Arbeits- und Sozialrecht im vereinigten Deutschland gestern, heute und morgen [1 ed.] 9783428488346, 9783428088348

Die Aufarbeitung der innerdeutschen Rechtsvergleichung während der Zeit deutscher Teilstaatlichkeit und ihre Auswertung

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Arbeits- und Sozialrecht im vereinigten Deutschland gestern, heute und morgen [1 ed.]
 9783428488346, 9783428088348

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Arbeits- und Sozialrecht im vereinigten Deutschland gestern, heute und morgen

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 48

Arbeits- und Sozialrecht im vereinigten Deutschland gestern, heute und morgen lIerausgegeben von

Ulrich Drobnig und Thilo Ramm

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Arbeits- und Sozialrecht im vereinigten Deutschland gestern, heute und morgen : hrsg. von Ulrich Drobnig und Thilo Ramm. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 48) ISBN 3-428-08834-4 NE: Drobnig, Ulrich [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft ...

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© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-08834-4

INHALT Vorwort .............................................................................................................. 7 Thilo Ramm Einleitung zur ersten Arbeitssitzung .................................................................. 9 Annemarie Langanke Das Arbeitsrecht der DDR in der Retrospektive .............................................. 13 Ulrich LohmanniThilo Ramm Das Arbeitsrecht der DDR: Alte Ansichten heute kritisch besehen ................. 21 Frithjof Kunz Das Arbeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland: Alte Ansichten heute kritisch besehen ................................................................................................ 35 Volker Dähne Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern und Abhilfen rur die Schwierigkeiten ............................................................................................... 55 Anita Grandke Die berufstätige Frau und ihre sozialpolitische Absicherung .......................... 67 Heide Pfarr Zur sozialpolitischen Absicherung der berufstätigen Frau in der alten und neuen Bundesrepublik Deutschland ................................................................. 75 ThiloRamm Ein Arbeitsvertragsgesetz - der Entwurf des Arbeitskreises "Wiederherstellung der deutschen Rechtseinheit" der Fritz Thyssen Stiftung rur Arbeits- und Sozialrecht ............................................................................. 83 Verfasser und Herausgeber ............................................................................ 101

VORWORT Dieser Band enthält die Referate der Jahrestagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft in der Gesellschaft rur Deutschlandforschung, die im September 1991 in Berlin unter der Leitung der Herausgeber stattfand. Finanzielle und editorische Probleme haben die Veröffentlichung des Bandes ungebührlich lange verzögert. Die Referate haben dadurch jedoch - abgesehen von einem eher zeitgebundenen Beitrag - nichts von ihrer fortdauernden Bedeutung verloren. Die hier behandelten Grundfragen der deutsch-deutschen arbeitsrechtlichen Vergleiche, der Rolle der erwerbstätigen Ehefrauen sowie der Kodifikation des Rechts des Individualarbeitsvertrages sind unverändert aktuell, da sie noch immer der Lösung harren. Wir hoffen daher, daß dieser Band Hilfe und Anregung rur die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung der innerdeutschen Rechtsvergleichung wie rur die Rechtspolitik bieten wird. Thilo Ramm und Ulrich Drobnig

ThiloRamm EINLEITUNG ZUR ERSTEN ARBEITS SITZUNG Als Deutsche stehen wir vor drei Fragen: der Bewältigung unserer getrennten Vergangenheit, der Lösung der Probleme der Gegenwart und schließlich der gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft. Keine dieser Aufgaben kann rur sich allein errullt werden. Jeder hat sie rur sich selbst, rur seinen Bereich und sein Fach zu stellen. Daß der Jurist und der ArbeitsrechtIer hierbei eine besondere Bedeutung und Verantwortung tragen, ist in diesem Kreis selbstverständlich. Denn er hat deshalb das Thema dieser Tagung gewählt. Ohne den ersten Fragenkomplex, mit der sich die erste Arbeitssitzung befaßt, ohne die Bewältigung der Vergangenheit, können die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben nicht oder nur sehr schwer gelöst werden. Von ihm können hier nur Teilstücke und Teilaspekte behandelt werden. Drei Überlegungen können dabei helfen, die jüngste Vergangenheit deutscher Teilstaatlichkeit zu analysieren. Zunächst darf die Zeit deutscher Teilung von 1945 und 1990 nicht isoliert behandelt werden. Dies heißt, sie ist nicht Vorgeschichte und Geschichte der DDR und BRD, sondern muß als etwas Zusammengehörendes behandelt werden. Sie steht auch nicht rur sich allein, sondern ist Teil der gesamten deutschen Geschichte. Sie kann aus ihr teilweise verstanden werden. So erinnert die Geschichte der DDR vielfach an den Vormärz. Um ein provozierendes Beispiel zu nehmen: Honecker ist ein kleinbürgerlicher Metternich gewesen, der dessen Geheimpolizei perfektioniert hat. Umgekehrt erleichtert die jüngste Vergangenheit die Analyse der deutschen Geschichte. Es geht zweitens um den Vergleich. Dazu gilt es, die Totalitarismusdiskussion wieder aufzugreifen. I Die Wissenschaft muß die Gretchenfrage stellen: Wie ist das Recht in einem totalitären Staat beschaffen: das Gesetzesrecht, das Richterrecht, die Gestaltung durch die Exekutive, und welche Rolle spielt die Rechtswissenschaft? Der Wissenschaftler hat wie der Anatom die Herrschaftsformen zu sezieren - die äußere Macht und die Ideologien. Der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, die beide über eine Partei den I Vgl. hierzu nunmehr meine Buchrezension "Arbeitsrecht unter'm Hakenkreuz" - und unter Hammer und Zirkel?, in: Arbeit und Arbeitsrecht 1995, 80.

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Thilo Ramm

Staat steuerten, ist unabdingbar. Vergleichen heißt natürlich nicht gleichsetzen. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß die Stasi nur Aktenberge, nicht aber Leichenberge wie die SS zurückgelassen habe. Und ebenso ist der Unterschied der Ideologien und der Situationen in Rechnung zu stellen. Dennoch bleiben Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten, wenn die konkrete Lage der Gestaltenden und der Betroffenen damals untersucht wird. Dieses Gemeinsame und die Unterschiede sind objektiv und umfassend festzustellen. In der BRD wurde die Rechtsprechung während der NS-Zeit kritisch untersucht. Es fehlt hingegen die umfassende Analyse der Rechtswissenschaft, die formal ebenfalls unabhängig war und sogar eine gewisse, von Fall zu Fall verschiedene, faktische Unabhängigkeit bewahren konnte. Diese längst fällige Untersuchung sollte nachgeholt und mit der Untersuchung der DDR-Rechtswissenschaft verbunden werden. Sie ist rur die Arbeitsrechts-Wissenschaft von besonderem Interesse. Die neuerdings mehrfach erhobene Forderung nach einem Tribunal könnte nützlich sein, um diese Aufgabe zu erftlllen - wenn sie vorurteilsfrei, -gleichsam justizilirmig, das, was wirklich gewesen ist, nüchtern feststellte und Verantwortungen klärte. Voraussetzung ist freilich, daß jenes Tribunaf nicht zur Hexenjagd mißbraucht würde. Der dritte Gesichtspunkt ist, daß sich die Menschen der alten BRD weder außerhalb dieser Prozesses stellen noch sich die Rolle der Richter anmaßen. Auch dies wird vom Aspekt des Totalitarismusvergleichs leichter: Wer sich noch selbst an die Argumentation der Deutschen gegenüber dem Ausland während der Jahre 1945-48 erinnert, wird den Wechsel der Position des Insiders zum nunmehr Außenstehenden und Urteilenden sehr nachdenklich und skeptisch überprüfen. Die beiden Referate der Herren Kunz und Lohmann sollen einleiten, jene Selbstkritik zu üben, die beiden Seiten ansteht: Wie hat die Arbeitsrechtwissenschaft des einen Teilstaats das Arbeitsrecht des anderen Teilstaates gesehen? Wie erklärt sich ihre Sicht, ist dieses Urteil und wie ist es zu revidieren? Mit Selbstkritik meine ich natürlich nicht deren Denaturierung zur Selbstanklage, wie sie in der DDR geübt worden war. Die Gesamtaufgabe kritischer Auseinandersetzung ist riesig. Die 11. Tagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft der Gesellschaft rur Deutschlandforschung kann sie nicht leisten, auch nicht rur das Arbeitsrecht, zu dem natürlich auch die Betrachtung des Sozialrechts gehören würde. Wenn Frau Langanke das Die Russel-Tribunale hätten als Vorbild dienen können. Doch sind sie zuletzt politisch mißbraucht worden und haben eine negativen Reaktion hervorgerufen. Vgl. zu dieser Problematik insgesamt Thilo Ramm, Schiedsgerichtsbarkeit und Schlichtung, in Hoppe/Krawietz/Schulte, Rechtsprechungslehre 1992,97,122.

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Einleitung

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Arbeitsrecht der DDR darstellt, dann nimmt sie ein Stück der Gesamtaufgabe in Angriff und ermuntert damit zur Fortsetzung. Es fehlt zum Bild Deutschlands in dieser Zeit die Darstellung der Arbeitsrechtsentwicklung der BRD, die vielleicht auch zum Verständnis der Rechtsentwicklung der DDR notwendig wäre.)

) Vgl. hierzu nunmehr aber auch Thilo Ramm, Pluralismus ohne Kodifikation. Zur Entwicklung der Arbeitsrechtswissenschaft der BRD in Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, 1994,449.

Annemarie Langanke DAS ARBEITSRECHT DER DDR IN DER RETROSPEKTIVE I. Die Perspektive der rückblickenden Betrachtung

Die rückblickende Betrachtung eines solch komplexen Gegenstandes, wie es das Arbeitsrecht der DDR in seiner 40-jährigen Entwicklung darstellt, ist in der Zeit, welche eine solche Konferenz dem Vortragenden einräumen kann, nicht möglich. Erforderlich ist deshalb zunächst die Definition des Blickwinkels, unter welchem die Darstellung erfolgt. Vorliegende Aussagen, Einschätzungen und Bewertungen wählen als Maßstab meist das bundesdeutsche - nunmehr gesamtdeutsche - Recht der Arbeitsverhältnisse. Diese Sicht möchte ich hier und heute bewußt ausklammern. Zum einen hat das Leben die historische Bewertung bereits vorgenommen. Es ist ja nicht zu bestreiten, daß die Arbeitsrechtsordnung der DDR wirtschaftliche Effizienz nicht bewirkte. Zum anderen ist ein Vergleich von Rechtssystemen, welche auf so unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen beruhen wie die der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR eher geeignet, politische Aussagen zu treffen. Meine Analyse gilt dem Arbeitsrecht der DDR als einem Normensystem, welches für eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gemacht wurde und wie Recht immer (wenn auch nicht immer eingestanden) dazu dienen sollte, vorhandene gesellschaftliche Verhältnisse zu stabilisieren und im Verfolg der in ihnen wirkenden Wertvorstellungen zu entwickeln. Perspektive meiner rückblickenden Analyse soll es deshalb sein, die Ursachen von Rechtsentwicklungen aufzuzeigen und zu prüfen, inwieweit das Ar;.. beitsrecht der DDR seinen selbst formulierten Aufgaben gerecht wurde bzw. überhaupt gerecht werden konnte. Da die mir zugebilligte Zeit eine solche Betrachtung nicht in der gesamten Breite gestattet, beschränke ich mich dabei auf zwei arbeitsrechtliche Kategorien und zwar den Arbeitsvertrag und das Arbeitsentgelt.

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Annemarie Langanke

1I. Hauptetappen der Entwicklung des DDR-Arbeitsrechts

Zeitlich vollzog sich die Entwicklung des Arbeitsrechts der DDR in folgenden historischen Abschnitten: •

1950: Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskraft, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten vom 19.April 1950 (GBI. S. 349) - GdA. Es war die erste geschlossene arbeitsrechtliche Kodifikation in Deutschland und diente der Regelung der Arbeitsverhältnisse in der bereits überwiegend durch staatliches Eigentum geprägten Volkswirtschaft.



1961: Gesetzbuch der Arbeit vom 12. April 1961 (GBI. I S. 27) - GBA. Dieses umfassende und komplexe Gesetz enthielt die Normen rur die Arbeitsverhältnisse nach dem "Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse", worunter die Unumkehrbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden wurde.



1977: Arbeitsgesetzbuch vom 16.Juni 1977 (GBI.I S.l85) - AGB. Es war das Normensystem rur die Arbeitsverhältnisse unter den Bedingungen der sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Darunter war zu verstehen, daß die Ergebnisse der Produktion zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Werktätigen genutzt werden. Unabhängig von allen anderen aus dieser Zielsetzung resultierenden Problemen, hat die programmatische Vernachlässigung der Bedürfnisse der Produktion wohl letztlich den immer schnelleren Niedergang der DDR-Wirtschaft bewirkt. III. Entwicklung und Wirksamkeit der Normen zum Arbeitsvertrag

Es ist unbestreitbar, daß die vertragliche Gestaltung der Arbeitsverhältnisse eine Grundvoraussetzung der freien Entfaltung der Rechtssubjekte, und zwar sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber, ist. Daß eine solche autonome Gestaltung der Rechtsverhältnisse rur die Effizienz eines Wirtschaftssystems unverzichtbar ist, war auch in der Arbeitsrechtswissenschaft der DDR seit langem anerkannt. Vom theoretischen Ansatzpunkt sind staatliches Eigentum und Privatautonomie nicht notwendig unvereinbare Gegensätze, wenn auch die Gefahr der Einschränkung der letzteren latent immer besteht. Deshalb hatte die Übernahme des Arbeitsvertrages als Instrument zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses in allen Etappen der DDR-Arbeitsgesetzgebung zwar auch, aber nicht allein und ausschließlich, historische Gründe, sondern entsprach auch der rur diese Gesellschaft entwickelten Theorie.

Das Arbeitsrecht der DDR in der Retrospektive

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Objektiv nicht begründet und, wie die Praxis bewies, falsch war allerdings die Prämisse, daß staatliches (und somit allgemeines) Eigentum selbstverständlich einheitliche Interessen hervorbringe. Sie war ein Ergebnis der Verbindung von Staatseigentum und diktatorischem Herrschaftssystem. Es wurde unterstellt, daß nur der Staat wissen könne, was dem Bürger frommt. Die Konsequenz der Ideologie, daß sich in der Rechtsnorm die angeblich allgemeinen Interessen wiederfinden würden, filhrte dazu, daß im Individualvertrag nur vereinbart werden durfte, was nicht bereits auf anderen Ebenen bestimmt war l . Auf diese Weise hatte der Arbeitsvertrag von allen arbeitsrechtlichen Instrumenten de facto den geringsten Entscheidungsraum. So kam es zu der schizophrenen Situation, daß die Anzahl der arbeitsrechtlichen Verträge zwar ständig zunahm - bei der Ablösung des Gesetzbuches der Arbeit durch das Arbeitsgesetzbuch wurde das ganz deutlich - die Entscheidungsmöglichkeiten der Beteiligten jedoch eingeengt blieben. Es standen somit die normativen Regelungen über arbeitsrechtliche Verträge im tatsächlichen Widerspruch zu der eigenen arbeitsrechtlichen Theorie. Das Normengefilge enthielt auch die rechtlichen Garantien dafür, daß der staatliche Wille in jedem Fall verwirklicht werden konnte. Von Rechtsnormen oder Rahmenkollektivverträgen abweichende Festlegungen in Verträgen - ob günstig oder ungünstig filr den Arbeitnehmer - waren von Anfang an unwirksam2. Dem selbst definierten Anliegen, Instrument der freien Entscheidung der Persönlichkeit zu sein, konnte der Arbeitsvertrag demzufolge überhaupt nicht gerecht werden. Mit dieser rechtlichen Gestaltung wurden beide Partner des Arbeitsverhältnisses entmündigt. So waren sogar Vereinbarungen, die im beiderseitigen Interesse zustandekamen, z. B. einem besonders dringend gebrauchten Mitarbeiter eine Sondervergütung zu zahlen, unwirksam. Benachteiligt wurde dadurch nicht allein der Arbeitnehmer, der eine besonders gefragte Qualifikation nicht zu seinen Gunsten verwenden konnte, sondern auch derArbeitgeber und damit letztlich der Staat selbst. Ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Vorteile sollte Staatsdisziplin gewährleistet werden. Seit Inkrafttreten des AGB waren leitende Mitarbeiter nach § 44 Abs. 3 filr solche rechtswidrigen Vereinbarungen sogar persönlich haftbar. Die Rechtspraxis zeigte allerdings auch, daß der Wirksamkeit des Rechts Grenzen gesetzt sind, wenn es real existierende Interessen nicht berücksichtigt. Obwohl die ökonomische Motivation in den Betrieben nicht besonders ausgeprägt war, entwickelten sich doch im Rahmen der Planaufgaben auch bestimmte Eigeninteressen. Unzulässige vertragliche Vereinbarungen waren I

§ 23 I GdA, § 44 I AGB.

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Siehe FN I.

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gängige Praxis, wenn auch nur, sofern sie auch im Interesse des Arbeitnehmers lagen. Der Anspruch des Gesetzgebers, durch eine solche restriktive Gesetzgebung das staatliche Eigentum zu schützen, verkehrte sich somit ins völlige Gegenteil. Bezeichnend für den gesellschaftlichen Stellenwert des Rechts ist wohl auch, daß bei Bedarf solche rechtswidrigen Vereinbarungen durch die staatlichen Organe durchaus toleriert wurden. Die im AGB vorgesehene Rechtsfolge, bei Abschluß- und Inhaltsmängeln generell von der Wirksamkeit des Vertrages auszugehen, halte ich allerdings auch heute noch für akzeptabel. Aus der Sicht des Staates - als Eigentümer der Produktionsmittel - war diese Konzeption nur logisch. Auf diese Weise wurde die Fürsorge für den Fall der Beschäftigungslosigkeit erfüllt, und zwar über einen Betrieb als Teil des staatlichen Eigentums. Andere Instrumente - z.B. staatliche Leistungen bei Arbeitslosigkeit - waren somit systembedingt verziehtbar. Unabhängig davon ist eine solche aber nach meiner Überzeugung - berücksichtigt man die existenzsichernde Funktion der Arbeitsverhältnisse - generell anzustreben. Besagt sie doch nur, daß dem wirtschaftlich stärkeren und auch organisatorisch mit den entsprechenden Voraussetzungen ausgestatteten Arbeitgeber in der Phase des Vertragsabschlusses eine höhere Verantwortung auferlegt wird. IV. Entwicklung und Wirksamkeit der Normen zum Arbeitsentgelt

Die Abhängigkeit der Wirksamkeit arbeitsrechtlicher Normen von der bestehenden Wirtschaftsordnung wird am Exempel des Arbeitsentgelts besonders deutlich. Zunächst ist festzustellen, daß die objektiven Bedingungen arbeitsteiliger Produktion bestimmte allgemeine Anforderungen stellen, welche das Regelungssystem bestimmen. Solche allgemeinen Erfordernisse sind die Erfassung der Arbeitsleistung in ihrer Qualität (Quantifizierung nach Arbeitswert) über die Eingruppierung und in ihrer Quantität (Quantifizierung nach Leistungsgrad) über die Lohnformen. Ebenso objektiv ist die Möglichkeit der überbetrieblichen Normierung der Eingruppierung in Tarifen und eine in der Regel nur am konkreten (d.h. betrieblichen) Arbeitsprozeß normierbare Wertung des Leistungsgrades. Solche allgemeinen Bedingungen führen jedoch - verbunden mit staatlichem Eigentum - zu völlig anderen Konsequenzen, als sie für eine Privatwirtschaft zutreffend sind. Vom theoretischen Ansatzpunkt her waren alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise am staatlichen (nicht nur am betrieblichen) Eigentum betei-

Das Arbeitsrecht der DDR in der Retrospektive

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ligt. Demzufolge war die Zusicherung von gleichem Lohn rur gleiche Leistung3 durch das Wirtschaftssystem bedingt. Wenn es auch mit privatwirtschaftlichen Vorstellungen nicht übereinstimmt, wenn es auch eo ipso nicht effizient ist, so muß doch konsequenterweise angemerkt werden, daß rur eine nur mit staatlichem Eigentum arbeitende Wirtschaft die Tarifdifferenzierung allein unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Schwere, der geistigen Belastung, der Arbeitsumwelt usw. gerechtfertigt ist. Die unterschiedliche Produktivität der Betriebe, soweit sie durch den unterschiedlichen Ausstattungsgrad bedingt ist, muß innerhalb des gesamtvolkswirtschaftlichen Rahmens ausgeglichen werden. Somit konnte über den Tariflohnanspruch auch das tatsächliche Produktivitätsniveau nicht vermittelt und seine Erhöhung nicht beilirdet werden. Führt man diese Gedanken konsequent weiter, kommt man zu dem Ergebnis, daß durch die vorhandenen Rechtsnormen effizientes Handeln nicht bewirkt werden konnte, was aber nicht dem Recht - in diesem Fall dem Arbeitsrecht - sondern der fehlerhaften ökonomischen Grundkonzeption anzulasten ist. Für die im Betrieb vorzunehmende Normierung der Lohnformen war ausschlaggebend, daß durch das staatliche Planungs- und Abrechnungssystem eigene ökonomische Interessen sehr gering ausgeprägt waren. Das betriebliche Interesse bezog sich vorrangig auf die ErfUllung des Planes mittels des zugewiesenen Lohnfonds. Versuche der letzten Jahre, Lohnfondseinsparungen zu stimulieren, blieben wenig erfolgreich, da mit der Beeinflussung der Bezugsgröße auch über die Einsparungsmöglichkeit vorentschieden wurde. Anhand einer Vielzahl betrieblicher Untersuchungen (von 1979-1985) konnten wir eindeutig belegen, daß rur zugewiesene Lohnfondsmittel in jedem Falle eine Verwendungsmöglichkeit gefunden wurde. Verschärft wurde das Problem durch unterschiedliche Normensysteme rur Arbeiter und Angestellte. Bedingt durch die Marx'sche Theorie, daß nur produktive Arbeit einen Wertzuwachs erbringt und man in den ersten Jahren der DDR Produktivität nur der manuellen Arbeit zubilligte, existierten rur die Vergütung von Angestellten normative Lohngrenzen in Gestalt der sog. Von-BisSpannen der Tarife. Für die Arbeiterlohngruppen galten dagegen Fixbeträge, und die Kontrolle der Entwicklung des Mehrleistungslohnes erfolgte nur über die Fondszuweisung. Dazu kam, daß die Tarife in den produktiven Zweigen bis Ende der 70er Jahre und in anderen Volkswirtschaftsbereichen noch länger nicht verändert wurden. Somit vollzog sich die individuelle Lohnentwicklung allein über die betrieblichen Lohnformen, somit meist willkürlich und nur rur Arbeiter. Lohnerhöhungen fUr Angestellte waren nach Ausschöpfung der VonBis-Spanne nur gesetzwidrig oder durch "Aufwertung" der Tätigkeit möglich. Die Tatsache, daß Z.B. auf diese Weise die Arbeit eines Ingenieurs geringer entlohnt wurde als die eines Facharbeiters oder auch ungelernten Arbeiters, 3

§ 3 GdA, § 2 GBA, § 95 AGB.

2 Drobnig I Ramm

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Annemarie Langanke

trug wesentlich zur Minderung der Leistungsmotivation und zur gesellschaftlichen Abwertung der technischen Hochschulberufe bei. Zusammenfassend kann man feststellen, daß einerseits auf Grund der wirtschaftlichen Verhältnisse die leistungsfördernde Wirkung arbeitsrechtlicher Normen zum Arbeitsentgelt begrenzt war und diese andererseits auch durch ihre eigene Systematik den gesellschaftlichen Anspruch, eine gerechte Entlohnung zu gewährleisten, nie erftlllen konnten. Dieses ökonomische Dilemma zog auch soziale Spannungen nach sich, so daß politischer Handlungsbedarf entstand. Die sogenannte leistungsorientierte Lohnpolitik, die seit 1976 in mehreren Stufen in Industrie und Bauwesen zur Anwendung kam, war ein Versuch von vielen, die leistungshemmende Lohnstruktur zu verändern. Da jedoch weder die ökonomische Grundkonzeption noch das juristische Regelungssystem verändert wurden, war der Mißerfolg von Anfang an zu erwarten und trat auch ein. Starre, in ihrer Geltung unbefristete Tarife, verbunden mit jährlich planmäßig wachsendem Lohnfondszuwachs, waren ein Widerspruch in sich. Aus heutiger Sicht ist hinzuzuftlgen, daß ohne Veränderung in den ökonomischen Strukturen auch eine veränderte Rechtslage nur eine teilweise bzw. befristete Besserung der Situation hätte bewirken können. Selbst diese, seit 1980 regelmäßig vorgetragenen bescheidenen Versuche, zumindest die im Recht vorhandenen Hemmnisse der Leistungsentwicklung zu beseitigen, wurden aber von den politisch Verantwortlichen nicht akzeptiert. Wie in allen anderen Bereichen war auch in der Rechtsentwicklung in den letzten Jahren der DDR eine immer größere Starrheit zu verzeichnen. Im Gegenteil galten alle Ansätze zur Änderung rechtlicher Bedingungen gerade beim Arbeitsentgelt von vornherein als verdächtig. An der Erarbeitung von Normen zum Arbeitsentgelt waren schon seit Jahren keine Juristen mehr beteiligt. Sie wurden allein von Ökonomen verfaßt. WidersprUchlichkeit in sich, mangelhafte Anspruchsvoraussetzungen und viele andere Dinge gehörten fast zum Kennzeichen dieser Normativakte. Eine Situation, weIche fUr eine Gesellschaft, die das Primat der Politik vor anderen gesellschaftlichen Erscheinungen vertritt, fast unausweichlich ist. Besonderer Angriffspunkt war immer der Rechtsanspruch der Arbeitnehmer. Spätestens seit der Einftlhrung der leistungsorientierten Lohnpolitik nahm die Rechtssicherheit ab; es mehrten sich Normen, welche LohnansprUche von nicht überprUfbaren Individualentscheidungen verantwortlicher Leiter abhängig machten. Damit war einerseits den Arbeitnehmern die Möglichkeit genommen, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Andererseits waren die FUhrungskräfte der Erwartungshaltung der Arbeitnehmer ganz unmittelbar ausgesetzt. Letztlich fUhrte das dazu, auf der betrieblichen Ebene die Leistungsanforderungen noch weiter zu lockern.

Das Arbeitsrecht der DDR in der Retrospektive

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v. Zusammenfassung wesentlicher Charakteristika des Arbeitsrechts der DDR

Wenn auch in der hier zur Verftlgung stehenden kurzen Zeit nur punktuell darstellbar, lassen sich doch rur das gesamte Arbeitsrecht der DDR einige allgemeine Charakteristika ableiten: 1. Die ökonomische Basis rur das Arbeitsrecht der DDR war das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln. Die politische Entscheidung rur diese Eigentumsverhältnisse, welche aus sehr unterschiedlichen Motiven von der Mehrheit der Bürger akzeptiert wurden, bildete die Grundlage rur die rechtliche Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. 2. Seine Normen entstanden nicht völlig originär, sondern bauten auf dem System und den rechtlichen Kategorien des BGB und des Arbeitsrechts der Weimarer Zeit auf. Daneben existieren offensichtlich objektive Bedingungen rur einen arbeitsteiligen Prozeß, welche von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht beeinflußt werden, weil sie im wesentlichen von technischen und technologischen Erfordernissen abhängig sind. Deshalb findet man viele Übereinstimmungen formeller Art mit anderen (auch der bundesdeutschen) Arbeitsrechtsordnungen, aus denen aber nicht automatisch auf eine inhaltliche Übereinstimmung geschlossen werden darf; sie ist allerdings rur Einzelnormen auch nicht prinzipiell ausgeschlossen. 3. Neben diesen immerhin unter Sicht des Systems objektiven Voraussetzungen rur die Gestaltung des Arbeitsrechts wurden in der DDR auch Inhalte normiert, welche der willkürlichen Durchsetzung ideologischer Vorgaben dienten und keine Rechtfertigung in der eigenen ökonomischen Theorie hatten. 4. Die Rechtsanwendung wurde dadurch beeinflußt, daß die Zentralisierung des Eigentums beim Staat, verbunden mit der verbindlichen Vorgabe aller ökonomischen Parameter, die Entwicklung eines ausreichenden Interesses an wirtschaftlicher Effizienz auf Arbeitgeberseite verhinderte. Da andererseits der Staat eine Vielzahl seiner Fürsorgeaufgaben über die Betriebe realisierte, wurde der Leistungsaspekt des Arbeitsverhältnisses - besonders bei der Arbeitnehmern - mehr und mehr verdrängt. 5. Staatlicher Einfluß auf die Rechtsanwendung verfälschte auch nicht selten den Inhalt der Rechtsnormen. Für das Arbeitsrecht ist dabei weniger die Beeinflussung der Gerichte typisch als die unmittelbare Einwirkung auf die Betriebe. Sofern es zweckmäßig erschien, wurden Rechtsvorschriften nicht oder nicht normgerecht realisiert, wobei mit steigender Anzahl betroffener Arbeitnehmer deren materielle Interessen im Verhältnis zur Leistungsanforderung immer mehr Gewicht erhielten. 2"

Ulrich LohmannlThilo Ramm DAS ARBEITSRECHT DER DDR: ALTE ANSICHTEN HEUTE KRITISCH BESEHEN Vorbemerkung der Herausgeber

Das Referat zu diesem Thema hielt Dr. Ulrich Lohmann, damals MaxPlanck-Institut ftlr Sozialrecht, München. Er hat bei der Tagung eine Gliederung vorgelegt, die ftlnf Punkte umfaßte: 1. zur Anzahl und Entstehungszeit der Arbeiten 2. zum methodischen Selbstverständnis der Untersuchungen 3. zur Kodifiziertheit des DDR-Arbeitsrechts 4. zu inhaltlichen Aspekten (Partizipation, Sozialschutz, Produktivität) des Arbeitsrechts 5. die frühere Betrachtung des Arbeitsrechts der DDR durch westdeutsche Autoren zwischen Wissenschaft und Politik. Dr. Lohmann hat leider sein Referat den Herausgebern nicht zur Drucklegung überlassen. Die Veröffentlichung der Tagungsergebnisse wäre indessen ohne das westdeutsche Gegenstück zum Referat von Herrn Kunz unvollständig gewesen. Doch sind alle Versuche der Herausgeber gescheitert, von einem anderen Autor, der in der Alt - BRD die Thematik behandelt hatte, eine entsprechende Ausarbeitung zu erhalten. Daher haben die Herausgeber folgenden Ausweg gewählt: Es wird Martin Beckers kurze Zusammenfassung des Inhalts des Referats von Dr. Lohmann im Deutschland-Archiv I wiedergegeben. Sie wird durch Ausftlhrungen von Thilo Ramm ergänzt, die auf seinen Aufsatz "Von der deutsch-deutschen Rechtsvergleichung zur deutschen Rechtsverständigung" , Juristenzeitung 1987, 425 u. 485 zurückgehen und Teile seiner inzwischen veröffentlichten Darstellung der Entwicklung der bundesdeutschen Arbeits-

I

JZ. 1992,416 f.

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Ulrich Lohmannffhilo Ramm

rechtswissenschaft nach 1945 2 verwerten. Bei deren Überarbeitung schuldet der Verfasser Professor Dr. Klemens Pleyer, dem Nestor der westdeutschen DDRArbeitsrechtsforschung, rur wichtige Hinweise herzlichen Dank. Er ist sich dennoch bewußt, daß diese Ausruhrungen nicht mehr als eine allzu knapp geratene erste Skizze sein können. Dies gilt erst recht rur den Versuch des Rückblicks. Beider Zweck ist es, Fragen aufzuwerfen und dadurch die Diskussion über die Vergangenheit anzuregen.

