachte.67 Nach dem Ende des Kreuzzugs ging die Grafschaft Hallermund an Graf Günther von Käfernburg über, der die Gräfin Adelheid, die älteste Schwester der verstorbenen Söhne Wilbrands I. geheiratet hatte. Dieses Paar begründete das jüngere Haus der Grafen von Hallermund. Vor ihrem Kreuzzug hatten die Hallermunder ihren Grafensitz an die Hildesheimer Kirche verpfändet; Günther von Käfernburg-Hallermund erwarb sie durch Auflassung von Erbgütern von Hildesheim zurück68, während Graf Heinrich II. von Oldenburg-Wildeshausen, der Mann der jüngeren Tochter Beatrix, den mittelweserischen Besitz zwischen

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episcopi [Adelogi] beneficiario munere tenuerunt, loco pignoris recepto et aliquot ministerialibus sui ac interposita pactione eedem predicte marce redemtis pignoribus ab heredibus predictorum fratrum in usum ecclesie debeant provenire. Calenb. UB III, Nr. 20 (S. 24): iam peregrinationis itinere accinctus ad sepulchrum domini. Gesta episcoporum Halberstadensium a 1203, hrsg. von Georg Heinrich Pertz, Leipzig 1874 (MGH SS 23), S. 218, Z. 30 – 33. Annales Steterburgenses, hrsg. von Heinrich Pertz, Hannover 1859 (= MGH SS 16), S. 222, Z. 50: »quibus in expeditione defunctis«. Annales Steterburgenses, ebd., S. 222; Sächsische Weltchronik, hrsg. von L. Weiland, Hannover 1877 (= MGH Dt. Chroniken 2), S. 233. Vetus narratio de fundatione monasterii Luccensis, in: Archiv des Stifts Loccum, hrsg. von W. von Hodenberg S. 1 – 4, hier S. 3: Comes autem Ludolfus in reditu mortuus est, cuius ossa comes Adolfus de Schowenburch transmisit sepelienda. Chronicon episcoporum Hildeshemensium (wie Anm. 62), S. 749: … castrum insuper Halremunt sibi vacans, dum propter plurima, que ipse sicut vir prudens advertit, in feodandum decerneret, multa consilii sui maturitate promovit, ut et episcopatuui plurima, que non habebat, accederent, et prebendis fratrum XXX. solidorum redditus accresceretur. Vgl. dazu Friedhelm Biermann: Der Weserraum im hohen und späten Mittelalter. Adelsherrschaften zwischen welfischer Hausmacht und geistlichen Territorien, Bielefeld 2007, S. 327.

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Die Grafen von Lucca und Hallermund

Nienburg und Minden mit der Schinnaer Klostervogtei erbte.69 So waren die alten Loccum-Hallermunder Herrschaftsrechte in drei Teile aufgespalten: Das Dotationsgut von Loccum, die Grafschaft Hallermund und die oldenburgischen Besitzungen im Mittelweserraum. Stammtafel der Grafen von Lucca70

Burchard I. Gf.,†1101 ? oo [Ot]akarina, Tochter d. Ida von Elsdorf (†1057/82) u.d.Edelherrn Lippold aus Kärnten _____________ ______________________ Burchard II. Wilbrand I. d.Ä. ..de Lucca, Gf. v. Hallermund 1148-†1167 Gf. der Friesen oo [1140] Beatrix, T.d. Pfalzgfn. consiliarius Kg. Otto v. Rheineck u.d. Gertrud Lothars III. v. Northeim, Schw. d. Kaiserin 1127-†1130 Richenza ___________ ________________ ______________________ Burchard III. Gf. de Lucca

ca. 1162/67

Burchard IV. Wilbrand II. Ludolf Adelheid Beatrix 1180 †1189 †1191 oo Günter oo Heinrich II. v. Käfern-

v. Oldenburg

†1163 jüngere Grafen Heinrich III. von Hallermund v. OldenburgWildeshausen

69 Anto Kohnen: Die Grafen von Oldenburg-Wildeshausen, Phil. Diss. Münster, Oldenburg 1913, S. 42. 70 Unter Zugrundelegung der Angaben von Wolfgang Petke: Die Grafen von WöltingerodeWohldenberg. Adelsherrschaft, Königtum und Landesherrschaft am Nordwestharz im 12. und 13. Jahrhundert, Hildesheim 1971 (= Veröff. d. Instituts f. Histor. Landesforschung d. Univ. Göttingen 4), S. 9 – 13; irrig nimmt noch Biermann (wie Anm. 68, S. 93) an, Wilbrand d. Ä. sei ein Schwiegersohn Burchards von Loccum.

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5.

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Warum stifteten Graf Wilbrand d.Ä. und seine Schwiegersöhne ein Kloster?

Welches waren die Antriebskräfte, gerade in Loccum in unmittelbarer Nachbarschaft der Luccaburg ein Kloster zu gründen? Es sieht so aus, als ob die Loccumer Klosterkirche als ein Mausoleum für die beiden Grafen Burchard, den Sohn u n d den Neffen Wilbrands I. gedacht war.71 Seinem Neffen ein Denkmal zu setzen, hatte Wilbrand allen Grund – er erbte von ihm nämlich die Herrschaft Loccum, nachdem er durch Burchard II. von Lucca oder nach dessen Tod 1130 bei der Erbteilung mit dem Familienbesitz an der Haller am Deister abgefunden worden war.72 Die als Mitstifter genannten Schwiegersöhne Wilbrands, Günther von Käfernburg-Hallermund und Heinrich II. von Oldenburg-Bruchhausen kamen aus ganz anderen Gründen ins Spiel. Der Mindener Chronist Heinrich Piel, der um 1580 schrieb, erklärte nämlich zum Jahr 1173 (bzw. 1123 oder 1151):73 Bei dieses [Bischofs Heinrich] zeiten anno 1173 ist der grafe zu Locken ohene leibliche erben mit dode abgegangen und die grafeschaft an die grafen von [Hallermund und]74 Oldenburg gefallen. Und zwischen den beiden allerlei mißvorstende derowege vurgefallen. So den die zeit die heren und mennichlich den Almechtigen mit closter und probenden stiftende viel gedienet vorment weren, haben die beiden grafen die angeerbte grafschaft in ein closter, Cistertiensis ordinis genennet, in die ehere S. Georgii gewandt. Demnach hätte es Erbstreitigkeiten zwischen den Grafen von Käfernburg und den Grafen von OldenburgWildeshausen gegeben, was bei zwei Erbtöchtern immerhin nahelag. Zwar ist nicht klar, ob Piel sich hierbei auf eine lokale Nachricht aus Loccum gestützt oder die »Missverständnisse« nur aufgrund eigener Überlegung postuliert hat. Selbst wenn letzteres der Fall sein sollte, wäre seine Vermutung durchaus plausibel, durchzogen doch Erbstreitigkeiten von den Kämpfen Kaiser Ludwigs I. mit seinen Söhnen bis zum jülich-cleveschen Erfolgekrieg die Jahrhunderte. Eine geistliche Stiftung gab den streitenden Parteien die Möglichkeit, das Streitobjekt zu neutralisieren und einen Kompromiss zu erreichen. Dass hier ein solcher vorliegt, wird am Loccumer Memorialgedenken deutlich. »Um die Zeit der Gründung« seien »Adelheid, die Mutter Graf Ludolfs [von Hallermund], … Beatrix, die Schwester der Gräfin Adelheid, die vier Söhne hatte, Burchard und Heinrich [von Oldenburg-Wildeshausen], die von den Stedingern getötet wurden, Engelmar …. und Wilbrand, Bischof zuerst von Paderborn, dann von Ut71 Die Klostergründung sah bereits Petke (wie Anm. 70, S. 11) als für das Seelenheil Burchards d. J. von Lucca geschehen an. 72 Petke (wie Anm. 70), S. 12; Schubert (wie Anm. 37), S. 559. 73 Chronicon domesticum et gentile des Heinrich Piel, hrsg. von Martin Krieg, Münster 1981 (= Geschichtsquellen de Fürstentums Minden 4). 74 Diese Konjektur wird von der nachfolgenden Erwähnung der zwei Grafen erzwungen.

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recht« im Kloster bestattet worden, ist am Ende der Gründungshistorie notiert.75 Die Klosterkirche wurde also zusätzlich die Grablege der beiden Erbtöchter Wilbrands I., Adelheid und Beatrix. Und so ist es folgerichtig, dass man im Loccumer Memorialgedenken auch die Gräfin Adelheid cometissa in Hallermund (30. 10.) mit ihrem Sohn Ludolf II. (14. 11.) und die Brüder Burchard und Heinrich von Oldenburg (6. 7. bzw. 27. 5.) samt ihren Ehefrauen Cunegundis (17. 4.) und Ermedrudis (16. 9.) berücksichtigte.76 Dass des Begräbnisses Wilbrands I. nicht gedacht wird, ist seinem Pesttod bei Rom geschuldet. Da seine Witwe und seines Söhne zu seinem Seelenheil Stiftungen vornahmen, hätte sein Name allerdings auch im Totenbuch stehen müssen.

6.

Der rätselhafte Name von Kloster und Ort

Die Ortsbezeichnung locum in Lucka cum villa in Bischof Annos Urkunde wie auch die insula que antiqua Lucka dicta der Gründungshistorie weisen eindeutig auf eine schon vorhandene Siedlung bzw. Burg, in oder bei der die Abtei Loccum 1163 gegründet wurde.77 Abwegig ist die ältere Deutung, »[Siedlung] bei der Lücke«78, denn die moderne Sprachforschung geht von dem alten Gewässernamen*Luka aus.79 »Loccum bedeutet Luccaheim«, erklärte der Topograph Heinrich Gade 1901 hellsichtig.80 Der Klostername wechselt zwischen lateinisch Luca (Lucka, Lukka)81 und – 75 Calenb. UB III (wie Anm. 4), Nr. 1 (S. 4): Et nota eorum nomina quorum corpora circa prime fundacionis tempora sunt sepulta: …. Adelheidis, mater comitis Ludolfi … Beatrix soror Adelheydis comitisse, que quatuor filios habuit: Burchardum, Henricum, qui occisi sunt a Stadinguis, Engelmarum ….. Wilbrandum episcopum primo Baerburnensem postea Traiectensem.. 76 Toten- oder Memorienbuch, ed. Schuster, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 240 – 247. Merkwürdigerweise fehlen hier die Namen Wilbrands d.Ä., Burchards und Beatrix’. 77 Calenb. UB III (wie Anm. 4), S. 2 u. 6 (Nr. 6). 78 H. L. Ahrens: Zur ältesten Geschichte des Klosters Loccum, in: Zs. d. Hist. Vereins f. Niedersachsen (1872) S. 1 – 47, (1874/75) S. 372 – 423 u. (1876) S. 47 – 156, hier : S. 56 f.; Konrad Droste: Loccum. Ein Dorf – Das Kloster – Der Wald. Beiträge zu einer bemerkenswerten Geschichte, Loccum 1999, S. 24. 79 Dieter Berger: Geographische Namen in Deutschland. Herkunft und Bedeutung der Namen von Ländern, Städten, Bergen und Gewässern, 2. überarb. Aufl., Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999 (= Duden-Taschenbücher 25), S. 185. 80 Heinrich Gade: Historisch-topographisch-statistische Beschreibung der Grafschaften Hoya und Diepholz, 2 Bde., Nienburg 1901 (Neudr. 1980), Bd. 2 , S. 419. 81 Luca in: Annales Cistercienses, hrsg. von Franz Winter, in: Die Zisterzienser des nordöstlichen Deutschlands, Bd. 1, Gotha 1868; Lucka bei: Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, ed. J. Strange, 2 Bde., Köln, Bonn, Brüssel 1851, Dial. VII,17, 24, 52, VIII,18, 74, X,40 u. XI,19; LVCKA auch im Klostersiegel (in: Archiv des Klosters Loccum, hrsg. von

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seltener – dem deutschen Luckenem (Luken).82 Mundartlich lautet der Ortsname heute Locken.83 Die Bezeichnung abbatia Luccensis bzw. ecclesia Luccensis84 dürfte auf den lateinischen Namen zurückgehen. Vor dem Namen des Klosters existierte aber schon der der Grafen von Loccum bzw. ihrer Burg, die sich auf der wasserumflossenen Insel befand, die in der Klosterzeit nur noch Antiqua Lucka hieß. Hier ergibt sich dasselbe Bild: Die weitverbreiteten Handschriften der »Sächsischen Weltchronik« weisen beim Eintrag zum Jahre 1130 (Tod Burchards von Loccum) drei konkurrierende Schreibweisen auf: Lucca (Lukka), Luckenheim und Lucke (Luke)85, was zweifellos als alternierend zwischen der lateinischen Bezeichnung Lucca und der volkssprachlichen Luckenheim zu interpretieren ist. Durch die zeitgenössischen Annaleneintragungen zum Jahre 1130 wird das eindrucksvoll bestätigt: Alle Autoren schreiben entweder de Lucca oder de Luckenheim (mit diversen Abweichungen).86 Eine ähnliche Beobachtung kann man anhand der wenigen Urkunden machen, die die Grafen von Lucca erwähnen.87

82 83 84 85 86

Wilhelm von Hodenberg, Hannover 1858 [= Calenberger Urkundenbuch 3] zwischen S. 336 u. 337); Lucka bei Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum a[nno] 1196, V,30, hrsg. von Heinrich Pertz, Hannover 1868 (= MGH SS. rer. Germ. 14), S. 214; die Urkunden bis 1200 ergeben dieses Bild: 1181/85: Lucen’ Archiv Loccum Nr. 4 [im Folgenden werden nur die Urkundennummer genannt] – Luca Nr. 7; 1183: Luccensi ecclesia Nr. 6 – Lukka Nr. 8 – Lucka Nr. 9; 1183/85: Lucensis monasterium; 1184: ecclesia Luccensis Nr. 10; 1185: Lucke Nr. 12; 1186: Luken Nr. 13; 1186: Lucka Nr. 14; 1187: Lucka (2x) Nr. 15 f. – Lucha Nr. 17 – Luccensis cenobium Nr. 18; 1189: Lucca Nr. 20; 1192: Luccensi ecclesia Nr. 21 – Luccensi ecclesia Nr. 22; 1193: cenobium Luccensi Nr. 25; 1193/94: fratres Luccenses Nr. 24; 1196: Lukcensi Nr. 26; 1197: ecclesia Luccensi Nr. 27. 1188 Luckenem, in: Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern, bearb. von K. Jordan (= MGH Laienfürsten- u. Dynastenurkunden d. Kaiserzeit 1), Stuttgart 1941 – 1949 (Neudr. 1957 – 1960), Nr. 119. Ahrens (wie Anm. 29), S. 61, Anm. 70. Tabula subscripta continet abbatias ordinis Cisterciensis …, sog. »Annales Cistercienses«, in: Winter (wie Anm. 22), Calenb. UB III, Nr. 11, Nr. 4, 6. 10, 18, 21 f., 24 – 27 u. ö. Sächsische Weltchronik. Das Zeitbuch, niederdt. u. lat., hrsg. von Hans Ferdinand Massmann, Stuttgart 1857, S. 403 u. 553 mit Anm. 3. Annales Hildesheimenses, hrsg. von G. Waitz, Hannover 1878 (= MGH SS rer. Germ. [8]), und Annales Patherbrunnenses. Eine verlorene Quellenschrift …, hrsg. von SchefferBoichorst, Innsbruck 1870: de Lucca; Chronica regia Coloniensis hrsg. von G. Waitz, Hannover 1880 (= MGH SS rer. Germ. [18]), S. 67: de Lucca; Annales Palidenses, hrsg. von G. H. Pertz, Hannover 1859 (=MGH SS 16), S. 78: de Lucca; Chronicon Montis Sereni, hrsg. von E. Ehrenfeuchter 1124 – 1225, Hannover 1974 (= MGH SS 23), S. 143: de Luknem; Annales Magdeburgenses, hrsg. von Heinrich Pertz, Hannover 1859 (= MGH SS 16), S. 183: de Lukenem; Annales Pegavienses et Bosovienses, ebd., S. 256: comes Luchenhemsis de Saxonia; Chron. S. Petri Erfordensis S. Chronicon S. Petri Erfordensis moderna, hrsg. von Oswald Holder-Egger, Hannover 1899 (= MGH SS rer. Germ. [42]); Die Reichschronik des Annalista Saxo de Luckenheim, hrsg. von Klaus Nass, Hannover 2006 (= MGH SS 37), S. 593; Annales Disibodenbergenses: de Lochenheim; vgl. auch die Zusammenstellung in: Die Regesten des Kaiserreichs unter Lothar III. und Konrad III. T. 1: Lothar III. 1125 (1075)-1137,

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Woher nahmen nun die Erbauer den Namen für ihre Burg? Wurde er vom italienischen Wallfahrtsort des damals beliebten Heiligen Volto Santo entlehnt? Der Name dieser oberitalienischen Kommune bedeutet im Etruskischen »Sumpf«.88 Nach Lucca in der Toscana könnten z. B. Graf Burchard I. mit dem römisch-deutschen König Heinrich IV. (1084) oder Graf Burchard II. mit dessen Sohn und Nachfolger Heinrich V. (1111) auf dem Wege zur Kaiserkrönung in Rom gekommen sein.89 Für die Zeit bald nach 1111 spricht, dass die Befestigungen der Luccaburg, wie Hans-Wilhelm Heine herausgefunden hat, nach westfriesisch-niederländischen Vorbildern errichtet wurde90 und es Burchard II. war, der als Graf von Friesland91 dorthin politische und herrschaftliche Beziehungen hatte. Das wirft zudem ein Licht auf den Zweck des Burgenbaus: Graf Burchard II. war Vogt des Stifts Gandersheim und hatte seine Grafschaft ebenfalls im dortigen Raum.92 Er brauchte also einen sicheren Punkt, von dem aus er die Ver-

87

88 89 90 91

92

bearb. von W. Petke, Köln/Weimar/Wien 1994 (= J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV,1), Nr. 255. Zweimal Lucca, ferner Lukke und Luken, was sicher die Kurzform von Luckenheim ist, vgl. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 8, hrsg. von Emil v. Ottenthal und Hans Hirsch, Berlin 1927 (= MGH DD) Nr. 18, und Regesten des Kaiserreichs unter Lothar III. und Konrad III. T. 1: Lothar III. 1125 (1075)-1137, bearb. von W. Petke, Köln/Weimar/ Wien 1994 (= Böhmer, Regesta Imperii IV,1), Nr. 185: de Luca; ferner Urkunden, ebd., Nr. 21 und Regesten ebd., Nr. 194 (1129): de Lucca; 1162/67 de Luken und 1163 de Lukke, bei Ahrens, Geschichte (wie Anm. 29), S. 117, und bei Wolfgang Petke: Die Grafen von Wöltingerode-Wohldenberg, Hildesheim 1971 (= Veröff. d. Instituts f. Histor. Landesforschung d. Univ. Göttingen 4), S. 11. Dietmar Urmes: Handbuch der geographischen Namen, Wiesbaden 2003, S. 133. Die Kaiserkrönung Lothars III. von 1137, an die man auch denken möchte, scheidet aus, da sie dafür zeitlich zu spät liegt. Vgl. den Beitrag von Heine in diesem Band. Der Annalista Saxo bezeichnet ihn als amicus regis (nämlich Lothars III.) und comes Fresonum, vgl. Die Reichschronik des Annalista Saxo, hrsg. von Klaus Nass, Hannover 2006 (= MSG SS 37), S. 593 Z. 1; vielleicht wurde er dort nach 1101 eingesetzt, nachdem Heinrich der Fette von Northeim als derjenige, dem der comitatus eidem provincie (näml. Fresiam) im Kampf gegen die Friesen gefallen war, ebd. S. 503 Z. 21. – 1101 fiel auch ein Graf Purchart im Kampf gegen die Friesen (wohl der Vater Burchards II.), gleichzeitiges Memorialverzeichnis im Echternacher Evangelistar der Bremer Kirche von ca. 1050, (Brüssel, Roy-Albert-Bibliotheque, Ms. 9428, Innenseite des hinteren Umschlagblattes; gedruckt bei: Dietrich Upmeyer : Die Herren von Oldershausen und die Herausbildung des Gerichts Westerhofen, Hildesheim 1977, S. 32 f., 46, 49 u. 57; Hans G.Trüper : Ritter und Knappen zwischen Elbe und Weser. Die Ministerialität des Erzstifts Bremen, Stade 2000 (= Schriftenreihe d. ehem. Herzogtümer Bremen u. Verden 12), S. 658 Nr. 45; vgl. Hermann von Bothmer : »Mirica«. Forst und Gesellschaft, Hildesheim 1965, S. 572. Die Urkunden Lothars III. und der Kaiserin Richenza, hrsg. von E. von Ottenthal und H. Hirsch, Berlin 1927 (= MGH DD 8), Nr. 18 (S. 23 Z. 3 f.); eine »Grafschaft Loccum« hat es entgegen Hesses Untertitel zu seiner romanhaft ausgeschmückten Friederike von Hallermunt nicht gegeben, nur eine Anhäufung von Grundrechten (u. a. das spätere Dotationsgut der Abtei) rund um die Luccaburg, die deshalb auch zutreffend als »Herrschaft« (dominium)

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bindung nach Friesland aufrecht erhalten konnte – und das war von Loccum aus, wo man es nicht weit zur Weser hatte (wie erwähnt, nur 4 12 km nach Wasserstraße an der Mittelweser), leicht möglich. Wenn das oberitalienische Lucca Pate bei der Benennung der Grafenburg in Lockenheim gestanden hat, dann dürfte dabei der Wunsch eine Rolle gespielt haben, der neuen Feste in Anlehnung an das ältere Luckenheim einen reichspolitisch hochrangigen Namen zu verleihen.93

bezeichnet wurde, s. oben Anm. 21; zum Fundationsgut vgl. Simon Sosnitza: Kloster Loccums natürliche Ressourcen im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, Magisterarbeit Univ. Vechta 2010, [Typoskript], S. 111. 93 Ein vergleichbarer Fall ist, dass der Mons gaudii des Romzuges der deutsch-römischen Kaiser im Namen der Bassumer Vogteifeste Freudenberg wiederkehrt, die später von den Grafen von Oldenburg-Wildeshausen erbaut wurde. Vgl. Bernd Ulrich Hucker : Stift Bassum. Eine 1100jährige Frauengemeinschaft in der Geschichte, Bremen 1995 (= Schriften d. Instituts f. Geschichte u. historische Landesforschung Vechta 3), S. 141 f.

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Hermann Josef Roth

Zum inneren Leben im mittelalterlichen Zisterzienserkloster. Mit besonderer Berücksichtigung von Loccum

Das unruhige elfte und zwölfte Jahrhundert wurde von einem Strom neuer religiöser Bewegungen, die zum Teil anarchistische Züge trugen, erfasst. Die Mehrzahl der dabei entstehenden Gemeinschaften ist wieder untergegangen. Nur wenige, die sich dem »Auszug in die Wüste«1 anschlossen, vermochten auf Dauer Stätten zu gründen, deren Lebensordnung zum Vorbild anderer wurde, zur Keimzelle neuer religiöser Lebensformen – später würde man von »Orden« reden. Von diesem jugendlichen Auf- und Umbruch blieb neben Camaldoli, Chartreuse und Pr¦montr¦ das 1098 bei Dijon gegründete Kloster C„teaux (lat. Cistercium) übrig und wie jene bis heute wirksam. »Zisterz« – auch schlicht »Neukloster« (novum monasterium) genannt – wurde Ursprung und Vorbild hunderter Gründungen ähnlichen Musters. Die erfolgreiche Geschichte der »Zisterzienser« und der hohe Stand ihrer Erforschung überschattet bei der öffentlichen Wahrnehmung oft die anderen Männerbünde aus jener Zeit,2 zu Unrecht allerdings! Erst Jahrzehnte nach dem urkundlich belegbaren Anbeginn entstand als eines von vielen das Zisterzienserkloster Loccum. Um die Bedeutung dieser Stätte ganz zu verstehen, sei der historischen Rahmen durchmustert, in dem die bis heute hier wirksame Idee zur Entfaltung kam und unter welchen Bedingungen dies geschah.

1 Karl Suso Frank: Grundzüge der Geschichte des christlichen Mönchtums, Darmstadt 1975, S. 66 f.; David Knowles: Geschichte des christlichen Mönchtums, München 1969, S. 66 f., 89 f. 2 Hermann Josef Roth, in: Die Zisterzienser als Männerbund, in: Männerbande – Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, Bd. 2, hrsg. von Gisela Völger/Karin v. Welck, Köln 1990, S. 347 – 354, 420.

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Evangelische Anfänge Zum tastenden Neubeginn mit all seinen Provisorien gehört bei den Zisterziensern wie bei den fast zeitgleichen Gründungen, dass es Streitfrage bleiben wird, welche Bedeutung den wenigen namentlich bekannten Gründerpersönlichkeiten, den Äbten Robert von Molesme († 1108), Alberich († 1109) und Stephan Harding († 1134), zuzuschreiben ist. Schon äußerlich unstet war ihr Leben. Robert, der »Stifter« von C„teaux, verließ sogar seine Gründung nach einem Jahr wieder. Nur im Anliegen waren sich alle einig. Es galt, ein Leben getreu dem Evangelium zu führen: ad apicem litterae – bis aufs i-Tüpfelchen. Dieses Ideal ist bis heute gültig geblieben. Konkrete Anweisung, wie das zu geschehen hätte, lieferte in der lateinischen Kirche die Klosterregel (ca. 529), die Benedikt von Nursia († 543) zugeschrieben wird. Sie gehörte auch zur Grundausstattung der Loccumer Bibliothek (1445).3 Zu ihr wollte man in C„teaux zurückfinden und das Geflecht der zusätzlich im Laufe der Jahrhunderte kodifizierten »Gewohnheiten« (consuetudines), die im Grunde nichts anderes als Auslegungen der Regel darstellten, entwirren. Man fühlte sich weiterhin als »Benediktiner«, wenngleich mit reformerischem Geist. Insofern war in C„teaux nicht wirklich Neues entstanden. Die Mönche verfolgten hier das, was allen Reformern eigen ist und vereinfacht als »zurück zu den Quellen« (modern: to the roots) umschrieben werden kann. Im Gegensatz aber zur bisherigen Gewohnheit wollten die Mönche im »neuen Kloster« (novum monasterium) von eigener Hände Arbeit (manu proprio) leben – und das war wirklich neu, erst recht, wenn man auf das orientalische Mönchtum der Frühzeit blickt. Die übliche Rede, Zisterzienser seien ein »Reformorden«, der aus dem »dekadenten Benediktinerorden hervorgegangen« sei, schöpft aus kirchenrechtlichen Normen späterer Jahrhunderte und greift ziemlich daneben. »Orden« gab es noch keine, und das Benediktinertum war weitgehend intakt und stark genug, sich selbst zu korrigieren, wie man nicht nur in Cluny bewies. Mit dem Eintritt des jungen Adeligen Bernard de Fontaines (1113) und seinen Verwandten und Freunden in C„teaux endete bald der örtliche Charakter des »Neuklosters«. Die mitreißende Art des jungen Ritters trug wesentlich zur jetzt einsetzenden Expansion des zisterziensischen Mönchtums bei. Die Entstehung neuer Niederlassungen zwang C„teaux nun doch zur Kodifizierung seiner Lebensgewohnheiten und damit zur Festigung der Beziehungen zwischen den jungen Gemeinschaften. Abt Stephan sah in der von ihm ge3 G. H. Müller : Die Klosterbibliothek, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 8, Nr. 1.

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Zum inneren Leben im mittelalterlichen Zisterzienserkloster

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schaffenen Carta caritatis zwar selbständige Abteien im Sinne des herkömmlichen Benediktinertums vor, setzte aber in der Organisation neue Akzente, nämlich: - Alle Filialen waren zur getreuen Übernahme der Lebensgewohnheiten (usus) von C„teaux verpflichtet, - deren Einhaltung durch den Gründerabt – hier Volkenroda – regelmäßig (anfangs jährlich) im Rahmen sogenannter Visitationen zu überwachen war, - wodurch ein System voneinander in gewisser Beziehung dann doch abhängiger Klöster entstand (Filiationsprinzip: z. B. Morimond-Kamp-VolkenrodaLoccum, - die ihre Zusammengehörigkeit alljährlich in Äbteversammlungen (Generalkapitel) am Ursprungsort C„teaux zum Ausdruck brachten, und - dessen Befugnisse als oberster Instanz für alle Gemeinschaften zisterziensischer Prägung rechtlich hochwirksam waren. Das Experimentierstadium der reformfreudigen Mönchsgemeinde benediktinischer Herkunft war damit beendet. Die Zisterzienser waren in die Geschichte getreten und formierten sich allmählich zum »Orden«4 im kirchenrechtlichen Sinne. Dennoch war der zisterziensische Klosterverband entsprechend dem Konzept der Carta caritatis noch keine zentralistische Organisation, wie sie später bei den Mendikanten verwirklicht werden sollte. Tragendes Gerüst dieser Carta waren die Abstammungsverhältnisse der Konvente. Zwar bildeten diese Filiationen keineswegs selbständige Unterstrukturen etwa nach Art der »Kongregationen« des heutigen Zisterzienserordens, so diente die Kommunikation zwischen Vater- und Tochterabtei der Ordensdisziplin. In den übrigen Lebensbereichen – Baubetrieb, Wirtschaftsgebaren, außerliturgische Frömmigkeit, Kleidung u. a. – überwogen in der Regel lokale und regionale Einflüsse. Schon im Vergleich zwischen Volkenroda, Loccum und Reinbek ergeben sich im Detail beträchtliche Unterschiede, die allein schon durch die natürlichen Grundlagen der jeweiligen Stätte bedingt sind.

4 Kaspar Elm, Peter Joerißen, Hermann Josef Roth (Hrsg.): Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Köln 1981; Ergänzungsband, hrsg. von Kaspar Elm, Köln 1982; Louis J. Lekai: The Cistercians. Ideals and reality. Kent, Ohio 1977; Hermann Josef ROTH: Die zisterziensische Bewegung im Rahmen der mittelalterlichen Geistes- und Kirchengeschichte, in: Angelika Ehrmann, Peter Pfister, Klaus Wollenberg (Hrsg.): In Tal und Einsamkeit, 725 Jahre Kloster Fürstenfeld. Die Zisterzienser im alten Bayern, Bd. 2: S. 9 – 22, München 1988.

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Prägende Persönlichkeiten Das in der Carta caritatis erkennbare Konzept des Abtes Stephan war flexibler als die zentralistische Praxis der Cluniazenser, die in manchem anregend gewirkt hat. Das aber erklärt nicht ganz den Erfolg der Zisterzienser. Abgesehen von dem für solche Vorhaben günstigen Zeitgeist trugen herausragende Persönlichkeiten der ersten Mönchsgeneration entscheidend zur inneren Dynamik dieser christlichen »Jugendbewegung« bei. An ihrer Spitze steht Bernard de Fontaines, der als Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153) bekannt werden sollte. Sein Bildnis ziert den Loccumer Laienaltar (um 1500, obere Reihe links). Auch wenn er nicht als Ordensgründer bezeichnet werden darf, so hat er wie keiner sonst zur Ausbreitung und Profilierung der Zisterzienser-Bewegung beigetragen.5 Der vorscholastischen Theologie verbunden und aus spontaner Frömmigkeit lebend hat er die Frauenbewegung des 13./14. Jahrhunderts ebenso beeinflusst wie die Devotio moderna. Indem er in seinen Lehren ausgeht vom Wort der Heiligen Schrift und von der Erfahrung des Menschen als Sünder und Gottsucher, hat er noch bei Luther Zustimmung und in der evangelischen Theologie bis heute Gehör gefunden. In Loccum wurde6 und wird daran immer wieder erinnert. Den ungestümen Jüngling sandte sein Abt schon nach wenigen Jahren zur Gründung des Klosters Clairvaux, wohl nicht nur als pädagogisch weise Maßnahme, um die übersprudelnden Energien des jungen Mannes zu kanalisieren, sondern vermutlich auch um den inneren Frieden des Klosters zu sichern. Kompromissloser Eifer, der ihm allerdings die Gesundheit ruinierte (seit 1118 Magenleiden), mitreißende Redegewandtheit und eingängige Argumentation stellten genau die Eigenschaften dar, die Jugendliche zu allen Zeiten begeistern können. Er setzte zeitweise jenen geradezu puritanisch anmutenden Lebensstil durch, der nach seinem Tod als »typisch zisterziensisch« gelten sollte. Ihm nahm man diese vereinfachende Formel ab, Zisterzienserleben sei das Christenleben schlechthin.7 Mit Bibelzitaten durchwirkte Reden und Texte verliehen dem Konzept eine nicht mehr hinterfragbare Autorität. Ausschließlich rationale Exegese war ihm zutiefst fremd. Wesentlich für diese vita apostolica ist nach Bernhard das Brechen des Eigenwillens. Sein Deus lo vult (Gott will es) wurde folgerichtig zur zündenden 5 Georges Duby : Der heilige Bernhard und die Kunst der Zisterzienser, Stuttgart 1981; Elphege VACANDARD: Leben des hl. Bernhard von Clairvaux, 2 Bde., übers. v. Matth. Sierp, Mainz. 1897/98. 6 Hanns Lilje: Zisterziensischer Geist und zisterziensische Frömmigkeit. Historische Meditation über Bernhard von Clairvaux, in: Loccum Vivum. Achthundert Jahre Kloster Loccum, Furche, 1963, S. 147 – 158. 7 Frank (wie Anm. 1), S. 76.

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Kreuzzugsparole. Sie hallte noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod in Loccum nach, als Abt Berthold8 in den »Heidenkrieg« gegen die Liven zog. Rückhaltloser Gehorsam gegenüber Gott und stellvertretend auch gegenüber dem Abt ist Rückgrat des Klosterlebens. Er selbst empfand sich als Abt gleichfalls im Gehorsam gegenüber Gott verpflichtet, sich um das Heil der Brüder zu kümmern.9 Bernhards adelig-ritterliche Herkunft wirkt stärker in seiner Spiritualität nach, als manche vielleicht wahrhaben möchten. Rittertum war für ihn ebenso ein Ideal wie das Mönchtum. Als im neu gegründeten Templerorden (ca. 1118) beide Lebensmuster miteinander versöhnt schienen, schwärmte Bernhard, hier »lebte man froh und maßvoll ohne Frauen und Kinder, damit nichts an himmlischer Vollkommenheit fehle …«10 Bemerkenswert dürfte sein, dass die Templer gleichzeitig mit den Zisterziensern im weiteren Umkreis von Loccum ansässig wurden (Braunschweig Mitte des 12. Jahrhunderts, Süpplingenburg 1130/73) und ihr Name mancherorts in Sagen populär geblieben ist.11 Abweichungen von der klösterlichen Linie nach Zisterziensermaß wurden von Bernhard ebenso mit ätzender Schärfe gegeißelt. Die aus nichtigem Anlass entstandene Kontroverse mit Cluny und die für die Templer verfasste Schrift »Vom Lob der neuen Ritterschaft«12 lassen an kämpferischem Geist nichts fehlen. Der Eiferer für ritterliche und mönchische Zucht entwickelte in seinen Homilien über das Hohe Lied eine schier atemberaubende Brautmystik. Sie gelten als sein Hauptwerk und haben ungeheure Wirkung auf das kontemplative und mystische Leben entfaltet. Auszüge daraus gehörten auch in Loccum zum festen Repertoire der Lesungen in Chor (Horen), Kreuzgang (Kollazlesung zur Komplet) und Refektorium (Tischlesung). Leider erlaubt die Überlieferung nur einen unvollständigen Rückschluss auf die Lektüre der Loccumer Mönche im Mittelalter. Gerade deshalb aber sei daran erinnert, dass es in der zisterziensischen Gemeinschaft Autoren gab, die inhaltlich und der Wirkung nach Bernhard kaum nachstehen. Der Benediktinerabt Wilhelm von Saint- Thierry (um 1085 – 1148/49), der sich von Bernhard beeindruckt den Zisterziensern angeschlossen hatte, fühlte sich von der rationalistischen Theologie eines Abaelard (1079 – 1142) heraus8 Nicolaus Heutger : Zisterziensisches Wirken in Niedersachsen, Hildesheim 1993, S. 79 – 80. 9 Sermones super Cantica canticorum 58,3. 10 Zum Gesamtkomplex u. a.: Bernhard von Clairvaux an die Tempelritter, die Speerspitze der Kreuzzüge, hrsg. von Hermann Josef Roth/Anton Großmann, Sinzig 1990. 11 Nicolaus Heutger: Die Templer in Niedersachsen, in: Die Ritterorden im Mittelalter, Greifswald 1996; Konrad Hecht: Ein Beitrag zur Baugeschichte in Süpplingenburg, in: Niedersächsische Denkmalpflege 9, Hannover 1976 – 78, S. 21 – 66. 12 Vgl. Roth/Großmann (wie Anm. 10).

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gefordert. Im Schulterschluss mit Bernhard leitete er gegen den Freund von einst jene theologische Fehde ein, die den kühnen Denker zum Ketzer abstempelte. Und dann begegnet bei Wilhelm – ebenso wie bei Bernhard – die so ganz andere Seite ihres Denkens und Fühlens. Auch Wilhelm sinnt über das Hohe Lied nach, öffnet sich bei der Lektüre von Gregor und Ambrosius der mystischen Theologie, wie er in seinen Schriften13 bekennt. Darin artikuliert sich die intensive Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gottessohn, der sogar die Schmach des Kreuzestodes auf sich genommen hat. Oder als Gebet: »Alle, die du in deine Arme schließt, Herr, ziehst du doch fest an dein Herz. Dein Herz ist das süße Manna, Gott, den du, Jesus, in deiner Weisheit in dir trägst wie in einem goldenen Krug. Selig sind alle, die deine Umarmung zu diesem Manna zieht, selig alle, die du in diesem verborgenen Geheimnis mitten in deinem Herzen geborgen sein lässt.« Die mystische Umarmung (amplexus) mit dem Gekreuzigten sollte hinfort zum Motiv werden, das Künstler nicht müde wurden, in reichen Abwandlungen – insbesondere auf Bernhard bezogen – darzustellen. Eine moderne Variante hat Werner Franzen für Altenberg geschaffen, von der Loccum eine Kopie besitzt. In der Plastik erfahren Bernhard und Luther gemeinsam auf diese Weise die Zuwendung des Gekreuzigten. Eine andere Generation meldet sich in Ailred von Rievaulx (1110 – 67) zu Wort. In Anlehnung an sein burgundisches Vorbild versicherte der britische Abt, dass »keine Form der Vollkommenheit, die in den Worten des Evangeliums … ausgedrückt ist, … in unserem Orden und in unserer Lebensweise« fehle.14 Bibel und Regel, aber auch die »Bekenntnisse« Augustins bilden die Grundlagen seiner »affektiv bestimmten Spiritualität«.15 Sie ist nicht abgehoben, betont er doch in seiner Schrift »Über die Geistliche Freundschaft« die Bedeutung brüderlichen Lebens für die Kommunität. Schon todkrank verfolgte er Diskussionen, die Brüder an seinem Lager über den Sinn der klösterlichen Lebensweise führten – fast gleichzeitig, als diese in Loccum eingeübt wurde. Die Wirkungsgeschichte so genialer Denker wie Alanus ab insulis (ca. 1114 – 1203)16, Otto von Freising (ca. 1114 – 1158) oder Joachim von Fiore (um 1130 – 1202) weist in ganz andere Richtung. Der prophetisch begabte Apokalyptiker Joachim wurde trotz persönlicher Heiligkeit aus dem Orden ausgeschlossen. Dennoch wirkten seine Ideen mächtig weiter vor allem auf die franziskanische Bewegung. Alanus – verehrt als Doctor universalis – erlebt heute seine Wie13 Z. B. Excerpta ex libris S. Gregorii, Commentarius e scriptis S. Ambrosii, Expositio super Cantica Canticorum, Epistola aurea (»Goldener Brief«) 14 Knowles (wie Anm. 1), S. 97. 15 LThK 1, 3. Aufl., 1993, Sp.182. 16 Cistercienser-Chronik (i.F.: CistC), Jg.117, Heft 2/3: Von der Klage der Natur – De planctu natura. Alanus ab insulis; Bregenz.

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derentdeckung durch die Anthroposophie. Otto, Onkel von Kaiser Barbarossa und dritter Abt von Morimond, seit 1138 Bischof von Freising, entwarf eine »Weltchronik«, die, von der Zweistaatenlehre Augustins beeinflusst, eine starke Wirkung ausübte.17 Man sieht: Wo striktes Schweigen und monotone Gregorianik Menschen einzuengen schienen, ermöglichte vielmehr das Fehlen von Ablenkung den Start zu kühnen Geistesflügen. Noch viele andere Frauen und Männer der zisterziensischen Gemeinschaft haben ihr spirituelles Ringen schriftlich festgehalten, ohne dass freilich ihre Gedanken je Gemeingut in den Klöstern oder in Kopf und Herz aller ihrer Bewohner geworden wären. Ob ihre Texte in der Loccumer Bibliothek verfügbar waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Die Mehrzahl der Mönche dürfte sich hier wie anderswo kaum mit diesen Autoren befasst haben. Ihr Lesepensum war liturgisch vorgegeben. Der älteste bekannte Bibliothekskatalog von Loccum (1445) verzeichnet außer Bernhard ausschließlich Liturgica.

Herkunft und Ankunft Der Gründerkonvent von Loccum stellte innerhalb der Zisterzienserbewegung18 schon die zweite, wenn nicht die dritte Generation dar. C„teaux hatte vier Klöster (»Primarabteien«) gegründet, von denen aus geographisch bedingte Ausbreitungsprozesse in Gang kamen. Für den deutschsprachigen Raum waren davon nur Clairvaux und Morimond (beide 1115 gegr.). Aber auch Clairvaux hat hier eher dank der Umtriebigkeit Bernhards Fuß gefasst und nur siebzehn Tochterklöster besiedelt, darunter Himmerod (1134) und Eberbach (1135). Alle übrigen Zisterzen gehören zur Filiation von Morimond,19 die insgesamt 276 Abteien umfasste. Im Bassigny (heute Dpt. Haute-Marne) und damit nahe der Reichsgrenze gelegen, war Morimond schon von daher für die Ausbreitung nach Osten prädestiniert. Verwandtschaftliche Beziehungen des zweisprachigen Konventes zu rheinischen Adelsfamilien lenkten die ersten Niederlassungen dorthin. Erzbischof Friedrich I. von Köln, ein Bruder des Abtes Arnold, ermöglichte 1122 die 17 Lexikon des Mittelalters, 1 – 9, München/Zürich 1980 – 1998 (i.F. LMA) 6, 1993, Sp. 1581 – 1582. 18 Überblick vor allem bei Ambrosius Schneider et al.: Die Cistercienser. Geschichte – Geist – Kunst, Köln 1974; Lekai (wie Anm. 4); Elm, Joerißen, Roth (wie Anm. 4); Immo Eberl: Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Stuttgart 2002; Jens Rüffer: Die Zisterzienser und ihre Klöster, Darmstadt 2008. 19 Großer Historischer Weltatlas, 2. Teil: Mittelalter, hrsg.: Bayer. Schulbuch-Vlg. München, Tübingen 1970: Die Verbreitung der Zisterzienser 1098 – 1500; Stammbaum bei Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, hrsg. vom Kloster Loccum, Hannover 1913, S. 16.

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erste Ansiedlung von Zisterziensern unter Leitung des Abts Heinrich auf dem erzbischöflichen Hof Altenkamp (Vetus Campus) in der heutigen Stadt KampLintfort (NRW). Graf Eberhard von Berg, seit 1139/40 Mönch in Morimond, brachte seinen Bruder Adolf dazu, die Stammburg der Familie, das »Alte Berg« (Vetus Campus, Altenberg), den Zisterziensern zu überlassen. Obwohl Loccum zur Filiationslinie von Kamp gehört, muss auch Altenberg Erwähnung finden. Beide rheinischen Klöster bilden nämlich die maßgebenden Ausgangspunkte für die Ausbreitung der »grauen Mönche«, wie man sie gern bezeichnete, nach Osten, nach Brandenburg, Mecklenburg, Schlesien und Polen. Gegenüber den sechs Klöstern der Altenberger Linie war Kamp mit vierzehn Tochtergründungen, von denen allein fünf vor 1150 erfolgten, wesentlich erfolgreicher. Fünf Stoßrichtungen lassen sich bei der Kamper Expansion unterscheiden, deren erste mit der Gründung von Walkenried (1129) im Harz einsetzt. Die zweite Kamper Linie führt über Volkenroda (1131)20 schließlich auch nach Loccum. Zuvor aber gelang von hier aus die bedeutende Stiftung Waldsassen (1133), das sich zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum für die Oberpfalz und das Egerland entwickelte. Es gründete Sedletz (Sedlec, 1142/43) in Böhmen, das auch politisch einflussreich wurde, und übernahm gleichzeitig das aufgehobene Augustinerkloster Walderbach (1143) in der Oberpfalz. Nach einer Pause konnte Volkenroda noch einmal Mönche für Neugründungen abstellen, für Reifenstein im Eichsfeld, 1162 durch Grad Ernst II. von Gleichen gestiftet, und Loccum. Als Graf Wulbrand (Wilbrand) von Hallermund seine Stiftung vollzog (1163) und die Zisterzienser seinem Ruf nach Lucca (Lucka) folgten, hatte sich die Zisterzienserbewegung bereits zum rechtlich fixierten »Orden« entwickelt – einem Novum im Mönchtum und bis heute ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem orthodoxen und altorientalischen Klosterwesen. Zwar darf die Zugehörigkeit zu einer Filiation nicht überschätzt und, wie gelegentlich in der Literatur, denen der späteren Ordenskongregationen gleichgesetzt werden. Für Alltagsfragen waren die örtlichen oder regionalen Gegebenheiten ausschlaggebend. Doch im disziplinären Bereich galten die Abstammungsverhältnisse als kirchenrechtlich verbindlich, im spirituellen Leben konnten sie durch die regulären Visitationen oder Gebetsverbrüderungen sogar vertieft werden. Im Laienaltar zu Loccum begegnen uns mit den Figuren des Apostels Andreas und erst recht mit St. Ursula und ihren Gefährtinnen21 20 Ulrike Köhler, Michael Mohrmann und Constantin Beyer : Volkenroda: Kloster, ehemalige Zisterzienserabtei, 3. Aufl., Regensburg 2005. 21 Gregor Müller : Der Kult der hl. Ursula und ihrer Gefährtinnen im Orden, in: CistC 24, 1912, S. 289 – 301.

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Gestalten der rheinischen Heiligenverehrung, die wohl über die Kamper Filiation hierher getragen worden ist. Das vereinfacht skizzierte Ausbreitungsschema suggeriert eine überlegte Strategie, nach der die Zisterzienser »zunächst eine sichere Operationsbasis« schufen, »die durch ein engmaschiges Netz neuer Filiationen verstärkt und vorgeschoben wurde«.22 Das ist allerdings nur bedingt richtig, denn vor dem Handeln des Ordens standen neben den kirchlichen Interessen stets die Ansichten des grundherrlichen Stifters, im Falle von Loccum Graf Wulbrand von Hallermund und seine Gemahlin Beatrix, angeblich Erbtochter des Grafen von Lucca.23 Sie lassen sich knapp auf drei Grundlinien festlegen: 1. der religiöse Wunsch nach dem eigenen Seelenheil, das durch die Beisetzung im Kloster und Gebet des Konventes (Seelengedächtnis) gesichert wurde; 2. die »Bindung des regionalen Adels an das landesherrliche Kloster« und damit die Christianisierung und Sicherung der Seelsorge;24 3. die Verbesserung der Infrastruktur des eigenen Territoriums, das vom Können und Wissen des internationalen Männerbundes profitiert. Gerade die religiösen Motive kommen in der Loccumer Stiftungsurkunde deutlich zum Ausdruck. Sie definieren praktisch Loccum als »Hauskloster«25 der Hallermund. Das Seelgerät war nicht nur eine der materiellen Grundlagen, sondern die daraus erwachsenen religiösen und kultischen Verpflichtungen (missa pro defunctis, officium defunctorum) wurden in Loccum wie in allen Klöstern sehr ernst genommen. Das liturgische Pensum konnte dadurch mitunter beachtlich gesteigert werden. Die Totenoffizien entwickelten sich später sogar zu einer eigenen wenn auch verkürzten Horenabfolge parallel zum regulären Chorgebet. Die normativen Quellen (Regel, Statuten) taugen zwar wenig als Auskunft über die klösterliche Wirklichkeit, was immer wieder übersehen wird, stecken aber präzise das Maß ab, an dem sich der Männerbund (und die ihm alliierten Frauengemeinschaften) messen ließen. Bezeichnend ist, dass in der ältesten schriftlichen Fixierung der zisterziensischen Bräuche, in der Carta caritatis (prior), Norm und Legende miteinander verwoben sind, indem man nämlich den Paragraphen eine Zusammenfassung der Gründungserzählung (Exordium Cistercii) voranstellte. Schon dort findet sich die Neigung zur Idealisierung der Ursprünge: Weil das Kloster Molesme nicht in Übereinstimmung mit der Regel Benedikts gelebt habe, hätten einige »getrieben von Gewissensbissen und spi22 Ambrosius Schneider: Geschichte und Wirken der weißen Mönche, Köln 1958, S. 83. 23 [Richard Drögereit]: Loccum, in: Handbuch d. Hist. Stätten Deutschlands, 2: Niedersachsen und Bremen, 2. Aufl., Stuttgart 1960, S. 258 – 259. 24 Winfried SCHICH: Klöster und Städte als neuartige zentrale Orte des hohen Mittelalters im Raum östlich der Elbe. In: Cistercienser Nr. 13, Chorin 2001, S. 16 – 33. 25 Im Sinne von Schich (wie Anm. 24).

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rituellem Eifer« ihren Konvent verlassen, um C„teaux zu gründen. Die ältere Fassung (Exordium parvum) kennt noch die Suche nach Einsamkeit und Armut als weiteres Motiv.26 Auch die alte Loccumer Geschichtsschreibung folgt diesem Schema.27 Indem die Gründer von C„teaux auch über eremitische Erfahrungen verfügten, erinnern sie an einen weiteren Mythos, den sie mit weiten Kreisen des Reformmönchtums teilten: Die Vorstellung, mit der Rückkehr zu Benedikt auch das alte vorbenediktinische Mönchtum wieder zu beleben. »Abgeschiedenheit« und »Armut« trugen diese Fiktion.28 Aber die »Wüste« (desertum) der Zisterzienser war bestenfalls billiges Rodungsland, das bis dahin von der Landnahme verschont geblieben war und das mancher Stifter nun wohlfeil aus der Hand gab. Viel öfter handelte es sich um wohlhabendes Altsiedelgebiet mit günstiger Infrastruktur. Gerade die rasche Ausbreitung der Zisterzienserbewegung wurde doch durch die verkehrsgünstige Lage der Erstabteien begünstigt. »Wüste« war geographisch bestenfalls eine gewisse Entfernung von Städten und Burgen. Auch Kloster Loccum entstand an längst besiedelter Stelle,29 wenngleich mit räumlichem Abstand von der bestehenden Talburg. Wie bei den meisten Zisterzienserstätten ist auch hier eine deutliche Unsicherheit bei der Wahl des Bauplatzes zu beobachten. Als einen der vorläufigen Standorte nennt man die noch sichtbaren Fundamente einer alten Mühle (Straße »Zur Wassermühle«), die mit der in älteren Chroniken erwähnten Vogelsangsmühle (vogelsangs muhlen) in Verbindung gebracht wird.30 Vor Einzug der Mönche mussten alle Regularräume bezugsfertig sein. Die nötigen Arbeiten erledigten örtlich rekrutierte Bautrupps unter Aufsicht eines klostereigenen Baumeisters, in der Regel wohl ein Konverse (»Laienbruder«). Die zuletzt vertretene Ansicht, Konversen hätten Loccum erbaut,31 ist nicht belegbar. Mag Volkenroda auch mehr als doppelt so viel Konversen als Mönche gezählt haben,32 so ist es gemessen an den Arbeitsanforderungen in einer au26 Jean-Baptiste van Damme: Novum monasterium. Die Zisterzienserreform und die Regel des hl. Benedikt, in: Elm: Ergänzungsband (wie Anm. 4), S. 42. 27 Müller (wie Anm. 21), S. 15 f. 28 Raoul Manselli: Die Zisterzienser in Krise und Umbruch des Mönchtums im 12. Jahrhundert, in: Elm: Ergänzungsband (wie Anm. 4), S. 30 – 45; Adriaan H. Bredero: Das Verhältnis zwischen Zisterziensern und Cluniazensern im 12. Jahrhundert: Mythos und Wirklichkeit, S. 47 – 61. 29 [Drögereit] (wie Anm. 23); Ludolf Ulrich: Feierlicher Akt der Stiftung des Klosters 1243; in: Kloster Loccum Geschichten, hrsg. von Horst Hirschler/Ludolf Ulrich, Hannover 2012, S. 202: locum in Lucka, cum villa . 30 Schultzen (wie Anm. 19), S. 23; Ulrich (wie Anm. 29), S. 202 – 205. 31 Ulrich (wie Anm. 29), S. 204. 32 Nach Schultzen (wie Anm. 19) S. 27 waren es 1280 bei 50 Mönchen 104 Konversen

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tonomen Abtei eher unwahrscheinlich, dass die für das Bauprojekt erforderliche Zahl so lange abgestellt werden konnte.

Arbeit und Armut Die zur Kultivierung nötige Arbeit spielt in den Ordensdokumenten wie in der Sekundärliteratur eine große Rolle. Aber das Schuften überließ man mehr und mehr einer zweitrangigen Klasse von Brüdern, den schon erwähnten Konversen, und im Laufe der Zeit sogar zunehmend gedungenen Knechten. Die im populären Ordensschrifttum geschilderte und von der Erbauungsliteratur beschworene »Arbeit« ist – anders als dort dargestellt – keine Maloche, sondern entsprechend der Mehrfachbedeutung des lateinischen labor eher geistige Mühe oder asketische Anstrengung. Ebenso wenig bedeutet »Armut« tatsächliche Mittel- und Schutzlosigkeit, »… sondern Abwendung von der profanen Gesellschaft. … Es kann nicht darum gehen, auf die durch menschliche Arbeit entstandenen Instrumente und Mittel zu verzichten, sondern … wie sie zur Erreichung des letzten Ziels genutzt werden können.«33 Schon nach einem halben Jahrhundert hatte die Wirklichkeit das Ideal überholt. Die Zisterzienser verfügten über denselben Reichtum, den sie den Cluniazensern einst vorgeworfen hatten.34 Wenn Loccum bereits 1279 in Hannover über einen eigenen Hof verfügte, so spiegelt das den tiefgreifemden Strukturwandel nicht nur dieses Klosters. Mit dem Aufkommen der Städte waren diese zum entscheidenden Umschlagplatz für Waren geworden. Um Produkte abzusetzen, ließ sich die Präsenz der Landklöster dort nicht mehr umgehen. Der wirtschaftliche Vorteil begünstigte weltliches Gebaren mancher Mönche und Konversen, so dass sich sogar die Generalkapitel mit bisher unbekannten disziplinären Fragen befassen mussten.35 Dennoch sprechen die Urkunden von Loccum, soweit bisher veröffentlicht, ausgiebig von Schenkungen und deren sinnvoller Verwaltung. Sie führten zu ständig wachsender Wirtschaftskraft, die erst um 1330 nachzulassen begann.36 Immerhin erlangte die Abtei sogar den Status eines Freien Reichsklosters (1252). Ein solches Kloster war nicht zuletzt für begabte Persönlichkeiten attraktiv und öffnete ganz legitim den Weg für eine »höhere« Kirchenlaufbahn. So wurde Berthold, der vierte Abt von Loccum, 1196 zweiter Bischof von Livland. Damit reihte sich das Kloster allerdings in den »Heidenkrieg« gegen Wenden, Preußen 33 Jacques Le Goff (Hrsg.): Der Mensch des Mittelalters, Frankfurt 1989, S. 76. 34 Le Goff (wie Anm. 33), S. 84; Knowles (wie Anm. 1), S. 95. 35 Vgl. z. B. Hermann Josef Roth: Die Abtei Marienstatt und die Generalkapitel der Zisterzienser seit 1459, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 22, 1970, S. 93 – 127. 36 [Drögereit] wie Anm. 23.

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und Liven ein, der wesentlich von Zisterziensern getragen worden ist. Wenn man berücksichtigt, dass sich die Menschen damals unbeirrbar als im Dienst der Kirche stehend empfanden, wird man das Streben auch von Mönchen nach einer solchen Karriere in etwa nachvollziehen können, auch wenn man sie aus heutiger Sicht kritisieren mag. Doch auch zum – aus unserer Sicht – Guten trug die geistige und ökonomische Kraft von Loccum bei, indem es für die Stiftung des Grafen Adolf II. von Holstein (1186) in Reinfeld einen Konvent mit Abt Hartmannus zusammenstellte, um 1190 das erste Kloster (Purus campus; Reynevelde; Reinfeldense monasterium) der Zisterzienser nördlich der Elbe zu besetzen.37 Damit scheint der zisterziensische Eifer in eine historische Sackgasse zu münden, wenn man an die Unternehmungen der vier Primarabteien oder von Kamp und Altenberg denkt.

Arbeitsethos Das urkundliche Archivmaterial gestattet hier wie fast überall kaum Einblicke in Mentalität und Motivation der historischen Akteure. Die Akten sind durchweg notarieller Art und die legendäre Verklärung von Klostergründungen nach dem Schema »Urbarmachung der Wildnis bei eigenem Arbeitseinsatz – Leben in härtester Armut« verstellen den Blick auf die realen Vorgänge, wie sie zu allen Zeiten Gründung und Unterhalt eines Klosters begleitet haben. So mögen aus dem größeren Zusammenhang einige der Impulse herausgestellt werden, die nicht nur in Loccum das Arbeitsethos der Mönche bestimmt haben. Die Benediktsregel definiert die Mönche als »Soldaten unter einer Regel und einem Abt«38 ein Gedanke, der nicht nur Männer von der Art Bernhards beflügelte, sondern im Zisterziensertum die »Tendenz zu einer mystischen Überhöhung« des Rittertums – wie im Falle der Templer – führte. Das fand in der aus zisterziensischen Quellen gespeisten Gralslegende (13. Jh.) literarischen Niederschlag.39 Der klösterliche Gehorsam machte – analog dem militärischen – erst das Funktionieren dieses Systems möglich. Er setzt eine innerklösterliche Hierarchie voraus nach Vorgabe der Benediktsregel. An der herausragenden Stellung des Abtes als »Stellvertreters Christi« hatten die Zisterzienser nichts geändert. Ebenso übernahmen sie die übrigen regulären Ränge, beim Prior angefangen. Im Bruch mit der Regel aber hatten sie eine neue Klasse zweitrangiger Mönche 37 W. Clasen: 775 Jahre Reinfeld, Reinfeld 1962. 38 Regula Benedicti, Kap. 1, 2. 39 Le Goff (wie Anm. 39), S. 106.

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geschaffen, die schon in den Dienstleistern des cluniazensischen Mönchtums vorbereitet war. Um das liturgische Pensum und die Verpflichtung der Handarbeit ständig hochhalten und wenigstens formal erfüllen zu können, waren Hilfskräfte unverzichtbar. Um nicht nur auf Lohnabhängige angewiesen zu sein, bot man Arbeitswilligen die Aufnahme in die Klosterfamilie mit einem auf diese Aufgabe zugeschnittenen Status an. Vollmitglieder mit gelübdeartiger Verpflichtung hießen Konversen. Dazu kamen in gradueller Abhängigkeit klösterliche Familiaren (Oblaten, Donaten). Um die zweitklassige Kerngruppe aus Mönchen und Konversen sammelten sich bald schon weitere: Hospitalinsassen, Gäste (hospites), »weltliche« Familiaren, Lohnarbeiter (famuli, mercenarii), die erst alle zusammen die reich strukturierte und in viele Abhängigkeiten verstrickte Klostergemeinschaft (congregatio) bildeten. Wie diese Ordnung von einzelnen oder ganzen Gruppen immer wieder in Frage gestellt worden ist, melden die Quellenberichte über Ungehorsam, Disziplinlosigkeit und offene Rebellion allenthalben, die auch Loccum nicht erspart blieben40.

Habitus Ritter und Mönch hatten gemeinsam, dass sie sich von der Gesellschaft auch äußerlich abhoben. Alanus von Lille sah den Wert der Person (persona lat. = Maske) in der ausgeübten Rolle, die dem einzelnen von der hündischen Regie zugeteilt wird.41 Für adelige Söhne bildete das Mönchtum »die einzige Alternative zum Waffenhandwerk«42. Berufung blieb so mehr fremd- als eigenbestimmt. Ein Gespür für die Gefahr der Nivellierung mag die Zisterzienser veranlasst haben, mit dem benediktinischen Brauch zu brechen und keine Kinder mehr ins Kloster aufzunehmen. Sie verlangten von dem Anwärter mindestens ein Probejahr (Noviziat) unter verschärften Lebensbedingungen und in Separation vom übrigen Konvent. Selbst in der Kontroverse mit Cluny behält das Thema seine Bedeutung.43;44 Die Kleiderordnung verlieh diesem System sinnfälligen Ausdruck. Farbe, Qualität, Schnitt und Art der Ausstattungsstücke unterschieden Mönch und Konverse, Novizen und Professen. Den Abt zeichnete allein der Stab aus. Erst später durfte er dank päpstlichen Privilegs, das auf Antrag dem einzelnen 40 41 42 43

Vgl. z. B. Schultzen (wie Anm. 19), S. 34, 66 Nr. 36. Arno BORST: Lebensformen im Mittelalter, Berlin 1988, S. 252, 255. C. Miccoli: Die Mönche, in: Le Goff (wie Anm. 39), S. 78. J. Bühler : Klosterleben im Mittelalter nach zeitgenössischen Quellen, Frankfurt 1989, S. 250 f. 44 vgl. CistC 1, 2013 passim.

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Kloster verliehen wurde, auch Pontifikalien (Mitra, Ring, Pektorale) tragen. Die Loccumer Tradition stammt also aus einer späten Phase des alten Ordens. Anders als in der Spätantike Benedikts, wo man die Tracht der Landbevölkerung anlegte, war im 12. Jahrhundert die Mönchskleidung längst uniformmäßig genormt. Die Zisterzienser trieben das zur Perfektion, indem sie durch Verwendung ungefärbter Wolle auch eine Unterscheidung zu den Cluniazensern trafen und damit erst die Ordenstracht im engeren Sinne schufen. Abt Petrus Venerabilis von Cluny zieh sie darum 1128 des Hochmutes.45 Heute wird gern übersehen, dass die auffälige Schwarz-weiß-Tracht nur die Arbeitskleidung der Zisterzienser ist, während sie sonst auch außerhalb des Chores die Kukulle trugen, was in der Neuzeit noch einmal von den Trappisten praktiziert worden ist. Die Schelte des Petrus Venerabilis im Ohr möchte man fast sagen, dass der evangelische Pastorentalar dem mittelalterlichen Anspruch mehr gerecht wird als besagte Ordenskleidung. In den Nonnenklöstern der Zisterzienser herrschte weit weniger Einheitlichkeit.46 Die Vielfalt im Erscheinungsbild der evangelischen Frauenklöster kann sich mit gewissen Einschränkungen durchaus auf mittelalterliche Traditionen berufen. Trotz mancher Behauptungen hat es weder bei Zisterziensern noch Templern ein »Geheimwissen« gegeben. Sicher, die Kenntnis des innerklösterlichen Lebens erschloss sich dem Anwärter erst nach dem unwiderruflichen Gelübde (Profess), das ihm den festen Platz (stallum) im Chorgestühl und im Beratungssaal (Kapitel) zuwies – ihn installierte. Während der Anwartschaft (Noviziat) las er unter Anleitung die Normtexte und die legendär überhöhte Klostergeschichte, übte er den Vollzug der Liturgie. Nach Ablegung »ewig« bindender Gelübde (professio) öffnete sich nach Maßgabe der Betätigung die Möglichkeit, Dispens von drückenden Auflagen zu erbitten und auch zu erhalten. Die Normschriften beschreiben also keineswegs den Alltag, der manchen auf Reisen, zu Stadtaufenthalten und Einkäufen, für Seelsorgetätigkeit zwecks Familienbesuchen »in die Welt« schickte.

Eros Nirgendwo sonst gab sich der zisterziensische Männerbund so konsequent wie in der normativen Ausgrenzung der Frau aus dem Klosterbezirk (Klausur), dessen Pforte bereits tabu war. Selbst auswärtigen Klosterhöfen (Grangien) war die Beherbergung von Frauen untersagt, auch jede Art von Frauenhilfe wurde 45 Bredero (wie Anm. 28), S. 50. 46 vgl. CistC 120, 1, 2013 passim.

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strikt abgelehnt. Selbst die Teilnahme an der sonntäglichen Messfeier war Frauen nicht möglich. Erst später errichtete man bei der Pforte zu diesem Zweck eine Kapelle (capella ante portas).47 Es ist ein Glücksfall, dass dieses »Gelenk« zwischen Kloster und »Welt« – das Pfortenhaus (cella portarii)48 – in Loccum noch erhalten ist. Im deutschen Sprachraum können nur Lehnin und Zwettl in Niederösterreich damit dienen. Als ungewöhnlich altes und gut erhaltenes Beispiel einer Pfortenkappelle gilt die von Kirkstead in Lincolnshire (um 1220/40).49 Welche wichtige Rolle dieses Bauelement im Kosmos damaliger Klöster bildete, ahnt man bereits bei der Lektüre der Benediktsregel.50 Diese uns heute schwer verständlichen und spröde wirkenden Umstände überstrahlt auf ihre Weise die großartige Sichelmadonna (um 1460) in Loccum. Im Laienaltar (um 1500) nimmt sie wie selbstverständlich den zentralen Platz ein, ohne jedoch gegenüber den flankierenden Heiligengestalten überhöht zu sein. Noch schlichter erscheint sie in der unteren Reihe mit dem Jesusknaben auf dem Schoß der Mutter Anna (Selbdritt). Auf dem Birgittenaltar scharen sich ebenfalls die Figuren um Maria. Gerade auch Zisterzienser, und da nicht nur Bernhard von Clairvaux, haben die theologische und ikonographische Enthüllung des Bildes der heiligen Jungfrau im 12. Jahrhundert begeistert mit vollzogen. Hier entdeckten seine Zeitgenossen »die höfische und gleichzeitig die Liebe zu Maria, eine sublime Zweideutigkeit. … Denn Aufgabe … der Mönche vor allem war es, die körperliche Erotik zu läutern, die sinnlichen Triebe in die Gewalt zu bekommen und sie abzulenken auf die Liturgie.«51 Diese Verehrung der Mutter Jesu hat bis in die Zeiten der Reformation nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Die Marienfrömmigkeit besaß im Denken dieses Männerbundes einen so auffallenden Platz, dass Zisterzienser der Neuzeit in Ermangelung gewichtiger Unterscheidungskriterien ihren Orden zu einem »marianischen« stempeln wollten, ein dem Mittelalter allerdings fremder Gedanke.52 Wohl waren die Kirchen der Zisterzienser und ihr Hauptaltar der Gottesmutter geweiht. Blickt man über Loccum hinaus, so mag der Marienaltar (1518) aus dem Zisterzien-

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Gregor Müller : Die Kapelle bei der Klosterpforte, in: CistC 33, 1921, S. 81 – 84. Gregor Müller : Die Pforte und die Außengebäude, in: CistC 34, 1922, S. 33 – 35, 72 – 74. Abbildung bei Rüffer (wie Anm. 18), S. 162. Regula Benedicti, Kap. 66. Duby (wie Anm. 5), S. 61. Hermann Josef ROTH: Marienfrömmigkeit bei den Zisterziensern, in: Zisterzienser und Heisterbach, Spuren und Erinnerungen, Bonn 1980, S. 61 – 65.

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serkloster Lehnin – heute im Dom zu Brandenburg – ein spätes, aber künstlerisch besonders wertvolles Beispiel bieten.53 Die kraftzehrende Sublimierung wollte nicht immer gelingen. Cäsarius von Heisterbach († 1240) wusste seinen Novizen Erschreckliches von Anfechtung und Verführung bei gottgeweihten Personen zu berichten – als Warnung. Die Marienminne verirrte sich in Bilder, die man heute wohl zügellos nennen dürfte. Am bekanntesten wohl, da künstlerisch oft verarbeitet, ist die Szene, da Maria dem Mönch von Waldsassen oder auch Bernhard von Clairvaux ihre entblößte Brust reicht (lactatio mystica).54 Die geltenden Normen sollten helfen, die Irrwege der Phantasie zu sperren. Was an weibliche Schwachheit erinnerte, sollte dem Männerbund fern liegen. In der Kontroverse mit Cluny werden Glockengeläut, Kirchenschmuck und liturgischer Glanz als Ohren- und Augenschmaus abgetan. Der Zisterzienser fragt polemisch: »Was sind jene dünnen, entmannten Stimmen, die ihr fein nennt…?« und zitiert den heiligen Ambrosius: »Die Stimme sei voll männlichen Saftes, in nichts darf sie weibisch klingen«. Entsprechend ungehobelt mag zisterziensischer Gesang denn auch geklungen haben. Das Generalkapitel von 1199 verfügte sogar die Strafversetzung eines Mönches, der Gedichte verfasst hatte. Auch die herbe Baukunst der zisterziensischen Frühzeit mag als Ausdruck männlich geprägter »Armut« verstanden werden. Erst die neuzeitliche Romantik lehrte uns, diese nüchternen Zweckbauten als schön zu empfinden. In rührender Inkonsequenz mochten diese Männer aber (zunächst) nicht der neuen rationalen Theologie der Scholastik folgen. Gegen die Logik eines Abaelard setzten Bernhard und seine Schüler die Ablösung von bloßer Forschung (cogitatio) und über die Betrachtung (meditatio) den Aufstieg zu mystischer Schau (contemplatio). Der Zisterzienser Wilhelm von Saint-Thierry, der überraschenderweise aus Ciceros »Über die Freundschaft« und Ovids »Liebeskunst« schöpfte, wies in Parallele zur höfischen Liebe des Rittertums »seinen Schülern in der Mystik den Weg, der stufenweise vom Körper, dem Sitz des animalischen Lebens, sich zur Seele erhebt, dem Sitz der Vernunft, und schließlich zum Geist, der alles krönt, dem Sitz der ekstatischen Liebe«.55

53 Stephan Warnatsch/Volkmar Billeb: Zisterzienser-Abtei Lehnin, 2. Aufl., Königstein/ Ts. 2008, S. 39. 54 Bühler (wie Anm. 43), S. 268 – 272, 293. 55 Duby (wie Anm. 5), S. 59.

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Frauen Zisterzienserinnen sind kein eigener Orden, sondern bilden ihn erst mit allen ihren Klöstern, wenn sie denn inkorporiert sein wollen. Indem Loccum mit Mariensee56 eng verbunden gewesen ist, muss auch auf diese Seite zisterziensischen Lebens kurz eingegangen werden. Nun mag der Blick auf mittelalterliche wie bis ins 20. Jahrhundert hinein auch auf katholische Frauenklöster nicht immer sehr einladend gewesen sein. Ausgeklügelte Klausurvorschriften und bauliche Sicherheitsvorkehrungen – als Extrembeispiel die »Beichtschleuse« in Heiligengrabe (1289 – 1542) – vermitteln den Eindruck krankhafter Ängstlichkeit vor den Gesetzen der Natur. Doch dienten diese Maßnahmen in der mittelalterlichen Realität und angesichts der sozialen Struktur damaliger Frauenkonvente ganz einfach der äußeren Sicherheit. Erdrückend sind allen Mutmaßungen zum Trotz die Belege dafür, dass die Zisterzienserinnen in ihrer Mehrzahl ein durchaus erfülltes Leben führen konnten und geführt haben. Schon rein äußerlich bot der Eintritt ins Kloster Emanzipation von einer männlich dominierten Gesellschaft, eine Befreiung vom Gebärzwang und vor allem Perspektiven zu einem kulturell anspruchsvolleren Dasein. Das Kloster ermunterte Frauen zur Ausübung der Künste, erlaubte und ermöglichte Lektüre und ebnete dazu Begabten Zugang zum Management (z. B. als Cellerarin, Bursarin). Vor allem aber öffnete es den Zugang zu sonst männlich besetzten Vorrechten im kirchlichen und Frömmigkeitsleben. In manchen Frauenklöstern erreichte diese innerkirchliche Emanzipation, dass sie kirchen- und ordensrechtliche Sanktionen provozierte. Die Zisterzienserinnenabtei Las Huelgas Reales bei Burgos in Spanien, wo die Äbtissinnen gleichsam priesterliche Vollmachten beanspruchten und bischöfliche Rechte wahrnahmen, liefert ein einsames Beispiel einer kirchlichen Frauenrolle, die in der römisch-katholischen Kirche von heute kaum ansatzweise vorhanden ist. Der Alltag der Klosterfrauen hierzulande war durch die von ihnen erlebte und gelebte Frömmigkeit entscheidend geprägt. Vereinzelt, dafür sehr unmittelbar gibt uns die Überlieferung Einblick in jene vielleicht sehr fern erscheinende Innerlichkeit. Im Kloster zu Helfta erlebte Mechthild von Magdeburg († um 1285) das »fließende Licht der Gottheit«, verfasste Mechthild von Hackeborn († 1299) ein »Buch besonderer Gnade«. Ihre Mystik spiegelt auf hohem Niveau das Streben, als »Braut Christi« ein innerlich erfülltes Leben in der familia claus-

56 [Walter Rosien]: Mariensee, in: Handbuch historischer Stätten 2, 2. Aufl., Stuttgart 1960, S. 274; Manfred Hamann/Christa Graefe: Mariensee, in Ulrich Faust (Bearb.): Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen etc., (Germania benedictina 12), St. Ottilien 1994, S. 438 – 462.

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tralis als Alternative zur bürgerlichen Familie zu führen. Das emotionale Anliegen ist zeitlos, seine stilistische Gestaltung dagegen zeitbedingt. Zentrales Motiv ist – analog zur Marienminne der Mönche – die bräutliche Liebe zu Christus dem Herrn. Doch spielt umgekehrt die Mutter, deren »Herz ein Schwert durchdringt«, im Gebetsleben der Frauen eine ebenso bedeutende Rolle, wie die liebende Umarmung des Gekreuzigten. Die heute verbreitete Neigung, solche Frömmigkeitsformen auf die Sublimierung nicht gelebter Vateroder Mutterschaft zu verkürzen, wird der mittelalterlichen Mentalität und dem Reichtum ihrer Gebets- und Gedankenwelt nicht gerecht. Zisterziensisches Mönchtum ist nie bloß Männersache gewesen. Wenn der Orden sich zeitweise gegen die Neuaufnahme von Frauengemeinschaften gewehrt hat, so hatte das allein organisatorische und finanzielle Gründe. Ausgehend von dem ersten Frauenkloster Tart (gegr. um 1125, Cúte d’Or) in Frankreich bildeten sich weitere Gemeinschaften dieses Musters, die schließlich nach dem Organisationsschema der Männerabteien zu einer eigenen Kongregation verbunden wurden, was ein für das 12. Jahrhundert erstaunliches Maß an Emanzipation der Nonnen gegenüber dem Männerbund bedeutete.57 Die Eingliederung (Inkorporation) hatte in erster Linie die Sicherstellung des priesterlichen Dienstes zum Ziel. Sonst aber bot das Kloster unverheirateten Frauen nicht allein äußere Sicherheit, sondern einen Zugang zu einem Kulturund Geistesleben, von der Frauen »in der Welt« meist nur träumen konnten. Es versteht sich von selbst, dass ein so hoch angesetzter Lebensentwurf in der Regel nicht unbegrenzt durchgehalten wird. Die Kritik der Reformatoren an Werkgerechtigkeit und der Banalisierung vieler Klöster als Versorgungsanstalten traf Frauenklöster in besonderer Weise. Bekanntlich haben auch manche Zisterzienserinnen aus dieser Einsicht heraus den Schleier abgelegt, der vielerorts nicht mehr die Absichten der Stifterinnen und Stifter symbolisierte.58 Mariensee (1221) war zunächst der Jurisdiktion des Bischofs von Minden unterstellt und erscheint erst zehn Jahre später als Zisterzienserinnenkloster. Der Abt von Loccum hatte als pater immediatus den Priester zu stellen, die reguläre Visitation vorzunehmen und nach einer Äbstissinnenwahl die Benediktion zu vollziehen. Das sorgte schon mal für Spannungen, wie das überall möglich war und ist, hat aber offensichtlich das harmonische Miteinander nicht gestört.

57 Brigitte Degler-Spengler : Zisterzienserorden und Frauenklöster, in: Elm (wie Anm. 4), Ergänzungsband, S. 213 – 220. 58 Dazu CistC Heft 2, 2013 i. Vorb.

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Ende der alten Ordnung Zunächst kündigten äußere Erscheinungen einen inneren Wandel an. Mangels Konversen musste Loccum zunehmend Land verpachten. Die Schuldenlast gefährdete den Unterhalt so sehr, dass sogar ein Messkelch und eine Handschrift an Kloster Scharnebeck verpfändet werden mussten (1424) und nicht mehr eingelöst werden konnten. Als für die Abtswahl 1454 kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stand, griff der Vaterabt von Volkenroda ein und betrieb die Postulierung eines Mönchs aus Marienrode, der als Abt Heinrich II. noch einmal die Lage verbessern konnte. Mit Abt Arnold Holtvoigt (1458 – 1483) begann man auch Nichtadelige aufzunehmen. Als dann ein Bürgerlicher als Abt Ernst (1483 – 1492) zu seinem Nachfolger gewählt wurde, verließen die letzten adeligen Mönche das Kloster. Das war kein Einzelfall, denn allenthalben ging die Ära der Abteien des Adels zu Ende. Die »Verbürgerlichung« lockte neuen Nachwuchs, so dass bei der Visitation durch Abt Nicolaus von Volkenroda (1504) bei der Einführung von Abt Boldewin Clausing ein starker Konvent mit vierzig Mönchen gezählt wurde. Doch hatte der wirtschaftliche Abstieg der alten Abtei Loccum nicht nur regionale Ursachen, wie sie auch andere Klöster als Folge politischer Ereignisse (Schisma, Kriege) oder naturgegebener Katastrophen (Seuchen, Missernten) hinnehmen mussten. Der im Zuge der Renaissance einsetzende Mentalitätswechsel machte mehr oder weniger vielen Zisterziensern zu schaffen. C„teaux suchte dem entgegenzuwirken. Auf der Visitationsreise von Kardinal Nicolaus Cusanus († 1464) befasste er sich auch mit Loccum. Bei seinem Besuch in Riddagshausen am 7. Juli 1451 verlieh er Loccum und Marienrode ein Ablassprivileg.59 Und gerade dieser Vorgang erscheint rückblickend wie ein Rückzugsgefecht einer langsam überholten Theologie, der auch äußere Verschleißerscheinungen entsprachen. Zufallsfunde haben Hinweise geliefert, wonach sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts Zweifel regten, ob die ewige Seligkeit wirklich durch das tägliche Pensum des Opus Dei, durch Fasten und Kasteiung, allein durch Tun und ohne Rücksicht auf die innere Einstellung (opus operatum) zu erlangen sei. Das Gebet des Mönchs Engelbert Arnoldi in Loccum (1473) wird hier gern zitiert. Davor schon bekannte der Konvent von Walkenried ganz offiziell im Kapitel, durch Christus »allein und wahrhaftig im Glauben gerechtfertigt« zu sein, ja dass »nicht Mönchsgelübde, nicht Kukulle, weder Fasten noch irgendein menschliches Werk … den Menschen zu retten« vermag.60 59 Schneider (wie Anm. 18), S. 94. 60 Hermann Josef ROTH: Die Zisterzienser, in: Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500 – 1700, (KLK 65), Bd. 1, Münster 2005, S. 73 – 97.

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Die Generalkapitel, eine der wichtigsten constitutiva des Männerbundes, wurden weniger häufig einberufen und unregelmäßiger besucht, wobei Dispensen die Legalität herstellen mussten. Das Ideal der Uniformität in Lebensform, Brauchtum und Liturgie, die europaweite Geschlossenheit des zisterziensischen Systems bröckelte mit dem Erstarken der Nationalstaaten. Wachsende Beziehungslosigkeit zu C„teaux führte zur Bildung regionaler Klosterverbände, den Kongregationen. Als sich hierzulande die niederdeutsch-rheinische Ordensprovinz – dazu auch Kamp – konstituierte, stand Loccum längst im Reformationsgeschehen.

Konturen zisterziensischer Frömmigkeit Die wechselvolle Geschichte der Zisterzienserbewegung erweist sich im Detail bereits während des Mittelalters bald als recht heterogen. Das »typisch Zisterziensische« ist durchweg ein Konstrukt im Nachhinein. Dennoch ergibt sich ein Gerüst an durchgängigen Strukturen und Denkweisen, die – im Gegensatz etwa zum Barock – den Orden von anderen deutlich unterscheiden. Sie seien kurz herausgestellt,61 wobei Wiederholungen nicht immer vermeidbar sind. Gebet – Nach Bernhard bedeutet die zisterziensische Lebensordnung »Entsagung, Demut, freiwillige Armut, Gehorsam, Friede und Freude im Heiligen Geist; … sich einem Meister zu unterwerfen, einem Abt, einer Regel, einer Disziplin zu gehorchen; … Schweigen, Fasten und Wachen; … Übung des Gebets und der Hände Arbeit. Vor allem aber …, den vornehmsten Weg zu gehen, der da die Barmherzigkeit ist.« Eine derartige Lebensweise aber ist exklusiv nur möglich, wenn die materiellen Voraussetzungen vorhanden sind. Zur Selbstheiligung tritt deshalb als vornehmste Aufgabe eines Konventes, wie wir bereits sahen, das Stiftergedenken (memoria). Sie und nicht wie heute oft der Orden haben das Kloster gegründet und dotiert, das dann in der Regel auch Begräbnisstätte der Stifterfamilie ist. Die Stiftungsurkunde legt für gewöhnlich fest, welche Messen und Andachten wann und wo zu feiern und zu verrichten sind. Das Gebet ist liturgisch geordnet. Messfeier und Sakramente folgten den allgemein kirchlichen Gepflogenheiten, die damals noch nicht so reglementiert waren wie später. So befolgten beispielsweise die Zisterzienser wie auch andere Gemeinschaften und viele Bistümer einen vom römischen abweichenden 61 Wertvolle Anregungen zu diesem Abschnitt verdanke ich Alberich Altermatt OCist (Hauterive) sowie den Studien von Katrin CZERVITZKI: Spiritualität des Zisterzienserordens, in: Cistercienser. Brandenburgische Zs. rund um d. cisterciens. Erbe, 10 ( 2007), H.37, S. 19 – 35.

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Messritus. Im Übrigen wurde der Tageslauf durch die bei Benedikt festgelegten Stundengebete siebenmal am Tag und einmal während der Nacht bestimmt. Hinzu kamen Begleitgebete bei Kapitelsitzungen und Mahlzeiten, Segensformeln für alle denkbaren Anlässe in und außerhalb der Klausur. Privates Beten wird nicht kodifiziert, wohl aber Zeiten für die geistliche Lesung (lectio divina). Durch die von der Benediktsregel zu bestimmten Zeiten (cap. 42; 48) und an manchen Orten (cap. 27; 43) geforderte Schweigsamkeit wurde die äußere und innere Voraussetzung für inniges Gebet und konzentrierte Lectio geschaffen. Die Zisterzienser gingen hier allerdings über die Regel hinaus, indem sie cluniazensischem Vorbild folgend das Schweigegebot62 verschärften und dem Alltagszwang gehorchend die verbale Kommunikation durch eine Zeichensprache63kompensierten. Ihre Ausdrucksweise ist in »Sigla-Listen« dokumentiert. Die für Loccum ist erhalten.64 Angesichts 145 zum Teil komplizierter »Zeichen« ist verständlich, dass sich dieser Brauch – zumal nicht gerade regelkonform – nicht auf Dauer durchgesetzt hat. Die Kartäuser lehnten ihn sowieso ab. Die Reformierten Zisterzienser (»Trappisten«, seit 1664) haben die Sigla wieder eingeführt. Christus – Zisterziensisches Beten war (und ist) biblisch. Mindestens die Psalmen dürfte wohl jeder Mönch auswendig gekonnt haben. Die uralten Gebete und Lieder wurden selbstverständlich und ganz in benediktinischer Tradition auf Christus bezogen. Die mystische »Entdeckung« der Menschlichkeit Christi durch Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierry rückte Kindheit und Leiden Jesu in den Vordergrund. Das Tafelkreuz (um 1250) kündet bis heute in Loccum von der christozentrischen Ausrichtung des hochmittelalterlichen Mönchtums. Bernhard gab entscheidende Anstöße für die meditative Beschäftigung mit dem historischen Jesus, für die Verehrung des leidenden Heilandes und des Christuskindes, Andachten, die auch die gesamte Volksfrömmigkeit im Mittelalter geprägt haben. Auf dieser Linie liegt der Gedanke der Nachfolge (Imitatio Christi), die nach Bernhard durch Nachvollzug von Leben und Leiden des Herrn geschieht. Man will Christus »ähnlicher« werden, und findet damit auch eine Begründung für die monastische Askese. Spätmittelalterliche Bilder des Gekreuzigten, den Mönch und Nonne kniend umarmen, zeugen von der Verbreitung und Beliebtheit dieses Motivs. Maria – Verständlich, dass sich besonders Nonnen sowohl von der Verehrung des Jesuskindes als auch der Schmerzhaften Mutter (mater dolorosa) angezogen fühlten. Die um 1300 auftauchenden Vesperbilder (Piet—) mit Maria und dem 62 LMA (wie Anm.) 7, 1995, Sp. 1639. 63 Gregor Müller : Die Zeichensprache in den Klöstern, in: CistC 21, 1909, S. 243 – 246. 64 Schultzen (wie Anm. 19), S. 29 – 30, 248 – 252.

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Leichnam Jesu auf dem Schoß finden bei den Zisterziensern weite Verbreitung. Ihre paraliturgische Verehrung greift über die Klostermauern hinaus. In der Abtei Marienstatt wird sie so stark, dass sie eine ältere eucharistische Wallfahrt fast ganz verdrängt. Doch schon seit 1152 gedenken die Zisterzienser regelmäßig beim Stundengebet der »allerseligsten Jungfrau«, 1194 bürgert sich die tägliche Zelebration einer Messe zu Ehren Marias ein. Das Salve Regina beschließt seit 1213 den liturgischen Tageslauf nach dem Abendgebet (ad completorium). Indem diese Andachtsformen inhaltlich und rituell fest in den klösterlichen Tageslauf eingebettet sind, wird zugleich deutlich, dass sie alle zutiefst auf Christus den Herrn bezogen sind – mögen dies auch spätere Generationen gedankenlos vernachlässigt oder übersehen haben. Auf das weite Feld der außerliturgischen Literatur, der Legenden und Wundererzählungen einerseits, des mystischen Schrifttums andererseits kann hier nur verwiesen werden. Maria spielt darin eine Hauptrolle, etwa bei den Gründungsprozessen (Lehnin, Marienstatt) oder als Patronin der Zisterzienser (»Schutzmantelmadonna« bei Cäsarius von Heisterbach). Eucharistie – Indem die Gaben des Abendmahls als Leib und Blut Christi gedeutet werden, gewinnt die Messfeier einen ganz spezifischen Erlebniswert, der sich schließlich auch außerliturgisch äußert. In Marienstatt wurde schon vor Etablierung des Marienkultes die Eucharistie zum Ziel einer öffentlichen Wallfahrt. In den Nonnenklöstern Zehdenick und Heiligengrabe verehrte man sogar »wundertätige« Hostien. Die Zisterzienserinnen von Marienfließ rühmten sich, eine Reliquie des Blutes Christi zu besitzen. In allem spiegelt sich der Einfluss der kirchlichen Transsubstantiationslehre. Sie ist vom Vierten Laterankonzil (1215) gegen die Albigenser betont worden, an deren Bekämpfung auch Zisterzienser maßgeblich beteiligt waren. So fanden in ihren Klöstern nicht nur fromme Legenden Gehör, sondern ebenso Schauerberichte über »Hostienfrevel« von Juden. Liebe – Dem steht nur scheinbar entgegen, dass durchgängig von Gottes- und Nächstenliebe die Rede ist. Gerade Bernhards mehr emotionale als rationale Frömmigkeit hat sie eindrucksvoll formuliert. Seine wortreichen Darlegungen münden in der Feststellung, dass Liebe (caritas) in der Übereinstimmung zwischen göttlichem und menschlichem Willen bestehe. Das hatte seine wohltuende Folge, dass der Buchstabe der Normschriften nicht absolut galt, sondern nur im Geist der Liebe – ganz so wie Jesus das »Gesetz« gegenüber den Pharisäern interpretiert hat. War so sturem Rigorismus eine Absage erteilt, so konnten mit ähnlicher Berufung Hemmungen schwinden, wenn Andersdenkende angeblich Gottes Willen widersprachen. Ketzerbekämpfung und Heidenkrieg bieten ein

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beklemmendes Beispiel von spirituell »begründeten« Verirrungen der Zisterziensergeschichte.65 Der fatalen Kriegspredigt stehen die zarten Homilien über das Hohe Lied gegenüber, das nicht nur Bernhard beflügelt hat. Die Zisterzienser erklären den biblischen Liebessang nicht mehr nur traditionsgemäß als Verhältnis von Christus, dem Bräutigam, zur Kirche, seiner Braut. Nun steht die Braut symbolisch für die Seele des Menschen, sei es für die Kommunität als Leibesgemeinschaft, sei es für den Einzelnen, der sich auf die Gottesminne einlässt. Verständlich wiederum, dass Männer mit dem Hintergrund provenzalischer Minnesänger und kultivierte Klosterfrauen für eine derart kühne Theologie empfänglich waren. Gertrud von Helfta erlebte die mystische Vereinigung mit Gott und schreibt dazu: »Gott, dir allein ist es bekannt, wie infolge dieser honigströmenden Vision deine sonnenhellen Augen meinen Augen gerade entgegenzustehen schienen und wie du (…) nicht bloß meine Seele, sondern auch mein Herz samt allen Gliedern ergriffen hast. Dafür will ich dir, so lange ich lebe, ergebenen Dienst erweisen (…).«66 Künstler in Spanien wagten erstmals (13. Jh.) die uns heute wohl als gewagt erscheinende Darstellung mystischer Erfahrungen als lactatio mystica, wie oben beschrieben. Und doch muss vor einer vordergründigen Deutung gewarnt werden. Die mitunter in erotisch anmutenden Bildern geschilderte Liebe ist ein Gnadengeschenk des Heiligen Geistes. Gott liebt den Menschen seit dessen Erschaffung, also bevor dieser überhaupt imstande ist, Gottes Liebe zu erwidern. Und damit erscheinen Bernhard und die Zisterzienser als Wegbereiter einer Theologie, die Heilsgeschichte zunehmend individuell zu erklären versucht. Ziel des geistlichen Lebens ist die liebende Vereinigung mit Gott. Und auch hier wieder wollen die Bilder der Minne zu Christus hinführen. Wenn die Braut im Hohelied (1, 13) den Geliebten wie einen Myrrhenstrauß an ihrer Brust empfindet, beschwört das dichterische Bild Leiden und Todesangst des Herrn. Reliquien – Heutiges Empfinden setzt Reliquien und ihre Verehrung als (auch für viele Katholiken) eher befremdlich an den Schluss dieses kurzen Überblicks. Die Loccumer Brüder hätten damals eine solche Wertung nicht verstehen können. Das edle Reliquiar in Loccum vermittelt eine Ahnung von dem Stellenwert dieser Andachtsform im Mittelalter. Schon optisch wäre sie in der Loccumer Kirche sofort aufgefallen. So hätte man auf dem Hochalter jeden Kerzen- und 65 Hermann Josef ROTH: Zisterzienser, ein christlicher Ritterorden in einer europäischen Umbruchszeit? Herausforderungen durch Islam und Heidentum, in: Das Charisma des Ursprungs und die Religionen, hrsg. von Petrus Bsteh/Brigitte Proksch, Münster 2011, S. 126 – 145. 66 Zit. n. Äbtissin Assumpta SCHENKL (†).

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Blumenschmuck vermisst. Blumendekoration gab es überhaupt keine. Die Kerzen standen neben dem Altar auf großen Leuchtern oder wurden etwa bei der Elevation der konsekrierten Hostie nach dem alten Messritus der Zisterzienser herbeigetragen und hochgehalten. Dafür aber standen je nach Vorrat und passend zum liturgischen Kalender ausgesuchte kleinere Reliquiare am Rand der Mensa. Die Reliquiare wurden vom Sakristan mit derselben Ehrfurcht getragen wie die eucharistischen Gefäße, also mit Velum und in Begleitung von Akolythen. Es gehört zum Charakter der mittelalterlichen Frömmigkeit, dass sie auch zutiefst sinnlich gewesen ist. Das Heilige wollten und konnten die meisten wohl auch nicht rein geistig erfassen, sondern handfest erleben, hören oder riechen. Auf die subtile Theologie dieser Andacht kann hier nicht eingegangen werden. Wenn man aber bedenkt, dass der Mensch nun einmal ein Sinnenwesen ist, wird er daraus dem Mönch keinen Vorwurf machen dürfen.

Fazit Demnach zeigt mittelalterliche Klosterwelt trotz der gemeinsamen Grundüberzeugung doch überraschend viele Gesichter. Zurückhaltung sei jedem dringend geraten, der definieren möchte, was für Mönche oder Nonnen, erst recht für Zisterzienser, »typisch« sei. »Zisterziensische Spiritualität – ist sie nicht eher … ein Syndrom, dessen Komponenten bei Ordensmitgliedern häufig, aber nicht unbedingt Bedeutung haben? Vielleicht erscheint uns heute manches als typisch zisterziensisch, was eher epochentypisch war. Vielleicht könnte man auch aus mancher späteren Periode und für manchen anderen Orden zeigen, dass das, was man gerne als Ordensspiritualität oder sogar -mystik anspricht, nicht vorrangig von diesem Aspekt definiert wird.«67 Die Geschichte des Mönchtums, der Klöster und Orden mag mit einer Sinuskurve verglichen werden. Dem Aufschwung folgt Niedergang, der wiederum Reformeifer wecken kann und soll. »Innovationsbereitschaft aus dem Geist der Liebe (caritas) und aus Einsicht in die Notwendigkeit (necessitas) bewährte sich als Merkmal von Beständigkeit (stabilitas)« bis in die heutige Zeit.

67 Peter Dinzelbacher: Zum Konzept persönlicher Heiligkeit, in: Clemens KASPER/Klaus Schreiner : Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und bildhafte Ausprägungen im Mittelalter, St. Ottilien 1994, S. 101 – 133.

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Hedwig Röckelein

Heilige und Reliquien des Zisterzienserklosters Loccum im Mittelalter

Kirchenpatrone, Heiligenverehrung und Reliquienbesitz sind im Mittelalter zwar primär Ausdrucksformen religiöser Vorstellungen und Praktiken, sekundär geben sie aber auch Anhaltspunkte für soziale, religiöse und politische Netzwerke. Sie legen Zeugnis ab von Beziehungen unter Verwandten und von Beziehungen der Klostergemeinschaft zu ihren Stiftern und Wohltätern, zu weltlichen und geistlichen Institutionen im unmittelbaren und weiteren Umfeld. Das Kloster Loccum war in seiner Gründungszeit und Aufbauphase, im 12. und 13. Jahrhundert, in ein soziales, administratives und religiöses Netzwerk eingebunden. Formal fiel es in die Jurisdiktion des Bischofs von Minden, de facto beschränkte sich der Einfluss des Suffragans aber auf gelegentliche Besuche im Kloster und auf die Weihe von Altären, Kapellen und Teilen des Kirchenbaus nach seiner sukzessiven Fertigstellung. Das Privileg, das Papst Gregor VIII. der Zisterze Loccum 1187 gewährt hatte, verpflichtete den Abt zwar zum Gehorsam gegenüber dem Ortsbischof,1 gewährte der Gemeinschaft aber weitgehende Autonomie. Selbst die Schlussweihe der Klosterkirche, die nach etwa 30-jähriger Bauzeit am 21. April 1277 stattfinden konnte, vollzog nicht der Mindener, sondern der Hildesheimer Bischof Otto von Braunschweig. Neben der Gründerfamilie, den Grafen von Hallermund, unterhielt der Loccumer Konvent Beziehungen zu zahlreichen weiteren lokalen und regionalen Adeligen hohen und niederen Standes: zu den Grafen von Hoya, von Bruchhausen, von Ravensberg, von Schauenburg, von Wölpe, zu den Herren (milites) von Holte, von Mandelsloh, von Landesbergen, von Münchehagen, von Vlotho, von Bardeleve, von Stedern, von Bantelen, von Sullethe, vom See und anderen. Manch einer dieser Adeligen trug den Mönchen das Gebetsgedenken auf und ließ sich in Loccum begraben.2 Sie waren die eifrigsten Wohltäter, indem sie 1 Archiv des Stifts Loccum, hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg (= Calenberger Urkundenbuch III), Hannover 1858 (i.F.: UBL), Nr. 15. 2 Die Loccumer Memorienbücher sind nur in Abschriften des Abtes Theodor Stracke (1600 – 1629) erhalten. Vgl. die Transkription und das systematische Register bei Friedrich

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Güter und Hörige an das Kloster übergaben. Manche Familien schickten ihre Söhne in den Konvent, andere stellten Prioren und Äbte. Aus dem Kreis dieser Adelsfamilien stammen vielfach die Zeugen der Loccumer Urkunden. Dem dominierenden Einfluss einer einzigen Familie entzog sich das Kloster stets durch eine kluge Strategie der Streuung. Im 12. und 13. Jahrhundert errichteten die Zisterzienser in Loccum nicht nur beeindruckende Bauten, sondern sie trugen auch ein beachtlichen Schatz an Heiltümern zusammen. Die Bauten repräsentierten die materiellen Steine der Kirche, die Heiligen symbolisierten die spirituellen Steine der Ecclesia. Bauten und Heilige bildeten ein Gesamtkunstwerk; sie korrespondierten in spiritueller, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht. Die »große Kirche«, wie die Loccumer Klosterkirche in den Quellen genannt wird, finanzierten nur teilweise die Gründer und Wohltäter. Weitere, beträchtliche Mittel erwuchsen aus den Zehntübertragungen der Bischöfe von Minden und Hildesheim und aus den Gaben der Pilger. Päpstliche und bischöfliche Ablassbriefe warben mit einem Sündennachlass für die Besucher der Kirche am Weihefest und zu anderen Gelegenheiten.3 Bischof Otto von Minden (1267 – 1275) stellte 1267 denjenigen, die die Kirche am Fest des hl. Georg besuchten, Almosen spendeten oder sich am Bau der Kirche beteiligten, einen 40-tägigen Ablass in Aussicht.4 Die Gläubigen wurden von den Indulgenzen ebenso angelockt wie von der Aussicht auf Wunder, auf Heilung durch die Heiligen. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts dürften die Reliquien auf dem Hauptaltar in der Mönchskirche und die Tunica Christi die Hauptattraktionen dargestellt haben. Die frommen Pilger, gesunde wie kranke, opferten Geld oder Naturalien an den Altären und trugen auf diese Weise maßgeblich zur Finanzierung der ambitionierten Klosterbauten bei. Die Heiligen wurden von den externen Laien, von den Konversen und von den Schultzen: Geschichte des Klosters Loccum, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum: 1163 – 1913, hrsg. v. Kloster Loccum, Hannover 1913. 3 Die Liste der Loccumer Ablässe ist lang. Es sollen hier nur exemplarisch genannt werden: UBL Nr. 104, 1244 Juni 27: Bischof Johann von Minden gewährt all denen 10 Tage Ablass, die etwas für den – bereits begonnenen – Bau der Loccumer Kirche spenden. UBL Nr. 130, 1249 Dez. 5, Lyon: Papst Innozenz [IV.] gewährt all denen einen Ablass von 40 Tagen, die die neue Loccumer Klosterkirche an ihrem Weihetag besuchen. 1276 bittet der Elekt Volkwin von Minden die Erzbischöfe und Bischöfe um Gewährung von Ablässen für die Besucher der Loccumer Klosterkirche am Weihetag (UBL Nr. 354). Die Geistlichen erfüllen diese Bitte durch den Erlaß einer Reihe von Ablassbriefen. 4 UBL Nr. 288: Otto dei gratia Mindensis episcopus universis Christi fidelibus … monemus, rogamus et exortamur in domino, quatinus salutis vestre non inmemores festum religiosorum virorum dominorum de Lucka, quod in festo beati Georgii marthiris agitur, cum devotione debita ac reverentia singulis annis frequentetis. … qui singulis annis ad festum supradictum Luckam venerint et elemosinas suas ad portam largiti fuerint seu ad structuram laboraverint, quadraginta dierum indulgentiam misericorditer relaxamus.

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Mönchen gleichermaßen verehrt. Über den Kultus der Loccumer Mönche erzählt der Eberbacher Zisterzienser Caesarius von Heisterbach mehrfach in seinem Mirakelbuch.5 Er gibt an, sich auf die Berichte des Loccumer Mönchs, Priesters und Custos Adam zu stützen.6 Über den Heiligenkult in Loccum informieren vor allem die Kirchen- und Altarpatrozinien. Welche Heiligen sonst noch in Loccum verehrt wurden, ist schwer zu sagen. Denn es sind aus mittelalterlicher Zeit keine liturgischen Kalendare, Breviare und Offizienbücher erhalten.7 Von der privaten Devotion des Loccumer Mönches Bernhard Schwart(z)e (Nigri) legt dessen Gebetbuch (»Liber precum«) Zeugnis ab, das er an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert schrieb. Von dem einst umfangreichen Reliquienschatz der Zisterze im Mittelalter sind nur noch spärliche Reste erhalten. Einige verlorene Schätze und Kultpraktiken lassen sich überdies aus der frühneuzeitlichen Schriftüberlieferung rekonstruieren.8 Das Reliquienverzeichnis des Abtes Gerhard Wolter Molanus (*1633, +1722, Abt von Loccum seit 1677),9 die Chronik des Johannes Letzner 5 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum / Dialog über die Wunder, lat.-dt. Übers. und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. 5 Bde. (= Fontes Christiani 86/ 1 – 5), Turnhout 2009. Ereignisse aus Loccum berichten die Kapitel VII,17 – 19, VII,24, VII,52, VIII,18, VIII,74, X,40, XI,19. 6 Adam als mündliche Quelle nennt Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum (wie Anm. 5) in VII 17, 24 u. VIII, 18 u. 74. Zur Aufnahme mündlicher Erzählungen in die Mirakelsammlung vgl. Brian Patrick McGuire: Friends and Tales in the Cloister. Oral Sources in Caesarius of Heisterbach’s Dialogus Miraculorum, in: Analecta Cisterciensia 36 (1980) S. 167 – 247, zu Loccum und dem Kolporteur Adam ebd., S. 199 u. 228 f. Zum 1. Mai ist im Loccumer Memorienbuch ein Adam als »sacerdos et monachus« eingetragen (vgl. Schultzen (wie Anm. 2), S. 240). 7 Zwar besitzt die Bibliothek des Klosters Loccum heute mittelalterliche liturgische Handschriften – an erster Stelle wäre hier das Evangeliar aus dem 14. Jahrhundert zu nennen (vgl. dazu Matthias Bochow / Jörg Fiedler : Bücherschätze der Klosterbibliothek Loccum, in: »Ein lustig schön gemach«. Die Klosterbibliothek Loccum in Vergangenheit und Gegenwart. Handschriften, Reliquien und Predigthilfen, hrsg. v. Horst Hirschler u. a., Stolzenau 2008, S. 57 – 73, hier S. 57 – 62). Da sie aber erst in nachmittelalterlicher Zeit dem Kloster geschenkt wurden – das Evangeliar durch Abt Christoph Salfeld (1791 – 1830) – sind sie für den mittelalterlichen Kult in Loccum nicht aussagekräftig. Eine gewisse Chance, noch Relikte Loccumer Liturgica zu finden, bestünde bei einer systematischen Durchsicht der Einbände des Verwaltungsschriftgutes und der Rechnungsbücher im Klosterarchiv Loccum (i.F.: KAL). 8 Die folgenden Ausführungen beruhen auf der bisherigen Forschungsliteratur, weit mehr aber auf der Autopsie der Originale im Archiv und der Bibliothek von Loccum im März 2012. Für die großzügige und herzliche Gastfreundschaft sowie die fachliche Unterstützung danke ich besonders Herrn Studiendirektor Stäblein, Herrn Dipl. Bibliothekar Fiedler und der Hausdame, Frau Schulze. 9 Das Reliquienverzeichnis des Abtes Gerhard Wolter Molanus, KAL III Nr. 3, beinhaltet eine Liste der Reliquien aus dem Triumphkreuz in der Loccumer Klosterkirche (pp.1 – 2), eine Liste von Gegenständen, die 1677 auf dem Chor der Loccumer Kirche gefunden wurden und von Molanus nicht als Reliquien identifiziert wurden (p. 3), die Beschreibung der Öffnung der

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(1531 – 1613)10 und die beiden Fassungen der Chronik des Loccumer Abtes Theodor Stracke (1600 – 1629)11 bilden dafür die wichtigsten Quellen. Im Zentrum des Heiligenkultes standen in Loccum von Beginn an die Schutzpatrone des Klosters und der Kirche. In den Urkunden des 12. Jahrhunderts werden die Gottesmutter, der Ritter Georg und die hl. Petronilla als Patrone genannt.12 Im Verlauf des 13. Jahrhunderts kristallisierte sich Maria als Hauptpatronin heraus, eine Entwicklung, die sich auch in anderen Zisterzen beobachten lässt.13 Von der intensiven Marienverehrung in Loccum zeugen die Visionen der Mönche und Konversen, die der Heisterbacher Zisterzienser Caesarius niederschrieb. So habe der Custos Adam eines Nachts, als er vor der Matutin die Kirche betrat, die Kirchenpatronin Maria in großem Glanz auf dem Altar sitzen sehen.14 Adam hatte seit seiner Jugend eine enge Beziehung zu Maria, denn er war dank ihres medizinischen Rates von einem hartnäckigen

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Altardepots der Frauenkapelle an der Pforte in Loccum (1672), der Kirche (Grangie) in Wiedensahl (1673) (p. 3), der Stiftskirche und der Marktkirche St. Bartholomäus in Wunstorf (1677) (pp. 4 – 5), der Reliquien aus Celle, die Molanus 1676 revidierte (pp. 5 – 7), die Abschrift einer niederdeutschen Reliquienexpertise des Abtes Heinrich von St. Michael in Hildesheim (pp. 7 – 8), die Beschreibung des hl. Rockes in Loccum inklusive der Grabinschrift des Stifters Woldemar von Dänemark (pp. 8 – 9), eine Notiz über die Translation diverser, nicht näher bezeichneter Reliquien aus der Landesberger Kapelle in die cella fratri Ernesti (10r), eine Notiz über die Reliquie des hl. Rockes in der Mauer der Klosterkirche und die Abbildung desselben auf der Orgel (10v), einen Bericht des Molanus nach Hannover über den hl. Rock von 1702 (pp. 15 – 20), das Schreiben von C.AZL. aus Hannover vom 19. Okt. 1727 in derselben Angelegenheit (pp. 11 – 14). Die bei Schultzen (wie Anm. 2) S. 253 f. unter Verwendung der Transkription des Hospes Münchmeyer abgedruckte Reliquienliste, auf die sich auch Matthias Bochow (Reliquien im Kloster Loccum. Katholisches Erbe und evangelische Identität, in: »Ein lustig schön gemach«. [wie Anm. 7] S. 75 – 88) stützt, ist insofern irreführend, als sie die von Molanus gelisteten Reliquien ohne die Provenienzhinweise des Molanus verzeichnet. Schultzen et al. weisen daher Loccum irrtümlich Reliquien zu, die aus Celle, Wunstorf und anderen Orten stammten und für die Molanus auf Anfrage gegutachtet hat. Johannes Letzner : Hinterlassene geschriebene Nachricht von dem berühmten freien Reichs-Stiffte Luckem/Cistercienser Ordens = Anhang zu Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Michelsteinenses, Wolfenbüttel 1710 (Teil II) S. 55 – 131, zu den Loccumer Reliquien bes. S. 126. Zwei deutsche Chroniken von Abt Theodor Stracke, KAL II 2 Nr. 7. Simon Sosnitza, Helmstedt, bereitet eine Edition der Chroniken vor. UBL Nr. 7 (1181 – 1185), Bischof Anno von Minden für Loccum: beate Marie ac sancto Georgio sancteque Petronille et ecclesie in Luca. Fast wortgleich UBL Nr. 35 (1209), Bischof Heinrich von Minden. Gabriela Signori: Totius ordinis nostri patrona et advocata: Maria als Haus- und Ordensheilige der Zisterzienser, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte (10.–18. Jahrhundert), hrsg. v. Claudia Opitz, Hedwig Röckelein, Gabriela Signori u. Guy P. Marchal (= Clio Lucernensis 2), Zürich 1993, S. 253 – 277. Caesarius von Heisterbach, (wie Anm. 5), VII 17.

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eitrigen Ausschlag am Kopf geheilt worden.15 Ein anderer Loccumer Mönch sah in der Nacht Maria um den Chor der Psalmisten schreiten. Sie deckte die Gesichter der Mönche auf, um zu sehen, wer betete.16 Zwei von ihnen fand sie nachlässig im Gebet auf, von denen einer bald darauf den Orden verlassen habe; von dem Schicksal des anderen, wisse man nichts.17 Ein weiterer Mönch sei des Nachts zur Matutin in die Kirche gegangen.18 Als er vor dem Presbyterium stand, sah er einen Kreis von größter Helligkeit, der wie ein Regenbogen aussah, über dem Altar schweben. Darin erblickte er den Salvator mit der Gottesmutter umgeben von zahlreichen Heiligen. Maria habe den Mönch aufgefordert, die Inschrift auf ihrer Krone zu lesen. Erst nach dreimaliger Aufforderung sei dies dem Mönch gelungen. Maria habe ihm aber verboten, den Inhalt der Inschrift anderen preiszugeben. In seiner letzten Stunde sah der tapfere Ritter Allardus, der den Habit genommen hatte und anschließend schwer erkrankt war, in einer Vision den Salvator, die Gottesmutter und die Heiligen.19 Durch eine Marienerscheinung wurden in Loccum aber nicht nur Mönche ausgezeichnet, sondern auch Konversen. Der tugendhafte Pavo,20 ein Friese von Geburt, starb in jungen Jahren als Konverse in Loccum. Als sein Todeskampf einsetzte, begann er zu lächeln, weil ihm Maria, »unsere Herrin« (Domina nostra), erschienen war, um ihn zu sich zu holen. Der Loccumer Mönch Konrad von Mandelsloh21 stiftete einen Altar zu Ehren 15 Ebd., VII 24. Die Erzählung spielt nicht in Loccum, sondern im westfälischen Münster, wo Adam studiert hatte. 16 Ebd., VII 18. 17 Caesarius gebraucht hier den Ausdruck incurrit apostasiam (Caesarius von Heisterbach (wie Anm. 5) S. 1344. Das kann sowohl »vom Glauben abfallen« wie auch »aus dem Orden austreten« bedeuten. Hier dürfte Letzteres gemeint sein. 18 Ebd., VII 19. 19 Ebd., XI 19. Der Status des Allardus im Kloster ist nicht ganz klar. In der Überschrift zu diesem Kapitel bezeichnet Caesarius ihn als »monachus«. In der Erzählung spricht er davon, dass Allardus den Ordenshabit angelegt habe, ebd., S. 2096 – 2098: in Lucka monasterio nostrae religionis habitum suscepit). Gegen Ende der Erzählung wird er aber wieder als Laie angesprochen (ebd., S. 2098: de homine laico). Im Totenbuch nach der Abschrift Strackes gibt es keinen Eintrag für einen Mönch Allard. Allerdings findet sich dort am 7. August ein Eintrag zum Tod eines Konversen Alardus (Schultzen [wie Anm. 2], S. 241). 20 Caesarius von Heisterbach, (wie Anm. 5), VII 52. Im Memorienbuch nach der Abschrift Strackes gibt es keinen Eintrag für einen Loccumer Konversen namens Pavo oder Bavo. Es gibt zum 7. September einen Eintrag zu einem Konversen Bano (Schultzen (wie Anm. 2), S. 241). Möglicherweise hat Caesarius den Namen abgewandelt, um dem jungen Konversen das Epitheton »parvus« (klein, demütig, sanft) zu assoziieren ebd., VII 52, S. 1484: Puer erat virtute idem conversus, quia simplex et purus; parvus, quia humilis et mansuetus. Vgl. auch dort die Bemerkung von Nösges/Schneider S. 1484, Anm. 1332 mit Verweis auf Mt 18,2 – 5). 21 Conradus de Mandelsloh ist mit Sterbedatum 23. Februar in das Memorienbuch des Klosters eingetragen, Schultzen (wie Anm. 2), S. 240 und viermal im Totenregister Strackes ( ebd., S. 239).

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Christi und der Gottesmutter auf der Nordseite des Chores (partem illius septentrionalem choro proximam).22 An diesem Marienaltar, den der Mindener Bischof Johann (1242 – 1253) am 28. Oktober 1244 weihte, pflegten fortan die Mindener Bischöfe während ihrer Besuche in Loccum die Messe zu lesen. Um 1530 wurde der Altar um einen geschnitzten Aufsatz ergänzt, der sich heute in einer umfassenden Neugestaltung des 19. Jahrhunderts präsentiert, bei der u. a. die Marienfigur im Zentrum erneuert wurde.23 Um 1500 wurde die Strahlenkranz- bzw. Mondsichelmadonna angefertigt,24 die heute auf einer Säule rechts des hohen Chores steht. Sie galt im Mittelalter als wundertätig25 und enthielt ein Fach für Reliquien, die sich allerdings nicht erhalten haben. Der zweite Loccumer Klosterpatron, der Ritter Georg, war für eine adelige Zisterze, deren Mönche und Äbte sich in der Wendenmission engagierten,26 als Rollenmodell trefflich gewählt. Die Mönche begingen das Stundengebet am Festtag ihres Patrons feierlich mit 21 Lektionen.27 1267 gewährte Bischof Otto [I.] von Minden allen, die das Kloster am Fest des Märtyrers Georg besuchten, einen Ablass von 40 Tagen.28 1318 wurde in der Kapelle der Grangie Hamelspringe der nördliche der drei Altäre dem hl. Georg geweiht.29 Den Altarschrein des 22 Volker Grube: Der Reliquienschrein in der Klosterkirche zu Loccum. Untersuchungen zur Kunstgeschichte, zur Restaurationsgeschichte, zur Technologie und zum Erhaltungszustand. Unveröff. Diplomarbeit, FH-HG, Fachbereich Gestaltung, Studiengang Restaurierung, Hildesheim 2001, S. 105 geht irrtümlich davon aus, dass sich das Weihedatum dieses Marienaltares auf den Hauptaltar bezieht. Dies ist angesichts der Ortsangabe Strackes aber auszuschließen. 23 Peter Furmanek / Markus Tillwick: Reliquienschrein; Marienaltar ; Laienaltar ; Strahlenkranzmadonna; Kreuzigungsbild; Klencken-Epitaph. Unveröff. Dokumentation zu den Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen in der Klosterkirche St. Georg in Rehburg-Loccum, Hannover 2004. 24 Furmanek/Tillwick (wie Anm. 23). 25 Nicolaus Heutger: Loccum, eine Geschichte des Klosters, Hildesheim 1971, S. 57. 26 Der Loccumer Abt Berthold wurde 1196 zum Missionsbischof für Livland geweiht und erlitt am 24. Juli 1198 während seiner Teilnahme am Kreuzzug das Martyrium. Vgl. dazu Annales Stadenses, MGH SS XVI, S. 352; Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum, MGH SS XXI, S. 211 f.; Heinrici Chronicon Lyvoniae, MGH SS XXIII, S. 241 u. 243. In der livländischen Kirche wurde Berthold später nicht als Märtyrer verehrt, aber in Loccum. Zu weiteren Loccumer Mönchen, die im 13. Jahrhundert im Baltikum missionierten, vgl. Heutger (wie Anm. 25), S. 11 f. 27 Erlaubnis des Generalkapitels der Zisterzienser von 1255, hier zitiert nach Heutger (wie Anm. 25), S. 19. 28 UBL Nr. 288: 1267 Dez. 24. 29 UBL Nr. 723, nach 1318 Dez. 10: Altare … ad aquilonem consecratum est in honore beati Georgii martiris … Im Altar war allerdings keine Georgsreliquie deponiert, sondern ein Stück vom Kreuz Christi, Partikeln von Märtyrern der Thebäischen Legion und des hl. Stephanus. Der Mindener Bischof gewährte der Kapelle in Hamelspringe für das Georgsfest und für eine Reihe hoher Festtage eine Indulgenz (UBL Nr. 723). Die Kapelle selbst stand

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Kreuzaltares in der Loccumer Laienkirche schmückte seit ca. 1500 eine bemalte Figur des Drachentöters. Berthold Schwartze schrieb in seinen »Liber precum« mehrere Gebete zum hl. Georg auf.30

Abb. 1: Petronilla-Reliquie, Authentik des 11. Jahrhunderts. Loccum, Klosterarchiv, Schachtel 6 Nr. 3. Foto: Röckelein

Die hl. Petronilla, die in den frühen Urkunden als dritte Patronin neben Maria und Georg genannt wird,31 ist heute in Loccum in Vergessenheit geraten. Dabei hat sich von ihr eine mittelalterliche Reliquienpartikel erhalten (Abb. 1).32 Diese Reliquie ist spektakulär, denn sie wurde bereits im 11. Jahrhundert verpackt und beschriftet, also lange bevor das Kloster Loccum gegründet wurde. Die Loccumer Petronilla dürfte mit der römischen Märtyrerin und angeblichen Tochter des hl. Petrus zu identifizieren sein, deren Fest am 31. Mai begangen wurde.33 Vermutlich wurde die Reliquie dem Kloster schon als Gründungsgabe überreicht. Die römische Märtyrerin wurde in der Karolingerzeit besonders von

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unter dem Patronat der Gottesmutter und der 11.000 Jungfrauen (UBL Nr. 668, 1317), das Kloster unter dem Schutz des hl. Vitus! Loccum, Klosterbibliothek, Hs. XX, 126r + 130r. UBL Nr. 7 (1181 – 1185); UBL Nr. 35 (1209). KAL Schachtel 6, Nr. 3: Pergament, gefaltet; von Hand Strackes: De Corpore / S. Petronellæ. Darin: stark beschädigter grüner Seidenstoff, anhaftend mit rotem Faden eine PergamentCedula beschrieben von einer Hand des 11. Jahrhunderts: D[e] co(r)pore s[anct]e petrenille. Eine gleichnamige Heilige gibt es in der Schar der 11.000 Jungfrauen. Der Kult dieser Jungfrauenschar setzte aber erst nach 1106 ein, ist also jünger als die Loccumer Reliquie.

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Pippin d.J. verehrt. Sie gehört zu den frühen Missionsheiligen Westfalens und ist bereits im 9. Jahrhundert als Schutzpatronin der Pfarrkirche zu Wettringen34 und als Patronin des Frauenstifts Herzebrock35 belegt. Die älteste bisher bekannte Reliquie der hl. Petronilla in Ostsachsen gehört dem Frauenstift Gandersheim und wurde wie die Loccumer Reliquie im 11. Jahrhundert mit einer Cedula versehen.36 Die Wege der Verbreitung der Petronilla-Reliquien und die Personengruppen, die sie besonders verehrten, gilt es noch auszumachen. Erst wenn das geklärt ist, lässt sich vielleicht die Frage beantworten, wer die Petronilla-Reliquie an die Loccumer Zisterzienser geschenkt hat.

