Das Geschlecht der Führung: Supervisorische Interaktion zwischen Tradition und Transformation 9783666403552, 9783525403556, 9783647403557

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Das Geschlecht der Führung: Supervisorische Interaktion zwischen Tradition und Transformation
 9783666403552, 9783525403556, 9783647403557

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Interdisziplinäre Beratungsforschung

Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller, Christiane Schiersmann Band 6: Anja Pannewitz Das Geschlecht der Führung

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Anja Pannewitz

Das Geschlecht der Führung Supervisorische Interaktion zwischen Tradition und Transformation

Mit 10 Abbildungen und 16 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) und die Hans-Böckler-Stiftung. Bei diesem Text handelt es sich um eine Dissertation an der FriedrichSchiller-Universität Jena, der Originaltitel lautet: »Doing Gender in Supervision und Coaching. Interaktion über Führung und Geschlecht zwischen Re-Tradierung, Transformation und Indifferenz«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40355-6 ISBN 978-3-647-40355-7 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Kapitel I  Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1 Doing Gender und Geschlechternormen . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2 »Heim und Welt« – Vergeschlechtlichte Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3 Berufsfelder und Hierarchie – Horizontale und vertikale Segregation von Erwerbsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4 Gendering in der Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5 Rhetorische Modernisierung und institutionelle Reflexivität – Verschränkung von Interaktion und Struktur 41 6 Sinnlich-anschauungsbezogene Erfahrungs- und Erwartungsorganisation in vokalen Interaktionen . . . . . . . . . 44 Kapitel II  Stand der Forschung zum Verhältnis von Geschlecht und Supervision bzw. Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1 Die unreflektierte Perspektive der Geschlechts­kategorie – Interaktion von »Frauen« bzw. »Männern« in der Lehrsupervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2 Geschlechtsbezogene Deutungen von Supervisionen bzw. Coachings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Geschlechtskategorien in der Deutung durch Supervisor_innen bzw. Coaches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2 Geschlechtskategorien in der Deutung durch Supervisand_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3 Anlässe von Frauen für Leitungssupervision bzw. -coaching 69 4 Soziales Geschlecht als Anlass für Supervision und Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5 Zusammenfassung und Konsequenzen aus dem Forschungsstand für das Forschungsanliegen . . . . . . . . . . . . 70

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

6Inhalt Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis 74 1 Reflexion der spezifischen Bedingtheit einer empirischen Erforschung von Interaktion in Supervision und Coaching 77 1.1 Öffentlichkeits- und Kontrollfunktion der Forschung für Supervision und Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1.2 Implikationen der infrage kommenden Erhebungsmethoden: authentisches Gespräch versus Interview . . . . . . 79 1.3 Reflexion der Materialgewinnung und des Technikeinsatzes – Visuelle versus Auditive Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2 Zum Problem der Reifizierung von Geschlecht . . . . . . . . . . . 81 3 Fallauswahl, Sampling und Feldzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1 Bestimmung eines Falls – Interaktion statt Person . . . . . . . . 83 3.2 Zugang zu einem heiklen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.3 Eigene Rolle im Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.4 Theoretisches Sampling nach der Grounded Theory – Externe und interne Kontrastierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4 Datengewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.1 Protokollierung eines authentischen Beratungsgesprächs . . . 97 4.2 Transkription und Anonymisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5 Auswertung – Kombination sinnrekonstru­ierender hermeneutischer Verfahren zur Analyse von Interaktion und konditionaler Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.1 Gegenstandsbegründete Auswahl der Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5.2 Gefahr der Reifizierung in der Auswertung und Gegenmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.3 Die Sequenzielle Analyse als Methode zur Erforschung des »processual ordering« der Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.4 Systematische Metaphernanalyse – Analyse von Erfahrungs­ schemata und impliziten Führungserwartungen . . . . . . . . . . 108 5.5 Integration von Interaktion und Struktur – das Kodierparadigma der Grounded Theory . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6 Zwei wesentliche Perspektivenverschiebungen in der Geschichte des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 7 Hinweise zur Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Kapitel IV  Fallrekonstruktionen – Beratungsinteraktionen über Führung und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Fall A »So was machen die nur mit Frauen.« – Frauencoaching auf der Leitungsebene eines Familienzentrums . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1 Kurzporträt der Beratungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2 Exklusion von »Weiblich«-Sein aus und Inklusion © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Inhalt

2.1 2.2 2.3 3 3.1

3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 a) b) c) d) 4.6

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von »Mann«-Sein in Führung – Offene Reproduktion von Geschlechternormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 »Frau«-Sein begründet fehlende und »Mann«-Sein vorhandene finanzielle Anerkennung von Führung . . . . . . . 123 »Bin ich hier die Mutter?« – Führung ist keine weibliche Familienrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 »Mädchen für alles« und »Hausfrauentätigkeit« – Führung ist keine verweiblichte haushaltsnahe Dienstleistung . . . . . . 131 Verschränkung von »Weiblich«-Sein und Führung – Offene transformative Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Führen ist keine »Hausfrauenarbeit«, sondern » Reproduktionsarbeit« – Ersatz eines abwertenden durch ein neutrales Erfahrungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Führung ist »Mutter«- bzw. »Hausfrau«-Sein – Transformativer Gebrauch verweiblichter Erfahrungsschemata . . . . . 135 »Amazonenschlag« – Führung ist der Kampf einer Frau . . . 137 Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata von Führung in metaphorischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . 141 Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Führen ist Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Führen ist Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Von »Sehen« bis »Ziehen« – Führen als Wahrnehmung, Körperorgan und Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Führen ist gutes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Führen ist »mit Herz dabei sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Führen ist kontrolliertes Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Führen ist kein »Schleppen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes der Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Zusammenfassung Fall A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Fall B »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.« – Leitungssupervision in einer Ganztagsschule mit GenderMainstreaming-Erfahrung der Beraterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1 Kurzporträt der Beratungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2 Vom Fehlen offen reproduktiver bzw. transformativer Verhandlung von Geschlechternormen – Geschlechtsindifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3 Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata für Führung in metaphorischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

8Inhalt 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Führen ist Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Führen ist Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Führen ist Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Von »Sehen« bis »Fallen« – Führen als Wahrnehmung, Körperteil, Aktivität und Passivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Führen ist gutes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Führen ist Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 c) Führen findet »im Kopf« und »in der Hand« statt . . . . . . . . 190 d) Führen ist nicht Stehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 e) Führen ist nicht Fallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.7 Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4 Zusammenfassung Fall B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Fall C »Wie mache ich meine Kolleginnen richtig fit?« – Leitungssupervision in einer Kindertagesstätte mit GenderMainstreaming-Erfahrung der Beraterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1 Kurzporträt der Beratungssitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2 Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata für Führung in metaphorischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2.1 Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.2 Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.3 Führen ist Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.4 Von »Sehen« bis »Gehen« – Führen als Wahrnehmung, Körperorgan und Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Führen ist gutes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Führen ist kontrolliertes Vorwärtsgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 c) Führen findet »im Kopf«, »in« und »unter der Hand« statt 212 2.5 Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3 Zusammenfassung Fall C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Fall D »Als wäre die Kreativabteilung ganz ausschließlich weiblich besetzt …« – Leitungscoaching in einer ProfitOrganisation ohne Gender-Expertenwissen des Beraters . . . . . . . 218 1 Kurzporträt der Beratungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2 Verschränkung von »Weiblich«-Sein und Führung – Offene transformative Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Inhalt

2.1 Aufwertung prestigearmer Tätigkeiten zur »weiblich besetzten Kreativabteilung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2.2 »Kreativer« Mann – gescheiterter Anschluss an eine Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3 Exklusion von »Weiblich«-Sein aus Führung – Offene Reproduktion einer Geschlechternorm . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3.1 Prestigearme »Kleinigkeiten« deuten auf »Frau«-Sein und den Verlust der Leitungsposition . . . . . . . . 223 4 Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungs­schemata von Führung in metaphorischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.1 Führen ist kein Kleinhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.2 Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.3 Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.4 Führen ist Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.5 Führen ist ambivalenter Umgang mit Textilien . . . . . . . . . . . 236 4.6 Von »Sehen« bis »Ziehen« – Führen als Wahrnehmung, Körperteil und Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Führen ist gutes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 b) Führen ist kontrolliertes Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 c) Führen ist Greifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 d) Führen ist Ziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 e) Führen findet »im Kopf« und »in der Hand«, aber nicht am »Hals« statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4.7 Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5 Zusammenfassung Fall D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Fall E »Is die einzige Frau da drin und sie is da auch eher sachorientiert.« – Leitungscoaching in einer Entwicklungs­ hilfeorganisation ohne Gender-Expertenwissen des Beraters . . . . 248 1 Kurzporträt der Beratungssitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2 Exklusion von »Weiblich«-Sein aus Führung – Offene Reproduktion einer Geschlechternorm . . . . . . . . . . . 249 2.1 Bei Konkurrenz wird eine Leiterin zur »beziehungsorientierten Frau« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3 Offene transformative Gestaltung der Verschränkung von »Weiblich«-Sein und Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3.1 »Sachliche Frau« – Ausnahme von der Geschlechternorm . . 252 4 Auflösung von weiblichem Geschlecht als Ordnungskategorie – von der Differenz zur Indifferenz . . . . . . . . . . . . 253

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10Inhalt 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 a) b) c) 5.9

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Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata von Führung in metaphorischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . 254 Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Führen ist Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Führen ist Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Führen ist Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Führen ist Umgang mit Textilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Führen ist Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Von »Sehen« bis »Stützen« – Führen als Wahrnehmung und Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Führen ist gutes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Führen ist Vorwärtsgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Führen ist Unterstützen und Unterstütztwerden . . . . . . . . . 272 Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Zusammenfassung Fall E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Kapitel V  Zwischen Reden und Schweigen über Geschlecht – Komparative Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1 Schweigen über Geschlecht als Reden in Metaphern – Fallübergreifende vermännlichte Erfahrungskonzepte und Erwartungen als Bedingungen des offenen Redens über Führung und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1.1 Interaktiver Metapherngebrauch über Fallgrenzen hinweg . 281 1.1.1 Erfahrungsschemata mit vermännlichten Traditionen . . . . . . 281 a) Führen ist Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Führen ist Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 c) Die Vermännlichung der Erfahrungsschemata Kampf und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1.1.2 Neutrale Erfahrungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 d) Führen ist Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 e) Führen ist Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1.2 Führungserwartungen aus den Quellbereichen Kampf, Technik, Sehen und Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1.2.1 Erwartungen an Führung mit Verschränkung zu männlicher Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1.2.2 Erwartungen an Führung mit Verschränkungen zu weiblicher bzw. keiner Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

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Inhalt

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Fallspezifische Ergänzung vermännlichter und der abwertende Gebrauch verweiblichter Erfahrungsschemata . 300 2.1 Das abgestufte metaphorische System von Führung . . . . . . . 300 2.2 Inkongruenz verweiblichter und Kongruenz vermännlichter und neutraler Erfahrungsschemata mit Führung – Quervergleiche zwischen den Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2.2.1 Selbstkontrollierte Aktivität – Kongruenz neutraler körperbezogener Erfahrungsschemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2.2.2 Kongruenz vermännlichter Erfahrungsschemata mit Führung in den Fällen B, C und E – Naturwissenschaften, Bau- bzw. Schmiedehandwerk, Wirtschaft und Politik . . . . . 304 2.2.3 Der desavouierende Gebrauch der verweiblichten Erfahrungsschemata Haushalt, Kleinhandel, Pflege und Textilien in den Fällen A, B, D und E . . . . . . . . . . . . . . . 305 3 Vom offenen Ausschluss von Weiblichkeiten aus Führung bis zu deren Aufwertung – Offen geschlechtsbezogene Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3.1 Offene Reproduktion des Ausschlusses von Weiblichkeiten aus bzw. der Passung von Männlichkeit für Führung in den Fällen A, D und E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3.1.1 Weibliche Familienrolle, Haushalt und weibliche Dienst­ leistung – Verwendung von Erfahrungsschemata für die Abwertung von »Weiblich«-Sein und Exklusion aus Führung im Fall A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 3.1.2 Abwertung von »Frau«-Sein und Exklusion aus Führung über eine Eigenschaft in den Fällen A, D und E . . . . . . . . . . 309 3.1.3 Aufwertung von »Männlich«-Sein und Kongruenz mit Führung über eine Eigenschaft im Fall A . . . . . . . . . . . . . 310 3.2 Offene Transformation – Aufwertungsversuche von weiblicher Führung in den Fällen A, D und E . . . . . . . . . . . . 311 3.2.1 Verwendung von Erfahrungsschemata für die Auf­wertung von »Weiblich«-Sein in den Fällen A und D . . . . . . . . . . . . . 311 3.2.2 Aufwertung von »Frau«-Sein durch eine vermännlichte Eigenschaft im Fall E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 4 Auflösung von weiblichem Geschlecht im Fall E . . . . . . . . . 315 5 Indifferenz – Das verschwiegene Geschlecht in den Fällen B und C und die interaktionsexterne Berufserfahrung der Beraterin mit geschlecht­licher Gleichstellung . . . . . . . . . . . . 316 6 Einfluss interaktionsexterner Kriterien auf die Verhandlung von Geschlechternormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7 Auslöserthemen für die Explikation von Geschlechternormen in den Fällen A, D und E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

12Inhalt 7.1 Konkurrenz um Einfluss auf Entscheidungen eines höher Gestellten im Fall E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 7.2 Mangelnde Anerkennung der Leitungsarbeit durch Mitarbeiterinnen und Geldgeber in den Fällen A und D . . . 322 7.3 Entgrenzte Verantwortungsübernahme als Leiterin gegenüber Mitarbeiterinnen im Fall A . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Kapitel VI  Tradition, Modifikation und rhetorische Moderne – Deutungshintergründe und -horizonte von Führung und deren Verweis auf Geschlecht in Supervision und Coaching . . . . . . . . 329 1 Dimensionen und Komponenten geschlechtsbezogener Interaktion in Leitungssupervision und -coaching . . . . . . . . 330 2 Modus I: Verdeckter Aufbau der Kulisse – Erfahrungen und Erwartungen in Sprach­bildern und ihr latenter Bezug zu Geschlechter­normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2.1 Verdeckte Reproduktion – Aufwertung von männlicher bzw. Abwertung weiblicher Führung durch Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2.2 Verdeckte Transformation – Aufwertungsversuche weiblicher Führung bzw. Neutralisierung von Führung . . . . 337 3 Modus II A: Offene Aufführung von führungs­bezogenen Geschlechternormen bzw. deren Transformation in Rekurs auf die Kulisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3.1 Offene Reproduktion – Aufwertung von männlicher bzw. Abwertung weiblicher Führung durch Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3.2 Offene Transformation – Aufwertung weiblicher Führung durch Erfahrungsschemata und Erwartungen . . . . . . . . . . . . 340 4 Von Modus A zu Modus B: Auflösung von weiblichem Geschlecht und Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 5 Schweigendes Reden und beredtes Schweigen über Geschlecht und Führung – gebrochene rhetorische Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 6 Zwischen Re-Tradierung, Transformation und Indifferenz – geschlechtsbezogene Interaktionstypik der Fälle . . . . . . . . . . 345 7 Strukturelle Bedingungen, Einflüsse und Folgen geschlechtlicher Normativität von Führung in der Interaktion von Supervision bzw. Coaching . . . . . . . . . . . . . 347