Martin Becker: "Arbeitsrecht und Sozialrecht im vereinten Deutschland gestern, heute und morgen. .. In seinem Vortrag "Das Arbeitsrecht der DDR: Alte Ansichten heute kritisch besehen" ging Dr. Ulrich Lohmann (München) von einer dreiphasigen Entwicklung der rechtswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem DDR -Arbeitsrecht aus bundesrepublikanischer Sicht aus. In der ersten Phase sei die Beschäftigung mit dem Arbeitsrecht der "SBZ" in der Hauptsache von einer Kritik an den sozialen Zuständen getragen gewesen. Dabei habe die Gesamtrationalität des politischen und gesellschaftlichen Systems aus politisch- strategischen Gründen im Vordergrund gestanden, ohne daß die unterschiedlichen Rationalitätskriterien der beiden Staaten von der westlichen Literatur hinreichend beachtet worden seien. In der zweiten Phase, Anfang der siebziger Jahre, sei eine juristische Aufwertung der DDR im Hinblick auf die anstehenden Verträge zu verzeichnen gewesen. In der dritten Phase, die Dr. Lohmann mit dem Erlaß des Arbeitsgesetzbuchs der DDR beginnen läßt, sei zunehmend nach der Vorbildfunktion des DDR-Arbeitsrechts und dessen Übernahmemöglichkeit rur die Bundesrepublik gefragt worden, dabei sei allerdings der Produktivitätsaspekt des Arbeitsrechts auch im Westen zu spät in die Auseinandersetzung mit einbezogen worden. Bei einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Arbeitsrecht der ehemaligen DDR und der Frage nach den Widersprüchen in der Symbolik des DDR-Arbeitsrechts müsse davon ausgegangen werden, daß real kein Volkseigentum vorhanden gewesen, das Leistungsprinzip als Motivationsfaktor nicht anerkannt worden sei, Arbeitsvertragsfreiheit rur den Sektor der Arbeitszeit- und Lohngestaltung gefehlt habe, ebenso wie der staatliche Interventionismus aufgrund des staatsanwaltlichen Klagerechts zu einer zunehmenden Unfreiheitlichkeit geruhrt habe. Resumee seines Vortrages war die These, daß "die Betrachtungen der westdeutschen Literatur des DDR-Arbeitsrechts in erster Linie den Charakter von Rechtspolitik mit wissenschaftlichen Mitteln" gehabt habe.

Pluralismus ohne Kodifikation. Die Arbeitsrechtswissenschaft nach 1945, in: Dieter Siman, Rechtswissenschaft der Bonner Republik (1994) 4. 2

Das Arbeitsrecht der DDR: Alte Ansichten heute kritisch besehen

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Thilo Ramm: "Die Teilung Deutschlands im Spiegel der Arbeitsrechtswissenschaft "

l. Besatzungsherrschaft und "kalter Krieg" 1. Vor der Gründung der deutschen Teilstaaten

Das Arbeitsrecht während der Besatzungszeit - vor Zubilligung der beschränkten Souveränität an BRD und DDR - war aus vielerlei Gründen, vor allem wegen der materiellen Not, der Unübersichtlichkeit des Rechts und der Entnazifizierung, wissenschaftliches Brachland. Aus der spärlichen arbeitsrechtlichen Literatur dieser Zeit läßt sich kein Gesamtbild gewinnen. Immerhin ist zu erwähnen, daß Hermann Derschs "Textsammlung des Arbeitsrechts" (2 Teile 1948) das Recht aller Besatzungszonen einschließt. Die Auseinandersetzung innerhalb der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) war politischer Art und wurde durch die strikte antibürgerliche Entnazifizierung und die Unterstützung der Besatzungsmacht durch die Kommunisten geprägt, die die Verhaftung und Liquidierung ihrer politischen Gegner einschloß. Der "Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen" in Berlin befaßte sich mit diesen Vorgängen und bildete den Kristallisationspunkt für die Gesamtaufarbeitung der Verhältnisse in der Ostzone. Er blieb auch für die Zukunft zunächst bestimmend. 2. Nach der Gründung der deutschen Teilstaaten bis zum Abschluß der Ostverträge (J 971)

Da die Wiedervereinigung das erklärte Staatsziel der Bundesrepublik Deutschland war, gehörte zur Bundesregierung stets der "Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen", dem das "Institut für gesamtdeutsche Fragen" unterstand. Er gab 1953 die "SBZ von Abis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands" und als Gegenstück die chronologische "Übersicht über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands von 1945 bis 1953" heraus und schrieb sie regelmäßig fort 3• Insoweit, aber auch über Zeitschriften wie "Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme" (seit 1957), "Jahrbuch für Ostrecht" (seit 1960) und "SBZ-Archiv" (seit 1950, bis 1952 unter dem Namen "PZ-Archiv") und die "Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutsch land" wurde das Informationsbedürfnis der Allgemeinheit - und zwar bei Anforderung

Sie erschienen in hohen Auflagen (etwa das erste Werk in 100.000 Exemplaren bis zur 3. Aufl. von 1956), seit der 2. Aufl. mit Literaturhinweisen, 11. Aufl. 1965. Nachfolger war das DDRHandbuch (seit 1975).

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durch unentgeltliche Übersendung des erbetenen Materials - befriedigt. Später ging das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen zunehmend dazu über, die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten über die DDR durch Druckkostenzuschüsse zu ilirdem 4 • Pionier der Erforschung des Arbeitsrechts der SBZ und der Anfangszeit der DDR war Siegfried Mampe/, der, zunächst unter dem Pseudonym Alfred Leutwein, als Hauptabteilungsleiter im "Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen" mehrere Arbeiten, zumeist in den "Bonner Berichten aus Mittel- und Ostdeutsch land" , veröffentlichte. Es waren dies: Leutwein: Der Betriebskollektivvertrag in der SBZ (3. Aufl. 1957); Die Technische Intelligenz in der SBZ (1953); Die sozialen Leistungen in der SBZ und in Ost-Berlin (1956, 1961: Mitteldeutschland statt SBZ); (zus. mit Gerhard Haas) Die rechtliche und soziale Lage der Arbeitnehmer in der SBZ (5. Aufl 1959); Mampe/: Das Gesetzbuch der Arbeit der SBZ und das Arbeitsrecht der BRD ein Vergleich (hrsg. vom Bundesarbeitsministerium, 5. Aufl. 1962); (zus. mit Kar/ Hauck) Sozialpolitik in Deutschland (hrsg.vom Bundesarbeitsministerium Sozialpolitik in Deutschland H. 48, 1961); Beiträge zum Arbeitsrecht der SBZ (1963) und die Gesamtdarstellung "Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht in Mitteldeutschland" (1966). Als politisches Forum, das in zunehmendem Maße auch wissenschaftliche Fragen aufgriff und erörterte, diente das "Kuratorium Unteilbares Deutschland". An seinen Veranstaltungen konnte jedermann teilnehmen, der an der deutschen Frage interessiert war. Seit 1952 war ein aus Professoren bestehender Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung beim Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen tätig, der Grundlagenforschung betrieb, aber auch ein Sofortprogramm für das erste Jahr nach einer solchen Wiedervereinigung aufstellteS. Die Lehrbücher und Grundrisse des bundesrepublikanischen Arbeitsrechts übergingen das Arbeitsrecht der DDR zumeist stillschweigend (so Nikisch 1951 und Dersch 1957). Alfred Hueck erklärte dies damit, daß die Arbeitsrechtsent4 Dies bedeutet nicht, daß damit eine inhaltliche Einflußnahme verbunden war. Ich kann dies selbst berichten: Als ich die Rede zum zehnjährigen Gedenken an den 17. Juni 1953 im Rahmen eines hessischen Festaktes in Wiesbaden hielt und zum Schluß - was damals ungewöhnlich war und zu einer Großen Anfrage der CDU im Hessischen Landtag ftlhren sollte - dennoch zu Verhandlungen mit der DDR aufforderte, wurde die Veröffentlichung vom gesamtdeutschen Ministerium gefördert. Einzige Bedingung hierftlr war, das Wort DDR stets in Anftlhrungszeichen zu setzen - wogegen ich keine Bedenken hatte. S Er veröffentlichte ftlnf Tätigkeitsberichte, in denen er jeweils auch über die Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts der DDR berichtete. Vgl. über seine arbeitsrechtlichen Empfehlungen die Zusammenstellung von Klemens Pleyer, Das Arbeitsrecht der DDR auf dem Weg in die Marktwirtschaft: DWiR 1992, 229.

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wicklung in der Ostzone unter dem Einfluß der sowjetrussischen Ideen eine ganz andere gewesen sei und daher jede Rechtseinheit mit ihr verloren gegangen sei6 • In seinem zu Unrecht vergessenen "Reliefbild des Arbeitsrechts" (1952) gab Hermann Meissinger die rechtstheoretische Begründung, indem er den Trennungsstrich zwischen dem individualistischen, auf die Einzelpersonen des Arbeitsvertrags bezogenen Verständnis des Kollektivgedankens und dem "nationalsozialistisch- faschistischen und bolschewistisch-kommunistischen Totalkollektivismus" zog. Die Arbeitsrechtswissenschaft insgesamt hielt sich zurück, dies galt auch nach dem Bau der Berliner Mauer (12/13.8. 1961). Ein Unternehmen wie das der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Freiburg, "Die Lage des Rechts in Mitteldeutschland" (1965) darzustellen (mit Gustav-Ado/f Bulla "Die Entwicklung des Arbeitsrechts in der SBZ"), blieb vereinzelt. Die Erforschung des Arbeitsrechts der SBZ und der DDR wurde an den westdeutschen Universitäten allein von Klemens Pleyer und seinen Schülern Lieser und Lieser-Triebnigg7 betrieben8 . Auch die Assistenten-Revolte von 1968 hat daran nichts geändert. Die 68er haben keine Darstellung des Arbeitsrechts der SBZ oder der DDR veröffentlicht Das Arbeitsrecht der DDR blieb als Spezialproblem dem Max-Planck-Institut fUr ausländisches und internationales Sozialrecht in München vorbehalten ein Max-Planck-Institut rur Arbeitsrecht existiert bekanntlich nicht. II. Von den Ostverträgen bis zum Ende der DDR (1972-1991) 1. Der .. Systemvergleich"

Nachdem sich die politischen Großwetterlage durch den Abschluß der Ostverträge und des "Grundlagenvertrags" mit der DDR (21.12.1972) geändert Lehrbuch des Arbeitsrechts (6. Auf!. Bd. I 1956), 7f., 32f. Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden Pleyer, Zentral planwirtschaft und Zivilrecht (1965) und Pleyer/Lieser, Zentralplanung und Recht (1969); Grundfragen des mitteldeutschen Arbeitsrechts im Spiegel der Rechtsprechung: RdA 1967, 305; Zur Betriebsjustiz in beiden Teilen Deutschlands: Deutschland-Archiv 1968, 574. 8 Diese Namen tauchen, ebenso wie Mampel, immer wieder im Schrifttum auf. Weiterhin zu nennen sind Kleiner, Arbeitskräftelenkung in der Zentralplanwirtschaft: RdA 1971, 69, die Göttinger Diss. von A. Volze, Das "Sozialistische Arbeitsverhältnis in der Sowjetzone Deutschlands" (1963) und die Gießener Diss. von H-G. Fey, Selbstverwirklichung und Sicherheit durch Arbeit und Beruf nach den GG und der Verfassung der DDR (1982). 9 Die von mir ursprOnglich veranlaßte, aber nicht betreute (Bremer) Dissertation Heilmanns Ober das Arbeitsrecht der SBZ 0.1. (1973) ist unveröffentlicht geblieben. H. ist jedoch verschiedentlich als Rezensent in Erscheinung getreten.

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hatte und diese politisch aufgewertet worden war, wurde der Begriff "gesamtdeutsch" durch "innerdeutsch" ersetzt. 1975 wurde der Forschungsbeirat rur Fragen der Wiedervereinigung aufgelöst. Wissenschaftlich erfolgte der Schritt von der auf die DDR beschränkten Forschung, der isolierten "DDRologie", zum Vergleich der Gesellschafts-ordnungen der beiden deutschen Teilstaaten, dem gesamtdeutschen Systemvergleich. Er wurde im Rahmen der "Materialien zur Lage der Nation 1972" unter der FederfUhrung des Berliner Soziologen Ludz unternommen. Für das Arbeitsrecht wurde Bernd Rüthers gewonnen lO • Er stellte die entsprechenden Institutionen und Begriffe einander gegenüber, nachdem er zuvor die unterschiedlichen "system leitenden Fakten und Prinzipien" dargestellt und damit vorschnellen irrefUhrenden positivistischen Gleichsetzungen vorgebeugt hatte. Der mit Rüthers erreichte Forschungsstand wurde nicht fortgeschrieben 11, als das Arbeitsgesetzbuch der DDR von 1977 erlassen wurde. Das Arbeitsgesetzbuch fand allerdings größere Beachtung l2 • Sonst blieb es bei Textausgaben l3 und knappen Darstellungen l4 • Allenfalls punktuell ist das Recht der DDR bei der Erörterung des "Rechts auf Arbeit" berührt worden IS. 10 Er veröffentlichte seine Arbeit ein Jahr später in erweiterter Fassung ,,Arbeitsrecht und folitisches System" (1973). 1 Dies gilt auch fIlr die "Materialien" von 1987. Die Verfasser des knapp geratenen Abschnitts Arbeitsrecht waren der Nationalökonom Heinz Lampert fIlr die BRD und der Assistent Hartmut Zimmermann fIlr die DDR. Es blieb bei dieser GegenUberstellung, ohne den Versuch zu einer fameinsamen Begriffsbildung. 2 Vgl. zu diesem die Berichte in Rabe1s Z 1978,507 (H.J. Barteis), in der RdA 1978 (Lohmann 356 und Pleyer 351), Deutschland-Archiv 1977 (Lieser-Triebnigg 1268 ff.) und Sonderheft 1978, 39 (Mampe/), NJW 1978 (Mampel 520). 13 Von Lieser-Triebnigg (1985) und Lohmann (1987). 14 Von Brunner in dessen Einfllhrung in das Recht der DDR (1979) 120, Mampel im DDRHandbuch 1985,72, zuletzt von Richard Motsch, Der Schutz der Werktätigen im Arbeitsrecht der DDR, in: Rottmann u.a, Die DDR im Lichte der Grundrechte und der Rechtsstaatsidee (1988),89 und K. Westen, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht in der DDR, in: Innerdeutsche Rechtsbeziehungen (1988), 197. IS Vgl. M Bentele, Das Recht auf Arbeit in rechtsdogmatischer und ideengeschichtlicher Betrachtung (1949); H. M Pfarr, Zur Problematik des Rechts auf Arbeit. Exemplum: DDR: DuR 1 (1973) 124; M Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit (1974); Martin Martiny, Das Recht auf Arbeit in historischer Sicht, in: Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität (hrsg. v. Borsdorju.a.) FS Vetter (1977), 449; Peter Schwerdtner, Die Garantie des Rechts auf Arbeit - ein Weg zur Knechtschaft?: ZfA 1977; U. Achten u.a, Recht auf Arbeit - eine politische Herausforderung (1978); U. Scholz, Recht auf Arbeit. M Kittner, Recht auf Arbeit: oberster sozialstaatlicher Verfassungsgrundsatz. Verfassungsrechtliche Grundfragen, Möglichkeiten und Grenzen der Kodifikation in: Böclreriförde/Jelrewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte (1981), 91 und 75; Wank, Das Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht und im Arbeitsrecht (1980); Bauer, Arbeitsrecht und Recht auf Arbeit: RdA 1983, 137 f.; Sachverständigenkommission StaatszielbestimmungenlGesetzge-bungsaufträge 1983, 78; Thilo Ramm, Das Recht auf Arbeit und die Gesellschaftsordnung, in: Ry.ffellSchwartländer (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf

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Insgesamt gesehen wurde die Beschäftigung mit dem DDR-Recht etwas intensiver. Die Richterakademie in Trier veranstaltete einige Lehrgänge über das DDR-Recht. Bd. 4 ihrer Schriftenreihe enthielt einen Vergleich von zivil- und arbeitsrechtlichen Entscheidungen aus der BRD und der DDR. Der Königsteiner Kreis und das Studienzentrum fUr Ost-West-Probleme hielten Wochenendseminare ab. Die Friedrich Ebert-Stiftung veröffentlichte eine Reihe "Die DDR Realitäten-Argumente", die, teilweise auch vergleichend, das Recht einbezog l6 • Im "Kuratorium Unteilbares Deutschland" unternommene Versuche, das Recht des anderen deutschen Teilstaats umfassend als Teil eines Systemvergleichs oder als Wahlfach in den Rechtsunterricht einzubeziehen, scheiterten. 2. Beginn des innerdeutschen Gesprächs

Der Abschluß des Kulturabkommens zwischen BRD und DDR vom 6.5.1986 war die Zäsur. Thilo Ramm gab damals einen kritischen Rückblick auf die bisherige unzureichende Befassung mit dem DDR-Recht. Er forderte, die "sozio-ökonomischen" Tatbestände und das Recht nicht von einander zu trennen, wie dies die "Materialien zur Lage der Nation" getan hatten, und insbesondere fUr den Vergleich auch die juristischen Fächergrenzen zu überwinden l7 • Die Brücke zum "System vergleich" konnten die beiden internationalen Pakte von 1966 über bürgerliche politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte schlagen, die beide Teilstaaten unterzeichnet hatten. Allerdings hätte dies die Frage nach sich gezogen, ob und inwieweit das Arbeitsrecht auf freiheitliche und soziale Grundpositionen, auf Grundrechte zurückzufUhren ise 8 • Nach dem Abschluß des Kulturabkommens wurde ein deutsch-deutscher Arbeitskreis fUr Arbeitsrecht gegründet, dessen Ziel es war, zu einem wissenschaftlichen Gespräch zu gelangen, die rechtlichen Divergenzen offenzulegen und ein weiteres Auseinanderdriften zu verhindern. Er hat auch nach der Wie-

Arbeit (1983), 65; K. Westen, Das Recht auf Arbeit in den Prllrnissen sozialistischer Verfassungen, a.a.O. 135; B. Klees, Das Recht auf Arbeit - Bestandsaufnahme, Kritik, Perspektive (1984); P. HtJherle, Arbeit als Verfassungsproblem: JZ 1984, 345; Thilo Ramm, Das Recht auf Arbeit, in: Günter Ropohl, Arbeit im Wandel (1985), 27; Hans-Peter Schneider / Helmut Lecheler, Art. 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, VVdStRL 1985, 7 und 48. Vgl. ferner aus der Literatur der DDR Frithjof Kunz, Das Recht auf Arbeit (1988). 16 Als Grund wurde die Überfrachtung der juristischen Ausbildung angegeben. Doch hlltte sie der Bildung eines Wahlfachs nicht entgegengestanden. 17 Von der deutsch-deutschen Rechtsvergleichung zur deutschen Rechtsverständigung: JZ 1987, 425 und 484, zum früheren politischen Klima 426. 18 AaO. 484; ergänzend und ausfilhrlicher filr das Jugendrecht in: Das Jugendrecht der beiden deutschen Teilstaaten im Systemvergleich, in: Rottmann u.a aaO (Anm. 15),51.

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dervereinigung seine Arbeit, allerdings mit veränderten Zielsetzungen, fortgesetzt 19. 111. Der Blick zurück 1. Das lückenhafte Bild

Das Bild bundesrepublikanischer Befassung mit der Arbeitsrechtswissenschaft der SBZ und der DDR kann sicherlich noch vervollständigt werden. Ungeachtet der Bemühungen des Ministeriums rur gesamtdeutsche Fragen sind keineswegs sämtliche Publikationen, Vorlesungen und Seminare über die DDR erfaßt worden 20 . Auch bei Vollständigkeit würde indesssen das Bild nicht anders sein. Die in der Bundesrepublik betriebene Arbeitsrechtswissenschaft war die Arbeitsrechtswissenschaft der Bundesrepublik. Die Befassung mit dem Arbeitsrecht der DDR war in der BRD Sache einiger weniger Spezialisten gewesen. Die DDR fand im großen und ganzen nicht einmal die Beachtung, die der bundesrepublikanische Rechtsvergleicher den Rechtsordnungen anderer Länder zuteil werden ließ. Dies galt auch rur die Auseinandersetzung mit dem "Recht auf Arbeit", dessen Behandlung unter der Verkürzung der Grundrechtsbetrachtung auf die Durchsetzbarkeit durch die Rechtsprechung litt und das allenfalls noch ideengeschichtlich erörtert wurde - obschon das Arbeitsrecht der DDR seine Realisierung beanspruchte. 2. Der Einfluß der Politik

Der Einfluß der Deutschlandpolitik der Bundesregierung auf die wissenschaftliche Arbeit ist nicht zu leugnen. Zwar gab es keine Vorgaben rur die Wissenschaft. Doch schoben sich zunächst die offiziellen und offiziösen Darstellungen in den Vordergrund. Dies und deren massenhafte Verbreitung hatten zur Folge, daß die positivistisch durchaus gediegenen Schriften, die, wie ihre rückblickende Betrachtung zeigt, mit ihrer kritischen Einbeziehung der SBZund DDR-Wirklichkeit keineswegs ein unzutreffendes Bild zeigten, als propagandistisch angesehen werden konnten und wurden. Das Bestreben der Regierung, die DDR außenpolitisch durch Nichtanerkennung zu isolieren 19 Vgl. zu ihr den Bericht Ein Arbeitsvertragsgesetz: Der Entwurf des Arbeitskreises "Wiederherstellung der deutschen Rechtseinheit" der Fritz-Thyssen-Stiftung rur Arbeits- und Sozialrecht": unten S. 83 ff. 20 Zur Bibliographie vgl. Ramm, aaO (Anm. 18) 426 Anm. 5 und 427Anm. 27. Die Ermittlungen beruhten auf Fragebogen, die angesichts der damaligen Antipathie gegen Fragebogen nicht durchweg ausgerullt und zurUckgesandt ","orden sein durften.

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(Hallstein-Doktrin), und die Inkriminierung von Sozialisten und Sozialdemokraten während des "kalten Kriegs" wirkten sicherlich ebenfalls auf die Wissenschaft zurück, da sie dem Bestreben nach einer vorurteilsfreien Erfassung entgegenstanden. Der Grundlagenvertrag brachte insoweit eine Änderung. Doch blieb es bei einer Wissenschaftsförderung, wenngleich nunmehr unter anderen Vorzeichen. Da der Grundlagenvertrag, als Bruch mit der bisherigen Deutschlandpolitik, im Ausland als Verzicht auf die Wiedervereinigung aufgefaßt werden konnte und wurde, hätte es allerdings nahegelegen, mit Hilfe der Wissenschaft ein unmißverständliches Zeichen ftlr den Willen zur Einheit zu setzen. Es hätte auch in dem Angebot an die DDR bestehen können, die wissenschaftlichen Kontakte zu intensivieren. Dies ist indessen nicht geschehen. Die Sperrung der deutsch-deutschen Grenze war in mehrfacher Weise bedeutsam: Es entfiel die massenhafte Zuwanderung von DDR-Gegnern aus eigenem Erleben. Damit reduzierte sich die Möglichkeit, von der Wirklichkeit der DDR Kenntnis zu nehmen. Jede Betrachtung einer Ordnung von außen ist begrenzt, und dies gilt erst recht, wenn sich diese abschließt. Diejenigen, die diese Ordnung bekämpften und von der DDR in die BRD emigrierten, verloren den unmittelbaren Kontakt - ganz ähnlich wie die Emigranten in der Zeit des Nationalsozialismus. Zum anderen wurde seit dem Mauerbau die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit geringer, die bislang einen Hauptpunkt der Kritik gebildet hatte. Die DDR erlangte ein größeres Selbstbewußtsein. Auch aus ihren Normen konnte daher auf die Wirklichkeit zurückgeschlossen werden. 3. Das Versagen der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaft

Das Versagen der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaft beim Aufarbeiten des Rechts der DDR ist beschämend. Sicherlich können ganz banale Gründe daftlr angeftlhrt werden, wie die geringe Zahl von Arbeitsrechtswissenschaftlern und die Schwierigkeiten, sich in die neue Ordnung der BRD einzudenken und von der früheren deutschen Ordnung zu lösen, mit der die DDR frappierende Ähnlichkeiten aufwies. Dennoch war es ftlr die Rechtswissenschaft keineswegs selbstverständlich, sich auf die Bundesrepublik und ihre Probleme zu beschränken. Im Gegenteil hätte gerade im Zusammenbruch der nationale Gedanke als geistige Orientierung dienen können, um die Teilung Deutschlands durch die Besatzungsmächte zu überwinden. Dies war nicht der Fall. An die Stelle der nationalen Überheblichkeit der nationalsozialistischen Zeit trat nunmehr die Verleugnung der Nation. Nicht nur bei der älteren Generation, sondern auch und gerade bei der jüngeren blieb der Appell der Präambel des GG an das deutsche Volk, "in freier Selbstbestimmung die Einheit und

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Freiheit Deutschlands zu vollenden", so gut wie ungehört. Die Haltung der Regierung und die zweifellos vorhandenen politischen Ängste, vor allem vor den Russen, die, wie die Vorgänge im Osten - vom Umsturz in der Tschechoslowakei bis zur Liquidierung der ungarischen Revolution - zeigten, auch keineswegs unberechtigt waren, erklären vieles, aber nicht alles. Es wuchs eine Generation bundesrepublikanischer Wissenschaftler heran, provinziell verengt, ohne jedes nationales und geschichtliches Bewußtsein. Der Grund war, daß es keinen nationalen Impuls in der BRD gab, der die Beschäftigung mit dem Arbeitsrecht der DDR zu einem metajuristischen Anliegen hätte machen können. Es fehlte auch das rechtstheoretische Interesse und damit das Fundament, um der Gesellschaftskonzeption der DDR eine eigene Konzeption gegenüberzustellen und damit in eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über die richtige Ordnung einzutreten. Das Desinteresse an den Grundlagen des Rechts trat auch im Verhältnis zum Grundgesetz zutage, ungeachtet aller späteren Jubelfeiern. Ich weiß noch, und dies gilt wohl rur die Juristen meines Alters und die Generation der Kriegsheimkehrer, vielleicht sogar rur alle Juristen und Bürger, die nicht unmittelbar mit dem Verfassungsgeschehen befaßt waren, daß mich 1949 das Grundgesetz kalt gelassen hatte. Es war eben eine von den Besatzungsmächten initiierte und stark beeinflußte Verfassung, ein Provisorium, wenngleich es wie die vorangegangenen Landesverfassungen auch als Modell rur das ganze wiedervereinigte Deutschland gedacht war; der Begriff transitorisch kennzeichnete den Kompromiß. Es gab auch deshalb keine wissenschaftliche Unbefangenheit gegenüber der DDR-Wissenschaft, weil das politische Selbstverständnis fehlte, dessen Wurzel die Bejahung des eigenen deutschen Teilstaats hätte sein müssen - und es war auch und gerade wegen des Mißtrauens gegenüber der Deutschlandpolitik der Bundesregierung nicht gegeben. Eine stärkere innere Beziehung zur BRD ist erst nach dem Angriff der 68er Bewegung entstanden, die die Fronten klärte. Indessen hat sich auch danach jenes sentimentale Substitut, das als "Verfassungspatriotismus" charakterisiert worden ist, als zu schwach erwiesen, um offensiv die Freiheit zu vertreten. Ein weiteres Manko gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Der Jurist der BRD hätte besser mit der DDR umgehen können, wenn er sich mit dem Nationalsozialismus befaßt hätte. Denn das eine totalitäre Regime erleichtert das Verständnis des anderen. Aber dem stand die Tabuisierung dieser Vergangenheit im Wege.

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4. Das sozialstaatliehe Defizit

Verglichen mit der Weimarer Verfassung und den Landesverfassungen fehlte, und dies war gerade das Provisorische am Grundsetz, diesem die soziale Komponente völlig. Man wollte die komplizierte Materie rur die Wiedervereinigung aussparen und insbesondere sich nicht mit den Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Sozialdemokratischen Partei auseinandersetzen. Diese Unterlassung, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Inkraftsetzen der Koalitionsgarantie und der Tarifautonomie teilweise korrigierte, hätte den Arbeitsrechtier der BRD bei der Darstellung des DDR-Rechts oder bei Dialogen mit Arbeitsrechtlem der DDR in Schwierigkeiten gebracht. Diese vermochten konkret auf einige unbestreitbare Vorzüge ihres Rechts, auf die seit 1896 immer wieder, später auch in der BRD, versprochene und dann nur in der DDR erfolgte Kodifikation des Arbeitsrechts, auf die soziale Absicherung im Arbeitsverhältnis, auf die Verbindung von Berufstätigkeit der Frau und Mutterschaft und auf die Verwirklichung des Rechts auf Ausbildung hinzuweisen. Fragwürdigkeiten, wie die Berechtigung der Aufteilung von Arbeitsrecht und Beamtenrecht in der BRD hätten aufgeworfen werden können. Diesem Dialog konnte der Jurist nicht dadurch ausweichen, daß er auf deren höheren Lebensstandard hinwies. Der brave Positivist der BRD hätte dann tun müssen, was er bislang mit Erfolg vermieden hatte: sich den Grundsatzfragen stellen. 5. Die Abneigung gegenüber der DDR

Anderes war weniger spektakulär, aber auch von Bedeutung. Es bestand ein gerütteltes und, auch retrospektiv gesehen, keineswegs unberechtigtes Mißtrauen gegenüber der DDR: Mißtrauen gegenüber Unterwanderungen, Mißtrauen aber auch deshalb, weil man der Freiheit als Lebensordnung nicht hinreichend vertraute. Es bestand eine tiefe Abneigung gegen die KPD und spätere SED, weil sie teils getreue Vollstreckerin fremden, sowjetrussischen Willens war, teils sich aber auch in ihrer behaupteten Eigenständigkeit auf Sowjetrußland stützte, bis sie nach dem Entzug dieser Hilfe zusammenbrach - war nicht doch SBZ die richtige Charakterisierung gewesen? Und was war eigentlich anziehend an der DDR mit ihrem polizeistaatlichen Gehabe und der bis in jede Kleinigkeit wie der Bewirtschaftung von Restaurantplätzen reichenden Tradierung des Obrigkeitsstaates, die die BRD überwunden hatte? Wer das Auto rur den Transit nach Berlin benutzte, konnte den Eintritt in die DDR nicht ohne Grund mit dem in ein großes KZ vergleichen. Was bot die Wissenschaft der DDR eigentlich: Marx-, Engels-, Lenin- und Stalinzitate, Klassenkampfparolen, ein gröblich falsches Bild der deutschen Geschichte und der Geschichte der BRD? Nicht einmal die Darstellung der

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eigenen Rechtsentwicklung leistete sie. War sie denn mehr als die Wiedergabe des gerade geltenden Gesetzestextes?21 Lohnte sich das Gespräch mit einem Kollegen auf einem internationalen Kongress und, andererseits, geflihrdete man ihn dadurch nicht? Auch die menschliche Unbefangenheit ist eine unerläßliche Voraussetzung rur die wissenschaftliche Diskussion.

6. Undjetzt? Die Retrospektive ist auch eine Frage an die Zukunft. Die Annahme des Arbeitsrechts der BRD durch den Beitritt der DDR hat die Probleme nur scheinbar, aber nicht wirklich gelöst. Die Fragen haben sich ausgeweitet und die Antworten sind nur zum Teil einfacher geworden. Was schon nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistische Herrschaft wissenschaftlich ohne weiteres zu leisten gewesen wäre, ist jetzt möglich: Der ideologische Kleister der ehemaligen DDR, die Identifikation von Einzelnem und Allgemeinem jene Herrschaftsideologie, die in allen Ordnungen das Öl der Machtscharniere darstellt - kann weggewischt werden. Das Arbeitsrecht der DDR bedarf der Aufarbeitung, der Darstellung seiner spezifischen Schwächen und deren Rückwirkung auf die Wirtschaft und des Begreifens als einer Herrschaftsordnung. Der Rechtstheoretiker wird klar die Frage stellen, die sich bereits in der SBZ abzeichnete: Wenn wirtschaftliche und politische Macht zusammenfallen, dann bedarf es doch um so mehr eines starken Arbeitsrechts und des Rechtsstaates als Gegengewichte gegen die Potenzierung von Herrschaft? Vom Recht auf Arbeit und von der Pflicht zur Arbeit als den zentralen Rechtspositionen konnte und kann das Arbeitsrecht der DDR erfaßt und als eine wichtige und sogar als prägende Teilordnung angesehen werden. Doch gehört ebenso sein Zusammenhang mit der Planwirtschaft ins Gesamtbild, wie es auch Teil einer Herrschaftsordnung war. Der Vergleich des Arbeitsrechts der DDR mit dem Arbeitsrecht des nationalsozialistischen Staates als dem zweiten deutschen totalitären Staat wird seine Entschlüsselung erleichtern und umge21 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Das damalige Bild der DDR-Wissenschaft

nach außen bedarf nicht nur der Überprüfung auf vollständige Erkennbarkeit und einige Voreingenommenheit, sondern auch der Ergllnzung durch das damalige Eigenverständnis der DDR-Wissenschaftler. Aufschlußreich ist es, wenn Uwe-Jens Heuer, Rechtsverständnis der DDR, in Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit (1995), S. 66 der Charakterisierung der DDR-Richter als Sozialarbeiter und ihres ,juristischen Stils (als) bescheidener, unkritischer, konzilianter und kooperativer als der der West-Juristen" beipflichtet. Aber traf dies nicht auch auf die Wissenschaft ebenso zu? Vgl. dazu auch Delle! Jose/, Rechtswissenschaft und SED, aaO. 549. Es fehlt auch eine soziologische Studie wie etwa Thilo Ramm, Zur Soziologie der Arbeitsrechtswissenschaft in: Meinhard Heinze und Alfred S6l/ner (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewährung. Festschrift rur RudolfKissel (1994),915.