Abb. 2: Loccum, Mönchskirche. Holzschrein vom Hauptaltar, Mitte 13. Jahrhundert. Foto: Furmanek

34 Edeltraud Balzer : Frühe Mission, adelige Stifter und die Anfänge des Bischofssitzes in Münster, in: WestfZs 160 (2010), S. 9 – 50, hier S. 30. 35 Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung, hrsg. v. Karl Hengst. Tl. 1: Ahlen-Mühlheim, Münster 1992 (= VHKW 44: Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte 2,1), S. 441 – 443. Das Stift besaß eine Armreliquie der Heiligen; seit dem 13. Jahrhundert war sie Mitpatronin der Klosterkirche. 36 Christian Popp: Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim, Regensburg 2010 (= Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern 3), S. 154, 103 – 105.

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Der umfangreichste Heiltumsschatz der Loccumer Zisterzienser befand sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in einem großen, bemalten Holzschrein auf dem Hauptaltar der Mönchskirche.37 Dieser kirchenförmige Schrein (Abb. 2), den nur die Mönche während des Stundengebets und der Messe sehen konnten, nahm die ganze Breite der Mensa des Hauptaltares ein. Er war offenbar speziell auf deren Maße angepasst worden. Die Längsseite mit den Seitenkapellengiebeln, zugleich die Schauseite zum Publikum, besteht aus durchbrochenen Arkaturen, die die Sicht auf das Innere des Schreines freigeben. Im Mittelalter dürften diese Arkaden – und damit die Durchsicht – normalerweise mittels dahinter liegender Längsbretter verschlossen gewesen sein. Die Barrieren waren technisch so verankert, dass man sie beiseite schieben konnte.38 Dies dürfte während der hohen Festtage und zu besonderen Gelegenheiten geschehen sein, so dass die Mönche die Reliquien bzw. die Reliquiare von den Stufen des Altars aus sehen konnten.39 Wie aus einer Erzählung des Caesarius von Heisterbach, die auf den Loccumer Custos Adam zurückgeht,40 zu schließen ist, war es Gästen erlaubt, die Mönchskirche zu betreten und bis an die Altarschranken heranzutreten, und Kranken, sich auf der Bahre bis vor den Altar bringen zu lassen, um von den Heiligen im Schrein Heilung zu erbitten. Hase nahm an, dass auch die horizontale Fläche auf dem oberen Rand des Pultdaches für das Zeigen der Reliquien benutzt wurde.41 Allerdings ist zu bedenken, dass der Dachfirst mehrfach verändert wurde, sodass diese Position für die Reliquienschau entweder eine Zutat des späten Mittelalters (um 1300?, um 1350?) oder gar erst des 19. Jahrhunderts ist.42 Der Loccumer Schrein war im Inneren mit Brettern in drei Kammern unterteilt.43 Hase nahm an, dass im Mittelteil, der durch das Architekturportal der 37 Die aktuellste und umfassendste Beschreibung und Analyse dieses Monumentes bringt Grube (wie Anm. 22). 38 C.W. Hase: Der hölzerne Reliquienschrein des Klosters Loccum, in: Zeitschrift für christliche Kunst 7 (1894) Sp. 321 – 334, hier Sp. 324 f.: »Diese Bretterwände sind ornamentirt gleichsam wie ein aus kleinen über Eck gestellten Quadraten zusammengesetztes und mit Vierpässen bemaltes, in Bleiverglasung hergestelltes Fenster.« Detaillierte Beschreibung des Öffnungsmechanismus ebd., S. 328. Grube (wie Anm. 22), S. 58, 61, 103 bestätigt die Angaben Hases zu den Verschlussvorrichtungen. Hase (wie Anm. 38), Sp. 325, vermutet, dass die beweglichen Hinterbretter erst bei der Restaurierung 1850 entfernt worden sind. 39 So bereits die Vermutung von Hase (wie Anm. 38), Sp. 328. 40 Caesarius von Heisterbach, (wie Anm. 5), S. 1342: venisset… ad cancellos, ubi hospitibus stare moris est. … super feretrum … iacere vidit. »Feretrum« ist die Krankenbahre; auf Bahren wurden aber auch die Gebeine von Heiligen transferiert. 41 Hase (wie Anm. 38), Sp. 324. 42 Hase (wie Anm. 38), Sp. 328 datiert die Zierbretter auf dem Dachfirst um 1350. Grube (wie Anm. 22) S. 97, datiert die aktuelle Ausführung in das 19. Jahrhundert, konzediert aber, dass diese eine ältere aus der Zeit um 1300 ersetzte. 43 Hase (wie Anm. 38), Sp. 328 f.; Grube (wie Anm. 22), S. 57 bestätigt die Binnenaufteilung in drei Kammern.

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Schauseite zugänglich war, die wertvollsten Reliquien aufbewahrt wurden – das müssten wohl die Reliquien der Patrone des Klosters gewesen sein. Unter den in Loccum erhaltenen Reliquien sind keine, die dem Schrein auf dem Hochaltar zugeordnet werden könnten. Auch fehlt jede schriftliche Nachricht, über den Gebrauch des Schreins in der Liturgie, in Prozessionen oder an hohen Festtagen. Da es in den drei inneren Kammern keine Hinweise auf Zwischenböden gibt, vermutet Grube, dass die Loccumer Mönche im Schrein gar nicht die umfangreiche Sammlung an Reliquien aufbewahrten, sondern den hl. Rock.44 Dies halte ich aber für ausgeschlossen, da Stracke und Molanus mit der Mauer der Klosterkirche einen anderen Aufbewahrungsort des hl. Rockes benennen.45 Grube verglich den Loccumer Schrein mit zeitgleichen Holzkästen und stellte weitgehende bautechnologische Übereinstimmungen mit der Predella des Hochaltars im Mindener Dom fest.46 Der Loccumer kirchenförmige Reliquienschrein imitiert freilich nicht die reale Architektur der Klosterkirche. Es repräsentiert vielmehr ein abstraktes Kirchengebäude, das Symbol der Ecclesia und des Himmlischen Jerusalem. Der Schrein verweist auf die Heiligen als lebendige Steine der Kirche. Dank der Arkaturen und der einst vorhandenen verschiebbaren Hinterbretter, konnte auf dem Hauptaltar der Loccumer Klosterkirche der Wechsel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit vorgeführt werden. Der Schrein ermöglichte die Performanz des Übergangs von der Immanenz in die Transzendenz, vom Diesseits zum Jenseits; in derselben liminalen Zone sind die Heiligen und die Reliquien auf dem Altar angesiedelt: als Mittler zwischen den Menschen und Gott. Dass die Loccumer Mönche diese Botschaft verstanden, belegt eine der Erzählungen des Mönches Adam, die von Caesarius von Heisterbach überliefert wird.47 Einer der Loccumer Mönche nahm im Morgengrauen vor dem Presbyterium in der Kirche einen Kreis von größter Helligkeit wahr, der das Aussehen eines Regenbogens hatte, und der über dem Altar schwebte. Auf dem Kreis erblickte er den Salvator mit der Gottesmutter umgeben von zahlreichen Heiligen, besonders denjenigen, deren Reliquien in der Kirche aufbewahrt wurden. Er kannte sie beim Namen, weil er der Custos der Kirche war. Diese Vision dürfte sich also vor dem Reliquienschrein auf dem Hauptaltar ereignet haben. Die anderen Altäre in der Klosterkirche und in den Kapellen innerhalb der klösterlichen Immunität waren eigenen Heiligen geweiht; so war etwa der Altar in der linken Chorkapelle, vor dem Woldemar von Dänemark begraben wurde,48 Johannes dem Täufer geweiht. Alle diese Altäre, auch die in der Benediktskapelle 44 45 46 47 48

Grube (wie Anm. 22), S. 103 – 105. Vgl. dazu Näheres unten. Grube (wie Anm. 22), S. 62 ff. Caesarius von Heisterbach, (wie Anm. 5), VII 19. Vgl. dazu unten.

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im Ostflügel der Klausur, in der Kapelle des Siechenhauses und in der Friedhofskapelle waren während des Weiheaktes mit Reliquien bestückt worden,49 die meist nicht vom Altarpatron herrührten.50 Allerdings sind keine dieser Reliquienpartikeln erhalten. Im Falle der Frauenkapelle an der Pforte wissen wir immerhin dank der Beschreibung des Abtes Molanus, wo sie geblieben sind: Anno 1672 Jst Capelle ante portam Luccensen eingefallen, wie man nun den Altar aufmachen lassen, haben sich dise reliquien incerti alicuius sancti In einem grün glas funden, … [F : AM RAND: Jn einem glase cum argen. inscriptione / Reliquiæ incerti Sancti inventæ in Altari Loccumensi].51 Molanus transferierte die Reliquien Jn die große Lockysche kirche und setzte sie dort bei. Das liturgische Zentrum der Laienkirche, in der sich die Konversen zum Gebet und zur Messe versammelten, war der Kreuzaltar am Lettner. Zwar sind die Reliquien, die einst in der Predella des Altars aufgestellt waren, verloren gegangen. Aber das Retabel, das um 1500 auf dem Altar aufgestellt wurde, ist erhalten und hat heute seinen Platz im Hohen Chor (Abb. 3). In den Nischen der beiden Register des Altarschreins stehen je fünf geschnitzte und bemalte Figuren von Heiligen.52 Aufgrund ihres Aussehens und ihrer Attribute lassen sie sich mit der Gottesmutter Maria, Anna Selbdritt, der hl. Ursula, der hl. Lucia, dem Erzengel Michael, dem Apostel Andreas, dem Evangelisten Johannes, dem Kirchenvater Erasmus, dem Ordensgründer Bernhard von Clairvaux und dem Klosterpatron Georg identifizieren. Da diese Heiligen in Loccum auch anderweitig bezeugt sind,53 scheinen sie hier im Spätmittelalter besonders verehrt worden zu sein. Die wenigen Reliquien, die sich in Loccum erhalten haben, werden heute in Spanschachteln im Klosterarchiv aufbewahrt (Abb. 4).54 Es handelt sich dabei 49 Zu den Konsekrations- und Einschließungsritualen anlässlich der Altarweihe vgl. Hedwig Röckelein: 1 alter hölzerner Kasten voller Reliquien als alten schmutzigen Zeugflicken jeder Farbe und alte Knochen: Über unansehnliche und verborgene Reliquienschätze des Mittelalters, in: Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Fs. f. Wolfgang Petke zum 65. Geb., hrsg. v. Sabine Arend u. a., 2. Aufl. Bielefeld 2006 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 48), S. 383 – 402, bes. S. 391 – 393. Da die Klosterkirche während meines Aufenthaltes in Loccum im März 2012 wegen der Restaurierung nicht zugänglich war, konnte ich die Mensen und Stipides der Altäre nicht in Augenschein nehmen. Es wäre noch zu überprüfen, ob und welche Spuren der Aufbewahrung von Reliquien, etwa Altarsepulcren und Nischen, sich an den Altären finden. 50 Im Georgsaltar der Grangie Hamelspringe befanden sich beispielsweise keine Georgsreliquien. Vgl. dazu oben Anm. 29. 51 KAL III Nr. 3, p. 3. 52 Furmanek/Tillwick (wie Anm. 23). 53 Weitere Kultbelege sind die unten besprochenen Reliquienzettel, die Gebete im »Liber precum« des Bernhard Schwartze (Loccum, Klosterbibliothek XX) und das Reliquienverzeichnis des Molanus (wie Anm. 9). 54 Die Spanschachteln sind von 1 bis 8 durchnummeriert. Eine weitere, unnummerierte und auf dem Deckel mit »Rel. / beschriftete / Papierreste mit / Rel.-Krümeln« gekennzeichnete

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Abb. 3: Loccum, Laienkirche. Retabel des Kreuzaltars am Lettner, um 1500. Foto: Furmanek

um nur wenige Zentimeter große, mit farbigen Schnüren und Pergamentzettelchen versehene Päckchen. Einige von ihnen sind noch »originalverpackt« in den mittelalterlichen Stoffhüllen, andere wurden später geöffnet und in der frühen Neuzeit neu beschriftet. Anhand der anhängenden Pergamentzettelchen, sog. Authentiken, lassen sich die inliegenden Partikeln und die Heiligen, von deren Gebeinen sie abgenommen zu sein vorgeben, identifizieren. Die Schrift auf den Authentiken liefert Hinweise auf den Zeitraum des Verpackungsvorgangs. Nach paläographischem Befund ist demnach das Päckchen mit der Reliquie der Klosterpatronin Petronilla55 das älteste in der Loccumer Reliquiensammlung. Die Partikel der Petronilla ist in einen grünen, stark beschädigten Stoff eingewickelt (Abb. 5). An dem Stoff ist mit einem roten Faden ein Pergamentzettel befestigt, auf den in brauner Tinte eine Hand des 11. Jahrhunderts D[e] co(r)pore s[anct]e petrenille geschrieben hat. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde dieses Reliquienbündelchen in ein pergamentenes Briefchen gelegt, das der Loccumer Abt Theodor Stracke mit De Corpore / S. Petronellæ beschriftete. Schachtel wird hier als Nr. 9 gezählt. Die Reliquienpäckchen und die frühneuzeitlichen Brieflein werden im folgenden nach den Spanschachteln bezeichnet. 55 KAL Schachtel 6, Nr. 3. Zur Identität und zum Patronat der Petronilla vgl. oben.

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Abb. 4: Klosterarchiv Loccum, Spanschachtel Nr. 2 mit Reliquien. Foto: Röckelein

Abb. 5: Reliquie der hl. Petronilla mit Authentik des 11. Jahrhunderts in Pergamentbrieflein, beschriftet von Abt Theodor Stracke (1600 – 1629). Klosterarchiv Loccum, Schachtel 6 Nr. 3. Foto: Röckelein

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Deutlich später, nämlich erst im 13. Jahrhundert, wurde das Reliquienpäckchen der Jungfrau Quirina angelegt.56 Die Authentik mit der Titulatur Quirinae v[irginis] ist mit einem weißen Faden an einem Päckchen festgebunden, das die Partikeln der Heiligen in einer hellgelben, feinen Seide verhüllt (Abb. 6). Dieses mittelalterliche Konvolut wird ergänzt durch ein weiteres, geöffnetes Päckchen aus einem kräftigen gelben Seidenstoff, der einen weißen Stoff und eine Knochenpartikel umschließt (Abb. 7).57 Eine im 17. Jahrhundert von Hand 3 mit Qvirinæ vir/ginis beschriftete Pergamenthülle hält diese Bestandteile zusammen (Abb. 8).

Abb. 6: Reliquie der hl. Quirina, Authentik des 13. Jahrhunderts. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 1 Nr. 1. Foto: Röckelein

In den gleichen hellgelben Stoff wie die Quirina-Reliquie ist eine winzige Reliquie der 11.000 Jungfrauen eingepackt, die in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts durch einen weißen Faden mit einer Authentik verschnürt wurde (Abb. 9).58 Dieses Päckchen wurde im 17. Jahrhundert in ein Pergamentbrieflein eingelegt, das den Inhalt unzutreffenderweise als Partikel der hl. Agnes ausweist.59 Wahrscheinlich war das Brieflein aus dem 17. Jahrhundert mit der Aufschrift Agnetis virginis ursprünglich die äußere Hülle der Agnes-Reliquie aus 56 57 58 59

KAL Schachtel 1, Nr. 1. KAL Schachtel 8, Nr. 4. KAL Schachtel 6, Nr. 2: XI mil. von einer Hand der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. KAL Schachtel 6, Nr. 2, Hand 3 des 17. Jahrhunderts: Agnetis / virginis.

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Abb. 7: Knochenpartikel der hl. Quirina in mittelalterlichem Seidenstoff. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 8 Nr. 4. Foto: Röckelein

Abb. 8: Authentik des 17. Jahrhunderts zur Reliquie der hl. Quirina. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 8 Nr. 4. Foto: Röckelein

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Schachtel 9 Nr. 5. In deren Innerstem befindet sich nämlich ebenfalls ein Stückchen des hellgelben Stoffes mit einer weißen Schnur. Das Päckchen ist geöffnet und enthält eine Knochenpartikel. Der identische hellgelbe Seidenstoff gehört folglich zur Agnes-Reliquie (Schachtel 9 Nr. 5), zur Quirina-Reliquie (Schachtel 1 Nr. 1) und zur Reliquie der 11.000 Jungfrauen (Schachtel 6 Nr. 2). Die Agnes-Reliquie ist ihrerseits in einem spätmittelalterlichen polychromen Stoff eingewickelt und mit einer im 14. Jahrhundert beschrifteten Pergamentcedula versehen (Abb. 10).60

Abb. 9: Reliquienpäckchen der 11.000 Jungfrauen mit Authentik des 12. Jahrhunderts in Pergamentbrieflein der Jungfrau Agnes aus dem 17. Jahrhundert. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 6 Nr. 2. Foto: Röckelein

Es spricht demnach einiges dafür, dass die Knochenpartikeln der Quirina, der Agnes und aus der Schar der 11.000 Jungfrauen über denselben Spender nach Loccum kamen und später neu verpackt wurden. Dabei sind offenbar die Inhalte verwechselt und vertauscht worden. Die Reliquien dieser heiligen Jungfrauen könnten noch im 12. Jahrhundert nach Loccum gekommen sein, wenn man die Schrift auf der Reliquie der 11.000 Jungfrauen als terminus post ansetzt. Nachdem in Köln 1106 mit dem Bau einer neuen Stadtmauer begonnen worden war, legte man dort spätantike, extraurbane Friedhöfe frei und schrieb die aufgefundenen Gebeine den Märtyrern der Schar der hl. Ursula und der Thebäischen Legion zu. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts diffundierten 60 KAL Schachtel 9, Nr. 5: Cedula des 14. Jahrhunderts: Agnetis virgi[ni]s.

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Abb. 10: Reliquie der Jungfrau Agnes, eingewickelt in einen mittelalterlichen gelben Seidenstoff und einen spätmittelalterlichen mehrfarbigen Stoff, versehen mit einer Cedula aus dem 14. Jahrhundert. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 9 Nr. 5. Foto: Röckelein

diese nach Westfalen und über Hildesheim nach Ostsachsen.61 Im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert erfanden die Mönche von Deutz, der Prämonstratenser Hermann Josef von Steinfeld und die Visionärin Elisabeth von Schönau eine Vielzahl von Namen für die Jungfrauen aus der Schar der hl. Ursula.62 Es liegt nahe, unter diesen auch die hl. Quirina zu suchen. Allerdings ist der Name dieser Heiligen in den einschlägigen Listen der Ursula-Schar nicht zu finden.63 Neben der genannten frühen Partikel der 11.000 Jungfrauen aus Schachtel 6 Nr. 2 sind in Loccum weitere mittelalterliche Päckchen mit Partikeln aus der Jungfrauenschar erhalten. Schachtel 1 Nr. 2 enthält ein originalverpacktes und mit Cedula versehenes bräunliches Stoffbündelchen, dessen Inschrift kaum mehr zu lesen ist, aber auf die hl. Ursula hinweist,64 die seit dem 12. Jahrhundert als die Anführerin der Jungfrauenschar galt. Dieses Bündelchen wurde im 17. Jahrhundert in ein Blatt aus einem spätmittelalterlichen Chorbuch einge61 Vgl. dazu Hedwig Röckelein: Bernward von Hildesheim als Reliquiensammler, in: 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche – Kloster – Stifter, hrsg. v. Gerhard Lutz u. Angela Weyer, Petersberg 2012 (= Schriften des Hornemann Instituts 14), S. 107 – 127. 62 Vgl. dazu Johann Hubert Kessel: St. Ursula und ihre Gesellschaft. Eine kritisch-historische Monographie, Köln 1863, S. 245 ff. Hermann Crombach, Vita et martyrium S. Ursulae, Köln 1647, S. 745 – 757; AASS Oct. IX (Brüssel 1858) S. 258 – 268. 63 In der Bibliotheca Sanctorum ist weder Quirina noch ein ähnlicher Name zu finden. 64 Reliquienverzeichnis des Molanus (wie Anm. 9), p. 2, listet ebenfalls Ursulæ virginis.

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wickelt und mit Reliqua[i]æ XI Mille / virginum beschriftet.65 In einer Pergamenthülle, die Hand 3 des 17. Jahrhunderts De XI Mill. Vir/ginibus zuordnet, sind ein heller Stoff mit spätmittelalterlicher Authentik und ein dunkelbrauner Stoff, beide mit weißen Schnüren versehen, zusammengefasst.66 Eine weitere Partikel der 11.000 Jungfrauen befindet sich in einem papierenen Briefchen, das Abt Molanus beschriftet hat.67 Verloren gegangen ist dagegen der Inhalt einer weiteren beschrifteten, aber stark beschädigten Papierhülle des 17. Jahrhunderts, die einst Reliquien der 11.000 Jungfrauen enthielt.68 Aus diesen Päckchen ist zu ersehen – und Molanus bestätigt dies –, dass in Loccum eine größere Sammlung an Gebeinen aus der Schar der 11.000 Jungfrauen vorhanden war und zwar bereits im 12. und 13. Jahrhundert, als man kleine Knöchelchen verteilte und nicht – wie im Spätmittelalter – ganze Häupter der Jungfrauen.69 Analysiert man das Ensemble der mittelalterlichen Reliquienpäckchen systematisch und vergleichend, so lässt sich beobachten, dass die Heiltümer in drei verschiedenen Kampagnen verpackt wurden. Die älteste Zeitschicht stellen die mittelalterlichen Reliquienpäckchen dar. Sie sind teilweise noch zusammengebunden und mit Cedula versehen. Die zweite und dritte Runde fand zwischen dem frühen 17. und frühen 18. Jahrhundert statt. Man hat damals die mittelalterlichen Reliquien erneut verpackt. Wenngleich manche der Partikeln später verloren gingen (etwa die von Dorothea, Fides etc., Urbanus, vom Blut der 1.000 Märtyrer, vom Haupt und Haar des Apostels Jacobus sowie vom gleichnamigen Bischof, von den drei heiligen Patriarchen), so kann man doch ihre vormalige Existenz aufgrund der Brieflein, die von 10 verschiedenen Schreibern angelegt wurden, belegen. Die älteste und die jüngste der Schreiberhände aus dieser Phase lassen sich zwei berühmten Loccumer Äbten zuweisen. Die älteste Hand des 17. Jahrhunderts – ihm weise ich Phase 2 der Verpackung zu – gehört dem Abt Theodor Stracke, der in Loccum von 1600 bis 1629 amtierte. Er hat die Brieflein zu Bonifatius, Petronilla, Jacobus ap., Fabian, Dorothea, Urban, Christophorus, evtl. auch das Brieflein zu Fides, Spes, Caritas und Sapientia beschriftet. Die dritte Umhüllung legten von der 2. Hälfte des 17. bis ins frühe 18. Jahrhundert mehrere Schreiber an. Die späteste Hand gehört Abt Gerhard 65 66 67 68 69

KAL Schachtel 1, Nr. 2, Hand 7 des 17. Jahrhunderts. KAL Schachtel 8, Nr. 2, Hand 3 des 17. Jahrhunderts. KAL Schachtel 9, Nr. 3, Hand des Molanus: De XI Mill. / Virginibus. KAL Schachtel 6, Nr. 4, Hand 7 des 17. Jahrhunderts: Re XI / mille virginum. Vgl. etwa die immense Sammlung an Ursulahäuptern in St. Ursula zu Köln (Regina Urbanek: Die Goldene Kammer von St. Ursula in Köln. Zu Gestalt und Ausstattung vom Mittelalter bis zum Barock, Worms 2010 (= Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 76 / Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln 3), und im westfälischen Marienfeld (vgl. Reinhard Karrenbrock: Heilige Häupter in textiler Zier. Das spätgotische Hochaltarretabel der Zisterzienser-Klosterkirche Marienfeld und sein verlorener Reliquienschrein, in: Westfalen 85/86 [2007/08], S. 263 – 300).

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Molanus, der von 1677 bis 1722 amtierte. Er beschriftete die überwiegend papierenen Brieflein zu Fabian, Reliquia tertia incerta, De cranio et cranibus s. Jacobi ap., Jacobus episc. et martyr, Urbanus, De sanguine mille martyrum, 11.000 Jungfrauen. Bereits im 17. Jahrhundert konnten nicht mehr alle vorhandenen Partikeln bestimmten Heiligen zugeordnet werden. Daher gibt es Cedulae Ex / Reliqvijs tertia / Sancti Cujusdam / Incerti (Schachtel 2 Nr. 2), Reliquia tertia / s[anc]ti cuiusdam in/cer[ti] (Schachtel 5 Nr. 1), VIII Reliqviae Incer/torum Sanctorum (Schachtel 5 Nr. 2) oder ein Fasciculus [!] / VI Reliqvi/ arum (Schachtel 9 Nr. 6). Auch Molanus schreibt, er habe manche Reliquien nicht mehr identifizieren können, etwa die aus der Frauenkapelle an der Pforte.70 In seinem Protokoll zur Altaröffnung der Kirche in der Loccumer Grangie Wiedensahl,71 bemerkt er : Anno 1673 Jst Zu Widersael Ein Altar ufgenommen, da sich in einer Messingbüchse zehn reliquia incertorum sanctorum gefunden, die nunmehr in die große Lokusche kirch transferirt vnd heimlich beijgesetztet Jn einem glase cum argentea inscriptione, reliquia incerti sancti, invento in altari Valensalers, NB dis ist ein Error des Glasbrenners, der Es nicht hat lesen können, Es muß heißen Widersalers …72 Es kann an dieser Stelle nicht auf alle Reliquienbrieflein des 17. Jahrhunderts eingegangen werden. Ich werde im Folgenden lediglich das Bonifatius-Brieflein besprechen, da der Besitz der Bonifatius-Reliquie die Loccumer noch heute mit Stolz erfüllt. In der Spanschachtel 1 Nr. 3 liegt ein gefaltetes Brieflein aus dickem, hellem Pergament, auf das Abt Stracke Anfang des 17. Jahrhundert S. Bonifacij / martyris schrieb (Abb. 11). In das Pergament ist ein heller, verknitterter Seidenstoff eingewickelt, wohl ein mittelalterlicher. Knochenpartikeln fehlen. Vielleicht waren sie vorhanden und sind verloren gegangen – die Knitterfalten im Stoff deuten darauf hin, dass wir hier die Reste eines verschnürten Reliquienpäckchens vor uns haben –, vielleicht war der Stoff die Berührungsreliquie. Abt Molanus verzeichnet in den 1670er Jahren eine Bonifatius-Reliquie mit denselben Worten wie Stracke.73 Ob Molanus damals noch Partikeln des Bonifatius oder eine mittelalterliche Authentik gesehen oder nur den Text von Stracke abgeschrieben hat, muss offen bleiben.

70 Siehe dazu oben. 71 Seit 1253 überließ der Bischof von Minden den Loccumer Mönchen in Wiedensahl den Zehnten (UBL Nr. 171). In den Folgejahren gingen zahlreiche Güterschenkungen aus Wiedensahl nach Loccum. 1277 übertrug der Mindener Bischof Volkwin schließlich der Loccumer Zisterze das Patronatsrecht über die Kirche in Wiedensahl (UBL Nr. 358). 72 Reliquienverzeichnis des Molanus (wie Anm. 9), p. 3. 73 Molanus (wie Anm. 9), p. 1: S. Bonifacij Martyris.

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Abb. 11: Reliquienbrieflein, 17.Jh., von der Hand Abt Strackes beschrieben (S. Bonifacij / martyris), mit inliegendem hellen Seidenstoff des Mittelalters. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 1 Nr. 3. Foto: Röckelein

Wann und auf welchem Wege könnte die Bonifatius-Reliquie nach Loccum gekommen sein? Es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass sie aus Hameln an der Weser74 kam, der ältesten sächsischen Missionsstation des Klosters Fulda. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man den Blick auf eine zweite Heilige lenkt, deren Reliquien sowohl in Loccum wie in Hameln belegt sind, nämlich die der hl. Emerentiana. Von einer Emerentiana-Reliquie zeugt in Loccum ein Pergamentbrieflein des 17. Jahrhunderts (Abb. 12) und – ähnlich wie bei Bonifatius – ein zusammengeknüllter, in diesem Fall roter mittelalterlicher Stoff (Abb. 13).75 Auch von Emerentiana gibt es in Loccum keine Knochenpartikel. Gebeine der römischen Märtyrerin Emerentiana, deren Fest am 16. September gefeiert wurde, kamen Mitte des 9. Jahrhunderts nach Sachsen76 und zwar – wie Klaus Naß glaubhaft machen konnte – nach Hameln.77 74 Klaus Naß: Untersuchungen zur Geschichte des Bonifatiusstiftes Hameln. Von den monastischen Anfängen bis zum Hochmittelalter, Göttingen 1986 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 83 / Studien zur Germania Sacra 16). 75 KAL Schachtel 4, Nr. 1: gefaltetes Brieflein des 17. Jahrhunderts (Hand 4): Emerentianæ / virginis mit inliegendem roten Seidenstoff, ohne Knochenpartikel. Auch diese Reliquie verzeichnet Molanus (wie Anm. 9), p. 2: Emerentianæ virginis. 76 Annales Xantenses a. 851, MGH SSrG, S. 17: De Roma venerunt corpora sanctorum in Saxoniam, Alexandri, unius ex septem fratribus, Romani atque Emerentianae. 77 Naß (wie Anm. 74), S. 110 – 132.

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Abb. 12: Authentik Emerentianœ virginis, 17. Jahrhundert. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 4 Nr. 1. Foto: Röckelein

Abb. 13: Roter Stoff aus dem Brieflein der hl. Emerentiana. Klosterarchiv Loccum, Schachtel 4 Nr. 1. Foto: Röckelein

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Wir wissen, dass der Loccumer Abt Hermann I. (belegt 1239 bis 1260) und der gelehrte und rechtskundige Prior Isfridus78 Mitte des 13. Jahrhunderts wiederholt mit Hameln zu tun hatten.79 Am 13. Februar 1259 informierte Abt Heinrich von Fulda Bischof Wedekind von Minden (1253 – 1261), dass er mit dessen Unterhändlern, dem Loccumer Prior Isfrid und dem Mindener Domherrn Widecho von Scelingen, den Verkauf von Stadt und Stift Hameln gegen eine Zahlung von 500 Mark Silber abgeschlossen habe.80 Gegen diesen Verkauf intervenierten die Herzöge Albrecht und Johannes von Braunschweig. Für die Welfen handelten daraufhin Abt Hermann I. und Prior Isfrid von Loccum einen Vergleich aus, der am 13. September 1260 mit der Teilung der Stadt Hameln zwischen den Welfen und dem Bischof von Minden einvernehmlich besiegelt wurde.81 Obgleich in den überlieferten Rechtsakten nicht von Heiltümern die Rede ist, spricht doch einiges dafür, dass der Transfer der (Berührungs-?)Reliquien des Bonifatius und der Emerantiana von Hameln nach Loccum in unmittelbarem zeitlichen und kausalen Zusammenhang zu den Verhandlungen von Abt und Prior aus Loccum steht. Man könnte sich vorstellen, dass Bischof Wedekind 1259 die Reliquien an seine Unterhändler Hermann und Isfrid übergab, oder, dass er sie ihnen als Entlohnung für die Aushandlung des Kompromisses mit den Welfen im Jahr 1260 überließ. Der Mindener Bischof Wedekind aus der Familie der Grafen von Hoya starb übrigens im September 1261 in Loccum und wurde an der nördlichen Kapellentür begraben.82 Die Datierung des Transfers der Bonifatius- und Emerentiana-Reliquien von 78 Isfridus gilt als Verfasser der »Vetus narratio de fundatione monasterii Luccensis« (Ed.: Calenberger UB III S. 1 – 4 Nr. 1) und als Schreiber eines Graduale, das zu Strackes Zeiten noch vorhanden war (Christoph Erich Weidemann: Christoph Erich Weidemann’s Geschichte des Klosters Loccum: mit Urkunden und einer Kupfertafel, hrsg. v. Friedrich Burchard Köster, Göttingen 1822, S. 16). 1258, März 16 bezeugte Isfridus den Stiftungsakt des Zisterzienserinnenklosters Vlotho (Abschrift: KAL Loccum II 2, 1 S. 526 Nr. 849; UBL Nr. 200), und 1289 legte er zusammen mit dem Abt und Konversenmagister Alexander einen Rechtsstreits des Klosters um die Güter in Böbber bei (Abschrift: KlA Loccum II 2, 1 S. 180 Nr. 253; Regest: UBL Nr. 471). 79 Heutger (wie Anm. 25), S. 46. 80 Westfälisches Urkundenbuch. Bd. 6: Die Urkunden des Bisthums Minden vom Jahr 1201 – 1300, bearb. v. H. Hoogeweg, Münster 1898 Nr. 709; Urkundenbuch des Stiftes und der Stadt Hameln bis zum Jahre 1407, hrsg. v. Otto Meinardus, Hannover 1887 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 2), Nr. 44. Weitere Promulgationen, Änderungen der Lehensverhältnisse und Bestätigung des Zahlungseingangs folgen (UB Hameln I Nr. 45 – 51). 81 Westf. UB VI (wie Anm. 80) Nr. 736; UB Hameln I (wie Anm. 80) Nr. 52. 82 Der Todestag von »Widekindus episcopus Mindenesis« ist im Loccumer Memorienbuch zum 22. September vermerkt (Schultzen [wie Anm. 2], S. 243), andere Quellen geben den 21. September als Todestag an. Schultzen (wie Anm. 2), S. 36: »Sein Grabstein in der nördlichen Kapellentür war Weidemann noch bekannt, bei der Renovierung der Kirche 1842 – 54 scheint er abhanden gekommen zu sein.« Das Epitaph Wedekinds abgedruckt bei Weidemann (wie Anm. 78), S. 161 Nr. 3.

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Hameln nach Loccum in die Jahre 1259 – 1261 ist im übrigen für die Datierung des großen, beidseitig bemalten Tafelkreuzes aus der Klosterkirche von Relevanz. Um dies zu verstehen, muss allerdings zunächst der Konnex zwischen den Reliquien des Bonifatius und der Emerentiana mit dem Tafelkreuz erklärt werden. Wir verdanken nämlich den Aufzeichnungen von Abt Molanus die Erkenntnis, dass ein beträchtlicher Teil der noch vorhandenen Reliquien in Loccum aus dem über fünf Meter hohen Tafelkreuz stammen. Molanus setzte nämlich an den Beginn seines Verzeichnisses die Bemerkung, dass die Reliquien in der folgenden Liste während der Umsetzung des großen Kreuzes und der Beseitigung des baufälligen Lesepultes am Eingang zum Chor gefunden worden seien. Er schreibt weiter, dass er diese Reliquien nach ihrer Auffindung heimlich an verschiedenen Stellen beigesetzt habe.83 Die Reliquienliste, die die beiden folgenden Seiten füllt, beendet er mit der Bemerkung Hactenus reliquia ex Crucifixo.84 Mit dem »Crucifixo« ist eindeutig das beidseitig bemalte Monumentalkreuz gemeint, das von Beginn an in der Klosterkirche über dem Lettner hing, so dass es sowohl von der Mönchs- wie von der Laienkirche aus betrachtet werden konnte. Untersuchungen von Kunsthistorikern und Restauratoren haben ergeben,85 dass an den vier quadratisch zulaufenden Enden des Kreuzes auf beiden Schauseiten neben den aufgemalten Symbolen der vier Evangelisten 16 Vertiefungen in das Holz eingebracht worden waren (Abb. 14). Es handelt sich dabei um Reliquiendepots, die mit einem Deckel verschlossen waren (Abb. 15 u. 16). Aus dem Verzeichnis des Molanus lassen sich 44 Reliquienpäckchen ermitteln, die in den Kreuzenden deponiert gewesen sein müssen, manche davon in einem »fasciculum« gebündelt. Mit der Liste des Molanus stimmen folgende erhaltene Partikeln und Brieflein86 im Loccumer Archiv überein: Fabian, Petronilla, Bonifatius, Fides, Spes, Caritas und Sapientia, 11.000 Jungfrauen, Margareta, Fe-

83 Molanus (wie Anm. 9), p. 1: In der großen Kirche Zu Lockum sein nachfolgende reliquien, bey Umsetzung des großen Crucifixes, auch Wegreumung des Baufelligen Lectorij am eingange des Chors [x: auch andernorts] gefunden [F : oder dem Closter geschenkt] Vnd hier wieder an verschienenen orten heimlich beijgesetzett worden. 84 KAL III Nr. 3, p. 2. 85 Otto Klein: Die Restaurierung des Triumphkreuzes in der Klosterkirche zu Loccum, in: Niedersächsische Denkmalpflege 4 (1958/59), Hildesheim 1960, S. 45 – 50, erwähnt S. 46 den Verlust der hölzernen Deckel der Reliquienbehälter. Gerold Ahrends: Das Loccumer Tafelkreuz – ein Werk des 13. und 19. Jahrhunderts. Technologisch vergleichende Untersuchung der Vorder- und Rückseite, Erstellung eines Behandlungskonzeptes. Ungedr. Diplomarbeit FH Hildesheim-Holzminden-Göttingen und HAWK, Hildesheim 2005, zu den Reliquiendepots Kap. 6.7, S. 63 f. 86 Sind das die »fascicula« des Molanus?

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licitas, Agnes, Quirina, Emerentiana, Ursula und Jacobus (apostoli vel episcopi?).

Abb. 14: Loccum, Klosterkirche. Tafelkreuz, Rückseite. Löwe als Symbol des Evangelisten Markus und Vertiefungen für Reliquien, aus: Ahrends, Loccumer Tafelkreuz, Abb. 9. Foto: Röckelein

Um zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückzukehren: Die Reliquien von Bonifatius und Emerentiana wurden also im großen Triumphkreuz deponiert. Die kunsthistorische Forschung datiert dieses Monumentalkreuz anhand stilistischer Kriterien und historischer Daten in die Zeit zwischen 1240 und 1277.87 Das ist die Zeit, die bis vor kurzem als die Bauzeit der Klosterkirche galt, wobei die Fertigstellung von Chor und Querhaus für 1255 und die Fertigstellung des Schiffes mit der Schlussweihe 1277 angenommen wurde. Nun haben aber jüngst veröffentliche bautechnische und dendrochronologische Untersu87 So noch Ahrends (wie Anm. 85).

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Abb. 15: Loccum, Klosterkirche. Tafelkreuz, Rückseite. Vertiefungen für Reliquien neben dem Löwen als Symbol des Evangelisten Markus, aus: Ahrends, Loccumer Tafelkreuz, Abb. 48. Foto: Röckelein

Abb. 16: Schemazeichnung der Reliquiendepots im Loccumer Tafelkreuz des 13. Jahrhunderts, aus: Ahrends, Loccumer Tafelkreuz, Abb. 47. Foto: Röckelein

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chungen von Boeck und Gomolka gezeigt, dass der Bau bereits im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts begonnen und nach etwa 50jähriger Bauzeit inklusive der Bedachung des Schiffes um 1250 abgeschlossen wurde.88 Wenn ich mit meiner Hypothese richtig liege, dass die Reliquien von Bonifatius und Emerentiana in den Jahren 1259 – 1261 nach Loccum kamen, hieße dies, dass das Kreuz erst nach der Fertigstellung der Klosterkirche bestückt und aufgehängt wurde. Das Tafelkreuz dürfte Mönche wie Konversen gleichermaßen spirituell beeinflusst haben. Wie erneut Caesarius von Heisterbach kolportiert,89 hatte der Konverse Rudolf90 eines Morgens nach der Matutin eine Vision, in der er im Freien Christus am Kreuz hängen sah, umgeben von 15 Männern, die ebenfalls am Kreuz hingen. Es seien zehn Mönche und fünf Konversen des Konventes gewesen, ihm als Mitglieder der Kongregation wohl bekannt. Rudolf sei mit Christus am Kreuz in einen Dialog eingetreten über das Leiden und die Tugenden der Mönche – Gehorsam, Geduld, Demut, Verzicht auf Eigentum und den eigenen Willen –, die sie zu Märtyrern machten. Das spektakulärste Heiltum im Besitz der Zisterze Loccum dürfte freilich der heilige Rock gewesen sein. In zeitgenössischen und frühneuzeitlichen Quellen ist die Rede von der »Tunica Christi« oder der »vestis Salvatoris«. Wie den Aufzeichnungen Letzners und Strackes zu entnehmen ist – alle späteren Ausführungen beruhen auf diesen beiden Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts – erhielt das Kloster Loccum diese kostbare Herrenreliquie von Waldemar von Dänemark (1157/58 – 1236).91 Waldemar war ein illegitimer Sohn König Knuts III. Magnussen, der sich, obgleich von seinem Onkel Waldemar I. als Thronerbe anerkannt, auf eine Laufbahn als Kleriker durch das Studium der Theologie in Paris vorbereitete. 1178 – 1187/88 wurde er zum Bischof von Schleswig gewählt, das Amt übte er von 1187/88 – 1208 aus. 1192 und erneut 1207 wurde er zwar zum Erzbischof von Hamburg-Bremen gewählt, konnte sein Amt aber wegen des Widerstandes des Domkapitels und der Bremer Bürgerschaft nicht antreten. Waldemar verstrickte sich im dänischen wie im staufisch-welfischen Thronstreit in harte Auseinandersetzungen; viermal ereilte ihn der päpstliche Bannstrahl. 1217 entschloss er sich, seine Ämter niederzulegen. Den Aposteln gleich trat er mit 12 Freunden in das Kloster Loccum ein. Er starb 1236 in Citeaux und 88 Urs Boeck / Joachim Gomolka: Wann entstand Kloster Loccums Kirche? Archivalien, Bauanalysen und die Dendrochronologie, in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 20/2 (2000), S. 55 – 60. 89 Caesarius von Heisterbach, (wie Anm. 5), VIII 18, erwähnt erneut X, 40. 90 Ein Konverse Rudolf ist im Loccumer Memorienbuch mit Todestag am 27. März eingetragen (Schultzen [wie Anm. 2], S. 242). 91 Zu ihm vgl. Heinz-Joachim Schulze / Christian Radtke: Waldemar von Dänemark (OCist) (1157/58 – 1236), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein biographisches Lexikon, hrsg. V. Erwin Gatz, Bd. 1, Berlin 2001, S. 81 – 83.

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ließ sich in der Chorkapelle der Loccumer Klosterkirche, die Johannes dem Täufer geweiht war, bestatten.92 Trotz der Zerwürfnisse mit den Domkanonikern hatte der Bremer Elekt offenbar Zugang zu den Heiltümern seiner Bischofskirche und konnte so den heiligen Rock nach Loccum entführen. Die Verehrung des ungenähten Rockes Christi nahm im 12. Jahrhundert einen großen Aufschwung.93 Gegenstand des Kultes war das Leibtuch, das Christus angeblich am Kreuz getragen haben soll und um dessen Besitz die Soldaten nach seinem Tod würfelten. Joh 19,23 beschreibt es als »von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht«. Die Loccumer Geschichtsschreiber gingen noch einen Schritt weiter und übernahmen die Auffassung des Gottfried von Viterbo aus dem 12. Jahrhundert,94 wonach dieser Rock nicht von Menschenhand gewoben, sondern dem Jesusknaben von Gottvater vom Himmel gesandt worden sei. Es sei ohne Nadel genäht, wunderschön farbig, und mit dem Kind mitgewachsen.95 Stracke schreibt, dass der hl. Rock in der Mauer der Loccumer Klosterkirche aufbewahrt worden sei, an der Stelle, an der außen ein weißes Kreuz aufgemalt sei. Des weiteren sei ein Bild des Rockes auf dem Orgelprospekt gemalt.96 92 Die Lage der Chorkapelle wird unterschiedlich angegeben. Stracke, Chron. II p. 22r, setzt sie nach links: »Sepulchrum ipsius [i.e. Woldemari] est in sacella S. Johannis Baptistæ prope chorum ad sinistram.«– Die Inschrift auf dem Grab Woldemars ist am besten bei Letzner (wie Anm. 10), S. 126 transkribiert: »Woldemarus in Schlesvvic & Brema simul coronatus, de Dania genitus, h„c pro monacho tumulatus. Qui tria claustra suis expensis aedificavit. In Dacia, quae sub regula propria dedicavit. Gaudeat in Christo, qui seculo vixit in isto. Qui legit, hoc dicat, ut in pace requiescat.« Spätere Wiedergaben, insbesondere die von Bochow (wie Anm. 8), S. 76, enthalten Fehler und stiften unnötig Verwirrung hinsichtlich der geographischen Angabe »Dania« / »Dacia«. Seit dem 10. Jahrhundert wurde Dänemark auch als »Dacia« (Dakien) bezeichnet. Daher sind beide Schreibungen, »Dania« und »Dacia«, richtig. 93 Johannes Gildemeister / Heinrich von Sybel: Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern Heiligen ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, 3 Bde. Düsseldorf 1844 – 45. Zum hl. Rock von Bremen bzw. Loccum ebd., Bd. 1 § 15 auf der Grundlage von Strackes Chroniken. 94 Gildemeister/Sybel (wie Anm. 93), Bd. 1 S. 80 wiesen bereits 1844 nach, dass die Verse aus der Chronik des staufischen Parteigängers Gottfried von Viterbo (*um 1125, †1192/1200) übernommen sind. 95 Stracke, Chron. II p. 22r : »De veste autem Salvatoris hi sunt versus. Mittitur À coelis puero dignissima vestis Haec in consutilis mira colore fuit Hanc pater À coelis misit non foemina nevit Longa fit atque brevis, puero crescente recrevit. Corporis æqueui stamine texta levi.« 96 Stracke, Chron. II, p. 22r : »Woldemarus … secum de Breme addiunxit vestem Salvatoris,

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Der hl. Rock wurde von den Mönchen, den Konversen und wohl auch von männlichen Laien verehrt.97 Der Mönch Ludolf Richerding, der 1569 in hohem Alter verstarb, soll eine Vision gehabt haben, die durch den hl. Rock ausgelöst wurde.98 Was mit dem Heiltum, das zuletzt noch von Molanus beschrieben wird,99 seither geschah, ist unklar. Obwohl der Heiligenkult nach der Einführung der Reformation in Loccum (1592/93) kritisiert wurde, entfernte man die Reliquien nicht. Sowohl in der Phase der Restitution des Katholizismus von 1629 bis 1634 als auch von Abt Molanus (1677 – 1722) wurden sie wieder geschätzt. Der Reliquienschrein auf dem Hauptaltar war bis in das 17. Jahrhundert hinein »in Betrieb«. Das Interesse des Molanus an den Heiltümern war religiös und antiquarisch motiviert. Wie er Münzen sammelte und inventarisierte, so führte er über die Reliquien gewissenhaft Buch.100 Dort, wo Altäre wegen Baufälligkeit abgebrochen werden mussten, nahm er sich der unsachgemäß geöffneten Reliquienbehälter an, versuchte die erbrochenen Wachssiegel der Konsekranten zu identifizieren und setzte die Gebeine der Heiligen heimlich in der Loccumer Klosterkirche bei. Der Rat von Celle bat ihn 1676, die Reliquien seiner Stadt zu identifizieren.101 Im Auftrag Herzog Johann Friedrichs erstellte er 1697 ein Verzeichnis der 150 Reliquien aus dem Welfenschatz, der im Stift St. Blasius in Braunschweig aufbewahrt wurde.102

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quem in murum templi, ubi exterius alba crux appicta est, murari fecit absconditÀ. Sicut monstrat ipsius imaginis in veteri organico instrumento vestem illum ibidem.« Frauen aus dem Dorf und vom Land war es nicht erlaubt, die Klosterkirche zu betreten. Sie durften nur bis zur Kapelle an der Pforte vordringen. Hochstehenden Frauen, die als Wohltäterinnen in das Memorienbuch eingetragen sind, dürfte auch der innere Bereich des Klosters zugänglich gewesen sein. Heutger (wie Anm. 25), S. 19, ohne Quellenangabe. Molanus (wie Anm. 9), KAL III Nr. 3: pp. 8 – 9 u. 10v zum Aufbewahrungsort des hl. Rockes. pp. 15 – 20: Bericht des Molanus nach Hannover über den hl. Rock in Loccum von 1702. pp. 11 – 14: Schreiben von C.AZL. aus Hannover vom 19. Okt. 1727 über den hl. Rock. Zu Molanus als manischem Sammler vgl. Heinz Weidemann: Gerard Wolter Molanus, Abt zu Loccum. Eine Biographie, Göttingen 1925, S. 32. Weidemann geht aber nur auf die Münzen, nicht auf die Reliquien ein; anders dagegen Dieter Brosius: Der Loccumer Abt Gerhard Wolter Molanus, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 103 (1992), S. 43 – 59, bes. S. 52 – 56. Das Ergebnis seiner Arbeit handschriftlich überliefert im Reliquienverzeichnis, KAL III Nr. 3, pp. 5 – 7. Gerhard Walter Molanus: Lipsanographia Sive Thesaurus Sanctarum Reliquiarum Electoralis Brunsvico-Luneburgicus, Hannover 1697 (deutsche Fassung). Die lateinische Fassung – Gerhard Walter Molanus: Lipsanographia, sive thesaurus reliquiarum Electoralis Brunsvico-Luneburgicus editio latina priori germanica longe auctior emendatior, Hannover 1713 wurde häufiger aufgelegt. Zum verlorenen Reliquienschatz der Welfen vgl. auch Andrea Boockmann: Die verlorenen Teile des »Welfenschatzes«. Eine Übersicht anhand des Reliquienverzeichnisses von 1482 der Stiftskirche St. Blasius in Braunschweig, Göttingen 1997 (= Abh. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge, 226).

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Über das Mühlenwesen der Zisterze Loccum. Von der Gründung bis zum Konfessionswechsel

Die Mühlenwirtschaft des Zisterzienserordens Monasterium autem, si possit fieri, ita debet constitui ut omnia necessaria, id est aqua molendinum, hortum, vel artes diversas intra monasterium exerceantur.1 (Regula Benedicti, cap. 66)

Wasser, Wasser, Wasser – Wasser als entscheidendes Element trat im Zisterzienserorden permanent auf. Die Wasserversorgung einer jeden Zisterze war elementar.2 In Massen wurde Wasser für Rituale, Haushalt und Gewerbe genutzt. So trat es als Getränk, zum Bierbrauen, Kochen und Reinigen, als Lösungsmittel für Tinte und für hygienische Aufgaben, wie Waschen, Rasieren und Tonsur schneiden auf. Ferner diente Wasser zur Reinigung von Textilien, Latrinen, Böden und Stallungen. Des Weiteren verwendete man es als Weihwasser, zu rituellen Waschungen und zum Mandatum. Die große Bandbreite der Wasserverwendung zeigt deutlich auf, warum der Wasserbedarf in den mittelalterlichen Klöstern immens gewesen war und gerade die Zisterzienser zu Wasserbauspezialisten wurden. Für den vorliegenden Aufsatz ist vor allem die Verwendung des Wassers als primäre Energiequelle entscheidend. Gerade im gewerblichen Bereich waren die Zisterzienser auf das Wasser zum Betreiben ihrer diversen Mühlen angewiesen.3 Bereits die Gründungslokation wurde vom Wasser abhängig gemacht. An1 Das Kloster soll, wenn möglich, so angelegt werden, dass sich alles Notwendige, nämlich Wasser, Mühle und Garten, innerhalb des Klosters befindet und die verschiedenen Arten des Handwerks dort ausgeübt werden können. 2 Immo Eberl: Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Stuttgart 2002, S. 230. 3 Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser : Die Wasserbaukunst im Kloster Loccum (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser, 25), Berlin 2006, S. 35.

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gesichts der elementaren Bedeutung des Wassers im Zisterzienserorden sind die Zisterzen stets in Tallagen zu finden.4 Somit begünstigten fließendes Gewässer, Seen, aber auch die Nähe zum Meer die Ansiedlung einer Zisterzienserabtei.5 Um die Wasserbedürfnisse des Klosters zu decken, mussten die natürlichen Gegebenheiten vor Ort optimal ausgenutzt werden. Dabei spielte die Regulierung des Wasserhaushaltes die entscheidende Rolle. Zur effektiven Ausnutzung des Wassers wurden Gräben, Kanäle, Teiche und Stauwehre installiert. Lokale Wasserläufe wurden dabei an die Anforderungen der Zisterze angeglichen. Dazu kam es nicht selten vor, dass der natürliche einem künstlichen Lauf wich. Auch die Entwässerung gehörte zur Regulierung dazu. Archäologische Ausgrabungen diverser Zisterzen brachten durchdachte, unterirdische Kanalisationen im inneren Klosterbereich hervor. Die Wasserbaukunst der Zisterzienser war im Mittelalter von herausragender Qualität, die noch heutigen Datums erkennbar ist.6 Das großflächig angelegte Kanalisationssystem beweist, dass vor der Errichtung der Klostergebäude die sorgfältige topographische Untersuchung der Lokation stattgefunden haben muss und die natürlichen Gegebenheiten angepasst wurden.7 Anhand der oben genannten Aufführungen der vielfältigen Wassernutzung lässt sich ein internes und externes Wassersystem erkennen. Dabei war das interne für die Trink- und Nutzwasserversorgung zuständig, das externe Wassersystem versorgte die Klostermühlen und leitete das Abwasser aus dem Klosterbereich. Besonders das externe Wassersystem bedurfte größerer Wassermengen zur Energiegewinnung durch die klösterlichen Mühlen.8 Bevor das Wasser die Mühlen erreichte, waren Teiche diesen vorgelagert. Sie dienten zur Regulierung und Aufstauung des Wassers, konnten aber praktischerweise auch zur Fischzucht eine weitere Verwendung finden.9 Mittels der Ausführungen lässt 4 Eberl (wie Anm. 2), S. 230; Winfried Schich: Die Wirtschaftstätigkeit der Zisterzienser im Mittelalter. Handel und Gewerbe, in: Kaspar Elm (Hrsg.): Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Köln 1980, S. 217 – 218; Ulrich Faust: Zisterzienser östlich der Weser in Niedersachsen, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart (63) 1995, S. 15. 5 Eberl (wie Anm. 2), S. 230; Wolfgang Ribbe: Die Wirtschaftstätigkeit der Zisterzienser im Mittelalter : Agrarwirtschaft, in: Elm (wie Anm. 4), S. 210. 6 Eberl (wie Anm. 2), S. 230; Winfried Schich: Zisterziensische Wirtschaft und Kulturlandschaft, Berlin 1998, S. 175; Paul Benoit / Monique Wabont: Mittelalterliche Wasserversorgung in Frankreich. Eine Fallstudie: Die Zisterzienser, in: Frontinus-Gesellschaft (Hrsg.): Die Wasserversorgung im Mittelalter (= Geschichte der Wasserversorgung, 4), Mainz am Rhein 1991, S. 200. 7 Schich (wie Anm. 6), S. 179; Faust (wie Anm. 4), S. 15. 8 Schich (wie Anm. 6), S. 180. 9 Eberl (wie Anm. 2), S. 230; Bernhard Nagel: Norm und Wirklichkeit des Zisterzienserordens, Leipzig 1996, S. 36; Ludwig J. Lekai: Geschichte und Wirken der weißen Mönche. Der Orden der Cistercienser. Mit 126 Illustrationen und Bildern, Köln 1958, S. 237.

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Über das Mühlenwesen der Zisterze Loccum

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sich somit eine Trias im Wasserbau der Zisterzienser erkennen – fließendes Gewässer, Fischteich, Mühle.10 Mit der Ausgabe der Roncalischen Gesetze Friedrich Barbarossas im Jahre 1185 gehörten Wassermühlen im Mittelalter zu den Regalien. Zeitlich bedingt wurden die Windmühlen später den Regalien hinzugefügt. Im Laufe der Zeit kam das Mühlenregal in Besitz der Territorialfürsten. Insbesondere durch Schenkungen des Adels gelangten Mühlen dann auch in klösterlichen Besitz.11 Außerdem finden Mühlen Erwähnung im Sachsenspiegel. Hier stehen sie unter königlichem Schutz. Obendrein wurden genaue Regelungen getroffen, die das Mühlenrecht exakter einfassten.12 Die Grundintention der Zisterzienserwirtschaft bestand im Streben nach Autonomie von der Außenwelt. Die dem Orden zugrunde liegende Benediktsregel schrieb vor, alles von eigener Hand zu erwirtschaften. Um diese Vorgabe größtmöglich zu erfüllen, waren innerhalb der Klostermauern und auf den klösterlichen Großbetrieben – den Grangien – mannigfache Gewerbebetriebe errichtet worden. Dazu zählten insbesondere Mühlen, die auch zum Antrieb weiterer Gerätschaften Verwendung fanden.13 Entsprechend lässt sich konstituieren, dass Mühlen für die Ökonomie der Zisterzienser unerlässlich und zudem die bedeutendste technische Anlage waren.14 Die Zisterzienser nutzten unterschiedliche Mühlentypen.15 Dazu zählten Öl-, Loh- oder Gerber-, Walk-16, Säge- und Kornmühlen, aber auch weiterverarbeitendes Gewerbe war auf Mühlen zur Energiegewinnung angewiesen. Hier sind Hammerwerke sowie Bier- und Eisenmühlen zu nennen. So sind für die Zisterzen Zinna und Dobrilugk 15, für Neuzelle und Heilbronn 20 sowie für Foigny 14 Wassermühlen bezeugt.17 Verpachtungen von Mühlen traten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit auf. Bereits 1157 versuchte das Generalkapitel 10 Schich (wie Anm. 6), S. 177 11 Micaela Haas / Joachim Varchmin: Mühlen gestern und morgen. Wind- und Wasserkraft in Berlin und Brandenburg, Nümbrecht 2002, S. 24 – 25. 12 Haas / Varchmin (wie Anm. 11), S. 24 – 25. 13 Lekai (wie Anm. 9), S. 239; Ambrosius Schneider: Die Cisterciensische Klosteranlage, in: Ambrosius Schneider: Die Cistercienser. Geschichte, Geist, Kunst, Köln 1974, S. 7. 14 Hanno Svoboda: Die Klosterwirtschaft der Cistercienser in Ostdeutschland (= Nürnberger Beiträge zu den Wirtschaftswissenschaften, 19/20), Nürnberg 1930, S. 72; Schich (wie Anm. 6), S. 175. 15 Einen guten Überblick gibt Torsten Rüdinger / Philipp Oppermann: Kleine Mühlenkunde. Deutsche Technikgeschichte vom Reibstein zur Industriemühle, Berlin 2010. 16 Für die Konversen der Walkmühle ist die Bezeichnung Fratres fullones überliefert. Aufgrund des hohen Geräuschpegels war ihnen die Kommunikation mit dem Walkmühlenmeister gestattet, da die Ruhe sowieso gestört war. Vgl. weiter Eberhard Hoffmann: Das Konverseninstitut des Cistercienserordens in seinem Ursprung und seiner Organisation (= Freiburger historische Studien, 1), Freiburg 1905, S. 78. 17 Haas / Varchmin (wie Anm. 11), S. 8.

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Verpachtungen vorzubeugen, indem durch die Statuten diesbezüglich ein Verbot ausgesprochen wurde.18 Die sorgsam ausersehene Klosterlokation im Zusammenspiel mit dem ausgeklügelten System von Wasserleitungen, -gräben und -kanälen waren für den Mühlenbetrieb unablässige Faktoren.19 Die älteste Mühle eines Klosters lässt sich zumeist innerhalb der Klostermauern oder unmittelbar vor diesen finden.20 Die Ordensstatuten erlaubten die Errichtung von Mühlen innerhalb der Klosteranlage und auf den Grangien.21 So konnte das anfallende Getreide selbst gemahlen werden.22 Sobald eine Zisterze nicht in den Besitz von Mühlen gelangen konnte, versuchte sie gezielt durch Aneignung von Wasserrechten die Mühlen zu beeinflussen. Eine beliebte Einnahmequelle aus dem Mühlbetrieb war der oft in spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Zeit praktizierte Mahlzwang,23 der nach den Ordensstatuten als Form der Grundherrschaft untersagt war.24 Der zisterziensische Mühlenbetrieb blühte infolge des enormen Getreidemehlbedarfs auf. Die Leitung einer Klostermühle oblag einem erfahrenen Konversen – dem Mühlenmeister.25 Zum Ende des 12. Jahrhunderts trat die Nutzung der Windenergie an die Seite der Wasserkraft. Die Windmühlentechnologie verbreitete sich in Europa über England, der Normandie und der Bretagne. Es ist anzunehmen, dass sich das Abendland arabische Errungenschaften zu eigen machte, so dass der Wissenstransfer über die Kreuzzüge, Sizilien oder die Reconquista stattfand.26 Die Zisterzienser nutzten auch bei den Windmühlen topographisch günstig gelegene Lokationen. Die Bockwindmühle soll überdies auf den Zisterzienserorden zurückgehen.27 Nach Froede sollen die Zisterziensermönche des Klosters Kamp bereits 1182 die Windmühle genutzt haben.28

18 Wilhelm Steinmann: Der Besitz des Klosters Loccum bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Eine Studie zur Wirtschaftsgeschichte der Zisterzienser (= Dissertation, Göttingen), Göttingen 1951, S. 11. 19 Schich (wie Anm. 6), S.176. 20 Svoboda (wie Anm. 14), S.72. 21 Hans Wiswe: Grangien niedersächsischer Zisterzienserklöster. Entstehung und Bewirtschaftung spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher landwirtschaftlicher Großbetriebe, in: Braunschweigisches Jahrbuch (34) 1953, S. 49. 22 Nagel (wie Anm. 9), S. 36. 23 Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 167. 24 Eberl (wie Anm. 2), S. 242. 25 Hoffmann (wie Anm. 16), S. 76; Ribbe (wie Anm. 5), S. 208. 26 Jacques LeGoff (Hrsg.): Das Hochmittelalter (= Weltbild Weltgeschichte, 11), Augsburg 2000, S. 53 – 54; Wolfgang Fröde / Susanne Bartsch / Josef Bieker : Windmühlen. Im Wandel der Jahrhunderte, Duisburg 1989, S. 9. 27 Nagel (wie Anm. 9), S. 37. 28 Fröde / Bartsch / Bieker (wie Anm. 26), S. 9; Leider gibt es keinen Verweis auf Quellen.

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Über das Mühlenwesen der Zisterze Loccum

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Kloster Loccums Mühlen Bisher spielte das Mühlenwesen in der Historiographie der Zisterze nur eine geringe Rolle. Zwar wird in diversen Aufsätzen und Monographien darauf hingewiesen, doch fand keine nähere Beleuchtung statt. Im weiteren Verlauf soll nun darauf eingegangen werden, wie die Zisterzienserabtei Loccum in den Besitz von Mühlen gelangte, wo diese gelegen haben und wie sich das klösterliche Mühlenwesen entwickelte. Bei Schultzen findet sich eine Aufstellung des Klosterbesitzes um das Jahr 1350. Darunter befinden sich zehn Mühlen.29 Wasser war auch für die Zisterze Loccum die primäre Energiequelle. Insbesondere die Mühlen innerhalb der Klostermauern – Walkmühle, Mühle im Brauhaus – und auf den Grangien wurden durch Wasser angetrieben.30 Ob es sich bei den Loccumer Klostermühlen um Wasser- oder Windmühlen handelte, geht zumeist nicht aus den Quellen hervor. Jedoch lässt sich anhand des Mühlenstandortes oftmals erkennen, um welche Mühlenart es sich handelte. Das früheste greifbare Datum für eine Windmühle stammt aus dem Jahr 1589. Am 15. November 158931 brannte die Windmühle der Zisterze aus Nachlässigkeit des Müllers Busse ab. Dadurch war dem Kloster großer Schaden entstanden. Der Müller hatte ein Feuer angefacht, es unbeaufsichtigt gelassen und war zur Kirchmesse nach Loccum gegangen.32 Zudem deutet der heutige Straßenname »Bockmühlenweg« auf eine klösterliche Windmühle in Loccum hin. Ein zweiter Straßenname deutet auf eine weitere Windmühle des Klosters hin – »Windmühlenweg.« Eine vierte Klosterwindmühle ist für das Jahr 1622 belegt. Stracke berichtet in seiner Chronik und Beschreibung des Klosters Loccum von seltsamen Himmelserscheinungen, die von einer Klosterwindmühle aus gesehen wurden.33 Abbildung 1 zeigt das Loccumer Windmühlengebiet. Eingekreist ist eine Lokation einer der Windmühlen zu erkennen. Die Bezeichnung »Mühlenweg« weist auf eine weitere Mühle in Loccum hin. Hier muss es sich um eine Wassermühle gehandelt haben, da der Weg in eine Talsenke führt, und somit als Standort einer Windmühle ausscheidet. Auch die Sackgasse »Wassermühle« deutet darauf hin. Die Mühle musste die Fulde genutzt haben. Erkennbar ist sie auf Abbildung 2. 29 Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters, in: Kloster Loccum (Hrsg.): Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 221. 30 Gerhard Uhlhorn: Die Kulturthätigkeit der Zisterzienser in Niedersachsen, in: ZHVNS (52) 1890, S. 104. 31 Bislang ging man davon aus, dass die früheste Windmühlenerwähnung aus dem Jahr 1590 stammte. Vgl. dazu Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 168. 32 Klosterarchiv Loccum (i.F.: KAL) II 2,7; KAL II 2,2. 33 KAL II 2,7.

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Auch für das Kloster Loccum lässt sich die obengenannte Trias aus fließendem Gewässer, Gräben und Teichen im Vorfeld von Mühlen konstatieren. Auf Abbildung 3 ist dies gut zu erkennen. Es liegt zudem nahe, dass die Mühlen von kleinerem Ausmaße gewesen sein mussten. Auch Abt Uhlhorn bestätigt diese Annahme.34 Kleinere Mühlen lassen sich auch bei anderen Zisterzen finden. Die Abtei Bebenhausen besaß beispielsweise nur kleine Mühlen mit maximal zwei Mahlgängen.35 Bei kleineren Mühlen war die Anlage von Gräben und Kanälen systematisch. Die topographischen Gegebenheiten wurden entsprechend verändert und angepasst, sodass eine optimale Ausnutzung des Gewässers gewährleistet werden konnte. Insbesondere kleinere Gewässer wurden nachts in Stauteichen aufgestaut, um tagsüber der Mühle zum Betrieb genügend Wasser zur Verfügung stellen zu können.36 Für Loccum könnte dieses Vorgehen auf den Brauteich zu treffen, der die Mühle im Brauhaus mit Wasser versorgte. Bei kleineren Mühlen kommt noch hinzu, dass diese oftmals nur mit einem Mahlgang ausgestattet waren. Diese Tatsache spricht wiederum dafür, dass es sich um oberschlächtige Mühlen handelte.37 Im späteren Verlauf wird jedoch geschildert, dass topographische Eigenschaften der Lokation eine oberschlächtige Mühle für einzelne Lagen ausschließen und es sich um unterschlächtige Mühlen handeln muss. Aufgrund der geringen Mahlganganzahl war der Besitz mehrerer Mühlen unabdingbar.38 Die Loccumer Klostermühlen unterstanden in erster Linie der Oberaufsicht des Cellerarius, dem die Führung der Klosterökonomie oblag. Zu seiner Entlastung wurde das Amt des Granarius – der Kornknecht – eingeführt. Der Granarius war speziell für die Aufsicht der Mühlen abgestellt und überwachte zudem die Einkünfte der Mühlen.39 Die Aufsicht der einzelnen Mühle oblag einem Konversen.40

Die Mühlen im inneren Klosterbereich Kloster Loccums erste Mühle soll die Vogelsangsmühle gewesen sein. Abt Stracke erwähnt diese Mühle in seiner Chronik und Beschreibung des Klosters 34 Uhlhorn (wie Anm. 30), S. 104. 35 Barbara Scholkmann: Die Zisterzienser und ihre Wassernutzung. Welt und Wirken der Zisterzienser, Tübingen 2000, S. 157. 36 Rüdinger / Oppermann (wie Anm. 15), S. 19. 37 Rüdinger / Oppermann (wie Anm. 15), S. 28. 38 Svoboda (wie Anm. 14), S. 72. 39 Erwin Nadolny : Die Siedlungsleistung der Zisterzienser im Osten (= Der Göttinger Arbeitskreis, 54), Würzburg 1955, S. 6; Svoboda (wie Anm. 14), S. 48. 40 Vgl. dazu Anm. 25.

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Loccum als ersten Klosterstandort.41 Entsprechend müsste hier bereits eine Mühle existiert haben. Es wäre aber denkbar, dass diese Mühle erst in späterer Zeit der Lokation ihrem Namen gab. Die Hülsebeeke, vermutlich auch die Fulde versorgten die Mühle mit Wasser. Dass vor allem die Hülsebeeke die Vogelsangsmühle mit Wasser speiste, lässt sich an Strackes Schilderung an deroselben stette seint hopffenhöve gemachett42 erkennen. Noch heute gibt es nordöstlich der Klosteranlage an der Hülsebeeke gelegen den Straßennamen »Hopfengarten«. Die Kombination Wasser und vorhandene Mühle begünstigte so die Ansiedlung einer Zisterze. Aber dann stellt sich die Frage, warum das Kloster auf die Bredenhorst verlegt wurde. Möglicherweise wurden die Bauarbeiten von Hochwassern heimgesucht, überflutet und aufgegeben.43 1565 wurde die Vogelsangsmühle durch ein Hochwasser zerstört, später durch Abt Richart Quette unter großem Kostenaufwand allerdings wieder errichtet.44 Diese Erwähnung aus Strackes Chronik unterstützt die Verlegungsthese hinsichtlich eines Hochwassers. Doch widerspricht die These seinen eigenen Aussagen, in denen er angibt, dass die Klosterverlegung bezüglich zu vieler Pilger und Diebesbanden geschehen sei.45 Innerhalb der Klostermauern, sogar stückweise als Bestandteil der Mauer selbst, steht noch heute die Walkmühle bzw. ihre äußere Hülle. Abbildung 4 zeigt die Walkmühle Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Innenleben ist mit der Zeit der Nutzung als Scheune gewichen. Aber ein Tierbild am Giebel der Walkmühle lässt die ursprüngliche Verwendung erkennen.46 Die Walkmühle liegt im nordwestlichsten Zipfel der Klosteranlage. Hier wurde letztmalig das Wasser der Fulde zur Energiegewinnung herangezogen.47 Das Gefälle ist in diesem Bereich für eine oberschlächtige Mühle ungeeignet. So kann gefolgert werden, dass es sich bei der Walkmühle um eine unterschlächtige Mühle gehandelt haben musste. Dieser Wassermühle waren zwei Teiche, der Kammer- und der Backteich vorgelagert.48 Aus Strackes Aufzeichnungen geht hervor, dass die Walkmühle beim Magdalenenhochwasser vom 22. Juli 1342 zerstört wurde.49 Daraus lässt sich folgern, dass das Mühlenrad der Walkmühle nicht im Gebäude selbst, sondern außerhalb der Klostermauern installiert war. 41 42 43 44 45 46 47 48 49

KAL II 2,7. KAL II 2,7. Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 91. KAL II 2,7. Daneben gingen auch die Fischbestände des Klosters dahin. KAL II 2,7. Conrad W. Hase: Das Cistercienser-Kloster Loccum, Hannover 1864, S. 285. Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 167. Vgl. Abbildung 3. KAL II 2,1; KAL II 2,7. Das Hochwasser hat dem Kloster auch weiteren Schaden beschert. So ging in den Fluten das Klostervieh des inneren Klosterbereichs dahin. Zudem soll das Wasser sogar bis zum hohen Altar gestanden haben.

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Am 10. Februar 1377 suchte ein weiteres Hochwasser das Kloster heim. Die Fulde führte derart viel Wasser mit sich, dass sie wieder großen Schaden an den Wassermühlen anrichtete.50 Eine andere Mühle im inneren Klosterbereich lässt sich heute nur noch erahnen. Jedoch ist diese Mühle durch Schilderungen Hases greifbar. Dabei handelt es sich um die Mühle, auch »Ole Mühle« genannt, im alten Brauhaus. Deutliche Spuren vom ehemaligen Brau- und Mühlenhaus sind am Spitzhut erkennbar. Abbildung 5 zeigt das Brau- und Mühlenhaus zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Hase gibt an, dass im 19. Jahrhundert noch die Mühleneinrichtung bestanden hat. Gespeist wurde sie durch den unmittelbar vorgelagerten Brauteich, der wiederum von der Tiefenbeeke mit Wasser versorgt wurde. Da die Wassermenge der Tiefenbeeke für eine ausreichende Versorgung unzureichend war, musste über Gräben und Kanäle weiteres Wasser herangeführt werden.51 Ein Kanal sticht dabei besonders hervor – die Beckerbeeke. Dieser Kanal leitete das Wasser der Ahbergquelle vom eigentlichen Verlauf in die Fulde zum Brauteich um.52 Um eine größere Wassermenge zur Verfügung zu haben, wurde vor dem Brauteich noch der Küchschreiberteich angelegt.53 So konnte mehr Wasser angestaut werden. Über einen kleinen Mühlenkanal54 wurde das Wasser zur Mühle geleitet. Die Ole Mühle ist eine oberschlächtige Mühle gewesen.55 1880 wurde sie abgerissen.56 Ob diese Mühle jedoch schon zur Zisterzienserzeit existierte, ist ungewiss. Erst ab dem 18. Jahrhundert lassen sich Zeugnisse im Klosterarchiv ausmachen.57 Jedoch könnte ein Bericht Strackes der erste Beleg sein. Vom 11. November 1513 bis zum 25. Januar 1514 gefroren die Klosterteiche. Deswegen stand die Teichmühle still. Das Eis war drei Fuß dick. Ein Mahlen war damit unmöglich. So musste das Kloster sein Korn im über 50 km entfernten Exter mahlen lassen.58 Exter liegt in der Nähe Vlothos. 1430 wurde das ehemalige Zisterzienserinnenstift Segenstal59 bei Vlotho vom Loccumer Konvent übernommen und mit Zisterziensermönchen aus Loccum bestellt. Daher ist anzu50 KAL II 2,7. Auch bei dieser Flut verlor das Kloster sein Vieh im inneren Klosterbereich. Welche Wassermühlen betroffen waren, führt Abt Stracke nicht aus. 51 Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 77 – 78. 52 Hans-Werner Holz: Die Wasserbaukunst im Kloster Loccum. Ein Beispiel von Landschaftsgestaltung durch die Zisterzienser, in: Johannes Meier (Hrsg.): Klöster und Landschaft, Münster 2010, S. 113. 53 Holz (wie Anm. 52), S. 112. 54 Hase (wie Anm. 46), S. 286. 55 Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 167. 56 Uvo Hölscher : Kloster Loccum. Bau- und Kunstgeschichte eines Cistercienserstiftes, Hannover 1913, S. 19. 57 KAL XXVII.J.1 – 11. 58 KAL II 2,7. 59 Die Zisterzienserinnen wurden vormals von der Zisterze Loccum beaufsichtigt. Das Stift wurde vor 1430 aufgehoben und die Nonnen auf die Klöster Lilienthal und Rulle verteilt.

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nehmen, dass hier eine Klostermühle zu finden war. Des Weiteren berichtet er von einem Unwetter vom 17. bis 19. Februar 1609. Demnach fiel derartig viel Regen, dass mehrere Teichwälle gebrochen seien. Darunter war auch der mollendike.60 Entsprechend müsste dann der mollendike mit dem heutigen Brauteich gleichgesetzt werden.61 Ferner könnte im Elephanten, der großen Zehntscheune, eine Mühle installiert gewesen sein. Auch die Zehntscheune wurde vom Brauteich mit Wasser versorgt. Auf Grund von Schutt im Untergeschoss sind Grabungen und Nachforschungen kaum möglich. Anzunehmen ist vielmehr, dass die Zehntscheune neben der Funktion als Lager auch als Stallung diente.62 Nördlich des Klosters ging 1565 eine weitere Wassermühle in der coppelen abhanden. Auch diese wurde durch das Hochwasser vernichtet, welches auch die Vogelsangmühle zerstörte. Sie wurde hingegen nicht wieder aufgebaut. Stracke berichtet nur noch von Gebäuderesten.63

Die Mühlen am Meerbach Die erste urkundliche Erwähnung einer Klostermühle ist einer Urkunde aus dem Jahr 1183 zu entnehmen. Bischof Anno von Minden benennt deren Standort im Leeser Bruch. Das Kloster erwarb diese Mühle vom Stift St. Georgenberg in Goslar.64 Auch die Päpste Lucius III.65 und Gregor VIII.66 rechnen diese Mühle zum Klosterbesitz und bestätigen dies der Abtei. 1329 taucht die Mühle in einer Schenkungsurkunde Herzog Erichs von Sachsen erneut auf. Der Herzog schenkte dem Kloster Fischwehren in der Mönkebeke.67 In diesem Zusammenhang wird die Bruchmühle erwähnt. Daraus lässt sich folgern, dass die Bruchmühle unmittelbar am Meerbach gelegen war.68 Das Gefälle des Meerbaches ist für oberschlächtige Mühlen unzureichend, daher wird auch diese Mühle eine unterschlächtige gewesen sein. Nahe der Bruchmühle muss die Mühle Dusleburg gelegen haben. Der Name lässt schon vermuten, dass sie in Nähe zur Düsselburg zu suchen ist. Zwischen 60 KAL II 2,7. 61 Im Klosterbereich käme ansonsten nur noch der Kammerteich infrage, der vor den Klostermauern der Walkmühle vorgelagert war. Heute ist dieser verlandet und eine Wiese. 62 Arbeitskreis Wasserwirtschaft der Zisterzienser (wie Anm. 3), S. 167. 63 KAL II 2,7; Abbild KAL XXVI.6. 64 Wilhelm von Hodenberg: Archiv des Stifts Loccum (= Calenberger Urkundenbuch; 3. Abtheilung), Hannover 1858 (i.F.: CUB III) Nr. 6. 65 CUB III Nr. 9. 66 CUB III Nr. 17. 67 Hierbei handelt es sich um den Meerbach. 68 CUB III Nr. 735.

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1211 und 1221 schenkt Herzog Albert von Sachsen dem Kloster diese Mühle auf Mediation des Bremer Erzbischofs Waldemar.69 1225 taucht eine dritte Mühle in den Urkunden auf. Ihre Lokation kann ans Steinhuder Meer verortet werden. Graf Heinrich von Wunstorf entsagt allen Ansprüchen auf diese Mühle.70 In einer Verzichtserklärung des Klosters von 1331 gegenüber den Herzögen Wilhelm und Otto von Braunschweig und Lüneburg tritt eine vierte Mühle hervor.71

Loccums Mühlen nördlich der Zisterze um Leese und Meringen Im Leeser Gebiet lag nicht nur die Bruchmühle, sondern auch die Pavesmühle. Diese Mühle ist wieder gut durch Quellen belegt. Die Mühle wird auch als Papstmühle bezeichnet.72 1285 erwarb die Zisterze Loccum vom Edelvogt Gerhard vom Berge die Mühle.73 1318 wird sie in Streitigkeiten des Hoyaer Grafen Otto mit dem Edelvogt Wedekind vom Berge erneut erwähnt. Daraus geht hervor, dass die Pavesmühle wieder in Besitz des Edelvogts übergegangen war.74 Eine letzte urkundliche Erwähnung findet die Mühle 1468. In der Urkunde wird die Grenze des Stifts Loccum mit der Grafschaft Hoya beschrieben.75 Wird sich an der letztgenannten Urkunde orientiert, lässt sich eine mögliche Lokation rekonstruieren. Demnach muss die Pavesmühle zwischen den Stortekuhlen östlich von Osterleese und dem Hütten entweder an der Postbruchriede oder etwas nördlich davon gelegen haben.76 Auf Abbildung 6 lassen sich zudem die Mühlenbüsche ausmachen. Eine weitere Mühle kommt im wüst gefallenen Meringen hinzu. 1357 tauschte der Loccumer Konvent mit dem Zisterzienserinnenkloster Mariensee deren Mühle gegen eine Hufe Landes in Suttorf ein.77 Im nahegelegenen Marsberg 69 CUB III Nr. 43; Christoph E. Weidemann: Geschichte des Klosters Loccum, Göttingen 1822, S. 140. 70 CUB III Nr. 48. 71 CUB III. Nr. 747; Weidemann (wie Anm. 69), S. 140. 72 Nach Karl C. Schiller / August Lübben: Mittelniederdeutsches Wörterbuch. Band 2: G-L, Bremen 1876, S. 311 deutet der Mühlenname auf einen Pfau hin. Darunter ist nicht der Vogelpfau zu verstehen, sondern vielmehr ein Fasan. Das lässt nun den Schluss zu, dass es im Bereich der Mühle viele Rebhühner, Wachteln und Fasane gegeben haben muss. 73 CUB III Nr. 446. 74 Wilhelm von Hodenberg: Hoyaer Hausarchiv (= Hoyaer Urkundenbuch, 1. Abtheilung), Hannover 1855 (i.F.: Hoyaer HA I) Nr. 63; Hoyaer HA I Nr. 65. 75 CUB III Nr. 860. 76 Jes Tüxen: Besiedlung der Gemarkung Leese im Mittelalter ; in: Gemeinde Leese (Hrsg.): 800 Jahre Gemeinde Leese, Stadthagen 1983, S. 46. 77 CUB III Nr. 783.

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erwarb das Kloster 1246 vom Kloster Corvey weitere Mühlen.78 Eine genaue Anzahl ist der Urkunde nicht zu entnehmen. 1318 wird eine Mühle im Zusammenhang mit ausgebliebenen Einkünften erwähnt. Das Kloster hatte Gerhard von Lerbeck den kleinen Zehnt vorenthalten, verpflichtete sich jedoch die Zahlungen wieder aufzunehmen. Die genaue Lokation thom Rode ist nicht näher zu bestimmen.79

Die Klostermühlen der Grangien Die Mühlenwirtschaft auf der größten Grangie Oedelum Wiswe hat nachgewiesen, dass zu jeder Grangie in der Regel auch eine Wassermühle gehörte.80 Auf Loccums bedeutendster und größter Grangie Oedelum besaß das Kloster in der Frühphase der Abteigeschichte drei Mühlen. Die erste Oedelumer Klostermühle wurde von der Schaumburger Gräfin Adelheid 1185 geschenkt.81 Diese Mühle wird in den Jahren 1185 durch Erzbischof Philipp von Köln, einem Onkel Adelheids, und 1187 sowohl im Oktober als auch im November von Papst Gregor VIII. bestätigt.82 1192 wird die Mühle in einer Bestätigungsurkunde des Bischofs Berno von Hildesheim erneut erwähnt.83 Eine zweite Mühle entstammte der großzügigen Schenkung Herzog Heinrichs des Löwen aus dem Jahr 1188.84 1192 wird eine Klostermühle in einer Auseinandersetzung zwischen dem Kloster Loccum und dem Kloster St. Moritz in Hildesheim erwähnt. Papst Coelestin III. entsendete Erzbischof Adolf von Köln, den Domprobst von Köln und den Abt von Altenberg, um die Streitigkeit zwischen den Klöstern zu untersuchen.85 Die Mediation schlug allerdings fehl.86 Eine weitere Auskunft zum Mühlenstreit ist durch Quellen nicht belegbar. 78 CUB III Nr. 108. 79 CUB III Nr. 676; Hermann Hoogeweg: Westfälisches Urkundenbuch. Band 10: Die Urkunden des Bisthums Minden 1301 – 1325 (= VHKW) , 2. verb. Und erg. Aufl., Münster 1940 (i.F.: WUB X) Nr. 572 80 Wiswe (wie Anm. 21), S. 81. 81 CUB III Nr. 7. 82 CUB III Nr. 15 und CUB III Nr. 17. 83 Hermann Hoogeweg / Karl Janicke: Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe. Teil 1: Bis 1221 (= Publicationen aus den königlichen preussischen Staatsarchiven, 65), Hannover 1896 (i.F.: UB HHild I) Nr .488. Die Urkunde führt die Mühle nicht explizit an, doch da der Bischof sämtliche Klostergüter aus der Schenkung Adelheids bestätigt, ist davon auszugehen, dass die Mühle noch in Klosterbesitz war. 84 CUB III Nr. 19. 85 CUB III Nr. 22; UB HHild I Nr. 493.

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Die Hildesheimer Bischöfe traten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Gönner des Klosters hervor. Bischof Otto von Hildesheim schenkte der Zisterze im Jahr 127787 eine halbe Mühle in Helmersen88. Aber insbesondere Bischof Siegfried von Hildesheim muss ein Bewunderer der Loccumer Zisterzienser gewesen sein. Im Jahr 1281 kommt zur Schenkung Bischof Ottos eine weitere halbe Mühlenstelle hinzu.89 Ein Jahr später folgen weitere Mühlen und auch Gewässer.90 Eine genaue Mühlenanzahl ist der Urkunde nicht zu entnehmen. Auch im nahe gelegenen Mölme gelangte das Kloster Loccum in Mühlenbesitz. 1302 übertrug wiederum Bischof Siegfried von Hildesheim der Zisterze Mühlen. Auch hier ist die genaue Anzahl ungewiss.91 Eine letzte Mühlenerwähnung, die zur Grangie Oedelum hinzugezählt werden kann, stammt aus dem Jahr 1527. Hierbei handelte es sich nicht um eine Erwerbung, sondern um einen Verkauf mit Wiederkaufsrecht. Das Kloster veräußerte seine Mühlenstelle auf dem Mölmer Feld den Brüdern Johann und Hermann von Einem.92

Mühlenwirtschaft im Wunstorfer Raum – Die Grangie Kolenfeld Für die Kolenfelder Wassermühlen war vor allem der Fluss Leine von herausragender Bedeutung. Erstmalig wird für die zweitgrößte Loccumer Grangie in Kolenfeld eine Mühle für das Jahr 1244 greifbar. Die Loccumer Zisterzienser kauften von den Grafen Adolf, Ludolf und Wilbrand von Dassel fünf Hufen zu Westenem, zu denen neben Weiden, Wiesen, Wäldern und Gewässern auch Teiche und Mühlen gehören. Eine genaue Mühlenanzahl lässt sich aus den Urkunden nicht ableiten.93 Eine weitere Mühle in Westenem kam im gleichen Jahr aus dem Besitz des Hildesheimer Domkapitels hinzu. Domprobst Reinhold von Dassel und Domherr Hermann von Dassel überließen dem Kloster neben fünf Hufen und drei Hofstellen eine Mühle.94 86 CUB III Nr. 23; UB HHild I Nr. 493. 87 CUB III Nr. 363; UB HHild III Nr. 471. 88 Helmersen liegt nahe Oedelum. Damit gehörten die Mühlenstellen zur Grangienverwaltung Oedelum. 89 CUB III Nr. 406; Hermann Hoogeweg / Karl Janicke: Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe. Teil 3: 1260 – 1310 (=QDGNS, 11) , i.F.: UB HHild III, Nr. 580. Die Mühlenschenkung wird durch Bischof Siegfried einen Monat später bestätigt. Vgl. dazu CUB III Nr. 409. 90 CUB III Nr. 416. 91 CUB III Nr. 555. 92 CUB III Nr. 923. 93 CUB III Nr. 101 und CUB III Nr. 102. 94 CUB III Nr. 132; Hermann Hoogeweg / Karl Janicke: Urkundenbuch des Hochstifts Hil-

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Vom Wunstorfer Grafen Ludolf erwarb das Kloster 1271 eine Mühle im nahe gelegenen Ewip.95 Die Mühle wird in einer Auseinandersetzung zwischen der Abtei und den Brüdern Rumeschottelen Johannes, Ludwig und Everhard sowie dessen Sohn Everhard erwähnt. In diesem Streit ging es unter anderem um die Klostermühle in Ewip. Die Kontrahenten sollen dem Kloster die Mühle abgebrannt haben. Die Mühle wurde später von den Brüdern wieder errichtet.96 Des Weiteren zählt die 1241 vom Grafen Heinrich von Oldenburg erworbene Mühle in Seelze zum Grangienbesitz hinzu.97 Für das Jahr 1247 ist eine zweite Mühle in Seelze belegt. Pfarrer Warmann veräußerte seine Mühle dem Kloster. Als Gegenleistung verpflichtete sich das Kloster eine lebenslange Rente auszuzahlen.98 Die Mühle ist in den Urkunden ein zweites Mal belegbar. Derselbe Pfarrer Warmann erbat sich vom Grafen Konrad von Wölpe zwei Morgen Land, um von den Einnahmen die Reparatur der Mühle begleichen zu können. Die Mühle wurde durch ein Hochwasser beschädigt.99 Nach dem Tod des Pfarrers im Jahre 1276 wird die Mühle vom Domherr Reinhard von Minden dem Kloster übertragen.100 Dieselbe Mühle wird ein Jahr darauf erneut erwähnt.101 Es ist gut denkbar, dass diese Mühle in einem mehrjährigen Streit zwischen dem Kloster und Ludolf Gethlethe und Otto von Herbergen erneut durch mehrere Quellen belegbar ist. Aber es könnte sich dabei auch um eine weitere andere Klostermühle handeln. Um 1280 tritt diese Mühle das erste Mal urkundlich hervor. Die Besitzstreitigkeiten werden letztlich zu Gunsten der Zisterzienser beigelegt.102 1282/83 wird die Mühle erneut aus gleichen Gründen genannt.103 Erst 1294 wurde der Konflikt endgültig beigelegt. Otto von Herbergen verzichtete ausdrücklich auf sämtliche Ansprüche an der Mühle.104 Aus jener

95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

desheim und seiner Bischöfe. Teil 2: 1260 – 1310 (=QDGNS, 6) , i.F.: UB HHild II, Nr. 723; Nathalie Kruppa: Die Grafen von Dassel (1097 – 1337/38) (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 42), Bielefeld 2002, Nr. 292. CUB III Nr. 317; Weidemann (wie Anm. 69), S. 133; A. Ulrich: Zur Geschichte der Grafen von Roden im 12. und 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersächsische Geschichte 1887, (i.F.: Roden) Nr. 142. KAL II 2,7. CUB III Nr. 87; WUB VI Nr. 348; UB OL Nr. 104. CUB III Nr. 112; Burchard Christian von Spilcker : Geschichte der Grafen von Wölpe und ihrer Besitzungen. Aus Urkunden und anderen gleichzeitigen Quellen zusammen gestellt (= Beiträge zur älteren deutschen Geschichte), Arolsen 1827 , (i.F.: UB Wölpe) Nr. 38. CUB III Nr. 149. CUB III Nr. 348. CUB III Nr. 360. CUB III Nr. 359; Roden (wie Anm. 95) Nr. 162. CUB III Nr. 426. CUB III Nr. 503.

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Urkunde geht auch die mögliche Lokation hervor. Die Mühle soll am Bach Riede gelegen haben. 1364 taucht in einer Urkunde eine nächste Mühle auf. Die Abtei bekam vom Kloster Marienwerder den Erbzins für eine Mühle zu gesprochen.105 In Lohne ist ein Mühlenbesitz seit 1270 verbrieft. Loccum bekam von den Edelherren Gottschalk und Ludolf von Plesse eine Mühle übertragen.106 1441 kommt die Mühle in den Urkunden nochmals vor. Loccum verpfändete die Mühle auf Lebenszeit dem Grafen Julius von Wunstorf und dessen Sohn Ludolf.107 1456 traf das Kloster gemeinsam mit dem Herzog Wilhelm von Braunschweig und Lüneburg die Entscheidung, den Mühlenbetrieb einzustellen. Fortan sollten sich die Klöster Loccum und Mariensee eine Mühle der Zisterzienserinnen teilen.108 Dieser Kontrakt lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Loccumer Mühle zu dieser Zeit in einem sehr maroden Zustand gewesen sein muss und der Mühlenbetrieb unrentabel geworden war. Entsprechend musste die Marienseer Mühle wesentlich moderner und produktiver gewesen sein. Für das Jahr 1474 notiert Abt Stracke in seiner Klosterchronik, dass die Klostermühle abgebrannt und vom Kloster wieder errichtet worden sei.109 Eine letzte Mühle im Verwaltungsbereich der Grangie ist die Bredenmühle, auch Bradtmühle genannt, in Ohndorf. Die am Bach Kerspau gelegene Mühle wurde von Graf Johann von Wunstorf 1298 geschenkt.110 Stracke erwähnt, dass die Mühle sich zu seinen Lebzeiten im Besitz der Schaumburger Grafen befindet, er jedoch keine Aufzeichnungen finden kann, wie die Mühle in deren Eigentum übergekommen ist.111

Kauf von Mühlen im Wesertal – Mühlenbetrieb der Grangie Lahde Auch auf der Grangie Lahde konnte das Kloster Loccum mehrere Mühlen betreiben. Insbesondere durch den Kauf der Besitzungen des Dominikanerinnenklosters in Lahde gelangten deren Mühlen in Loccums Eigentum. Für die Lahder Mühlen war vor allem die Aue von Bedeutung. 1282 wird die erste Lahder Mühle erwähnt. Die Dominikanerinnen erwarben 105 CUB III Nr. 791. 106 CUB III Nr. 310; Josef Dolle: Urkundenbuch zur Geschichte der Herrschaft Plesse. (Bis 1300) (= VHKNS 37), Hannover 1998 (i.F.: UB Plesse) Nr. 242. 107 CUB III Nr. 840. 108 CUB III Nr. 851. 109 KAL II 2,7; Für diese Mühle ist nach Strackes Schilderungen sogar der Name des Müllers überliefert. Seit 1456 wurde Heineke Nottel eingesetzt. 110 CUB III Nr. 521; Roden (wie Anm. 95) Nr. 218. 111 KAL II 2,7.

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in Bodenthorpe eine Mühle.112 1299 wird eine zweite Mühle erwähnt. Die Zisterze Loccum hatte daran Anspruch erhoben. Doch konnten sich die Dominikanerinnen zunächst behaupten. Diese Mühle hat bei Gorpsen gelegen.113 Eine weitere Mühle wird im Kaufvertrag von 1306 erwähnt. In diesem Jahr gingen sämtliche Liegenschaften des Dominikanerinnenklosters in Loccumer Besitz über.114 Nach Heutger ist die Grangienmühle noch heute erhalten.115 Um welche Mühle es sich dabei genau handelt, führt er nicht näher aus.

Die Mühlen der Grangie Hamelspringe Loccums fehlgeschlagene Filialgründung entwickelte sich zu Loccums letzter Grangie. In Hamelspringe ist der alte Mühlengraben noch erhalten. Heutger konstatiert für die Grangienmühle, dass sie eine Getreide-, Säge- und Ölmühle gewesen sei.116 Da diese Mühle aber kaum, und schon gar nicht ihre Funktion, durch Quellen belegt ist, muss seine These mit Vorsicht betrachtet werden. Dass die Wassermühle nahe der Hamelquelle am Hang des Süntels errichtet worden war, ergibt hingegen Sinn. Ferner ist eine Mühle in Bakede greifbar. 1302 kaufte das Kloster vom Edelherrn Johan von Adensen dessen Liegenschaften auf, dazu zählte auch eine Mühle.117 Eine zweite Mühle erwarb das Kloster in Badeke 1318. Ebenso kam eine Mühle in Hamelspringe hinzu, doch musste das Kloster für beide vorgenannten Mühlen eine Klostermühle in Egestorf abtreten.118

Schlussfolgerung Aus den vorangestellten Darstellungen lässt sich erkennen, dass die Zisterzienser der Abtei Loccum es sehr wohl verstanden, gezielt Mühlen zu erwerben und entsprechend den topographischen Eigenschaften der Landschaft optimal zu nutzen. Stets lässt sich die Trias aus fließendem Gewässer, Teichen und Mühle 112 113 114 115

CUB III Nr. 420; WUB VI Nr. 1253. CUB III Nr. 532; WUB VI Nr. 1634. CUB III Nr. 575. Nicolaus Heutger : Das Kloster Loccum im Rahmen der zisterziensischen Ordensgeschichte. Zum 100. Geburtstag von Johannes XI. Lilje, Abt zu Loccum und zur EXPO 2000, Hannover 1999, S. 62. 116 Heutger (wie Anm. 115), S. 52. 117 CUB III Nr. 551. 118 CUB III Nr. 677.

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erkennen. Nur Loccums Mühlen am Meerbach bilden eine Ausnahme. Es konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei den Loccumer Mühlen um kleine Mühlen zumeist mit nur einem Mahlgang handelte. Unter Berücksichtigung von Größe und Topographie der Mühlenlokationen kann zudem davon ausgegangen werden, dass sowohl von ober- als auch von unterschlächtigen Mühlen die Rede sein kann. Es bleibt ferner festzuhalten, dass das Kloster in der Regel keine Mühlen errichtete, sondern gezielt Erwerbungen tätigte bzw. Schenkungen entgegennahm. Insbesondere aus den Schenkungen traten die meisten Mühlen hervor. Die diversen Klostermühlen können in vier Akkumulationsschwerpunkte eingeteilt werden: 1. Der innere Klosterbereich; 2. Meerbach: Von 1183 bis 1331 sind Mühlen in den Urkunden verbrieft. Insbesondere die 1220er Jahre stellen einen Schwerpunkt in der Belegbarkeit der Mühlen dar ; 3. Um Leese: Der Zeitraum von 1285 bis 1468 lässt sich durch die Klosterurkunden belegen; 4. Mühlen auf den Grangien: Für vier der zehn Loccumer Grangien lassen sich eindeutige Belege von Klostermühlen finden. Zudem können die Mühlen unterschiedlichen Phasen zu geordnet werden: Die Mühlen der Grangie Oedelum lassen sich in drei Phase einteilen. 1. Phase: Von 1185 bis 1192 erwarb das Kloster den Grundstock an Mühlen. Es handelt sich um die erste Expansionsphase der Grangie. 2. Phase: Zwischen 1277 und 1302 ist eine zweite Expansionsphase auszumachen. Dabei handelte es sich ausschließlich um Schenkungen der Hildesheimer Bischöfe. Daher ließe sich auch durchaus von einer Hildesheimer Phase sprechen. 3. Phase: Ab 1527 beginnt die Verkaufsphase, Mühlen wurden das erste Mal vom Kloster abgestoßen. Auch die Mühlen der Grangie Kolenfeld nahe Wunstorf können drei Phasen zu geordnet werden. 1. Phase: Zwischen 1241 und 1298 ist eine Expansionsphase zu erkennen. 2. Phase: Mit dem Jahr 1364 kommt eine kurze Zwischenphase. Die Zisterze erwarb keine Mühlen mehr, sondern gab sich mit dem Erwerb von einem Erbzins zufrieden und verstieß damit gegen Ordensstatuten. 3. Phase: Von 1441 bis 1474 sind letztmalig Mühlen urkundlich greifbar. Dabei handelt es sich aber um eine Rezessionsphase. Mühlen wurden nicht mehr erworben, sondern aufgegeben bzw. geteilt. Die Mühlen der Grangie Lahde stellen eine Besonderheit dar. Die Klostermühlen stammten gänzlich aus dem Besitz des ehemaligen Dominikanerinnenstifts Lahde, welches 1306 gänzlich in Loccumer Besitz überging. Für die Grangie Hamelspringe ist der Zeitraum von 1302 bis 1318 urkundlich belegbar. Hauptsächlich traten die Mühlen mit der misslungenen Filialgründung Hamelspringe auf. Bei der Untersuchung der Mühlenstandorte ist zunächst festzuhalten, dass nur in den seltensten Fällen eindeutig festgestellt werden kann, wo sich eine Mühle befunden hat. Oft kann nur der nähere Bereich eingegrenzt werden. Der innere Klosterbereich mit der Brauhaus- und Walkmühle bildet dabei eine

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Ausnahme. Des Weiteren konnten aber wichtige Gewässer im Loccumer Mühlenwesen lokalisiert werden. So sind vor allem die beiden großen Flüsse Weser, mit ihren Nebengewässern Fulde, Aue, Hamel und Meerbach, und Leine, mit ihren Nebengewässern Kerspau und Riede, zu konstatieren. Überdies konnte festgestellt werden, dass im Mühlenwesen der Zisterzienserabtei Loccum zwei Mühlenphasen hervortreten. Für das Mittelalter sind lediglich Wassermühlen in den Klosterurkunden auszumachen. Erst ab 1589 treten Windmühlen hinzu. Es ist nachgewiesen worden, wie vielfältig das Mühlenwesen der Zisterzienserabtei Loccum im Mittelalter und der beginnenden frühen Neuzeit war. Anhand der Klosterurkunden und der Klosterchronik und -beschreibung des Loccumer Abts Theodor Stracke kann nachvollzogen werden, wo die Zisterze ihre Mühlen besessen hat, ob es sich dabei um Wasser- oder Windmühlen handelte und wie sich das Mühlenwesen des Klosters entwickelte.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Windmühle (Kartenausschnitt aus KlA Loccum XXVI.6).

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Abbildung 2: Wassermühle. (Kartenausschnitt aus KlA Loccum XXVI.6).

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Abbildung 3: Teiche. (Kartenausschnitt aus KlA Loccum XXVI.6).

Abbildung 4: Walkmühle. (Uvo Hölscher: Kloster Loccum. Bau- und Kunstgeschichte eines Cisterzienserstiftes, Hannover 1913, Tafel 24).

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Abbildung 5: Brauhaus. (Uvo Hölscher: Kloster Loccum. Bau- und Kunstgeschichte eines Cisterzienserstiftes, Hannover 1913, Tafel 24).

Abbildung 6: Pavesmühle. (Gemeinde Leese (Hrsg.): 800 Jahre Gemeinde Leese, Stadthagen 1983).

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Die ökonomische Entwicklung des Klosters Loccum im Mittelalter bis 1589

Das Kloster Loccum wurde 1163 zwischen verschiedenen Territorien in unmittelbarer Nähe zur Luccaburg und damit alles andere als in einer menschenleeren Einöde gegründet.1 Unter ökonomischen Gesichtspunkten erwies sich dies nicht als Nachteil, denn das Kloster war in ein soziales Netzwerk eingebunden und erhielt in der Folgezeit von nahezu allen umliegenden Geschlechtern Schenkungen und Stiftungen.2 Wie die meisten Zisterzen konnte auch Loccum im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert eine umfassende Grundherrschaft aufbauen. Über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klosters Loccum ist wiederholt umfassend gearbeitet worden, wobei besonders die Arbeit von Steinmann hervorzuheben ist, die jedoch nur bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts reicht.3 Seine Darstellung aber wurde von einem historisierenden Geschichtsbild geprägt, das die Blütezeit des Klosters im 13. Jahrhundert verortet und alle nachfolgenden Perioden hieran maß: »Dem weit verzweigten 1 Allgemein zur Geschichte der Zisterzienser Immo Eberl: Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens, Stuttgart 2002. Zur Luccaburg siehe den Beitrag von Heine in diesem Band. Zur Geschichte Loccums siehe überblicksweise: Gerd Steinwascher: Loccum, in: Ulrich Faust (Bearb.): Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, München 1994 (= GermBen 12. Norddeutschland); Ders.: Loccum, in: Josef Dolle (Hrsg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, Bielefeld 2012 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung 56), S. 924 – 933. 2 Zur sozialen Verankerung Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters Loccum, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum: 1163 – 1913, hrsg. v. Kloster Loccum, Hannover 1913; Grundlegend Wolfgang Petke: Die Grafen von Wöltingerode-Wohldenberg. Adelsherrschaft, Königtum und Landesherrschaft am Nordwestharz im 12. und 13. Jahrhundert, Hildesheim 1971 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 4); Friedhelm Biermann: Der Weserraum im hohen und späten Mittelalter. Adelsherrschaften zwischen welfischer Hausmacht und geistlichen Territorien, Bielefeld 2007 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 49); Zur Anfangszeit des Klosters siehe den Beitrag von Hucker in diesem Band. 3 Wilhelm Steinmann: Der Besitz des Klosters Loccum bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Eine Studie zur Wirtschaftsgeschichte der Zisterzienser, Diss. phil. masch. Göttingen 1951.

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Baume des Zisterzienserordens, an dem einige Blätter zu welken begannen, fehlte die pflegende und heilende Hand des Gärtners.«4 Die folgende Abhandlung konzentriert sich nun auf die wirtschaftshistorische Entwicklung des Klosters Loccum im Kontext des Wandels des Zisterzienserordens wie der Region. Anders als bei anderen Klöstern muss sich eine wirtschaftshistorische Untersuchung auf die – durchaus reiche – Urkundenüberlieferung beschränken, da kaum Urbare und Rechnungsbücher überliefert sind.

Ökonomische Prosperität im hohen Mittelalter Wurde das Kloster Citeaux mit dem Ziel gegründet, eine Alternative zu den bereits bestehenden Klöstern zu bieten, so basierte dieser Reformansatz auf der Rückbesinnung auf die Regel Benedikts, wonach die Mönche nicht nur durch ihr Gebet und durch ihren Lebenswandel das ewige Heil erreichen sollten, sondern auch durch körperliche Arbeit, die zur Selbstversorgung beitrug.5 Die landwirtschaftliche Tätigkeit war also Teil der spirituellen Ausrichtung. Als aber der Umfang der von den Mönchen zu leistenden Arbeiten das Maß überschritt und sie ihre Gebetsverpflichtungen vernachlässigen mussten, nahmen die Zisterzienser Konversen auf, die als Laienbrüder manuelle Arbeit verrichteten. Diese stiegen weder in den Mönchsstand auf noch konnten sie einen neuen Abt wählen.6 Dieses Wirtschaftsmodell bot beiden Seiten Vorteile, denn die Konversen gewannen mit ihrem Eintritt in das Kloster eine gesicherte Versorgung in Notzeiten wie im Alter, während den Mönchen motivierte Arbeitskräfte zur Seite standen, die nicht entlohnt, sondern nur versorgt werden mussten.7 Das ökonomische Konzept konnte aber nur so lange funktionieren, wie die Konversen spirituelle Verdienste akzeptierten und keine materielle Entlohnung verlangten und wie ausreichend Überschüsse erzielt wurden, um den Unterhalt der alten und siechen Brüder zu sichern.8 4 Steinmann (wie Anm. 3), S. 87. 5 Markus Mayr : Die Wirtschaftsführung der Zisterzienser und das Konzept der strategischen Unternehmungsführung 2002 (= ACi 54), S. 217 – 244, hier S. 221 – 223; Hans Wiswe: Grangien niedersächsischer Zisterzienserklöster. Entstehung und Bewirtschaftung spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher landwirtschaftlicher Großbetriebe, Wolfenbüttel 1953 (= Braunschweigisches Jahrbuch 34), S. 89 – 90. 6 Wiswe (wie Anm. 5), S. 91 – 94; Grundlegend Eberhard Hoffmann: Das Konverseninstitut des Cistercienserordens in seinem Ursprung und seiner Organisation, Freiburg 1905 (= Freiburger historische Studien 1); Kassius Hallinger: Woher kommen die Laienbrüder, in: ACi 12, (1956), S. 1 – 104. 7 Vgl. Werner Rösener: Die Laienbrüder der Zisterzienser. Beruhte der ökonomische Erfolg des Ordens auf den Leistungen der Konversen?, in: Rheingau Forum 9 (2000), S. 14 – 25. 8 Hoffmann (wie Anm. 6); James S. Donelly : The Decline of the medieval Cistercian Lay-

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Das rasche Wachstum von Citeaux, die erfolgreiche Gründung von Filialklöstern und nachfolgend deren ökonomischer Erfolg führte im Jahr 1119 zur Festlegung grundlegender Prinzipien des Wirtschaftens aller Zisterzienserabteien in der Carta caritatis.9 Diese legte allgemeine ökonomische Grundsätze fest und schuf beispielsweise die Möglichkeit, dass Zisterzen zusätzliche Hilfe durch Lohnknechte erhalten sowie größeren Landbesitz zu Gutshöfen, den sog. Grangien, zusammenfassen durften. Auch wurde geregelt, dass Zisterzen keine Einkünfte aus Benefizien und aus Feudalrenten erhalten sollten, um auf diese Weise den Aufbau von Grundherrschaften zu vermeiden. Der Orden bekräftigte damit, dass die Selbstversorgung der Mönche im Zentrum stehen sollte.10 Die ökonomische Entwicklung des Klosters Loccum nahm einen eigenen Weg, der erhebliche Diskrepanzen zwischen den Verhältnissen einer weit von Citeaux entfernt gelegenen Zisterze auf der einen und den Normen und Beschlüssen des Ordens auf der anderen Seite offenbarte. Unmittelbar nach seiner Stiftung erhielt Loccum in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts knapp 100 Schenkungen.11 Die Grundstücke lagen mehrheitlich in der näheren Umgebung des Klosters. In den dann folgenden zwei Generationen wurden dem Kloster nur wenige Grundstücke übertragen. Der außerordentlich große Grundbesitz des Klosters entstand sodann zwischen ca. 1250 und dem Beginn des 14. Jahrhunderts: Hierzu trugen umfangreiche Stiftungen ebenso bei wie der weitreichende Erwerb von Grundbesitz. Politisch gesehen, konnten die Äbte das Interregnum und die politische Unsicherheit in Folge der Schwäche des Brotherhood, New York 1949 (= Fordham University Studies. Historiy Series 3), Michael Toepfer : Die Konversen der Zisterzienser. Untersuchungen über ihren Beitrag zur mittelalterlichen Blüte des Ordens, Berlin 1983 (= Berliner Historische Studien 10; Ordensstudien 4). 9 Ferenc Polyk‚rp Zakar : Die Anfänge des Zisterzienserordens. Kurze Bemerkungen zu den Studien der letzten zehn Jahre, in: ACi 20 (1964), S. 103 – 138; Siehe auch Werner Rösener : Von der Eigenwirtschaft zum Pacht- und Rentensystem. Der wirtschaftliche Strukturwandel in den niederrheinischen Zisterzienserklöstern während des Hoch- und Spätmittelalters, in: Raymund Kottje (Hrsg.): Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur, Köln / Bonn 1992 (= Zisterzienser im Rheinland 3), S. 21 – 47, hier S. 23 – 24. 10 Zu den Wirtschaftsprinzipien der Zisterzienser : Eberhart Hoffmann: Die Entwicklung der Wirtschaftsprinzipien im Cisterzienserorden während des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Historisches Jahrbuch 31 (1910), S. 699 – 727; Wolfgang Ribbe: Die Wirtschaftstätigkeit der Zisterzienser im Mittelalter, in: Kaspar Elm (Hrsg.): Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Bonn 1980, S. 203 – 216; Winfried Schich: Die Wirtschaftstätigkeit der Zisterzienser im Mittelalter. Handel und Gewerbe, in: Elm: ebd., S. 217 – 236; Neuer Werner Rösener : Zur Wirtschaftstätigkeit der Zisterzienser im Hochmittelalter, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 30 (1982), S. 117 – 148; Ders.: Die Zisterzienser und der wirtschaftliche Wandel des 12. Jahrhunderts, in: Dieter R. Bauer / Gotthard Fuchs (Hrsg.): Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, Innsbruck 1996, S. 70 – 95. 11 Vgl. Ursula-Barbara Dittrich: Urkundenbuch Loccum (i. F.: UBLD), Nr. 26.

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Königtums und des Ausbaus fürstlicher Macht nutzen12 und erlangten zahlreiche Stiftungen. Doch die Äbte verfolgten zugleich eine eher vorsichtige Besitzpolitik im Kontext der politischen und sozialen Netzwerke des regionalen Adels, um Streitigkeiten mit den benachbarten Fürsten zu vermeiden. Auseinandersetzungen wie zum Beispiel mit dem Ritter Ulrich von Bothmar bereits wenige Jahre nach der Gründung des Klosters waren selten.13 In anderen Streitfällen wurde eine Entscheidung beispielsweise dem Bischof von Hildesheim, dem Bischof von Minden, dem Grafen von Schaumburg oder seinem Vogt, dem Rat der Stadt Bremen oder auch dem Bischof von Halberstadt, im späten Mittelalter dann auch den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg übertragen.14 In der komplizierten geographisch-politischen Lage des Klosters versuchten die Äbte die einzelnen Parteien wechselseitig auf Distanz zu halten und erhielten eben hierfür päpstlichen Schutz für die Ländereien.15 Wiederholt gelang es daher auch, zugunsten der Interessen des Klosters Loccum päpstliche Privilegien zu erhalten.16 Ferner erhielt der Konvent wiederholt Ablaßprivilegien, die mit hoher Sicherheit in wesentlichem Maß zu einer Steigerung der Einnahmen führten, deren Umfang allerdings nicht bekannt ist.17 Geographisch schuf Loccum mehrere Besitzschwerpunkte: Am wichtigsten war der Besitz in der unmittelbaren Umgebung des Klosters. Hinzu traten der nach Norden bis in die Grafschaft Hoya reichende Raum, Besitz entlang der Weser, Besitzungen um Wunstorf und Umgebung, bei Ödelum, in der Umgebung von Rinteln und am Deister. Innerhalb der ersten ca. 150 Jahre gelang es dem Kloster, den gesamten nach Süden, Osten und Westen im Umkreis von gut einer Tagesreise reichenden Besitz zu einer geschlossenen Grundherrschaft umzuformen.18 Wie auch andere Zisterzen hob das Kloster dabei in seinem Kerngebiet Höfe und Dörfer zugunsten der eigenen Grundherrschaft auf, obwohl die Statuten des Ordens solches untersagten.19 Nach Norden grenzten Moor- und Waldgebiete an den Klosterbesitz, die das Kloster nach und nach 12 Siehe u. a. UBLD, Nr. 171 und 202. 13 Ebd., Nr. 13. 14 Hildesheim: Ebd., Nr. 19; Minden: Ebd., Nr. 124, auch 351, 487, 522, 735, 747, 777, 954, 1328 und 1472; Schaumburg: Ebd., Nr. 317, 588 und 795; Bremen: Ebd., Nr. 638; Halberstadt: Ebd., Nr. 816; Herzöge von Braunschweig-Lüneburg: Ebd., Nr. 1250 und 1362. 15 Ebd., Nr. 14 und 15. 16 Ebd., Nr. 21, 135, 379, 380, 571, 572, 978, 1004, 1005, 1040, 1078, 1081, 1083, 1165, 1391 und 1392. 17 Ebd., Nr. 108, 137, 291, 353, 354, 357, 361, 362, 363, 364, 365, 376, 495, 699, 779, 784, 785, 799, 986, 1166, 1167 und 1216; Siehe auch Uvo Hölscher: Kloster Loccum. Bau- und Kunstgeschichte eines Cisterzienserstiftes, Hannover 1913, S. 6 – 7. 18 Wilhelm Steinmann: Das Kloster und seine Wirtschaftspolitik im Mittelalter, in: Horst Hirschler / Ernst Berneburg (Hrsg.): Geschichten aus dem Kloster Loccum. Studien, Bilder, Dokumente, Hannover 1980, S. 196 – 205, hier S. 200. 19 Vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 33 – 34.

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erwarb und sodann rodete und besiedelte. Diese Ländereien waren von den Zehntzahlungen befreit und boten damit ökonomische Vorteile.20 Teilweise wurde abgelegener Grundbesitz gegen geographisch besser gelegene Höfe getauscht.21 Auch aber expandierte Loccum durch Zukauf von Grundstücken von Adligen, so dass dem Kloster bis 1297 die weitgehende Arrondierung des Klosterbesitzes gelang.22 Loccum also schuf einen Raum unumschränkter ökonomischer Herrschaft, dem weitere Gebiete in etwas Entfernung zugeordnet waren und in Abhängigkeit vom Kloster bewirtschaftet wurden. Auch hierin entwickelte sich Loccum synchron zu anderen Zisterzen, doch wie bei diesen stand das Wachstum in einem Gegensatz zu den Normen des Ordens, der die Bildung einer geschlossenen Grundherrschaft untersagte. Zugleich profitierte das Kloster von den klimatisch guten Bedingungen des ausgehenden 13. Jahrhunderts. Letztlich war die kostengünstige Grundherrschaft einschließlich neuer Anbaumethoden wie einer optimierten Fruchtwechselfolge der wichtigste Faktor für die ökonomische Prosperität.23 Der Reichtum des Klosters und seine Macht standen in unmittelbarer Beziehung zueinander und ermöglichten der Zisterze Zukäufe besonders entlang der Weser wie auch im Raum des Deister. Von wesentlicher Relevanz war beispielsweise der Erwerb von Gütern bei Lahde an der Weser, wo Besitzübertragungen an das Kloster Loccum in Konkurrenz zu dem 1265 gegründeten Dominikanerinnenkloster standen.24 Als dieses dann 1306 in ökonomische Probleme geraten war und schließlich nach Lemgo umgesiedelt werden musste, erwarb Loccum den Besitz sowie weitere angrenzende Ländereien und gründete eine langfristig bedeutende Grangie.25 Eine zweite Grangie sollte bei Ödelum erwachsen. Dort hatte die Gräfin Adelheid von Schaumburg dem Kloster im Jahr 1185 18 Hufen Land und eine Mühle geschenkt.26 Nach einer weiteren Schenkung von 18 Hufen und 2 Mühlen durch Heinrich den Löwen nutzte das Kloster seine guten Kontakte zum Bischof von Hildesheim, um in Ödelum eine Grangie aufzubauen und damit die unmittelbare Kontrolle über die Ödelumer Grund-

20 Steinmann (wie Anm. 18), S. 200. 21 UBLD, Nr. 211, 313, 395, 658, 698, 1008 und 1058. 22 Ausführlich Steinmann (wie Anm. 18), S. 198 – 199; Siehe für 1230er Jahre bspw. UBLD, Nr. 67, 71, 73, 74, 77 und 79. 23 Siehe hierzu grundlegend Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 2. Aufl. Hamburg 1966, S. 27 – 31; Werner Rösener: Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 16 – 22. 24 UBLD, Nr. 251, 298 – 300, 304, 306, insb. Nr. 522, 569 und 575. 25 UBLD, Nr. 639 und 640; Steinmann (wie Anm. 3), S. 80 – 83; hierzu Wiswe (wie Anm. 5), S. 44. 26 UBLD, Nr. 12 und 19.

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herrschaft auszuüben.27 Zugleich versuchten die Äbte, mögliche Rechte Dritter auf den erworbenen Grundstücken zu übernehmen in dem Bemühen, sämtliche Rechte am Besitz innezuhaben.28 Die Grangie war allerdings kein vollkommener Schutz vor Fehlentscheidungen und damit vor wirtschaftlichen Verlusten. Hinzu kam, dass in Ödelum kaum Konversen eingesetzt werden konnten und weiterer, noch einmal in größerer Distanz zum Kloster gelegener Besitz hinzukam, so dass der Abt entschied, besonders den entfernt gelegenen Streubesitz zu verpachten.29 Damit aber verstieß das Kloster Loccum – wie viele andere Zisterzen allerdings auch – gegen eine weitere Bestimmung der Carta caritatis. Weitere Zuwiderhandlungen kamen hinzu:30 Das Kloster hielt und erwarb Zehnt- und Weiderechte.31 Noch wichtiger war, dass das Kloster bereits mit der Annahme der Schenkung gegen die Regeln seines Ordens verstieß, wonach Besitzungen nicht weiter als eine Tagesreise entfernt sein durften.32 Für den Loccumer Abt hatte die Verbesserung der ökonomischen Lage des Konvents eine größere Bedeutung als das Befolgen der Statuten des Ordens und der Beschlüsse des Generalkapitels.33 Die in Ödelum vorgefundene Siedlungsstruktur wurde umgeformt und für den in der Pfarrkirche tätigen Pfarrer wurde eine Rente ausgesetzt, damit dieser die Möglichkeit erhielt ein neues Benefizium zu erhalten, um anschließend die Pfarrstelle mit einem der Loccumer Mönche zu besetzen.34 Die Inkorporation der Pfarrstelle bot dem Kloster den Vorteil, die Einnahmen des Benefiziums vollständig einziehen zu können, während die zusätzlichen Ausgaben für den mit der Seelsorge betrauten Mönch nur gering waren. Auch weiterhin unterschied sich die Zisterze Loccum damit von anderen Klöstern – allerdings in anderer Weise als ursprünglich von Robert de Molesme und Stephen Harding gedacht: Ökonomisch richteten die Loccumer Äbte ihr Handeln weniger an der Qualität der Seelsorge als vielmehr an einer fortlaufenden Steigerung der Einnahmen aus. Der wachsende Reichtum des Klosters wird auch in dem sich verändernden Verhältnis zu den Mindener Bischöfen sichtbar : Hatten diese in der Gründungsphase des Klosters zu den Förderern gehört, so erwarben die Äbte nun von den Bischöfen Land, das wegen zu hoher Schulden verkauft

27 Ebd., Nr. 17; hierzu Steinwascher (wie Anm. 1), S. 925; Zur Grangie in Ödelum siehe UBLD, Nr. 10 und 12, 19, 21 und 22. 28 Steinmann (wie Anm. 18), S. 199 und 204. 29 Vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 27. 30 Grundlegend zu den Diskrepanzen zwischen der politisch-ökonomischen Wirklichkeit und den juristischen Rahmenbedingungen Bernhard Nagel: Norm und Wirklichkeit des Zisterzienserordens, Leipzig 1996. 31 UBLD, Nr. 39. 32 Steinmann (wie Anm. 3), S. 20. 33 Vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 26. 34 Wiswe (wie Anm. 5), S. 65; Siehe auch UBLD, Nr. 200, 202, bes. Nr. 217 und 226.