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Inhalt

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

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Vorbemerkung

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich bei meiner Dissertation unterstützt haben. Sehr zentral war ich als Feldforscherin auf die Offenheit von Menschen angewiesen, die mir einen Einblick in ihren beruflichen Alltag als Berater_in bzw. in ihre Problemlagen als Führungskräfte gestatteten. Ohne ihre Zustimmung, ihr Vertrauen in mich als Forscherin und zum Teil ihre Bereitschaft zur Kooperation über einen längeren Zeitraum, wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Mein Respekt und mein aufrichtiger Dank gelten deshalb den Berater_innen und Führungskräften, die an meiner Studie teilgenommen haben. Nachdrücklich danke ich meinem Erstbetreuer, Bruno Hildenbrand, für seine Unterstützung. Besonders in schwierigen Entscheidungen und stockenden Forschungssituationen stand er mir engagiert, konstruktiv und mit einem von mir sehr geschätzten Fundus an Forschungserfahrung zur Seite. Meiner Zweitbetreuerin, Monika Wohlrab-Sahr, danke ich besonders für ihre anregenden und kritischen Denkanstöße in Einzelgesprächen. Ohne das Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung und ihr Vertrauen in mich und meine Arbeit hätte sie nicht in dieser Form verwirklicht werden können. Dies betrifft die finanzielle Absicherung des Projekts, aber sehr wesentlich auch die einzigartigen Möglichkeiten der Weiterbildung und Vernetzung, die durch die Stiftung angeboten und getragen wurden. Dazu zählt für mich vor allem die Vernetzung in der AG »Gender«, die mir eine kontinuierliche und ertragreiche fachliche Auseinandersetzung sowie auch persönliche gegenseitige Bestärkung ermöglichte. Marc Gärtner, Valerie Moser und Victoria Schnier gilt deshalb mein besonderer Dank. Ich danke außerdem meinen Kolleg_innen Daniela Jäckel-Wurzer, Gesa Anne Busche, Michael Baldrich, Diana Weiss, Swantje Reimann, Kathrin Franke, Mario Paul und Katja Lindner. Sie inter­pretierten mit mir zusammen Material, lasen mit großer Sorgfalt Manuskriptentwürfe und haben mein Nachdenken über den Gegenstand meiner Arbeit immer wieder angestoßen und vorangebracht. Mein Dank gilt ferner weiteren Personen, die mich in verschiedenen Phasen der Erstellung der Arbeit unterstützt haben: Für die stetige und zielführende fachliche Auseinandersetzung während der Projektkon© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

16Vorbemerkung zeption danke ich Oliver Kuhn – sowie Barbara Handerer und Maria Krause, die mich aus Berater_innensicht in der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Projektes bestärkten. Meiner Vertrauensdozentin in der Hans-Böckler-Stiftung, Sabine Pankofer, danke ich für ihre Begleitung. Vor allem in ihrer Doppelrolle als Forscherin und Supervisorin war sie für mich eine wichtige Vermittlerin zwischen den Sphären Wissenschaft und Beratungspraxis. Ich danke außerdem den Teilnehmenden der »Werkstatt Klinische Soziologie« in Jena für ihre kontinuierliche Bereitschaft zur Interpretation und ihre vielseitigen Anmerkungen und Kritiken. Für ihre unerlässliche Unterstützung bei der Transkription des Interaktionsmaterials bedanke ich mich außerdem bei Carola Wlodarski und Sabine Saier. Des Weiteren gilt mein Dank Mechthild Bereswill, die es mir ermöglichte, im Rahmen ihres Kolloquiums meine Forschung präsentieren zu können. Lena Correll, Sandra Schütze und Matthias Gesper haben Teile der Arbeit gelesen und mir wichtige Hinweise zur Überarbeitung gegeben. Ihnen bzw. den Korrekturleser_innen in der letzten Phase der Arbeit gilt mein besonderer Dank: Marc Gärtner, Steffen Hahn, Jens Hommel, Birgit Kuch, Christian Kurzke, Jens Oliver Krüger, Sylvia Lehmann, Eva Michaelis, Sandra Neumann, Matthias Scheffler, Tobias Rieprecht, Diana Weiss und Ilka Wiese. Auch wenn an dieser Stelle nicht alle namentlich benannt werden können, danke ich ebenso allen Freund_innen, Familienmitgliedern, Kolleg_innen und Bekannten, die auf ihre Weise dazu beitrugen, dass diese Arbeit fertig gestellt wurde. Zuletzt möchte ich mich bei der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) und der Hans-Böckler-Stiftung für die Förderung dieser Publikation bedanken. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Sandra Englisch, danke ich für die sachdienliche und wertschätzende Begleitung der Publikation.

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Einleitung

Unter allen Einmischereien ist die, die sich mit Mann und Frau beschäftigt, für alle Teile die verhängnisvollste. Elizabeth von Arnim (1908/2004, S. 169)

In einem autobiografischen Reiseroman, der um 1900 auf Rügen spielt, begegnet Elizabeth von Arnim, geborene Neuseeländerin und durch ihre Heirat Landadelige in Preußen, ihrer Cousine Charlotte. Diese ist im Begriff, sich nach enttäuschter Ehe mit einem sehr viel älteren und namhaften Mann von diesem abzuwenden, indem sie zur Feministin wird und den Kontakt mit ihm vermeidet. Diese Haltung teilt von Arnim nicht, sondern versucht, ihre Cousine in die damals traditionelle Rolle einer adeligen Frau zurückzubewegen. Sie beginnt sich damit in die Eheprobleme der beiden »einzumischen«. Zum Zeitpunkt ihres Entschlusses erinnert sie sich an einen Verwandten, der ihr von solchen »Einmischereien« in das Verhältnis zwischen »Mann und Frau« abriet. Er heißt damit die offene Problematisierung der Ordnung der Geschlechter offensichtlich nicht gut, sondern bevorzugt das Schweigen darüber, welches dem Prinzip »amor fati« (lat. Liebe zum Schicksal) folgt. Von Arnims Cousine Charlotte hat beides – das Vertrauen in das Schicksal und das Schweigen – jedoch längst aufgegeben: Sie hält feministische Vorträge und veröffentlicht Manuskripte. Damit und mit dem Scheitern ihrer Ehe durch ihre feministische Haltung stößt sie auf den Widerspruch ihrer Cousine Elizabeth. Ohne den Rat des Verwandten zu beherzigen, mischen sich beide Protagonistinnen des Romans mit unterschiedlichen Zielen in das Verhältnis der Geschlechter ein: die eine, um die Tradition zu bewahren, die andere, um sie aufzubrechen. Sie sind idealtypische Vertreterinnen des Redens über das Geschlechterverhältnis. Generationen von Menschen haben es ihnen gleich getan. In unterschiedlichster Haltung und mit diversesten Absichten haben sie hinter vorgehaltener Hand, in Abhandlungen, Erzählungen, auf öffentlichen Plätzen, in politischen Programmen, Theaterstücken und auf Kathedern etc., in unterschiedlicher Lautstärke und Sprache nicht widerstehen können, dieses Verhältnis © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

18Einleitung zu problematisieren. Wenn idealtypische Vertreter_innen des Schweigens hingegen von »Einmischung« sprechen, dann ist damals wie heute freilich nicht die schlichte Thematisierung von Geschlecht – gemeinhin vom »Frau«- bzw. »Mann«-Sein – gemeint, sondern eine Thematisierung, die eine Veränderung der bestehenden Geschlechterordnung riskiert, wie immer diese auch gestaltet sein mag. Kritisch ins Auge gefasst wird eine Ein-mischung, welche eine Ver-mischung, ein cháos gegen den schützenswerten kósmos der Geschlechter stellt. Allein das Schicksal solle über diese Fragen entscheiden. Geschlecht scheint aus dieser Haltung heraus als eine grundlegende Sicherheitsinstanz der sozialen Ordnung zu gelten, deren diskursives Besprechen alle »Beteiligten« zutiefst verunsichern würde und deshalb zu vermeiden sei. Allen drei Positionen geht es letztlich um gesellschaftliche Ordnung durch Geschlecht, zu der sie sich unterschiedlich aufstellen – Verändern bzw. Bewahren – bzw. die Mittel auswählen, um das jeweilige Ziel zu erreichen – Reden bzw. Schweigen. Um diese drei Positionen wird es in diesem Buch gehen. Wenn es um Fragen des kósmos geht, dann gehen damit immer die gesellschaftliche Aushandlung des »Unten« und »Oben«, das heißt Fragen von Herrschaft im Sinne der Partizipation an Gesellschaft, einher. In Europa wird seit der Aufklärung die Ordnung der Geschlechter azyklisch im Sinne einer stärkeren gesellschaftlichen Mitbestimmung und Inklusion, mit dem Ziel der Gleichstellung von Frauen gegenüber Männern verhandelt. Bedingt wird diese Aushandlung durch feministische bzw. generell demokratisierende und liberalisierende gesellschaftliche Bewegungen bzw. daraus resultierenden politischen Abkommen, Gesetzen etc. Als politischer Anspruch steht seitdem die Auflösung des geschlechtsbezogenen »Unten« und »Oben« im gesellschaftlichen Raum nicht nur westlicher Industrienationen und damit auch die Frage ihrer Entsprechung im Handeln. Der als am relevantesten wahrgenommene Teil der Gesellschaft, die Erwerbsarbeit, wurde dabei zum größten Hebel der Pragmatik des Gleichstellungsanspruchs, wenn auch mit unterschiedlicher Ausgestaltungsweise auf der Ebene von nationalen politischen Programmen. Den Lackmustest geschlechtlicher Gleichstellung in der Arbeitswelt stellt in der Bundesrepublik seit circa den 1980er Jahren die Anzahl von Frauen in höheren gesellschaftlichen Arbeitspositionen dar. 2004 waren durchschnittlich 23 % der Führungskräfte in Deutschland weiblich (Bundesministerium für Familie, 2008), dabei umso seltener, je größer die Organisation und je höher die Position war. Im Jahr 2000 belief sich der Anteil auf 21 %. Diese Bewegung wird gesellschaftlich als zu langsam bzw. stagnierend wahrgenommen (von Alemann, 2007), was angesichts eines de facto paritätischen Anspruchs und einer zunehmenden Sensibilisierung von Wirtschaft, Verwaltung, Politik, nicht zuletzt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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der medialen Öffentlichkeit für die geschlechtliche Gleichstellungsarbeit und deren Gewinn (bspw. wird die erfolgreichere Arbeit von gemischten Teams deklariert, vgl. Kunz O’Neill, 2004) durchaus verständlich ist. Da die Idee einer paritätischen Beteiligung an Gesellschaft, eine geschlechtliche wirtschaftliche Chancengleichheit inbegriffen, ganz offenbar aufrechterhalten werden soll, ist die Suche nach Gründen, die diese unbefriedigende Lage zu verantworten haben, nach wie vor hoch aktuell. Solche Nachforschungen werden zum einen beim schwächer ausgeprägten Willen von Frauen, hohe Positionen zu erlangen (Moldaschl, 1999) fündig, oder nehmen zum anderen strukturelle Diskriminierungen in den Blick (Raml, 1993, Rau, 1995, von Alemann, 2007), die sich etwa in der Metapher von der »gläsernen Decke« (Falk &Voigt, 2006) und dem Konzept »doppelter widersprüchlicher Vergesellschaftung von Frauen« (Becker-Schmidt, 1987, Knapp, 1990) verdichten. Die Perspektive, die in diesen Begründungszusammenhängen gepflegt wird, ist die von Frauen als Opfer – ihrer eigenen internalisierten Unterwürfigkeit oder der diskriminierenden bzw. zweispaltenden Verhältnisse. Eine Überzeugung der »Mittäterschaft« von Frauen an ihren eigenen Unterdrückungsverhältnissen wie Christina Thürmer-Rohr (Thürmer-Rohr, 1987) sie noch Ende der 1980er Jahre proklamierte, wird kaum mehr als starke These vertreten, sind doch Frauen mittlerweile so emanzipiert, dass sie sich freiwillig gegen eine Karriere, à la Eva Herman (Herman, 2006), entscheiden oder so leistungsüberzeugt, dass sie keiner Quote bedürfen, wie jüngst die Frauen der Jungen Union verfochten (Szymanski, 2010). Die Frage, wie das Stocken der Statistiken zustande kommt, bleibt jedoch unweigerlich im Raum. Wollen die Frauen nicht, können oder dürfen sie nicht? Gänzlich im Sinne einer Optimierungslogik läuft parallel zur Ursachensuche für stagnierende Zahlen die Beschäftigung mit offenbar an weibliches Geschlecht gekoppelten Führungsstilen ab, die den privatwirtschaftlichen Interessen besser entsprechen. Denn diese richten sich auf langfristige (nachhaltige) Mitarbeiter_innenführung aus. Frauen scheinen aus dieser Sicht den Wettlauf gegen ihre männlichen Kollegen haushoch zu gewinnen (Caliper Corporation, 2005, Moser, 2004, Haucke & Krenovsky, 2003). Neben dem fehlenden Erkenntnisinteresse, wie solche vorteiligen Kompetenzen zu erklären sind bzw. inwiefern diese Führungskompetenzen als »weibliche« beschrieben werden können, ohne unreflektiert Geschlechterklischees zu reproduzieren, gibt es Autor_innen, die sich für die Hinterbühnen der ausbleibenden strukturellen Erfolge im großen Stil interessieren. Sie bilden ab, dass hoch qualifizierte bzw. erfolgreiche Frauen Begleiterzählungen von ihrem Arbeitsleben anfertigen, die sich hauptsächlich auf durch Kollegen praktizierten Ausschluss und die Anstrengung, die Position zu halten, beziehen (Mil© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