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kehrt seine Analyse das Verständnis der nationalsozialistischen Vergangenheit. Beide sind Teil der deutschen Geschichte und müssen in deren Zusammenhang gestellt werden. Übereinstimmungen des Arbeitsrechts der DDR mit den nach 1945 entstandenen westdeutschen Landesverfassungen dürfen allerdings nicht übersehen werden. Und ebenso verdient die Zeit nach der Wende, jene kurzfristige Epoche, in der es schien, daß die DDR selbständig in einer deutsch-deutschen Föderation existieren könne, genaue Betrachtung. Das Arbeitsrecht der DDR ist mit dem Arbeitsrecht der BRD gemeinsam aufzuarbeiten. Denn beide arbeitsrechtliche Entwicklungen sind auf einander bezogen. Dies gilt auch und gerade rur die Problematik der sozialen Grundrechte, die in der BRD zu kurz gekommen ist. Die DDR lehrt, daß ein Synallagma auch in der Beziehung von Individuum und Staat besteht: Der Preis rur die Anerkennung des durchsetzbaren Anspruchs auf Arbeit ist dabei nicht nur die Pflicht zur Arbeit, sondern auch die Einschränkung der freien Wahl der Ausbildung. In einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung taugt das "Recht auf Arbeit" allerdings nur als begriffliche Zusammenfassung der Rechtspositionen des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber und zugleich, wie schon nach der WRV, der zusätzlichen Ansprüche gegen die Allgemeinheit auf Hilfen bei Umschulung, Arbeitslosigkeit usw. Es dient als Meßstab, um eine Ordnung zu bewerten. Die gemeinsame Aufgabe bedeutet gemeinsame Arbeit. Ihr stehen keine Verständigungsschwierigkeiten entgegen. Dies hat sich bei dem deutsch-deutschen Arbeitskreis gezeigt. Eine mehrhundertjährige gemeinsame Rechtsvergangenheit wird nicht durch vierzig Jahre beseitigt. Es bedarf des intensiven Gesprächs, nicht der einseitigen oder wechselseitigen Anklage und erst recht nicht der nostalgischen Verklärung böser Vergangenheit. Es gilt vor allem, die Fakten aufzuklären und im Urteil gerecht zu sein: Die meisten Menschen passen sich der bestehenden Ordnung an, und dies gilt auch und gerade rur die Juristen.

3 Drobnig/Ramm

Frithjof Kunz

DAS ARBEITSRECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND: ALTE ANSICHTEN HEUTE KRITISCH BESEHEN

1. Maßstäbe ftir das Wagnis eines rückblickenden Urteils 1. Objektive und subjektive Probleme sachlichen Wertens

Das Ziel der 11. Fachtagung der Fachgruppe Rechtswissenschaft ist weitgesteckt. Gilt es doch, aus dem Begreifen des Werdens, des Bestehens und Vergehens deutschen Arbeitsrechts - wozu ich auch das der in der Bundesrepublik aufgegangenen Deutschen Demokratischen Republik zähle - zu guten Wegen zur Entwicklung des Arbeitsrechts der (nunmehr "vereinigten") Bundesrepublik Deutschland de lege ferenda zu kommen, zumindest aber zu helfen, es im wünschenswerten Maße im täglichen Leben umfassender zu verwirklichen. Bei aller gebotenen Rückwendung einzelner Referate, so des mir übertragenen, geht es letztlich doch darum, auch mit Hilfe der Ausgestaltung und Anwendung des Arbeitsrechts zur Bewältigung der vor uns in Deutschland und Europa stehenden Probleme beizutragen. Die Tagung befaßt sich also - um die Wortwahl eines Buchtitels aufzugreifen l - mit dem Arbeitsrecht ftlr die neunziger Jahre auch dann, wenn sie von dem der ftlnfziger bis achtziger spricht. Eine sachliche Bilanz des Vergangenen ist unerläßlich, um solide Zukunftsforschung betreiben zu können. Zunächst möchte ich das Verdienst der Veranstalter würdigen, ftlr den Versuch einer solchen Bilanz Anstoß und Rahmen gegeben zu haben. Sicher wird dieser Versuch nicht emotions los sein; dennoch sollte das getroffene Urteil stets auf nachprüfbare Fakten gestützt sein. Es kann nicht darum gehen, alte Vorurteile zu bewahren, oder neue an deren Stelle zu setzen. Wenn diese anzustrebende solide Grundlage ftlr Wertung nicht oder doch noch nicht in dem erforderlichen Umfang vorliegen sollte, wäre es von Nutzen, auch dies kundzutun. So werden heute leider noch in mancher Hinsicht Hypo-

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Vgl. K. Adomeit, Arbeitsrecht rur die neunziger Jahre (München 1991).



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thesen statt fundierter Urteile dargelegt. In meinen folgenden Gedanken werde ich dazu an mehr Stellen, als es mir lieb ist, genötigt sein. Dazu trägt auch eine bedauerliche Tatsache bei, auf die der die Vergangenheit des Arbeitsrechts in Deutschland Analysierende sogleich stößt: Trotz mancher haupt- und nebenamtlicher Beschäftigung mit dem Arbeitsrecht entweder der beiden deutschen Staaten oder des jeweils anderen deutschen Staates steht, soweit ich sehe, eine eigentliche, diese Bezeichnung verdienende Geschichte des Arbeitsrechts sowohl der Bundesrepublik Deutschland als auch der Deutschen Demokratischen Republik, jeweils filr einen dieser Staaten verfaßt, noch aus. Noch besser, weil aufschlußreicher und anregender, aber natürlich auch schwieriger, wäre freilich eine zusammenfassende und vergleichende Studie der Geschichte des Arbeitsrechts beider deutscher Staaten, von der Spaltung Deutschlands bis zur Vereinigung. Auf diese werden wir wohl noch längere Zeit warten müssen. Sie ist aber nichtsdestoweniger außerordentlich wünschenswert. Der Weg ins vereinte Europa entbindet nicht von der Aufarbeitung deutscher Arbeitsrechtsgeschichte, sondern vermag den Gang dahin eher zu erleichtern. Für die DDR stand bei deren Beitritt zur Bundesrepublik eine dem Stand der Geschichts-, aber auch der Staats- und Rechtswissenschaft entsprechende publizierte Geschichte des Arbeitsrechts nicht zur Verfilgung, wenn man von dem nützlichen, aber doch sehr knappen Kapitel über die Herausbildung und Entwicklung des Arbeitsrechts der DDR bis zum Erlaß des 1977er Arbeitsgesetzbuchs aus der Feder von Harry Bredernitz und Peter Sander absiehe. Die letzten Monographien zur Historie des Arbeitsrechts in Deutschland insgesame sowie der DDR gesondert4 erschienen dort in der zweiten Hälfte der filnfziger Jahre. Danach fmdet man nur Würdigungsartikel zu Jahrestagen, von denen der letzte in den historischen Wendetagen des Oktober 1989 erschienen ists. Ähnlich scheint die Geschichte des Arbeitsrechts der Bundesrepublik noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu harren, wenn ich beim Überblick über die Literatur nicht ein wesentliches Werk übersehen habe6 • Dies gilt nicht nur 2 Vgl. Autorc:nkollektiv unter Leitung von F. Kunz und W Thiel, Arbeitsrecht - Lehrbuch (3.

Aufl. Berlin 1986) 454 ff.

3 Vgl. F. KunzlW Tippmann, Die Entwicklung des Arbeitsrechts in Deutschland (Berlin 1956). 4 Vgl.

R. Schneider, Die Geschichte des Arbeitsrechts in der Deutschen Demokratischen Republik

1957). Vgl. F. Kunz, Vier Jahrzehnte Arbeitsrechtsschöpfung durch und rur die Werktätigen: NJ 1989, 403 ff. 6 So: F. Gamillscheg, Begriff und Geschichte des Arbeitsrechts, in: Prüfe Dein Wissen, Arbeitsrecht I, Individual arbeitsrecht, (7. Auflage, München 1987), 1 ff.; sehr kurz z.B. (17 Zeilen) zur Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg, in: G. Halhach/H Mertens/R. Schwedes/O. Wlotzke, Übersicht über das Recht der Arbeit (3. Aufl. Bonn 1989) 29 Zeilen und A. Söllner, Grundriß des Arbeitsrechts (10. Aufl. München 1990) 16 Zeilen. ~Berlin

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rur Bücher von Autoren der Bundesrepublik, sondern auch rur die der früheren DDR. So enthält das genannte Lehrbuch zwar einen Abriß der DDR-Arbeitsrechtsgeschichte, nicht aber der der Bundesrepublik. Natürlich gibt es auch in der Bundesrepublik, z.T. sogar in der DDR veröffentlichte geschichtliche Arbeiten zu einzelnen arbeitsrechtlichen Komplexen wie etwa dem Koalitionsreche, dem Recht auf ArbeitS, oder zu anderen Rechtsinstitutionen wie etwa dem Arbeitsschutz- oder dem Arbeitszeitrecht. Dennoch muß eine zusammenfassende Geschichte der Arbeitsrechts der Bundesrepublik von 1948 bis 1990, also vor der deutschen Einigung, noch geschrieben werden. Dieses Fehlen historischer Werke, die aussagekräftig über Vorzüge und Nachteile von Arbeitsrechtsentwicklung berichten, betrachte ich als einen objektiven Faktor, der es einem aus der früheren Deutschen Demokratischen Republik kommenden Arbeitsrechtswissenschaftler erschwert, das Arbeitsrecht der Bundesrepublik zu werten. Wer stets in diesem anderen deutschen Staat gearbeitet hat, mit dessen Rechtsentwicklung verbunden war und die der Bundesrepublik nur als, wenn auch sehr interessierter Nachbar verfolgt hat, wird auch nach der Vereinigung immer noch rur gewisse Zeit in Bezug auf den Gehalt dieser Geschichte, auf ihre Triebkräfte und Anstöße in gewisser Weise von außen diese Entwicklung betrachten. Ein anderer hemmender Faktor ist sowohl inhaltlicher als auch methodischer Art. Er besteht darin, daß zwar begonnen wurde, über die Methodik deutschdeutschen Rechtsvergleichs nachzudenken. Dazu hat Thilo Ramm wesentliche Grundlagen und Denkanstöße gegeben 9 • Hierzu zählen seine Hinweise auf die Notwendigkeit, die juristischen und die soziologischen Gesamtverfassungen in den Vergleich einzubeziehen. Ebenso hat sein Gedanke, die anerkannten Regeln des Völkerrechts als wesentlichen inhaltlichen Maßstab, als tertium comparationis zu nehmen, den konkreten deutsch-deutschen Arbeitsrechtsvergleich befruchtet. Sie haben darüber hinaus einen starken Impuls rur sehr aktuelle und lebensnahe Beiträge zur Vorbereitung der Vervollkommnung deutschen Arbeitsrechts durch namhafte Arbeitsrechtstheoretiker aus beiden Teilen Deutschlands gegeben. Diese Grundgedanken und viele andere praktikable Hinweise werden auch bei der Lösung der unserer Tagung gestellten Aufgaben von Nutzen sein. Vor allem werden sie ernsthaftere und gründlichere BeschäfVgl. W Däub/er, Der Kampf um die Koalitionsfreiheit - Historische und aktuelle Bedeutung, in: W Dtiub/er, Das Arbeitsrecht l!Leitfaden rur Arbeitnehmer (11. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1990) 64 tr. S Vgl. u.a. H. Henning, Sozio-ökonomische HintergrUnde der Realisierungsversuche des Rechts auf Arbeit, in: H. RyffellJ Schwart/tinder (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit (Kehl am RheinlStraßburg 1983) 53 sowie Th. Ramm, Das Recht auf Arbeit und die Gesellschaftsordnung, ebenda, 64 tr. 9 Vgl. Th. Ramm, Von der deutsch-deutschen Rechtsvergleichung zur deutsch-deutschen Rechtsverständigung: JZ 1987,425 tr. sowie 484 tr. 7

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tigung mit dieser Thematik, die, wie ausgefilhrt, nach wie vor - über diese Tagung hinaus - dringlich ist, beilirdern. Leider wurden diese Denkanstöße erst zum Ende des Nebeneinanderbestehens der beiden deutschen Staaten publiziert. Dies sehe ich nicht als einen Zufall. Sie erschienen, als auch eine Chance bestand, solche Gedanken nicht unter dem Zwang zu billiger Polemik gegen das Arbeitsrecht des anderen Staates oder voreingenommener Lobhudelei des eigenen erproben zu können. Sie haben dann aber unter dem Druck und Tempo der geschichtlichen Ereignisse schon nicht mehr zu einer überprüfenden Diskussion gefilhrt. So ist auch heute noch kein gesicherter Maßstab sowohl filr einen intersystemaren Vergleich als auch filr die Wertung der einer anderen antagonistischen oder doch wesensmäßig verschiedenen Gesellschafts- und Staatsordnung zugehörigen Arbeitsrechtsordnung allgemein anerkannt lO • Mancher mag sich vielleicht dadurch zu helfen suchen, daß er meint, heute gehe es ja um die Wertung keiner anderen, sondern quasi einer in der eigenen aufgegangenen Rechtsordnung. Dann aber würde ein solches Bemühen an Wert einbüßen. Das Nützliche kann sich erst dann einstellen, wenn das Urteil von gestern aus ähnlicher Sicht, aber mit den Einsichten von heute neu überprüft wird. Schließlich ist auf eine subjektive Schwierigkeit aufmerksam zu machen, die eine Wertung erschwert. In der Deutschen Demokratischen Republik wurden bisher diejenigen Teile des bundesdeutschen Rechts gewertet, die vom Gesetzgeber selbst entsprechend seinem verfassungsmäßigen Auftrag geschaffen wurden. Weitgehend ausgeklammert, obwohl, oder besser: gerade weil sie die eigentlichen Wohlstandsseiten des bundesdeutschen Arbeitsrechts regelten, waren die tarifvertraglieh vereinbarten arbeitsrechtlichen NormenlI. Eine Wertung des Arbeitsrechts des anderen deutschen Staates erfordert aber, nicht nur einzelne Normenkomplexe, nicht nur einzelne seiner Ausdrucksformen, sondern seine Gesamtheit in Rechnung zu stellen. 2. Die Wechselwirkung gesellschaftlicher, staatlicher und rechtlicher Faktoren

Bei jeglicher Wertung von Rechtsordnungen besteht eine Gefahr, zu unzutreffenden Schlüssen zu gelangen, darin, die Rechtsnormen filr sich zu betrachten, sie nicht vor und in ihrem gesellschaftlichen und staatlichen Hintergrund Vgl. dazu F. Kunz, Arbeitsrecht und Vereinigung beider deutscher Staaten: WSI-Mitteilungen, 1990, 308 tT. und ähnlich H. Oetker, Das Arbeitsgesetzbuch zwischen rechtshistorischem Relikt und Vorbildfunktion flIr den gesamtdeutschen Gesetzgeber: NJ 1991, 147 ff., insb. FN 30. 11 Vgl. den Hinweis auf die Aussparung des Tarifvertragsrechts und dessen Folgen in F. Kunz, Buchbesprechung zu: M PremßlerlA. Ondrusch. Kampf um soziale Rechte in der BRD - Eine aktuelle Analyse: StuR, 1986, 829 ff. 10

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und in der Wechselwirkung mit ihm zu untersuchen l2 • Häufig trifft man die Aussage an, die Nonnen seien ihrem Wortlaut nach zwar gut, aber sicherlich würden sie nicht so durchgesetzt. Solche Vennutungen bleiben dann nicht überzeugend, wenn daftlr nicht Beweise oder doch Verdachtsgründe angeftlhrt werden können. Dagegen ist es durchaus legitim, die gegebene Rechtsordnung als Objekt der Wertung in ihrem Funktionieren innerhalb einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen. So ist es nicht zweckmäßig, Vorschriften einer Planwirtschaftsordnung einfach deswegen als verfehlt anzusehen, weil sie in einer sozialen Marktwirtschaft kontraproduktiv wirken, und umgekehrt. Wertungen müssen dem Wesen der Gesellschafts- und Staatsordnung Rechnung tragen, um deren Arbeitsrecht es sich handelt. Natürlich darf dies nicht unkritisch erfolgen, sondern vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts als des allgemein anzulegenden Maßstabs. Wertungen sollten die jeweiligen Regelungen aus dem Wirken der ökonomischen und sozialen Interessengruppen, aus deren bewegenden Interessen, aus dem jeweiligen politischen Kräfteverhältnis ableiten und deren Rückwirkung darauf prüfen. Sie sollten beim Arbeitsrecht darauf geprüft werden, wie weit sie den sozialen Frieden förderten oder gefilhrdeten. Sie sollten auch aus der Entwicklung der Produktivkräfte und in ihrer Rückwirkung darauf gesehen werden. Es sollte festgestellt werden, wie sie dem Schutz der Arbeitnehmer, aber natürlich auch der Wettbewerbsfilhigkeit des Arbeitgebers gedient haben. Alles dies ist bei einer Einschätzung der materiellen und fonnellen Garantien ftlr die Rechtsverwirklichung in die Analyse einzubeziehen usw. So soll hier bereits eingangs unterstrichen werden, daß das bundesdeutsche Arbeitsrecht unter dem Aspekt seines Wesens als typisches Arbeitsrecht einer rechtsstaatlich organisierten Ordnung der sozialen Marktwirtschaft deutscher Traditionslinie vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gewertet wird und die seinerzeit in der DDR hierzu getroffenen Aussagen ebenfalls danach beurteilt werden, inwieweit sie nach diesem Maßstab als sachliche Aussage zu betrachten sind. Die heutige Wertung erfolgt also vor dem Hintergrund der ftlr das Arbeitsrecht geltenden allgemein anerkannten und auch von der Bundesrepublik (wie ebenso vielfach durch die DDR) ratifizierten Regeln des Völkerrechts. Dies sind vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und die beiden großen 1966er UNO-Konventionen über die Menschen- und Bürgerrechte, nämlich einmal die Internationale Konvention 12

Vgl. zu Maßstäben fUr Rechtsvergleichung und damit auch Wertung von Rechtsordnungen Th.

Ramm (oben FN 9), 484.

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über zivile und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 und die Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom gleichen Tage, beide von der Bundesrepublik ratifiziert. Weiter zählen hierzu die ratifizierten, in gewissem Umfang auch die nichtratifizierten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation 13. Schließlich sind die verbindlichen Nonnen der Europäischen Sozialcharta wie die der Europäischen Menschenrechtskonvention wie auch die Verordnungen der Organe der Europäischen Gemeinschaften bedeutsam 14. Insgesamt aber wird in diesem Kontext der entscheidende Gradmesser rur eine positive oder negative Würdigung des Arbeitsrechts der Bundesrepublik darin zu suchen sein, wie es deren staatliche, wirtschaftliche und soziale Stabilität geilirdert hat, wie es vor dem Hintergrund des Völkerrechts grundlegende Menschen- und andere Grundrechte verwirklichen half, wie es Wirtschaftswachsturn und realen Lebensstandard, zu dem wesentlich die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu rechnen sind, begünstigte oder behinderte, wie es die Rechtssicherheit in der Arbeit gewährleistete und den Koalitionen das Koalitions- und Arbeitskampfrecht sowie die Tarifvertragsfreiheit sicherte und eine angemessene Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb vorsah. Schließlich halte ich rur beachtlich, auch einzubeziehen, wie sich harmonisch oder voneinander wenig beeinflußt Arbeitsrecht und Sozialrecht entwickelt haben. Erst danach frage ich dann nach der Rechtskultur, der Überschaubarkeit und Handhabbarkeit des Arbeitsrechts insgesamt und in seinen wichtigsten Bestandteilen. In diesem Zusammenhang geht es auch darum zu wissen, inwieweit die Koalitionen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch die unmittelbar betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber selbst Gelegenheit hatten, ihre Ansichten in die Gestaltung und Durchsetzung des Arbeitsrechts einzubringen. 3. Gesetztes und sanktioniertes, aber auch das - in der DDR nur in Ansätzen bekannte - Richter- und Wissenschaftlerrecht als Bestandteile der zu beurteilenden Rechtsordnung

Eine rur den Juristen, mehr noch natürlich rur den einfachen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in den neuen Bundesländern weitgehend neue Erscheinung ist das Bestehen des Richterrechts in der Bundesrepublik. Die Tatsache ist zwar in der DDR von den Rechtswissenschaftlern grundsätzlich zur Kenntnis genommen worden. Ein Anstoß darur war u.a. der von Bernd Rüthers im Oktober

13 Vgl. zum internationalen Arbeitsrecht die Erläuterungen und Texte in: W. Däubler/M Kiuner/K. Lörcher (Hrsg.), Internationale Arbeits- und Sozialordnung (Köln 1990). 14 Vgl. zum Europarecht: P. HanauiK. Adomeit, Arbeitsrecht (9. Aufl. FrankfurtlMain 1988) 46; K. Agnielli und andere, Die Europäische Sozial charta, (Baden-Baden 1978) sowie W. Däubler und andere, Sozialstaat EG - Die andere Dimension des Binnenmarktes, (GUtersloh 1989).

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198 I in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte polemische Beitrag, in dem er vor einer breiten Öffentlichkeit in blendendem Stil die Abdankung des Gesetzgebers im Arbeitsrecht angesichts der Einstellung der Arbeiten am AGB-Entwurfbeklagte ls . Als eine Folge wies er auf das sich immer weiter ausbreitende Richterrecht hin. Dieser Artikel zog dann ebenfalls in der FAZ einen rechtfertigenden Artikel des BAG-Präsidenten Olto Rudolf Kissel nach sich. In ihm verwies dieser auf die Zwangslage der Gerichte, den vom Gesetzgeber offen gelassenen Regelungsraum ruHen zu müssen. Gewiß wird wohl keine Rechtsordnung ohne Richterrecht auskommen, dem bei der Verwirklichung des gesetzten Rechts eine präzisierende und insoweit auch gestaltende Rolle zukommt. Indes ist ftlr einen DDR-Bürger früher nicht recht vorstellbar gewesen, welchen Umfang das Richterrecht im Arbeitsrecht der Bundesrepublik tatsächlich einnimmt. Dies scheint auch heute, eine Bewertung vorwegnehmend, mit der reinen Lehre von der im Grundgesetz vorgezeichneten Gewaltenteilung nicht vollständig und zufrieden stellend vereinbar. Nachdem die Gerichte in dem daftlr erforderlichen Zeitraum durch ihre Urteile dem Gesetzgeber die Materie rur die Schaffung der Regelung vorbereitet haben, dürfte sich dieser nach den im Grundgesetz enthaltenen Grundsätzen der Gewaltenteilung seiner Verantwortung nicht entziehen. Freilich mag das politische Kräfteverhältnis im Parlament, die vor Wahlen herrschende Stimmung usw. kurzfristig ein Absehen von der Schaffung entsprechender Normativakte nahelegen. Für den hohen Anspruch der Rechtsstaatlichkeit ist dies jedoch langfristig immer von Nachteil. Ganz zu schweigen davon, daß dem Bürger aus den neuen Bundesländern es außerordentlich erschwert wird, sich das geltende Recht zu eigen zu machen, es zu verstehen und anzuwenden. Dennoch ist zur Kenntnis zu nehmen, daß dieses Richterrecht eine große Rolle im Arbeitsrecht der Bundesrepublik spielt. Es ist wie Wissenschaftler so unterschiedlicher Position wie Franz Gamillscheg und Wolfgang Däubler übereinstimmend schreiben - heute nicht wegzudenken l6 • Hier soll nur angemerkt werden, daß eine Wertung des Arbeitsrechts der BRD, so sie vollständig sein will, natürlich eine auf hinreichendem Wissen beruhende Würdigung ihres Richterrechts verlangt. Dem Verfasser sind aber leider nur dessen Grundrichtungen und einzelne seiner Teilgebiete näher bekannt, so daß er diesen Bestandteil des Arbeitsrechts nur unscharf wahrnehmen und werten kann. Gleiches gilt, wenn auch hier ein Überblick jeweils leichter zu erzielen ist, ftlr das sog. Wissenschaftierrecht.

IS Vgl. B. Rüthers, Das stille Begräbnis einer Kommission/Zur Abdankung des Gesetzgebers im Arbeitsrecht: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Oktober 1981. 16 Vgl. F. Gamillscheg (oben FN 6), 72 ff. und W. Däubler, Arbeitsrecht 1 (oben FN 7), 35 ff.

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4. Urteil (aus der ehemaligen DDR) nur durch Einzelwerke bzw. Aufsätze

Die Arbeitsrechtswissenschaft in der DDR verfUgte über ausgesprochene Spezialisten, die das Arbeitsrecht der Bundesrepublik und z.T. auch anderer entwickelter Marktwirtschaftsländer wie z.B. der USA bearbeiteten. Diese Fachleute arbeiteten zur gleichen Zeit kaum noch zum konkreten DDR-Arbeitsrecht. Auf ihrem Spezialgebiet stellten sie, obwohl dies sich als schwierig erwies, auch Kontakte zu Fachkollegen aus anderen Planwirtschaftsländern, insbesondere zu denen aus der damaligen UdSSR her. Die am meisten herangezogenen Bücher zum gesamten Komplex des Arbeitsrechts der Bundesrepubik waren das von dem bekanntesten DDR-Westexperten Manfred Premßler über Arbeiterrechte in der BRD von 1975 17 sowie das von ihm mit Aribert Ondrusch gemeinsam verfaßte über den Kampf um soziale Rechte in der Bundesrepublik aus dem Jahre 1986 18 • Das Arbeitsrecht der Marktwirtschaftsstaaten allgemein, allerdings wesentlich auf das der Bundesrepublik bezogen, wurde in einem Kapitel des DDR-Standardlehrbuchs Arbeitsrecht kurz vorgestellt l9 • Von dem Moskauer Rechtswissenschaftier Igor J. Kisseljow stammt ein 1984 in Moskau in deutscher Sprache erschienenes Buch über Staatsmonopolismus und Arbeitsrecheo. Auch in ihm wird dem BRDArbeitsrecht relativ breiter Raum gegeben. Schließlich ist rur die Würdigung des Arbeitsrechts unter dem Aspekt der EG-Mitgliedschaft der Bundesrepublik noch die Monographie von Jochen Dötsch und Manfred Premßler über EG und Arbeiterrechte aus dem Jahre 1981 bedeutsam21 . Vergleicht man diese Publikationen ihrer Zahl und dem Gegenstand nach, dann stellt man fest, daß in der DDR relativ mehr als in der BRD über das Arbeitsrecht des anderen deutschen Staates geschrieben worden ist. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, daß insgesamt in der DDR viel weniger Arbeitsrechtstheoretiker tätig waren als in der Bundesrepublik. In der Bundesrepublik gab es im wesentlichen die 1973er Pionierarbeit von Bernd Rütbers zur deutsch-deutschen Rechtsvergleichung22 und Ulrich Lohmanns analytisches und Originalrechtsvorschriften vorstellendes 1987er Buch zum Arbeitsrecht der DDR23 • Das verwundert den, der weiß, daß auf nahezu allen Gebieten des ArM Premßler, Arbeiterrechte in der BRD/Sozialdemagogie und Wirklichkeit (Berlin 1975). M Premßler/A. Ondrusch, Kampf um soziale Rechte in der BRD -Eine aktuelle Analyse (Berlin 1986). 19 M Premßler unter Mitarbeit von H-P. Zierholz, Grundzüge des bürgerlichen Arbeitsrechts der Gegenwart, in: Arbeitsrecht - Lehrbuch (oben FN 2), 494-531. 20 I.J. Kisse/jow, Der staatsmonopolistische Kapitalismus und das Arbeitsrecht (Moskau 1984). 21 J. DötschiM Premßler, EG und Arbeiterrechte (Berlin 1981). 17 18

22 B. Rüthers, Arbeitsrecht und politisches System (FrankfurtlMain, 1973). 23

U. Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR. Analyse und Texte (Berlin 1987).

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beitsrechts in der Bundesrepublik weitaus mehr publiziert wurde als in der DDR. Überdies dominierte in der DDR auch bei dem aus der Feder von Wissenschaftlern stammenden Schrifttum praxisbezogene Literatur. Warum also diese Aufmerksamkeit? Die Ursachen sehe ich ftlr diese ebenso wie andere Werke, die in der DDR alle nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus geplant, geschrieben, begutachtet, überarbeitet und zum Druck freigegeben wurden, in der objektiv gegebenen Wettbewerbssituation von DDR und BRD, im Rechtfertigungszwang und nötigen Rechtmäßigkeitsnachweis der DDR. Hier erschien eine kritische Wertung bundesdeutschen Rechts und eine ausgewählte konkrete Gegenüberstellung, wenn auch nicht ein wissenschaftlich fundierter Vergleich mit dem der DDR, am ehesten erfolgversprechend. Insbesondere gilt das rur die frühen 50er und die 70er Jahre, in denen es zunächst zu gelingen schien, den Lebensstandard und auch wichtige Arbeitsbedingungen in der DDR zu verbessern. Dann wurde 1977 der zweite Arbeitsrechtskodex nach breiter Aussprache von der Volkskammer angenommen. Dadurch hob sich das allgemeine Interesse am Arbeitsrecht. Eine kritische Betrachtung alter Ansichten über das Arbeitsrecht des anderen deutschen Staates wird von den in diesen Büchern stehenden Ansichten auszugehen haben. Daneben wurde in den wichtigen in der DDR erscheinenden Publikationsorganen wie "Staat und Recht", "Neue Justiz", "Arbeitsrecht" und "Arbeit und Sozialftlrsorge" (beide bis 1961) sowie "Arbeit und Arbeitsrecht" in unregelmäßiger Folge zu aktuellen Fragen der Arbeitsrechtsentwicklung der Bundesrepublik, meist von den gleichen Autoren, seltener auch von anderen Arbeitsrechtsteoretikern publiziert. Eine Gesamtanalyse steht hierzu noch aus. Man wird aber nicht fehlgehen, wenn man die Hypothese aufstellt, daß in diesen Artikeln, Rezensionen usw. die in den genannten Büchern enthaltenen Wertungen und inhaltlichen Fragen vorbereitet, ausftlhrlicher behandelt oder nachträglich gründlicher analysiert worden sind. Dabei war die lenkende Hand der rur die Propagandaarbeit der SED und des Staates Zuständigen sowohl bei der Vergabe der Aufträge oder doch der Anregung zu solchen Arbeiten, deren kritischer Aufsicht und ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Begutachtung bis hin zur häufig die Lesbarkeit erschwerenden Endredaktion nicht zu verleugnen. Dies ist bei einer Gesamtwertung beachtlich. Diese wird aber nicht nur das werten müssen, was geschrieben und gesagt worden ist; sie wird auch das berücksichtigen müssen, was seinerzeit in diesen Spezialwerken fehlte. Dabei sollte vermieden werden, aus der heutigen Situation und Sicht heraus den Autoren dort Vorwürfe zu machen, wo sie damals an die offizielle Parteilinie der SED und an die Staatspolitik der DDR gebunden waren. Diese Bücher sind, wie alle anderen Bücher juristischen, oder besser allgemein gesellschafts-wissenschaftlichen Gehalts durchgängig vor ihrer Annahme zur Publikation von den offiziösen Gremien begutachtet worden. Die von ihnen beanstandeten Stellen wurden dann von den zuständigen Verlagslektoren im Auge behalten und vor dem Druck auf entsprechende Überarbeitung hin geprüft. Mir ist be-

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kannt, daß z.B. Premßler seine Werke nicht ohne persönliche Blessuren publizieren konnte, so daß ich auf billige Nachtragskritik gern verzichte. Dies würde mir umso weniger anstehen, da ich beide Premßlerschen Bücher zum westdeutschen Arbeitsrecht nach ihrem Erscheinen positiv besprochen habe 24 • Bei der zweiten Rezension habe ich aber bereits damals öffentlich das Aussparen des Inhalts der Tarifverträge bemängelt. Allerdings habe ich etwas verklausuliert, daß gerade in diesen die Arbeitsbedingungen und LohnansprUche geregelt sind, die rur das Lebensniveau der Werktätigen der Bundesrepublik und deren Zufriedenheit mit ihrer Arbeit und ihrem Staat von entscheidender Bedeutung sind. Es heißt dort: "Leider wird kaum direkt auf den Inhalt der Tarifvertrage und der damit verbundenen Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien Bezug genommen .... Der Verzicht auf die Tarifverträge ist umso mehr zu beklagen, als die dort enthaltenen Vereinbarungen über solche wichtigen Fragen wie die Lohnhöhe, die Wochen- und U.U. die Lebensarbeitszeit, den Erholungs- und Sonderurlaub, den Rationalisierungsschutz usw. von gravierendem Einfluß auf die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse, der arbeitsrechtlichen Regelungen und deren Realitat im Arbeitsleben sind.,,25 Indessen ist heute festzuhalten, daß Premßler in der allgemeinen Würdigung der Sozialpolitik und damit auch des Arbeitsrechts der DDR - trotz interner Anfeindungen in Parteiund Wissenschaftlergremien - an der These festhielt, die zuerst aus der Sowjetunion kam, daß beide - Sozialpolitik und Arbeitsrecht - zwar die Interessen der sog. herrschenden Klasse verwirklichen helfen, in bestimmtem Maße aber auch denen der Arbeiter dienen: "So wirkt im bürgerlichen Arbeitsrecht trotz seiner einheitlichen Klassenorientierung auch eine den Interessen des Monopolkapitals entgegengesetzte Tendenz, die von der Arbeiterklasse initiiert ist, ihren Interessen und Forderungen nahekommt oder ihnen teilweise entspricht.,,26 Dies ist doch eine Einsicht von beträchtlichem Realitätsgehalt, die auszusprechen damals schon gewissen Mut und Rückgrat verlangte. Es ist dem Altbundesbürger heute überhaupt nicht immer einsichtig, was zwischen den Zeilen zu lesen war. So zielte Kritik gegen Richter- und Wissenschaftierrecht zugleich gegen selbstverständlich auch in der DDR vorhandene Tendenzen, an die Stelle der stabilen gesetzlichen Regelung lieber Partei- und staatliche Beschlüsse zu setzen. Eine positive Besprechung eines Buches über den Datenschutz in der BRD, das dessen Ausbau stützte und seine Mängel bloßlegte, wurde eben in der DDR mit dem gänzlich "gläsernen Werktätigen" verglichen und machte den in der Bundesrepublik trotz allem erreichten Schutz deutlich und auch rur die DDR erstrebenswert usw.