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werden musste.35 Letztlich half das Kloster damit dem Bistum, zu dem auch weiterhin sehr gute Kontakte bestanden. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bewirtschaftete Loccum also besonders die in seiner Nähe gelegenen Güter selbst und führte die Erträge besonders seiner eigenen Küche zu. Die weiter entfernt gelegenen Grangien waren leistungsstarke Agrargroßbetriebe mit dem Ziel der Erwirtschaftung hoher Überschüsse, die zum überwiegenden Teil in den Verkauf gingen. Hinzu kamen die Abgaben der Grundholden, da beispielsweise die Nachkommen eines verstorbenen Hörigen eine Abgabe zu leisten hatten.36 Zweitens erbrachte die Verpachtung von Höfen und Grundstücken, auch von Mühlen, Fischteichen und Köhlerstellen, wichtige Einnahmen. Drittens stand dem Kloster in Folge der inkorporierten Pfarrkirchen vielfach der Zehnte zu. Insgesamt besaß das Kloster um 1330 an über 170 Orten Grundbesitz.37 Für die Leistungsfähigkeit der Grundherrschaft stehen auch die mindestens zehn (Wasser-)mühlen, die es um 1450 gab.38 Letztlich also wurde die Wirtschaft Loccums von einer Mischung verschiedener Formen der Eigen-, Pacht- und Abgabenwirtschaft geprägt.39 Die wirtschaftliche Blüte Loccums sowie der übrigen besonders deutschen Zisterzen ergab sich aus einer gerade symbiotischen Beziehung zu den prosperierenden Städten, die sich als Absatzmärkte für die erwirtschafteten Überschüsse anboten. Es war daher nur konsequent, dass Loccum im nahegelegenen Hannover einen Hof kaufte, um über diesen Korn, Obst und Vieh in die Stadt zu bringen und dort zu verkaufen.40 Im Jahr 1279 erwarb das Kloster zwei Buden und verbesserte damit die Möglichkeiten des Direktvertriebs.41 Schließlich wurde im Jahr 1299 ein weiteres Haus in Hannover erworben sowie 1320 ein drittes gebaut.42 Etwa zur gleichen Zeit brachte man 1295 drei Häuser in Minden an sich.43 Weitere Stadthöfe besaß Loccum in Bremen, Herford und Stadthagen.44 Letztlich nutzte der Konvent im Nah- wie im Fernbereich alle verfügbaren Absatzmöglichkeiten und nutzte hierfür die nahegelegenen Flüsse als Transportrouten. Eine unmittelbare Konkurrenz zu anderen Zisterzen, die wie Amelungsborn, Marienrode, Walkenried oder nach Hildesheim oder Braunschweig

35 Siehe bspw. UBLD, Nr. 224, 244, 245, 551 und 813. 36 Otto zu Hoene: Die Grundherrschaft des Klosters Bersenbrück 1516 – 1639, Quakenbrück 1968, S. 10 – 12. 37 Detaillierte Auflistung bei Schultzen (wie Anm. 2), S. 221 – 235. 38 Ebd., S. 221. 39 Vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 38. 40 UBLD, Nr. 531; Siehe hierzu Hölscher (wie Anm. 17), S. 3. 41 UBLD, Nr. 378 und 388. 42 Ebd., Nr. 574 und 803; Hierzu kurz Steinemann (wie Anm. 25), S. 63. 43 UBLD, Nr. 544. 44 Wiswe (wie Anm. 5), S. 126.

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ausgerichtet waren, wurde vermieden.45 Damit handelte Loccum nicht anders als die übrigen norddeutschen Zisterzienserklöster auch, die alle in mindestens vier Städten einen Stadthof hatten.46 Diese Häuser dienten nicht nur dem Verkauf der Nahrungsmittel, sondern auch dem Einkauf spezieller Güter ; sie waren Geldanlagen und wurden von den Äbten und weiteren Mitgliedern des Konvents als repräsentative Unterkünfte in den Städten genutzt.47 Einerseits galten verkehrstechnisch abgelegene und wirtschaftlich autarke Klöster als Ideal der Zisterzienser, doch ließen sich andererseits diese Idealvorstellungen nicht erreichen, da auch Zisterzen beispielsweise Rohstoffe wie Eisen oder Nahrungsmittel wie Salz auf Märkten erwerben mussten. Die Statuten des Ordens erlaubten deswegen den Besuch nahegelegener Märkte.48 Der Erwerb von Stadthöfen intensivierte diese Beziehungen und die Leiter der Stadthöfe fungierten als ökonomisch einflussreiche Bevollmächtigte des jeweiligen Klosters.49 Allerdings ist über die für das Kloster Loccum agierenden Vorsteher der Stadthöfe nichts bekannt. Teilweise erwarben Zisterzienser auch Bürgerrechte.50

45 Amelungsborn: Nathalie Kruppa / Diana Schweitzer : Amelungsborn, in: Josef Dolle (Hrsg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, Bielefeld 2012 (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung 56), S. 8 – 20; Marienrode: Ulrich Knapp: Marienrode, in: Ebd., S. 1006 – 1015; Walkenried: Josef Dolle, in: Ebd., S. 1471 – 1487. 46 Wiswe (wie Anm. 5), S. 126 – 127; Yu-Kyong Kim: Die Grundherrschaft des Klosters Günterstal bei Freiburg im Breisgau, München 2002 (= Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte XIV), Freiburg / hier S. 108 – 121. 47 Werner Rösener : Die Stadthöfe der Zisterzienser im Spannungsfeld der Stadt-Land-Beziehungen des Hochmittelalters, in: Claudia Dobrinski (Hrsg.): Kloster- und Wirtschaftswelt im Mittelalter, München 2007 (= MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 15), S. 85 – 99, hier S. 98 f. 48 SCGOC 1, S. 24 – 25. 49 Schich (wie Anm. 10), S. 226; Rösener (wie Anm. 47), S. 90 – 91; Ausführlich zu den Stadthöfen der Zisterzienser Reinhart Schneider : Stadthöfe der Zisterzienser. Zu ihrer Funktion und Bedeutung, in: Zisterzienserstudien 4 (1979), S. 11 – 28; Gerd Steinwascher: Die Zisterzienserstadthöfe in Köln, Bergisch Gladbach 1981; Walter Haas / Wolfgang Cramer: Klosterhöfe in norddeutschen Städten, in: Cord Meckseper (Hrsg.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 – 1650. Ausstellungskatalog Landesausstellung Niedersachsen 1985, Bd. 3, Stuttgart 1985, S. 399 – 441; Jürgen Treffeisen: Die Breisgaukleinstädte Neuenburg, Kenzingen und Edingen in ihren Beziehungen zu Klöstern, Orden und kirchlichen Institutionen während des Mittelalters, Freiburg / München 1991; Zuletzt Jürgen Sydow: Stadtpolitik der mittelalterlichen Zisterzienser, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 106 (1995), S. 121 – 131. 50 Kim (wie Anm. 46), S. 109.

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Ökonomische Schwierigkeiten im späten Mittelalter und im 16. Jahrhundert Ab dem beginnenden 14. Jahrhundert verlangsamte sich das ökonomische Wachstum Europas wie des Klosters Loccum. Hinzu kamen eine Verschlechterung des Klimas und ein demographischer Wandel, der durch die Pest abrupt verstärkt wurde.51 Das Wachstum der vergangenen Jahrhunderte verkehrte sich zu einer Rezession, in Folge dessen auch die Zisterzen in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts notierten auch die Loccumer Äbte, dass Überschwemmungen wie beispielsweise in den Jahren 1342 und 1377 immense Schäden am Kloster und seinen Vorräten anrichteten sowie Krankheiten den Viehbestand reduzierten.52 Anfangs konnten die Äbte noch auf die Liquiditätsreserven zurückgreifen, die sie gemäß den Statuten des Ordens hatten anlegen müssen.53 Spätestens mit der Pest traten kaum noch Konversen in das Kloster ein. Ernteausfälle brachten den Konvent in Schwierigkeiten. Der abrupte demographische Wandel führte zu einer deutlichen Zunahme der Mobilität bei den landwirtschaftlich Tätigen, die überdies Lohnforderungen durchsetzen konnten. Die soziale Unsicherheit führte zu einem drastischen Rückgang der Stiftungen. Das Kloster Loccum musste Kredite aufnehmen, um seine Verpflichtungen zu erfüllen.54 Ab den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts mussten die Äbte Grundbesitz verkaufen, um die Ausgaben zu decken.55 Zwar hatten sie auch schon in den vergangenen Jahrhunderten im Zuge der Besitzarrondierung unrentablen Streubesitz abgestoßen, um die Effektivität zu steigern, doch hieraus wurde nun eine dauerhafte Besitzreduktion, denn auch wenn sich das Kloster jeweils das Recht auf Wiederkauf zusichern ließ, so konnte hiervon nur selten Gebrauch gemacht werden.56 Pfründen mussten neu ausgestattet oder konnten lange Zeit nicht besetzt werden.57 Hatte Loccum aber im 13. Jahrhundert aufgrund seiner überragenden Wirtschaftskraft Besitz benachbarter Adliger übernehmen können, so verkehrten sich die Verhältnisse im 14. Jahrhundert nun in ihr Gegenteil, denn das Kloster hatte Schulden bei den umliegenden 51 Rüdiger Glaser : Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, 2. Aufl. Darmstadt 2008, überblicksweise S. 202. 52 Hölscher (wie Anm. 17), S. 10; Zu den Überschwemmungen des Klosters siehe auch den Beitrag von Sosnitza in diesem Band. 53 Mayr (wie Anm. 5), S. 236. 54 Hölscher (wie Anm. 17), S. 10. 55 Steinmann (wie Anm. 3), S. 94. 56 Steinmann (wie Anm. 18), S. 202; vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 42. 57 UBLD, Nr. 1007 und 1015.

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Großen.58 Den zahlreichen Grundstücksabgängen zwischen 1332 und 1450 standen lediglich sechs Zugänge in Folge von Stiftungen gegenüber.59 Umso wichtiger wurden für das Kloster die inkorporierten Pfarrkirchen, da die Pfarrangehörigen regelmäßig ihre Abgaben leisten mussten und somit zum finanziellen Unterhalt des Klosters beitrugen.60 Anfangs sicherten die großen Wirtschaftseinheiten wie in Ödelum und Lahde dem Kloster wesentliche Einnahmen, doch in Folge der abnehmenden Anzahl an Mönchen bereitete die effektive Kontrolle der Grangien immer größere Mühe.61 Lahde wurde daher Anfang des 15. Jahrhunderts in vier Höfe aufgeteilt, die einzeln an Meier verpachtet wurden.62 Das Kloster stellte zunehmend auf Rentengrundherrschaft um und unterschied sich nachfolgend kaum noch von den benachbarten weltlichen und geistlichen Grundherren.63 Lediglich die Besitzungen in unmittelbarer Nähe des Klosters wurden im 15. Jahrhundert noch vom Kloster selbst bewirtschaftet.64 Dennoch waren die ökonomischen Schwierigkeiten Loccums geringer als die vieler anderer Klöster65, obgleich die Selbstversorgung mancher Zisterzen mangels Konversen gefährdet war und die Stiftungsverpflichtungen nur noch mit Mühe oder gar nicht erfüllt werden konnten. Die Nachhaltigkeit der Wirtschaftsführung der Zisterzen schien gerade auch in Frage gestellt, weil zunehmend Kritik an der Disziplin der Konvente aufkam. Papst Benedikt XII., selbst Zisterzienser, versuchte daher 1335 eine Reform des Ordens.66 In Bezug auf die Ökonomie der Klöster wurde festgelegt, dass Grundbesitz nur im absoluten Ausnahmefall verkauft werden dürfe, wobei sodann Abt und Konvent gemeinsam handeln und die Zustimmung des Generalkapitels oder gar der Kurie einholen mussten.67 Dies schwächte die Position der Äbte und stärkte die Konvente, die zu erheblichen Teilen aus Mitgliedern des regionalen Adels bestanden, denen die Einhaltung der Stiftungsverpflichtungen am Herzen lag. Sie konnten auf diese Weise auch die Interessen ihrer Familien sowohl bei der Verpachtung als auch und besonders beim Verkauf von Gütern einbringen. Letztlich kreisten die Schwierigkeiten des Klosters um drei Bereiche, nämlich 58 Steinmann (wie Anm. 3), S. 95 – 96. 59 Ebd., S. 91. Immer wieder ließ sich das Kloster zwar ein Rückkaufrecht zusichern, konnte dieses aber nicht wahrnehmen, siehe bspw. UBLD, Nr. 1020 und 1024. 60 Ebd., S. 93. 61 Steinmann (wie Anm. 18), S. 202. 62 Lahde: im 15. Jahrhundert Aufteilung der Grangie Lahde in 4 Meierhöfe: UBLD, Nr. 1164, 1190, 1386; hierzu Steinmann (wie Anm. 3), S. 82. 63 Vgl. Rösener (wie Anm. 9), S. 42 – 43. 64 Steinmann (wie Anm. 3), S. 79. 65 Eberl (wie Anm. 1), S. 303. 66 Ebd., S. 297 – 311. 67 Ebd., S. 299 – 300; Zu Loccum Steinmann (wie Anm. 3), S. 87 – 88.

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erstens um den Unterhalt eines kleiner werdenden Konvents, der keine wie noch 100 Jahre zuvor üblichen Zuwendungen erhielt und dem weniger als zuvor Konversen beitraten. Zweitens gelang keine Reduktion der Stiftungsverpflichtungen, da mehrheitlich aus dem regionalen Adel stammende Stifterfamilien mit Recht und konsequent die Erfüllung der Stiftungsverpflichtungen forderten. Drittens mussten erhebliche Teile der Einnahmen für die Bedienung der Schulden aufgewendet werden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelang es den Äbten des Klosters Loccum nun sehr mühsam, durch den Verkauf von einzelnen Hufen, durch den Tausch von Gütern, durch die beschwerliche gerichtliche Durchsetzung verbriefter Rechte und Besitztümer einen im Umfang reduzierten Klosterbesitz zu festigen und die Einnahmen zu stabilisieren.68 In Hannover musste ein Teil der vom Kloster gehaltenen Häuser verkauft werden, während man gleichzeitig den Besitz in Minden vergrößern konnte.69 Dem Wunsch zahlreicher Grundholden nach Freilassung gab das Kloster gegen Erhalt teils substantieller Summen nach.70 Auch nahmen Anzahl und Umfang der dem Kloster zu Gute kommenden Stiftungen allmählich zu.71 Im Zuge einer Visitation wurde im Jahr 1504 konstatiert, dass die Schulden des Klosters beglichen waren. Auch verfügte es über immerhin 40 Mönche.72 Allein der Zehnte erbrachte dem Kloster jedes Jahr 72 Fuder Roggen, 66 Fuder Gerste und 85 Fuder Hafer.73 Die wirtschaftliche Wende in Form einer Entschuldung gelang jedoch erst mit der Öffnung des Klosters zum städtischen Bürgertum, weil mit den neuen Konventsmitgliedern in erheblichem Umfang neues Kapital eingebracht wurde.74 Auch wenn andere Zisterzen bereits wesentlich früher von dem ökonomischen Aufschwung erfasst worden waren, so hatte sich das Kloster Loccum zu Beginn des 16. Jahrhunderts wieder stabilisiert.75 Der Erfolg aber war nur von kurzer Dauer : Mit der Einführung der Reformation sahen sich die Klöster mit der Auffassung konfrontiert, keine Existenzberechtigung mehr zu haben. Hinzu kam 1519 der Ausbruch der Hildesheimer Stiftsfehde, in deren Verlauf Loccum zwischen die Fronten geriet.76 Hatte 68 Schulzen (wie Anm. 2), S. 62 – 63. 69 Hannover : UBLD, Nr. 1197 und 1250 – 1251; Minden: Ebd., Nr. 1201, 1222; Schulzen (wie Anm. 2), S. 63. 70 UBLD, Nr. 1135, 1136, 1145, 1199, 1203 – 1204, 1206, 1218, 1223 etc. 71 Schulzen (wie Anm. 2), S. 63. 72 Ebd., S. 66. 73 Ebd., S. 67. 74 Hölscher (wie Anm. 17), S. 11; Schulzen (wie Anm. 2), S. 65. 75 Rösener (wie Anm. 9), S. 44. 76 Manfred von Boetticher : Niedersachsen im 16. Jahrhundert, in: Christine van den Heuvel / Ders. (Hrsg.): Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1998 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVI; Geschichte Niedersachsens 3,1), S. 35 – 39.

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Loccum über Jahrhunderte hinweg die Fürsten der benachbarten Territorien zu seinen Gunsten auf Distanz halten können, so lag es nun in einer Zone, die von Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Linien der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, des wachsenden Einflusses der Landgrafen von Hessen und des habsburgischen Vordringens geprägt war.77 Ab den zwanziger Jahren näherten sich die Mindener Bischöfe und das Domkapitel nach und nach der lutherischen Lehre an.78 Dabei war die komplizierte politische Gesamtsituation in Norddeutschland von Bedeutung, da das Bistum Münster 1508 mit Franz I. von Braunschweig-Wolfenbüttel unter den Einfluss der Welfen aus der Linie Braunschweig-Wolfenbüttel geriet. Sein Bruder Heinrich der Jüngere regierte ab 1514 über das Herzogtum Braunschweig Wolfenbüttel. Gemeinsam stellten sie sich in der Hildesheimer Stiftsfehde auf die Seite des Adels und kämpften gegen den Hildesheimer Bischof. Das Kloster Loccum wurde 1519 geplündert und seine Besitzungen wurden verwüstet. Die anschließende Bestandsaufnahme erbrachte, dass die Verluste und die neuerlichen Schulden das restliche vorhandene Bargeld bei Weitem überstiegen.79 Ein Teil der finanziellen Schwierigkeiten des Klosters im 16. Jahrhundert war selbstverschuldet. Die erhaltenen Rechnungsbücher beispielsweise des Zeitraums 1553 bis 1568 sind Reinschriften, die aus Notizzetteln zusammengestellt und manche dieser in die Bücher eingelegt worden sind. Auf ihnen notierte man die Einnahmen und differenzierte dabei zwischen den verschiedenen Orten, an denen man Grundbesitz hielt. Den Rechnungen ist aber nicht zu entnehmen, dass Abt und Konvent systematisch alle ausstehenden Einnahmen notierten und einzutreiben versuchten. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass ein Urbar den Verantwortlichen die Arbeit erleichterte, und auch wurden in den Rechnungen einzelne Posten wieder gestrichen, nachdem die entsprechenden Außenstände beglichen worden waren, aber die Rechnungsbücher enthalten nur teilweise Jahressalden. Sie wurden also mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nicht zur Rechnungsprüfung verwendet, da Einnahmen und Ausgaben nicht spaltenweise geschrieben wurden und ein Addieren der Posten folglich nur schwer möglich war.80 Manches spricht also dafür, dass der Abt keinen exakten Überblick über die Einnahmen und Ausgaben seines Klosters hatte. Die Auseinandersetzungen im Anschluss an die Hildesheimer Stiftsfehde 77 Ebd., S. 39 – 45. 78 Hans Nordsiek: Vom Fürstbistum zum Fürstentum Minden. Verfassungsrechtliche, politische und konfessionelle Veränderungen von 1550 bis 1650, in: Westfälische Zeitschrift 140 (1990), S. 253 – 273. 79 Schulzen (wie Anm. 2), S. 67. 80 Zur Rechnungslegung Arnd Reitemeier : Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters: Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Stuttgart 2005 (= Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 177), S. 60 – 72.

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waren weniger gewaltreich aber für das Kloster ebenfalls kostspielig: Während Heinrich der Jüngere konsequent am alten Glauben festhielt, vertrat Franz von Minden eine konfessionell tolerante Politik. Auch nach innen verfolgten beide Brüder sehr ähnliche Ziele, indem sie versuchten, alle Möglichkeiten zur Steigerung ihrer Einnahmen auszuschöpfen. Obwohl er dem Kloster noch 1509 seine Besitztümer und Rechte bestätigt hatte, überfiel er doch den Lahder Bruch mit dem Dorf Rosenhagen.81 Auch zwang er die Einwohner von Wiedensahl zu einem Diensteid.82 Beide Besitzungen lagen in einiger Distanz zum Kloster, doch das Kloster war nicht bereit, die Verluste zu akzeptieren, so dass Abt und Konvent gegen den Bischof klagten und letztlich auch Recht erhielten.83 Dennoch profitierte der Bischof von der Situation, wusste er doch die Einigung und nachfolgend die Rückgabe der Güter Jahr um Jahr hinauszuzögern. Unmittelbar nach der Beilegung des einen Streits beanspruchte Franz von Minden weitere Güter in Ilvese und Heimsen sowie das wüste Dorf Rosenhagen, setzte dort einen Meier ein und erhob Abgaben.84 Ferner plünderten Söldner des Bischofs Besitzungen des Klosters im Jahr 1523.85 Auch hierbei zogen sich die nachfolgenden juristischen Auseinandersetzungen über Jahre hin, und der Mindener Administrator wusste durchaus auszunutzen, dass es innerhalb des Loccumer Konvents konfessionelle Auseinandersetzungen gab.86 Die Konflikte waren symptomatisch für die wachsende Macht der Territorialherren im 16. Jahrhundert, die nach innen alles daran setzten, ein Höchstmaß an Einnahmen zu erzielen. Außenpolitisch strebten sie nach einer Erweiterung ihrer Territorien und nutzten hierbei die konfessionellen Gegensätze gerade zu den monastischen Einrichtungen, deren fortgeführte Existenz unter den Reformatoren umstritten war. Loccum also musste seine ihm zustehenden Rechte mühsam durchsetzen. So konnte beispielsweise im Jahr 1524 erst im Rahmen des Holzgerichts erreicht werden, dass Schweine des Klosters im Wald gemästet werden durften.87 Auch kam es zu fortgesetzten Auseinandersetzungen mit den Grafen von Hoya über die Möglichkeit des Holzeinschlags.88 Wollte das Kloster seinen Besitz und seine konfessionelle Identität wahren, so bedurfte es des Schutzes altgläubiger Herrscher. Wiederholt folgte der Dekan des Münsteraner Domkapitels Loccumer Bitten und befahl allen Geistlichen der Diözesen Minden, Bremen und Paderborn Adligen die Schädigung Loccumer Besitztümer zu 81 82 83 84 85 86 87 88

UBLD, Nr. 1386, 1391 und 1392; Schulzen (wie Anm. 2), S. 69. UBLD, Nr. 1391. Ebd., Nr. 1409 und 1553. Ebd., Nr. 1472. Schulzen (wie Anm. 2), S. 73. Ebd., S. 69. Schulzen (wie Anm. 2), S. 74; UBLD, Nr. 1475, vgl. ebd., Nr. 1429 und 1446. Schulzen (wie Anm. 2), S. 76.

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verbieten.89 Ähnliche Verfügungen erließ auch der Abt des Erfurter Schottenklosters.90 Entscheidend aber war die Umsetzung dieser Verfügungen, und so erwiesen sich direkte Zahlungen an die umliegenden Fürsten als effektiveres Mittel zur Wahrung der Integrität des Klösters: Im Jahr 1526 erließ Loccum Erich von Braunschweig-Calenberg seine Schulden, so dass dieser im Gegenzug dem Kloster Abgabenfreiheit gewährte und es unter seinen Schutz nahm.91 Ein Jahr später zahlten Abt und Konvent Franz von Minden 900 Goldgulden.92 Auch nahm Graf Anton von Holstein-Schaumburg das Kloster unter seinen Schutz.93 In den folgenden Jahren übte der Herzog tatsächlich einen gewissen Schutz für das Kloster aus; Beschwerden seitens des Klosters sind also nicht bekannt. Die Hilfe der Herzöge aber war keine Selbstverständlichkeit, denn wollte das Kloster Unterstützung von Erich von Calenberg oder Heinrich den Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel erhalten, so musste es jeweils den Herzögen finanziell weiter entgegenkommen.94 Dies führte letztlich zu einer gewissen Stabilisierung der außenpolitischen wie der ökonomischen Situation des Klosters, so dass dieses wieder als zuverlässiger Geschäftspartner galt und wiederholt Renten verkaufen als auch Rentenzahlungen durchsetzen konnte.95 Folge der Verbesserung war aber auch, dass sich die Attraktivität des Klosters als Ziel für Übergriffe erhöhte.96 Von wesentlicher Bedeutung war die Einführung der Reformation im Fürstentum Braunschweig-Lüneburg, in deren Folge Herzog Ernst der Bekenner die Güter diverser Klöster einzog.97 Dem konnte sich das Kloster Loccum entziehen, indem es erreichte, dass Kaiser Karl V., der seinen Einfluss in Norddeutschland zu stärken suchte, das Kloster und all seine Besitzungen am 14. 7. 1530 seinem persönlichen Schutz unterstellte.98 Allerdings wurde Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel, der demonstrativ am alten Glauben festhielt, mit diesem Schritt politisch übergangen.99 Doch der Schutz hatte kaum 89 90 91 92 93 94 95 96 97

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UBLD, Nr. 1437 – 1439, 1442. Ebd., Nr. 1441 – 1442, 1538. UBLD, Nr. 1490; Schulzen (wie Anm. 2), S. 73. UBLD, Nr. 1506; Siehe Hölscher (wie Anm. 17), S. 11. UBLD, Nr. 1491. Schulzen (wie Anm. 2), S. 76 – 77. Verkauf von Renten: UBLD, Nr. 1549, 1562 – 1564; Rentenzahlungen: Ebd., Nr. 1567, 1569, siehe auch ebd., Nr. 1590. Schulzen (wie Anm. 2), S. 73. Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1: 8. Jahrhundert – 1806, Göttingen 1995, hier S. 130 – 133 und S. 174 – 178; Hans-Jürgen Vogtherr: Herzog Ernst der Bekenner und seine Zeit, Uelzen 1998 (= Uelzener Beiträge 14); Zuletzt ausführlich Markus Vollrath: Welfische Klosterpolitik im 16. Jahrhundert: ein Spiegelbild der Fürstenreformationen im Reich?, Hannover 2012. UBLD, Nr. 1538; Vgl. v. Boetticher (wie Anm. 76), S. 43 – 45. Schulzen (wie Anm. 2), S. 77; Zu Herzog Heinrich: ADB 11, 1880, S. 485 – 500; Friedrich

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abschreckende Wirkung, so dass sich im Jahr 1542/43 Abt und Konvent nur mit Mühe gegen eine von Herzogin Elisabeth von Calenberg angeordnete Visitation zur Durchsetzung der lutherischen Konfession wehren konnten, indem sie auf Ansprüche der übrigen benachbarten Fürsten verwiesen.100 Für das Kloster erwies es sich als glücklich, dass Elisabeth von Calenberg nur als Vormund ihres unmündigen Sohnes handeln konnte, denn nach der Erlangung der Volljährigkeit bekannte sich Erich II. von Calenberg zum alten Glauben und begann eine erfolgreiche Karriere als internationaler Söldnerführer.101 Als Calenberger Herrscher nahm er seine Schutzverpflichtungen durchaus wahr : Als es 1576 zu Auseinandersetzungen mit dem Administrator von Minden, nun Hermann von Schaumburg, um Besitzungen bei Lahden kam, beschlagnahmte der Herzog die vermeintlich an das Bistum Minden zu zahlenden Kornabgaben, bis eine Einigungen zwischen dem Kloster und dem Administrator von Minden zustande gekommen war.102 Weiterhin unterliefen Abt und Konvent Verwaltungsfehler, und so ernannte beispielsweise der Bischof von Minden 1575 einen Pfarrer für die Pfarrkirche in Lahde, da das Kloster sein Vorschlagsrecht nicht wahrgenommen hatte.103 Mit dem Tod Erichs II. im Jahr 1584 erlosch die Calenberger Linie der Welfen und das Territorium fiel an das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. Mit dem dort regierenden Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel trat dem Kloster der zu diesem Zeitpunkt mächtigste Fürst Norddeutschlands gegen-

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Koldewey: Heinz von Wolfenbüttel. Ein Zeitbild aus dem Jahrhundert der Reformation, Halle 1883 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 1,2); Otto von Heinemann: Geschichte von Braunschweig und Hannover, Bd. 2, Gotha 1886; Paul Jonas Meier: Der Streit Herzog Heinrich des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel mit der Reichsstadt Goslar um den Rammelsberg, Goslar 1928 (= Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte 9); Rainer Täubrich: Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel: (1489 – 1568). Leben und Politik bis zum Primogeniturvertrag von 1535, Braunschweig 1991 (= Quellen und Forschungen zur braunschweigischen Geschichte 29). Schulzen (wie Anm. 2), S. 79; Ernst Schuster : Skizzen zur Verfassungsgeschichte des Klosters Loccum, in: ZevKR (1884), S. 47; vgl. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333; Christa Graefe: Loccum in der Neuzeit, in: GermBen XII: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein / Hamburg 1994, S. 349. Zu Erich II. von Calenberg: NDB 4 (1959), S. 584 – 585; Veronica Albrink: Große Pracht führen über Vermögen …. Die Bauten und die Finanzen Erichs d. J. von BraunschweigCalenberg (1546 – 1584), in: Der Weserraum zwischen 1500 und 1650. Gesellschaft, Wirtsch. u. Kultur in d. frühen Neuzeit, hrsg. vom Institut für Architektur-, Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland beim Weserrenaissance-Museum Schloss Brake, Marburg 1993, S. 143 – 173; Wolfgang Kunze: Leben und Bauten Herzog Erichs II. von Braunschweig-Lüneburg. Katalog zur historischen Ausstellung im Schloss Landestrost, Neustadt am Rübenberge, Hannover 1993. Schulzen (wie Anm. 2), S. 81. UBLD, Nr. 1591 und 1592, auch 1597.

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über.104 Dieser besetzte das Kloster 1584/1585 und setzte durch, dass Abt und Konvent ihm huldigten.105 Als Julius 1589 starb, konnte sein Sohn und Nachfolger ohne Widerstand die erneute Huldigung durchsetzen und bestätigte alle Privilegien und sowie die Verfügungsgewalt des Klosters über seinen Besitz.106 Unter Behauptung seines Besitzes und seiner Rechte unterstand nun am Ende des 16. Jahrhunderts das weiterhin altgläubige Kloster einem lutherischen Landesherrn, der als mächtigster Herrscher Norddeutschlands die Integrität und Autonomie des Klosters respektierte und sicherte.

104 Grundlegende biographische Abhandlungen zu Herzog Julius: Franziskus Algermann: Leben, Wandel und tödlicher Abgang weiland des durchlauchtigen hochgeborenen Fürsten und Herrn, Herrn Juliussen, Anno 1598 … hernach wieder übersehen … Anno 1608, hrsg. v. Friedrich K. v. Strombeck, Feier des Gedächtnisses der vormaligen Hochschule Julia Carolina zu Helmstedt, Helmstedt 1822; Eduard Bodemann: Herzog Julius von Braunschweig. Ein Kulturbild deutschen Fürstenlebens und deutscher Fürstenerziehung im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte NF 4 (1875), S. 193 – 239; Johannes Merkel: Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 1528 – 1589, in: ZGnKg 1 (1896), S. 20 – 44; ADB 14 (1881), S. 663 – 670. 105 UBLD, Nr. 1605, vgl. Nr. 1606; siehe hierzu Paul Fleisch: Das Kloster Loccum und die lutherische Landeskirche Hannovers, in: Evangelische Wahrheit 12 (1921), Sp. 199. 106 UBLD, Nr. 1614, dazu auch Nr. 1615 – 1616; siehe Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333.

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Gerald Kruhöffer

Der Übergang zur Reformation – Kontinuität und Neubeginn

Einen Zeitraum von gut hundert Jahren umfasst die Entwicklung zur Reformation in Loccum. Dabei haben die beiden letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung. In ihnen vollziehen sich die entscheidenden Veränderungen. Oft wird die Frage gestellt: Wie ist es möglich, dass Loccum evangelisch wurde und das Kloster trotzdem erhalten blieb? So ist zu klären, wie sich überkommene Tradition und reformatorische Veränderung, Kontinuität und Neubeginn zueinander verhalten. Zu dieser Fragestellung sollen im Folgenden die wichtigsten Ereignisse beschrieben und in ihrer Bedeutung gewürdigt werden. Dabei sind neben dem Kloster selbst natürlich die Dörfer des Stiftsbezirks zu berücksichtigen und darüber hinaus der Zusammenhang mit den niedersächsischen Fürstentümern sowie mit der Reformationsgeschichte in Deutschland. Fünf zeitliche Abschnitte sind für den Weg zur Reformation in Loccum wichtig.1

1 Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist unter dem Titel »Tradition und evangelische Freiheit – Der lange Weg zur Reformation« erschienen in: Horst Hirschler/Ludolf Ulrich (Hrsg.): Kloster Loccum. Geschichten, Hannover 2012. Zum Ganzen vgl. Christoph Erich Weidemann: Geschichte des Klosters Loccum. Nach Weidemann‹s Manuskripte bearbeitet, fortgesetzt und hrsg. von Friedrich Burchard Köster, Göttingen 1822, S. 43 – 84; Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters; enth.: G. Müller: Die Klosterbibliothek, Hannover 1913, S. 75 – 110; Martin Kruse: Kloster und Gemeinde nach 1593, in: Horst Hirschler und Ernst Berneburg (Hrsg.): Geschichten aus dem Kloster Loccum. Studien, Bilder, Dokumente, 2. Aufl. Hannover 1982, S. 139 – 146; Nicolaus Heutger: Das Kloster Loccum im Rahmen der zisterziensischen Ordensgeschichte: zum 100. Geburtstag von Johannes XI. Lilje, Abt zu Loccum, und zur EXPO 2000 (= Forschungen zur niedersächsischen Ordensgeschichte, Band 4), Hannover 1999, S. 149 – 164. Benutzt wurde außerdem der handschriftliche Nachlass des vormaligen Bibliothekars Dr. Ernst Berneburg (1926 – 1996), Klosterarchiv.

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Gerald Kruhöffer

Die Anfänge

Erste Spuren der Reformation finden sich in Wiedensahl, das zum Stiftsbezirk Loccum gehört. Der dortige Pastor Heinrich Brandes wurde evangelisch; er hat »statt der römischen Religion die apostolische« angenommen.2 Er hat geheiratet, und das war für die Öffentlichkeit ein eindeutiges Zeichen, dass er sich zur Reformation bekannt hatte. Wie aus den vorliegenden Urkunden hervorgeht, muss dies spätestens 1528 geschehen sein. Es kommt aber noch etwas Bemerkenswertes hinzu: Pastor Brandes beantragte beim Kloster, seine Einkünfte zu erhöhen, um die künftige Versorgung seiner Frau und seiner Kinder zu gewährleisten. Der Abt gab diesem Antrag statt. Abt Burchardus Stöter und ganz convent des freien Stifts zu Lockum vergönnten dem ehrsamen und gelehrig Herrn Heinrich Brandes unserem Kirchherrn und Diener … ein … hauß up dat … landt seiner frowen zu bauwen darinne sie sich mit ihren armen Kindern nach abgange ihres herren aufhalten mochte, dazu sechs Stücke Land und eine Wiese, von welcherem wische und land de ergemeldte frowe den heren von Locken jährlich gewen schall vier hannoversche schillinge up Michaelis Archangeli (= zum Fest des Erzengels Michael).3 Dieser Vorgang ist höchst erstaunlich: Das Kloster nimmt es ohne äußerlich sichtbaren Widerspruch hin, dass Pastor Brandes sich zur Reformation bekennt und dass er heiratet. Es trägt sogar zu den finanziellen Konsequenzen dieser Eheschließung in erheblichem Maße bei, die »dem ehrsamen und gelehrigen Herrn Heinrich Brandes, unserm Kirchherrn und Diener« gewährt werden. In diesen Worten zeigt sich nach außen hin nichts von einer kritischen Distanz; sie bringen vielmehr zum Ausdruck, dass Pastor Brandes Kirchherr und Diener des Klosters bleibt. Leider werden dazu keine weiteren Einzelheiten mitgeteilt und es werden auch keine Gründe für diese Entscheidung genannt. Ist das Kloster nach einem (auf einen Reichstagsbeschluss von 1526 zurückgehenden) Grundsatz verfahren,4 dass in der Frage des Bekenntnisses jeder nach seinem eigenen Gewissen entscheiden solle? Oder war das Kloster in Sorge, dass Wiedensahl 2 Philipp Meyer (Hrsg.): Die Pastoren der Landeskirche Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation, 2. Band Kaarßen-Zeven, Göttingen 1942, S. 504; vgl. Schultzen (wie Anm. 1), S.78; Albert Hahn: Geschichte des im Stiftbezirk Lokkum gelegenen Fleckens Wiedensahl, Hannover 1898, S. 46 – 49. 3 Klosterarchiv Loccum (i. F.: KAL) Akten XXIV C E 1. 4 In dem Reichstagsabschied von Speyer (27. August 1526) heißt es: Bis zu einem Konzil oder einer Nationalversammlung solle es einem jeden Reichsstand gestattet sein, für sich also zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder solches gegen Gott und Kayserl. Majestät hoffet und vertrauet zu verantworten. Diese bewusst mehrdeutige Formulierung wurde von den evangelisch Gesinnten als »eine Legitimationsgrundlage zur Durchführung reformatorischer Maßnahmen« angesehen (Volker Leppin: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009, S. 106).

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Der Übergang zur Reformation – Kontinuität und Neubeginn

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nicht beim Stiftsbezirk bliebe und an die benachbarte Grafschaft Schaumburg verloren gehen könnte? Jedenfalls wirkte Heinrich Brandes mit seiner evangelischen Predigt weit über den Bereich der Kirchengemeinde Wiedensahl hinaus. Dies geht aus einer Notiz des späteren Abtes Stracke hervor: Heinrich Brandes, hic primus fuit Luteranus, cuius Ecclesiam Schomborgenses coperti frequentarunt … (= Heinrich Brandes, er war der erste Lutheraner, dessen Kirche die Schaumburger in Scharen besuchten).5 In der Grafschaft Schaumburg war zu dieser Zeit die Reformation noch nicht eingeführt. So weckte die evangelische Predigt im nahegelegenen Wiedensahl besondere Aufmerksamkeit, und Pastor Brandes fand mit seiner Verkündigung des Evangeliums offenbar große Resonanz. Er wirkte viele Jahre in Wiedensahl (bis 1554). Ihm folgte sein Sohn Engelbert im Pfarramt (bis 1567), so dass sich im Lauf dieser Jahrzehnte der evangelische Charakter der Kirchengemeinde weiter ausbilden und festigen konnte. In der näheren Umgebung wurden auch andere Gemeinden evangelisch. So wirkte am gräflichen Schloss in Stolzenau der lutherische Pfarrer Nikolaus Krage.6 Er wechselte einige Jahre später nach Minden, wo im unmittelbaren Umfeld des Bischofs bereits im evangelischen Sinne gepredigt wurde und sich viele Bürger der Reformation zugewandt hatten. Zweifellos hat Krage das Evangelium nach reformatorischem Verständnis in überzeugender Weise verkündigt. Durch sein persönliches Verhalten gab er jedoch immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen und Konflikten. So musste er nach einiger Zeit auch Minden verlassen. Wie in anderen norddeutschen Städten hatte sich aber die Reformation in der Zwischenzeit dort gefestigt. – In den Jahren nach 1520 waren die grundlegenden Schriften Luthers weithin bekannt geworden. Wie die neuere Forschung gezeigt hat, erreichten aber vor allem die Flugschriften und die reformatorischen Lieder eine noch weitaus größere Verbreitung.7 So ist es gut vorstellbar, dass neben persönlichen Kontakten und Anregungen durch das Studium in Wittenberg gerade durch die damals »neuen Medien« sich die reformatorischen Gedanken verbreiteten, so dass auch in einem noch altgläubigen Umfeld einzelne evangelische Prediger auftraten und sich evangelische Kirchengemeinden bildeten. Ein Ereignis erregte im Jahr 1528 besondere Aufmerksamkeit:8 Der Bauer Hans Meyer aus Münchehagen kam mit einem Sohn zu Abt Burchard Stöter. Er bat darum, ihm ein Stück Land zu übertragen, dessen Inhaber verstorben war. 5 KAL, Akten XXIV C C 1. Die von Stracke angegebene Jahreszahl von 1544 für den Amtsantritt ist allerdings unzutreffend, da Heinrich Brandes bereits seit 1520 Pastor in Wiedensahl ist. 6 Vgl. Hahn (wie Anm. 2), S. 47. 7 Vgl. Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens, Erster und Zweiter Teilband, Göttingen 1996 S. 114 f.; Leppin (wie Anm. 4), S. 62 f. 8 Vgl. Schultzen (wie Anm. 1), S. 75 f.; Heutger (wie Anm. 1), S. 149.

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Der Abt stellte die Prüfung der Angelegenheit in Aussicht und wandte sich ab. Der Sohn Cort Meyer ließ sich daraufhin zu einer Drohung hinreißen und in der dadurch entstandenen erregten Situation schlug der Bauer in plötzlich aufwallendem Zorn den Abt mit einer Axt in den Kopf. Abt Stöter brach sogleich tot zusammen. Der Täter wurde ergriffen, in einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt und hingerichtet. Dieses Ereignis hat natürlich die Menschen im Kloster und in den umliegenden Dörfern stark bewegt. Die Vorgänge sind in den erhaltenen Unterlagen ausführlich dokumentiert. Der Grabstein, der in der Kirche steht, erinnert bis heute an diesen Mord an dem bedeutenden Abt Burchard Stöter. Zwar mögen in der Erinnerung an den noch nicht lange zurückliegenden Bauernkrieg von 1525 gewisse aufrührerische Stimmungen in der Bevölkerung lebendig gewesen sein; die Vorgänge um die Ermordung des Loccumer Abtes haben allerdings im Stiftsbezirk keine weitere Bedeutung für die Entwicklung zur Reformation, sie sind auch kein Anzeichen für eine revolutionäre Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Aufschlussreich sind sie allerdings für die Datierung der reformatorischen Entwicklung im Stiftsbezirk. Abt Burchard Stöter wurde am 8. Februar 1528 erschlagen. Noch Anfang des Jahres hatte er die oben erwähnte Urkunde für den evangelisch gewordenen Pastor Brandes in Wiedensahl unterzeichnet. Daraus folgt, dass sich Pastor Brandes spätestens 1528 zur Reformation bekannt hat. Nach dem Tode Burchard Stöters wurde Magnus Schlüter zum Abt gewählt. Die Lage des Klosters war in diesen Jahren nicht einfach. Immer wieder gab es Übergriffe aus den benachbarten Gebieten. Ein Konflikt mit den Grafen von Hoya eskalierte zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Stolzenauern, bei der zahlreiche Tote zu beklagen waren. Dazu kam die allgemeine Unsicherheit: Würde sich die Reformation weiter ausbreiten? Würden die sozialen Konflikte, die im Bauernkrieg aufgebrochen waren, erneut aufflammen? Und würde dies alles die Existenz des Klosters grundlegend gefährden? In dieser Situation hatte nach wechselvollen, dramatischen Ereignissen Kaiser Karl V. im Jahr 1530 einen Reichstag nach Augsburg einberufen.9 Hier legten die Evangelischen das unter Federführung von Philipp Melanchthon verfasste Augsburger Bekenntnis vor (»Confessio Augustana«), das am 25. Juni vor dem Reichstag verlesen wurde und das dann zu der grundlegenden lutherischen Bekenntnisschrift werden sollte. Auf diesem Reichstag erreichte die Loccumer Delegation, dass der Kaiser am 16. September 1530 dem Kloster Loccum eine bedeutsame Urkunde ausstellte: Abbas et Conventus ac Monasterium ab omni illicitate exactione et jurisdictione ordinaria sint exemti et sancte sedi Apostolice et Nobis ac sacro imperio immediate subjecti … (= Abt, Konvent und Kloster 9 Vgl. Schultzen (wie Anm. 1), S. 77 f.; Heutger (wie Anm. 1), S. 146 f.

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sollen von jedem ungerechtfertigten Eingriff und von jeder rechtmäßigen Gerichtsbarkeit ausgenommen und dem Heiligen Apostolischen Stuhl und Uns sowie dem Heiligen Reich unmittelbar untergeben sein …).10 Karl V. war für die Ausstellung dieser Urkunde zu gewinnen, da er hoffte, Loccum könne im Norden ein Bollwerk des alten Glaubens gegenüber der Reformation werden. Der Kaiser bestätigte früher gewährte Privilegien und erklärte Loccum zum kaiserlich freien Reichsstift. Das Kloster ist dem Papst und dem Kaiser direkt unterstellt und aller Gerichtsbarkeit (der umliegenden Territorialherrschaften) entnommen. Diese kaiserliche Urkunde hatte für das Kloster große Bedeutung: In einer Zeit, in der in Norddeutschland ein Ort nach dem anderen lutherisch wurde, war es eine Bestätigung seiner Altgläubigkeit. Als kaiserlich freies Reichsstift war zugleich eine Selbständigkeit im weltlichen Bereich gegeben, auf die sich das Kloster berufen konnte, die es allerdings im Blick auf die realen Machtverhältnisse klug und umsichtig wahrzunehmen galt.

2

Die Macht der Tradition

Die Jahre nach 1530 waren von einer bemerkenswerten Kontinuität geprägt. Zwar wurden einzelne Mönche evangelisch und verließen das Kloster : Ludolph Herzog (1536), Konrad Fricke (1540), Conrad Richius (vor 1567), Johannes Werner (1567). Aber das sind Ausnahmen. Insgesamt blieb im Jahrhundert der Reformation der altgläubige Charakter des Klosters erhalten. Wichtig für Loccum wurden die Ereignisse im Fürstentum Calenberg-Göttingen. Nach dem Tod Erichs I. im Jahr 1540 führte Elisabeth für den noch unmündigen Erich II. die Regentschaft. Elisabeth war zwei Jahre vorher zum Luthertum übergetreten. Sie war fest entschlossen, die Reformation in ihrem Fürstentum durchzuführen und hatte für dieses Ziel Antonius Corvinus als maßgebenden Theologen gewonnen.11 Corvinus war als junger Mann Mönch im Kloster Loccum gewesen und danach für einige Zeit zum Studium nach Leipzig entsandt worden. Er war dann ins Kloster Riddagshausen gegangen. »Hier scheint er unter dem Einfluß von Braunschweiger Reformationsanhängern für die Wittenberger Theologie gewonnen zu sein und mußte daraufhin 1523 seinen Konvent verlassen.«12 Jedenfalls wurde er, wie er sagt, »als lutherischer Bube« aus 10 Calenberger Urkundenbuch, Nr. 931; vgl. Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 152 – 155. 11 Vgl. Krumwiede (wie Anm. 7), S. 133 – 137; Horst Hirschler : Antonius Corvinus – heutige Annäherungen, in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): 450 Jahre Reformation im Calenberger Land und Allgemeiner Hannoverscher Klosterfonds, Hannover 1993, S. 9 – 25. 12 Inge Mager: Man mus Gott mehr gehorsamen denn den Menschen. Antonius Corvinus‹ Kirchenreformation in Calenberg- Göttingen zwischen irdischer und himmlischer Obrig-

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Riddagshausen verjagt. Er wirkte einige Jahre in Hessen und war bereits an der Reformation mehrerer niedersächsischer Städte beteiligt. Nun wurde er von Elisabeth nach Calenberg-Göttingen berufen, verfolgte sie doch unbeirrt das Ziel die Reformation auch in ihrem Fürstentum einzuführen; und es ist erstaunlich, in welchem Maße dies in den wenigen Jahren ihrer Regentschaft gelungen ist. Corvinus verfasste die Calenberger Kirchenordnung, deren Beachtung in der Visitation 1542 / 43 überprüft wurde. Die von der Herzogin eingesetzte Kommission sollte die Visitation auch in Loccum durchführen.13 Das Kloster berief sich jedoch auf seine Reichsunmittelbarkeit und lehnte die Visitation ab. Vermutlich ist in diesem Zusammenhang Antonius Corvinus persönlich in Loccum erschienen, wo er als junger Mönch vor mehr als zwanzig Jahren eine Zeit lang gewesen war und jetzt musste er es erleben, dass er von seinem ehemaligen Kloster abgewiesen wurde. Dies wäre dann auch eine Erklärung für die in der vorliegenden Form unzutreffende Notiz Strackes, Corvinus sei 1543 aus dem Kloster ausgewiesen worden. Er ist eben in diesem Jahr nicht als Mönch vertrieben worden; sondern ihm, dem evangelischen Generalsuperintendenten, wurde der Zutritt zum Kloster verweigert und damit die Möglichkeit, die Visitation durchzuführen. Loccum hatte somit auch diesem Versuch, von außen die Reformation im Kloster einzuführen, erfolgreich widerstanden. Als Herzog Erich II. zur Regierung kam, ergriff er Maßnahmen zur Rekatholisierung. Corvinus wurde verhaftet und musste drei Jahre auf der Festung Calenberg bleiben. Erst mit der Veränderung der politischen Lage kam er frei; doch er starb bereits am 5. April 1553. Sein Wirken aber hatte Früchte getragen: Trotz der Religionspolitik Erichs II. hielten die Städte und Landstände am reformatorischen Bekenntnis fest.14 Damit reichten die evangelischen Gebiete bald unmittelbar bis an die Grenze des Stiftsbezirks heran. Im Jahre 1555 wurde nach langen konfessionellen Auseinandersetzungen der »Augsburger Religionsfrieden« geschlossen. Er legte fest, dass künftig der Landesherr die Konfession seiner Untertanen bestimmen sollte (»cuius regio, keit, in: JGNKG, 104. Band, Hannover 2006, S. 275; vgl. insgesamt S. 273 – 289; zur Entwicklung in Calenberg-Göttingen vgl. Manfred von Boetticher: Niedersachsen im 16. Jahrhundert (1500 – 1618), in: Christine van den Heuvel und Manfred von Boetticher (Hrsg.): Geschichte Niedersachsens, Dritter Band Teil 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVI), Hannover 1998, S. 76 – 81. 13 Vgl. Schultzen (wie Anm. 1), S. 79; Heutger (wie Anm. 1), S. 149 f. 14 Den Klöstern und Stiften wurde im Blick auf das Bekenntnis volle Freiheit gelassen. Dazu stellt Krumwiede (wie Anm. 7), S.137 fest: »Die meisten Frauenklöster und Stifte wurden evangelisch, die männlichen Konvente hielten stärker an den alten Überlieferungen fest, verfielen aber überwiegend der Auflösung.« Loccum dagegen löste sich nicht auf.

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eius religio«). Die politische Selbständigkeit des Klosters als kaiserlich freies Reichsstift ermöglichte es, im bisherigen Glauben und in der vom Zisterzienserorden geprägten klösterlichen Lebensform zu bleiben. Allerdings lag jetzt der altgläubige Stiftsbezirk ziemlich einsam in einer inzwischen weithin evangelisch gewordenen Region.

3

Schritte zur Erneuerung

Eine wichtige Bedeutung für Loccum hatten die Veränderungen in den welfischen Fürstentümern.15 Herzog Erich II. von Calenberg-Göttingen war kinderlos gestorben. Auf Grund der geltenden Erbfolgeregelung wurde sein Gebiet mit Braunschweig-Wolfenbüttel vereinigt, wo Herzog Julius bereits die Reformation eingeführt hatte. Dadurch wurde nun auch Calenberg-Göttingen endgültig evangelisch. Julius verlangte im Jahre 1585 vom Kloster Loccum die Huldigung, die Anerkennung seiner Oberhoheit. Zugleich bestätigte er jedoch die kaiserlichen Privilegien für die Eigenständigkeit Loccums. »Er hat dem Abt Johann Barnewoldt und dem Konvent die kaiserlichen und anderen Privilegien, Immunitäten und Freiheiten förmlich bestätigt, die ihnen freie Verwaltung und weitere Ausübung der Hoch- und Halsgerichtsbarkeit, freie Abtwahl und Einnehmung neuer Personen zugesichert und sich verpflichtet ihnen keine neuen Lasten aufzubürden.«16 In der Bekenntnisfrage gestand er dem Kloster sogar einen erheblichen Entscheidungsspielraum zu. Insonderheit lassen wir auch nach, das sie ihren jetzigen habit, solange es ihnen gelegen und gefällig, behalten mögen. Dazu wollen wir sie, erwenten abt, prior, senior und ganz convent wieder ihren willen und gewissen der religion halben nicht nötigen oder zwingen, sondern ihnen dieselbe vermöge Gottes worts und der reichsabschiede frey und Gott durch seinen heiligen Geist bei ihnen wie bey uns und anderen walten und wirken lassen.17 15 Vgl. zu Abschnitt 3 Schultzen (wie Anm. 1), S. 82 – 87; Heutger (wie Anm. 1), S. 150 f.; Erhard Stiller : Die Unabhängigkeit des Klosters Loccum von Staat und Kirche nach der Reformation (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 15), Göttingen 1966, S. 12 – 14, 85 – 87; Peter Beer: Hexenprozesse im Kloster und Klostergebiet Loccum, Göttingen 2007, (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsen, 41), S. 14 – 18. 16 Adolf Brenneke (†) / Albert Brauch: Die calenbergischen Klöster unter Wolfenbütteler Herrschaft 1584 – 1634, Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds, zweiter Teil, Göttingen 1956 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen 12), S. 56. Grundsätzliche Voraussetzung dieser Zugeständnisse ist allerdings, dass der Herzog »endgültig die welfische Hoheit über das Kloster Loccum« durchgesetzt hat (von Boetticher, wie Anm. 12, S. 62). 17 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Cal. Br. Arch. 7, Nr 937; vgl. Archiv des

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Damit zeigte sich der Herzog in erstaunlichem Maße einerseits entschlossen und andererseits zurückhaltend. Von seinem Recht, als Landesherr die Konfession zu bestimmen, machte er keinen Gebrauch. Als überzeugter evangelischer Christ hatte er jedoch die Hoffnung, dass der göttliche Geist sich auch in Loccum als wirksam erweisen werde und seine Hoffnung sollte nicht enttäuscht werden. Bereits in diesen Jahren haben sich mehrere Mönche reformatorischen Gedanken geöffnet. Aufschlussreich dafür ist ein Schreiben von Georg Fredekindt und Heinrich Eschenberg aus dem Jahre 1586. Sie beklagen sich bei Herzog Julius darüber, dass Abt Barnewoldt sie zu katholischen Riten, zu »papistischen und abgöttischen cultibus« zu zwingen suche, obwohl sonst niemand im Konvent noch an dieser Irrlehre festhalte.18 Dieser Aussage zufolge waren bereits damals die evangelisch Gesinnten in der Mehrheit, auf jeden Fall aber dürfte es eine recht große Gruppe gewesen sein. In dieser Entwicklung zeigt sich nun etwas Neues gegenüber den vergangenen Jahrzehnten. Bisher wurden einzelne Mönche evangelisch und sie verließen aus diesem Grund das Kloster. Jetzt wurden mehrere Mönche zugleich evangelisch und sie blieben im Kloster. Ihre Glaubensüberzeugungen hatten sich verändert, aber sie hielten an der überkommenen klösterlichen Lebensform fest. Im Blick auf die Gemeinden ist hervorzuheben, dass im Jahre 1587 in Wiedensahl ein neuer Pastor eingeführt wurde. Dort bestand ja seit der Zeit von Heinrich Brandes, also nunmehr seit fast sechzig Jahren, eine evangelische Gemeinde innerhalb des Stiftsbezirks. Nach Engelbert Brandes (1554 – 1567) war Bartold Beckemeyer Pastor gewesen (1567 – 1587). Das Kloster hatte offenbar in all den Jahren das evangelische Bekenntnis in Wiedensahl respektiert. Nun wurde Johann Rimphof als Pastor eingeführt. Abt Barnewoldt trug ihm auf, dass er der Gemeinde lauter rein und klar soll predigen .., auch die hochwürdigen Sakramenta nach dem Befehl unseres Herrn Christi und seiner Apostel reichen.19 Diese Worte bringen prägnant zum Ausdruck, was für den Auftrag eines evangelischen Pfarrers wesentlich ist. Sie zeigen darüber hinaus, dass das Kloster wie in den zurückliegenden Jahrzehnten das evangelische Bekenntnis der Kirchengemeinde anerkennt, ohne dies offiziell zu erklären. Für das Dorf Loccum ist eine wichtige Veränderung aus dem darauf folgenden Jahr (1588) überliefert: In der im Torhaus des Klosters gelegenen Frauenkapelle wurde evangelischer Gottesdienst gehalten. Es wurde in capelle ante portam (= in der Kapelle vor dem Tor) auf Evangelisch gepredigt … sub utraque commStifts Loccum, hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg (= Calenberger Urkundenbuch III), Hannover 1858 (i. F.: UBL), Nr. 210. 18 Vgl. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Cal. Br. Arch. 7, Nr. 946. 19 KAL, Akten XXIV C C 1.

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unionem ( = das Abendmahl unter beiderlei Gestalt) zu administrieren Erlaubt…20 Die Feier des Abendmahls mit Brot und Wein war in der damaligen Zeit ein eindeutiges Bekenntnis zur vollzogenen Reformation. Abt Barnewoldt hat dies erlaubt oder er hatte keine Möglichkeit, es zu verhindern. Allerdings hat er versucht, diese Entwicklung aufzuhalten21. Denn noch zwei Jahre später (1590) hat Herzog Heinrich Julius, der inzwischen die Regierung angetreten hatte, es ausdrücklich untersagt, Taufen nach katholischem Ritus vorzunehmen. Im vorliegenden Fall wollen wir es doch dißmal paßieren laßen, Euch aber und eure Conventuales herinnen eingebunden haben, daß Ihr und sie euch solcher Dinge hinfuro enthalten Und die hochwürdige Sakrament und was zum heilig predige Ambt mehr gehöre im evangelischen Sinne praktizieren sollen.22 Dieses Vorgehen des Herzogs ist sehr bemerkenswert. Auf der einen Seite hält er sich an die mit den Reversalien gegebene Verpflichtung, die Selbstständigkeit des Klosters zu respektieren und in der Bekenntnisfrage keinen Einfluss auszuüben. Auf der anderen Seite aber betrachtet er offenbar das Dorf Loccum als eine evangelische Gemeinde, für die er als Landesfürst Verantwortung trägt, die er daher in ihrem evangelischen Bekenntnis schützen will und vor gegenteiligen Bestrebungen zu bewahren sucht. Darüber hinaus ist aus den vorliegenden Quellen zu entnehmen, dass es zur Frage der Reformation im Kloster unterschiedliche Auffassungen gab und dass es zwischen den gegensätzlichen Gruppierungen zu Auseinandersetzungen und Konflikten gekommen ist. Aufschlussreich sind darüber hinaus die Vorgänge im Zusammenhang mit der Visitation im Jahre 1588. Nach der dafür erlassenen herzoglichen Anweisung widersprechen vor allem die Messe, die Anrufung der Heiligen und die Anrufung Marias dem reformatorischen Verständnis des Evangeliums und sollen daher abgeschafft werden.23 Vom Loccumer Abt hatten die Visitatoren zunächst nur die Aufnahme und Verpflegung im Kloster erbeten, um dort die Visitation für die umliegenden Orte vornehmen zu können. Die Visitation wurde im Kloster selbst unter Respektierung seiner Eigenständigkeit nicht durchgeführt. Es ist zu beachten: die Visitatoren hatten nicht den befehl , das Closter Lockum zu visitieren, sondern nur … der religion halber mit ihnen zu conferiren.24 In diesem vom Herzog geforderten Gespräch sind die strittigen Fragen über die Messe und die Anrufung der Heiligen erörtert worden; eine Übereinstim20 KAL, Akten XXIII A 1. 21 Nach dem Bericht des Klosteramtmanns Tileman Büsing an den Herzog (vom Oktober 1587) bestand eine Uneinigkeit zwischen Abt und Konventualen; außerdem habe Abt Barnewoldt Briefe und Siegel des Klosters außer Landes gebracht (vgl. Brenneke/Brauch, wie Anm. 16, S. 57). 22 KAL, Akten III 12. 23 Vgl. Brenneke/Brauch (wie Anm. 16), S. 69 f. 24 KAL, Akten XXIII A 1.

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mung wurde aber nicht erreicht. Allerdings haben einige Mönche zum Ausdruck gebracht: Sie wollten, dass ein »solches Examen« nochmals gehalten wird und sie wünschten die im Auftrag von Herzog Julius verfasste Bekenntnisschrift »Corpus doctrinae« zu erhalten. Die reformatorisch gesinnten Brüder haben Nicht Nur Examina Evangelica gerne gehört, Sondern Auch daß Ein Corpus Doctrinae zu haben Verlangt.25 Diese Aussagen zeigen ein weiteres Mal, wie sich reformatorische Überzeugungen im Konvent des Klosters ausgebreitet haben und wie auf diese Weise der Schritt zur Reformation vorbereitet wurde. Dieser Weg ist, wie bereits angedeutet, nicht ohne Spannungen und Konflikte innerhalb des Klosters gewesen. Darauf weist auch das Vermächtnis des Priors Oldendorp hin, der seine Mitbrüder dazu auffordert: Lebt einmütig! Einmütig lebt ihr Brüder! Miteinander verbundene Stäbe kann niemand zerbrechen.26 Insgesamt haben sich also in den Jahren nach 1585 wichtige Veränderungen vollzogen. Es war eine Zeit des Umbruchs, in der sich die Frage stellte, wie es künftig weitergehen sollte. Wie würden die Gegensätze und Konflikte innerhalb des Konvents gelöst werden? Würde sich Loccum der Reformation endgültig öffnen? Hätte dann aber das Kloster in seiner bisherigen Form überhaupt noch eine Zukunft?

4

Reformation – Kloster und Gemeinde

4.1

Grundlegende Entscheidungen

In seiner Chronik schreibt der spätere Abt Stracke von der Veränderung der Religion: Nach dem Tod Barnewoldts hat Abt Fenger abgeschaffet die Catholische lehre und .. .eingefuhret die luterische lehre sobalt D. Johannes Barnewolt ist todt gewesen, der ehrliche fromme Man.27 Aus dieser knappen Aussage geht eindeutig hervor: Bei der »Veränderung« handelt es sich nicht bloß um eine Reform der gottesdienstlichen Praxis oder der Vorschriften für das klösterliche Leben. Es geht vielmehr um eine grundlegende Erneuerung: Maßgebend für das Kloster ist künftig nicht mehr die katholische, sondern die lutherische Lehre. Für diese Entscheidung liegt allerdings keine Urkunde mit einem formellen Beschluss von Abt, Prior und Konvent vor. Daher lässt sich auch kein genaues Datum angeben. Nach den Veränderungen der zurückliegenden Jahre erscheint 25 Ebd. 26 Heutger (wie Anm. 1), S. 151. 27 KAL, Abt Strackes Chronik I 251r; zu Abschnitt (4) vgl. Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 59 – 75; Schultzen (wie Anm. 1), S. 88 – 105; Stiller (wie Anm. 15), S.14 f.; Kruse (wie Anm. 1), S. 141 f.; Heutger (wie Anm. 1), S. 152 – 156; Beer (wie Anm. 15), S. 18 – 20.

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es allerdings folgerichtig, dass Fenger recht bald nach dem Tod Barnewoldts für das Kloster den Schritt zur Reformation vollzogen oder jedenfalls eingeleitet hat. Dafür sprechen die Vorgänge im Zusammenhang mit der Visitation im Jahre 1592. Auf die Anfrage des Visitators, Pastor Goßlar, wie er im Blick auf Loccum verfahren solle.28 antwortet das herzogliche Konsistorium: Da der Abt vor sich selbst in neuigkeit einen guten anfangk zur reformation gemacht habe, also daß man gute hofnung hat, ermeldt Closter werde mit der Zeit die papistische irrthum freiwillig abtun und die reine lehre des heiligen Evangelii annehmen; so muß man sie in solchem hoffentlichen Vornehmen nicht irr noch stutzig machen, sondern Ihnen etwas zusehen.29 Während Stracke die Veränderung der Religion durch die Einführung der lutherischen Lehre hervorhebt, spricht das Konsistorium von einem guten Anfang zur Reformation und bringt die Erwartung zum Ausdruck, das Kloster werde das Evangelium nach reformatorischem Verständnis endgültig annehmen. Beide Aussagen stimmen jedoch darin überein, dass in den Jahren 1591/92 wesentliche Entscheidungen für den Übergang zur Reformation getroffen worden sind. Zu der Frage nach dem Einfluss von außen wird in einer späteren Notiz festgestellt: Das Kloster ist auch niemals a Magistratu saeculari (= von einer weltlichen Herrschaft) reformirt worden, sondern es haben sich sub regimine Abbatis Fenger (= unter dem Regiment des Abtes Fenger) … Conventuales (= die Konventualen) freywillig zur Evangelischen religion gewendet.30 Im Jahre 1593 wurde der Abt von Loccum auf Anordnung von Erzabt Edmund von C„teaux von Gottfried Draeck, Abt von Kamp, zu einem Provinzialkapitel geladen. Abt Fenger hatte deswegen bereits vorher an den Kanzler des Herzogs geschrieben und die Antwort erhalten, er solle den Boten des Ordens abweisen.31 Auf diese Weise war es unter Berufung auf den Befehl des Herzogs für Fenger möglich, die Einladung abzulehnen. So blieb es ihm erspart, vor den versammelten Vertretern des Zisterzienserordens über die Frage der Reformation in Loccum Rede und Antwort stehen zu müssen. Vielfach wird dieser Vorgang, die Abweisung des vom Zisterzienserorden gesandten Boten im Jahre 1593, als entscheidender Anhaltspunkt für den Übergang des Klosters zur Reformation angesehen.32 Das ist durchaus berechtigt. Zugleich sind aber die Aussagen aus den vorangehenden Jahren zu beachten: Fenger habe die lutherische Lehre eingeführt, bzw. er habe einen guten Anfang mit der Reformation gemacht. Daraus ergibt sich nach meiner Ein28 29 30 31 32

Vgl. KAL, Akten XXIII A 1. Ebd. Ebd. Vgl. Heutger (wie Anm. 1), S. 152. Vgl. Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 60; (mit Einschränkungen) Kruse (wie Anm. 1), S. 141; Heutger (wie Anm. 1), S. 154.

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schätzung, dass sich der Übergang zur Reformation in einem Prozess in den Jahren von 1591 bis 1593 vollzogen hat.33 Ob und wann Abt, Prior und Konvent offiziell das Augsburger Bekenntnis angenommen haben, darüber fehlt eine Quelle. Etwa zwanzig Jahre später, im Jahre 1613, wird allerdings von Herzog Friedrich Ulrich erklärt, dass das Kloster bei dem Augsburger Bekenntnis bleiben solle. Insonderheit lassen wir auch nach, daß sie ihren jetzigen habit, solange es ihnen gelegen und gefällig, behalten mögen, jedoch daß sie bei der reinen, wahren religion augspurgischer confession und corpore doctrinae Julio, auch unserer christlichen Kirchenordnung hinfüro gänzlich bleiben und durch beistand des heiligen Geistes dabey beständig verharren, auch keine andere wiedrige religion daselbst einführen, öffentlich exerciren und halten noch auch einigen abt, prioren oder andere ambtsconventpersohnen, sie sein dann vorerwähnter unsrer evangelischen lehr zugethan, eligiren und annehmen …34 Wenn das Kloster bei dem Augsburger Bekenntnis bleiben soll, dann bedeutet dies, dass bereits Ende des 16. Jahrhunderts dieses reformatorische Bekenntnis in Loccum offiziell angenommen worden ist.

4.2

Neues Leben in alten Formen

Die Verkündigung der Christusbotschaft erfolgte nun im evangelischen Sinne; das Abendmahl wurde mit Brot und Wein gefeiert und die Deutung als »Messopfer« wurde aufgegeben. Zugleich wurden verschiedene Bräuche in der gottesdienstlichen Praxis abgeschafft wie die Fronleichnamsprozession, die offenbar einen besonders festlichen Charakter gehabt hatte. Eine Anschauung von der veränderten Praxis gibt der etwa zehn Jahre später verfasste Brief des Abtes von Morimond (1602). Ihm sei berichtet worden, so schreibt der Abt, quod Abbatiam vestram liberum collegium appellatis; … quod missae sacrificium non Catholicorum sed Lutheranorum more celebretis , … quod nullum officium de b.Virgine deipara, … nullasque sanctorum commemorationes agatis …, (= dass ihr euer Kloster ein freies Kolleg nennt, … dass ihr das Opfer der Messe nicht nach der Weise der Katholiken sondern der Lutheraner zelebriert, … dass es keine gottesdienstliche Verehrung der heiligen Jungfrau der Gottesgebärerin gibt …, dass ihr keine Gedächtnisfeiern der Heiligen begeht).35 Außerdem esse man an Fastentagen Fleisch; es seien mehrere Altäre abgebaut und die Seelenmessen für die 33 Ähnlich bereits Schultzen (wie Anm. 1), S. 90: Aus dem Schreiben des Konsistoriums vom Jahre 1592 »ergibt sich, daß der Uebergang zur evangelischen Kirche schon 1592 im Gange war«. Vgl. Stiller (wie Anm. 15), S. 14. 34 UBL Nr. 994; vgl. Stiller (wie Anm. 15), S. 87. 35 Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 72.

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Verstorbenen abgeschafft worden.36 Insgesamt dürften die genannten Punkte die wesentlichen Veränderungen wiedergeben, die mit dem Übergang zur Reformation vorgenommen wurden. Dagegen wurden die klösterlichen Stundengebete weiter gehalten. Ebenso wurde das gemeinsame Leben nach der Regel Benedikts und den Vorschriften der Zisterzienser weitergeführt, soweit es nicht den Grundsätzen der Reformation widersprach. Zu beachten ist dabei, dass keiner der Mönche aus Protest gegen den Übergang zur Reformation das Kloster verlassen hat. Die Konflikte aus den früheren Jahren waren offenbar überwunden. Hier liegt zweifellos eine Besonderheit Loccums. Der Übergang zur Reformation bedeutete nicht das Ende des Klosters. Vielmehr hielten die evangelisch gewordenen Mönche an der klösterlichen Lebensform fest.37 Darin lag nun eine starke Spannung zu den ursprünglichen Anliegen der Reformation. Ihr Verständnis der Christusbotschaft und des christlichen Lebens enthielt eine grundsätzliche Kritik am Mönchtum. So wird im Augsburger Bekenntnis (Artikel 27) die überkommene Auffassung kritisiert, mit dem Klosterleben könne man Gottes Gnade verdienen, es sei ein Stand der Vollkommenheit und damit allen anderen weltlichen Berufen und Lebensformen überlegen. Bereits zuvor hatte Martin Luther in seiner Schrift »Von den Klostergelübden« geschrieben: Diese Gelübde sind nicht in der Bibel begründet, sie widerstreiten dem Glauben und der evangelischen Freiheit. Allerdings müsse das Mönchtum nicht völlig abgeschafft werden. Man könne es im Sinne einer Übung verstehen, als eine Lebensform, um den Leib zu üben, dem Nächsten zu dienen und das Wort Gottes zu meditieren.38 Es ist ungewiss, ob die evangelisch gewordenen Mönche in Loccum diese Aussagen Luthers gekannt oder sich auf sie berufen haben. Vielleicht sind sie auch mehr pragmatisch vorgegangen, da eine völlige Umgestaltung so schnell nicht zu erreichen war. So zeichnet sich als Ergebnis dieser Jahre ab: Im Verständnis des Glaubens erfolgt eine Veränderung durch die Hinwendung zur Reformation; In der Lebensform blieb der Zusammenhang mit der klösterlichen Tradition der Zisterzienser erhalten.

36 Weiteres zu dem Briefwechsel s. u. Abschnitt (4.4). 37 Vgl. Berneburg (wie Anm. 1): »Man ging nicht aus dem Kloster, als es evangelisch wurde«, »eine äußere Kontinuität ist da.« Die Frage, »wie sich der neue Geist in alter Form darstellt«, ist für den Historiker besonders fruchtbar. 38 Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 159 f.

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Das Kloster als politische Größe

Ein weiterer Aspekt ist die weltliche Dimension. Das Kloster mit seinem Stiftsbezirk war als kaiserlich freies Reichsstift eine politische Größe und durch seinen land- und forstwirtschaftlichen Besitz auch ein Wirtschaftsfaktor. Dies alles musste erhalten und in seinem Bestand gesichert werden. In diesen Zusammenhang gehört zweifellos die Tatsache, dass nach dem Übergang zur Reformation die anstehende Wahl eines neuen Abtes immer recht schnell vollzogen wurde. Dies geschah bei Fenger (1591), bei Beese (1596) und auch bei Stracke (1600). Man wollte keine Vakanz eintreten lassen, um weder der weltlichen Obrigkeit noch der kirchlichen Hierarchie die Möglichkeit zum Eingreifen zu geben, sondern die überkommene Selbständigkeit zu wahren. Dabei hielt man weiterhin Kontakt zum Zisterzienserorden, damit der jeweils neu gewählte Abt bestätigt wurde; Abweichungen vom normalen Wahlverfahren wurden oft mit außergewöhnlichen Zeitumständen begründet. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vorgang bei der Wahl Beeses. Herzog Heinrich Julius hatte Abt Heinrich von Ringelheim beauftragt, den Gewählten in seinem Namen zu bestätigen und von ihm das Gehorsamsversprechen entgegenzunehmen. Der Klosteramtmann Tileman Büsing gab dem herzoglichen Gesandten die Antwort: »Für die Konfirmation sei in Loccum einzig der Orden zuständig, und der Abt von Hardehausen habe sie bereits erteilt. Und das Regiment sei bereits vom Konvent selbst befohlen und übergeben worden. Die Konventualen und das Gesinde hätten schon nach altem Brauch Gehorsam angelobt.«39 Der neue Abt in Loccum verpflichtete sich allerdings mit Handschlag zum Gehorsam gegenüber dem Herzog. Dieser Vorgang ist äußerst bemerkenswert: Der Amtmann eines evangelisch gewordenen Klosters beruft sich gegenüber einem evangelischen Landesfürsten auf den bleibenden Zusammenhang Loccums mit dem Zisterzienserorden, um gerade so unter den veränderten Gegebenheiten die Selbständigkeit des Klosters möglichst weitgehend zu erhalten. Noch im Jahre 1593 fuhr der spätere Abt Stracke mit drei Mönchen nach Köln, damit sie dort ihre Weihen erhielten. Ein Jahr später (1594) wurden sieben Novizen in Loccum aufgenommen. Im Blick auf diesen Vorgang sollte man sich vergegenwärtigen, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten die Zahl der Mönche ständig abgenommen hatte. Bei der Wahl Fengers zum Abt waren es nur noch fünf stimmberechtigte Mönche. Wenn man sich aber nach dem Übergang 39 Heutger (wie Anm. 1), S. 154; vgl. Brenneke/Brauch (wie Anm. 16), S. 92. Die Bestätigung Beeses durch den Abt von Hardehausen »ist erteilt worden, obwohl der Konvent sich inzwischen (1591) zur Reformation bekannt hatte. Allerdings ist der Konfessionswechsel wohl nach außen hin nicht ohne weiteres erkennbar gewesen.« (Stiller [wie Anm. 16] S. 38).

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zur Reformation entschieden hatte, das Kloster zu erhalten, dann war es dringend notwendig, dass sich der Konvent wieder vergrößerte. Dies ist dann vorerst auch gelungen. Als Stracke zum Abt gewählt wurde, war die Zahl der Mönche wieder auf 15 angestiegen.

4.4

Stracke als evangelischer Abt

Theodor Stracke40 ist als junger Mann im Jahre 1577 ins Kloster gekommen und wurde offenbar stark von Abt Barnewoldt geprägt. Unter ihm ist er ins klösterliche Leben hineingewachsen und war als Custos (seit 1589) für die Durchführung der Messen und Stundengebete zuständig. Während er Barnewoldt gegenüber eine besondere Hochachtung zum Ausdruck bringt, ist sein Verhältnis zu dessen Nachfolger Johannes Fenger durch tiefe Abneigung bestimmt, die sich bisweilen in scharfer Kritik äußert. So wirft er ihm die Abschaffung überkommener Bräuche vor. Dies sei geschehen auß unverstandt, Hovandt und Burstolz (= Hochmut und Bauernstolz), er hatte nicht gestudierett, darumb verstundt er auch des werk nicht, maledictus (= verfluchter) ille IF ( jener Johannes Fenger).41 Nachdem Stracke im Jahr 1600 zum Abt gewählt worden war, hat er sich intensiv darum bemüht, das Kloster in seinem äußeren Bestand zu erhalten. Dazu gehört eine Reihe von Baumaßnahmen wie die Erneuerung der Dächer auf den Klostergebäuden, die Renovierung des Kreuzgangs und etlicher Räume, die Instandsetzung der Klostermauer und darüber hinaus die Rückzahlung von Schulden. Zugleich war er darum bemüht, den Kontakt mit dem Zisterzienserorden aufrecht zu erhalten. So nahm er 1601 die Einladung zum Generalkapitel in C„teaux an und beauftragte den Abt von Hardehausen, Loccum zu vertreten. Im darauffolgenden Jahr hat allerdings Abt Claudius von Morimond den Abgesandten Loccums nicht mehr als Visitator des Klosters Rulle zugelassen. Daraufhin schrieb Stracke, Loccum wolle sich weder dem Generalkapitel noch seiner finanziellen Verpflichtungen entziehen. Er betonte außerdem, er habe keine Veränderung der Religion vorgenommen und keine Zeremonien abgeschafft.42 Der Abt von Morimond antwortete mit dem bereits erwähnten Schreiben (s. o. 4.2): Er habe erfahren, dass Loccum sich ein freies Kolleg nenne und vieles im Sinne der lutherischen Reformation verändert habe. Eine Antwort Strackes ist leider nicht erhalten. Es ist natürlich auch fraglich, ob er mit di40 Zu Abschnitt (4.4) vgl. Barbara Kruhöffer: Theodor Stracke. Der Abt im Übergang, in: Horst Hirschler/Ludolf Ulrich (Hrsg.): Kloster Loccum. Geschichten, Hannover 2012, S. 168 ff.; Heutger (wie Anm.1), S. 156 – 162. 41 KAL, Abt Strackes Chronik I 131v. 42 Vgl. Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 68 – 71.

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plomatischem Geschick dem Orden gegenüber die faktische Situation Loccums im Unklaren lassen konnte. Jedenfalls zeigt der Briefwechsel, wie Stracke auch nach dem Übergang zur Reformation versucht hat, die Zugehörigkeit zum Zisterzienserorden zu bewahren. Das evangelisch gewordene Kloster wurde nicht aus dem Orden ausgeschlossen. Es erhielt aber keine weiteren Einladungen zum Generalkapitel, so dass die offiziellen Verbindungen in dieser Zeit zum Erliegen kamen. Für Strackes Einstellung zur Reformation gibt es mehrere aufschlussreiche Aussagen. Im Jahre 1597, also noch zu seiner Zeit als Prior, betonte er in einem Brief an die Nonnen in Lilienthal die Notwendigkeit der Veränderung der Religion. Die entscheidenden Sätze lauten (in deutscher Übersetzung): Das Wort Gottes ist immer gewesen die Quelle, das Fundament und die Norm der reinen Religion. Die ursprüngliche Wahrheit ist für mich immer gewesen unser Herr Jesus Christus. Einem Christen und Laien, der das Fundament der Heiligen Schrift hat, ist mehr zu glauben als einem integeren Rat ohne das Wort und gegen Christus.43 Die grundlegenden reformatorischen Prinzipien »sola scriptura« (= »allein die Schrift«) und »solus Christus« (= »allein Christus«) treten hier deutlich hervor. Die Bedeutung des Glaubens an Jesus Christus im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft kommt in der folgenden Aussage zum Ausdruck: Waß ist die rechte christliche Glaube? Die christliche Glaube ist eine rechte Zuversicht und Vertrauwent zu Godt, also daß wir faste glauben, Godt der Vater sei unß nu versöhnet durch Christum Jhesum seinen geliebten Sohne, durch welchen wir erlangen Vorgeuunge der Sunde, die Gerechtigcheit und das ewige lebent.44 Dieses Verständnis ist genuin reformatorisch: Der Glaube darf nicht als ein bloßes Fürwahr-halten angesehen werden. Er ist vielmehr seinem Wesen nach eine Zuversicht und ein Vertrauen zu Gott, gegründet auf die in Jesus Christus geschehene Versöhnung, durch die uns Vergebung der Sünde, Gerechtigkeit (oder Rechtfertigung) und ewiges Leben zuteil werden. Die Aufzeichnung dieser Worte im Notizbuch spricht dafür, dass es sich hier um eine für Stracke persönlich grundlegende Gewissheit des Glaubens handelt. Inhaltlich entsprechend ist der Satz Luthers, den Stracke in Gedichtform wiedergibt: Ob ich glich gelebtt hab sundlich, will ich doch darumb verzagen nicht, sondern mich mitt mein Sunden vor Gott, verbergen in Christi Wunden rot.45 Die Inschrift auf Strackes Grabstein bringt die Glaubensgewissheit des evangelischen Abtes in einem trinitarischen Bekenntnis zum Ausdruck: Gottes

43 KAL, Abt Strackes Notizbuch, S. 25v. 44 Ebd., S. 54v. 45 Strackes Chronik (wie Anm. 27) I, 356.

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des Vaters Gudt/ des Herren Christi Blut/ des heiligen Geistes muth/ das ist mein Ewigs Gudt.46 Neben den verschiedenen theologischen Aussagen sind die praktischen Maßnahmen Strackes von Bedeutung. Dazu gehört vor allem die Ausgestaltung der Kirche für den evangelischen Gottesdienst (s. u. 4.5). Aufschlussreich ist darüber hinaus das bis heute erhaltene Bild (das ursprünglich für das Epithaph bestimmt war), auf dem Stracke sich nicht mehr im Zisterzienserhabit, sondern als evangelischer Prediger hat darstellen lassen. In seiner persönlichen Lebensgestaltung blieb er jedoch überkommenen Normen verpflichtet. So hat er Anna Kochberg (später : Kohberg), die Mutter seines Sohnes Dietrich, nicht geheiratet. Er befürchtete wohl, dass er als verheirateter Abt den Fortbestand des Klosters gefährden würde. Dagegen hat er Dietrich zum Adoptivsohn erklären und ihm dadurch die rechtliche Anerkennung zuteilwerden lassen. Insgesamt bleibt festzuhalten: Stracke hat den Übergang des Klosters zur Reformation theologisch nicht infrage gestellt. Auch wenn er die Abschaffung mehrerer Bräuche bedauert und mit Hochachtung an den altgläubigen Abt Barnewoldt erinnert, ist es nicht berechtigt, seine persönliche Einstellung als »kryptokatholisch«47 zu bezeichnen. Die angeführten Aussagen enthalten vielmehr eine ausdrückliche Zustimmung zur reformatorischen Theologie und Verkündigung. Darüber hinaus hebt Heutger hervor: »Spezifisch katholische Klänge im tridentinischen Sinne sucht man in Strackes umfänglichen Werk vergeblich: Keine Marienanrufung, keine Papstverehrung, keine Beziehung zum Jesuitenorden, Deshalb darf man den Abt mit der großen Liebe zum kirchlichen Altertum nicht einen Kryptokatholiken nennen.«48 Stracke hat vielmehr sein Amt bewusst als evangelischer Abt verstanden und wahrgenommen.

4.5

Praktische Veränderungen

Am wichtigsten war die Öffnung der Klosterkirche für die Gemeinde. Im Westteil der Kirche fanden jetzt die Gottesdienste für die Gemeindeglieder aus den Dörfern statt, während der östliche Teil – abgetrennt durch den Lettner – weiterhin den Mönchen vorbehalten blieb. Für die Menschen des Stiftsbezirks war dies zweifellos eine grundlegende Veränderung. Der Klosterbereich war ihnen nicht mehr wie im Mittelalter verschlossen und nur in Ausnahmefällen zugänglich; sondern sie fanden jetzt in der Kirche ein neues gottesdienstliches 46 Heutger (wie Anm. 1), S. 161. 47 So Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 60 f.; Schultzen (wie Anm. 1), S. 92 f.; Stiller (wie Anm. 15), S. 15; Kruse (wie Anm. 1), S. 141. 48 Heutger (wie Anm. 1), S. 161.

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Zuhause und eben darin kam das reformatorische Gemeindeverständnis gut zum Ausdruck. Der gemeindliche Teil der Kirche bekam nun auch eine neue Ausstattung. Als Stracke Abt geworden war, stiftete er eine Kanzel; das entsprach der gewachsenen Bedeutung der Predigt im evangelischen Gottesdienst. Außerdem ließ er den Taufstein anfertigen, der bis heute im Eingangsbereich der Kirche steht. Bereits zuvor war eine neue Orgel gebaut (1594) zur Begleitung des jetzt wichtiger gewordenen Gemeindegesangs. Im Klosterbereich selbst wurde bereits unter Abt Fenger das Refektorium neu gestaltet. Die Architektur nahm die Formen der Spätgotik auf. Durch die Höhe und die Helligkeit entstand jedoch ein gegenüber dem Mittelalter völlig neuer Raumeindruck. Eine große Bedeutung für das Dorf hatte die Einrichtung einer Schule durch das Kloster, für die Michael Hoyer (1593) als Lehrer berufen wurde.49 Damit nahm das Kloster seine Verantwortung für die Kinder des Dorfes wahr, und das war etwas Neues gegenüber der vorangegangenen Zeit. Auch in Wiedensahl wurde einige Jahre später eine Schule errichtet. Die Calenberger Kirchenordnung, die Loccum zusammen mit dem Augsburger Bekenntnis angenommen hatte, bestimmte als Aufgabe der Schulen die christliche Unterweisung der Kinder sowie das Erlernen des Schreibens und Lesens – »ihrer selbst und des gemeinen Nutzens wegen«. Mit diesen Maßnahmen realisierte das Kloster ein grundlegendes Anliegen der Reformation. Martin Luther und Philipp Melanchthon hatten sich nachdrücklich für die Errichtung von Schulen eingesetzt und so den Zusammenhang von Glaube und Bildung betont. Diese Einsichten und Impulse wurden nun auch bei der Gründung der Schule in Loccum wirksam.

5

Krise und Neubeginn

Im Jahre 1618 begannen in Europa die militärischen Auseinandersetzungen, die sich zum dreißigjährigen Krieg ausweiteten.50 Wie viele Gegenden in Deutschland war davon auch der Stiftsbezirk betroffen – durch Einquartierungen, Plünderungen und Zerstörungen. Abt Stracke flüchtete zusammen mit einigen Mitgliedern des Konvents für kurze Zeit nach Hannover. Nachdem er fast dreißig Jahre Abt gewesen war, starb er im Jahre 1629. Zu seinem Nachfolger wurde Johannes Kitzow gewählt. Er hat in späteren Jahren (1637) vom Herzog die 49 Vgl. Schultzen (wie Anm. 1), S. 94, 96; Kruse (wie Anm. 1), S. 142 f.; Ders.: Das Kloster aus der Sicht der Gemeinde (in diesem Bande, S. 291) 50 Zu Abschnitt (5) vgl. Weidemann/Köster (wie Anm. 1), S. 76 – 82; Schultzen (wie Anm. 1), S. 105 – 118; Heutger (wie Anm. 1), S. 162 – 164.

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Erlaubnis zur Eheschließung erhalten und wohnte mit seiner Frau meistens auf dem Gut in Kolenfeld. Ein entscheidender Einschnitt für das Kloster war das »Restitutionsedikt«, das Kaiser Ferdinand II. im Jahr 1629 erlassen hat. Es bestimmte, dass alle kirchlichen Stiftungen, die nach dem Passauer Vertrag (1552) von den Evangelischen übernommen worden waren, an die Katholiken zurückgegeben werden müssten. Diese Maßnahmen wurden auf kaiserlichen Befehl nun auch in Loccum durchgeführt. Zunächst versuchte man, Abt Kitzow für den Übertritt zur katholischen Kirche zu gewinnen. Doch dieses Bemühen scheiterte. Daraufhin mussten die evangelischen Mitglieder des Konvents das Kloster verlassen und es kamen katholische Mönche nach Loccum. Der zunächst vorgesehene Abt Johann Scherenbeck wurde allerdings vom Erz-Abt der Zisterzienser nicht anerkannt, und es wurde statt dessen Bernhard von Lüerwald zum Abt eingesetzt. Nun versuchte man, auch die Dörfer des Stiftsbezirks zum Katholizismus zurückzuführen. Aber hier regte sich Widerstand. Trotz verschiedener Drohungen beugten die Gemeinden sich dem politischen Druck nicht. Sie hielten vielmehr entschlossen am evangelischen Bekenntnis fest. Doch dann griff der schwedische König Gustav Adolf zugunsten der Protestanten in den Krieg ein, und damit veränderte sich die politische Situation in Norddeutschland. So mussten die Katholiken im Jahre 1634 Loccum wieder verlassen. Abt von Lüerwald nahm silberne Kelche, eine Krone, die Mitra und den Krummstab mit und verkaufte sie, um seine zuvor aufgenommenen Schulden zu bezahlen. So gingen diese wertvollen Gegenstände für Loccum verloren, da das Kloster über keine Mittel verfügte, um sie zurückzukaufen. Entscheidend war jedoch: Kitzow nahm wieder die Aufgaben des Abtes wahr und der evangelische Konvent kehrte zurück. Am Sonntag nach Weihnachten in dem zu Ende gehenden Jahr 1634 fand wieder der erste evangelische Gottesdienst in der Klosterkirche statt. In einer vierstündigen (!) Predigt setzte sich Pastor Heinrich Rimphof aus Wiedensahl kritisch mit den Ereignissen der vergangenen Jahre auseinander : … dann auf erstkommenden Himmelfahrt Christi / sinds fünff Jahr / daß der Römische Antichrist hat gewaltsamiglich allhie die lieblichen Brünlein Israelis verstopffet / und durch Göttliche permission alles erwürget, was lieblich anzusehen war…man wollte … die Römische Lehre hinwieder introduciren und uns zur Abgöttereye compelliren und zwingen.51 Doch jetzt hat die Unterdrückung ein Ende, und der Prediger bringt die Freude darüber in überschwänglicher Weise zum Ausdruck: Frewe dich nun Lockum / Lockum / sage ich / frewe dich / der HErr der 51 Heinrich Rimphoff: Dank- und Jubelpredigt 1634, [13. Predigt] in: Wermut-Crantz von bittern Wermuth Streuchen zusammengeflochten, als Krieg … bis zu diesen Zeiten gepredigt, Rinteln 1636, S. 2 f.

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dich betrübet / hat dich mehr erfrewet / als du bist betrübet worden / vnd deiner Feinde Vntergang sehen lassen / vnd damit angedeutet / daß es nur Tentamina fidei Glaubens Prüffungen gewesen seyn.52 Weil man durch den Verlauf der Ereignisse spürt, dass die Hand des Höchsten alles ändern kann, so gibt vns diese Verfolgunge ein starck Argument, daß wir Evangelische Gottes Volck / Gottes Kirche / Gottes Gemeine / vnd Gottes Liebhaber seyn.53 In seinem Rückblick hob Rimphof dankbar hervor, dass keiner aus dem Konvent des Klosters und kaum einer von den Bewohnern der Dörfer vom reformatorischen Bekenntnis abgefallen sei, sondern sie alle unbeirrt am evangelischen Glauben festgehalten hätten. Das alles hat auch betrachtet diß löbliche Stifft Lockum / dann gleich wie Gott Lob und Danck / kein eintziger von den HErrn dieses Stifftes weder durch Schmeichelen noch drewort sich hat lassen abwendig machen … Also ist auch fast keiner von so vielen hundert Vnterthanen auf die Römische seiten getreten.54 Die evangelischen Christen haben damit ein Beispiel des Glaubens und der Standhaftigkeit gegeben. So schließt Rimphof mit den Worten: Der gnädige Gott gebe ferner dem Stifft und dessen Vntersassen / ja allen getaufften Christen solche Gemüter / die mit Gnade bereitet / vn in Standhaftigkeit also befestigt seyn / dass sie … von keiner Verfolgunge vnd Widerwertigkeiten können gebrochen werden.55 Damit war der lange Weg zur Reformation zu seinem Ziel gekommen. Im Westfälischen Frieden, der 1648 den dreißigjährigen Krieg beendete, wurde das evangelische Bekenntnis des Klosters endgültig bestätigt. Der Weg Loccums zur Reformation ist keine Geschichte mit spektakulären Ereignissen und radikalen Brüchen. Die Hinwendung zum evangelischen Glauben erfolgt schrittweise – in einer bisweilen langsamen Entwicklung, jedoch mit innerer Konsequenz. Wie Volker Leppin hervorhebt, wuchs aus unterschiedlichen Tendenzen im späten Mittelalter »… in einem komplexen Transformationsprozess die Reformation heraus: Mit vielem brach sie, vieles aber führte sie auch fort und intensivierte es.«56 Die Verbindung von Kontinuität und Neubeginn gilt für Loccum in spezifischem Sinne: Das Kloster wurde evangelisch; es behielt aber seine rechtliche Stellung als kaiserlich freies Reichsstift und damit eine wenn auch begrenzte Selbständigkeit im weltlichen Bereich. Der Konvent öffnete sich der Reformation und hielt jedenfalls zunächst an der klösterlich geprägten Lebensform fest. So zeigt sich in verschiedener Weise das 52 53 54 55

Wie Anm. 51, S. 4. Wie Anm. 51, S. 55. Wie Anm. 51, S. 70. Ebd.; die klare reformatorische Theologie bewahrte Rimphof allerdings nicht davor, den in seiner Gemeinde herrschenden Hexenglauben zu vertreten und in seinen Predigten zu bestärken; vgl. dazu Beer (wie Anm. 15), S. 52 f. 56 Leppin (wie Anm. 4), S. 34.

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Wechselspiel von überkommener Tradition und evangelischer Freiheit. Die Verbindung von zisterziensischer Überlieferung mit reformatorischer Theologie vertieft das Bewusstsein vom gemeinsamen Erbe der christlichen Konfessionen und bietet so eine gute Grundlage für die ökumenische Offenheit in der Gegenwart.

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Manfred von Boetticher

Die Integration des Klosters Loccum in das Fürstentum Calenberg

1.

Loccum als eigenständiges Kloster zwischen den benachbarten Territorien

Der im Mittelalter entstandene grenzüberschreitende Besitzkomplex Loccums führte seit Beginn des 16. Jahrhunderts zu ständigen Auseinandersetzungen des Klosters mit den benachbarten Territorialherren, die innerhalb ihres Herrschaftsbereichs zunehmend volle hoheitliche Rechte beanspruchten. Dabei richteten sich landesherrliche Übergriffe zunächst nur gegen einzelne, weiter entfernt liegende Besitzungen des Klosters. 1515 kam es zu einem Streit mit dem Administrator des Hochstifts Minden, der Loccumer Klosterleute in Lahde und Wiedensahl zur Huldigung gezwungen hatte;1 durch Vermittlung benachbarter Standesherren konnte sich der Abt wieder weitgehend durchsetzen.2 Ein Vergleich zwischen Kloster und Hochstift aus dem Jahr 1524 wegen des Holzgerichts in der Ilveser Mark bei Heimsen lässt jedoch auf fortgesetzte Konflikte mit dem Hochstift schließen.3 Ähnliche Probleme bestanden 1529 mit den Grafen von Hoya, nachdem es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Klosterleuten und Einwohnern von Stolzenau gekommen war. Gegen die Hoyaer Grafen verstand es der Abt, die benachbarten welfischen Landesherren zu mobilisieren; er schaltete Heinrich den Jüngeren von Wolfenbüttel und schließlich auch Herzog Erich I. von Calenberg ein und konnte auf diese Weise seine Interessen wahren.4 So war es nicht zuletzt die Lage Loccums zwischen mehreren Territorien, die 1 Archiv des Stifts Loccum, hrsg. v. Wilhelm von Hodenberg (= Calenberger Urkundenbuch III), Hannover 1858 (i.F.: UB Loccum) , Nr. 898; vgl. Gerd Steinwascher: Loccum, in: Germania Benedictina, Bd. XII: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, St. Ottilien 1994, S. 324. 2 Klosterarchiv Loccum (i.F.: KAL), Urkunden, Nr. 1186. 3 Steinwascher (wie Anm. 1), S. 325. 4 Christoph Erich Weidemann / Friedrich Burchard Köster : Geschichte des Klosters Loccum, Göttingen 1822, S. 44 f.; Steinwascher (wie Anm. 1), S. 325 f.

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dem Kloster im 16. Jahrhundert half, seine Unabhängigkeit zu behaupten. 1543 konnte eine lutherische Visitation des Klosters vom Fürstentum CalenbergGöttingen aus durch den Hinweis auf die möglichen Ansprüche der benachbarten Landesherren erfolgreich abgewendet werden.5 Ob der Abt von Loccum 1543 wirklich an der Kirchenvisitation im Fürstentum Calenberg teilnahm, wie in der Chronik von Abt Stracke berichtet wird,6 bedarf einer Überprüfung.7 Die Einsetzung eines welfischen Amtmanns, die Herzogin Elisabeth im folgenden Jahr anordnete, unterblieb, da ihre eigenen Ratgeber für diesen Fall das Eingreifen des Bischofs von Minden und des Grafen von Hoya befürchteten.8 Eine vorübergehende Besetzung der Abtei durch Erich II. im Jahre 1558 stieß auf den entschiedenen Widerstand des Bischofs von Minden.9 Ein zusätzliches Mittel, sich gegen die benachbarten Landesherren zu behaupten, lag in der Stellung Loccums als bereitwilligen Geldgebers. 1526 erhielt der Administrator von Minden 900 Gulden und bestätigte daraufhin sämtliche Privilegien und Rechte des Klosters in seinem Herrschaftsbereich;10 im selben Jahr empfing Graf Anton zu Holstein-Schaumburg 100 Gulden und versprach dafür ebenfalls, Privilegien und Rechte des Klosters in seinem Territorium zu bestätigen.11 1556 erhielt Herzog Erich II. von Calenberg 1100 Gulden und sicherte dem Kloster dafür drei Jahre Steuerfreiheit in seinem Fürstentum zu.12 De facto war bei solchen Zahlungen der Übergang von Kreditzahlungen und landesherrlichen Steuern fließend; zumindest auf Seiten der Landesherrschaft sah man in solchen Zahlungen eine zusätzliche Steuer.13 Demgegenüber hatte es sich bei einer Zahlung von 1500 Gulden an Herzog Erich I. im Jahre 1528 zumindest formal um ein Darlehen gehandelt, das dieser mit Zinsen zurückzuzahlen versprach.14 Dass das Kloster auf diese Weise für seine in den benachbarten Ter5 Hauptstaatsarchiv Hannover (i.F.:HStAH): Cal. Br. 7, Nr. 925; vgl. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333; Christa Graefe: Loccum in der Neuzeit, in: Germania Benedictina, Bd. XII: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, St. Ottilien 1994, S. 349. 6 KAL: Stracke II 2.7 Kladde; Reinschrift II 2.2. 7 Möglicherweise liegt ein Missverständnis vor, da zumindest in der Wiedergabe von Weidemann / Köster (wie Anm. 4), 1822, S. 49, Corvinus ebenfalls im Jahre 1543 (anstatt richtig 1523) aus dem Kloster Loccum entlaufen sein soll. 8 HStAH: Cal. Br. 1, Nr. 390a, Bl. 51; Adolf Brenneke: Vor- und nachreformatorische Klosterherrschaft und die Geschichte der Kirchenreformation im Fürstentum Calenberg-Göttingen (= Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds, 1. Teil), 2. Halbband, Hannover 1929, S. 78 f.; Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333. 9 HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 929; vgl. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333. 10 UB Loccum (wie Anm. 1), Nr. 920 – 922; vgl. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 325. 11 KAL, Urkunden, Nr. 1190. 12 Ebd., Urkunden, Nr. 1189. 13 Steinwascher (wie Anm. 1), S. 325. 14 KAL, Urkunden, Nr. 1198d; HStA Hannover : Cal. Br. 7, Nr. 924.

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ritorien gelegenen Besitzungen im Grunde bereits zu regulären Landessteuern herangezogen wurde, ließ sich dadurch, wenn auch mit Mühe, kaschieren.15 Von besonderer Bedeutung für die eigenständige Stellung Loccums wurde schließlich ein Schutzbrief Karls V. aus dem Jahr 1530, in dem der Kaiser das Kloster letztlich für reichsunmittelbar erklärte und der – angesichts der divergierenden Interessen der benachbarten Landesherren – zu einem Garant der Unabhängigkeit des Klosters wurde.16 Während es bei den diversen Auseinandersetzungen Loccums mit seinen Nachbarn um die hoheitliche Zuständigkeit bei einzelnen seiner Besitzungen ging, konnte das Kloster selbst zumindest formal für mehrere Jahrzehnte die Stellung eines kaiserlichen Reichsstifts behaupten. Auch wenn mit Beginn der Wolfenbütteler Herrschaft in Calenberg eine Bestätigung der Abtswahl durch den welfischen Herzog üblich wurde17 und das Kloster bereits 1583 auf einem Landtag zu Gandesheim vertreten war, auf dem es unter anderem um die klösterlichen Dienste ging,18 und auch wenn das Kloster unter Erich II. vom Fürstentum Calenberg zu Wagendiensten und zur Türkensteuer herangezogen worden war – eine Verpfändung des Klosters als Ganzes oder die dortige Einsetzung eines Amtmanns durfte die calenbergische Landesherrschaft nicht wagen, da in dem Fall die benachbarten Landesherren die in ihren Territorien gelegenen Besitzungen des Klosters eingezogen hätten.19

2.

Die Einbindung Loccums in den welfischen Herrschaftsbereich

Dies änderte sich, als mit dem Aussterben der Grafen von Hoya und der Eingliederung ihrer Grafschaft in den welfischen Herrschaftsbereich eine Garantiemacht des Klosters weggefallen war. Unmittelbar nach der Angliederung des Fürstentums Calenberg-Göttingen an das Haus Wolfenbüttel erzwang Herzog Julius vom Kloster 1584/1585 durch militärische Besetzung die Huldigung, wobei er vom Kloster als dessen »Schutzfürst« bezeichnet wurde.20 Vergeblich 15 Steinwascher (wie Anm. 1), S. 326. 16 KAL, Urkunden, Nr. 1209; vgl. Brenneke (wie Anm. 8), S. 438; Graefe (wie Anm. 5), S. 350; Steinwascher (wie Anm. 1), S. 326. 17 HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 937. 18 Adolf Brenneke / Albert Brauch: Die calenbergischen Klöster unter Wolfenbütteler Herrschaft 1584 – 1634 (= Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds, 2. Teil), Göttingen 1956, S. 49. 19 Brenneke (wie Anm. 8), S. 439. 20 HStA: Hann. 113, Nr. 13085; angeblich blieb der Herzog persönlich so lange im Kloster, bis die Huldigung erfolgte: Paul Fleisch: Das Kloster Loccum und die lutherische Landeskirche Hannovers, in: Evangelische Wahrheit 12, 1921, Sp. 199.

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erklärte der Loccumer Abt, die Calenberger Landtage bislang nur wegen seiner in diesem Fürstentum gelegenen Güter besucht zu haben,21 vergeblich beschwerte er sich über das Wolfenbütteler Vorgehen in Minden.22 Versuche des Hochstifts, das Kloster nun auch in den Mindener Herrschaftsverband einzubeziehen, blieben ohne Erfolg. 1589 hatte Loccum die Erbhuldigung gegenüber Julius’ Nachfolger Heinrich Julius zu wiederholen.23 Für die innere Entwicklung des Klosters bedeutsam wurde jedoch, dass Herzog Julius nun an die Stelle des bisherigen kaiserlichen Schutzherrn trat, dessen Privilegien wie freie Abtswahl oder hohe und niedrige Gerichtsbarkeit er bestätigte. Damit fand im Kloster das im Fürstentum Wolfenbüttel seit 1569 eingeführte Kirchengesetz, das seit 1584 auch im Fürstentum Calenberg Geltung hatte, keine Anwendung.24 Auch Herzog Heinrich Julius erkannte 1589 bei der erneuten Erbhuldigung die bisherigen Rechte des Klosters an.25 Wie seine Vorgänger bestätigte er die kaiserlichen Privilegien und sicherte wie sein Vater dem Kloster mit allen seinen Dörfern und Leuten die überkommenen Freiheiten zu.26 Ausdrücklich wurde dem Konvent vom Herzog zugestanden, weiterhin den bislang üblichen Habit zu tragen27 und es in konfessioneller Hinsicht beim Alten zu belassen – wobei diese Regelung nicht für die Loccum unterstellten Pfarrkirchen galt.28 Erst am Ende des 16. Jahrhunderts und ohne äußeren Druck nahm der Konvent mehrheitlich die lutherische Lehre an. Seitdem erklärten die Landesherren die Augsburgische Konfession als verbindlich auch für das Kloster Loccum.29 Auch wenn seit 1584 von einer Reichsunmittelbarkeit der Abtei nicht mehr die Rede sein konnte,30 war mit dem Huldigungseid die Eingliederung des Klosters in den welfischen Machtbereich nicht abgeschlossen; zumindest formal war Loccum nun aber in das calenbergische Territorium »inkorporiert«.31 Das Kloster selbst »wollte in dem Eide wohl wenig mehr sehen als eine dauernde Bekräftigung der längst bestehenden vorwiegenden schutzherrlichen Rechte der calenbergischen Herzöge«32. Weiterhin besuchte der Klostersyndicus im Namen 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 56. HStAH: Cal. Br. 1, Nr. 390a, Bl. 57 – 60. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333. Graefe (wie Anm. 5), S. 350. UB Loccum (wie Anm. 1), Nr. 968. KAL, Urkunden, Nr. 1269. HStAH: Cal. Br. 7 Nr. 937, Bl. 22. Steinwascher (wie Anm. 1), S. 327. Vgl. Erhard Stiller : Die Unabhängigkeit des Klosters Loccum von Staat und Kirche nach der Reformation (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 15), Göttingen 1966, S. 87. 30 Steinwascher (wie Anm. 1), S. 333. 31 Vgl. Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 199; Stiller (wie Anm. 29), S. 59. 32 Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 90.

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des Abtes wegen der dort liegenden Güter die Landtage des Hochstifts Minden. Die letzte Zitation des Bischofs von Minden erfolgte 1610, wurde jedoch nicht mehr befolgt.33 Weiterhin wehrte sich der Konvent – nach wie vor unter Hinweis auf den benachbarten Bischof von Minden – erfolgreich gegen Forderungen der Wolfenbütteler Landesherren nach neuen Anleihen oder einer Nutzung des Klosters zu militärischen Werbungen.34 Eine Ladung durch Herzog Heinrich Julius zu einem Landtag in Sulingen wurde dagegen 1594 vom Abt abgelehnt, da er und seine Vorgänger »niemals die Landtage in der Grafschaft Hoya besucht noch auch nur vor Praelaten oder Stende deroselben Grafschaft jemals geachtet oder gehalten wurden sei«.35 Versuche der benachbarten Amtleute, die Gerichtshoheit des Klosters in Frage zu stellen, führten am Ende des 16. Jahrhunderts zu langen Auseinandersetzungen, bei denen sich Loccum zunächst behaupten konnte.36 Für das Geschehen vor Ort brachte die Huldigung damit zunächst kaum einen einschneidenden Wandel. »Ähnlich, zumal im Wechsel von Widerstand und Anlehnung, hätten die Dinge auch ohne Erbhuldigung laufen können, und all dieses wäre auch unter Herzog Erich möglich gewesen, dem das Kloster vielleicht noch dienstbarer war«, stellt Brenneke in seiner grundlegenden Untersuchung fest.37

3.

Loccums Sonderstellung im Fürstentum Calenberg

Die besondere Rechtslage Loccums wurde 1597 deutlich, als Herzog Heinrich Julius seine Forderung nach Aufnahme einer größeren Anzahl von Pferden und Knechten im Kloster damit begründete, die Einkünfte des Klosters kämen dem Landesherrn zu, nicht dem Konvent. Ihm wurde vom Kloster geantwortet, die Loccumer Einkünfte gehörten dem jeweiligen Abt und dem Konvent; mit dem Huldigungseid seien dem Herzog keineswegs proprietatem et dominium des Klosters und seiner Güter zugefallen. Die Wolfenbütteler Räte empfahlen dem Herzog daraufhin dringend, seine Ansprüche zu reduzieren, damit die mit Mühe zur Huldigung gebrachten Konventualen allerseitz sich uff die lincke seiten zu wenden nicht verursacht werden.38 Vor solchem Hintergrund weigerte sich das Kloster Loccum mehrfach, landesherrliche Steuern zu entrichten. Als der Herzog das Kloster Loccum 1595 zu einer Zahlung von 3000 Gulden heranziehen 33 34 35 36 37 38

Weidemann / Köster (wie Anm. 4), S. 55; Stiller (wie Anm. 29), S. 72. Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 90 f. Staatsarchiv Wolfenbüttel: 41 Alt 3 Nr. 364, Bl. 2. Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 91 f. Ebd., S. 91. HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 951, Bl. 7v ; vgl. Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 93.

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wollte, musste er seine Bitte dreimal vortragen.39 Die Sonderstellung Loccums, das dem eigenen Selbstverständnis nach nicht mit anderen Klöstern und Stiften im Fürstentum zu vergleichen war, wurde vom Kloster auch zwei Jahr später gegenüber Herzog Heinrich Julius noch einmal ausdrücklich betont.40 Entsprechend ließ der Abt 1602 eine Neue Konstitution wegen des Fürsten Stift und Kloster Güter von Herzog Heinrich Julius nicht für Loccum gelten, da diese nur solche Klöster betreffe, in denen herzogliche Verwalter und Amtleute eingesetzt seien und die zur jährlichen Rechnungslegung herangezogen würden.41 Auf Druck der Gläubiger des Klosters musste die landesherrliche Verwaltung schließlich auf diese Linie einschwenken.42 Immerhin zahlte Loccum um 1621 über den Wolfenbütteler Klostersekretär eine geforderte Verschreibung von 4000 Reichstalern an die fürstliche Kammer.43 Vergeblich forderte die Wolfenbütteler Regierung 1629 dagegen angesichts der bevorstehenden Besetzung des Landes eine Überführung der Loccumer Urkunden nach Wolfenbüttel.44 Eine stärkere territoriale Zentralgewalt über das Kloster hätte sich nur durch Beseitigung der aus der verbrieften Reichsunmittelbarkeit herrührenden Vorbehaltsklauseln für den Huldigungseid gewinnen lassen, die die wolfenbüttelschen Herzöge zwar mehrfach versucht, aber nicht erreicht haben.45 Auch nach der welfischen Teilung von 1635 und dem Anfall des Klosters an das neu entstandene Fürstentum Calenberg änderte sich an der Stellung des Klosters formal nichts. So konnte sich das Kloster als kaiserlich freyes Stift Loccumb46 1657erfolgreich einer landesherrlichen Visitation widersetzen, die sämtliche Stifte und Klöster vor Ort in Augenschein nehmen sollte. Als Kompromiss fand 1660 in Hannover eine Zusammenkunft zwischen Vertretern des Landesherrn und der Klosters statt.47 Das Kloster habe sich freiwillig unter welfischen Schutz begeben; der kaiserliche Schutzbrief von 1530 sei davon unberührt geblieben, wurde von Seiten des Klosters noch 1670 betont.48 Eine formale Einbindung des Klosters in die allgemeine Landesverwaltung war nach wie vor nicht gegeben. 39 HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 949; vgl. Graefe (wie Anm. 5), S. 352. 40 Ebd., Cal. Br. 7. Nr. 951. 41 Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 93. Offenbar hatten sich die Calenberger Männerklöster und Kollegiatstifte in den Jahren 1596 bis 1601 generell der Rechnungslegung vor einer fürstlichen Kommission in Wolfenbüttel entziehen können. Weder der Abt von Bursfelde noch der Abt von Loccum war nach Wolfenbüttel zitiert worden; ebd., S. 198 f. 42 Ebd., S. 94. 43 Ebd., S. 168. 44 Ebd., S. 319. 45 Ebd., S. 91. 46 HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 978, Bl. 7. 47 HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 978, Bl. 23 – 25. Dennoch scheint der Generalissimus-Superintendent Gesenius 1660 zumindest inoffiziell in Loccum gewesen zu sein; vgl. Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 111. 48 HStAH: Hann. 113, Nr. 13089, Bl. 6.

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Zwar wurde das Kloster zu Steuern und Kontributionen herangezogen – insbesondere zu Bierakzise, Schaf- und Scheffelschatz, Dorftaxe49 – und gewährte dem Landesherrn Darlehen, die zumindest sehr zögerlich zurückgezahlt wurden.50 Zugleich wurde jedoch betont, dass das Kloster zu solchen Leistungen eigentlich nicht verpflichtet sei.51 Noch 1763 bestätigte König Georg III. als neuer Landesherr die wohlhergebrachten und noch habenden kaiserlichen, fürstlichen und anderen Privilegien des Klosters Loccum.52 Dabei wurde dem Kloster noch einmal ausdrücklich das Recht zugestanden, sein Vermögen selbstständig zu verwalten. Bis ins 19. Jahrhundert bestand Loccum als eigenständige Korporation fort. 1792 wurde seine freie Abtswahl vom Landesherrn, der lediglich ein Bestätigungsrecht beanspruchte, noch einmal ausdrücklich bestätigt.53 Das Kloster ist bis zum Ende das alten Reichs niemals visitiert worden, niemals wurde sein Vermögen durch die landesherrliche Verwaltung auch nur schriftlich festgehalten.54 Im Zusammenhang mit der preußischen Besetzung Hannovers wurde erstmals 1806 ein Bericht über die Vermögensverwaltung des Klosters angefordert.55 Erst bei der Wiederherstellung des Kurfürstentums bzw. Königreichs Hannover nach der napoleonischen Zeit wurde die Sonderstellung Loccums, um die 1820 vom Kloster noch einmal ausdrücklich ersucht wurde,56 nicht mehr festgeschrieben. Ein entsprechender Entwurf scheiterte 1823 am Widerspruch Georgs IV., der – den Bestimmungen des Reichsdeputationhauptschlusses folgend,57 auf deren Grundlage die Besitzungen der anderen Klöster des Landes im hannoverschen Klosterfonds zusammengefasst worden waren58 – sein Verfügungsrecht über das Kloster nicht einschränken lassen wollte.59 Zwei Jahre später wurde vom König dann aber zumindest auf Lebenszeit des amtierenden Abtes, der als bejahrter und verdienter Mann möglichst zu beruhigen sei, jede Änderung ausgeschlossen.60 Erst 1831 wurde die Angelegenheit noch einmal aufge49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Stiller (wie Anm. 29), S. 69. Vgl. HStAH: Cal. Br. 7 Nr. 959, Bl. 9. Stiller (wie Anm. 29), S. 70. HStAH: Hann. 92, Nr. 1048, Bl. 28v. HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 992. Stiller (wie Anm. 29), S. 60, 63. HStAH: Hann. 113, Nr. 13096, Bl. 6. Ebd., Nr. 13099/1. Vgl. HStAH: Hann. 92, Nr. 1048. Vgl. Manfred von Boetticher, Der braunschweigische »Vereinigte Kloster- und Studienfonds« und der »Allgemeine Hannoversche Klosterfonds«. Eine Gegenüberstellung, in: Evangelisches Klosterleben. Studien zur Geschichte der evangelischen Klöster und Stifte in Niedersachsen, hg. von Hans Otte (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 46) Göttingen 2013, S. 70 ff. 59 Schultzen (wie Anm. 47), S. 162. 60 HStAH: Hann. 92, Nr. 1048.

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rollt. Endgültig verzichtete die Regierung jetzt für den Fall des Klosters Loccum auf eine Anwendung des Reichsdeputationshauptschlusses,61 die Rechtspersönlichkeit des Klosters blieb unangetastet.62 Selbst die Gültigkeit der Wahlreglements des Abtes von 1792, durch die eine kanonische Wahl sicher gestellt werden sollte, wurde noch einmal ausdrücklich bestätigt.63 Daran änderte auch die preußische Neuordnung der Jahre 1876 bis 1878 nichts. Nach anfänglichen Bestrebungen, das Kloster aufzuheben oder als Stiftung anzusehen, wurde die bisherige Rechtsstellung anerkannt; sämtliche vorgenommenen Neuerungen erfolgten als »Änderungen und Zusätze« zu den Regelungen von 1831, die damit grundsätzlich in Kraft blieben.64 Wichtigste Veränderung war die Einführung eines Kurators, der dem Kloster von der Regierung »beigeordnet« wurde – nicht Konventuale, mit Stimmrecht im Konvent.65 Erst jetzt wurde dem Landesherrn bzw. dem Kabinettsministerium eine Oberaufsicht hinsichtlich Zweckmäßigkeit und Gemeinnützigkeit der Güterverwaltung eingeräumt.66

4.

Der Abt von Loccum in der Calenberger Landschaft und als Beauftragter des Landesherrn

Die Anerkennung von Schutzrechten bedeutete nicht automatisch eine allgemein anerkannte Territorialzugehörigkeit des Klosters zum welfischen Herzogtum.67 Besitzungen des Klosters lagen im Hochstift Minden, in den Grafschaften Hoya und Schaumburg und im Fürstentum Calenberg, während der eigentliche Stiftsbezirk mit den Ortschaften Loccum, Münchehagen und Wiedensahl als exemt galt.68 Schon vor der Huldigung an Herzog Julius waren die Äbte des Klosters Mitglied des Calenberger Landtags – wie Herzog Erich II. gegenüber dem Bischof von Minden 1558 behauptete, aufgrund einer Calenberger Territorialhoheit über »unser Kloster«,69 wie das Kloster selbst betonte, wegen seiner im Fürstentum gelegenen Güter.70 Einer Teilnahme an den Calenberger Landtagen konnten sich die Äbte damit aber nicht mehr entziehen. Sie 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 201. Stiller (wie Anm. 29), S. 60. Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 200. Ebd., Sp. 202. Stiller (wie Anm. 29), S. 64; Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 202. Stiller (wie Anm. 29), S. 64. Vgl. Brenneke (wie Anm. 8), S. 438 f. Stiller (wie Anm. 29), S. 72. HStAH: Cal. Br. 7, Nr. 929. HStAH: Cal. Br. 7, Bl. 937v ; vgl. Stiller (wie Anm. 29), S.72 f.