20Einleitung wid, 1993) bzw. daraus Strategien ableiten, zu denen die Ignoranz eigener Geschlechtlichkeit ebenso gehört, wie das langfristige Verlassen oder Nichtanstreben von Leitungspositionen (Milwid, 1993). Aber auch für Männer scheinen karriereorientierte Berufsbiographien bzw. Führungspositionen Nachteile nicht zuletzt in der eigenen psychosozialen Gesundheit entstehen zu lassen. Biographische Umorientierungen von Männern werden in diesem Kontext zunehmend diskutiert (Riesenfeld, 2004). Führung scheint in der individuellen Lebensplanung an Attraktivität zu verlieren. Doch welche Strukturen bzw. welches Führungsverständnis sind womöglich dafür verantwortlich? Ich schlage mit dieser Studie vor, bei der Suche nach Gründen unzureichender Führungsparität gerade Deutungen bzw. Narrative für die »Hardware« unserer Erwerbsarbeit zu halten. Im Gegensatz zur Veränderung der Personalstruktur scheint die der Narrative zumindest geradezu unkontrollierbar zu sein. Es sind die Narrative und Deutungen, die den strukturellen Erfolg, eine Führungsposition erreicht zu haben, nicht nur kommunikativ begleiten, sondern erst als Erfolg oder Misserfolg überhaupt ausformen und für die Akteur_in selbst bzw. in den jeweiligen sozialen Umwelten entscheidend als solchen sichtbar machen. Geschlechtsbezogene Führungsnarrative – und damit zwingend auch die Regeln, die diese Narrative beinhalten – werden durch Multiplikator_innen weitergeleitet und dadurch die Eignung von Personen für Führung je nach Geschlecht expliziert. Zu diesen Akteur_innen gehören selbstverständlich nicht nur etablierte Frauen in Führungspositionen, sondern auch ebensolche Männer. Das Publikum jener erzählten Deutungen stellen andere Personen dar, die davon ausgehend, sowohl die eigenen Ressourcen abschätzen, eine Leitungsposition zu erreichen, als auch eigene Bildungs- bzw. Karriereentscheidungen daraus ableiten. Unter diesem Blickwinkel betrachtet ist das Ausmaß gesellschaftlicher »Einmischung« in die Fragen des Geschlechts beim Thema Führung ein bemerkenswertes. Die Ausführungen in den folgenden Kapiteln werden vor diesem Hintergrund den Fokus auf Leitungssupervision/-coaching als spezifischen Kommunikationsraum setzen, in dem die Problematik mangelnder geschlechtsparitätischer Führung zum Tragen kommt. In diesem Kommunikationsraum werden Deutungen und Narrative über Führung und Geschlecht evident und damit letztlich auch geschlechtliche soziale Ungleichheit. Aus diesem Grund sind beide Beratungsformen, Leitungssupervision und -coaching ein interessanter Forschungszugang, und das nicht zuletzt auch, weil hier Krisen der Führung explizit zum Anlass und zum Thema der Kommunikation über Führung gemacht werden. Als kommunikativer Schutz- weil durch Schweigepflicht und Externalität der Berater_in bedingter Geheimraum, haben diese Bera© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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tungsformen den ausdrücklichen Sinn, von Problemlagen von Führungskräften zu erfahren, die unter alltäglichen Arbeitsbedingungen zumeist keinen Raum haben bzw. tabuisiert sind. Führung wird hier regelhaft dicht und explizit besprochen. Narrative, mit denen Menschen in Leitungspositionen ihre berufliche Position beschreiben, vor allem mögliche Problematiken und Regeln der Geschlechterordnung, erfahren hier eine nicht alltägliche und gleichzeitig regelhafte Möglichkeit des Ausdrucks. Leitungssupervision/-coaching geraten demnach in dieser Arbeit als Zugang (zur Positionsbestimmung der Supervisionsforschung vgl. Hausinger, 2009, S. 8) in den Fokus, da dieser besonders geeignet ist, Erkenntnisse über die Verschränkung der Phänomene Führung und Geschlecht und deren normativen und exklusiven Charakter zu ermöglichen. Damit besteht eine außergewöhnliche Chance, hinter den Kulissen von Organisationen zu beobachten, wie Führung für die Führungskräfte selbst zum Thema wird und gleichzeitig Prozessen von Doing Gender, das heißt normativen Aushandlungen von zur Geschlechtskategorie passendem Führungsverhalten, unterliegt. Der zweite Grund, weshalb Leitungssupervision/-coaching als Zugang für Fragen der Soziologie des Geschlechts von Interesse sind, liegt in deren sozialer Funktion für Gesellschaft und Organisation. Als Sozialtechnologien moderner Gesellschaften zielen sie auf die Veränderung von Individuen hin zu »besserem« Funktionieren bzw. deren Inklusion bei krisenhafter Ausschluss- bzw. Degradierungsgefahr aus oder in sozialen Zusammenhängen. Ideengeschichtlich sind diese Beratungsformen damit als Kinder der Aufklärung verortbar, indem sie Ordnung, Struktur und Rationalität als Handlungsmaximen gegen Unordnung und Irrationalität setzen1. Die Vorstellung von einer Veränderung von Persönlichkeiten durch anhaltende Übung und Betreuung durch eine/n Supervisor_in bzw. Coach2 findet in beiden Beratungsformen, wie übrigens auch in Psychotherapie3, Ausdruck. Innerhalb der Fachkreise von Supervision und Coaching war seit der unerwarteten Popularität von Coaching seit Anfang der 1990er Jahre4 eine Debatte über Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten von Leitungssupervision und Coaching entstanden (z. B. in Lehmenkühler-Leuschner & Leuschner, 2000). Sie wurde unter der Überschrift »alter Wein in neuen Schläuchen« (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003, S. 82) zuweilen tendenziös zuungunsten einer Innovationsdebatte geführt. Obwohl eine lückenlose professionshistorische Forschung zu Supervision bzw. Coaching bis dato fehlt (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003), kann dennoch festgehalten werden, dass es sich bei Supervision um die deutlich ältere Beratungsform handelt, aus welcher später Coaching zum Teil hervorging. Supervision entwickelte sich als arbeitsbezogene Idee psychosozialer Gesundheitsförderung im © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

22Einleitung Sozialbereich. In diesem Verständnis entstand sie Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien als Reaktion auf Belastungserscheinungen von Studierenden und Jungakademiker_innen, die unter Leitung des Armen-Pfarrers und Sozialreformers Samuel Augustus Barnett als Helfer_innen im Londoner Slum-Viertel Whitechapel eingesetzt und von der Arbeit nachhaltig betroffen waren (Belardi, 2005). Das Ansinnen der Vier-Augen-Gespräche des Pfarrers war es, zu gewährleisten, dass diese Laien ihre Arbeit auf Dauer und unter Beibehaltung ihrer psychischen Gesundheit ausführen und bewältigen können. Diese »EhrenamtlichenSupervision« für die ersten Sozialarbeiter_innen war das Vorbild für die spätere Supervision und Praxisberatung. Die explizite geschichtliche Entwicklung des Coachings ist demgegenüber insgesamt noch weitgehend unerforscht. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass es aus der vormaligen Leitungssupervision als psychologische Beratung von Führungskräften entstand (vgl. Lehmenkühler-Leuschner & Leuschner, 2000) bzw. als Bezeichnung im Sport verwendet wurde für eine/n Trainer_in ohne abgeschlossene Trainer_innenausbildung, jedoch mit Fachkenntnissen. Ende der 1980er Jahre wurde der Begriff für die Supervision von Personen im Management bzw. von Gruppen ausgeweitet (eine Zusammenfassung der Entwicklung gibt Böhning, 2005) – bis hin zur heutigen inflationären Verwendung in fast allen denkbaren Gegenstandsbereichen der Beratung, beispielsweise Single-, Gesundheits-, Energie-, Finanzcoaching. Arbeitskontextuell ist beobachtbar, dass der Begriff vor allem die Salonfähigkeit psychologischer Arbeitsberatung im Profitsektor katalysiert (Kühl, 2006, S. 271). In etlichen, seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlichten Lehr- und Grundlagenbüchern für Coaching werden zwei Metaphern bemüht, um das Beratungsformat Coaching zu beschreiben. Zum einen, dass Coaching etymologisch von »coach«, das heißt einer/m sportlichen Trainer_in für Spitzensportler_innen, abstammt, der/die als deren engste Bezugsperson, auch die Aufgabe hat, seine Sprösslinge psychologisch motivational zu versorgen, damit diese Höchstleistungen vollbringen können (Böning, 2005, Backhausen & Thommen, 2006). Zum anderen wurde die »Kutsche« als Bild bemüht (Rauen, 1999, S. 20), die die Aufgabe hat, ihre Fracht von A nach B zu bringen. Beide Herkunftslinien folgen in ihren normativen Prämissen von Zielgerichtetheit und Steuerbarkeit der bereits erwähnten Struktur aufklärerischer Rationalität. Mit Stefan Kühl (2008) kann darauf hingewiesen werden, dass es in den letzten Jahren drei Diskurse gab, beide Begriffe voneinander zu unterscheiden: Erstens wurde der Unterschied diskutiert, dass Supervision für die operative Ebene in Organisationen, beispielsweise die Arbeit von Psychotherapeut_innen, Sozialarbeiter_innen bzw. Pflegekräften, Coaching jedoch für die Management- und Führungsebene angelegt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Einleitung

sei. Zweitens wurde versucht, die Veränderungshebel zu unterscheiden. Supervision verändere demnach von unten, Coaching von oben. Drittens stehe bei der Supervision eher die Entwicklung der gesamten Person, beim Coaching eher die Verbesserung der Funktion des Personals der Organisation im Vordergrund. In dieser Untersuchung werden, im Verweis auf Monika Klinkhammer (vgl. Klinkhammer, 2004, S. 48 f.) Leitungssupervision und -coaching äquivalent gebraucht5. Beiden »geht es um die Förderung der technischen, konzeptionellen und sozialen Kompetenzen für die Lösung von Management-Aufgaben […] bzw. um die Unterstützung beim Selbstmanagement« (Buer, 1999, S. 186). Abzugrenzen ist vor allem der inflationär verwendete Begriff des Coachings damit einerseits von anderen »Arten hausinterner oder externer Weiterbildung, Nachbeschulung« (Schreyögg, 2003, S. 11) oder konventionellen Seminarmethoden. Andererseits hat Coaching im hier verstandenen Sinne auch nichts mit sogenanntem »›Vorgesetzten-Coaching‹ als ideale Begleitung für unterstellte Mitarbeiter« (ebenda) zu tun. Damit es zu dieser Form der Beratung in Führungsangelegenheiten kommt, geht ihr eine Krise beim Führen bzw. Leiten voraus, die ein hohes Maß an Veränderungs- und Lernbereitschaftbereitschaft, aber auch Orientierungsbedarf auf Seiten der Führungskraft erzeugt. Der/ die Beratende trifft den/die Ratsuchende/n so an und hat folglich die Chance eines enormen Einflusses auf die Deutungsmuster seines Gegenübers. Dabei wird sie/er in der Regel nicht direkt von außen beobachtet. Wenn Führung in einer Arbeitsorganisation als Teil unseres Alltags und deshalb im Sinne von Erving Goffman (und in nicht moralisierender Haltung) als »Theater« verstanden werden kann (Goffman, 1991), dann ist Leitungssupervision bzw. -coaching deren »Probebühne« – ein sozialer Raum, in dem die Führungskraft nicht unter Handlungsdruck steht, sondern angemessenes Verhalten proben, diskutieren, experimentell gestalten kann. In Rekurs auf den ersten komme ich damit auf den zweiten Grund zurück, weshalb Leitungssupervision bzw.-coaching als Zugang für die Erforschung von Doing Gender interessant sind. Das Aufscheinen von Geschlechterthemen (zumeist als Frauenthemen) in den Fachdiskursen der Coaching- und Supervisionspraxis kann man als Anzeichen für die Überforderung von Organisationen mit der Inklusion von Frauen in Führungsebenen ansehen. Mit Christina von Passavant (2000) kann in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass weder Organisationen, noch Männer oder Frauen weit reichende Erfahrungen mit Frauen in Führungspositionen haben. Ebenso steht es offenbar mit der Beratung selbst. Auch für Supervision und Coaching stellt sich die Frage, wie sie als »Probebühnen« für Führung – auf denen sie die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

24Einleitung Regeln für Führung mit expliziert, dazwischen Handlungsspielräume abtastet und womöglich auch Regeln verändert – mit dem gesellschaftlichen Anspruch geschlechtsparitätischer Führungsbesetzung umgeht (vgl. dazu bspw. Scheffler, 2005). Wird in ihr als Kommunikationsraum Geschlecht als Ordnungskategorie für Führung überhaupt angesprochen? Wenn ja, in welchen Deutungshorizonten besprechen Berater_in und Klient_in diesen Zusammenhang? Welche Rolle spielen normative Erwartungen an Geschlecht dabei? Gibt es Hinweise darauf, dass weibliches Geschlecht als Ausschlusskriterium bzw. männliches Geschlecht als Einschlusskriterium für Führung gilt? Zusammengefasst ergibt sich für mich daraus die Frage: Inwiefern bzw. in welchen Deutungshorizonten wird in Leitungssupervision/-coaching Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht und normativ verhandelt? Ich werde im Zuge meiner Ausführungen versuchen zu zeigen, dass und wie Gesellschaft in die Beratungsinteraktionen hinein reicht und dass während des Besprechens von Führung vorrangig Geschlechternormen reproduziert werden, zum Teil während gleichzeitig Modifikationsversuche unternommen werden oder gar nicht über Geschlecht gesprochen wird. Dabei werde ich zeigen, dass Beratung kein abgeschlossener Raum ist, in dem nur noch die/der Berater_in oder beide Beteiligten steuern, was geschieht. Vielmehr gibt es darüber hinaus einen dritten Anwesenden, die Interaktion mit ihrer Eigendynamik und ihrer gesellschaftlichen Vorprägung, die die soziale Situation der/des Leitungssupervision/-coachings entscheidend organisiert. Um die folgenden Ausführungen in dieser Perspektive zu lesen, bedarf es eines begrifflichen Instrumentariums, welches in Kapitel I erläutert wird. Diese theoretischen Grundlagen sind zugleich bereits Ergebnis des Forschungsprozesses und berufen sich auf eine Vorstellung von Geschlecht als Prozess (Doing Gender), der Geschlechternormen sowohl in der Interaktion, unter anderem ersichtlich in den Erfahrungsschemata von Metaphern, als auch in der sie umgebenden gesellschaftlichen Struktur betrifft. Neben dieser institutionellen Reflexivität von Geschlecht, das heißt der Wechselwirkung von Interaktion und Struktur, wird jedoch auch der Prozess rhetorischer Modernisierung als ein Prozess zunehmenden Verschweigens der Geschlechterdifferenz bei gleichzeitiger Beibehaltung sozial ungleicher Strukturen, als Phänomen eingeführt. In Kapitel II wird der derzeitige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Einfluss von Geschlecht in der Supervision bzw. im Coaching daraufhin reflektiert, wie jeweils Geschlecht definiert und in Wechselwirkung zu Supervision und Coaching beobachtet wird. Dabei wird vor allem, allerdings von den Autor_innen zumeist unintendiert, die Wirksamkeit von Geschlechternormen bestätigt. Als problematisch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Einleitung

werden dabei vor allem methodische aber auch theoriebezogene Probleme einer Hypothesen testenden und reifizierenden geschlechtsbezogenen Beratungsforschung deutlich. Wie auf die methodischen Probleme in der Forschungspraxis dieser Studie reagiert wurde, zeigt Kapitel III. Neben der Reflexion der Schwierigkeiten einer geschlechtsbezogenen Interaktionsforschung ist der zweite Schwerpunkt des Kapitels eine Reflexion forschungsmethodischer Probleme bei der Erforschung von Supervision und Coaching. Außerdem wird gezeigt, wie beiden Problemfeldern im gesamten Forschungsprozess, das heißt bei der Auswahl der Fälle, dem Sampling und dem Feldzugang, der Datengewinnung und der Auswertung begegnet wurde. In fünf Fallrekonstruktionen, die sich danach unterscheiden, über welches Expert_innenwissen der/die Berater_in bezüglich Geschlecht verfügt, auf welcher Leitungsebene die Klient_innen führen, aus welchen Organisationskulturen sie kommen, in welchen geschlechtlichen Dyaden sich die Interaktion abspielt und welche zeitliche Stellung das Gespräch im Beratungsprozess einnimmt, wird geschlechtsbezogene Interaktion über Führung in Kapitel IV dargestellt. Dabei kristallisieren sich Dimensionen heraus, in denen Geschlechter- und Führungsnormen reproduziert, modifiziert bzw. aufgelöst bis hin zu beschwiegen werden. In Kapitel V werden die Fallrekonstruktionen anhand dieser Dimensionen miteinander verglichen. Dabei wird als Schnittstelle zwischen allen Fällen das beredte Schweigen über Führung und Geschlecht in dominierenden vermännlichten metaphorischen Konzepten deutlich gemacht. Daneben wird die fallweise Varianz dieser Art des Schweigens erläutert, sowie die Erweiterung des Spektrums durch die offene Thematisierung von Geschlechternormen in den Gesprächen, sowie Auslöser für den Wechsel zwischen offener und verdeckter Interaktion dargestellt. Aus diesen im Material beobachtbaren Interaktionsstrukturen wird in Kapitel VI ein Modell über Dimensionen und Komponenten geschlechtsbezogener Interaktion in Leitungssupervision bzw. -coaching generiert. Dabei wird der Begriff der rhetorischen Modernisierung aus Kapitel I konkretisiert. Außerdem werden aus dem Modell geschlechtsbezogene Typen der Interaktion abgeleitet, die schließlich als institutionell reflexiv, das heißt mit strukturellen Bedingungen der geschlechtsnormativen Interaktion verknüpft und abhängig von internen und externen Einflüssen auf die Interaktion dargestellt werden. Daraus werden Folgen abgeschätzt, wie sich die Leitungssupervisionen bzw. -coachings auf die gesellschaftliche Struktur, das heißt die (Selbst-) Selektion von Personen als Führungskräfte, auswirkt. Im Fazit werden alle Ergebnisse schließlich zusammengefasst und ein Ausblick auf Forschungsdesiderate gegeben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Kapitel I  Theoretische Grundlagen