Vgl. SI. HullschiF. Kunz, Buchbesprechung: Man/red Premßler Arbeiterrechte in der BRD... : StuR 1976,436 und FN 25. 25 F. Kunz, Buchbesprechung (oben FN 11), insb. S. 830. 26 M PremßleriA. Ondrusch (oben FN 18), 18.

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5. Vergleich/ortbestehenden Rechts mit weitgehend untergegangenem

Werte ich heute das Arbeitsrecht des anderen Deutschland, dann tue ich dies aus der Sicht eines früheren DDR-Wissenschaftlers, aber mit dessen heutigen Erfahrungen und Einsichten. Dabei beruht diese Wertung immer auf Vergleichen. Verglichen werden müssen nicht nur eigene Erwartungen und Enttäuschungen mit Rechtsnormen und Rechtwirklichkeit, und zwar sowohl in der früheren Bundesrepublik und der DDR wie der heutigen größeren Bundesrepublik. Einfließen müssen auch Vergleiche mit dem Arbeits-Völkerrecht, mit dem EG-Recht, aber auch mit dem nationalen Arbeitsrecht anderer Marktwirtschaftsstaaten und dem der sog. sozialistischen, d.h. Planwirtschaftsstaaten Aber immer dominiert im Bewußtseinshintergrund - und sei es nur unbewußt der Vergleich des bundesrepublikanischen Arbeitsrechts mit dem der DDR. Dies beeinflußt natürlich das Ergebnis des Nachdenkens, und zwar in vieler Hinsicht. Erstens ist der Referent natürlich an das eigene, frühere DDR-Arbeitsrecht gewöhnt. Er weiß um dessen Entstehungsgründe, um die damals von vielen gutgläubig oder doch gläubig verfochtenen Ideale, um die Versuche, deutsches Arbeitsrecht unter den Bedingungen der Herrschaft des Volkseigentum genannten Staatseigentums unter Beachtung von fortschrittlichen deutschen Traditionen zu gestalten. Er kennt die zur ersten und die zur letzten umfassenden Kodifikation, dem AGB, fUhrenden historischen Etappen. An ihrem Ende stand das DDR-Arbeitsrecht mit seinem Mechanismus der Normativakte, mit vielen eigenständigen Lösungen fUr Rechtsinstitutionen. Auf solche eigenständigen Lösungen waren viele Theoretiker stolz, den Werktätigen schienen sie selbstverständlich. Ausgangspunkt war auch hier das Arbeitsrecht der Weimarer Ära, geprägt durch die Nachkriegsrechtsetzung durch den Kontrollrat und die Befehle der SMAD. Nun kommen die altbekannten Gesetze zurück, das BGB, die Gewerbeordnung, das HGB und viele andere. Manche sind verändert, ihr Zusammenwirken ist anders als noch 1948. Es kommen aber auch die Lücken des gesetzten Rechts mit ihren Konsequenzen, mit dem Richterrecht. Der in der Arbeitsrechtsordnung vertraute Werktätige mit weitgehender Einheitsrechtsstellung ist wieder als Arbeiter oder aber als Angestellter, zuweilen sogar als leitender Angestellter zu identifizieren usw. Es hat auch der Fachmann seine liebe Not, das geltende Recht, sei es in Gesetzen und Verordnungen, sei es in Tarifverträgen oder Betriebsvereinharungen zu finden. Der Richterrechtsdschungel verbreitet schon beim bloßen Wahrnehmen Berührungsangst. Das WissenschaftIerrecht muß erkundet werden. Da kommt leicht eine nostalgische Note in die Wertung, etwa so: Das alte DDR-Arbeitsrecht war um vieles sozialer und auf alle Fälle besser zu handhaben. Dieser Stimmung, so verständlich sie jedem aus der DDR Kommenden ist, soll hier nicht nachgegeben werden. Urteile sind sachlich, nicht gefUhlsmäßig zu fundieren.

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Eine zweite Gefahr besteht aber in genau umgekehrter Richtung. Sie liegt darin, weil sich das Volk in der DDR von dem zum bloßen Kommandosystem entarteten Herrschafts-, Eigentums- und Gesellschaftssystem abwandte, nun auch alle ihrer arbeitsrechtlichen Institutionen als verfehlt und vom Leben widerlegt, alle des bundesdeutschen Arbeitsrechts aber als von der Historie bestätigt und deshalb als nicht mehr verbesserungsbedürftig und -flthig zu betrachten. Gewiß gibt es auch gute, aber nur unter den Bedingungen der Planwirtschaft in der DDR tragflthige Rechtslösungen. Dies trifft sicher auf solche Institutionen zu, die wie der Überleitungsvertrag und der damit verbundene rechtliche Mechanismus des Betriebswechsels, ein umfassendes staatliches Eigentum an den beteiligten Betrieben voraussetzen. Dies gilt rur alle Vorschriften, die dem demokratischen Zentralismus bei der Leitung der Arbeitsverhältnisse dienten, wie sie besonders im ersten und zweiten AGB-Kapitel konzentriert waren. Aber andere Lösungen des DDR-Arbeitsrechts sollten, soweit sie mit den Grundsätzen sozialer Marktwirtschaft und dem privaten Eigentum vereinbar sind, doch Anstoß rur ein produktives Inzweifelziehen gegenwärtiger bundesrepublikanischer Lösungen sein, so z.B. des Zentrierens des Arbeitsrechts im BGB-Dienstvertrag, ursprünglich rur ganz andere Fälle gedacht. Auf der anderen Seite muß die Wertung aber auch zur Kenntnis nehmen, daß gerade die genannten Werke zum Arbeitsrecht der Bundesrepublik hierbei wenig hilfreich sein werden. Sie stellten solche Überlegungen nicht an. Entweder zielten sie letztlich, so besonders in den ersten Jahren des kalten Krieges, auf die Überwindung der bundesrepublikanischen Ordnung, oder sie machten sich in den späteren Jahren Thesen der DKP zu eigen bzw. versuchten dann, als die DKP zur sektiererischen Splittergruppe schrumpfte, den DGB-Forderungen rur ein besseres Arbeitsrecht nur mit weiteren Argumenten zu Hilfe zu kommen. So ist jegliche Wertung bei allem Bemühen um sachliches Begründen durch persönliches Erleben geprägt und wohl auch gebrochen. Es ist deshalb viel schwieriger, eine Arbeitsrechtsordnung, an deren Ausbau man zwar interessiert aus der Feme Anteil genommen hat, vom Standpunkt der gegenwärtigen und künftigen Aufgaben zu werten, als dies rur das über lange Jahrzehnte vertraute DDR-Arbeitsrecht möglich gewesen wäre. Erleichtert wird es allerdings durch die jahre- und zum Teil sogar jahrzehntelange achtungsvolle persönliche Streitund Argumentationsatmosphäre gegenüber den Arbeitsrechtlern der Altbundesrepublik. Trotz der tief empfundenen Probleme soll diese Wertung im folgenden versucht werden.

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Il. Gesellschaftliche Ziele des Arbeitsrechts in der Bundesrepublik erreicht 1. Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik

mit gewährleistet

Beurteilt man das Arbeitsrecht der Bundesrepublik, dann wird an erster Stelle einzuschätzen sein, ob es dazu beigetragen hat, die gesellschaftspolitische Stabilität ihrer Gesellschafts- und Staatsordnung zu fördern und zu gewährleisten. Heute muß hinzugesetzt werden, ob nicht auch das Arbeitsrecht den Wunsch der Volksmassen in der ehemaligen DDR stark befördert hat, durch die friedliche Revolution die Vereinigung möglich zu machen. Premßler/Ondrusch bezeichneten in ihrem 1986 erschienenen Buch das bürgerliche Arbeitsrecht als eines der wichtigsten Mittel zur Realisierung der bürgerlichen Sozialpolitik. "Es ist der dynamischste Rechtszweig des bürgerlichen Rechts, der auf die Wandlungen im Klassenkräfteverhältnis und auf Veränderungen in der Sozialstrategie am empfindsamsten reagiert.,,27 Sie sprachen dann von der Aufgabe des Arbeitsrechts, die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die ökonomische Ordnung und die Stabilität des Staatswesens zu fördern. Dabei sei auch auf neue Erscheinungen, wie die wissenschaftlich-technische Revolution und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen rechtzeitig einzugehen. Bei möglicher Einschränkung einmal gewährter Rechte in Krisenzeiten sei jedoch die Stabilität ausschlaggebend. Um dies zu bekräftigen, zitierten sie den damaligen Staatssekretär im Bundesministerium rur Arbeit und Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse Vogt mit seinen in der FAZ abgedruckten Worten: "Die Zentnerlast sozialer Sicherung auf den Schultern der Wirtschaft ist immer noch leichter zu tragen als die Tonnenlast eines neuen Klassenkampfes.,,28 Eine Grundwertung des BRD-Arbeitsrechts aus heutiger Sicht und Einsicht flUlt grundsätzlich, d.h. ungeachtet möglicher und auch nötiger kritischer Bemerkungen, insgesamt positiv aus. Es hat dazu beigetragen, daß der soziale Friede in der Bundesrepublik ohne wesentliche Erschütterungen erhalten geblieben ist. Selbst wenn man die Zahl der durch Streik ausgefallenen Arbeitstage betrachtet, nimmt die BRD aus Arbeitgebersicht in Europa keinen schlechten Platz ein. Das Arbeitsrecht hat - was man auch immer gegen seinen Inhalt und seine Form einwenden mag - die Stabilität der Bundesrepublik gerade dadurch und deswegen sichern geholfen, weil sich dieser Staat nicht nur als Rechtsstaat, sondern als sozialer Rechtsstaat verstanden und entwickelt hat, weil er bewußt die Interessen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Gesamtheit artikulieren und vertreten ließ und diese schließlich so in Einklang gebracht hat, daß ein allgemeiner Konsens erhalten blieb. Unkenrufe, das Ar27 M PremßlerlA. Ondrusch (oben FN 18), 17. 28 M PremßlerlA. Ondrusch (oben FN 18),22.

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beitsrecht falle der Wirtschaft in den Ann, konnten ebenso wenig bewiesen werden wie die Realität von Warnungen, neue Vorschriften, so die über paritätische Mitbestimmung, zielten auf einen anderen Staae9 • Ebenso hat das Arbeitsrecht, insbesondere hinsichtlich der in ihm und von ihm verankerten materiellen Lohn- und Arbeitsbedingungen, seinerseits von der stabilen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung profitiert. Sein Inhalt hat, auch angesichts der sozialen Rechte, im wesentlichen den anerkannten Regeln des Völkerrechts Rechnung getragen. Man mag hier vielleicht zum Recht auf Arbeit und Arbeitsllirderung streiten, das ja sowohl in der UNOKonvention über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte als auch der Europäischen Sozialcharta verankert ist. Die schwere Last gravierender Arbeitslosigkeit ist aber erst nach der Vereinigung voll spürbar, und hier auch wiederum in den neuen Bundesländern. Dies ist bedauerlich und Abhilfen sind dringend zu wünschen. Insgesamt gab und gibt es aber auch - trotz komplizierter Wirtschafts lage - hier beachtliche soziale Sicherungen fUr diejenigen, die arbeitslos sind oder geworden sind. Für die Überprüfung am tertium comparationis ist der Leumund bundesdeutschen Arbeitsrechts in internationalen Gremien ein bedeutsamer Indikator. Soweit ich sehe, ist die Bundesrepublik selten vom ILO-Sachverständigenausschuß gerügt worden. Eine Ausnahme stellt hier die sog. Berufsverbotspraxis dar, die überdies an den Beamtenstatus geknüpft gewesen ist. 2. Beitrag zur Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts

Diese stabilitätsllirdernde Wirkung kann dem bundesrepublikanischen Arbeitsrecht auch bescheinigt werden, wenn man die Einzelaufgaben betrachtet, die das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 196730 (BGBl. Teil I Nr. 32 S. 562) dem Bund und den Ländern gestellt hat. Man kann gewiß annehmen, daß trotz pessimistischer Prognosen, die bundesdeutsche Wirtschaft würde durch Lohn- und Lohnnebenkosten über Gebühr belastet, das Arbeitsrecht letztlich doch unter Beachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts entwickelt worden ist. Bis zur deutschen Vereinigung wenigstens wurde es erreicht, im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung auch mit Hilfe des Arbeits- und Sozialrechts gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beizutragen. Aus dem Rahmen fällt allerdings der Stand der Lösung der dort geregelten Vgl. z. B. B. Molitor, Der Wirtschaft in den Ann gefallen I Die ständige Intervention durch das Arbeitsrecht: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Miliz 1986 S. 15. 30 BGBI. 1967 I, 582

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und gleichzeitig zu bewältigenden Aufgabe, einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen. Aus der Sicht der DDR-Vergangenheit gab es bis zur Vereinigung in der alten Bundesrepublik einen relativ hohen Arbeitslosensockel; aus der Sicht des Standes der Arbeitslosigkeit, des Altersübergangs, des Vorruhestandes und der Kurzarbeit insbesondere in den neuen Bundesländern stellt dieser Sockel ein in absehbarer Zeit nicht zu erreichendes Traumziel dar. Insgesamt fällt aber auch hier die Wertung positiv aus. Von hier aus sind Forderungen nach sog. Deregulierung jedenfalls nicht herzuleiten. 3. Schutz des Arbeitnehmers i. S. der Schutzfunktion des Arbeitsrechts und der Wettbewerbsfähigkeit des Arbeitgebers

Bei den Aufgaben des Arbeitsrechts der Bundesrepublik wird im allgemeinen dessen Schutzfunktion hervorgehoben. 31 Eine nähere Beschäftigung mit den einzelnen Gebieten des Arbeitsrechts läßt erkennen, daß es dieser Schutzfunktion weitgehend gerecht wird. Der Staat hat auf nahezu allen wichtigen Teilgebieten verbindliche Einheitsstandards normiert, die nicht oder nur unter festgelegten Bedingungen unterschritten werden dürfen. Leider sind sie nicht immer allerneuesten Datums. Der Einigungsvertrag zeigt in seinen KodifIkationsverpflichtungen einige solcher Gebiete. Gemäß dem Günstigkeitsprinzip und der anerkannten Vertragsfreiheit können aber z.B. die Tarifvertragsparteien bessere Vorschriften fUr die Tarifunterworfenen vereinbaren und tun dies auch. Dieses System ist fUr den an nach oben und unten verbindliche und geplante rechtliche Regelungen mit dem Primat des gesetzten Rechts gewöhnten ehemaligen DDR-Bürger ein wenig fremd. Es ist aber flexibel, berücksichtigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Interessen der Beteiligten. Unter dem Strich fUhrt dieses System zu in sich besser abgewogenen und somit sogar gerechteren Lösungen, als dies in der Realität in der DDR gelang. In ihr galt zwar formal das Leistungsprinzip, im täglichen Arbeitsleben aber dominierte nur allzu häufig die Gleichmacherei. Wolfgang Däubler weist in seinem besonders fUr die neuen Bundesländer geschriebenen Ratgeber Arbeitsrecht darauf hin, daß das BRD-Arbeitsrecht "auch nicht ausdrücklich als Mittel begriffen wird, die Produktivität zu erhöhen.,,32 Dies würden andere Mechanismen bewirken. Der Arbeitgeber könne auf dem Markt nur bestehen, wenn er möglichst kostengünstig produziert usw. Hier setzten Klaus Adomeits Bedenken an, der Arbeitgeber werde nicht hinreichend als ein am Arbeitsverhältnis Beteiligter gesehen. Seine Interessen würden im Arbeitsrecht vernachlässigt. Er wirft seinen westdeutschen und natür-

31 32

So bei W. Dtiubler, Ratgeber Arbeitsrecht (Reinbeck bei Hamburg 1991),27. W. Däubler (vorige FN), ebenda.

4 Drobnig I Ramm

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lich noch mehr den ehemaligen DDR-Kollegen vor, " ... beim Arbeitgeber fand man kein einziges relevantes Interesse außer dem Profitinteresse, das dann natürlich als minderwertig zurückzutreten hatte".33 Diese Kritik scheint nur insoweit beachtenswert, als dem Arbeitsrecht nicht in der Literatur eine Schutzfunktion ftlr den Arbeitgeber zugedacht wird. In der Realität beruht wohl jede Arbeitsrechtsnorm auf Interessenabwägung, so daß die Interessen der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer zu Buche geschlagen sind. 34 Überdies darf nicht vergessen werden, daß die Stellung des Arbeitgebers, vor allem soweit er Eigentümer der nötigen Arbeitsbedingungen ist, auch noch von anderen Zweigen des Rechts hinreichend beachtet und ausgebaut wird. Der Gesetzgeber hat außerdem mit solchen Gesetzen wie den Beschäftigungsförderungsgesetz ausdrücklich auch und gerade Arbeitgeberinteressen beachtet. Aus DDR-Sicht ist es verständlich, daß Regelungen über Arbeitsverhältnisse die Interessen aller Beteiligter abzuwägen haben. Dies spielt übrigens jetzt auch rur Existenzgründer in den neuen Bundesländern eine besonders wichtige Rolle. Für den aus der DDR Kommenden ist es nicht zweifelhaft, daß das BRD-Arbeitsrecht insoweit immer schon eine die Wettbewerbsfilhigkeit der Arbeitgeber berücksichtigende Komponente hatte. Sie drückte allerdings auf Effizienz der Verteilung und Arbeitsorganisation. Das Hauptproblem der DDR-Wirtschaft war, daß ein solcher Druck angesichts des oligarchischen Kommandosystems immer äußerlich blieb, nicht aus dem Wesen des angeblich sozialistischen Eigentums heraus wirkte, auf dessen Grundlage als allumfassenden, zentralistisch verwalteten Staatseigentums in der Realität die Werktätigen praktisch Lohnarbeiter des von einer Oligarchie, einer Handvoll Menschen geftlhrten Staates waren. 4. Verwirklichung der Grundrechte der Bürger

Wie Franz Gamil/scheg es formuliert, sind die Interessen des Arbeitnehmers "vor allem in den Art. 1 bis 6, 8 III, 12 und 14 GG zu Grundrechten erstarkt; andere Überlegungen wie etwa der Sphärengedanke, die Erörterung der Mitbestimmung (die man freilich auch im Sozialstaatgrundsatz verankert sehen kann) oder der Vertrauensgrundsatz (der indessen auch in das grundrechtliche Rechtsstaatgebot eingebettet ist), schieben sich ... hinein.,,35 Er deckt auch die entscheidenden Garantien rur die Verwirklichung der Grundrechte, nämlich das Interesse der Allgemeinheit am sozialen Frieden und an der Volksgesundheit auf. Ebenso gäbe es ein Interesse daran, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Auch 33 K. Adomeit (oben FN I), VIII. 34 So auch F Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht (Berlin 1989), 19. 35

F Gamillscheg (vorige FN), 18.

Das Arbeitsrecht des anderen Deutschland

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hier möchte ich aus meiner Kenntnis der Tätigkeit des Übereinkommensausschusses der IAO konzedieren, daß das Arbeitsrecht der Bundesrepublik zur Gewährleistung dieser Grundrechte beigetragen hat. Indessen ist deren Realität als soziale Grundrechte weniger von der Qualität der Regelung und schon gar nicht deren wohlgesetztem Wortlaut, sondern vornehmlich von der Güte der Staatspolitik und dementsprechenden Wirtschaftskraft abhängig. Für einen strittigen Punkt halte ich aber nach wie vor die heikle Frage der Verwirklichung des Rechts auf Arbeit bzw. Arbeitslosenversicherung und Arbeitsllirderung, das sowohl aus der UNO-Konvention von 1966 als auch der Europäischen Sozialcharta heraus zu den anerkannten Regeln des Völkerrechts zählt. 36 Hierzu werden weitere Arbeiten nötig sein, weniger theoretischer, sondern mehr praktischer Natur, um auch mit arbeitsrechtlichen Mitteln, aber nicht nur mit diesen, stärker zur Hebung des Beschäftigungsgrades beitragen zu können. Der Bürger der neuen Bundesländer weiß um die mentale Seite dieses Problems fUr die Mehrheit der dortigen Bevölkerung, die auf Grund der geschichtlichen Entwicklung stets im Auge behalten werden sollte. 5. Gewerkschaftsrechte, Tarifautonomie und Betriebsverfassung

Insgesamt hat sich die in Gesetzgebung und Richterrecht vorgenommene Regelung der Gewerkschaftsrechte, der Tarifautonomie, des Arbeitskampfrechts und der Betriebsverfassung trotz mancher verbaler Attacken darauf bewährt. Das Zusammenspiel von Gesetzgeber und den Trägem der Tarifautonomie war ausschlaggebend fUr die positive Entwicklung des Arbeitsrechts der Bundesrepublik. Alle Unkenrufe aus der alten DDR waren insoweit unberechtigt. Sofern sie der Erhaltung der Rechte der Koalitionen insbesondere der Gewerkschaften, ehrlich dienen wollten, mögen sie unbeanstandet bleiben. Nachträglich glaube ich aber, daß die faktische Entrechtung der Gewerkschaften in der DDR auf diesem Gebiet wesentlich zum Niedergang der angeblichen sozialistischen Demokratie beigetragen und die Volksfremdheit der Führeroligarchie in Partei, Staat und Wirtschaft beilirdert hat. Einige vorsichtige Worte in dieser Richtung wären also angebracht und wohl auch ohne eigene Gefllhrdung möglich gewesen. Aber dieses Gebiet bedarf noch der ausfUhrlichen Untersuchung. Hier soll nur so viel gesagt werden: Diese Erfahrungen mit den alten Gewerkschaftszentralvorständen (nicht so sehr den betrieblichen Leitungen) haben zu einer beachtlichen Gewerkschaftsverdrossenheit beigetragen. Dies ist heute in den Betrieben in den neuen Ländern zu beachten. Ungeschicklichkeiten wie die Nichtanerkennung von Arbeitszeiten in der früheren DDR, so etwa im Gesund-

36 4*

Vgl. hierzu F. Kunz, Des Menschen Recht auf Arbeit (Berlin 1989) insb. 58 ff.

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FrithjofKunz

heitswesen, sind auch vor diesem historischen Hintergrund schwer von Gewerkschaftsmitgliedern hinzunehmen, auch sofern die neuen Vorstände damit einverstanden sind.

6. Umfassender Rechtsschutz In der früheren Bundesrepublik und in der DDR folgte der Rechtsschutz gänzlich unterschiedlichen Grundsätzen. In der ersteren war der Interessengegensatz von Arbeitnehmern und Arbeitgebern anerkannt, Streitigkeiten deshalb etwas ganz Normales. Dies galt sowohl rur individuelle als auch rur kollektive Streitigkeiten. Der Staat stellte ft1r deren Entscheidung entsprechende Gerichte mit zweckmäßigen Verfahren zur Verftlgung. Die besondere Arbeitsgerichtsbarkeit war historisch aus ihren beiden Wurzeln gewachsen und blieb als besondere Gerichtsbarkeit unangetastet. Sie folgte den Weimarer Erfahrungen. Die Zulässigkeit des Gerichtsweges war und ist eher weit als eingeengt geregelt. Von wenig gerichtskonformen Tätigkeiten wie der Schaffung des Richterrechts war bereits oben die Rede. Ich habe hierzu die beiden genannten Werke von Manfred Premßler und das von ihm und Aribert Ondrusch eingesehen, die beide auf eine kritische Wertung der Gerichtsbarkeit verzichten. Im Lehrbuch Arbeitsrecht haben Manfred Premßler und H.-P. Zierholz einen Punkt über die Entscheidung von Arbeitskonflikten in das von ihnen geschriebene Kapitel über das bürgerliche Arbeitsrecht der Gegenwart aufgenommen. Dabei fiel bei aller kritischen Grundhaltung ihre Wertung bemerkenswert ambivalent aus: "Wenn auch die Arbeitsgerichte von den Werktätigen und ihren Gewerkschaften als Tribüne im Klassenkampf benutzt werden und sie oftmals auch ihre KlageanspTÜche durchsetzen können, so haben sie doch vorrangig die Interessen des Kapitals durchzusetzen.,,37 Dies deutet schon darauf hin, daß die Wertung des Zugangs zu den Gerichten, des sog. Rechtsweges wohl eher positiv auszufallen hat. Ich sehe darin jedenfalls einen Teil des umfassenden Rechtsschutzes, der zu einer emotionellen Annahme des Staatswesens unerläßlich ist. In der DDR wurde ein anderer, m.E. auch einer zukünftigen Untersuchung werter Weg gegangen. Insgesamt halte ich ihn nicht rur besser, aber auch nicht rur absolut schlecht. Zunächst gab es eine ähnliche Regelung wie in der Bundesrepublik mit besonderen zweiinstanzlichen Arbeitsgerichten, die nur in der Spitze beim Obersten Gericht als sog. Kassationsinstanz in der ordentlichen Gerichtsbarkeit mündeten. Diese bewährte sich. Aber ab 1953 kam die nicht zu widerstehende Anregung, die sowjetischen Erfahrungen aufzugreifen, die mit ihren Konfliktkommissionen einerseits und den Kameradschaftsgerichten andererseits sowie den Arbeitskammern bei den Volksgerichten mit zwischengeschalteter Einbeziehung der betrieblichen Gewerkschaftsleitung völlig anders 37Arbeitsrecht _ Lehrbuch (oben FN 2), 53.

Das Arbeitsrecht des anderen Deutschland

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geartet waren. 38 Die DDR ging hier eigene Wege, entwickelte zwar die Konfliktkommissionen, aber nicht die Kameradschaftsgerichte und übertrug der Gewerkschaftsleitung im Betrieb keine Entscheidungs-kompetenzen. Das ermöglichte eine positive Entwicklung dieser betrieblichen Konfliktkommissionen als von der gesamten Belegschaft gewählter gesellschaftlicher Entscheidungsorgane, deren Anrufung Prozeßvoraussetzung wurde. Leider kam es dann später zur Eingliederung der Arbeitsgerichte als Kammern bzw. Senate in die Kreis- bzw. Bezirksgerichte, also in die ordentliche Gerichtsbarkeit. Dies fUhrte m.E. zumindest vor den Kreisgerichten zu einem Rückgang der Qualität der Rechtsprechung, was allerdings in offiziellen Analysen stets anders gesehen wurde. Insgesamt war überdies der Gerichtsweg fUr wesentlich weniger Fälle offen als in der Bundesrepublik. Insgesamt ist also auch hier zu sagen, daß die Gerichtsbarkeit in der Bundesrepublik zwar nicht mehr so leicht zugänglich ist wie früher die Konfliktkommissionen in der DDR, sie aber fUr mehr Fälle offen ist und sich bei der Gewährleistung eines umfassenden Rechtsschutzes durchaus bewährt hat. Insgesamt zeigt sich aus einer ohne umfassende Studien betriebenen rückblickenden Analyse, daß das Arbeitsrecht der Bundesrepublik seine Aufgaben als Teil der gesamten Rechtsordnung eines demokratischen Rechtsstaates mit sozialer Marktwirtschaft in den zurückliegenden Jahren gut erfUllt hat, ohne daß allerdings ein weiterer gesetzgeberischer Ausbau dadurch nicht erforderlich und wünschenswert wäre. Wichtige Komplexe hierfUr sind im Einigungsvertrag genannt. Beim Ausbau der Arbeitsrechtsordnung sollten die geschichtlichen Erfahrungen sowohl mit dem Arbeitsrecht der früheren Bundesrepublik Deutschland als auch der der Deutschen Demokratischen Republik sine ira et studio mit dem Ziel produktiver Nutzung beim Ausbau des gesamtdeutschen Rechts weiter erschlossen, Vorurteile widerlegt und die Diskussion über die historische Entwicklung versachlicht und auf festere Faktengrundlagen gestellt werden.

Vgl. Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts, hrsg. unter der Redaktion von N.G. A/exandrow (Berlin), 283 ff. sowie: Sowjetisches Arbeitsrecht, hrsg. unter der Red. von w.s. Andrejew (Köln 1974),295 ff.

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DER ARBEITSMARKT IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN UND ABillLFEN FÜR DIE SCHWIERIGKEITEN Arbeit und Beruf sind nicht Nebensache, sondern gehören zur Existenz des Menschen. Dies lehren uns alle Erfahrungen. Sinclair-Lewis fUhrte einmal aus: "Auf die Arbeit schimpft man nur solange, bis man keine mehr hat." Ein wahres Wort, wie ich meine, und wie die Erfahrungen vieler Arbeitsloser auch belegen. Wenn aber die Arbeit rur den Menschen eine so zentrale Bedeutung hat, dann muß alles getan werden, um Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neue zu schaffen. Davon hängt nicht nur die wirtschaftliche Existenz der meisten Menschen ab, sondern auch die Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln und zu entfalten. Hierzu hat die Bundesanstalt rur Arbeit ihren im Arbeitsförderungsgesetz fixierten Auftrag zu erftlllen.

