Strafrechtsreform für heute und morgen [1 ed.] 9783428409938, 9783428009930

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Strafrechtsreform für heute und morgen [1 ed.]
 9783428409938, 9783428009930

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HELLMUTH MAYER

Strafrechtsreform für heute und morgen

KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN Herausgegeben von Professor Dr. Hellmuth Mayer

Band 1

Strafrechtsreform für heute und morgen Von

Dr. Hellmuth Mayer Ordentlicher Professor der Rechte an der Universität Kiel Oberlandeacerichterat am Schleawlc-Holsteiniachen Oberlandesgericht

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Redlte vorbehalten

@ 1962 Dwuker&Humblot, BerllD

Gedruckt 1962 bei Hans Winter Budldruckerei, Berlin SW 61 Prlnted ln German:r

Vorwort Man kann daran zweifeln, ob unsere krisenschwangere Zeit für eine neue Kodifikation des Strafrechts reif ist. Das Bundesjustizministerium hätte den breiten und bequemen Weg der Novellengesetzgebung wählen können, hat sich aber auf den steilen und dornigen Pfad der Gesamtreform gewagt. Der so erarbeitete Entwurf verdient als tüchtige, begrifflich klare Leistung volle Anerkennung. Er beruht zwar auf dem vor 50 Jahren erzielten Kompromiß im Streit der strafrechtlichen Schulen, hält aber mit der neueren wissenschaftlichen Entwicklung Schritt, bietet also eine Reform für heute. Wenn er mit neuer Entschiedenheit am Gedanken sühnender Vergeltung und damit an einem echten Schuldstrafrecht festhält, so ist dieser Entscheidung zuzustimmen. Sie entspricht gerade neu gewonnenen Einsichten und praktischen Erfahrungen. Darüber hinaus bemerkt man mit Freude, daß der Entwurf auch für kommende Entwicklungen offen ist, sofern er die Möglichkeit schafft, Maßregeln zur Bewährung auszusetzen. Auf diese Weise könnten das Recht der strafrechtlichen Maßregeln und das neue Fürsorgerecht aufeinander abgestimmt werden. Aber wir stehen an einem Wendepunkt der strafrechtlichen Entwicklung. Es muß daher die Frage gestellt werden, ob der Entwurf dieser Tatsache hinreichend Rechnung trägt und ob er die Weichen in die Zukunft richtig stellt. Hier beginnen grundsätzliche rechtspolitische Fragen, deren Lösung nicht allein in die Zuständigkeit des engen Kreises strafrechtlicher Experten, sondern zugleich in die Verantwortung der Politiker fällt. Eine Kritik aus dieser Sicht ist erst heute möglich, denn es bedurfte einiger Zeit, um das wohldurchdachte Gesamtwerk zu überschauen. Die vorliegende Kritik behandelt - gestützt auf eine grundsätzliche kriminologische und rechtspolitische Besinnung - drei Hauptanliegen. 1. Die öffentliche Strafe ist nur erträglich und rechtspolitisch sinnvoll, wenn das materielle Strafrecht entscheidend eingeschränkt wird. Die menschenzerstörende Vielstraferei, wie sie heute geübt wird, muß aufhören. Insbesondere geht es nicht an, neben die umfassende privatrechtliche Vermögensordnung eine zweite strafrechtliche Vermögensordnung ebenso umfassender Natur zu setzen, welche praktisch die Autonomie des Privatrechts untergräbt.

VI

Vorwort

2. Der Entwurf bemüht sich in verdienstvoller Weise, die Tatbestände möglichst sorgfältig zu umschreiben und so dem Satz nulla poena sine lege wirklich zur Geltung zu verhelfen. Es müßte aber in dieser Beziehung noch mehr getan werden. 3. Das zweispurige System von Strafen und Maßregeln, also der vor zwei Menschenaltern erzielte Kompromiß, hat sich in der Praxis nur teilweise bewährt. Unsere Kritik wagt daher ein eigenes neues System von Strafen und personenrechtlichen Fürsorgemaßnahmen vorzuschlagen, das als ein Ganzes gedacht ist und als Ganzes geprüft werden muß. Besonders hervorzuheben ist aber, daß jede eliminierende Verwahrung mit Menschlichkeit und christlicher Nächstenliebe schlechthin unvereinbar ist. Daher muß die Sicherungsverwahrung, die sich ohnehin als unpraktisch erwiesen hat, in ihrer jetzigen Form fallen. Sie darf nicht noch durch die schreckliche Jungtäterverwahrung ergänzt werden. Das Problem ist vielmehr teils durch entsprechende Ausgestaltung der gerechten Strafe, teils durch echte personenrechtliche Fürsorge zu lösen. Ohnedies ist das Maßnahmenrecht des Entwurfs durch § 72 Bundessozialhilfegesetz unterlaufen. Von der weiteren Entwicklung des Strafrechts hängt es zu einem guten Teil ab, ob wir unsere freiheitliche Rechtsordnung behalten und ausbauen können, oder ob wir alle mehr oder weniger einem kollektivistischen Behandlungszwang unterworfen werden. Alle diese Fragen sind so ernst, daß der Kritiker sich in der Durchführung seiner Gedanken manchmal zu sehr harten und scharfen Aussagen genötigt sieht. Kiel, 14. Januar 1962 Hellmuth Mayer

Inhalt Erster Teil Grundlagen einer neuen Kriminalpolitik Erster Abschnitt: Die werdende neue Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

§ 1. Methodische Voraussetzungen ........... . .... . ......... . .

1

o











§ 20 Das Programm einer neuen Kriminologie ... ...... · · · . · · · ... · . ·

6

Zweiter Abschnitt: Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht . . . .

25

§ 3. Der Rechtsbegriff der Freiheit und die strafrechtlichen Folgerun§ 4o Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart . . . . . . . . . .

gen in der Ideengeschichte . ... . . .. .... . ............ . .. . . .

25 37

Dritter Abschnitt: Kritische Folgerungen .....

45

o

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o

0













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§ 5. Kritische Folgerungen

45 Zweiter Teil

Kriminalpolitische Aufgaben Erster Abschnitt: Quantitative Einschränkung des Strafrechts . . . . . . . .

§ 6. Die Misere und die Möglichkeiten ......... . . ............. . . .. § 7. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen . . . . .

0



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0



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§ 8. Verbrechen gegen die Person . . .. .. 0 .. .. ... ..... . . 0 0. . . . . . . . . . . § 9. Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 68 82 97

Zweiter Abschnitt: Die gesetzliche Bestimmung der Tatbestände . . . . . . 104

§ 100 Die grundsätzliche Bedeutung der Tatbestandsgarantie . .. . .. 0 . . . 104

§ 11. Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis . . . . . . . 109 § 12. Probleme der Gewaltenteilung . . . ..... . . . . . ... . ......... . . . . . . 116 Dritter Abschnitt: Strafensystem, Maßnahmen des Kriminalrechts, fürsorgendes Personenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 § 13. Ein neuer Plan . ....... .... ........ . ..... .

o













§ 14. Die Geldstrafe ............ .. .............. . ......











0

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119 130

§ 15. Strafdienst und Freiheitsstrafe ........ . . 0 . . . . . 0 .. 0 .... . 0 . . . . . . 133 § 16. Die Behandlung der Gefährdeten . . ....... . . . . .. . ......... ..... 144 § 17. Einordnung der Vergesellungsschwierigen, (Schutzhilfe und Siche-

rungsaufsicht)

. . . ..... ... . .... .. . . . ... .. . . .