Von Anfang an werden die der männlichen und die der weiblichen Klasse zugeordneten Personen unterschiedlich behandelt, sie machen verschiedene Erfahrungen, dürfen andere Erwartungen stellen und müssen andere erfüllen. Erving Goffman (2001a, S. 109)

Das, was wissenschaftliche Disziplinen voneinander unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihre Perspektive darauf. Diese Perspektive wird davon bestimmt, was ihr wiederkehrendes zu klärendes Problem ist. Das Spezifikum der Soziologie, das sie von anderen Disziplinen unterscheidet, ist die Frage: »Wie ist soziale Ordnung möglich?«(vgl. Luhmann, 1981, S. 195, FN 1 nach Eisenstadt & Curelaru, 1976, S. 55 ff.). Indem sie »Sachverhalte auf ein Problem, nämlich auf die ungesicherte Möglichkeit von Sozialität überhaupt bezieht« (ebenda), formt sie ihre spezifische Gestalt aus. Im Vergleich dazu, stellt sich die Disziplin der Medizin die Frage, wie Krankheit zu entschlüsseln und Gesundheit (wieder) hergestellt werden kann, die Psychologie fragt sich, wie Erleben und Verhalten möglich sind oder die Linguistik macht sich die Unwahrscheinlichkeit der Sprache zum Problem. Die wichtigste Frage jeder soziologischen Studie ist also, wie es so etwas wie Ordnung und Regelmäßigkeit des Sozialen überhaupt geben kann, was die Bedingungen dafür sind, wie sie aufrechterhalten bzw. verändert werden. Geschlecht ist eine der sozialen Ordnungsdimensionen, die schon sehr lange von Gesellschaften verwendet werden. Sie wird verwendet, um zumeist zwei Geschlechter zu unterscheiden, wobei die Bipolarität auch kulturell variiert. In jedem Fall erwachsen aus der Zuordnung zu einem Geschlecht Folgen, die die Bewertung eines Menschen betreffen. Geschlecht ist damit immer ein Phänomen sozialer Ungleichheit. Moderne Gesellschaften verfolgen den Anspruch, dass ihre Mitglieder frei von Zwängen entscheiden und leben können. Soziale Ungleichheit, die mit dem Geschlecht von Menschen begründet werden kann, erscheint dem gegenüber als Rückschlag. Gehört Geschlecht zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

28  Kapitel I  Theoretische Grundlagen den Ideen, aus denen man nicht heraus treten kann, weil sie in soziale Ordnung geronnen sind? Die uns so fest auf der Nase sitzt, dass wir alles mit dem Fokus der eigenen und fremden Geschlechtszugehörigkeit beobachten und danach handeln müssen? Oder kann Geschlecht abgelegt werden wie ein Mantel, etwa durch Dekonstruktion (vgl. bspw. Butler, 1991) oder schlichte Ignoranz? Hierzu gibt es Debatten, die bereits Jahrzehnte andauern (vgl. dazu bspw. Weber, 2004). Sie betreffen unter anderem die Frage, ob Geschlecht und Körper voneinander getrennte Einheiten sind oder ob das Biologische gleichsam sozial konstruiert ist. Dieser Debatte werde ich mich in dieser Studie nicht anschließen (ein Überblick über die Debatte findet sich in Degele, 2008, S. 66 ff.). Vielmehr interessiert mich sehr spezifisch, wie sich zwei Menschen in einer sozialen Situation – der Supervision/des Coachings – unter der Überschrift »Führung« wechselseitig an Geschlecht orientieren. Im Zuge der Untersuchungen dieses Materials kann ich die Wirksamkeit theoretischer Konzepte heraus stellen, die vor der Untersuchung nicht deutlich war. Es handelt sich dabei um den theoretischen Zugang auf das Material, der sich mit dessen Analyse koevolutiv entwickelte. Da Forschungsprozesse zirkulär, Texte jedoch linear verlaufen, stelle ich die theoretischen Grundlagen zwar den Ausführungen voran. Sie sind jedoch gleichsam Ergebnis der Analyse. Um welche theoretischen Konzepte es sich dabei handelt, werde ich in diesem Kapitel erläutern. Zuerst handelt es sich um ein spezifisches Konzept von Geschlecht. Ich gehe davon aus, dass Geschlecht – wie andere soziale Phänomene – nicht statisch, sondern prozesshaft zu verstehen ist. Es unterliegt der stetigen Aktivität von Individuen. Mit anderen Worten, Geschlecht wird sozial konstruiert (vgl. Gildemeister, 1992; epistemologisch vgl. auch Berger & Luckmann, 2004).

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Doing Gender und Geschlechternormen

Seit Harold Garfinkels (1967) prominenter »Agnes-Studie« sind die Gender Studies enorm expandiert. Dennoch kann am Beispiel der Krisensituation »Transsexualität« immer noch am klarsten gezeigt werden, was mit der oft falsch verstandenen These gemeint ist, Geschlecht sei sozial hergestellt (zum Phänomen des »passing« vgl. Garfinkel, 1967, S. 116–185). Das Missverständnis am Begriff des »Doing Gender« ist, dass eine Wahl unterstellt wird, ob Geschlecht da sei oder nicht. Dass diese Wahl nicht vorhanden sein muss, um von einem konstruierten Geschlecht zu sprechen, zeigt Garfinkel in seiner Fallstudie. Er begleitet © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Doing Gender und Geschlechternormen

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Agnes, eine Person, die sich einer medizinischen Geschlechtsänderung unterzieht und vom »männlichen« Geschlecht zum »weiblichen« übergeht (diese und die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf Treibel, 1995, S. 131–152 bzw. S. 253–271). Dabei stellt er fest, dass es keine dritte, vierte etc. Kategorie zwischen »Frau« und »Mann« gibt, die Agnes für sich verwenden kann. Stattdessen gibt es eine soziale Verpflichtung, sich einer der beiden Kategorien zuzuordnen. Garfinkel nennt diese Norm »restriktive Zweigeschlechtlichkeit« (Treibel, 1995, S. 141). Ihr Körper wird durch Agnes nachträglich naturalisiert, etwa dergestalt, dass sie de facto »immer schon weiblich gewesen« sei. Zum zweiten beobachtet Garfinkel eine Dimension, die er »kulturelle Genitalien« nennt und die für das »passing« (Garfinkel, 1967, S. 137 ff.) von einem Geschlecht in das andere notwendig zu erlernen sind. Damit meint er »weibliche« Verhaltensweisen, die dem »Eindrucksmanagement« dienen. Das Erlernen dieser Verhaltensdimension bereitet Agnes Schwierigkeiten. Garfinkel zeigt, wie der Alltag für Agnes eine kontinuierliche Geschlechts-Arbeit, das heißt ein Doing Gender erfordert, die ihre Tücken hat. Dabei liegt die Schwierigkeit nicht in der bloßen Anpassung an Verhalten, das von ihrem neuen Geschlecht erwartet wird, sondern in der Vermeidung von Überanpassung. Diese erzeugt Verdacht, weil an ihr die Inszenierung als solche erkennbar wird. Es heißt stattdessen, Maß zu halten und sich im Detail kompetent zu verhalten. Dass sich Geschlecht aus Erwartungen daran zusammensetzt, wie sich jemand, der/die einem Geschlecht zugeordnet wurde bzw. sich selbst zuordnet, nonverbal und verbal verhält, wird am Beispiel von Agnes als transsexueller Person sehr deutlich. Erwartungsbildung bzw. Erwartungs­aushandlung sind jedoch prozesshaft organisiert. Es handelt sich dabei um Prozesse, die uns gewöhnlich im Alltag kaum bewusst sind. Der Prozess, dass jemand als zu einem Geschlecht zugehörig anerkannt wird, läuft dabei sowohl intrapsychisch als auch sozial ab, zum Beispiel in der Interaktion. Geschlecht ist so zwar eine Kategorie, mit der man sich selbst verorten kann, es ist aber nicht minder eine Dimension für Gruppenzugehörigkeit. Mit der Herstellung von Geschlecht ist demgemäß nicht die fiktive Erfindung von Geschlecht gemeint. Konstruktion von Geschlecht meint vielmehr, dass ein der jeweiligen Geschlechtskategorie angemessenes Auftreten in der Interaktion anerkannt und validiert wird. Ausschliesslich diese Perspektive ist im Folgenden mit gender gemeint: »Gender […] is the activity of managing situated conduct in light of normative conceptions of attitudes and activities appropriate for one’s sex category. Gender activities emerge from and bolster claims to membership in a sex category.« (West & Zimmerman, 1987, S. 127)

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30  Kapitel I  Theoretische Grundlagen Besonders der Aspekt der Normativität von Verhaltenserwartungen, die interaktiv validiert werden, ist das hervorgehobene Merkmal von gender. Für Candance West und Don Zimmermann (1987) gibt es daneben noch zwei weitere Ebenen von Geschlecht, die jedoch nicht mit gender übereinstimmen. Es handelt sich dabei erstens um die Dimension von sex, das heißt »die Geburtsklassifikation des körperlichen Geschlechts aufgrund sozial vereinbarter biologischer Kriterien« (zur Übersetzung vgl. Gildemeister, 2004a). Sex betrifft demnach nur die »birth classification«. Sie ist beispielsweise an der Vornamensgebung von Säuglingen ablesbar, wobei sie gleichzeitig von der Geschlechterordnung der Sprache und der Möglichkeit neutraler Vornamen abhängt. Von der geschlechtsbezogenen Geburtsklassifikation unterscheiden West & Zimmerman »die soziale Zuordnung zu einem Geschlecht im Alltag aufgrund der sozial geforderten Darstellung einer erkennbaren Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie« (Gildemeister, 2004a, S. 133). Diese Zuordnung nennen sie sex category bzw. Geschlechtskategorie. Sie zielt auf »social membership« einer Person ab und muss »der Geburtsklassifikation nicht entsprechen« (ebenda). Sowohl sex als auch sex categories werden in dieser Untersuchung keine Rolle spielen, auch wenn es im Material Hinweise darauf gibt. Stattdessen wird mich ausschließlich der Prozess normativer und interaktiver Validierung von Geschlecht, das heißt Doing Gender, interessieren. Die interaktiven Verhandlungen gestalten sich dabei immer entlang von Erwartungen an das als passend gedeutete Verhalten für Zugehörige einer Geschlechtskategorie. Es sind mithin Erwartungen, die stabile soziale Phänomene wie gender herausbilden: »Erwartungen sind Kondensate von Sinnverweisungen […], die zeigen, wie eine gewisse Situation beschaffen ist und was in Aussicht steht. Sie haben die Funktion, Kommunikation und Gedanken trotz der Komplexität und Kontingenz der Welt auf relativ stabile Weise zu orientieren.« (Baraldi, Corsi & Esposito, 1997, S. 45)

In Bezug auf Erwartungen an angemessenes Geschlechtsverhalten ist in modernen Gesellschaften ein Hereinbrechen der Kontingenz1 beobachtbar. Das bedeutet, dass solche Erwartungen andauernd mit davon abweichendem Verhalten konfrontiert sind und enttäuscht werden. Der Umgang mit enttäuschten Erwartungen kann generell in drei verschiedene Richtungen verlaufen: Entweder die Erwartung wird verändert, ganz aufgegeben oder sie wird – die Enttäuschungserfahrung ignorierend – beibehalten. Im letzten Fall handelt es sich um Normen:

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»Heim und Welt«

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»Das Unsichere, die Enttäuschung, wird vielmehr so behandelt, als ob es sicher wäre, und die Frage ist dann: ob man in diesem Falle die Erwartung aufgeben oder ändern würde oder nicht. Lernen oder Nichtlernen, das ist die Frage. Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt. […] Dagegen werden lernunwillige Erwartungen als Normen stilisiert. Sie werden auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten. [Hervorhebungen im Original]« (Luhmann, 1984, S. 437)

Die enttäuschungs- und lernresistenten Erwartungen an angemessenes Geschlechtsverhalten sind demzufolge Geschlechternormen. Sie sind »Erwartungen hinsichtlich der Ausprägung von Männlichkeit und Weiblichkeit (Identität, Verhalten, Präsentation) und deren Verhältnis […] die von beiden Geschlechtern geteilt werden und die praktisch wirksam sind« (Burkhart & Koppetsch, 2001, S. 442). Normative Erwartungen an Geschlecht werden jedoch nicht nur »geteilt«, sie werden im Falle ihrer Enttäuschung weder verändert noch verworfen, sondern schlichtweg beibehalten2. Sie formen insofern Gesellschaft aus, als sie in den Habitus von Menschen eingeschrieben, inkorporiert und in den Institutionen Arbeit, Ehe, Familie etc. verankert werden (Lenz & Adler, 2010, S. 25).

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»Heim und Welt« – Vergeschlechtlichte Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben

Welche Erwartungen an ein bipolar unterteilt verstandenes Geschlecht historisch normiert wurden, belegt Karin Hausen (1976) in ihrer Untersuchung der Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« ab dem 18. Jahrhundert. Anhand der Analyse von Lexika des 19. Jahrhunderts zeigt sie, wie die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben der bipolaren Differenz von Geschlecht folgt und anhand dessen verfestigt wird. Der Begriff des »Geschlechtscharakters« für die Beschreibung der »Natur« bzw. des »Wesens« von »Frau« bzw. »Mann« (Hausen, 1976, S. 363) ist heute unüblich geworden. Dennoch dürften uns Aussagen über jeweilige »natürliche Geschlechtseigentümlichkeiten« bekannt vorkommen. 1815 heißt es nach Hausen im Brockhaus: »Daher offenbahrt sich in der Form des Mannes mehr die Idee der Kraft, in der Form des Weibes mehr die Idee der Schönheit … Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengun-

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32  Kapitel I  Theoretische Grundlagen gen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Plänen geneigter; unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne, die langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten dem Weibe an. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte und List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben, dieses dem stillen häuslichen Cirkel. Der Mann arbeitet im Schweiße seines Angesichtes und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immerdar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit. Der Mann stemmt sich dem Schicksal selbst entgegen, und trotzt schon am Boden liegend noch der Gewalt; willig beugt das Weib sein Haupt und findet Trost und Hilfe noch in seinen Tränen.« (Hausen, 1976, S. 366)

Mehrere unterschiedliche Lexika zusammenfassend, kommt Hausen zu der Einsicht, dass die zentralen Merkmale, die dem Mann zugeschrieben werden, Aktivität und Rationalität sind, während die Frau Passivität und Emotionalität als Wesensmerkmale aufweist. Dabei leitet »sich das Begriffspaar Aktivität-Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld her« (Hausen, 1976, S. 367). Tabelle 1 verschafft einen Überblick darüber, welche Charaktereigenschaften in den Lexika jeweils als aktiv, passiv, rational und emotional verstanden wurden. Aus den zugewiesenen Eigenschaften des »Geschlechtscharakters« wurde synchron die Eignung für gesellschaftliche Sphären abgeleitet: »der Mann eindeutig und explizit für die Welt und die Frau für das häusliche Leben« (ebenda). Damit wiederholt sich in den komplementären »Geschlechtscharakteren« die Polarisierung von »Heim« und »Welt« (Hausen, 1976, S. 377). Da die beiden »Charaktere« jedoch ergänzend zueinander gedacht werden, ergibt sich daraus die Konsequenz, dass nur beide gemeinsam die Summe aller möglichen Fähigkeiten und Bedürfnisse eines Menschen realisieren können. Eine immer präzisere und differenziertere Herausbildung der spezifischen »Geschlechtscharaktere« wird damit auch zur Voraussetzung eines Ideals des vollkommenen Menschseins. Mit ihrer Annahme, durch Frauen würde die öffentliche Gesellschaft »humaner«, bestätigte letztlich auch die bürgerliche Frauenbewegung diese Geschlechterpolarität, auf der die gesamte gesellschaftliche Struktur aufbaute.3 Mit der Präzisierung der »Geschlechtscharaktere« geht auch die Veränderung der Familie einher. Hausen nimmt dazu Bezug auf Talcott Parsons, welcher die Familie zunehmend die Funktion übernehmen sieht, rein persönliche Beziehungen der Familienmitglieder zu gestalten, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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»Heim und Welt«