1. Der Zustand des Arbeitsmarktes Der Übergang zur sozialen Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern geht notwendigerweise mit einem außerordentlichen wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel einher. Dieser äußert sich zuerst in einer Anpassungskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Zukunftsunsicherheit. Im Vergleich zur Entwicklung im Westen der Bundesrepublik stellt sich gegenwärtig und rur die nächste Zukunft das Bild einer gespaltenen Konjunktur dar. Mittelfristig wird dagegen mit hohen Investitionen, neuen Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Wachstum auch im Osten gerechnet. An dieser Perspektive zweifeln in der öffentlichen Meinung gegenwärtig wenige. Aber wie tief und lang das Tal der Anpassungskrise sein wird, ja sein muß, und welche Strategien geeignet sind, den Strukturwandel zu fördern, damit die Ziele des Arbeitsförderungsgesetzes, nämlich hoher Beschäftigungsstand, Vermeidung von Arbeitslosigkeit und unterwertiger Beschäftigung, in beiden Teilen der Bundesrepublik möglichst schnell erreicht werden, ist offen bzw. in der Diskussion. In den neuen Bundesländern steigt die Arbeitslosigkeit seit dem Beginn der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion steil an. Das heißt, die neuen wirtschaftlichen Ordnungsbedingungen legen das Ausmaß der in der ehemaligen Wirtschaftsordnung der DDR verdeckten Arbeitslosigkeit offen. Die Anpas-

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sungskrise ist Ausdruck der Ineffizienz der bisherigen Koordination des Wirtschaftsablaufs, der Übergang zur sozialen Marktwirtschaft ist nicht Ursache des Problems, aber Anlaß seiner offenkundigen Darstellung. Die in den neuen Bundesländern ablaufenden Arbeitsmarktprozesse vollziehen sich somit auf dem Ausgangspunkt der Arbeitsmarktsituation in der nicht mehr existierenden DDR. Sie verfocht bekanntlich das in ihrer Verfassung verankerte Prinzip der Vollbeschäftigung, dessen Verwirklichung zu einer 95 %igen Beschäftigungsquote und ineffektivem Einsatz eines nicht geringen Anteils der Arbeitnehmer gefllhrt hatte. Andererseits war in den letzten Jahren ein ständig steigender Arbeitskräftemangel zu verzeichnen. Allein eine Reduzierung der Beschäftigungsquote auf ca. 70%, wie sie in den alten Bundesländern bei boomender Wirtschaft zu verzeichnen ist, verdeutlicht die Problematik der gegenwärtigen und künftigen Arbeitsmarktentwicklung in den neuen Bundesländern. Besonders schmerzhaft wirkt sich diese grundlegend unterschiedliche Ausgangsposition auf die Beschäftigungslage der Frauen aus. Wie bekannt, wurde in der einstigen DDR im Rahmen ihres Verständnisses der Gleichstellung von Mann und Frau ein hoher weiblicher Beschäftigungsgrad (ca. 90 %) erreicht. In den alten Bundesländern sind rund 63 % der im erwerbsfähigen Alter befindlichen Frauen berufstätig. Ein Absinken der Quote in den neuen Ländern auf dieses Niveau würde den Rückzug von 1,3 Millionen Frauen vom ostdeutschen Arbeitsmarkt bedeuten. Der Abbau unrentabler Arbeitsplätze im Wettbewerb vollzieht sich sehr schnell, der Aufbau einer Marktwirtschaft mit rentablen Arbeitsplätzen aber braucht Zeit. Das ist eine allgemeine Beobachtung. Das besondere Kennzeichen der gegenwärtigen Situation ist der umbruchartige, ja eruptive Eintritt in eine andere Wirtschaftswelt und vor allem die Rasanz seiner Folgen. Wir befinden uns tief in der Bruchzone einer beispiellosen Anpassungskrise. Dies ist keine Krise herkömmlicher Art, sondern nach meiner Auffassung der totale Infarkt der Wirtschaft der einstigen DDR. Streiflichtartig kann man diese Situation an den Daten des Arbeitsmarktes verfolgen, der per 31. 8. 1991 in seinen wesentlichen Aussagen sich darauf reduzieren läßt, daß in den neuen Bundesländern •

1.063.200 Arbeitnehmer ohne Beschäftigung waren. Die Arbeitslosenquote betrug damit 12,1%



erneut ein hoher Zugang an arbeitslosen Frauen zu verzeichnen war, in dessen Ergebnis 59,3 % der Arbeitslosen Frauen sind (Arbeitslosenquote Männer: 9,6 %, Frauen: 14,6 %).



rund 1.451.700 Arbeitnehmer in 32.732 Betrieben kurz arbeiten. Der Anteil der Kurzarbeiter, ftlr den die Arbeitszeit um mehr als die Hälfte ausfiel, be-

Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern

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lief sich im August auf 58 %. Jeder Vierte hatte sogar einen Arbeitszeitausfall von 75 bis 100%. Um das Bild abzurunden, darf ich noch anftlgen, daß sich Ende August 1991 rund 360.000 Bürger im Vorruhestand befanden und 206.500 Altersübergangsgeld erhielten. Von der Öffentlichkeit weniger beachtet, vollzogen und vollziehen sich aber auch positive Entwicklungstendenzen. Ohne sie überzubewerten, möchte ich nur einige Eckdaten nennen: •

im August 1991 haben 92.200 Personen die Arbeitslosigkeit beendet. 82.610 von ihnen wurden durch die Arbeitsämter vermittelt;



mit 93.112 wurde der zweithöchste Stellenzugang in einem Monat seit Jahresbeginn registriert. Das ermöglicht eine weitere zügige Vermittlung von Arbeitslosen. Der höchste Zugang an offenen Stellen wurde mit 113.104 im Juli 1991 verzeichnet;



durch rund 78.100 Eintritte in Fortbildungs-, Umschulungs- und Einarbeitungsmaßnahmen im August erhöhte sich die Gesamtzahl seit Jahresbeginn auf 536.000; davon waren rund 56% Frauen (im alten Bundesgebiet 42 %);



um 56.600 stieg die Zahl der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Beschäftigten. Ihre Gesamtzahl belief sich am Monatsende auf 261.804. Im August 1991 nahmen also bei ABM mehr Beschäftigte eine Tätigkeit auf wie im gesamten 11. Halbjahr 1990 (rund 47.000). Soweit einige aktuelle Arbeitsmarktdaten. II. Perspektiven für die Entwicklung des Arbeitsmarktes 1991

Die Beispiellosigkeit der wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesse und ihre beschäftigungspolitischen Folgen dulden es nicht, auf neue Fragen alte Antworten zu geben, d. h. die Verhältnisse der alten Bundesrepublik formal auf die neuen Länder übertragen zu wollen. Im Interesse der neuen Bundesbürger ging und geht es heute nicht darum, das juristisch feingestrickte und mit vielen Fußnoten versehene Arbeitsfbrderungsgesetz (AFG) in allen Details umzusetzen. Sondern es gilt ftlr die Arbeitsämter, dessen Grundbestimmungen in Verbindung mit Regierungsbeschlüssen - insbesondere dem vom 8. März 1991 zum Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost - zu verwirklichen und in gemeinsamer Arbeit mit den Partnern am Arbeitsmarkt ftlr die Menschen spürbare Ergebnisse zu erreichen. Mit anderen Worten, die Arbeitsämter haben ihren spezifischen, ihren möglichen Beitrag zur Entwicklung des Arbeitsmarktes zu erbringen. Das kann letztlich aber nur ein flankierender Beitrag sein, der die Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik nicht aus ihrer übergeordneten

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Volker Dähne

Verantwortung rur einen hohen Beschäftigungsstand und rur die notwendigen Anpassungen der Beschäftigungsstrukturen entläßt. Die Aufgabe heute kann nur lauten: die Zeitspanne zwischen Beschäftigungsverlusten und -gewinn zu straffen. Dabei wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man dem in vielen Territorien verbreiteten Glauben folgen würde, allein vom Dienstleistungssektor sei eine saldierende kompensatorische Wirkung rur Verluste im gewerblichen Bereich zu erwarten. Ein differenzierter und expandierender Dienstleistungssektor ist mit Sicherheit auch ein Resultat der hochorganisierten, leistungsfllhigen gewerblichen Wirtschaft. Die Vitalisierung der gewerblichen Wirtschaft mit wettbewerbsfllhigen Produkten ist daher rur die neuen Bundesländer nach meinem Darurhalten unabweisbar. Entscheidend wird daher sein: •

Wieviele Arbeitsplätze, auf denen heute noch kurzgearbeitet wird, werden den Strukturwandel überstehen?



Ob es zu einer Massenarbeitslosigkeit kommt, wird zumindest davon abhängig sein, ob neue Arbeitsplätze rasch genug nachwachsen; und



es wird darauf ankommen, inwieweit Unternehmensleitungen und Belegschaften in der Lage sind, durch Kreativität die Sanierung aktiv zu bewältigen.

Dabei liegt die Lösung des Strukturproblems und der Arbeitslosigkeit mit Sicherheit auch in der Frage, wann es wie schnell wieviele mittelständische Betriebe in den neuen Bundesländern geben wird. Wenn wir nun die Perspektiven rur die Arbeitsmarktentwicklung 1991 in den neuen Bundesländern betrachten, so bietet sich hier ein höchst unterschiedliches Bild. Die verbreitete Hoffnung, daß in Ostdeutschland bereits in diesem Frühjahr ein allgemeiner Wirtschaftsaufschwung beginnen und spätestens 1992 auf dem Arbeitsmarkt durchschlagen wird, hat sich in den ersten acht Monaten nicht als tragfllhig erwiesen und sich weitgehend verflüchtigt. Die Talsohle ist meines Erachtens immer noch nicht erreicht, auch wenn die Chefm der Treuhandanstalt hier bereits vom Licht am Ende des Tunnels spricht. Hiobsbotschaften über drohende Betriebsstillegungen sind immer noch an der Tagesordnung. Der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosigkeit gerade zu Mitte des Jahres hat vielmehr deutlich werden lassen, was uns im Laufe des Jahres - insbesondere am 31. 12. 1991 - unter Umständen noch bevorstehen wird. Am pessimistischsten über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit äußerte sich im Februar das Ostberliner Institut rur Angewandte Wirtschaftsforschung. Es rechnete damit, daß das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt 1991 nochmals um 15 % sinkt, nachdem es 1990 schon um 20 % abgenommen hatte. Das Institut geht daher von über 4 Millionen Arbeitslosen gegen Ende 1991 und damit von einer Arbeitslosenquote von fast 50% aus. Demgegenüber nahmen

Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern

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die westdeutschen Forschungsinstitute und der Sachverständigenrat in ihrer bisher vorliegenden Veröffentlichung für 1991 im Jahresdurchschnitt nur einen Abbau der Beschäftigung um 1,5 bis 2 Millionen Personen und Arbeitslosenzahlen von 1,3 bis 1,5 Mio. jahresdurchschnittlich an. Die Treuhandanstalt hat unter den ihr unterstellten Unternehmen eine Befragung durchgeführt über Entwicklung der Zahl der Mitarbeiter im Verlauf des Jahres 1991. Nach einer ersten Voreinschätzung der Treuhandunternehmen wird sich die Gesamtzahl der Mitarbeiter von 2,8 Mio. in 1990 auf 1,4 Mio. reduzieren. Dies würde bedeuten, daß al/ein durch Kündigung der bei den Treuhandunternehmen beschäftigten Mitarbeiter eine Entlassungswelle in einer Größenordnung von 1,4 Mio. Mitarbeitern auf die Bundesanstalt für Arbeit zukäme. Etwas optimistischer ist die Einschätzung unseres Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung. Es rechnet damit, daß 1991 die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesanstalt vermehrt greifen. Im Zusammenspiel mit OstWest-Wanderungen und Pendlerströmen sowie einem früheren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben würde sich dadurch das Arbeitskräfteangebot in den neuen Bundesländern um insgesamt 0,8 Mio. vermindern, so daß bei einer Schrumpfung der Beschäftigung um 1,7 Mio. die Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt auf 1,1 Mio. anstiege. Alle Einschätzungen gehen allerdings davon aus, daß auch J992 die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern noch recht hoch sein wird. Selbst das Institut der Deutschen Wirtschaft hatte schon im Herbst 1990 in einer Modellrechnung für die neuen Bundesländer im Jahresdurchschnitt 1992 fast 1,8 Mio. registrierte Arbeitslose sowie 0,8 Mio. stille Reserve ausgewiesen. Wenn wir nun die Perspektiven für die Arbeitsmarktentwicklung 1991 in den neuen Bundesländern betrachten, so ist die Bundesanstalt für Arbeit, wie andere Sozialversicherungsträger auch, gehalten, ihre Haushaltspläne an den von der jeweiligen Bundesregierung bestimmten Eckwerten auszurichten. Solche Eckwerte betreffen die angenommene Wachstumsrate des realen Sozialprodukts und des versicherungspflichtigen Einkommens, die erwartete Zunahme der Erwerbstätigkeit und die Veränderung der registrierten Arbeitslosigkeit und der Kurzarbeit. Für alle diese Fragen sind bezogen auf die neuen Bundesländer natürlicherweise keine Eckwerte vorhanden, sondern wir befinden uns hier auf dem Gebiet der Spekulation. Üblicherweise werden zwar von unserem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Modellrechnungen bzw. alternative Rechnungen anhand der Aussagen der Wirtschaftsforschungsinstitute, des Sachverständigenrates, der internationalen· Organisation und der Bundesregierung vorgelegt. In der gegenwärtigen Umbruchsituation ist aber auf diese Kurzfristprognosen wenig Verlaß. Für 1991 wird davon ausgegangen,

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daß durchschnittlich mit 1,1 bis 1,5 Mio. Arbeitslosen und 1,5 Mio. Kurzarbeitern zu rechnen sein wird. Ausgehend von diesen Prognosen und der zu verzeichnenden realen Arbeitsmarktsituation müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, daß die neuen Bundesländer nicht die Armenhäuser Deutschlands mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit sowie sozialem und politischem Sprengsatz werden. Ein entscheidender Ansatz bietet sich daher meines Erachtens in dem massiven Transfer von Kapital und know how in die neuen Bundesländer. Nach einer Studie der Prognos AG für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lassen sich für eine modeme Wirtschaft wichtige maßgebliche Standortfaktoren in der Europäischen Gemeinschaft wie folgt zusammenfassen und gewichten: •

Institutioneller Rahmen

35%



Produktionskosten

26%



Technisch-wirtschaftliche Infrastruktur

25%



Zahl der Qualifikation der Arbeitnehmer

14%

Bemerkenswert an dieser Studie ist das hohe Gewicht von zusammen 60 % für den institutionellen Rahmen und die technischwirtschaftliche Infrastruktur. Beide Faktoren sind in den neuen Bundesländern in einem vergleichsweise extrem schlechten Zustand. Sie sind daher die entscheidenden Engpaßfaktoren für private Investitionen und damit für eine Erhaltung des Produktionsstandortes Ostdeutschland und einen schnellen Aufholprozeß. Bei den institutionellen Rahmenbedingungen darf man nicht vergessen, daß die Treuhandanstalt bisher nicht in der Lage gewesen ist, die notwendigen Strukturanpassungen und die Eigentumsfragen kurzfristig zu klären, um überhaupt Investoren die Möglichkeit zu bieten, sich am Markt zu etablieren. Gleichzeitig ist es allerdings auch notwendig, die von der Treuhandanstalt gehaltenen Großunternehmen daraufhin abzuklopfen, ob es Betriebsteile gibt, die sinnvollerweise in mittelständische Unternehmen überführt oder umgewandelt werden können. Dem Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung und Gerichtsbarkeit, der Klärung der Eigentumsfragen, die jetzt teilweise in Angriff genommen wurde, sowie massiven öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur müßte daher die höchste Priorität eingeräumt werden. Aber hier sind bisher nur relativ geringe Impulswirkungen zu verzeichnen. Es kann m. E. nicht hingenommen werden, daß die neuen Bundesländer als verlängerte Werkbänke genutzt werden und die entsprechenden Gewinne den Altländern zugute kommen und damit der Wohlstand in den alten Bundesländern wächst und das Wohistandsgeflllle gegenüber den neuen Bundesländern zusätzlich vergrößert wird.

Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern

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Zur sachlichen Einschätzung und Abrundung des Bildes der wirtschaftlichen Situation ist jedoch auch festzustellen, daß gemäß einem Umfrageergebnis des Münchner Ifo-Instituts im Jahre 1991 Investitionen westdeutscher Unternehmen in den neuen Bundesländern VOn etwa 13,5 Mrd. DM und von 21,5 Mrd. DM im kommenden Jahr vorgesehen sind. Besonders viel investieren in den neuen Ländern der Wirtschaftszweig Steine und Erden sowie die Mineralölverarbeitung, die Druckereien und die Nahrungsmittelproduzenten. Allein das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe plant nach dem Bericht bis Ende 1992 Investitionen von gut 5 Mrd. DM. In den Branchen Maschinenbau, Elektrotechnik und Fahrzeugbau seien jeweils Investitionen zwischen 2,5 und 4 Mrd. DM vorgesehen. Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß die Attraktivität der neuen Bundesländer als Produktionsstandort entscheidend auch von den Rahmenbedingungen mitbestimmt wird. Dabei geht es nicht nur um die Investitionen der eigenen Wirtschaft, sondern auch um die direkten Investitionen aus der alten Bundesrepublik und aus dem Ausland. Der Abbau von derzeitigen Standortdefiziten verbessert natürlich die Angebots-bedingungen rur Unternehmen und induziert gleichzeitig positive Beschäftigungseffekte, wie sie sich aus der Sanierung der Infrastruktur und der Lösung von Umweltproblemen ergeben können. Es geht also hier m. E. entscheidend darum, die Beschäftigungsfelder unter der Regie der öffentlichen Hand schneller zu erschließen und die herkömmlichen administrativen Dispositionszeiten zu verkürzen. Gleichzeitig würde durch eine solche Handlung ein deutliches Zeichen der Ermutigung und Hoffnung rur die Bürger und ein beispielgebendes Verhalten staatlicher Verwaltung gesetzt. Sicherlich ist es richtig, wenn westdeutsche und ausländische Unternehmen mit einstigen DDR-Betrieben kooperierten. Es werden Gesellschaften gebildet, und es kommt auch zu entsprechenden Fusionen. Dies bedeutet aber in aller Regel den Verbleib zentraler Instanzen der Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen in den alten Bundesländern. Wäre es aber nicht geradezu beispielgebend oder signalsetzend, wenn der Staat einer Filialisierung in den neuen Bundesländern entgegenwirkte und oberste Gerichtsinstanzen, Hauptverwaltungen u.ä. dort ansiedelte? Durch solche Kristallisations- und Sogeffekte gewänne m. E. der östliche Wirtschaftsraum rascher an wirtschaftlicher Fahrt. Insoweit sind wir von Ludwig Erhards Prophezeiung aus dem Jahre 1953 "in politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Beziehung wird die Wiedervereinigung Deutschlands Kräfte entfesseln, von der Stärke und Macht, wie es sich die Schulweisheit der Planwirtschaft nicht träumen läßt." - noch sehr weit entfernt.

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IlI. Der Beitrag der Arbeitsämter

Welchen bescheidenen Beitrag können nun die Arbeitsämter beisteuern? Die aktive Arbeitsmarktpolitik der Arbeitsämter ist weder zu über- noch zu unterschätzen. Der bereits erwähnte Regierungsbeschluß vom 8. März 1991 bedeutete z. B. rur die Arbeitsämter die Erhöhung der ABM-Beschäftigten von haushaltspolitisch vorgesehenen 130.000 um rund 150.000 auf damit 280.000. Eine Größenordnung, wie sie im übrigen die Arbeitsämter im alten Bundesgebiet mit eingespielter Verwaltungsorganisation und intakten Strukturpartnern nie zu bewältigen hatte (1991: 92.000 ABM-Teilnehmer). Mitte September wurde - entgegen allen Erwartungen erfahrener Arbeitsverwaltungspraktiker durch die noch junge Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern im Zusammenwirken mit entsprechenden Trägern diese Zielgröße bereits erreicht. Das ist ein großer Erfolg, denn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben rasch eine wesentliche Entlastung des Arbeitsmarktes bewirkt und damit einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung des sozialen Friedens geleistet. Darüber hinaus konnten wichtige Arbeiten im öffentlichen Interesse in Angriff genommen werden - denken Sie an Maßnahmen im Umweltbereich oder an die Sanierung von altindustriellen Anlagen. Damit werden die Angebotsbedingungen ftlr die private Wirtschaft verbessert und Voraussetzungen rur die Errichtung von Dauerarbeitsplätzen geschaffen. Auch wenn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zeitlich befristet sind und keine Dauerarbeitsplätze darstellen, können sie gleichwohl zahlreichen Beschäftigten eine Perspektive rur eine neue berufliche Tätigkeit eröffnen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ABM mit einer beruflichen Qualifizierung verbunden sind. Aus diesen Gründen ist es richtig und konsequent, sich mit dem erreichten Stand von ABM nicht zufrieden zu geben. Weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind nötig und möglich. Bei den Arbeitsämtern liegt eine Fülle ausgearbeiteter Anträge rur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor, die noch nicht bewilligt worden sind. Ohne weitere Mittel hingen insbesondere die Gesellschaften rur Arbeitsilirderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung in der Luft, auf die sich vor kurzem die Sozialpartner und die Treuhandanstalt verständigt haben. Zugleich müßten die Erwartungen vieler Menschen enttäuscht werden, die in ihre berufliche Planung die Brücke einer ABM-Beschäftigung eingebaut haben. Das wichtigste Argument rur weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist aber wohl: Solange die wirtschaftlichen Auftriebskräfte in den neuen Bundesländern nicht stärker sind, ist die Alternative zu ABM fast immer nur Arbeitslosigkeit. Die Einrichtung weiterer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ist also gut begründet. Mit den nunmehr zusätzlich bewilligten 3 Mrd. DM können bis zum Jahresende zusätzliche J20.000 ABM-Stellen eingerichtet werden. Ende des

Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern

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Jahres könnte die ABM-Beschäftigung in den neuen Bundesländern dann ein Niveau von 400.000 Arbeitnehmern erreichen. Von einer Reduzierung der ABM - wie es in den letzten Wochen in den Medien hieß - kann also keine Rede sein, lediglich die Zuwachsraten müssen kleiner werden. Im Durchschnitt der Monate September bis Dezember können weitere 30.000 Arbeitslose oder Kurzarbeiter in ABM einmünden. In den letzten drei Monaten waren es durchschnittlich knapp 50.000. Außerdem müssen die zusätzlichen Mittel breiter gestreut werden, damit möglichst viele Arbeitslose die Chance einer ABM erhalten. Deshalb wurde der Sachkostenzuschuß aus dem "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" von bisher 30 % auf 15 % begrenzt. Der Zuschuß zu den Lohnkosten beträgt in Zukunft statt 100 % grundsätzlich 90 %. Ausnahmen sind zulässig, wenn ältere oder schwerbehinderte oder langfristig Arbeitslose sowie Null-Stunden-kurzarbeitende Frauen eingestellt werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß in den neuen Bundesländern diese Zielgröße von 400.000 ABM-Teilnehmern bis Jahresende erreicht werden wird. Die Bundesanstalt filr Arbeit wäre damit einer der größten "Arbeitgeber" auf dem Territorium der einstigen DDR. Das darf in der breiten Öffentlichkeit aber keinesfalls zu dem Schluß filhren, daß zukünftig weiterhin solche ABMZuwachsraten möglich wären. Das würde letztlich zu einer Verzerrung des Arbeitsmarktes filhren. Im übrigen gehen die Meinungen zu ABM und damit im Zusammenhang stehender, unterschiedlich bezeichneter Gesellschaften zur Arbeitsilirderung, Qualifizierung und Beschäftigung weit auseinander. Das wurde in der Kanzlerrunde, die in der vergangenen Woche stattfand, besonders deutlich. Während die Arbeitgeberseite, so die Herren Weiss (BOI), Stihl (OIHT) und Späth (ZDH) darauf verwiesen, daß die hohe Zahl von ABM und Beschäftigungsgesellschaften zu erheblichen finanz- und strukturpolitischen Verwerfungen und zu einer immer schwerer kontrollierbaren Arbeitsmarktpolitik geführt habe, bezeichnete Herr Meyer (DGB) die Zahl der Beschäftigungsgesellschaften dagegen als noch zu klein. Ich meine, diese Gesellschaften sind in der gegenwärtigen Umbruchphase ein nützliches Element, weil sie als Auffanginstitution filr Arbeitnehmer eine wichtige Rolle spielen. Das betrifft sowohl die Organisierung von ABM (auch als deren Träger), die Vorbereitung und Durchfilhrung von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen als auch die Schaffung von Voraussetzungen filr die Bildung kleiner Privatunternehmen. Nicht zu unterschätzen ist die psychologische Komponente. Der bisher nicht mit der Arbeitslosigkeit vertraute Ex-DDRBürger findet in diesen Gesellschaften den notwendigen inneren Halt, da er weiterhin in einem ihm bekannten Umfeld wirken kann. Abschließend zu diesem Problemkreis möchte ich aber noch auf vier Aspekte hinweisen.

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Die neuen ABM-Vorschriften bedeuten auch fUr diese Gesellschaften, daß sie bei künftigen Vorhaben in der Regel nur einen 90 % Lohnkostenzuschuß erhalten. Nur durch Erlangen von Mitteln aus anderen Finanztöpfen (z. B. des Landes) kann an die Teilnehmer eine 100 % tarifliche Vergütung erfolgen.



Verwaltungsaufgaben dieser Gesellschaften im Sinne von ABM fUr ABM sind ab sofort nicht mehr llirderfllhig, weder lohn- noch sachkostenseitig.



Von größter Bedeutung ist die in nächster Zeit zu erwartende Entscheidung der Bundesregierung, ob die Kurzarbeitergeldregelung gemäß § 63 Abs. 5 AFG über den 3 1. 12. 1991 hinaus verlängert wird. Da nicht wenige 0Kurzarbeiter in Gesellschaften dieser Art überfUhrt wurden, sich jedoch nicht alle in vom Arbeitsllirderungsgesetz gellirderten Maßnahmen befinden, würde eine Nichtverlängerung zu harten Konsequenzen fUhren und fUr manche Gesellschaft möglicherweise das Aus bedeuten.



AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern bedeuten nicht Nischenpolitik fUr bestimmte Personengruppen, wie das in den Altländern der Fall ist, sondern die Möglichkeit zur beruflichen Tätigkeit leistungsflihiger und leistungswilliger Arbeitnehmer.

Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (FuU) sind ein weiteres, bedeutsames Aufgabenfeld, das die Arbeitsämter in den letzten Monaten mit zunehmendem Erfolg bestellen. Die 1991 bisher erreichten Ergebnisse verdeutlichen die Fortschritte, die in gemeinsamer Arbeit mit Bildungsträgern, Unternehmen, der Treuhandanstalt und den Kommunen erreicht wurden. Die bereits erwähnten über 536.000 Eintritte in diesem Jahr unterstreichen diese Aussage. Die fUr 1991 haushaltsprogramatisch vorgegebene Größe von 550.000 Eintritten wird erreicht und überschritten werden. Deutlich ist immer wieder zu vernehmen, man müsse Qualifizierungsziele vorgeben, bei deren Erreichen das Einmünden auf einen neuen Arbeitsplatz garantiert ist. Da sich die künftigen Wirtschaftsstrukturen aber heute nicht im Detail voraussagen lassen, kann auch nicht fUr jeden Teilnehmer an einer FuUMaßnahme ein quasi z. zt. noch schwebend unwirksamer Arbeitsvertrag mit einer Arbeitsaufgabe gemäß aufgenommener Bildungsrichtung zugesichert werden. Aber auch hier halte ich einseitige Schwarzmalerei fUr ebenso wenig hilfreich wie die Forderung nach zentralen Orientierungen fUr die einzelnen Arbeitsamtsbezirke. Auch hier gilt: nur in einer sich weiter ausprägenden Zusammenarbeit aller Akteure am Arbeitsmarkt können vor Ort letztlich grundlegende Richtungen ermittelt werden, die sich an künftigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Strukturen orientieren. Unabhängig davon kann man folgende Feststellungen treffen, die aus der Sicht der Arbeitsverwaltung beachtenswert erscheinen:

Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern

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Qualifizierungspolitik für die neuen Bundesländer ist einzubetten in eine umfassende Beschäftigungspolitik. Qualifizierung spielt eine herausragende Rolle im Kontext aktiver Arbeitsmarktpolitik und stellt auch die betriebliche Personalpolitik vor große Herausforderungen. Berufliche Bildung muß marktgängige Ergebnisse zum Ziel haben. Hierzu ist die Weiterbildungsbereitschaft der Bürger zu stärken.



In den neuen Bundesländern bedarf zwar die bereits vorhandene Qualifikation der Ergänzung, Anpassung und Neuorientierung, sie ist aber von allen Standortfaktoren derjenige mit dem größten Entwicklungs- und Produktivitätspotential. Nicht nur Investitionen in das Sachkapital, sondern auch die in das Humankapital werden den Strukturwandel zu einer wettbewerbsflihigen Wirtschaft entscheidend voranbringen.



Davon ausgehend, daß sich die Beschäftigungsstruktur in den neuen Bundesländern in etwa mit der Struktur des Altbundesgebietes im Jahre 1965 vergleichen läßt, kann man in der nahen Zukunft die Expansionsschwerpunkte insbesondere im Dienstleistungsbereich (Handel, Kreditgewerbe, Versicherung, Hotel- und Gaststättengewerbe, Beratungsdienste, sonstige Dienstleistungen), aber auch im warenproduzierenden Gewerbe (Bau- und Ausbaugewerbe, Maschinenbau) sehen. Schrumpfungsbereiche sind voraussichtlich die Land- und Forstwirtschaft, das Textilgewerbe, Chemie, Bergbau sowie das Ernährungs- und Bekleidungsgewerbe.



Im Prozeß der Umstellung auf neue Strukturen muß für den Einzelnen die Botschaft gelten: Auch für unsichere Aussichten lohnt sich Qualifizierung; denn ohne sie wächst die Unsicherheit rasch an. Erlernen von Neuem muß einhergehen mit dem Verlernen von Altem. Sicherheit im Sinne völliger Gewißheit und exakt vorgegebener Arbeitsplatzprofile gibt es letztlich nicht. Sie wächst nach und nach in dem Umfang, in dem innerhalb der Unternehmen neue Arbeitsplätze, Karrieren und Aufstiegswege erschließbar werden.

Qualifizierungspolitik muß diesen Prozeß stützen und rurdern durch •

"Qualifizieren statt Entlassen" und



durch "Qualifizieren bei Arbeitslosigkeit"



mit wachsender Dynamik der Wirtschaft durch "Qualifizieren im Übergang zum neuen Arbeitsplatz"



und schließlich nach der Devise "NeueinsteIlen und Qualifizieren".

Diesen Gesamtprozeß begleiten die Arbeitsämter mit ihren Partnern rurderlieh und mit zunehmender Effizienz. Gegenwärtig arbeiten die 38 Arbeitsämter und 160 Nebenstellen der neuen Bundesländer mit mehreren tausend Bildungsträgern zusammen. Dabei gilt es festzustellen, daß unser Interesse darauf 5 Drobnigl Ramm

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ausgerichtet ist, ortsansässige Bildungseinrichtungen verstärkt in die Lösung der Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen einzubeziehen. Dabei haben gemeinsam arbeitende Bildungsträger aus Ost und West besonders hervorzuhebende Ergebnisse erzielt. Das bezieht sich auf Qualität und Quantität. Die der Bundesanstalt rur Arbeit zur Verftlgung stehenden Mittel in Höhe von 6,7 Mrd. DM sind eine Basis, die die Arbeitsämter in die Lage versetzt, die vorgegebene Größenordnung von 550.000 Eintritten in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen finanziell abzusichern. Hinzu kommen noch die Haushaltsmittel ftlr die institutionelle Förderung. Hierftlr liegen gegenwärtig Anträge von 498 Bildungsträgern vor, die insgesamt 531 Mio. DM erhalten wollen. Weitere finanzielle Mittel rur flankierende Arbeitsmarktmaßnahmen in Höhe von rd. 6 Mrd. DM stehen rur 1991 - 1993 aus drei EG-Fonds zur Verftlgung. Das betrim •

den Europäischen Fonds rur regionale Entwicklung (3 Mrd. DM)



den Europäischen Sozialfonds (l,8 Mio. DM, davon 480 Mrd. DM rur Maßnahmen, die durch die Bundesanstalt rur Arbeit realisiert werden); und



den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds rur die Landwirtschaft, Abteilung Ausrichtung (1,2 Mrd. DM).