0

















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Erster Teil

Grundlagen einer neuen Kriminalpolitik Erster Abschnitt

Die werdende neue Kriminologie § 1. Methodische Voraussetzungen

Der Entwurf erscheint in einer Zeit, in der die ganze Kriminologie neu geschrieben werden muß. Ohne sich dies in allen Folgerungen klarzumachen, kann man z.um Entwurf nicht sachgemäß Stellung nehmen. Diese Neubesinnung wird dadurch erzwungen, daß die naturwissenschaftliche Anthropologie z. B. in der zoologisch orientierten Instinktlehre, aber auch sonst mit der rein naturkausalen Betrachtung des menschlichen Handeins vollen 1Ernst macht, und gerade dadurch die Grenzen der naturkausalen Betrachtung unübers•zhbar aufzeigt. Damit verschafft die Naturwissenschaft selbst der Kriminologie die Freiheit, sich ihres Charakters als Geisteswissenschaft bewußt zu werden. Jetzt endlich können also die Früchte der entscheidenden wissenschaftstheoretischen >Erkenntnis der Jahrhundertwende gezogen werden, nämlich daß die geisteswissenschaftlich·e Empirie als Realerkenntnis gleichberechtigt neben der Naturwissenschaft steht. Die daraus folgenden methodis·c hen Vorbemerkungen mögen manch·e n verstimmen, dem die großen Namen der krimiDialogischen Wissenschaftsgeschichte bedeutsam sind. Sie sollen aber nicht das Andenken etwa Franz v. Liszts abwerten, sondern die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und Veränderung·en klären. I. Der Methodenwiderspruch1 in den "modernen Grundgedanken". Die Lehren doer seinerzeit modernen Schule entlehnten ihre verführerische Zauberkraft den die Allgeme inheit beherrschenden Zwangsvorstellungen des populären Naturalismus. Alle führenden Köpfe der scuola positiva oder der deutsch·en soziologischen Strafrechtsschule waren viel weniger der eigentlichen positivistisch·en Philosophie2 ver1 Vgl. Hellmuth Mayer, Kriminalpolitik als Geisteswissenschaft Z. Bd. 57, S. 1 ff., vgl. auch Lehrb. Allg. Tl. § 5. 2 Die geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge sind von Wetzet, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935 dargestellt. Auch Welzel '

Mayer. Strafrechtsreform

Die werdende neue Kriminologie pflichtet, als vielmehr dem voreiligen Weltbild des frühen Naturalismus verfallen. Es war ihr Schicksal, daß sie mit den unzulänglichen Mitteln des "unaufgeklärten" Materialismus das Sozialleben naturkausal erklären mußten. Das ließ sich aber nur machen, indem man eine Art "Soziale Physik" aus- als selbstverständlich unterstellten3 Axiomen deduzierte und in diesem pseudonaturwissenschaftlichen Lehrgebäude geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Methoden vermengte anstatt diese Methoden kritisch zu unterscheiden und korrekt zu verbinden". Dieser methodische Ansatz nötigte dioe kriminologische Forschung zu deduktiven Spekulationen, so leidenschaftlich man dem Gegner, nämlich der klassischen Schule, Spekulation vorwarf. 1. Der Fehler im Grundansatz ist folgender: Sachverhalte, die unmittelbar oder mittelbar nur im Selbstbewußtsein ·oder Selbstverständnis does Menschen .gegeben sind, wie die Sinneinheit des Individuums, oder der normative Gehalt von Recht und Sittlichkeit, oder überhaupt der Sinngehalt menschlicher Ausdruckstätigkeit, werden als empirisches Faktum im Sinn von Sach·verhalten gerade der Natur aufgefaßt und in Analogie zu Naturvorgängen behandelt. Der ganze positivistische Naturalismus behandelt nämlich im Wider• spruch zu seinen Ausgangsvorstellungen den Mensch'E!n keineswegs schlicht und einfach als Naturwesen, als welches er einerseits ein bloßes Exemplar der Gattung, andererseits ein höchst komplexes uneinheitliches Gebilde ist. Er nimmt ihn vielmehr zunächst durchaus als die geistige Sinneinheit Individuum rod•er als "Ich", so wie sich dieses Ich oder Individuum ausschließlich in seinem geistigen Selbstbewußtsein vorfindet und erkennt. So gesehen ist aber der Mensch kein möglicher Gegenstand kausaler Naturbetrachtung. Dennoch wird das Verhalten dieses philosophisch oder geisteswissenschaftlich begriffenen Individuums analog dem Mechanismus der durch Schwerkraft bewegten Körper gedacht. Der Mensch wird als ein von innen von dem - als einheitlich vorgestellten - naturalen Trieb der Selbsterhaltung gelenkter, im übrigen aber als von außen von den Anstößen der Umwelt bewegter Mechanismus gesehen. Diesem mechanistisch konstruiertoen Individuum wird zwar die Freiheit abgesprochen, dennoch aber Zweckstellt das "Weltbild" des Positivismus den "philosophischen" Grundlagen voran. In der Tat ist ersteres für die Anhänger der seinerzeit modernen Schule primär, die philosophische Begründung nur sekundär. Bei dem "Weltbild" handelt es sich um das aus dem 18. Jahrhundert stammende "scientistische" Vorurteil, das nur vorübergehend unter den Schlägen der kritischen Philosophie zusammengebrochen war. 3 Vgl. z. B. den naiven Dogmatismus bei Ferri, Das Verbrechen als soziale Erscheinung (deutsch von Kurella) 1896, S. 21. 4 Vgl. als Beispiel vorbildlicher Methodenunterscheidung und Kombination Jaspers, Allgemeine Psychopathologie (6) 1953; insbes. 1-41.

Methodische Voraussetzungen

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bewußtsein und zweckbewußter Wille, also eine geistige Verfassung, zuerkannt. Unbefangen werden ·geistig-psychologische Abläufe kausal mit materiellen Gegebenheiten verknüpft5, als wenn nicht das Problem einer psychologischen Kausalität wissenscllaftstheoretisch schlechthin unlösbar wäre. 2. Ausgangspunkt der Konstruktton ist an sich das Einzelindividuum. Dies erklärt sich nicht nur geschichtlich daraus, daß der Positivismus - im Widerspruch mit sich selbst- weithin den Rationalismus des 18. Jahrhunderts weiterführt, sondern dies ist auch innerhalb eines wesentlich naturalistischen Denkens bedingt legitim. Denn innerhalb dres naturalistischen Denkens wird sowohl die übergeordnete Gattung als auch die Gesellschaft nur im Individuum wirklich. Folgerichtig muß denn auch das soziale Leben aus Trieben abgeleitet werden, die in das Individuum als Anlage eingepflanzt sind. So erklärt v. Liszt das soziale Leben durch eine ausdrücklich .als solche zugestandene Hypothese6 , nämlich in der Weise, daß neben dem Selbsterhaltungstrieb ein Arterhaltungstrieb als unbewußt im Dienst der Arterhaltung stehend zu denken sei. Diese seltsame Gleichrichtung zweier an sich verschiedener und in ihren Zwecken sich widersprechender Trü:!be bezeichnet v. Liszt als Koinzidenz der Zwecke, so daß er also entgegen seinem naturalistischen Ausgangspunkt der kausalen Natur eine doppelte harmonische Zweckhaftigkeit zuschreibt. Über die Bedenken gegen eine solche Annahme beruhigt er sich schließlich damit, daß er doch nichts anderes behaupte als die uralte philosophische Aussage, der Mensch werde von Natur aus durch den appetitus societatis geleitet. Damit ist aber offen ausgesprochen, daß der v . Lisztschen Kriminologie eine deduktive Konstruktion more geometrico im Sinne des 18. Jahrhunderts zugrunde liegt, und daß die angestrebte kausale Naturbeobachtung nicht ernstlich durchgeführt wird. Die Gesellschaft erscheint auf diese Weise nur als Umwelt im äußerlichsten Sinn, als äußerer Anstoß oder Grenze für die Betätigung der Triebanlagen, nicht als inhalterfüllte und selbstwirksame geistige Kraft. Damit verschwinden die realen gesellschaftlichen Kräfte, Zusammenhänge und Vorgänge aus dem Blickfeld dieser Kriminologie7 • 5 In Betracht kommt hier nur die naturwissenschaftlich verstandene nezessitierende Kausalität, in deren Sinn die herkömmliche Kriminologie ganz naiv Denkinhalte des Zweckbewußtseins mit real-körperlichen Vorgängen verbindet. Vgl. als erste Einführung in das Problem der psychologischen Kausalität Elsenhans, Lehrb. d. Psychologie, 3. Aufl. 1939, S. 49 ff, und Hermann Ebbinghaus, "Abriß der Psychologie", 9. Aufl. 1932, S. 45 ff., vgl. auch mein Lehrb. Allgem. Tl. S. 230 und § 33 Anm. 47 ff., ferner Rittler-Festschrift S. 256. 6 Vgl. v. Liszt "Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge" Bd. 1 1905, S. 135 f. 7 Sehr charakteristisch ist der Aufbau der Kriminologie Exners auch noch in der 3. und reifsten Auflage. Was wirklich das Bewegende im gesell1.