Tabelle 1: Normative Erwartungen in »Geschlechtscharakteren« (Quelle: Hausen, 1976, S. 368) Mann

Frau

Bestimmung für Außen Weite Öffentliches Leben

Innen Nähe Häusliches Leben

Aktivität Energie, Kraft, Willenskraft Festigkeit Tapferkeit, Kühnheit

Passivität Schwäche, Ergebung, Hingebung Wankelmut Bescheidenheit

Tun selbständig strebend, zielgerichtet, wirksam erwerbend gebend Durchsetzungsvermögen Gewalt Antagonismus

Sein abhängig betriebsam, emsig bewahrend empfangend Selbstverleugnung, Anpassung Liebe, Güte Sympathie

Rationalität Geist Vernunft Verstand Denken Wissen Abstrahieren, Urteilen

Emotionalität Gefühl, Gemüt Empfindung Empfänglichkeit Rezeptivität Religiosität Verstehen

Tugend

Tugenden Schamhaftigkeit, Keuschheit Schicklichkeit Liebenswürdigkeit Taktgefühl Verschönerungsgabe Anmut, Schönheit

Würde

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34  Kapitel I  Theoretische Grundlagen Kinder zu sozialisieren und Spannungen der Erwachsenen auszugleichen. Diese Funktion in der Familie übernahm zunehmend die Frau als Spezialistin »in ›human relations‹ und der Meisterung subtiler psychologischer Probleme« (Hausen, 1976, S. 380 f. in Zitation von Parsons, 1968, S. 269 f.). In der gesellschaftlichen Sphäre, die als dem männlichen »Geschlechtscharakter« angemessen galt, wurden die Eigenschaften, die für die Gestaltung der Familie relevant waren, hingegen als störend gedeutet.4 Die zentrale soziale Funktion des »Geschlechtscharakters« liegt mithin in der geschlechtlichen Arbeitsteilung bzw. der Dissoziation von öffentlichem und privatem Leben bzw. Erwerbsarbeit und Familienleben (Hausen, 1976, S. 390). Die Arbeit des Mannes unterlag zunehmend den Prinzipien der Rentabilität und der Effizienz. Damit ging gleichzeitig die Aberkennung der Hauswirtschaft als Arbeit einher, was an deren – im Vergleich zur Erwerbsarbeit – mangelnder zeitlicher bzw. pekuniärer Rationalisierung lag. Sie wurde zunehmend von Frauen ausgeführt und blieb im Gegensatz zur Lohnarbeit vormodernen Traditionen der direkten Bedürfnisbefriedigung verpflichtet. Die Ausdifferenzierung dieser »Geschlechtscharaktere« verschränkte sich insgesamt mit der gesellschaftlichen Klasse. Vorrangig bürgerliche Familien von Staatsdienern mit ihrer »kultivierten Intimität und Innerlichkeit« praktizierten die Polarisierung der Geschlechter, nicht aber bäuerliche oder auch adelige Familien (Hausen, 1976, S. 382 f.). Auch wenn beispielsweise die »geschlechtscharakterliche« Volkserziehung auf bäuerliche Familien und die von Lohnarbeiter_innen wirken wollte, fielen die Erwartungen an Habitus und an entsprechende Tätigkeiten aufgrund äußerlicher Zwänge viel androgyner aus. In späteren modernen Gesellschaften kann nach dem Einfluss feministischer Bewegungen auf der Ebene von Gesetzen, aber auch auf der Ebene persönlicher Haltungen5 eine Loslösung von den »Geschlechtscharakteren« bis hin zur rhetorischen Modernisierung (vgl. Abschnitt 5 in diesem Kapitel) beobachtet werden. Die in ihnen enthaltenen Geschlechternormen wirken als zugespitzte Idealtypik in der Gegenwart bzw. in den auf sie gegründeten Strukturen jedoch fort.6 Bevor ich im Abschnitt 4 dazu komme, wie sich Geschlechternormen auf dem Fundament der »Geschlechtscharaktere« nach wie vor in der Interaktion zeigen, werde ich ihre Folgen für die Arbeitsstrukturen in den Fokus rücken.

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Berufsfelder und Hierarchie

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Berufsfelder und Hierarchie – Horizontale und vertikale Segregation von Erwerbsarbeit

Korrespondierend mit den »Geschlechtscharakteren« und den darauf fußenden normativen Erwartungen an Eigenschaften, Verhalten bzw. an Eignung bzw. Nichteignung für Tätigkeiten, ist Geschlecht eine idealtypische Dimension gesellschaftlicher Segregation (vgl. Wetterer, 2002). Unter Segregation wird in der allgemeinen Soziologie, die »räumliche Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach Merkmalen wie soziale Schicht, Stellung im Lebenszyklus, ethnisch-kulturellem Hintergrund oder Religion« (Hamm, 2010, S. 253) verstanden. Begreift man Raum nicht nur als materiellen, sondern auch als sozialen Raum (vgl. Becker, 2010, S. 806 ff.7), das heißt als Ort, in dem Menschen und Güter in Relation zu einander angeordnet sind, stellt sich die Anordnung von Personen nach Geschlecht in einer horizontalen und einer vertikalen Anordnung dar. Beide betreffen Geschlecht in seiner Koevolution mit Arbeit und konkretisieren die Perspektive des Doing-Gender-Ansatzes zum Fokus Doing Gender while doing work (Gottschall, 1998). Dieser Ansatz beschreibt mit dem Gendering von Arbeit nicht nur die Geschlechtsklassifikation der Arbeitenden, sondern auch der Arbeit an sich, das heißt des Arbeitsmarkts und der Berufe. Das bedeutet, »daß nicht nur die Arbeitenden ein Geschlecht haben, sondern auch die Arbeit geschlechtlich geprägt ist« (Gottschall, 1998, S. 63). Vom Gendering ist kein Bereich der Arbeitswelt ausgeschlossen: »Die Arbeitswelt ist nicht geschlechtsneutral. Vielmehr verteilen sich Männer und Frauen in westlichen Industriegesellschaften ungleich auf Berufe und betriebliche Hierarchieebenen. Dabei geht die horizontale und vertikale Segregation des Arbeitsmarktes mit markanten Benachteiligungen von Frauen im Hinblick auf Einkommen, innerbetrieblichen Aufstieg und Karrieremuster einher; zugleich unterscheiden sich Erwerbsbeteiligung und Erwerbsverläufe von Männern und Frauen.« (Gottschall, 2010, S. 671)

Erstens geht es also um horizontale Segregation, das heißt die »Aufteilung von Frauen und Männern in verschiedene Tätigkeitsbereiche« (Die folgenden Ausführungen entsprechen denen von Lenz & Adler, 2010, S. 202 ff.). Männer und Frauen sind nach wie vor ungleich in Berufsfeldern verteilt, obwohl die Beteiligung an Bildung und Erwerbstätigkeit von Frauen stetig ansteigt und die bessere Eignung von Mädchen und Frauen für das Bildungssystem mittlerweile unstrittig ist (differenztheoretisch hervorgehoben in Pinker, 2009). Für den Zeitraum von 1925 bis 1982 untersuchte Angelika Willms-Herget (vgl. Lenz & Adler, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

36  Kapitel I  Theoretische Grundlagen 2010, S. 204 in Bezugnahme auf Willms-Herget, 1985) die geschlechtliche Verteilung in 102 Berufsfeldern in der Bundesrepublik und fand heraus, dass die ungleiche Verteilung im gesamten Zeitraum von circa 60 Jahren überwiegend konstant geblieben ist. Insgesamt gibt es mehr Berufe, die in Erwartung stehen, von Männern ausgeübt zu werden, als »Frauenberufe«. Ihr Verhältnis zueinander beläuft sich auf 139 vermännlichten Berufsfeldern gegenüber 22 verweiblichten (Lenz & Adler, 2010, S. 207). Frauen arbeiten demzufolge in weniger beruflichen Feldern. Fast 40 % sind in weiblich konnotierten Berufen, vor allem als Bürofachkraft, Verkäuferin, Krankenschwester und Raum- und Hausratsreinigerin tätig. Als am stärksten vermännlichte Tätigkeiten gelten Bergbauberufe. Darüber hinaus schließen Männerberufe Frauen stärker aus, als Frauenberufe es gegenüber Männern tun. Der Anteil an Frauen in Männerberufen ist folglich geringer als umgekehrt. Untersuchungen von Frauen und Männern in Berufen, die ihnen qua Geschlecht nicht zugeschrieben werden, das heißt geschlechtsatypische Berufe, ergeben, dass diese Arbeit für Männer vorteilig, für Frauen jedoch nachteilig ist (Lenz & Adler, 2010, S. 208). Warum dieser Vorteil für Männer entsteht, ist dadurch erklärbar, dass sie geschlechtliche Unterschiedlichkeit selbst betonen, während Frauen in Männerberufen über externe Ausgrenzung mit dem Unterschied konfrontiert werden. Doch »(a)nders als Frauen profitieren sie von ihrer Geschlechtszugehörigkeit, die mit fachlicher Autorität, sachlicher Kompetenz und Führungsqualitäten assoziiert wird« (ebenda). Karl Lenz und Marina Adler (2010) resümieren deshalb, dass es in allen Berufsfeldern eine androzentrische Norm gibt: »In Frauenberufen ebenso wie in gemischtgeschlechtlichen Berufen scheint die männliche Norm […] ›Modellfunktion‹ zu haben. Dieser androzentrische Bias findet sich nicht nur in den strukturellen Merkmalen (z. B. Arbeitszeitnormen), sondern auch auf der kulturellen Ebene: Der symbolischen Darstellung der unbedingten Hingabe an den Beruf, Rationalität, emotionale Abgrenzung gegenüber Kollegen, Abspaltung der Bedürfnisse des Reproduktionsbereichs, Kleidungsstile oder auch maskuline Sprachformen.« (S. 210)

In allen Berufsfeldern finden sich also nach wie vor die in Abschnitt 2 aufgezeigten Erwartungen an Männlichkeit – Rationalität und Aktivität – und die damit begründete Eignung für Erwerbsarbeit. Die Erwartungen können deshalb als Geschlechternormen definiert werden, weil sie sowohl durch die Präsenz weiblicher Personen in Berufsfeldern als auch durch die konfligierenden Eigenschaften Passivität und Emotionalität zwar konfrontiert, aber trotzdem beibehalten werden (vgl. Abschnitt 1 in diesem Kapitel). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Berufsfelder und Hierarchie

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Dies trifft auch auf die vertikale Segregation zu, »die Ungleichheit der Geschlechter in der Berufshierarchie« (Lenz & Adler, 2010, S. 210). Seit der Öffnung der Erwerbsarbeit für Frauen, sind »Frauen und Männer ungleich in der Berufshierarchie anzutreffen […]. Frauen arbeiten in niedrigen Hierarchieebenen, haben schlechtere Chancen beruflich aufzusteigen und bekommen für ihre Tätigkeit weniger Geld« (Lenz & Adler, 2010, S. 202). Zum Teil wird diese Segregationsform also an Einkommensunterschieden abgelesen. Dass Frauen durchschnittlich fast 40 % weniger Lohn als Männer erhalten (die Angabe betrifft das Jahr 2005; vgl. Allmendinger, Leuze & Blanck, 2008, S. 24–25, zitiert von Lenz & Adler, 2010, S. 211), liegt an den niedrigeren Arbeitszeiten von Frauen in vornehmlich und schlecht vergüteten Dienstleistungsberufen – hier wirken horizontale und vertikale Segregation zusammen – und der brüchigen Konzeption von geschlechtsneutralen Tarifverträgen für Branchen (Lenz & Adler, 2010, S. 212). Des Weiteren gibt es in vermännlichten Berufen öfter Leistungsprämien. Aber auch eine kaum nachweisbare indirekte Lohndiskriminierung bewirkt einen geschlechtsbezogenen Erwerbsunterschied. Neben dem Einkommen unterscheiden sich auch die Karrierechancen von Frauen und Männern, das heißt der Aufstieg in Führungspositionen. Auch dies ist historisch an die Trennung der Sphären gebunden. Die bürgerliche Frau des 19. und 20. Jahrhunderts durfte ausschließlich die herrschende Position im Lebensraum »Haus, Küche und Kinder« (Weber-Kellermann, 1990, S. 209) einnehmen, war dem Mann jedoch auch dort, zum Beispiel finanziell, unterstellt. Diese Art der Leitung wurde als passend zu und legitim für ihrem/n »Geschlechtscharakter« empfunden. Hier führte sie den Haushalt bzw. das dafür vorgesehene Personal und die Kinder, war jedoch von öffentlichen (und gratifizierten) Leitungspositionen gänzlich ausgeschlossen: »Aus der Öffentlichkeit war die Bürgerfrau zunehmend ausgeschaltet und hatte ihre Fähigkeiten den Karrierewünschen ihres Mannes, der Erziehung ihrer Kinder und der Pflege ihres Heims zu widmen.« (Weber-Kellermann, 1990, S. 209)

Ingeborg Weber-Kellermann (1990) nennt diesen Typ innerer Leitung der bürgerlichen Familie und des Haushalts das »Geheimdienstmodell« weiblicher Herrschaft. Als Ideal diente es auch Arbeiterfamilien, für die es jedoch aufgrund mangelnder materieller Ressourcen zumeist unerreicht blieb (Weber-Kellermann, 1990, S. 216). Auch wenn es um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert durch den Mittelstand zur vermehrten Ermöglichung und Anerkennung weiblicher Erwerbstätig© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

38  Kapitel I  Theoretische Grundlagen keit kam, änderte dies nicht viel an der Tatsache, dass Frauen nun auch im Beruf eine »Hausfrauenrolle« oder »Mutterrolle« einnahmen. Zum Beispiel durch die nun berufsmäßige Beschäftigung mit Kindern als Grundschullehrerinnen oder bei Bürotätigkeiten, indem sie auch dort mit »Kaffekochen, Blumenschmuck hinstellen und pflegen, Schreibtisch des Chefs aufräumen« (Weber-Kellermann, 1990, S. 217) beschäftigt waren: »Sie nahmen das übliche Rollenspiel an, ohne seinen Unterwerfungscharakter zu erkennen. In der Bürohierarchie konnten sie zwar zur Chefsekretärin aufsteigen, aber der Weg in die eigentliche Führungsetage blieb ihnen zumeist verwehrt.« (ebenda)