Anita Grandke DIE BERUFSTÄTIGE FRAU UND IHRE SOZIALPOLITISCHE AB SICHERUNG Das gestellte Thema bedarf zunächst der näheren Bestimmung und Eingrenzung. Die diesbezügliche rechtliche Regelung, wie sie in der DDR bestand und wie sie nach Bundesrecht gegeben ist, setze ich als bekannt voraus, auch erlauben die zeitlichen Bedingungen nur eine Verdeutlichung der Problemstellung und einen Ansatz rur die Diskussion von Lösungswegen. Eine umfassende Betrachtung zur Berufstätigkeit der Frau ist ebenfalls nicht möglich, weshalb Fragen des Arbeitsschutzes oder das aktuelle Problem der Nachtarbeit ausgeklammert bleiben. Ich möchte mich ganz auf den Zusammenhang zwischen Berufsarbeit und Kindererziehung konzentrieren. Hier nun muß ich das Problem der Wahlfreiheit zwischen Haushaltsruhrung und Kindererziehung einerseits und Berufstätigkeit, Kindererziehung und Hausarbeit andererseits ausklammern, weil sonst die Bewertung und soziale Einordnung von Hausarbeit und Kindererziehung mit anzusprechen wäre, wie die Voraussetzungen rur eine Wahlfreiheit überhaupt, was ein eigenes komplexes Thema darstellen würde. Meine Ausruhrungen beziehen sich also auf die Fälle, in denen der Wunsch und/oder die Notwendigkeit besteht, neben der Kindererziehung berufstätig zu sein. Ich habe das gestellte Thema wegen seiner außerordentlichen Bedeutung und Aktualität angenommen, bin aber der Meinung, daß es fehlerhaft formuliert ist. M. E. sollten wir uns endlich und ohne Vorbehalt dazu bekennen, daß die Erziehung und Betreuung der Kinder beiden Eltern gleichermaßen obliegt. Sie können zwar rur sich jede beliebige Arbeitsteilung vereinbaren und praktizieren. Doch der Gesetzgeber, die Rechtsprechung und gerade auch die Wissenschaft sind nicht berechtigt, diese Aufgabe von vornherein den Müttern zuzuweisen. Bekanntlich war in der DDR sehr viel rur die Berufstätigkeit von Müttern getan worden. Doch die Grenzen, die dem Ergebnis gezogen waren, rUhren

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neben anderem gerade von der einseitigen, ja hartnäckigen Orientierung auf die Mütter her, mit der das alte Rollenbild ständig reproduziert wurde). Berufstätigkeit und Mutterschaft als ausschließliches Problem der Frau ist zeitlich begrenzt auf die Schwangerschaft und die erste Phase der Entwicklung des Kindes, die zugleich die der Rekonvaleszenz der Mutter ist. In dieser Zeit bedarf speziell die Frau und Mutter des besonderen Schutzes, der nur ihr und dem Kind, nicht auch dem Vater gelten kann. Daß diese besondere Schutzzeit im Beitrittsgebiet nun wieder auf 8 Wochen reduziert ist (von bislang 20 Wochen), kann hier nur bedauert, aber nicht thematisiert werden, was besonders unter dem Aspekt der Diskussion zum Schutz des ungeborenen Lebens naheliegen würde 2 • Geht man von der Berufstätigkeit aus, dann liegt das eigentliche Problem beim Zusammenhang von Erziehung und Betreuung des Kindes über einen langen Zeitraum, also von der frühkindlichen Phase bis zur Selbständigkeit. Hier muß sich die Politik, das Recht und die Wissenschaft den Eltern zuwenden, und auch Alleinerziehende können Mütter oder Väter sein. Sozialpolitik ist gehalten, von der Verfassung und vom Familienreche auszugehen, nicht aber von der Tradition und der den Bedingungen geschuldeten Lebenspraxis vieler Familien, weil sie sonst auf die Stabilisierung der Bedingungen hinwirkt, zu deren Veränderung sie aber aufgerufen ist. Der Bezug zur realen Lage in den Familien, d. h. zur besonderen Rolle der Mütter bei der Betreuung der Kinder, wird im Prozeß der Umsetzung von Sozialpolitik und der Rechtsanwendung ohnehin voll zur Geltung kommen. Natürlich kann man von einer solchen Konzeption nur langfristig Veränderungen in der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und besonders auch im Umgang mit der Arbeitskraft von Müttern und Vätern erwarten. Doch um so mehr ist es notwendig, sich zur Konsequenz zu entschließen und von vornherein einen fehlerhaften Ansatz zu vermeiden. ) Erst 1984 gab es Ansätze rur eine Einbeziehung der Väter in die Regelungen zur Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Berufstlltigkeit. Sie galten zunächst den Ehegatten von Müttern mit drei und mehr Kindern, dann allen Ehegatten von Müttern. Die Regelung blieb aber halbherzig und konnte in der Praxis wenig ausrichten. Vergl. § 5 der VO über die Verbesserung von Leistungen nach der Geburt des dritten und jedes weiteren Kindes vom 24.5.1984 (GBl DDR I 193) und § 11 der VO über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern vom 24.4.1986 (GBI DDR 241). 2 1972 war der Wochenurlaub von 8 auf 12 und 1976 auf 20 Wochen verlängert worden. Vergl. dazu und rur einen Gesamtüberblick über die rechtlichen Regelungen der DDR im Bereich der Familien- und Frauenpolitik und zu ihrer kritischen Beleuchtung: Gunnor Wink/er (Hrsg.), Frauenreport 90, (1990). 3 Das Familienrecht des BGB hat sich zwar grundsätzlich zu gleichen Rechten und Pflichten der Eltern bei der Betreuung der Kinder bekannt (I. Ehereformgesetz 1976). Es enthlllt aber noch Reste überkommener Bewertung der Mutterschaft (vergl. § 1606 Abs. 3), die vor allem aber in der Rechtsprechung weiter wirken.

Die berufstätige Frau und ihre sozialpolitische Absicherung

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Unser Thema fragt nach der sozialen Absicherung der Berufstätigkeit. Was ist damit gemeint und gewollt? Wir haben es mit einem undefinierten Begriff, eventuell nur mit einem Arbeitstitel für ein Diskussionsthema zu tun. Diese Fragestellung kennzeichnet die rechtliche Grundsituation. Die Verfassung der DDR hatte die berufliche Förderung der Frau als Aufgabe statuiert und als Mittel zur Förderung der Familie beschrieben4 • Die erste Verfassung von 1949 hatte solche Gesetze gefordert, die die Voraussetzungen dafür schaffen, daß "die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann" (Art. 18). Auch das FGB widmete sich im § 10 Abs. 2 der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft, in der reformierten Fassung des Jahres 1990 (entsprechend jahrelangen Forderungen) der Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufstätigkeits. Diese Regelungen sind außer Kraft. Das Recht der alten Bundesrepublik kannte den Begriff der Vereinbarkeit nicht. Er hat nunmehr im Zuge des Beitrittsgeschehens Eingang in das Recht der Bundesrepublik gefunden. Art. 31 des Einigungsvertrages fordern eine Gesetzgebung im Interesse der Gleichberechtigung und (ausdrücklich) im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und zwar für Mütter und Väter. Vereinbarkeit von Familie und Beruf kennzeichnet begrifflich genauer das Problem und das Ziel im Vergleich zum Begriff der sozialen Absicherung der Berufstätigkeit. (Übrigens ist auch der Begriff Gleichstellung, wie er heute viel verwendet wird, nicht günstig, weil hier überhaupt nur ein Ziel, nicht aber die Probleme angesprochen werden.) Der Begriff der Vereinbarkeit bedarf nun seinerseits der näheren Bestimmung. Bekanntlich gibt es in der Literatur der alten Bundesrepublik die These von den zwei Arten der Vereinbarkeit, der simultanen (von der DDR favorisiert) und der sequentiellen (von der alten Bundesrepublik bevorzugt). Die erste Variante zielt auf die größtmögliche Kontinuität in der Berufstätigkeit, die zweite meint das Phasenmodell, also die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach längerer Unterbrechung im Interesse der Betreuung des Kindes bzw. der Kinder. Beide Wege sind von Bedeutung, auch ist eine strikte Trennung zwischen beiden nicht möglich, weil für die Mutter eine gewisse Zeit der Unterbrechung selbstverständlich ist. M.E. sollte das Hauptinteresse der Sozialpolitik und des Rechts der simultanen Vereinbarkeit gewidmet sein. Jedenfalls sollte man nicht verkennen, daß hier am ehesten die Lösung für Kind und Eltern gefunden werden kann, daß das Phasenmodell bei fehlenden Alternativen ohnehin angenommen werden muß (wenn nicht ganz auf Kinder verzichtet wird)

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Vgl. Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1968.

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Siehe I. Familienrechtsänderungsgesetz vom 20.7.1990 (GBI DDR 11038).

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Anita Grandke

und daß eine Politik, die auf das Phasenmodell setzt, einen Großteil der Probleme bei der Familie, real vor allem bei den Frauen beläßt. Wenn hier die simultane Vereinbarkeit favorisiert wird, dann unter der Voraussetzung, daß innerhalb dieses Ansatzes verschiedene Varianten beruflicher Tätigkeit möglich sind, namentlich in Abhängigkeit vom Alter des Kindes, der Kinderzahl und anderen Aspekten. Deshalb ist die weitere Verlängerung des Erziehungsurlaubs, der natürlich in Anspruch genommen wird und eine gewünschte Variante oder eben überhaupt eine Variante rur viele Eltern ist, nicht der Weg zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, also auch kein Schritt zur Einlösung der die Vereinbarkeit betreffenden Forderung des Einigungsvertrages. Sollten wir uns auf die Sorge um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf rur Mütter und Väter unter dem Thema der sozialen Absicherung verständigen, so ergibt sich als weitere Frage die nach den Voraussetzungen und Mitteln dieser Absicherung, d. h. der Vereinbarkeit. Sie sollen zunächst nur benannt werden, während die rechtliche Umsetzung und die Realisierbarkeit gesondert anzusprechen sind, weil sich hier ein äußerst kompliziertes Feld von Widersprüchen auftut. Vereinbarkeit von Familie und Beruf erforden zuallererst außerhäusliche Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Sie sind die Grundvoraussetzung rur eine Tätigkeit überhaupt und das nur dann, wenn sie von den zeitlichen Bedingungen und in bezug auf die Versorgung wenigstens eine Teilbeschäftigung erlauben und wenn die Kosten nicht den ökonomischen Effekt der Erwerbstätigkeit ftlr die Familie wieder aufheben. Vereinbarkeit erfordert weiterhin Chancengleichheit in bezug auf die Erlangung und den Erhalt des Arbeitsplatzes, ungeachtet der bestehenden Betreuungspflichten, und sie erfordert konkrete Hilfe rur den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozeß nach betreuungsbedingter Unterbrechung. Wesentlich ist schließlich die Möglichkeit der eigenen und sozial abgesicherten Betreuung der Kinder im Falle ihrer Erkrankung durch Mutter oder Vater. Schon diese wichtigsten Erfordernisse, ohne die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht möglich ist (die wenigen Fälle, in denen die finanzielle Lage der Eltern die Schaffung individueller Lösungen zuläßt, können hier ausgeklammen bleiben), machen die außerordentliche Dimension des Problems deutlich. Dennoch steht es unausweichlich auf der Tagesordnung. Es ist wohl eines der Jahrhundertprobleme der entwickelten Industriegesellschaften. Die weitgehende Kontinuität in der Berufstätigkeit von Müttern (die der Väter steht ohnehin nicht zur Diskussion) ergibt sich als objektive Notwendigkeit aus der Entwicklung von Bildung, Technik, Kultur und Persönlichkeit sowie aus der des Lebensstandards, der Familiengröße, der Instabilität von Ehen bzw.

Die berufstätige Frau und ihre sozialpolitische Absicherung

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Partnerschaften. Dieser Grundgedanke durchzieht denn auch alle Menschenrechtskonventionen 6 • Die Schaffung der rur die Vereinbarkeit notwendigen Bedingungen berUhrt die unterschiedlichsten Interessen, und die hier auftretenden Schwierigkeiten werden im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung besonders sichtbar. Bei den allgemeinen Prozessen der Vereinigung kann man die gegenwärtigen Reibungen und Komplikationen weitgehend als solche des Übergangs und seiner mehr oder weniger angemessenen Bewältigung verstehen. Anders verhält es sich im Zusammenhang mit der Stellung der Frau und der Rolle der Familie. Hier geht es offensichtlich um eine neue (alte) Weichenstellung, um die Wiederbelebung von Funktionen der Familie und eine dementsprechende Orientierung der Frau auf die Familie. Um so mehr ist zu betonen, daß die Schaffung der Bedingungen fUr die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in hohem Maße vom politischen Willen abhängig ist. Dieser aber ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das betrim den Willen, die Berufstätigkeit von Frauen (speziell von Müttern) wirklich zu wollen, ihre ökonomische Unabhängigkeit tatsächlich anzustreben und auf die besondere Wertung der Frauenarbeit je nach Arbeitsmarktlage zu verzichten. In der DDR war dieser politische Wille eindeutig und stark ausgeprägt. Ohne ihn wäre der erreichte Versorgungsgrad mit Kindereinrichtungen und der Bildungs- und Beschäftigungsgrad der Frauen nicht möglich gewesen. Das wird gegenwärtig mit Hinweisen auf den Charakter des Gesamtsystems und mit der Feststellung abgewertet, die Frauen seien zur Berufsarbeit gezwungen worden. Doch geht das m.E. an den Interessen und Problemen der Familien im Beitrittsgebiet vorbei. Die 40iährige Entwicklung in der DDR hat einen objektiv bedingten Prozeß gefördert und deshalb gilt das Interesse mehrheitlich nicht der erneuten Beschränkung der Frau auf die Familie, sondern den Bedingungen der außerhäuslichen Betreuung der Kinder wie den Bedingungen beruflicher Tätigkeit und Entwicklung. Dazu kommt, daß der ökonomische Zwang zur Berufstätigkeit der Mütter heute im Beitrittsgebiet größer ist denn je. Neben der politischen steht die ökonomische Dimension des Problems rur Bund, Länder und Kommunen7 , und natürlich auch rur die Betriebe. Damit ist zugleich das Problem der Kosten rur die Arbeitskraft von Eltern, d.h. ihre Kon-

So die Gesamtaussage der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961; Art. 7 der Internationalen Konvention Ober die wirtschaftlichen, sozialen und kulturelIen Rechte vom 16.12.1966 und Art. II der Konvention Ober die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979. 7 An der Finanzierung von Kindereinrichtungen im Beitrittsgebiet hatte sich der Bund laut Einigungsvertrag (Art. 31 Abs. 3) bis zum 30.06.1991 zu beteiligen. Nunmehr ist die Finanzierung generelI Sache der Länder und der Eltern.

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kurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, der eventuelle Bumerangeffekt von Maßnahmen des besonderen Schutzes oder gar der Förderung angesprochen. In der DDR war die Vereinbarkeit auf einem bestimmten Niveau gegeben, und zwar wesentlich mehr als in den alten Bundesländern, ungeachtet der Probleme, die in der Zeit der unmittelbaren Wende auch deutlich formuliert wurden. Inzwischen ist im Beitrittsgebiet eine spürbare Verschlechterung der Voraussetzungen fUr die Vereinbarkeit eingetreten. Auch ist durch die Veränderungen im Bereich der Arbeit (vor allem den Wegfall der Mütterrurderung) und durch die größere Funktionszuweisung an die Familie der Umfang dessen, was zu vereinbaren ist, wesentlich angewachsen. Dennoch dürften die Bedingungen fUr die Vereinbarkeit in einem gravierenden Punkt, nämlich in bezug auf die Betreuung der Kinder, nach wie vor besser sein als in den alten Bundesländern. Insofern gibt es fUr Sozialpolitik und Recht durchaus verschiedene Ausgangssituationen in Deutschland Ost und West8 • Die rechtlichen Wege müssen von der Zielstellung - die Vereinbarkeit zu sichern - von der politischen und ökonomischen Dimension des Problems und von den gegebenen marktwirtschaftlichen Konstellationen ausgehen. Das kann von meiner Seite nur im Ansatz versucht werden. Folgende Überlegungen möchte ich zur Diskussion stellen: •

Das Problem hat Verfassungsrang. Sollte eine neue deutsche Verfassung sich zur Formulierung von Staatszielen verstehen, dann sollte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unbedingt dazu gehören. Zu diesem Gedanken fordert nicht zuletzt der Einigungsvertrag heraus. Offenbar war die soziale Brisanz des Problems bei den Vertragsverhandlungen unübersehbar. So wurde zum einen allgemein die Aufgabe formuliert, das Grundgesetz zu überarbeiten und dabei die Aufnahme von Staatszielen zu prüfen (Art. 5 EV), und es wurde, wie schon angefUhrt, die Gleichberechtigung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als besondere Aufgabe fUr den gesamtdeutschen Gesetzgeber hervorgehoben.



Notwendig erscheint aber auch, die Formulierung des Art. 6 Abs. 2 des GG zu überdenken. Dort wird die Pflege und Erziehung der Kinder nicht nur als Recht der Eltern, sondern auch als die "zuvärderst" (von mir hervorgehoben) ihnen obliegende Pflicht bestimmt. (Eine Pflicht, die in der Familie aufgrund realer Bedingungen faktisch in der Regel zu einer solchen der Frau wird.) Diese Art der Pflichtenzuweisung bedarf der Diskussion. Die Gesellschaft kann ohne Kinder nicht fortexistieren. Deshalb muß sie sich

Leider muß hier angemerkt werden, daß das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Kleinkinderbetreuung gegenwärtig "gelöst" wird durch eine drastische Geburtenreduzierung. Das ist nicht nur ein deutliches Signal fllr die Lage der Familien, sondern scham auch Tatsachen im Bereich der Betreuung, die sich auflange Zeit ungünstig auswirken werden.

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fragen lassen, mit welchem Recht sie die Pflege und Erziehung der Kinder (faktisch auch ihre Versorgung) einseitig als Pflicht den Eltern auferlegt und ihre Mitwirkung, soweit sie erfolgt, (von der Schule abgesehen) nur als Hilfe, Unterstützung filr Eltern, nur als Reaktion auf Defizite in der Familienerziehung versteht9• M. E. müßte die Verfassung den Eltern zuvörderst das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantieren und zugleich eine Mitverantwortung der Gesellschaft dafilr begründen, die dann ihre Konkretisierung in einem Recht des Kindes oder der Eltern auf einen Platz im Kindergarten und Hort, in einem Recht auf gesundheitliche Betreuung, Talentförderung u.s.w. fmden müßte. Mit einer solchen verfassungsrechtlichen Entwicklung wäre der entscheidende Durchbruch in bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gemacht. •

Auf dieser Basis wäre dann im Interesse der Vereinbarkeit das Augenmerk zunächst auf die allgemeinen Bedingungen beruflicher Tätigkeit zu richten. Können sie helfen, gebührt ihnen immer der Vorrang vor Sonderregelungen, weil diese nicht ohne diskriminierende Nebenwirkung bleiben. Zu denken ist hier an die Dauer der Arbeitszeit, ihre Flexibilität (wenngleich auch damit Probleme verbunden sein können) oder an den Urlaub, auch das Ferienregime usw.



Schließlich muß gesichert werden, daß Eltern, die im Interesse der Kinderbetreuung Beschränkungen in der beruflichen Tätigkeit auf sich nehmen, nicht zusätzliche Nachteile erleiden. (Stichworte: geringfilgige Beschäftigung oder die sogenannte Verftlgbarkeit von Müttern auf dem Arbeitsmarkt und die damit noch immer verbundene Arbeitsweise vieler Arbeitsämter.)



Besondere Hilfen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf können am ehesten ohne negative Rückwirkung bleiben, wenn sie im Bereich von Bildung und Qualifizierung einsetzen. Sie könnten die beruflichen Chancen gerade von Eltern vergrößern und einen Teil der Vereinbarheitsproblematik in die Ausbildungsphase mit ihren ganz eigenen Bedingungen verlagern. Diesbezügliche Erfahrungen aus der DDR bei der Förderung studierender Mütter und Väter sollten Beachtung finden.



Schließlich bleiben als besondere Maßnahmen der Erziehungsurlaub und die Freistellung bei Krankheit der Kinder. Sie haben ganz sicher Rückwirkungen auf die Chancen der Mütter oder Väter im Arbeitsprozeß. Dennoch sind sie unabdinglich. Der Nachteil muß im individuellen Zusammenhang möglichst gering gehalten bzw. bekämpft werden. Man muß ihn aber auch

So die Grundidee des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, § 24 Buch VIII SGB und § 8 SGB, Allgemeiner Teil in der Fassung des Art. 2 KJHG. Ob sich allerdings die Bewertung der Kinderbetreuungseinrichtungen als Reaktion auf Defizite in der Familienerziehung in den neuen Bundesländern durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.

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Anita Grandke in gewissem Umfang in Kauf nehmen, es ist ein Preis rur den hohen Wert der Elternschaft.

Vorstehend wurden nur die direkt mit dem Arbeitsprozeß zusammenhängenden Bedingungen der Vereinbarkeit angesprochen. Gesondert nachzudenken ist über die spezifischen Probleme der Alleinerziehenden und der kinderreichen Eltern sowie über die Palette von Bedingungen, die in anderen Bereichen wirken, wie etwa die Wohnverhältnisse oder auch der Umgang der Behörden mit den Eltern allgemein und speziell mit denen, die berufstätig sind.

Heide Pfarr

ZUR SOZIALPOLITISCHEN AB SICHERUNG DER BERUFSTÄTIGEN FRAU IN DER ALTEN UND NEUEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Meine Zeit ist knapp. Ich werde deshalb in Thesenfonn drei Fragen zu beantworten suchen: Erstens: Inwiefern begründen in der Bundesrepublik Deutschland bestimmte Beschäftigungsfonnen, die typischerweise Frauen angeboten werden, bereits im Arbeitsverhältnis einen subnonnalen sozialen Leistungs- und Sicherungsstandard, gemessen am Standard, den Männer in den filr sie typischen Arbeitsverhältnissen erzielen? Zweitens: Welchen Umfang und welche Qualität an sozialer Sicherung erwerben sich Frauen durch ihre Berufstätigkeit? Drittens: Welche Perspektiven und Forderungen sind zu entwickeln? 1. Inwiefern verbinden sich mit typischen Frauenbeschäftigungsformen bereits im Arbeitsverhältnis diskriminierte Leistungs- und Sicherheitsstandards?

Zunächst sei der altbekannte Tatbestand erwähnt, daß der Anspruch der Frauen auf gleichen Lohn weitgehend leer läuft, wie schon der Vergleich der Entgelthöhen in sogenannten typischen Frauen- und Männerberufen belegt. Unser Tarifsystem ist geprägt von einer geschlechtsspezifisch verzerrten Bewertung der Arbeitsleistung, die Frauen massiv benachteiligt. Die Frauenerwerbstätigkeit hat in den letzten Jahren zugenommen. Bemerkenswert am Arbeitsmarktsegment der Frauenbeschäftigung sind die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, die gleichfalls zunehmen. Frauen sind weit Uberproportional vertreten bei Teilzeitarbeit, bei kurzzeitiger bzw. geringfilgiger Beschäftigung, befristeter Beschäftigung, bei der alten und neuen Heimarbeit, in der Arbeit auf Abruf und schließlich in jenen Vertragsfonnen, die die Geltung des Arbeitsrechts auszuhebeln suchen, z.B. "neue" Selbständigkeit. Bei diesen Arbeitsverhältnissen zeigt sich bereits im "ganz nonnalen" Verlauf der Beschäftigung (d.h. ohne Eintreten eines expliziten Risikos), daß den Beschäftigten nur ein reduzierter Sozial standard gewährt

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Heide Pfarr

wird: Urlaubsansprüche, betriebliche Sozialleistungen, Entlohnung rur Überstunden, Aufstiegsmöglichkeiten, Pausen und Mischarbeit als Elemente einer Humanisierung der Arbeit, gelten in diesen Arbeitsverhältnissen vielfach nur in minderem Umfang oder gar nicht. Sie sind gesetzlich, tarifvertraglich oder mittels Betriebsvereinbarung zunächst und in erster Linie rur das sogenannte "Normalarbeitsverhältnis" gedacht, also rur das kontinuierliche Vollzeitarbeitsverhältnis. Dieses aber ist vornehmlich mit den männlichen Beschäftige besetzt, das irreguläre und deregulierte, ungeschützte Arbeitsverhältnis zielt auf die weibliche "Zuverdienerin". Schon die Normen des Arbeitsrechts sind also durchzogen von mittelbarer Diskriminierung der Frauen aufgrund des Geschlechtes. Gleichzeitig ermöglichen Frauen durch ihre Hausarbeit und den Verzicht auf kontinuierliche Vollzeiterwerbsarbeit den Männern erst die kontinuierliche, vollzeitige und oft 150%ige Erwerbstätigkeit und tragen damit zum Aufbau deren in der Regel zureichenden sozialen Sicherung bei. Weder Trost noch Ausgleich ist, daß dadurch rur Ehefrauen selbst ein gewisses Maß an abgeleiteter sozialer Sicherung abflUlt. Kommt zur "ganz normalen", schon diskriminierten Beschäftigung der Frau der Risikofall Krankheit, Kündigung oder Schwangerschaft hinzu, dann wird die Minderung oder völlige Suspendierung sozialer Schutzrechte wie Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz, Mutterschutz vollends als Frauendiskriminierung sichtbar. Erst in jüngster Zeit und ausschließlich aufgrund europäischer und europarechtlich geprägter Rechtsprechung, nicht etwa aufgrund von Bemühungen des Gesetzgebers oder der Tarifparteien, hat sich hier etwas bewegt. Der gesetzliche Ausschluß geringrugig Beschäftigter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist erst aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes aufgehoben worden. 11. Welchen Umfang und welche Qualität an sozialer Sicherung erwerben Frauen sich typischerweise durch ihre Berufstätigkeit?

Grundlegend hängt der Umfang der durch Berufstätigkeit von Frauen erzielbaren sozialen Sicherung vom zentralen Prinzip der Lohnarbeitszentrierung der sozialen Sicherungssysteme ab: Finanzierung und Anspruchsbegründung ergeben sich grundsätzlich durch Versicherungsbeiträge vom Bruttoentgelt; die Leistungen (monetäre Sozialtransfers, soziale Dienstleistungen z.B. im Bereich der Arbeitstbrderung) hängen vom Nettoentgelt sowie von Dauer und Kontinuität der vorangegangenen Erwerbstätigkeits- und Beitragszeiten ab. Bei sämtlichen lohnbezogenen Sozialtransfers wird also die massive Lohndiskriminierung der Frau hinübertransportiert in die soziale Sicherung und dort fort-

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gesetzt. Dadurch wird ein geschlechtsspezifisches Armutsrisiko systematisch angelegt. Das verschärft sich noch durch den Nettolohn-Bezug der Transferleistungen, da die Nettoeinkommen der Frauen aufgrund des Ehegattensplittings zusätzlich nach unten gedrückt werden. Hier wird also das Prinzip der Beitragsäquivalenz verlassen; das wirkt sich diskriminierungsverstärkend aus. Wie die Männer, so zahlen aber auch die Frauen ihre Beiträge zu Arbeitslosenversicherung, gesetzlicher Krankenversicherung und gesetzlicher Rentenversicherung vom Bruttoentgelt. Also subventionieren sie de facto die tendenziell höheren Sozialtransfers an Männer. Das gilt rur sämtliche Lohnersatzleistungen. Auch an den betrieblichen Systemen der Altersversorgung nehmen Frauen unterdurchschnittlich teil. 1. Frauenbeschäftigung, das Risiko Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderungsgesetz

Seit mehr als einem Jahrzehnt weist die Frauenpolitik darauf hin, daß Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderungsgesetz die Erwerbsdiskriminierung der Frauen bei Arbeitslosigkeit fortsetzen. Das gilt sowohl im Bereich der monetären Transfers (vom Arbeitslosengeld bis zum Unterhaltsgeld bei Umschulung) als auch bei den sozialpolitischen Dienstleistungen im Bereich der Arbeitsförderung, d.h. beim Zugang zu kompensatorischen Maßnahmen der Reintegration in den Arbeitsmarkt, die an sich doch der Arbeitsmarktdiskriminierung der Frauen entgegenwirken sollen. Mein Kollege Wolfgang Däubler hat kürzlich in einem sehr verdienstvollen Gutachten rur das Niedersächsische Frauenministerium die mittelbaren Diskriminierungen der Frau im AFG systematisch-umfassend untersucht und Alternativen einer gleichstellungspolitisch angemessenen Ausgestaltung aufgezeigt. Ich selbst kann in der hier notwendigen Kürze nur auf die essentiellen Punkte eingehen, in denen gerade das AFG Frauen benachteiligt, mehr noch als die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung. Da ist zum einen der Ausschluß kurzzeitiger Arbeitsverhältnisse vom System der Arbeitslosenversicherung des Arbeitsförderungsgesetzes. Die Versicherungspflichtgrenze liegt bei 18 Stunden pro Woche. Daran ist bemerkenswert, daß sich die Arbeitslosenversicherung ihrer Risikofälle offenbar noch schneller entledigen will als die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung. Dort liegt die Versicherungspflichtgrenze niedriger, nämlich bei 15 Stunden, und kann zudem auch durch die Addierung mehrerer geringfügiger Arbeitsverhältnisse erreicht werden. Die AL V dagegen setzt vor-

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aus, daß die Schwelle von 18 Stunden bei einem einzigen Arbeitsverhältnis erreicht wird. Die Bedürftigkeitsprüfung bei der Arbeitslosenhilfe wirkt sich systematisch gegen Ehefrauen aus. Die geschlechtsspezifischen Daten beim Bezug von Arbeitslosenhilfe zeigen deutlich, daß bei der sozialen Sicherung der Frau im Fall von Arbeitslosigkeit die private Sicherung durch die Unterhaltsverpflichtung des Mannes nicht nur mitgedacht ist, sondern daß sie auch praktisch zum Tragen kommt. •

Die VerjUgbarkeitsprüfung, die sich gegen Mütter und insbesondere gegen Teilzeitarbeitssuchende richtet, ist ein besonderes wirksames Instrument der Ausgrenzung von Frauen aus dem Leistungsbereich des AFG. Von hier aus werden nicht nur monetäre Transfers verweigert, sondern auch Qualifizierungs- und andere Berufsintegrationsmaßnahmen.



Zeiten der Kindererziehung werden im AFG nur rur die Zeit des Erziehungsurlaubes als leistungsbegründende Beitragszeiten gerechnet. Darüber hinaus werden sie nur als Erhöhung der Rahmenfrist (§ 46 AFG: 5 Jahre je Kind) anerkannt, innerhalb derer ein bestimmter Umfang an versicherungspflichtiger Tätigkeit zur Leistungsbegründung ausgeübt worden sein muß. Einen Leistungsanspruch auf berufliche Wiedereingliederung kann eine Mutter, die nicht oder nur kurzzeitig bzw. geringrugig erwerbstätig ist, von hier aus jedenfalls nicht erwerben.