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erhielten jedoch die ausdrückliche Zusicherung des Landesherrn, dass aus dem Erscheinen auf den Landtagen den überkommenen Rechten des Klosters kein Nachteil erwachsen solle.71 Entsprechend wurden die Äbte seit 1596, dem Jahr der ersten landesherrlichen Abtsbestätigung, auch als Prälaten des Fürstentums Calenberg angesprochen.72 Aufgrund der Eigenständigkeit seines Klosters nahm der Abt von Loccum bald eine Sonderstellung auch innerhalb der Calenberger Landschaft ein, wo er zusammen mit dem Abt von Marienrode, den Vertretern der Stifte St. Bonifacii in Hameln und St. Cosmae und Damiani in Wunstorf sowie einiger Frauenklöster, nach der Union mit Grubenhagen auch den Vertretern der beiden Stifte St. Alexandri und Beatae Mariae Virginis in Einbeck, die Prälatenkurie bildete,73 die jedoch immer weiter zusammenschmolz. Spätestens seit 1723 führte der Abt von Loccum hier das Präsidium,74 während der Vorsitz auf dem Landtag dem ritterschaftlichen Landrat zukam.75 Zudem gehörte der Abt von Loccum den drei Landtagsausschüssen an – dem großen oder landschaftlichen Deputationskollegium, dem kleinen oder engeren Ausschuss und dem Schatzkollegium.76 Das Deputationskollegium, das auf dem Landtag von Elze von 1599 entstanden war, umfasste 20 Mitglieder, darunter drei Prälaten, seine Aufgaben waren nicht fest umrissen; um Kosten zu sparen, trat das Gremium bei Bedarf an die Stelle des allgemeinen Landtags.77 Der engere Ausschuss bestand aus sieben Mitgliedern, die Prälatenkurie war hier allein durch den Abt von Loccum vertreten. Der Ausschuss hatte keine festen Aufgaben, sondern wurde vom Landesherrn von 1638 an bei Bedarf einberufen; von der allgemeinen Landschaft wurde er deshalb bekämpft.78 Das Schatzkollegium war 1594 auf dem Landtag von Elze gebildet worden, um die Verwaltung der Steuereinkünfte im Sinne der Stände vorzunehmen. Es bestand aus sechs Mitgliedern – den Mitgliedern des engeren Ausschusses mit Ausnahme der Vertreter der großen Städte – und war zuständig für die Rechnungslegung durch die Schatzeinnehmer.79 Seit wann der Abt von Loccum diesem Gremium angehörte, ist unklar. In einer Konstitution zur Bevollmächtigung der Schatzverordneten 71 So in einem Revers von Herzog Heinrich Julius von 1596: UB Loccum (wie Anm. 1), Nr. 977: vgl. Weidemann / Köster (wie Anm. 4), S. 62; Stiller (wie Anm. 29), S. 73. 72 Für 1596: HStAH: Hann. 113 Nr. 13146, Bl. 16; vgl. Stiller (wie Anm. 29), S. 73. 73 Stiller (wie Anm. 29), S. 73. 74 Albert Brauch / Annelies Ritter: Die calenbergischen Klöster 1634 – 1734 (= Geschichte des Hannoverschen Klosterfonds, 3. Teil), Hildesheim 1976, S. 131; Stiller (wie Anm. 29), S. 73. 75 Stiller (wie Anm. 29), S. 74. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 74 f.

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von 1595 wird er noch nicht genannt, nach 1600 wurde der Abt von Loccum regelmäßig als Schatzverordneter der Calenberger Landschaft erwähnt,80 1615 erscheint er in diesem Zusammenhang als erster der Prälaten.81 1677 wurde Abt Molanus dem Landesherrn zum Schatzrat präsentiert;82 seit der Zeit scheint es üblich geworden zu sein, den jeweils neu gewählten Abt von Loccum als ersten Schatzrat der Prälatur zu bestimmen.83 Ein Anspruch auf dieses Amt bestand allerdings bis 1722 nicht, sondern wurde erst damals vom König als Gewohnheitsrecht festgeschrieben.84 Die Verfassungsänderungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten auf die Stellung des Klosters in den Landesvertretungen wenig Einfluss. In der provisorischen allgemeinen Ständeversammlung von 1814 gehörte der Abt kraft Amtes der ersten Kammer an, er war Mitglied der ersten Kammer der allgemeinen Ständeversammlung, die aufgrund der oktroyierten Verfassung 1819 einberufen wurde. Die von König Wilhelm IV. aus dem Jahr 1831 bestätigte überkommene Sonderstellung Loccums ließ die Landtagsfähigkeit des Abtes von Loccum unangetastet.85 Sein Sitz in der ersten Kammer der allgemeinen Ständeversammlung ist erst durch die Einführung der preußischen Verfassung in der Provinz Hannover 1866 entfallen. Die Mitgliedschaft in der ersten Kurie der Calenberg-Grubenhagenschen Provinziallandschaft bestand bis 1885 fort;86 Sitz und Stimme auf dem Calenberg-Grubenhagenschen Provinziallandtag blieben festgeschrieben.87 Eine besondere Position nahm der Abt von Loccum seit Beginn der Herrschaft Herzog Georgs von Calenberg (1636 – 1641) ein. Bei Plänen für eine von ihm vorgesehene Generalvisitation als Grundlage einer allgemeinen Klosterreform, die aber schließlich nicht zustande kam, sollten die Stände in der ge-

80 HStAH: Dep. 7 A Urkunden Nr. 48 (für 1614), Nr. 51 (für 1672), Nr. 46 (für 1721); vgl. Stiller (wie Anm. 29), S. 75. 81 HStAH: Cal. Br. 19 III Nr. 28, Bl. 90v. 82 HStAH: Cal. Br. 19, Nr. 47. 83 HStAH: Hann. 113, Nr. 13096, Bl. 18v. 84 HStAH: Dep. 7, Nr. 998; vgl. Stiller (wie Anm. 29), S. 75 f.; vgl. Dietmar Storch: Die Landstände des Fürstentums Calenberg-Göttingen 1680 – 1714 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 81), Hildesheim 1972, S. 35 f.; Annette von Stieglitz: Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation. Die Innenpolitik Herzog Johann Friedrichs im Fürstentum Calenberg 1665 – 1679 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. XXIV, 7), Hannover 1994, S. 38; Horst Kruse: Stände und Regierung – Antipoden? Die calenbergisch-göttingschen Landesstände 1715 – 1802 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 121), Hannover 2000, S. 38. 85 HStAH: Hann. 92, Nr. 1051; Stiller (wie Anm. 29), S. 60. 86 Stiller (wie Anm. 29), S. 76. 87 Ebd., S. 71.

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planten Kommission allein durch den Loccumer Abt vertreten sein.88 Spätestens 1695 war der Abt Mitglied der kurfürstlichen Kommission, die außer ihm aus dem Klostersekretär und dem Oberamtmann von Calenberg bestand und die Wahl und Einführung des Abtes von Marienrode vorzunehmen hatte.89 Der Abt von Loccum vertrat hier verfassungsrechtlich die evangelisch-lutherische Kirche; neben seinem geistlichen Amt war er Staatsbeamter, der seinem Landesherrn in geistlichen und weltlichen Fragen verpflichtet war.90

5.

Der Weg des Klosters Loccum in die hannoversche Landeskirche

Die Herzöge Julius und Heinrich Julius beriefen sich gegenüber dem Kloster Loccum nicht auf ein bischöfliches Recht, das bis zur Durchführung der dortigen Reformation ohnehin dem Bischof von Minden zustand, sondern machten allein ihr landeshoheitliches Recht geltend.91 Ebenfalls Gebrauch gemacht wurde von der Vorstellung eines weltlichen Vogteirechts des Landesherrn. In diesem Sinn bezog sich Herzog Friedrich Ulrich 1616 in einem vom Kloster erbetenen besonderen Schutzpatent nicht allein auf seine bei der letzten Erbhuldigung als Landesfürst übernommene Pflicht, sondern auch auf seine Funktion als »weltlicher Obervogt« des Klosters.92 Erst später erschien der Landesherr gegenüber Loccum als Summus episcopus. In diesem Sinn stützte sich Herzog Johann Friedrich – als katholischer Herrscher gegenüber dem evangelischen Kloster – auf sein ius episcopale,93 und ein solches Selbstverständnis der Landesherren scheint seitdem gerade bei Loccum überwogen zu haben. Auch wenn dem Kloster Loccum zunächst keine kirchlichen Aufgaben übertragen worden waren, wie sie im 17. Jahrhundert für die Wolfenbütteler Männerklöster galten,94 konnte es sich als kirchliche Einrichtung erhalten und wurde später in den Organismus der Landeskirche eingegliedert.95 Ausschlaggebend dafür erscheint zunächst einmal vor allem seine eigenständige Güterverwaltung und seine Stellung als Landstand.96 Seit Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Loccumer Äbte in der Landeskirche als erste Geistliche angesehen, 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Brauch / Ritter (wie Anm. 74), S. 33. Ebd., S. 129. Ebd., S. 130; vgl. Stiller (wie Anm. 29), S. 71 ff. Stiller (wie Anm. 29), S. 84. Brenneke / Brauch (wie Anm. 18), S. 94. Stiller (wie Anm. 29), S. 90. Ebd., S. 101; vgl. Boetticher (wie Anm. 58). Ebd., S. 101. Ebd., S. 101.

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Manfred von Boetticher

als Konsistorialräte oder Konsistorialdirektoren waren sie Mitglieder des Konsistoriums. Andererseits waren zahlreiche Superintendenten stets auch Mitglieder des Loccumer Konvents.97 Wichtig für das enge Verhältnis von Kloster und Landeskirche wurde weiterhin die Entstehung des Loccumer Predigerseminars. Mit dem wachsenden Bedarf an Theologen nach dem Dreißigjährigen Krieg wandelte sich das Kloster allmählich von einer Herberge zu einer Ausbildungsstelle junger Theologen.98 1780 bis 1790 bildete sich auch formal ein Predigerseminar, dessen Leitung bei einem Studiendirektor lag, der zugleich Mitglied des Loccumer Konventes war.99 Seit Abt Salfeld (1792 – 1830), der wesentlich zum Ausbau des Predigerseminars beitrug, wurde die Verbindung von Kloster und Konsistorium die Regel.100 Bis zum Ende des alten Reiches blieb es dabei, dass der hannoversche Landesherr das Kloster Loccum als kirchliche Korporation ansah, die dem kanonischen Recht unterstand und über die er lediglich oberbischöfliche Rechte auszuüben beanspruchte – und auch dieses nur zur Wahrnehmung von deren eigenen kirchlichen Rechtsnormen.101 Ungeachtet einiger Änderungen, vor allem im Zusammenhang mit der Abtswahl, blieb der kirchliche Charakter des Klosters im Königreich Hannover unangetastet:102 Das Kloster wurde mit seinen Besitzungen nicht der hannoverschen Klosterkammer eingegliedert, sondern unmittelbar dem Kabinettsministerium, später dem Kultusministerium unterstellt, durch das der Landesherr seine bischöfliche Funktion ausübte: »Das Kloster war und blieb eben eine Korporation der lutherischen Kirche.«103 Endgültig vollzogen wurde die verfassungsmäßige Eingliederung Loccums in die hannoversche Landeskirche durch die Kirchen- und Synodalordnung von 1864, nach der der Abt von Loccum neben dem Präsidenten des Landeskonsistoriums und den gewählten Synodalen Mitglied der Landessynode wurde. Damit war der Abt von Loccum »geborenes Mitglied« des Landeskirchentages104 und zumindest de facto »erster Landesgeistlicher«.105 Gleichzeitig erhielt der Abt das Recht, auf der Bezirkssynode Loccum-Stolzenau den Vorsitz zu führen.106 Seit Entstehung der hannoverschen Landeskirche erschien das Kloster damit als deren Korporation, die Konventualen, soweit sie wie Abt, Prior und Studiendi-

97 98 99 100 101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 77. Ebd., S. 61; Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 202. Graefe (wie Anm. 5), S. 356. Stiller (wie Anm. 29), S. 78. Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 200. Ebd., Sp. 201. Ebd., Sp. 201. Hans Liermann: Deutsches Evangelisches Kirchenrecht, Stuttgart 1933, S. 282. Fleisch (wie Anm. 20), Sp. 201. Ebd., Sp. 201.

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rektor ordiniert waren, galten als Geistliche der Landeskirche107 – während aufgrund einer anderen historischen Entwicklung die mit Stiftsdamen besetzten Frauenklöster formal nicht einmal mehr als geistliche Einrichtungen angesehen wurden. Seit 1903 wurde das Amt des Kurators vom Präsidenten des hannoverschen Landeskonsistoriums bekleidet. Auch die preußische Regierung brachte auf diese Weise zum Ausdruck, dass sie die kirchliche Stellung des Klosters respektierte.108 Bestätigt wurde diese Eingliederung durch die Kirchenverfassung von 1922. Mit dem Wegfall des Summepiskopats nach dem Ersten Weltkrieg konnte die Abtswahl nicht mehr staatlich bestätigt werden; ebenso musste der von der Regierung ernannte Kurator entfallen. Unter solchen Voraussetzungen konnte das neu gebildete Amt des Landesbischofs und das des Abts von Loccum in einer Person zusammenfallen.109 Während der übrige ehemalige Klosterbesitz in der halbstaatlichen Stiftung der Klosterkammer zusammengefasst ist, gilt für das Kloster Loccum noch heute die Stellung einer selbstständigen geistlichen Körperschaft innerhalb der Landeskirche mit ausdrücklicher Befugnis zur selbstständigen Verwaltung ihrer Angelegenheiten.110

107 108 109 110

Ebd., Sp. 202. Ebd., Sp. 202. Ebd., Sp. 203. Vgl. Nikolaus Heutger: Das Kloster Loccum im Rahmen der zisterziensischen Ordensgeschichte. Zum 100. Geburtstag von Johannes XI. Lilje, Abt zu Loccum, und zur Expo 2000 (Forschungen zur niedersächsischen Ordensgeschichte, Bd. 4), Hannover 1999, S. 206.

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Abt Molan und die Ökumene1

Der Mann, dem die folgende Studie gewidmet ist, hat sich nicht aus eigenem Antrieb in die kirchlichen Reunionsbemühungen seiner Zeit eingeschaltet. Seine einschlägigen Gedanken waren vielmehr amtlich veranlaßte Reaktionen auf die Aktionen des Cristobal Rojas y Spinola (im folgenden kurz Rojas).2 Dieser, geboren um 1625 als Sohn eines Offiziers in Flandern und gestorben am 12. März 1695 in Wiener Neustadt,3 war zunächst Franziskaner-Observant.4 Von 1650 – 1658 leitete er in Köln ein von ihm selbst aufgebautes Seminar für Konvertiten, also eine Anstalt, in der Menschen, die in den Schoß der Papstkirche zurückkehrten, systematisch zur Identifikation mit deren Verheißungen, Ord-

1 Überarbeitete Fassung meiner Studie: Gerard Wolter Molan und seine Stellung zum Projekt einer kirchlichen Reunion, in: Heinz Duchhardt/Gerhard May (Hrsg.): Union – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung der christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert (VIEG Beiheft 50), Mainz 2000, S. 171 – 196. Seither ist eine umfassende detailreiche Gesamtdarstellung der hier in Rede stehenden Vorgänge erschienen: Karin Masser : Christûbal de Gentil de Rojas y Spinola O.F.M. und der lutherische Abt Gerardus Wolterius Molanus. Ein Beitrag zur Geschichte der Unionsbestrebungen der katholischen und evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 145), Münster 2002; zu den Vorzügen und Problemen dieser Arbeit s. meine ausführliche Besprechung in: ThR 69, 2004, S. 362 – 366. 2 Vgl. Philipp Hiltebrandt: Die Kirchlichen Reunionsverhandlungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ernst August von Hannover und die Katholische Kirche (Bibliothek des Preußischen Historischen Instituts in Rom Bd. XIV), Rom 1922, S. 46 f. Heinz Weidemann: Gerard Wolter Molanus, Abt zu Loccum. Eine Biographie, 2 Bde., Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Bde. 3 und 5, Göttingen 1925 – 29, hier Bd. 2, S. 32. 3 Einen komprimierten Überblick über Rojas’ Leben und Wirken, der die ältere Forschung zusammenfaßt, bietet Remigius Bäumer : Die Unionsbemühungen von Christoph de Rojas y Spinola, in: Hans Otte/Richard Schenk (Hrsg.): Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 37), Göttingen 1999, S. 85 – 103; maßgeblich jetzt Masser (wie Anm. 1), S. 40 – 158. 4 Zur Bedeutung der Reformorden für die gegenreformatorischen Rekatholisierungsanstrengungen s. Arno Herzig: Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 88 – 95.

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nungen und Normen erzogen wurden.5 Dann trat er in kaiserliche Dienste (zu seinen Ämtern s. u. S. 188). Im Auftrag Leopolds I.6 reiste er kreuz und quer im Reich umher, um v. a. Unterstützung für dessen Kampf gegen Frankreich und die Türken einzuwerben. In diesem Zusammenhang verfolgte er auch, wie man gern sagt, »irenische« Pläne, denn der Kaiser stand bei den protestantischen Reichsständen wegen seiner rigide antiprotestantischen Politik in den habsburgischen Stammlanden in schlechtem Ruf – besonders kritisch waren die Verhältnisse in Ungarn, wo die Protestanten der Konspiration mit Frankreich und den Osmanen geziehen wurden. Diese »Irenik« weist deutliche Kontinuität zu seiner Tätigkeit im Kölner Konvertiten-Seminar auf: Dort hatte er Individuen bei deren Einfügung in die Katholische Kirche angeleitet, und nun verfolgte er dieses selbe Ziel in Bezug auf Staatswesen und Kirchenkörper. Nun bezeichnet »Irenik« dem schlichten Wortsinne nach ein Trachten und Handeln, welches nach eQq¶mg, Frieden strebt. Deutlich ist: Der Friede, um den sich Rojas mühte, war nicht konzipiert als Gestaltung akzeptierter konfessioneller Differenzen, sondern als deren Aufhebung durch eine Vereinigung der Kirchentümer, die nicht als Union, also als Begründung einer neuartigen Kirchengestalt, sondern als Reunion, als Eingliederung der evangelischen Kirchen in die Papstkirche zu deren Bedingungen, konzipiert war.7 An diesen Aktionen hatte Molans Landesherr Ernst August von Hannover, der für seine Person kirchlich und konfessionell ganz desinteressiert war,8 5 Vgl. Masser (wie Anm. 1), S. 53 f. – Vgl. zur regelrechten Professionalisierung des Konversionshelfers (convertisseur) in der gegenreformatorischen Papstkirche die Studie von Susan Rosa: The Mentality of a Persecutor. James Drummond, Earl of Perth, and the Recatholization of Scotland, 1685 – 1693, in: Friedrich Niewöhner/Fidel Rädle (Hrsg.): Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit (Hildesheimer Forschungen Bd. 1), Hildesheim 1999, S. 181 – 207. Reiche weitere Einblicke am Leitfaden der Lebensgeschichte eines prominenten Konvertiten bietet Georg Eckert: »True, Noble, Christian Freethinking«. Leben und Werk Andrew Michael Ramsays (1686 – 1743), Münster 2009. 6 Vgl. Anton Schindling, Leopold I., in: Ders./W. Ziegler : Die Kaiser der Neuzeit 1519 – 1918, München 1990, S. 169 – 185. – Schindling betont, daß Leopolds Regierung im Zuge der Errichtung absolutistischer Herrschaft in den Erblanden einen weiteren starken Schub des gegenreformatorischen Alleinherrschaftsanspruchs der katholischen Kirche mit sich brachte, während der Kaiser im Reich die im Westfälischen Frieden garantierte Parität der Konfessionen achtete und für seine politischen Ziele im Kampf gegen Frankreich und das Osmanische Reich geschickt nutzte. Zu Leopolds strategischem und taktischem Agieren in der Reunions-Frage vgl. Matthias Schnettger : Kirchenadvokatie und Reichseinigungspläne. Kaiser Leopold I. und die Reunionsbestrebungen Rojas y Spinolas, in: H. Duchhardt/G. May (Hrsg.): Union-Konversion-Toleranz (wie Anm. 1), S. 139 – 169. 7 Vgl. dazu Masser (wie Anm. 1), S. 23; s. auch die treffende Charakteristik von Dorothea Wendebourg: Art. Ökumenische Bewegung I.4, in: RGG4, Bd. 6, Sp. 517 – 519: »Nicht Frieden, sondern (Re)Union, Vereinigung durch Integration der ev. Amtsträger und Gemeinden in die röm.-kath. Kirche bei Aufrechterhaltung gewisser eigener Züge« (Sp. 517). 8 Vgl. dazu die profund gelehrte Studie von Hans Otte: Glaubenswechsel, Reichspolitik und Wiedervereinigung der Kirchen. Der Beginn der Reunionsverhandlungen in Hannover und

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zeitweilig ein starkes politisches Interesse: Er bedurfte seinerseits der kaiserlichen Unterstützung in seinem Streben nach der Kurwürde für das Welfenhaus und bei der festen Formierung seines Territoriums durch die Einführung des Primogenitur-Erbrechts. Wie sehr diese Motive hier leitend waren, läßt sich daran ablesen, daß Ernst Augusts Engagement für die Reunionssache alsbald rapide erkaltete, als seine eben genannten Ziele erreicht waren und sich eine neue politische Chance, nämlich die englische Erbfolge für sein Haus, abzeichnete.9 Es war jene politische Konstellation, durch die Molan in die Reunionssache hineingezogen wurde.10 Zeitweilige politische Interessen seines Landesherrn waren also das auslösende Moment für seine Verhandlungen mit Rojas. Aber in kirchengeschichtlicher Sicht sind mit dieser Feststellung längst noch nicht alle Fragen beantwortet. Vielmehr sind bei der Analyse der Stellungnahme Molans zu einem Reunionsvorhaben weitere Faktoren in ihren wechselseitigen Bedingtheiten und Beeinflussungen zu berücksichtigen: Einmal ist die theologische Sichtweise der Probleme und Gegensätze auf Seiten der Handelnden zu eruieren und kirchen- und theologiegeschichtlich einzuordnen. Sodann ist nach den Legitimationsfiguren zu fragen, die Molan und sein Partner Rojas für ihr Handeln in Anspruch genommen haben: Von welchen Leitkategorien her verstanden sie ihr kirchenpolitisches Handeln, welcher Begriff von Kirche war also für ihr Tun implizit oder explizit maßgebend? Auch die hier zu erhebenden Befunde müssen dann wieder kirchen- und theologiegeschichtlich eingeordnet werden. Im folgenden werde ich also zunächst Molans Werdegang und sein intellektuelles Profil etwas ausführlicher nachzeichnen. Dann werde ich, mit Seitenblicken auf Rojas, sein Verständnis seines Handelns im Kontext des Reunionsprojekts analysieren. Danach erst werde ich darstellen, wie er in kritischer Auseinandersetzung mit Rojas’ Vorgaben so etwas wie ein eigenes Konzept der kirchlichen Reunion ausgearbeitet hat. Dabei beschränke ich mich auf die Version, die während der wichtigsten Verhandlungsrunde mit Rojas im Jahre 1683 entstand; die Abänderungen in Einzelheiten, die es später erfahren sollte, berücksichtige ich nur an einigen markanten Stellen. Endlich werde ich, gleichsam als Ertragssicherung, noch eine Linie in unsere Gegenwart ziehen.

die Interessen der welfischen Herzöge, in: Ders./R. Schenk (Hrsg.): Die Reunionsgespräche (wie Anm. 3), S. 56 – 84, bes. S. 74 – 76. 9 Vgl. jetzt zu den dynastischen Zusammenhängen die gelehrte, geistvolle Studie von Tilman Matthias Schröder : Bekenntnis und Aufklärung. Die Kinder des Winterkönigs, in: ThLZ 136, 2011, Sp. 595 – 610. 10 S. zu den politischen Hintergründen ausführlich den in Anm. 8 genannten Aufsatz von Otte sowie in aller Kürze Martin Ohst: Späte Helmstedter Irenik zwischen Politik und Theologie, in: JGNKG 92, 1994, S. 139 ff.; bes. S. 139 – 143.

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I. Seit 1676 zählten also die welfischen Höfe zu Rojas’ regelmäßigen Anlaufstationen auf seinen unermüdlichen Reisen in Sachen habsburgischer Reichspolitik und kirchlicher Reunion. Schon 1679 verhandelte er in Hannover vier Monate lang unter strengster Geheimhaltung mit Gerard Wolter Molan11 – ohne greifbare Resultate. Erst vier Jahre später, in der ersten Hälfte des europäischen Schicksalsjahres12 1683, fand die entscheidende zweite Verhandlungsrunde, der sog. »Unionskonvent«, statt, über dessen Verlauf und Ergebnisse wir recht präzise informiert sind.13 Als Molan auf Befehl Ernst Augusts von Hannover im Frühjahr 1683 seine wichtigste Stellungnahme zur Reunionsangelegenheit, die »Methodus reducendae Unionis Ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes«14 als Antwort auf die Reunionsvorschläge Rojas’15 niederlegte, da war er 49 Jahre alt. Seit einer Reihe von Jahren schon stand er auf dem Zenit seiner beruflichen Laufbahn.16 Von 1651 – 59 hatte er in Helmstedt, Rinteln und Straßburg studiert – Theologie, davor und daneben selbstverständlich auch Philosophie, und zwar im Sinne jener Zeit verstanden als Inbegriff aller Real- und Humanwissenschaften. Seine Studienschwerpunkte lassen sich deutlich daraus erschließen, daß er gleich nach Abschluß seiner akademischen Kavalierstour am 23. Oktober 1659, 26-jährig, Professor der Mathematik in Rinteln wurde – ein üblicher Zwischenschritt in der akademischen Karriere eines Theologen jener Jahre. 1664 übernahm er zusätzlich ein theologisches Extraordinariat, erwarb bald darauf die theologische Licentiatenwürde und rückte ins Ordinariat ein. Seit 1671 war er dann Primarius seiner Fakultät. Wie die Publikationen jener Jahre, allesamt akademische Pflicht- und Gelegenheitsarbeiten,17 ausweisen, blieben seine In11 Vgl. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 33; Molans eigener Bericht ebd., Anhang 9, S. 174. 12 Vgl. in Kürze Max Braubach: Vom Westfälischen Frieden bis zur französischen Revolution, Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, TB-Ausgabe Bd. 10, 7. Aufl. München 1985, S. 68 – 71 über die Entsetzung Wiens am 12. September 1683, ihre Vorgeschichte und ihre weiteren Nachwirkungen. 13 Vgl. Weidemann (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 37 ff.; ebd., Anhang 3, S. 157 f. der Bericht Leibniz’; Anhang 9, S. 174 f. der Bericht Molans. 14 Methodus reducendae Unionis Ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes ex Speciali Mandato Serenissimi Principis ac Domini Ernesti Augusti a duobus Celsitudinis suae Theologis conscripta, datiert auf den 30. III. 1683, zitiert im folgenden nach dem Abdruck bei Rudolf August Noltenius: Commercii Litterarii Clarorum Virorum Tomus II, Braunschweig 1738, S. 327 – 342, mit dem Kürzel »Methodus« und Angabe der §-Nummer im Text. 15 Zitiert im folgenden nach dem Abdruck bei F. Lachat (Hrsg.): Oeuvres ComplÀtes de Bossuet, Bd. XVII, Paris 1875, S. 360 – 374 mit dem Kürzel »Regulae« und Angabe der Seitenzahl; weitere Ausgaben s. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 40 f., Anm. 6. 16 Alle biographischen Angaben, soweit nicht anders vermerkt, nach Weidemann (wie Anm. 2). 17 Vgl. die Liste bei Weidemann (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 166 – 169.

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teressen breit gefächert: Außer zu theologischen Fragen äußerte sich Molan auch zu Problemen der Metaphysik, der Grammatik und der Mathematik. Eng und ausschließlich war seine Bindung an die akademische Welt offenkundig nicht. Sein schon 1669 geäußerter Wunsch, Conventual des Klosters Loccum zu werden, ging, gefördert durch gesellschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen, schon 1671 in Erfüllung. Aufgrund intrikater Rechtsverhältnisse wurde ihm schon bald darauf verbindlich die Anwartschaft auf die Abtswürde zugesichert – nicht zuletzt deshalb, weil er nicht verheiratet war. Bevor diese Aussicht sich jedoch realisieren konnte, wurde sie noch einmal gefährdet: 1674 wurde Molan zum Kirchenrat und »Kirchendirektor« im Herzogtum Calenberg berufen.18 1677 wurde er dann doch Abt von Loccum – entgegen geltendem Recht, das bestimmte, der Abt dürfe kein weiteres Amt innehaben. Damit hatte er die Höhe seines beruflichen Lebens erreicht. In seiner Doppelstellung als Abt und Kirchendirektor »regierte« er die Kirche seines Einflußgebietes »fast unumschränkt«19 bis zu seinem Heimgang am 7. September 1722. Und sein Sprengel vergrößerte sich während jener Jahre durch die Einverleibung des Herzogtums Celle samt Lauenburg und Hadeln im Jahre 1705 noch einmal beträchtlich. Seine bei Lebzeiten veröffentlichten Druckschriften sagen wenig über Molan aus.20 In seinen akademisch-theologischen Pflichtübungen präsentiert er sich als unoriginellen Exponenten der Schule Calixts; später kamen dann außer amtlichen Gelegenheitspublikationen und ein paar Gesangbuchliedern nur noch einige Miszellen zu historisch-antiquarischen und numismatischen Themen hinzu. Groß war Molans bibliophile und numismatische Sammelleidenschaft. Deren weit ausgreifende Verwirklichung war, wie er demonstrativ bezeugte, durch seinen Eheverzicht entscheidend begünstigt.21 Aber seine wissenschaftlich-literarische Produktivität stand dazu in einem krassen Mißverhältnis. Für einen gebildeten Angehörigen eines extrem schreibseligen Zeitalters hat er außerordentlich wenig publiziert. Zumal in die theologischen, philosophischen, rechtstheoretischen und staatskirchenrechtlichen Debatten, die die führenden Köpfe seiner Zeit bewegten, hat Molan nicht eingegriffen. 18 Zu den hiermit verbundenen Fragen ist zu vergleichen Friedrich Uhlhorn: Lutherische Mönche in Loccum, in: ZKG 10, 1889, S. 399 – 438, bes. S. 407. 19 Uhlhorn, ebd. – Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 1, S. 38 bemerkt apodiktisch: »Molan ist dem Rufe nach Hannover ungern gefolgt.« Die für diese Behauptung aufgebotene Quellengrundlage berichtet nur, Molan habe sich, wie alle großen Kirchenmänner seit der Frühzeit, gesträubt, das kirchenleitende Amt zu übernehmen. Es handelt sich hier um nichts weiter als um einen ganz konventionellen panegyrischen Topos. 20 Zu den akademischen Veröffentlichungen s. o. Anm. 17. Molans spätere Publikationen sind erfaßt im Molan-Artikel bei Friedrich Wilhelm Strieder : Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten und Schriftsteller Geschichte, Bd. IX, Kassel 1794, S. 103 – 145, bes. S. 138 ff. 21 Vgl. Uhlhorn (wie Anm. 18), S. 407 mit Anm. 6 und S. 408 mit Anm. 1.

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Diese äußerlichen Indizien legen den Verdacht nahe, daß Molan die Sinnmitte seines Lebens nie im wissenschaftlich-akademischen Bereich gefunden hat. Und dieser Verdacht bestätigt sich, wenn man das einzige literarische Dokument heranzieht, in dem Molan von den wesentlichen Beweggründen und Zielen seines Lebens Zeugnis abgelegt hat, nämlich sein Testament,22 »welches ihn besser und treffender als alles andere charakterisiert«.23 In dieser ausführlichen Bilanz seines Glaubens und seiner Lebensarbeit kommt die akademische Tätigkeit nur am Rande vor (112, 125), hingegen bildet die Fürsorge für der kirchen und meines Closters Wohlfahrt (119, 124, 126) das eigentliche Zentrum dieser Rechenschaft, soweit sie auf das äußere Leben Bezug nimmt. Nicht ohne Stolz kann Molan darauf hinweisen, daß unter der Priesterschaft und Clerisey dieses Churfürstenthums nur wenige sind, die, nächst Gott und der gnädigen Herrschaft, meiner unterthänigsten Recommendation ihre promotiones nicht zu danken haben (121), mehr noch: Er verweilt lange und wortreich dabei, daß er seine große Machtfülle ganz uneigennützig betätigt habe, so daß er nicht nur kein Geld oder Geldes Waaren, sondern esculenta und potulenta eben so wenig, ja unter denselben nicht einmahl ein Gericht Fische, ein Essen Vogel, oder Korb mit Obst, geschweige ein mehreres Geschenke angenommen habe (ibd) – dabei verschweigt er freilich seinen hemmungslos praktizierten Nepotismus.24 Weiterhin geht Molan auch auf seinen Zölibat recht ausführlich ein. Schon in seiner Jugend habe er sich vorgenommen, weder jemahls zu heyrathen, noch zu huren, welches ich in so weit gehalten, daß ich die Tage meines Lebens bishieher keine Creatur fleischlich erkannt (123 f.). Hier liegt denn ein wichtiges existentielles Motiv für die von ihm streng vertretene Idee des im Kloster Loccum praktizierten »evangelischen Mönchtums«.25 Molan hat dieses Mönchtum ganz und gar nicht als ein rein ökonomisch-juristisches Geschöpf des geltenden Reichsrechts betrachtet, sondern er hat es theologisch eminent ernst genommen – als Gott besonders wohlgefälligen Lebensstand. Wer als Conventuale in Loccum eintritt, der sagt der Welt undt dero vaniteten (421) ab und beginnt ein neues Leben in täglicher gottseliger Arbeit, nemlich in studiren, singen, beten, lesen undt Predigen (420). Das Mönchtum ist zwar nicht, wie römische Doktrin wahrhaben will, von Jesus Christus selbst in seiner Antwort an den reichen Jüngling (Mk 10,21 parr) eingesetzt, sondern eine kirchengeschichtliche Neuerung, entstanden an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert (vgl. 423). Dadurch ist aber über seine Berechtigung nichts 22 Im folgenden zitiert nach dem Abdruck bei Strieder (wie Anm. 20), S. 108 – 134. 23 Uhlhorn (wie Anm. 18), S. 408. 24 Vgl. Weidemann (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 96: »Wer mit Molan verwandt war, dessen Zukunft war offenbar gesichert, wenn er in die geistliche Laufbahn eintrat«. 25 Die im folgenden zitierten Quellenbelege sind dem Aufsatz von Uhlhorn (wie Anm. 18) entnommen und werden nach dessen Seitenzahlen im Text verifiziert.

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präjudiziert. Die Reformatoren haben jedenfalls, so Molan wörtlich, bei ihrem Kampf gegen ein degeneriertes Mönchtum das Kind mit dem Bade ausgeschüttet (vgl. 424). Damit haben sie schweren Schaden über die Ausbildung der Geistlichen in den evangelischen Kirchentümern gebracht. Und das ohne Not, denn nur bestimmte Auswüchse sind unevangelisch und widerchristlich, nicht das Mönchtum selbst. Molan exemplifiziert das an den drei klassischen Gelübden. Das Gelübde der lebenslänglichen Keuschheit ist ein illegitimer Eingriff in eine göttliche Prärogative, denn kein Mensch kann sich selbst diese besondere göttliche Gnadengabe angeloben (vgl. 425 f.). Das Gelübde der Armut ist unzweckmäßig, sofern es den biblisch gebotenen Broterwerb desavouiert (426 f.). Das Gelübde des Gehorsams schließlich ist beizubehalten, ohne daß freilich dadurch sein Mißbrauch sanktioniert werden soll. Und so gilt nach Molan: Wer den statum Monasticum erwehlet, der gibt sich vor den augen der welt in eine dinstbarkeit. Aber in den augen gotteß ist dise obedientia nichtß anderß als ein theil von der seeligen freyheit der Kinder Gotteß (428). Mit den sensu strictiori verstandenen Gelübden hat die Reformation natürlich auch prinzipiell die lebenslängliche Dauer des Mönchsstandes aufgehoben. Aber bei den Motiven, die zum Austritt aus dem Kloster führen können, differenziert Molan doch auf bezeichnende Weise. Wer das Kloster verläßt, um ein geistliches Amt anzutreten, handelt ganz ehrenhaft, wenn er weiterhin ehelos bleibt. Heiratet er jedoch, dann setzt er sich dem letztlich ehrenrührigen Verdacht aus, propter incontinentiam (429) ausgetreten zu sein. Auf diese Weise wird die reformatorische Kritik am mönchischen Lebensund Vollkommenheitsideal zu einer Reihe von pragmatischen Änderungen und Ermäßigungen herabgestimmt. Daß hier einmal eine zugleich grundstürzende und grundlegende Neufassung dessen, was überhaupt christliche Lebensführung heißt, stattgefunden hat, läßt sich kaum noch erahnen. Ganz unbefangen bejaht Molan den religiösen Elitestatus des Mönchs, der Wen er Conventualis wird, eo ipso ex seculo gehe, die Welt quitire, und ein geistlicheß Leben antrete (422). Programmatisch formuliert er : Unser Novitius wißen, daß er leben müße secundum Regulam Sti Benedictj, secundum statuta Ordinis Cisterciensis, et secundum statuta particularia huius nostri Caenobij: welcheß Jedoch zu verstehen, in quantum Regula S. Benedicti et statuta Cisterciensia durch Unsere Evangelische religion nicht aufgehoben oder geendert (424 f). Die erstrangigen Normen des Selbstverständnisses und der Lebensführung sind die altehrwürdigen Lebensordnungen des abendländischen Mönchtums. Das reformatorische Christentumsverständnis kommt ihnen gegenüber bloß als sekundäre Korrekturinstanz in Betracht. Ich habe dieses Muster des Selbstverständnisses und der kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Selbstverortung nicht ohne Grund so ausführlich dargestellt. Es ist nämlich für den Christen und Theologen Molan offenbar

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durchgängig charakteristisch. Das belegt eindrucksvoll das in seinem Testament enthaltene Glaubensbekenntnis. Es beginnt mit einer schroffen Absage an alle Gegner und Bezweifler der Trinitätslehre in ihrer kirchlich-korrekten Fassung und nennt dann Molans feste religiös-theologische Orientierungsinstanzen: Die Schrift, die altkirchlichen Bekenntnisse, sodann die ersten sechs ökumenischen Konzilien sowie die Synoden von Mileve und Orange.26 Diese primären Leitlinien werden durch die maßgeblichen reformatorischen Zeugnisse auf zwiefache Weise ergänzt: Bezüglich solcher Glaubens=Punkte und Lebens=Reguln (109), die hier fehlen,27 bekennt sich Molan zu Luthers Kleinem Katechismus, und zum Erweis dafür, daß er die in der Kirchen eingeschlichene Misbräuche nicht billige, bekennt er sich zur CA invariata (ebd). Der durch diese Instanzen normierte Glaube ist, so betont Molan mehrfach, primär Autoritätsglaube an Satzwahrheiten. Den – rein intellektualistisch verstandenen – Zweifel ringt er nieder, indem er die Vernunft an die Grenzen ihrer Reichweite erinnert (vgl. 113 f.) und sich klarmacht, warum der Glaube um der besonderen Beschaffenheit seiner Gegenstände willen Autoritätsglaube sein und bleiben muß: Denn einen so blinden Glauben fodert Gott von uns in allen hohen Geheimnissen, massen sie aus keiner andern Ursach mysteria genannt worden , alldieweilen wir ihr quomodo, wie mag das zugehen , nicht nur weder wissen und begreifen, sondern in dieser Zeitlichkeit nicht einmahl wissen, vielweniger vollkommentlich begreifen können, sondern daß es wahr sey, heiliglich glauben müssen… (114). Es ist vor diesem Hintergrund ganz plausibel, wenn Molan bezeugt, daß der berufsbedingte Umgang mit den Lehren von Zweiflern und Ketzern ihm nie wirklich zur religiös-intellektuellen Versuchung geworden ist (vgl. 112). Die einzige Von den quaestionibus scholasticis oder theologischen NebenFragen, und die an und vor sich selbst zur Seeligkeit weder nützlich noch schädlich seyn (115), die Molan nach seinem eigenen Bekunden jemals umgetrieben hat, war das Theodizeeproblem, und zwar in doppelter Gestalt; erstens: Warum hat Gott die Menschheit, deren künftige Misere er doch voraussehen mußte, überhaupt geschaffen, und warum duldet er – zweitens – die Vielheit der einander widerstreitenden Religionen (vgl. 115 – 119)? Er hat beide Fragen nicht lösen können und sich schließlich dabei beschieden, es vor eine seelige und

26 Diese Auswahl ist von Calixt übernommen; vgl. Hermann Schüssler : Georg Calixt. Theologie und Kirchenpolitik, Mainz 1961, S. 75. 27 Hier liegt natürlich eine Reminiszenz an den synkretistischen Streit vor: Die strengen Orthodoxen hatten die dogmatische Suffizienz des Apostolicum mit dem Argument bestritten, daß in ihm bestimmte Fundamentalartikel nicht enthalten seien; vgl. Otto Ritschl: Dogmengeschichte des Protestantismus Bd. IV, Göttingen 1927, S. 430 – 434; dort auch ältere Literatur.

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gelahrte Unwissenheit , dasjenige nicht zu wissen, was Gott nicht gewollt hat, das ich wissen sollte (119). Sowohl Molans Glaubensbegriff, vergleicht man ihn etwa mit Luthers Bestimmungen zur fides historica28, als auch seine Andeutungen zur Theodizeefrage erweisen Molan als Zeitgenossen der frühen Aufklärung – und zwar nicht bloß im technisch-chronologischen Sinne. Es ist eine untergründig gespanntpolemische Zeitgenossenschaft, die aber nicht in eine produktiv-kritische Auseinandersetzung hineinführt. Die modernen Fragestellungen drängen sich Molan gleichsam von den Rändern seines Gesichtskreises her auf und formen seine Weltanschauung und Theologie, halb verborgen, mit. In diesem sicher allenfalls halbbewußt durchlebten Prozess verändert der aus der Helmstedter Schule ererbte humanistische Traditionalismus seine Funktion. Die Betonung des wider alle Verstandeseinreden zu erschwingenden Autoritätsglaubens und die willige Beugung unter die altheilige kirchliche Tradition in Lehre und Lebensordnung sind miteinander die tragenden Pfeiler eines emotionalen und intellektuellen Schutzraumes geworden. Der schirmt Molan ab wider die drohend heraufziehenden Unbilden des Relativismus und der Kritik. Er wirft Bastionen der trotzigen Verweigerung auf gegenüber neuen Denkweisen und Fragestellungen. Die geistige Einhausung im Traditionalismus und die lebenspraktische Orientierung an der Mönchsregel weisen aufeinander zurück und erläutern einander. Daß bei dieser Grundhaltung wenig Interesse an den wirklich neuartigen, das Hergebrachte sprengenden und überschreitenden Elementen des reformatorischen Erbes besteht, liegt auf der Hand. Und daß das reformatorisch Besondere zugunsten derjenigen Dogmen und Institutionen, die den kontinuierlichen Zusammenhang mit der humanistisch idealisierten kirchlichen Frühzeit zu gewährleisten scheinen, zurückgenommen wird, ist nur folgerichtig. Mit der strikten Apperzeptionsverweigerung gegenüber der westlichen wie der zu seinen Lebzeiten zuerst Gestalt gewinnenden deutschen Aufklärung erweist sich Molan als genuiner Vertreter Helmstedter Traditionen.29 Daßelbe gilt auch für sein Verhältnis bzw. Nichtverhältnis zum Pietismus.30 Mit dieser weitgreifenden kirchlichen und gesellschaftlichen Reformbewegung,

28 Vgl. Emanuel Hirsch: Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen (Lutherstudien, Bd. I), Gütersloh 1954, S. 205 f. mit Anm. 1; zu den großen geistes- und theologiegeschichtlichen Zusammenhängen Ders.: Predigerfibel, Berlin 1964, S. 5 ff. 29 Vgl. Johannes Wallmann, Zwischen Reformation und Humanismus. Eigenart und Wirkungen Helmstedter Theologie unter besonderer Berücksichtigung Georg Calixts (1977), in: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, S. 61 – 86, hier S. 65 – 68. 30 Vgl. Wallmann (ebd.), S. 68 f.

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die auf »Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens«31 drang, hat er sich, soviel wir wissen, allein amtlich auseinandergesetzt. Das scharf antipietistische Edikt des Kurfürsten von Hannover vom 20. II. 1703 wird kaum ohne sein Zutun entstanden sein; jedenfalls ließ er ihm im März desselben Jahres ein Konsistorialschreiben folgen, das ohne Bemühen um Verständnis und Differenzierung jede am frommen Subjekt orientierte Relativierung der kirchlichen Ordnung schroff zurückweist.32 So steht Molan vor uns als ein Mann, der den größten Teil seiner Lebensarbeit in die Leitung und Organisation seines Territorialkirchentums investiert hat. Statt die kirchliche und theologische Tradition, aus der er stammte, im kritischproduktiven Dialog mit neuen geistigen und religiösen Strömungen zu vertreten und zu bewähren, zog er sich religiös und intellektuell in eine Sphäre zurück, in der überkommene kirchliche Autorität und Tradition in Lehre und Lebensordnung feste, scheinbar alterungsresistente Grundlagen gewähren konnten.

II. Eine weitere Vorfrage ist noch zu klären, bevor wir uns Molans Haltung und seinen Gedanken in der Reunionsangelegenheit zuwenden: Wie hat er sein kirchliches Leitungsamt staatskirchenrechtlich und theologisch gedeutet, und auf welcher subjektiven und objektiven Legitimationsbasis ist er in die Verhandlungen mit Rojas eingetreten? Molan hat sein kirchenleitendes Amt ganz im Sinne des Episkopalismus verstanden, also im Sinne der staatskirchenrechtlichen Theorie, die das deutsche Luthertum des 17. Jahrhunderts durchweg beherrscht hat.33 Der schleichenden Umprägung dieser Theorie im absolutistischen Sinne hatte er nichts entgegenzusetzen. Auch hier stand er ganz in der Tradition der Helmstedter Theologen, von denen J. Wallmann festgestellt hat: »Sie scheinen, anders als die Theologie der lutherischen Orthodoxie, in der Freiheit der Kirche nichts gesehen zu haben, für das zu streiten der Einsatz sich lohnt«.34 Wenn also Molan in seinen schriftlichen Zeugnissen aus den Unionsver31 Johannes Wallmann: Der Pietismus (KiG 4, O.1), Göttingen 1990, S. 7. 32 Vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen: Der Pietismus in Niedersachsen, in: Martin Brecht/ Kaus Deppermann (Hrsg.): Geschichte des Pietismus Bd. 2, Göttingen 1995, S. 428 – 445, hier : S. 428 f. 33 Zum Episkopalismus vgl. Martin Heckel: Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (= Jus Ecclesiasticum Bd. 6), München 1968. Molans Auffassung dieses Theoriemodells dokumentiert sehr aufschlußreich ein amtliches Schreiben, das Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 1, S. 52 f. abgedruckt hat. 34 Wie Anm. 26, S. 81.

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handlungen immer wieder geradezu penetrant darauf verweist, er handle im Namen seines Fürsten bzw. »Herrn und Gebieters«,35 dann drückt er damit nicht nur subjektives Empfinden aus, sondern er zeigt an, daß er sich präzise der Tatsache bewußt war, daß alle seine Bemühungen im rechtlich-politischen Rahmen des Reiches stattfanden, in dem allein Reichsstände zu verantwortlichem Handeln befugt waren. Ihnen hatte der Augsburger Religionsfriede die Bemühung um die »Vergleichung der Religion und Glaubenssachen« zur Pflicht gemacht und zugleich auf die einschlägigen institutionellen Vorgaben für dieses Unterfangen innerhalb des geistlich und weltlich verfaßten Reiches hingewiesen.36 Der formelhafte Hinweis auf diese reichsrechtliche Fundierung der Reunionsbemühungen findet sich auch in einem Legitimationsschreiben Leopolds I. für Rojas vom 30. März 1691, das in französischer Übersetzung im Nachlaß Bossuets erhalten geblieben ist,37 aber auch schon gleich zu Beginn der »Regulae« Rojas’ (360). Molan hat in seiner »Methodus« dieses Motiv nicht sogleich ausdrücklich aufgenommen, aber in seinen »Cogitationes Privatae«, einer nicht zuletzt durch Übernahmen aus Rojas’ »Regulae« erweiterten Version der »Methodus«, die für Bossuet bestimmt war, kehrt der Hinweis getreulich wieder.38 Weder Molan noch Rojas agierten also bei ihren Reunionsbemühungen als Mandatare einer »Religionsgesellschaft«, die »ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes« ordnet.39 Molan war wie bei seiner kirchenleitenden Tätigkeit überhaupt so auch bei seiner Teilnahme am Reunionswerk Beauftragter seines Landesherrn, der einige seiner Iura Episcopalia durch ihn ausüben ließ. Rojas’ Situation war nicht grundsätzlich anders, sondern nur noch etwas komplizierter, weil er nicht nur seinem primären Auftraggeber, dem Kaiser, rechenschaftspflichtig war, sondern um 35 Besonders charakteristisch der Rückblick von 1710, den Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 174 f. abgedruckt hat. Dort – wie auch sonst in solchen Kontexten – die Vokabel »Herus«, die den Texten, jedenfalls für heutiges Empfinden, eine besonders devote und servile Note verleiht. 36 Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555, hrsg. von Karl Brandi, 2. Aufl. Göttingen 1927, vgl. bes. S. 47 f. Vgl. Martin Heckel: Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Ziel und Auftrag der Reichsverfassung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: H. Otte/R. Schenk (Hrsg.),: Die Reunionsgespräche (wie Anm. 3), S. 15 – 38 sowie Ders.: Deutschland im konfessionellen Zeitalter (Deutsche Geschichte, Bd. 5), Göttingen 1983, S. 33 ff. 181 ff. 37 Lachat (wie Anm. 15), S. 358 – 360, bes. S. 358. 38 Die Cogitationes Privatae sind abgedruckt bei Lachat (wie Anm. 15), S. 394 – 431; zur Entstehung vgl. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 88 ff. Die Anleihen Molans bei Rojas sind Weidemann entgangen. 39 Weimarer Verfassung Art. 137 (Ernst Rudolf Huber [Hrsg.]: Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit Bd. 2, Tübingen 1951, S. 47); rezipiert in Grundgesetz Art. 140 [ebd., S. 275]).

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seiner eigenen Glaubwürdigkeit bei seinen Verhandlungspartnern willen auch der Rückversicherung durch den Papst40 bedurfte. Aber in erster Linie war er doch Auftragsempfänger des Kaisers. Daß er das traditionelle österreichische »Staatskirchentum der Habsburger«41, die Grundlage und Vorstufe der Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., repräsentierte, wird deutlich, wenn man seinen Bischofsrang näher ins Auge faßt: Der Bischofssitz von Tina (Knin) in Kroatien, den er seit 1668 innehatte,42 gehörte zu den 24 königlich-ungarischen Titular-Bistümern, die der König von Ungarn, also in Personalunion Kaiser Leopold I., ganz eigenständig zu besetzen hatte. Sie lagen im osmanischen Herrschaftsbereich und waren mit keinerlei kirchenleitenden Aufgaben verbunden – reine Sinekuren, vom König allein zu vergebende Ehrenstellen. Nur zwei dieser Ehrenstellen erkannte Rom ohne Vorbehalt an, eben Knin und Belgrad-Semendria, indem die vom König erwählten und ernannten Bischöfe auch wirklich konsekriert wurden.43 Und auch das Bistum Wiener Neustadt, das Rojas dann 1687 erhielt, hatte seine kirchenrechtliche Besonderheit darin, daß seit seiner Gründung 1469 die Nomination des Bischofs allein dem Landesherrn zustand.44 So verbindet Molan und Rojas trotz der Herkunft aus unterschiedlichen konfessionellen Welten ein gemeinsamer Erfahrungshorizont. Beide sind als Theologen und Geistliche Funktionsträger und Mandatare ihrer frühabsolutistischen Landesherren. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch zu verstehen, daß beide die gesamte Reunionsangelegenheit als einen Gegenstand der Kabinettspolitik und der Geheimdiplomatie angesehen und traktiert haben und daß sie mit großer Selbst40 Der zur Zeit der Verhandlungen zwischen Rojas und Molan regierende Papst war Innocenz XI. (1676 – 1689), der durch authentische, streng asketische Frömmigkeit, Tatkraft und Energie durchaus über die Schar seiner Vorgänger und Nachfolger herausragt. Trotz der strukturellen Beschränktheit seiner politischen Handlungsspielräume übernahm er, Kaiser Leopold I. unterstützend, eine wichtige Rolle bei der Organisation der Abwehr der über den Balkan vordringenden Türken. Hierdurch sowie durch sein Eintreten gegen die »gallikanische« Verselbständigung der Französischen Kirche geriet er in Konflikte mit dem Frankreich Ludwigs XIV., der seinerseits im Bestreben, den Kaiser zu schwächen, mit den Türken kooperierte. Trotz dieser Interessenkonvergenzen wahrte der Papst jedoch auch dem Kaiser gegenüber seine Eigenständigkeit. Vgl. dazu Ludwig v. Pastor : Geschichte der Päpste, Bd. XIV, 1.–7. Aufl. Freiburg 1930, S. 669 – 1043, zu Rojas S. 1008 – 1014; höchst gehaltreich und weniger apologetisch Richard Zöpffel/Karl Benrath: Art. Innocenz XI., in: RE3 Bd. 9, S. 143 – 148. 41 Hans Erich Feine: Kirchliche Rechtsgeschichte Bd. I, 3. Aufl. Weimar 1955, S. 523. 42 Vgl. Hiltebrandt (wie Anm. 2), S. 35 mit Anm. 3. 43 Vgl. Willibald M. Plöchl: Geschichte des Kirchenrechts Bd. III, Wien/München 1959, S. 231 f.; zum Institut des Titularbischofs überhaupt Paul Hinschius: System des Katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland Bd. II, Berlin 1878 (Nachdruck Graz 1959), S. 171 – 182. 44 Vgl. Feine (wie Anm. 41), S. 437 f. 441 f.

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verständlichkeit den Fürsten die Auswahl der zu beteiligenden Theologen bzw. Theologengruppen zuweisen konnten (s. u. S. 194). Ist so schon der »Lehrstand« nur am Unionswerk aktiv beteiligt, sofern die Fürsten und die von ihnen unmittelbar beauftragten Theologen das für zweckdienlich halten, so kommt das »Kirchenvolk« allenfalls noch am Rande einmal als Objekt eventueller taktischer Rücksichtnahmen in Betracht.45 Die Kirchen, um deren Reunion es zwischen Rojas und Molan ging, waren in erster Linie Anstalten der frühabsolutistischen Staaten. Im Kirchenregiment des Landesherrn und seiner Beauftragten, nicht jedoch in der von einem selbstbewußten Theologenstand repräsentierten reinen Lehre oder im religiösen Bewußtsein ihrer Glieder hatten sie ihre Gravitationszentren. Hiermit sind m. E. die wesentlichen inneren und äußeren Voraussetzungen benannt, die mitbedacht sein müssen, wenn man Molans Stellungnahme zum Reunionsprojekt angemessen rekonstruieren und würdigen will.

III. Seine einschlägigen Gedanken waren, wie schon eingangs bemerkt, ganz unselbständig. Sie sind daher nur angemessen wiederzugeben, indem zunächst Rojas’ Vorschläge in den »Regulae« skizziert werden, denn lediglich als teils zustimmende und teils modifizierende Reaktionen hierauf sind sie verständlich. Als Ausgangspunkte bieten sich jedoch zunächst zwei spätere Selbstinterpretationen Molans an. Sowohl 168546 als auch in einem sehr viel späteren Rückblick 171047 hat er das Neuartige seiner Reunionskonzeption darin gesehen, daß ihr zufolge die Wiedervereinigung der katholischen und der evangelischen Kirche salvis utriusque partis principiis, hypothesibus et reputatione,48 also unbeschadet der Prinzipien beider Parteien, ihrer Sonderlehren und ihres äußeren Ansehens, zu erfolgen habe. Hier seien zuvor schwere Fehler gemacht worden, auch von Calixt, der zur Grundlage des ganzen Unternehmens die Annahme gemacht habe, die Katholiken seien von allem Irrtum frei, solange sie sich allein an die Gehalte des Apostolicum und der anderen ökumenischen Symbole hielten.49 Dieses Verfahren einer Vereinigung durch den (gemeinsamen) Rückgang auf eine sehr viel ältere Stufe würde ja den Katholiken zumuten, alle ihre seither gewachsenen Lehren, Gesetze und Bräuche zur Disposition zu stellen. 45 46 47 48 49

Vgl. für Rojas Regulae (wie Anm. 11), S. 361, 366 f., 368; für Molan Methodus, S. 334. Vgl. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 52, Anm. 4, der Text: ebd., Beil. 5, S. 167 – 169. Vgl. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, Beilage 9, S. 174 f. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 174. Vgl. Weidemann (wie Anm. 2) Bd. 2, Beilage 2, S. 167; bessere Textüberlieferung bei Schüssler, Georg Calixt (wie Anm. 26), S. 227, Anm. 47.

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Dieser Grundgedanke, der genau die Schwierigkeiten beheben will, an denen Calixts Verständigungsbemühungen mit den Katholiken scheiterten, stammte nicht von Molan selbst, sondern er war ihm durch die »Regulae« Rojas’ vorgegeben, wo er allerdings (gewollt?) in sehr unklare und schlecht greifbare Worte gefaßt ist. So schränkt Rojas gleich zu Beginn seiner Ausführungen die Pflicht zur Einheit durch den Hinweis auf die Wahrhaftigkeitspflicht ein: Es ist nicht statthaft, daß um der Einheit willen irgendeine Wahrheit verleugnet oder die Suche nach ihr vernachlässigt wird: ›Liebet den Frieden und die Wahrheit‹ , sagt der allmächtige Herr.50 Dieses Drängen auf Wahrhaftigkeit schränkt er jedoch gleich im selben Atemzug wieder ein: Beide Parteien sind nicht kategorisch verpflichtet, einander alle widerstreitenden Wahrheitsansprüche offenzulegen und auf klare Entscheidungen zu dringen.51 Als Zielpunkt des Reunionsprojekts schwebt Rojas nicht so etwas wie die Idee einer »versöhnten Verschiedenheit« vor. Er läßt keinen Zweifel darüber, daß für ihn am Ende des Reunionsprozesses ein straff autoritäres Einheitskirchentum stehen muß, das Lehrentscheidungen auf Konzilien durch Stimmenmehrheit trifft und die Unterlegenen vor die Alternative »Unterwerfung oder Verketzerung« stellt. Nur auf dem (Rück)Weg zu diesem angestrebten Zustand hat die gegenseitige Anerkennung differenter Wahrheitsansprüche ihre zeitlich exakt limitierte, vorübergehende Berechtigung. Hatte zuvor die Einigung in der Lehre in klarem Gefälle als conditio sine qua non der kirchlichen Wiedervereinigung gegolten, so differenziert Rojas hier, indem er für das Werden der vollständigen kirchlichen Einheit zwei unterschiedliche Phasen ansetzt. In einem ersten Gang wird Einigkeit über die Kategorien kirchlich-dogmatischer Urteilsbildung und über die Institutionen, die diese zu vollziehen haben, geschaffen. Sodann werden auf dieser Stufe Rahmenbedingungen für die zeitweilige Koexistenz differenter Lehren und Gebräuche ausgearbeitet, die es möglich machen, auf gegenseitige Polemik zu verzichten, ohne dadurch das Kirchenvolk durch den Anschein des Indifferentismus zu verunsichern. Wenn dieses Stadium erreicht ist, dann ordnen sich die Protestanten der römisch-katholischen Hierarchie ein und unterwerfen sich einem ökumenischen Konzil. Die Katholiken halten sie nicht mehr für Häretiker und Schismatiker, und die Protestanten enthalten sich aller Vorwürfe wegen Götzendienerei etc. Der Hl. Stuhl gewährt ihnen, ohne damit dem späteren Konzil vorzugreifen, den Laienkelch, die Priesterehe und die kirchlichen Rechte der protestantischen Fürsten. Damit ist die Kirchengemeinschaft hergestellt, und auf dem Konzil soll dann, wie gesagt, die volle dogmatische und liturgische Uniformität erzielt werden. Es ist also in Rojas’ Plan ein zweistufiger Prozeß intendiert: Auf den Präliminarkonsens folgt die Präli50 Lachat (wie Anm. 15), S. 360 f., dt. Übers. von mir. 51 Vgl. Lachat (wie Anm. 15), S. 361.

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minarunion, und wenn diese vollzogen ist, wird auf einem Konzil der volle Konsens hergestellt, auf den die vollständige Union folgt. Genau dieses Grundschema hat Molan von Rojas’ »Regulae« übernommen, und sein eigenes Reunionskonzept besteht in nichts anderem als in einer Reihe von Korrekturen und Präzisierungen jener Vorlage. Die »Methodus«52 setzt zunächst bei der Klärung von Grundsatzfragen an. Das Gebot der Einheit ist geradezu durch das Gebot der Wahrhaftigkeit bedingt, so daß Molan, Gregor von Nazianz zitierend,53 als Grundsatz aufstellen kann: Besser ist die aus Frömmigkeit entstandene Zwietracht als faule Eintracht (§ 1). In impliziter Wendung gegen Rojas insistiert Molan darauf, daß die kontroversen Lehren und Handlungsweisen als erster Schritt zur Reunion so klar und präzise wie möglich ausgesprochen werden (§ 4).54 Verharmlosungen und absichtlich mißverstehende Umdeutungen dürfen nicht am Beginn des Friedensprozesses stehen! Den status controversiae zwischen den getrennten Kirchen beschreibt er anhand des von Calixt übernommenen Schemas von communio virtualis und actualis: Die Übereinstimmung im Glauben an den dreieinigen Gott, im Bekenntnis zum Gottmenschen Jesus Christus, der zur Sühne der Sünden gelitten hat, gestorben ist, begraben wurde und zum Himmel auffuhr, der Konsens im Glauben an die Erschaffung der Welt und das Jüngste Gericht, die Übereinstimmung in der Forderung der Säuglingstaufe und darin, daß die Wiedergeborenen im neuen Gehorsam dem Gesetz Folge leisten müssen, bezeugen die schon bestehende communio virtualis der Kirchen und ihrer Glieder (vgl. § 3). Dieser communio virtualis nun wohnt der Impuls zu ihrer vollständigen Verwirklichung inne, die jedoch noch von theoretischen und praktischen Kontroversen unmöglich gemacht wird. Die Kontroverspunkte zerfallen nun nach Molan in zwei Klassen. Ihre Wichtigkeit bemißt sich nach ihrem Verhältnis zur »Praxis«, d. h. zur existentiellen Aneignung der gemeinsam vertretenen objektiven Heilswahrheiten.55 Keine der kontroversen Lehren und Handlungsweisen macht diese kategorisch unmöglich, aber die wichtigeren sind eben solche, bei denen, vom protestantischen Standpunkt gesehen, die katholischen Optionen mit den Glaubensartikeln male cohaerent (§ 6). Zu diesen Kontroversen ersten Ranges gehören zunächst Fragen der Abendmahlslehre und -praxis, da die Kommunion das Symbol christlicher Einheit schlechthin ist: Die Protestanten bekennen, daß zugleich mit Brot und 52 S. die bibliographischen Angaben oben Anm. 14. 53 Oratio VI (De Pace I), XI, MPG 35, Sp. 735 A-B. 54 In den Cogitationes privatae (wie oben Anm. 35) ist Molan dann in dieser Frage, Rojas’ Text wörtlich aufnehmend, auf dessen Linie eingeschwenkt, vgl. S. 395. 55 Dieser Begriff der Praxis ist Calixtsches Erbe; vgl. Schüssler, (wie Anm. 26), S. 56 f.

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Wein Christi Leib und Blut gegessen und getrunken wird, wie seine eigenen Worte versichern; sie bestehen sodann auf der Kommunion unter beiderlei Gestalt nach der Einsetzung Christi und limitieren die Realpräsenz Christi auf den Akt des Gebrauches (vgl. §§ 9f.).56 Die zweite Hauptkontroverse bildet die Rechtfertigungslehre, hier lehren die Protestanten: Der erwachsene Christ, der der göttlichen Gnade, der Sündenvergebung und des ewigen Heils teilhaftig werden will, muß seine Sünde erkennen und bereuen; er kann sich nicht auf eigene Verdienste, sondern nur auf den Tod und das Verdienst Christi in Vertrauen und Hoffnung auf die Sündenvergebung und das ewige Heil stützen; er darf hinfort nicht mehr der Sünde dienen, sondern muß sich um Heiligkeit mühen, ohne die niemand den Herrn sehen wird. (§ 11). Sodann bestehen die Protestanten darauf, daß ihren Geistlichen die Ehe, bis zu einem Konzilsentscheid auch die wiederholte Ehe, gestattet wird (vgl. § 12). Sie fordern weiterhin auch die Anerkennung der von ihnen vollzogenen Ordinationen als vollgültig (habere potestatem cum ordinis tum iurisdictionis [§ 13]). – Hiermit, so sei vorgreifend bemerkt, legt Molan den Grundstein für seine später zu erörternden gewichtigen Modifikationen an Rojas’ Gedanken bezüglich des großen Konzils, das dereinst den Reunionsprozeß vollenden soll. Endlich sind die im Reichsrecht verankerten kirchlichen Zuständigkeiten der protestantischen Stände unaufgebbar. Die Bedeutung dieser Fassung der Kontroverslehren erschließt sich wiederum erst dem vergleichenden Rückblick auf Rojas’ »Regulae«. Dort kommen die Kontroverslehren ja immer schon in entschärfter Form vor, nämlich, modern gesprochen, so, daß sie als unterschiedliche Sprach- und Ausdrucksformen gemeinsamer Grundanliegen immer schon in einer übergeordneten Einheit verankert sind, wobei es etwa bei den Fragen, die die Kirchenverfassung betreffen, besonders kraß deutlich wird, daß diese »gemeinsamen« Anliegen schlichtweg die römischen sind. Molan dagegen formuliert die entscheidenden Kontroverspunkte rein thetisch-protestantisch als unaufgebbare Grundlagen protestantischen Christen-

56 Auffällig ist hieran, daß Molan die Meßopferproblematik übergeht bzw. als nachrangig einstuft; s. auch nächste Anm. Immerhin hat hier schärfste reformatorische Polemik Bekenntnisrang erlangt; vgl. Art. Smalc. II,2! Verständlich ist dieser Befund wohl nur, wenn man sich klarmacht, daß schon damals eine erprobte Begriffstechnik existierte, mittels derer Kontroversfragen auf bloße Wortdifferenzen reduziert werden konnten – natürlich durch sorgfältige Isolierung der Fragen voneinander und von den in ihnen wirksamen Frömmigkeitsmotiven; ein Beispiel hierfür zum Thema »Meßopfer« bei Ohst (wie Anm. 10), S. 145 – 151.

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tumsverständnisses, die allen Verständigungsbemühungen unumkehrbar vorgeordnet sind. Auf dieser Grundlage muß nun zunächst einmal ein innerprotestantischer Verständigungs- und Klärungsprozeß einsetzen. Diese fünf nicht verhandelbaren, unaufgebbaren Grundsätze müssen von den praecipuis ecclesiae protestantium doctoribus (§ 15) geheim und ohne Aufsehen (sine strepitu, ebd.) samt dem weiteren modus procedendi gebilligt werden. Spätestens hier wird deutlich: Diese frei formulierte Reihe unaufgebbarer protestantischer Lehrstücke und Handlungsweisen soll in den Verhandlungen faktisch an die Stelle der reformatorischen Bekenntnisse treten. Und wenn so auf protestantischer Seite die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dann soll dem Papst die Frage gestellt werden, ob er gewillt sei, Protestanten, die bereit sind, sich unter billigen, noch näher zu erörternden Bedingungen einem rechtmäßigen Konzil und der kirchlichen Hierarchie unterzuordnen, für wahre Glieder der christlichen Kirche zu halten, und zwar unbeschadet der Tatsache, daß sie in den zuvor benannten Kontroversfragen auf ihrem Standpunkt bestehen. Auch hier ist die Differenz zu Rojas mit Händen zu greifen. Auch der setzt ja als Primärziel eine Präliminarunion. Aber nach Rojas setzt die Präliminarunion schon eine lange Reihe einvernehmlich geregelter Kontroversfragen voraus: Necesse est, ut conveniant explicite… – so oder ähnlich beginnen jeweils die einzelnen »Regeln«. Ganz anders Molan: Die schon vorhandene einvernehmliche Grundlage für die Präliminarunion lokalisiert er im Konsens über die objektiven Heilswahrheiten. Für die Präliminarunion stellen die Protestanten dann noch bestimmte Lehren und Praktiken zur Disposition – aber eben genau nicht die vorgenannten unaufgebbaren Grundpfeiler protestantischen Christentumsverständnisses. Während Rojas die Präliminarunion auf einen möglichst umfassenden Konsens gründen will, entwirft Molan eine in sich dreifach gegliederte Grundlage, bestehend aus dem Konsens in den objektiven Heilswahrheiten, verhandlungsfähigen und nicht verhandlungsfähigen Kontroversfragen. Und gerade für die einvernehmliche Beilegung der verhandlungsfähigen Kontroversfragen soll die Präliminarunion ihrerseits die Basis bilden; nicht unterschiedliche Kirchen sollen miteinander verhandeln, sondern innerhalb einer Kirche werden bestimmte strittige Fragen ausgeräumt, während andere Differenzen unter ihrem Dach fortbestehen werden, ohne doch die Einheit zu gefährden. Und für die Beilegung der verhandelbaren Kontroversfragen unterwerfen sich die Protestanten in der Präliminarunion unter gewissen strikten, nicht verhandlungsfähigen Bedingungen den in der Römisch-katholischen Kirche gültigen Verfahrensregeln. Den Papst, der sie als wahre Glieder der Kirche Christi anerkennt, werden sie ihrerseits als obersten Patriarchen und Bischof der ganzen

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Kirche nach menschlich-positivem Kirchenrecht anerkennen – inwiefern das Papsttum göttlichen Rechts ist, das muß auf dem Konzil aus der Schrift bewiesen werden. Jedenfalls werden sie ihm, sofern er ihre unaufgebbaren lehrmäßigen und rituellen Eigenständigkeiten als christlich legitim achtet, in geistlichen Dingen den gebührenden Gehorsam erweisen. Sie wollen sodann die bei der Kommunion unter einer Gestalt verbleibenden Katholiken nicht für Sünder oder Häretiker halten. Endlich ordnen sie sich der katholischen Hierarchie ein (vgl. § 16). Wenn dieser Friede, die Präliminarunion also, geschlossen und vom Kaiser ratifiziert ist, dann beginnen die Verhandlungen über die einigungsfähigen und -bedürftigen Kontroversthemen, und zwar zunächst auf Reichsebene auf einem Theologenkonvent, auf dem freilich nur solche Theologen Sitz und Stimme haben sollen, die sich zuvor mit diesem Reunionsverfahren einverstanden erklärt haben; deren Auswahl liegt jeweils bei den Reichsständen (vgl. § 17). Die auf diesem Konvent zu behandelnden Streitfragen zerfallen wiederum in drei Gruppen. Die erste bilden diejenigen, die sich rasch als bloße Wortstreitigkeiten erweisen und aus der Welt schaffen lassen.57 Die zweite Gruppe bilden solche Fragen, die in beiden Kirchen jeweils umstritten sind; hier kann Einigung erzielt werden, indem auf beiden Seiten jeweils die mildere Meinung favorisiert wird.58 Drittens gibt es Fragen, die überhaupt nicht zu einer echten Lösung zu bringen sind, und viertens folgt eine Liste der wirklich in der Sache kontroversen Themen: Die Transsubstantiationslehre mit ihren praktischen Folgeproblemen, die Verehrung der Heiligen und der Bilder, die Aufzählung der Sünden in der

57 Als Beispiele führt Molan die Fragen an, in welchem Sinne die Messe ein Opfer und die Ehe ein Sakrament heißen könne, vgl. § 18. – In den Cogitationes privatae (s. oben Anm. 35) hat Molan dann auch die Differenzen in der Rechtfertigungslehre diesen bloßen Wortstreitigkeiten zugerechnet; vgl. Lachat (wie Anm. 15), S. 402 f.: Nam si terminus justificationis capiatur tam late, ut sanctificationem sive renovationem sub se comprehendat, facta a potiori, nempe renovationis actu denominatione, justificationis tam late sumptae formaliter rationem collocari posse in infusione gratiae iustificantis: quod si autem iustificatio sumatur stricte, pro iustificatione duntaxat, in quantum illa ab actu renovationis (quocum alias tempore simul est), in signo rationis est distincta, illam non in dicta infusione, sed in sola non imputatione peccatorum consistere (S. 403). – Molan führt diesen Gedanken zutreffend als längst gebräuchliches Inventarstück irenischen Denkens an; in unseren Tagen wurde er dann erstaunlicher Weise als bahnbrechend neue exegetische und systematische Erkenntnis von epochalem Rang ausgegeben; vgl. Karl Lehmann/Wolfhart Pannenberg (Hrsg.): Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. I: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg/Göttingen 1986, S. 43 – 45. 53 – 55. 58 Als Beispiele nennt Molan die Frage, ob der Papst der Antichrist sei, und das Problem der Verdienstlichkeit der im Gnadenstande vollbrachten guten Werke.

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Beichte, das Fegefeuer und die Fürbitte für die Verstorbenen,59 der Reliquienkult, Kreuzesbild und Kreuzeszeichen, der Umfang der Hl. Schrift, ihre Genugsamkeit/Suffizienz, ihre Unversehrtheit und ihre Lektüre, die Tradition, die entscheidende Schiedsinstanz in Glaubenskontroversen, das Papsttum, die römische Kirche, die unbefleckte Empfängnis der Hl. Jungfrau, die Feiertage, unterschiedliche Zeremonien, die Speisegebote, endlich der Ablaß (vgl. § 18). Die einzelnen Bestandteile dieses unsystematischen Sammelsuriums also sollen auf Theologengesprächen, wie sie in Augsburg 1530 ja schon einmal erfolgreich stattgefunden haben, ausgeräumt werden. Und was da nicht zur Lösung gebracht werden kann, muß das Konzil entscheiden. In den Planspielen zum Konzil finden sich nun wieder höchst gewichtige Abweichungen von den einschlägigen Vorgaben aus Rojas’ Feder. Der hat unter Berufung auf den Konsens aller katholischen Völker vorgängige Einigkeit darin gefordert, daß das Konzil unter dem Vorsitz des Papstes tagen60 müsse und daß die Beschlußfassung per praesidem, consentiente majore parte concilii61 erfolgen solle. In der Frage nach der protestantischen Repräsentanz ist Rojas schwammig und vieldeutig geblieben: Stimmberechtigt sollen zunächst allein Bischöfe sein, daneben aber auch andere besondere Personen wie hervorragende protestantische Theologen, die die Reunion vorangebracht haben62. Vom Bischofsrang leitender protestantischer Geistlicher, die sich in die katholische Hierarchie eingeordnet haben, ist mit keiner Silbe die Rede; an anderer Stelle jedoch wird das Einrücken protestantischer Geistlicher in den Episkopat als noch ferne Möglichkeit v. a. des Pfründenerwerbs ins Auge gefaßt.63 Die Frage nach der Fortgeltung der thetischen wie der polemischen Resultate des tridentinischen Konzils hat Rojas in den »Regulae« nicht klar beantwortet. Zwar stellt er in Aussicht, die Katholiken würden aus Friedensliebe bestimmte Lehrstücke, die sie doch als Glaubensartikel wie ihren Augapfel hüteten, der Diskussion und

59 Gerade zu diesem Thema hat Molan ein anrührendes Beispiel für seine Neigung zu altertümlichen Frömmigkeitsformen und Bräuchen hinterlassen. In seinem Testament verfügt er, daß nach seinem Tode die in unserm Closter hergebrachte, auch in der Apologia Augustanae Confessionis erlaubte und contra Arium haereticum vor nicht unnützlich declarirte Vorbitte durch vier arme bejahrte Mannspersonen, jeden gegen Erlegung sechs Rthlr. drey Monath lang daselbst anordnen, hierinnen bestehend, daß ein jeglicher vor meine Seele Abends und Morgends ein Vater unser nebst dem 130sten und 50sten Psalm täglich beten und damit von der Zeit meiner Auflösung drey volle monath continuiren solle, alsdann und nicht ehender seine sechs Rthlr. aus Händen meiner Erben zu empfangen (Strieder [wie Anm. 20], S. 130 f.). 60 Vgl. Lachat (wie Anm. 15), S. 366. 61 Ebd., S. 373. 62 Ebd., S. 372. 63 Ebd., S. 370.

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Abstimmung auf einem neuerlichen Konzil stellen; zu diesen gehöre auch die Unfehlbarkeit des tridentinischen Konzils.64 Dieses scheinbar großzügige Angebot erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als wenig tragfähig. Zu den Bedingungen für die Legitimität eines solchen Konzils gehört ja für Rojas, wie schon gezeigt, daß es per praesidem consentiente majore parte concilii65 entscheidet und daß der Vorsitz beim Papst liegt.66 Daß gerade solch ein Konzil Entscheidungen des Tridentinums revidieren sollte, ist doch wohl kaum auch nur als vage Möglichkeit anzunehmen. Durch eine weitere Bestimmung dieses künftigen Konzils wird das Angebot noch erheblich fragwürdiger. Als einheitsstiftenden Konsens postuliert Rojas nämlich: Sie stimmen darin überein, daß es nicht die Kircheneinheit befördert und eine Rückkehr zum Zustand der älteren Kirche bedeutet, wenn jemand für ein rechtmäßiges Konzil andere Bedingungen verlangt, als sie die Christenheit bis jetzt und bei den vier allgemein anerkannten Generalkonzilien befolgt hat67 Das kann doch nur soviel heißen: Von den altkirchlichen Konzilien her hat sich durch das Mittelalter hindurch bis zum Tridentinum hin eine rechtsgeschichtliche Entwicklung vollzogen, deren vorläufiger Endpunkt am normativen Gewicht der ersten Gestalten partizipiert; ein Rückgang hinter diese Endgestalt kommt somit nicht in Frage. Wie unter dieser Voraussetzung Beschlüsse des Tridentinums nochmals zur Disposition gestellt werden könnten, bleibt völlig unerfindlich. Gegenüber diesem Entwurf enthalten Molans Parallelausführungen einschneidende Modifikationen. Das Konzil soll legitim sein und so vollzählig, wie die Zeitumstände es zulassen. Zur Geschäftsgrundlage dürfen weder die tridentinischen Dekrete noch andere kirchliche Lehrdokumente gehören, in denen die protestantische Lehre verdammt worden ist. Hier liegt eine brisante kirchenrechtliche Konsequenz aus der Forderung vor, der Papst solle die Protestanten unbeschadet der fünf elementaren Eigentümlichkeiten in Lehre und Praxis als wahre Christen anerkennen. Sodann muß ihre Teilnahme am konziliaren Entscheidungsprozeß sichergestellt werden. Und da auf Konzilien nur Bischöfe stimmberechtigt sind, müssen im Vorfeld eben die leitenden Geistlichen in den beteiligten protestantischen Territorien zu Bischöfen gemacht und mit allen gesamtkirchlichen Rechten ausgestattet werden, denn es geht ja nicht an, daß sie auf dem Konzil in der Position von Angeklagten erscheinen. – Dies ist eine logische Konsequenz aus Molans Forderung der umfassenden Anerken-

64 65 66 67

Ebd., S. 368. Ebd., S. 373. Ebd., S. 366. Ebd., S. 372; dt. Übers. M.O.

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nung der protestantischen Ordinationen bei der Eingliederung in die römische Hierarchie (vgl. § 20). Verhandlungsgrundlage des Konzils ist in allen Fragen des Heils und der Lebensführung allein die Schrift (§ 21), und die ist in erster Linie nach ihrem Literalsinn auszulegen (§ 22). Als Instrumente zu dessen Ermittlung können der Konsens des rechtgläubigen Altertums und der aktuelle Konsens der großen fünf Patriarchate68 in Anspruch genommen werden. Auch hier liegt im Detail wieder ein deutlicher Widerspruch zu Rojas vor, der die Auslegungskonsense als eigenständige Kriterien angeführt und überdies als einheitsstiftende Übereinstimmung eingefordert hat, daß der Schriftauslegung eines Konzils prinzipiell der Vorrang vor einer »privaten« eingeräumt werden müsse.69 Für die Verhandlungen des Konzils verläßt sich Molan ganz auf die Wahrheitsmacht der fachmännischen Diskussion und auf die einigende Kraft der Schriftwahrheit. Die status controversiarum müssen zunächst einvernehmlich formuliert werden, so daß eine Art Konsens über den Dissens entsteht. Dieser wird dann zum vollgültigen Konsens, wenn beide Seiten ihre Thesen und Gegenthesen mit Zeugnissen der Schrift und des kirchlichen Altertums belegen: Wenn man auf diese Weise vorgeht, dann werden Menschen, die nicht eigensinnig und verhärtet, sondern fromm, klug und bedächtig sind, unschwer erkennen, auf wessen Seite die Wahrheit ist …(§ 23). Molan schwebt also ein umfassender Konsens vor, der jedoch bestimmte bleibende Differenzen umschließt und aushält. Rojas’ Ausführungen über Mehrheitsentscheid etc. haben bei ihm keine Entsprechung, was man wohl als höfliche, aber ganz unmißverständliche Absage an derlei Gedanken wird werten dürfen. Molans Unionskonzept ist dem Rojas’ darin eng verwandt, daß auch er eine freilich durch die in der Reichsverfassung verbrieften kirchlichen Rechte der Reichsstände modifizierte Rückkehr der evangelischen Territorialkirchentümer unter die Jurisdiktion des römischen Stuhls anstrebt. Auch über den Weg dorthin, der über eine Präliminarunion führt, besteht Konsens. Dissens dagegen besteht in der Frage, wie das Endergebnis dieser Rückkehr aussehen soll. Rojas entwirft das Bild von evangelischen Kirchentümern, die sich ganz und gar in die Lehren und Ordnungen des bestehenden nachtridentinischen Katholizismus einordnen; erleichtert wird der Weg dorthin durch das zeitweilige Zugeständnis eigener Lehrmeinungen und Gebräuche sowie durch hermeneutische Schemata, die die kontroversen Fragen minimalisieren. Auf mittlere Sicht jedenfalls werden bei dem Prozeß, der Rojas vorschwebt, die protestantischen Eigentümlichkeiten durch Diffusion in die römisch geprägte Einheitskirche verschwinden. 68 Auch die hohe ekklesiologische Wertung der fünf Patriarchate der frühen Reichskirche ist Erbe Calixts, vgl. Schüssler, (wie Anm. 26), S. 62. 69 Vgl. Lachat (wie Anm. 15), S. 371.

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Das Konzil, das den Reunionsprozess besiegeln soll, wird keine durch den Beitritt der Protestanten gebotene dogmatische und rechtliche Neuorientierung vollziehen, sondern bloß deren Ein- und Unterordnung in das bestehende Lehrund Rechtssystem vollenden. Renitente, störrische Grüpplein werden ausgestoßen und mögen als abseitige häretische Randgruppen ein jämmerliches Dasein fristen. Die Papstkirche wird durch diese Reunion ihre nachtridentinische Gestalt nicht dauerhaft modifizieren müssen; nur die Zahl der landeskirchlichen Besonderheiten im Staatskirchenrecht und in liturgischen Nebendingen wird mit dem Zugewinn wachsen. Aber bei dem heute kaum noch vorstellbaren Reichtum des damaligen Katholizismus an eben solchen Sonderwegen und Sonderregeln hätte das keine gravierende Modifikation des Gesamtbildes bedeutet. Die reunierte Kirche, die Molan vorschwebt, sieht ganz anders aus. Sicher, er will nicht mehr wie noch Calixt verlangen, der römische Katholizismus solle alle Resultate seiner Entwicklung seit dem Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter zur Disposition stellen. Aber er verlangt doch kategorisch, daß die nachtridentinische Katholische Kirche innerhalb ihrer selbst Freiräume schafft, in denen bestimmte unaufgebbare Grundpositionen protestantischen Christentumsverständnisses fortbestehen dürfen. Dafür muß die Katholische Kirche freilich bestimmte Selbstrelativierungen vornehmen, muß bestimmte Lehren und Praktiken innerhalb ihrer selbst zulassen, denen sie die Anerkennung bislang verweigert hat. Sie kann also, so Molan, die kirchliche Reunion durch Rückkehr der Protestanten nur um den Preis gewisser Selbstmodifikationen erlangen. Alles protestantische Bemühen um die Wiederherstellung kirchlicher Einheit findet seine Grenze an bestimmten unaufgebbaren dogmatischen Einsichten und praktischen Verfahrensweisen, an denen die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentümer um der Wahrhaftigkeit willen unverbrüchlich festhalten müssen. Man kann Molans Bestimmung und Begrenzung dieser unaufgebbaren protestantischen Standpunkte füglich kritisieren: Sie ermessen kaum ansatzweise die Tragweite des reformatorischen Neueinsatzes im Verständnis des christlichen Glaubens und Lebens. An seiner Deutung des Mönchtums habe ich das exemplarisch aufgezeigt. Molan selbst scheint das geahnt zu haben. In seinem Testament hat er auch von seiner Stellung zum römischen Katholizismus Zeugnis abgelegt: Von Anfang an haben ihm an der Römischen Kirche bestimmte rituelle Besonderheiten (Heiligenverehrung, Adoration der Hostie, Kommunion unter einer Gestalt) sowie deren Intoleranz »mißfallen«; dieser zweite Anstoß habe dann durch die Aufhebung des Edikts von Nantes noch einmal neue Nahrung erhalten. Dieses Ereignis habe ihn in der Evangelischen Religion weit mehr bevestiget als alle die von unsrigen und reformirten Theologen wider die päbstlichen Irrthümer, Mis-

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bräuche publicirte und von mir gelesene scripta polemica70. Systematisch-theologische Fragestellungen waren für diesen Mann, der sich geistig und geistlich vorzugsweise traditionalistisch orientierte und ansonsten für eine wohlgeordnete Kirchen- und Klosterverwaltung arbeitete und seinen Sammlerleidenschaften frönte, von untergeordneter Bedeutung. Dennoch bleibt festzuhalten: Er hat sich bei seiner Vertretung dessen, was er für unaufgebbare Errungenschaften protestantischen Christentums hielt, nicht von taktisch-diplomatischen Interessen die Feder führen lassen. Er hat offen und ehrlich das ihm zuteil gewordene Maß historischer und theologischer Erkenntnis vertreten. In Angelegenheiten, die die Wahrheitsfrage betrafen, galten für ihn bestimmte unverrückbare theologische Kategorien und nicht die politische Opportunität. So sehr man in seinen Reunionsschriften den Abstand zur Höhenlage theologischer Reflexion nicht nur der Reformatoren, sondern auch vieler seiner Zeitgenossen beklagen mag: Unehrlichkeit und Dissimulation wird man Molan kaum vorwerfen können. Wo er Zugeständnisse macht, da kann er sie nach Maßgabe seiner Bildungsvoraussetzungen durchaus verantworten. Und wo er das nicht kann, markiert er deutlich Grenzen der Kompromißfähigkeit. Mit alledem kann man Molan ein hohes Maß an subjektiver Konsistenz und Wahrhaftigkeit bescheinigen. Aber das ändert nichts daran, daß seine Vorschläge in sich inkonsistent sind und daß sie allein schon deshalb kaum je in die Tat umzusetzen gewesen wären. Seine Unterscheidung zwischen unaufgebbaren protestantischen Eigentümlichkeiten und solchen Kontroversthemen, über die eine Einigung notwendig sein soll, ist vollkommen unpraktikabel: Wie soll es sich miteinander vertragen, daß man dem Papst einerseits Gehorsam in spiritualibus anbietet, sich aber dennoch strikt das Urteil über bestimmte Lehren und Gebräuche vorbehält? Wie etwa soll man jemals in der Ablaßproblematik zu einvernehmlichen Lehrfassungen kommen, wenn man von unvereinbar divergenten Fassungen der Rechtfertigungslehre ausgeht? Die Reihe der schwer immanent behebbaren Konstruktionsfehler von Molans Reunionsvorschlägen ließe sich fortsetzen. Aber das kann unterbleiben, denn an dieser Stelle haben schon Zeitgenossen die kritische Sonde angesetzt.71

70 Strieder (wie Anm. 20), S. 110 f. 71 Vgl. dazu Ohst, Gerard Wolter Molan und seine Stellung zum Projekt einer kirchlichen Reunion (wie Anm. 1), S. 194 – 197.

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IV. Wir wollen an diesem Punkt unserer Untersuchung stattdessen ein paar Schritte zurücktreten und das bisher gezeichnete Bild noch etwas weiter ausgreifend in seine historischen Zusammenhänge einordnen. Befremdlich wirkt für einen Betrachter aus dem frühen 21. Jahrhundert die unentwirrbare Verquickung von Religion und Politik. Für alle Beteiligten waren Kirche und weltliche Ordnung ineinander verschachtelt und bestimmten miteinander über Menschen, Untertanen und Gläubige, deren vornehmste Pflicht im Gehorsam bestand. Staaten funktionieren heute so nicht mehr, auch Kirchen nicht, nicht einmal die katholische72. Wenn man sehr genau hinsieht, werden allerdings auch feine Risse, Andeutungen von Bruchlinien sichtbar, und zwar nicht beim deutschen Lutheraner, sondern beim spanischen Minoriten. Sein Werben für »Reunion« stützt sich auf den Kaiser und ist vom Papst legitimiert, aber entschieden mehr als bei Molan, der sich aus diesem Tätigkeitsfeld zurückzog, sobald das Interesse seines Landesherrn erlahmte, ist bei Rojas so etwas wie eine religiöse Triebkraft spürbar, die zwar mit politischen Interessen kooperiert, aber doch ihnen gegenüber ein Eigenleben führt und eine Eigendynamik aufweist. Sicher, Rojas war ein Vorkämpfer der Gegenreformation, der versuchte, die Kirchenspaltung rückgängig zu machen, und zwar im Bunde mit den anderen Kräften, die den modernen, absolutistischen Staat hervorbrachten, welcher der religiösen Uniformität seiner Untertanen zu bedürfen vermeinte. Aber der religiöse Primärimpuls, der in Rojas wirkt, entspringt aus dem dynamischen Kern westlich-katholischen Christentums. Daß die Kirche ihrem Begriff nach nur Eine sein kann und um ihrer eigenen Wahrheit willen diese Einheit auch organisatorisch verwirklichen muß, hat erstmals Cyprian wirklich durchdacht und ausformuliert. Der Streit um sein Erbe zerriß 100 Jahre nach seinem Märtyrertod die Kirche seiner Nordafrikanischen Heimat, und in der Schlußphase dieser Kämpfe hat Augustin73 diesem spezifisch katholischen Selbstbewußtsein zu seinem dauerhaft wirksamen Ausdruck verholfen: Da nur in der Katholischen Kirche das Heil ist, verbietet es ihr die Liebespflicht, sich mit der Existenz organisierter christlicher Religion außerhalb ihrer selbst abzufinden. Schismatiker und Häretiker müssen zur Einheit zurückgeführt werden – zu

72 Das gilt augenscheinlich trotz Bestimmungen wie der folgenden: »Quae sacri pastores, utpote Christum repraesentantes, tamquam fidei magistri declarant aut tamquam Ecclesiae rectores statuunt, christifideles, propriae responsibilitatis conscii, christiana oboedientia prosequi tenentur« (Codex Iuris Canonici [1983], Can 212, § 1). 73 Vgl. zum folgenden Martin Ohst: Katholische Kirche und Toleranz, in: Michael MeyerBlanck u. a.: In memoriam Jörg Haustein (Alma Mater 96), Bonn 2006, S. 25 – 45.

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ihrem eigenen Besten, und deswegen unter Umständen auch gegen ihren zeitweilig verkehrten, irrigen Willen. Es war dieser spezifisch katholische Urimpuls, der mit dem reformatorischen Aufbruch die katholische Reform zur Gegenreformation ausgeprägt hat, und er ist lebendig geblieben, als die Zeit der eigentlichen Gegenreformation zu Ende ging, weil Kirche und Staat, Religion und Politik sich allmählich aus ihrer wechselseitigen Verklammerung und Verfilzung lösten. Der auch in der Gegenreformation wirksame religiöse Impuls ist nicht erloschen, sondern er hat sich eine neue Realisations- und Wirkungsgestalt im katholischen Ökumenismus an- und ausgebildet. In den Konstitutionen und Dekreten des II. Vatikanischen Konzils sind die normativen Resultate dieser Metamorphose dokumentiert. Der eigentliche Impuls für das hier in immer neuen Wendungen sich Ausdruck verschaffende Streben nach der Überwindung kirchlich-organisatorischer Diversität liegt eben nicht in bloßer Friedenssehnsucht, sondern in der schmerzlichen Einsicht, daß durch die Spaltung das Wirksamwerden der ganzen Fülle der Katholizität bei den »Getrennten Brüdern« verhindert wird und daß es durch sie auch für die Catholica selbst »schwieriger« wird, »die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt in der Wirklichkeit des Lebens auszuprägen«74. Akatholisches Christentum ist als Tatwiderspruch gegen den Katholizitätsanspruch der Papstkirche schon durch sein bloßes Dasein ein schmerzhaftes Defizit und muß beseitigt werden – durch Integration. Zwar hat das II. Vatikanische Konzil in der Deklaration »Nostra Aetate« in aller Form auf den Dienst der Staaten bei der Durchsetzung des Alleinvertretungsanspruchs der Papstkirche auf das nomen christianum Verzicht geleistet und an die politischen Ordnungen der Welt die Forderung der Religionsfreiheit erhoben.75 Nichtsdestotrotz hat sich die Papstkirche innerchristlich nur umso deutlicher als geschichtliche Realisation der von Gott in Christus gestifteten Kirche schlechthin prädiziert, als Ursprungsort aller kirchlich-konfessionellen Vielfalt und zugleich als deren Ziel- und Integrationspunkt.76 In der einschlägigen Literatur77 wird darauf hingewiesen, daß das II. Vati74 Unitatis redintegratio 4, LThK2-Erg.-Bd. II, S. 69. 75 LThK2 Erg.-Bd. II, S. 712 – 744. Die Bestimmungen über die Religionsfreiheit haben ihr Zentrum natürlich in den hergebrachten Sätzen über die Freiheit der Kirche (§ 13), welche zuerst und zuletzt in der Freiheit zur autoritativen Lenkung und Leitung ihrer Glieder (§ 14) besteht. 76 Vgl. Lumen gentium 8, LThK2 Erg.-Bd. I, S. 171 – 176. 77 Vgl. z. B. Peter Neuner : Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997, S. 138 – 151; Michael Kappes: Ökumene – wohin? Einheitsvorstellungen und Modelle der Einigung, in: Ders. u. a. (Hrsg.): Trennung überwinden. Ökumene als Aufgabe der Theologie (Theologische Module, Bd. 2), Freiburg 2007, S. 106 – 137, hier : S. 114 f., 132 – 134.

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kanische Konzil die Programmatik für die Verwirklichung dieses Anspruchs entscheidend modifiziert habe. An die Stelle eines »Rückkehr-Ökumenismus«78, also der Erwartung, daß das mit den akatholischen Kirchentümern gestellte Problem sich durch deren Verschwinden allmählich von allein lösen wird, weil deren Glieder als Konvertiten in den Schoß der Kirche zurückkehren, sei das Streben nach »Kirchengemeinschaft« getreten: Die noch getrennten Kirchenkörper sollen erhalten bleiben, sich allerdings derart umgestalten, daß ihre Lehrund Rechtsordnungen mit denen der Catholica kompatibel werden und so Kirchengemeinschaft entstehen kann. Ihr geschichtlich gewachsenes Erbe an Denk- und Frömmigkeitsformen dürfen und sollen sie ergänzend und bereichernd in die Fülle der Katholizität einbringen: Nur hier sind sie an dem ihnen wahrhaft gebührenden Ort, denn gerade das Papstamt »schützt« ja die »rechtmäßigen Verschiedenheiten«, indem es zugleich darüber »wacht, daß die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen«79. Der historische Rückblick auf die Reunionsverhandlungen des späten 17. Jahrhunderts hat gezeigt, daß dieses Konzept so neu nun auch wieder nicht ist, denn strukturell verfolgten ja Rojas und Molan, wenngleich mit erheblichen Differenzen hinsichtlich des Ziels wie des Weges dorthin, genau das Projekt einer solchen Überwindung der Kirchenspaltung durch die korporative Einfügung bislang evangelischer Territorialkirchentümer in die Papstkirche. Wie verhält sich hierzu das Konzept von »Kirchengemeinschaft«, welches der katholische Ökumenismus verfolgt? Nun, die Literatur hierzu füllt inzwischen viele Regalmeter. Aber im Grunde existiert doch mit dem Obersten Leitungsund Lehramt der katholischen Kirche nur eine einzige Instanz, die durch eigene Akte mit ihren Rechtsfolgen einen wirklich authentischen Kommentar zu geben vermag. Und dieser Kommentar ist am 4. November 2009 in der Tat ergangen, nämlich in der apostolischen Konstitution »Anglicanorum coetibus«,80 welche den korporativen Eintritt ganzer ursprünglich anglikanischer Personenverbände in die volle Gemeinschaft mit der Römisch-katholischen Kirche durch die Errichtung besonderer Personal-Ordinariate ermöglicht. Dieses Dokument ruft in seinem Eingangsteil die einschlägigen Kundgaben des II. Vatikanischen 78 Klassisch formuliert ist das in der Encyclica »Mortalium animos« von Papst Pius XI. (6. Januar 1928): »Die Verbindung der Christen läßt sich nicht anders befördern als durch die Begünstigung der Rückkehr der Abtrünnigen zur einzigen, wahren Kirche Christi, denn von der sind sie ja einst unglückseliger Weise abgefallen« (http://www.vatican.va/holy_father/ pius_xi/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_19280106_mortalium-animos_lt.html; dt. Übers. M.O.). 79 Lumen gentium 13, LThK2-Erg.-Bd. I, S. 195. 80 Zitiert wird der lat. Originaltext nach http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/ apost_constitutions/documents/hf_ben-xvi_apc_20091104_anglicanorum-coetibus_lt. html mit Angabe der Kapitel- und Paragraphennummer im Text; dt. Übers. von M.O.

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Abt Molan und die Ökumene

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Konzils in Erinnerung und setzt dann im Anschluß an diese konkrete rechtliche Normen. Mit aller nur wünschenswerten Offenheit und Eindeutigkeit wird der Status dieser besonderen Kirchenkörper angegeben: In der Lehre verpflichten sie sich auf den Katholischen Weltkatechismus von 1995, die für sie verbindliche Rechtsnorm ist der gültige CIC, die für sie zuständigen Kirchengerichte sind die römischen Kongregationen und Dikasterien. Die anglikanischen Ordinationen der Amtsträger in den bisher anglikanischen Personenverbänden werden nicht etwa anerkannt, sondern den bisherigen Bischöfen, Presbytern und Diakonen wird in Aussicht gestellt, daß sie als Weiheanwärter übernommen werden können, sofern die kirchenrechtliche Einzelprüfung keine Hinderungsgründe ergibt. Was an Eigenständigkeit bleibt, ist die folgende Konzession: »Ohne daß dadurch liturgische Feiern nach dem Römischen Ritus ausgeschlossen würden, wird dem Ordinariat die Möglichkeit gegeben, die Heilige Eucharistie und die anderen Sakramente sowie die Stundengebete und andere liturgische Handlungen gemäß solchen liturgischen Büchern zu feiern, welche der anglikanischen Tradition eigentümlich sind, sofern diese durch den Apostolischen Stuhl gebilligt sind, so daß innerhalb der Katholischen Kirche die lebenskräftigen Überlieferungen der Anglikanischen Gemeinschaft im Geistlichen Leben, in der Liturgie und in der Seelsorge erhalten bleiben« (II.). Kurzum: Die vorgesehene dogmatisch-rechtliche Gleichschaltung sich in Kirchengemeinschaft mit Rom begebender anglikanischer Personenverbände ist eine vollständige. Was bleiben soll, sind liturgische Eigenheiten, die freilich auch zunächst einmal ohne jeden Vorbehalt der Prüfung durch die zuständigen Behörden der Papstkirche anheimgestellt sind. Die apostolische Konstitution ist somit noch einmal erheblich rigoroser als Rojas’ »Regulae«, und das heißt: Einwände und Eigenständigkeitsbekundungen, wie sie einst Abt Molanus vorbrachte, würden wohl auch im Zeitalter nach der »Rückkehr-Ökumene« keine Berücksichtigung finden. Daraus folgt: Noch dringlicher als im ausgehenden 17. Jahrhundert sehen sich die evangelischen Kirchen heute vor die Alternative gestellt, sich entweder, wie einst der Abt von Loccum, mit inkonsistenter und unfruchtbarer Einzelkritik an katholischen Vorgaben zu begnügen, oder ein durchdachtes, dezidiert nachkatholisches Verständnis der Kirche und ihrer Einheit zu vertreten: »Nur soweit der Protestantismus sich zum Verständnis dieser seiner Lage entschließen und sich in sie schicken kann, steht er als eine neue, als eine entmythologisierte, womöglich auch als eine entdogmatisierte, als eine der Säkularisation in gutem Sinne fähige Form des Christentums dem dogmatisch und kirchlich verfestigten und abgeschlossenen Katholizismus in berechtigter Eigenart zur Seite, beziehungsweise gegenüber und wird mit der Annahme eines polaren Verhältnisses zugleich eine

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prinzipielle Unterscheidung beider Konfessionen möglich, die keinerlei Unklarheiten mehr in sich birgt.«81

81 Heinrich Julius Holtzmann: Die Zukunftsaufgaben der Religion und der Religionswissenschaft, in: Paul Hinneberg (Hrsg.): Die Kultur der Gegenwart I/IV.2: Systematische Christliche Religion, 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1909, S. 256 – 278, hier: S. 273.

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Das Predigerseminar im Kloster Loccum. Eine geschichtliche Einordnung

Instruktion für das Hospitium zu Loccum Das 19. Jahrhundert begann für das Kloster Loccum mit einem Signal des Aufbruchs: Am 15. April 1800, einen Tag nach Ostern, unterzeichnete Johann Christoph Salfeld (1750 – 1829) die Instruktion für das Hospitium zu Loccum und den zur Dirigirung der Studien und praktischen Uebungen desselben committirten Conventual.1 Noch im gleichen Jahr erschien die Instruktion in einer überregionalen Zeitschrift.2 Mit ihr stellte der Loccumer Abt der kirchlichen Öffentlichkeit eine Einrichtung vor, die das Bild des Klosters künftig wesentlich prägen sollte: das Predigerseminar. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war mit Bedacht gewählt. Der Beginn des neuen Jahrhunderts gab der Eröffnung des Seminars eine symbolische Bedeutung. Salfeld ging es um einen Neuanfang, der im Namen der Aufklärung beschritten wurde. In der Einleitung zur Instruktion gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass in Loccum ein Weg eingeschlagen worden sei, der Kurhannover und anderen Ländern Deutschlands als Vorbild dienen könne. Mit Stolz könne man auf die seit acht Jahren glücklich und mit dem besten Erfolge bestehende Einrichtung zurückblicken, da sie sich in dieser Zeit gut fortentwickelt habe und nunmehr füglich als ein Predigerseminarium im kleinen angesehen werden mag.3 In dieser Formulierung fand erstmals, wenn auch in einer Umschreibung, der Begriff ›Predigerseminar‹ Verwendung, um den Ort der neuen Einrichtung zwischen Studium und Beruf zu bestimmen. Die glückliche ländliche Musse des Klosters, die Aufgaben in der Gemeinde und die Gemeinschaft im Hospiz seien, so Salfeld, eine gute Voraussetzung, dass unsere Hospites nicht für die Akademie, sondern für den unmittelbar praktischen Predigerberuf sich zu bestimmen, 1 Klosterarchiv Loccum (i.F.: KAL) VIII 6. 2 Beyträge zur Kenntniß und Verbesserung des Kirchen- und Schulwesens in den Braunschweig-Lüneburgschen Churlanden Bd. 1, hrsg. v. Johann Christoph Salfeld, Hannover 1800, S. 465 – 481. 3 Beyträge (wie Anm. 2), S. 465 f.

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mithin zwar nicht zu eigentlichen Gelehrten, wohl aber sofern zu gelehrten Theologen sich auszubilden zur Absicht haben.4 Mit seinem Hinweis, dass der Predigerstand, besonders in unsern Zeiten, solcher (sc Seminare) in so mancher Hinsicht bedarf, lenkte er zudem den Blick auf den geschichtlichen Kontext des Loccumer Seminars. Salfeld war sich bewusst, dass er mit dem Seminar neue Wege ging. Er hatte mit ihm eine Institution geschaffen, die der praktischen Predigerausbildung innerhalb der hannoverschen Kirche einen festen Platz gab. Salfeld war auf die mit dem Seminar verbundenen Aufgaben gründlich vorbereitet. Als er Ende 1791 im Alter von 41 Jahren zum Abt des Klosters Loccum gewählt wurde, hatte er in seinem beruflichen Werdegang pädagogische, pastorale und konsistoriale Erfahrungen sammeln können.5 Nach Abschluss des Theologiestudiums war er zunächst Hauslehrer und dann Inspektor am hannoverschen Schullehrerseminar geworden. Es folgten Berufungen auf Pfarrstellen der innerstädtischen Kirchen Hannovers und der Auftrag, die Geschäfte eines Hofpredigers wahrzunehmen. Salfeld blieb auch in dieser Zeit pädagogisch tätig. Er gründete die Hof-Schule für Söhne Königlicher Bediensteter und veröffentlichte den Versuch eines faßlichen Unterrichts in der christlichen Glaubensund Sittenlehre (1787), seine wichtigste theologische Schrift, in der er seine pädagogischen Erfahrungen für die damals anstehende Neubearbeitung des hannoverschen Landeskatechismus fruchtbar machte.6 1791 markierte den Höhepunkt seiner beruflichen Karriere: Salfeld wurde zum ordentlichen Mitglied des Konsistoriums ernannt, er übernahm das Kuratorium des Schullehrerseminars und wurde von der Universität Göttingen mit der Verleihung der theologischen Doktorwürde ausgezeichnet. Außerdem erhielt er vom Konvent des Klosters Loccum die Berufung zum Abt. Salfeld war damit zum wichtigsten Repräsentanten der hannoverschen Kirche seiner Zeit geworden. In Loccum begann er sogleich die mit der neuen Wirkungsstätte gegebenen Möglichkeiten zu nutzen. Dabei konnte er an manches anknüpfen, was von seinen Vorgängern angestoßen worden war.

4 Beyträge (wie Anm. 2), S. 467 f. 5 Wilhelm Rothert: Abt Salfeld und seine Arbeitsgenossen, in: Allgemeine hannoversche Biographie Bd. 3, Hannover 1916, S. 371 – 385. 6 Johann Christoph Salfeld: Versuch eines faßlichen Unterrichts in der christlichen Glaubensund Sittenlehre Bd. 1: für Kinder unter zwölf Jahren, Bd. 2: für fähigere Jugend, Bd. 3: für Confirmanden, Hannover 1787

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Zu dem heiligen Predigt-Ambte recht erzogen werden Zu diesen Vorgängern gehört Gerhard Wolter Molanus (1633 – 1722).7 Molanus war der bedeutendste Loccumer Abt der nachreformatorischen Zeit. Viele Jahre hatte er an der Academia Ernestina, der von 1619 bis 1810 bestehenden Universität Rinteln, Theologie gelehrt. Über die Grenzen des Landes hinaus wurde er bekannt, weil er mit den katholischen Bischöfen Christoph de Rojas y Spinola und Jacques B¦nigne Bossuet sowie mit Gottfried Wilhelm Leibniz Gespräche zur Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen führte.8 Als Konsistorialdirektor war er der leitende Geistliche der hannoverschen Kirche. Seine Ernennung zum Abt des Klosters Loccum 1677 begründete die bis heute bestehende enge Verbindung zwischen der hannoverschen Kirchenleitung und dem Loccumer Konvent. Molan begnügte sich nicht mit der Würde des klösterlichen Amtes, sondern sah im Kloster einen Ort, um seine Vorstellungen von evangelischer Kirche zu verwirklichen. Dabei griff er Überlegungen auf, die bereits vor seiner Zeit laut geworden waren. Diese Überlegungen verbinden sich mit Justus Gesenius (1601 – 1673), einem vom Helmstedter Theologen Georg Calixt geprägten Kirchenmann.9 Gesenius wirkte in den Jahren nach Ende des Dreißigjährigen Krieges als Generalsuperintendent wesentlich am Wiederaufbau des Calenberger Kirchenwesens mit. 1664 veröffentlichte er eine Sammlung von Fest-Predigten, die er dem Loccumer Klosterkonvent unter Abt Kotzebue (1658 – 1677) widmete.10 In der Vorrede dieses Bandes entfaltete Gesenius Gedanken zur Bedeutung eines evangelischen Klosters für die Bildung künftiger Prediger. Es sei die Auffassung verbreitet, man könne auf Klöster verzichten, er wünsche sich jedoch, daß solcher örter und gelegenheiten in den Evangelischen Landen vielmehre und nicht so gar wenig sein möchten, darinnnen erwachsene und zu den Jahren ihres Verstandes gekommene Leute nach gelegten guten fundamenten ihres Studij Theologici zugleich die Christliche devotion und Andacht woll üben, und einen vernünfftigen Gottesdienst mit beten, loben und dancken Gott dem Allerhöchsten leisten und abstatten … und dann darneben zu dem heiligen Predigt-Ambte 7 Heinz Weidemann: Gerard Wolter Molanus, Abt zu Loccum. Eine Biographie, Bd. 1/2 (=SKGNS), 3/5, Göttingen 1925/29. 8 Karin Masser: Christûbal de Gentil de Rojas y Spinola O.F.M. und der lutherische Abt Gerardus Wolterius Molanus. Ein Beitrag zur Geschichte der Unionsbestrebungen der katholischen und evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert, RGST 145, Münster 2002. – Hans Otte (Hrsg.): Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz, SKGNS 37, Göttingen 1999. – Hans-Walter Krumwiede: Molans Wirken für die Wiedervereinigung der Kirchen, in: JGNKG 61, 1963, S. 72 – 114. 9 Eduard Bratke: Justus Gesenius. Sein Leben und sein Einfluß auf die Hannoversche Landeskirche, Göttingen 1883. 10 Justus Gesenius: Fest-Predigten Theil 1, Helmstädt 1664.

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recht erzogen werden, und sich gebührends anschicken und vorbereiten könten.11 Schon immer habe der Aufenthalt in einem Kloster die Möglichkeit eröffnet, die theologischen Studien fortzusetzen und sich dadurch auf das geistliche Amt vorzubereiten. Dem komme gerade jetzt, da die Armut vielen Studenten ein längeres Studium verwehre, Bedeutung zu. Darüber hinaus habe die Kirchenleitung einen wesentlichen Vorteil mit Blick auf die Kandidaten: Dieselbe könte man dann auch vor ihrer beforderung zum Predigt-Ambte gnugsamb probiren, und recht und eigentlich vorhero sie kennen lernen, … ob sie genugsame devotion und pietät … wie auch daneben die nöhtige geschickligkeit und genugsamen Verstand göttlicher Schrifft, und dann auch die unentbehrliche Gaben das Volck deut- und verständlich zu catecheziren, und sonsten von öffentlicher Cantzel und privatim zu lehren und zu unterweisen, und beweglich zu ermahnen, mit in solch Ambt brächten. Seine Gedanken zusammenfassend, bezeichnete Gesenius die Klöster als eine conjunctio und consociatio studiorum sacrorum, die angehenden Predigern Gelegenheit gebe, einen christlichen exemplarischen Wandel zu üben und die studia sacra fortzusetzen, und er gab damit einen Hinweis, worin die Bedeutung der Klöster in veränderter Zeit liege. Gesenius verband mit seinen Überlegungen keine Kritik der Universität. Die klösterlichen Seminare sollten das Studium ergänzen, aber nicht ersetzen. Gesenius warf der Universität darum nicht, wie dies der Pietismus später tun sollte, Mangel an wahrem Christentum vor. Er beklagte vielmehr die soziale Not, die viele Studenten zum vorzeitigen Abbruch des Studiums zwinge. Freilich war er davon überzeugt, dass die Klöster nicht nur soziale Versorgungsanstalten, sondern Orte seien, an denen geistliches Leben in praktischer Hinsicht eingeübt werden könne.

In aller stille seines Studirens abzuwarten Molan setzte als Abt von Loccum andere Akzente, aber auch er hatte konkrete Vorstellungen, welche Aufgabe ein Kloster haben könne. Diese waren vom Gedanken eines evangelischen Mönchtums geprägt.12 Das bedeutete mit Blick auf den Konvent, dass seine Mitglieder regelmäßig zu den Stundengebeten und Gottesdiensten zusammenkamen. Außerdem wurde wie in der monastischen Tradition die Ehelosigkeit zur Voraussetzung der Mitgliedschaft im Konvent gemacht, auch wenn dafür kein lebenslanges Gelübde, sondern nur ein Versprechen verlangt wurde. In diesem Zusammenhang gewann für Molan eine 11 Gesenius (wie Anm. 10), S. 8 f. 12 Dieter Brosius: Der Loccumer Abt Gerhard Wolter Molanus, in: SMGB 103, 1992, S. 43 – 59. –Friedrich Uhlhorn: Lutherische Mönche in Loccum, in: ZKG 10, 1889, S. 395 – 438.

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Einrichtung des Klosters an Bedeutung, von der wir jedoch nicht sicher wissen, ob er sie bei Amtsantritt bereits vorfand oder nach dem Vorbild mittelalterlicher Klöster erst aufbaute: das Hospiz. Die Benediktsregel fordert in Kap. 53 dazu auf, innerhalb der Klosteranlage Räume bereitzuhalten, in denen sich Gäste, die als Hospites bezeichnet werden, für eine begrenzte Zeit aufhalten dürfen.13 Es spricht einiges dafür, dass auch das Kloster Loccum seit dem Mittelalter über ein solches Gästehaus verfügte. Sicher aber ist es nicht. Greifbar wird das Hospiz erst unter Abt Molan. Wenige Monate nach seiner Ernennung zum Abt verfasste Molan die Leges Hospitii, die älteste noch erhaltene Lebens- und Arbeitsordnung für das Hospiz14. Darin bestimmte er als Zweck des Hospizes, dieses solle jungen Theologen Gelegenheit geben, für eine begrenzte Zeit das Leben des Klosters kennenzulernen. Sie sollten an Gottesdiensten und Stundengebeten teilnehmen, gegebenenfalls auch predigen, daneben aber auch lernen, wie die Zeit im Kloster gebraucht werden könne (§ 2). Molan bewegte sich mit seinen Gedanken ganz in der klösterlichen Tradition, die keineswegs infragegestellt oder gar aufgehoben werden sollte. Ihm ging es darum, junge Theologen in das Kloster aufzunehmen, damit sie die Konventualen bei den gottesdienstlichen Aufgaben unterstützen konnten, ohne sie gleich zu Mitgliedern des Konvents zu machen. Hinsichtlich der Angelegenheiten des Klosters solle sich der Hospes nichts zu bekümmern und noch viel weniger sich in solche ihm nicht an vertrauete Dinge zu mischen, vielmehr habe er in aller stille seines Studirens abzuwarten (§ 3) und solle zu diesem Zweck von Zeit zu Zeit mit dem Konvent über theologische Fragen sprechen, damit man sein gemüthe ergründen, undt was noch etwa für passiones in seinem Hertzen stecken, auß sehen könne (§ 22). Man mag in diesen Formulierungen eine Andeutung dessen sehen, was über ein Jahrhundert später aus dem Hospiz wurde. Doch hatte das Hospiz unter Molan mit dem, was Salfeld daraus machte, nicht viel zu tun. Es war eine Einrichtung, die vom Kloster her verstanden wurde und klösterlichen Zwecken diente.

Seine Studia und practischen Uebungen als den eigentlichen Zweck seines Aufenthalts im Closter fortsetzen Trotzdem war es eben dieses Hospiz, das im späten 18. Jahrhundert den Anstoß dazu gab, die Gründung einer seminaristischen Ausbildungsstätte ins Auge zu fassen. Diese Änderungen setzten mit dem Wirken von Christoph Chappuzeau (1726 – 1791) ein. Chappuzeau war hannoverscher Konsistorialrat. Nach seiner 13 Die Benediktusregel, hrsg. v. Basilius Steidle, 4. Aufl. Beuron 1980, S. 150 – 155. 14 Heinrich Holze: Von der Schule des Klosterlebens zur Schule des Predigtamtes. Die »Leges Hospitii« des Klosters Loccum 1677 – 1906, in: JGNKG 89, 1991, S. 177 – 199.

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Wahl zum Abt des Klosters 1770 machte er das im Bereich des hannoverschen Konsistoriums 1735 eingeführte theologische Examen zur Voraussetzung der Aufnahme in das Hospiz und band damit das Kloster stärker in die gesamtkirchlichen Belange ein. Auch arbeitete er daran, die Bibliothek durch Neuanschaffungen und eine bessere Unterbringung aufzuwerten15. Vor allem aber ging es ihm darum, den Hospites neue Aufgabenfelder zu erschließen. An den Leges Hospitii wird das deutlich16. Chappuzeau kürzte ihren Umfang und strich eine Reihe von Einzelbestimmungen, die die Stellung der Hospites im Kloster betrafen. Zugleich fügte er eine Formulierung ein, die das Ziel des Aufenthaltes im Hospiz herausstellte, dass nämlich der Hospes seine Studia und practischen Uebungen, als den eigentlichen Zweck seines Aufenthaltes im Closter, fleißig fortzusetzen habe.17 In Verbindung damit erweiterte Chappuzeau den Aufgabenbereich auf die in der Nachbarschaft zu Loccum gelegene Gemeinde in Münchehagen, wo der Hospes an den Sonntagen, an welchen ihn die Reihe trifft, also nach einer festen Ordnung, Nachmittags Catechismuslehre zu halten habe (§ 2). Schließlich wurde ein regelmäßiges Stipendium festgelegt (§ 5). Beides zeigte: die Einbindung des Hospizes in das Kloster wurde gelockert, zugleich wurde die Möglichkeit selbständigen Studierens betont. Es war folgerichtig, dass Chappuzeau die Voraussetzung dafür schuf, dass die Hospites durch Katechisationen und Andachten (Betstunden) auch außerhalb des Klosters und zur Unterstützung des Stiftspredigers in Predigt und Gottesdienst tätig werden konnten. Indem Chappuzeau bei der Umgestaltung des Hospizes das Interesse der (Aus-)Bildung in den Vordergrund stellte, brachte er ein zentrales Anliegen der Wittenberger Reformation im Zeitalter der Aufklärung neu zur Geltung. Martin Luther war davon überzeugt, dass die größte Herausforderung für die Kirche darin liege, die Christen ebenso wie die Prediger zum Verstehen des Evangeliums zu führen. Viele Geistliche seiner Zeit hatten kein Theologiestudium absolviert oder nur wenige Semester an der Universität verbracht. Manche verstanden nicht einmal die lateinische Sprache, die doch in der Messe gelesen wurde. In der mittelalterlichen Kirche war das Studium der Theologie keine Bedingung der Priesterweihe. In seiner Schrift An die Ratsherren aller Städte deutschen Lands rief Luther deswegen die weltlichen Obrigkeiten in Stadt und Land dazu auf, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524).18 15 Georg Müller : Die Klosterbibliothek. Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 23. 16 Friedrich Düsterdieck: Das Hospiz im Kloster Loccum. Ein Lebensbild aus der hannoverschen Landeskirche, Göttingen 1863, S. 22 f. 17 Leges Hospitii § 4 vom 6. 5. 1789 (KAL VIII 1). Abdruck: Holze (wie Anm. 14), S. 186 f. 18 Martin Luther: An die Ratsherren aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, WA 15, S. 27 – 53.

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Dafür übersetzte er die Bibel und schrieb die Katechismen. Außerdem forderte er die evangelischen Prediger auf, die humanistischen Sprachen zu erlernen, damit sie in der Lage seien, die Bibel in den Grundsprachen zu lesen. Weil Gott das Evangelium in Hebräisch und Griechisch offenbart habe, müsse man diese Sprachen verstehen können, um Christus in seiner Klarheit zu hören.