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Die werdend e neue Kriminologie

3. Hat sich v. Liszt noch um eine grundsä tzliche Rechtfe rtigung seiner Konstru ktion sehr ernst bemüht, so wird später seine dogmatische Konstru ktion unkritis ch weiterg eführt. Die Konstru ktion wirkt deshalb so verhäng nisvoll, weil sie nötigt, das Verbrec hen als eine n gegenüb er dem (biologis ch, psycholo gisch und soziologisch) normale zu ng rscheinu Lebense rsartige besonde Lebensv erlauf von vornher ein betracht en. Damit wird also das Phänom en Verbrec hen isoliert. Leitet man nämlich das normale Sozialv erhalten des Einz·elnen aus dem harmonisie rten Selbst- und Arterha ltungstr ieb ab, so versteht sich das normale Sozialle ben gewisse rmaßen von selbst. Zu erklären bleibt dann nur noch das Verbrec hen, dessen Ursache n entwede r in einer besonde rsarhg·e n angebor ·enen Schwäch e oder 1Erkrankun:g der Selbstund Arterha ltungsin stinkte oder in einer besonde ren, das Verbrec hen begünst igenden Umwelt gesucht werden. Damit tritt eine weitere Method enverwi rrung hinzu, indem der Begriff des Verbrec hens - der doch juristisc h normati ver Natur ist wird, mmen hingeno heit Gegeben hliche h-tatsäc empirisc als ch unkritis obgleich der juristisc he Verbrec hensbeg riff im Bereich der Tatsach enwissens chaften Soziolog ie, Psycholo gie, Biologie nur den Wert einer willkürl ichen Etikette hat. Es sollte dagegen selbstve rständli ch sein, daß man .zuerst das durchschnittli che soziale Verhalt en des durchsc hnittlich en Mensche n, den im Sinn des durchsc hnittlich en Gescheh ens normale n Vergese llungsals vorgang untersuc ht, bevor man irgendw elche Verhalte nsweise n hen empirisc im ein als nicht nur juristisc h v·erboten, sondern auch Sinn besonde res - d. h. abooits vom durchsc hnittlich en Ver·gese llungsPhänom en biologis cher, soziolog ischer oder vorgang liegende s bt. beschrei psycholo gischer Art hundert Jahren modern en Schule bevor Seit den Anfäng en der medizin ischer Vergleic he. Folgt man rer Wortfüh deren dienen sich man sagen, daß eine das Phänom en kann so , ebrauch Sprachg diesem des Verbrec hens isolieren de Krimino logie eine Patholo gie ohne Physiologie und Anatom ie darstell t. II. Eine neue Krimino logie mit neuen krimina lpolitisc hen Konsequenzen muß daher an die Stelle der isolieren den, pseudon aturwiss enschaftlk hen, dedukti ven Krimino llogie treten, und dies ist im Grunde weithin bewußt8 •

schaftliehen Leben ist, das erscheint auf 14 Seiten des Buches von S. 84-98 unter dem Titel "Kulture lle Umwelt" . o8 Eine Wendun g leitet ein Mezger in "Krimin alpolitik auf kriminol Ausdie Auch ff. 164 S. ch namentli vgl. 1942, Aufl. 2. e", gischer Grundlag Umwelt, führunge n Exners über die Wechselbeziehung von Anlage und den naturaa.a.O. S. 27 ff und S. 272 ff., führen in der Konsequenz über Mezger sich listischen Ansatz hinaus; jedoch können weder Exner noch

Methodische Voraussetzungen

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Allerdings erweist sich das Unternehmen einer solchen neuen Kriminologie .als ein ganz außerordentliches Wagnis. In einer Zeit fortschreitender Spezialisierun·g der Wissenschaft bedürfen wir für unsere Zwecke einer höchst umfassenden Synthese, d. h. einer Koordination höchst umfangreich·er Grunddisziplinen und damit der korrekten Unterscheidung und Zuordnung der verschiedensten wissenschaftlichen Methoden. Unentbehrliche Grundlage für den Krirnin10logen ist nicht nur die Anthropologie, sei es im naturwiss•enschaftlichen oder im geisteswissenschaftlichen Verständnis, sondern auch die Psychologie und die Soziologie, also zwei wesentlich geisteswissenschaftliche Disziplinen. Als Ganzes ist die Wissenschaft der Kriminologie angewandte Sozialpsychologie, welche die Vergesellungsvorgänge unter dem Gesichtspunkt der möglichen Fehlleistungen untersucht. Sie hat insoweit ein unabweisliches Anliegen, welches die gewagte Synthese und Koordination rechtfertigt. Sie hat auch einen einigermaßen eigenständigen Erfahrungsbereich, so daß ihr nicht der Vorwurf des Dilettantismus g·emacht werden darf. Die Kriminologie ist wesentlich empirische Geisteswissenschaft, we.lche aber zahlreiche Arbeitsergebnisse naturwissenschaftlich·er Disziplinen verarbeiten muß. Die Art und Weise, in der das normale Sozialleben funktioniert, zeigt sich der soziologischen Forschung iiiUlller wieder als ein erstaunliches Wunder. Es ist sehr auffällig, daß den allgemeimm Soziologen europäischer Prägung die sorzi.al.e Fehlleistung, das Verbrech·e n gewöhnlich kaum interessiert, weil bei der Art der Verg€5ellungsvorgänge massenhafte soziale Fehlleistungen zu erwarten sind. Aber auch der TierpsychoLoge verfährt nicht anders. Er erforscht die Instinktgrundlagen der normalfunktionierenden Tiergesellschaften. Die bei allen biologischen Vorgängen unvermeidlichen Fehlleistungen sind ihm nur als Erkenntnismittel interessant, um die Tendenzen . und Grenzen des die Tiergesellschaft bedingenden Instinktgefüges aufzuhellen. entschieden vom naturalistischen Ausgangspunkt lösen. Auch die Einzeluntersuchungen, die in großer Zahl auf Grund der naturalistischen Kriminologie vorgenommen wurden, weisen unbewußt in die gleiche Richtung. Daher kann Nagel in seinem schönen Aufsatz "Klassische und moderne Kriminologie" den Scientismus des 19. Jahrhunderts bereits als vergangen bezeichnen. Wenn er aber der klassischen Kriminologie eine "Entwicklungskriminologie" gegenüberstellt. so ist damit der gesamte Umkreis der Veränderungen noch nicht erschöpft. Vgl. Zeitschrift Bd. 71 S. 144 ff. Die amerikanische Kriminologie mußte sich frühzeitig von dem Schema des AnlageUmweltdenkens lösen, da sie zwar positivistisch in der Grundhaltung war, aber eben als Zweig der allgemeinen Soziologie betrieben wurde, vgl. am best~n Sutherland, jetzt Sutherland-Cressey, Principles of Criminology, von Edwm H. Sutherland und Donald R. Cressey, 6. Auf!., 1960. Sutherland als Umwelttheoretiker zu verstehen heißt ihn mißverstehen. Kennzeichnend für die heutige Situation der amerikanischen Kriminologie Reckless Mschr. Krim. Bd. 44, S. 1 ff.

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Die werdende neue Kriminologie

1Ebenso sollte der Kriminologe zunächst den Vergesellungsvorgang als solchen untersuchen, um die soziale Fehlleistung überhaupt ver· stehen zu können. Denn es ist gewiß - wioe noch näher zu z.ei.gen ist -, daß die Vorbedingungen aller Fehlleistungen bereits im normalen Vergesellungsvorgang mit enthalten sein müssen. Aber es ist noch völlig ung.ewiß, inwieweit es überhaupt spezifische besondere Entwicklungsbedingungen für das verbrech-erische Verhalten gibt. Der Kriminologe IIliUß aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die einschlägigen Grundwissenschaften seit der Zeit v. Liszt's außerordentliche Fortschritte gemacht haben und daher die meisten der kriminoll()gischen Einzeluntersuchungen auf veralteten Grundanschauung>en aufbauen. § 2. Das Programm einer neuen Kriminologie