Zeiten mit häuslicher Pflegearbeit werden vom AFG vollends ignoriert: Für sie gilt nicht einmal das rur die Kindererziehung Gesagte. Eine freiwillige Zahlung von Pflichtbeiträgen ist im System der Arbeitslosenversicherung anders als bei der gesetzlichen Rentenversicherung nicht möglich. Fazit: Für das in § 2 AFG artikulierte Ziel der Überwindung des geschlechtsspezifisch geteilten Arbeitsmarktes und der beruflichen Integration und Förderung von Frauen bleibt noch viel zu tun. Bisher steht es noch folgenlos im AFG. 2. Frauenbeschäftigung, das Risiko Krankheit und die gesetzliche Krankenversicherung

Die gesetzliche Krankenversicherüng bietet Absicherung im Krankheitsfall gemäß dem Sachleistungsprinzip. Sie stellt insofern eine Ausnahme im Vergleich zur Arbeitslosenversicherung und gesetzlichen Rentenversicherung dar. Das bedeutet, daß Frauen auch mit diskriminiertem Lohneinkommen und bei nicht vollzeitiger Tätigkeit (solange die Versicherungspflichtgrenze von 15

Zur sozialpolitischen Absicherung der berufstätigen Frau

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Stunden wöchentlich nicht unterschritten wird) aufgrund eines lohnbezogen geringen Beitrages die erforderliche Krankheitsversorgung erhalten. Anders stellt sich die Situation beim Krankengeld (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) dar: Hier bemißt sich die Lohnersatzleistung wiederum am diskriminierten Nettoentgelt der Frauen und kann dabei unter die Armutsgrenze gelangen, besonders bei Teilzeitarbeit. Zu beachten ist außerdem, daß alle Zuzahlungsregelungen (Rezeptgebühr, Zuzahlungen bei den verschiedenen Leistungsarten vom Krankenhausaufenthalt bis zu Zahnersatz) ein niedriges Einkommen prozentual natürlich stärker belasten als ein hohes; in diesem Sinne wirken sie frauendiskriminierend. Hervorzuheben ist an der gesetzliche Krankenversicherung, daß sie rur nichterwerbstätige Frauen ein Element einer vom Tatbestand Ehe abgeleiteten Sicherung enthält: Der erwerbstätige, krankenversicherte Ehemann kann Frau und Kinder mitversichem. Die Nachteile eines solchen abgeleiteten, nicht eigenständigen Krankenversicherungsschutzes müssen Frauen an praktischen Konflikten und Abhängigkeiten erfahren, wenn die Ehe scheitert. 3. Frauenbeschäftigung, das Risiko Alter und die gesetzliche Rentenversicherung

Grundprinzip des Rentensystems der Bundesrepublik ist, daß die Altersrente sich in erster Linie von den bruttolohnbezogenen individuellen Beitragshöhen und der Beitragsdichte her begründet. In der Rente spiegelt sich somit die Höhe und die Kontinuität oder Diskontinuität des lebenslangen Erwerbseinkommens wider. Für die gesellschaftlich notwendige Arbeit in der Familie und die damit zusammenhängende Diskontinuität und Diskriminierung der Erwerbsarbeit der Frauen mit der Folge der Armut im Alter erklärt sich die gesetzliche Rentenversicherung grundsätzlich nicht rur zuständig. Die Korrekturfaktoren zur Anerkennung von Familienarbeit sind kaum der Rede wert. Mit der Rentenreform von 1986 trat viel beachtet das "Baby-Jahr", d. h. die Anrechnung von einem Jahr Kindererziehungszeit als anspruchsbegründend und - erhöhend in Kraft. Für Geburten ab 1992 sollen nach Rentenreformgesetz drei Kindererziehungsjahre angerechnet werden. Diese Lösung hat aber zwei erhebliche Schönheitsfehler: Zum einen wird sie dem tatsächlichen Umfang der geleisteten Erziehungsarbeit nicht einmal ansatzweise gerecht. Zum anderen diskriminiert sie berufstätige Mütter, denn die Baby-Jahre werden nur angerechnet, wenn die Frauen rur diese Zeit aus der Erwerbstätig-

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keit ausscheiden, was nicht alle können und nicht alle wollen. Eine gleichzeige Anrechnung eines Rentenanspruchs aufgrund von Erwerbstätigkeit und aufgrund der in derselben Phase geleisteten Kindererziehungszeiten - wie bei den Zurechnungszeiten im Rentensystem der ehemaligen DDR - gibt es nicht. Auch durch das Rentenreformgesetz 1992 zeigen sich keine Perspektiven zu einer künftigen Lösung des Problems der Altersarmut von Frauen. Im Gegensatz zur eigenständigen Rentenanwartschaft durch Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung bietet die Hinterbliebenenrente den Frauen eine aus Ehe und nicht aus Erwerbsarbeit abgeleitete soziale Sicherung im Alter; sie hat somit Unterhaltsersatzfunktion. Die Anrechnung eigener Rentenansprüche bewertet die Familienarbeit berufstätiger Frauen ungerecht, denn es ist belegt, daß auch diese in aller Regel die Hausarbeit alleine machen. Darüber hinaus gibt die Hinterbliebenenversorgung auch rur die Zukunft negative Anreize hinsichtlich der Berufstätigkeit bzw. Berufsrückkehr von Frauen und in Bezug auf eine partnerschaftliche Aufgabenteilung zwischen Frau und Mann. III. Forderungen und Perspektiven

Naive könnten unterstellen, daß es den Konstrukteuren bei der Einrichtung der Systeme sozialer Sicherung über ihrem großen Wurf entgangen ist, daß sie Zugang wie Ausstattung von der Erwerbsarbeit abhängig machten, eben diese aber Frauen nicht oder nicht gleichermaßen geöffnet war. Übersehen wurden Lohndiskriminierung von Frauen und die familienbedingten Einschnitte in ihrer Erwerbsbiographie. Jene vom Ehemann als Versorger und Ernährer abgeleiteten Sozialtransfers (Witwenrente) waren und sind rur Frauen durchaus riskant und nachteilig, verglichen mit einer eigenständigen Sicherung. Spätestens 1991, nach mehr als IOO-jähriger Erfahrung mit Arbeitslosenversicherung, gesetzlicher Krankenversicherung, Rentenversicherung und Sozialhilfe und nach zahlreichen Reform- und Novellierungsrunden, vermag niemand mehr zu glauben, daß an den politisch Verantwortlichen die Realität der Frauendiskriminierung am Arbeitsmarkt, der geschlechtsspezifischen Zuweisung der Nichterwerbsarbeit und der Brüchigkeit des privaten Versorgungssystems Ehe keine Erkenntnisspuren hinterlassen haben sollen. Jedoch bewegt sich viel zu wenig. Wenn das soziale Sicherungssystem künftig einmal der Lebenswelt von Frauen gerecht werden und die Gleichstellung der Geschlechter mit verwirklichen soll, muß sich viel ändern. Ich kann hier nur stichwortartig die wichtigsten notwendigen Forderungen und Paradigmenwechsel nennen:

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Ziel muß eine eigenständige soziale Sicherung der Frau in allen Sicherungssystemen sein.



Bislang aus dem Tatbestand Ehe abgeleitete Sicherungselemente wie die Hinterbliebenenrente oder die Familien-Krankenversicherung müssen in die eigenständige Sicherungsform überfUhrt werden, das heißt bei der Rente z. B. die laufende Teilung der in einer Ehe erworbenen Anwartschaften.



Der Erwerbsarbeitsbezug der sozialen Sicherungssysteme kann erhalten bleiben. Einbezogen werden müssen aber auch die kurzzeitigen und deregulierten Beschäftigungen, soweit regelmäßig und berufsmäßig ausgeübt, ja mehr noch: Vertragsverhältnisse, geschaffen, um Arbeits- und Sozialrecht zu umgehen, müssen einbezogen werden.



Der Einbau einer Mindestsicherung bei allen Sozialtransfers mit Lohnersatzfunktion ist notwendig, um die Lohndiskriminierungen und weiteren Erwerbsdiskriminierungen nicht in der sozialen Sicherung fortzusetzen. Notwendig ist dies auch, um die Sozialhilfe auf ihre eigentliche Funktion der sozialen Existenzsicherung in besonderen Notlagen zurückzufllhren; Sozialhilfe darf nicht weiterhin das Auffangnetz fllr laufende, relevante Risiken und Diskriminierungen aus dem Erwerbssystem bleiben.



Die Abschaffung des herkömmlichen Ehegattensplittings (bei gleichzeitiger Einfllhrung bedarfsgerechter Sozialleistungen fllr Kinder und Pflegebedürftige in der Familie) ist grundsätzlich überflUlig. Ehegattensplitting diskriminiert die Berufstätigkeit der verheirateten Frau. Dieses subventionieren verheiratete erwerbstätige Frauen durch die tendenziell höheren Sozialtransfers an Männer mit.



In die Systeme der sozialen Sicherung müssen Korrekturfaktoren, anknüpfend an Kindererziehung und familiäre Pflegearbeit, eingebaut werden, die anders als bisher 1. zu echten eigenständigen Ansprüchen in ALV, GKV und GRV beitragen;

2. die abgeleiteten Ansprüche, die vielfach mit dem Tatbestand Ehe verknüpft sind, ablösen; 3. nicht an die Bedingung der Aufgabe der Erwerbsarbeit geknüpft werden, sondern der Doppel-Leistung in heiden gesellschaftlichen Arbeitsbereichen gerecht werden. •

Am dringendsten ist eine gleichstellungspolitisch gezielte, grundlegende Reform des AFG, zu der neben den bereits genannten Punkten eine Vielzahl qualitativer/struktureller Reformen kommen müssen. Nur dann kann eine wirklich kompensatorische Arbeitsförderungspolitik verwirklicht werden,

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Heide Pfarr die zur Behebung der Frauendiskriminierungen im Erwerbssystem, bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit tatsächlich beiträgt.



Zu diesen Forderungen, die sich auf die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen, kommen weitere Forderungen hinzu, die sich auf den Ursprung der sozialpolitischen Diskriminierung der Frau beziehen: - nämlich die Diskriminierung im Erwerbsleben und in der innerfamiliären Arbeitsteilung; - die Umstrukturierung der Bedingungen der Erwerbsarbeit, darunter familiengerechte Arbeitszeiten und Freistellungsmöglichkeiten, die so gestaltet werden, daß eine grundsätzlich gleiche Inanspruchnahme durch Mütter und Väter erreicht wird; und - ein neues Arbeitsverhältnisrecht sowie Arbeitszeitordnung und Arbeitsschutz (z. B. die angemessene Neugestaltung des Nachtarbeitsverbotes).

ThiloRamm EIN ARBEITSVERTRAGSGESETZ DER ENTWURF DES ARBEITSKREISES "WIEDERHERSTELLUNG DER DEUTSCHEN RECHTSEINHEIT" DER FRITZ THYSSEN STIFTUNG FÜR ARBEITSUND SOZIALRECHT Vorbemerkung Zwischen dem Vortrag und seiner Veröffentlichung liegt ein Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren. Seitdem hat sich sein Gegenstand gewandelt. Der Arbeitskreis hat als Gutachten D zum Thema "Welche Inhalte sollte ein nach Art. 30 des Einigungsvertrages zu schaffendes Arbeitsvertragsgesetz haben?" der arbeitsrechtlichen Abteilung des 59. Deutschen Juristentag in Hannover 1992 seinen Entwurfvorgelegt l . An die Stelle der Vorschau in meinem Referat vom September 1991 tritt nunmehr (Anfang Februar 1993) der Rückblick auf die vom Arbeitskreis geleistete Arbeit und die Frage, was in Zukunft geschehen wird. Dementsprechend war einiges zu streichen und einiges zu ergänzen. Doch habe ich den ursprünglichen Text des Vortrags so weit wie möglich zu erhalten gesucht und auch seine sprachliche Form beibehalten. Sowohl mein früherer Vortrag als auch die Ergänzungen geben ausschließlich meine persönliche Sicht wider und sind nicht mit den Mitgliedern des Arbeitskreises abgestimmt worden. l Entstehungsgeschichte des Entwurfs J. Die Gründung des Arbeitskreises Die Entstehungsgeschichte des Entwurfs eines Arbeitsvertragsgesetzes, den eine Gruppe von Arbeitsrechtswissenschaftlern aus den alten und neuen Bundesländern 2 erarbeitete, ist Teil der Geschichte dieses Arbeitskreises. Der ArI Gutachten Bd. I, 1992, D I - D 41, vgl. dazu auch Bd. 2 Sitzungsberichte, Diskussionsbeitrllge 1993 Teil P. 2 Die Gruppe bestand zur Zeit des Vortrages aus: den Professoren Peter Hanau (Köln), Meinhard Heinze (MOnster), Robert Heuse (Leipzig), Hromadka (Passau), Annemarie Langanke (Leipzig),

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beitskreis wurde nach dem Abschluß des deutsch-deutschen Kulturabkommens vom 6.5.1986 von Frau Prof. Thiel von der Humboldt-Universität und mir gegrUndee. Sein Zweck war das gegenseitige Kennenlernen und die Verständigung. Gab es überhaupt eine gemeinsame Sprache der Juristen beider Teile Deutschlands? Ließen die unterschiedlichen Rechtssysteme von Ost und West eine gemeinsame juristische Begriffssprache überhaupt zu? Oder konnte diese erst nach einer politischen Verständigung geschaffen werden? Boten die beiden internationalen Pakte von 1966 über politische und bürgerliche Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 oder gar die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung von 1919 die Möglichkeit, eine Brücke zwischen den Juristen der beiden deutschen Teilstaaten und damit zugleich zwischen ihren Rechtsordnungen zu bauen? Dies waren meine Vorstellungen und Hoffnungen, die ausgesprochenen und die unausgesprochenen und die vielleicht nicht von allen Gruppenmitgliedern geteilten. Die Referate auf unserer ersten Arbeitstagung in Darmstadt im Mai 1989 waren dementsprechend angelegt. Sie sparten kein Reizthema aus und legten auch die unterschiedlichen Standpunkte dar, wie sie in der BRD bestanden. Das überraschende Ergebnis war die Entdeckung der gemeinsamen Sprache der deutschen Juristen und des Willens zur Verständigung. Wir fanden allerdings keine Zeit, um die Tragflthigkeit dieser Grundlage zu erproben. Denn sie veränderte sich rasch und grundlegend. 2. Die neue Aufgabe

Der Arbeitskreis wurde von den politischen Ereignissen permanent überholt. Sobald feststand, daß die Wiedervereinigung4 Deutschlands kommen werde, Reinhard Richardi (Regensburg), Bernd Rüthers (Konstanz), Wera Thiel (Humboldt-Universitllt Berlin), Rolf Wank (Bochum) und mir, sowie aus Dozent Dr. Ulrich Preis und Ministerialrat Dr. RolfSchwedes (Bundesarbeitsministerium). Schriftftlhrer war Assessor Becker (Darmstadt). 3 Dies geschah aufgrund meines Antrags - wir kannten uns persönlich Uberhaupt nicht - durch die Bevollmächtigten der beiden Teilstaaten. Nach beiderseitigen Informationsbesuchen im April und November 1988 kamen wir dahin Uberein, den Kreis auf jeweils etwa sechs Wissenschaftler beider Teilstaaten zu erweitern. Die ersten Mitglieder aus der ehemaligen BRD waren außer mir die Professoren Meinhard Heinze (damals Gießen), Rolf Wank (Bochum) und Bernd Rüthers und (inzwischen ausgeschieden) Dr. Ulrich Lohmann vom Max-Planck-Institut ftlr ausländisches und internationales Sozialrecht (München). Von den Mitgliedern aus der früheren DDR sind die Professoren Joachim Michas und Rudi Wandtke (beide Humboldt-UniversiUlt Berlin) und Doz. Dr. Aribert Ondrusch (Leipzig) ausgeschieden. 4 Entgegen Roggemann, Von der interdeutschen Rechtsvergleichung zur innerdeutschen Rechtsangleichung, JZ 1990, 363, 366 sehe ich keinen Anlaß, diesen Begriff nicht zu verwenden. Er kennzeichnet einen historischen Tatbestand, nämlich die Aufhebung der durch die Alliierten vollzogenen Teilung Deutschlands. Daß ihn das GG nicht verwendet, hat nichts zu besagen - das GG zählt keineswegs abschließend historisch-politische Begriffe auf oder filtriert sie gleichsam ftlr den rechtlichen Gebrauch. Die Verwendung des Begriffs Wiedervereinigung ignoriert selbst-

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stellte sich uns die Frage, was dies filr die Arbeitsrechtsordnung bedeute. Die Arbeitsgruppe, deren Finanzierung als ihrem ersten "Arbeitskreis zur Wiederherstellung der deutschen Rechtseinheit" inzwischen die Fritz Thyssen Stiftung übernommen hatte, nahm dazu Stellung auf ihrer Sitzung in Wiesbaden Ende März 1990. In einer mehrfach veröffentlichten Resolution sprach sich der Arbeitskreis in realistischer Würdigung der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse filr die Übertragung des kollektiven Arbeitsrechts der BRD, des Betriebsverfassungsrechts und des Tarifvertragsrechts auf die DDR aus und forderte bereits damals ein neues IndividualarbeitsrechtS . Die Richtigkeit ihrer Auffassung hat der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion vom 18.5.1990 filr das kollektive Arbeitsrecht bestätigt6. Damals konnte noch die Aufgabe, ein neues Individualarbeitsrecht zu schaffen, als Synthese zwischen westdeutschem Arbeitsrecht und dem politisch bereinigtem Arbeitsgesetzbuch der DDR begriffen werden. Die DDR verpflichtete sich zu einer solchen Bereinigung im Unionsvertrag und erftlllte diese Verpflichtung rasch durch die Neufassung ihres Arbeitsgesetzbuchs vom 22.6.19907 • Der Einigungsvertrag vom 31.8.1990 zerstörte diese Erwartung, denn er übertrug von einigen hier nicht weiter interessierenden Übergangsvorschriften abgesehen - das westdeutsche Arbeitsrecht insgesamt, also auch das Individualarbeitsrecht, auf das Beitrittsgebiet. Sein Art.30 I Nr. 1 erteilte allerdings dem Gesetzgeber den Auftrag, "möglichst bald" eine neue arbeitsrechtliche Kodifikation zu schaffen, die das Individualarbeitsvertragsrecht, das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht und den Frauenarbeitsschutz umfassen soll. Als in der Koalitionsvereinbarung der ersten gesamtdeutschen Regierung dann das Individualarbeitsvertragsrecht nicht mehr erschien, war dies ein weiterer Anlaß filr den Arbeitskreis, an seinem Vorhaben festzuhalten, das Individualarbeitsvertragsrecht selbst auszuarbeiten. Denn die deutsche Arbeitsgesetzgebungsgeschichte ließ und läßt befilrchten, daß auch in Zukunft der Gesetzgeber untätig bleiben wird.

verständlich nicht die vierzig Jahre getrennte Entwicklung beider deutscher Teilstaaten - auch wenn die Wiedervereinigung als "Beitritt" zur BRD erfolgt ist. S Vgl. Anhang S. 99. Nach Art. 17 des Unionsvertrags sollten Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und KUndigungsschutzrecht entsprechend dem Recht der BRD gelten. Nach Anlage 2 11 waren die Mitbestimmungsregelungen des Betriebsverfassungsgesetzes, des Tarifvertragsgesetzes und des KUndigungsschutzgesetzes von der DDR in Kraft zu setzen. Die DDR sollte ferner ein den §§ 626, 628 BGB entsprechendes Recht zur fristlosen Kundigung schaffen (Ziff. 5). 7 Es ist am 1.7.1990 in Kraft getreten und von Richardi veröffentlicht worden. Der Betrieb 1990, Sonderausgabe - DDR Report, Arbeitsgesetzbuch der DDR in der seit dem I. Juli 1990 geltenden Fassung mit den Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Arbeitsgetzbuches und einer Einftlhrung von Prof. Dr. Reinhard Richardi. Ebenfalls abgedruckt in Thilo Ramm, EntwUrfe zu einem Deutschen Arbeitsvertragsgesetz (1992), S. 480 - 531.

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Il. Die Auseinandersetzung um die Kodifikation des Individualarbeitsrechts

I. Zur Geschichte der Kodifikationsvorhaben8

Seit fast einhundert Jahren wird vergeblich versucht, ein Individualarbeitsrecht zu schaffen 9 • Der Reichstag sah 1896 das Dienstvertragsrecht des BGB nicht als Recht der Arbeitsbeziehungen an und appellierte an den Bundesrat, einen Entwurf vorzulegen, der das verstreute Spezialrecht, und zwar einschließlich des Gesinderechts, umfassen sollte. Der Appell blieb ohne Gehör. Elf Jahre später scheiterte seine Wiederholung durch die SPD-Reichstagsfraktion bereits am Reichstag. Doch wurde seit 1907 dann die "Gesellschaft rur soziale Reform" initiativ. Ein Jahr später (1908) entwarf Heinz PotthoJf das Programm eines Reichsarbeitsgesetzes - er ging damit über die Vorstellungen der Generalversammlung der "Gesellschaft rur soziale Reform" hinaus, die nur beschlossen hatte, sich rur die einheitlichere Gestaltung und Verbesserung des deutschen Privatbeamtenrechts einzusetzen. Nach seiner Ansicht war das Reichsarbeitsgesetz die Basis rur das Privatbeamtengesetz, das nur ein besonderes Kapitel desselben sei. Der Hauptausschuß der "Gesellschaft rur soziale Reform" stellte 1912 die "systematische Behandlung des gesamten Arbeitsrechts" als Aufgabe und setzte einen besonderen Unterausschuß rur das Arbeitsrecht ein. 1913 bildete das Thema der Verbandsversammlung des Verbandes Deutscher Gewerbe- und Kaufmannsgerichte in Leipzig "Grundgedanken und Möglichkeiten eines einheitlichen Arbeitsrechts rur Deutschland". Sinzheimer war hier der Hauptreferent, nachdem sich vorbereitend Lotmar und PotthoJfgeäußert hatten. Alle diese Bestrebungen blieben indessen erfolglos. Doch war nicht das Dienstvertragsrecht des BGB auch - zumindest objektiv gesehen - eine Art Kodiftkationsversuch? Lotmar hat es pointiert als die "höchste Abstraktion von der Person des Arbeiters und der Art der Arbeit" charakterisiert und daraus den Schluß gezogen, es sei "die vollste formale Vereinheitlichung" gegeben 10. Dieser Ansatz ist indessen konkret an zwei Punkten gescheitert: an der Aufrechterhaltung der Gesindeordnungen der Länder durch Art. 95 EGBGB und an der Fortdauer des Spezialrechts - vor allem in der Reichsgewerbeordnung, aber auch im Handelsgesetzbuch und im Bergrecht - um nur einige Gesetze zu nennen. Vgl. hierzu nunmehr meine, allerdings auch die arbeitsrechtliche Gesamtkodifikation einbeziehende, Darstellung .. Kodifikation des Arbeitsrechts" in: Delle! Merlen und Waldemar Schreckenberger (Hrsg.), Kodifikation gestern und heute. Zum 200. Geburtstag des Allgemeinen Landrechts rur die Preußischen Staaten, 1995, S. 167-188. 9 Vgl. hierzu EntwUrfe (Anm. 7), Einleitung, S. 1. 8

10 .. Idee eines einheitlichen Arbeitsrechts. Grundgedanken und Möglichkeiten eines einheitlichen Arbeitsrechts rur Deutschland", Gewerbe- und Kaufmannsgericht Jg. 1911112, 278, auch in Philipp LOlmar, Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, hrsg. u. eingel. von Joachim RUckerl 1992, 603, 606.

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Die Verheißung eines einheitlichen Arbeitsrechts in Art.157 II WRV blieb Programm. 1923 wurde der Entwurf eines Arbeitsvertragsgesetzes durch die hierzu von der Reichsregierung eingesetzte Kommission zwar veröffentlicht, jedoch später nicht verwirklicht und Ende 1923 die Kodifikationsarbeiten allgemein eingestelltlI. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Verkündung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (1934) ging der Arbeitsrechtsausschuß der "Akademie rur Deutsches Recht" daran, das Individualarbeitsrecht neu zu regeln. Sein Entwurf eines Gesetzes über das Arbeitsverhältnis (1938) blieb ebenso Episode in der Gesetzgebungsgeschichte wie dessen Inkorporierung als Teil einer umfassenden "Regelung der Arbeit" in das geplante Volksgesetzbuch (1942)12. Nach dem Zweiten Weltkrieg griffen einige Landesverfassungen das Weimarer Versprechen eines einheitlichen Arbeitsrechts oder zumindest eines besonderen oder neuen sozialen Arbeitsrechts wieder auf. Die Kodifikation war Gegenstand einer Regierungserklärung der sozialliberalen Bundesregierung (1969). 1970 wurde auch eine Kommission eingesetzt, die 1977 einen Entwurf veröffentlichte 13 und danach 1978 aufgelöst wurde, ohne ihre Arbeit abgeschlossen zu haben. 2. Die derzeitige Situation

Die Vorgeschichte scheint somit, historisch gesehen, nicht sonderlich ermutigend zu sein. Doch hat sich die Situation grundlegend geändert - selbst wenn dies die Koalitionsvereinbarung nicht wahrhaben will. Auch wenn die Wiedervereinigung in der Form des Beitritts der DDR zur BRD erfolgt ist - was politisch richtig war - und das Recht der BRD grundsätzlich auf das gesamte

11 Vgl. hierzu Bohle, Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik (1990), der allerdings mit RUcksicht auf eine angekUndigte, bislang nicht erschienene weitere Dissertation das Individualarbeitsvertragsrecht im wesentlichen ausspart, und nunmehr meine Einleitung , aaO (Anm. 9), 86 tT. 12 Vgl. hierzu Ramm, Die "Regelung der Arbeit" (1942), das "Volksgesetzbuch" und der Arbeitsrechtsausschuß der Akademie flIr Deutsches Recht: ZfA 1990, 407 (mit textkritischer, von Martin Becker vorgenommener Wiedergabe des Entwurfs von 1942, aaO, S. 435 ft). 13 Der Kommissionsentwurf ist als solcher erstmals in den EntwUrfen (Anm. 8) hergestellt und verötTentlicht worden. Zunächst war ein Entwurf des DGB verötTentlicht worden, der auf dem E 77 beruhte, merkwUrdigerweise aber in der RdA und nicht in ArbuR, der Gewerkschaftzeitschrift, erschien. Das Bundesarbeitsministerium folgte einige Monate später, im September 1977, mit den "Beratungsergebnissen der Arbeitsgesetzbuchkommission zum Arbeitsvertragsrecht" in Form einer GegenUberstellung der Formulierungen der Arbeitsgruppe des Bundes-arbeitsministeriums, der der AusschUsse und endlich der der Kommission - anscheinend, um die Eigenstandigkeit des DGB-Entwurfs in Frage zu stellen. Erst sehr viel später wurde in ArbuR (1977, 245) eine Zusammenfassung des Inhalts gegeben. Der DGB-Entwurf wurde später weitergefllhrt, ohne jedoch verötTentlicht zu werden.

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Deutschland erstreckt worden ist, so heißt dies nicht, daß in diesem Recht alles beim Alten bleibt. Die Wiedervereinigung ist Anlaß, um das altbundesrepublikanische Recht zu überprüfen, sie ist Aufforderung zur Rechtserneuerung. Stellen sich die politischen Instanzen nicht dieser Aufgabe, dann geht sie auf die Öffentlichkeit über, auf die hierzu aufgrund ihrer Sachkunde Berufenen, auf die Juristen, die nicht nur das Recht anzuwenden, sondern auch weiterzuentwickeln haben. So hat sich jene Instanz, die sich stets der Gesetzgebungsaufgabe angenommen hat, der Deutsche Juristentag, die rechtspolitische Forderung nach einem Arbeitsvertragsgesetz zum Diskussionsthema erhoben. Natürlich können die Juristen nicht unmittelbar Recht setzen, doch können sie ein Versagen des Gesetzgebers unmißverständlich klarstellen und an die öffentliche Meinung appellieren. Denn der bestehende Zustand des Individualarbeitsrechts ist einer Kulturnation unwürdig. Nicht zu Unrecht hat der Arbeitskreis das deutsche Individualarbeitsvertragsrecht mit den Worten Pufendorfs als "aliquid monstro simile", als kunstvoll geordnetes Chaos, als einen Irrgarten des Rechts charakterisiert, in dem sich nicht einmal mehr der Durchschnittsjurist auskenne l4 • Rechtsunübersichtlichkeit und Rechtsunklarheit sind Barrieren ftlr den Bürger, die den im Rechtsstaat selbstverständlichen Zugang zum Recht versperren. Die Kalkulierbarkeit des Rechts ist ein unverzichtbarer Teil jeder freiheitlichen Ordnung. Deshalb müssen die Zugangsbarrieren beseitigt werden, und dies gilt ftlr ein Recht, das wie das Arbeitsrecht ftlr jedermann existenziell wichtig ist, in ganz besonderer Weise. Es gibt auch kein "Recht auf Arbeit" des Juristen, das den Fortbestand eines solchen rechtsstaatswidrigen Zustands legitimiert. In Berlin, der Stadt, in der von Kirchmann seinen berühmten Vortrag über die "Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" hielt, ist noch zusätzlich zu sagen: Sicherlich trifft sein Wort zu, ein Federstrich des Gesetzgebers mache ganze juristische Bibliotheken zur Makulatur. Doch es kann auch umgekehrt und dahin ergänzt werden: Wenn es ganzer juristischer Bibliotheken zur Rechtsanwendung bedarf und das Recht der Klarheit und Einfachheit entbehrt, dann ist jener Federstrich des Gesetzgebers notwendig und sogar unerläßlich. IIf. Der Entwurf des Arbeitskreises

1. Ausarbeitung des Entwurfs Als ich den Vortrag im Frühjahr 1991 zusagte, war ich optimistisch genug anzunehmen, ich könne im September 1991 über einen abgeschlossenen fertigen Entwurf berichten. Dies war indessen nicht der Fall. Bis September 1991 hatte der Arbeitskreis in ftlnf Sitzungen einen zu etwa vier Fünftel fertigen 14

Gutachten D 15.

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Entwurf ausgearbeitet. Den Rest stellte er bis zum 21./22. Februar 1992 fertig. Die Bestimmungen des Entwurfs arbeiteten die einzelnen Mitglieder aus, ohne Vorlage seitens des Bundesarbeitsministeriums l5 . Sie wurden sodann innerhalb des Arbeitskreises diskutiert, verschiedentlich auch mehrfach und dabei verändert. Insgesamt haben zehn Arbeitssitzungen stattgefunden. Dies ist nicht viel, wenn an die 177 Ausschußsitzungen und 23 Plenarsitzungen der Kommission des E 77 gedacht wird. Ganz offensichtlich war es heilsam, daß der Arbeitskreis unter Zeitdruck arbeitete - der Februar war der letzte Termin, an dem das Gutachten dem Deutschen Juristentag vorgelegt werden konnte. Förderlich filr seine Arbeit war, daß er - wie schon die Kommission des E 23 - keine Vertreter der Tarifparteien zu Mitgliedern hatte. Das Schicksal des E 77 hat gezeigt, daß die Hoffnung trügt, durch Einbeziehung von Vertretern der Tarifparteien einen Kompromiß vorwegzunehmen. Die Verbände halten sich nicht an die Auffassungen ihrer Vertreter, sondern bringen, offensichtlich um sich vor ihren Mitgliedern zu legitimieren, eigene Stellungnahmen und Entwürfe. Daher ist es sehr viel zweckmäßiger, wenn die Erstellung eines ersten Entwurfs ohne sie erfolgt und sie sodann Gelegenheit erhalten, zu diesem vor ihren Mitgliedern und vor der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen. Sie unterliegen damit ihrerseits der Kritik an ihren Vorschlägen durch die juristische Öffentlichkeit und dies bildet eine weitere Vorstufe filr die Gesetzgebung. Der Arbeitskreis hat zunächst die einzelnen Regelungen unter gewissenhafter Berücksichtigung der VorentwUrfe, insbesondere des Entwurfs von 1977, ausgearbeitet. Doch hat er sich vielfach von dem Entwurf von 1977 entfernt, und dies nicht nur deshalb, weil inzwischen vierzehn Jahre verstrichen sind, sondern auch weil gesetzgebungstechnisch sein Stil übertriebener kasuistischer Regelungen nicht übernommen werden sollte. Der E 92 schlägt einen Mittelweg zwischen Richtlinie und Kasuistik ein. Der Gesetzgeber kann und soll sich seiner Verantwortung nicht entziehen, die grundlegenden und fUr alle verbindlichen Entscheidungen vorzunehmen. Er darf sie nicht der Rechtsprechung übertragen. Andererseits kann er diese nicht, wie dies im 19. Jahrhundert geschehen ist, an der kurzen Leine fUhren, sondern muß ihrem Bestreben Rechnung tragen, fUr Einzelfallgerechtigkeit zu sorgen. 2. Inhalt des Entwurfs

Der Entwurf (E 92) besteht aus 6 Abschnitten mit 166 Paragraphen. Der erste enthält die Allgemeinen Vorschriften. Es sind dies verbindliche Grundregeln, die zugleich auch Interpretationshilfen filr die späteren Einzelvorschriften sind. Hierzu gehören das Diskriminie15 Doch hat ein Vertreter des Ministeriums an den Sitzungen teilgenommen und uns seinen sachkundigen Rat zuteil werden lassen.

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rungsverbot wegen des Geschlechts, das um seiner Effektuierung willen vom Diskriminierungsverbot des Art. 3 III GG und dem Gleichbehandlungsanspruch der Arbeitnehmer getrennt wird, und die Aussage über die Privatsphäre und insbesondere die Meinungs- und Äußerungs freiheit als Grenzen der Vertragsfreiheit. Es folgen als weitere Abschnitte die Begründung des Arbeitsverhältnisses, Inhalt des Arbeitsverhältnisses (der mit 10 Titel und 88 Paragraphen umfangreichste Abschnitt) die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die Verjährungs- und Ausschlußfristen und die Schlußvorschriften. Er enthält eine Einleitung und Kommentierung der einzelnen Vorschriften. Die letzteren sind von den einzelnen Mitgliedern verfaßt und nicht Gegenstand einer Beschlußfassung des Arbeitskreises gewesen. 3. Der Entwurf und das Bürgerliche Gesetzbuch

Der E 92 soll an die Stelle des Titels "Dienstvertrag" des BGB (§§ 611 ff.) treten und damit das dort herrschende Durcheinander von Dienstvertrag und Arbeitsvertrag beseitigen 16. Dieses Durcheinander kennzeichnete bereits den ursprünglichen Text des BGB. Nunmehr ist es seit dem 1. Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz offenbar geworden. Jede dem Gesetzgeber, sei es vom BVerffi oder vom Europäischen Gerichtshof oder der Europäischen Kommission, abgezwungene Regelung wird dort angesiedelt - möglicherweise in der Hoffnung, daß irgendwann einmal das Chaos so groß wird, daß die versprochene Kodifikation unumgänglich ist. Der E 92 ist nicht zur Aufnahme in das BGB vorgesehen. Er ist ein Spezialgesetz, und dies heißt, daß die systematische Auslegung in seinem Rahmen erfolgt. Der prinzipielle Verweis auf das BGB in § 9 E 92 besagt angesichts der umfassenden Anlage des E 92 wenig. Dennoch ist er nicht überflüssig. Denn er erinnert daran, daß auch dem Arbeitsvertrag die Konzeption des Austauschvertrags zugrunde liegt, allerdings eines solchen als eines Dauerrechtsverhältnisses - und dies hat zwangsläufig erhebliche Konsequenzen. Es ist nicht zufällig, daß es der E 92 im Gegensatz zum E 77 vermieden hat, von Leistungen des Arbeitgebers zu sprechen, denen keine Arbeit gegenüberstünde l7 • Das BGB war in seinem Bemühen um klare, saubere Begriffsbildung Vorbild für den E 92. Emotions- und vergangenheitsbelastete Begriffe wie Treue und Fürsorge fanden in ihm keinen Platz. Der E 92 stellt einheitliches Recht für Arbeiter und Angestellte her. Insofern überwindet er die letzte Abstrakti16 Es erleichtert damit die längst fllIlige Regelung des Rechts der wirtschaftlich selbständigen Dienstleistungen, insbesondere des Arztvertrags. 17 So jedenfalls im ursprünglichen Entwurf des Bundesarbeitsministeriums. Allerdings ist dieser Sprachgebrauch dann offenbar stillschweigend aufgegeben worden, vgl. das nach dem E 77 erstellte Inhaltsverzeichnis in Ramm, EntwUrfe (Anm. 7), 407 ff.