Führung besitzt demgegenüber als männliche Tätigkeit in der Familie und der Erwerbsarbeit Tradition.8 Auch wenn die politische und gesellschaftliche Modernisierung des Geschlechterverhältnisses seit den 1960er Jahren deutlich voranschreitet, fallen in der heutigen Erwerbsarbeit für Frauen die Chancen auf den Aufstieg in Leitungspositionen immer noch durchgängig schlechter aus als für Männer.9 In den Spitzengremien der 200 größten Unternehmen waren von 2008 bis 2009 von 934 Personen 23 Frauen (2,5 %). Von 5,9 Millionen Führungskräften in Deutschland sind 34 % Frauen. Dabei bildet der höhere Beamt_innendienst das Schlusslicht (30 %), kurz nach der Privatwirtschaft (31 %) und in deutlichem Abstand zum öffentlichen Dienst (43 %) (Lenz & Adler, 2010, S. 213). Jedoch nicht nur vom Wirtschaftsbereich ist ein Unterschied im Gendering der Aufstiegschancen abhängig. Sie hängen auch von der Größe der jeweiligen Organisation ab. Die Verteilungsvarianzen ergeben, dass »je größer ein Unternehmen ist, desto niedriger ist der Frauenanteil in der Leitungsebene« (ebenda). Diese Schieflage wird mit einem »glass ceiling« bzw. »sticky floor«10 begründet. Im Dienstleistungs- und Gastgewerbe, im Gesundheits- und Sozialwesen bzw. Erziehungsbereich sind Frauen stärker vertreten als Männer. Ihre Aufstiegschancen sind hier ungleich besser als im vermännlichten Produktionssektor. Erklärungen für das gesamte Phänomen weiblicher Unterrepräsentanz in Führungspositionen stellen heraus, dass diese Positionen oft nicht mit Teilzeitarrangements bzw. familiärer Sorgearbeit vereinbar sind, sondern – im Gegenteil – die Arbeitszeit sich im Vergleich mit untergeordneten Tätigkeiten beträchtlich erhöht (diese Anwesenheitskultur hat auch Einfluss auf Väter, vgl. Gärtner, 2009). Wie damit deutlich wird, sind Führung und Geschlecht bereits strukturell vorbedingt, noch bevor darüber gesprochen wird. Aufgerichtet an den idealtypischen Erwartungen (vgl. Abschnitt 2 in diesem Kapitel), auf deren Basis die moderne Gesellschaft die Sphären Familie und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Gendering in der Interaktion

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Erwerbsarbeit bzw. innen und außen trennt, hat sich eine doppelte vergeschlechtlichte Struktur generiert: Es ist der »männliche« Mensch, der die aktive und rationale »Natur« inne hat, die zur Erwerbsarbeit und zum Führen nötig ist. Die Segregation der Arbeit ist eine der folgenreichsten Strukturen, die sich entlang der Unterscheidung weiblich/männlich stabil herausgebildet haben. Dass sich mit dieser Anordnung von Personen koevolutiv normative Erwartungen und institutionalisierte Strukturen entwickelt haben und wodurch wiederum kontinuierlich Nachteile für Frauen entstehen, dürfte deutlich geworden sein.11 Diese gesamtgesellschaftliche – wenn man so will: makrosoziologische – Perspektive setzt jede Interaktion in einen Kontext, in welchem soziale Ungleichheit entlang der Geschlechterdifferenz bereits strukturell besteht. Es kann deshalb nicht angenommen werden, dass Interaktionen über Geschlecht in einem neutralen Rahmen stattfinden.

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Gendering in der Interaktion

In den vorangegangenen Abschnitten habe ich gezeigt, wie Geschlechternormen als »Geschlechtscharaktere« soziale Ungleichheitsstrukturen in Gesellschaft und Arbeitsorganisationen begründen und damit die Kulissen für das liquidere Format der Interaktion errichten (zur Unterteilung von Gesellschaft, Organisation und Interaktion als sinnhafte Sozialsysteme vgl. Luhmann, 1984). Für Supervision/Coaching als kommunikatives Ereignis spielt die Beziehung von Geschlechternormen zu sozialen Situationen eine Rolle, das heißt »in Umwelten, in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, dass sie aufeinander reagieren können« (Goffman, 2001b, S. 55). Die wesentliche Bedingung für soziale Situationen, wie die klassische Beratungssituation eine ist, ist die »körperliche Kopräsenz« (Goffman, 2001b, S. 61). Durch die körperliche Anwesenheit und dadurch die Möglichkeit von Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit (dazu im Gegensatz steht etwa Onlineberatung) erlangt Supervision/Coaching einen »psychobiologischen Charakter« (Goffman, 2001b, S. 57). Das Alter Ego wird in der Beratung gleichzeitig gesehen, gehört, gerochen, eventuell gefühlt, wohl kaum geschmeckt – und umgekehrt, Ego, ebenfalls. Das kommunikative Prozedere, welches in solcherart bedingten sozialen Situationen vonstattengeht, ist Interaktion. Sie liegt dann vor, »wenn sich Individuen in ihrem Erleben und Handeln auf das Erleben und Handeln der anderen beziehen, die im gleichen Kontext anwesend sind« (Scherr & Peuckert, 2010, S. 119). Interaktionen sind wegen der Bedingungen der Anwesen© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

40  Kapitel I  Theoretische Grundlagen heit und Aufmerksamkeit (»monitoring«) zeitlich und sozial begrenzt (Knoblauch, 2001, S. 3), denn nur zwischen wenigen Personen ist gleichzeitig eine Interaktion möglich. Sie können, müssen aber nicht, in eine dauerhafte soziale Beziehung eingebettet sein. Auch von Organisationen und größeren sozialen Gebilden sind sie in ihren Bedingungen und ihrer Regelhaftigkeit zu unterscheiden, obgleich sie mit ihnen einhergehen (Scherr & Peuckert, 2010, S. 120). Supervision/Coaching als Arbeit ist in höchstem Maße als Interaktion zwischen anwesenden, aufmerksamen, sich aufeinander beziehenden Personen organisiert.12 Mit den Merkmalen der Interaktion ausgestattet, interessiert Supervision/Coaching deshalb als mögliches Arrangement geschlechtsbezogener sozialer Ungleichheit: »(Der soziologisch interessante Aspekt an einer benachteiligten Gruppe ist nicht die Schmerzlichkeit ihrer Benachteiligung, sondern der Einfluß der Sozialstruktur auf die Entstehung und Stabilität der Benachteiligung.) Der interessante Punkt ist also nicht, daß Frauen weniger bekommen, sondern in welchen Arrangements dies geschieht und welche symbolische Bedeutung diesen Arrangements zukommt.« (Goffman, 2001a, S. 117)

Geschlechtsbezogene Arrangements beziehen sich darauf, »wie Frauen und Männer durch die Interaktion platziert werden« (Knoblauch, 2001, S. 9). Sie sind damit Teil einer Interaktionsordnung, das heißt jener »Räume, Gelegenheiten und Zusammenkünfte, in denen die Individuen – in unmittelbarer körperlicher Gegenwart anderer bzw. in Orientierung und Wechselwirkung mit diesen anderen – einen Arbeitskonsens über die Beschaffenheit der Wirklichkeit herstellen« (Hettlage, 1999, S. 190). Es handelt sich um verhandlungsförmige Aufführungen der Realität, eine »negotiated order« (zum Begriff vgl. Strauss, 1978 und Strauss, 1993). Verhandlungen darüber, was die Realität ist, geschehen über die Deutung von Gesten der anwesenden Personen, das heißt von signifikanten Symbolen 13. Die Prämisse dieser Perspektive des symbolischen Interaktionismus ist folglich auch, dass der Sinngehalt von sozialen Handlungen nicht direkt erfasst, sondern nur gedeutet werden kann. Dabei sind die »wirklichen« Absichten bzw. der »wirkliche« Sinn von Handlungen stets intransparent, auch oft für die/den Handelnde/n selbst.14 Die Beteiligten sind und bleiben in diesem Verständnis Unbekannte für einander, solange sie einander auch kennen und so nah sie sich geistig und/oder emotional auch fühlen mögen.15 Als zentraler Prozess in Interaktionen gilt deshalb die Antizipation und Interpretation von Erwartungen des/der anderen. Diese werden von den Interagierenden anhand symbolischer Gesten des vis-à-vis geleistet. Da dieser Interpretationsprozess der Realität und damit eine Verständigung grundsätzlich sehr brüchig sind, bedürfen Deutungen der ständigen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Rhetorische Modernisierung und institutionelle Reflexivität

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Darstellung (Hettlage, 1999, S. 196). Neben nichtsprachlichen Gesten, wie Körperausdruck, Mimik, Gestik, Kleidung etc., geschieht dies vor allem mittels vokaler Gesten (Mead, 1968, z. B. S. 85, 100 ff., 409 f.)16, das heißt durch Sprache: »Jeder Handelnde lernt mit Hilfe von durch Kommunikation erworbenen Symbolsystemen (insbes. Sprache) die Erwartungen und möglichen Reaktionen des Anderen zu antizipieren und bei der Steuerung des eigenen Handelns zu berücksichtigen.« (Scherr & Peuckert, 2010, S. 120)

Die Herstellung der Geschlechterdifferenz durch das Verhandeln von unterschiedlichen Erwartungen an »Weiblichkeit« bzw. »Männlichkeit« findet auch in Interaktionen und dort auch mittels vokaler Gesten statt. Hier stellt sich die Frage wie Personen, die an der Interaktion teilnehmen oder über die in der Interaktion gesprochen wird, gemessen an ihrer zugewiesenen Geschlechtskategorie in der Interaktion platziert werden. Mit welchen Erwartungen wird ihr Geschlecht assoziiert? Wird ihr Geschlecht in diesem Zusammenhang ab- oder aufgewertet? Und wie wird ihr Geschlecht gemeinsam mit bestimmten Rollen oder Positionen, die sie einnehmen – hier: Führung – verbunden?

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Rhetorische Modernisierung und institutionelle Reflexivität – Verschränkung von Interaktion und Struktur

Das offene Reden über Erwartungen an Geschlecht findet jedoch nach den Beobachtungen Angelika Wetterers (2003) zu großen Teilen nicht (mehr) offen statt, während Geschlecht immer noch strukturbildend für soziale Ordnung ist, wie in den Abschnitten 2 und 3 gezeigt wurde.17 Auch Christine Weinbach (2004) weist darauf hin, dass sich zunehmend die Norm etabliert, dass keinen Unterschied mehr machen dürfe, was keinen Unterschied macht: »Alle können, unabhängig von Geschlecht oder sozialer Schicht, etwas kaufen, heiraten, wählen oder wohlfahrtsstaatliche Leistungen erhalten, einen Gottesdienst besuchen, an Bildung teilhaben, etc. Diese Annahme macht es unmöglich, in Geschlecht oder sozialer Schicht ein ›Strukturprinzip‹ dieser modernen Gesellschaft zu sehen. […] Entsprechend muß davon ausgegangen werden, dass weder eines der beiden Geschlechter noch eine soziale Schicht oder Klasse Repräsentant dieser Gesellschaft sein kann […]« (Weinbach, 2004, S. 9)

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42  Kapitel I  Theoretische Grundlagen Wetterer diagnostiziert, dass Geschlechternormen nicht mehr explizit zum Thema werden, sondern nur noch latent wirksam sind (Wetterer, 2003, S. 299). Dadurch sind sie schwerer zu erkennen, wie auch ihre Problematisierung und Kritik schwieriger geworden ist. Besonders in individualistischen urbanen Milieus, die hohe Ansprüche an Gleichheit, Selbstverwirklichung und Individualisierung pflegen (Wetterer, 2003, S. 298), ist das beobachtbar, was Wetterer rhetorische Modernisierung nennt. Damit meint sie die eklatante Kluft zwischen dem Schweigen über bzw. der Verleugnung der Geschlechterdifferenz einerseits und den Strukturvorgaben andererseits, die sich immer noch – nun aber latent – an Geschlechternormen orientieren: »Eine ganz erhebliche Diskrepanz besteht insbesondere zwischen dem, was im Horizont des alltagsweltlichen Differenzwissens thematisierbar ist, und dem, was nicht zur Sprache kommt, aber u. a. in Gestalt latenter Geschlechternormen und institutionalisierter Strukturvorgaben weiterhin das soziale Handeln bestimmt.« (Wetterer, 2003, S. 290)

Rhetorische Modernisierung meint damit ausschließlich die »Modernisierung des diskursfähigen Differenzwissens« (ebenda), die den Strukturen vorausgeeilt ist und fälschlicherweise für die gesamte »Geschlechterrevolution« gehalten wird. Sie macht vor allem die soziale Ungleichheit der Geschlechter unsichtbar (Wetterer, 2003, S. 296). Mit der Modernisierung der Diskurse, »verändert sich nicht nur das Reden über die Geschlechter, sondern auch das Schweigen; verschiebt sich die Grenze zwischen dem, worüber sich sprechen, und dem, worüber sich nur Stillschweigen bewahren lässt« (Wetterer, 2003, S. 290). Mit Wetterer soll dabei nicht geleugnet werden, dass der Lebenslauf vieler Menschen in der modernen Gesellschaft mit weitreichenden geschlechtlichen Gleichheitserfahrungen beginnt, die bis zum Ende von Schul-, Berufsausbildung bzw. Studium reichen. Dass diese Gleichheitserfahrungen lebensphasenspezifisch sind (Wetterer, 2003, S. 305), zeigt sie an zwei biografischen Schwellen, an denen Re-Traditionalisierungen und geschlechtliche Asymmetrisierungen stattfinden. Diese Schwellen sind (a) der Übergang vom Bildungssystem in die Berufsausbildung bzw. die Einmündung in den Beruf nach der Ausbildung und (b) die Familiengründung (Wetterer, 2003, S. 305–307). Die erste Schwelle zeigt eine Re-Traditionalisierung durch die Wahl des Berufs an, das heißt das, was in Abschnitt 3 als horizontale Segregation beschrieben wurde und zuungunsten von Frauen wirksam ist. Zu 70 % ist diese Wahl immer noch als geschlechtstypisch zu klassifizieren (Wetterer, 2003, S. 305). Eine zweite Schwelle, die die Tendenz einer Re-Traditionalisierung annimmt, ist die Familiengründung und hier vor allem die Geburt des ersten Kindes. Es sind bei heterosexu© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Rhetorische Modernisierung und institutionelle Reflexivität

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ellen Paaren weiterhin zum Großteil die Mütter, die ihre Berufstätigkeit dafür unterbrechen und danach in Teilzeit arbeiten. Dass dafür rational nach Verdienst erwogen wird, wer Zuhause bzw. in Teilzeit bleibt, ist Teil der Verwobenheit sozialer geschlechtlicher Ungleichheit in Struktur und Interaktion. Damit ist gemeint, dass diese zweite Schwelle durch die erste bereits so vorstrukturiert ist, dass in den meisten Fällen die Frau schlechter verdient – weil sie eine entsprechende frauentypische Berufswahl getroffen hat – und entsprechend die schlecht bzw. nicht entlohnte Reproduktionsarbeit ausfüllt. Wetterer zeigt, dass diese biografische Schieflage in den Familien durch deren »Schatten-Institutionen« wie Kindergärten, Ämter etc. erheblich gestützt wird (Wetterer, 2003, S. 306): »Die Familie ist nicht nur eine Support-Institution für den beruflichen Lebenslauf der Männer. Sie hat auch Support-Charakter für das Bildungssystem und das Gesundheitswesen, für Teile der öffentlichen Verwaltung und private Freizeiteinrichtungen, für bürgerschaftliches Engagement und den Einzelhandel. Die Schatten-Institutionen vermehren die Managementaufgaben der Familie und arbeiten allen ›Versuchen der Reduzierung von Ungleichheit im Geschlechterverhältnis entgegen‹« (Krüger, 1995, S. 281 in Wetterer, 2003, S. 307)