Es kann .auf doen folgenden Seiten natürlich nur eine sehr vorläufige Gesamtschau über dies·e Entwicklung geg.eben werden, die aber auch heute schon zu sehr wesentlichen kriminalpolitischen Folge· rungen berechtigt. Wir gliedern im folgenden diese Gesamtschau unter den drei Gesichtspunkten A. der Anthropologie, B. der Soziologi-e und C. der Persönlichkeitslehre. Die kriminalpolitischen Konsequenzen werden in § 5 dargelegt. A. Die anthropologische Grundlage Die Anthropoliogie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissenschaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. Wir v-erstehen darunter die Lehre von der allem Menschsein zugrundeliegenden allgemeinen natürlichen und .geistigen Struktur, die sich dann .auch in der Persönlichkeit, d. h. in der konkreten Lebensgestalt behauptet. Wir nehmen die entscheidende Aussage vorweg: Diese Anthropologie zeigt heute unwiderleglich, daß der Mensch in seinem Handeln eine offene Struktur ist, die durch Anlagen oder Triebe inhaltlich überhaupt nicht festgelegt ist. I. Stellen wir uns zuerst auf den Standpunkt der naturwissenschaftlichen AnthropoLogie, so muß von dem oben geschilderten Zerrbild kausaler Naturbetrachtung Abschied genommen werden. Der Mensch darf demnach, solange wir rein naturwissenschaftlich verfahren wollen, nicht als das seiner selbst bewußte geistige Individuum betrachtet werden. Er muß vielmehr, wie das die moderne Tierpsychologie1 tut, folgerichtig zuerst einmal als bloßes Naturwese n, 1 Über die moderne Tierpsychologie vgl. zusammenfassend: Tinbergen "Instinktlehre", übersetzt von Köhler (2) 1956; methodisch grundlegend

Das Programm einer neuen Kriminologie

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d. h . .als Tier innerhalb der Tierreihe, als Exemplar und Komplexg.ebilde gedacht werden. Sein äußeres soziales Verhalten läßt sich dann in seinen kausalen Bedingungen mit dem sozialen Verhalten der Tiere vergleichen und in seiner Besondel1heit erkennen. 1. Diese - in ihrem Bereich - wohlberechtigte zoologische Betrachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen Ertrag, indem sie den Begriff des Instinktes entthront. Wir meinen dabei den Begriff "Instinkt" im herkömmlichen Sinn, wie ihn nicht nur v. Liszt, sondern auch Nietzsche und nach ihm die ganze naturalistisch·e Psychologie gebraucht haben und noch gebrauchen. In deren Sinne ist Instinkt nämlich ein unbewußt vernünftig wählendes schöpferisches Vermögen, welches das Indiv1duum anleitet, in den jeweils wechselnden Situationen das jeweils selbst- und arterhaltungsgemäß•e Verhalten zu wählen. Die Annahme eines derart schöpferischen Instinktes ist Mystik, aber nicht Naturwissenschaft. 1E s gibt in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwrecke bzw. Teilzwecke erreich·en, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Automatismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten Appetenzverhaltens, in das sie ·eingeordnet sind, das aber selber keine bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem AppetellZ'Verhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Schemata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß bestimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt werden. Be7l0gen auf das soziale Lehen, in welchem die höheren Säuger und Vögel sehr bedeutsame Leistungen aufzuweisen haben, bedeutet das System festgelegter Triebe und Schemata, daß das Tier einen festgelegten sozialen Handlungsplan mit zur Welt bringt. Dieser Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor. Soweit also dieser Automatismus den Bedürfnissen des Einzelfalles dann doch wirklich angepaßt wird, geschieht dies gerade nicht durch Instinkt, sondern durch willkürliches Handeln auf Grund von Erfahrung und Gewöhnung. Diese Willkürfreiheit spielt beim höheren Tier eine viel größere Rolle als bisher gewöhnlich angenommen wurde. Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfach•es Fehlverhalten unvermeidlich wrbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzelfall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. Nicht nur der Mensch kann im Attrappenversuch den angeblich unfehlbaren Instinkt Lorenz, ,.Die angeborenen Formen der Erfahrung"; Z. f. "Tierpsych." Bd. 5

1945, S . 240 ff.; Remane, "Die biologischen Grundlagen des Handelns", Mainz. Ak. Abh. 1950.

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Die werdende neue Kriminologie

des Tieres ohne weiteres betrügen. Auch in der Natur verfehlt das Tier sehr häufig sowohl den Zweck der Selbsterhaltung als auch den der Arterhaltung. Fehlleistungen sind ohnedies mit jedem biologischen Prozeß unvermeidlich verbunden, weil jeder biologische Prozeß eine Koovdination von vielen Bedingungen zur Voraussetzung hat, die nach ·einfacher Wahrscheinlichkeitsrechnung häufig nicht koordiniert sein werd-en. Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewissermaßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur und d•er Variabilität der Umwelt .groß., so kann die Art nur durch eine sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden. 2. Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die besondere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt. Über die Gründe dieses Abbaues läßt sich beim heutigen Stande der entwicklungsgeschichtlichen Forschun.g noch nichts Sicheres sagen. Der Begriff der Selbstdomestikation beschreibt das Phänomen, erklärt es aber nicht. Vielfach glaubt man die Ursache in der vorzeitigen Geburt des Menschen zu finden, welche die Gehirnstruktur intrauterin noch nicht zur Reife kommen läßt, so daß nach der Geburt Gewöhnungen und Lernvorgänge die früher genetisch angelegte Instinktstruktur überlagern können. An der Tatsache des Instinktabbaues selbst kann heute kein Zweifel mehr sein. Das Instinktgefüge des Menschen ist also biologisch eine offene Struktur. Der Mensch ist damit off·en für jede denkbare Umwelt, soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der Starrheit der Triebe und :Schemata. Garantier·en bereits beim Tier die Auslösesignale der Schemata nur in oeiner hinreichenden Zahl von Fällen, daß die real g·emeinte Situation .auch wirklich vorhanden ist, so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höc..'1.st komplizierten L ebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben V"ermag er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen. 3. Dennoch ist eine umfassende Inventur der beim Menschen vorhandenen Triebe und Schemata kriminologisch unentbehrlich. Leider läßt sich diese Inv·entur beim heutigen Stand des Wissens nur annäherungsweise aufstellen. Aber das Instinktgefüge erklärt immerhin teilweise das normale und normwidrige Soz1alverhalten. In bezug auf das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen we sentlich, daß er aus se inem phyloge netisch·e n Instinktgefüge, aus seiner Natur,

Das Programm einer neuen Kriminologie

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herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher \Vaffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das ·zwingende Demutschema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden Instinktes, sondern kraft ein•es angeborenen Handlungsschemas, welch·es durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt aber das unterlegene Tier die 1Schutzhaltung zu früh, so wird es totgebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur Fortpflanzung gelangt. Ein so bedeutender Anthropologe wie v. Eickstedt, spricht sogar von der "Mordlust" der Menschen. Dies ist m. E . unr.ichtig2 • Aber es leuchtet ein, daß schwerlich etwas über die verbrech·erische Veranlagung des Mörders .ausgemacht werden kann, solange man il151oweit über die normale Instinktausstattung des Menschen nichts sicheres weiß. Hat also erst der technische Verstand des Mensch·en ihm die Tötung des Artgenossen praktisch ermöglicht, so fordert andererseits die geistige Entwicklung die unbedingte Ehrfurcht vor dem Leben jedes Nebenmensch·e n. Die in der ganzen zivilisierten Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer Tierart hinaus. Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen Lebens darauf, daß d•er Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieseT Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthroprologie am Ende ihres Weges angelangt. 11. Erst das eigentlich Menschliche des Menschen3 , seine geistigpsychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben, 2 Freiherr v. Eickstedt, "Die Forschung am Menschen" (einschl. Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit) 15. Lfg. 1956, S. 1951. 3 Dies ist nach Jaspers, a.a.O., S. 6 f, auch in allen Seelenkrankheiten noch gegenwärtig, solange überhaupt noch von einem geistigen Leben des kranken Menschen gesprochen werden kann.