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onshürde, die noch im BGB vorhanden, aber vom BVerfG rur die Kündigungsfristen beanstandet worden war. Die Abstraktion des BGB hat sich allerdings um so problematischer erwiesen, als an die Stelle von Spezialgesetzen, die die Art der Arbeitsverrichtung zugrunde legten, allgemeinere Gesetze getreten sind, wie Arbeitszeitordnung oder Mutterschutzgesetz oder, nunmehr auch, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Die Rechtsentwicklung geht, insoweit von der Rechtsprechung begünstigt, in die Richtung, frühere, nach Arbeitsverrichtung oder Person des Arbeitenden (Mann, Frau, Jugendlicher) unterschiedliche, Regelungen einander anzugleichen. Sie überläßt es dabei den Tarifverträgen, besondere Umstände zu berücksichtigen, wobei hier offen bleiben kann, ob sie dieser Aufgabe gerecht geworden sind oder gerecht werden können. Mit der gesetzgeberischen Neuordnung des Arbeitsschutzrechts steht auch die Regelung seines Verhältnisses zum Arbeitsvertra~ an, wie dies in der Diskussion der 20er Jahre bereits erkannt worden war 1 • Nachdem Nipperdey das Arbeitsschutzrecht in das Privatrecht integriert hae 9 , ergibt sich die gesetzgeberische Aufgabe, die Grundprinzipien des Arbeitsschutzrechts in das Arbeitsvertragsrecht als zwingendes Recht zu integrieren. Andererseits kann er die Fülle von Detailregelungen und der Überwachung nur in ein großes Sondergesetz zusammenfassen 2o • 4. Der Arbeitsvertrag im Arbeitsrechtssystem

Die Regelung des Arbeitsvertrags greift in das Arbeitsrecht als Ganzes. Der Arbeitsvertrag ist das gesetzlich geregelte Recht zwischen rechtlich gleichgeordneten Parteien, die sich innerhalb des sozialen Schutzmechanismus des kollektiven Arbeitsrechts befmden. Dieser Schutzmechanismus erstreckt sich auf die mögliche Rechtsgestaltung und die Rechtsdurchsetzung. Auch wenn keine Gesamtkodifikation des Arbeitsrechts existiert, so dürfen diese rechtlichen Zusammenhänge dennoch nicht ignoriert oder etwa zu "sozio-ökonomischen" Tatbeständen reduziert werden. Es bedarf noch der Klärung, in welchem Verhältnis die gesetzliche Regelung zu den Tarifbestimmungen und den Regelun-

18

Vgl. Potthoffin Thilo Ramm, Entwürfe, (Anm. 7),44.

Die privatrechtliche Bedeutung des Arbeitsschutzrechts, in: Die RG-Praxis im deutschen Rechtsleben Bd. 4, 1929,203. 20 Werden die bisherigen Spezialgesetze, deren charakteristisches Kennzeichen die Verbindung von öffentlichem Recht und Privatrecht ist, wie die Arbeitszeitordnung, das Mutterschutzgesetz oder das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz neugeordnet, dann werden die das Arbeitsverhältnis betreffenden Regelungen nunmehr zwingendes Arbeitsvertragerecht. Die übrigen Bestandteile könnten und sollten in einem Arbeitsschutzgesetz zusammengefaßt werden, das über den bisherigen Bereich des Schutzes vor den Gefahren der Technik hinausginge. Damit würde nur scharfer und deutlicher die Frage nach der Effizienz des arbeitsrechtlichen Schutzinstrumentariums gesteilt. 19

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gen der Betriebsvereinbarungen, inwieweit sie zur Disposition der Tarifparteien und der Parteien der Betriebsvereinbarung steht. Sie ist im E92 nicht vorgenommen worden.

5. Der Entwurfund die sozialen Grundrechti l Der E 92 hat keine sozialen Grundrechte aufgenommen. Sie gehörten ohnehin nur entweder in das Grundgesetz oder in die arbeitsrechtliche GesamtkodifIkation und nicht in ein Einzelgesetz wie das Arbeitsvertragsgesetz. Doch ist eine Stellungnahme zu ihnen notwendig, da es sich um ein Grundproblem der Auseinandersetzung zwischen west- und ostdeutschen Juristen handelt. Es gibt zweifellos eine mentale Sperre bei den westdeutschen Juristen gegenüber den sozialen Grundrechten. Sie ist dadurch bedingt, daß der positivistisch ausgebildete Jurist die unmittelbare Anwendung von Grundrechten durch die Rechtsprechung als selbstverständlich ansieht und insofern Rechtstheorie und positive Rechtsanwendung miteinander verwechselt. Soziale Grundrechte waren stets und sind es auch heute Zielbestimmungen ft1r den Gesetzgeber und Auffangbecken rur solche positivrechtliche Entscheidungen, die nicht von den Freiheitsrechten hergeleitet werden können. Allerdings gilt dieser Satz nur mit Einschränkungen, denn gerade weil die sozialen Grundrechte in Westdeutschland keine Heimat hatten, obschon sie Bestandteile von Landesverfassungen waren22, gab es begriffliche Verrenkungen wie die Anerkennung sozialer Teilhaberechte. In der DDR wurden soziale Grundrechte zwar als Anspruchsrechte gegen den Staat aufgefaßt, doch konnten sie nicht mit Hilfe der Rechtsprechung durchgesetzt werden. Sie bildeten indessen die Basis des Gesetzesrechts. Nunmehr bedeutete ihre Transformation in das neue deutsche Recht nicht nur eine solche Grundlegung, was dem Rechtsverständnis nur förderlich wäre, sondern auch die Durchsetzbarkeit eines Anspruchsrechtes, wobei dann offen bliebe, gegen wen es sich richtete - gegen den Staat oder gegen die Inhaber der wirtschaftlichen Macht, gegen die Arbeitgeber. Von der Realisierbarkeit sozialer Grundrechte ist deren Inhalt zu trennen: Arbeit, Bildung, Freizeit und Erholung, Schutz der Gesundheit und der Arbeitskraft23 • Diese Inhalte sind jeder menschlichen Ordnung eigen, einerlei wer 21 Vgl. zum Folgenden eingehend Thilo Ramm, Grundrechte und Arbeitsrecht, in: JZ, 1991,

1.

22 Vgl. hierzu die Bestandsaufnahme in Thilo Ramm, Einftlhrung (Anm. 9), 86 f. 23 So die auch noch das "Recht auf Lohn nach Quantität und Qualität der Arbeit" umfassende

Aufzählung der ..verfassungsmäßig garantierten Grundrechte" in § 1 Abs.2 Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16.6.1977 (AGB). Die Bestimmung des Lohns nach Qualität und Quantität der Arbeit ist ebenso wie die Teilnahme am kulturellen Leben (als Teil des Rechts auf Bildung) und die Fürsorge im Alter und bei Invalidität sowie das Recht auf materielle Sicherheit bei Krankheit und Untlillen (als Teile des Rechts auf Gesundheit) rangniedrigeres Recht. Die fehlende systematische Durcharbeitung macht deutlich, daß der Aufzählung im AGB der juristische Charakter fehlte, vgl.

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deren Träger sind24• Jede Ordnung ist daran zu messen, inwieweit es sie verwirklicht hat. Ist, wie dies filr die DDR galt, der Staat Träger der Ordnung, dann gibt es die entsprechenden staatsgerichteten sozialen Grundrechte. Ist das Individuum Träger der Ordnung, so geht es um die Freiheitsrechte zu arbeiten, sich zu bilden, Freizeit zu haben und sich zu erholen, die Gesundheit und die Arbeitskraft selbst zu schützen. Die Verwirklichung dieser Inhalte steht grundsätzlich in der Verantwortung des Einzelnen. Er bestimmt dabei, welche Wertigkeit die einzelne Grundfreiheit filr ihn hat, welcher er den Vorrang vor anderen einräumen will, ob er durch einen Verzicht, sie zeitweilig auszuüben, sich später einen höheren Genuß derselben verschaffen oder sie auf andere Weise kompensieren will. Die Freiheit hat insoweit den Vorrang vor der Gleichheit, die im übrigen aber auch in keiner Gesellschaftsordnung dazu filhrt, daß soziale Grundrechte aufgedrängt werden. Der individuelle Verzicht findet Ausdruck in dem Gebrauch der Vertragsfreiheit als dem Verkehrsmittel dieser individualistischen Gesellschaft. Ihre Grenze liegt einmal im Faktischen: im Vertrauen darauf, daß der Einzelne vernünftigen Gebrauch von ihr macht und sich auch dabei am Beispiel der Mitmenschen orientiert. Ist er einem Herrschaftsverhältnis unterworfen, so richten sich die Freiheitsrechte gegen den "Herren" - sie wenden sich an den Staat um Hilfe, wenn die Organisation der Selbsthilfe nicht ausreicht. Je ausgeprägter die Herrschaft ist, vor allem wenn sie politische und wirtschaftliche Macht miteinander vereinigt, um so stärker wird die Annäherung zu den sozialen Grundrechten. In diesem Mittelfeld zwischen den beiden Extrempositionen, in dem faktische Herrschaftsverhältnisse dem Einzelnen die freie Entscheidung nehmen oder sie stark einschränken, entstehen die juristischen Schwierigkeiten. Allerdings finden die sozialen Grundrechte ihr Korrelat in den Grundptlichten des Individuums. Denn jeder Rechtsordnung ist das Synallagma eigen, das vom individualrechtlichen Vertrag, dessen spezifische Ausprägung der Tausch ist, bekannt ist: die Beziehung von Leistung und Gegenleistung, auch wenn jeder Partei überlassen bleibt, was sie als Äquivalent der eigenen Leistung ansieht. Ebenso selbstverständlich ist, daß soziale Grundrechte als Anspruchsrechte an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen gebunden sind: daß etwa hierzu auch weiter oben im Text. Ausgelassen worden ist hier das "Recht auf Mitbestimmung und Mitgestaltung". Denn ihm fehlt der unmittelbare Bezug zur individuellen Existenz, da es ein Herrschaftsverhaltnis voraussetzt. Es bezieht sich auf eine soziale Beziehung und wirft die Frage nach deren richtiger Ausgestaltung auf: Wenn sich die Mitbestimmung auf eine Mehrheit bezieht, entsteht das Bedürfnis, gegen deren Herrschaft Minderheiten zu schülzen. 24 Die Ordnungszuständigkeit ist maßgebend und nicht, wie Hartmut Oetker, Das Arbeitsgesetzbuch zwischen rechtshistorischem Relikt und Vorbildfunktion rur den gesamtdeutschen Gesetzgeber (Neue Justiz 4 [1991], 147, 148) meint, das Verhältnis von Privatrecht und Arbeitsrecht. Die technische Regelung der Arbeitsbeziehungen als einheitlicher Normenkomplex ist dann unbedenklich, wenn sie nicht, wie im "totalen Staat", als eine "konkrete Ordnung" der Gesamtordnung erfolgt.

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eine Leistung erbracht (und durch staatliche Träger als solche anerkannt worden) ist, um sich weiter zu qualifizieren 2s • Die Anerkennung der sozialen Basis individueller Freiheit, eines Elementarbereichs, der zu ihrem Schutz erforderlich ist, hat sich unter den verschiedensten Bezeichnungen und Umschreibungen - als Schutz einer menschenwürdigen Existenz oder als Charakterisierung der individuellen Unverftlgbarkeit um der freiheitlichen Ordnung willen - längst Bahn gebrochen. Es geht allein um den jeweiligen Anspruchsgegner, um die Festlegung des Trägers der Macht und damit des Verantwortlichen, und es geht um die Umschreibung des Inhalts des Anspruchs: Richtet er sich noch auf die Respektierung der eigenen Gestaltungsfreiheit oder ist er schon die Forderung, den Inhalt zu verwirklichen, weil hierzu die dem Individuum verftlgbaren Mittel einschließlich der kollektiven Selbsthilfe nicht ausreichen26? An dieser Stelle wird der grundlegende Unterschied zwischen dem westdeutschen Arbeitsrecht und dem Arbeitsrecht der DDR deutlich. Er zeigt sich auch noch in anderer Weise. 6. Der Entwurf und das Arbeitsgesetzbuch der DDR

Der grundlegende Unterschied zwischen dem Arbeitsgesetzbuch der DDR von 1977 (AGB 1977) und dem Arbeitsrecht der BRD und dem Entwurf besteht darin, daß das Arbeitsrecht der DDR Teil einer staatlichen Gesamtordnung war, während das deutsche Arbeitsrecht primär die Individuen, den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer, sodann die Koalitionen und erst dann den Staat als zuständig rur die Ordnung der Arbeitsbeziehungen ansieht. Dieser Unterschied hat sich sehr konkret ausgewirkt: Das AGB 1977 hat die sozialen Probleme arbeitsrechtlich gelöst. Das Arbeitsverhältnis war das recht2S Es ist nicht der DDR, sondern der BRD vorbehalten geblieben, ein soziales Grundrecht auf Bildung voraussetzungslos, gleichsam "zum Nulltarif', zu entwickeln. 26 Das herkömmliche enge Verständnis der sozialen Grundrechte als Anspruchsrechte gegen den Staat stiftet somit nur Verwirrung in der theoretischen Diskussion. Derzeit besteht noch eine Konkurrenz der Verpflichteten, sowohl was ihren Zustllndigkeitsanspruch anlangt, als auch was die Realisierbarkeit der Ansprüche gegen sie betriffi. Die enge Begriffsbildung bedeutet demgegenüber, daß die Tarifparteien nicht als flIhig erachtet werden oder sind, diese Regelungen selbst vorzunehmen. Die Frage wird über die Terminologie bereits dann beantwortet, wenn sie den Staat als den Ihnen Übergeordneten bezeichnet. Die Rechtswissenschaft hat indessen die Kategorien zur VerfUgung zu stellen, um die mögliche Rechtsentwicklung verstehen und Lösungen aufzeigen zu können. Sie darf sich dabei nicht selbst den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. So ist der Freiheitsbereich des Individuums im Vergleich zur Zeit des Frühkapitalismus größer geworden. Die Verringerung des Anteils der Arbeit an der Lebenszeit: von der Wochenarbeitszeit bis hin zum Ruhestand hat die lebensbestimmende Bedeutung der Arbeit gemindert. Die technische Entwicklung schiebt die Frage in den Vordergrund, ob auf das Ethos der Arbeit als Bindeglied der Gesellschaft verzichtet werden kann.

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liche Zentrum der Lebensbeziehungen. Es diente als Mittel der Integration in die Gesellschaft: Jeder sollte arbeiten. Deshalb wurde auch auf die Kündigung verzichtet, dem notwendigen Mittel der Disziplinierung und der Durchsetzung der Weisungsbefugnis. Das Ethos der Arbeit sollte selbst auf Vorgänge in der Privatsphäre einschließlich des ehelichen Verhaltens ausstrahlen, über die die Arbeitskollegen urteilten. Die BRD legte zwar eine andere theoretische Position zugrunde. Doch ging die Rechtsentwicklung in dieselbe Richtung. In der Tat ist stets zu fragen, warum Resozialisierungsfragen, Reproduktionsinteresse der Gesellschaft, Vereinbarkeit von Mutterschaft und Elternschaft mit der Berufstätigkeit oder das Gesundheitsrisiko des Arbeitnehmers nicht unmittelbar auf den Arbeitgeber überwälzt werden sollen, statt kostenträchtige Umwege über eine Verteilungsbürokratie zu nehmen, die Steuerhinterziehung und -umgehung begünstigen. Die Entwicklung des Arbeitsverhältnisses zu einem Dauerrechtsverhältnis rechtfertigt es sicherlich, daß der Arbeitgeber das Risiko rur kleinere Krankheiten des Arbeitnehmers trägt. Denn dessen Leistung wird zu einer Dauerleistung und ist eben nicht eine nur kurzfristige. Andererseits sollte aber der Arbeitnehmer das Risiko rur solche Gesundheitsschädigungen tragen, die aus seiner Privatsphäre rühren. Wer sich Geflihrdungen durch den Sport oder auch durch Rauchen oder durch unmäßigen Alkoholgenuß aussetzt, sollte haften oder die Haftung auf eine Privatversicherung abwälzen. Will ihm dies der Staat abnehmen, dann muß er dafilr aufkommen. Auch rur die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Elternschaft mit der Berufstätigkeit zu sorgen, ist in erster Linie Aufgabe des Staates. Das Arbeitsverhältnis sollte sich nicht allzuweit vom Austauschverhältnis entfernen und insbesondere sollten nicht die Tarifparteien als Vertreter oder Gegner von Allgemeininteressen aufgefaßt werden. Zu deren Wahrung ist der Staat berufen, und er sollte nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Der Arbeitskreis hatte sich daher schon in seiner Resolution im März 1990 darur ausgesprochen, daß jene Allgemeininteressen von der dazu berufenen Solidargemeinschaft zu übernehmen sind27 • Er hat dies im E 92 allerdings nicht konsequent eingehalten, um nicht die Durchsetzbarkeit des Entwurfs zu geflihrden. Was konnte bei dieser Sachlage vom Arbeitsgesetzbuch der DDR übernommen werden? Zwei Antworten mögen vorweg gegeben werden. Das Funktionieren wie das Nichtfunktionieren des AGB 1977 - rur sich und als Teil der Gesellschaftsordnung der DDR genommen - ist Gegenstand der deutschen Rechtsgeschichte geworden. Bei der Würdigung ist insbesondere der Charakter des sozialistischen Gesetzes als Teil eines steten, nicht abge27

Vgl. Anm. 5.

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schlossenen Erziehungsprozesses zu berücksichtigen. Die Harmonie ist oberstes Prinzip - bis zur Leugnung des Interessengegensatzes zwischen Individuum, Gruppe und Gesamtheit. Hinzu kommen dann die durch die Tradition des deutschen Obrigkeitsstaates verstärkten DDR-Spezifika: die Verbrämung der Diktatur durch den "demokratischen Zentralismus", die Herrschaftsabsicherung durch die Staatspartei und die Satellitenparteien und den staatlichen Geheimdienst. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR hat weiterhin gelehrt, daß jedes Arbeitsrecht Teil des Wirtschaftssystems ist und ein besseres, ein perfekteres Arbeitsrecht dann nichts nutzt, wenn das Wirtschaftssystem nichts taugt. Die Frage, inwieweit der Entwurf vom Arbeitsgesetzbuch der DDR profitiert hat oder hätte profitieren können, ist indessen auch rur deren Arbeitsgesetzbuch von 1990 (AGB 1990) zu stellen. Seitdem der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion die gemeinsame wirtschaftspolitische Basis hergestellt hatte, ist das AGB von seinem ursprünglichen ordnungspolitischen Hintergrund gelöst worden. Seine Rezeption ist, ähnlich wie dies rur das römische Recht im Mittelalter, aber auch im 19. Jahrhundert, gegolten hat, auf die Frage zu beschränken, welche Regelung in der industriellen Gesellschaft jeweils rechtstechnisch besser sei. Hartmut Oetker hat sich dieser Aufgabe angenommen 28 und die teils detaillierteren, teils pauschaleren Vorschriften miteinander verglichen. Der E 92 hat wenig vom AGB 1990 übernommen. Dies mutet zunächst merkwürdig an, da ihn ein deutsch-deutscher Arbeitskreis erarbeitet hat. Der Arbeitskreis hat sich rur eine einheitliche Konzeption und Rechtstechnik entschieden und im übrigen die westdeutsche Rechtsentwicklung zugrundegelegt, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung berücksichtigt - nicht als Folge einer Beitrittsideologie, sondern weil Interessenkonflikte dort klarer und offener zutage getreten sind als in einem Gesetz, das doch ursprünglich von einer Interessenidentität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgegangen war. Mir scheint indessen, daß zumindest in einem Punkte der Vergleich mit dem AGB nochmals aufgegriffen werden sollte: rur die Rechtsstellung der Frau. Allerdings wird er dazu zwingen, über den eigentlich arbeitsrechtlichen Bereich hinauszugehen.

Vgl. Anm. 24. Diese Aufgabe erstreckt sich auch auf den öffentlichen Dienst, insbesondere das Beamtenrecht. Nach wie vor ist nach der Einheit des den öffentlichen und den privaten Dienst umfassenden Arbeitsrechts zu fragen.

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IV. Gesamtcharakteristik und gesetzgeberische Umsetzung des Entwurfs J. Gesamtcharakteristik des Entwurfs

Der E 92 ist sicher kein kühner, wegweisender Entwurf - allerdings wäre zu fragen, ob ein solcher überhaupt in die Landschaft der pluralistischen Demokratie paßte und irgendeine Verwirklichungschance hätte. Er ist ein solide gearbeiteter, am bestehenden Recht orientierter Entwurf. In der Beschränkung auf das rechtsstaatlich Geforderte und auf das Machbare liegt gerade seine Stärke, denn weshalb sollte er dann nicht verwirklicht werden können? Er verschafft dem Bürger ein sehr viel größeres Maß an Information über das Recht und setzt Fixpunkte fi1r die künftige Rechtsentwicklung. Das Recht und Rechtsentwicklung werden berechenbarer. Natürlich werden damit kollektive Handlungsspielräume eingeengt - aber wie groß sind diese wirklich im Bereich der individuellen Arbeitsbeziehungen? Soweit sie berechtigt sind, können sie den kollektiven Parteien ohnehin dadurch erhalten werden, daß die Gesetzesbestimmungen zu ihrer Disposition gestellt werden. 2. Der Weg zur Verwirklichung

Wer die Gretchenfrage stellt, welche Chancen der E 92 hat, verwirklicht zu werden, darf nicht zurückblicken. Die Geschichte schreckt, und der Pessimist wird leicht geneigt sein, die Zukunft allein unter der Perspektive zu betrachten, daß die Politikverdrossenheit der Bürger berechtigt sei. Auch die Tagung der Deutschlandgesellschaft vom September 1991, insbesondere die Podiumsdiskussion, war keineswegs ermutigend. Ich habe mich gewundert, wie leichtfertig politisches Nichtwollen als Nichtkönnen des demokratischen Gesetzgebers ausgegeben und - natürlich - die europäische Rechtseinheit beschworen wird, die offenbar planmäßig als Hindernis rur den auch nur geringsten sozialpolitischen Fortschritt aufgebaut werden solf9 • Im Gegenteil wäre ein deutscher Beitrag gerade zum Arbeitsvertragsrecht höchst fbrderZum BedUrfuis nach Rechtsvereinheitlichung sei an dieser Stelle auf zwei Vorläufer hingewiesen:

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Die EG-Kommission berief eine Arbeitsgruppe unter meinem Vorsitz ein, die in einem Entwurf des Arbeitsvertrags als Modell die Möglichkeiten aufzeigte, durch Benutzung der Vertragsfreiheit eine Rechtsvereinheitlichung zu begründen (vgl. zur Konzeption Ramm, Das Arbeitsverhältnis in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft, in: In memoriam Zvi Bar-Niv hrsg. von Barak u.a. 1987. Den EntwurfverötTentlichte B/anpain (Hrsg.), Model ofa European Individual Employment Contract, in: Comparative Labour Law and Industrial Relations 1982,378. Eine Gruppe europäischer Arbeitsrechtswissschaftler hat das gesamte Arbeitsrecht rechtshistorisch rur die ursprünglichen sechs EG-Staaten dargestellt, vgl. den von Bob Hepp/e herausgegebenen Sammelband Tbe Making ofLabour Law in Europe (1988). 7 Drobnig I Ramm

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lich. Dies zeigt nicht zuletzt das große Interesse, das der Entwurf im Ausland gefunden hat: Eine Anzahl von Übersetzungen befindet sich in Arbeit. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit wird anscheinend nicht als Chance zur seit 1945 fälligen Rechtsreform, sondern als lästige Störung eines austarierten status quo angesehen. Daß mit ihr ein neues Kapitel der deutschen Geschichte aufgeschlagen ist, wird weitgehend nicht begriffen. Der Zusammenbruch der Ordnung der DDR bedeutet nicht, daß damit die Ordnung der alten BRD zur besten aller möglichen Welten geworden ist. Sie war es nicht, und sie ist es nicht. Sicherlich hat sie allerdings den Blick daftlr geschärft, daß das Arbeitsrecht sich im Rahmen einer liberalen Ordnung bewegt und damit das Machbare zum Gegenstand hat. Die wirtschaftliche Belastbarkeit hat ihre Grenze, auch und gerade, wenn sie sich im Bereich der internationalen Konkurrenz bewegt. Die Entwicklung ist inzwischen weitergegangen. Die arbeitsrechtliche Abteilung des Deutschen Juristentags hat sich im September 1992 mit dem E 92 befaßt. Zwei der drei Referenten, darunter der ehemalige Vizepräsident des BAG, haben das gesetzgeberische Vorhaben ausdrücklich beftlrwortet. Der dritte, der Gewerkschaft nahestehende Referent, hat sich ftlr Einzelgesetzgebung ausgesprochen. Wie die Diskussion auf dem Juristentag gezeigt hat, blieb er damit fast allein. Im übrigen spiegelte die Diskussion des Deutschen Juristentags das allgemeine Echo: Eine starke positive Resonanz der Arbeitsrechtswissenschaft, soweit sie als unabhängig anzusehen ist, ein ermutigendes Eintreten der Berufsrichter der Arbeitsgerichtsbarkeit ftlr den Entwurf, Versuche der Gewerkschaften und "Progressiver", radikale Forderungen durchzusetzen, vielfach Bedenken der Arbeitgeber. Die Diskussion ist jedenfalls, wie auch die publizistische Reaktion zeigt, in Bewegung gekommen. Die Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit und die Anwälte haben ihrerseits Entwürfe ausgearbeitet, die weitgehend mit dem E 92 übereinstimmten. Soweit die Kritik sich nicht in allgemeine Bedenken flüchtete, sondern - was nach einem Entwurf eigentlich selbstverständlich ist - deren Berechtigung in eigenen Formulierungsvorschlägen überprüfte und damit die weitere Diskussion und Gesetzgebungsarbeit förderte, hat sich der Arbeitskreis in einer Abschlußsitzung mit ihr befaßt und wird hierzu noch Stellung nehmen. Eine Bundestagsfraktion richtete eine Anfrage an die Bundesregierung, wie sie zu dem Entwurf stehe. Es handelte sich nicht um die CDU und die FDP - sie hatten ohnehin bei der Koalitionsvereinbarung das Versprechen des Einigungsvertrags unter den Tisch fallen lassen. Die Bundesregierung hat geantwortet, sie werde der Empfehlung des DJT nicht folgen, noch im Jahre 1993 einen eigenen Entwurf vorzulegen - in Anbetracht des "noch nicht abgeschlossenen Diskussionsprozesses, der Notwendigkeit, ein gesetzgeberisches Vorhaben

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dieses Ausmaßes verantwortungsbewußt zu erarbeiten und der von der Bundesregierung vordringlich zu erfUllenden Aufgaben,,3o. Nun, der Diskussionsprozeß dauert fast einhundert Jahre und die Wissenschaft hat ihren Teil g~leistet. Seit mehr als dreißig Jahren steht das Vorhaben auf der Tagesordnung des deutschen Bundestages und der Bundesregierung. Wie lange soll die Blamage des sozialen Rechtsstaats eigentlich noch dauern? Anhang

Die Resolution (NZA 1990,437 und BB 1990,776) lautete: Die Arbeitsgruppe "Deutsches Arbeitsrecht" hält im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts die Herstellung der deutschen Rechtseinheit filr das selbstverständliche Ziel. Zu diesem Ziel, den freiheitlichen, sozialen und demokratischen Rechtsstaat zu verwirklichen, muß ein Übergangsrecht filhren. Es hat die starken Strukturen der Planwirtschaft durch marktwirtschaftliche Gestaltung zu ersetzen und muß zugleich dem sozialen SchutzbedUrfnis des Arbeitnehmers Rechnung tragen (soziale Marktwirtschaft). Dabei ist stets die enge Verflechtung von Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht zu verwirklichen. Eine bUrgernahe Gesetzgebung soll· dabei die tragenden Rechtsgrundsätze bewußt machen. Insbesondere ist zwischen der Wahrnehmung allgemeiner Interessen durch den Staat, der Übernahme allgemeiner Risiken durch die Solidargemeinschaft der Versicherten und der Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke durch die Betriebe klar zu trennen. Das Übergangsrecht s01l positive Erfahrungen des DDR-Rechts, vor allem die einzelnen Regelungen des Individualarbeitsrechts und der Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten nutzen. Folgende Maßnahmen sind dringend geboten: 1. In der DDR ist das kollektive Arbeitsrecht einzufilhren. Dabei ist das Recht der Bundesrepublik maßgeblich zu berUcksichtigen. Ein Tarifvertragsgesetz ist unverzUglich zu verabschieden. In ihm sind folgende Grundsätze des Arbeitskampfrechts aufzunehmen: •

Arbeitskämpfe sind zulässig, soweit sie zur Durchsetzung der Tarifautonomie erforderlich sind.



Der Streik ist erst zulässig, wenn ein Schlichtungsverfahren vorangegangen und ohne Erfolg geblieben ist.



Die Regierung kann einen Arbeitskampf aus GrUnden des Gemeinwohls aussetzen.

2. Die Betriebsverfassung ist neu zu ordnen. Die Interessen der gesamten Belegschaft sind durch gewählte Betriebsräte zu vertreten. In den Betrieben können gewerkschaftliche und betriebliche Vertrauensleute gewählt werden. Es ist ein Betriebsverfassungsgesetz zu schaffen, das in seinem wesentlichen Inhalt das Betriebsverfassungsrecht der Bundesrepublik in einfacher Form Ubernimmt. 30 BT-Drucks. 12/3592. Vgl. dort auch über die anderen Prioritäten aufgrund der Entscheidungen des BVerfG und europaischer Richtlinien.

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3. Die Bestimmungen des Individualrechts sind marktwirtschaftlichen Bedingungen unter Beibehaltung des sozialen Schutzgedankens anzupassen. Dabei ist die einheitliche Regelung rur Arbeiter und Angestellte beizubehalten. •

Lohnersatzleistungen sollten in der Regel von der jeweils sachnäheren Solidargemeinschaft (Sozialversicherung) oder der öffentlichen Hand getragen werden.



Die bisherige Haftungsbeschränkung der Arbeitnehmer ist beizubehalten.



Das KUndigungsrecht ist unter Berücksichtigung des KUndigungsschutzgesetzes und des Arbeitsförderungsgesetzes der Bundesrepublik neu zu gestalten.

Bei allen Regelungen sind die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Klein- und Mittelbetriebe zu beachten. Falls die. Einruhrung des Berufsbeamtenturns erwogen werden sollte, ist der Kreis der Beamten eng zu begrenzen. Die rechtlichen Regelungen rur Beamte sollen sich auf die unbedingt notwendigen Sondervorschriften beschränken. Das Individualarbeitsrecht sollte in einem Arbeitsgesetzbuch zusammegefaßt werden. Die Erwerbstätigkeit der Frauen und die Rechtsstellung der Erziehenden sind weiterhin durch flankierende Maßnahmen zu sichern. Diese Grundsätze sollen auf die Bundesrepublik ausgedehnt werden. 4. Bei der Neugestaltung des Arbeits- und Sozialrechts ist die Entwicklung des EGRechts zu berücksichtigen.

VERFASSER UND HERAUSGEBER Volker Dähne Merseburger Straße 196 06110 Halle/Saale Prof. Dr. Ulrich Drobnig Max-Planck-Institut rur ausländisches und internationales Privatrecht Mittelweg 187 20148 Hamburg Prof. Dr. Anita Grandke Breite Straße 29 A 13187 Berlin Prof. Dr. jur. habil. Frithjof Kunz Rechtsanwalt Amundsenstraße 11 14469 Potsdam Prof. Dr. jur. Annemarie Langanke Rechtsanwältin Wasserturmstraße 516 04299 Leipzig Dr. Ulrich Lohmann Max-Planck-Institut rur ausländisches und internationales Sozialrecht München Dr. Heide Pfarr Dostojewskistraße 4 65187 Wiesbaden Prof. Dr. jur. Thilo Ramm Brahmsweg 11 A 64287 Darmstadt