Denen fratribus einen richtigen methodum concionandi gezeigt Die Umsetzung dieses Bildungsideals war jedoch schwierig. In den evangelischen Territorien nahmen die Universitäten Wittenberg und Marburg eine Vorreiterrolle ein.19 Zugleich erschlossen sich neue Ausbildungsmöglichkeiten durch Klöster, die in Gebieten, die sich der Reformation zugewandt hatten, in Schulen umgewandelt worden waren. Diese konnten, wie sich nun zeigte, auch für Kandidaten des Predigtamtes genutzt werden. Ein Beispiel war das in der Nähe von Magdeburg gelegene ehemalige Benediktinerkloster Berge, das im Schmalkaldischen Krieg zerstört, in den 1560er Jahren aber wieder aufgebaut worden war.20 Eine wichtige Rolle spielte dabei Peter Ulner (1523 – 1595), Abt des Klosters (1561 – 1595), der sich 1565 in öffentlicher Predigt zur evangelischen Lehre bekannt hatte21. Ulner berief in den neu zu besetzenden Konvent ausschließlich Kandidaten der Theologie und machte es ihnen, wie die Statuten ausweisen, zur Aufgabe, sich in theologischen Studien und im Predigtvortrage zu üben.22 Eine Chronik des Klosters, die seit dieser Zeit geführt wurde, nennt den Gottesdienst in der Kirche und andere gebührliche exercitia pietatis sowie täglich stattfindende lectiones menae, in welchen die heilige Bibel zu öftren Malen, die opera Lutheri, Philippi wie auch unterschiedene erbauliche libri historici durchgelesen wurden. Auch eine Predigtkritik wurde geübt, in der Abt Ulner denen fratribus einen richtigen methodum concionandi gezeigt und wo etwa einem oder dem andern in pronunciando vel non rite disponendo etwas gemangelt, väterlich erinnert und unterwiesen und sie besonders zu einer feinen, 19 Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung (= SuR 28), Tübingen 2006. 20 Christof Römer : Das Kloster Berge bei Magdeburg und seine Dörfer 968 – 1565: Ein Beitrag zur Geschichte des Erzstiftes Magdeburg (= StGS 10), Göttingen 1970. 21 Karl Janicke: Ulner, Peter, in: ADB 39, 1895, S. 211 f. – Reinhild Stephan-Maaser : Vom Werdener Mönch zum evangelischen Abt in Magdeburg: Peter Ulner und die Reformation, in: Jan Gerchow (Hrsg.): Das Jahrtausend der Mönche: Kloster Welt Werden 799 – 1803, Köln 1999, S. 154 – 163. 22 G. Liebe: Die Ausbildung der Geistlichen im Herzogtum Magdeburg bis zur Kirchenordnung 1739, in: ZVKGS 1, 1904, S. 34 – 58.

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klaren und deutlichen Pronuncition angemahnt hat.23 In der gleichzeitig eingerichteten Knabenschule unterrichteten die Kandidaten. Auch eine Bibliothek wurde aufgebaut. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurden in das Seminar des Klosters Berge mehr als 60 Kandidaten aufgenommen. Wie berichtet wird, wurden sie anschließend auf Pfarrstellen versetzt und dabei von der Kirchenleitung bevorzugt genommen. Über die weitere Entwicklung dieses Seminars ist nur wenig bekannt. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde das Kloster erheblich in Mitleidenschaft gezogen, doch gelang in den nachfolgenden Jahrzehnten der Wiederaufbau, der das Kloster mit pietistischer Prägung zu neuer Bedeutung gelangen ließ. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte allmählich ein Niedergang ein; unter napoleonischer Besatzung wurde das Kloster schließlich abgerissen.24

Gott zu Ehren und der Evangelischen Religion zur Aufnahme und Gedeyn Das im Herzogtum Wolfenbüttel östlich von Braunschweig gelegene ehemalige Zisterzienserkloster Riddagshausen ist ein weiteres Beispiel für die Nutzung eines Klosters zur Kandidatenausbildung.25 Während der Reformation war im Kloster eine Lateinschule begründet worden. Im Ausgang des 17. Jahrhunderts kam eine neue Ausbildungsstätte hinzu. Am 27. August 1690 wurde im Beisein der Herzöge von Wolfenbüttel das Collegium Candidatorum eröffnet. Geistiger Vater dieser Einrichtung war der erst ein Jahr zuvor zum Abt des Klosters berufene Johann Lukas Pestorf (1638 – 1693).26 Dass die Initiative von ihm ausging, war sicher kein Zufall. Pestorf hatte in den späten 1660er Jahren dem Loccumer Klosterkonvent, dem Justus Gesenius kurz zuvor seine Predigten mit den Gedanken zur Bedeutung der Klöster für die evangelische Predigerbildung gewidmet hatte, angehört. Als er später in führende geistliche Ämter der Kirche Wolfenbüttels geholt wurde, erblickte er im Kloster Riddagshausen eine Möglichkeit, den Anregungen des Gesenius eine Gestalt zu geben. In den Statuten, die vermutlich auf ihn zurückgehen, wird das Leben im Collegium Candidatorum beschrieben. In der Vorrede heißt es, es habe biß daher an einem besonderen Seminario Ministrorum Ecclesiae gefehlt, was umso problematischer sei, als die 23 Aus den Statuten des Klosters, in: Liebe (wie Anm. 22), S. 39. 24 Hugo Holstein: Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Berge, Leipzig 1886. 25 Heinrich Holze: Das Collegium Candidatorum im ehemaligen Zisterzienserkloster Riddagshausen, in: 300 Jahre Predigerseminar 1690 – 1990. Riddagshausen – Wolfenbüttel – Braunschweig, hrsg. v. Wilfried Theilemann, Wolfenbüttel 1990, S. 29 – 53. 26 Philipp Meyer: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation Bd. 1, Göttingen 1941, S. 11.

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Erfahrung bezeuget, daß bei jetziger Menge der studirenden Jugend die mehrsten entweder bey Ermangelung der Mittel oder aus eigenem Unfleiß auf das studium Theologiae nicht recht appliciren, noch zu dem Heiligen Dienst der Kirche Gottes nach den wahren principiis sich gründlich qualificiren und bereiten.27 Deswegen sei der Beschluss gefasst worden, dergleichen heilsame Anstalt und Verfaßung auf Unserem Kloster Riddagshausen Gott zu Ehren und der Evangelischen Religion zur Aufnahme und Gedeyn anzurichten.28 Von den in das Seminar eintretenden Landeskindern wurde erwartet, dass sie an der Universität Helmstedt studiert hatten und einen Nachweis der Rechtgläubigkeit erbringen konnten. Darin spiegelte sich das normierende Streben des Konfessionalismus, dem auch das Collegium Candidatorum zu dienen hatte. Den Kandidaten wurde den Statuten zufolge ein bis zu dreijähriger Aufenthalt im Kloster gewährt, der eine seminaristische Ausbildung vorsah, die neben täglichen Übungen zur Auslegung der Bibel und einer wöchentlichen Disputation auch praktische Übungen in Predigt und Katechese umfasste. Diese Übungen ergaben sich aus der Gemeindearbeit des Priors, der zugleich Ortspastor war. Sie wurden umrahmt durch das liturgische Leben des Klosters, zu dem neben dem sonntäglichen Predigtgottesdienst auch Stundengebete gehörten. Allerdings blieb vieles offen. Das Hauptproblem war, dass es keine Studienleitung gab, die die Kandidaten mit Hilfestellung, Anregungen und kritischen Rückfragen begleitete. Auch fehlte ein Studienplan, der Methoden und Inhalte beschrieb. Die Seminaristen blieben weitgehend sich selbst und dem abgeschiedenen Leben im Kloster überlassen. Das führte zu deutlichen Rückfragen, denn – so ein kritischer Beobachter – damit ist doch die Sache noch nicht abgethan, wenn hier ein Consistorium den unter ihm stehenden Kandidaten aufgiebt, jährlich etwa bei seinem Inspector eine geschriebene Predigt einzureichen; oder, wenn dort eine Universitätskirche durch 6 bis 8 Studirende die zu haltendenen Predigten besorgen läßt; oder, wenn da ein Stadtministerium darauf hält, daß jeder Candidat, der wahlfähig sein wolle, sich nicht entbrechen dürfe, bei vorkommenden Fällen, die Geistlichen der Stadt zu unterstützen … Es sind das Einrichtungen, die nützlich gemacht werden könnten, wenn den jungen Arbeitern und Rednern Aufsicht, Leitung und Zurechtweisung zu Theil würde. Aber, so lange das alles, wie jetzt, seinen bloß mechanischen Gang geht, so lange können und müssen meines Erachtens für den großen Haufen der künftigen Redner diese Veranstaltungen zu eigener Uebung mehr schaden als nützen.29 Das war eine klare Problemanzeige. Für die Kandidaten hatte das Riddagshäuser Seminar 27 Statuten, Vorrede (Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel 2 Alt 9614). 28 Statuten (wie Anm. 27), Kp. 1, § 2 . 29 Homiletisch-kritische Blätter für Candidaten des Predigtamts und angehende Prediger 1, Stendal 1791, S. VI/VII.

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dennoch einen großen Vorteil: es bot ihnen die Möglichkeit, die oftmals jahrelange Wartezeit bis zur Übernahme einer Pfarrstelle zu überbrücken.

Wenn Prediger in Kenntnissen, die ihr Amt voraussetzt, so weit zurück sind, daß sie von denkenden Layen übersehen werden Die beiden Seminare im Kloster Berge und im Kloster Riddagshausen blieben eine Ausnahme. Auch lösten sie nicht die Probleme, vor denen junge Theologen nach Abschluss ihrer universitären Studien standen. Der Wolfenbütteler Hofprediger Johann Friedrich Jerusalem (1709 – 1789), ein bedeutender Aufklärungstheologe, beklagte die öffentliche Vernachläßigung des Gottesdienstes, und mit demselben der Religion selbst, wovon sich denn der Verfall durch alle Stände verbreitet. In der Gesellschaft zeige sich ein oberflächliches Christentum: Wie viele von denen, die dem Christenthum auch noch äußerlich zugethan bleiben, bleiben es doch nicht aus wahrer Ueberzeugung, sondern nur zum Schein, um des Volkes willen.30 Andere äußerten die Beobachtung, dass der geistliche Stand an Bedeutung verliere. Denn wenn Prediger in Kenntnissen, die ihr Amt voraussetzt, so weit zurück sind, daß sie von denkenden Layen weit übersehen werden, ist es zu verwundern, wenn man von unserm Amt schlecht denkt? Wenn Prediger in andern einem jeden Menschen nützlichen und besonders den Gelehrten anständigen Kenntnissen so ganz fremd sind, daß sie von einem Gymnasiasten oder wohl gar von sogenannten Ungelehrten darin übertroffen werden, wie kann man sonderliche Achtung für sie haben?31 Diese von einem (anonym gebliebenen) Theologen gestellte Diagnose erhellt das Grundgefühl der Geistlichen. Sie befürchteten, den Anschluss an die Zeit zu verlieren. Die Erinnerung, dass der Pfarrer früher oftmals der einzige Gebildete am Ort war, verblasste angesichts der Erfahrung, daß sich auch unter Laien Aufklärung überhaupt, so wie auch in religiösen Begriffen immer weiter verbreitet; kömmt dazu der durch eine allgemein gewordene Lesesucht verfeinerte Geschmack unsrer Zeit – wie unähnlich ist auch hierin ein Auditorium zu unsrer Zeit, einer Versammlung vor vierzig, fünfzig Jahren – so leuchtet ein, daß jetzt kein Prediger Beifall finden und Nutzen schaffen kann, der nicht mit jenen, welche ihn hören, wenigstens auf einer Stufe der sittlichen Bildung steht.32

30 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: Ueber die bessere Vorbereitung derer, die sich dem Predigtamte widmen wollen, Nachgelassene Schriften 2, Braunschweig 1793, S. 143 – 262, Zit. S. 185 f. 31 Ueber die Verachtung des geistlichen Standes, so fern sie durch ihn selbst veranlasset wird, in: Journal für Prediger 16, Halle 1785, S. 52 f. 32 Ueber das Gefühl des Schicklichen und Anständigen (Discretion), das der Prediger haben

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Gedanken über die gewöhnliche Erziehung junger Geistlichen Die universitäre Theologie reagierte auf diese Herausforderung mit einer Steigerung ihres wissenschaftlichen Anspruchs. Die Studenten wurden als angehende Wissenschaftler, nicht als künftige Geistliche ausgebildet. Zudem zeigte die historisch-kritische Methode, die in dieser Zeit entwickelt wurde, eine wachsende Distanz gegenüber dem verbindlichen Gehalt des christlichen Glaubens. Auf kirchlicher Seite führte dies zu heftiger Kritik. Zu den Kritikern gehörte Johann Friedrich Jacobi (1712 – 1791), Generalsuperintendent von Lüneburg-Celle und Mitglied des hannoverschen Konsistoriums.33 In seinem Aufsatz Gedanken über die gewöhnliche Erziehung junger Geistlichen beklagte er die seines Erachtens viel zu hohen Ansprüche des theologischen Studiums, durch die Studenten davon abgehalten würden, sich auf die eigentlichen, dem Leben dienenden Aufgaben des geistlichen Amtes vorzubereiten: Was hilft doch alles Latein, alles Griechische, alles Hebräische, alle Alterthümer, alle Polemik und Ketzergeschichte, wenn jemand nicht weis erbaulich und angenehm zu predigen und zu katechisieren? Ich verachte jene Wissenschaften keineswegs, ich schätze sie vielmehr hoch; sie sind aber nicht das Mittel, gute Prediger zu bilden, sondern, wie sie bisher getrieben worden, sind sie ein Hindernis, selbige zu ziehen.34 Die Historisierung der Theologie hatte zu einer für Studenten kaum nachvollziehbaren Spezialisierung der einzelnen Disziplinen geführt, deren Notwendigkeit für den Pfarrberuf nicht mehr eingesehen wurde.35 Jacobi betonte, wichtiger sei es, dass der Prediger den ihm anvertrauten Seelen den Glauben, welchen die Religion fordert, und die darauf gegründeten heiligen Gesinnungen und erhabenen Tugenden einzuflössen suche, um sie dadurch theils zu guten Bürgern dieser Welt zu machen, vornehmlich aber zu einer vollkommenen und seligen Gesellschaft in der künftigen Welt zu bereiten. Der praktischen Ausbildung insbesondere in der Predigt galt sein besonderes Anliegen: Diese Wissenschaft, diese Kunst sollte also das Vornehmste und Wichtigste seyn, worin man einen angehenden Geistlichen unterrichtet und übet.36 Deswegen forderte er, an der Universität solle ein praktisches Kollegium gegründet werden, in dem die Studenten Predigtübungen abhalten könnten: Es wäre daher ein

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muß, in: Homiletisch-kritische Blätter für Candidaten des Predigtamts und angehende Prediger 2, Stendal 1792, S. 99 f. Rudolf Steinmetz:, Die Generalsuperintendenten von Lüneburg-Celle, 2. Teil, in: ZGNKG 21, 1916, S. 24 – 36. Johann Friedrich Jacobi: Gedanken über die gewöhnliche Erziehung junger Geistlichen, in: Journal für Prediger 5, Halle 1774, S. 51 – 81. 158 – 168, Zit. S. 76 f. Rudolf Mau: Programme und Praxis des Theologiestudiums im 17. und 18. Jahrhundert, in: Theologische Versuche 11, Leipzig 1979, S. 71 – 91. Jacobi (wie Anm. 34), S. 69.

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Professor nöthig, der keine andere Kollegi, als praktische Vorlesungen hielte. Dieser müste ein ausgesuchter, frommer und begabter Kanzelredner und Katechete seyn, der einige Jahr im Predigtamt gestanden, und Erfahrung und Uebung hätte.37

Ein Predigerseminarium, darin junge Theologen ihrer Bestimmung näher geführt werden Die Vorschläge Jacobis fanden bei der kurhannoverschen Regierung Gehör. In einem Schreiben an König Georg III. forderten sie diesen auf, sich für die theologische Ausbildung einzusetzen. Es zeige sich eine gute Gelegenheit, um auf der Universität ein neues Werk stiften zu können, das für das Predigeramt überhaupt von großem Nutzen seyn wird. Es gehe um die Gründung eines Instituts, welches in hiesigen Landen annoch fehlt, und wir längst gewünscht haben. Es ist dieses ein Predigerseminarium, darinn nemlich eine Anzahl iunger Theologen, die ihre Grundwissenschaften bereits hinlänglich getrieben, nun auch zu ihrer Bestimmung näher geführt und im Predigen angewiesen und geübt werden sollen.38 Nur ein Jahr später wurde an der Universität Göttingen ein homiletisches Seminar eröffnet.39 Die von Georg III. unterzeichnete Seminarverfassung legte fest, dass Studenten der höheren Semester aufgenommen werden sollten.40 Das Seminar, dem acht Mitglieder angehörten, unterstand der Aufsicht des Universitätspredigers. Unter seiner Leitung wurden homiletische Übungen durchgeführt, wobei jeder Student zunächst in den Seminarsitzungen seine Privat-Ausarbeitungen vortrug und erst danach die Erlaubnis erhielt, in der Universitätskirche die Vormittags- oder Nachmittagsgottesdienste zu halten. Zugleich wurde ein Verfahren zur Ausarbeitung der Predigten, das von der Formulierung des Themas bis hin zur abschließenden Seminarkritik reichte, festgelegt. Der erste Leiter des Seminars war der Exeget und Praktische Theologe Johann Benjamin Koppe (1750 – 1791).41 In einer kleinen Schrift, in der er die Grundzüge der Homiletik entfaltete, beschrieb er die Gestalt und die Arbeits37 Jacobi (wie Anm. 34), S. 162. 38 Schreiben vom 14. 10. 1777 an Georg III. (Universitätsarchiv Göttingen 4 II f 2). 39 Heinrich Holze: Die Ausbildung zum Prediger und die Aufgabe der Predigt. Die Entstehung des homiletischen Seminars an der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert, in: Wilfried Engemann (Hrsg.), Theologie der Predigt. Grundlage – Modelle – Konsequenzen (= APrTh 21), Leipzig 2001, S. 287 – 306, bes. S. 299 ff. 40 Allgemeine Vorschrift und Einrichtung für das Predigerseminarium zu Göttingen, vom 2. 1. 1778 (Universitäts-Archiv Göttingen 4 II f 2). 41 Julius August Wagemann: Koppe, Johann Benjamin, in: ADB 16, Leipzig 1882, S. 692 f.

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weise des Seminars.42 Wenige Jahre später wurde ein weiteres Seminar an der Universität Göttingen eröffnet. Dieses richtete das Augenmerk nicht mehr auf die Predigt, sondern auf die Seelsorge. Initiator war der Göttinger Pfarrer Heinrich Philipp Sextro (1746 – 1838).43 Sextro nahm die Eröffnung eines städtischen Krankenhauses, in dem angehende Mediziner ausgebildet werden sollten, zum Anlass, auch für die Theologiestudenten ein dem Hospital angegliedertes theologisch praktisches Collegii anzuregen, um ihnen Kenntnisse für Gespräche mit Kranken zu vermitteln. Dieses Kolleg wurde, nachdem Sextro bereits Ostern 1782 mit seminaristischen Übungen begonnen hatte, im März 1783 in den Rang einer königlichen Einrichtung erhoben.44 Sextro bezeichnete das Kolleg in einer Schrift, die er anlässlich der Eröffnung verfasste, als einen geeigneten Ort für das Studium der Anwendungskunst, wo es gelingen könne, die Anwendung der Religion auf einzelne Personen nach ihren speciellen und individuellen Bedürfnissen zu erlernen.45

Was einen jungen Theologen zu seinem künftigen Amte vorbereiten kann Die Universität Göttingen stand in ihrem Streben, die praktische Ausbildung im Curriculum des Theologiestudiums zu etablieren, nicht allein. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstanden auch an anderen Universitäten in Deutschland Predigerseminare oder ähnliche Einrichtungen praktisch-theologischer Ausbildung. Mit ihnen hielt eine neue Form der Wissensvermittlung Einzug in den akademischen Lehrbetrieb. Neben die Vorlesungen über Dogmatik und Exegese traten Unterrichtsformen, die ein praktisches Lernen auf den Arbeitsfeldern des Predigtamtes ermöglichten. Den Anfang machten die Universitäten in Erlangen (1773)46 und Kiel (1775)47. Die Universität Leipzig folgte 1780 mit der Gründung 42 Johann Benjamin Koppe: Genauere Bestimmung des Erbaulichen im Predigen. Zur Ankündigung des von Sr. Königl. Majestät auf der Georg Augustus Universität gnädigst gestifteten Prediger Seminariums, Göttingen 1778. 43 Friedrich Rupstein: Heinrich Philipp Sextro. Eine Gedächtnißschrift seines Lebens und Wirkens wie seiner wohlthätigen Stiftungen, Hannover 1839. 44 Königl. Schreiben an die Universität Göttingen (Universitäts-Archiv Göttingen 4 II e 1). 45 Heinrich Philipp Sextro: Ueber praktische Vorbereitungsanstalten zum Predigtamt. Nebst einer Nachricht vom Königlichen Pastoralinstitut in Göttingen, Göttingen 1763, S. 8, 24. 46 Georg Friedrich Seiler : Von der frühen Bildung künftiger Prediger einige Gedanken. Geschrieben als das Prediger-Seminarium auf der Friedrich-Alexanders Akademie auf höchsten Befehl errichtet wurde, Erlangen 1773. 47 Friedrich Burchard Köster: Geschichte des Studiums der practischen Theologie auf der Universität zu Kiel, Altona 1825.

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des Petrinische(n) Catechetenkollegium(s).48 Im gleichen Jahr entstand in Erfurt ein theologisch-praktisches Collegium, über das eine öffentliche Bekanntmachung schrieb, in ihm werde alles praktisch vorgenommen, was einen jungen Theologen nicht nur zu seinem künftigen Amte vorbereiten, sondern im Amte selbst auch dienlich sein kann.49 An der Universität Helmstedt gab es bereits seit längerem ein homiletisches Seminar, das allerdings nur unregelmäßig arbeitete und einer gründlichen Reform unterzogen wurde.50 An der Universität Marburg wurde 1792 ein Predigerseminar eröffnet.51 Das Wittenberger Predigercollegium, das zwölf Studenten zu theoretischer Unterweisung und praktischen Übungen versammelte, nahm 1783 seine Arbeit auf.52 In Jena wurde der homiletische Unterricht durch praktische Übungen im Predigen intensiviert.53 Selbst an der kleinen Universität Rinteln wurde der Wunsch nach Einrichtung eines homiletischen Seminars laut, doch wurde das Gesuch der Studenten vom Hessischen Geheimen Rat abgelehnt.54 Diese Initiativen zeigen, dass das Anliegen einer praktischen Predigerausbildung in der Luft lag. Auch außerhalb der Universitäten entstanden entsprechende Einrichtungen. In Karlsruhe55, Frankfurt am Main56 und Greitz / Thüringen57 wurden Seminare errichtet, in denen sich die Kandidaten zu wöchentlichen Besprechungen versammelten. Die theologische Ausbildung begann sich vom Ideal akademischer Gelehrsamkeit zu lösen und an den Aufgaben des Predigerberufs zu orientieren.

Dem Conventual, dem die Leitung der Studien und practischen Arbeiten der Hospitum anvertrauet ist Als Salfeld im Oktober 1791 zum Abt des Klosters Loccum gewählt wurde, war er mit der Geschichte des Ortes bereits vertraut. Wenige Wochen nach seiner Be48 Journal für Prediger 11, Halle 1780, S. 420 ff. 49 Journal für Prediger 11, Halle 1780, S. 427 f. 50 Seminarverfassung vom 12. 6. 1780 (Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel 2 Alt 16407 Bl. 4 ff. 47 ff.) 51 Leonhard Johann Carl Justi: Die Einrichtung des Predigerseminariums auf der Universität Marburg, Marburg 1792. 52 Journal für Prediger 19, Halle 1787, S. 432 – 436. 53 Karl Heussi: Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, S. 176 f. 54 Schreiben vom 1. September 1793, in: Universität Rinteln 1621 – 1810. Eine Archivalienausstellung des Niedersächsischen Staatsarchivs in Bückeburg, Göttingen 1971, S. 25. 55 Rescript über die Errichtung eines Pfarr-Seminariums vom 20. 1. 1769, in: Karl Brunner : Die badischen Schulordnungen Bd. 1: Die Schulordnungen der badischen Markgrafschaften, MGP 24, Berlin 1902, S. 199 f. 56 Journal für Prediger 1, Halle 1770, S. 98. 57 Nachricht von der Errichtung eines Prediger- und Schulseminariums in Greitz, ANTL 5, 1793, S. 412 ff.

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rufung schrieb er dem Konvent, Loccum sei ihm vom ersten Tage an zu einem schönen wohlthätigen Wirkungskreis geworden, mit dem er das eifrige Bestreben verbinde, die hier sich mir darbietenden Gelegenheiten und Anlässe zu beachten und zu benutzen.58 Wie ernst er diese Worte meinte, zeigte sich an der Neuausrichtung des Hospizes. Innerhalb weniger Jahre überarbeitete Salfeld mehrmals die Leges Hospitii und darin insbesondere § 2, in dem das Ausbildungsprofil des Hospizes angesprochen wurde. Unter Molan hatte das officium des Hospes vornemlich darin bestanden, dass dieser an den Stundengebeten in choro teilnehme, daselbst lese, singe und bete sowie nach der vom Abt getroffenen Ordnung an Sonn- Fest undt Wercktagen predige.59 Salfeld beließ diese Formulierung unverändert, erweiterte sie aber durch den Hinweis, dass zu den Aufgaben des Hospes auch die Durchführung von Katechismus- und Betstunden gehöre. Außerdem fügte er hinzu: Das Concept seiner Predigt, nicht weniger die Entwürfe seiner Katechismus- und Bibel-Lehren hat er jedesmal und zwar regulariter gleich am Tage nach deren Haltung dem Conventual, dem die Leitung der Studien und practischen Arbeiten der Hospitum anvertrauet ist und welcher sie demnächst an den Abt gelangen läßt, in einer leserlichen Abschrift zu überreichen und die ihm darüber mitgetheilt werdenden Erinnerungen gern anzunehmen und zu benutzen.60 Diese Ergänzung erhellt, auf welche Weise Salfeld das Hospiz umgestaltete: zum einen hielt er an den bereits bekannten Aufgaben der Hospites in Kloster und Gemeinde fest, präzisierte aber ihre Funktion für die Predigerausbildung. Zum anderen beauftragte er ein Mitglied des Konvents, sich der Studien der Hospites anzunehmen, und er verpflichtete die Hospites, diesem Konventualen ihre Entwürfe und Texte zur kritischen Durchsicht vorzulegen. Zum ersten Mal wurde damit im Hospiz eine regelmäßige Studiendirektion eingerichtet, deren Aufgabe die kritische Begleitung der theologischen Arbeiten und der praktischen Übungen der Kandidaten war. Die übrigen Bestimmungen der Leges Hospitii, die auf das Leben im Kloster bezogen waren, wurden nicht aufgehoben, aber dieser neuen Zielsetzung untergeordnet. Salfeld beauftragte mit der neuen Aufgabe Andreas Gottfried Groschupf (1766 – 1838), der erst kurz zuvor in das Hospiz eingetreten und in den Klosterkonvent aufgenommen worden war. Diese Wahl überraschte, denn der neue Direktor unterschied sich von den Mitgliedern des Hospizes weder im Alter noch an pastoraler Erfahrung. Salfeld legte darum fest, dass Groschupf diesem Geschäfte in dem Maaße sich unterzieht, wie Abt und Prior es bestimmen, d. h. der neue director studiorum blieb in den ersten Jahren seines Wirkens, in denen es noch keine Ausbildungsordnung gab, an die Weisungen des Konvents ge58 Schreiben vom 30. 12. 1791 (KAL IV B 1/16). 59 Holze (wie Anm. 14), S. 179. 60 Holze (wie Anm. 14), S. 186 f.

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bunden61. Mit dieser Einschränkung übernahm Groschupf 1795 die Leitung der Studien und practischen Arbeiten der Hospitum. Er war also der erste Studienleiter des Loccumer Hospizes, auch wenn einschränkend hinzugefügt werden muss, dass es zu dieser Zeit nur wenige Kandidaten gab – es waren nicht mehr als drei oder vier, die am Kolleg teilnahmen. Das änderte sich auch in den folgenden Jahren nicht, doch war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Predigerseminar getan. Im Frühjahr 1798 legte Groschupf erstmals einen Plan der gemeinschaftlichen Arbeiten des Hospizes vor62. Für die dogmatischen und exegetischen Studien waren jeweils drei Wochenstunden vorgesehen, Disputierübungen wurden einmal pro Woche über ein selbst gewähltes Thema durchgeführt. Erst an vierter Stelle nannte Groschupf die gegenseitige Beurteilung unserer kirchlichen Arbeiten, besonders unserer Predigten. In den dafür vorgesehenen Stunden sollte ein Kandidat seinen Entwurf zunächst in der Disposition, dann dem Inhalt nach vorstellen und ihn dann den freien Bemerkungen der anderen Hospites unterwerfen. Kennzeichen dieser Predigtkritik war, dass sie ausschließlich mündlich ablief. In Rede und Gegenrede wurde die Vorlage befragt und begründet. Das blieb nicht spannungsfrei und führte, wie es in einem Studienbericht heißt, zu Collisionen, die dabey unvermeidlich sind, und nicht selten unangenehme und nachtheilige Folgen haben.63 Dennoch bedeutete das neue Verfahren einen wichtigen Schritt über die Leges Hospitii hinaus. Wurde die Predigtkritik bisher allein vom Studiendirektor ausgeübt, lag sie jetzt in der Verantwortung aller Mitglieder des Hospizes. Gerne würden wir wissen, wie die Predigtkritik verlief, welche Kriterien dabei zur Anwendung kamen und mit welchen Methoden gearbeitet wurde, doch liegen uns nur die Predigten, nicht aber die Aufzeichnungen über ihre Besprechung im Hospizkollegium vor.64

Kommen Sie zu uns und genießen einer glücklichen Muße, die Loccum gewährt Groschupfs Arbeitsplan markierte nur eine Etappe auf dem Weg zur seminaristischen Predigerausbildung. Wenig später wurden die Akzente bereits neu gesetzt. Sie verbinden sich mit Carl Georg Schuster (1771 – 1849), dem späteren Generalsuperintendenten von Lüneburg-Celle.65 Mehrere Jahre nach Abschluss 61 62 63 64 65

Konventsbeschluss vom 18. 8. 1795 (KAL IV B 3/7). Vorlage des Plans in einem Brief vom 23. 3. 1798 (KAL VIII 6). Ludwig Heinrich Oschatz: Studienbericht vom 4. 3. 1798 (KAL VIII 6). KAL, Hospiz Salfeldzeit bis 1820 Teil 1. Philipp Meyer: Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation. Göttingen 1941/42.

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des Theologiestudiums, in denen er Lehrer einer Privatschule war, trat Schuster 1798 in das Loccumer Hospiz ein. Salfeld hatte ihn mit werbenden Worten dazu aufgefordert: Sollten Sie sich stark genug fühlen, sich durch fleißiges Studieren die Zufriedenheit zu geben, bei der man allein allenthalben sich glücklich fühlen kann, und reizt Sie der Wunsch, sich ganz den Wissenschaften hingeben zu können, so kommen Sie immerhin zu uns und genießen einer glücklichen Muße, die Loccum gewährt.66 Die Metapher der glücklichen Muße, die die Zurückgezogenheit des Klosters mit der Konzentration auf das theologische Studium verband, prägte das Bild des Loccumer Hospizes, wie es Schuster kennenlernte. Als er nur zwei Jahre später zum Leiter dieser Einrichtung ernannt wurde, erarbeitete er einen Vorschlag für einen künftigen Studienplan des Hospizes67. Dieser Studienplan umfasste die bereits bekannten theologischen und praktischen Arbeitsbereiche, präsentierte diese aber in einer neuen Ordnung: Katechese und Homiletik waren nunmehr an den Anfang gerückt. Im Studium des Hospites nahmen sie den ersten Rang ein, was zum Ausdruck brachte, dass nicht der Anspruch theologischer Gelehrsamkeit, sondern das praktisch-theologische Interesse den Inhalt der Ausbildung bestimmen sollte. Wichtig war die Neuordnung der Praxiskritik. Schuster begnügte sich nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf die gegenseitige Beurteilung unserer kirchlichen Arbeiten, sondern beschrieb das Verfahren der Censur-Katechisation und Censur-Predigt. Zusätzlich zu den Predigten und Katechisationen in der Gemeinde sollte sich jeder Hospes zweimal pro Jahr mit einer der praktischen Arbeiten der Kritik stellen. Diese Kritik sollte jedoch nicht mehr mündlich, sondern schriftlich formuliert werden, wobei der Studiendirektor unter Aufnahme der Stellungnahmen der Hospites eine summarische Kritik entwarf und diese dem Kandidaten übergab. Mit seinem Vorschlag wollte Schuster der Kritik die persönliche Schärfe nehmen, was nach den bisherigen Erfahrungen sicher hilfreich war.

Von dem bewährten Grundsatz ausgegangen, dem Geiste der Zeit nicht voreilen zu dürfen Abt Salfeld griff den Entwurf Schusters auf und legte ihn seiner Instruktion für das Hospitium zu Loccum, die er am 15. April 1800 veröffentlichte, zugrunde. Mit ihr kam die Entwicklung eines Jahrzehnts zu einem vorläufigen Abschluss68. 66 Schreiben Salfelds vom 11. 4. 1798 (Abdruck bei Heinrich Christian Heimbürger : Carl Georg Schuster nach seinem Leben und Wirken dargestellt, Celle 1849, S. 36). 67 Schreiben Schusters vom 13. 2. 1800 (KAL VIII 6). 68 Heinrich Holze: Zwischen Studium und Pfarramt. Die Entstehung des Predigerseminars in den welfischen Fürstentümern zur Zeit der Aufklärung(=SKGNS 25), Göttingen 1985, S. 146 – 179.

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Die Erfahrungen, die man im Hospiz in dieser Zeit gemacht hatte, wurden in einem Studienplan zusammengefasst, der an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert die Notwendigkeit der praktisch-theologischen Predigerausbildung programmatisch formulierte. Nach wie vor bildeten die wöchentlichen Übungen in Exegese, Dogmatik und Moral die Grundlage der Studien, was zeigt, dass Salfeld auch für die angehenden Prediger am Anspruch theologischer Bildung festhielt. Ausführlicher aber wurden die Aufgaben des Predigtamtes in Predigt und Unterricht behandelt. In beiden Fällen hielt Salfeld an den von Schuster eingeführten Verfahren fest, die an Stelle eines mündlichen Gesprächs eine schriftliche Kritik der eingereichten Zensurarbeiten vorsah. Außerdem legte er fest, dass jede Predigt gleich in den ersten Tagen nach ihrer Haltung dem zuständigen Konventual gegeben werden solle, damit dieser seine freundschaftlichen Bemerkungen sowohl über das Materielle als Formelle derselben mittheilen könne.69 Ein besonderes Augenmerk galt den Katechisationen. Salfeld unterstrich den Werth derselben für die Beförderung der Religiosität und Moralität der jüngeren Menschheit, weswegen darauf zu achten sei, wie beym Jugendunterrichte alles unmittelbar praktisch zu benutzen seyn mögte.70 Damit brachte er seine Erfahrungen, die er bei der Erarbeitung des hannoverschen Landeskatechismus gewonnen hatte, in die Predigerausbildung ein. Wie gezeigt wurde, hatte Salfeld das Predigerseminar aus dem Hospiz heraus entwickelt. Am Anfang stand also keine abstrakte Idee von praktisch-theologischer Ausbildung, sondern eine Einrichtung, die in der Geschichte des Klosters verwurzelt war. Salfeld begründete sein Vorgehen damit, dass dieses der Art und Weise entspreche, wie in den hannoverschen Landen Reformen durchgeführt würden: Überall scheint man von dem, durch die allgemeine Erfahrung aller Zeiten und Gegenden als richtig bewährten Grundsatz ausgegangen zu seyn, dem Geiste der Zeit nicht voreilen zu dürfen; und das hat denn die glückliche Folge gehabt, daß hier Verbesserungen und neue Einrichtungen nicht, wie wohl in einigen andern Provinzen, öffentlichen Widerspruch gefunden haben, wodurch die Ausführungen wohlthätiger, das gemeine Beste und dessen Beförderung bezielender, Absichten nur zu oft ungleich länger aufgehalten wird, als wenn alles dazu vorher nach und nach eingeleitet und vorbereitet wird.71 Erläuternd fügte er hinzu: Läßt doch vieles nicht sicherer und gewisser sich verbessern oder vervollkommnen, als wenn es mit weiser Vorsicht eingeleitet und vorbereitet, und dann nicht schnell und auf einmal, sondern allmählich nach und nach ausgeführt wird, damit es das Auffallende einer absichtlichen Neuerung verliehre.72 In die69 Beyträge (wie Anm. 2), S. 475. 70 Beyträge (wie Anm. 2), S. 480. 71 Johann Christoph Salfeld: Vorerinnerung, die Absicht und Tendenz dieser Beyträge betreffend, in: Beyträge (wie Anm. 2), S. 2. 72 Salfeld (wie Anm. 71), S.12.

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sem Geist maßvoller Aufklärung betrieb Salfeld die allmähliche Umgestaltung des Hospizes zu einem Predigerseminar. Dabei zeigt sich, dass schon die Eigenart dieses Weges einen wichtigen Aspekt seines Programms widerspiegelt, wie es dann in der Instruktion formuliert wurde. Denn bevor er die Leitlinien der Seminararbeit aufstellte, wertete Salfeld die Erfahrungen vergangener Jahre aus und ließ sie in die Studienordnung einfließen. Darüber hinaus behielten die Leges Hospitii als eine Grundordnung, die jeweiliger Konkretisierung bedurften, ihre Gültigkeit.

Die damaligen kriegerischen Zeiten und Aussichten Das 19. Jahrhundert begann für das Kurfürstentum Hannover turbulent.73 Durch die seit 1714 bestehende Personalunion mit dem Königreich England wurde Hannover in die Auseinandersetzungen der rivalisierenden europäischen Kräfte verwickelt. Spürbare Auswirkungen hatte die französische Revolution. Sie zog mit ihren umstürzenden Parolen die Gegnerschaft der europäischen Staaten auf sich und führte zu Konflikten, in denen, wie 1793 im Koalitionskrieg gegen Frankreich, hannoversche Truppen auf englischer Seite eingesetzt wurden. Mit dem Machtantritt Napoleons trat die Revolution über die Grenzen Frankreichs hinaus. Mehrmals wurde das Kurfürstentum militärisch besetzt: preußische Truppen marschierten 1801 und 1806 ein, französische Heere besetzten das Land 1803 – 1805 und wenige Jahre später noch einmal. Nach seinem Sieg über Preußen (1806) erreichte Napoleon im Frieden von Tilsit (1807) den Höhepunkt seiner Machtentfaltung und wurde zur gestaltenden Kraft auf dem Kontinent. Durch die Errichtung von Vasallenstaaten kam auch Norddeutschland für mehrere Jahre unter französische Herrschaft. Regent des 1807 begründeten Königreichs Westphalen, dem der südliche Teil des Kurfürstentums zugeschlagen wurde, war der jüngste Bruder Napoleons, J¦rúme. Der nördliche Teil verlor erst 1810 seine Selbständigkeit, als das Kaiserreich Frankreich seine Grenzen bis an die Elbe ausdehnte. Die französische Fremdherrschaft wurde von der Bevölkerung der besetzten Gebiete überwiegend abgelehnt. Die ökonomischen Belastungen der Besetzung waren groß und beeinträchtigten das Alltagsleben, außerdem wurden die politischen Veränderungen, die in überlieferte Rechte eingriffen, als Bedrohung empfunden. Zwar blieb das Kloster Loccum von den Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses (1803), durch den die weltlichen Territorialherrschaften für die durch Napoleon erlittenen Verluste entschädigt werden sollten, verschont 73 Karl Otto Freiherr von Aretin: Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund (= Deutsche Geschichte 7), Göttingen 1980, S. 60 ff.

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und behielt eine gewisse Souveränität und Selbständigkeit. Mehrmals aber waren Abt und Konvent genötigt, Soldaten einzuquartieren und für ihren Unterhalt aufzukommen. In den Jahren, in denen Hannover dem Königreich Westphalen eingegliedert war (1807 – 1813), drohte dem Kloster zeitweise sogar die Annexion. Die Säkularisation des Klosters Riddagshausen und die Auflösung des dortigen Predigerseminars 1809 waren ein Menetekel, das in Loccum mit Sorge gesehen wurde.74 Der Studienbetrieb des Hospizes konnte in dieser Zeit nur eingeschränkt und mit Unterbrechungen fortgesetzt werden. Die wenigen im Kloster verbliebenen Kandidaten setzten ihre praktischen Übungen in der Stiftsgemeinde fort, es fehlte ihnen aber an einer kontinuierlichen kritischen Begleitung, seit 1814 die Studienleitung vakant wurde. Erst als sich nach dem Ende der Befreiungskriege die politischen und kirchlichen Verhältnisse in Deutschland zu konsolidieren begannen, war auch in Loccum wieder sicherer Boden erreicht. In den Lebensläufen, die sie beim Eintritt in das Hospiz schrieben, erwähnen die Kandidaten, welche Probleme und Fragen sie in den Jahren der Besetzung beschäftigen.75 Ein Kandidat schreibt, dass die damaligen kriegerischen Zeiten und Aussichten den Besuch der Universität erheblich erschwert habe.76 Ein anderer betont, er habe die Befreiung aus französischem Drucke herbeigesehnt, weil ja damals Religion und Kirchenwesen gewaltig herabgewürdigt waren. Viele Kommilitonen seien bereit gewesen, das Studium zu unterbrechen und zu den Waffen zu eilen, um Freiheit und Selbständigkeit zu erkämpfen. Ein weiterer Kandidat spricht die Auswirkungen der Befreiungskriege für das Leben des Hospizes an: Das erste Semester ging fast verloren, indem die Academie sich fast auflöste, alle meine Freunde zu den Waffen eilten.77 Das nationale Erwachen prägte auch das Denken. Ein Kandidat schreibt: Noch jetzt würde ich nicht ohne Schamröte an jene Zeiten zurückdenken können, wenn nicht auch ich, gesund und kräftig und voll Liebe für mein deutsches Vaterland, thätig mit einzugreifen mich damals entschlossen hätte.78 Tatsächlich konnte die Aufhebung der Loccumer Abtei, die die Franzosen bereits vorbereitet hatten, nur dadurch abgewendet werden, dass Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) unterlag, Kurhannover seine Selbständigkeit zurückerlangte und zum Königreich (1814) ausgerufen wurde. Noch bevor das Loccumer Hospiz den Lehrbetrieb im normalen Umfang wieder 74 Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters (Zum Jubiläum des Klosters Loccum), Hannover 1913, S. 159. 75 Blätter der Erinnerung für die Mitglieder des Predigerseminars, abgefasst seit 1818 (Landeskirchliches Archiv Hannover E 11/127). 76 Blätter (wie Anm. 75), S. 124. 77 Blätter (wie Anm. 75), S. 108. 78 Blätter (wie Anm. 75), S. 74 f.

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aufnehmen konnte, wurde im Frühjahr 1816 in der Landeshauptstadt Hannover ein Seminar eröffnet.79 Auch hier war es Salfeld, der den Anstoß gab, wobei er sich auf ein Gutachten des Göttinger Theologen Heinrich Philipp Sextro stützte.80 Die Anfänge waren jedoch bescheiden. Die Studiendirektion wurde, da die finanziellen Mittel für eine feste Leitung fehlten, von mehreren Konsistorialräten und Geistlichen wahrgenommen. Auch mussten die Mitglieder selbst für ihren Unterhalt sorgen, da die Stipendien nicht ausreichten. Dennoch war die Resonanz positiv. In ihren Berichten betonten die Seminaristen das erfreuliche Zusammenleben und Arbeiten mit mehreren jungen Männern, die nach demselben schönen Ziele strebten, und sie lobten die mit dem Aufenthalt gegebene Möglichkeit, sich auf den Stand als künftiger Seelsorger bestimmter vorzubereiten.81 Tatsächlich wurde das hannoversche Seminar in den folgenden Jahren stetig weiter ausgebaut. Es erhielt eine Instruction für die Mitglieder, wurde dem Schullehrerseminar angeschlossen und war damit das neben Loccum zweitälteste Predigerseminar in der hannoverschen Kirche.82

Freiheit gedeihet nicht in klösterlicher Zucht In den folgenden Jahren entbrannte ein heftiger Streit über der Frage, ob das Konzept des kirchlich geleiteten Predigerseminars überhaupt geeignet sei, die Ausbildung der Kandidaten sachgemäß vorzunehmen. Als erste meldete sich die Berliner theologische Fakultät 1816 zu Wort und äußerte in einem Gutachten, das zur Gründung einer entsprechenden Einrichtung in Wittenberg Stellung nahm, deutliche Bedenken. Die Verfasser, zu denen Friedrich Schleiermacher gehörte, gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, daß diese Anstalt früher oder später sich in einen Hort der Einseitigkeit und Geistesbeschränkung verwandeln und daher mehr Schaden als Nutzen stiften werde.83 Im folgenden Jahr präzisierte Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849), Mitverfasser des Berliner Gutachtens, in einem zum Reformationsjubiläum erschienenen Aufsatz die Kritik. Er beklagte die Vernachlässigung 79 Justus Eduard Leopold: Einige Nachrichten über die Gründung und den gegenwärtigen Zustand des Prediger-Seminarii zu Hannover, in: Viertheiljährige Nachrichten für Kirchenund Schulsachen, Hannover 1824, S. 1 – 9. 80 Friedrich Rupstein: Heinrich Philipp Sextro. Eine Gedächtnißschrift seines Lebens und Wirkens wie seiner wohlthätigen Stiftungen, Hannover 1839, S. 75. 81 Blätter (wie Anm. 75), S. 26 und 84 f. 82 J. Feltrup: Zur Geschichte des Predigerseminars Hannover-Erichsburg, in: ZGNKG 1924/ 25, S. 1 – 34. 83 Gutachten vom 6. 3. 1816 (Abdruck bei Otto Dibelius: Das königliche Predigerseminar zu Wittenberg 1817 – 1917, Berlin 1917, S. 19. 29 f.

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des geistlichen Standes und forderte Maßnahmen, ihr entgegenzutreten.84 Deutlich fiel sein Tadel über die Bestrebungen aus, Theologiestudenten nach Abschluss ihrer akademischen Studien in Seminarien zu sammeln, damit sie dort in stiller klösterlicher Zucht der ferneren Ausbildung und der Vorbereitung zum Amte leben sollen: Schwerlich aber haben sie die Gefahren recht erwogen, die hier drohen. Die rechte Sitte bildet sich und erstarket durch die Kraft der Freiheit; Freiheit in der Überzeugung, wie im sittlichen Handeln, ist das Element des Protestantismus: Freiheit aber gedeihet nicht in klösterlicher Zucht. Heuchelei und Tücke, oder höchstens träge todte Einförmigkeit sind die Früchte einer solchen Erziehung. Wie glaubt ihr aber vollends in klösterlicher Abgeschiedenheit zum geistlichen Amte vorzubereiten? wie zum Predigen ohne Gemeine? zum Jugendunterricht ohne Jugend? zur Seelsorge ohne die Erfahrung des Lebens? Die rechte Verwaltung des protestantischen Lehramtes bestehet in lebendiger Wechselwirkung mit der Gemeine. Nur für eine bestimmte Zuhörerschaft, nach Maßgabe ihres Bedürfnisses und ihrer Fassungskraft, kann man predigen; nicht zur Schau und Probe, nach dürren todten Regeln: sondern im Ernst und in der Wahrheit, aus dem Leben und für das Leben.85

Anregung und Behütung eines geistlichen Sinnes und Eifers Diese Bedenken wurden gehört, konnten aber nicht verhindern, dass in verschiedenen Regionen Deutschlands kirchliche Seminare zur Predigerausbildung entstanden. Das Predigerseminar in Wittenberg war die bedeutendste Gründung in der frühen nachnapoleonischen Zeit. Vermutlich ohne Kenntnis der Loccumer Einrichtung, aber dieser nicht unähnlich wurde hier nach dem Ende der Befreiungskriege ein Predigerseminar errichtet.86 In einem Gutachten der Geistlichen Kommission des Innenministeriums wurde dieses als höchst nöthig bezeichnet und damit begründet, es gehe darum, auf Anregung und Behütung eines geistlichen Sinnes und Eifers hinzuwirken.87 In einem Gebäude der ehe84 Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Über den Verfall der protestantischen Kirche in Deutschland, und die Mittel, ihr wieder aufzuhelfen, in: Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, hrsg. v. F. Keyser, Erfurt 1817, S. 296 – 371, hier S. 336. 85 de Wette (wie Anm. 84), S. 338 f. 86 Heinrich Eduard Schmieder : Das königliche Predigerseminar zu Wittenberg in seinen ersten Anfängen. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1818, Wittenberg 1892. 87 Gutachten der Geistlichen Kommission, die Verbesserung der Kirchen-Verfassung betreffend, vom 6. 6. 1815 (Abdruck in: Erich Foerster : Die Entstehung der preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten nach den Quellen erzählt. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestantismus Bd. 1, Tübingen 1905, S. 319 – 395, Zit. S. 321 f.).

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maligen Universität, die kurz zuvor von FriedrichWilhelm III. (1797 – 1840) aufgelöst worden war, öffnete das neue Seminar am Reformationstag des Jahres 1817 als erste Einrichtung dieser Art im Königreich Preußen für insgesamt 25 Stipendiaten die Pforten. Das war viel, reichte aber nicht, um allen angehenden Theologen des Landes einen Platz zu geben. Gleichwohl entwickelte sich das Seminar schon bald zu einer der bedeutendsten Einrichtungen praktischtheologischer Ausbildung in Deutschland.88 Ein Jahr nach dem Wittenberger Seminar wurde in Herborn im Herzogtum Nassau ein weiteres Predigerseminar eröffnet. Auf den ersten Blick zeigen sich mehrere Parallelen. So trat die neue Einrichtung an die Stelle einer Universität, der Hohen Schule, die kurz zuvor aufgehoben worden war.89 Auch ging die Initiative von der Regierung aus, die die Gebäude einer neuen Nutzung zuführen wollte. Dennoch hatte das Herborner Seminar ein anderes Profil als seine preußischen und hannoverschen Vorgänger. Im Unterschied zu jenen wurden hier alle Pfarramtskandidaten des Herzogtums, nachdem sie zwei Jahre auf den Universitäten Göttingen, Marburg oder Gießen studiert hatten, aufgenommen.90 Im Herborner Seminar wurde das dritte Studienjahr absolviert und erst danach das Studium mit dem Examen abgeschlossen. Theologie und Praxis wurden also auf unterschiedliche Institutionen aufgeteilt, bildeten aber zugleich zwei Abschnitte eines einzigen Ausbildungsganges. Die Zahl der Seminarmitglieder war unterschiedlich hoch und richtete sich danach, wie viele Studenten ins Pfarramt gehen wollten. Das war wohl sicher der Grund, weswegen die Kandidaten im Unterschied zu Loccum oder Wittenberg nur zu den Arbeits- und Übungsstunden zusammenkamen, ansonsten aber an ihren privaten Wohnorten blieben.91

Ein Prediger-Seminarium im vollsten und edelsten Sinne des Wortes In Loccum verging eine längere Zeit, bis die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Seminarbetriebs erneut gegeben waren. Genau zwanzig Jahre 88 Birgit Weyel: Praktische Bildung zum Pfarrberuf. Das Predigerseminar Wittenberg und die Entstehung einer zweiten Ausbildungsphase evangelischer Pfarrer in Preußen (=BHTh 134), Tübingen 2006, S. 57 – 120. 89 Hugo Grün, Die Theologische Fakultät der Hohen Schule Herborn 1584 – 1817, in: JHKGV 19, 1968, S. 57 – 145. 90 Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn: 1584 – 1984. Festschrift zur 400-Jahrfeier, hrsg. v. Joachim Wienecke, Herborn 1984. 91 Einige Nachrichten von dem herzoglich Nassauischen evangelisch-theologischen Seminarium in Herborn, in: AKZ 3, 1824, Sp. 305 – 310. 315 – 318. 322 – 328.

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nach Veröffentlichung der Instruktion für das Hospitium zu Loccum wurde ein Neuanfang gemacht. Dieser verband sich mit der Berufung von Johann Friedrich Burchard Köster (1791 – 1878) zum Director studiorum Hospitii.92 Köster hatte in Göttingen Theologie studiert, war anschließend zunächst Hauslehrer und dann Repetent an der Theologischen Fakultät, bevor ihm die Leitung des Loccumer Hospizes übertragen wurde. Bei seiner Einführung im Mai 1820 hielt Abt Salfeld eine programmatische Rede.93 In dieser erinnerte er an die Bedeutung der Klöster für die Gegenwart: Finsterniß deckte dieses unser Vaterland und Dunkel dessen Völker, bis Licht aus den Klöstern aufging und hellere Ansicht von Wahrheit und Recht verbreitete. In Loccum zeige sich das an der Geschichte des Hospizes: Gerade dieses unser Hospitium, dessen Erweiterung und Vervollkommnung das Ziel unserer Wünsche und Bestrebungen ist, dieses ist es, durch welches unser Kloster, so Gott will, seinen Werth und seine Würde fortdauernd behaupten wird. Das Hospiz, so Salfeld, sei eine Pflanzschule würdiger Geistlichen, eine Hochschule, in welcher schon gebildete Männer eine noch höhere geistige practische Bildung erhalten. Hier sei es möglich, recht viele christliche Prediger und Seelensorger auszubilden, welche in christlichen Gemeinden den Geist des Christenthums und dessen Segnungen verbreiten, die wesentlichen edleren Bedürfnisse des Geistes und Herzens ihrer Zuhörer befriedigen, und durch Lehre und Leben, durch Unterricht und Beyspiel thätige Übung des Christenthums als die höchste und wichtigste Angelegenheit empfehlen und andringen werden. Mit seiner Ansprache machte Salfeld deutlich, dass der Bildungsgedanke der Aufklärung durchaus mit der klösterlichen Tradition verbunden werden könne. Damit grenzte er sich von der Geschichtsschreibung Johann Lorenz Mosheims ab, der Eremiten und Mönche als trübe und lichtscheue Sorte von Menschen bezeichnet hatte, die ihren Geist von der Sinnen- und Körperwelt abzulenken und durch die Kontemplation mit dem göttlichen Wesen sich zu einen suchten.94 Der neuernannte Studiendirektor Köster nahm die Gedanken Salfelds auf, als er anlässlich der offiziellen Wiedereröffnung des Seminars im November 1820 über die Bestimmung des Hospizes und die Grundsätze des Studiums eine Ansprache hielt.95 Darin beschrieb er die eigentliche Bestimmung des Hospitii 92 Die Berufung zum Konventual erfolgte am 14. 12. 1819 (Niedersächsisches Staatsarchiv Hannover 113 L Nr. 1307). 93 Abdruck der Rede in: Viertheiljährige Nachrichten von Kirchen- und Schulsachen, Hannover 1820, S. 66 – 71. 94 Johann Lorenz Mosheim: De rebus Christianorum ante Constantinum Magnum commentarii, Helmstedt 1753, zit. bei Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie 2, Freiburg-München 1967, S. 26 f. 95 Friedrich Burchard Köster: Rede zur Einweihung des neuen Hospitii zu Loccum (KAL VIII 10). Abdruck in: Theologische Nachrichten, hrsg. v. Ludwig Wachler, Frankfurt a. M. 1821, S. 370 – 377.

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mit folgenden Worten: Nicht eine blos auf theoretisch-theologische Gelehrsamkeit abzielende Anstalt soll dasselbe seyn, sondern ein Prediger-Seminarium im vollsten und edelsten Sinne des Wortes. Keine Art von gelehrten Beschäftigungen ist demnach aus dem Kreise unserer Thätigkeit ausgeschlossen: aber sie darf nicht blos speculativ, oder gar unfruchtbar seyn; sondern soll sich allezeit auf unsere Bildung zum Verwalten des christlichen Seelsorgeramtes beziehen. Köster betonte, dass die Arbeit des Seminars die Eigenverantwortung und Selbständigkeit der Kandidaten ebenso voraussetze wie fördere: Wir sind ja jetzt zu den Jahren gelangt, wo freiere Bewegung aller Seelenkräfte wohlthätig wirkt, indem die Vernunft die Zügel ergriffen; wo es also nur der Anregung bedarf, um den Geist in eine selbständig und geregelte Thätigkeit zu setzen. Mit seinem Hinweis auf die Vernunft ließ er nicht ohne Stolz anklingen, dass er das Loccumer Seminar auf der Höhe der Zeit sah. Wenige Jahrzehnte zuvor hatte Immanuel Kant in seiner berühmten Programmschrift die Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bezeichnet und dazu aufgerufen: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!96 Köster war davon überzeugt, dass Kants Appell im Loccumer Seminar auf fruchtbaren Boden gefallen war. In seiner Ansprache klangen jedoch auch Gedanken an, in denen sich der Geist des neuen Jahrhunderts zeigte. So erinnerte er an die Prophetenschulen des Alten Testaments, deren Mitglieder sich vom Tumulte der Städte zurückzogen, um im Schoße des Landlebens ungestört der Betrachtung der göttlichen Dinge sich zu widmen. Und er betonte, dies könne auch in der friedlichen Stille des Klosters geschehen, wo umgeben von einer reizenden Natur in den Kandidaten der Geist zu Empfindungen der Andacht geweckt werde.

Wie allmählich, was Wissenschaft war, Glauben wird Unter diesen Vorzeichen nahmen die Kandidaten die Seminararbeit auf. In seinem ersten Studienbericht vermerkte Köster zufrieden, daß bereits alles in vollem Gange sey, und fügte mit Blick auf die Erfahrungen der gemeinsamen Arbeit hinzu: Alle sind voll edlen Eifers, und der Eine besitzt in diesem, der Andere in jenem Fache schöne Kenntnisse. Dabei erfreue ich mich eines allgemeinen Zutrauens und darf also hoffen, mit Nutzen unter ihnen zu wirken. Der Nutzen der gemeinschaftlichen Kritiken hat sich schon mehrfach bewährt; und auch den gelehrten Unterhaltungen wohnen sämtliche Mitglieder mit vielem Vergnügen bey. Viel ist’s, was wir uns vorgenommen haben: möge der Erfolg den 96 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, hrsg. v. Jürgen Zehbe, 2. Aufl. Göttingen 1975, S. 55.

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Erwartungen Eur. Hochwürden wenigstens einigermaßen entsprechen.97 Die Übungen der Hospites umfassten alle Bereiche gemeindlicher Arbeit: die Ausarbeitungen zu Predigten, Katechisationen und Kasualreden wurden im Kolleg kritisch besprochen; hinzu kamen Betstunden, biblische Vorlesungen sowie Schul- und Krankenbesuche. In den Kollegstunden wurden exegetische Fragen, Themen der systematischen Theologie sowie die eingereichten Aufsätze besprochen. Schließlich gab es auch Zeit zur Vorbereitung der Übungen ebenso wie für die Privatlektüre. Die Bibliothek bot dafür gute Voraussetzungen. Sie umfasste um 1820 etwa 10.000 Bände und befand sich, wie Köster vermerkte, in einem Zustand, der kein literarisches Hauptbedürfniß junger Theologen unbefriedigt lässt.98 Die Hospites hatten über ihre Arbeiten jährlich einen Bericht zu schreiben, der dem Abt vorgelegt wurde.99 Diese Berichte geben uns einen Einblick, wie der Aufenthalt im Predigerseminar erlebt wurde. Ein Kandidat stellt fest, daß ich wohl kaum in meinem Leben, selbst die Universitätszeit nicht ausgeschlossen, schon in einer Jahresfrist mehr gewonnen habe an wahrer Bildung zu meinem Berufe, als hier. In einem anderen Bericht heißt es: Es ist merkwürdig, was man durch einen Rückblick merkt: wie allmählich, was Wissenschaft war, Glauben wird; der Nebel sich in Licht verwandelt; irgend eine dem menschlichen Witz entlegnere Wahrheit, anfänglich schroff erscheinend, zugänglich wird, zuerst im Gemüthe Gestalt gewinnt, dann auch in Worten ausgesprochen werden kann. Ein weiterer Kandidat schreibt, er habe für die Vorbereitung zu den Geschäften des Prediger Amtes gerade in der Einrichtung unseres Prediger-Seminares die vollkommenste Anleitung gefunden.100. Diese Äußerungen, denen sich weitere zur Seite stellen ließen, zeigen, dass das Loccumer Predigerseminar Erwartungen erfüllte, die das universitäre Studium offen gelassen hatte. Der zweijährige Aufenthalt im Kloster war ein attraktives Angebot, auf das sich viele Kandidaten meldeten, die dem ungeliebten Hauslehrerdasein zu entkommen suchten.101 Der Konvent hatte deswegen die Hospizplätze verdoppelt, so dass nunmehr acht Mitglieder aufgenommen werden konnten. Das war noch immer nur ein Teil 97 Studienplan vom 5. 11. 1820 (KAL VIII 6). 98 Christoph Erich Weidemann: Geschichte des Klosters, hrsg. v. Friedrich Burchard Köster, Göttingen 1822, S. 106. 99 Berichte des Studiendirektors und der Kandidaten (KAL VIII 6 und 49) sowie Chronik des freien Stifts Loccum (KAL III 45). 100 Kandidaten Knauer, Schramm und Comperl, Studienberichte 1821/22 (KAL VIII 6). 101 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem kommentiert das Leben eines Hauslehrers mit bissigen Worten: Wie vielen ist dieser Stand eine wahre Sklaverei, da sie bei ihrer mühsamen Arbeit, und für ihre wichtigen Dienste, den niedrigsten Begegnungen ausgesetzt, in dem schlechtesten Winkel des Hauses mit ungesitteten, und durch die Schuld der Eltern, der wahren Erbsünde, erst böse gewordenen Kinder, allem vernünftigen Umgang absterben und sich gleichsam vergraben müssen. (Jerusalem [wie Anm. 30], S. 250)

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derer, die im Königreich Hannover das Predigtamt anstrebten. Gleichwohl bedeutete das Predigerseminar Loccum einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer kirchlichen Kandidatenausbildung.

Hier über die höchsten Angelegenheiten des Menschen nachzudenken Ein Jahr nach der Wiedereröffnung des Loccumer Hospizes wurde der Jahrestag am 20. 11. 1821 mit einer kleinen Feier begangen. Aus diesem Anlass hielt der dienstälteste Hospes Justus Eduard Leopold eine Ansprache, in der er die Bedeutung des Seminars würdigte.102 Einleitend beschrieb er das die Seminarausbildung prägende Anliegen: Hier über die höchsten Angelegenheiten des Menschen nachzudenken, hier in die unermeßliche Tiefe des Reichthums beydes der Weisheit und Erkenntniß Gottes weiter hineinzublicken, hier seinem Charakter die Bildung zu geben, daß man der früher oder später anvertrauten Gemeinde ein nützlicher und würdiger Seelsorger werde, dieß Alles steht dem als nächste Bestimmung vor Augen, welcher in diese Anstalt aufgenommen wird. Leopold nannte drei Merkmale, die für das Loccumer Hospiz charakteristisch seien, an erster Stelle die glückliche Einsamkeit des Klosters, die es möglich mache, sich fern von der unruhigen Welt auf die Aufgaben des Predigtamtes vorzubereiten. Loccum sei ein auserkornes Asyl für Andacht, Frömmigkeit und ernste, stille Betrachtung über die höchsten Angelegenheyten unseres Seyns und Wirkens.103 An zweiter Stelle erwähnte er das trauliche Zusammenwohnen der Kandidaten, das durch das klösterliche Hospitium den Charakter einer geistlichen Gemeinschaft habe, und er forderte dazu auf, die der Freundschaft holde Gegenwart aus(zu)kaufen, und sie als eine Vorschule (zu) benutzen zu einem recht collegialischen Sinne. Abschließend betonte er die Einbindung des Hospizes in das Kloster : Ein Geist der Andacht haucht uns an, denn unser Haus schließt sich zum symbolischen Zeichen an das Gotteshaus an… Der genius sacri loci redet Ehrfurcht gebietend aus der Vorzeit zu uns, denn wir wohnen über den Gräbern unsrer christlichen Vorfahren und in den Mauern, welche vor Jahrhunderten jene Klosterbrüder umschlossen, deren Asche unter uns ruhet. Leopold griff in seiner Rede Gedanken auf, in denen die Geisteshaltung der Romantik 102 KAL VIII 10. 103 Leopold sagte in der Ansprache weiter (wie Anm. 102): Ja Freunde, auch wir wollen die Zeit, die uns hier zu weilen noch vergönnt ist, dazu benutzen, eine ernste Rücksprache mit uns selbst zu nehmen, und durch Anschauung des innern Menschen für die Welt des eignen Herzens zu sorgen und zu wirken; da wir es jetzt für die Aussenwelt weniger können, wollen wir hier in der feyerlichen Stille eines Klosters achtsam und täglich achtsamer hören auf die Stimme Gottes in der heiligen Schrift, in der Natur und in unserm Innern.

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anklang. Dass das Hospiz ein Ort des theologischen Gesprächs, der wissenschaftlichen Forschung und der praktischen Arbeit sein sollte, wurde selbstverständlich vorausgesetzt. Leopold belegte dies durch seine eigenen Schriften.104 In der Ansprache setzte er die Akzente jedoch anders. Wichtig war ihm, den geistlichen Kontext der Studienarbeit zu benennen: die Abgeschiedenheit des Klosters, die Gemeinschaft des Hospizes und die Gegenwart einer heiligen Geschichte. Damit öffnete er das Predigerseminar einer neuen Generation und zeigte, wie es auch unter veränderten Bedingungen seine Bedeutung behalten konnte. In den folgenden Jahren erfuhr die Ausbildung des Predigerseminars im Bereich der praktisch-theologischen Übungen einige Modifikationen. Die katechetischen und die gottesdienstlichen Aufgaben wurden wie bisher abwechselnd mit dem Stiftsprediger versehen. Themen der Seelsorge wurden überwiegend theoretisch behandelt. Zur pädagogischen Ausbildung trat neben die katechetischen Übungen auch die Teilnahme am Konfirmandenunterricht. Zur Förderung der homiletischen Fähigkeiten wurden Uebungen in der extemporisirenden Redekunst eingeführt.105 Neu waren Übungen zur Liturgie des Hauptgottesdienstes. Diese Ergänzungen stärkten das praktische Profil des Predigerseminars. Alle wesentlichen Aufgaben des Predigtamtes wurden in den Studien, Hospitationen und Übungen des Seminars vorbereitet und unter der Mitwirkung des Stiftspredigers eingeübt. Das wirkte sich auch auf die exegetischen und theologischen Arbeiten aus, über die Leopold, der 1823 zum Studiendirektor ernannt wurde, schrieb: Die praktische Wichtigkeit des erklärten Stücks nach allen Seiten hin zu beleuchten, ist eine Hauptaufgabe für dieses, wie billig für jedes Predigerseminarium.106 Zwar kam es in der theologischen Arbeit zwischen den Anhängern unterschiedlicher Schulen wiederholt zu Disputen. Was an den Universitäten konfliktreich verlief, verlor in der Arbeit des Seminars jedoch an Schärfe. Leopold beschrieb das Loccumer Seminar als eine Anstalt, deren Mitglieder zu einer freyen Geistesthätigkeit gewöhnt und durch gegenseitige Belehrung geübt und weitergebildet werden sollen, wie auch als Einrichtung, welche junge Theologen zu practischen Seelsorgern und Predigern erziehe.107 Das Interesse des Konsistoriums, die Hospites auf die Aufgaben des Predigtamtes vorzubereiten, hatte also nicht zur Folge, dass das Seminar zu einem Ort theologischer Normierung wurde. Bestimmend war die Achtung vor der Persön104 Justus Eduard Leopold: Johannes der Täufer: Eine biblische Untersuchung, Hannover 1825. 105 Kurze Nachricht über die gemeinsamen Beschäftigungen, in: Vierteljährige Nachrichten von Kirchen- und Schulsachen, Hannover 1829, S. 36. 106 Justus Eduard Leopold: Das Hospitium zu Loccum, in: AKZ 5, 1826, Sp. 593 – 597, Zit. Sp. 595. 107 Justus Eduard Leopold: Studienbericht vom 14. 4. 1829 (KAL VIII 6).

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lichkeit der Kandidaten, und zu ihr gehörte es, dass das Seminar Raum dafür gab, über Theologie und Praxis offene Gespräche zu führen.

Ueber die theologischen Bildungsanstalten zu Loccum und Hannover Johann Christoph Salfeld, mit dessen Namen sich die Entstehung und Ausgestaltung des Predigerseminars im Hospiz verbindet, verstarb am 2. Dezember 1829.108 Wenige Wochen später stand das Kloster unerwartet vor einem weiteren Problem, das durch die Absicht der hannoverschen Regierung, die wirtschaftliche Verfassung des Klosters überprüfen zu wollen, verursacht war.109 Das Ziel dieser Maßnahme, zu deren Begründung auf § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses verwiesen wurde, war die Einziehung des klösterlichen Vermögens und die Aufhebung der Selbständigkeit des Klosters. In Verbindung damit wurde auch die Zusammenlegung des Predigerseminars mit der Theologischen Fakultät in Göttingen erwogen. Dem hannoverschen Konsistorialassessor Friedrich Rupstein (1794 – 1876) wurde der Auftrag erteilt, diese Pläne gutachterlich zu prüfen. In seinem Gutachten Ueber die theologischen Bildungsanstalten zu Loccum und Hannover plädierte Rupstein dafür, beide Seminare an ihren bisherigen Standorten zu erhalten.110 Sein wichtigstes Argument war, daß bey einer Verlegung des Prediger Seminars nach Göttingen die practische Richtung und die practische Bildung seiner Mitglieder erheblichen Mängeln unterliegen dürfte. Weil auf einer Universität die Theorie das Vorwaltende sei, zeige sich bei den Professoren oftmals eine gewisse Geringschätzung gegen das Practische, die einen angehenden Prediger verunsichere. Außerdem sei zu befürchten, daß mithin auf jeder Universität, sie sey welche sie wolle, den Mitgliedern eines dort vorhandenen Predigerseminars leicht Äußerungen hörbar werden könnten, wodurch diese eben nicht die rechte Ansicht von ihrem künftigen Berufe und eben nicht die wünschenwerthe Erweckung zu ihren Functionen erhielten. Auch mit Blick auf die persönliche Lebenssituation der Kandidaten hielt Rupstein den Plan für problematisch: Bey einer Verlegung nach Göttingen, fürchte ich, würde der ganze Geist des Instituts gefährdet werden. Die Mitglieder des Prediger-Seminars sind keine Studenten mehr, und dürfen es nicht mehr seyn; manches, was man diesen gestattet oder nachsieht, kann bey jenen nicht mehr gut geheißen werden; Männer, die dem Eintritt in das Predigtamt nahe stehen, sollen 108 NND 7, 1829, II, S. 790 – 796. – Wilhelm Rothert: Allgemeine Hannoversche Biographie Bd. 3, Hannover 1916, S. 371 – 386. 109 Schreiben des Kabinettsministeriums vom 29. 1. 1830 (KAL B III 39). 110 Friedrich Rupstein (= Bericht vom 27. 7. 1830, in: KAL VIII 39).

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durch größere Besonnenheit, Ernst und Würde sich auszeichnen. Rupstein verband mit seinem Votum praktische Vorschläge: die Mitgliederzahl solle erhöht und die Kooperation beider Seminare ausgebaut werden. Tatsächlich gelang es in den folgenden Jahren, den Bestand des Klosters und seines Predigerseminars zu sichern. Einen wichtigen Anteil daran hatten jedoch auch die politischen Veränderungen, die nach der Pariser Julirevolution (1830) im Königreich Hannover zu einem größeren Einfluss der Stände und insbesondere des Bürgertums führten. Am 6. 6. 1831, ein Jahr nach Rupsteins Bericht, verabschiedete das Kabinettsministerium Grundzüge der künftigen Verfassung des Klosters, in denen sich abzeichnete, dass es keine Veränderungen geben werde, weil sich – wie es hieß – im Wesentlichen die Zweckmäßigkeit der bestehenden Einrichtungen gezeigt habe.111 Auch das neue Staatsgrundgesetz vom 26. 9. 1833 sicherte den Bestand des Klosters. In § 68 wurde unmissverständlich festgestellt, dass eine Säkularisation der kirchlichen Güter aller Art zugunsten des Staates oder zugunsten sonstiger dem Stiftungszwecke zuwiderlaufender Ziele unter keinem Vorwande stattfinden dürfe.112 An die Stelle der noch wenige Jahre zuvor verfolgten Pläne zur Säkularisierung war also die Bewahrung des Klosters getreten. Unter diesen Vorzeichen wählte der Konvent nach zweijähriger Vakanz einen Nachfolger für den verstorbenen Abt Salfeld. Die Wahl fiel auf Friedrich Rupstein. Die Einführung in das neue Amt fand am 20. 3. 1832 in der Loccumer Klosterkirche statt, zugleich wurde ihm die Leitung des hannoverschen Predigerseminars übertragen.113 Unter Rupstein wurde die Anzahl der Loccumer Hospizplätze zunächst auf zehn und dann auf zwölf erhöht. Auch inhaltlich änderte sich einiges: Die Kollegarbeit wurde auf zwölf Wochenstunden verdoppelt, und der Stiftsprediger an den praktischen Übungen beteiligt; außerdem wurden öffentliche Nachmittagsgottesdienste eingeführt.114 Ein Regulativ, das bis 1906 in Geltung stand, legte die Inhalte und Methoden der Seminarausbildung verbindlich fest. Darin wurden ausführlich und detailliert wie nie zuvor in der Geschichte des Hospizes die Aufgaben und Übungen der Kandidaten beschrieben. An erster Stelle standen kirchliche Arbeiten wie Predigten, Andachten, liturgische Dienste, Katechisationen, Bibellehren; an zweiter Stelle folgten gemeinschaftliche Studien und Uebungen, die die kritische Diskussion der praktischen und theologischen Arbeiten sowie die Beschäftigung in den regelmäßigen Versammlungen des Hospitii im Collegio umfassten; an dritter und 111 Grundzüge der künftigen Verfassung des Klosters, vom 6. 6. 1831 (KAL B III 39). 112 Dieter Henkel: Staat und Evangelische Kirche im Königreich Hannover 1815/1833 (= SKGNS 8), Göttingen 1938, S. 56. 113 Niedersächsisches Staatsarchiv Hannover 113 L Nr. 1306. 114 Regulativ für die Geschäftsverteilung zwischen dem Studiendirektor und dem Stiftsprediger hinsichtlich der Leitung der practischen Studien und Übungen des hospitii vom 19. 6. 1833 (KAL VIII 38).

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vierter Stelle standen Privatstudien sowie die Benutzung der Bibliothek und der Zeitschriften des Lesezirkels.115 Das Regulativ machte deutlich, dass die Kandidaten im Loccumer Hospiz ein strukturiertes und konzeptionell durchdachtes Ausbildungsprogramm erwartete, mit dem sie auf die Aufgaben des Predigerberufs vorbereitet wurden. In den Leges Hospitii fanden diese Veränderungen zunächst keinen Widerhall. Erst 1854 verabschiedete der Konvent eine neue Fassung der Hospizordnung, die diejenige von 1794, mit der Salfeld die Umbildung des Hospizes in ein Predigerseminar eingeleitet hatte, ersetzte.116 In § 2 wurde der Hauptzweck des Hospitii mit den Worten angedeutet, er bestehe darin, seinen Mitgliedern in ruhiger Sammlung des Gemüths die nähere Vorbereitung für das heilige Predigtamt zu gewähren. Deswegen sei es die erste Pflicht jedes Hospes, den Studien und Uebungen, welche das jetzt in Kraft stehende, oder künftig sei es von Abt, Prior und Convent gemeinschaftlich, oder vom Abt allein etwa abzuändernde Regulativ vorschreibt, in aller Stille sich zu widmen sowie dem eigentlichen Zwecke seines hiesigen Aufenthaltes gemäß, in weiser Eingezogenheit ein ehrbares, züchtiges und mäßiges Leben zu führen.117 In dieser Formulierung klang der Veränderungsprozess, den das Hospiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlaufen hatte, nur verhalten an. Der Hinweis auf das Ausbildungsregulativ machte aber deutlich, dass die Leges nicht mehr ausreichten, um das gewandelte Selbstverständnis des Hospizes angemessen zu beschreiben. Aus dem Hospiz war, wie es Köster bereits 1820 formuliert hatte, ein Prediger-Seminarium im vollsten und edelsten Sinne des Wortes geworden.

So eine Seele in die Cur nehmen, um sich an ihr zu üben Die Gründung von Predigerseminaren blieb im 19. Jahrhundert umstritten. Die Kritik kam aus unterschiedlichen Richtungen. Zu den Kritikern des konservativen Luthertums gehörte Claus Harms (1778 – 1855), Hauptpastor in Kiel, der durch die Veröffentlichung von 95 Thesen am Reformationstag 1817 Aufsehen erregt hatte.118 Harms plädierte in seiner Pastoraltheologie vehement gegen die Einrichtung praktisch-theologischer Seminare: Ein Predigerseminar, auch soweit es kein bloßer Anbau von ein, zwei Fach an die Universität, sondern wirklich 115 Regulativ für die Arbeiten der Mitglieder des Hospitii, vom 19. 5. 1841 (KAL Registratur I des Klosters E 1). 116 Leges Hospitii vom 18. 3. 1853 (KAL VIII 37). 117 Holze (wie Anm. 14), S. 192. 118 Lorenz Hein: Claus Harms – Leben und Werk, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Bd. 5: Kirche im Umbruch, hrsg. v. Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Neumünster 1989, S. 77 – 124.

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ein pastoralisches Institut ist – nun wenn man es haben kann, mag es gar nicht übel seyn, einige Zeit als Zögling und selbst als ein Züchtling darin zu leben … Aber, wenn ich anders die gedruckten Lobreden richtig verstehe, so sind es die Uebungen vornähmlich, die eignen Uebungen der Zöglinge wie in den Amtshandlungen, die ein unordinirter Candidat verrichten kann, so in der Seelsorge, in der Behandlung der Seelen, worauf es in einem solchen Seminar abgesehen ist, und da kann ich mich nicht entbrechen zu sagen: So eine Seele in die Cur nehmen, um sich an ihr zu üben, gleichwie der medicinische Candidat sich in einem Klinikum an einem ihm zugewiesenen Kranken unter Aufsicht des Herrn Hofraths übt, das ist eine Mishandlung. Schon schlimm genug, daß Uebungspredigten, Uebungskatechisationen unter Beysitz eines Professors gehalten werden müssen, – ist nicht wol abzuändern – aber einen Traurigen trösten, um sich im Trösten zu üben, einem Säufer, einem Spieler, einem Ausschweifenden Vorstellungen machen, daß er sich bekehre, um sich zu üben in der Bekehrungskunst und sich zu versuchen in solcher Kunst, nein, wer tritt davor nicht zurück!119 In diesen Worten klang die Furcht an, dass das geistliche Amt an Autorität und Ansehen verlieren würde, wenn seine Vollzüge zum Gegenstand praktischer Übungen gemacht würden. Aus ganz anderer Richtung kam die Kritik des Heidelberger Privatdozenten Wilhelm Dittenberger, der als Anhänger des theologischen Liberalismus dafür plädierte, die theologische Ausbildung an den Fakultäten zu belassen, nicht aber eigenständige Predigerseminare einzurichten.120 An der Universität sei nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die praktische Ausbildung der Theologiestudenten in guten Händen. Dazu sollten aber die zum Theil so sehr vorzüglichen einzelnen Anstalten als homiletische, katechetische, liturgische, pastoraltheologische Seminarien in ein theologisch-practisches Institut auf jeder Universität vereinigt werden, in welchem die verschiedenen Zweige der practischen Theologie nicht nur docirt, sondern auch zugleich dahin einschlagende Uebungen so umfassend wie möglich angestellt werden könnten.121 Damit nahm Dittenberger den Gedanken des Predigerseminars durchaus positiv auf, war aber darum bemüht, ihn nicht von der Universität abzulösen. In den Stimmen, die sich kritisch zum Predigerseminar äußerten, zeigten sich gegenläufige Tendenzen. Liberale Theologen befürchteten den Geist der Re119 Claus Harms: Pastoraltheologie: In Reden an Theologiestudirende, Buch 3: Der Pastor, wie ihn die Pastoraltheologie seyn und thun lehret, Kiel 1837, S. 25 f. 120 Hans-Dieter Zimmermann: Wilhelm Dittenberger (1840 – 1906). Zum 100. Todestag eines bedeutenden Gelehrten und engagierten Kommunalpolitikers, in: Jahrbuch für Hallische Stadtgeschichte 2006, Halle 2006, S. 264 – 269. 121 Wilhelm Dittenberger : Ueber Predigerseminarien: mit Berücksichtigung der zu Herborn, Loccum und Wittenberg vorhandenen und in Bezug auf die Errichtung eines solchen im Großherzogthum Baden, Heidelberg 1835, S. 113 f.

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stauration und der Preisgabe protestantischer Freiheit. Sie argwöhnten, dass das in kirchlicher Trägerschaft befindliche Predigerseminar als Instrument zur Einschränkung der theologischen Forschung missbraucht werden könne. Lutherische Theologen hingegen argwöhnten, die praktischen Übungen des Seminars könnten die Autorität des geistlichen Amtes gefährden. So wurde in diesen Jahren des Vormärz ein spannungsreicher Gegensatz sichtbar, der in der Spätaufklärung zur Zeit der Gründung des Loccumer Seminars unter Salfeld noch nicht vorhanden gewesen war.

Eine Schule der christlichen Frömmigkeit Die kritischen Stimmen behielten jedoch nicht das letzte Worte. Zu denen, die sich für die Einrichtung von Predigerseminaren aussprachen, gehörte Richard Rothe, führender Vertreter des Kulturprotestantisms.122 Anlässlich der Übernahme der Leitung des Heidelberger Predigerseminars widersprach er den Kritikern.123 Zwar wisse er, dass das, was man den Geist der Kirche nennt, … in dem allgemeinen Bewußtseyn weit zurückgetreten (ist), und wenn irgendwo ein Mal die Diener der Kirche die Rechte und Interessen derselben geltend zu machen versuchen, so wird dieß sofort als ein bloßer Kampf für Standesrechte und Standesinteressen angesehen.124 Trotzdem sei es richtig, dass die Kirche Predigerseminare einrichte. Diesen falle die Aufgabe zu, eine Schule der christlichen Frömmigkeit zu sein, in der die christliche Erweckung des jungen Theologen so geleitet werde, daß ein gesunder und sittlich kräftiger Glaube an den Heiland aus ihr geboren wird.125 Außerdem sei das Predigerseminar auch die Schule einer gründlichen theologischen Überzeugung, denn die Kirche ist nicht nur christlich frommer, sondern auch theologisch gebildeter und namentlich von einer sicheren und selbstständigen theologischen Ueberzeugung durchdrungener Geistlichen benöthigt.126 Schließlich habe das Predigerseminar auch Bedeutung als eine Schule des kirchlichen Geistes, die Menschen heranbilde, die mit ihrer innigen Christlichen Frömmigkeit und ihrer wissenschaftlichen Klarheit und practischen Fertigkeit tief in ihrem eignen Leben gewurzelt, durch und durch von ihrem 122 Falk Wagner : Theologische Universalintegration: Richard Rothe (1799 – 1867), in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd. 1, Gütersloh 1990, S. 265 – 286. 123 Weyel (wie Anm. 88), S. 121 – 134. 124 Richard Rothe: Warum fühlt die deutsch-evangelische Kirche grade in unsern Tagen das Bedürfniß von Predigerseminarien? Denkschrift der Eröffnung des Großherzoglich Badischen evangelisch-protestantischen Predigerseminariums zu Heidelberg, Heidelberg 1838, S. 31. 125 Ebd., S. 11. 126 Ebd., S. 16.

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Geiste, dem kirchlichen beseelt sind.127 Mit diesen werbenden Worten sprach sich Rothe, der nach Abschluss seines Theologiestudiums 1820 das Wittenberger Seminar zwei Jahre lang besucht hatte, für das theologische Recht des Predigerseminars aus.

Die Nothwendigkeit der Predigerseminarien Auch die Kirchenleitungen setzten sich für die Einrichtung von Predigerseminaren ein. Ihre Argumente waren freilich andere als die des Kulturprotestanten Rothe. Man beklagte das sinkende Ansehen des geistlichen Standes.128 Außerdem diagnostizierte man einen Mangel an kirchlich-religiösem Sinne in unserer Zeit und fragte, wie der Unkirchlichkeit unserer Zeit am ersten gesteuert werden könne.129 Für diejenigen, die so fragten, war die Nothwendigkeit der Predigerseminarien erwiesen, und sie zeigte sich insbesondere im Vergleich zur praktischen Ausbildung auf der Universität: Was sind wöchentlich zwei Stunden Homiletik und Katechetik ein einziges halbes Jahr durch besucht, und zwar im letzten halben Jahre, da die Nähe des Examens den Geist ganz in Anspruch nimmt? Die Folgerung war eindeutig: Darum – Predigerseminarien, mit einem nicht blos gelehrten Manne, sondern zugleich erfahrenen Geistlichen und musterhaften Kanzelredner an der Spitze, und stäts fortgesetzte Aufsicht auf Fortbildung der Candidaten! Das ists allein, was helfen kann, und womit so leicht und so gut zu helfen wäre!130 In dieser Überzeugung wurde nicht nur im Predigerseminar Loccum der Studienbetrieb fortgesetzt. Als das Seminar nach den Turbulenzen der (nach-) napoleonischen Zeit 1820 die Pforten wieder öffnete, bildete es in der kirchlichen Landschaft Deutschlands keine Ausnahme mehr. In Wittenberg und Herborn waren kurz zuvor neue Seminare gegründet worden. Wenig später schlossen sich in Celle b. Hannover131, Merseburg / Anhalt132 und Gotha / 127 Ebd., S. 31. 128 Ueber das sinkende Ansehen des geistlichen Standes, in: AKZ 7, 1828, Sp. 1601 – 1607, 1609 – 1622, 1625 – 1631, 1633 – 1636. 129 Auch ein Wort über Mangel an kirchlich-religiösem Sinne in unserer Zeit, in: AKZ 4, 1825, Sp. 452 – 456, Zit. Sp.452. – Wodurch kann der Unkirchlichkeit unsrer Zeit am ersten gesteuert werden?, in: AKZ 6, 1827, Sp. 705 – 708. 130 Ueber die Nothwendigkeit der Predigerseminaren, in: AKZ 7, 1828, Sp. 1269 – 1271, Zit. Sp. 1271. – Vgl. Joh. Schmid: Ideen und Vorschläge, das Bedürfniß und die Einrichtung von Pastoralseminarien betreffend, in: AKZ 6, 1827, Sp. 1297 – 1304. 131 In Celle hat sich ein, zu Anfang des vorigen Jahres vom königlichen Consistorium genehmigter, wissenschaftlicher Verein der Candidaten des Predigtamtes gebildet, welcher vielseitige Nachahmung verdient. (AKZ 3, 1824, Sp. 201 – 206, Zit. Sp. 201). 132 Rupstein nennt das theologische Seminar in Merseburg eine kleine Gelehrtenrepublik, die viel Aehnlichkeit mit der des Hospitiums zu Loccum habe (wie Anm. 110).

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Thüringen133 Kandidatenvereine zusammen. An den Universitäten in Dorpat134 und Halle135 nahmen homiletische Seminare die Arbeit auf. In der württembergischen Kirche, die seit der Reformation mit dem Stift einen eigenen Ausbildungsgang entwickelt hatte, wurden die bestehenden Einrichtungen zur Ausbildung der Prediger einer gründlichen Reform unterzogen.136 Mancherorts wie in Soest137 und Duisburg138 bemühte man sich vergeblich um die Gründung von Predigerseminaren. Erfolgreicher waren die Versuche in München (1834)139, Wolfenbüttel (1836)140, Friedberg / Hessen (1837)141 und Heidelberg (1838)142. Das Interesse an den praktisch-theologischen Seminaren war so groß, dass selbst über ausländische Projekte berichtet wurde.143 Der Besuch dieser Seminare war zumeist freiwillig und einer kleineren Anzahl von Kandidaten vorbehalten. Nur in Hessen und Baden wurden die Seminare in die Predigerausbildung fest in133 Seit länger als einem Jahre besteht unter uns ein Verein, der die Bildung und Vervollkommnung angehender Lehrer des Predigtamtes zum Zwecke hat … (AKZ 4, 1825, Sp. 284 f., Zit. Sp. 284; vgl. auch AKZ 6, 1827, Sp. 401 – 405). 134 Reglement für das theologische Seminarium in Dorpat, in: AKZ 5, 1826, S. 169 – 176. Rupstein sagt von diesem Seminar, es sei mehr eine Selecta in der Universität als ein wirkliches Predigerseminar, da man Studenten schon nach zwei bis vier Semestern aufnehme (wie Anm. 110). 135 Benjamin Adolph Marks: Nachricht von der homiletischen Gesellschaft oder der homiletischen Uebungsanstalt zur näheren Vorbereitung auf die Führung des Predigtamts in Halle, in: AKZ 4, 1825, Sp. 1289 – 1293, 1297 – 1302. 136 Das Seminarienwesen in Würtemberg. Stimme eines evangelischen Geistlichen, in: AKZ 6, 1827, Sp. 569 – 573. Vgl. ebd. S. 881 – 884, 1174 f. – Ueber den Vorschlag einer Veränderung mit den Seminarien Würtembergs, in: AKZ 6, 1827, Sp.1305 – 1320. 137 Aktenstücke zur Geschichte des Predigerseminars zu Soest, in: JVEKGW 16/17, 1914/1915, S. 144 – 159. – Wilhelm Rahe: Der Ausbildungsgang westfälischer Theologen um 1800, in: JVEKGW 59/60, 1966/1967, S. 93 – 198. 138 Ulrich Seeger : Das Predigerseminar der Evangelischen Kirche im Rheinland, in: MEKGR 31, 1982, S. 237 – 343, bes. S. 275 f. 139 Ueber die Nothwendigkeit und zweckmäßigste Einrichtung eines theologischen Seminars für künftige Geistliche der Kirche Baierns. Ein zeitgemäßes Wort an alle, welche sich für diesen hochwichtigen Gegenstand interessiren, Sulzbach 1824. – Festschrift zum Andenken an die fünfzigjährige Jubelfeier des Evangelischen Predigerseminars zu München am 16. 9. 1884, München 1884. 140 Theodor Wilhelm Heinrich Bank / Ernst Ludwig Theodor Henke: Das Predigerseminar zu Wolfenbüttel, Braunschweig 1837. 141 Verordnung, die Errichtung eines evangelischen Predigerseminars betr. vom 21. 3. 1837, in: Karl Wilhelm Köhler: Handbuch der kirchlichen Gesetzgebung des Großherzogthums Hessen, Bd. 1, Darmstadt 1847, S. 336 f. 142 Daniel Schenkel: Die Bildung der evangelischen Theologen für den praktischen Kirchendienst. Eine Denkschrift zur 25jährigen Stiftungsfeier des evang.-protestantischen Predigerseminars in Heidelberg, Heidelberg 1863, S. 48 f., 61 ff., 168 ff. 143 Nachricht von der Errichtung eines theol. lutherischen Seminars in Amsterdam, in: AKZ 5, 1826, Sp. 901 – 904. – Aug. Jac. Rambach: Anzeige und Bitte, das theologische Seminarium für die evangelisch-lutherische Kirche in den vereinigten Staaten von Nordamerika betreffend, in: AKZ 5, 1826, Sp. 956 – 960.

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tegriert. Auch sonst war die Ausgestaltung dieser Seminare unterschiedlich und von regionalen Besonderheiten geprägt. Insgesamt aber setzte sich das Predigerseminar und mit ihm die Überzeugung, dass die Kirche für die praktischtheologische Ausbildung Verantwortung trage, durch. Was im Loccumer Hospiz im ausgehenden 18. Jahrhundert im Geist der Spätaufklärung konzeptionell entwickelt worden war, hatte in der Zeit des Vormärz seine Fortsetzung gefunden und war zu einem Erfolgsmodell der praktisch-theologischen Ausbildung geworden.

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Ein ›freies‹ Stift in preußischer Zeit. Das Kloster Loccum 1866 – 1924

Mit der Annexion des Königreichs Hannover durch den preußischen Staat begann für das Kloster der Weg in die Moderne, für Abt und Konvent veränderte sich der Handlungsrahmen durchgreifend. Das Kloster verlor seine hervorragende Stellung in der politischen Ordnung der Monarchie, damit war die Stellung zur hannoverschen Landeskirche und zum Staat neu zu bestimmen. Das war erst nach und nach möglich – immerhin, als am 1. November 1924 die hannoversche Kirchenverfassung in Kraft trat, die Konsequenzen aus der Trennung der Landeskirche vom preußischen Staat zog, war klar, dass das Kloster Teil der hannoverschen Landeskirche war und für diese ein Predigerseminar unterhielt. Gewiss hatte das Kloster schon länger als Träger des Predigerseminars fungiert, die längste Zeit war jedoch die Sicherung der Landstandschaft und die Verwaltung der Klostergüter viel wichtiger gewesen. Erst die vom preußischen Kultusminister erzwungene Aufnahme eines rechtskundigen Kurators und der Verzicht auf herausragende politische Funktionen ermöglichten die Konzentration auf den Betrieb des Predigerseminars. Damit hatte das Kloster eine klare Aufgabe, damit konnte der Anschluss an die Landeskirche gesichert werden. Diese Entwicklung wird im Folgenden nachgezeichnet. Der erste Teil beschreibt die Einführung des Kuratorenamts und die Folgen, die dies für Abt und Prior hatte,1 der zweite Teil beschreibt die Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg, an deren Ende nicht mehr zu bestreiten war, dass das Kloster ein Teil der hannoverschen Landeskirche war.

1 Zum Institut des Kurators vgl. Martin Kruse: Der Jurist im Konvent des Klosters Loccum, in: Festschrift für Erich Ruppel, Hannover 1968, S. 240 ff. – Seinerzeit musste sich Kruse auf die Loccumer Akten beschränken, weil er die Akten des Preußischen Kultusministeriums, die in der DDR lagerten, nicht benutzen konnte; insofern ist das Folgende eine Ergänzung zu Kruses Darstellung.

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Hans Otte

I Abt, Prior und Kurator 1892 kam es zwischen dem Kultusministerium und dem hannoverschen Landeskonsistorium zu einem kurzen Disput über ein Thema, das Beamte auch heute noch beschäftigt: die Abrechnung von Dienstreisen. Otto Mejer, der Präsident des hannoverschen Landeskonsistoriums, hatte das Kultusministerium in Berlin um Argumentationshilfe gebeten.2 Die Königliche Oberrechenkammer hatte die Höhe der Tagegelder (»Diäten«) beanstandet, die zwei Oberkonsistorialräte beanspruchten: der Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn3 und der Konventual Friedrich Düsterdieck4. Aber der Minister ließ dem Präsidenten des Landeskonsistoriums nur knapp antworten, dass ich ressortmäßig nicht befugt bin, ein Monitum der K[öniglichen] Oberrechnungskammer für erledigt zu erklären und Euer [Hochwohlgeboren] daher überlassen muss, das Monitum … für die Vergangenheit nach Lage der Sache zu beantworten.5 Die kühle Antwort zeigt: In Preußen war die Oberrechnungskammer eine mächtige Institution, der Kultusminister wollte sich nicht engagieren. Aus der Korrespondenz, die sich daran anschloss, ergibt sich, dass schon länger über diese Frage gestritten worden war : 1889 hatte sich das Finanzministerium gegen das Kultusministerium durchgesetzt, als das preußische Staatsministerium beschlossen hatte, die Besoldungsgruppe – den Rang – der Oberkonsistorialräte des hannoverschen Landeskonsistoriums denen der anderen preußischen Provinzialkonsistorien anzugleichen.6 Für den Finanzminister war das Landeskonsistorium nur die Kirchenverwaltungsbehörde einer einzigen Provinz; daher seien dessen Beamte analog zu den Beamten der anderen Provinzialkonsistorien zu

2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (i.F.: GStAB), I Rep. 76 III 21 XIX Nr. 1 Bd. 4: Präsident Mejer an das Kultusministerium, 12. 6. 1892. – Das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten wird im Folgenden nur als Kultusministerium bezeichnet. 3 Vgl. Hans Otte: (Art.) Gerhard Uhlhorn, in: TRE, Bd. 24, S. 242 – 244. Als Beamter 3. Klasse rangierte er im Hofzeremoniell im 37. Rang; vgl. Rudolf von Stillfried-Alcántara: Ceremonial-Buch für den Königlich Preußischen Hof, X: Hof-Rang-Reglement, Berlin 1892. 4 Friedrich Düsterdieck (1822 – 1906) wurde 1848 Studiendirektor des Predigerseminars Hannover, 1854 Pastor in Schwicheldt, 1858 Konventualstudiendirektor in Loccum, 1865 Konsistorialrat in Hannover, 1879 Oberkonsistorialrat im Landeskonsistorium, trat 1900 in den Ruhestand. Zu seiner kirchenpolitischen Position vgl. Wolfgang Rädisch: Die Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und der preußische Staat 1866 – 1885, Hildesheim 1972, S. 61 f. 5 Ebd. (wie Anm. 2): Kultusministerium an den Präsidenten des Landeskonsistoriums, 7. 9. 1892. 6 GStAB, I Rep. 76 III Sekt. 21 Abt. I Nr. 3 Bd. 5: Kultusministerium an Finanzministerium, 20. 2. 1890.

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entlohnen.7 Für ihn war es auch politisch in hohem Grade bedenklich, wenn das Landeskonsistorium wie eine Centralbehörde behandelt würde, weil »damit nicht nur der Anschein einer politischen Selbständigkeit Hannovers gegeben, sondern auch den auf eine solche gerichteten Hoffnung und Bestrebungen geradezu Vorschub geleistet würde«.8 Die Angst vor ›welfischen Umtrieben‹, also der Unterstützung des Thronanspruchs der Familie des ehemaligen hannoverschen Königs, war noch so groß, dass sie gut als Argument dienen konnte, der preußische Ministerrat war dem Antrag des Finanzministers gefolgt: Die hannoverschen Oberkonsistorialräte wurden von der Rangstufe »Rat III. Klasse« zu Räten IV. Klasse herabgestuft, während sie bis dahin Räte III. Klasse gewesen waren. Diese Beamtenklasse hatte 1867 die preußische Civil-Administration festgelegt, zwanzig Jahre später erschien die relativ hohe Einstufung der Beamten als eine hannoversche Extravaganz, für die eine sparsame Verwaltung kein Verständnis haben konnte. Für den Kultusminister war dagegen die hannoversche Frage durchaus noch brisant, galten die dortigen Pastoren mehrheitlich immer noch als Welfen und das Kloster Loccum als deren kirchenpolitischer Stimmführer. Um kritische Fragen zu vermeiden, hatte der Kultusminister die Mitteilung der Herabstufung mit dem Hinweis verbunden, dass einzelnen Oberkonsistorialräten nach längerer und verdienstvoller Thätigkeit ein höherer Rang beigelegt werden könne.9 Während der Präsident des Landeskonsistoriums dies als Bereitschaft des Kultusministers gedeutet hatte, den älteren Konsistorialräten die bisherige Besoldung zu belassen, hatte die Oberrechenkammer dafür keinen Grund gesehen. So war es zu dieser Auseinandersetzung gekommen.

1.1

Abt Rupstein und das Kloster als ›althannoversche‹ Einrichtung

Die Verhandlungen über die Reisekosten sind ein Indiz für die Behandlung der hannoverschen Kirchenfrage durch den preußischen Staat. So hatte die preußi7 Gegenüber dem Finanzministerium hatte das Kultusministerium die Argumentation des Landeskonsistoriums wiederholt, dass es – wie der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin – unmittelbar kirchenleitende Aufgaben wahrnahm und dass ihm mehrere kleinere Konsistorien (Aurich, Stade, Osnabrück) unterstellt seien. Demgegenüber erklärte das Finanzministerium: Namentlich der letztere Umstand weist meines Erachtens lediglich darauf hin, daß die letztgenannten drei Konsistorien thatsächlich nicht den in den übrigen Provinzen bestehenden gleichwerthig dastehen, besonders wenn man weiter berücksichtigt, daß das Landeskonsistorium selbst hinsichtlich der Größe seines Bezirks resp. hinsichtlich der Anzahl der ihm unterstehenden Pfarrstellen noch hinter anderen Provinzialkonsistorien zurückbleibt. (GStAB, ebd.: Finanzministerium an Kultusministerium, 21. 8. 1889). 8 Ebd. 9 Ebd.: Kultusministerium an Finanzministerium, 20. 2. 1890.

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sche Civil-Administration, die nach der Annexion Hannovers übergangsweise die Aufgabe der hannoverschen Ministerialverwaltung übernommen hatte,10 1867 den relativ hohen III. Rang der Oberkonsistorialräte festgelegt, wie es der hannoverschen Praxis entsprach.11 Aber nicht nur in dieser Frage signalisierte die preußische Regierung zunächst Entgegenkommen: Übergangsweise sollten ›althannoversche‹ Einrichtungen schonend behandelt werden; wenn sie sich bewährten, konnten sie sogar für den gesamten preußischen Staat übernommen werden.12 Eine solche Einrichtung war auch das Kloster Loccum,13 entsprechend rücksichtsvoll wurde es behandelt: Abt, Prior und Konvent konnten ihre Arbeit ungestört fortsetzen, und am 19. 11. 1867 wurde Abt Friedrich Rupstein als persönliches Mitglied in das preußische Herrenhaus berufen.14 Die Berufung Rupsteins in das Herrenhaus war eine Anerkennung der Bedeutung Loccums. Seit Integration des Klosters in das Fürstentum Calenberg war der Abt als Repräsentant des Klosters vornehmstes Mitglied der ersten Kurie der Landschaft gewesen, er führte in der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft das Präsidium und hatte seit 1814 der ersten Kammer der Allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs kraft Amtes angehört.15 Aber in Preußen wurde genauer zwischen Person und (kirchlicher) Institution unterschieden: In dem für die Provinz Hannover 1868 gebildeten Provinziallandtag hatte der Abt keinen Sitz erhalten. Das war ein auffälliger Unterschied zu den sog. Standesherren,16 deren Mitgliedschaft von der früheren 1. Kammer der hannoverschen 10 Zur Ziviladministration vgl. Heide Barmeyer : Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat. Annexion und administrative Integration, Hildesheim 1983, S 82 f., 187 f. 11 Auch andere hannoversche Beamte klagten über die schlechtere Einstufung in der preußischen Verwaltung, unter ihnen auch der Konsistorialassessor Theodor Lohmann, der spätere Unterstaatssekretär ; vgl. Mut zur Moral : aus der privaten Korrespondenz des Gesellschaftsreformers Theodor Lohmann / hrsg. von Lothar Machtan, Bd. 1, Bremen 1995, S. 219 f., 232 u. ö. 12 Deshalb wurde eine Versammlung hannoverscher Vertrauensmänner einberufen; vgl. Barmeyer (wie Anm.10), S. 86 ff. Zum Zusammenhang vgl. Helmut Matz: Bismarck und Hannover, Hildesheim 1970, S. 16 ff. 13 Als sich Abt Rupstein anläßlich seiner Berufung ins Herrenhaus dem Kultusminister v. Mühler vorstellte, überreichte er auch Veröffentlichungen über das Kloster; anscheinend war v. Mühler davon so beeindruckt, dass er diese an den pommerschen Generalsuperintendenten Jaspis mit dem Hinweis weitergab, dass sie bei der Einrichtung eines neuen Seminars zu beachten seien. (GStAB, I Rep. 76 III 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Vermerk Mühler vom 21. 12. 1867). 14 Ebd.: Bericht des Klosters Loccum über die externe Verwaltung des Klosters, 4. 10. 1875, Pkt. 36. 15 Vgl. Wolf-Dieter Reinicke: Landstände im Verfassungsstaat, Göttingen 1975, S. 57 ff., 178. 16 Standesherren waren die Herzöge von Arenberg und Looz-Corswaren, der Fürst von Bentheim-Steinfurt sowie die Grafen Stolberg-Stolberg und Stolberg-Wernigerode; vgl. Reinicke (wie Anm. 15), S. 180. 191 f.; zur Bildung des Provinziallandtags, der bis zum Ende der Monarchie noch ständisch aufgebaut war, vgl. Ernst Andrée: Entwickelung der Provinzialverwaltung, in: 60 Jahre hannoversche Provinzialverwaltung, Hannover 1928, S. 12 ff.

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Ständeversammlung in den neuen hannoverschen Provinziallandtag übergeleitet worden war. Als sich abzeichnete, dass das Kloster im Provinziallandtag nicht vertreten sein würde, versuchte Rupstein, dem Kloster doch noch einen Sitz im Provinziallandtag zu sichern,17 und in einem ausführlichen Gutachten legte der Syndicus der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft dar, dass der Abt von Loccum mit den Standesherren zu vergleichen war : Bis zum Reichsdeputationshauptschluss habe das Kloster den Anspruch auf Reichsunmittelbarkeit besessen, sein Grundbesitz umfasse mehr als 5.000 Morgen Land und der Abt sei stets ein prominentes Mitglied der Landstände gewesen.18 Aber dieser Vorstoß des Klosters wurde vom Innenministerium abgelehnt, weil sonst auch die Bischöfe von Hildesheim und Osnabrück einen Sitz im Provinziallandtag hätten beanspruchen können.19 Es zeichnete sich schon der Kulturkampf ab, so dass den katholischen Bischöfen die Mitgliedschaft in einem landständischen Gremium verwehrt wurde; der sonst gern gebrauchte Hinweis auf die Parität des Loccumer Abts mit den katholischen Bischöfen wurde hier zum Argument gegen das Kloster und seinen Abt. Dass auf die Mitgliedschaft des Abtes im Provinziallandtag verzichtet wurde, deutet auf eine Modernisierung der preußischen Kommunalverfassung hin, die in der neuen Provinz Hannover begonnen wurde: Grundsätzlich sollten die ständischen Vorrechte zurücktreten;20 dementsprechend erhielt das Kloster auch keinen Sitz (Virilstimme) mehr in der Kreisversammlung, die nach Einführung einer Kreisverfassung 1867 in den Landkreisen zu bilden war.21 Die Ablehnung einer institutionellen Beteiligung des Klosters an der Kommunalverwaltung war wohl eine Konsequenz aus den Beratungen der hannoverschen Vertrauensleute 1867: Diese, in ihrer Mehrheit nationalliberal orientiert, hatten 17 Die Vertrauensleute hatten nämlich empfohlen, die beiden Bischöfe und den Abt von Loccum in den zu bildenden Provinziallandtag zu berufen; vgl. Barmeyer (wie Anm.10), S. 522. 18 Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover (i.F.: HStAH): Hann. 122a Nr. 4171, Bl. 1 ff.: Denkschrift über die ständischen Rechte des Abts zu Loccum (Dezember 1867). 19 GStAB, I Rep. 76 III 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Bericht des Klosters Loccum über die externe Verwaltung des Klosters, 4. 10. 1875, Pkt. 36; die Motive der Regierung nennt Friedrich Schultzen: Geschichte des Klosters, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, Hannover 1913, S. 189 f. 20 Der Provinziallandtag war weiterhin ständisch aufgebaut, doch mussten die Landschaften, die Mitglieder in den Provinziallandtag entsandten, das bisherige Adelsprivileg aufgegeben. 21 In der hannoverschen Zeit hatte das Kloster in der Amtsversammlung einen Sitz, den in der Regel der Prior wahrgenommen hatte (GStAB, I Rep. 76 III 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Bericht des Klosters Loccum über die externe Verwaltung des Klosters, 4. 10. 1875, Pkt. 36). – Auf den Protest des Klosters, dass es bei Einführung der Kreisordnung nicht berücksichtigt worden sei, hatte der Innenminister auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Kreisversammlung (Kreistag) dem Kloster einen Sitz einräumen könne; dies wurde von der Kreisversammlung abgelehnt. (Ebd.)

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die Bildung eines hannoverschen Provinziallandtags empfohlen, waren aber gegenüber der hannoverschen Kirchenverwaltung sehr skeptisch und hatten der Landeskirche und ihren Konsistorien keine besonderen Rechte zusichern wollen.22 So sind hier Schritte zur Trennung von Staat und Kirche zu erkennen, konkret hieß das: Im Geschäftsbereich des Innenministeriums war man an einer Einbindung des Klosters in die Kommunalverfassung nicht weiter interessiert. 1.2

Die Nachfolge des Abts

Schon bald nach der Annexion bemühte sich der regierende Abt Friedrich Rupstein um einen Koadjutor.23 Er war häufig krank und vermied seit 1868 alle Reisen, er fuhr nicht einmal mehr nach Loccum. So wünschte er sich einen tatkräftigen Koadjutor, doch zu einer solchen Wahl war vorher die Zustimmung des Kultusministeriums einzuholen. 1831 war verbindlich geregelt worden, dass die Kandidatenliste vor der Abtswahl dem Ministerium einzureichen war, damit der Minister die Kandidaten vom Wahlzettel streichen konnte, die ihm nicht genehm waren.24 Doch der Abt erhielt auf seinen Antrag keine Antwort. Intern wurde beschlossen, zunächst das Verhalten der potentiellen Kandidaten auf der bevorstehenden ersten Landessynode abzuwarten, denn die Kandidaten, die auf der Wahlliste standen, galten als strenge Lutheraner und damit als potentielle Gegner der preußischen Union.25 Als die Theologen der Landeskirche, die vom Abt als wählbar bezeichnet worden waren, auf der Landessynode 1869 den Antrag unterstützten, beim preußischen König die Unabhängigkeit des Landeskonsistoriums vom Kultusministerium zu beantragen,26 schreckte der Mi22 Die Führer dieser Gruppe, Miquel und Rudolf v. Bennigsen, hatten sich vor 1866 bei den oppositionellen Liberalen engagiert; vgl. Hans Otte: Theologischer Liberalismus. Die Celler Konferenzen von 1862/63 und ihr Umfeld, in: JGNKG 106 (2008), S. 55 – 80. – Zur Skepsis gegenüber der Landeskirche in der Versammlung der Vertrauensleute vgl. Barmeyer (wie Anm. 10), S. 495 ff. 23 GStAB, I Rep. 76 III 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Kloster Loccum (Abt, Prior und Konvent) an den Oberpräsidenten in Hannover, 31. 7. 1868. 24 Zu den Grundzügen der künftigen Verfassung des Klosters von 1831 und deren Vorgeschichte vgl. Kruse (wie Anm. 1), S. 240 ff. 25 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Abt, Prior an Kultusminister v. Mühler, 11. 11. 1868: Genannt wurden aus Hannover die Oberkonsistorialräte Twele, Uhlhorn und Düsterdieck, aus Leipzig Professor Bruno Brückner. Ein Jahr später wagte Rupstein einen neuen Vorstoß beim Minister, angesichts der schwierigen kirchenpolitischen Situation sei die Wahl eines Koadjutors die beste Lösung. GStAB, I Rep 92 Mühler V Nr. 5: Rupstein an v. Mühler, 25. 8. 1869. – Brückner wurde später Propst in Berlin und war zuletzt Vizepräsident des Evangelischen Oberkirchenrats. 26 Bis zum Ende der Monarchie wurden die sog. Brüelschen Anträge, die dem Landeskonsistorium eine Immediatstellung zum König verschaffen wollten, immer wieder vom Ministerium abgelehnt; vgl. Jürgen Uhlhorn: 100 Jahre hannoversches Landeskonsistorium, in: JGNKG 64 (1966), S. 31 f.; Rädisch (wie Anm. 4), S. 70 f.; 83 ff.

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nister zurück. Der Antrag aus Loccum wurde einfach zu den Akten gegeben, kirchenpolitisch war es leichter, wenn Rupstein weiterhin allein das Kloster vertrat. Der stets verbindliche Rupstein war persona grata im Kultusministerium, er hatte sich stets als Vermittler zwischen den strengen Lutheranern und dem Kultusministerium verstanden,27 und wurde so auch vom Oberpräsidenten als höchstem Verwaltungsbeamten in der Provinz geschätzt. So erhielt er, der schon die höchste Ordensstufe des Guelphenordens besaß, anläßlich seines 50jährigen Dienstjubiläums die für bürgerliche Beamte höchste Ordensstufe, den preußischen Roten Adlerorden Erster Klasse.28 1.3

Die Klostervisitation und ihre Folgen

1875 wagte Rupstein einen neuen Vorstoß, er bat erneut um die Genehmigung zur Wahl eines Koadjutors. Im Ministerium war inzwischen deutlich geworden, dass man von Loccum zu wenig wusste; bei Anfragen hatte man sich mit kurzfristig eingeholten Auskünften beholfen. Als der Konvent 1871 beantragte, das Gehalt des Konventualstudiendirektors und des Priors zu erhöhen, hatte sich das Ministerium beim Abt erkundigen müssen, wie hoch überhaupt die Einnahmen des Klosters seien;29 auf die Versicherung des Abts, dass man im laufenden Jahr mit einem Überschuss von mehr als 5000 Talern rechne,30 wurde die Gehaltserhöhung sofort genehmigt. Inzwischen wurde aber auch in der Öffentlichkeit über die Zukunft der hannoverschen Klöster diskutiert, vom Kloster Loccum behauptete man, es bilde mit dem Predigerseminar einen Hort der welfischen Reaktion.31 Angesichts des Zwiespalts – einerseits gab es den preu27 Auf der ersten Landessynode (1869) war Rupstein einer der wenigen führenden Geistlichen, die den Brüelschen Anträgen widersprochen hatten; vgl. Rädisch (wie Anm. 4), S. 96. 28 Zur Begründung hatte der Oberpräsident geschrieben: … Seinem milden, jeder Schroffheit und Excentricität abgeneigten Wesen ist es gelungen, bei den Bewegungen, welche auf dem kirchlichen Gebiete im vormaligen Königreiche Hannover stattgefunden haben, vielfach mildernd und versöhnend zu wirken und wenn ihm dies in neuerer Zeit weniger möglich geworden ist, so ist der Grund allein in seiner abnehmenden Kraft, nicht aber in veränderten Anschauungen zu finden. … In politischer Beziehung hat er nicht nur keinen Anstoß erregt, sondern in jeder Beziehung eine correcte und würdige Haltung gezeigt. Ewer Excellenz geneigter Erwägung gestatte ich mir schließlich zu unterstellen, ob für den Abt Dr. Rupstein mit Rücksicht auf seine hervorragende Stellung, die hier stets der eines Bischofs der katholischen Kirche gleichstehend betrachtet worden ist, und die ihm auch denselben Rang verleiht, nicht die Verleihung des Rothen Adler Ordens Erster Klasse zu beantragen sein möchte. Ich gestatte mir, dies dringend zu befürworten. (GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Oberpräsident Graf Stolberg an Kultusministerium, 1. 8. 1870). 29 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Kultusministerium an den Abt von Loccum, 28. 5. 1873. 30 Ebd.: Abt Rupstein an Kultusministerium, 13. 6. 1873. 31 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Anonymus (Einer der Loccum kennt) an Kultusministerium, 2. 5. 1873: Einer der größten Schäden für die Hannoverschen Geistlichen

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ßenfreundlichen Abt, andererseits die Behauptung der welfischen Umtriebe – wollte man Näheres wissen, außerdem war zu prüfen, ob das vorhandene Vermögen angemessen – preußisch sparsam – verwaltet wurde. Damit wurde nun der beste Kenner der hannoverschen Verhältnisse im Kultusministerium beauftragt, der Geheime Oberregierungsrat Barkhausen, der zur gleichen Zeit ein Gutachten über den Hannoverschen Klosterfonds erarbeitete.32 Nach einem ersten Besuch Barkhausens beim Abt erhielt das Kloster einen Katalog mit mehr als 30 detaillierten Fragen zum Besitz, zur Verwaltung und zu seinem rechtlichen Status.33 Auf dieses Schreiben antwortete Rupstein auf seine Weise, er wiederholte schlicht seine Bitte um Genehmigung zur Wahl eines Koadjutors;34 ein Vierteljahr später reichte er dann doch einen Bericht ein.35 Die Grundhaltung wurde sofort deutlich, denn in der Einleitung wurde erklärt, dass das Kloster in seiner langen Geschichte Visitationen stets habe abwehren können; nur 1824 und eingehender noch während einer Sedisvacanz innerhalb der Jahre 1830/31 [ist] nach Allerhöchster Bestimmung eine commissarische Untersuchung der Verhältnisse des Klosters Loccum eingetreten.36 Damals habe die Regierung im Reskript vom 6. Juni 1831 die noch heute geltenden Grundzüge der Klosterverfassung festgelegt, und auf dieser Grundlage hoffe es nun auch, dass die höchste Oberaufsicht die Selbständigkeit der ehrwürdigen Institution, deren Segnungen wir so lange erfuhren, nicht beseitigen, deren Wirksamkeit für weitere Kreise vielmehr gnädig wahren und fördern wollen.37 Die Wünsche von Abt, Prior und

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33 34 35 36 37

ist die Institution der sog. höheren oder weiteren Ausbildung derselben im Kloster Loccum bei Wunstorf. Es ist wohl ohne Frage, dass nirgends angehenden Geistlichen systematischer eine Antipathie gegen alles, was Preußen heißt und aus Preußen kommt, eingeimpft wird, als gerade in Loccum. – Vgl. auch die »Berliner Bürgerzeitung« vom 3. 6. 1876 (wie Anm. 39). Friedrich Wilhelm Barkhausen (1831 – 1903), war 1869 Direktor des Konsistoriums in Stade geworden, wechselte 1873 in das preußische Kultusministerium, wurde 1881 Leiter der Geistlichen Abteilung und war zuletzt 1891 – 1903 Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin. Seit 1875 war er Referent für das Volksschulwesen, das in jenen Jahren mit einer Fülle von Gesetzen in liberalem Sinne umgestaltet wurde; vgl. Erich Förster : Adalbert Falk. Sein Leben und Wirken, Gotha 1927, S. 346. – Zur gleichzeitigen Ausarbeitung der sog. Falkschen Denkschrift, die für das preußische Abgeordnetenhaus die Entstehung, den rechtlichen Charakter und den Umfang der Verbindlichkeiten des Hannoverschen Klosterfonds darlegte, vgl. Manfred von Boetticher : Der braunschweigische ›Vereinige Klosterund Studienfonds‹ und der ›Allgemeine Hannoversche Klosterfonds‹. Eine Gegenüberstellung, in: Hans Otte (Hrsg.): Evangelisches Klosterleben. Studien zur Geschichte der evangelischen Klöster und Stifte in Niedersachsen, Göttingen 2012, S.78 ff. GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Kultusministerium an Kloster, 13. 7. 1875. – Zum Folgenden vgl. Kruse (wie Anm. 1), S. 246 ff. Ebd.: Kloster an Kultusministerium, 17. 8. 1875. – Zu den Überlegungen Rupsteins vgl. Kruse (wie Anm. 1), S. 246 f. Ebd.: Kloster Loccum an Kultusministerium, 4. 10. 1875. Ebd. Ebd.