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Die werdende neue Kriminologie

die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich wurz·elt dieses Humanum in biologischen T.ief•enschichten, ohne daß es aber aus diesen .abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin Neues darstellt. Dieses Neue ist das "kh", d ie sich selbst g-estaltende bewiUßte Persönlichkeit, die ihre .geistigen Inhalt-e entnimmt aus den im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver und objektiver Geist sind nur der "geschichtlichen" Betrachtung, nicht dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder real als die Gegenstände der Naturwissenschaft. Will man dennoch von einer geistig-psychischen Triebstruktur des Menschen sprechen, so ist Trieb in diesem Sinn eine erlebte Strebung, während der Instinkt als außerbewußt gedacht wird 4 • Über den Aufbau unserer geistig-seelischen Strebungen gibt es ebensoviele Aussagen als es Psychologen und Charakterologen gibt. Aber in einem Punkt stimmen im Grunde heute alle diese höchstverschiedenen Systeme übe r ein, nämlich darin, daß der Mensch auch als geistig-seelische Struktur an sich allen Inhalten offen ist. Er ist zwar keiner Wachstafel zu vergleichen, in w-elche man alles eintragen könnte, wie das 18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. Das rätselhafte Lebenszentrum der Persönlichkeit, das in einer lebendigen Struktur .angelegt ist, bemächtigt sich der t:mdierten Inhalte jeweils nur auf die ihm gemäße Weise. Aber k-eine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das Verbrech•en aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zustande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder ab-. gelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und sozialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen. Hier gibt es schlechterdings keine Ausnahme. Der subjektive Geist, das Ich, existiert überhaupt nur in der Atmosphäre des objektiven Geist·es, er ist nichts für sich allein. Wer in einem Seeräuberstaat .aufwächst, wird notwendigerweise S eeräuber, wenn er überhaupt die Kraft dazu hat. "Ununterrichtet e Taubstumme bleiben auf der Stufe von Idioten", gelangen jedenfalls zu kein-em höheren sozialen Verhalten5 • 4 Jaspers, a.a.O., S. 263 ff. bezeichnet den Trieb als erlebten Instinkt. Damit wird aber der Instinkt bereits als zweckhaft gedacht. 5 Jaspers, a .a .O., S. 594. Klingh ammer, Mschr. Krim. Bd. 42, S. 68, widersprich t dieser Aussa ge nur scheinbar, indem er mit Recht h ervorhebt, daß de::- T::m:Jstu:~me nicht notwendigerweise nur verbal lernen muß.

Das Programm einer neuen Kriminologie

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Auch die Beobachtung·en der Psychiatrie bestätigen, daß die Anlagtestruktur des Mensch·en allen sozialen Inhalten offen ist. Weder die Geisteskvanken noch die Psychopathen entwickeln aus ihrer Anlage ein besondersartiges soziales Verhalten. Sie sind nur möglicherweise unfähig, die dargebotenen sozialen Gehalte lernend aufzunehmen oder im Leben anzuwenden. Soweit die Geisteskranken im engeren Sinn in Betracht kommen, ist dies evident. Es kommt zwar vor, daß Geisteskranke Taten begehen, die, von Gesunden begangen, Verbrechen wären. Die kriminelle Wertigkeit der eigentlichen Psychosen ist aber äußerst gering. Soweit der Geisteskranke überhaupt antisozial oder asozial handelt, tut er dies nicht, weil er sozial abnorm eingestellt wäre, sondern weil er desorientiert ist. Die Familienforschungen Strumpfls haben :z.ud•em unwiderleglich erwiesen, daß. nicht einmal das Gewohnheitsverbrecherturn mit dem Erbkre.is der groß·en Psychosen etwas zu tun hat6 • Auch mit den sogenannten Psychopathen steht es nicht anders, sofern man heute diesen überaus fragwürdigen Begriff noch gebrauchen darf. Legen wir die kriminologisch so ·einflußreichen Aufstellungen Kurt Schneiders und seiner Schüler zugrunde7 , .so fällt auf, daß die beschriebenen Psychopathentypen - abgesehen von den Explosibeln und vielleicht den Geltungssüchtigen - von sich aus nicht zu einem inhaltlich bestirrunten asozialen oder antisozialen Verhalten neigen. Die kriminologisch wichtigsten Typen der Willenlosen und Haltlosen sind nur biologisch schwach und sozial hilflos. Asozial oder antisozial werden sie erst dadurch, daß man ihnen Lebensaufgaben stellt, denen sie nicht gewachsen sind. Auch der gefühlskalte Psychopath neigt an sich nicht zu besonderen Handlungsinhalten oder besonderen sozialen Wertvorstellungen. Er wäre nur unfähig, soziale Wertvorstellungen anders als rein rational aufzunehmen. Auch darin läg·e eine g-ewisse Lebensschwäche. Man darf dabei nicht übersehen, daß überdurchschnittliche Gefühlsbestimmtheit wahrscheinlich mehr Straftaten zu verantworten hat als rati.lonale Gefühlskälte. Aber inwieweit gibt ·es Gefühlsk.ältre überhaupt? Offensichtlich verwechselt mancher beobachtende Psychiater allzuleicht die Fähigkeit, überhaupt Sozialgefühle zu empfinden, mit den sozialen Möglichkeiten ihrer Anwendung. 1Er übersieht möglicherweise die sozialpsychologische Tatsache, daß das Verhältnis von Feindwelt und Freundwelt bei einzelnen Menschen und bei sozialen Gruppen, .so bei der Pariaschicht, 6 Stumpfl, "Erbanlage und Verbrechen", Z. f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie Bd. 145, S. 283 ff.; ferner "Erbanlage und Verbrechen" 1935, dazu meinen Aufsatz, Z. Bd. 57, S. 18 f. 7 Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 9. Aufl. 1950; in Klinische Psychopathologie, 4. Auf!. 1955, S. 22 ff., insbes. S. 43 f., relativiert Schneider den Begriff der Psychopathie.

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Die werdende neue Kriminologie

aus sozialen Gründen ein anderes S·ein muß als beim Durchschnitt. Ein so guter Beobachter wie Max Kaufmann, der Verbrecher in Freiheit beobachtet hat, schildert gerade ihre außerordentliche Gefühlswärme8. Dasselbe l·ehr·en überwiegend die Selbstschilderungen aus der Verbrecherwelt bei Jäger, Luz und Georg Fuchs9 . Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle Tr~·ebe und Sch·emata, alle geistig-seelischen :Strebungen den Weg durch das bildend·e Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein

ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Gemeinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder does normalen

soe;ialen Zusammenl·ebens zustande kommt, ist daher erst von der Soziologie zu beantworten.

B. Die Vergesellung des Menschen und die soziale Fehlleistung10 Die Antwort auf die so g·estellt>e Frage lautet: Der Mensch kommt zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reizsituation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur di-e Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an11•

I. Die jeweils gültigen Gemeinschaftsurteile unterHegen dem geschichtlichen Wechsel. In dieser Historizität der Normvorstellungen Max Kaufmann, "Die Psychologie des Verbrechens" 1912, S. 196 ff., 247 f. Jaeger, "Hinter Kerkermauern" 1906, auch Arch. Bd. 21, S. 1 ff., S. 201 ff., Bd. 23, S.1 ff., S. 197 ff.; Walter Luz, "Das Verbrechen in der Darstellung des 8

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Verbrechers" 1927; Georg Fuchs, "Wir Zuchthäusler", München 1931. 10 Die Vergesellung ist ein geistiger Vorgang, die Soziologie daher Geisteswissenschaft, und zwar verstehende Sozialpsychologie. Sie arbeitet mit dem Tatsachenmaterial, welches gegenwärtige soziale Beobachtung (einschließlich Experiment) und die ethnologische, rechts- und sozialgeschichtliche Forschung liefern. Soziologie ist also eine im allgemeineren Sinne historische Wissenschaft, welche typische historische gesellschaftliche Vorgänge und Abläufe, insbesondere auf ihre Motivationszusammenhänge, untersucht. Wegweiser durch das von der neueren pragmatischen Soziologie gesammelte Tatsachenmaterial bleiben die alten Meister. Unter ihnen vermöge seines sozialpsychologischen Ansatzes für uns besonders lehrreich Alfred Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl.. 1928. Über die Möglichkeiten soziologischen Denkens unterrichtet umfassend Maus in seiner Geschichte der Soziologie, Hdb. d. Soziologie hrsg. v. Ziegenfuß 1956, S. 1-120, das ethnologische Material bei Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft, 5 Bände 1931-1934. Viel historisches Material findet sich in den soziologischen Schriften von Max Weber. 11 Vgl. erstmalig Strafrecht des deutschen Volkes, 1936, S. 26 ff.