Anhand der lebensphasenspezifischen Gleichheit bzw. Ungleichheit wird weiterhin deutlich, dass Institutionen bzw. Strukturen das Reden über Geschlecht und Arbeit bedingen und umgekehrt. Die Strukturen bilden dabei gleichsam die Kulissen für die Inszenierung eines bipolaren und ungleichwertigen Geschlechts, während die Interaktionen bzw. die Aufführung wiederum auf die Strukturen zurückwirken.18 Wetterer nimmt für diese Wechselbeziehung den Goffman’schen Begriff der institutionellen Reflexivität auf. Die Unterscheidung entlang der Geschlechtsachse und die unterschiedliche Bewertung der beiden Pole finden demnach gleichzeitig in Interaktionen und Strukturen statt, die sich wechselseitig stützen: »Die Geschlechterarrangements, deren institutionelle Reflexivität Goffman herausarbeitet, stellen institutionalisierte Reproduktionsformen der Geschlechterunterscheidung dar, die die Strukturen des Geschlechterverhältnisses auf die Meso-Ebene übersetzen und soziale Situationen so vorstrukturieren, dass diese sich in Kulissen für die interaktive Validierung der Geschlechterdifferenz verwandeln« (Wetterer, 2003, S. 293–294)

Die Verzahnung von Interaktionen und deren vorstrukturierenden Institutionen ist so »passgenau«, dass »sich der Zirkel der institutionellen Reflexivität ein ums andere Mal« schließt, »die Effekte sozialen Handelns und sozialer Institutionalisierung aus der Sicht der Gesellschafts© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

44  Kapitel I  Theoretische Grundlagen mitglieder unaufhörlich neue Beweise [sind], dass die Differenz der Geschlechter jeder sozialen Praxis voraus- und zu Grunde liegt, dass sie natürlich und selbstverständlich ist und keiner weiteren Begründung bedarf« (Wetterer, 2003, S. 295). Auch bei Führung handelt es sich, wie ich zeigen werde, um eine institutionalisierte Struktur, die die Aufführung von Geschlechterunterschieden in Interaktionen bedingt.19 Auch sie stützt das »zeitgenössische Differenzwissen«, das »Alltagswissen, das die ›normalen‹ Gesellschaftsmitglieder über die Unterschiedlichkeit der Geschlechter und die Kompetenzen, Zuständigkeiten und Obligationen von Frauen und Männern haben« (Wetterer, 2003, S. 291). Führung kann in diesem Verständnis nicht als neutral gelten, sondern sie hat, wie wir sehen werden, ein vorrangig »männliches« Geschlecht. In Interaktionen von Leitungssupervision und -coaching, in denen die Regeln für Führung erwartbar dicht verhandelt werden, sind »die Sedimente und Spuren der ›alten Verhältnisse‹« (Wetterer, 2003, S. 289–290) zu erkennen. Die Führung durch »männliche« Personen wird durch die Sprecher_innen als Normalität aufgeführt, während »weibliche« bzw. »nichtmännliche« besondert und als ausschlusswürdig klassifiziert werden. Zu dieser Aufführung tragen sinnlich-anschauungsbezogenen Erfahrungsschemata bei.

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Sinnlich-anschauungsbezogene Erfahrungsund Erwartungsorganisation in vokalen Interaktionen

Eine zentrale Rolle in mit Geschlecht verwobenen interaktiven Deutungsprozessen spielen Erfahrungsschemata in Sprachbildern. In ihnen werden vor allem latente Geschlechtsnormierungen von institutionalisierten Strukturen sichtbar, weil Sprachbilder weniger gut steuerbar sind als offene Geschlechtsthematisierungen. Gerade in den Interaktionen von Therapie, Supervision, Coaching und Organisationsberatung werden Metaphern absichtlich eingesetzt, um Problemdiagnosen und Perspektivenerweiterungen fassbarer und nachhaltig wirksamer zu machen (vgl. etwa eine Zusammenfassung von Kriegs- und Tiermetaphern der Führung in Neuberger, 2002, S. 136 ff.). Das Repertoire von Berater_innen und entsprechende Weiterbildungsliteratur zum Einsatz von Metaphern ist dementsprechend weitreichend.20 Innerhalb der kognitiven Linguistik unterscheiden George Lakoff und Mark Johnson (2008) das, was in einem engeren Sinne unter einer Metapher verstanden wird – nämlich bildhafte poetische bzw. rhetorische Worte – von einem weiter gefassten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Erfahrungs- und Erwartungsorganisation in vokalen Interaktionen

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Metaphernverständnis in unserer Alltagsprache. Damit schließen sie an die Denktraditionen von Giambattista Vico und Friedrich Nietzsche an, die davon ausgingen »dass nicht-metaphorisches Sprechen so gut wie unmöglich ist« (Buchholz & von Kleist, 1997, S. 50). Im Gegenzug zu absichtsvoll verwendeten Metaphern, geht mit dieser Beobachtung die Erkenntnis einher, dass wir uns der meisten Metaphern in unserer Sprache nicht bewusst sind. Dabei besteht unsere Sprache sogar zum überwiegenden Teil aus Indexen für dahinter liegende metaphorische Konzepte: »Offenbar ist unser gesamtes Denken und Sprechen im Alltag wie in der Wissenschaft durchzogen von metaphorischen Verweisungen, die auf Bedeutungen anspielen, die in der Rede manifest gar nicht vorkommen müssen oder aber als Metaphern gar nicht mehr erkannt werden.« (Buchholz & von Kleist, 1997, S. 52)

Metaphern übertragen in diesem weiteren Verständnis Bedeutungen aus einem Bereich auf einen anderen (Lakoff & Johnson, 2008, S. 11 ff.), sind aber zugleich mehr als schlichte Vergleiche oder Übersetzungen bzw. Ähnlichkeitsrelationen21. Nach Lakoff & Johnson (vgl. auch Buchholz & von Kleist, 1997, S. 53) liegt eine Metapher vor, wenn drei Kriterien erfüllt sind: »a. wenn ein Wort/eine umschriebene Textpassage in einem strengen Sinn mehr als nur wörtliche Bedeutung für einen umschriebenen Kontext hat […] b. wenn zusätzlich die wörtliche Bedeutung aus einem prägnanten Bedeutungsbereich (Quellbereich) entstammt […] c. und diese auf einen zweiten, oft abstrakteren Bereich (Zielbereich) übertragen wird […]« (Schmitt, 2007, S. 139)

Michael Buchholz und Cornelia von Kleist (1997) sprechen neben »einem bildgebenden und einem bildempfangenden Bereich [Hervorhebungen im Original].«, zusätzlich von einer »Brücke« bzw. von einer »metaphorischen Projektion«22 zwischen beiden. In dieser Studie wird der bildgebende als Quellbereich und der bildempfangende Bereich als Zielbereich bezeichnet. Wenn Wertschätzung für eine Führungsleistung beispielsweise in einem der Fälle in Kapitel IV als »Ritterschlag« bezeichnet wird, dann ist der »Ritterschlag« der bildgebende bzw. Quellbereich, die Anerkennung als Führungskraft hingegen der bildempfangende bzw. Zielbereich. Wie am Beispiel des »Ritterschlags« deutlich wird, werden Führung und Leitung durch den Quellbereich bzw. im metaphorischen Konzept des Kampfes gedeutet. In den Kapiteln IV und V wird gezeigt, wie noch weitere einzelne Metaphern zu diesem Quellbereich gehören und gemeinsam ein metaphorisches Konzept23 anreichern. Auf die fast © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

46  Kapitel I  Theoretische Grundlagen 2000 Jahre währenden erkenntnistheoretischen Debatten um Metaphern, die Anknüpfung der Metaphernanalyse in diversen sozialwissenschaftlichen Fächern (vgl. dazu Schmitt, 2007, S. 137–156) sowie die umfassende Darstellung der kognitiven Linguistik verzichte ich hier. Der Schwerpunkt liegt vielmehr darauf, zu zeigen, dass sich Annahmen der Metapherntheorie nach Lakoff & Johnson mühelos in den hier gewählten theoretischen Zugang einfügen. Dies geschieht dadurch, dass metaphorische Konzepte die Funktion von sozialen Rahmen, wie sie von Goffman (1993, bspw. S. 19) beobachtet werden, übernehmen, mittels derer ein Phänomen – hier: Führung – in der Beratungsinteraktion von Supervision/Coaching gedeutet wird (Dass in der Psychotherapie die Auftragsklärung Teil eines Rahmungsprozesses ist, erläutert Hildenbrand, 1999). »Soziale Rahmen […] sind gemeinsam geteilte Orientierungsmuster, denen ein Definitionsvorgang von Menschen zugrunde liegt, z. B. ob man eine Situation als Spiel oder Wettkampf definiert. Rahmungen setzen kulturell geteilte Deutungsmuster voraus, bedürfen aber darüber hinaus der anwendungsbezogenen Interpretation durch die Interaktionsteilnehmer.« (Hettlage, 1999, S. 195)24

Dadurch wird ein Phänomen nicht nur diagnostisch eingeordnet, sondern es wird auch Orientierung angeboten, was das Handlungsspektrum angeht: »Kniet« man zum Ritterschlag »nieder« oder empfindet man sich nicht als »würdig« und zeigt einen erneuten »ehrenvollen Kampf«? Innerhalb dieses Rahmens ist es hingegen kaum möglich »ein dickes Brett zu bohren« oder sich um sich selbst »zu sorgen«. An diesem Beispiel wird deutlich, dass durch den Rahmencharakter von Metaphern nicht nur subjektiv gemeinter Sinn vermittelt wird. Für Beratung relevant, stellen Rahmen »Systeme von Prämissen für die Einschätzung von Situationen« (Hildenbrand bezieht sich hier auf den Rahmenbegriff Gregory Batesons, vgl. Hildenbrand, 1999, S. 125) das heißt Regeln dafür dar, welche Handlungsweisen ausgeschlossen und welche bevorzugt werden sollten. Personenorientierte Beratung ist immer Metakommunikation (Hildenbrand, 1999, S. 125) und damit Kommunikation über Rahmen und die darin implizierten Regeln. Die Kommunikation über Rahmen stellt die zentrale Orientierungsleistung von Supervision/Coaching dar und demzufolge auch die Kommunikation in Metaphern. Damit sie ihre Orientierungsfunktion als Rahmen erfüllen können, nehmen Metaphern immer Bezug auf gesellschaftlich lebensweltliche Bedingungen. Sie dienen als Deutungsrahmen für abstrakte erklärungsbedürftige Konzepte, wie sich etwa an der Bezeichnung eines Leiters als archetypischer »Held« – analog zum »Ritter« – einer Organisation (vgl. Neuberger, 2002, S. 109 ff.) zeigt, der damit durch die Lebenswelt des Kampfes gedeutet wird. Die gegenwärtige gesellschaftliche Struktur und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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das gesamte kollektive Gedächtnis einer Kultur (vgl. Assmann, 1988) bieten über Metaphern offenkundig Deutungshilfen an und sind somit nicht nur Umfeld von Interaktion, sondern ihr grundlegendes Element. Mit gesellschaftlicher Struktur, die soziale Rahmen für Quellbereiche von Metaphern bereitstellt, hält damit aber auch geschlechtliche Segregation Einzug in die Konstitution von Interaktionen (vgl. Kapitel IV und V). Die institutionelle Reflexivität ist also nicht nur zwischen Interaktion und gesellschaftlicher Struktur beobachtbar, sondern kommt auch über Metaphern innerhalb der Interaktion wieder vor. Metaphorische Konzepte schaffen es allgemein gesehen, anhand des Transfers anderer lebensweltlicher Rahmen, zur Lösung des Problems der Handlungsunsicherheit beizutragen. Dies kann weiter konkretisiert werden durch die zwei Merkmale der empirischen Historizität und der Sensualität. Mit der Historizität der Metaphern ist, erstens, ihre Begründung in Vergangenem, Erlebtem, Erfahrenem gemeint. Jede Metapher ist in der Vergangenheit verankert, die Struktur ausgebildet hat und als Erfahrung erkennbar wird.25 Jedes Prozessieren sozialer sinnhafter Realität weist das Merkmal auf, auf der Basis von Erfahrungen, Erwartungen auszubilden. Mit der Konstruktion von Realität – hier: Geschlecht in Verschränkung zu Führung – kann also nicht gemeint sein, »ins Blaue hinein« zu konstruieren.26 Stattdessen findet jede Konstruktion immer auf der Basis von Erfahrungen statt. Die Besonderheit der Metapher als Form liegt darin, dass ihre Bezüge in die Vergangenheit, aufgrund derer sie Gegenwärtiges deutet, noch erkennbar sind. Ganz explizit beziehen sich Metaphern folglich auf regelhafte Erfahrungsschemata, um dem Problem zu begegnen, dass etwas Gegenwärtiges Deutungsunsicherheiten auslöst. Als »Organisation von Alltagserfahrungen« können Erfahrungsschemata nach Alfred Schütz äquivalent zu Erving Goffmans sozialen Rahmen gesehen werden.27 Beide sind sich darin einig, dass zumeist verschiedene Interpretationsschemata gleichzeitig und einander überlagernd in der Interaktion verwendet werden (Eberle, 2000, S. 91).28 In ihrer Begründung in Erfahrungen29 schließen Metaphern dabei – wie wir gesehen haben – selbstverständlich Traditionen und Normen wie die Segregation ein, ein Umstand, der sich für Modifikationen von Geschlechternormen als schwierig erweisen kann. Auf der Basis von kollektiv geteilten Erfahrungen wird jedoch zukünftige Orientierung möglich, in Form von antizipatorischer Erwartung (vgl. Abschnitt 1 in diesem Kapitel). Die zweite Grundlage dafür, dass Metaphern zur sinnhaften Deutung beitragen, ist ihre »sinnlich-anschauliche« (Buchholz & von Kleist, 1997, S. 57 f.) Gestalt. In einer Metapher wird ein Konzept auf ein anderes übertragen. Die Übertragung verläuft dabei von einem Konzept, wel© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

48  Kapitel I  Theoretische Grundlagen ches »sinnlich-anschaulich« ist, auf ein Konzept, welches abstrakt ist und der Bewertung, Einordnung und Orientierung bedarf. Sinnlichanschauliche Erfahrungen sind oftmals lebensgeschichtliche Primärerfahrungen.30 Jedes metaphorische Konzept fußt so auf Ereignissen, die gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen oder ertastet wurden, kurz: auf erfahrener Wahrnehmung (zur Verschränkung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Kommunikation vgl. Luhmann, 1984, S. 331 ff.). Wie ein solcher Rekurs auf erfahrene Wahrnehmung verstanden werden kann, zeigt eine Äußerung der Klientin im Fall A. Sie beschreibt den abstrakten Bereich »Konfusität« (Zielbereich) damit, dass sie »hinten und vorne« »nicht« »durchblickt« (Fall A, 174). Mit der Verwendung dieser Metapher macht sie dreierlei klar: dass sie (a) die Erfahrung des Sehens kennt, (b) die Erfahrung kennt, dass ein Gegenstand mit einem »hinten« und einem »vorne«, etwa ein Päckchen, undurchsichtig ist und (c) dieses Wissen bei der Beraterin voraussetzt. Letzteres deshalb, weil es sonst keinen Sinn machen würde, dies der Beraterin als Deutungsschema zur Verständigung darüber anzubieten, was »Konfusität« ist. Metaphern fußen also zunächst auf subjektiven Wahrnehmungserfahrungen. Dennoch sind metaphorische Konzepte gleichzeitig kollektive Erfahrungsschemata. Sie sind in dem Sinne kollektiv, insofern sie von Interagierenden wechselseitig verhandelt bzw. geteilt werden (sharing) (Zu entsprechenden Schlussfolgerungen für die Auswertung des Materials vgl. Kapitel III). Dies ist nicht immer der Fall. Ihre Deutungspotenz gewinnen sie subjektiv und kollektiv jedoch gleichermaßen damit, dass sie die gedeuteten Gegenstände bewerten. Denn außer dem sinnlich-anschaulichen Bezug auf Erfahrung haben Metaphern die Eigenschaft, am Beschriebenen Eigenschaften zu betonen (bzw. zu verbergen). Kommen wir auf das Beispiel des »Ritterschlages« zurück. Durch das Konzept des (Ritter-)Kampfes werden Mut, Kunstfertigkeit im Umgang mit Waffen, Ehrenhaftigkeit, Zugehörigkeit zu einer Elite etc. als Fähigkeiten hervorgehoben, die eine Führungskraft scheinbar aufweist. Im Gegenzug werden Feigheit, Inkompetenz, eventuell Niedertracht, Vereinzelung usw. ausgeblendet. Solche Hervorhebungen werden als Highlighting bezeichnet (Schmitt, 1997) und im Zuge dieser Untersuchung dafür verwendet, Eigenschaften, die von Führungspersonen erwartet werden, herauszufiltern (mehr zur Methodik in Kapitel III). In Bezug auf das einleitende Zitat zu Beginn dieses Kapitels wird darüber hinaus vor allem interessieren, ob und wenn ja, welche Metaphern es gibt, die auf »verschiedene Erfahrungen« von als »weiblich« bzw. »männlich« zugeordneten Personen rekurrieren und damit »Erwartungen« an Führung geschlechtlich färben können. Anhand welcher Erfahrungsschemata aus geschlechtlich segregierten sozialen Räumen wird Führung als hoch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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abstraktes und unsicherheitserzeugendes Konzept in der Supervision/im Coaching von beiden Sprecher_innen gedeutet? Bevor ich dazu komme, ist es jedoch notwendig, darüber Auskunft zu geben, welche Forschung dieser Studie vorausgeht (Kapitel II) und wie ich methodisch in der Untersuchung vorgegangen bin (Kapitel III).