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Konvent waren eindeutig: Der König sollte die Selbständigkeit des Klosters beachten. Angesichts der Überlastung Barkhausens – er war Spitzenbeamter des Kultusministeriums, der mehrfach um Verschiebung der Loccumer Visitation bitten musste –38 kam erst nach Rupsteins Tod die seit langem angekündigte Visitation zustande.39 Damit wurde die Verantwortung für Barkhausen nur größer, schließlich hatte der Konvent nur noch zwei Mitglieder, was auch wieder zu Spekulationen in der Öffentlichkeit führte.40 Aber Barkhausen orientierte sich an der politischen Vorgabe, die althannoverschen Einrichtungen zu schonen. So ging er anscheinend selbstverständlich davon aus, dass die 1831 erlassenen Grundzüge der künftigen Verfassung des Klosters weiterhin galten.41 Das bedeutete den Erhalt der Unabhängigkeit des Klosters und seiner zentralen Institutionen. Bei der Prüfung vor Ort beschränkte er sich auf die äußere Verwaltung; auf Forderungen, nun rasch eine theologische und kirchenpolitische 38 In der welfischen Tagespresse wurde spekuliert, das Ministerium wolle einfach den Tod Rupsteins abwarten, um das Kloster ›ohne Haupt‹ leichter reorganisieren zu können. Aus den Ministerialakten ergibt sich aber, dass Barkhausen schlicht überlastet war und immer wieder die notwendigen Reisen nach Hannover verschieben musste. 39 Im Juni 1876 wurde Rupsteins schwere Erkrankung in der Öffentlichkeit bekannt. In einer Berliner Zeitung hieß es dazu: Sollte der Tod [Rupsteins] eintreten, dann wird es des Ministers Dr. Falk Aufgabe sein, endlich einmal in die hannov[ersche] Kirchenregierung einen einflussreichen, aber auch liberalen Geistlichen zu setzen, der dem Landeskonsistorium und dem Kloster Loccum, der Bildungsstätte der welfisch-orthodoxen Geistlichkeit, eine verständige Richtung zu geben im Stande ist. (Berliner Bürgerzeitung, 3.6. 1876). 40 Die »Hannoversche Pastoralkorrespondenz« begleitete vom orthodox-hannoverschen Standpunkt aus die Visitation und später die Wahl des Abts mit großem Misstrauen. Für die öffentliche Meinung typisch war der Bericht im »Hamburgischen Correspondent«: Seit dem vor einigen Tagen erfolgten Tode des verdienstvollen und würdigen Abts von L. Friedrich Rupstein, wird die Frage der Wiederbesetzung dieser Stelle vielfach ventiliert. Der Abt zu Loccum ist der höchste Würdenträger in der hannoverschen Landeskirche. Sein äußerer Rang documentirt sich unter Anderem dadurch, dass er bei amtlichen Erlassen sich, gleich wie die regierenden Fürsten, nur seines Vornamens bedient. … Ob die preußische Regierung dem Convente ein … Präsentationsrecht [für den Abt] einräumen wird, muß um so mehr dahin gestellt werden, als einmal das Recht sich nur auf einen Gebrauch stützt, und sodann der Convent nur noch aus zwei Personen besteht; denselben einen so gewichtigen Einfluß auf die Besetzung der ersten Kirchenwürde einzuräumen, möchte nicht unbegründeten Bedenken unterliegen. … In der preußischen Union, welcher bekanntlich der Charakter einer Consensus-Union abgeht, besteht auch das lutherische Bekenntniß zu Recht, und es wird deshalb einem altpreußischen Geistlichen die Qualification zur Bekleidung einer geistlichen Stelle in der hannoverschen Landeskirche an und für sich nicht abzusprechen werden können. Wir hoffen übrigens, dass die Staatsregierung auf die Wünsche der letzteren billige Rücksicht nimmt und einen hannoverschen Geistlichen zu dieser wichtigen Stelle beruft, der in der hannoverschen Landeskirche groß geworden ist und, ohne sich auf den bekannten schroffen Standpunkt des Landes-Consistoriums zu stellen, die Rechte desselben mit Milde und Toleranz gegen die verwandten Bekenntnisse vertritt. (Hamb[urgischer] Correspondent, Nr. 243, 24. 10. 1877). 41 Zu den Grundzügen vgl. Kruse (wie Anm. 1), S. 242 f.

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Richtungsänderung im Konvent und im Hospiz durchzusetzen, ging er nicht ein.42 Barkhausen war allerdings über die lockere Form der Vermögensverwaltung entsetzt: Es fehlte ein Verzeichnis der Wertpapiere (Depositenbuch), in der Wohnung des Stiftseinnehmers lagerten ohne weitere Sicherung Wertpapiere von mehr als 100.000 Mark.43 Barkhausen sah zwei Kernprobleme: die Konzentration aller Leitungsaufgaben auf den Abt und vor Ort die mangelnde Aufsicht durch den Prior.44 Deshalb empfahl er, den Konvent zu vergrößern und in seinen Rechten gegenüber dem Abt zu stärken: Der innere Grund für die Beibehaltung des Klosters als Corporation liegt doch nur in seiner Stellung als Curatorium des Predigerseminars. Also gehören Männer von hervorragender Orientierung in weltlicher oder kirchlicher Stellung hinein.45 Zusätzlich sollte ein Jurist als Vertrauensmann des Kultusministers aufgenommen werden.46 Damit sollte einerseits die überkommene Freiheit des Klosters – natürlich im Rahmen der Kirchen- und Klosterverfassung – bewahrt bleiben, so dass das Ministerium künftig von Einzelanträgen aus Loccum verschont blieb,47 andererseits sollte aber die Kirchenregierung, letztlich das Kultusministerium, das den König als ›Summus episcopus‹ der evangelischen Kirche vertrat, den nötigen Einfluss im 42 Die Visitation des »Hospizes« beschränkte sich darauf, für die Ministerialakten das Regulativ für die Lebensweise der Hospites und ihre Studienordnung aufzunehmen und zum Essen zu notieren: Die Zahl der Gerichte für einen bürgerlichen Tisch als zu groß, während die Zubereitung der Speisen nach Angabe des Herrn Priors zuweilen zu wünschen übrig lässt. (GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Notatum [Barkhausen], 9.–15. 8. 1877, Pkt. 12). – Für die Mahlzeiten war ein eigener Speisemeister angestellt; am Mittagstisch nahmen auch der Prior und der Gutsverwalter teil. 43 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Notatum [Barkhausen], 9.–15. 8. 1877, Pkt. 8. 44 Ebd.: Zur inneren Ordnung bemerke ich, dass m[eines] u[nvorgreiflichen] D[afürhaltens] die bestehende der katholischen kirchlichen Auffassung entspringende Einrichtung, wonach der Abt alleiniger Gebieter tam in temporalibus quam in ecclesiasticis ist, unter ihm auch die anderen Conventsmitglieder in ihren Ressorts fast ganz unbeschränkt wirthschaften, mit dem Principe der evangelischen Kirche unverträglich ist und bei den augenfälligen Missständen, die sie im Gefolge gehabt hat, dem evangelischen Prinzip gemäß umzugestalten sein wird. – Vgl. dazu Friedrich Uhlhorn: Gerhard Uhlhorn, Abt zu Loccum. Ein Lebensbild, Stuttgart 1903, S. 200. 45 Ebd.: Bemerkungen Barkhausen zur Reinschrift des Protokolls der Verhandlungen mit dem Kloster. 46 In seinem Begleitbericht an den Minister formulierte Barkhausen als Maxime für die Neufassung der Conventsordnung: Ich bin bei derselben davon ausgegangen, dass es nothwendig sei, für alle wichtigeren, namentlich die dem unmittelbaren Zweck des Klosters betreffenden Angelegenheiten den ganzen Convent in Thätigkeit zu bringen und einem dem Convent beizuordnenden Curator, der gewissermaßen als Vertreter der Kirchenregierung angesehen wird, eine ähnliche (controlirende) Stellung zu gewähren, wie s.Z. auch für den KreisschulInspector in der Schuldeputation im Unterrichtsgesetz-Entwurfe geplant ist. (Ebd.: GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Barkhausen an Kultusminister Falk, 19. Okt 1877). 47 Das Ministerium behielt sich aber auch für die Zukunft die Revision der Klosterrechnungen und die Genehmigung von Landverkäufen vor; dies entsprach der auch sonst üblichen Aufsicht über Stiftungen im Land.

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Kloster behalten. Dafür schlug Barkhausen vor, bei der Wahl eines Abtes den Wahlmodus zu ändern: Künftig sollte der Minister dem Konvent eine Liste der wählbaren Kandidaten vorlegen, aus der der Konvent den Abt auswählte. Angesichts der Kritik an den reichen evangelischen Klöstern in der Provinz Hannover, über die im preußischen Abgeordnetenhaus schon diskutiert worden war, und dem Bestreben des Finanzministers, auf dieses Vermögen zugreifen zu können,48 sah Barkhausen nur dann die Möglichkeit, dem Kloster Loccum die (relative) Selbständigkeit zu erhalten, wenn ein enges Einvernehmen mit dem Kultusminister gesichert war. Die Berufung eines Kurators durch den König sicherte den Einfluss der Regierung, gleichzeitig blieb die Handlungsfreiheit des Konvents mit dem Kurator als Mitglied gewahrt. Barkhausen wollte keinen Bruch mit der bisherigen Klosterverfassung, daher reiste er kurz vor Weihnachten 1877 noch einmal nach Loccum und ließ die beiden Konventualen über Änderungen und Zusätze zu den Grundzügen der Verfassung des Klosters Loccum abstimmen, die er ihnen vorlegte.49 Ob diese einen Chance hatten, dem Vorschlag aus Berlin zu widersprechen, kann man bezweifeln; dies Verfahren hatte aber den Vorteil, dass der Konvent als Subjekt der Veränderungen auftrat, er war kein bloßes Objekt der Reformen, die der Minister angeordnet hatte, vielmehr beachtete dieses Verfahren die Selbständigkeit (Freiheit) des Klosters. Gleichzeitig bedeutete die Annahme der neuen Kirchenverfassung das Ende der bisherigen Form des Priorats. Der Prior war bis dahin der erste Repräsentant des Klosters vor Ort in Loccum gewesen und hatte die Vermögensverwaltung überwacht;50 diese Aufgabe verlor er nun. Tatsächlich wurde nach dem Tode Königs für mehr als 60 Jahre kein neuer Prior mehr berufen.51 Als die Arbeiten soweit abgeschlossen waren, wurden dem hannoverschen Landeskonsistorium der Bericht über die Visitation und Barkhausens Vorschläge für die Änderung der Klosterverfassung mit der Bitte um Stellungnahme übersandt. Offensichtlich sollte die Reform nach allen Seiten hin abgesichert 48 Vgl. v. Boetticher (wie Anm. 32), S. 76 ff. 49 Landeskirchliches Archiv Hannover (i.F.: LkAH), Best. A 5 Nr. 590: Protokoll über die Conventssitzung am 15. 12. 1877; Anlage zum Protokoll: Änderungen und Zusätze zu den Grundzügen der Verfassung des Klosters Loccum. 50 Bei der Verhandlung Barkhausens mit Prior König und Konventualstudiendirektor Schuster hatte König sofort erkannt, dass Barkhausens Vorschläge auf ein Ende seines Priorats hinausliefen. Er protestierte; Barkhausen protokollierte aus dem Gespräch mit dem Prior : Es ist von Alters her die Stelle des Priors eine besonders bevorzugte gewesen; derselbe sei von Alters her in allen Urkunden stets besonders mit genannt und werde daher gebeten, ausdrücklich zu erwähnen, dass der Convent des Klosters aus Abt, Prior und Konvent bestehe. (GStAB, I HA Rep 76 III Sekt 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Notatum Loccum, 12. 8. 1877). 51 Erst 1950 wurde mit Paul Fleisch ein neuer Prior berufen. Angesichts der Verdienste von Fleisch um die Sicherung des Klosterbestandes nach 1918 war diese Berufung gewiss berechtigt.

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werden, denn rechtlich war der Minister nicht verpflichtet, das Landeskonsistorium bei dieser Frage zu beteiligen. Die Antwort auf die Anfrage konzipierte Karl Lichtenberg, der Präsident des Landeskonsistoriums selbst.52 Grundsätzlich stimmte er den Reformvorschlägen zu, allerdings wünschte er Präzisierung des Aufsichtsrechts des Landeskonsistoriums gegenüber dem Kloster und klare Festlegung des Bekenntnisstands der Angehörigen des Klosters. Vehementen Widerstand kündigte er aber gegen die neuen Bestimmungen zur Abtswahl an. Würden die Vorschläge des Ministeriums umgesetzt, so würde das ganze Wahlrecht des Klosters zu einem völlig illusorischen.53 Angesichts dieser deutlichen Kritik aus Hannover schreckt man in Berlin vor der geplanten Änderung der Wahlbestimmungen zurück. Der seit 1831 geltende Wahlmodus für den Abt und die Konventualen wurde nicht verändert. In dem Immediatbericht an den König, der die neue Klosterverfassung durch seine Unterschrift in Kraft setzen musste, wies Barkhausen darauf hin, dass er darauf verzichtet habe, dem Kultusministerium größeren Einfluss bei der Auswahl der Kandidaten einzuräumen; andernfalls, bei einem direkten Eingriff in das Wahlverfahren, sei zu befürchten, dass dieser Umstand von übelwollender Seite dazu benutzt würde, um das Vertrauen, welches die theologische Bildungsanstalt des Klosters in den geistlichen Kreisen der Provinz genießt, zu erschüttern.54 Das Predigerseminar galt als Kern der gesamten Existenz des Klosters. Dagegen wurde der Wunsch des Landeskonsistoriums, seine Rechte gegenüber dem Konvent und dem Predigerseminar (Hospiz) eindeutig festzulegen, nicht berücksichtigt, hier blieb es bei der unklaren Situation.55

52 Kruse (wie Anm. 1), S. 250 Anm. 44a, vermutet, dass Uhlhorn bei der Antwort des Landeskonsistoriums mitgearbeitet habe. Tatsächlich enthält die im Landeskirchlichen Archiv aufbewahrte Akte des Landeskonsistoriums Lichtenbergs Konzept mit Korrekturen von Uhlhorn. 53 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Landeskonsistorium an Kultusministerium, 12 Febr1878; Konzept im LkAH, Best. A 5 Nr. 590. – Einzelheiten bei Kruse (wie Anm. 1), S. 249 f. 54 GStAB, I Rep 76 III Sekt. 21 Abt 19 Nr. 1 Bd. 1: Immediatbericht vom 19. 3. 1878. 55 Im Bericht an den Minister hatte Barkhausen darauf hingewiesen, dass ich von einer Betheiligung der hannoverschen Consistorialbehörden bei der Beaufsichtigung … Abstand genommen habe, weil dieselbe bei der gegenwärtigen Organisation und Besetzung derselben nicht ohne Bedenken sein würde. Die Heranziehung einer anderen (staatlichen) Behörde würde aber den Charakter der kirchlichen Oberaufsicht verwischen … (Ebd.: wie Anm. 54). – Das Verhältnis des Landeskonsistoriums zum Kloster soll erst später geklärt werden, wenn die Stellen, namentlich die des Abts, der regelmäßig dem Landeskonsistorium angehört hat und voraussichtlich auch demnächst demselben angehören dürfte, wieder besetzt sind. (Ebd.: 1878 März 19 Immediatbericht des Ministers an den König, 19. 3. 1878 [Konzept Barkhausen]), am 10. 4. 1878 genehmigte der König die Änderungen und Zusätze zu den Grundzügen der Verfassung vom 6. 6. 1831. (Ebd.)

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1.4

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Der Kurator und der Abt

Nachdem der König endlich die erweiterte Klosterverfassung bestätigt hatte, war die Neuwahl des Abts möglich. Zuvor hatte Barkhausen aber seine Funktion im Kloster absichern lassen. Er trat in den Konvent als Kurator ein, gleichzeitig wurden zwei neue Konventualen gewählt;56 in der folgenden Sitzung wurde dann gegen die Stimme des Priors, der dadurch entmachtet wurde, eine neue Konventsordnung beschlossen. Nachdem der Einspruch des Priors gegen die neue Konventsordnung vom Ministerium zurückgewiesen worden war, erließ der Minister zusätzlich eine Verwaltungsanordnung,57 die die neue Konventsordnung ergänzte und den Geschäftsbereich des Kurators umschrieb. An diesem Erlass wurde der Konvent nicht beteiligt, hier handelte der Kultusminister für die Kirchenregierung unmittelbar im Rahmen der Vermögensaufsicht; der Kurator, dessen Tätigkeit beschrieben wurde, war ja sein Vertrauensmann. Erst als dieser Erlass vorlag, wurde der Abt gewählt – einstimmig fiel die Wahl auf Gerhard Uhlhorn,58 der schon zehn Jahre zuvor von Rupstein und dem alten Konvent als einer der Kandidaten für das Amt des Koadjutors vorgeschlagen worden war. Aber jetzt gab es für den Abt einen anderen Handlungsrahmen, er war der Vorsitzende des Klosterkonvents, nicht mehr wie früher der regierende Abt, der ohne nähere Kontrolle durch den Konvent oder das Ministerium agieren konnte. Die Stellung des Abts neben dem Kurator wurde auch nach außen hin deutlich, wenn man die Symbolik der Monarchie kannte: Anders als sein Vorgänger und anders als Barkhausen, der persönlich in das preußische Herrenhaus berufen wurde, erhielt Uhlhorn keinen Sitz mehr im Herrenhaus. Rupstein hatte in seiner langen Regierungszeit (seit 1831) die dem Kloster zustehenden ständischen Rechte selbstverständlich und souverän wahrgenommen;59 inzwischen hatten die preußischen Kommunalreformen die meisten ständischen Vorrechte des Klosters beseitigt. Die äußere Verwaltung führte nun der Kurator, dies Amt 56 Die beiden neuen Konventualen waren persona grata im Kultusministerium; der eine war Karl Guden (1833 – 1912), 1872 – 1890 Superintendent in Uslar, dann Oberkonsistorialrat im Landeskonsistorium, der als Vertrauensmann der Regierung galt; vgl. unten Anm. 72; der andere war der Göttinger Neutestamentler August Wiesinger. 57 Die Verwaltungsordnung wurde am 8. 6. 1878 erlassen (HStAH, Hann. 122a XVII 4168: Kultusministerium an Oberpräsident, 8. 6. 1878). 58 Die Wahl erfolgte am 18. Juni 1878. 59 Typisch ist dafür die Anekdote von König Ernst August und Rupstein, der als Standesherr das Recht hatte, vierspännig zu fahren. Als Ernst August von seinem Fenster aus sah, dass Rupstein in der Kutsche mit zwei Pferden vorgefahren war, ließ er diesem ausrichten, er habe keinen Abt von Loccum vorfahren sehen. Dem Abt blieb nichts weiter übrig, als zunächst einmal umzukehren und statt mit zwei mit vier Pferden zurückzukommen. (Nach Wilhelm Rothert: Allgemeine hannoversche Biographie, Bd. 3, Hannover 1916, S. 385, in: Ernst Berneburg/Horst Hirschler [Hrsg.]: Geschichten aus dem Kloster Loccum, Hannover 1980, S. 97).

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nahm Barkhausen seit seiner Ernennung (1878) tatkräftig war, wobei er die Möglichkeiten seines Ministeriums nutzte.60 Er zögerte nicht, preußische Perspektiven, die über den traditionellen Rahmen Hannovers hinausgingen, für ›sein‹ Kloster zu nutzen. Als das Kultusministerium die Förderung von Künstlern propagierte, um das größer gewordene neue Deutschland zu schmücken, nahm Barkhausen eine Anregung der preußischen Landeskunstkommission auf und vermittelte den im Rheinland tätigen Maler Eduard v. Gebhardt an das Kloster. Von Gebhardt gegenüber war Uhlhorn zunächst skeptisch, ließ sich dann aber, nach einem Besuch v. Gebhardts im Kloster, umstimmen, so dass v. Gebhardt dann den Auftrag zur monumentalen Ausmaldung des ehemaligen Laienrefektoriums erhielt.61 Grundsätzlich war Barkhausen entschlossen, die Finanzen des Klosters besser auszunutzen, unrentable Güter wurden abgestoßen und neue Forsten erworben. Am spektakulärsten waren Bau und Betrieb des Hospizes auf der Insel Langeoog. Nach Barkhausens Berechnung sollte sich das Hospiz nach einer Anschubfinanzierung selber tragen, das gelang aber nicht.62 Die Verwendung von Geldern des Klosters für ein solches Unternehmen, das auf den ersten Blick überhaupt keine Beziehung zum Kloster und zum Predigerseminar hatte, rechtfertige Barkhausen mit dem Zweck, zur Erholung in frischer Seeluft ein Hospiz mit christlicher Hausordnung für Geistliche, Lehrer, Beamte etc zu betreiben.63 Barkhausen wollte die Überschüsse des Klosters, die nicht für das Predigerseminar verwendet wurden, für allgemein kirchliche Zwecke verwenden, in dieser Perspektive war auch der Betrieb des Hospizes in Langeoog möglich. Wie bei jeder soliden Stiftung galt aber ihm die Vermögenssubstanz als unantastbar, alle überflüssigen Mittel werden für gemeinnützige Zwecke verwendet.64 War der Kurator bereit, die Ausmalung des Laienrefektoriums zu finanzieren, so schreckte er nicht davor zurück, in die historische Substanz des Klosters einzugreifen, wenn sie für ihn nicht zur Zweckbestimmung des Klosters gehörte und ihr Erhalt nur das Vermögen schmälerte. Am spektakulärsten war wohl der Vorschlag, den Loccumer Hof in Hannover zu verkaufen. Der Loccumer Hof war 60 Barkhausen beauftragte fähige junge Juristen kommissionsweise mit der Erledigung der laufenden Verwaltungsarbeit im Kloster ; vgl. Schultzen (wie Anm. 19), S. 213. – Einige von diesen machten später Karriere in der Kultusbürokratie. 61 Die Ausmalung des Laienrefektoriums wurde durch Zuschüsse des Kultusministeriums unterstützt; vgl. Uhlhorn (wie Anm. 44), S. 270. – Zum Gesamtprojekt vgl. Ekkehard Mai: Eduard v. Gebhardt und die Wandmalereien in Loccum, in: Geschichten (wie Anm. 59), S. 118 – 126. 62 Vgl. Schultzen (wie Anm. 19), S. 210. – Nach der Inflationszeit wurde auf Drängen des damaligen Kurators Lohmann das Seebad Langeoog abgestoßen. 63 Ernst Berneburg: Das Loccum Hospiz auf Langeoog, in: Geschichten (wie Anm. 59), S. 130. – Dort auch das Zitat. 64 Schultzen (wie Anm. 19), S. 213.

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1224 erworben worden, um die landwirtschaftlichen Produkte des Klosters günstig lagern und verkaufen zu können.65 Nach der Reformation, als das Kloster ein Landstand des Fürstentums Calenberg geworden war, war der Loccumer Hof nach und nach zu einer dauerhaften Wohnung für den Abt ausgebaut worden; wie andere Standesherren besaß der Abt nun eine repräsentative Residenz in der Stadt. Zu Beginn von Rupsteins Regierungszeit war die Anlage von G. L. Fr. Laves mit einer Auffahrt und Blumenrabatten umgebaut worden, doch war das Gebäude in dessen letzten Jahren nicht mehr recht gepflegt worden. Aus diesem Grunde hatte Barkhausen gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in § 16 der Verwaltungsordnung festschreiben lassen: Der Loccumer Hof zu Hannover sowie dem Kloster gehörige einzeln belegene Gärten und sonstige Ländereien (Streuparzellen) sind bei sich bietender Gelegenheit sowie beim Ablauf der Verpachtung … zum Verkauf zu kommen.66 Seitdem wurde die Frage nach einem Verkauf des Gebäudekomplexes immer wieder gestellt, wenn Reparaturen anstanden,67 doch erwiesen sich dann die Reparaturen jedesmal als wirtschaftlicher als der Verkauf des Geländes und Erwerb einer anderen Dienstwohnung für den Abt. Als sich nach dem Ende der wirtschaftlichen Depression, die der ›Gründerzeit‹ gefolgt war, ein neuer Wirtschaftsaufschwung abzeichnete, stellte Barkhausen im Konvent die Frage nach dem Verkauf des Loccumer Hofs neu, denn inzwischen stiegen die Grundstückspreise im prosperierenden Hannover so stark, dass sich ein Verkauf des Geländes an der Osterstraße lohnte. In der eigens dafür angesetzten Konventssitzung setzte sich Barkhausen mit drei zu zwei Stimmen durch, weil er seinen ersten Antrag auf Verkauf des Geländes dahin modifiziert hatte, dass der Gebäudekomplex nur dann zu verkaufen war, wenn dafür mehr 800.000 Mark erlöst werden konnten. Der Beschluss war gegen die Stimme Uhlhorns gefasst worden. Obwohl er kein formales Recht zur Beanstandung des Beschlusses hatte, beschwerte sich Uhlhorn beim Kultusminister und bat, den § 16 der Verwaltungsordnung außer Kraft zu setzen, so dass es dem Konvent überlassen [blieb], über den Verkauf des Loccumer Hofes zu beschließen, was er nach

65 Vgl. Hans Otte: Der Loccumer Hof – ein Stück Klostergeschichte in Hannover, in: Horst Hirschler / Ludolf Ulrich (Hrsg.): Kloster Loccum. Geschichten, Hannover 2012, S. 190 – 192. 66 HStAH, Hann. 122a XVII 4168 Bl. 40: Verwaltungsordnung vom 8. 6. 1878. 67 Aus dem Bericht Uhlhorns vom 6. 6.1900 (s. u. Anm. 68) ergibt sich, dass die Frage eines Verkaufs schon bei Uhlhorns Einzug in den Loccumer Hof geprüft worden war; ebenso fragte der Kultusminister 1891 beim Oberpräsidenten in Hannover an, ob es sich mit Rücksicht auf die im Prinzip bereits durch die Verwaltungsordnung des Klosters Loccum von 1878 festgestellte und nur wegen nicht genügend günstiger Konjunkturen einstweilen verschobene Veräußerung des Loccumer Hofes rechtfertigen lässt, die veranschlagten kostspieligen Reparaturen zur Ausführung zu bringen. Das Gutachten des Regierungsbaumeisters ergab dann, dass angesichts der niedrigen Grundstückspreise ein Verkauf nicht sinnvoll war. (Hann. 122a XVII 4168, Bl. 59: Kultusminister an Oberpräsidenten, 29. 1. 1891).

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der gegenwärtigen Lage des Klosters für das Beste hält.68 In seiner Begründung für die Bitte wies Uhlhorn darauf hin, dass man seinerzeit bei Rupsteins Tod vermutet hatte, dass der Loccumer Hof nur mit kostspieligen Reparaturen zu erhalten sei; deshalb sei damals die Verkaufsanordnung in die vom Ministerium schon erlassene Verwaltungsordnung aufgenommen worden, die mir bei meiner Wahl zur Kenntnis gebracht wurde und die ich durch Annahme der Wahl als für mich bindend anerkannt habe. Für Barkhausen und die Mehrheit im Konvent war die Vorstellung verlockend, die Vermögenslage des Klosters, die in den letzten Jahren sich ungünstiger zu gestalten schien, … durch den Verkauf … zu verbessern. Auch Uhlhorn war bereit, den Loccumer Hof zu opfern, wenn die Vermögenslage des Klosters tatsächlich schwierig wäre. Aber so ist es nicht, vielmehr ist gerade das Gegentheil der Fall. Der Ausfall der Einnahmen … ist überwunden, und die Vermögenslage des Klosters ist wieder eine günstige geworden. Die Rechnung des letzten Jahres hat mit einem Überschuss von 20.000 Mark abgeschlossen … In dieser Situation galten für Uhlhorn andere Überlegungen: Der Hof ist seit der Mitte des 13. Jahrhunderts im Besitz des Klosters und seit etwa 200 Jahren mit kurzen Unterbrechungen die Wohnung des Abtes. Sein Besitz ist mit der ganzen Geschichte des Klosters aufs engste verflochten. Soll denn nun ein so alter Besitz, an den sich so viel historische Erinnerungen knüpfen, veräußert werden lediglich eines Geldgewinnes wegen? Angesichts der guten Vermögenslage des Klosters haben solche »idealen Gesichtspunkte« ihr eigenes Gewicht: Wohl weiss ich, dass unsere Zeit nicht geneigt ist, solche Faktoren gegenüber den realen hoch anzuschlagen, aber ist es denn zu rechtfertigen, dass auch ein Institut wie unser Kloster sich von dieser Zeitströmung fortreissen lässt, hat es nicht vielmehr die Verpflichtung seinerseits im Gegentheil bei seinem Handeln die idealen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen? Soll man dem Kloster nachsagen, dass es seinen alten Besitz an den Meistbietenden losschlägt lediglich, um mehr Geld zu haben? Ja, stellt man nicht die ganze Existenz des Klosters in Frage, wenn solche Gesichtspunkte die maßgebenden werden, deren letzte Konsequenz die Aufhebung des Klosters selbst wäre. Für Uhlhorn war die im Kloster typische Verbindung von Tradition und gegenwärtiger Aufgabenstellung – Ausbildung der Kandidaten auf dem Weg ins Pfarramt – der Kern seiner Existenzberechtigung; sie ohne Not aufzulösen, wäre mutwillig. Deshalb widersetzte er sich dem Kurator und dem Antrag auf Verkauf des Loccumer Hofs und führte am Ende das Standardargument aller Hannoveraner an, die fürchteten, von der preußischen Verwaltung überfahren zu werden: Ja, ich darf nicht damit zurückhalten, dass es auch aus politischen Rücksichten bedenklich wäre, den Gegnern der K[öni]gl[ichen] Regierung die Möglichkeit zu gewähren, aus 68 HStAH, Hann. 122a XVII 4168, Bl. 67 f.: Der Abt zu Loccum an den Kultusminister, 6. 6. 1900. – Dort auch die folgenden Zitate.

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dieser Thatsache zu demonstriren, dass die althannoverschen Institutionen bei ihr nicht die einst zugesagte schonende Erhaltung finden. Dieses Argument wurde dann auch sofort vom hannoverschen Oberpräsidenten aufgenommen, der in seiner Stellungnahme zu Uhlhorns Beschwerde außerdem noch auf dessen Alter und Verdienste hinwies und hinzufügte, dass die Lage des Loccumer Hofs so attraktiv sei, dass man auch später jederzeit den Gebäudekomplex günstig verkaufen könne.69 Damit hatte der Kultusminister die nötigen Argumente, um Uhlhorns Wunsch entgegenzukommen; der Loccumer Hof brauchte nicht verkauft zu werden, erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der teilweisen Zerstörung der Gebäude wurde die Anlage verkauft.

1.5

Der Rang des Abts

Stärker als Rupstein, der als Abt vor allem den politischen und gesellschaftlichen Rang des Klosters nach außen verteidigte, wirkte Uhlhorn nach innen. Der Ausbau des Predigerseminars sollte die Zukunft des Klosters sichern. Rupstein hatte sich in seinen letzten Jahren kaum noch um das Predigerseminar kümmern können, das wurde jetzt anders. Uhlhorn nutzte sein Amt als Ausbildungsreferent im Landeskonsistorium, um das Vikariat als zweite Ausbildungsstufe für den Pfarrerberuf verpflichtend einzuführen. Er sah in seinem Kloster das Modell der guten kirchlichen Ausbildung.70 Nach dem Vorbild Loccums wurde das zweite Predigerseminar der Landeskirche, das sich in Hannover befand, von der Großstadt Hannover in die ländliche Einsamkeit der Erichsburg bei Einbeck verlegt. Um die dortige Ausbildung mit der in Loccum zu verschränken, wurden die Kuratoren des neu errichteten Predigerseminars auf der Erichsburg aus dem Loccumer Konvent ausgewählt. Die Konzentration auf die kirchlich-pädagogischen Aufgaben des Klosters entsprach auch dem Klosterverständnis Barkhausens; für diesen war die klösterliche Gemeinschaft … nicht mehr Selbstzweck, sondern ein vor allem zu kirchlichen Unterrichtszwecken bestimmtes organisches Gebilde.71 In diesem Sinn investierte Barkhausen mit Zustimmung des Konvents Gelder nicht nur in die Klostergebäude und den Seminarbetrieb, sondern auch in den Ausbau des Schulwesens: Das Kloster betrieb Alumnate (Schülerwohnheime mit Anschluss 69 Ebd.: Bl. 71: Oberpräsident an Kultusmin., 29. 8. 1900. 70 Seine Grundsätze präsentierte er in dem Vortrag: Die practische Vorbereitung der Candidaten der Theologie für das Pfarr- und Schulinspectoratsamt. Referat, gehalten auf der XVII. Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen in Eisenach, in: Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland 1886, S. 408 – 455; vgl. dazu Ernst Berneburg: Abt Uhlhorn, in: Geschichten (wie Anm. 59), S. 103 ff. 71 Barkhausen: Denkschrift über die Verwaltung des Klosters Loccum 1878 – 1903; zit. n. Schultzen (wie Anm. 19), S. 213.

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an ein Gymnasium) in Goslar und Hannoversch Münden. Uhlhorn konzentrierte sich auf die geistlichen Aufgaben des Abts und des Klosters, da ihm die äußere Verwaltung weithin abgenommen worden war. Selbstverständlich nahm Uhlhorn das Präsidium der Calenberg-Grubenhagenschen Landschaft wahr, aber das war nicht mehr mit der hervorragenden Stellung zu vergleichen, die Rupstein in der hannoverschen Zeit eingenommen hatte. So ist es verständlich, dass aus der Berliner Perspektive Uhlhorn in erster Linie als Oberkonsistorialrat wahrgenommen wurde, der wie die anderen Räte im Landeskonsistorium die Herabstufung zum Beamten IV. Klasse zu akzeptieren hatte. Die Rangminderung war zunächst wohl kaum aufgefallen, da der Kultusminister ja gestattet hatte, dass langjährig tätige Oberkonsistorialräte einen höheren Rang erhielten; die Rangfrage wurde erst zum Problem, als die Oberrechenkammer unterschiedliche Diäten der Oberkonsistorialräte beanstandet hatte.72 Als Otto Mejer, dem Präsidenten des Landeskonsistoriums, klar wurde, dass er in der weiteren Auseinandersetzung mit der Oberrechenkammer keine Unterstützung aus Berlin erhielt, entschied er sich für eine Vorwärtsstrategie: Für Uhlhorn und Düsterdieck, die schon lange Jahre dem Landeskonsistorium angehörten, beantragte Mejer eine Höherstufung ihres Dienstrangs. Für Düsterdieck wies er auf dessen wissenschaftliche Verdienste hin,73 bei Uhlhorn kam zu dessen wissenschaftlicher Bedeutung die Eigenschaft als Abt hinzu: Als Abt von Loccum hat er noch einen historischen Hintergrund in seiner Stellung, den ich nicht glaube unerwähnt lassen zu dürfen. Der Abt von Loccum war bis 1576 regierender Herr, hat sich damals der calenbergischen Landesherrschaft gegen Zusicherung seiner Privilegien unterworfen und ist als erster Prälat des Fürstenthums Vorsitzender der Landstände desselben seitdem geworden und bis heute geblieben.74 In Hannover besitzt er den Rang unmittelbar nach den Häuptern der Familien des ehemals regierenden Reichsadels und vor den katholischen Bischöfen des Landes; angesichts dieser hervorragenden Stel-

72 Um dem Generalsuperintendenten Karl Guden, der als Gegengewicht gegen die konfessionellen Lutheraner im Landeskonsistorium wirken sollte, den Eintritt in das Landeskonsistorium schmackhaft zu machen, war ihm zugesagt worden, dass er als Rat III. Klasse ›einrangiert‹ werde; das gab dem Präsidenten des Landeskonsistoriums die Möglichkeit, nun auch wieder einen höheren Rang für die langjährigen Räte Uhlhorn und Düsterdieck zu fordern (GStAB, I Rep. 76 III Sekt. 21 Abt. I Nr. 3 Bd. 5: Präsident des Landeskonsistoriums an Kultusministerium, 24. 6. 1890); zum Zusammenhang vgl. Rädisch (wie Anm. 4), S. 222 f. 73 Friedrich Düsterdieck (1822 – 1906) hatte sich an der Universität Göttingen im Neuen Testament habilitiert, war Konventualstudiendirektor in Loccum gewesen und war dann im Konsistorium bzw. im Landeskonsistorium tätig. Düsterdieck war auch Vorsitzender der Kommission der deutschen Bibelgesellschaften, die eine gemeinsame Revision der Lutherbibel erarbeiteten. 74 GStAB, I Rep. 76 III Sekt. 21 Abt. 1 Nr. 3 Bd. 5: Präsident Mejer an Kultusministerium, 24. 6. 1890.

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lung bat Mejer darum, Uhlhorn nicht nur den Rang eines Rats III. Klasse, sondern gleich den eines Rats II. Klasse zuzuerkennen. Der Kultusminister war aber nicht bereit, Uhlhorn sofort zwei Rangstufen höher einzustufen; schon zuvor hatte es wiederholt Auseinandersetzungen zwischen dem Kultusminister und dem Finanzminister über die Einstufung von Mitarbeitern im Kulturbereich gegeben.75 Er bat also den hannoverschen Oberpräsidenten um eine Stellungnahme zu dem Antrag Mejers und fragte, ob dessen historische Darstellung korrekt sei; zudem frage es sich, ob es sinnvoll sei, Uhlhorn einen höheren Rang zu verleihen ohne daß zur Zeit ein besonderer Anlaß dazu vorliegt.76 Oberpräsident in Hannover war seit 1888 Rudolf v. Bennigsen, er kannte Uhlhorn seit fast dreißig Jahren aus kirchenpolitischen Auseinandersetzungen.77 Er konnte also die Brisanz einschätzen, die diese Frage für die Provinz Hannover hatte. So leitete er die Anfrage aus Berlin mit dem Vermerk Vertraulich an den Leiter des hannoverschen Staatsarchivs weiter.78 Dessen Bericht lässt erkennen, welche Bedeutung die Etikette und die Hofranglisten in Hannover vor der preußischen Annexion gehabt hatten.79 Das seit 1696 bestehende Hofzeremoniell war mit der Rückkehr des Königs nach Hannover (1837) wieder aufgelebt, doch erforderte es angesichts der politischen und sozialen Veränderungen seit dem 17. Jahrhundert immer neue und präzisere Festle-

75 Der Finanzminister hatte diese Großzügigkeit des Kultusministers auch scharf kritisiert. Er schrieb im Zusammenhang mit der Bereitschaft des Kultusministers, einzelnen Räten im Landeskonsistorium einen höheren Rang zuzuerkennen und sie damit besser zu bezahlen, als es der Einstufung ihrer Stelle entsprach: Bei der dortseitigen Verwaltung ist es in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß die in vakante Stellungen zu berufenden Persönlichkeiten ihren Eintritt in das betreffende Amt an verschiedene weitgehende Bedingungen geknüpft haben, deren Erfüllung damit begründet wurde, daß die Persönlichkeit, welche gewonnen sei bzw. gewonnen werden solle, von den in Frage kommenden die einzige sei, welche die für das vakante Amt erforderlichen Eigenschaften besitze. So fern es mir nun auch liegt, meinerseits ein Urtheil darüber in Anspruch zu nehmen … so glaube ich doch mit der Bemerkung nicht zurückhalten zu dürfen, daß es aus finanzieller und sonstiger allgemeiner Rücksicht in hohem Grade bedenklich erscheint, bei der Besetzung von Staatsbeamtenstellen Vergünstigungen über die mit dem betreffenden Amte dauernd verbundenen hinaus zu bewilligen, wie dies ausschließlich in dem Ew. Excellenz unterstellten Ressort jetzt häufig geschieht. (GStAB, I Rep. 76 III Sekt. 21 Abt. 1 Nr. 3 Bd. 5: Finanzminister an Kultusminister Gossler, 8. 3. 1890) – Bedenken muss man dabei, diese Großzügigkeit betraf nicht nur das Landeskonsistorium in Hannover, sondern vermutlich stärker die Universitäten und Theater, die ebenfalls zum Ressort des Kultusministeriums gehörten. 76 HStAH, Hann. 122a Nr. 4171: Kultusminister an Oberpräsident Hannover, 15. 12. 1892. 77 In der Vorsynode 1863 war Bennigsen Sprecher der liberalen Minderheit gewesen, während Uhlhorn einer der Bevollmächtigten des hannoverschen Konsistoriums war. 78 HStAH, Hann. 122a Nr. 4171: Oberpräsident an Geheimen Archivrat Janicke, 27. 12. 1892 79 Ebd.: Geh. Archivrat Janicke an Oberpräsident, 13. 1. 1893. – Zur Hoffähigkeit am hannoverschen Hof vgl. Cornelia Rohlfs: Der hannoversche Hof von 1814 – 1866, Hannover, Hannover 2005, S. 172 ff.

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gungen.80 Bei all den Veränderungen war die Stellung des Abts von Loccum ›bei Hofe‹ faktisch unverändert geblieben; schon 1696 hatte er in der Hofrangliste den Rang eines Brigadiers (Generalleutnants) gehabt und gehörte 1862 mit den Generalmajoren, den Präsidenten der beiden Kammern der Ständeversammlung sowie den katholischen wirklichen Bischöfen zur V. Hofrangklasse.81 Janickes historischer Bericht, der den Aufstieg und Abstieg einzelner Stände und Berufsgruppen im höfischen Umfeld erkennen lässt, wurde durch einen Vermerk von Bennigsen zur aktuellen Situation ergänzt: An der sich hieraus ergebenden Rangstellung ist seit der Einverleibung des Königreichs Hannover in den preußischen Staat meines Wissens nicht nur dem früheren, sondern auch dem jetzigen Herrn Abt gegenüber stets festgehalten worden. Insbesondere kann ich nur bestätigen, daß der Abt Uhlhorn bei Hofdiners, welche gelegentlich der Anwesenheit S[einer] Maj[estät] des Kaisers und Königs in hiesigem Schlosse veranstaltet worden sind, auf Anordnung des Herrn Oberhofmarschalls seinen Platz über den Räthen II. Klasse inmitten der Generalmajors und Räthe I. Klasse erhalten hat und auch bei sonstigen festlichen Gelegenheiten, wie z. B. bei den zur Feier des Geburtstags S[eine]r Majestät stattfindenden Festessen regelmäßig in gleich bevorzugter Weise placirt worden ist.82 Für Bennigsen ergab sich daraus, dass er es nicht für zulässig erachten [kann], den Abt Uhlhorn, der sich thatsächlich schon der I. Rangclasse befindet, nunmehr in die zweite zu versetzen. Aber gleichzeitig sah er keine Veranlassung, eine ausdrückliche Anerkennung der dem Abt von Loccum bisher eingeräumten Rangstellung auszusprechen bzw. herbeizuführen, da dieser Rang vom kaiserlichen Hofmarschallamt längst anerkannt sei. Für die Monarchie im 19. Jahrhundert war das Nebeneinander zweier Sphären mit unterschiedlichen Rangsystemen kennzeichnend: Die bürgerliche Welt, zu der Leistungs- und Dienstalterstufen der Beamten gehören, und die Hofgesellschaft. Der Monarch bildete ihr Zentrum, und für den Zutritt zu ihr gab es weiterhin eigene Kriterien, die Hoffähigkeit; aber im Unterschied zum ancien 80 Der Grund für die besondere Betonung des Hofzeremoniells in Hannover war das Interesse des Königs, die Stellung des neu entstandenen Königreichs im Geflecht der europäischen Mächte angemessen zu repräsentieren und gleichzeitig eine klar gegliederte Ständegesellschaft darzustellen, in der jedem kundgetan wurde, »wer wo stand, wenn es um die erwähnte ›Nähe zum Thron‹ ging« (Gotthard Frühsorge: Der Intendant der höfischen Welt. Unico Ernst von Malortie am königlichen Hof in Hannover, in: Stand und Repräsentation. Kulturund Sozialgeschichte des hannoverschen Adels vom 17. bis 19. Jahrhundert, Bielefeld 2004, S. 186) 81 Vgl. Unico Ernst von Malortie: Rangverhältnisse in den Hannoverschen Landen, in: Ders.: Beiträge zur Geschichte des Braunschweig-Lüneburgischen Hauses und Hofes, Hannover 1862, S. 119 ff.; hier S. 129: Classe 5. – Diese Classe war hochrangig; Classe 1 waren die mediatisierten Standesherren, Classe 3 die Staatsminister mit Portefeuille usw. 82 HStAH, Hann. 122a Nr. 4171: Oberpräsident an Kultusminister, 30. 1. 1893.

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r¦gime entwickelte sie keine unmittelbare Wirkung mehr auf die bürgerliche Arbeitswelt, in der sich die Konsistorialbeamten bewegen mussten. Allerdings legte der Monarch nicht nur die Hoffähigkeit fest, sondern unterschrieb eben auch die Urkunden, mit denen Beamte ernannt, befördert oder abgesetzt wurden. Diese Doppelstellung des Monarchen wollte Mejer ausnutzen, als er vorschlug, Uhlhorn wenigstens den Rang eines Beamten II. Klasse zuzuerkennen. Indirekt wurde dieser Vorschlag dann von v. Bennigsen zurückgewiesen, als er sich allein auf die Hoffähigkeit des Abts beschränkte. Der liberale Politiker v. Bennigsen sah kein Problem, dass der Abt als Mitglied der Hofgesellschaft eine Person ersten Ranges blieb, im bürgerlichen Arbeitsleben dagegen Rat III. oder IV. Klasse. Die Trennung der beiden Sphären ermöglichte es, das Sparsamkeitsgebot des preußischen Staats zu erfüllen. Im Zusammenhang mit der Diätenfrage hatte das Kultusministerium den Präsidenten des Landeskonsistoriums gleich belehrt: Die beantragten Rangerhöhungen würden daher für die Höhe der zu liquidirenden Reisekosten ohne Bedeutung sein. Jeder, der als Mitglied des Landeskonsistoriums eine Dienstreise vorzunehmen hat, [hat] nur diejenigen Beträge zu liquidiren, welche auch den übrigen Mitgliedern des Landeskonsistoriums nach Maßgabe ihrer Amtsstellung zukommen, … auch wenn einem einzelnen Mitgliede persönlich ein höherer Rang zusteht.83 Damit mussten sich Mejer und Uhlhorn zufriedengeben.84 Aus Berliner Perspektive war Uhlhorns Hauptberuf nicht die Funktion als Abt, sondern seine Tätigkeit als Beamter im Landeskonsistorium, darnach waren seine Reisekosten zu liquidieren. Auf unterschiedliche Weise, aber insgesamt doch erfolgreich hatten die Äbte Rupstein und Uhlhorn für die Integration des Klosters in den preußischen Staat gesorgt. Seit 1878 war das Verhältnis ordentlich geregelt, als Träger des Predigerseminars war das Kloster anerkannt. Allerdings war die Selbständigkeit des Klosters deutlich eingeschränkt worden, nicht durch Unterordnung unter das 83 GStAB, I HA Rep 76 III Sekt. 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 4: Kultusministerium an Präsident Mejer, 7.9. 1892 84 Für die Reise zu den Eisenacher Konferenzen hatte Uhlhorn ein höheres Tagegeld beantragt, weil er dorthin nicht als Mitglied des Landeskonsistoriums reiste, sondern auf Einladung der Kirchenregierung, also des Kultusministeriums. Da die Fahrt aus dem Fonds des Landeskonsistoriums zu bezahlen war, lehnte der Minister dies ab, denn er nimmt an dieser Konferenz nicht als Abt von Loccum, sondern als Mitglied einer kirchenregimentlichen Behörde Theil. Wenn der einzelne Theilnehmer der Eisenacher Kirchenkonferenz auch persönlich einen höheren Rang bekleidet, so kann er die Tagegelder doch immer nur nach Maßgabe des Ranges seines kirchenregimentlichen Amtes liquidiren. (GStAB, I Rep. 76 III Sekt. 21 Abt. I Nr. 3 Bd. 6: Kultusministerium an Landeskonsistorium, 22. 7. 1893.) Auf die Frage, ob Uhlhorn Tagegelder zurückzahlen müsse, die ihm etwa zuviel ausgezahlt worden waren, hatte der Minister freilich geantwortet, daß, solange die K[önigliche] Oberrechnungskammer den liquidirten Satz nicht beanstandet, ich keinen Anlaß habe, die Rückzahlung der überhobenen Beträge anzuordnen. (Ebd.: Kultusministerium an Landeskonsistorium, 19. 10. 1892).

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1866 neu geschaffene Landeskonsistorium oder die Landessynode, sondern durch Verschärfung der Aufsicht, die das Kultusministerium in Berlin wahrnahm. Äußerlich war diese Kontrolle nicht gleich sogleich zu erkennen, weil die von Barkhausen durchgesetzte Institution eines Kurators als Zwischeninstanz eingefügt war. Der Kurator war der berufene Vertrauensmann des Ministers, gab es Differenzen mit dem Ministerium, wurden sie eher als Reiberei zwischen Abt und Kurator wahrgenommen.

II 2.1

Ein freies Stift oder: Das Verhältnis zur Landeskirche

Die Flucht Kaiser Wilhelms II., der 1913 bei der 750-Jahrfeier noch pompös als Schutzherr des Klosters gefeiert worden war,85 und die Errichtung der Republik stellten die Frage nach dem Verhältnis des Klosters zum preußischen Staat neu; schließlich war unklar, ob das Kloster ein freies Stift, eine Stiftung oder eine kirchliche Einrichtung war. Eine Antwort auf diese Fragen war nicht zu umgehen, da der Kurator des Klosters, der Präsident des Landeskonsistoriums Hermann Steinmetz, schon lange krank war und am 11. Mai 1920 starb. Wer sollte nun den Kurator auswählen und ernennen? Nach dem Abt war er der wichtigste Mann für das Kloster. Bisher hatte der preußische König den Kurator auf Vorschlag des Kultusministers ernannt, diese Form der Ernennung war nun ohne weiteres nicht mehr möglich, denn die am 14. August 1919 verkündete Weimarer Reichsverfassung (WRV) hatte in Art. 137 klar bestimmt, dass keine Staatskirche bestehe und dass jede Religionsgesellschaft ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates zu verleihen habe.86 85 Typisch für den Geist, in dem das Jubiläum 1913 mit dem Besuch des Kaisers gefeiert wurde, ist das Schreiben von Abt Hartwig an das Zivilkabinett des Kaisers: Die stets wiederholten Erweise Königlicher Gnade und Fürsorge, welche Eure Kaiserliche Majestät während AllerhöchstIhrer … glorreichen Regierung dem Kloster Loccum zu erzeigen geruht haben, flößen uns den Mut ein, Eure Majestät um die noch grössere Gnade zu bitten, den Tag unserer Jubelfeier durch AllerhöchstIhre Gegenwart … zu verherrlichen. (HStAH, Hann. 122a Nr. 4168: Abt Hartwig an das Zivilkabinett, 18. 11. 1912 [Abschrift]). Diese devote Haltung gefiel nicht allen Teilnehmern am Jubiläum; Wilhelm Bornemann, ein früherer Loccum Hospes, schrieb dazu: Bei dem großen Jubiläum des Klosters Loccum habe ich Uhlhorn auf Schritt und Tritt vermißt. … Während sein Nachfolger in einstündiger Predigt die Geschichte der Hohenstaufen und Hohenzollern verherrlichte, würde Uhlhorn in tieferer und geistvollerer Art die Geschichte des Klosters uns vergegenwärtigt haben. (Zit. n. Ernst Berneburg: Erlebnisse mit Abt Uhlhorn, in: Geschichten [wie Anm. 59]), S. 116. 86 Art. 137 WRV: (1)Es besteht keine Staatskirche … (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.

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In dieser Situation war das Kloster auf Unterstützung von seiten der Landeskirche angewiesen. Aber das Kloster hatte offiziell Distanz zu den Institutionen der Landeskirche gehalten: Da es sich nur dem Landesherrn unterworfen hatte, hatte der Konvent jede Aufsicht durch das Landeskonsistorium abgelehnt,87 verstand man sich doch als historisch begründetes ›freies‹ Stift. Gewiss gab es die individuellen Beziehungen zwischen dem Landeskonsistorium und dem Kloster, nach Barkhausens Ausscheiden aus dem Kuratorenamt war jeweils den Präsidenten des Landeskonsistoriums das Kuratorenamt übertragen worden, und einige Konsistorialräte waren zugleich Konventuale gewesen, doch hatte die Tätigkeit hier mit der Tätigkeit dort nichts zu tun. Diesem Selbstverständnis des Klosters entsprach es, wenn der erste Entwurf einer neuen Kirchenverfassung, der vom Landeskonsistorium zusammen mit dem Landessynodalausschuss vorgelegt wurde, das Kloster ebensowenig wie die Frauenklöster und die Klosterkammer erwähnte. Georg Hartwig, der fast 80-jährige Abt des Klosters, sah, dass diese Distanz zur Landeskirche problematisch war, fürchtete aber mehr, dass das Kloster durch eine parlamentarisch ausgerichtete Kirchenverfassung der Landessynode untergeordnet würde.88 Dagegen sah der Konventualstudiendirektor des Predigerseminars Paul Fleisch, der in der folgenden Zeit die Position des Klosters am entschiedensten vertrat,89 deutlicher die Probleme. Ihm war klar, dass das Kloster bei aller notwendigen Freiheit an die Landeskirche gewiesen war, wenn es überleben wollte. Inzwischen war die Verbindung zwischen Landeskonsistorium und Konvent schwach geworden, 1920 starb der Kurator und als am 6. März 1922 Generalsuperintendent Johannes Schwerdtmann starb, war kein Mitglied des Landeskonsistoriums zugleich 87 Bei den Verhandlungen, die zur Revision der Klosterverfassung 1878 führten, hatte das Landeskonsistorium darauf hingewiesen, dass ihm entsprechend der Königlichen Verordnung über die Gründung des Landeskonsistoriums vom 17. 4.1866 auch über das Kloster die Aufsicht zustehe (LkAH, Best. A 5 Nr. 590: Landeskonsistorium an Kultusministerium, 12. 2. 1878). Das war vom Kloster und dem Ministerium zurückgewiesen worden. Das Ministerium (Barkhausen) fürchtete, dass dann nur noch streng lutherische Theologen in das Predigerseminar berufen würden, die jede Form einer Union ablehnten (GStAB, I HA Rep 76 III Sekt 21 Abt. 19 Nr. 1 Bd. 1: Barkhausen an den Kultusminister, 19. 10. 1877; ebd.: Kultusministerium an Landeskonsistorium, 8. 6. 1878). 88 Klosterarchiv Loccum (i. F.: KAL) 3/386: Abt Hartwig an Konventualstudiendirektor Paul Fleisch, 22. 2. 1919: In früheren Zeiten hat das Landeskonsistorium begehrt, die Herrschaft über das Kloster Loccum zu erhalten. Das ist damals, Gott sei Dank! abgewehrt. Jetzt wird aber für unsere Landeskirche eine neue Verfassung ausgearbeitet, durch welche das Landeskonsistorium seiner Stellung beraubt und unter die Synode gestellt wird. Da wird es angezeigt sein, daß auch das Kloster Loccum seine Stellung gegenüber der Landeskirche ins Auge faßt und in der richtigen Weise regelt. 89 Eine angemessene Darstellung von Paul Fleisch (1878 – 1962) fehlt; die beste Würdigung seiner Theologie bietet Michael Meyer-Blanck: Wort und Antwort. Geschichte und Gestaltung der Konfirmation am Beispiel der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Berlin 1992, S. 98 – 120; zur Biographie siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Fleisch (15. 4. 2013).

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Konventual; Abt Hartwig hatte sich schon 1914 als Oberkonsistorialrat pensionieren lassen und lebte von der Abtspfründe. So bot sich gerade jetzt die Wahl neuer Konventualen an, die auch dem Landeskonsistorium angehörten. Das war problematisch, denn nach der Klosterverfassung war der Kultusminister zu beteiligen, er musste dem Wahlaufsatz zustimmen. Wenn Abt und Konvent aber jetzt eine solche Liste einreichte, konnte es den Anschein haben, als verstehe sich das Kloster als staatliche Einrichtung, denn seit der Verabschiedung der Reichsverfassung am 11. August 1919 waren ja die Ämter in kirchlichen Einrichtungen ohne Mitwirkung des Staats zu vergeben.90 2.2

Das Gutachten Paul Schoens

Um Klarheit zu erhalten, beschloss der Konvent am 6. Februar 1920, den Göttinger Kirchenrechtsprofessor Paul Schoen um ein Gutachten zu bitten. Abt Hartwig und Fleisch strebten dabei eine Parität mit der katholischen Kirche an: Für die Wahl des Abts und des Konvents wünschte man sich die Freiheit, die sie bei der Wahl ihrer Bischöfe durch die Domkapitel besaß.91 Schoen, der von Fleisch mit Material versorgt wurde, legte nach drei Monaten sein Gutachten vor.92 Er argumentierte in vier Schritten: Soweit der Landesherr in früheren Zeiten in das Kloster eingegriffen hatte, hatte er seine ihm als evangelischer Landesherr zustehenden iura episcopalia wahrgenommen, auch die Ernennung des Kurators war eine Folge der Kirchengewalt (Summepiskopat), die ihm als Landesherrn in der evangelischen Kirche zukam. Der hannoversche König hätte nach 1803 gemäß § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses das Kloster aufheben können, aber er habe darauf verzichtet; vielmehr haben die Regierungen immer wieder bestätigt, dass die Einkünfte des Klosters den Zwecken gewidmet bleiben sollten, denen sie bislang stiftungsgemäss gedient hatten. Stets galt der Grundsatz, dass das alles, was Kirchengut war und ist, Kirchengut bleibt. Als Kirchengut aber gelten alle Vermögensmassen (›Anstalten, Stiftungen und Fonds‹), welche kirchlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind. Die Zweckbestimmung ist maßgebend, nicht der Eigentümer. Die Folgerung war klar : Da das Kloster mit dem Predigerseminar einen kirchlichen Zweck erfüllte, war es Kirchengut und galt als kirchliche Stiftung. Den Schutz aber, den kirchliche Stiftungen früher aufgrund des Art. 15 der preußischen Verfassungsurkunde besessen hatten, besaßen sie nach Schoens Verständnis jetzt aufgrund der neuen Weimarer Reichsverfassung (WRV): Artikel 138 (2) sichert reichsrechtlich den 90 Art. 137 (1 WRV [vgl. Anm. 86]). 91 KAL 3/386: Fleisch an N.N. [Name nicht ersichtlich, jedenfalls ein Mitglied der a.o. Landessynode], 1. 3. 1920. 92 Ebd.: Gutachten über die Rechtslage des Klosters Loccum, erstattet von D. Dr. Paul Schoen, Göttingen [9. 5. 1920].

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Bestand allen Kirchenguts, …, also auch des Gutes, welches im Eigentum einer kirchlichen Stiftung als Rechtssubjekt steht, wie eine solche das Kloster Loccum ist.93 Um dieses Ergebnis – Loccum sei eine kirchliche Stiftung – abzusichern, prüfte Schoen in einem zweiten Schritt, in welcher Eigenschaft der Monarch und seine Minister den Kurator ernannt und die Wahl von Konventualen geprüft hatten: Tat er dies als Inhaber des Summepiskopats oder nahm er die Aufsicht wahr, die ihm aufgrund der staatlichen Hoheitsrechte zustand? Für Schoen hatte der Landesherr als Summepiskopus gehandelt, dessen Rechte seien jetzt aber in Folge der gewaltsamen Beseitigung der Monarchie weggefallen oder doch an die Kirche gekommen. Denn die ganze Kirchengewalt … ist nach Wegfall der Landesherren wieder der Kirche zugefallen.94 In einem dritten Schritt wies Schoen darauf hin, dass Art. 137 (3) WRV eine Mitwirkung staatlicher Organe bei der Vergabe kirchlicher Ämter verbiete; daher sei nun in jedem Fall eine staatliche Beteiligung an der Wahl des Abts, von Konventualen sowie die Bestellung eines Kurators verboten, selbst wenn man – irrtümlich – meine, der Landesherr habe früher im Rahmen der staatlichen Aufsicht gehandelt. Bei all dem gelte aber – viertens –, dass sich das Kloster zur Abwehr etwa möglicher Missbräuche und Erhaltung des Klosterguts und zur Sicherung der Zwecke der Stifts eine besondere staatliche Aufsicht gefallen lassen müsse. Ihr sei das Kloster unterworfen – wie alle öffentlich-rechtlichen Körperschaften, denen der Staat besondere Rechte zugestehe.95 In die Zukunft wies dann der Schlussteil des Gutachtens: Künftig müsse der Landessynode der entscheidende Einfluss bei der Wahl des Abts gesichert werden, wenn künftig die 93 Ebd. – Art. 138 (2) WRV lautete: Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohlfahrtszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet. Schoen bezog sich auf den Art. 15 der preußischen Verfassungsurkunde von 1850: Die Evangelische und römischkatholische Kirche … ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuss der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds. 94 Ebd. – Schoen kritisierte, dass die preußische Verfassunggebende Versammlung im Zuge ihrer Beratungen am 20. 3. 1919 drei Minister in evangelicis bestellt hatte, die bis zur endgültigen Trennung der Kirche vom Staat die Rechte des Monarchen wahrnehmen sollten; dies war übereilt und ohne Sachkunde beschlossen; zu dieser Frage vgl. Jonathan R.C. Wright: ›Über den Parteien‹. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918 – 1933, Göttingen 1977, S. 23 f. 95 Schoen argumentierte hier auf der Grundlage der sog. Korrelatentheorie, der damals modernsten Lehre zur Begründung der staatlichen Aufsichtsrechte: Als das Korrelat der Privilegierungen, die der öffentlichen Korporationsqualität eignen, ist stets angesehen worden die Unterstellung der öffentlichen Korporation unter eine besonders gestaltete Staatsaufsicht … Die Ordnung der Staatsaufsicht ist Sache des Staates. (Ebd.) – Grundlegend und seinerzeit ganz aktuell: Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 2. Aufl., Heidelberg 1921, S. 221 f.

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Abtsstelle mit der des Landesbischofs verbunden werde. Schoen hatte damit sein argumentatives Ziel erreicht: Das ehemals freie Stift war als eine freie Stiftung mit kirchlicher Zweckbindung anzusehen. 2.3

Stalmanns Widerspruch

Sehr rasch, 10 Tage nach Eingang des Gutachtens, wurde es dem Kultusministerium übersandt, gleichzeitig suchte Fleisch Verbündete in der Politik, die für die Position des Klosters warben.96 Doch aus dem Schoenschen Gutachten konnte man auch andere Folgerungen ziehen, als sie sich Fleisch und Schoen vorstellten. Am 28. Juni kam Albrecht Stalmann, der zuständige Referent im Kultusministerium, nach Loccum, um dem Konvent seine Auffassung der Rechtsstellung Loccums darzulegen. Stalmann war ein Enkel Gerhard Uhlhorns,97 kannte also das Kloster seit Jugendtagen. Er zeigte Verständnis für das Interesse des Klosters, vor Staatszugriffen geschützt zu sein und … nicht gänzlich ungeeignete Persönlichkeiten als Kurator zu erhalten,98 bestritt aber grundsätzlich Schoens Argumentation. Stalmann beschrieb das Kloster als Stiftung, deren Organ nach außen … der Kurator, nach innen Abt und Konvent seien. In der Vergangenheit seien die kirchliche Zwecke nicht genauer bestimmt worden, doch stehe schon 1831 das Predigerseminar [bei der Angabe der Zwecke] voran. Stalmann ging davon aus, dass der Staat seine Funktionen erst allmählich entfaltet hätte, deshalb seien Eingriffe früher anders, kirchenrechtlich, begründet worden. Heute unterstehe das gesamte Stiftungsvermögen der staatlichen Aufsicht … Das sei erst allmählich in die Erscheinung getreten. Wohl daher sei die Aufsicht Loccum gegenüber im 18. Jahrhundert noch nicht geübt, sondern erst 1831 und schärfer nach 1878 in der Person des Kurators. Stalmann fasste seine Position klar zusammen: Loccum sei sicher eine ›Stiftung für kirchliche Zwecke‹, aber damit noch keine kirchliche Stiftung‹. Heutzutage unterscheide man das. Als kirchliche Stiftung betrachte man nur solche, die dem Organismus der Landes96 Fleisch informierte Abgeordnete der Deutsch-Hannoverschen Partei und schrieb Artikel über Loccum, die auch in die Tagespresse übernommen wurden; die Akte KAL 3/386 enthält die Belege. 97 Albrecht Stalmann (1880 – 1967), war nach dem juristischen Studium Hilfsarbeiter im hannoverschen Konsistorium, wechselte 1913 in das preußische Kultusministerium, wurde 1921 dort zum Ministerialrat befördert und wurde 1931 zum Präsidenten der Klosterkammer Hannover ernannt. Er kannte also die Verhältnisse in Loccum sehr genau; ihn beschrieb Abt Hartwig nach den Verhandlungen in der Landessynode 1920: Stalmann, der Ministerialrat geworden ist, ist … sehr höflich, aber durchaus ministeriell gewesen. (KAL 3/386: Abt Hartwig an Fleisch, 14. 11. 1920.) 98 KAL 3/386: Niederschrift über die Verhandlungen zwischen Abt und Konvent einerseits, dem Vertreter des Ministeriums andererseits über den Antrag des Klosters betr. Trennung vom Staat, 28. 6. 1920. Die Niederschrift ist durchweg in indirekter Rede verfasst. – Daraus auch die folgenden Zitate.

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kirche eingeordnet seien. Ihnen gegenüber verlaufe die Staatsaufsicht nach besonderen Normen. Das Kloster sei aber der Landeskirche nicht eingeordnet. Zwar sei 1831 eine Regelung der Stellung zum Konsistorium vorgesehen, aber sie sei nicht ausgeführt. In den 70er Jahren sei über eine Einordnung verhandelt, sie sei aber vom Konvent nicht gewünscht. So sei das Kloster keine kirchliche Stiftung. Die vom Kloster gern wiederholte Behauptung, Loccum sei doch ein freies Stift gewesen, schien sich nun gegen die Wünsche des Konvents zu wenden. Eine solche Beurteilung der Rechtsstellung Loccums musste die Konventualen erschrecken, denn auf Nachfrage erklärte Stalmann: Den kirchlichen Stiftungen gegenüber sei die Staatsaufsicht an bestimmte Normen gebunden, die der Kirche gegenüber festgelegt seien. Den [freien] Stiftungen für kirchliche Zwecke gegenüber gestalte der Staat die Aufsicht nach freiem Ermessen. Ein solches Verständnis der Rechtsstellung des Klosters öffnete der staatlichen Willkür anscheinend Tor und Tür, und da das Kultusministerium zeitweise von der SPD geführt worden war, befürchteten die Konventualen Schlimmstes aus Berlin. So wurde Stalmann scharf widersprochen, vor allem als über das Institut des Kurators diskutiert wurde. Fleisch argumentierte in der bewährten Weise, dass Art. 137 (3) WRV die Berufung eines Kurators durch das Ministerium verbiete. Stalmann konterte, Artikel 137 gelte nicht für Loccum, der Ausdruck Religionsgesellschaften im Artikel 137 meine Gemeinden und Kirchen, das Kloster sei aber der Kirche nicht eingeordnet. Werde dagegen eingewandt, dass das Kloster früher konsistoriale Befugnisse gehabt habe, also eine kirchliche Einrichtung gewesen sei, so sei das nicht schlüssig: Konsistoriale Befugnisse u. ä. hätten gerade in Hannover auch rein weltliche Behörden gehabt, z. B. Magistrat Osnabrück, die Magistrate der vier großen Städte von Calenberg-Göttingen. Weitere Argumente wurden hin und her gewendet, letztlich konnte man sich nicht einigen. Angesichts der weit auseinanderliegenden Positionen schlug Stalmann vor, ein zweites Gutachten einzuholen, dafür hatte er auch gleich einen Vorschlag: Prof. Dr. Hermann Fürstenau, Senatspräsident beim Berliner Oberverwaltungsgericht. Angesichts der konträren Positionen war das eine sinnvolle Lösung. Fürstenau, der von Stalmann als Gegengutachter ins Feld geführt wurde,99 erhielt breiten Zugang zu den Akten des Kultusministeriums, doch 99 Im Zuge der Berufungsverhandlung mit Ernst Lohmann schrieb Stalmann noch am 25. 2. 1921 recht siegesgewiss: Wie ich Ihnen mündlich sagte, beantragte der Konvent im vorigen Sommer auf Grund eines Gutachtens von Professor Schön in Göttingen, da der Kurator nicht im Einklang stände mit Artikel 137 der Reichsverfassung, von einer Bestellung des Kurators überhaupt abzusehen. Ich halte das Gutachten für falsch und mit mir alle, mit denen ich über die Frage gesprochen habe. Der Artikel 137 hat mit dem Kloster Lokkum [!] nichts zu tun. Das Kloster Lokkum ist keine Religionsgesellschaft. Nach Benehmen mit dem Konvent lasse ich durch Oberverwaltungsgerichtsrat Professor Fürstenau, einen Mann mit großer Erfahrung auf diesem Gebiet, ein Gegengutachten ausarbeiten. … Ich zweifle nicht daran, dass das Gutachten sich meiner Auffassung anschließt. (LkAH, Best. N 111 Nr. 9).

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auch Fleisch war aktiv. Er übersandte Fürstenau weiteres Material und bot gleichzeitig seine Interpretation für die besondere Verflechtung von Kirchenhoheit und Staatsaufsicht in Loccum an: Loccum, so seine These, war schlichtweg einzigartig, ein Unikum.100 Das Gutachten ließ auf sich warten, da Fürstenau das Gutachten nur in den Semesterferien ausarbeiten konnte; in dieser Zwischenzeit, als Fleisch seine Sicht in der Öffentlichkeit platzierte, kümmerte sich Stalmann schon um die Berufung eines neuen Präsidenten des Landeskonsistoriums. Noch war das Landeskonsistorium ja eine staatliche Behörde, deren Leitung vom Ministerium berufen wurde. Vermutlich war ihm dieser Posten wichtiger als die Tätigkeit des Loccumer Kurators, denn Stalmann ging davon aus, dass der neue Präsident wie bisher das Amt des Kurators mitübernehme. Es war aber nicht leicht, einen geeigneten Kandidaten zu finden: Der neue Präsident musste kirchenrechtlich versiert sein, schließlich hatten die Beratungen über eine neue Kirchenverfassung begonnen, aber er musste auch wirtschaftlich denken können, die Spirale der Inflation drehte sich immer schneller, sie betraf Loccum wie alle Einrichtungen der Landeskirche. Der Kandidat, den Albrecht Stalmann dann präsentieren konnte, hieß Ernst Lohmann und war in Wernigerode Präsident der Fürstlich Stolbergschen Kammer. Sein Vater hatte aber in der Landeskirche einen guten Namen,101 er selbst war nach der Tätigkeit als Landrat in Bersenbrück und Referent im Innenministerium 1907 nach Wernigerode gewechselt, wo er die Fürstliche Güterverwaltung nach einem Konkurs saniert hatte. Sein Name war Stalmann auf der außerordentlichen Landessynode genannt worden, die die Verfassunggebende Kirchenversammlung vorbereitete.102 Um sicher zu gehen, dass Lohmann in der Landeskirche akzeptiert würde – schließlich war 100 Später hat Fleisch in seinem Kirchenrechtsunterricht gern auf Loccum als Unikum hingewiesen, so dass er dann selbst den Titel ›Unikum‹ erhielt – den Vikaren war die Problematik nicht mehr bewusst. 101 Stalmann schrieb am 18. 12. 1920 an Lohmann: Da die Provinz Hannover meine Heimatprovinz ist und ich der Hannoverschen Landeskirche besonders nahe stehe – ich bin ein Enkel des verstorbenen Abtes Uhlhorn in Hannover – so liegt mir besonders viel daran, der Hannoverschen Landeskirche einen Präsidenten zu geben, der ihr in dieser schwierigen und bedeutsamen Übergangszeit eine wirksame Hilfe ist. Ich bin auf Euer Hochwohlgeboren hingewiesen. Der Name Lohmann hat noch jetzt in der Hannoverschen Landeskirche den allerbesten Klang; ist doch die gegenwärtige Verfassung der Landeskirche das Werk ihres allgemein verehrten Herrn Vaters. (LkAH, Best. N 111 Nr. 9). – Zu Theodor Lohmann (1831 – 1907) vgl. Hans Otte: Den Ideen Gestalt geben. Der Sozialpolitiker Theodor Lohmann … in: Soziale Reform im Kaiserreich, hrsg. von Wilfried Loth u. a., Stuttgart 1997, S. 32 – 55. – Angesichts des überragenden Wirkens Lohmanns als Sozialpolitiker ist seine frühere Tätigkeit als Kirchenjurist bisher kaum gewürdigt worden. 102 Aus der Korrespondenz Stalmann – Lohmann ergibt sich, dass der Stellvertreter des hannoverschen Oberpräsidenten, Dr. Hermann Kriege, Stalmann auf Lohmann hingewiesen hatte. Lohmann und Kriege waren anscheinend Studienfreunde (ebd.: Kriege an Lohmann, 23. 12. 1920).

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Preußen inzwischen eine parlamentarische Demokratie und die Regierung wollte Ärger in Hannover vermeiden – befragte Stalmann die Generalsuperintendenten und die Mitglieder des Landessynodalausschusses vertraulich zu diesem Personalvorschlag. Die Antworten waren für Stalmann ausreichend positiv, aber nicht völlig eindeutig. In jedem Fall wurde die Wiederbesetzung der Präsidentenstelle gewünscht,103 doch war der Name Lohmann teilweise unbekannt. Wirklich kritisch waren nur diejenigen, die dem Loccumer Konvent angehörten; sie antworteten Stalmann, dass der Status Loccum strittig sei und der Konvent am besten keinen Kurator erhielte.104 Unter diesen Umständen wurde Lohmann nicht zum Konsistorialpräsident und Kurator ernannt, vielmehr wurde er nur mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt, damit blieb allen Seiten noch Handlungsfreiheit. Erst ein halbes Jahr später, als auch die Wohnungsfrage und seine Rentenansprüche geklärt waren, wurde er zum Präsidenten und zum Kurator ernannt. Da hatte er schon die Herzen der Mitglieder des Loccumer Konvents gewonnen. Er hatte sich gleich an seinem ersten Tag in Hannover bei Abt Hartwig vorgestellt, und dieser hatte aus der Ablehnung keinen Hehl gemacht. Bei seinem Ausscheiden aus dem Konvent 1930 berichtete Lohmann von der ersten Begegnung mit Abt Hartwig; ihm sagte der Abt ganz offen: Da ich gegen den Willen des Konvents von der Staatsregierung zum Kurator bestellt sei, müsse er meine vom Minister gewünschte Einführung im Kloster ablehnen; er werde mir die Geschäfte übergeben und, wenn ich wolle, könnte ich an der am nächsten Tage stattfindenden Konventssitzung theilnehmen; der erste Punkt der Tagesordnung sei aber ein Protest an den Minister gegen meine Bestellung.105 Lohmann ließ sich davon nicht abschrecken, ging zur Sitzung und half auf Wunsch des H[errn] Abts zunächst …, den Protest gegen meine Ernennung zu formulieren, der Berliner Mentalität anzupassen, dann aber auch mit meinen Wernigeröder Erfahrungen Plan und Grundlagen dafür schaffen helfen, die werthlos gewordenen Geld-Pachten zu ersetzen durch Roggenpachten und z [um] Th[eil] durch Naturallieferungen für die Haushaltungen des Klosters und der Konventsfamilien. Lohmanns wirtschaftliche Erfahrungen zahlten sich aus, schon ein Vierteljahr später schrieben ihm Abt und Konvent dankbar für alles, was Sie in den letzten Monaten für das Kloster getan und erreicht haben, dass sie 103 Durchweg wurde darauf hingewiesen, dass die Besetzung aber kein Präjudiz für die Besetzung der Präsidentenstelle im künftigen Landeskirchenamt sein dürfe. 104 Weil die Antworten der befragten Mitglieder der hannoverschen Kirchenleitung so wenig eindeutig waren, hatte Stalmann sie an Lohmann weitergegeben, damit er selbst entscheide, ob er nach Hannover wechseln wolle. (In Lohmanns Nachlass [LkAH, Best. N 111] befinden sich die Schreiben heute.) Lohmann selbst legte Wert darauf, auch zum Kurator berufen zu werden. 105 LkAH, Best. N 111 Nr. 11: Abschiedsworte in der letzten Konventssitzung am 30. 3. 1930. Daraus auch die folgenden Zitate. – Den gleichen Vorgang beschreibt Paul Fleisch: Erlebte Kirchengeschichte, Hannover 1952, S. 93.

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ihn als Kurator akzeptierten, wenn die Berufung ordnungsgemäß durch die Rechtsnachfolger des Königs erfolge; sie seien dann auch bereit, ihn als Vermögens-Verwalter zu belassen, falls das Kloster kirchliche Stiftung und der Aufsicht der Kirche unterstellt wird.106 Damit war die Bahn für die Ernennung frei. Allerdings lag das von Fürstenau erbetene Gutachten noch immer nicht vor ; in dieser unklaren Situation entschied sich Stalmann salomonisch für eine doppelte Ausfertigung. Lohmann wurde sie in einem ministeriellen Begleitschreiben zur Ernennungsurkunde mitgeteilt: Die Frage, ob die früher vom König erfolgte Ernennung eines weltlichen Mitgliedes des Klosters Loccum mit der Amtsbezeichung ›Kurator‹ als staatlicher oder als kirchenregimentlicher Akt anzusehen ist, ist zur Entscheidung noch nicht reif. Ihre Bestellung ist daher, um jeden Zweifel über ihre Rechtsgültigkeit auszuschließen, sowohl Namens des Preußischen Staatsministeriums von mir als auch von den mit der vorläufigen Wahrnehmung des landesherrlichen Kirchenregiments beauftragten Herren Staatsministern vollzogen.107 Der Status des Klosters war damit offen geblieben und dem Wunsch des Klosters war Genüge getan. Lohmann wurde als vollgültiges Mitglied des Konvents akzeptiert und blieb bis 1930 Kurator, während er schon am 31. Oktober 1924 als Präsident des Landeskonsistoriums in den Ruhestand trat. 2.4

Hermann Fürstenaus Gutachten

Am 6. Oktober 1921 legte der Gutachter Professor Fürstenau sein Gutachten vor.108 Er setzte breiter an als Schoen, da er das neue Material nutzen konnte, das Fleisch herangeschafft hatte. Unter Rückgriff auf die mittelalterlichen Verhältnisse wies er darauf hin, dass das Kloster stets eine geistliche Korporation mit eigener Rechtspersönlichkeit gewesen sei,109 daran hätten die Eingriffe des Lan-

106 Ebd.: Abt und Konvent an Lohmann, 1. 8. 1921. 107 LkAH, Best. N 111 Nr. 11: Berufungsurkunde vom 26. 9. 1921 (mit Abschrift für Abt und Konvent). 108 LkAH, Best. A 5 Nr. 590: Gutachten des a.o. Prof. Dr. Fürstenau. – Daraus auch die folgenden Zitate. 109 Fürstenau belegte dies mit Punkt 7 der 1831 vom König bestätigten Grundzügen der Verfassung: Dem Kloster verbleibt die Verwaltung seiner Güter und Einkünfte unter Oberaufsicht und Leitung des Kgl. Cabinets-Ministerium … und folgerte daraus, dass schon diese Worte zum Beweise dafür (genügen), daß das Kloster eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, und daß diese nicht etwa neu verliehen, sondern lediglich als bereits bestehend anerkannt worden ist. Dies werde dadurch bestätigt, dass das Kloster als solches, also als juristische Person, Sitz und Stimme auf dem Calenberg-Grubenhagenschen Provinziallandtage hat. Welcher Art von juristischen Personen das Kloster zuzurechnen ist, folgt endlich aus der Nr. 1. Wenn dort gesagt ist: Das Kloster soll aus einem Abt und aus einem Convent bestehen,

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desherrn, die sich stets an den Normen des kanonischen Rechts orientiert hätten, nichts geändert. Auch der Immediatbericht des Kultusministers an den preußischen König 1878 habe immer wieder den kirchlichen Charakter des Klosters betont. Damit hatte Fürstenau die These Stalmanns abgelehnt, dass das Kloster ein kirchliches Zweckvermögen sei, das von einer freien Stiftung verwaltet werde. Im zweiten Teil zeigte Fürstenau, dass das Kloster auch in den Organismus der Landeskirche eingegliedert sei. Erst 1864 sei durch die Kirchenvorstands- und Synodalordnung (KVSO), die durch ein Staatsgesetz gleichzeitig die landesgesetzliche Bestätigung erhielt, die einheitliche Landeskirche Hannovers gebildet worden. § 60 KVSO lege fest, dass der Abt zu Loccum kraft Amtes Mitglied der Synode sei; in dieser gesetzlichen Regelung der Stellung des Abtes als ›geborenes‹ Mitglied der Landessynode muß somit gleichzeitig eine Eingliederung des Klosters in den Organismus der Landeskirche erblickt werden.110 Der hier vollzogenen Eingliederung des Klosters in die Landeskirche entspreche auch der Anschluss des Klosters an die Bezirkssynode Stolzenau und die Funktion des Priors als ständiger Stellvertreter des dortigen Superintendenten. Im dritten Teil, der die Frage diskutierte, ob die Einrichtung des Kurators als kirchenregimentliches Handeln oder als Wahrnehmung der staatlichen Hoheitsrechte zu verstehen sei, zeichnete Fürstenau anhand der Berliner Akten des Kultusministeriums die Verhandlungen nach, die zur Bestellung des Kurators geführt hatten. Um diese Vorgänge verständlich zu machen, griff er weiter zurück auf die Vorgänge des Jahres 1791/92, die schon Barkhausen für seine Reformvorschläge 1877/78 ausgewertet hatte. 1791 hatte König Georg III. die Wahl von Johann Christoph Salfeld zum Abt kassiert, Salfeld aber dann kraft Devolutionsrechts111 selbst zum Abt ernannt. Dieser doppelter Eingriff war nur möglich, weil das Ministerium die Rechte des Königs hier als solche auffaßte, die er als der dem Kloster vorgesetzte K i r c h e n oberer, also als Träger des Kirchenregiments auszuüben hatte.112 Implizit wandte sich Fürstenau damit gegen … so zeigt dies, daß die juristische Person ›das Kloster‹ sich als eine Personengesamtheit, nicht aber als eine Anstalt oder eine Stiftung darstellt. 110 Fürstenau wies auf den Unterschied zu dem Göttinger Theologieprofessor hin, den jeweils die Theologische Fakultät in die Synode entsende. Dieser verdankt sein Amt nicht ohne weiteres seinem Amte als Professor, sondern der Wahl der Fakultät, die hierbei als Wahlkörperschaft erscheint und insofern gleichzustellen ist mit den anderen in der Kirchenvorstands- und Synodalordnung (§ 61) bestimmten Wahlkörperschaften. 111 Im kanonischen Recht ist das Devolutionsrecht das in der hierarchischen Ordnung begründete Recht des Bischofs, tätig zu werden, wenn der ihm Untergeordnete seiner Pflicht entweder nicht oder doch nicht in der gesetzlichen Weise genügt. 112 Unterstreichung im Gutachten. Fürstenau zitierte dazu aus dem Reskript Georgs III. vom 27. 3. 1792, daß bei den Mediat-Stiftern evangelischer Reichslande die Bestätigung oder Verwerfung einer Prälatenwahl, … zu den höchsten bischöflichen, mit der Landeshoheit verknüpften, durch den Religions- und Westfälischen Frieden erworbenen Gerechtsamen

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die These Stalmanns, die aus der staatlichen Hoheit kommenden Aufsichtsrechte seien erst spät, im 19. Jahrhundert, entstanden, denn schon das Reskript vom 27. 3. 1792 unterscheide mit bemerkenswerter Klarheit zwischen der Landeshoheit einerseits und den höchsten bischöflichen, mit der Landeshoheit verknüpften Gerechtsamen evangelischer Landesherrn. Damit war die Behauptung Stalmanns zurückgewiesen, die Regierungen hätten kirchenrechtlich argumentiert, weil der Begriff der Staatshoheit noch nicht genügend entwickelt worden sei. Bei diesem 1791/92 präzise formulierten kirchenregimentlichen Selbstverständnis blieb es in der Folgezeit, sowohl bei der Neuregelung der Klosterverfassung 1831113 als auch bei deren Revision und Ergänzung 1878. Die Visitation des Klosters 1877 hatte für Barkhausen ein doppeltes Ergebnis erbracht: Es sei eine Beseitigung der festgestellten Mißstände seitens der Kirchenregierung zu bewirken und … durch eine Änderung der Verfassung des Klosters (müsse) der Kirchenregierung eine wirksame Aufsichtsführung ermöglicht werden. Mit dieser Sicht setzte sich Barkhausen durch, so dass die Kabinettsordre des Königs vom 10. April 1878, mit denen die »Änderungen und Zusätze zur Klosterverfassung« genehmigt und der Kurator in den Konvent eingefügt worden sei, keine Umwandlung des kirchenregimentlichen Charakters der dem König zustehenden Bestätigung der Wahl des Abtes in einen staatlichen Akt war. Der König und sein Minister handelten als Kirchenregiment nicht nur bei der Wahl des Abts, sondern auch bei der Wahl von Konventualen und der Ernennung des Kurators. Fürstenaus Ergebnis war eindeutig, dass das Klosters keine freie Stiftung war, sondern seit dem Mittelalter eine eigenständige geistliche Korporation (Körperschaft), die vom Landesherrn als summus episcopus beaufsichtigt und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in die hannoverschen Landeskirche eingegliedert war. Damit war die Vorstellung abgewiesen, das Kloster sei eine ›freie‹ Stiftung, damit fiel die wichtigste Voraussetzung für Stalmanns Argumentation. An einer Stelle gab Fürstenau aber Stalmanns Einspruch gegen die Auffassung Fleischs (und des Konvents) recht: Art. 137 WRV war nicht unmittelbar auf das Kloster anzuwenden, weil es keine Religionsgesellschaft im Sinne der Verfassung war. Dennoch hatte Schoen insoweit recht, dass die Kirchenartikel der Reichsverfassung für das Kloster galten, denn es war ja in die hannoversche Landeskirche eingegliedert. Fürstenau fügte hinzu, dass die Aufgaben des Kirchenregiments zur Zeit noch (Oktober 1921) von den drei Ministern evangelievangelischer Landesherren gehört; … solche höchste Kirchengewalt und bischöfliche Rechte aber den letzteren in eben dem Umfange und mit völlig gleicher gänzlicher Unabhängigkeit zustehen, als selbige in der römischen Kirche von deren geistlichen Oberhaupte ausgeübt werden. 113 Fürstenau wies darauf hin, dass die neue Verfassung des Klosters 1831 nur als ergänzende Grundzüge einer Verfassung erlassen wurden, denn der Kern der Verfassung blieb erhalten: das Kloster wurde als Korporation mit Abt und Konvent, und nicht als Stiftung aufgefasst.

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schen Glaubens auszuüben seien. Das preußischen Staatsgesetz vom 20. 3. 1919 habe bestimmt, dass die Rechte, die dem König als Träger des Kirchenregiments zugestanden hatten, noch solange von den drei Ministern evangelischen Glaubens auszuüben waren, bis die Kirchen diese Rechte mit staatlicher Zustimmung auf kirchliche Organe übertrugen. Das war in Hannover noch nicht der Fall. So müssten noch die drei Minister hier tätig werden und es seien gegenwärtig nicht minder die Befugnisse des Kultusministers in dieser Beziehung unverändert geblieben. Damit konnte Stalmann weiterhin aktiv sein. Im letzten Abschnitt folgte Fürstenau der Argumentation Schoens: Bei der Besetzung der Stellen des Abts und der Konventualen dürfe der Staat zwar nicht positiv, aber doch negativ mitwirken. Die Verfassung erlaube es dem Staat durchaus, dass er sich bei Körperschaften des öffentlichen Rechts »die Erhebung eines Einspruchs gegen die Verleihung eines Kirchenamtes an eine hierfür in Aussicht genommene Person vorbehält«.114 2.5

Stalmanns Rückzug

Die Idee, Fürstenau als Gegengutachter einzusetzen, war fehlgeschlagen, damit musste Stalmann seine bisherige Position aufgeben. Wenigstens teilweise war er dazu bereit, das ließ ein Erlass des Kultusministers vom 22. März 1922 an das Landeskonsistorium in Hannover erkennen. Dem Landeskonsistorium wurden die Gutachten von Schoen und Fürstenau übersandt, damit war anerkannt, dass die Landeskirche am Verfahren zu beteiligen sei. Im Erlass hieß es: Meine Stellungnahme zu den angeregten Fragen behalte ich mir noch vor. Doch erscheint es mir geboten, dass, nachdem die bisher von mir ausgeübten kirchenregimentlichen Befugnisse auf das Landeskonsistorium übergegangen sind, nunmehr auch das Landeskonsistorium … zu diesen Fragen ausdrücklich Stellung nimmt …115 Die Antwort des Landeskonsistoriums fiel erwartungsgemäß 114 Fürstenau erweiterte die Argumentation noch: Er behauptete, auch bei künftigen Änderungen der Klosterverfassung müsse der Staat mitwirken. Er begründete das, dass die Verfassung des Klosters durch den König als Staatsoberhaupt festgestellt worden ist. Einen Beleg für diese Behauptung bietet Fürstenau nicht. Fürstenau wollte wohl auf diese Weise dem Kloster den öffentlich-rechtlichen Status sichern; bei der Errichtung und Veränderung von Körperschaften des öffentlichen Rechts muss nach damaligem Verständnis der Staat mitwirken. – Das Landeskonsistorium protestierte aber sofort gegen diesen Hinweis, als es das Gutachten Fürstenaus vom Ministerium erhielt. 115 LkAH, Best. A 5 Nr. 590: Kultusministerium an das Landeskonsistorium, 20. 3. 1922. – Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass sich schon die Landessynode zur Frage Loccums geäußert habe. Die außerordentliche Landessynode hat am 27. Oktober 1920 den Antrag angenommen: Bei der großen Bedeutung, welche das Kloster durch die Stellung des Abtes wie durch das Predigerseminar für die Landeskirche hat, wolle Synode das LandesKonsistorium ersuchen, die Mittel und Wege festzustellen, wie bei der Neuordnung der landeskirchlichen Verhältnisse eine Sicherstellung des Klosters für die landeskirchliche

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erfreut aus: Das Landeskonsistorium bestätigte, dass das Kloster als Korporation Teil der Landeskirche sei, dafür nenne das Gutachten Fürstenaus genügend Gründe. Es sei nun Sache der Landeskirche zu festzulegen, in welcher Art die Einfügung des Klosters in den Organismus der Landeskirche und wie die Aufsichtsrechte ihrer Organe über das Kloster geordnet werden, das Kultusministerium müsse aber regeln, wie der Staat die Aufsicht über das Kloster wahrnehme, bis ein allgemeines Gesetz die Staatsaufsicht über die Kirchen regele. 14 Tage später schrieb Stalmann in einem Privatbrief an Lohmann, dass er dem Gutachten Fürstenaus im wesentlichen beitrete, doch werde ein offizieller Bescheid noch auf sich warten lassen, denn dazu sei auch die Zustimmung des Finanzministeriums und Justizministeriums nötig. Deshalb empfahl er Lohmann, dass der Konvent für die Wahl neuer Konventualen das bisherige Verfahren beibehalte, den Wahlaufsatz also beim Kultusministerium einreiche. Dies sei ohne jedes Präjudiz möglich, auch werden in der Personenfrage keine Schwierigkeiten gemacht werden.116 Damit war dem Kloster noch einmal eine goldene Brücke gebaut, die Wahl neuer Konventualen war möglich, ohne dass das Kloster ein Recht aufgab. Indirekt signalisierte er dem Präsidenten des Landeskonsistoriums, dass das Kloster als Teil der Landeskirche in der Kirchenverfassung erwähnt werden könne, ohne dass ein Protest des Ministeriums zu erwarten war. Tatsächlich ließ die offizielle Stellungnahme der Regierung auf sich warten. Erst am 15. 12. 1922 schrieb der Kultusminister an Abt und Konvent, im Einverständnis mit dem Herrn Finanzminister erkenne ich an, daß das Kloster Loccum in den Organismus der Hannoverschen Landeskirche eingegliedert ist.117 Damit war endgültig klar : Das Kloster war kein ›freies‹ Stift mehr. Es fügte sich, dass das Landeskonsistorium diesen Erlass eine Woche vor der Schlussabstimmung in der Verfassunggebenden Kirchenversammlung bekanntgeben konnte. Dankbar schrieb Präsident Lohmann an das Ministerium, der Erlass löste soweit wir feststellen konnten, allgemein das Gefühl der dankbaren Befriedigung aus.118 In Loccum war diese Mitteilung ein Tedeum wert. Fleisch versammelte die Kandidaten dazu, in der Hora betete er mit ihnen aus Psalm 84: Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und Zwecke und seine rechtliche Einfügung auch in der neuen Organismus der Landeskirche zu erreichen ist. (Aktenstücke der a.o. Landessynode 1920, S. 64: Urantrag Nr. 25). 116 LkAH, Best. A 5 Nr. 590: Stalmann an Lohmann, 8. 4. 1922. 117 Ebd. – (Durchschrift für das Landeskonsistorium). – Gleichzeitig wurde zur Staatsaufsicht über das Kloster festgelegt, dass die allgemeinen Normen für die Körperschaften der hannoverschen Landeskirche galten. Offen blieb allerdings noch, in welchem Umfang der Staat bei Änderungen der Klosterverfassung zu beteiligen war, letztlich ist diese Frage erst durch den Loccumer Vertrag gelöst worden. 118 Ebd.: Landeskonsistorium an Kultusminister, 8. 1. 1923.

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sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn, mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. … Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.119

119 KAL 3/386: [Ordnung der] Festhora zur Feier der Unabhängigkeit des Klosters vom Staate.

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»Die Schwere der bischöflichen Verantwortung« – August Marahrens als Abt in der NS-Zeit

August Marahrens wurde am 11. Oktober 1875 in Hannover geboren. Nach seinem Theologie- und Geschichtsstudium in Göttingen und Erlangen trat er bereits 1899 zum ersten Mal in das Kloster Loccum ein. Dort blieb er im Predigerseminar bis 1901, als er sein zweites Examen absolvierte.1 Das war noch zur Zeit von Abt Uhlhorn, dessen Nach-Nachfolger Marahrens werden sollte.

1.

Der erste hannoversche Landesbischof wird Abt zu Loccum

Im Oktober 1927 war Abt Hartwig gestorben. Um seine Nachfolge gab es zunächst keine Debatte, denn es wurde allgemein erwartet, dass der Landesbischof in Hannover zum neuen Abt von Loccum gewählt würde. Das war sinnvoll, denn nach dem Ende der Monarchie und des landesherrlichen Kirchenregiments hatte sich die Landeskirche Hannovers eine neue Verfassung gegeben und erstmals das Amt eines Landesbischofs eingeführt. Bei der ersten Abtswahl unter den Bedingungen der neuen Kirchenverfassung kam nun die Frage auf, ob nicht das ›neue‹ Amt des Landesbischofs mit dem ›alten‹ Amt des Abtes von Loccum verbunden werden sollte. Könnte das neue Amt nicht durch die Verbindung mit der alten Institution gestärkt und in gewisser Weise auch gefestigt werden? War es nicht sinnvoll, in den Zeiten des Übergangs sichtbare Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu schaffen sowie Anknüpfungspunkte zwischen Kontinuität und Neubeginn zu bieten? Die Frage war durchaus berechtigt. Einerseits war August Marahrens erst drei Jahre zuvor als der erste hannoversche Landesbischof eingeführt worden. Erfahrungen mit dem neuen Amt lagen kaum vor. Bewährungsproben hatte es 1 Seine weiteren Stationen: 1902 Gymnasiallehrer in Goslar, 1904 Hof- und Schlossprediger und Konsistorialassessor in Hannover, 1909 Studiendirektor auf der Erichsburg, 1914 Lazarettpfarrer im Ersten Weltkrieg, 1919 Superintendent in Einbeck, 1922 Generalsuperintendent in Stade, 1925 Landesbischof in Hannover. Marahrens war seit 1905 mit Agnes Werner verheiratet (1880 – 1952).

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noch nicht gegeben. Andererseits war Marahrens allgemein akzeptiert. Er erfreute sich sogar einer gewissen Beliebtheit und hatte sich in den wenigen Jahren seines Bischofsamtes seit 1925 einen respektablen Ruf erarbeitet. Doch plötzlich wurden diese Argumente im Konvent des Klosters in Frage gestellt. Dort wurde erwogen, ob nicht auch Generalsuperintendent D. Möller aus Hannover ein geeigneter Kandidat wäre. Er war der dienstälteste Konventual des Klosters und könnte mit seiner Kandidatur eine früher durchaus übliche Tradition fortsetzen. Im Februar 1928 hat die Hannoversche Landeszeitung diese interne Debatte öffentlich gemacht,2 ohne die Vermutungen jedoch beweisen zu können. Zu öffentlichen Erklärungen war niemand bereit. Dennoch war die Landeszeitung mit ihrem investigativen Journalismus auf der richtigen Spur, wie das Protokoll der Abtwahl vom 21. Juni 1928 nachträglich bestätigt. Demnach wurde Möller unmittelbar vor der Wahlhandlung von Vizepräsident D. Wagenmann gefragt, ob er eine Wahl annehmen würde, wozu der Gefragte jedoch aus Altersgründen und auch aus anderen Gründen3 nicht bereit war. Dann aber richtete Möller dieselbe Frage auch an Wagenmann, ob er denn eine Wahl zum Abt annehmen würde, worauf der so Gefragte zu Protokoll gab, »dass er schon, um bei seiner Stellungnahme gegen die Verbindung des Amts des Landesbischofs mit dem des Abts von Loccum jeden Schein eines persönlichen Interesses zu vermeiden, eine Wahl ablehnen müsse«.4 So hatten zumindest einige Konventsmitglieder tatsächlich erwogen, einen anderen Kandidaten als den Landesbischof zum Abt zu wählen, weil sie die in der Öffentlichkeit erwartete Verbindung der beiden Ämter gerade nicht befürworteten. Nun aber mussten sie von ihrem Plan Abstand nehmen, um die eigenen Sachargumente durch den Anschein eines persönlichen Interesses nicht einzuschränken. Das Wahlergebnis fiel dann auch entsprechend eindeutig aus. Von den vier abgegebenen Stimmen, anwesend waren neben Möller und Wagenmann auch die Herren Lohmann und Meyer, entfielen alle Stimmen auf August Ma-

2 Vgl. den Artikel »Videant consules! Wer wird Abt von Loccum? Aufsehen erregende Gerüchte« (Hannoversche Landeszeitung vom 12. 02. 1928). – Die Zeitungsüberschrift ist bemerkenswert, erinnert sie doch an den Staatsnotstand der späten römischen Republik und den Beschluss des Senats, die Konsuln zu bevollmächtigen, alles zu tun, um Schaden abzuwenden (»Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat«). Dieses ungewöhnliche Zitat zeigt, dass zumindest der Verfasser des Artikels und mit ihm wohl auch weite Teile seiner Leserschaft in der bevorstehenden Abtwahl eine kirchenpolitische Richtungsentscheidung von zukunftweisender Bedeutung sahen. 3 Niederschrift über die Verhandlungen des Konvents am 21. Juni 1928 zu Hannover (Landeskirchliches Archiv Hannover : (i. F.: LkAH): Best. L 1 Nr. 74). 4 Ebd.

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August Marahrens als Abt in der NS-Zeit

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rahrens. Er war nunmehr in Personalunion sowohl der erste Landesbischof in Hannover als auch der 61. Abt des Klosters Loccum.5 Am Reformationstag des Jahres 1928 sollte er in sein klösterliches Amt eingeführt werden. Aber wie sollte das geschehen? Und vor allem: Wer sollte die Einführung vornehmen? Abt Hartwig war noch von einem königlichen Kommissar als dem Vertreter des Landesherrn eingeführt worden. Nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments war diese Funktion jedoch weggefallen, und so blieb es zunächst unklar, wer diese Aufgabe übernehmen sollte. Als Lösung bot sich dann eine zweifache Form an, die sich bis heute bewährt hat.6 Demnach wird die Urkunde des Kirchensenates zur Bestätigung der Wahl im Kapitelsaal vor dem versammelten Konvent verlesen. Dann werden dem neuen Abt die Insignien seines Amtes übergeben, und er zieht gemeinsam mit dem Konvent in die Kirche ein.7 Dort erklärt der neue Abt vor der Gemeinde, dass er rechtmäßig gewählt und bestätigt worden sei und das Amt nunmehr übernehme, – eine moderne Variante der alten Investiturfrage.

2.

Frühe kirchenpolitische Herausforderungen

Im Kloster Loccum kam es für Marahrens schon zu einer ersten Herausforderung, als die nationalsozialistische Gewaltherrschaft noch gar nicht begonnen hatte. Gleichwohl waren ihre Schatten dunkel zu ahnen, wie sich an diesem Beispiel zeigt, denn im Dezember 1930 erreichte den Abt ein Brief aus dem Hospiz des Klosters. Darin monierten die Loccumer Vikare den Fleischbezug des Klosters bei einem jüdischen Schlachter aus Stadt Rehburg. Diese Fleischlieferungen seien den Vikaren grundsätzlich unsympathisch, zumal es doch auch in Loccum gute Schlachter gebe und im Kontext der politischen Entwicklungen der Einkauf bei einem jüdischen Schlachter nachteilig sein könne.8 Eine direkte Antwort von Marahrens auf diesen Brief ist nicht belegt. Vielmehr schrieb er einige Tage später an die Hausdame des Klosters und kündigte die Behandlung der Frage für die nächste Konventssitzung an. In jenem Brief befürchtet er zwar grundsätzlich, dass dem Kloster aus der Tatsache einer sol5 Vgl. Akten betr. Wahl und Einführung des Abts D. Marahrens (Klosterarchiv Loccum (i. F.: KAL): Best. 3 Nr. 440). 6 Vgl. z. B. die Ordnung der Einführung von Abt D. Lohse am 18. 09. 1977, in: Geschichten aus dem Kloster Loccum. Studien, Bilder, Dokumente, hrsg. v. Horst Hirschler und Ernst Berneburg, Hannover 1980, S. 47. 7 Vgl. das Foto des Einzuges von Abt Marahrens bei seiner Einführung am 31. 10. 1928 in: ebd., S. 70. 8 Vgl. den Brief des Seniors des Hospizes an Abt D. Marahrens vom 12. 12. 1930, in: Jan Olaf Rüttgardt: Das Kloster Loccum im Dritten Reich, in: JGNKG 85, 1987, S. 197 – 222, hier : S. 206.

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chen Bezugsquelle in unserer Vorbereitung des Dritten Reiches9 Schwierigkeiten entstehen könnten. Aber er stellt die Frage, ob denn die Loccumer Schlachter überhaupt in der Lage wären, zuverlässig und gut zu liefern. Und er betont die lange gewachsenen Beziehungen zu dem jüdischen Schlachter Hammerschlag aus Rehburg, dessen treffliche Ahnen schon vor Jahrzehnten … das Kloster ausgezeichnet bedienten.10 Das könne nicht einfach übersehen werden. Vielmehr erwachse dem Kloster daraus eine bleibende Verpflichtung zur Dankbarkeit. Für den jüdischen Schlachter Hammerschlag aus Rehburg bedeutete diese Haltung, die Marahrens auch dem in ähnlicher Lage befindlichen Predigerseminar Erichsburg mitteilen ließ, die Sicherung seiner Existenz. Wie lange? Das ist nicht belegt. In Rehburg wird jedoch mündlich überliefert, dass die Schlachterei nicht zuletzt wegen dieser anhaltenden Wirtschaftsbeziehungen zum Kloster weiter bestehen konnte, bis sie 1937 geschlossen wurde. Im Jahr darauf ist die Familie des Schlachters Hammerschlag aus Rehburg nach Argentinien emigriert.11 Die kirchenpolitischen Herausforderungen der Zeit brachten es zunächst mit sich, dass in der Personalunion beider Ämter der Abt zu Loccum gegenüber dem Landesbischof von Hannover in den Hintergrund trat. Als im Januar 1933 die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland begann und mit ihr auch der Kirchenkampf einsetzte, wurde das Bischofsamt in Hannover in extremer Weise herausgefordert und beansprucht. August Marahrens übernahm in diesen Jahren eine außerordentlich große Fülle an Ämtern und Funktionen und absolvierte ein damit verbundenes kaum vorstellbares Arbeitspensum an Aufgaben und Terminen. Sehr schnell entwickelte er sich zur zentralen kirchlichen Leitungsfigur jener Zeit. Das gilt zunächst sowohl für die Bekennende Kirche als später auch für die offizielle Deutsche Evangelische Kirche (DEK) sowie für das weltweite Luthertum: Er war der Vorsitzende der Ersten Vorläufigen Kirchenleitung (1. VKL der DEK bis 1936), der Mitbegründer des Lutherrates, des Rates der EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (seit 1936), der Vorsitzende der Kirchenführerkonferenz (seit 1937) und schließlich auch der Vorsitzende des Geistlichen Vertrauensrates der Deutschen Evangelischen Kirche (seit 1939). Gleichzeitig war er als Präsident des Lutherischen Weltkonvents von 1935 bis 1945 der Repräsentant des weltweiten Luthertums. Als im Mai 1933 die Verfassung der künftigen Deutschen Evangelischen Kirche ausgearbeitet wurde, berief der Präsident des Kirchenausschusses, D. Kapler, den reformierten Pfarrer D. Hesse aus Elberfeld und den hannoverschen 9 Abt D. Marahrens an die Hausdame des Predigerseminars vom 27. 12. 1930, in: ebd., S. 207. 10 Ebd. 11 Vgl. Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, hrsg. v. Herbert Obenaus, Bd. 1 und 2, Göttingen 2005, hier : Bd. 2, S. 1301.

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Landesbischof in den nach ihm benannten Kapler-Ausschuss zur Vorbereitung der künftigen Verfassung. Wo sollte dieses Gremium tagen? Marahrens ergriff die Initiative und lud den Ausschuss nach Loccum ein. Diesen Ort hatte er bewusst gewählt. In der Abgeschiedenheit des Klosters und mit dessen kirchenund theologiegeschichtlicher Bedeutung im Hintergrund sollte hier die Zukunft der Deutschen Evangelischen Kirche beraten werden. Dabei nahm der Ausschuss zur Kenntnis, dass Hitler die Beratungen mit politischem Interesse verfolgte und eigens seinen persönlichen Beauftragten, Ludwig Müller, nach Loccum entsandte. Gegen ihn hegte Marahrens von Anfang an keine Sympathie. Zwar akzeptierte er, dass der Wehrkreispfarrer von Hitler mit der Teilnahme an den Verhandlungen beauftragt war. Aber er vermisste bei dem späteren Reichsbischof sowohl jede fachliche Kompetenz als auch eine grundsätzliche persönliche Stärke. Überhaupt zeigte Müller nur wenig Interesse an dem Inhalt der Verhandlungen. Das Ergebnis der Ausschuss-Beratungen, das Loccumer Manifest, hat er wohl mit unterzeichnet. Viel lieber nutzte er jedoch jede Gelegenheit, um auf seinem Pferd durch den Klosterwald zu reiten, wie noch Jahre später erzählt wurde. Marahrens sah sich in seiner persönlichen Einschätzung gegenüber dem Beauftragten von Hitler bestätigt und blieb sogar der späteren offiziellen Einführung von Ludwig Müller als Reichsbischof demonstrativ fern.

3.

Wochenbriefe in der NS-Zeit

Wie hielt Marahrens den Kontakt zu seiner hannoverschen Landeskirche und auch zum Kloster Loccum, wenn er durch die Zeitumstände und die Vielzahl der Ämter, die diese Zeiten mit sich brachten, doch so beansprucht war? Diese Frage muss er sich auch gestellt und relativ rasch eine Antwort gefunden haben. So entwickelte er aus verschiedenen Vorformen ein eigenes Medium, das er konsequent zu seinem Organ ausbaute. Regelmäßig schrieb er seit 1934 bis zu seinem Rücktritt 1947 Briefe an die überwiegende Mehrheit seiner hannoverschen Pastorenschaft.12 Zunächst waren es 780 wöchentlich vervielfältigte Exemplare, später dann ungefähr 1100 Stück. Neben Bibelmeditationen und homiletischen Bemerkungen zu den Predigttexten beinhalten diese von ihm selbst so benannten Wochenbriefe jeweils einen Abschnitt zur aktuellen Lage der Kirche. Es sind diese kirchenpolitischen Lagebesprechungen, welche die Wochenbriefe zu einer kirchengeschichtlichen Quelle ersten Ranges machen. Gelegentlich verfasste Marahrens diese Briefe in Loccum, wenn er sich gerade 12 Vgl. Zur Lage der Kirche. Die Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens 1934 – 1947, hrsg. u. bearb. v. Thomas Jan Kück, Bd. 1 – 3, Göttingen 2009.

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dort aufhielt. Sie wurden dann nach Hannover in die Bischofskanzlei übermittelt, wo sie getippt, vervielfältigt und versandt wurden. In der Summe waren es 24 Briefe, die er von Loccum aus schrieb: 24 Loccumer Briefe von insgesamt 446 Wochenbriefen in 14 Jahrgängen. Dieses Zahlenverhältnis erlaubt einen recht guten Rückschluss auf die Fülle der bischöflichen Aufgaben, zu deren Erledigung er sich an den zentralen kirchenpolitischen Orten wie Berlin, Leipzig oder München, vor allem aber in Hannover aufhielt und die ihm – abgesehen von der Zeit nach der kriegsbedingten Zerstörung des Loccumer Hofes in Hannover im Oktober 1943 – nur relativ selten die Gelegenheit ließen, über einen längeren Zeitraum im Kloster zu sein. In den Wochenbriefen tritt Marahrens in einer grundsätzlich ambivalenten Haltung hervor.13 Da gibt es zwar Äußerungen gegen den Nationalsozialismus, sofern er weltanschaulich als Ersatzreligion auftritt. Auch dokumentieren die Wochenbriefe, wie sich Marahrens gegen den innerkirchlichen Machtanspruch der Deutschen Christen beharrlich gewehrt und dabei beachtliche Erfolge wie das ›Celler Urteil‹ von 1935 verzeichnet hat.14 Vielmehr finden sich aber auch immer wieder Anpassungen und Zugeständnisse an die NS-Politik, beispielsweise zu den Fünf Grundsätzen für eine den Erfordernissen der Gegenwart entsprechende neue Ordnung der Deutschen Evangelischen Kirche des Reichskirchenministers Kerrl,15 sowie aufrichtig empfundene Freude, wenn es um außenpolitische Erfolge oder um militärische Siege während des Krieges ging. Dann wurden Glückwünsche oder Grußadressen an die Reichskanzlei nach Berlin geschickt, sogar noch im Sommer 1944 nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli.16 Zwar distanzierte er sich in seinem Rechenschaftsbericht vor der Landessynode am 15. April 1947 selbstkritisch von dieser und anderen Stellungnahmen und erklärte, das Telegramm habe einen Unwürdigen erreicht. Dennoch bleibt eine grundsätzliche Ambivalenz bestehen, wenn es um August Marahrens in der NS-Zeit geht. Wo andere kirchliche Repräsentanten mutig gesprochen haben, hat er geschwiegen. Und wo andere zurückhaltend waren, hat er Loyalität bekundet, oftmals mit ›staats‹-tragenden Worten. Warum? Ihm ging es, wie er immer wieder sagte, um die Erhaltung der Kirche. Das war ihm wichtig. Geradezu eigensinnig versteifte er sich auf dieses Ziel.17 Alles an13 Vgl. Thomas Jan Kück: Einleitung, in: ebd., Bd. 1, S. 50 – 114, hier: S. 112. 14 Vgl. Wochenbrief II, 11 vom 07. 03. 1935, abgedr. in: ebd., Bd. 1, S. 222 – 228. 15 Vgl. Wochenbriefe VI, 25 vom 28. 06. 1939 bis VI, 31/32 vom 09. 08. 1939, abgedr. in: ebd., Bd. 2, S. 1167 – 1199. 16 Vgl. Wochenbrief XI, 14 vom 24. 07. 1944; abgedr. in: ebd., Bd. 3, S. 1709. 17 Den Begriff ›Eigen-Sinn‹ hat Hans Otte auf diesen Zusammenhang konstruktiv übertragen und ausführlich diskutiert; vgl. Hans Otte: Ein Bischof im Zwielicht. August Marahrens (1875 – 1950), in: Bewahren ohne Bekennen? Die hannoversche Landeskirche im Nationalsozialismus, hrsg. v. Heinrich Grosse, Hans Otte und Joachim Perels, Hannover 1996, S. 179 – 221, bes. S. 188 f.

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dere trat dahinter zurück. Er wollte die Kirche auch unter den damals neuen politischen Bedingungen des NS-Staates, auf dessen anhaltende Dauer er sich – wie die überwiegende Mehrheit der Deutschen auch – eingestellt hatte und dessen katastrophales Ende für ihn im Vorwege nicht erkennbar war, erhalten. Dabei sah er sich durch die lutherische Theologie, wie er sie damals verstand, bestätigt. Demnach war der Staat eine Ordnung Gottes, in die man sich gehorsam zu fügen hatte, wie es der Apostel Paulus schon in seinem Römerbrief geschrieben hatte. Diese Haltung blieb zwar schon damals nicht unwidersprochen, sie war aber dennoch mehrheitsfähig und brachte erst im Nachhinein erhebliche und grundsätzliche Kritik mit sich.

4.

Wohnsitz in Loccum

Wir woll’n mal sehen – das sei eine übliche Redewendung bei Marahrens gewesen. So berichten es seine Kinder und andere Zeitzeugen.18 Im kirchenpolitischen Alltag konnte das hinderlich sein, denn hier war oftmals ein schnelles Handeln und Entscheiden gefragt. Aber das war nicht seine Sache. Entscheidungen wollten wohl überlegt und nach allen Seiten hin bedacht sein. Nur nichts übereilen! Nicht selten führte dieses zögerliche Vorgehen dann zu einem eher zaghaften Ergebnis. Demgegenüber zählten Standfestigkeit und Beharrlichkeit zu seinen Stärken. Und wie seine Bedächtigkeit nachteilig wirken konnte, so erwies sich seine Beharrlichkeit mitunter als ein Vorteil im kirchlichen Handeln. Wir woll’n mal sehen – zögerlich und bedächtig auf der einen Seite, standfest und beharrlich auf der anderen Seite. Im Kloster bewährte sich noch eine weitere Eigenschaft, die seiner Haltung und auch seiner schweren körperlichen Statur entsprach. Hier entfaltete er vor allem seit Oktober 1943, als er nach der kriegsbedingten Zerstörung des Loccumer Hofes in Hannover mit seiner Frau im Kloster wohnte, eine fürsorgliche, im klösterlichen Kontext väterliche Haltung für das Kloster und die Menschen in dessen Kontext. So konnte er mehrmals eine Fremdnutzung des Klosters verhindern: Als die Nationalsozialisten das Kloster als Seminaranstalt für staatliche Aufbaulehrgänge nutzen wollten, wehrte er diese nachhaltig vorgetragenen Pläne ab und willigte im Gegenzug in den Verzicht auf das Predigerseminar in der Göhrde ein, das von der Kirche gepachtet war.19 Und als das Kloster unmittelbar nach dem Ende des Krieges von der britischen Militärregierung in Nienburg beschlagnahmt werden sollte, konnte er auch dieses Vorhaben zu18 Vgl. August Marahrens – Ein Gespräch mit Zeitzeugen, in: ebd., S. 501 – 513, hier : S. 504. 19 Vgl. Akten betr. Schreiben des Abts D. Marahrens vermischten Inhalts (KAL: Best. 3 Nr. 436).

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rückweisen und erklärte, dass die Gebäude schon in naher Zukunft – in the near future – wieder für theologische und schulische Zwecke gebraucht würden. So wurde die Wiederaufnahme des Seminarbetriebes für Oktober 1945 in Aussicht genommen.20 Zu den Loccumern pflegte das Ehepaar Marahrens eine enge Verbindung. Das war eine Beziehung, die stark auf Gegenseitigkeit beruhte. Seit 1943 war im Kloster ein Lazarett untergebracht. Bei der Pflege der Verletzten und mitunter bei der Betreuung von deren Angehörigen übernahm gelegentlich auch Agnes Marahrens als Ehefrau des Abtes fürsorgliche Aufgaben. Als bei einem Fliegerangriff im November 1944 sieben Menschen ums Leben kamen, da leitete Marahrens persönlich die Trauerfeier für die Getöteten und hielt die Trauerpredigt in der Klosterkirche.21 Und als schließlich gegen Ende des Krieges und in der Zeit danach die Einquartierungen von Flüchtlingen organisiert werden mussten, da übernahm er für die Ortschaft Loccum bisweilen die Korrespondenz mit den Behörden.22

5.

Amtsjubiläum im Abseits – die letzten Jahre

Am 31. Oktober 1948 beging Marahrens sein 20-jähriges Jubiläum als Abt von Loccum. Nachmittags gab es um 16 Uhr ein Kaffeetrinken im Eßsaal und Langen Jammer mit ungefähr 30 geladenen Gästen. Eine halbe Stunde später schloss sich ein Festakt in der Bibliothek mit der Überreichung der Festgabe »Kloster Loccum« an. Unter dem Titel Die Bauvorschläge des Priors König für den Umbau der Stiftskirche vor 100 Jahren hielt Konventualstudiendirektor Ködderitz den Festvortrag. Ein gemeinsames Zusammensein am Abend mit einer abschließenden Andacht von Abt Marahrens beendete das Festprogramm.23 Eine weitere öffentliche Teilnahme gab es nicht, Reaktionen auch nicht – ein Amtsjubiläum im Abseits. Der Titel des Festvortrags konnte dieses Abseits nicht lauter zur Sprache bringen, baugeschichtlich interessant, ohne Frage, aber doch ganz abgelegen von den damals drängenden Fragen und bestimmenden Themen der Zeit. Inzwischen war Marahrens als Landesbischof in den Ruhestand getreten. Hanns Lilje, der später auch sein Nachfolger als Abt von Loccum werden sollte, hatte bereits im April 1947 das Bischofsamt von ihm übernommen. Dadurch war die Personalunion der beiden Ämter beendet. Wo sollte der Landesbischof in 20 21 22 23

Vgl. ebd. Vgl. Vermischte Korrespondenzen des Abtes 1928 – 1966 (KAL: Best. 11 Nr. 21). Vgl. ebd. Vgl. Akten betr. 20jähriges Jubiläum des Abts D. Marahrens (KAL: Best. 3 Nr. 438).

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Hannover wohnen, und wo sollte der Abt von Loccum wohnen, wenn er in Hannover war? Bis zum Oktober 1943 diente der Loccumer Hof, das Stadthaus des Abtes von Loccum in Hannover, als Dienstsitz sowohl des Abtes als auch des Landesbischofs. Diese Kombination hatte sich gut bewährt, wenngleich der Konvent schon im Jahr 1928 wegen der damals schwierigen wirtschaftlichen Lage des Klosters beschlossen hatte, den Loccumer Hof in Hannover für 450.000 Mark an die Reichsbank zu verkaufen.24 Dem hatte der Magistrat jedoch aus städtebaulichen Gründen und unter Berufung auf eine Urkunde aus dem Jahr 1563 seine Zustimmung verweigert.25 15 Jahre später wurden die Gebäude kriegsbedingt völlig zerstört. Marahrens wohnte nun, wenn er in Hannover war, bei Pastor Wasmuth, dem Vorsteher des Birkenhofs in Hannover-Kirchrode. Ansonsten residierte er im Kloster Loccum und wohnte dort gemeinsam mit seiner Ehefrau. Das Ende der Personalunion nötigte die Verantwortlichen letztlich zu einer Entscheidung in der Frage des Dienstsitzes, wenngleich diese Frage schon im Vorfeld des allgemein erwarteten Rücktritts von Marahrens erörtert wurde. So hatte es bereits unmittelbar nach dem Ende des Krieges Pläne zum Wiederaufbau des Loccumer Hofes gegeben. Im Jahr 1946 lagen sogar schon konkrete Bauzeichnungen für das gesamte Anwesen vor: Die repräsentative Toreinfahrt, eine seitlich liegende Wohnung für Mitarbeitende und das Haupthaus mit Kapelle.26 Was sollte aber sein, wenn die beiden Ämter wieder auseinander fielen? Schließlich wurde entschieden, eine Bischofskanzlei in Hannover ohne simultane Residenz des Abtes von Loccum zu errichten. Der Loccumer Hof wurde nicht wieder aufgebaut. Am 3. Mai 1950 ist Abt Marahrens in Loccum gestorben. Seine Beerdigung fand am 8. Mai statt. Die Trauerfeier in der Klosterkirche und die anschließende Beisetzung an der Nordseite der Kirche bildeten einen insgesamt feierlichen Trauerakt, der die Bedeutung des Verstorbenen für das Kloster wie für die ganze Landeskirche vor Augen führte.27 In der großen Teilnahme der Bevölkerung wurde noch einmal die enge Verbundenheit mit den Loccumern und der gesamten Klostergemeinschaft deutlich. Es waren auch Mitglieder der niedersächsischen Landesregierung sowie weitere Staatsgäste und zahlreiche Kirchenvertreter angereist. Und mit Herzog Ernst-August und Herzogin ViktoriaLuise waren Angehörige der welfischen Fürstenfamilie nach Loccum gekom24 Vgl. den Antrag des Konvents des Klosters Loccum auf Genehmigung des Verkaufsbeschlusses an den Kirchensenat vom 2. März 1928 und die Genehmigung des Kirchensenats vom 9. März 1928 (LkAH, Best. L 1 Nr. 74). 25 Vgl. Schreiben des Magistrats der Stadt Hannover an den Kurator des Klosters Loccum vom 30. April 1928 (LkAH, ebd.). 26 Vgl. Loccumer Hof (KAL: Best. 11 Nr. 30). 27 Vgl. Akten betr. Tod und Beerdigung des Abts D. Marahrens (KAL: Best. 3 Nr. 441).