Das Programm einer neucn Kriminologie

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und Sozialformen, ihrer Fülle und Verscllieden.artigkeit spielt der

menschliche Geist gewiss•ermaßen mit sich selbst. Die Variabilität ist so groß, daß es kein Verbrechen gibt, das nicllt in irgendeiner Sozial· ordnung in einem bestimmten Handlungszrusammenhang sittlicll,e oder rechtliche Pflicht gewesen w.äre. Die vor der ziemlich monotonen modernen Zivilisation so ..buntfarbigen Sozialformen folgen nicllt etwa entwicklungsgeschichtlich auseinander und aufeinander; dieser evoJutionistische Irrtum einer deduktiven Ethnologie ist durch die Tat· Sachenforschung in 1Ethnologie und Rechtsgescllicllte widerlegt. Alle uns bekannten !Sozial· und Moralsysteme sind im biologischen Sinn noch gleichzeitig und lassen sich auch nicht durcll Rassenverschiedenheiten ·erklären. Sie sind historisch teilweise nebeneinander entstanden, teilweise stehen die einzelnen Kulturkreise in historischer Abhängigkeit12. Inwieweit das rudimentäre Instinktgefüge des Menschen die möglichen so~ialformen bedingt und beschränkt, ob di·e g·eistige Verfassung des Menscllen doch auf eine erkennbal'e einheitliche Bestimmung des Menschengeschloecht-es hinweist (Frage eines Natur· rechtes im biologiscllen Sinn), ist hi-er nicht zu -erörtern. Um so erstaunlicller ist nun alleroings die naturhaft-e Sicherheit, mit welcller die verschiedenen Sozialsysteme, dort wo sie gelten, jeweils durchgeführt werden - allerdings nur aufs Ganze gesehen. Diese Naturhaftigkeit ist so auffallend, daß immer wieder das Vor· urteil auftaucht, der natürliclle Mensch v-ermeide die Tötung des Nebenmenscllen •VIon Natur aus, der Mörder sei also irgendwie abartig13. Gerade hier sollte sich aber ohne weiteres erkennen lassen, daß nicht nur die meisten typiscllen modernen Tötungsfälle in kurz zurückliegenden Zeiten als erlaubte oder gebotene Handlungen angesehen wurden, sondern daß. sogar in der jüngst-en Gegenwart im Auftrage des Staat-es mit vielfach g,utem Gewiss.en massenhafte Tötungen vorgenomm-en wurden, di-e wir hetUte wieder als Verbr·echen verurteilen. 12 Dies ist die grundlegende und in der Ethnologie auch anerkannte Entdeckung der sogen. historischen Schule, vgl. Gräbner, Methode in der Ethnologie, 1909; gestritten wird nur über die Einzelheiten der Methode. Vgl. Thurnwald, a.a.O., Bd. 1, S. 10 f. 13 Többen, Untersuchungsergebnisse an Totschlägern, 1932, S. 1, meint, für den Normalen sei die Tötung eine so ungeheuerliche Tat, daß er vor ihr zurückschrecke. Auch in "Neuere Beobachtungen über die Psychologie der zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilten oder begnadigten Verbrecher", 1927, stellt er nicht ernstlich die Möglichkeit in Rechnung, daß ein Großteil der "Lebenslänglichen" möglicherweise aus Durchschnittsmenschen besteht, die gerade so gehandelt haben könnten, wie Durchschnittsmenschen in dieser Lebenssituation handeln. Auch Ohm, Haltungsstile Lebenslänglicher, 1959, legt sich nicht die einfache Frage vor, ob nicht der Durchschnittsmensch in Extremsituationen sich ebenso verhalten kann, wie der Soldat im Krieg.

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Die Historizität und naturhafte Kraft des Sozialurteils versöhnen sich in der oben getr1offenen Feststellung, daß der Mensch eben dazu veranlagt ist, die in der jeweiligen historischen Gemeinschaft geltende Sozialoronung sich anzueignen. Das Gemeinschaftsurteil ist ein Komplex historisch gegebener Normvorstellungen1 \ welche also irgendwie gewußt und verstehend aufgenommen werden müssen. Alleroings reden diese Normen nicht abstrakt IZU uns, sondern in tausend Zungen durch Vorbilder, Gewöhnungen, aber auch Belehrungen. Der Mensch ahmt nicht etwa nur soziale Muster {patterns) nach; die .sozialen Muster verhalten sich zum Gemeinschaftsurteil nicht einmal wie Rechenbeispiele zu den Regeln des Rechnens. Die sozialen Muster passen nämlich immer nur teilweise auf die jeweils vorhandene Situation. Das Gemeinschaftsurteil steht auch fordernd über dem wirklich g·elebten Leben, in welchem es doch immer nur unvollkommen verwirklicht wird. Gelebt wird im wirklichen ges·ellschaftlichen Leben nicht die volle, sondern bestenfalls die 80 'll/oige Ehrlichkeit und außerdem die 50 °/oige Unzucht. Jede Gesellschaft würde in Unordnung geraten, wenn der Einzelne sich nur nach dem bloßen tatsächlichen Verhalten der Gesellschaft und nicht auch nach den gültigen Normvorstellungen richten würde; aus d•er 80 Ofoigen Ehrlichkeit würde die 50% Unehrlichkeit, aus der 50 °/oigen Unzucht die totale Unzucht. Die wirklich vorgelebten Muster genügen weder als Leitstern, noch werden sie überhaupt allgemein von den Einzelnen als Leitstern benützt. Dies läßt sich besonders deutlich am Grenzfall der Sexualmoral aufzeig>en. Auch die heutige Gesellschaft ist durchaus noch von den überlieferten Normvorstellungen bestimmt, obgleich die Kontrolle des menschlichen Geschlechtslebens in der Tat auf Widerstände und Schwierigkeiten in der Triebstruktur des Menschen stößt. Würden die Mensch·en sich einfach nach Verhaltensmustern richten, wäre die Unordnung grenzenlos. Wenn auch heute noch ein Mindestmaß an Kontrolle über den Trieb garantiert erscheint, so nur deshalb, weil eben der Durchschnittsmensch sich prinzipiell doch an der Norm orientiert, auch wenn er sie nicht oder nur höchst unvollkommen erfüllt. Das Gemeinschaftsurteil ist eine Tat des freien menschlichen Geistes und wendet sich an den Einzelnen als freie und verantwortliche Person. Das Sozialleben kann nur dann funktionieren, wenn die Annahme des Gemeinschaftsurteils nicht zur Entfr·e mdung des Einzelnen von seinem Selbst entartet. 1Es handelt sich also g·e rade nicht um bloße Anpassung an die Verhaltensmuster der Gesellschaft. Die Freiheit des M•enschen besteht allerdings nirht darin, daß. er als absolutes sinn14 Vgl. dazu Vierkandt, a.a.O., S. 386 ff., über die Aufnahme der Normen insbes. S. 363.

Das Programm einer neuen Kriminologie

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loses Individuum nach Art einer fehlgegangenen Rakete handelt dies ist die irrige Meinung manch·er Existentialisten-, sondern daß et, indem er das Gemeinschaftsurteil vollzieht, es auf die Fülle der sozialen Situationen frei anwend•et und in dieser Anwendung nachprüft und läutert. Erst in der freien Annahme des Gemeinschaftsurteils gewinnen P.erson und Gesellschaft überhaupt Inhalt und Gestalt. Eigentlich neue Gestaltungen schaffen dann die Heiligen, Helden und Prophetren als die neuen Gesetzgeber. Die grundlegenden Sozialnormen pflegt bereits das Kind im Gemeinschaftsverhältnis in der Weise aufzunehmen, daß es sich mit der gültigen Norm identifiziert und sie in sein Selbst hereinnimmt. Dann entsteht wirklich der Idealfall, daß das Gemeinschaftsurreil in und durch den Einzelnen denkt und handelt. Aber auch soweit Normen nur als gesellschaftliche Spielregeln im Gesellschaftsverhältnis anerkannt weroen, geht dies weit über die bloße Nachahmung sozialer Mustrer hinaus. Die Führungskraft des Gemeinschaftsurteils hängt also offenbar davon ab, mit welcher Überzeugungskraft und in welchen Gesellschaftsformen das Gemeinsen F€ind und g€staltet sich zu €iner bewaffneten ,sozial€n Verteidigung'; die ,Außerg€fechts€tzung' d€s Feindes, des Schuldigen, ,ist das Ziel d€r Strafrechtspflege'." Graven meint dann aber, dieser Schluß, wie ihn Spencer zieht, sei falsch. Die terroristische Entartung des Strafrechts in D€utschland unter d•em Nationalsozialismus und im Rußland Stalins foLge vielm€hr aus der Logik des nationalsozialistisch·en od€r kommunistisch€n R€chtssystems, das als Kampfrecht der kollektiven Abschreckung den politischen Zielen und Notwendigkeiten des Gewaltstaat€s dien€n soll€. Daran ist sich€rlich wahr, daß jed€ Gewalth€rrschaft ihre Eigenges€tzlichk€it besitzt. Immerhin sollte der Verteidiger des Positivismus nicht überseh€n, daß €rst der Positivismus di€ mod€rnen Form€n der Gewaltherrschaft in ihrer fürchterlich€n Totalität gedanklich und praktisch möglich gemacht hat. Der totalitär€ Terror hat S€inen Ursprung keineswegs in der älteren Anbetung d€s Staat>es als solch€n, denn 2 Internationales Colloquium über Kriminologie und Strafrechtsreform, Freiburg 1958; vgl. auch Bettiol, Über den gegenwärtigen Stand der italienischen Strafrechtswissenschaft, Z. B. 71, S. 483 ff. 3 Graven, a.a.O., S. 47 ff.

Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart

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selbst die kurnlebige absolute Monarchie hat eine solche Gt!waltherrschaft nicht einmal angestrebt. Der Kommunismus erstrebt theoretisch das Glück aller Menschen, d. h . die volle Befriedigung jedes Einzelnen nach seinen Bedürfnissen. Nicht einmal der Nationalsozialismus, der ein illegitimes, aber höchst natürliches Kind des positivistischen Sozialdarwinismus war, gestand dem Staat den ·ersten Rang z.u, sondern betrachtete ihn als bloßen Apparat im Dienst der Partei. Diese ihrerseits fühlte sich als Wortführerin der angeblich hochwertigen Menschenrasse, also zwar nicht aller Menschen, aber der angeblich lebenswerten Menschen. Die Unmenschlichkeit beider Systeme entsbeht an sich aus den Grundvoraussetzungen des Naturalismus, dessen absolutes Naturrecht der Gattung konsequenterweise für erlaubt erklären müßte, Menschen schlechthin nach den Zwecken anderer Menschen zu -behandeln, also konsequenterweise auch soziale Parasiten - von den Gt!isteskranken über die Gewohnheitsverbrecher, schwer erziehbare Kinder, Asoziale (Zigeuner) - auszurotten. Die ·zusätzliche spezielle Voraussetzung beider Gewaltherrschaften ist dann die wirklich durchgeführte Unterscheidung zweier Menschengruppen, von denen die eine lebensberechtigt, die andere durch die Zwecke der Natur oder des Fortschrittes zum Untergang verurteilt ist. Vor dieser Unterscheidung war das 18. Jahrhundert durch die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen als Vernunftwesen noch einigermaßen bewahrt4 • Der Gt!danlre der Ungleichheit der Menschen folgt aber .unvermeidlich aus dem konsequenten Naturalismus. Denn die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen widerspricht - nicht als ethischer Grundsatz, sondern als Seinsaussage genommen - eben jed·er empirischen naturalistischen Erfahrung. Gerade der Kriminologe weiß, daß die Menschen in ihrem sozialen Verhalten eben nicht gleich, sondern mindestens infolge ihrer Entwicklung höchst verschieden sind. Die Gleichheit alles dess·e n, was Menschenantlitz trägt, gründet sich allein auf die Gleichheit der sittlichen Berufung aller Menschen, also auf ein letztlich metaphysisches Prinzip. Wer in Deutschland mit klarem Bewußtsein die Schrecken einer Gt!waltherrschaft miterlebt hat, ist verpflichtet, gegen den verhängnisvollen Wahn anzukämpfen, als ob die modernen Gewaltsysteme ein Rückfall in urtümliche Barbarei seien, der in der strahlenden Sonne naturwissenschaftlichen Denkens von selbst vergehen müsse. Die Versuchung zur rationalen Zweckherrschaft über Menschen mit allen schrecklichen Konsequenzen ist vielmehr in der 4 Insofern enthält der Gleichheitsgrundsatz der Menschenrechtserklärung des 18. Jahrhunderts eine Garantie der Humanität, aber eben nur dann, wenn die Gleichheit wesentlich als Berufung zu gleicher sittlicher Selbstverantwortung aufgefaßt wird. Faßt man dagegen den Gleichheitsgrundsatz äußerlich, so vernichtet er die Freiheit, wie dies die geschichtliche Erfahrung wiederholt bewiesen hat.

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Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

naturalistischen Wendung seit dem Rationalismus notwendig enthalten. Um so mehr sind die Bemühungen der geistigen Bewegung, die sich heute soziale VerteidigungS nennt, voll anzuerkennen. Denn sie hat im Gegensatz zu mancllen harmlosen Gemütern die Gefahren des positivistisch.en Staatsdenkens Wr die Freiheit der Menschen erkannt. Sie hat immerhin herausgestellt, daß es sich niemals nur um die Verteidigung der Gesellschaft handeln dürfe, sondern daß jede Maßnahme des Staates, gerade auch jede kriminalpolitische Maßnahme vom betroffenen Menscllen her gesehen werden müsse. Ob dieser Gedanke im Rahmen der Defense Sociale philosophisch ausreichend begründet ist, steht freilich dahin. Es reicht aber zunächst aus, daß der Mensch wenigstens axiomatisch als Selbstzweck anerkannt wird. Dieses Postulat muß zum Allgemeingut aller zivilisierten Völker, ihrer p ,a rl.amente und Regierungen gemacht werden. Dazu bedarf es noch vieler Anstrengungen. Der Kollektivegoismus des gesichert lebenden Bürgers ist nur allzu bereit, die Sicherheit rücksichtslos mit dem Unglück abartiger, kranker oder gescheiterter Menschen zu bezahlen, die angeblich sozial gefährlich, in Wahrheit meist sozial hilflos sind. Tolstoi schießt mit seinem g~merellen Verdammunggurteil übrer die Strafrechtspflege sicherlich über das Ziel hinaus, aber daß das Gebot der Nächstenliebe in keinem Bereich des S01ziallebens leichter vergessen wird als in dem der Kriminalpolitik, dies steht außer Frage. Der von der sozialen Verteidigung vertretene Gedanke der Menschlichkeit muß aber unterbaut werden durch den die Humanität erst tragenden Gedanken der freien Verantwortung des Menschen. Ohne Anerkennung der sittlich-rechtZiehen Freiheit der Person gibt es keine Humanität. Die geistresgeschichtliche Situation der StJ:tafrechtstheorie ist also gekennzeichnet durcll die Einsicht in die Gefährlicllkeit des Zweckgedankens und die allgemein erhobene Forderung, daß im Strafrecht oder Maßnahmenrecht die Person geachtet werde. In dieser Lage hat der konsequente Verfechter des Freiheitsgedankens zwar noch manche Vorurteile zu überwinden, aber sein Kampf hat Aussicht auf Erfolg. Denn auf seiner Seite steht die geschichtliche Notwendigkeit. II. Die rechtspolitische Entscheidung ergibt sich gewissermaßen von selbst durch die geistesgeschichtliche Situation, sie ist außerdem positivrechtlich durch das Grundgesetz vorweg genommen. Zur personalen Freiheit als grundlegendem Axiom einer freiheitlichen Rechtsordnung muß sich heute jeder bekennen. Mag der Naturalist auch die Freiheit nur als lebensnotwendige Fiktion begreifen, es genügt, daß er 5 Die fruchtbaren Gedanken der Defense sociale sind zu finden bei Mare Ancel, La Defense Sociale Nouvelle, Edition Cujas 1954.

Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart

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sie praktisch anerkennt. Allerdings darf die theoretische Schwäche eines solchen axiomatischen Bekenntnisses nicht übersehen werden. Theoretisch wird so das personale Selbstbewußtsein des Menschen in das Versteck der gläubigen Innerlichkeit zurückgetrieben, obwohl es doch am hellen Tage der harten staatlichen Realitäten wirken soll. Aber es hieße Eulen nach Athen tragen, wollten wir zur Beweisführung der großen idealistischen Rechtsphüosophi,e von Kant bis Regel irgendetwas hinzufügen. Immerhin hat uns auch die neuere Entwicklung der empirischen Wissenschaften das volle Recht gegeben, den Menschen als freie und verantwortliche Person zu betrachten, wie das der Mensch immer von sich gewußt und dellen sind, in der ihre Berufung zu Freiheit und Menschenwürde gewahrt bleibt. Denn auch der verworfenste Verbrecher bleibt in einem Rechtsstaat Mitmensch, steht in und nicht außerhalb der Gemeinschaft. II. Die praktische Bedeutung des Problems läl:t sich nur an den verschiedenen Erscheinungsformen aufzeigen, in denen die Schwierigen vorkommen. Die Gesamtheit der Schwierigen zerfällt in zwei Gruppen, einmal in die Gruppe der RezidiVlisten, zum anderen die Gruppe der Leistungsschwachen. Als Rezidivisten bezeichnen wir die ständig rückfälligen Täter, welche wiederholt nicht ganz unerhebliche Straftaten begehen. Wir wissen von dieser Gruppe zunächst nur die äußere Tatsache dieser Rückfälligkeit. Es ist unerlaubt, sie als Gewohnheitsverbrecher oder Hangtäter zu bezeichnen, denn es ist erst noch zu prüfen, ob diese Menschen an einem sie unterscheidenden Hang leiden, oder ob die Rückfälligkeit Lebensschicksal ist. Als Leistungsschwache bezeichnen wir diejenigen, welche die erforderlichen sozialen Leistungen nicht erbringen, so daß sie mehr oder weniger auf Kosten anderer leben. Die Bezeichnung asozial oder gar parasitär ist v•erfehlt, weil wir wiederum nicht wissen, ob diese Menschen ungesellig sind .oder nur unvermögend. Viele Leistungsschwache begehen wiederholt geringfügige Straftaten, gelegentlich auch schwe-

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rere Straftaten. Insofern ist die Grenze zwischen Rezidivisten und Leistungsschw:achen flüssig. Der inhaltliche Umfang der beiden Gruppen kann jeweils nur durch eine Typologie erfaßt werden. Wir geben im folgenden eine Übersicht über die kriminalpolitischen Sozialtypen, also eine Einteilung nach Art und Größe der von diesen Typen drohenden Gefahren. Kurze Hinweise auf die Ätiologie, die erforderlich sind, sollen nicht eine ätiologische Typologie ersetzen, die hier nicllt beabsichtigt ist. 1. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Rezidivisten ist wirklich gefährlich im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. richtet wirklich erheblichen Schaden an fremden Rechtsgütern an.

a) Der energische aktive Vermögensverbrecher kommt im Leben viel seltener vor als im Kriminalroman. Gewalttätig im weiteren Sinne handelt bereits der energische Einbrecher, erst recht der Räuber im Sinne des § 249 StGB. Heide schonen zwar meist Leben und Gesundheit der Geschädigten, sind aber doch bereit, ernste Hindernisse zu überwinden. Der echte Gangster gr·eift auch zur schweren Gewalt gegen die Person. Jede derartige Lebensweisre erfordert zu große Energie, als daß sie nicht bis zu einem gewissen Grade willentlich gewählt sein müßte. Dennoch sollte man nicht von Berufsverbrechern reden, denn auch der energische Verbrecher betrachtet sreine Lebensweise nicht als einen Beruf. Nach allen sorgfältigen Einzelschilderungen ist er weder ein "geborener" noch ein "berufener", sondern wird in einem schweren Lebenskonflikt während der Entwicklungszeit aus der Bahn gedrängt. Gerade der energische und phantasievolle Mensch kann unter den Bedingungen der techniscllen Zivilisation leicht dem "Zivilisationskonflikt" zum Opfer fallen. Insofern ist also auch der habituelle Gewaltverbrecher ein "Schwieriger". Der energische Verbrecher bietet siclJ. nicht so leicht als Untersuchungsobj·ekt dar, doch dürften die Anforderungen eines solchen Lebens zu groß sein, als daß sie von psyclJ.isch Abartigen erfüllt werden könnten. In Betracht käme nur Gemütskälte, aber wahrscheinlich !handelt es sich nUT um eine g·e wisse Willenshärte. b) Gefährliche Triebverbrecher sind ein Opfer ihrer Triebstörung, also zunächst Schwierige. So häufig sadistische Mordlust als Massenwahn in erregten Zeiten auftl'eten kann, so selten gibt es den habituellen sadistischen Lustverbn~cher. Häufiger sind leider die fragwürdigen Kinderfreunde, von denen die wirkliclJ. gefährlichen selten, dagegen die geistig irgendwie Geschädigten leicht gefaßt werden. Bei den letzteren kommt es in den seltensten Fällen zum Beischlaf, gewöhnlich handelt es sich um sexuelle Spielereien mit Kindern, die ihrerseits die ihnen bereits bekannten Spielereien mit Erwachsenen fortsetzen.

Einordnung der Vergesellungsschwierigen

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c) Die Hochstapler und gewohnheitsmäßigen Betrüger, auch die Heiratsschwindler, gehören nur zum Teil zu den wirklich gefährlichten Tätern, wobei die Gefahr sich nur auf fremdes Vermögen bezieht. Der Vermögensschaden kann gelegentlich wirklich bedeutend werden. Die meisten sogenannten Heiratsschwindler sind allerdings nur das Gegenstück zur kostspieligen Dirne, dite ja auch eine im Grunde primitive sexuelle Beziehung durch schöne Schwindeleien ausschmückt. Alle diese Leute sind wahrscheinlich Getriebene, Opfer ihrer ungewöhnlichen Befähigung, fremde Ausdruckstätigkeit wahrzunehmen und durch eigene Ausdruckstätigkeit zu wirken. Die meisten Kinder machen ~ine sogenannte pseudologische Phase durch und finden ihr·e Lust darin, listig mit 1Erwachsenen zu experimentieren. Inso~ern steckt in den Hochstaplern auch ein infantiles Element, sie sind Vergesellungsschwierige. Zu a) bis c): Mit dieser Aufzählung sind nur die wichtigsten Typen der gefährlichen Rezidivisten genannt. Es ist nochmals darauf hinzuweisen, daß nicht jeder habituelle Triebverbrecher, jeder habituelle Betrüger wirklich gefährlich ist in dem Sinn, den dieses Wort natürlicherweise hat. 2. Die Masse der Rezidivisten, d. h. der ständig rückfälligen Diebe und Betrüger, ist weder bösartig noch gefährlich im eigentlichen Sinnte. Der Vermögensschaden, den sie anrichten können, ist gewöhnlich viel geringer, als ihre Verwahrung in einer Anstalt kostet. Das eigentliche Ärgernis liegt nicht in dem Schaden, sondern in der persönlichen Existenz dieser Menschen, wteil sie immer wieder demonstrieren, daß Staat und Gesellschaft nicht vermögen, sie zu einem geordneten Leben anzuhalten. Nur gelegentlich begehen sie auch Sittlichkeitsverbrechen, da ihnen die normale Befriedigung des Geschlechtstriebes sehr erschwert ist. Ätiologisch gesehen sind diese Menschen einfach gekennzeichnet durch die bloße negative Unfähigkeit, ihr Leben selbst zu führen, daher sind sie sozial hilflos im engeren Sinne. Diese Unfähigkeit kann auf die verschiedenartigsten Gründe zurückgeführt werden, so auf psychische Defekte, auf Abstammung, sei es aus primitiven Teilgrupp en der Bevölkerung, aus der sozialen Pariaschicht, aus dem Gaunerturn selbst, endlich auf Entgleisung im Entwicklungsalter. Unrichtig ist es, diese Leute allgemein als arbeitsscheu zu bezeichnen, was bedeuten würde, daß ihr·e Arbeitsunlust größer wäre als die normaler Menschen. Gegen diese Annahme spricht, daß sie im Vollzug meist gut und ordentlich arbeiten. Ihre Arbeitseinstellung ist dort au.:h nicht innerlich unecht, ihnen fehlt nur die erforderliche Willensstetigkeit, die zu geordneter freier Arb€it unerläßlich ist. Wo sie fehlt, helfen die besten Vorsätze nichts.

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3. Die leistungsschwachen Vergesellungsschwierigen stören die Gesellschaft nicht in aktiver Weise, sie sind sozial hilflos in besonderem Maße. Ob die Verfolgung der Landstreicher, Bettler oder Prostituierten sinnvoll ist, ist um so fraglicher, als sehr viel gefährlichere Formen negativen Sozialverhaltens geduldet werden. Ich erinnere nur an den berufsmäßigen Spi