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men, wodurch der Bogen zum früheren landesherrlichen Kirchenregiment gezogen wurde, nach dessen Ende Marahrens die Aufgabe übernommen hatte, als erster Landesbischof ein neues Amt zu begründen und auszufüllen. Paul Althaus konnte an der Beerdigung nicht teilnehmen. Dafür richtete er ein Kondolenzschreiben an den Konvent und schreibt darin dankbar von seiner Zeit im Predigerseminar auf der Erichsburg unter der Leitung von Marahrens, der ihm zu einem geistlichen Vater geworden sei.28 Damit bestätigt Althaus eine Freundschaft, von der auch Marahrens in seinen Wochenbriefen geschrieben hatte.29 Das ist neben der persönlichen Dimension nicht zuletzt auch in theologischer Hinsicht interessant. Paul Althaus war es, der in seiner Dogmatik eine moderate Form der damaligen Erlanger Ordnungstheologie formuliert hatte, deren Prinzipien sich grundsätzlich auch in der Haltung von Marahrens zeigten, wenn er vom Staat als einer Ordnung Gottes sprach und vom Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gemäß Römer 13. Kriterien zur Kritik an diesen Ordnungen und zu den Grenzen des Gehorsams konnte Marahrens für sich aus dieser Ordnungstheologie nicht ableiten. Andere konnten das. Um die Antwort auf die Frage nach den Grenzen des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit hat eine ganze Generation gerungen. Marahrens hatte zudem die Aufgabe, die daraus erwachsenden Herausforderungen in sein kirchenleitendes Handeln zu übersetzen. Die weit überwiegende Mehrheit der hannoverschen Pfarrerschaft war fest überzeugt, dass ihm diese Aufgabe auch gelungen sei. Er ist ein Bischof gewesen!30, so hat es der nachmalige Landessuperintendent Johannes Schulze vor der hannoverschen Landessynode im April 1947 formuliert. Dabei konnte Schulze ein durchaus kritischer Wegbegleiter von Marahrens sein. Um so gewisser entsprach seine klare Aussage der mehrheitlichen Haltung der gesamten Landeskirche. Dennoch geriet Marahrens nachträglich in das Zentrum einer massiven Kritik an der Haltung der Landeskirche Hannovers während der NS-Zeit. Heute, über 60 Jahre nach seinem Tod, hat sich diese Kritik differenziert. Es geht nicht um das Verurteilen von Personen, sondern um das Beurteilen historischer Zusammenhänge und der Alternativen, welche die handelnden Personen zu ihrer Zeit hatten. Marahrens hat für sich in Anspruch genommen, stets im Bewusstsein um die Schwere der bischöflichen Verantwortung31 gehandelt zu haben. Solche oder ähnliche Formulierungen hat er immer wieder gebraucht. 28 Vgl. Prof. D. Paul Althaus an den Konvent des Klosters vom 09. 05. 1950, in: ebd. 29 Vgl. Wochenbrief II, 5 vom 24. 01. 1935, in: Zur Lage der Kirche (wie Anm. 12), S. 191 – 197, hier : S. 194. 30 Gespräch mit dem Konventual Schulze, in: Geschichten aus dem Kloster Loccum (wie Anm. 6), S. 70 – 73, hier : S. 73. 31 Wochenbrief II, 43 vom 16. 10. 1935, abgedr. in: Zur Lage der Kirche (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 394.

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Die Ernsthaftigkeit und die Aufrichtigkeit dieser Haltung wird man ihm zwar nicht absprechen können, aber eine kritisch-differenzierte Gesamtbetrachtung wird heute zu einer insgesamt ambivalenten Beurteilung und damit vielleicht angemessenen Würdigung kommen.

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Martin Kruse

Das Kloster aus der Sicht der Gemeinde

1.

Anwalt des Dorfes?

Der Antrittsbesuch nach meiner Berufung zum Stiftsprediger im Frühjahr 1960 beim Prior des Klosters Loccum, D. Paul Fleisch, der zusammen mit seiner Frau im 2. Stock des Konventsgebäudes wohnte, ist mir in lebendiger Erinnerung. Er war selbst von 1912 – 1917 Stiftsprediger gewesen. Er empfing mich freundlich, aber irritierte mich gleich mit der Bemerkung: Nun werden wir beide also Feinde sein. Als ich stutzte und ihn fragend anblickte, sagte er : »Ja, der Stiftsprediger muss immer für das Dorf gegen das Kloster eintreten. Das war immer so. Das müssen sie ernst nehmen.« So wurde mein Interesse geweckt, mich intensiver mit der Frage des Verhältnisses der Stiftsdörfer zum Kloster zu beschäftigen.1 Paul Fleisch, von Haus aus Hamburger, war im Laufe seines Lebens ein Hüter der Tradition des Klosters geworden. Aber mit liberaler Gesinnung. 1917 – 1924 Konventual-Studiendirektor, 1924 – 1951 neben seinem Wirken im Landeskirchenamt in Hannover Konventual und bis zu seinem Tode (1962) Prior des Klosters Loccum.2 Der Stiftsprediger, der Dorfpastor, stand aber nach dem alten Ausbildungsmodell einer zweijährigen Predigerseminarszeit zugleich auch im unmittelbaren Dienst des Klosters, weil er die Funktion eines Studieninspektors wahrzunehmen hatte. Das machte den Reiz, aber auch die spannungsvolle Herausforderung dieses Amtes aus. Mit dem Ende des alten Ausbildungsmodells (nach 1970) erlosch diese Kombination.3 1 Vgl. Martin Kruse: Kloster und Gemeinde nach der Reformation des Stiftes 1593, in: Loccum vivum. 800 Jahre Kloster Loccum, hrsg. von Erich Ruppel/Dieter Andersen, Hamburg 1963, S. 30 – 37. 2 Vgl. Paul Fleisch: Erlebte Kirchengeschichte. Erfahrungen in und mit der hannoverschen Landeskirche, Hannover 1952. 3 Vgl. F[riedrich] Schultzen: Geschichte des Klosters, in: Zum Jubiläum des Klosters Loccum, 1163 – 1913, hrsg. v. Kloster Loccum, Hannover 1913, S. 179: »Zu seiner Entlastung hinsichtlich der Arbeit im Hospiz [sc. des Studiendirektors] wurde 1832 bestimmt, dass der

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2.

Martin Kruse

Das Kloster existierte nie für sich allein

Wer heutzutage an Loccum denkt, von Loccum hört oder liest, dem stehen vermutlich Kloster und Evangelische Akademie vor Augen. Aber Loccum ist auch ein Dorf, ein flächenmäßig weit ausgebreitetes Dorf mit derzeit etwa 3000 Einwohnern. Niemals war das Kloster in seiner achthundertfünfzigjährigen Geschichte mit sich allein; denn schon 1163, als die Zisterzienser aus dem thüringischen Volkenroda in das ihnen gestiftete Gebiet (»locum in Lucca cum villa«)4 kamen, fanden sie keineswegs nur Sumpf und Ödland vor, sondern auch einige versprengte Ortschaften: Suthfelde, Wiesenhorst und Wagenrode. Dass diese Ortschaften später untergegangen sind oder umgesiedelt wurden – die Wagenröder zogen im 14. Jahrhundert nach Wiedensahl5 – ändert nichts an dem für die Geschichte Loccums so bedeutungsvollen Tatbestand: Dem Kloster waren von jeher Ortschaften inkorporiert, die dem Abt zu Loccum als ihrem weltlichen Landesherrn untertan waren. Loccum war eben nicht nur das, was wir heute unter einem Kloster verstehen, ein durch eine Mauer ausgegrenzter monastischer Bezirk, es war vielmehr ein »Kaiserlich Freies Reichsstift«, ein kleines geistliches Fürstentum. Als das Kloster 1593 evangelisch geworden war, gehörten ihm vier Ortschaften: Loccum, als größte Ortschaft, Münchehagen, wo das Kloster damals eine Kohlebergwerk und Steinbrüche betrieb, drei Kilometer westlich von Loccum gelegen, Winzlar, eine Enklave in der Nähe des Steinhuder Meeres und Wiedensahl, am weitesten von Loccum entfernt, neun Kilometer südlich gelegen. Loccum und Münchehagen werden vom Kloster pastoriert. Winzlar ist damals schon dem schaumburgischen Pfarrer von Bergkirchen überwiesen; Wiedensahl allein hat einen eigenen vom Kloster eingesetzten Pastor. Nur zwischen Loccum und Münchehagen gab es damals, bei allen Unterschieden in den Mentalitäten, einen natürlichen Zusammenhalt; Winzlar und Wiedensahl lebten ziemlich für sich. Es war also nur ein kleines Gebiet, über das der Abt zu Loccum Gewalt hatte. Dass des Klosters Besitzungen weit darüber hinaus reichten und einen erheblichen Verwaltungsaufwand erforderlich machten, muss aber dabei bedacht werden.6 Wie konnte sich ein so kleines geistliches Fürstentum über Jahrhunderte behaupten? Dahinter verbirgt sich ein ungebrochener Lebenswille, dem Stiftsprediger bei den praktischen Studien und Übungen der Kandidaten [sc. im Predigerseminar] mitzuwirken habe. 4 Vgl. Schultzen, ebd., S. 8. 5 Vgl. Albert Hahn: Geschichte des im Stiftsbezirke Lokkum gelegenen Fleckens Wiedensahl, Hannover 1898. 6 Vgl. die lange Liste: »Der Grundbesitz des Klosters um 1350«, in: Schultzen (wie Anm. 3), s. 221 – 235.

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Das Kloster aus der Sicht der Gemeinde

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die geopolitische Lage Loccums zugute kam. Die Nachbarherrschaften hätten allzu gerne Loccum ihrem Territorium einverleibt. An Versuchen hat es nicht gefehlt,7 das Kloster musste, wie die Geschichte zeigt, immer wieder gewisse Zugeständnisse machen. Aber da einer dem andern den Zuwachs missgönnte, sorgte man wechselseitig für die Erhaltung des »Kaiserlich Freien Reichsstiftes Loccum«: die Bischöfe von Minden, die Grafen von Schaumburg, die Grafen von Hoya und die Welfenherzöge. In dieser Lage konnte das Kloster Loccum seine Selbständigkeit auf Dauer nur dadurch sichern, dass es dem stärksten Nachbarn, den Welfen, seit 1585 einen Huldigungseid leistete und dafür Schutzbriefe (Reversalien) erhielt, die seine Unabhängigkeit garantierten und zugleich stärkeren Schutz für Land und Leute verhießen, als es die kleine Herrschaft aus eigenen Kräften zu geben vermochte.8 So haben also die Gemeinden die guten und bösen Tage des Klosters durch die Jahrhunderte geteilt. Sie waren von ihm in vielfältiger Weise abhängig; besonders natürlich Loccum, das gleichsam unter den Augen des Klosters lebte. Die Dörfer haben die Entwicklungen mitbestimmt. Sie haben Abt, Prior und Konvent vor Fragen gestellt, denen nicht ausgewichen werden konnte. Ohne die weltliche und geistliche Verantwortung für die Dörfer des Stiftsbezirks wäre das Kloster nach meiner Einsicht nicht überlebensfähig gewesen. Damit sind wir beim Thema: »Das Kloster aus der Sicht der Gemeinden«. Bei dem verabredeten Umfang dieses Beitrags wird keine umfassende Darstellung des Themas möglich sein. Ich beschränke mich darum auf drei Felder, denen aber exemplarische Bedeutung zukommt: 1) auf den Prozess der Loslösung der pastoralen Dienste aus dem Klosterkonvent und

7 Nur ein Beispiel unter vielen: Schon 1650 und dann nachdrücklicher 1677 (also im Jahr des Amtsantritts von Abt Georg Wolter Molan) hatte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Preußen (1644 – 1688) Anspruch auf das Freie Reichsstift Loccum erhoben; denn ihm war im Westfälischen Frieden (1648) das geistliche Fürstentum Minden zugesprochen worden. Er führte Belege für die geistliche Abhängigkeit des Loccumer Klosters vom Bistum Minden an. Abt Molan verteidigt mit einem ausführlichen Gutachten die Freiheit des Klosters. »Er weist darin nach, dass das Stiftsgebiet zwar zur geistlichen Diözese des Bischofs von Minden gehört habe, ebenso wie Stadthagen, Wunstorf und andere Orte, nie aber zum weltlichen Territorium desselben« (so Schultzen [wie Anm. 3], S. 122). Instruktiv ist auch die Aufzählung abgewehrter Übergriffe durch Abt Theodor Stracke, vgl. Schultzen, ebd., S. 96 ff. 8 Herzog Julius Julius von Braunschweig ging dabei ziemlich rabiat vor. Als das Kloster sich zunächst weigerte, ihm zu huldigen, schickte er sechs Schützen zur Exekution ins Kloster. Im Juli 1585 quartierte er sich dann selbst mit Gefolge im Kloster ein. Er werde nicht eher abziehen, bis Abt, Prior und Konvent den Huldigungseid abgelegt hätten. Als Gegenleistung stellte er Reversalien aus, die überkommenen Rechte des Klosters zu achten und es in Sachen Religionszugehörigkeit nicht zu nötigen. So konnte das Kloster Loccum seine Selbständigkeit über die kommenden Jahrhunderte hinweg wahren. Vgl. Schultzen (wie Anm. 3), S. 84.

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2) das so wichtige Feld des dörflichen Schulwesens, für das Abt, Prior und Konvent bis ins 20. Jahrhundert hinein Verantwortung trugen, 3) die spannungsvollen Auseinandersetzungen um die Ablösung von grundherrlichen Rechten des Klosters in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

3.

Die bedrohliche Lage des Klosters in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Es dürfte ratsam sein, die lokalen Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) und die zwischenzeitliche Vertreibung des evangelischen Klosterkonventes durch das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629 kurz in den Blick zu nehmen, bevor wir uns den beiden Fragenkreisen im einzelnen zuwenden. Die Existenz des Klosters war akut bedroht. Die Probleme stauten sich. Da waren die durchziehenden Heerscharen, die mit Gewalt Kontributionen eintrieben; die Klostereinkünfte schrumpften, die Bewohner der Stiftsdörfer verarmten. Kaiser Ferdinand II. maßte sich an, mit dem Restitutionsedikt eine authentische Interpretation des Religionsfriedens von 1555 im Reich durchzusetzen. Evangelische Fürsten und Städte sollten zur Rückgabe aller Stiftungen an die römische Kirche verpflichtet werden, die seit dem Passauer Vertrag von 1552 von ihnen eingezogen worden waren. Die zur Durchführung des Ediktes eingesetzten kaiserlichen Kommissare hatten Vollmacht, notfalls mit Waffengewalt vorzugehen. Die katholischen Stände wurden ermächtigt, ihre andersgläubigen Untertanen auszutreiben.9 Wie wirkte sich das Edikt in Loccum aus?10 Als kaiserlicher Kommissar fungierte der Deutschordensmeister und Bischof von Osnabrück, Minden und Verden, Franz Wilhelm von Wartenberg. Er versuchte, den Abt Kitzow zum Übertritt zur katholischen Kirche zu bewegen. Das gelang aber nicht. Da übertrug er ihm den Mönchehof in Colenfeld (bei Wunstorf), den Abt Kitzow schon seit Jahren gepachtet hatte. Die Konventualen mussten das Kloster verlassen und wurden mit jeweils 50 Talern (und Kleidern) abgefunden. Sie fassten vor ihrer Vertreibung noch den Beschluss, dass das Kloster Loccum nur wieder in die Obhut des Zisterzienserordens kommen dürfe. Der eingesetzte katholische Abt Johannes Scherenbeck konnte sich nur wenige Monate halten; denn der Erzabt der Zisterzienser verweigerte ihm die Anerkennung. Sein Nachfolger Bernhard von Luerwald amtierte immerhin vier Jahre in Loccum. 9 Vgl. Sigfrid H. Steinberg: Der Dreißigjährige Krieg und der Kampf um die Vorherrschaft in Europa 1600 – 1900, Göttingen 1967, S. 61 ff. 10 Vgl. Schultzen (wie Anm. 3), S. 106 f.

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Aber inzwischen war der Widerstand gegen die Eigenmächtigkeit des Kaisers auch unter den katholischen Ständen im Reich gewachsen: Das Edikt ließ sich nicht durchsetzen. 1632 griff Gustav Adolf von Schweden in die Kämpfe ein. Das gab der evangelischen Seite Auftrieb. Vor Ort, im Stiftsbezirk Loccum, widersetzten sich die Bewohner allen rekatholisierenden Tendenzen, selbst als man ihnen die Vertreibung androhte. Schon Anfang August 1632 erreichte Abt Kitzow der Auftrag des Herzogs, die Gerechtsame des Klosters wieder wahrzunehmen. Aber das war leichter gesagt als getan. Dieser knappe Überblick zeigt: Eine ruhige Entwicklung war im »Kaiserlich Freien Reichsstift Loccum« in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht möglich, zumal die Welfenherzöge immer wieder versuchten, die Rechte des Klosters zu beschneiden.11

4.

Das »Statutum perpetuum et irrevocabile betreffend den priorat und pastorat beym »Keyserlich Freyen Stifte Lockum« vom 16. August 167712

Als am 10. März 1677 Gerhard Wolter Molan – bis 1674 Professor der Theologie und Mathematik an der Universität Rinteln und danach Konsistorialdirektor in Hannover – zum Abt von Loccum gewählt worden war, stand vor ihm unter anderem die Aufgabe, dem Kloster eine den neuen Verhältnissen angemessene Struktur zu geben. In der langen, schwierigen Übergangszeit zur Reformation, die an anderer Stelle dieser Festschrift behandelt wird,13 war die Frage im Grunde unbeantwortet geblieben, was denn ein evangelisches Kloster sei. Ihr stellte sich Molan mit großer Entschiedenheit, konnte sie dann aber dann doch nicht wirklich lösen. Molan war 1671 zum Konventual gewählt und am 18. Oktober 1672 zum Coadjutor des Loccumer Abtes bestimmt worden. Er war also mit den Verhältnissen des Klosters Loccum wohlvertraut, wenngleich er im Hauptamt seit 1674 als Kirchendirektor für Calenberg, Göttingen und Grubenhagen sowie als Konsistorial- und Kirchenrat in Hannover wirkte. Er war damit der oberste Geistliche im Herzogtum. Zweifellos ist Molan eine herausragende Gestalt von kirchengeschichtlicher Bedeutung unter den Loccumer Äbten, schon durch seine Bemühungen um die 11 Schultzen (wie Anm. 3), S. 110. 12 Vgl. Gerald Kruhöffer : Der Übergang zur Reformation – Kontinuität und Neubeginn, in diesem Band S. 143. 13 Klosterarchiv Loccum (i.F.: KAL) IV.A.25. Auf dem Deckblatt (aus späterer Zeit) steht als Kurztitel: »Statutum de Separatione Prioratus et Pastoratus 1677«.

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Wiedervereinigung der Kirchen,14 aber auch durch seine umfassenden Reformen »nach innen«, im Kloster Loccum und den Stiftsgemeinden. Seine Berufung zum Abt hatte er dem in Assisi zum Katholizismus übergetretenen Herzog Johann Friedrich zu verdanken. Der hatte zunächst versucht, Molan zur Konversion zur katholischen Kirche zu bewegen. Dazu war Molan nicht bereit. Er hatte ursprünglich zugesichert, alle seine anderen Ämter niederzulegen, wenn er zum Abt gewählt würde. Das geschah aber nicht. Prior und Konvent erteilten ihm Dispens.15 Um so mehr ist zu bewundern, mit welcher Umsicht und Intensität er die ihm notwendig erscheinenden Reformen im Kloster Loccum betrieb. Gleich im Jahr seines Amtsantritts (1677) wurden zwei zukunftweisende Dokumente in Kraft gesetzt: a) die leges hospitii16 (die Lebensordnung für auf Zeit ins Kloster aufgenommenen Theologen) und b) das statutum perpetuum et irrevocabile betreffend den priorat und pastorat beym Keyserlich Freyen Stifte Lockum vom 16. August 1677. Das zweitgenannte Dokument soll uns hier beschäftigen, weil es vital das Verhältnis der Dörfer zum Kloster betrifft. § 1 dieses Statutes bestimmt: Wenn erstgedachte beyde officia nach diesem zur vacantz kommen, müssen und sollen dieselben nimmermehr, solang das Closter steht, wieder combiniret und einem allein, sondern zween unterschiedenen personae ….. conferiret werden. Das Statut soll also erst nach dem Tode des gegenwärtigen Priors, der beide Ämter innehat, rechtskräftig werden. Die intendierte Trennung von Priorenamt und Pastorenamt soll nimmermehr, solang das Closter steht, aufgehoben werden. Das Statut ist auf Dauer angelegt (perpetuum) und unwiderruflich (irrevocabile). Der apodiktische, geradezu verbissene Stil dieser Bestimmung lässt schon darauf schließen, dass dem Abt diese Ämtertrennung besonders wichtig war, dass er ein Konfliktfeld bereinigen wollte. Nach dem Übertritt des Klosters zur Reformation hatte weiterhin ein Mitglied des Klosterkonventes die pastoralen Pflichten gegenüber den Dörfern Loccum und Münchehagen wahrgenommen. Als der Konventual und Pastor Anthonius Turnajus 1654 Prior wurde, behielt er das Pastorenamt bei. Auch sein Nachfolger Conrad Cleve – der dann 1677 das statutum perpetuum unterschreiben muss – übernimmt 1664 beide Ämter.17 Aber der Unmut über sein pfarramtliches 14 Vgl. Hans-Walter Krumwiede: Molans Wirken für die Wiedervereinigung der Kirchen, in: JGNKG 61, 1963, S. 72 – 114, in diesem Band auch: Martin Ohst: Abt Molan und die Ökumene, in diesem Band S. 179. 15 Vgl. Schultzen (wie Anm. 3), S. 119. 16 Die »leges hospitii« haben eine Langzeitwirkung bis ins 20. Jahrhundert. Vgl. Heinrich Holze Von der Schule des Klosterlebens zur Schule des Predigtamtes. Die Leges Hospitti« des Klosters Loccum 1677 – 1906, in: JGNKG 89, 1991, S. 177 – 199; ders.: Das Predigerseminar im Kloster Loccum. Eine geschichtliche Einordnung, in diesem Band S. 267. 17 Conrad Cleve, seit 1654 Konventual, fehlten für die Übernahme eines Pfarrdienstes sowohl das Examen pro ministerio als auch die Ordination. Das wurde am 19. Februar 1664 an der

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Wirken wächst in den Stiftsgemeinden Loccum und Münchehagen. Im Archiv des Klosters findet sich (ohne Unterschrift und Datumsangabe) eine Beschwerde der beiden Gemeinden, in der an Einzelfällen belegt wird, dass der Prior Cleve seinen Pflichten nicht nachkomme.18 Was die bewerung ist gegen den herrn prior als erstlich ist zu münchgehagen Johann Botterbrodts seine frauw sehr krank gewesen und hadt nach dem herrn prior geschickt undt sein begehren gewesen, so hadt er gesagt er könthe da nicht zu kommen biß den andern dag, unter dessen aber ist die frauw hin gestorben und (hat) das heilige Abentmahl nicht entfangen. Weiter wie Hermann Weinmeyer zu münchgehagen ist gestorben haben die Erben auch zu ihm geschickt er möchte Ihm seine Leichpredigt thun wie vorhin wehre gebräuchlich gewesen, so hat er gesagt: Er wolle da keine Leichpredigt thun, biß so lange alda eine Kirche wehre, so haben sie gebeten er möchte es auf dem Kirchhofe thun oder wenn es kein wetter wehre so möchte Ehr es zu einem Hause thun, aber er hat es gar nicht thun wollen und weigert sich allemahl kalt sowohl zu locken als münchgehagen und beswert sich er wehre zu swach und könnte da nicht zu kommen, wenn es entlich geschiht so soll man die leich noch bei die acht dage stehen lassen … Es folgt dann eine Klage beider Gemeinden über die willkürlich erhöhten Gebühren für das Glockenläuten (bei Sterbefällen?): Wegen des Klockenläutens so müssen wir allhie zu locken 12 Mar[iengroschen] geben, da wihr vor diesem 9 geben. Davon kricht Casfors 3 gr. vor das läutamt, weilen Casfors nicht zeit und swach ist undt selbst nicht läutet und muß dan einer aus dem dorfe läuten, so beklaget sich die gemeine wen offt einer da bei kömpt, der die klocken nicht zu ziehen weiß und sollte schaden bekommen und sollte dan na dem gesucht werden, so wollten sie lieber wen sie (für) das läuten geld geben, das da möchte ein beständiger zu geordnet werden, damit der Klocken kein schaden wieder führe. Die leichpredigt ist bei Burchard beensen [gemeint ist der Prior Beensen] 9 Mar[iengroschen] gewesen, der her Turnäus hadt es auf einen halben Thaler gebracht. Lassen deswegen beide gemeine zu locken undt münchgehagen den Ehrwürdigen hern Abt bitten das es möchte nicht höher auf gedrungen werden. Semtliche gemeine zu locken undt münchgehage. In § 2 des Statuts ist die eigentliche Intention Molans erkennbar : Er möchte im Kloster selbst die monastische, zölibatäre Tradition wieder zum Zuge kommen lassen: Der prior muß stets, gleich den conventualen in coelibatu verbleiben,

Theologischen Fakultät in Rinteln nachgeholt. »Wir zweifeln nicht, es werde wolgedachter Magister seinem Amte, wozu er ordentlich berufen, nützlich vorstehen«, ließ die Fakultät verlauten. KAL IV.B.2.1. 18 KAL XXIV.A.a.3.

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oder da ihm solches zu thun unmöglich, sein officium quitiren und ein ander vitae genus erwählen. Für den Pastor im Dorf aber gilt das nicht, wie der lange, umständlich formulierte § 13 festlegt: Der ordinarius pastor coenobij kann zwar ex numero conventualium vel etiam hospitum, da die andern sich weigern, ja gar ein Fremder, wenn diese den pastorat auch repudiren oder in convent vel inter hospites kein anständiges Subjectum sich eben befinden würde, constituiret werden, soll aber niemals ein membrum conventus mit seyn, daher, wenn er als conventual in collegio vorher gestanden, soll er eh und bevor er bestellet wird, der Conventualität in omnibus renunciiren, und sich derselben vermittelst eines schriftlichen Verzichtbriefes gänzlich abthun. Doch kann man Ihm, er sey conventual oder hospes, ja gar ein Fremder, der da pastor wird, den Titel und Namen eines conventualis honorarij um mehreren respects willen jedes mahl conferiren, doch dass es kein jus suffragij et votum noch (= weder) zu des Klosters Sachen, so wenig in Ecclesiasticis vel saecularibis (?) im geringsten jemals was zu sagen habe … Und dann folgt die entscheidende Passage : Ob man zwar aus vielen Ursachen lieber siehet, dass der pastor in coelibatu verbleibe, so kann man ihn doch per lege dazu nicht adstringiren und lässet man ihm demnach frey so er will gleich anderen pastoren sich zu verehelichen, er muß aber solches vorher dem zeitigen Abte zu wissen thun, damit es mit dessen guter Eintracht geschehe und Er nicht etwa an eine dem Kloster unanständige Person unwissentlich gerathe. Im Dorf soll ein Pfarrhaus, landesüblichem Gebrauch nach, zubereitet werden, darin er mit seinem Weib und Kindern wohnen könne, massen (= allerdings?) dieselbe (= Wohnung) in des Klosters Ringmauern zu haben ihm nimmer gestattet werden soll. Alle künftigen Äbte und Konventsmitglieder sollen das statutum perpetuum et irrevocabilis in einem Revers anerkennen. Aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht so leicht zurückdrehen. Das so präzise von Molan Erdachte stieß auf eine widerständige Realität. Der Prior Conrad Cleve, nach dessen Ausscheiden das Statut eigentlich erst in Kraft treten sollte, gab zwar die pastoralen Pflichten 1682 in den beiden Dörfern auf, aber blieb bis zu seinem Tode (1706), also noch 29 Jahre Prior des Klosters. Er hatte bereits 1673 mit Dispens des Landesherrn und des Klosters geheiratet; da war Molan schon Mitglied des Konventes, also an der Entscheidung des Dispenses beteiligt. Auch die beiden evangelischen Äbte vor Molan Johannes Kitzow (1627 – 1657) und Johann Kotzbue (1658 – 1677) hatten nicht mehr zölibatär gelebt.19 19 Abt Georg Ebell (1732 – 70), ein tatkräftiger Nachfolger von Molan, teilte dem Konvent im September 1739 mit, dass er nach reiflicher Überlegung, Gebet und Beratung beschlossen habe, sich zu verehelichen. Die Konventualen aber fühlten sich an ihre Unterschrift unter das

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Aber nun zeigt sich, wie so oft in der Geschichte des Klosters, dass die eigentliche Bedeutung einer Entscheidung sich keineswegs mit der ursprünglichen Intention decken muss. Mag das Motiv, das Abt Molan bei der Abfassung des Statuts leitete, ein ganz anderes gewesen sein, dessen Bedeutung liegt darin, dass es die Trennung von geistlichem und weltlichem Regiment im Verhältnis des Klosters zu den Dörfern in die Wege leitet. Der Pastor, sicherlich vom Kloster gesetzt und bis 1750 – solange kein verheirateter Stiftsprediger da war – noch im Kloster wohnend, kann das Amt der Verkündigung und Seelsorge üben, ohne am weltlichen Regiment des Klosters teilnehmen zu müssen. Manchmal mag es ihm beschwerlich erschienen sein, die Entscheidungen des Klosters nicht direkt mitbestimmen zu können. Aber aufs Ganze gesehen, war es ein Segen, dass er in dem spannungsvollen Prozess der Lösung der Dörfer aus der weltlichen Herrschaft des Klosters relativ frei und ungebunden Pastor von Loccum und Münchehagen sein konnte, ein Fürsprecher der Gemeinden gegenüber dem Kloster. Erst 1750 – mehr als 70 Jahre nach dem Erlass des statutum perpetuum et irrevocabile – zog ein verheirateter Pastor, Christian Burchard Meier, ein früherer Hospes und dann Pastor in Stöcken, ins Loccumer Pfarrhaus ein. Schon 1680 hatte das Kloster vorsorglich das Haus des früheren Konventuals Engelbrecht gekauft und zum Pfarrhaus bestimmt. Weil aber die Stiftsprediger in den Jahrzehnten danach nicht verheiratet waren, blieben sie im Kloster wohnen. Das Pfarrhaus im Dorf wurde vermietet. Jetzt aber kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Kloster und den beiden Gemeinden Loccum und Münchehagen. 28. Sept. 1750. An die Commune Loccum u. Münchehagen behufs Anherholung des angehenden Stifts Predigers Ehrn Meyers. 8 mit Erndteleithern und Körben versehene jeden mit vier Pferden bespannte Wagen solchergestalt in Bereitschaft zu halten, dass deren 4 am anstehenden Mittwochen und des darauf folgenden Donnerstages nach Stöcken zu fahren, die Nacht allda bleiben, ihre Ladung aufnehmen; und Tages darauf anhero bringen müssen und weil gedachter Stifts Prediger am 3. Oktober wird seyn der Montag nach dem 19.t. post Trinitatis hieselbst einziehen gewillet; So wird außer obigen noch ein lediges Spann zu dessen Überfarth am instehenden Sonnabend nach

statutum perpetuum et irrevocabile von 1677 in ihrem Gewissen gebunden. »Mit Rücksicht darauf, dass die Kapitulation, die vom Abt bei der Übernahme der Würde gefordert und geleistet war, nur die Bestimmung enthielt, der Abt solle sich nicht ohne Genehmigung des Konvents und des Fürsten verheiraten, entband der Abt die Konventualen ihres Eides und hob das statutum perpetuum auf«, so Schultzen, (wie Anm. 3), S. 151 f. Abt Christophorus Chappuzeau (1770 – 91) war bei seiner Wahl schon verheiratet. »So wurde in seine Kapitulation nur eine Bestimmung aufgenommen, dass die Äbte in Zukunft sich nur mit Genehmigung des Königs und des Konvents verheiraten dürften« (ebd. S. 153).

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Hannover sich begeben, den Sonntag allda überliegen und vor des Herrn Pastoris in E. Schiffelds Hause befindl. Chaise(= Kutsche) spannen. Zu obigen giebt Loccum 5 und Münchehagen 4 Spann her, und haben sich selbige darüber gehörig und solchergestalt zu vergleichen, dass daranne kein Mangel erscheine. Loccum d. 28 t. 7 tbr 1750 Georg, Abt zu Loccum.20 Prompt, noch am selben Tage, legen die Gemeinden mündlich durch ihre Vertreter ( Bauermeister und Vorsteher) Widerspruch ein. Darüber wird ein Protokoll erstellt und dem Abt zugeleitet: Sie wären mit diesem Pastoren sehr wohl zufrieden, und wollten gegen denselben keinen Streit erregen. Aber da sich keiner in der Gemeinde erinnern könne, dass sie jemals für die Abholung eines Pastors hätten aufkommen müssen, so könnten sie sich dieses neue onus nicht aufbürden lassen. Hierauf wurde ihnen bedeutet, es wäre dieser Vorfall (= Fall) auch in hundert Jahren nicht geschehen, weil es sich binnen dieser Zeit allemahl gefüget, dass dieser zum Pastore erwehlet worden, welcher bereits hier im Kloster als Conventualis oder im Hospitio gestanden, mithin abzuholen nicht nöthig gewesen, da es aber dieses mahl anders ausgefallen, so wären sie wie alle communen im Lande schuldig, denselben und sein Hausgerath abzuholen, es sei denn, dass sie erweisen könnten, dass jemahls ein Pastor auf Kosten des Closters abgeholet sey.21 Der Spieß wird umgedreht, die Beweislast wird also den Gemeinden zugeschoben, und es wird auf die landesübliche Praxis (in den welfischen Landen) verwiesen. Aber auch dabei ist ja die Frage, ob diese auf diesen Fall anzuwenden ist. Da die Zeit drängt und der Umzug zur vorgesehenen Zeit stattfinden soll, muss nun Pastor Meyer selbst die Fuhrwerke bestellen. Wer die Kosten tragen soll, bleibt offen. Am 30. September 1750 vermerkt der Abt in einem Pro Memoria: In einer Gemeindeversammlung seien die meisten bereit gewesen, für die Abholung zu stimmen. Aber die Loccumer Albert Rust, Droste Dörger, Hinrich Windheim und Bolte am Teich hätten die Versammlung aufgewiegelt. Ebenso die Münchehäger Cordt Cönemannm, Stahlhut Teicken, Korte Roos und Lücke Bullmahn. Es muß also wenn die Communen es auf Exekution ankommen lassen, dieselbe insonderheit gegen diese Rädelsführer gerichtet werden.22 Am 23. Oktober 1750 werden die beiden Gemeinden bei der königlichen Regierung in Hannover vorstellig. Die verweist sie an die Justiz-Kanzlei. Am 28. Oktober geht dort ein Votum von Abt, Prior und Konvent ein. Der Eingabe der beiden Gemeinden ermangele es an einem rechtl. fundamento schlechter20 KAL XXIV. A.a.3. 21 Ebd. 22 Ebd.

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dings, nur einige unruhige Köpfe seien Urheber der Beschwerde. Das Kloster beruft sich auf die im ganzen Kurfürstlich-Lüneburgischen Lande bestehende Verpflichtung der Gemeinden zur Abholung eines seinen Dienst antretenden Pastors. Aber die Gemeinden bleiben hartnäckig bei ihrer Weigerung. Sie werden am 30. Oktober 1750 im Kloster vorstellig (bei Prior Behling, Syndikus Holscher und drei anwesenden Konventualen), tragen noch einmal ihre Position vor und verlangen, vom Abt Georg Ebell in Hannover angehört zu werden. Der verfügt am Tag darauf (am 31. Oktober 1750): Ich will die Vorstellung abwarten. Leider findet sich in dieser Akte kein Dokument, zu welcher Entscheidung es dann schließlich gekommen ist. Vielleicht gibt ein anderer langwieriger Streit zwischen Kloster und den Gemeinden einen Anhalt, dass ein Kompromiss gefunden wurde. 1789 bis 1795 ging es um die Kosten und Lasten für ein zu bauendes Pfarrwitwenhaus in Loccum. Der Prozess landete schließlich beim Oberappelationsgericht in Celle. Am 26. September 1795 wurde ein Vergleich geschlossen: Das Kloster stellt das Holz; die Gemeinden tragen alle übrigen Kosten; spätere Reparaturkosten sollen von beiden Seiten zur Hälfte getragen werden.23

5.

Die Verantwortung des Klosters Loccum für das Schulwesen im Stiftsbezirk

In der Chronik von Abt Theodor Stracke (1596 bis 1629) finden sich im 20. Kapitel unter der Überschrift Von der schul, und derselbe nutz24 Kurzberichte über eine ganze Reihe von Schulmeistern aus der vorreformatorischen Zeit, beginnend mit dem Jahr 1258. Sie bemühten sich um die Bildung der Mönche; denn die Novizen, die in den Konvent des Zisterzienserordens eintreten wollten, waren ja keineswegs alle studierte Leute. Auf der Schulmeisterstelle im Kloster Loccum scheint häufig ein Wechsel eingetreten zu sein; es finden sich nämlich in der Liste von Abt Stracke große zeitliche Lücken. Für viele dort tätige Schulmeister war es nur eine Übergangsbeschäftigung. Anno 1568 hat her Johan Heiman (Abt zu Loccum von 1579 bis 91) widerumb einen lesemeister oder schulemeister angenohmen, Henricus Söler genöhmett, derselbe hatt den conventualen mitt allem fleiße gelesen, hatt daßmall vor Zu23 KAL XXIV.a.J.12. Auch beim Bau des jetzigen Pfarrhauses, das 1833 auf den Fundamenten des alten errichtet wurde, kam es zu einem langwierigen Streit. Dabei wurde die lange Konfliktgeschichte zwischen Kloster und Gemeinde anhand von Akten noch einmal aufgearbeitet. Vgl. Gutachten des Konventuals Leopold vom 11. März 1833, der einige Jahre (bis 1838) von Rehburg aus provisorisch das Amt des Priors wahrnahm. (KAL: Ebd.) 24 KAL, HS Stracke, XXX, I.

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hörer gehabt, alse Conradum Nortzell, Johannem Fengerum, und andere mehr, derselbe hat den dienst auffgekundiget, und die Schule ist widerumb ledig gestanden, biß auff Barnewolts regierung.25 Anno1589 ist Nicolaus Bergman weiter angenohmen wurden für einen schulemeister, ist ein feiner junger gelehrter geselle gewesen, hatt den conventualen auch mitt fleiß gelesen, also das etzliche gelehrte personen bey ihme seint geworden, dieser alse er eine zeitlangk alhie die schule verwaltet hatte, ist er zu Wunstorpf anno 1595 einen schuldienst bekohmen, ist alda rector der schule gewurden, da er auch ist verstorben.26 Und nun fällt 1593 eine wichtige Entscheidung, nämlich die Anstellung einer Lehrkraft für die knaben fur der forten, also für die Dorfjugend. Dass dies im Jahr des Übertritts zur Reformation geschieht, dürfte kein Zufall sein, sondern in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Anno domini millesimo quingentesimo nonagesimo tertio, ist die schuell zu Locken sehr verbessertt auff Oistern, unter der regierunge Johannis Fengeri abbatis, und seint zwey gesellen angenohmen wurden, alse Nicolaus Bergman Wunstorpiensis, Melchior Hoyer Munderensis, der erste laß den conventualen, der ander den knaben fur der pforten.27 Dieser Nicolaus Bergman ist danach rector zu Wunstorp an der schule gewurden, und jung hingestorben. Der ander, Melchior Hoyer, ist prediger zu Lindhe harde fur Hannober geworden, und lebet noch heutigen tagk. (Nachtrag: ist auch gestorben.)28 Dass in den bedrohlichen Zeiten der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch das Schulwesen des Klosters Loccum schweren Schaden genommen hat und zeitweise ganz zum Erliegen kam, braucht nach den oben, in Abschnitt 3, dargestellten Krisen nicht weiter begründet zu werden. Abt Johannes X. Kotzebue hat auf einer Konventssitzung am 19. Februar 1669 die Initiative ergriffen, um eine Schulordnung für die vier Schulen im Stiftsbezirk auf den Weg zu bringen. Wehre nötig, dass man das Schulwesen in dießem gerichte besser faßete, weilen er erfahren, dass sich viele mängele finden sollten, es müste nicht allein eine ordnung gemachet, sondern auch darüber gehalten werden, insonderheit würde es einer genauen aufsicht bedürfen. Er hielte davor, dass ein gewisses subjectum ex collegio dazu genommen würde, weil er und derH. prior ppter (propter = wegen) alios labores (= anderer Pflichten) nicht alzeit darauff acht haben könten, obschon selbiger persohn etwas davor müsse zugewendet werden, so geschehe 25 Ebd., Bl. 210v. 26 Ebd., Bl 211v. 27 Ebd., Bl. 213r. Dieser Eintrag ist mit einer anderen Handschrift vorgenommen worden. Er stößt sich insofern mit der Zeitangabe in der vorigen Anmerkung, dass Nicolaus Bergmann schon 1589 (und nicht erst 1593!) angestellt worden sei. Es handelt sich – wie ein Vergleich zeigt – um einen späteren Eintrag, der weitere Doppelungen aufweist. 28 Ebd., Bl. 213v.

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es doch zu gottes ehren und hette man ein besseres gewissen, dass die jugend nicht vorsätzlicher weise versäumt würde.29 Und dann folgt gleich ein praktischer Vorschlag; schon der lässt erkennen, dass sich der Abt an der von Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg am 5. Oktober 1650 in Hannover erlassenen renovirte(n) und erneuerte(n) Verordnung orientierte. Die legte fest, wie es hinführo in S.F.Gn. Landen mit der Catechismus-Lehre in Kirchen und Schulen, wie mit der Visitation in Kirchen und Schulen gehalten werden soll.30 Die aus dem Konvent zu berufende persohn solle als Inspector aller Schulen des Stiftes Loccum fungieren, also die Funktion ausüben, die in der fürstlichen Verordnung von 1650 den Superintendenten zukommt. Er solle die auswärtigen Schulen (Wiedensahl und Winzlar) mindestens alle Vierteljahr visitieren, die Loccumer aber alle Woche. Und auch einen Namensvorschlag äußert er bei dieser Sitzung, den anwesenden Syndicus H. Pestorf (der aber schon im Jahr darauf den Ruf auf eine Pfarrstelle in Zellerfeld annimmt). Ein gutes halbes Jahr nach dieser Konventssitzung wird die Loccumer Schulordnung am 21. September 1669 dehnen Praecetoribus und Schulmeistern … zu gehöriger Beachtung zugestellt: Die Lehrer sollen jährlich zu Michaelis ein Verzeichnis aller schulfähigen Jungen und Mädchen, die über sechs Jahre alt sind und noch nicht konfirmiert wurden, anlegen und eine Kopie ans Kloster schicken, aber auch diejenigen, die sich innerhalb von 14 Tagen nicht in der Schule eingefunden haben, namentlich notieren. Die säumigen Eltern sollen mit Hilfe der Schulstrafe und beständiger Information zur Einsicht gebracht werden. Helfe auch das nicht, so sind sie dem Inspector anzuzeigen. Die Kinder über acht Jahre, die zur Arbeit gebraucht werden, können im Sommer beurlaubt werden. Sie sollen aber sonntags früh von 6 – 8 Uhr in der Schule unterrichtet werden, damit Sie dasjenige, was sie gefasset haben, nicht wiederumb vergessen. Der Katechismus samt den Fragen soll auf jeden Fall behandelt werden, und die Zeit dazu genutzt werden, die Kinder im Lesen und Beten zu üben. Der tägliche Unterricht soll immer mit Choral-Gesang begonnen und geschlossen werden, und zwar langsam, vernehmlich und ohne übermäßiges geschrey. Ein gewisser Kanon von Liedern soll solange immer wieder gesungen werden, biß die Kinder dieselbe zugleich deutlich beten und hersagen können. In Loccum und Wiedensahl, den Kirchorten, sollen am Sonnabend die Choräle eingeübt werden, die für den Sonntagsgottesdienst bestimmt sind. 29 KAL II.2.4.3: Copialbuch Bd. 1560 – 1704. 30 Christian Hermann Ebhardt: Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben für den Bezirk des Königl. Consistorii zu Hannover, welche in Kirchen- und Schulsachen ergangen sind, Band 2, Hannover 1845, S. 628 ff.

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Die Anweisungen gehen dann ins Einzelne: Das Lesen einer biblischen Lektion durch Kinder, die geschickt dazu sind; der Katechismus-Unterricht, der Hauptgegenstand des Unterrichtes ist; Tischgebete und Bibelsprüche, Schreibübungen. Kirche und Schule waren eng miteinander verbunden. Die Lehrkräfte sind junge Theologen, die das Tentamen (wir würden sagen: das erste Theologische Examen) hinter sich hatten. Das Ziel war eindeutig: den christlichen Glauben im Leben der Kinder zu verankern, das Christsein einzuüben. Beim Vergleich mit der fürstlichen Verordnung von 1650 fällt auf, dass die Loccumer Schulordnung sehr zurückhaltend mit Strafandrohungen gegen die Schulmeister umgeht. Man belässt es bei Vermahnungen. Den Schulmeistern wird an keiner Stelle die Strafe einer Entlassung angedroht. Wohl aber wird am Ende der Loccumer Schulordnung (Punkt 14) gesagt: Letztlich (= schließlich) sollen die Praeceptores überall eines exemplarischen Lebens und Wandels sich befleißigen … und insonderheit außer der Schulen mit höchstem fleiße sich dahin bemühen, dass alle und jede Knaben zur Kirche undt zwahr auf dem Chor wie auch des Nachmittages zur Catechismus Lehre kommen … Es sollen auch die Schulmeister bey Leich Begengnüssen vor allem dehnen knaben die annoch nicht conformirt worden … ernstlich dazu anhalten, dass sie bey Begräbnüssen sich insgesambt einfinden, undt in guter ordnung und Zucht den Gesang verrichten. Die Ordnung griff sehr hoch hinaus, und in der Wirklichkeit des Schullebens ergaben sich gravierende Schwierigkeiten. Weithin fehlte das Verständnis der Eltern. Die Klage der Schulmeister und Pastoren reißt nicht ab, dass die Kinder – besonders natürlich im Sommer – ohne Entschuldigung der Schule fernbleiben, dass die Androhung von Strafen den Eltern keinen Eindruck mache, dass man die Ansicht offen ausspreche, häusliche Schularbeiten seien abzulehnen. Nun muss man das Dorf auch verstehen. In vielen Häusern herrscht bittere Armut. Die Kinder werden als Arbeitskräfte gebraucht; manches Kind verbringt den größten Teil des Jahres als Hütejunge auswärts. Aber noch ein anderer Grund erschwerte die gedeihliche Entwicklung des Schulwesens. Im Oktober 1770, gerade hundert Jahre nach Erlass der Loccumer Schulordnung, wendet sich der Loccumer Rektor Trefurt an das Kloster : Das Lesen in der Schule geschieht mit einem solch unerträglichen Geräusch und Getöse, dass Kinder, noch unterweilen weder der Lehrer die Antwort der Schüler die Fragen des Lehrers in den Catechismusstunden recht deutlich verstehen kann. Das liegt nicht nur an der großen Schülerzahl, sondern daran, dass nur ein Schulraum vorhanden ist, worinnen die Unterweisung der Jugend von zween Personen zu gleicher Zeit betrieben werden muss.31 Wenn man erfährt, dass im Jahre 1763 in der Frauenkapelle unter dem Tor, der 31 KAL XXIII.F.5.

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einzigen Schulstube, 87 Jungen und 80 Mädchen zur gleichen Zeit unterrichtet wurden, dann versteht man die Klage von Rektor Trefurt und fragt sich, wie ein Schulmeister damals 6 – 7 Schulstunden täglich unter solchen Bedingungen durchgehalten hat. Wer heute davon Kenntnis bekommt, wird schnell mit dem Urteil bei der Hand sein, das Kloster habe offensichtlich versagt. Aber noch das hannoversche Volksschulgesetz von 1845 legt fest, dass erst bei einer Schülerzahl von 120 Kindern ein Schulgehilfe und bei mehr als 200 Schülern ein zweiter Lehrer angestellt werden muss.32 Um diese Zeit waren die Schulverhältnisse im Stiftsbezirk schon wesentlich verbessert. Die Klage des Rektors Trefurt, der vor seiner Berufung zum Schulmeister als Hospes im Kloster gelebt hatte, ging an den gerade (1770) eingeführten Abt Christoph Chappuzeau. Der berief Trefurt 1781 in den Konvent und besetzte die erste Lehrerstelle in Loccum nicht mehr mit einem Theologen, sondern mit einem Absolventen des inzwischen in Hannover eingerichteten Lehrerseminars für Landschulen. Das hatte eine stabilere Kontinuität zur Folge. Sein Nachfolger, Abt Christoph Salfeld (1792 – 1829) war nun ein ausgesprochen schulpädagogisch interessierter und erfahrener Mann, als er im Alter von nur 38 Jahren vom Konvent an die Spitze des Klosters berufen wurde. Er war 1774 Inspektor des Schullehrerseminars in Hannover gewesen, dessen Kurator er später wurde.33 Pädagogik und Katechetik blieben für ihn zentrale Aufgabenfelder, um deren Förderung er auch im Stiftsbezirk bemüht war. Mancher längst vergessene Schulmeister des Stiftes würde eine ausdrückliche Würdigung verdienen. Oft genug nahmen sie auch gleichzeitig das Kantorenamt am Ort ihres Wirkens wahr. Sie lebten mit dem Dorf und standen im Dienst des Klosters. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis des Dorfes zum Kloster verbesserte, dass sich die Verhärtungen, von denen im nächsten Abschnitt zu berichten sein wird, spürbar entspannten.

32 Vgl. A. Pabst: Art. »Hannover. Das Volksschulwesen«, in: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, hrsg v. K.A. Schmidt, Bd. 3, Gotha 1862, S. 328. 33 Vgl. Ernst Berneburg in: Geschichten aus dem Kloster Loccum, hrsg. von Horst Hirschler/ Ernst Berneburg, 3. Aufl., Hannover 1992, S. 85 ff.

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6.

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Die Befreiung des Klosters von der weltlichen Herrschaft über die Dörfer – eine Skizze34

Die Geschichte des Klosters im Verhältnis zu seinen Stiftsdörfern nach 1593, nach der Annahme der Confessio Augustana lässt sich als ein Prozess langsamer Auflösung seiner herrschaftlichen Funktionen begreifen. In den letzten 200 Jahren beschleunigte sich der Prozess und kam Mitte des 20. Jahrhunderts zu seinem Ziel. Von heute aus gesehen war es eine Befreiung des evangelischen Klosters zu seinen geistlichen und kulturellen Aufgaben. Die wichtigsten Stationen sind schnell aufgezählt: 1. Mit dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 erlischt das Kaiserlich Freie Reichsstift Loccum. Es gehört jetzt auch de jure zu den welfischen Landen. Der Abt zu Loccum bleibt Erster Schatz- und Landrat, vereinigt also in seiner Person noch politisches und geistliches Amt. 2. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts werden Leibeigenschaft und Zehntverpflichtungen der Dörfer aufgehoben bzw. abgelöst. 3. In den Jahren 1850 bis 1852 verliert das Kloster endgültig seine Gerichtsbarkeit. 4. Mit der Einverleibung Hannovers in das preußische Staatsgebiet 1866 werden dem Abt zu Loccum seine Staatsämter genommen. Ihm bleibt das Amt eines Präsidenten der Calenberger Landschaft. 5. 1919 werden durch die Weimarer Verfassung Kirche und Staat getrennt. Das Kloster verliert die Aufsicht über die Schulen, trägt aber weiter zum Unterhalt der Schulen (Bereitstellung von Gebäuden auf dem Klostergelände) bei. Die endgültige Ablösung geschieht 1960 im Zusammenhang mit dem Bau der Loccumer Waldschule. 6. 1929 wird der Klosterbezirk, der bis dahin eine selbständige kommunale Einheit bildete, in das Dorf Loccum eingemeindet.

7.

Die Verhärtung im Verhältnis zwischen Kloster und Gemeinde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

An drei Beispielen soll das exemplarisch erläutert werden: a) an den Auseinandersetzungen um den Neubau des Loccumer Pfarrhauses 1833 – 1840 b) an den schwierigen Verhandlungen um die Ablösung grundherrlicher Rechte des Klosters 1833 – 1845 c) an den Wirren der »Loccumer Revolution« von l848. 34 Diese Skizze ist meinem Aufsatz »Kloster und Gemeinde nach der Reformation des Stiftes 1593 (wie Anm. 1) entnommen.

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Diese Streitsachen fallen in die Amtszeit von Abt Friedrich Rupstein, der trotz seiner schwächlichen physischen Konstitution 42 Jahre lang, von 1832 bis 1874, regierte. Es wird sich zeigen, wie eng diese Konflikte miteinander verwoben sind, obwohl sie zeitlich und ihrer Natur nach ganz unterschiedlich zu stehen kommen: die zähe Auseinandersetzung um den Neubau des Pfarrhauses (1833 ff.), die Ablöseverhandlungen und der Ausbruch zerstörerischer Gewalt im März 1848. Im Jahr nach seiner Amtseinführung schreibt Abt Friedrich Rupstein am 28. Februar 1833 von Hannover aus an den Konvent: Er stimme zu, es möge mit angemessener Sparsamkeit eine den Bedürfnissen entsprechende Pfarrwohnung erbaut werden. Er bittet den Konventual Leopold um eine möglichst genaue Notiz über folgende Punkte: 1. Ist das bisherige Pfarrhaus lediglich auf Kosten des Klosters angeschafft worden? Wann? Unter welchen Umständen? 2. Ergeben die Rechnungen, dass sämtliche schon daran vorgefallenen Reparaturen, größere und kleinere, ausschließlich auf Kosten des Klosters gegangen sind, oder finden sich irgend (welche) Spuren von einer Heranziehung der Gemeinden? Konventual Leopold stützt sich in seiner Antwort vom 11. März 1833 auf ein ausführliches Gutachten seines Mitkonventualen Karl Friedrich König (des späteren langjährigen Priors) vom 8. März 1833. Leopold kommt zu dem Schluss: Alle Nachrichten vereinigen sich darin, dass das Kloster das gegenwärtige Pfarrhaus, welches demselben seit 1680 eigenthümlich gehörte, dem zum Stiftsprediger erwählten Pastor Meyer zu Marienwerder im Jahre 1750, samt den dabey belegenen, dem Kloster gleichfalls eigenen Gärten eingeräumt habe.35 Das jetzt abgängige Pfarrhaus sei vom Konventual und Pastor Engelking 1652 mit Genehmigung von Abt und Konvent auf Klosters Grund gegen eine billige Vergütung errichtet worden. 1680 habe das Kloster das Haus von den Erben gekauft und für längere Zeit an Klosterbedienstete vermietet. Es sei aber immer festgehalten worden: Dies sei das »Pfarrhaus.« Es findet sich in den Acten, so weit sie mir zur Hand sind, nicht die geringste Spur, dass die Gemeinde etwas je dazu beygetragen habe. Im Blick auf die Lastenbeteiligung ist mit der Gemeinde eine Übereinkunft in dieser Hinsicht … nie getroffen worden; es hat von Seiten der Gemeinde also auch keine Weigerung stattgefunden. Konventual Leopold scheint ohne Wenn und Aber die Position des Dorfes zu stützen. Dem Abt lag aber schon vorher eine Stellungnahme des Klostersyndikus Weidemann vom 6. Februar 1833 vor, die zu einem ganz und gar anderen Ergebnis gekommen war : Die Einwohner von Loccum sowohl als Münchehagen sind in die Klosterkirche eingepfarrt, die vom Kloster unterhalten wird, außer dass die Einge35 KAL XXIV A J. 12.

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pfarrten bei den Reparaturen die nöthigen Spann- und Handdienste, wenn solche gefordert werden, thun, auch dem jedesmaligen Prediger, der allein vom Kloster bestellet wird, und dessen Sachen abholen müssen.36 Der Streit ist nicht aus der Welt geschafft. Er zieht sich über viele Jahre hin. Es werden vom Kloster immer neue Gutachten bestellt. Die Gemeinden Loccum und Münchehagen erklären schließlich ihre Bereitschaft, aus freien Stücken Hand- und Spanndienste zu leisten, nicht auf Grund bestehender Verpflichtungen. In einem umfänglichen Gutachten urteilt der hannoversche Jurist Wachsmuth unter Rückgriff auf das Kanonische Recht: Niemand, auch nicht der Pfarrpatron verpflichtet sich durch Überlassung eines Gebäudes zum Pfarrhaus und durch Bestreitung der Reparaturen desselben, nach dessen Abgang ein neues Pfarrhaus zu beschaffen; denn eine Liberalität zieht nicht die Verpflichtung zu anderen nach sich.37 Die Zeit drängt. Das Kloster lässt das Pfarrhaus auf seine Kosten bauen. Dies wird aber nicht hindern, die Sache weiter vorzunehmen, teilt Abt Rupstein am 15. September 1834 dem Konvent mit. Der Streit geht also weiter und vergiftet die Atmosphäre. Erst am 23. August 1839 wird ein Vergleich zwischen Kloster und Gemeinde punktiert und am 8./9. Dezember 1840 in Kraft gesetzt. Das Kloster entsagt allen Ansprüchen für die durch den Neubau des Pfarrhauses aufgewendeten Kosten gänzlich und für immer. Die Gemeinden Loccum und Münchehagen leisten für die verweigerten Hand- und Spanndienste eine Vergütung in Höhe von 300 Talern, der halben Summe der errechneten Kosten; sie sind nach und nach durch Hand- und Spanndienste zu erbringen. Die Gemeinden verpflichten sich im Blick auf einen späteren Pfarrhaus-Neubau zu Hand- und Spanndiensten. Das stattliche Pfarrhaus in zentraler Lage hat die Zeiten bis heute überdauert. Es genügt aber nicht, den Konflikt um den Neubau des Loccumer Pfarrhauses isoliert zu betrachten. Er gehört in den weiteren Zusammenhang der politischen Reformen im Königreich Hannover. 1831 war ein Staatsgrundgesetz erlassen worden, dem 1833 eine Ablöseordnung folgte, die den Rahmen für die lange geforderte Bauernbefreiung setzte. Ablösbar waren die grundherrlichen Verhältnisse gegen Zahlung des 25-fachen Betrages des ermittelten Geldwertes. Aus Leibeigenen sollten Eigentümer werden. Nun hofften die Loccumer und Münchehäger durch direkte Verhandlungen mit dem Kloster zu günstigeren Bedingungen zu kommen; sie wollten darum die Einschaltung der königlichen Kommission vermeiden.38 Aber sie hatten es 36 Ebd. 37 Ebd.: Gutachten vom 28. 2. 1834, Bl. 11. 38 Vgl. KAL XXXIX. A. 18.

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schwer, ihre unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen. Abt Rupstein verlangte, dass erst einmal alle Rückstände zu begleichen seien. Auch dadurch verzögerte sich eine einvernehmliche Lösung. Auf Grund der Ablöseordnung von 1833 hatte das Kloster nach drei Jahren das Recht, die Umwandlung seiner Forderungen in eine Geldrente auf Kosten der Verpflichteten durch Antrag bei der Ablösungskommission durchzusetzen. Davon machte das Kloster Gebrauch. Die Möglichkeit einer freien Vereinbarung zwischen Kloster und Gemeinde war damit verspielt. In dieser langen Zeit der Auseinandersetzungen haben sich die Fronten verständlicher Weise verhärtet. Es waren ja nicht einzelne betroffen, sondern de facto das ganze Dorf. Als unermüdlicher Vermittler hat sich der Konventual-Studiendirektor Carl Erich Hüpeden große Verdienste erworben – auch noch, nachdem er 1842 auf die Pfarrstelle in Gestorf bei Springe/Deister berufen worden war. Er kannte die Loccumer Verhältnisse aus den zehn Jahren seines Wirkens als Leiter des Predigerseminars (1832 – 42). Er genoss nicht nur das Vertrauen des Abtes, sondern auch hohes Ansehen im Dorfe. Im Februar 1843 stimmten die Loccumer Verhandlungsführer einer Gesamtablösung in Höhe von 24.231 Talern zu. Am 24. Januar 1845 unterzeichneten beide »Parteien« in Stolzenau den Vertrag vor der königlichen Ablösekommission. Aber dadurch konnte natürlich nicht ein Zustand friedlicher Eintracht zwischen Kloster und Dorf erreicht werden. Die Folgelasten schmerzten und es gab genügend Anlass zu tiefer Unzufriedenheit. Polizeigewalt und niedere sowie die höhere Gerichtsbarkeit lagen weiter in Händen des Klosters. Der Gerichtsassessor Neuss, der den kranken Stiftssyndikus Meister vertrat, »fuhr eine harte Linie.« Gegen sein Regiment richtete sich vor allem der Unwille. Am 20. März 1848 ereignete sich – scheinbar aus nichtigem Anlass – der Wutausbruch gegen das Kloster, der in die Ortsgeschichte als »Loccumer Revolution« eingegangen ist.39 Im Dorf war durch den Frühjahrsmarkt an diesem Tag viel Betrieb. Bis in den Nachmittag hinein verlief alles friedlich. Aber dann kam es zu einer Schlägerei zwischen Bergleuten und Steinhauern aus Münchehagen und auf Urlaub befindlichen Soldaten. Es gab Verwundete. Der Assessor Neuss forderte militärische Hilfe aus Wunstorf an und ließ das Klostertor schließen. Ein ungeordneter Haufen versuchte ins Klostergelände einzudringen. 39 Vgl. KAL B. V. und Hauptstaatsarchiv Hannover A.705. Da an anderer Stelle die Ereignisse um die »Loccumer Revolution« in letzter Zeit ausführlich geschildert worden sind, beschränke ich mich auf eine geraffte Darstellung. Vgl.: Fritz Erich Anhelm: Die 1848er Revolution in Loccum – Ein Blick in die Geschichte des Klosters mit ›seinen‹ Dörfern, in: Kloster Loccum. Geschichten, hrsg. von Horst Hirschler und Ludolf Ulrich, Hannover 2012, S. 183 ff.; Konrad Droste: Loccum. Ein Dorf. Das Kloster. Der Wald. Rehburg-Loccum, 1999, S. 55 ff. – Aus älterer Zeit: Schultzen (wie Anm. 3), S. 184 ff.

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Das war nicht so einfach. Es dauerte eine halbe Stunde, bis mit Hilfe von Hebebäumen die Flügel der Tore aus den Angeln gehoben waren. Die Zerstörungswut kannte zunächst keine Grenzen. Fenster wurden eingeworden, Fensterkreuze zertrümmert, Mobiliar und Akten auf die Straße geschleudert. Besonders schlimm traf es das Zimmer des Priors und die Gerichtsstube. Feuer wurde gelegt, aber von beherzten Klosterbediensteten schnell gelöscht. Die Konventsmitglieder hatten die Flucht ergriffen. Als das Militär eintraf, verlief sich die Menge. Aber in der Nacht wurde das Haus des Loccumer Ortsvorstehers in Brand gesteckt. Im Kloster war man sich nicht sicher, ob es zu weiteren Exzessen kommen könnte. Ein Garde-JägerBataillon mit 100 Soldaten und zwei Kanonen verstärkte die Präsenz des Militärs. Nun ging es an die »Aufarbeitung« der Ereignisse. Die Gemeinden Loccum und Münchehagen reichten fast gleichlautende Petitionen ein, in denen ihre Beschwernisse und Forderungen aufgelistet waren. Sie wollten größere Freiheit für ihre Selbstverwaltung; sie beklagten die Rigorosität der klösterlichen Gerichtsbarkeit; sie verlangten Schadenersatz für Wildschäden auf ihren Äckern, um nur einige Punkte zu nennen. Der Assessor Neuss versuchte, seine Position dadurch zu verbessern, dass er nun seinerseits in einer Eingabe vom 26. März 1848 an die Landdrostei in Hannover Beschwerden gegen das Kloster vorbrachte. Er behauptete schließlich sogar, der Studiendirektor (dessen hervorragende Tüchtigkeit sonst nur gelobt wurde) stehe den Hospites an wissenschaftlichen Fähigkeiten nach, und der Stiftsprediger kümmere sich nicht genug um seine Gemeinde.40 Das war dann doch wohl ein anschwärzendes, unzutreffendes Urteil. Jedenfalls entließ Abt Rupstein schon Ende April 1848 den Assessor aus den Diensten des Klosters. Sicher gehört die »Loccumer Revolution« in den größeren Zusammenhang der liberalen Bürgerrevolution von 1848, aber bestimmend waren doch die lokalen Faktoren.

8.

Und heute?

Wie ein fernes Gewitter, das längst abgezogen ist, muss im Jahr des 850-jährigen Jubiläums des Klosters Loccum die hier ausgebreitete Geschichte der Spannungen und Auseinandersetzungen im Verhältnis der Dörfer zum Kloster erscheinen. Der Abbau der herrschaftlichen Funktionen des Klosters ist nicht als eine Kette von Niederlagen zu werten. Ganz im Gegenteil! Auch das Kloster hat dabei »gewonnen.« Freiräume zu schaffen, in denen der Glaube gelebt und bezeugt, im 40 Schultzen (wie Anm. 3), S. 188.

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Gebet und Dialog in Gemeinschaft vertieft wird, damit er in den Herausforderungen unserer bedrohten Welt Segen stiften kann, das ist eine Kernaufgabe der Kirche in unserer Zeit. Das Kloster mit seiner ungewöhnlichen Geschichte und seinem faszinierenden Gemäuer bietet einen solchen Freiraum, ebenso wie auf ihre Weise die Evangelische Akademie, das Katechetische Institut und das Pastoralkolleg. Mir bleibt die 800-Jahrfeier in lebendiger Erinnerung, die ich als junger Stiftsprediger miterleben und mitgestalten durfte. Der damals gerade vollendete Bau der Waldschule auf Klostergrund, in eigener Verantwortung der Gemeinde und des Landes Niedersachsen geplant und errichtet, wurde zum Symbol für ein neues Verhältnis. Stil und Ergebnis der Verhandlungen sind ein Zeichen, dass Kloster und Gemeinde gelernt hatten, einander ohne Scheu als mündige Partner zu behandeln. Der Umsicht des langjährigen Konventual-Vermögensverwalters Erich Ruppel (gest. 1975), dem Charisma des damaligen Konventual-Studiendirektors Dieter Andersen (gest. 1994) und der Tatkraft des Gemeindedirektors Emil Eckardt (gest. 1970) haben Dorf und Kloster in diesem Zusammenhang viel zu verdanken. Kloster und Kirchengemeinde bleiben auch in Zukunft bei aller Eigenständigkeit aufeinander angewiesen.41 Eine Schlussbemerkung, die mir wichtig ist, möchte ich noch anfügen. Sie richtet den Blick schon auf das 850-jährige Jubiläum des Klosters Loccum, greift also über den mir gesetzten Zeitrahmen hinaus: Anders als alle seine Vorgänger seit Abt Gerhard Wolter Molan (1677 – 1722) hat der derzeitige Abt des Klosters, Landesbischof i. R. Horst Hirschler, seinen Dauerwohnsitz nicht in Hannover, sondern in Loccum; er ist also Bürger (seit 2011 auch Ehrenbürger) der Stadt Rehburg-Loccum. Diese ständige Präsenz »vor Ort« trägt wesentlich dazu bei, das gegenwärtige Verhältnis von Kloster und Gemeinde zu prägen.

41 Siehe dazu Joachim Köhler: Die Kirche im Dorf und für das Dorf, in: Kloster Loccum. Geschichten (wie Anm. 39), S. 67 ff.

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Fritz Erich Anhelm

Der Bischof, die Konvente und das Kloster – oder: Wie die Akademie nach Loccum kam

Bevor sie 1952 nach Loccum kam, hatte sie schon einen weithin bekannten und anerkannten Namen: Evangelische Akademie Hermannsburg. In der Lüneburger Heide, in dem durch die Erweckungs- und Missionsbewegung des evangelischen Pastors Ludwig Harms bis heute geprägten Ort Hermannsburg erhielt sie nach ihrer Gründung 1946 in »Völkers Hotel« die erste Wirkungsstätte.1 Das war von Beginn an eher ein Provisorium, jedoch ein höchst erfolgreiches.2 Während dieser fünf Jahre wurden 166 Tagungen durchgeführt. 10596 Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten von weither zu ihnen an.3 Sie logierten zum großen Teil in Privatquartieren. Da wundert es nicht, dass die Verantwortlichen für die Akademie, der Vorsitzende des Akademiekonventes und 1947 zum Landesbischof gewählte Hanns Lilje, die Mitglieder des Konventes und die Akademiedirektoren Johannes Doehring und Adolf Wischmann4 angesichts dieser Erfolgsgeschichte über eine

1 Ludwig Harms hatte in Hermannsburg 1849 ein Missionshaus (Hermannsburger Mission) begründet und war als »Erwecker der Heide« einer der bedeutenden deutschen Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Völkers Hotel wurde nach Kriegsende zunächst von der britischen Militärregierung genutzt, dann aber dem Besitzer zurückgegeben und von der in Vereinsform verfassten »Corvinus Akademie« angemietet. »Corvinus« geht zurück auf den lutherischen Reformator Antonius Corvinus, Landessuperintendent im Fürstentum Calenberg-Göttingen und wichtigster Wegbereiter für die Entstehung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Der Name »Corvinus Akademie« setzte sich im alltäglichen Gebrauch allerdings nie durch. 2 Von diesen Hermannsburger Jahren erzählt der erste Akademiedirektor Johannes Doehring unter dem Titel »Der Anfang und die Anfänge« in: Hans Stork (Hrsg.): Mut zur Verständigung. 25 Jahre Evangelische Akademie in Loccum, Göttingen 1977, S. 11 ff. 3 Angaben in der Zeitschrift Universitas 2/53, Stuttgart 1953 und im Mindener Tageblatt vom 24. 12. 1952. Dort ist auch zu lesen, dass in dieser Zeit aus der Arbeit der Akademie heraus bereits 80 Hauskreise in ganz Niedersachsen aus ehemaligen Tagungsteilnehmern entstanden seien. 4 Johannes Doehring war Akademiedirektor von 1946 – 1961 und danach Beauftragter der rheinischen und westfälischen Landeskirchen beim Landtag und bei der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Adolf Wischmann, von 1955 – 1956 Landessuperintendent in Osna-

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angemessenere Lösung des Raumproblems für die Arbeit der Akademie nachzudenken begannen. Anlass dazu gaben auch Diskussionen über die Fortführung des Mietvertrages mit dem Hotelbesitzer. Mit einem Kredit der Akademie wollte dieser einen neuen, größeren Hörsaal bauen lassen und den existierenden für eigene Veranstaltungen nutzen.5 Als das entsprechende Schreiben des Rechtsanwalts Dr. Bokelmann (Celle) im Auftrag des Hoteleigentümers Riechers beim Vorsitzenden des Konvents der Akademie eintraf, nahmen auf der Sitzung am 15. April 1950 konkretere Überlegungen zu einem neuen Standort Gestalt an. Die Ankündigung des Rechtsanwaltes, den Vertrag zum 1. Oktober 1951 aufzulösen, falls keine Einigung über den geforderten Kredit und eine langfristige 10-jährige Verlängerung des Vertrages zustande komme, mag dabei durchaus motivierend gewirkt haben.6 Das etwa ein Jahr lang andauernde Ringen um den Standort zeigt nicht nur, welche Bedeutung diese Nachkriegsgründung inzwischen im kirchlichen und gesellschaftlichen Kontext der allgemeinen Neuorientierung in den ersten Nachkriegsjahren gewonnen hatte. Es macht auch deutlich, welche unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen der Akteure sich mit der Akademie verbanden, und wie sie sich anlässlich der Standortauswahl artikulierten und veränderten. Diesen Prozess in seiner Entwicklung von einer offenen Situation über die Konzentration auf zwei Standorte und deren strittige Begründungen bis hin zur endgültigen Entscheidung, ihrer baulichen Umsetzung und Finanzierung will dieser Beitrag nachzeichnen.7

Die Standortsuche Schon während der erwähnten Sitzung des Akademiekonventes am 15. April 1950 kamen Namen möglicher neuer Standorte auf den Tisch. Sie reichten von Schloss Bruche und Schloss Hehlen über die Domäne Varenholz und Schloss Banteln bis zum Schloss Imbshausen und zum Theresienhof Goslar.8 Die Aus-

5

6 7 8

brück und Akademiedirektor von 1948 – 1955 und von 1956 – 1974 Leiter des Kirchlichen Außenamtes der EKD. Eine erste Erwähnung findet dies im Protokoll des Akademiekonventes vom 21. 12. 1949, in dem auch der 1. 10. 1951 als Datum für das Auslaufen des bestehenden Pachtvertrages genannt wird. Landeskirchliches Archiv (i.F.: LkAH,), Best. N 76 Nr. 66 Protokolle Akademiekonvent 1. Aug. 46 bis 7. Dez. 54. Protokolle Akademiekonvent … LkAH,, Best. N 76, Nr. 66. Dazu wurden die im Archiv der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers vorhandenen Protokolle des Konventes der Akademie, der Schriftverkehr zwischen den unterschiedlichen Akteuren und die dort gesammelten Zeitungsausschnitte ausgewertet. Schloss Bruche liegt bei Melle im Osnabrücker Land, als barockes Herrenhaus im 18. Jh. gebaut. Schloss Hehlen ist ein Wasserschloss aus dem 16. Jh. südlich von Hameln. Die

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wahl lässt im Verhältnis zu »Völkers Hotel« gehobene Ansprüche an Größe und Repräsentativität erkennen. Bruche und Vahrenholz seien zu erwägen, heißt es im Protokoll. Vahrenholz liege allerdings nicht innerhalb der Landeskirche. Imbshausen rangiert vorne. Als Ergebnis wird festgehalten, eine Entscheidung zwischen Imbshausen und Vahrenholz vorzubereiten. Erwogen wird auch ein Neubau in Hermannsburg. Missionsdirektor Elfers, Leiter der Hermannsburger Mission und Mitglied im Akademiekonvent, bringt das Argument ins Spiel, das an die Akademie angegliederte Pastoralkolleg dürfe nicht von dieser getrennt und dürfe auf keinen Fall außerhalb der Landeskirche angesiedelt werden. Das Argument aufnehmend, spricht sich Hanns Lilje dafür aus, einen Gesamtfinanzierungsplan für einen Neubau inklusive Pastoralkolleg aufzustellen. Es bleibt nicht bei diesen Vorschlägen. Am 11. Mai 1950 tagt ein erweiterter Ausschuss des Konvents. Trotz des landeskirchlichen Argumentes wird nun auch der »Hessenkopf« bei Goslar genannt und eine Prüfung befürwortet.9 Auf dieser Sitzung werden von Hanns Lilje erstmals finanzielle Aspekte und ihre Konsequenzen vorgetragen. So habe eine Prüfung der bisher vorgeschlagenen Objekte ergeben, dass ein Neubau die rentabelste Lösung darstelle. Ohne es zu konkretisieren, erwähnt er in diesem Zusammenhang eine größere Spende, die für die Akademie in Aussicht stehe. Der Vorschlag, »Völkers Hotel« zu übernehmen und um- oder neu zu bauen, wird abgelehnt, da er zu kostspielig sei. Auf dieser Basis beschließt der Konvent, für einen etwaigen Neubau der Akademie den Architekten Konstanty Gutschow aus Hamburg zu beauftragen, einen Vorentwurf nebst Kostenvoranschlag für ein Gebäude mit 70 Betten und zwei Wohnungen vorzulegen. Als Kostenrahmen wird ein Betrag von 250 000,– bis 300 000,– DM genannt.10 Inzwischen hatte sich in der Landeskirche herumgesprochen, dass für die Akademie nach einem neuen Standort gesucht werde. Am 5. Juni meldet sich Pastor Dr. Georg Jungheinrich aus Katlenburg brieflich bei der Evangelischen Akademie Hermannsburg. Er habe von Planungen gehört, die Akademie zu verlegen. Er empfiehlt, sich um das Herrenhaus der Domäne Katlenburg bei

Schlossdomäne Vahrenholz liegt zwischen Rinteln und Vlotho im Kalletal, Schloss Banteln in der Nähe Hildesheims, Schloss Imbshausen bei Northeim (von 1952 – 1998 diente es als eines der Predigerseminare der Landeskirche) und der Theresienhof bei Goslar. 9 Auch der Hessenkopf war von der britischen Militärregierung beschlagnahmt und als Aufenthalt für Displaced Persons genutzt worden. Am 1. Juli 1950 wurde er dann von der Inneren Mission übernommen und als Müttergenesungsheim verwendet. Heute ist er das Tagungszentrum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Braunschweig. Das Protokoll der Sitzung des Ausschusses findet sich im LkAH,, Best. N 76 Nr. 66. 10 Dieser Betrag entspricht fast der späteren Spende von Seiten der amerikanischen Militärregierung. Hanns Lilje hatte bereits zu dieser Zeit entsprechende Kontakte geknüpft.

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Northeim zu bewerben. Der Brief wird am 8. Juli an das Landeskirchenamt weitergeleitet.11 Am 12. Juli 1950 schreibt Akademiedirektor Wischmann an Bischof Lilje mit Kopien an Dr. Wagenmann und Superintendent Schulze.12 Er übermittelt ein Angebot aus Fallingbostel, die Baracken des gesamten Internierungslagers Dorfmark zu übernehmen und auf Kirchengelände neu zu errichten.13 Falls man sich für den Barackenstil entscheide, könne man die ganze Akademie für 20 – 30000 DM aufbauen.14 Adolf Wischmann wird auch noch in anderer Richtung aktiv. Am 3. August 1950 informiert er Dr. Wagenmann darüber, dass er mit Pastor Jung in Deckbergen in Kontakt stehe, nachdem ein Tagungsteilnehmer ihm vom Leerstand des Schlosses Bodenengern berichtet habe. Jung meine, man solle sich dieses günstige Angebot auf kirchlicher Seite nicht entgehen lassen.15 Obwohl zwischenzeitlich eine ganz andere Option den Gang der Dinge dynamisierte, entwickelt sich aus diesem Hinweis ein kurzzeitiges Hin und Her. Jung wendet sich am 11. Oktober 1950 direkt an das Landeskirchenamt und merkt an, die Zeit für den Erwerb des Schlosses sei günstig, da die dort untergebrachten Flüchtlingsfamilien auszögen. Zur Bestätigung legt er ein entsprechendes Schreiben der Verwalterin Ursula von Stockhausen bei und liefert am gleichen Tag persönlich die Bauzeichnungen und -pläne des Schlosses im Landeskirchenamt ab.16 Adolf Wischmann assistiert am 21. Oktober mit der Bitte an den Schriftführer des Akademiekonventes, Oberlandeskirchenrat Mahner, die Bauzeichnungen dem Konvent oder dem Evangelischen Hilfswerk17 zu über-

11 LkAH,, Generalakte über die Corvinus-Akademie 1946 bis 1950 Bd. I, Nr. 6231, Dokumentnummer 197/198. 12 Der Jurist Dr. Karl Wagenmann war seit 1937 Finanzdezernent des Landeskirchenamtes und wurde 1952 sein Präsident, ein Amt, das er bis zu seiner Pensionierung 1970 wahrnahm. Als Schatzmeister der Akademie gehörte er auch zu deren Konvent. Johannes Schulze war Stellvertretender Vorsitzender des Akademiekonventes, seit 1936 war er Superintendent in Bremervörde , seit 1948 Landesbevollmächtigter für die Innere Mission der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und ab 1957 Landessuperintendent für den Sprengel Calenberg-Hoya. 13 Es handelte sich um eines der grausamsten ehemaligen Kriegsgefangenenlager (Stalag), das nach Kriegsende von der britischen Besatzungsmacht als Internierungslager genutzt worden war und nun abgerissen werden sollte. 14 LkAH,, Best. L 3 III / 1089. 15 LkAH,,, Generalakte über die Corvinus-Akademie 1946 bis 1950, Bd. I Nr. 6231, Dokumentnummern 225/226/227. 16 Ebd., Dokumentnummern 245/246/247/248. 17 Obwohl erst 1945 gegründet, spielte das Evangelische Hilfswerk als Vorläufer des Diakonischen Werkes in den ersten Nachkriegsjahren eine zentrale Rolle, wo immer es um Liegenschaften für kirchliche Zwecke und staatliche Zuwendungen an die sich herausbildenden Wohlfahrtsverbände und die entsprechenden Verhandlungen mit staatlichen Stellen ging. Im

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reichen. Am 29. Oktober fragt Ursula von Stockhausen direkt im Landeskirchenamt nach, ob noch Interesse bestehe. Die Antwort vom 14. November lautete: Die Verhandlungen schweben noch. Schließlich kam die Absage am 11. Januar 1951.18 Zu dieser Zeit hatte sich die Diskussion im Konvent der Akademie bereits auf zwei Standorte zugespitzt. Bis Ende 1950 wurde in der kirchlichen und breiteren Öffentlichkeit und auch bei den unmittelbar Beteiligten von einer offenen Situation in der Standortfrage ausgegangen. Das spiegelt sich in ihren andauernden Aktivitäten bei der Suche nach möglichen Objekten wieder. Auch im Konvent selbst waren zwar die Würfel noch längst nicht gefallen. Aber das jeweils gewünschte Ergebnis nahm deutliche Konturen an. Argumentativ machten sich diese Konturen an alternativen Konzepten für die künftige Arbeit der Akademie fest.

Der Standort als Konzept Die Sitzung des Konventes am 21. August 1950 im Landeskirchenamt brachte einen bis dahin noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogenen Vorschlag auf den Tisch. Der Vorsitzende regt an, Loccum für den Neubau der Akademie ins Auge zu fassen.19 Landesbischof Hanns Lilje war am 12. Juni 1950 als Abt des Klosters Loccum verpflichtet worden. Dem Konvent des Klosters gehörte er bereits seit August 1948 an. Dass es zwischen seiner Anregung und dem neuen Amt einen Zusammenhang gab, lässt sich nicht von der Hand weisen. Hanns Lilje selbst hat viel dazu getan, diesen Zusammenhang mit Bedeutung zu füllen. Die Begründung für den Neubau in Loccum enthält ein Programm für die Akademie. Er wolle damit ihre Arbeit in Richtung Meditation und in Richtung ihrer gottesdienstlich-liturgischen Ausgestaltung fördern. Der zwar vorsichtig formulierten, aber klaren Orientierung in der Standortfrage schließt sich eine ausgedehnte Diskussion im Akademiekonvent an. Die mit dem Vorschlag verbundene Nähe zum Westen, womit die Nähe zur rheinisch-westfälischen Industrieregion gemeint ist, wird positiv unterstrichen. Loccum als Standort findet Gefallen, weil sich hier die Gefährdung der Tradition am wenigsten auswirke. Die Chance zur Weitergabe der Ergebnisse der Akademiearbeit an die Geistlichen wird angesichts des im Kloster bestehenden Predigerseminars hervorgehoben, zumal auch das Pastoralkolleg mit der Akademie Unterschied zur Inneren Mission, die vereinsrechtlich verfasst war, agierte es als Werk der Kirche. 18 Ebd., Dokumentnummern 251/257/258/268 und die Pläne des Schlosses unter 270 – 272. 19 LkAH, Best. L 3 III / 1089.

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verbunden bleibe. Etwas quer zu den Sachargumenten bemerkt ein Konventuale zudem, dass Loccum auch eine Erleichterung für Hochwürden bedeute. Es gab durchaus schon kritische Einwände. Wirtschaftler würden zwar vom meditativen und liturgischen Element stärker angezogen. Für Mediziner gelte das aber eher nicht. In Loccum sei keine lebendige traditionsgebundene Gemeinde vorhanden, was auf die Erweckungstradition in Hermannsburg anspielt und im weiteren Verlauf der Diskussion immer wieder auftaucht. Das Predigerseminar brauche Stille und nicht als Gegenüber eine Akademie. Im Ganzen vermerkt das Protokoll dennoch überwiegende Zustimmung, hält beschlussmäßig aber zunächst nicht mehr fest als die Aussage, die Studienleiter der Akademie sollten sich weiter mit dem Gedanken beschäftigen. Das war verbindlicher gemeint als es klang. Bereits am 4. Oktober 1950 wurden im kleinen Ausschuss des Konventes ohne Beisein von Hanns Lilje, aber sicher nicht ohne sein Wissen Weichen gestellt. Superintendent Schulze leitete die Sitzung. Anwesend waren Dr. Wagenmann als Schatzmeister, Dr. Fricke als sein Stellvertreter, OLKR Mahner als Schriftführer, Vizepräsident Dr. Erdsiek, die Akademiedirektoren Doehring und Wischmann und als Gäste Superintendent Hoffmann und Wilhelm Plog.20 Johannes Doehring trug die Pläne zur Verlegung der Akademie nach Loccum vor und erwähnte gleich zu Beginn, eine Gruppe von Industriellen habe 100 000 DM zur Verfügung gestellt. Der Neubau solle drei Wohnungen für die beiden Akademiedirektoren und den Leiter des Pastoralkollegs und zwei weitere für den Wirtschaftsleiter und den Hausmeister sowie Räume für das Hauspersonal bereit stellen. Ein großer Saal für 150 und ein kleinerer Kollegsaal für 50 Personen, Räume für 70 Betten mit Erweiterungsmöglichkeiten auf 100 gehörten zu dieser ersten Wunschliste. Superintendent Hoffmann erklärte, er sehe keine Hindernisse für ein Nebeneinander von Predigerseminar und Pastoralkolleg in Loccum. Bedauerlich sei nur der Wegfall der Verbindung zur Hermannsburger Gemeinde. Die Runde verständigt sich zudem darauf, dass das Kultusministerium und der Rundfunk um weitere Zuschüsse angegangen werden sollten. Darüber hinaus bildete sie zwei Ausschüsse, den Architekturausschuss, bestehend aus dem Hannoveraner Stadtsuperintendenten Rudolf Wolckenhaar, den beiden Studienleitern Doehring und Wischmann, dem Leiter des Pastoralkollegs Hoffmann und Wilhelm Plog sowie dem Bauausschuss mit Dr. Wagenmann, den Studien-

20 Dr. Hans Joachim Fricke war seit 1945 erster Syndikus der Industrie- und Handelskammer Hannover. Dr. Gerhard Erdsiek war Vizepräsident des Oberlandesgerichts Celle. Superintendent Georg Hoffmann aus Verden/Aller war nebenamtlicher und ab 1952 hauptamtlicher Rektor des Pastoralkollegs. Wilhelm Plog war Mitbegründer und Geschäftsführer des von Hanns Lilje herausgegebenen Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts und ab 1957 Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.

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leitern, Dr. Friedrich Meier-Greve, Stadtkämmerer Weber, Minister i.R. Otto Fricke und den Herren Mehmel und Holthusen.21 Hanns Lilje hatte seinen Punkt gemacht. So wurde das von allen verstanden, auch von denen, die ihm dabei nicht oder nicht so schnell folgen mochten. Dazu gehörte Missionsdirektor August Elfers aus Hermannsburg. Er hatte zur Sitzung des Konventes am 21. August nicht erscheinen können, da er sich zu einem mehrmonatigen Besuch in Natal (Südafrika) aufhielt. Dort erreichte ihn das Protokoll der Sitzung. Wie seine briefliche Reaktion an Hanns Lilje vom 23. Oktober 1950 unmissverständlich zeigt, hatte er den Ernst der Lage sofort erkannt und positionierte nun seinerseits Hermannsburg gegen Loccum. Die Akademie müsse notwendig an einem Mittelpunkt des geistlichen und kirchlichen Lebens liegen und in eine Gemeinde mit kräftigem inneren Leben eingebettet sein, damit die Teilnehmer Kirche erleben. Zwar habe die Gemeinde Hermannsburg ihre Fehler und Schwächen. Aber damit könne in keiner Weise die Gemeinde Loccum verglichen werden. Die Akademie dürfe nicht an einem Ort liegen, wo sich früher mal ein Kloster befunden hat und wo es jetzt ein Predigerseminar gibt, das der Stille bedarf, sondern nur dort, wo die Probleme der Zeit durchdacht werden. Wo die Geschichte des Klosters Loccum im Wesentlichen zu Ende sei, reiche die von Hermannsburg wirksam und kräftig in die Gegenwart hinein. Es handele sich um einen Quellort kirchlicher Bewegung. Die Verbindung zur Mission stehe für den Öffentlichkeitscharakter der Akademie. Auch das Pastoralkolleg und die Mission müssten zusammengehalten werden. Zu bedenken sei der Schaden, der durch die Verlagerung dem gesamten Werk von Hermannsburg zugefügt werde. Auch der gesamte Charakter der Akademie verändere sich durch die Verlegung nach Loccum. Es bestehe die Gefahr, dass die Akademie zu einer Einrichtung für geistig hochstehende Freizeiten werde. Zwar spreche die günstigere Verkehrslage für Gäste aus dem Rheinland und Westfalen für Loccum. Zu prüfen sei aber, welche Aufgaben die Akademie für diese Gebiete habe. Sie sei die Akademie der Landeskirche und habe ihr zu dienen.22 Dieser Brief war nicht zu verheimlichen und sollte auf der Konventssitzung am 17. November 1950 besprochen werden, zumal inzwischen auch der Rat der Stadt Hermannsburg am 4. November gegenüber dem Landesbischof erklärt hatte, ein Herauslösen der Akademie aus Hermannsburg dürfe nach Ansicht der

21 Dr. Friedrich Meier-Greve war Direktor der Stadtschaft – Wohnungskreditanstalt für Niedersachsen, Hermann Weber Stadtkämmerer von Hannover, Otto Fricke von 1948 – 50 Minister für Wirtschaft und Verkehr im Kabinett Hinrich Wilhelm Kopfs und Friedrich Mehmel stand einer Aktiengesellschaft für Hoch- und Tiefbau in Hannover vor. Die Niederschrift zur Sitzung befindet sich im LkHA, Best. L 3 III / 1117. 22 Brief im LkAH, Best. L 3 III / 1089.

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Gemeinde nicht geschehen. Der Rat unterbreite ein Angebot zur Beschaffung von Bauland und auch zu einem finanziellen Opfer.23 Die Aussprache fand auf der Sitzung, bei der einerseits der Bischof, andererseits auch die Gegner einer Verlegung fehlen, allenfalls indirekt statt. Der Brief von Missionsdirektor Elfers wird zwar verlesen. Verfolgt aber wird die Linie Loccum. Superintendent Schulze berichtet, bestimmte Fragen, die das Kloster Loccum gegenüber einer eventuellen Übersiedlung der Akademie habe, seien inzwischen geklärt. Das Kloster sei an sich nunmehr bereit, auch die Akademie aufzunehmen, auf seinem Grund und Boden. Johannes Doehring und Adolf Wischmann winden sich noch: Ihr Herz schlage für Hermannsburg. Aber die Arbeit in Loccum sei durchaus ebenso möglich. Besonders Wischmann unterstreicht seine persönliche Bindung an Hermannsburg, gibt aber auch der vernünftigen Überlegung Raum, die für eine Verlagerung nach Loccum spricht. Was damit gemeint ist, erschließt sich aus dem Kontext, den Doehring benennt. Das Echo auf die Verlegung der Akademie sei im Westen besonders gut gewesen. Von dort habe man 200 000 DM ohne weitere Bedingungen angeboten. Er wolle aber nicht den Eindruck entstehen lassen, dass bei einer eventuellen Verlegung nach Loccum … kapitalistisches Denken eine entscheidende Rolle gespielt habe. Dr. Wagenmann verweist daraufhin auf einen möglichen Zuschuss des Landes, was von Doehring begrüßt wird, damit nicht nur die Industrie und die Spende McCloys beteiligt seien.24 Wilhelm Plog sieht sich angesichts dieser Diskussion zu dem Hinweis veranlasst, dass auf der ersten Sitzung, auf der über Loccum gesprochen worden sei (womit nur die vom 21. August 1950 gemeint sein kann, d. Verf.), das Geld aus dem Westen überhaupt noch keine Rolle gespielt habe, sondern der sachliche Grund, dass die meditative Arbeit in der Akademie wesentlich verstärkt würde und auch das Kloster Loccum durch die Arbeit der Akademie aus dem Dornröschenschlaf erweckt werden könne.25 Am 15. Dezember 1950 trifft die Kündigung des Mietverhältnisses von »Völkers Hotel« zum 1. Oktober 1951 durch Rechtsanwalt Dr. Bokelmann im Auftrag des Hotelbesitzers beim Schatzmeister der Akademie ein. Am 31. Januar 1951 erscheint in der Celleschen Zeitung ein Artikel über die Generalversammlung der Hermannsburger Grundbesitzer und Gewerbetreibenden. Dort sei ein Brief an den Landesbischof beschlossen worden, der Besorgnis über die Pläne der Landeskirche ausdrücke, die Akademie nach Loccum oder einen anderen Ort zu verlegen. Dagegen wird das Angebot der Gemein23 Das Protokoll findet sich ebenso unter Best. L 3 III / 1089. 24 Beides wird im Kapitel über die Finanzierung ausführlicher behandelt. Hier deutet sich allerdings bereits an, welch großen Einfluss finanzielle Aspekte im weiteren Fortgang der Diskussion auf die Argumentation gewinnen sollten und vieles, was unter inhaltlich-konzeptionellen Überlegungen kontrovers verhandelt wurde, verdrängten. 25 Auch dieses Protokoll s. LkAH, Best. L 3 III / 1089.

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devertretung Hermannsburg gestellt, bei der Beschaffung des Baulandes zu helfen und beim Bau finanzielle Hilfe zu leisten. Dies sei von der Bevölkerung freudig begrüßt worden. Vor einer endgültigen Entscheidung solle die Gemeinde noch einmal gehört werden. Wenige Tage zuvor hatte sich auch noch die Stadt Verden ins Spiel gebracht. Die Ausgabe der Celleschen Zeitung vom 26. Januar 1951 vermeldet mit Hinweis auf einen entsprechenden Artikel in der Verdener Presse vom 22. Januar, die Stadt Verden bemühe sich darum, neuer Standort der Evangelischen Akademie zu werden.26 Die Allerzeitung Gifhorn aber weiß am 31. Januar zu berichten, der Hausbesitzer habe der Akademie für Herbst 1951 gekündigt. Neuer Raum werde gesucht. Man spreche von Hermannsburg und Loccum.27

Die Finanzierung als Argument Der Konvent der Akademie traf sich zu seiner nächsten Sitzung am 3. Februar 1951. Das Protokoll strahlt eine gewisse Ratlosigkeit aus. Alle Instanzen, die Geld zugesagt hätten, hätten noch kein Bargeld zur Verfügung gestellt. Deshalb blieben alle Beschlüsse noch vorläufig. Johannes Doehring benennt eine zusätzliche Geldquelle, den Bundesverband der Deutschen Industrie, von dem die katholische Kirche schon finanzielle Hilfe erhalten habe. Die Entscheidung über einen Neubau sei gefallen, obwohl wegen der Entwicklung auf dem Baumarkt ein alter Bau vielleicht doch billiger komme. Es wird der Wunsch ausgesprochen, mit der Entscheidung zu warten, bis Missionsdirektor Elfers zurückkomme. Allerdings seien die 200 000 DM aus dem Westen für die Verlegung nach Loccum ein nicht zu unterschätzendes Argument. Adolf Wischmann hält die propagandistische Wirkung dagegen, die die Verlagerung nach Loccum haben würde. Man setze sich dem Vorwurf aus, in Loccum ein Millionenprojekt zu beginnen, während in Hermannsburg wesentlich billiger gebaut werden könne. Dennoch ringt sich der Konvent dazu durch, den Baubevollmächtigten Dr. Schmidt vom Evangelischen Hilfswerk damit zu beauftragen, die Verhandlungen mit dem Kloster Loccum über das Bauland aufzunehmen. Die Materialbeschaffung für den Bau soll durch Hannoversche Firmen sicher gestellt werden. Die Architekten Thiele und Witt sollen gewonnen werden, einen Entwurf von Konstanty Gutschow zu begutachten. Zwar wird der Auftrag an Gutschow noch 26 LkAH,, Generalakte über die Corvinus-Akademie 1951 bis 1952, Bd. II Nr. 6231, Dokumentnummer 31. 27 LkAH, Generalakte über die Corvinus-Akademie 1951 bis 1952 Bd. II Nr. 6231.

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nicht erteilt. Aber der Konvent stellt fest, dass mit ihm ohne weitere Konkurrenz der Bau durchgeführt werden solle. Zum Pachtvertrag mit Hermannsburg wird eine halbjährige Verlängerung ins Auge gefasst, ohne weitere Verpflichtungen einzugehen.28 Was sich in dieser Sitzung an Unsicherheit zeigte, muss sich schnell verbreitet haben. In der »Harke«, der Nienburger Regionalzeitung, konnte man schon am 7. Februar 1951 lesen, es sei noch nichts entschieden. Die Konkurrenten hießen Hermannsburg, Verden und Loccum. Der Landesbischof sei für Loccum. Am 28. März meldete die Hannoversche Allgemeine Zeitung, der Kreistag Celle habe die herzliche Bitte an den Landesbischof gerichtet, die Akademie in Hermannsburg zu belassen. Das Baugelände und ein Darlehen von 50 000 DM würden von der Gemeinde bereit gestellt. Der Kreistag füge dem noch ein Darlehen von weiteren 20 bis 30 000 DM hinzu.29 Angesichts der zunehmenden öffentlichen Diskussion drängte alles auf eine schnelle und endgültige Entscheidung hin. Hanns Lilje wollte die Sitzung des Akademiekonvents vom 15. Mai 1951 dazu nutzen, sie herbei zu führen. Dafür sprechen sowohl die Tagesordnung und das vollständige Erscheinen der Mitglieder als auch der Verlauf der Sitzung selbst.30 Sie brachte eine überraschende Wendung. Zu Beginn wird vom Vorsitzenden eine Bestandaufnahme über die zugesagten Zuschüsse vorgelegt. Die McCloy-Spende von 225 000 DM sei an Bedingungen geknüpft, die sämtlich erfüllbar seien. In einem Schreiben habe die Kohlenbergbauleitung Essen 400 000 DM für den Neubau in Loccum zugesagt. So könne über einen Gesamtbetrag von 625 000 DM Projekte gemacht werden. An kleineren Spenden seien bisher 19 000 DM eingegangen. Johannes Doehring ergänzt, diese 19 000 DM an Spenden würden sich noch erhöhen. Am 2. Juni 1951 wolle der Bund Deutscher Industrie 125 Männer ins Kloster Loccum einladen. Von ihnen sei eine Spendensumme von 150 000 DM zu erwarten. Der Konvent stellt fest, dass gegen die Annahme dieser Spende keine Bedenken bestünden. Erwähnt wird auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, der sich am Aufbau der Bibliothek beteiligen wolle. Dann stellt Hanns Lilje die Gründe nebeneinander, die für Loccum oder Hermannsburg sprechen. Der Kreistag Celle habe die Verzinsung und Tilgung einer Anleihe von 50 000 DM zugesagt. Die Gemeinde Hermannsburg sei bereit, den Bauplatz zu stellen und finanzielle Hilfe zu gewähren. Der Konvent habe nicht von vornherein eine Verlegung geplant, sondern erst als die Akademie nicht in Völkers Hotel bleiben konnte. Die Verbindung zum Westen sei allerdings 28 LkAH, Best. N 76 Nr. 66 Protokolle Akademiekonvent 1. August 46 bis 7. Dezember 1954. 29 LkAH, Best. S 9 Nr. 123 a Hermannsburg Evangelische Akademie 1946 – 1952. 30 LkAH, Best. N 76 Nr. 66 Protokolle Akademiekonvent 1. Aug. 46 bis 7. Dez. 54.

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ein bedeutender Faktor für die weitere Entwicklung. Finanzielle Hilfe werde hier unter der Voraussetzung Loccum angeboten. Für Loccum spreche, dass man den Gesetzen der Akademie folgen muss, dem Kursuselement und der Meditation. Loccum bedürfe dabei der Konfrontation mit der heute lebendigen Kirche. Es folgt eine Abfrage der Präferenzen bei allen Anwesenden. Sechs sprechen sich für Hermannsburg, fünf für Loccum aus, bei einer Enthaltung.31 In den Begründungen für die jeweilige Entscheidung spiegeln sich Konzeptionelles, Interessen und Loyalitäten, aber auch sehr pragmatische Überlegungen. Missionsdirektor Elfers wiederholt die bereits in seinem Brief genannten Gründe, betont dabei die Wichtigkeit der Gemeindebindung und erklärt, eine Verlegung sei gefährlich. Professor Ludwig Raiser32 neigt wegen des klösterlichen Elements zu Loccum. Laut Superintendent Wolckenhaar habe sich die Mehrheit der Bekenntnisgemeinschaft für Hermannsburg ausgesprochen. Nur Leute, die von außen an die Sache heran kämen, seien mehr für Loccum. Wilhelm Plog hält dagegen: Ausschlaggebend ist nicht die Gemeinde, sondern die Akademie. OLKR Mahner verweist auf die Gesellschaft der Akademie (zu der die Hauskreise gehörten, d. Verf.), die sich sehr entschieden für Hermannsburg ausgesprochen habe. Von hier aus argumentiert auch der Nervenarzt Dr. Delbrück, indem er hervorhebt, dass frühere Teilnehmer in stärkerem Maße für Hermannsburg votieren. Dagegen setzt Akademiedirektor Doehring, Hermannsburg verkörpere das konservative Element. Die Kirche müsse vorstoßen zu Industrie und Gewerkschaft und sich ihren Bitten nicht verschließen. Sein Kollege Adolf Wischmann sieht dies ganz anders. Ursprünglich habe er Loccum zugestimmt, aber der Gemeindebezug scheine ihm nun doch als wichtiger. Dann folgt ein Argument in eigener Sache: In Hermannsburg gebe es zwischen den Studienleitern (womit die beiden Direktoren gemeint sind, d. Verf.) ein Gleichgewicht, in Loccum dagegen überwiege das Arbeitsgebiet Doehrings.33 So möchte er sich in seiner Entscheidung zurück halten. Dr. Wagenmann sieht starke persönliche Gründe, womit nicht die Wischmanns, sondern die des Bischofs gemeint sind, und die augenblicklichen Verhältnisse, die für Loccum sprächen. Vom finanziellen Standpunkt her gesehen, komme Hermannsburg jedoch günstiger. Er regt daher an, in einem Gespräch mit den Spendern herauszufinden, ob nicht auch 31 Für Hermannsburg entschieden sich Missionsdirektor Elfers, Dr. Erdsiek, Stadtsuperintendent Wolckenhaar, Oberlandeskirchenrat Mahner, Dr. Delbrück und Oberlandeskirchenrat Dr. Wagenmann, für Loccum Bischof Lilje, Prof. Raiser, Wilhelm Plog, Superintendent Schulze und Akademiedirektor Doehring. Akademiedirektor Wischmann enthielt sich. 32 Ludwig Raiser, Prof. für Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, war von 1948 – 50 Rektor der Universität Göttingen. 33 Mit dem Arbeitsgebiet Doehrings ist hier dessen starker Bezug zur rheinisch- westfälischen Industrie gemeint.

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Hermannsburg für sie möglich sei. Damit liefert er den Gegnern Loccums das Muster, auf das sie sich in der letzten Phase der Diskussion berufen. Dies wohl ahnend wendet Superintendent Schulze ein, die Vorentscheidung zugunsten Loccums durch die Spender sei bereits gefallen. Durch diese Entscheidung lasse sich nun das Kloster aus seinem musealen Dasein heraus lösen. Bis dahin hatte Hanns Lilje geschwiegen. Nun aber wirft er sein ganzes Gewicht in die Waagschale. Das Ergebnis der Aussprache habe ihn nicht überrascht, aber auch nicht erfreut und nicht überzeugt. Für Loccum sprächen keine romantischen Gründe, sondern spreche eine seelsorgerliche Erwägung. Neben dem belehrenden Element sei das meditative dringend erforderlich. Dann folgt der Satz, der eigentlich keine Einrede mehr zulässt: Wir sind nach Loccum geführt. Sie erfolgt dennoch und verlagert die Entscheidung, die im Konvent hätte getroffen werden sollen, nach außen. Dr. Erdsiek erklärt, eine Abstimmung sei erst möglich, wenn geklärt sei, dass die Industrie ihre Spenden an Loccum binde. Der Konvent beschließt, das Gespräch darüber mit dem Leiter der Kohlenbergbauleitung zu führen. Zum Ende der Sitzung berichtet Dr. Wagenmann, eine Verlängerung des Pachtvertrages mit dem Besitzer von Völkers Hotel bis zum 30. September 1952 sei verabredet.

Die Entscheidung und ihre Untertöne Eine Woche später, am 22. Mai 1951 tagt der Konvent erneut. August Elfers trägt noch einmal die Gründe für Hermannsburg vor, die schon in seinem ersten Brief zu lesen waren. Hanns Lilje plädiert für einen Neuanfang. Gerhard Erdsiek spielt die Geldfrage hoch: Für die Industrie ist die Akademie eine politische Institution. Auch Amerika weiß, wofür es gibt. Wir setzen uns hier starker Kritik aus. Hanns Lilje reagiert mit der Aussage: Der Verdacht, die Industrie kaufe uns, ist unbegründet. Karl Wagenmann merkt an: Das Gewicht steht für mich nach Hermannsburg. Wenn aber die 400 000 nur für Loccum gegeben sind, ist in diesem Fall das Geschenk nicht abzulehnen. Die Karte, die die Befürworter von Hermannsburg nun ausspielten, war die letzte und eine schwache zugleich. Alles hing mit ihr davon ab, wie deutlich von den Vertretern der Wirtschaft die zugesagten Mittel an Loccum gebunden wurden. Wäre dies nicht der Fall, wäre das wesentlichste Argument gegen Hermannsburg ausgeräumt. Dies war das Kalkül. Denn auf die entsprechende Anfrage hatte der Geschäftsführer des Bergbau-Vereins aus Essen, Dr. Martin Sogemeyer, brieflich eher ausweichend geantwortet. Offensichtlich wollte er den Verantwortlichen für die Akademie die Entscheidung nicht abnehmen und sich nicht direkt in die Auseinandersetzung einmischen.

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Auf der Basis dieses Briefes erklärte Dr. Erdsiek: Wenn ich jetzt für Loccum stimme, ist es keine innere Entscheidung. Der Landesbischof entgegnete: Der Brief ist nicht ausweichend. Johannes Doehring sprang ihm zur Seite. Er habe mit Dr. Sogemeyer gesprochen. Dabei sei klar geworden: Sie wollen kein Ultimatum stellen. Die Spende werde jedoch für Loccum gegeben. Dann sagt Hanns Lilje: Ich warte auf eine Stellungnahme des Schweigers Studienleiter Wischmann. Der übermittelt nur eine Botschaft von Superintendent Wolckenhaar : Dieser stimme dann für Loccum, falls einwandfrei die Notwendigkeit für den Bau in Loccum festgestellt sei. Hanns Lilje merkt dazu an: Man ist in freiem Gespräch auf Loccum gekommen. Schließlich meldet sich Missionsdirektor Elfers zu Wort: Ich werde für Loccum stimmen. Aber nicht jetzt und mit so belastetem Gewissen. Ich sage ja, wenn die Akademie nur so zu kriegen ist, dass sie in Loccum entsteht. Wir beschließen jetzt Hermannsburg, bitten den Westen um Verständnis. Sagt der Westen dann Nein, gehen wir alle nach Loccum. Dies konnte nicht anders verstanden werden, als die Spender zu einer eindeutigen Entscheidung zu zwingen und ermöglichte zugleich eine Selbstentlastung der Befürworter Hermannsburgs. Der Erfinder dieses Argumentationsmusters, Karl Wagenmann, erkannte jedoch schon die Sackgasse, in die es die Gegner Loccums geführt hatte: Die Frage ist beantwortet. Der Zustand für das Ja von Elfers ist für mich da. Angesichts der verkrampften und offensichtlich emotional hoch aufgeladenen Situation machte Hanns Lilje einen Vorschlag in Kladde. Es solle ein naher Termin für die Beschlussfassung gefunden werden, bei der nur die Voten Ja oder Nein schriftlich abgegeben würden. Er verlegte damit die Entscheidung in eine geheime, jedenfalls nicht protokollierte Abstimmung. Dies unterlief die im Hinblick auf ihre öffentliche Wirkung bedrohliche Variante von Missionsdirektor Elfers. Hanns Lilje nahm die Karte der Loccum-Gegner in die eigene Hand und wendete sie in seinem Sinne. Mit Dr. Sogemeyer solle vor der Entscheidung ein klärendes Gespräch geführt werden. Nach einigem weiteren Hin und Her präzisiert der Vorsitzende sein Angebot: Die Abstimmung solle in zehn Tagen erfolgen. Zwischenzeitlich solle erhoben werden, ob ein Gespräch noch Sinn habe. Wenn das Gespräch geführt worden ist, bekommen alle Nachricht. Als Angebot an Hermannsburg fügte er hinzu, der Finanzreferent (gemeint ist Dr. Wagenmann, d. Verf.) solle mit dem Rektor des Pastoralkollegs prüfen, ob ein unabhängiges Projekt für das Pastoralkolleg geplant werden könne. Der Bischof beendete die Diskussion mit dem Satz: Das Gewicht der vor uns liegenden Entscheidung belastet mich sehr.34 So mochten wohl alle Beteiligten fühlen. Sie hatten gerade die kritischste Phase des Entscheidungsprozesses hinter sich. Dies so auszudrücken vermochte jedoch nur er. 34 LkAH, Best. N 76 Nr. 66 Protokolle Akademiekonvent 1. Aug. 46 bis 7. Dez. 54.

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Am 28. Mai 1951 schreibt der Stellvertretende Vorsitzende, Superintendent Schulze, einen Brief an die Mitglieder des Konvents. Er teilt mit, das Gespräch habe am 26. Mai stattgefunden. Teilnehmer seitens des Konvents waren der Bischof, Missionsdirektor Elfers und Akademiedirektor Doehring. Als Ergebnis kann er berichten, Dr. Sogemeyer habe die Bereitschaft zur Verlegung der Akademie als Geste gewertet, die erst am Anfang stehende gemeinsame Arbeit miteinander fortzuführen. Die zur Verfügung gestellten Spendengelder seien in der Erwartung gegeben worden, dass tatsächlich die Arbeit der Hermannsburger Akademie in Loccum ihre Fortsetzung finde.35 Am 6. Juni 1951, noch bevor das Ergebnis der Abstimmung im Konvent bekanntgegeben worden war, erscheinen zwei Zeitungsartikel, einer in der Hannoverschen Presse und einer in der Rheinischen Post.36 Die Hannoversche Presse zitierte aus einem Brief des Hermannsburger Bürgermeisters, Otto Niemeyer, an den Landesbischof. Der Bürgermeister ging davon aus, dass die Verlegung bereits beschlossen sei. Es war alles verloren und nichts mehr zu verlieren. So jedenfalls mutet an, was da nun öffentlich zu lesen stand. Die Akademie sei ein Hermannsburger Kind, durch die Initiativen von Hermannsburgern hier ins Leben gerufen, unter lebhaftester Förderung der Gemeindeverwaltung und durch die Opferbereitschaft und Willigkeit der Hermannsburger Handwerkerschaft und Geschäftswelt zum Start und Wachstum gebracht. Das sei heute vergessen. Undank, so heißt es dann, ist auch der Kirche Lohn. Er habe kein Verständnis dafür, dass die persönlichen Wünsche des Landesbischofs – Abt von Loccum -, das altehrwürdige Kloster zur Weltgeltung bringen zu wollen, genügen, um Männer der Kirche dem zustimmen zu lassen, wider ihre von echt kirchlichen Gesichtspunkten bestimmte ursprüngliche und eigentliche Meinung. Welche Männer damit gemeint sind, lässt sich unschwer erraten. Aber es wird noch kräftiger aufgetragen. Der Bürgermeister stellt die Frage, ob man den Geist Hermannsburgs nicht bei der Leitung der Landeskirche wolle? Die Hermannsburger Art, wie überhaupt die der Heidjer sei immer schlicht und gerade gewesen. Und dann fügt er hinzu: Jetzt gibt den Ausschlag allein das Geld, das die Industrie des Westens für diesen Dienst der Kirche in Gestalt der Akademiearbeit zur Verfügung stellt. Wie zu erwarten, findet sich in der Rheinischen Post eine völlig andere Diktion. In diesen Loccumer Klostermauern heißt es da, solle nun das fortschrittlichste Unternehmen, das die Evangelische Kirche wohl jemals ins Leben gerufen habe, fortgesetzt werden. Für die Verlegung sei nicht zuletzt die größere Nähe zum rheinisch-westfälischen Industriegebiet ausschlaggebend, das an den Arbeiten der Akademie besonders lebhaften Anteil genommen habe. Aber auch 35 LkAH, Best. N 72 Nr. 45. 36 LkAH, Best. S 9 Nr. 123 a Hermannsburg Evangelische Akademie 1946 – 1952.

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die Kandidaten des Predigtamtes, die seit 1820 in Loccum ausgebildet würden, sollten Nutzen aus der Arbeit der Akademie ziehen. Das Ergebnis der schriftlichen Abstimmung erfahren die Mitglieder des Konvents offiziell auf der Sitzung am 21. Juni 1951. Ohne Namensnennung wird es bekannt gegeben. Bis auf zwei Neinstimmen haben sich alle für Loccum entschieden. Vom Bürgermeister Hermannsburgs verlangt der Konvent eine öffentliche Entschuldigung für den Brief an den Landesbischof. Am 27. Juni 1951 teilt der Konvent der Akademie dem Konvent, Abt und Prior des Klosters Loccum mit, er beabsichtige, die Akademie nach Loccum zu verlegen. Dr. Wagenmann als Schatzmeister und Dr. Schmidt vom Evangelischen Hilfswerk werden als Beauftragte für die weiteren Verhandlungen benannt. Am 7. Juli finden die ersten Grundstücksbesichtigungen statt.37

Die Finanzierung und die Sponsoren Zwei Finanzierungsquellen spielten in der Diskussion, die zu dieser Entscheidung führte, bereits eine prominente Rolle, die sogenannte McCloy-Spende und die Spenden aus der Wirtschaft, insbesondere die aus der rheinisch-westfälischen Bergbau- und Stahlindustrie. Auf beides und die Gesamtfinanzierung soll nun näher eingegangen werden.38 John Jay McCloy, von 1949 bis 1952 Hoher Kommissar für die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland39, hatte wie auch sein Vorgänger, der Militärgouverneur General Lucius D. Clay, die Akademie bereits in Hermannsburg besucht, und dort seine Sicht des Ost-West-Gegensatzes vertreten. Im Hinblick auf die Kirchen mahnte er deren Einsatz besonders auf dem Gebiet der sozialen Frage an.40

37 LkAH, Best. N 72 Nr. 45. 38 Dazu wird für dieses Kapitel der wegen der Nachzeichnung der Dynamik des Entscheidungsprozesses bisher gewählte chronologische Ansatz verlassen, um die einzelnen Finanzierungsquellen in ihrem jeweiligen Kontext darstellen zu können. 39 John McCloy, Jurist und Politiker, war von 1941 bis 1945 Staatssekretär im US-amerikanischen Verteidigungsministerium und von 1947 bis 1949 Präsident der Weltbank. Nach seiner Zeit als Hoher Kommissar wurde er Vorsitzender der Ford-Foundation, Vorstandsmitglied des Council of Foreign Relations und Präsidentenberater von John F. Kennedy bis Ronald Reagan. 40 Dazu Fritz Erich Anhelm: Zur Gründungsgeschichte der Evangelischen Akademien – ein protestantisches Deutschlandkonzept? In: Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938 – 1949, hrsg. von Gunther Nickel, Göttingen 2004, S. 373 – 384. Die Auswertung des Protokolls zum McCloy-Besuch auf der Tagung vom 19.–22. Mai 1950 findet sich auf S. 379 – 382. Dieses Tagungsprotokoll wurde auch verarbeitet in Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999,

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Der Grant-in-Aid-Brief vom 14. März 1951, also schon etwa drei Monate vor der endgültigen Standortentscheidung, enthielt eine Beihilfebewilligung des United States High Commissioner for Germany für den Bau und die Ausstattung der Evangelischen Akademie in Loccum, Special Project Nr. 581, in Höhe von 225 000 DM. Die Bewilligung ist an Berichte über Baufortschritte gekoppelt, die dem British Land Commissioner for Lower Saxony einzureichen waren. Die Übergabe des Geldes erfolgte per Order-Scheck Nr. A 022533, ausgestellt auf die Bank Deutscher Länder in Frankfurt a.M., am 13. 12. 1951.41 Nicht in der Bewilligung enthalten war das Anbringen einer Bronzetafel, die auf den Geber der Spende verweisen sollte. Deren geplanter Text sorgte für einen Briefwechsel zwischen Superintendent Schulze und der Bischofskanzlei, da er den Eindruck aufkommen lasse, als ob der Bau der Evangelischen Akademie allein aus öffentlichen amerikanischen Mitteln errichtet worden sei. Der Beitrag mache aber nur ein Fünftel aus.42 Der allergrößte Teil der Mittel kam von der sich erholenden und neu formierenden Wirtschaft. An dieser Formierungsphase war besonders Johannes Doehring schon zu der Hermannsburger Zeit beteiligt. Er nahm mit seinen Tagungen und Aktivitäten eine geschätzte Moderationsfunktion zwischen dem Management der großen rheinisch-westfälischen Unternehmen und ihren Verbänden auf der einen und den Gewerkschaften auf der anderen Seite wahr.43 S. 120 ff. Das Protokoll befindet sich in hektographierter Form im Archiv der Evangelischen Akademie Loccum. 41 LkAH, Best N 76 Nr. 103. Hier findet sich auch ein Vermerk vom 29. Nov. 1951 über die Buchführung und Ordnung von Belegen zur McCloy-Spende für den Wirtschaftsleiter des Anna-Stiftes, der die Verwaltung und Berichterstattung übernommen hatte. In seinen Erinnerungen ordnet Hanns Lilje diese Unterstützung in die Re-Education-Bemühungen der Alliierten ein und berichtet davon, dass die zuständige die britische Militärregierung auf dem Verwaltungswege die Spende fast abgelehnt hätte, er dies aber bei einer zufälligen Begegnung mit dem Kommandeur der britischen Militärregierung habe verhindern können. Hanns Lilje: MEMORABILIA, Nürnberg 1973, S. 77 f. 42 Der ursprüngliche Text hieß: »Dieser Bau wurde mit Hilfe von öffentlichen Mitteln der Vereinigten Staaten von Amerika errichtet«. Der Vorschlag Superindentendent Schulzes lautete: »Dieser Bau wurde unter der Beihilfe von öffentlichen Mitteln der Vereinigten Staaten von Amerika errichtet«. Die Größe der Bronzeplatte war mit 30x45 cm festgelegt. LkAH, Best N 76 Nr. 103. Bis zu den siebziger Jahren war diese bronzefarbene Platte neben der Eingangstür angebracht und wurde dann entfernt. 43 Ausführlich untersucht hat dies Rulf Jürgen Treidel: Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung, Stuttgart 2001, S. 102 ff. Aus seiner Untersuchung wird deutlich, in welch ausgeprägter Weise die Arbeit der Akademie mit dem Prozess der Reorganisation der rheinisch-westfälischen Wirtschaft und der Entstehung der Montanmitbestimmung verbunden war. Treidel geht dabei auch auf die Konkurrenzen zwischen den beteiligten Landeskirchen, ihren jeweiligen Repräsentanten und die Rolle Eberhard Müllers als Akademiedirektor Bad Bolls ein. Dazu ebenfalls: Rulf Jürgen Treidel: Evangelische Kirche und Politische Kultur im Nachkriegsdeutschland. In: JGNKG, 91, Band 1993, S. 189 – 209, darin

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Daraus resultierten viele persönliche Kontakte, die sich nun im wahrsten Sinne des Wortes auszahlten. Auch Hanns Lilje genoss hohes Ansehen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Johannes Doehring aber befand sich wesentlich dichter und kontinuierlicher am Ball. Einen bezeichnenden Blick darauf erlaubt der Beschluss zu der Nachbewilligung seiner Reisekosten in Höhe von 2000 DM durch den Konvent am 18. Dez. 1951. Die Zustimmung fand ihre Begründung darin, dass dem persönlichen Wirken von Pastor Doehring auf diesen Reisen zum wesentlichen Teil das Hereinfließen der Mittel für den Neubau der Akademie zu danken ist.44 Das ist von der späteren Legendenbildung stark überdeckt worden. Die in der Sitzung des Konvents vom 15. Mai 1951 von Seiten Doehrings erwähnte Zusammenkunft der 125 Männer, die der Bundesverband der Deutschen Industrie zusammenrufen wollte, fand am 27. Okt. 1951 statt. Hanns Lilje war es gelungen, auch Konrad Adenauer und Hinrich Wilhelm Kopf dazu nach Loccum zu holen. Inhaltlich standen ethische Fragen der Wirtschaftspolitik auf dem Programm. Doch der wenig geheime Lehrplan betraf das Spendenaufkommen für den Bau der Akademie. In seinen Memoiren erzählt Hanns Lilje diese Geschichte in launiger Form als seine Idee, die zusammen mit der McCloy-Spende den »Grundstock für den Aufbau der Evangelischen Akademie Loccum« gelegt habe. Das Ergebnis der Versammlung belief sich auf 120 000 DM.45 Die Summe der Spenden aus der Wirtschaft machte jedoch schließlich 612 000 DM aus. Es schien sich eine Art Dynamik bei den Unternehmern für die Unterstützung des Neubaus der Akademie entwickelt zu haben. Darauf deutet besonders die Zusammensetzung der Spenden hin, die keineswegs nur als

besonders: Die Hintergründe des Umzugs der Akademie Hermannsburg nach Loccum, S. 200 ff. 44 Protokoll der Sitzung des Konvents der Akademie vom 18. 12. 1951. LkAH, Best N 76 Nr. 66. 45 Hanns Lilje: MEMORABILIA, Schwerpunkte eines Lebens, Nürnberg 1973, S. 78 f. Doehrings Beitrag wird hier nicht erwähnt. Auch die Lilje-Biographie von Johannes Jürgen Siegmund geht bei der Schilderung der Akademieverlagerung darauf nicht ein: Bischof Johannes Lilje, Abt zu Loccum, Göttingen 2003, S. 128 ff. Von der Versammlung, auf der Doehrings gesamtes Umfeld von Wirtschaftsvertretern mit Schwerpunkt der rheinischwestfälischen Region anwesend war, existiert auch ein Bericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. LkAH, Best. L 3 III, 10. Die Rheinische Post Nr. 253 berichtete am 29. Okt. 1951, Konrad Adenauer habe gesagt, ein Unternehmer dürfe nicht nur Geldmacher sein, sondern müsse seine Arbeit als einen Beruf auffassen, der ebenso ein Ethos zu vertreten habe wie jeder geistige Beruf. Es wird festgestellt, dass »auf der Veranstaltung im Kloster Loccum, dem künftigen Sitz der Hermannsburger Evangelischen Akademie, die westfälische und die rheinische Wirtschaft wie auch die niedersächsische stark vertreten« gewesen sei.LkAH, Best. S 9 Nr. 123 a.

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größere Beträge über die Industrieverbände, sondern in hoher Zahl von einzelnen Firmen kamen.46 Trotz der in vielen Zeitungsartikeln zur Einweihung immer neu wiederholten Aussage von Hanns Lilje, dass »das Haus ohne Verwendung von Kirchensteuern allein aus freiwilligen Spenden aus dem In- und dem Ausland errichtet wurde«47, beteiligte sich jedoch auch die Landeskirche auf verschiedene Weise durchaus maßgeblich an der Finanzierung. So stellte sie dem Akademiekonvent für das Einbeziehen des Pastoralkollegs und des Katechetischen Amtes (heute: Religionspädagogisches Institut) 150 000 DM gegen die Eintragung einer entsprechenden Grundschuld bereit. Ein Verbleiben des Pastoralkollegs in Hermannsburg stand nicht länger zur Debatte. Dieser Beitrag begründete sich aus der direkten landeskirchlichen Anbindung der beiden Institute, floss aber ohne Zweckbindung in die Gesamtfinanzierung ein.48 Die Architekten hatten sie mit zwischenzeitlichen Nachbesserungen schließlich auf 1,4 Millionen DM veranschlagt. Davon fehlten 400 000 DM. Sie wurden durch einen Kredit der Niedersächsischen Landesbank in Höhe von 200 000 DM, für den die Landeskirche auf Antrag des Akademiekonvents die Bürgschaft übernahm, und einen Zwischenkredit der Landeskirche selbst in Höhe weiterer 200 000 DM gedeckt. Ein Vermerk vom 13. Juni 1952 stellt fest, der Landesbischof habe als Vorsitzender des Konvents der Akademie in Sachen Zwischenkredit beim Ständigen Ausschuss und Haushaltsausschuss der Synode vorgetragen. Beide Ausschüsse hätten den Zwischenkredit befürwortet.49 Am 11. Dezember 1952 erwarb die Landeskirche darüber hinaus Wertpapiere der Niedersächsischen Landesbank in Form von Pfandbriefen der Stadtschaft/ Wohnungskreditanstalt Niedersachsens in Höhe von 40 000 DM. Die Stadtschaft gewährte am 10. Dezember 1952 ihrerseits der Akademie für das Bauvorhaben in Loccum eine erststellige Hypothek von 56 000 DM.50 46 Eine Aufstellung der Spenden vom 1.–8. Nov. 1951 nennt Beträge zwischen 50 und 5000 DM. Auf Antrag erhielt das Evangelische Hilfswerk, bei dem die Spenden eingingen, von der Akademie eine Vergütung für die Spendenbewirtschaftung, was mit der Vielzahl der einzelnen Vorgänge begründet wurde. Sie beläuft sich allein für das Jahr 1951 auf 13 692 DM. LkAH, Best. N 76 Nr. 103. 47 Zitiert nach dem Mindener Tageblatt vom 24. Dezember 1952. LkAH, Best. E 46 Nr. 209. 48 Anders als die beiden Institute hatte die Akademie den rechtlich selbständigen Status eines Vereins. Zur landeskirchlichen Einrichtung wurde sie mit seiner Auflösung erst am 4. April 1975. Dazu: Fritz Erich Anhelm: Übergänge – Die Evangelische Akademie Loccum in den 1960er und 1970er Jahren. In: Heinrich Grosse, Hans Otte, Joachim Perels (Hrsg.): Kirche in bewegten Zeiten. Proteste, Reformen und Konflikte in der hannoverschen Landeskirche nach 1968, Hannover 2011, S. 183 ff. 49 LkAH, Generalakte über die Corvinus-Akademie 1951 bis 1952 Bd. II Nr. 6231 Dokumentnummern 120, 133, 134 und 154. Für den Zwischenkredit wurde ein Zinssatz von 6 % festgesetzt, der Akademie jedoch nicht in Rechnung gestellt. 50 Ebd., Dokumentnummern 172 und 180.

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Auch das Land Niedersachsen stellte nach Verhandlungen zwischen Landesbischof und Ministerpräsident einen Betrag von 50 000 DM als Beihilfe zur Verfügung. Hinzu kamen Spenden aus Ökumenischen Mitteln (Lutherische Kirche in den USA) in Höhe von 71 000 DM, eine namentlich nicht ausgewiesene Sonderspende von 20 000 DM und ein Zuschuss aus dem Bundesjugendplan von 9 500 DM.51 Bis all dies unter Dach und Fach war, musste zeitweise eine Zitterpartie ausgestanden werden, auf die noch eingegangen wird.

Der Bauplatz und der Bau Superintendent Schulze teilte – wie oben erwähnt – schon auf der Sitzung des Konvents am 17. November 1950 mit, bestimmte Fragen, die das Kloster Loccum bezüglich der eventuellen Ansiedelung der Akademie habe, seien inzwischen geklärt. In seinen Erinnerungen fasst Hanns Lilje das deutlich schärfer : »Dort (im Kloster, d. Verf.) stieß man auf die ausgemachte Aversion, wenn nicht den regulären Widerstand der alten Loccumer.« Er benennt besonders Prior Paul Fleisch52 als entschlossenen Gegner des Planes, die Akademie nach Loccum zu verlegen, und fährt fort: »Nur dem Umstand, dass ich gleichzeitig als Abt des Klosters den Konvent zu leiten hatte, ist es zuzuschreiben, dass es mir nach manchen mühseligen Gesprächen gelang, vom Konvent des Klosters ein Grundstück für den Bau der Akademie zu erlangen.«53 Bereits am 10. November 1950, ein halbes Jahr vor der endgültigen Entscheidung für Loccum, hatte Architekt Gutschow einen Vergleich von drei in Frage kommenden Bauplätzen vorgelegt. Seine Empfehlung richtete sich auf den oberen Bereich der Wiese jenseits der Fulde direkt gegenüber dem Kloster. Als weitere Möglichkeit wurde das Gelände ins Auge gefasst, auf dem sich die Akademie jetzt befindet. In beiden Fällen stand die zu dieser Zeit wohl ziemlich marode Kälberscheune im Weg, deren Abriss als notwendig erklärt wurde. Ihr Abriss entwickelte sich zum Objekt des erbitterten Streits. Dass sie heute noch steht, renoviert ist und weiterhin Rinder und Kälber beherbergt, wird dem Durchhaltevermögen des Priors zugeschrieben. Der dritte, nicht in die engere 51 Unterlagen zu den Verhandlungen mit dem Land finden sich in: LkAH, Best. L 3 III / 1117 Die Summen gehen aus einer Aufstellung in Best. N 76 Nr. 101 hervor. 52 Paul Fleisch war durch seine gesamte Lebensgeschichte hindurch mit dem Kloster Loccum verbunden. Er war Stiftsprediger, Konventualstudiendirektor, Geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamtes, seit 1937 Konventual und seit 1950 Prior des Klosters. Von 1946 bis 1947 gehörte er kurzzeitig auch dem Konvent der Akademie Hermannsburg an. 53 Hanns Lilje: MEMORABILIA, S. 76. Über diese Auseinandersetzung habe ich in den herangezogenen schriftlichen Quellen keine Belege gefunden. Um so mehr ist sie ein besonders präsenter Gegenstand des narrativen Gedächtnisses.

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Wahl gezogene Bauplatz lag auf der Wiese zwischen der rückwärtigen Klostermauer und dem Wald.54 Die Entscheidung für den heutigen Standort erfolgte auf der Sitzung des Konvents am 17. Juli 1951, auf der Hanns Lilje feststellte, der Plan auf der Kälberkoppel (gemeint ist der heutige Standort, d. Verf.) habe Vorrang vor dem Platz, wo jetzt die Scheune steht. Dr. Erdsiek, Superintendent Schulze und der Vertreter des Evangelischen Hilfswerkes, Dr. Schmidt, werden beauftragt, schon am nächsten Tag mit dem Vermögensverwalter und dem Prior des Klosters über ein Erbbaurecht für den Vorrangplatz zu verhandeln. Ebenso werden Architektennamen für einen nun doch ins Auge gefassten beschränkten Wettbewerb genannt. Bezüglich der Bausumme geht der Konvent zu diesem Zeitpunkt noch von 600 000 DM aus.55 Der Konvent der Akademie und der Konvent des Klosters kommen am 10. Sept. 1951 in Loccum zusammen, um die Vereinbarung zu besiegeln. Zunächst bleibt der Konvent der Akademie unter sich und besichtigt das Gelände, das als auf dem Rübenacker zwischen Forsthaus und Kälberkoppel liegend im Protokoll beschrieben ist, mit Teilen der Kälberkoppel selbst, dem sich auf dem Gelände befindendem Haus Nr. 231 und Teilen des Feldweges, für die dem Kloster weiterhin ein Wegerecht zustehen soll. Dem vom Kloster genannten Kaufpreis von zwei DM pro Quadratmeter wird zugestimmt mit Ausnahme des Rübenackers, für den der Akademiekonvent 1,50 DM als angemessen ansieht. Auf der darauf folgenden gemeinsamen Sitzung der beiden Konvente setzt sich das Kloster mit seiner Preisvorstellung durch, und man einigt sich auf zwei DM pro Quadratmeter für alle Flächen. Der gesamte Kaufpreis einschließlich 6260 DM für das Haus beläuft sich auf 39 000 DM. Davon sind 10 000 DM sofort und der Rest bei der Auflassung fällig. Das Kloster erhält ein Vorkaufsrecht für den Fall der Veräußerung. Drei Wochen nach Aberntung der Felder könne der Bau beginnen. Loccumer Handwerks- und Industriebetriebe sollen an ihm beteiligt werden.56 Während des akademieinternen Teils artikuliert sich auch eine Vorstellung über den Charakter des Baus, die den Architekten für ihre Entwurfsskizzen auf einer Besprechung am 17. September 1951 übermittelt werden soll. Das Protokoll gibt dazu die Aussage Hanns Liljes wörtlich wieder : Das neue Akademiegebäude soll eine gepflegte Mönchsstätte werden mit einem wohltuenden Maß an 54 LkAH, Best. L 3 III / 1089. 55 LkAH, Best. N 76 Nr. 66. Die Namen sind Brandes, Gutschow, Prendel und falls dieser nicht könne, Witt und Becker. 56 LkAH, Best. N 76 Nr. 66. Die Sache mit dem Preis hatte allerdings ein Nachspiel. Die Landwirtschaftsbehörde genehmigte den Kaufvertrag nicht und bestand auf 1,50 DM pro qm für die gesamte Fläche. Das Kloster musste im Rahmen eines Änderungsvertrages 2562,50 DM an die Akademie zurückzahlen. Ebd., Vermerk vom 26. Januar 1953.

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edler Einfachheit, kein unnötiger Luxus, jedoch geschmackvoll, modern, praktisch und vor allem wirtschaftlich rentabel. Großräumiges Denken ist für die Architekten bei der Planung erforderlich. In seinem Gesamturteil muss sich der neue Gebäudekomplex dem Kloster und seiner Umgebung in jeder Weise anpassen. Dies ist die Vorgabe, an der sich alle späteren Aussagen über den Charakter dieses Akademieneubaus orientieren. Zur Sitzung des Konvents am 7. November 1951 sind vier Architektenentwürfe eingereicht, die anonym zur Diskussion stehen. Zwei Sachverständige, Prof. Dr. Deckert und Prof. Dr. Witt, tragen ihre Beurteilung des jeweiligen Typs der Entwürfe vor. Danach gab es einen klein-, bzw. mittelstädtischen Rathauskomplex, ein Sanatorium bzw. Hotel, einen aufgelockerten, zeitlosen Gebäudekomplex als Zwischending zwischen ländlicher und klösterlicher Bauweise in unauffälliger Form und ohne besondere Akzente dem Gelände und seiner Umgebung angepasst und einen dreistöckig massierten Wohnbaukomplex. Dann stellen die Gutachter die Frage, ob ein selbständiges Gegenüber oder eine Zu- bzw. Unterordnung zum Kloster gewünscht sei. Ihre eigene Empfehlung lautet: Zurückhaltung und Anpassung und daher dritter Entwurf. Dem folgt die große Mehrheit der Mitglieder des Konvents. Der Rektor des Pastoralkollegs, Superintendent Hoffmann, spricht sich allerdings für den vierten Entwurf aus, nicht seines Übergewichts, sondern seines Gegengewichts zum Kloster wegen. Superintendent Wolckenhaar zweifelt die Wirtschaftlichkeit des dritten Entwurfs an und gibt ebenfalls deshalb dem vierten den Vorzug. Hanns Lilje greift mit den Worten ein, beim vierten Entwurf sitze der Akzent falsch. Essen, Trinken und Wohnen dominiert. Die Akademie aber brauche einen christlichen und demütigen Entwurf. Deshalb befürworte er den dritten. Das Dienende und das Mäßigende seien das Hervorragende und Überzeugende. Dem schließen sich alle weiteren Redner an. Die Briefumschläge werden geöffnet. Der dritte Entwurf war der des Oberregierungsrates und Baurats Jan Wilhelm Prendel.57 Eine Beilage zum 21. Rundbrief der Evangelischen Akademie Hermannsburg vom Juli 1952 enthält neben Bauzeichnungen auch eine Beschreibung des Baus und seiner Räumlichkeiten durch den Architekten. Jan Wilhelm Prendel beginnt dabei mit der »Eingangshalle, die mit breiten Fenstern den Blick auf das Kloster frei gibt, damit jeder Gast des Hauses schon bei der Ankunft etwas von dem Geist des Ortes spürt«. Und er fährt er fort: »So wenig in der Gesamtanlage eine 57 Jan Wilhelm Prendel war als beamteter und freier Architekt tätig. Neben vielen anderen Bauten beteiligte er sich an der Medizinischen Hochschule Hannover und der Universität Göttingen. Er ist auch der Architekt des Landeskirchenamts. Bekannt wurde er durch den Wiederaufbau der Basilika St. Michaelis in Hildesheim. Dem Kloster war er durch viele ehrenamtliche Tätigkeiten verbunden. Abt und Konvent verliehen ihm dafür den Titel »Klosterbaumeister«.

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Wiederholung des alten Klosterbildes angestrebt wird, so wenig kann auch in der Einzelgestaltung eine Anleihe bei der historischen Architektur versucht werden. Wenn es gelingt, in der Massenverteilung und durch die richtige Baustoffwahl sich dem durch das Kloster geprägten Landschaftsraum einzufügen, so darf und soll man dem Bau ruhig ansehen, dass er im Jahre 1952 entstanden ist.«58 Der erste Spatenstich erfolgte am 1. März 1952 begleitet vom einem feierlichen Gebet.59 Das Bauschild enthält die Angaben: Neubau der Evangelischen Akademie / Bauherr : Evangelische Akademie der Ev. Luth. Landeskirche Hannovers (Corvinus- Akademie) e.V./ Entwurf: Oberbaurat J. W. Prendel, Hannover / Durchführung: Architekten des BDA Paul und Rudolf Brandes, Hannover.61 Aber es ging nicht so glatt wie aufgrund der zur Verfügung gestellten Spenden zunächst angenommen. Noch vor dem ersten Spatenstich findet eine Krisensitzung des Konvents der Akademie statt, die Veränderungen am Entwurf zu Einsparzwecken zum Ziel hat. Von den zu diesem Zeitpunkt inzwischen veranschlagten 1,2 Millionen fehlen noch die besagten 400 000 DM. Hanns Lilje erwägt, ob die Arbeit des Katechetischen Amtes nicht anderswo ausgeübt und der Kapellenbau in toto wegfallen könne. Jan W. Prendel wirft ein, durch Randbeschneidungen seien fühlbare Einsparungen nicht zu erzielen. Wenn eine Reduzierung nötig sei, dann müsse sie bei der Bettenzahl von 80 auf 60 erfolgen. Schließlich werde der Kapellenbau und der letzte Flügel des Gästehauses als Zwischenlösung zurückgestellt. Die Reduktion der Bettenzahl wird als einstimmige Ansicht des Konvents abgelehnt. Die trotz solcher Einsparungen immer noch fehlenden Mittel sollen durch weitere Einwerbung von Spenden und Kredite aufgebracht werden. Daraufhin erklärt der Vorsitzende, dass mit dem Bau begonnen werden könne.62

Deutungen und Bedeutung Die Einweihung der neu erbauten Evangelischen Akademie Loccum findet am 13. Dezember 1952 mit Grußworten des Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers, des Bundesinnenministers Robert Lehr, einer Weiheansprache Bischof Liljes und Festvorträgen der Akademiedirektoren Doehring und Wischmann statt. Einen Tag zuvor beschreibt Adolf Wischmann den Bau in der Bremervörder Zeitung mit den Worten: »Viele erwarten – erfreulicherweise zu Unrecht – einen prunkvollen Neubau. 58 LkAH, Generalakte über die Corvinus-Akademie Bd. I Dokumentnummer 295. LkAH, Generalakte über die Corvinus-Akademie Bd. II Dokumentnummer 100. 60 Ebd., Dokumentnummer 118.

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Die Architekten bejahten die Lösung, an einem Ort mit einem Zisterzienserkloster auf ein baulich auffallendes Gegenüber zum Kloster zu verzichten. So ergab sich der lange, aufgelockerte Bau mit einem Gästeflügel, einem Flügel mit Tagesraum, Eßsaal, Hörsaal und Bibliothek und im unteren Teil mit den Wirtschaftsräumen sowie einem Flügel mit den Geschäftsräumen, dessen Gang einmal in eine Kapelle einmünden soll, die im ersten Bauabschnitt leider noch nicht gebaut werden konnte.«63 Diese eher nüchterne Beschreibung erfährt im Umfeld der Einweihung besonders durch Hanns Lilje eine deutende Aufladung, die vieles von dem aufnimmt, was im Zuge der Verlagerung von Hermannsburg nach Loccum die Auseinandersetzung bestimmte, es nun aber so zusammenführt, dass es die Bedeutung der neu errichteten Akademie unterstreicht. Dabei finden die Elemente der Erweckung, die immer wieder aus Hermannsburg angemahnt worden waren, der klösterlichen Tradition, die mit Loccum aufgerufen werden konnte, und der Neuorientierung, die sich mit der grundlegend und geistlich gedachten Reorganisation der Gesellschaft verband, in einer grandiosen Synthese zueinander. Einige Zitate aus vielen ähnlichen Äußerungen mögen dies verdeutlichen: »Es ist ein faszinierender Gedanke, dass in der Arbeit der Evangelischen Akademien der Christenheit eine Bewegung erwachsen ist, die an erwecklicher Kraft mit den großen Erweckungsbewegungen des vorigen Jahrhunderts oder den großen Aufbruchsbewegungen des Mittelalters verglichen werden kann.«64 »In der Akademiearbeit soll auf dem Boden unserer Gegenwart wiederholt werden, was einst der große Grundgedanke des abendländischen Mönchstums 61 Zitiert nach einem Brief Dr. Schmidts an die Studienleitung der Akademie vom 6. 2. 1952. Eine direkte Vereinbarung zwischen J. W. Prendel und den Herren Brandes legte fest, dass Prendel die künstlerische Oberleitung habe und für die Gestaltung des Bauvorhabens allein zuständig sei. Den Herren Brandes obliege die technische Durchführung. LkAH, Best. N 76 Nr. 103. Dort findet sich auch ein Vermerk von der Sitzung des Bauausschusses vom 17. 3. 1952 über die Beteiligung Loccumer Firmen (Gruppe Loccum). Erwähnt werden Fa. Windheim und Bleeke für die Wohngebäude A und B und Garagen sowie Dachdeckerarbeiten für Wohngebäude und Klempnerarbeiten. Das Kloster lieferte ca. 250 Festmeter Bauholz (Sparren und Deckenholz) gegen die übliche Bezahlung. Aus Gesprächen mit Heinrich Lampe aus Loccum ist mir bekannt, dass auch die Bauern des Dorfes wie zu alten Zeiten zu Hand- und Spanndiensten bei den Erdbewegungen und der Beseitigung des Bodens herangezogen wurden. 62 Vermerk zur Konventssitzung am 11. Jan. 1952, LkAH, Best. N 76 Nr. 66 Protokolle Akademiekonvent 1. Aug. 46 – 7. Sept. 54. Die 400 000 DM wurden wie oben erwähnt durch den Kredit der Niedersächsischen Landesbank und den Zwischenkredit der Landeskirche abgedeckt. Es blieb aber nicht bei den 1,2 Millionen DM. Weitere 200 000 DM mussten noch während der ersten und zweiten Bauphase durch Kredite und Zuschüsse aufgebracht werden. Der später hinzugefügte Kapellenbau verdankt sich Jan W. Prendel, der sein Architektenhonorar spendete, um ihn realisieren zu können. 63 LkAH, Best. E 46 Nr. 209 (Zeitungsausschnitte). 64 Ebd., Sonntagsblatt und Mindener Tageblatt vom 24. 12. 1952.

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war -in gestraffter Konzentration und angespannter geistiger Arbeit, die keine Aufgabe scheut und vor keinem Problem erschrickt, den Geist durch eine heilige Disziplin so zu bereiten, dass er Gott begegnen kann, dem lebendigen Gott.«65 »Im Rahmen der Akademiearbeit ist so etwas entstanden wie eine konstruktive Linie eines sehr wesentlichen Teiles des deutschen Protestantismus in der rauen Wirklichkeit der Welt… Der Protestantismus in Deutschland hat in diesen Stätten Schulen gefunden, die seine Glaubwürdigkeit in den Problemen der Welt wesentlich gestärkt haben.«66 Im Kontext dieses »kühnen Projektes angesichts eines 800jährigen Klosters«67 werden die Zimmer des Gästehauses der Akademie zu » modernen Mönchszellen, hell und freundlich mit einem kleinen Schreibtisch und mit fließendem Wasser«.68 Seine Vision evangelischer Akademiearbeit fasst Hanns Lilje in der Weiheansprache, abgedruckt auf der Sonderseite der Norddeutschen Zeitung zur »feierlichen Eröffnung der Evangelischen Akademie Loccum« zusammen. Die Evangelischen Akademien gehören für ihn »zu den eigenartigsten und bedeutsamsten Lebensäußerungen der gegenwärtigen Christenheit«. Ihre eigentliche Aufgabe müsse eine »sorgfältige und genaue geistige Analyse unserer heutigen Situation bieten und zugleich die Grundlagen aufzeigen, auf denen die Neuorientierung unseres gesamten Lebens vollzogen werden« könne. Das Beglückendste an der Akademie sei die Atmosphäre völliger Freiheit als methodische Grundlegung ihrer Arbeit. Dann folgt der bis heute immer wieder zitierte Satz: »Hier kann jeder alles sagen«. Nur »völlige geistige Freiheit« mache den »Respekt im Umgang mit dem Andersdenkenden möglich«. Und völlig selbstverständlich schlägt er nun die Brücke zum Kloster. Seine »wunderbare alte Architektur« ist für ihn »gleichsam ein Mahnzeichen, jenen Geist gläubiger Aktivität und strenger geistiger Tradition nicht erlöschen zu lassen, der einst die Zisterzienser hier zu ihrer Pionierarbeit getrieben hat. Die Evangelischen Akademien sind heute gleichsam die Aussenforts der geistigen Auseinandersetzung der Kirche mit der Welt. Sie bedürfen großer geistiger Kühnheit und Präzision, um ihre Arbeit recht erfüllen zu können. Aber noch mehr bedürfen sie jener Kräfte der Anbetung, der Besinnung und der gläubigen Versenkung in die christliche Überlieferung, deren Zeugen die jahrhundertealten Mauern des Klosters sind.«69 Da werden auf geradezu unüberbietbare Weise Deutung und Bedeutung von

65 66 67 68 69

Ebd., Rheinischer Merkur vom 20. 2. 1953. Ebd., Bulletin Bonn vom 18. 12. 1952. Ebd., Niederdeutsche Zeitung vom 16. 12. 1952. Ebd., Mindener Tageblatt vom 24. 12. 1952. LkAH, Best. N 76 Nr. 105.

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Der Bischof, die Konvente und das Kloster

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klösterlicher Tradition und Akademiearbeit zusammengebunden. Über zwei lange Jahre hin hatte genau diese Verbindung den Gegenstand höchst strittiger Auseinandersetzungen ausgemacht. Nun aber mochte Hanns Lilje niemand mehr widersprechen. Ein wenig nur erinnert das Gespräch mit den beiden Direktoren der Akademie, das am 24. Dezember 1952 im Mindener Tageblatt erschien, an die Spannung, die hinter allen vordergründigen Interessen dem Ringen um den richtigen Ort zugrunde lag. Johannes Doehring hebt als Quintessenz seiner Sicht auf die Akademiearbeit hervor: »Es ist unsere … Erfahrung, dass die neue Erweckung über die Sachprobleme geht«. Adolf Wischmann aber betont, es brauche eine »Insel in unserem eigenen Leben … Meditation, Stille, Hören, Stunde des Gebets«.70 Beide haben sicher recht, sobald man beides aufeinander bezieht. Eines bleibt nachzutragen: Völkers Hotel in Hermannsburg existiert nicht mehr. Nach dem Auszug der Akademie wurde es bis 2007 noch als Hotel genutzt und danach abgerissen.71 Aber seinem Vergessen hatte jemand vorgebeugt. Am 26. August 1952 schickte der Geschäftsführer der Akademie, Kurt von Einem, dem Akademiedirektor Adolf Wischmann einen Brief aus Hermannsburg in das Parkhotel Stuttgart. Er teilte ihm darin mit, auf Veranlassung von Jan W. Prendel, dem Architekten der Akademie Loccum, sei Prof. Dörries eingetroffen, um ein Bild der Akademie Hermannsburg zu malen. Das solle acht Tage dauern. Der Verwendungszweck sei ihm unbekannt.72 Dieses Ölgemälde, das die Evangelische Akademie Hermannsburg zeigt, ist heute in der Kaminecke des Tagesraumes der Evangelischen Akademie Loccum zu besichtigen.

70 Ebd., Mindener Tageblatt Nr. 296 vom 24. Dez. 1952. 71 Am 20. Juli 2012 erschien in der Celler Zeitung eine Nachricht, der Besitzer wolle auf dem Areal ein Achtfamilienhaus errichten. 72 LkAH, Best. N 78 Nr. 327 (Nachlass Wischmann). Bernhard Dörries hatte von 1938 bis 1945 und 1955 bis 1967 eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin inne. Sein Stil ist am ehesten der »Neuen Sachlichkeit« der 1920er Jahre zuzuordnen. Das Bild ist nicht signiert. Die Angaben dazu stammen aus dem Archiv der Kirchlichen Verwaltungsstelle Loccum (Originalbilder und Kunstwerke in der Akademie und dem PPI), insbesondere einem Artikel aus »forum loccum« 2/1987, S. 41.

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Christoph Wiesenfeldt

Die »68er« und das Predigerseminar

Wie sah das Predigerseminar aus, als wir zum 1. Mai 1968 nach einem halb- bis einjährigen Vikariat für zwei Jahre nach Loccum gelangten?1 Wir waren fünf, keine geringe Zahl im Vergleich zu den jeweils nur drei Kandidaten unserer drei Vorsemester, mit denen zusammen wir das Hospiz bildeten. Wir hießen auch »hospites«, was übersetzt heißt: »Gastfreunde«; wir waren also nur »Gäste« dieser altehrwürdigen Einrichtung des Klosters Loccum, wenngleich wir neben dem Konventual-Studiendirektor und der Hausdame die einzigen waren, die längere Zeit dauerhaft im Kloster wohnten und vor Eintritt die Verpflichtung unterschreiben mussten, abgesehen von den Ferien ständig im Kloster zu verbleiben. Auch waren wir alle – wie es das Kloster ebenfalls verlangte – unverheiratet. Große Freiheit wurde uns bei unserem Eintritt versprochen: Verbindlich war allein das Kolleg, zu dem wir uns täglich von 11 – 13 Uhr trafen; ebenso selbstverständlich war die allabendliche Hora in der Klosterkirche, die zu halten jeweils einer von uns im wöchentlichen Wechsel eingeteilt war. Dazu kamen gelegentliche Predigten auf den Kanzeln im Stiftsbezirk und Katechesen in einer Klasse der Realschule in Stolzenau, die auch wieder abwechselnd von uns bestritten und anschließend unter Leitung der Religionslehrerin besprochen wurden. Neben diesem Pflichtprogramm hatte jeder viel Zeit, seinen selbst gewählten Studien nachzugehen. Das war auch das Konzept in Loccum, das bis in die Zeiten des fast legendären Abtes Molan zurückging, der das Hospiz als Einrichtung für 1 Die Zeit, über die hier berichtet wird, liegt gerade gut 40 Jahre zurück. Die Erinnerungen bei den Beteiligten sind noch lebendig; dagegen ist, was sich darüber in den Akten findet, recht schmal. Der folgende Beitrag fußt auf eigenen Erinnerungen. Sie wurden ergänzt durch die im Archiv des Klosters Loccum (i. F.: KAL) befindlichen Unterlagen aus diesen Jahren (Bestand 11/212) und die Lebenserinnerungen des damaligen Studiendirektors und späteren Bischofs von Berlin Martin Kruse: Es kam immer anders. Erinnerungen eines Bischofs, Freiburg 2009. – Der Verfasser war vom Mai 1968 bis September 1969 Kandidat im Predigerseminar Loccum. An der Endredaktion des Beitrags waren beteiligt Eberhard Jäger, Wolf-Peter Meyer, Berthold Schwarz, die 1968/69 ebenfalls Kandidaten in Loccum waren. Für ihre Anregungen danke ich herzlich.

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Christoph Wiesenfeldt

junge Theologen geschaffen hatte: Nach dem Vikariat sollten angehende Pastoren noch einmal richtig Zeit haben, theologische Fragen für sich selbst und in Auseinandersetzung miteinander aufzuarbeiten, ehe es dann ins Pfarramt ging, wo sie dazu vermutlich nur noch wenig Zeit haben würden. Molans geniale Erfindung bestand darin, dass er den Fortbestand des evangelisch gewordenen Klosters mit der weiteren Ausbildung junger Theologen verband. Damit gab er nicht nur dem Kloster eine über Jahrhunderte währende Bestimmung, sondern band auch junge Theologen in eine klösterliche Gemeinschaft ein, deren Auswirkungen auch noch für uns galten, die wir 1968 in das Hospiz des Klosters aufgenommen wurden. Praktisch bedeutete das die Fortsetzung des Studiums in selbst gewählter Aktivität. So haben es die Semester vor uns genossen, und so genossen auch wir es, allerdings – so dämmerte es uns schon – hielt dieses Programm nicht mehr den Anforderungen stand, die auf die Kirche zukamen. Es bestand dringender Reformbedarf; und wie sehr er bestand, ergab sich nicht nur allgemein aus dem Trend der Zeit, sondern führte uns auch die benachbarte Akademie vor Augen, an deren Tagungen wir öfter teilnahmen – u. a. an einer sehr instruktiven über »Kirchenreform« –, und ebenso das Religionspädagogische Institut (RPI), das unter der Leitung von Hans-Bernhard Kaufmann mit dem Programm eines »thematisch-problemorientierten Religionsunterrichts« gerade eine neue, in die Zukunft weisende Arbeit begonnen hatte. Muss die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen? – diese Frage wurde dort diskutiert. Wir gingen in unseren Unterrichtsentwürfen selbstverständlich von einer biblischen Geschichte aus, bis einer von uns, der an einer Arbeitsgruppe im RPI mitarbeitete, uns die dort entwickelte thematische Unterrichtseinheit zum »Gehorsam« vorstellte und mit einer Unterrichtsstunde in Stolzenau auch vorführte. Wir haben die Zeit, wie die von uns damals erstellten Thesen und Papiere belegen, durchaus genutzt. Die Themen, die wir angingen, waren weit gefächert. Nicht nur traditionell-theologische waren darunter ; in unseren Referaten interessierten uns auch die »Theologie der Revolution« und die kirchliche Praxis wie die Jugendarbeit in der Landeskirche und die Kirche in der DDR. Zwei von uns gestaltete Reformationsgottesdienste waren schon ganz im Sinne neuer Gottesdienstprojekte: mit modernen Liedern, und thematisch auf die vermuteten Interessen der Schüler ausgerichtet und ohne Talar. Kirche sollte anders sein. Zum Thema »Kirche und Theater« besuchte uns der Intendant des Celler Theaters, und zur Einübung in die »Praxis des seelsorgerlichen Gesprächs« initiierte unser Studiendirektor das »Projekt Winzlar«: In dem Dorf, das von alters her kirchlich zu Loccum gehörte und in dessen kleiner Kapelle wir Kandidaten einmal im Monat predigten, machten wir wohl zum ersten Mal auch Besuche. Davon waren Gesprächsprotokolle anzufertigen, die dann nach den in Holland neu entwickelten Kriterien für die Seelsorge unter Leitung von Dr.

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Die »68er« und das Predigerseminar

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Hans-Christoph Piper besprochen wurden.2 Es war also eine Art Vorstufe des seelsorgerlichen Praktikums, das heute zum Grundbestand jeder Vikarsausbildung gehört. Wir haben dabei – denke ich – viel gelernt, wenngleich alle diese Reformansätze überschattet waren von der Frage, ob das die Kirche sei, die wir haben müssten. Nicht zu vergessen sind auch die Tätigkeiten, die einzelne von uns auf eigene Initiative wahrgenommen haben und die »nebenher« liefen wie Kindergottesdienst in der Stiftskirche, Religionsunterricht in der Haupt- und der Heimvolkshochschule, Gestaltung eines Gemeindeabends und eine Vietnam-Diskussion im Gymnasium Petershagen. Sie waren Ausgleich für die vielen am Ende nicht mehr befriedigenden grundsätzlichen theologischen Diskussionen bzw. der geforderte »Praxisbezug«. Zu dem, was wir uns selbst wählen konnten, gehörten auch die Themen der »kleinen« und der »großen (theologischen) Arbeit«, die jeder von uns in seiner Loccumer Zeit zu schreiben hatte. Wir trugen sie im Kolleg vor. Das war insofern keine schlechte Übung, als wir uns dadurch besser kennen lernten und auch vor der Aufgabe standen, die anderen für die eigenen Themen zu interessieren. Aber gerade da setzte nun das Problem ein, das uns damals zu schaffen machte: Wie weit interessierten unsere theologische Fragen noch in einer Zeit gesellschaftlicher und theologischer Umwälzungen? Theologie und Kirche sollten »gesellschaftsrelevant« sein. Das bedeutete eine radikale Infragestellung theologischer Positionen, die weit über das hinausging, was wir im Studium an historischkritischer Theologie erfahren hatten. Sie betraf auch unser Miteinander. Eine harte Prüfung waren ja ohnehin die sog. »p.-c.-Predigten«3, von denen jeder eine im Semester zu schreiben und zu halten hatte und die dann im Kolleg einer schonungslosen Kritik unterzogen wurden. Ein Kritiker, den man sich zuvor aus unserem Kreis suchte, hatte dazu die schriftliche Vorlage zu liefern. Trafen da nicht ohnehin schon unsere unterschiedlichen »theologischen Positionen« aufeinander, kam noch ein weiterer Anspruch hinzu: Predigten durften nicht konventionell, sondern sollten kritisch und gesellschaftsbezogen sein. Man war also schon bei der Vorbereitung auf der Suche nach Neuem und Überraschendem und hatte neben der Gemeinde auch schon die Kollegen und deren Kritik im Visier. Insgesamt habe ich meine Zeit in Loccum kaum – wie es gedacht war – als Chance zur theologischen »Vertiefung« erlebt, sondern als Zeit einer grundsätzlichen Infragestellung von Kirche und Theologie, wenn auch in einem geschützten und praxisfernen Raum. Dazu kam, dass wir in den Auseinandersetzungen, die wir führten, weithin 2 Leitlektüre war das damals gerade erschienene Buch von Heije Faber und Ebel van der Schoot: Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs, Göttingen 1968. 3 »Pro-censura-Predigten«: Der Begriff ist insofern nicht ganz genau, als die Predigten wohl kritisiert, aber nicht zensiert wurden.

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auf uns gestellt waren. Das lag in der Konzeption des Predigerseminars: Wir, die Kandidaten, sollten uns einbringen und die Kollegs bestreiten. Wir selber, wenn wir vortrugen, »leiteten« das Kolleg. So war die Sprachregelung. Der Studiendirektor, der während unseres ersten Semesters zum Abschluss seiner Promotion beurlaubt war und durch einen Studieninspektor vertreten wurde, fügte sich ganz in diese Rolle ein. Er verstand sich nicht als Leiter und erst recht nicht als Vorgesetzter, sondern als »Moderator«. Jeden Tag trafen wir Kandidaten uns nach dem Mittagessen zum »Salon«, in dem alles, was uns anging, besprochen wurde. Häufiger erschienen in den Kollegs auch schon auswärtige Referenten zu bestimmten Themen, manchmal hielt auch einer der Konventualen des Klosters ein mehr lockeres Kolleg mit einem Thema, das er gerade zur Hand hatte. Das diente aber mehr dem Kennenlernen als der Klärung der Fragen, die uns damals beschäftigten. Es schloss nicht aus, dass es zu allem möglichen Fragen kontroverse Diskussionen gab – untereinander, aber auch in Frontstellung gegenüber dem Konvent. Denn bei aller gelobten und genossenen Freiheit hatte Loccum auch seine feste Tradition, seinen »ordo«, in der geistliche und organisatorische Regeln, also die Reste eines einst mönchischen Lebens, versammelt waren. Kaum verbindlich formuliert, hatten sie dennoch Verbindlichkeit. Wir waren gerade angekommen, da bekamen wir auch mit ihnen zu tun. Wir bekamen mitgeteilt, wen der Konvent zum Senior des Semesters bestimmt hatte und wen zum »jüngsten Herrn«. Auch bekamen wir alle gegen die Zahlung von 5 Mark das Loccumer Barett mit dem »Loccumer Bewusstein«, wie ein besonderer Knopf am vorderen Zipfel des Baretts genannt wurde. Loccum galt eben als etwas Besonderes. Welcher Absolvent anderer Predigerseminare konnte sich rühmen, vom Abt und Landesbischof selbst ein persönliches Schreiben erhalten zu haben, mit dem er uns in der Klostergemeinschaft herzlich willkommen hieß? Unsere im Klosterarchiv auffindbaren Antwortschreiben waren dann auch entsprechend ergeben. Die Besonderheit Loccums setzte sich im Stil des Hauses fort: Bei den täglichen Mahlzeiten mit vornehmem Gedeck gab es eine besondere Sitzordnung. War einer der Konventualen zugegen, nahm er oben an der Tafel Platz, auf einem Stuhl, der sonst leer blieb; war es sogar der Abt, so sprach er das allein ihm vorbehaltene und nur aus den zwei Worten bestehende Tischgebet Benedictus benedicat. Und kam er, so hatten wir – am besten im schwarzen Anzug – im Flur des Konventshauses anzutreten, alle in einer Reihe, und der »jüngste Herr« hatte dabei seine Hand auf den großen runden Knauf des Treppengeländers zu legen. Die Messingleuchte auf dem Flur vor seinen beiden Zimmern brannte, solange er im Kloster weilte, damit wir Bescheid wussten. Diese Zimmer waren auch nur für ihn bestimmt, während die der Konventualen bei Festlichkeiten durchaus auch unseren Verlobten zum Übernachten zur Verfügung standen. Solche »Ordnungen« konnte man natürlich alle mit Humor nehmen, und so haben es die

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Semester vor uns gehalten, aber die Zeit war jetzt nicht mehr danach. In der Rückschau muss es geradezu als zwangsläufig erscheinen, dass diese Mischung von großzügig gewährter Freiheit einerseits und Einordnung in eine nicht mehr zeitgemäße Tradition andererseits nicht gut gehen konnte. Es begann schon mit den ersten drei Tagen, von deren Existenz ich zuvor nicht gehört hatte und die auch anderen völlig überraschend kamen. Die älteren Semester bedienten sich vor uns eines betont rauen Umgangstones und trieben es dabei so ernst, dass wir keinen Verdacht schöpften, sondern die gespielte Rücksichtslosigkeit für bare Münze nahmen, gegen die wir aufbegehren mussten. Ganz selbstverständlich war dann auch, dass wir – in Begleitung des »Arbeitsseniors« (das war der des 3. Semesters) – unsere Antrittsbesuche im Ort machten – noch ohne das Barett auf dem Kopf, denn das gab es erst am Ende der drei Tage. Wir wurden als die neuen Klosterherren vorgestellt, besuchten die Luccaburg und wanderten anschließend zum Pastor nach Münchehagen, der uns ungewöhnlich lange bei sich aufhielt; denn wir durften erst im Dunkeln ins Kloster zurückkehren. Dort ging es gleich in den Kreuzgang, der stockfinster war. Kein Licht ging an. Stattdessen empfingen uns geheimnisvolle lateinische Sprüche, die von donnernden, im Gewölbe nachhallenden Kugeln begleitet wurden. Man konnte schon fürchten, von einem Geist unsanft angepackt zu werden. Wir fühlten uns bedroht. Ich empfand mich an meine »Sextanertaufe« erinnert. So kam es im Kreuzgang sogar zu einem kleinen Handgemenge. Natürlich löste sich nachher beim Trunk alles irgendwie auf. Aber es war auch eine Grenze erreicht. Uns war klar : So leicht sind wir nicht zu kriegen. Wir wollten in Loccum keine Art Studentenverbindung sein, weder untereinander noch auch mit den Konventualen als »alten Herren«. Es zeigte sich schon zu Beginn: Wir waren nicht bereit, die uns zugedachte Rolle im Kloster zu akzeptieren und uns so, wie es die Semester vor uns noch getan hatten, mit seiner Tradition zu identifizieren. Die in ihrer beabsichtigten Wirkung bei uns misslungenen ersten drei Tage hat es nach uns auch nicht mehr gegeben. Ein nächster Anlass, bei dem wir uns weigerten, war schon grundsätzlicherer Art. Bischof Lilje hätte es gern gehabt, wenn wir für das Fernsehen feierlich mit ihm in die Kirche bis zum Altar eingezogen wären, er »in pontificalibus«, d. h. mit Krummstab und Mitra im würdigen Ornat des Abtes von Loccum, wir in den schwarzen Kutten, die wir zur Hora anzogen. An diesem Punkt waren sich alle Semester einig: Hier machen wir nicht mit. Hier war so etwas wie unser theologisches Gewissen betroffen. Man muss bedenken: Es war die Zeit, in der Ernst Lange in Berlin seine bewusst unsakrale Ladenkirche errichtete. Der Widerspruch gegen eine sich zur Schau stellende Kirche war uns schon vom Studium her mitgegeben und lag damals erst recht in der Luft. »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren.« Dem Senior des obersten Semesters blieb es vorbehalten, es dem Abt zu erklären. Er hat die Aufgabe so gut gelöst, dass dem Abt keine

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Die neuen des Sommersemesters 1968 auf dem Steg neben dem Klosterteich. Dahinter die älteren Semester. (c) Christoph Wiesenfeldt, Lüneburg.

Verstimmung anzumerken war. Heinz Zahrnt interviewte ihn nachmittags im Klostergarten. Am Abend fand die Hora statt. Der Abt sprach zum Ende den Segen. Das war es unsererseits fürs Fernsehen. Ob dieser um seine Attraktion gebrachte Beitrag aber je gesendet wurde, weiß ich nicht. Verstärkung bekam die aufbegehrende Front durch die nächsten, zum Herbst 1968 eintretenden Kandidaten des neuen Semesters. Darunter waren schon Kampferprobte, wie wir es zuvor bei einer Tagung der Akademie miterlebt hatten. Sie gehörten zur IHV, der gerade gegründeten »Interessenvertretung hannoverscher Vikare«. Als das Landeskirchenamt den Vikaren, die über das Wochenende verreisen wollten, für diese Tage kein Verpflegungsgeld zahlen wollte, trat eine Gruppe auf das Podium und ihr Sprecher (Eberhard Jäger) verlas eine Erklärung, dass sie an der Tagung nicht mehr teilnehmen würden, wenn nicht diese Frage in ihrem Sinne geklärt sei. Der Akademiedirektor wurde überrascht, die Versammlung nahm es gelassen. Es ging das Gerücht, der anwesende Oberlandeskirchenrat habe mit der Eintragung in die Personalakte gedroht; am Ende aber setzten sich die Vikare durch. Die Unruhe an den Universitäten hatte auch die Predigerseminare erreicht: Statt des Miteinanders herrschte – für alle sichtbar – ein offenes Gegeneinander. Viel muss man auch auf die theologische Verunsicherung geben, die viele von uns in jenen Jahren befallen hatte. Die Konventualen schienen davon freilich

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überhaupt nicht berührt. Nach der Theologie Barths hatte auch die Bultmanns ihre Faszination verloren. Gesellschaftliche Theologie war angesagt. Wir lasen etwa Bastians »Theologie der Frage«, wir fühlten uns ja wirklich in Frage gestellt. Im Kolleg hatte Peter Meyer über Dorothee Sölles »Stellvertretung«, ich über die amerikanische »Gott-ist-tot-Theologie« zu referieren: Harvey Cox’ »Stadt ohne Gott«, Paul van Burens »Reden von Gott in der Sprache der Welt« und Thomas J. J. Altizers Gott-ist-tot-Theologie, Bücher eines Übergangs, die ganz so radikal, wie ihre Buchtitel klingen, dann doch nicht waren. Aber gemeinsam war ihnen die These, dass die moderne, säkulare Welt jeden Sinn für das Transzendente verloren hatte, und all diese Bücher beriefen sich dabei auf Bonhoeffers Vision von einem »religionslosen Christentum«, denn: Die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein (Brief aus der Haft vom 30. 4. 1944). Das hatte eben auch für die Loccumer Hora Bedeutung. Als es darüber dann doch einmal zu einem Gespräch einer Delegation von uns mit einem Teil des Konventes kam (der Abt konnte nicht dabei sein) und Bonhoeffer angeführt wurde, wurde deutlich, dass die Herren, die gewiss auch ihre Verdienste hatten (was wir damals so nicht würdigten), dafür kein Sensorium hatten. Sie schienen Bonhoeffer allein in der Tradition von »Gemeinsames Leben«4 wahrzunehmen. Wir fühlten uns nicht ernst genommen, und auch der Studiendirektor musste zugestehen, dass das Gespräch mehr ein Verhör gewesen sei. Über Generationen hatte sich Loccum bewährt. Warum sollte es jetzt anders sein? Warum sollte sich die Aufregung, die jedes neue Semester mitbrachte, nicht auch 1968/69 wieder legen? So werden die Konventualen gedacht haben. Abgesehen von den überfällig gewordenen Veränderungen, dass das Zölibat fiel und zum Wintersemester 1968/69 der erste verheiratete Kandidat (Bertolt Schwarz) mit seiner Frau im Klosterbereich wohnen konnte und dass auf unseren Antrag hin der Senior nicht mehr von oben bestimmt, sondern von uns gewählt wurde, sah der Konvent keine Notwendigkeit von Reformen. Der äußerst kritische Bericht des Studiendirektors vom April 1969 – nach den ersten beiden kritischen Semestern –, den ich erst jetzt beim Sichten der Unterlagen im Archiv des Klosters zu lesen fand und der die Probleme im Hospiz damals zutreffend wiedergab, scheint keine Folgen gehabt zu haben. Im Grunde lief sein Bericht auf eine grundlegende Reform der Vikarsausbildung hinaus, die dann ja auch bald für alle Predigerseminare der hannoverschen Landeskirche erarbeitet wurde. Er schloss mit der pessimistischen Aussicht, die sich bewahrheiten sollte: Der Prozess einer kriti4 Dietrich Bonhoeffer : Gemeinsames Leben, München 1939. – In dieser Schrift über Form, Regeln und Bedeutung christlicher Gemeinschaft beschreibt und reflektiert Bonhoeffer, was er zuvor mit den Kandidaten des Predigerseminars Finkenwalde der Bekennenden Kirche 1935 – 1937 praktiziert hatte und »als eine der Kirche gestellte Aufgabe verstand«.

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schen Identifizierung mit »dem Hospiz« und »dem Kloster«, den wir eigentlich regelmäßig erlebt haben, gelingt nicht mehr. Noch deutlicher : die Geschichte des Hospizes geht zu Ende.5 Trotz unseres mehrfach geäußerten Wunsches hat es in der sich aufladenden Situation ein wirkliches Gespräch zwischen dem Konvent und uns nicht gegeben, was sicher auch, aber wohl nicht nur mit einer vorübergehenden Erkrankung des Abtes zusammenhing. Ob ein solches Gespräch viel gebracht hätte, mag man anzweifeln, denn die Signale standen auf Konfrontation, und auch auf unserer Seite war die Bereitschaft, sich auf längere Veränderungsprozesse einzulassen und dafür Zeit zu opfern, begrenzt. Die Situation war vielmehr typisch für die Atmosphäre damals zwischen zwei Generationen, der älteren, die an ihrer geprägten lutherischen Theologie und der Loccumer Tradition festhielt, als wäre nichts geschehen, und vielen von uns, die sich daran rieben und etwas anderes wollten, wenn auch längst nicht klar war, wohin es gehen sollte. So lud sich Protest auf und äußerte sich in manchen kleinen Aktionen, die aber dennoch Wirkung zeigten, weil sie die Atmosphäre im Haus beeinträchtigten: Ob z. B. Buttermesser notwendig seien oder es nicht einfacher ginge – das zielte auf die vornehme Tafel beim Essen. Stilfragen wurden verletzt, worunter besonders Frau Dannenberg, die Hausdame, litt. Auch die Frage, ob wir täglich in Gegenwart der Reihe der Ölgemälde von den alten Äbten unsere Mahlzeiten einnehmen sollten, wurde aufgeworfen. Ein wenig Popart sollte die kulturelle Strenge des Klosters auflockern. Die Rhythmen der Beatles waren mit »Yellow Submarine« schon beim Jahresball in den Kapitelsaal eingedrungen. Eines Morgens waren sogar die Augen des Abtes Marahrens auf seinem Bildnis grün überklebt; das war eine Anspielung auf ein noch nicht aufgearbeitetes Kapitel Kirchengeschichte und kränkte unsere Köchin, denn sie hatte Marahrens in ehrfürchtiger Erinnerung, hatte er doch einst, wenn er sich im Kloster aufhielt, manche Besuche in den Häusern Loccums gemacht. Die »grünen Augen« riefen ein heftiges Thesenpapier mit Ausschnitten aus Marahrens’ Wochenbriefen im Dritten Reich hervor, dem ebenso heftig widersprochen wurde. Die Schatten der Vergangenheit hielten Einzug in unser Denken. Auch das Tischgebet wurde diskutiert und eine Zeit lang außer Kraft gesetzt. Die Spannungen im Haus nahmen zu, auch unter uns Kandidaten, denn wir waren – was die Aktionen betrifft – bei weitem nicht alle einer Meinung. Ein Senior resignierte und gab sein Amt auf. Den Höhepunkt erreichten die Spannungen in der Auseinandersetzung um die Hora, die uns im Sommer 1969 begleitete. Ein neues Semester mit 6 Kandidaten war eingezogen, und – ob sie wollten oder nicht – sie mussten sich auch 5 Bericht des Konventual-Studiendirektors vom 30. April 1969: Zur Situation des Hospizes, in: KAL 11/212 A 104/04.

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gleich damit befassen. Zum Seminarbetrieb gehörte, dass zu den Kollegs und auch allen möglichen anderen Angelegenheiten Thesen geschrieben und vor unsere Zimmertüren gelegt wurden. Die Rotationsmaschine wurde häufig auch noch spät abends bedient. Zur Frage der Hora hat sich wohl jeder von uns – sei es allein oder zusammen mit anderen – geäußert, und ein Teil der damals verfassten Thesen ist im Archiv des Klosters noch aufzufinden. Es begann mit einem provozierenden Frontalangriff: Sie sei eine satirische Harlekinade… Würde sie in der jetzigen Situation weitergeübt, etwa wie der Horengesang der Benediktiner im Dritten Reich ohne Unterbrechung und Ablehnung ordnungsgemäß weitergegangen ist, so wäre das ein weiteres Indiz dafür, dass die Kirche die Welt ihrem blutigen Lauf überlassen will. Das war Sprache der Studentenrevolution und zielte auf die Abschaffung der Hora überhaupt. So weit aber wollte die Mehrheit nicht gehen. Sie nahm vermittelnde Positionen ein, plädierte für die Abschaffung der Kutten oder der 9 Glockenschläge am Schluss der Hora – also der liturgischen Elemente der Hora, die auch nach einem streng evangelischen Verständnis nicht notwendig waren. Auch der Studiendirektor beteiligte sich mit Thesen an der Diskussion, in denen er die Relevanz von Andacht, ja von Gottesdienst überhaupt an den Anfang stellte und zur Rücksichtnahme auf eventuelle Auswirkungen im Ort mahnte; das Verhältnis zum Dorf hatte schon zuvor gelitten. Gehör fand er damit nicht. Es war – so empfinde ich es heute – ein aussichtsloser Kampf, weil die theologische Infragestellung, die uns erfasst hatte, sich ja mit Macht gegen alle tradierte Frömmigkeitsformen wandte, die als nicht mehr tragend und verbindend empfunden wurden. Selbstverständlich war die Hora auch vorher schon nicht gewesen. Längst vor uns musste sie sich den Vorwurf der Weltfremdheit und der klösterlichen Abgeschiedenheit gefallen lassen, und wir, die wir die Hora hielten, mussten uns damit auseinandersetzen. Nichts beweist das deutlicher als die damals gerade 6 Jahre alte Festschrift zum 800-jährigen Bestehen des Klosters »Loccum vivum« (1963), in der sich wenigstens drei Beiträge in längeren Passagen auch der Rechtfertigung der Hora widmeten. Abt Hanns Lilje verwies auf ihre schlichte Form: Sie enthält nichts, was nicht auch in anderen Gemeinschaften Übung wäre, und jedem unbefangenen Beobachter erscheint in diesen Formen das gleiche Element, das auch für die gesamte zisterziensische Architektur gilt, nämlich ihre erstaunliche Schlichtheit. Es ist also verwunderlich und nicht rühmlich, dass sich hierüber hin und wieder polemische Gespräche ergeben haben.6 Oberlandeskirchenrat Walter Ködderitz, einst selbst Kandidat im Predigerseminar und nun Konventual des Klosters, suchte an ihrer Form zu belegen, wie lebendig diese auf

6 Hanns Lilje: Tradition und Gegenwart, in: Loccum vivum. 800 Jahre Kloster Loccum, hrsg. von Erich Ruppel und Dieter Andersen, Hamburg 1963, S. 13 – 29; Zitat S. 21 f.

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den ersten Blick so fremdartige Tradition der Hora geblieben sei;7 und der damalige Konventual-Studiendirektor Dieter Andersen verteidigte sie gegen den Vorwurf der Weltabgewandtheit: Der Außenstehende meint gelegentlich, die Loccumer würden, von der Welt abgeschlossen, zu wenig mit den Problemen unserer Zeit konfrontiert. Wir selbst aber wissen, dass dies nicht die eigentliche Frage ist, sondern vielmehr die, ob die geistliche Wurzel des gemeinsamen Lebens und Studierens tief genug ist.8 So weit ging meiner Erinnerung nach die Hochschätzung der Hora auch bei ihren überzeugten Befürwortern unter uns nicht. Mehr schreckte wohl die Leere, die entstehen würde, wenn die Hora so einfach wegfiele, gehörte sie doch zur Struktur des Tages und unseres Zusammenlebens. Man nahm also daran teil und schloss sich nicht aus. Überhaupt scheint mir zweifelhaft, ob wir damals auf eine gemeinsame geistliche Wurzel aus waren. Kaum gab es unter uns ein ausgeprägtes »Wir«-Bewusstsein, es sei denn in dem Gefühl, kontrovers zu liegen zu den Strukturen des Klosters, die wir nicht wollten. Zur Hora versammelten wir uns täglich um 18.00 Uhr im Chorgestühl. Sie begann mit einem Abendlied, dann folgte ein vierstimmiger Psalmgesang, der von Taiz¦ aus Loccum erreicht hatte (ohne dass wir aber davon viel wussten). Der für die Woche Zuständige von uns las sodann den Wochenspruch und hatte alsdann mit einem kurzen selbst zu formulierenden Präfamen auf die Lesung überzuleiten. Diesem Präfamen kam besondere Bedeutung zu. Es sollte nur aus einem, höchstens zwei Sätzen bestehen und in Ausführung von Luthers Anspruch, dass keine Lesung ohne Auslegung sein sollte, eine Predigt ersetzen bzw. eine solche in allerkürzester Form sein. Nach der Lesung folgte ein zweites Lied, danach das Gebet, das mit dem Vaterunser schloss, und nach dem Segensspruch noch das 3 x 3malige Anschlagen der Glocke zu einer Gebetsstille als Abschluss. Bis auf das Präfamen und das Gebet hatte die Hora also ihre feste Form und wäre wohl leicht mit der linken Hand zu schaffen gewesen, was aber nicht ausschloss, dass wir uns viel Mühe darum gaben. Wir lernten Psalmen und das Gesangbuch gut kennen. Aber die tägliche Übung führte dazu, dass auch andere Gedanken aufkamen und man sich fragte, was die Hora eigentlich bewirke. War es nicht auch ein Schauspiel? Wie wirkten wir in unseren Kutten, besonders vor auswärtigen Besuchern etwa von der Akademie? Welches Bild gaben wir da ab? Was hätten schließlich einstige Schulkameraden von uns gedacht, wenn sie uns so in Loccum erlebt hätten? Zwischen uns und der Hora bestand also eine innere Differenz. Wir hielten die Hora in der Tradition des Klosters, aber es war – 7 Walter Ködderitz: Das letzte halbe Jahrhundert. Geschichtliche Skizzen aus dem Leben des Klosters von 1913 – 1963, in: Loccum vivum (wie Anm. 6) S. 83 – 112, Zitat S. 108. 8 Dieter Andersen: Das Predigerseminar heute, in: Loccum vivum (wie Anm. 6). S. 134 – 146; Zitat S. 140.

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Die »68er« und das Predigerseminar

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wenigstens für viele – nicht der eigene Stil. Und: Eine Hochschätzung der Hora etwa aus liturgischem Empfinden stand damals ganz außer Diskussion. An »Spiritualität« dachte noch keiner. Der Begriff sollte erst nach der kritischen Phase ins Blickfeld geraten. So wurde trotz Bedenken und Einwendungen die Hora weiter gehalten. Dabei hatte der »Salon« beschlossen, auf das Geläut zu verzichten, das aber doch weiter geführt wurde. In dieser Kontroverse setzte zur Beerdigung von Erna Lilje, der Frau des Landesbischofs, am 30. Oktober 1969 das Geläut aus. Wie der Elektromeister feststellte, waren die Zuleitungen mutwillig ausgeklemmt worden. Der Verdacht fiel auf vier Kandidaten, die gegen die Hora votiert hatten. Da eine interne Klärung nicht erreicht werden konnte, beantragte der Studiendirektor in Einvernehmen mit Abt, Prior und Konvent eine Untersuchung durch das Landeskirchenamt. Die Verhöre führten zu keinem Ergebnis. Der Verursacher konnte nicht ermittelt werden. Der damalige um Ausgleich bemühte Senior Frerich Diekmann erbat ein Gespräch beim Landesbischof, das am 12. November in der Bischofskanzlei in Hannover stattfand. Darüber existiert ein Vermerk Liljes.9 Der Senior versuchte ihm deutlich zu machen, dass die Aktion in keinem Zusammenhang mit der Beerdigung stehe, vielmehr in den Kontext der seit langem diskutierten Neugestaltung der Hora (Abschaffung der Chormäntel, der brennenden Kerzen, des Gebetsläutens) gehöre, die einige ganz abzuschaffen versuchten, während »konservative Kräfte« sich bemühten, die Hora so zu gestalten, dass »falsche Anstöße« vermieden würden. Lilje akzeptierte diese Erklärung, äußerte aber im Vermerk zweimal seine »äußerste Geringschätzung« gegenüber dem Verhalten der Gruppe, das er als intolerant, infantil und spätpubertär bezeichnete. Auch hielt er dem Senior vor, warum sich die Majorität von einer Minderheit majorisieren lasse. Man kann die Verbitterung des Landesbischofs verstehen, auch sind seine Vorwürfe nicht ganz falsch: Manches an unserem Verhalten – das gestehe ich gern ein – war spätpubertär (wie auf der Gegenseite autoritär); aber gerade darum wird man auch bedenken müssen: Wir mussten in dieser Zeit theologischer und kirchlicher Verunsicherung unsere Identität als angehende Pastoren neu finden, und zwar gegen eine uns zugedachte Rolle des weiter so und in Auseinandersetzung mit einer Tradition, hinter der ein Konvent stand, der als Gesprächspartner ausfiel. Die Zeit war überreif. Veränderungen im Kloster und in der Ausbildung waren notwendig. Mehrfach hatte darauf auch der Studiendirektor hingewiesen, der nach all den Auseinandersetzungen, die er am Ende auch als Vertrauensbruch im Seminar empfand, müde war und eine neue Stelle anstrebte. Als Schaltstelle zwischen Konvent und Hospiz hatte er keinen leichten Stand. Nachfolger Kruses wurde Horst Hirschler, der in Lüneburg als »linker« Pastor galt. Der Lüneburger 9 KAL 11/212 A 104/01.

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Landessuperintendent und Loccumer Konventual Andersen, der, wenn er uns in Loccum besuchte, sich manches Mal (wohl in gespielter Übertreibung) über dessen »linke« Aktionen in Lüneburg aufregen konnte, traute offensichtlich gerade ihm zu, die Verhältnisse in Loccum zu regeln. Auf der anderen Seite scheint Liljes Vertrauen zu Kruse durch die Auseinandersetzungen in Loccum nicht gelitten zu haben. Denn die Landeskirche berief ihn zum Landessuperintendenten in Stade. Was ist aus dieser »revolutionären« Phase im Kloster geworden? Wie vieles in der Studentenbewegung war sie eine vorübergehende Erscheinung, die sich vor allem in Protesten bemerkbar machte, aber diese Proteste sind – wie heute in vielen Untersuchungen hervorgehoben wird – einzuordnen in die Reformbestrebungen der 60er Jahre.10 Die Ausbildung der Vikare hat sich geändert. Loccum wurde eines der vier (und vorübergehend auch fünf) Predigerseminare der Landeskirche und verlor seinen Sonderstatus – sofern es den zu unserer Zeit wirklich noch gehabt hat. Das »Hospiz« in dem Sinne, wie es vor uns gewesen sein soll, dass die Kandidaten das Kloster trugen, sich als »Loccumer« fühlten und im Ort auch entsprechend aufzutreten hatten, war vorbei. Die Hora ist geblieben, allerdings ohne Chorröcke. Und dass Loccum jetzt als einziges Predigerseminar der Landeskirche erhalten ist, daran zeigt sich noch heute das Gewicht seiner langen Tradition. In seinen Erinnerungen bedauerte der nun schon länger im Ruhestand befindliche Berliner Landesbischof Martin Kruse, dass zu einem EhemaligenTreffen nach dreißig Jahren die 68er Gruppe nicht erschienen sei und sich dem Gespräch versagte.11 Zu erklären ist es wohl so: Die meisten von uns, nicht nur die »Linken«, haben in Loccum viel Bewegung und Auseinandersetzung, aber kein geistiges Zuhause gefunden, an das sie mit großer Liebe noch zurückkehrten. Wir blieben distanziert, aber ebenso gilt: Loccum war für uns eine wichtige Zeit. Der Schuss radikaler Kritik und Infragestellung der Kirche und die Schärfung des Sinnes für notwendige Veränderungen haben uns gut getan. Es ist für die Kirche heute nicht leichter geworden. Die damals für Veränderungen und Verunsicherungen sorgende Frage nach der Aufgabe der Kirche in der sich verändernden Gesellschaft wird uns auch in Zukunft noch bewegen. Vor zwei Jahren wurde wieder zu einem Treffen eingeladen. Auch von uns, die wir uns inzwischen alle im Ruhestand befinden, waren einige dabei. Es hat mich gefreut, wie ruhig und wohl auch versöhnt unser damaliger Studiendirektor Martin Kruse, der mit seiner Frau angereist war, auf die aufregende und für ihn aufreibende Zeit zurückgeblickt hat. 10 Vgl. hierzu: H. Grosse, H. Otte. J. Perels (Hg.): Kirche in bewegten Zeiten. Proteste, Reformen und Konflikte in der hannoverschen Landeskirche nach 1968, Hannover 2011. 11 Wie Anm. 1, S. 138.

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Die Zukunft der kirchlichen Ausbildung für den Pfarrdienst

I.

Einleitung

Gewiß muß es das ernsteste Streben sein, im Predigerseminar der Kirche Diener zu bilden, die ganz und voll im Glauben der Kirche stehen, lebendige christliche Persönlichkeiten, die aus dem Glauben heraus predigen und sich mit ganzem Herzen in den Dienst der Gemeinden stellen … Aber das erreicht man nie auf dem Weg der Dressur, sondern nur auf dem Weg freier Entwicklung, so Gerhard Uhlhorn 1887 in seinem Vortrag »Die praktische Vorbereitung der Candidaten der Theologie« vor der Konferenz der deutschen evangelischen Kirchenregierungen in Eisenach. Kennzeichen der Ausbildung im Predigerseminar ist die freie »Selbstthätigkeit« der Kandidaten, die als Teil der Gemeinschaft sich gegenseitig anregender »gleichstrebender junger Leute« die Grundlage gemeinsamen Arbeitens bildet.1 Aufgabe der Studienleitung ist es, sich jenseits von allem Schul- und Anstaltsmäßigen begleitend, berichtigend und ergänzend an diesem Vorgang gemeinsamer Arbeit zu beteiligen. Vermag sich ein Predigerseminar in dieser Weise in Freiheit zu entwickeln, gelingt es der Genossenschaft die Regeln, die das Verhalten ihrer Glieder zueinander bestimmen, mehr aus sich selbst zu schaffen, als dass sie ihr von außen gegeben werden, dann wird sich von selbst die theologische, kirchliche Atmosphäre (bilden), in der das Studium gedeiht und das Zusammenleben … ungesucht die beste Schule für die Bildung eines christlichen und kirchlichen Charakters wird.2 Ziel des sich in Freiheit entfaltenden gemeinsamen Arbeitens im Predigerseminar ist die verstehende Bejahung der praktischen Aufgaben des Pfarramts »auf dem Grunde und unter der Voraussetzung einer freien Universitätsbildung«.3 Es gilt die Gefahr eines unwissenschaftlichen Praktizismus, bloßer practischer Virtuosität, ebenso zu ver1 Gerhard Uhlhorn: Die practische Vorbereitung der Candidaten der Theologie für das Pfarrund Schulinspectoratsamt, in: Protokolle der deutschen evangelischen Kirchen-Conferenz 24. – 30 Juni 1886, Stuttgart 1887, S. 35. 2 Uhlhorn (wie Anm. 1), S. 35. 3 Uhlhorn (wie Anm. 1), S. 7.

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meiden wie die einer wissenschaftlich tüchtigen, praktisch aber untüchtigen Anschauung und Haltung.4 Dieses zu vermeiden, wird nach Uhlhorns Überzeugung nur gelingen, wenn wir aus unseren Predigerseminaren keine Dressuranstalten machen, wenn also mit den kirchlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf das Predigerseminar bewusst zurückhaltend umgegangen wird – in dem Bewusstsein: Thun wir so gut wir können unsere Pflicht. Das Übrige wollen wir unserem Herrn und Gott überlassen.5 Dieses von Uhlhorn entworfene Bild des Predigerseminars als einem Ort der Persönlichkeitsbildung künftiger Pastoren auf der Grundlage wissenschaftlich geleiteter Aneignung der praktischen Aufgaben im Kontext ungezwungenen Austauschs und gemeinsamen Studierens hat in den folgenden Jahrzehnten bis weit in das letzte Jahrhundert hinein Leben und Arbeiten im Predigerseminar des Klosters Loccum geprägt. Ihm verdankt sich beispielsweise das erst vor wenigen Jahren aufgegebene sogenannte »Studienjahr« im Predigerseminar ebenso wie der bis heute gültige Grundsatz, Kurswochen von Studienleitung und Kandidaten und Kandidatinnen gemeinsam planen, ja einige Kurswochen vollständig durch die Vikare und Vikarinnen gestalten zu lassen. Die These dieses Aufsatzes ist, dass dieses Bild auch im Blick auf die Zukunft der kirchlichen Ausbildung orientierend zu wirken vermag und dass sich Elemente daraus in einem Bild künftiger kirchlicher Ausbildung wiederentdecken lassen. Dies plausibel zu machen und dabei eine Vorstellung von der kirchlichen Ausbildung in der Zukunft zu gewinnen, soll im Folgenden versucht werden. Dazu wird es notwendig sein, zunächst die im Kontext kirchlicher Veränderungsprozesse sich abzeichnende Entwicklung des Pfarrdienstes wahrzunehmen.

II.

Pfarrdienst und kirchliche Entwicklung

a)

Kirchliche Entwicklung zwischen Institution und Organisation

Die Diskussion über den künftigen Weg der evangelischen Kirchen in Deutschland wird seit Jahren bestimmt durch den Prozess des Mitgliederschwunds und damit zusammenhängend die Entwicklung der kirchlichen Finanzen. Lag der prozentuale Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder zwischen 1910 und 1960 (Westdeutschland) stabil bei ca 50 % der Gesamtbevöl4 Uhlhorn (wie Anm. 1), S. 27. 5 Gerhard Uhlhorn, Brief vom 12. Dezember 1892 an Studiendirektor Bückmann, Archiv des Klosters Loccum VIII, 59.

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kerung, so sank er seitdem bis Ende der 1980er Jahre in Westdeutschland auf ca. 40 % und von 36,9 % im Jahr 1990 in ganz Deutschland auf 29,4 % in 2010. Die EKD geht davon aus, dass in Deutschland an die 5 Millionen evangelisch Getaufte leben, die in den zurückliegenden Jahren ihre Kirche durch Austritt verlassen haben. Nach einer Prognose der EKD wird die Zahl der Mitglieder der evangelischen Kirchen aufgrund der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung von 23.896.098 in 2010 auf ca. 17.600.000 in 2030 zurückgehen, die Finanzkraft der Kirchen um bis zu 50 % abnehmen.6 Die soziologischen Gründe für diese Entwicklung sind vielfach erörtert und untersucht worden. Bereits in der ersten Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD 1970 wurde der strukturelle Wandel der Mitgliedschaft von einem zugeschriebenen zu einem erworbenen Merkmal beschrieben.7 Neben den Kirchen entstehen im Bereich der Religion neue Sinnanbieter und –produzenten, die die Selbstverständlich- und Unhinterfragbarkeit des kirchlichen »Sinndeutungsmonopols« in Frage stellen und die Kirchen ihrerseits veranlassen, ihre »Deutungsdienste auf dem offenen Markt anzubieten«.8 Zunehmend mehr wird die Wahl unter den verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung und ihrer religiösen Deutung unausweichlich. Peter Gross hat die Ambivalenz der »Multioptionsgesellschaft« mit ihrer wachsenden Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums beschrieben: keine Wahl zu haben als zu wählen, heißt je nach Perspektive, zu können oder zu müssen. Bislang geltende Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten sind einem Prozess der Erosion ausgesetzt. Dies gilt auch für die überkommenen Vorstellungen der theologischen Ausbildung mit ihrem etwa durch Gerhard Uhlhorn geprägten Bild vom Leben und Studieren im Predigerseminar. Der Prozeß der »Entobligatorisierung«, so Gross, lässt die Frage nach einer Kompensation verlorener Ordnungen und Reglements entstehen.9 Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Entwicklung der modernen Gesellschaft zur »Organisationsgesellschaft«.10 Organisationen gelten in der modernen Gesellschaft seit Max Weber und Talcott Parsons in allen Lebens- und Funktionsbereichen als unverzichtbare strukturprägende Vergesellschaftsform. Weil sie sich einem expliziten Entscheidungsakt zur Verwirklichung eines bestimmten Zwecks verdanken, kommen sie ohne die Aura fraglos selbstver6 Kirchenamt der Ekd, Kirchenmitgliederzahlen am 31. 12. 2010, Hannover 2011, S. 7; Kirchenamt der Ekd, Kirche der Freiheit, Hannover 2006, S. 21 f. 7 vgl. Wie stabil ist die Kirche, hrsg. von Helmut Hild, Gelnhausen/Berlin 1974. 8 Peter Berger/Thomas Luckmann: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995, S. 57. 9 Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt 1994. 10 Uwe Schimank: Organisationsgesellschat, in: Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, hrsg. von Georg Kneer/Armin Nassehi, München 2001, S. 278 – 308.

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ständlicher Geltung aus. Um ihren kontingenten Strukturmerkmalen wie »Zweck«, »Programm« und »Ziel« gleichwohl Geltung zu verschaffen, bilden sie eine hierarchisch gegliederte arbeitsteilige Struktur mit »Personal« in speziellen Rollen aus. Und sie legen formale Mitgliedschaftsregeln fest, die »auf bewusstes Entweder-Oder gestellt« sind.11 Dabei haben Zweck und Ziel der Organisation besondere Bedeutung als Steuerungsinstrument. Auf sie werden das Personal und die Organisationsstruktur hin ausgerichtet. Auch die Kirche als überkommene »Institution« mit ihren allgemeingültigen, eben nicht durch persönliche Entscheidung in Geltung stehenden Ordnungen, wandelt sich im Zusammenhang der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung.12 Ihre Repräsentation durch »Amtsträger«, deren Autorität in der selbstverständlichen Anerkennung der Institution gründet, getragen von einer Form der Mitgliedschaft, die nicht erworben, sondern durch die Taufe zugeschrieben wird, verliert ihre unhinterfragte Akzeptanz. Dieser Veränderungsprozess ist praktisch-theologisch ausführlich reflektiert und mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben worden.13 Diese Diskussion ist nicht zuletzt von programmatischer Bedeutung: Soll der Prozess der Organisationswerdung der Kirche als einer Sozialgestalt mit zweck- und zielgerichteten Organisationsstrukturen und eindeutigem Programm bewusst vorangetrieben werden? Oder soll sich auch in Zukunft die Entwicklung ihrer Sozialgestalt an dem Verständnis einer Institution mit rechtlich fixierten Handlungsformen orientieren, die wichtige Funktionen für die Gesellschaft als Ganze wahrnimmt, von individueller Handlungssteuerung entlastet und dafür Handlungsroutinen anbietet? Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong haben darauf aufmerksam gemacht, dass das Handeln von Kirche und Gemeinde ebenso wie die Erwartungen der Kirchenmitglieder sowohl von der Institutionslogik wie von der Organisationslogik bestimmt werden.14 So finden sich auf der kirchlichen Handlungsebene sowohl Formen von Leitungshandeln, die durch rechtliche und inhaltliche Regelungen streng begrenzt sind (Institution), als auch Formen zielorientierter 11 Institution – Organisation – Bewegung, Sozialformen der Religion im Wandel, hrsg. von Michael Krüggeler/Karl Gabriel/Winfried Gebhardt, Opladen 1999, S. 23. 12 vgl. Holger Ludwig: Von der Institution zur Organisation. Eine grundbegriffliche Untersuchung zur Beschreibung der Kirche in der neueren Ekklesiologie, Leipzig 2010. 13 So spricht beispielsweise Yorick Spiegel von der »Kirche als bürokratischer Institution« (Yorick Spiegel: Kirche als Bürokratische Institution, München 1969); Arndt Brummer und Wolfgang Nethöfel stellen die »Kirche als Unternehmen« dar (Vom Klingelbeutel zum Profitcenter? Strategien und Modelle für das Unternehmen Kirche, hrsg. Von Arndt Brummer/Wolfgang Nethöfel, Hamburg 1997) und Wolfgang Huber bezeichnet sie im Anschluß an Peter L. Berger als »intermediäre Institution« (Wolfgang Huber : Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 3. Aufl. 1999, S. 269). 14 Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong: Art. Gemeinde, kirchlich, in: EStL, Stuttgart 2006.

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Unternehmensleitung, die Strategien zur »Mitgliederbindung« verfolgen (Organisation). Die Möglichkeit selbstbestimmter distanzierter Kirchenmitgliedschaft (Institution) steht neben Zielgruppenangeboten, die Mitglieder in die aktive Zielerreichung einbinden (Organisation). Hauschildt schlägt daher als Leitbegriff für die künftige kirchliche Entwicklung die »Kirche als Hybrid aus Institution und Organisation«15 vor und formuliert damit »anschaulich … die Berechtigung und zugleich Begrenztheit sowohl des Institutions- als auch des Organisationsbegriffs für die Erfassung ›evangelischer Großkirche‹«.16 Diese in sich spannungsreiche Doppelperspektive erweitert er schließlich um den Hinweis auf das »geistliche Geschehen«, das als dritte Perspektive – nicht weniger spannungsfrei – hinzugedacht werden muss.17 Grethlein greift die mit dem Hinweis auf die »dritte Perspektive« verbundene Einsicht auf, dass sich »Wesentliches von Kirche der Organisierbarkeit« entzieht, und entfaltet sie im Zusammenhang seiner theologischen Deutung der »Kirche in der Perspektive der Kommunikation des Evangeliums«.18 In dieser Perspektive lässt sich Kirche nicht mehr auf ihre institutionelle und organisatorische Gestalt beschränken. Sie ereignet sich vielmehr auch jenseits ihrer organisierten Form in »grundlegenden Bereichen« wie denen der Familie, der Medien, der Schule und Diakonie, in Bereichen also, die die auf soziologische Fragestellungen konzentrierte kirchentheoretische Diskussion nicht zureichend zu berücksichtigen vermochte. Deren Tendenz, die »verwaltungsmäßig organisierte Kirche mit dem christlichen Glauben« gleichzusetzen, hatte und hat eine »Überbeanspruchung von Kirche« zur Folge. Ein kommunikationstheoretisch ausgearbeiteter theologischer Begriff der »Kirche in der Perspektive der Kommunikation des Evangeliums« vermag diese Erwartungsüberlastung kirchlichen Handelns auf ein »evangelisches Maß zurückzunehmen«.19 Zugleich lässt sich von diesem Verständnis aus eine zeitgemäße Aufgabenstellung der »organisierten Kirche« entwickeln: Ihr Handeln ist danach auf die Unterstützung der Kommunikation des christlichen Glaubens bezogen – gerade auch in nicht kirchlich organisierten Sozialformen.20

15 Eberhard Hauschildt: Hybrid evangelische Großkirche vor einem Schub an Organisationswerdung, in: PTh 96, 2007, S. 56 – 66. 16 Christian Grethlein: Kirche – als praktisch-theologischer Begriff, in: PTh 101, 2012, S. 143. 17 Hauschildt (wie Anm. 15), S. 65 f. 18 Grethlein (wie Anm. 16), S. 144. 19 Grethlein (wie Anm. 16), S. 138. 20 Grethlein (wie Anm. 16), S. 151.

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Entwicklung des Pfarrdienstes zwischen Amt und Beruf

Von den Veränderungen, die die skizzierte kirchliche Entwicklung beeinflussen, ist auch die Berufsgruppe der Pastoren und Pastorinnen in mehrfacher Hinsicht betroffen: So wurde und wird die Zahl der Pfarrstellen erheblich verringert; die Besoldung wurde abgesenkt; in ökonomisch ausgerichteten Unternehmen entwickelte Grundsätze und Verfahren der »Personalentwicklung«, »Mitarbeiterführung« und des »Personalmanagements« (etwa Verfahren des »Mitarbeiterjahresgesprächs« oder der standardisierten »Personalbeurteilung«) wurden eingeführt; die ursprünglich aufgrund der zu geringen Einstellungsmöglichkeiten entwickelten Auswahlverfahren (sogenannte »Assesmentcenter«) wurden in einigen Kirchen als Instrument der »Qualitätssicherung« dauerhaft etabliert. Es ist unbestreitbar, dass in der Perspektive von Kirche als Organisation Pastoren und Pastorinnen zunehmend mehr als »Personal« wahrgenommen wird, das im Dienste der Organisationsziele unter der Kontrolle der Organisationsleitung steht und dessen Spielraum von der Position in der Organisationshierarchie abhängt. Spezifisches Merkmal von »Personal« ist dabei, dass die berufliche Rolle den Einzelnen nur im Blick auf sein Verhältnis zur Organisation betrifft. Im Gegensatz zum Amt als Repräsentation der Institution trägt sie nicht mehr Züge einer »Lebensform«, die die »ganze Person mit ihren jeweiligen Kompetenzen und ihrem Verhalten in unterschiedlichen Lebensbereichen« einbezieht.21 Pastoren und Pastorinnen werden freilich gesellschaftlich nicht als ein Teil des Personals der Kirche wahrgenommen. Sie gelten vielmehr als persönliche Repräsentanten von Kirche und Christentum, ja von Religion überhaupt. Die kirchliche Institution ist aufgrund des Verlusts der selbstverständlichen Geltung ihres Sinndeutungsmonopols andererseits nicht mehr in der Lage, dem Pfarrdienst besondere Bedeutung zu verleihen. Vielmehr gilt: »Je brüchiger das Gefüge von Religion und Kirche erscheint, je fragwürdiger die Institution ›Kirche‹ erlebt wird, desto größeres Gewicht kommt der glaubwürdigen Integrität der Repräsentanten der Kirche … zu. … Das Amt verliert seine fraglose öffentliche Autorität und Akzeptanz, es muß getragen und legitimiert werden durch eine entsprechende persönliche … Glaubwürdigkeit«.22 Insofern Pastoren und Pastorinnen einerseits als »Schlüsselfiguren«23 der Kirche angesehen werden, andererseits stärker an die Organisation und ihr »Programm« gebunden werden sollen, trifft auf den Pfarrdienst zu, was im Blick 21 Ingrid Lukatis: Berufs- oder Lebensform, in: DtPfrBl 100, 2000, S. 531 – 533 22 Pfarrbilder im Wandel. Ein Beruf im Umbruch, hrsg. Von Michael Klessmann, NeukirchenVluyn 2001, S. 36. 23 Peter Krusche: Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, in: Erneuerung der Kirche, hrsg. Von Joachim Matthes, Gelnhausen/Berlin 1975, S. 161 – 188.

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auf die Kirche als soziale Organisation gilt: Als persönliche Repräsentanten von Kirche und Christentum in der Öffentlichkeit nehmen Pastoren und Pastorinnen einerseits unter den Bedingungen eines mit einer Alimentation versehenen besonderen Dienst- und Treueverhältnis zur Kirche eine »Totalrolle« wahr (Institution), andererseits ist aufgrund von Organisationserfordernissen und auch aufgrund der sich differenzierenden und komplexer werdender Berufsrollen im Pfarrdienst (Teildienst, übergemeindliche Dienste) eine sich deutlich entwickelnde Berufsförmigkeit erkennbar (Organisation). Zwischen diesen in spannungsreichem Verhältnis zueinander stehenden Perspektiven des Pfarrdienstes vermag die Beschreibung des Pfarrberufes als »Profession« eine Brücke zu schlagen.24 Als Merkmale von Professionen gelten:25 - die Zuständigkeit für eine bestimmte Sachthematik von existentieller Bedeutung (Gesundheit, Gerechtigkeit, Seelenheil), - eine aufgrund der überkomplexen Aufgabe der Konkretion der Sachthematik in nicht standardisierbaren Entscheidungssituationen erforderliche Handlungsfreiheit, - eine an die Sachthematik gebundene Autonomie bei der Entwicklung berufsethischer Standards im Interesse der Selbststeuerung und -kontrolle der Professionellen - eine aufgrund der Sachthematik erforderliche Vertrauensbildung durch professionsspezifisches Verhalten mit entsprechenden Verhaltenszumutungen (Residenzpflicht u. a.). Die Beschreibung des Pfarrdienstes als Profession führt einerseits wichtige Merkmale des klassischen Amtsbegriffs fort (herausgehobene Stellung der Repräsentanten des jeweiligen Funktionssystems) und trägt andererseits der organisational verfassten funktionalen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung Rechnung (Professionen bieten »ein bestimmtes Lösungsmuster für spezifische Probleme in einigen Funktionssystemen«26). Weil professionelles Handeln Vertrauensbildung voraussetzt, lässt das professionsspezifische Verhalten eine vollständige Trennung von beruflichem und privatem Verhalten nicht zu. Dies hat ein spannungsvolles, nicht auflösbares Wechselverhältnis von professionsspezifischer Rolle und formaler Organisationslogik zur Folge: Die Unabhängigkeit professionellen Handelns lässt ein spannungsreiches Verhältnis »gegenüber der Einschätzung und Beurteilung (professioneller) Leistungen von 24 vgl. Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2001. 25 vgl. Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, hrsg. von Arno Combe/Werner Helsper, Frankfurt 3. Aufl. 1999. 26 Rudolph Stichweh: Professionen in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, in: Combe/Helsper (wie Anm. 25), S. 58.

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außen, zum Beispiel gegenüber Medien oder gegenüber Übergriffen von Organisationen« entstehen.27 Andererseits ist professionelles Handeln zur Steuerung komplexer Arbeitsabläufe auf eine Organisation im Hintergrund angewiesen. Die kirchliche Personalpolitik hat dem Rechnung zu tragen, indem sie im Interesse einer kollegialen Selbstkontrolle die Möglichkeiten zur systematischen Reflexion des Professionsethos und der Berufsrolle fördert, beispielsweise durch Unterstützung der Arbeit der Pfarrkonvente und die Entwicklung geeigneter Fortbildungsangebote.

III.

Theologische Kompetenz und Ordination

Die Veränderungen im Bereich der Kirche und im Bereich der pastoralen Profession haben auch in der theologischen Ausbildung ihre Spuren hinterlassen. Im Zentrum der Debatten um ihre Reform steht seit dem Ende der 1980er Jahre der Begriff der Kompetenz: die theologische Ausbildung soll neben der Vermittlung von Wissensbeständen auch der Ausbildung personenbezogener, im Wesentlichen intellektueller und diskursiver »Kenntnisse, Einsichten und Fertigkeiten« dienen.28 Ging es zunächst lediglich darum, mit Hilfe des Kompetenzbegriffs den Bezug der Profession auf die Sachthematik zum Ausdruck zu bringen, so fand er in den 1990er Jahren zunehmend mehr als Bezeichnung für die persönliche Eignung im Zusammenhang mit kirchlichen Auswahlverfahren Verwendung. Als Kompetenzen werden nunmehr persönliche Charakterzüge bezeichnet, die im Kontext von Auswahlverfahren (»Assessment-Center«, »Potentialanalyse«) beobachtet, bewertet und der Einstellungsentscheidung zugrunde gelegt werden. Persönliches Verhalten wird im Zuge dieser Verfahren zum kompetenten Handeln: Pastoren und Pastorinnen »handeln … im Blick auf ihre persönlichen Eigenschaften professionell nicht mehr einfach aus sich heraus, sondern im Reflex auf die ›erwartbare Kompetenz‹«.29 Kritisch formuliert: Es entsteht die Gefahr einer Funktionalisierung der Person. Persönliche Eigenschaften werden zu überprüfbaren professionellen Persönlichkeitskompetenzen mit der Folge, dass Bildung zu einem Vorgang des Anlegens von »Kompetenzkapital«30 um der Beschäftigungschancen willen mutiert und die 27 Come/Helster (wie Anm. 25), S. 10. 28 Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD (1988), in: Theologische Ausbildung in der EKD, hrsg. von Michael Ahme/ Michael Beintker, Leipzig 2005, S. 13 f. 29 Achim Plagentz: Vom Sparzwang zur Besserung der Ausbildung?, in: Gottes Profis? ReVisionen des Pfarramts (Herborner Beiträge Bd , hrsg. von Thomas Peters/Achim Plagentz/ Peter Scherle, Wuppertal 2. Aufl. 2004, S. 177. 30 Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 138 f.

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Berufsausübung zu einer Anwendung professionell erwarteter Handlungsmuster. Die persönliche Motivation gegenüber dem gewählten Beruf wird tendenziell nivelliert. Richtete sich Gerhard Uhlhorns Vorwurf der »Dressur« auf eine durch Regeln und Anweisungen von außen gesteuerte Ausbildung, so wird jetzt die Verantwortung für Bildung ganz in das einzelne Subjekt verlagert und die Kontrolle gewissermaßen als Selbstdressur weitgehend internalisiert. Scheitern erscheint unter den Bedingungen der lebenslangen Optimierung des Selbstmanagements als eine Folge schlechter Nutzung der eigenen Ressourcen und mangelnder Ausbildung der persönlichen Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen. Bildungsprozesse, die aus der Perspektive der Organisationslogik zweckgerichtet und überprüfbar die für die berufliche Tätigkeit benötigten Kompetenzen ausbilden sollen, stehen daher paradoxerweise mit ihrer Orientierung an kompetenzgesteuerten Ausbildungsverfahren und deren Fokussierung auf die Überprüfung der persönlichen Eignung in der Gefahr, gerade das zu verhindern, was sie eigentlich fördern wollen: die Qualität im Pfarrdienst. Auch für die Bildung theologisch-pastoraler Kompetenz gilt aber die Einsicht des christlichen Glaubens, dass sie durch zielgerichtete Ausbildungsmaßnahmen letztlich nicht produziert und erworben werden kann. Sie kann unter geeigneten Bedingungen nur »gewonnen« werden31. Die Gewinnung der für die Ausübung der pastoralen Profession wesentlichen Fähigkeiten einer differenzierten Wahrnehmungs- und Sprachfähigkeit sowie eines hohen Maßes an Glaubwürdigkeit und Verantwortungsbereitschaft kann aber nur gelingen, wenn die für die Wahrnehmung der Profession konstitutiven Bedingungen bereits die Ausbildung selbst bestimmen: einen Raum für offene Persönlichkeitsbildung zur Verfügung zu stellen, in dem sich wie von selbst der »aufgabenspezifische ›Habitus‹ an Kenntnissen, Einsichten und Fertigkeiten«32 der Kandidaten und Kandidatinnen für den Pfarrdienst entwickeln kann. Eine zweckgerichtete Ausbildung ist damit gerade nicht ausgeschlossen. Ihr Verhältnis zu einer offenen Persönlichkeitsbildung lässt sich aber »vielleicht am Besten an dem Kriterium … messen, dass die Zweckorientierung der Persönlichkeitsbildung nicht im Wege stehen darf«.33 Nur so vermag die theologische (Aus-)Bildung die individuellen Bildungsprozesse zu fördern, die für die Wahrnehmung der pastoralen Profession über die Zeit der Ausbildung hinaus unerlässlich sind, indem sie die Fähigkeit zum selbstverantworteten Handeln und die Freiheit zum eigenen Urteil unterstützt. Diese Zuordnung von Ausbildung und Persönlichkeitsbildung ist nicht nur auf die Doppelperspektive von Kirche als Organisation und Institution, sondern 31 Grundsätze (wie Anm. 30), S. 18. 32 Grundsätze (wie Anm. 30), S. 17. 33 Plagentz (wie Anm. 31), S. 186.

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auch auf das Ziel der theologischen (Aus-)bildung bezogen, die Ordination. Sie begründet ein doppeltes Treueverhältnis: zum einen verpflichtet sie auf den Auftrag der öffentlichen Verkündigung in Bindung an die Heilige Schrift, zum anderen verpflichtet sie auf einen Dienst nach den Ordnungen der Kirche. Beide Verpflichtungen stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander : die Verpflichtung auf die Sachthematik weist über die organisierte Kirche hinaus und schließt alle Sozialformen ein, in denen sich die Kommunikation des Evangeliums ereignet. Die Verpflichtung auf die kirchlichen Ordnungen bezieht sich vornehmlich auf die Kirche als organisatorische Gestalt mit ihren spezifischen Anforderungen. Die theologische und sie abschließende kirchliche (Aus-) bildung hat zum Ziel, »dass die Ordinanden sich mit Auftrag und Ordnung des Amtes so weit identifiziert haben, dass sie zu seiner Übernahme persönlich bereit sind; und dass die Kirchen Grund haben, ihnen die Fähigkeit zur auftragsgemäßen Führung des Amtes zuzutrauen«.34 Steht auf der einen Seite die Verpflichtung auf das doppelte Treueverhältnis in Korrespondenz zur Doppelperspektive von Kirche als Institution und Organisation, so begründet das doppelte Ziel der theologischen Ausbildung sowohl offene Formen der Bildung, die sich auf die Persönlichkeit des Ordinanden beziehen als auch solche Ausbildungsverfahren, deren Ergebnisse überprüf- und bewertbar sind. Dass die Ordinationsverpflichtung im Zusammenhang mit der Segnung durch Handauflegung, Gebet und Sendung erfolgt, lässt deutlich werden, dass die theologische (Aus-)bildung die Komplexität des späteren Professionshandelns nicht verfügbar machen kann: Der pastorale Dienst bleibt auf Gottes Segen und die Fürbitte der Gemeinde angewiesen. Auch die persönlichkeitsbildende und die ausbildende Dimension der theologischen (Aus-)bildung bleiben – wie die Kirche als Institution und Organisation – auf diese dritte Dimension des »geistlichen Geschehens« bezogen, aus dem sie ihre Berechtigung in dem Maße haben, in dem sie dieses ihnen nicht verfügbare Geschehen fördern und schützen.35

IV.

Perspektiven für die kirchliche Ausbildung für den Pfarrdienst

a) Die kirchliche Ausbildung wird nur dann die theologische Ausbildung erfolgreich fortführen und abschließen können, wenn die im theologischen Studium gewonnenen Kenntnisse, Einsichten und Fertigkeiten dafür die Grundlage geschaffen haben. Gegenwärtig werden erste Erfahrungen mit dem aus Anlass des sog. Bolognaprozesses reformierten Pfarramtsstudiengangs (Magister 34 Grundsätze (wie Anm. 30), S. 12. 35 Hauschildt/Pohl-Patalong (wie Anm. 16), S. 696 f.

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Theologiae) gemacht. Zwar wurden wesentliche Strukturmerkmale des bisherigen Diplomstudiengangs nicht verändert, etwa seine grundständige Struktur und sein bündiges Abschlussexamen. Andererseits verbinden sich mit der Einführung der Modulstruktur für die kirchliche Ausbildung Hoffnungen und Befürchtungen, deren Berechtigung sich erst noch herausstellen wird: - Wird die zu begrüßende Straffung und Beschleunigung des Studiums eine Verschulung zur Folge haben, die die Entwicklung einer eigenständigen, persönlich verantworteten theologischen Urteilsfähigkeit fördert oder eher behindert? Wird genügend Zeit und Raum vorhanden sein, die gewonnenen Einsichten persönlich vertreten zu können, oder wird die kirchliche Ausbildung hier ergänzende Anstrengungen unternehmen müssen? - Wird die Standardisierung des Lehrangebots mit dem Ziel, an allen Studienorten ein verlässliches Studienangebot vorzusehen, auch in Zukunft »forschendes Lernen« ermöglichen, oder wird das eigenständige Erarbeiten theologischer Fragestellungen in den Hintergrund treten mit der Folge einer Veränderung der Arbeitsformen im Vikariat? - Wird das Studium auch in Zukunft den Studierenden Gelegenheit zur Entwicklung einer »gebildeten Identität« geben, die nicht nur über Kenntnisse und Wahrnehmungen anderer Lebensgewissheiten verfügt, sondern für sich selbst die Wahrheit der christlichen Überlieferung erschließt und in kirchenfernen Denk- und Sprachwelten zu vertreten vermag, oder ist hier mit einer grundlegenden Verschiebung der beiden Phasen theologischer Ausbildung zu rechnen? Von der noch ausstehenden Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, ob das theologische Studium auch in Zukunft die Qualifikation zu vermitteln vermag, die für den Erfolg der kirchlichen Ausbildung von entscheidender Bedeutung ist. b) Die Entwicklung der sozialen Gestalt der Kirche als Organisation hat zu einer erheblichen Weiterentwicklung der Curricula der kirchlichen Ausbildung in den Predigerseminaren beigetragen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Kybernetik, für Fragen der Leitung und Führung sowie der Finanzierung kirchlicher Arbeit (bspw. Fragen des »Fundraising und des »Spendenmarketing«). Diese und andere Themen haben für die kirchliche Ausbildung nicht nur an Bedeutung gewonnen, sondern auch eine erhebliche integrative Kraft entwickelt. Zugleich hat die Beschleunigung des kirchlichen Veränderungsprozesses häufig Forderungen der Aufnahme von Themen in das Curriculum zur Folge, die von kirchlichen Leitungsgremien als gerade aktuell und neu identifiziert worden sind (bspw. Fragen der sog. Doppik oder missionarische Strategien). Im Vikariat kann es aber nicht in erster Linie um vermeintlich innovative Themenstellungen oder aktuelle kirchenpolitische Fragestellungen gehen. Der kirchliche Vorbe-

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reitungsdienst hat vor allem eine qualitätvolle theologische (Aus-)bildung jener pastoralen Fähigkeiten zu gewährleisten, die die Kommunikation des christlichen Glaubens in unterschiedlichen gesellschaftlichen Öffentlichkeiten und Sozialformen zu unterstützen vermag. c) Bis zu 30 % aller Pastorinnen und Pastoren in den Gliedkirchen der EKD sind nicht im Gemeindepfarramt, sondern in sogenannten übergemeindlichen oder funktionalen Pfarrämtern tätig. Ihre Arbeitsbedingungen unterscheiden sich im Blick auf die Residenzpflicht und die Vereinbarkeit von privatem und beruflichem Leben erheblich von denen ihrer Kollegen und Kolleginnen im parochialen Dienst. Aufgrund der sich weiter entwickelnden Refinanzierungsmöglichkeiten und Kontaktflächen zu Milieus und Öffentlichkeiten, die vom Gemeindepfarramt nicht erreicht werden, wird sich der Anteil dieser Pfarrstellen möglicherweise ausweiten. Diese Ausdifferenzierung des pfarramtlichen Dienstes ist in der theologischen Ausbildung bislang kaum berücksichtigt worden. Es erscheint sinnvoll, im Blick auf diese Tätigkeitsbereiche bereits während der theologischen Ausbildung Schwerpunktbildungen zu ermöglichen, so dass neben dem schulischen Bereich im Rahmen von Sonder- oder Spezialvikariaten ein weiterer »funktionaler« Bereich kennen gelernt und reflektiert wird. Der Austausch von Erfahrungen derartiger Schwerpunktbildungen zwischen Vikariatsleitenden, Studienleitung und Kandidaten und Kandidatinnen kann eine Verständigung über die Einheit des pfarramtlichen Dienstes und seine Ausdifferenzierungen und »ein neues Verständnis des Pfarramtes in unterschiedlichen Gestalten« anregen.36 d) Auch in Zukunft wird die seminaristische Einheit von Leben und Arbeiten im Prozess kirchlicher (Aus-)Bildung sinnvoll und notwendig sein. Das Predigerseminar bleibt der geeignete Ort der Förderung theologischer Bildung durch den ständigen Austausch von Erfahrungen und Einsichten zwischen Vikaren und Vikarinnen, Studienleitung und Vikariatsleitenden. Hier wird eingeübt, was für die professionelle Wahrnehmung des pastoralen Dienstes von konstitutiver Bedeutung ist: die kollegiale Beratung als dem nachhaltigem Steuerungsinstrument selbst verantworteten professionellen Handelns im Pfarrdienst, bspw. durch gegenseitige Begutachtung der theologischen Deutungs- und Vermittlungsleistungen. Darüber hinaus ermöglicht das Predigerseminar zeitlich begrenzte Phasen einer vital communis, die Gelegenheit bieten zur reflektierten 36 Jochen Cornelius-Bundschuh: Der Bedeutungswandel christlicher Religion in der Gesellschaft: Herausforderungen für die Ausbildung von Pfarrern und Pfarrerinnen, in: Der Bedeutungswandel christlicher Religion in der Gesellschaft, hrsg. von Mareile Lasogga/ Martin Heimbucher/Joachim Ochel/Udo Hahn, Hannover 2011, S. 48.

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Teilhabe an Erfahrungen gemeinsamen Gottesdienstes, kritischen Umgangs mit Schriftmeditation und Gebet, und dabei offen sind gegenüber Fremdheit und Zweifel. Das von Gerhard Uhlhorn entworfene Bild des Predigerseminars hat sich unter den Bedingungen der veränderten sozialen Gestalt der Kirche und des Pfarrdienstes gewandelt. Seine von der Selbstverständlichkeit einer institutionell verfassten Kirche und ihrer Orientierung an Ortsgemeinde und Gemeindepfarramt geprägten Vorstellung seminaristischer Ausbildung ist abgelöst worden von einem Curriculum, dessen Struktur seminaristische, gemeindliche und »funktionale« Ausbildungsformen aufeinander bezieht und Anforderungen der Kirche als Organisation wie auch der differenzierten Vielfalt des pfarramtlichen Dienstes berücksichtigt. Seine Hochschätzung der vital communis, des freien ungezwungenen Austausches von Kandidaten und Kandidatinnen mit der Studienleitung, der Bedeutung der »Selbstthätigkeit« der Kandidaten und Kandidatinnen und der Vermittlung theologischer Wissenschaft und kirchlichen Handelns freilich wird ihre Bedeutung für die Zukunft des Predigerseminars und der kirchlichen Ausbildung behalten.

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Das Predigerseminar im Kloster Loccum – Wandel, Beheimatung, Schwelle und Wegweiser. Ein Nachwort mit Rück- und Ausblick

Das Predigerseminar im Kloster Loccum steht heute für Wandel, für Aufbruch. So sehr, dass man sich manchmal fragen mag, was denn den Kern ausmacht, was das Stabile innerhalb des Wandels ist. Aber schauen wir zunächst auf den Wandel: Als 1820/21 unter Abt Saalfeld und Konventual-Studiendirektor Friedrich Burchard Köster die Räume im Slaphus ausgebaut, ja in ihrer heutigen Anlage entworfen werden, spricht man vom »neuen« Predigerseminar – erstmals mit eigenen Zimmern für die damals acht bis zwölf Kandidaten. Als 2009 nach gut einem Jahr Umbau die vormalige sog. Kolonie nach eben diesem Studiendirektor »Kösterhaus« genannt und neu eröffnet wird, gibt es erstmals 12 Gästezimmer mit Duschen und Toiletten auf dem Gelände – jetzt als Ergänzung zu den anderen Zimmern, um so zumindest bis zu 60 Vikarinnen und Vikaren Unterkunft bieten zu können. Im Mai 2013 beschließt die Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers unter anderem den Bau eines weiteren Gästehauses auf dem Gelände des Klosters. Es soll Platz geschaffen werden für die gut 100 Vikarinnen und Vikare – es sollen und es müssen im Blick auf die Personalentwicklung in den Kirchen noch mehr Vikarinnen und Vikare werden. Zahlen und Baumaßnahmen sind ein guter Indikator für den Wandel der Zeiten. Zur Zeit des vorangegangenen Klosterjubiläums und seiner Festschrift – 1963 – beherbergte das Haus 16 Vikare, die zwei Jahre vor Ort wohnten. Jedes halbe Jahr gingen vier und stießen vier Vikare dazu. Vor 50 Jahren war noch mit leichtem Schmunzeln geregelt, wie die Sitzordnung der Kandidaten im Speisesaal zu sein hat und wer die Füße unter dem Tisch ausstrecken durfte – »Die kleinen Herren haben keine Füße«, soll heißen: die dienstälteren Vikare hatten das Vorrecht. Manchmal fällt es mir schwer vorzustellen, dass das alles nur 50 Jahre her sein soll. Was für ein Wandel! Heute wartet der schon vergrößerte Speisesaal auf seine nächste Erweiterung. Kinder wuseln zwischen den vollbesetzten Tischen hin und her, der Lärmpegel der Diskussionen beim Essen ist kräftig. Vor dem Speiseraum stehen Bobbycars (Sitzautos für kleine Kinder), der Kaffeeautomat dampft und lädt zum Verweilen im Foyer. Das Haus »brummt«.

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Ein Raum der Begegnung ist geschaffen, ein Wandel vom Familien- zum kleinen »Großbetrieb« ist spürbar. Die Zentralisierung der Pastorenausbildung am Standort Loccum – seit dem letzten Klosterjubiläum sind vier Predigerseminare in der Hannoverschen Landeskirche geschlossen worden – schafft die Möglichkeit, auf Schwankungen in den Kandidatenzahlen flexibel reagieren zu können. Der Loccumer Campus, also das Zusammendenken der Einrichtungen diesseits und jenseits der Fulde, ist eine Antwort auf den steten Wandel – nicht nur der Zahlen, sondern der inhaltlichen Herausforderungen. Das Haus »brummt« und mit ihm auch das Miteinander der Einrichtungen. So wird es gedacht und gewollt gewesen sein, als Landesbischof Lilje die Akademie nach Loccum lotste. Das Predigerseminar in Loccum steht für Wandel. Als das vormalige Laienrefektorium Ende des 19. Jahrhunderts zum Kollegsaal umgestaltet wird, malt Eduard von Gebhardt Bilder, die die Aktualität, aber auch die selbstverständliche Verwurzelung der christlichen Botschaft in Gesellschaft und Ort vor Augen führen. Es ist die erste große Blütezeit der intermediären, auf Vermittlung angelegten Einrichtung Predigerseminar. Die eindrücklichen Bilder geben diese vermittelnde Orientierung wider. Mancher der im Jahre 2013 ehrenamtlich engagierten Jubiläumsklosterführer weiß noch von eigenen Seminarstunden in diesem Kollegsaal zu berichten. Zum 850-jährigen Jubiläum hat der norddeutsche Maler Hermann Buß Bilder für die Johanniskapelle gemalt, sie füllen die alte Bußkapelle ähnlich wie Gebhardts Bilder den einstigen Seminarraum. Die Bilder von Hermann Buß sind nicht weniger klar und gegenständlich als von Gebhardts, aber ihre Deutung ist offener, die Botschaft vielfältig – diese ist nicht anders vorstellbar als im Auge der Betrachter. Die Johanniskapelle ist der Ort, in dem die Studienwochen der Vikarinnen und Vikare beginnen – mit Gottes Wort, das im Licht der Buß-Bilder ins Weite, ins Offene, ins Gebrochene, ins eigene und ins fremde Wort führen mag. Die Klarheit der eindeutigen (Vor-)Bilder in der Ausbildung – allen voran Bilder vom Pfarrberuf und seinen Aufgaben – ist gewichen, ist nur noch in der Mehrzahl und in der eigenen Brechung denkbar. Die Bilder von Hermann Buß führen auf eigene Weise in das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen. Keines, das fesselt und fixiert – weder einen selbst noch die Welt noch Gott. Er ist frei und er spricht Menschen frei. Wandel – es lohnt, unter diesem Stichwort auf den Wechsel der Konzepte der Ausbildung schauen. Da ist die humanwissenschaftliche und empirische Wende in den 70er Jahren, die tiefe Spuren im Ausbildungscurriculum hinterlassen hat. Da ist die Abschaffung des einjährigen Studienjahres zu Beginn des 21. Jahrhunderts, äußerlich zunächst eine organisatorische Veränderung, zugleich ein tiefer Einschnitt im inneren Erleben des Vorbereitungsdienstes. Oder : Welchen Wandel hat etwa die Seelsorgeausbildung im vergangenen halben Jahrhundert zurück gelegt. Von der Eindeutigkeit der kerygmatischen Seelsorge über die

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Das Predigerseminar im Kloster Loccum

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teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen verkündigenden und therapeutischen Konzepten hin zur Multiperspektivität der Gegenwart, in der tiefenpsychologische, klinische, personenzentrierte und systemische Ansätze ihren Platz haben. Ausbildung, die nicht einfach trichterförmig ein Konzept prolongieren will, muss heute konzeptoffen, darf aber gerade darin nicht konzeptlos sein. Das Predigerseminar im Kloster Loccum steht heute für Wandel, für Aufbruch. Heute? Wer die Seiten dieser Festschrift liest, wird kaum auf Zeiten und Epochen stoßen, in denen der Ort nicht vom Wechsel der Zeiten bestimmt wird – oder diesen Wechsel führend mitbestimmt. Tempora mutantur, et nos mutamur in illis. Allenfalls über das Tempo des Wandels lässt sich diskutieren – ob es in Zeiten fast schon steter elektronischer Revolutionen höher ist? Der vor etwas über zehn Jahren als Zeichen des Fortschritts eingerichtete Computerraum im Hause ist schon wieder aufgelöst. Alle Zimmer haben inzwischen drahtlosen Internetzugang. Was bleibt im Wandel stabil? Was macht im Kern das Predigerseminar als Predigerseminar aus? Mit Blick auf die Veränderungen in homiletischen Konzeptionen, mit Blick auf den Wandel in der Vorstellung, was eine gute Predigt ausmacht – ob situationsbezogen oder gerade nicht, ob methodisch, gar didaktisch aufgebaut oder gerade nicht, ob in der Struktur weltlicher Rede verstanden oder durch »moves and structure« gegliedert, ob involvierend oder erklärend, ob offenes Kunstwerk oder texttreue Homilie, ob im Sprechdenken vorbereitet oder mit ausformuliertem Manuskript (nota bene: als Alternativen sind alle Alternativen unangemessen!) – lässt es sich fast schon einfach formulieren: Das Stabile, das Kontinuum ist das kollegiale, geistliche Gespräch über Predigten selbst, eigene und fremde. Das Lernen in und aus diesem Gespräch über das Predigen. Studienleitungen und homiletische Paradigmen haben mal schneller, mal langsamer gewechselt. Geblieben ist über Jahre, ja über Jahrhunderte das Predigerseminar, das im Austausch und Ringen um die eigenen Predigten »zu sich selbst kommt«. Was hier für die Predigt formuliert wird, gilt hinsichtlich der modern diversifizierten Ausbildung auch für die anderen Bereiche: der kollegiale Austausch über Unterrichtskonzepte, über Seelsorgefragen, über Leitungsaufgaben, über gottesdienstliche Herausforderungen macht den Kern einer Einrichtung aus, die bei aller Anleitung und Ausbildung den je eigenen, selbstverantworteten Bildungsprozess zum Ziel hat. Praxisreflexion im Dienst der Praxis, Austausch im Wechselspiel zwischen den Ausbildungsorten Gemeinde und Predigerseminar standen und stehen im Kern eines Seminars, das zwischen erster Ausbildungsphase und Beruf Raum zum Finden und Einüben, Reflektieren und Ausprobieren pastoraler Kompetenz und Existenz eröffnen soll. Der »fremde, andere Ort« des Klosters Loccum gibt Stabilität und Behei-

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matung in den Wandlungsprozessen des Pfarrerin-Werdens, ist als geistlicher Ort gewissermaßen der »dritte Ort« neben Kirche und Welt, neben Gemeinde und Gesellschaft. So mag es bei allem Wandel und Wechsel gelingen, dass das Predigerseminar im Kloster Loccum für Vikarinnen und Vikare eine Art »zweites Zuhause« bietet – Stabilität und Beheimatung in den Herausforderungen der eigenen Veränderung anbietet. Stat crux, dum volvitur orbis – das alte Klosterwort vom Drehen und Wenden der Welt, in der das Kreuz fest steht, hat seinen inneren Bezug zum Werden und Wandeln auf dem Weg zum Pfarrberuf. Und so mag es die Hora sein, das abendliche Gebet, das Drinnen und Draußen, Predigerseminarkurse und Akademietagungen, Vikare und Pastoralkollegskurse, Kandidatinnen und Ort zusammen führt: im bleibenden Preisen und Loben von Gottes Wort, im gemeinsamen Schweigen und Hören, das den ganzen Loccumer Campus umfassen mag. Im Zusammenspiel der Ausbildungsorte Gemeinde und Predigerseminar liegt viel alltäglicher, allwöchentlicher Wechsel. Strecken müssen zurück gelegt, Entfernungen überwunden werden. Der stete Wechsel zwischen Gemeindezeiten und Studienwochen fordert immer neue Schwellenübertritte. Aufmerksamkeit für die Schwellen, Kompetenz für die Gestaltung lebenszeitlicher Schwellen gehört zum Kern pastoralen Handelns. Der Beruf des Pastors, der Pastorin ist verortet »auf der Schwelle« – jener Ort, der aufmerksam werden lässt für das Ineinander von menschlichem Erleben und Gottes Zuspruch und Weisung. Das Predigerseminar, das für Aufbruch und Wandel wie für Beheimatung und Stabilität steht, fordert zum steten Wechsel und zur Aufmerksamkeit von Schwellenübertritten heraus. Kirchliche Schwellen werden übertreten in dem fröhlichen Kooperieren verschiedener Kirchen in der Loccumer Ausbildung: Vikarinnen und Vikare aus der Braunschweigischen, der Bremischen, der Oldenburgischen, der Schaumburg-Lippischen und der Hannoverschen Landeskirche kommen hier im Jubiläumsjahr zusammen. Kleine sprachliche Veränderungen machen auf große Schwellenübergänge im Verhältnis von Haus und Landeskirche aufmerksam. Aus dem Predigerseminar »des« Klosters ist das Predigerseminar »im« Kloster geworden. Aus dem vormaligen Männerkloster ist jener Ort erwachsen, an dem – evangelisch selbstverständlich und essentiell – Vikarinnen und Vikare auf den Pfarrdienst vorbereitet werden, in den letzten Jahren oft mehr Vikarinnen als Vikare. Diese Veränderungen werden gewiss neue Wandlungen von Ort und Haus nach sich ziehen. Das Predigerseminar im Kloster Loccum steht für Wandel und Aufbruch, es tut das im Vertrauen auf die über Jahrhunderte bewährte Stabilität, die nicht aus eigenem Geschick und Tun resultiert. Das Kreuz im Wandel und Drehen der Welt weist den Weg, weist weg von uns selbst und hin auf den, der in allem Schwellenübertritt begleitet und führt. Dass am Ort der Ausbildung Kirche immer neu

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Das Predigerseminar im Kloster Loccum

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aufbricht, gehört wesenhaft zum »Geschäft« der Ausbildung. Der Wandel ist Wegweiser dabei – in diesem von sich weg und auf das Kreuz weisenden Sinn. So bin ich gespannt, ob und wie eine mögliche Konventual-Studiendirektorin zum 900-jährigen Jubiläum den Wandel des Haues beschreiben mag. Ich vermute, auch dann steht – so Gott will und wir leben – das Predigerseminar im Kloster Loccum für das Ineinander von Wandel und Kontinuität, ist es Wegweiser für Wechselfälle und Wort, weist in all dem auf das Kreuz.

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Abkürzungen

Soweit nicht anders angegeben, richten sich die Abkürzungen in diesem Buch nach dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, 2. überarb. Auflage, Berlin 1994.

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Autorinnen und Autoren der Festschrift Loccum

Anhelm, Fritz Erich, Dr. theol., Direktor i.R. der Evangelischen Akademie Loccum, Loccum. Boetticher, Manfred von, Dr. phil., Ltd. Archivdirektor i.R. des Niedersächsischen Landesarchivs – Hauptstaatsarchiv Hannover, Hannover. Heine †, Hans-Wilhelm, Dr. phil., Archäologieoberrat. Hirschler, Horst, D., Abt zu Loccum, Landesbischof i.R., Loccum. Holze, Heinrich, Prof. Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte, Rostock. Hucker, Bernd Ulrich, Dr. phil. habil., Professor für Mittlere und Neuere Geschichte i.R., Vechta. Kruhöffer, Gerald, Dr. theol., Pastor und Dozent i.R., Loccum. Kruse, Martin, Dr. theol., Bischof i.R., Berlin. Kück, Thomas, Dr. theol., Superintendent, Stade. Ohst, Martin, Prof. Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie, Wuppertal. Otte, Hans, Prof. Dr. theol., Ltd. Archivdirektor, Landeskirchliches Archiv, Hannover. Reitemeier, Arnd, Prof. Dr. phil., Professor für niedersächsische Landesgeschichte, Göttingen.

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Autorinnen und Autoren der Festschrift Loccum

Röckelein, Hedwig, Prof. Dr. phil., Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte, Göttingen. Roth, Hermann Josef, OCist, Dr. rer. nat., Studiendirektor i.R., Bonn. Sosnitza, Simon, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Vechta. Stäblein, Christian, Dr. theol, Konventualstudiendirektor des Predigerseminars, Loccum. Wiesenfeldt, Christoph, Dr. theol., Superintendent i.R., Lüneburg. Wöller, Michael, Oberlandeskirchenrat im Evang.-luth. Landeskirchenamt Hannover.

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