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Kapitel II  Stand der Forschung zum Verhältnis von Geschlecht und Supervision bzw. Coaching

Das Forschen ist an sich schon beinah die Entdeckung. Man findet immer, wenn man innig genug sucht; auf jede dringlich gestellte Frage kommt schließlich die Antwort. Oft zu unserem Schmerz. Klaus Mann (1952, S. 42)

Im Zeitraum der Untersuchung gab es zur Forschungsfrage, inwiefern in Führungscoachings Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht und normativ verhandelt wird, keinerlei empirische Forschung, die ihr vorausging. Insofern blieb meine Recherche eines Forschungsstands – im Sinne des obigen Zitats von Klaus Mann – schmerzfrei. Dies war jedoch insofern erstaunlich, als erstens seit den 1990er Jahren Geschlecht als zu wenig analysierter Phänomenbereich (Scheffler, 2005) innerhalb der deutschsprachigen Supervisions- bzw. Coachingszene formuliert wird: überwiegend als Problem und Möglichkeit bei der Beratung von Frauen (Edding, 2000, von Passavant, 2000, Schreyögg, 2001a, Schreyögg, 2001b, Siegl, 2003, Moser, 2006), in Einzelfällen auch als Plädoyer für ein männlichkeitsreflexives Coaching (Krell, 2001, Engelhardt, 2001) bzw. als Kritik an Coaching im Sinne einer Männlichkeitskritik (Liska, 2006). Reflexiv behandelt wird diese Problematik in Form von Praxisberichten (bspw. Ebbecke-Nohlen, 1993) und theoretischen Artikeln mit Fallbezügen (bspw. Martens-Schmid, 2006 und 2007). Zweitens ist Führung und Leitung in der Praxis der Supervision bzw. im Coaching ein zentraler Problembereich, wie die zahlreichen Veröffentlichungen in der Fachliteratur zeigen (bspw. Schreyögg, 2008, Jüster, Hildenbrand & Petzold, 2005, von Bose, Martens-Schmid & SchuchardtHain, 2003). Zu einer empirischen und systematischen Untersuchung der interaktiven Aushandlung beider koinzidierender Phänomene – Führung und Geschlecht – in Leitungssupervision/-coaching, kam es jedoch seit der Formulierung dieses geschlechtsbezogenen Problembewusstseins nicht. In Anbetracht der defizitären Lage von Supervisions- und Coachingforschung im Allgemeinen, die sich nur langsam durch Bemühungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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von Berufsverbänden, wissenschaftliche Arbeiten zu Supervision und Coaching fachlich als auch monetär zu unterstützen, verändert, wundert dieser Umstand weniger. 2003 untersuchten Hilarion Petzold, Brigitte Schigl, Martin Fischer & Claudia Höfner den Forschungs- und Wissensstand zur Supervisionsforschung im deutschen bzw. angloamerikanischen Sprachraum. Sie wiesen eingehend darauf hin, dass die Menge der Forschung und darüber hinaus deren Erkenntnistiefe mehr als ungenügend sei. Das Thema Coaching wurde von den Autor_innen als »junges Forschungsgebiet« der Supervisionsforschung bezeichnet. Hiermit gab es bis 2003 allgemein noch weniger wissenschaftliche Beschäftigung als mit dem Thema Supervision, die sich zudem auf die Schilderung von Einzelfällen aus der (Non-Profit-)Praxis beschränkte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat sich an diesem 2003 beschriebenen Zustand der Supervisions- und Coachingforschung nur wenig geändert. Die Schlussfolgerung der Autor_innen hat aus diesem Grund weiterhin Gültigkeit: »Es wird Grundlagenforschung notwendig sein, die jedoch auch auf die in der Supervisionsforschung schon (kärglich) vorhandenen Ergebnisse rückgreifen kann« (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003, S. 81). Wie ich bereits erwähnte, gibt es keine Vorläuferstudien zur Interaktion zwischen Führungskräften und Supervisor_innen/Coaches aus der Perspektive von Doing Gender. Aus diesem Grund wird im Folgenden die wenige Forschung dargestellt, die sich erstens mit Unterschieden aufgrund der Geschlechtskategorien der Sprechenden während der Interaktion in Supervisionen beschäftigt, ohne Führung thematisch bzw. durch entsprechende Klientel im Fokus zu haben. Diese Studien reduzieren ihre Perspektive ungewollt auf das, was bereits als »Geschlechtskategorie« definiert wurde (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1). Sie gehen zumeist von der Annahme der naturbedingten Existenz von – ausschließlich – »Frauen« und »Männern« aus. Das Soziale an Geschlecht, das heißt seine Eigenheit, sich prozesshaft zu organisieren und entlang von Normen ausgehandelt zu werden (»negotiated order«), sprich: die Perspektive eines Doing Gender, nehmen sie nicht in den Blick. Dieser erste Teil des Forschungsstandes ist im angloamerikanischen Sprachraum durchgeführt und veröffentlicht worden. Supervision wird in diesem Sprachraum, abweichend vom deutschen Begriffsgebrauch, im Verständnis von entweder beaufsichtigenden Tätigkeiten in Organisationen oder aber von didaktischer Kontrolle bei der Therapeut_innenausbildung (Lehrsupervision) verwendet. Im deutschen Sprachraum wird mit Supervision hingegen eine allgemeine berufsfördernde und -reflektierende Beratungstätigkeit bezeichnet, eingeschlossen die Supervision angehender Therapeut_innen (zur Abgrenzung vgl. Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003), die sogenannte Lehrsupervision. Da in dieser Studie die beratungsbezogene Idee von Supervision © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

52  Kapitel II  Stand der Forschung im Fokus steht, habe ich ausschließlich die angloamerikanischen Studien für eine Darstellung ausgewählt, die Supervision als Lehrsupervision fokussieren. Essays, Praxisbeschreibungen und Erfahrungsberichte zum Thema, die nicht empirisch arbeiten, – einschlägige Monographien fehlen bislang1 – habe ich als nicht zum Forschungsstand zugehörig definiert. Zweitens stelle ich die Forschung dar, die über Interviews, aber auch zum Teil über nicht explizierte Befragungsmethoden, sowohl mit Supervisor_innen/Coaches als auch mit Supervisand_innen versuchen, Geschlechtsaspekte zu beschreiben, die für die Beratung eine Rolle spielen. Da die Interaktion zwischen den Akteur_innen mit diesen Methoden nicht beobachtet werden kann, verfahren diese Studien anders, als meine Forschungsfrage es erfordert. Sie stellen dennoch einen Teil der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas Geschlecht im Kontext Supervision bzw. Coaching dar. Drittens stelle ich eine Studie vor, die sich mit den Gründen weiblicher Führungskräfte, ein Coaching in Anspruch zu nehmen, befasst. Diese Studie ist ebenfalls keine Interaktionsstudie, beschäftigt sich jedoch als einzige mit der Schnittstelle Führung und Geschlecht im Kontext von Supervision/Coaching. Sie beruht auf Interviews mit weiblichen Führungskräften. Auch die einzige Studie, die sich mit Geschlecht als prozesshaftem Phänomen (Doing Gender) befasst, ist eine Interviewstudie. Sie beschäftigt sich mit Gender als direktem Anlass für Transgenderpersonen, Coaching bzw. Supervision in Anspruch zu nehmen.

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Die unreflektierte Perspektive der Geschlechts­ kategorie – Interaktion von »Frauen« bzw. »Männern« in der Lehrsupervision

Eine der wenigen Interaktionsstudien in der Erforschung von Lehrsupervisionen unternehmen Mary Lee Nelson und Elizabeth Holloway (1990). Sie untersuchen in 40 Lehrsupervisionsgesprächen die Beziehung zwischen Geschlecht, Macht und Beteiligung an der Interaktion. Ihr Forschungsinteresse gilt der Beziehung zwischen der von ihnen als natürlich und damit als unabhängige Variable angenommenen Geschlechtskategorie der Beteiligten und den Dimensionen Macht und Bindung im Supervisionsgespräch. Macht definieren Nelson & Holloway nach dem »Penman classification scheme« sowohl als intraindividuelle Macht als auch als interindividuelle Macht. Unter der Beteiligung an Interaktion verstehen sie ein Kontinuum, welches sich über das positive bis negative Engage© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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ment im Gespräch erstreckt und Aspekte wie Angliederung, Soziabilität, Akzeptanz und Solidarität umfasst. Zur inhaltsanalytischen Auswertung verwenden sie jeweils die mittleren 15 Minuten eines Gespräches. Dabei werden sowohl latente als auch manifeste Interaktionsebenen untersucht. Zu den beiden Hauptkategorien Macht und Beteiligung werden jeweils Gesprächselemente zugeordnet. Dadurch ergeben sich die Subkategorien »high-power«, »low-power«, sowie »high-involvement«. Unter High-power-Mitteilungen verstehen Nelson & Holloway Haltungen wie Kontrollieren, Initiieren bzw. Teilen. Unter Low-power-Mitteilungen verstehen sie aufgeben/sich fügen, sich enthalten, nach Worten bzw. einer Haltung suchen etc. Ihre Ergebnisse sind, dass (1) männliche und weibliche Supervisor_innen die High-power-Mitteilungen von Supervisandinnen entkräften, (2) dass sowohl männliche als auch weibliche Supervisor_innen Mitteilungen von Supervisandinnen weniger oft ermutigen als die von Supervisanden und (3) dass Supervisandinnen auf die Low-power-Mitteilung der Supervisor_innen ebenfalls mit Low-powerMitteilungen reagieren und (4) dass Supervisandinnen signifikant weniger Mitteilungen mit High-power-Charakter bei den Supervisor_innen anregen als Supervisanden.2 An diesen Ergebnissen ist zunächst beachtenswert, dass Nelson & Holloway ihre Hypothese einer unterschiedlichen Kommunikationsweise von Frauen und Männern bestätigen und ein Machtgefälle zuungunsten von Frauen als Supervisandin verzeichnen. Das Geschlecht der Supervisor_in hat jeweils keinen Einfluss auf die Kommunikation. Die Forscher_innen reflektieren dabei nicht, dass Geschlecht selbst erklärungsbedürftig sein, das heißt als abhängige und Prozessvariable gesetzt werden kann, bzw. es der Erklärung bedarf, in welcher Weise und warum Geschlecht wirksam wird. Im Sinne einer Unterscheidung zwischen sex, sex category und gender, wie es mit West & Zimmerman (1987) in Kapitel I (vgl. Abschnitt 1) vorgeschlagen wurde, reifizieren die Forscher_innen mit ihrer Methodik, als auch mit den Ergebnissen eine zweigeschlechtlich konstruierte Geschlechterdifferenz. Das tun sie auch, indem sie über gegenläufige Thesen, zum Beispiel dass und warum die Differenz nicht wirksam sein könnte, nicht sichtbar reflektieren (zum Problem der Reifizierung vgl. Kapitel III, Abschnitt 2). Ein ähnliches Problem entsteht durch den Umstand, dass der Machtbegriff im Vorhinein definiert wurde und nicht durch das Material falsifizierbar gewesen zu sein scheint. In diesem Zusammenhang wird abermals nicht erkennbar, wie die Hypothesen testende Methodik betreffend, die Frage reflektiert wurde, wie die Forscher_innen vermeiden wollen, dass sie lediglich das beobachten, was sie vorher definiert haben bzw. eigene Geschlechternormen in der Analyse »herausfinden«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

54  Kapitel II  Stand der Forschung Ähnliche Ergebnisse und die gleichen Einwände, was Inhalte und Methodik betrifft, sind für die Studie von Darcy H. Granello, Patricia M. Beamish und Tom E. Davies (1997) zu verzeichnen. In einer Inhaltsanalyse auf der Grundlage von 20 Lehrsupervisionsdyaden, die rein akustisch aufgenommen wurden, untersuchen sie die Abhängigkeit von Einflussstrategien der Supervisor_innen vom Geschlecht der Supervisand_innen. Die Ergebnisse bestätigen, dass Supervisanden zweimal so oft nach ihrer Meinung gefragt wurden. Auch hier ist das Ergebnis, dass das Verhalten der Supervisor_innen gegenüber den Supervisanden geschlechtsnormativ abläuft, jedoch ohne dass das Geschlecht der Supervisor_innen eine Rolle zu spielen scheint. Wie das interessante Ergebnis zustande kommt, dass Geschlechternormen zwar für die Supervisand_ innen wirksam sind, aber nicht für die Supervisor_innen zutreffen, wird nicht erklärt. Des Weiteren wird auch hier weder erkennbar über die Erfordernisse der Methodologie bei geschlechtsbezogenen Forschungsfragen reflektiert, noch expliziert, wie Geschlecht als Variable operationalisiert wird und dadurch Verhalten beeinflusst. Methodische und erkenntnistheoretische Mängel in Bezug auf das Problem der Reifizierung weisen auch die folgenden beiden Studien auf. So werden von James N. Sells, Rodney K. Goodyear, James W. Lichtenberg und Donald E. Polkinghorne (1997) 44 Lehrsupervisionsdyaden untersucht. Als Ergebnis zeigt sich, dass in homogeschlechtlichen Dyaden zwischen Supervisoren und männlichen Trainees aufgabenorientiertere (versus beziehungsorientierte) Diskurse stattfanden als in anderen Dyaden-Konfigurationen. Die Autor_innen finden keine signifikanten Unterschiede darin, wie männliche bzw. weibliche Trainees ihr eigenes Fähigkeitsniveau bewerten. Für diese, einerseits Neutralisierungsleistungen von Geschlecht und andererseits Wirksamkeit von Geschlecht, versuchen auch diese Autor_innen keinen Erklärungsansatz, sondern stellen ausschließlich eine Wirksamkeit fest. Dafür wird Geschlecht als Variable nicht operationalisiert, sondern wiederum unreflektiert und naturalisiert als statisch angenommen. Entsprechend wird nicht über Erfordernisse der Methodik reflektiert. Ähnlich verhält es sich in der Studie von Ed McHale und Alan Carr (2002). Sie untersuchen den Einfluss der Geschlechtskategorie der Lehrsupervisor_innen und der Therapeut_innen in Ausbildung auf den Konversationsstil in Supervisionsgesprächen. Das Material besteht aus 40 Ausschnitten aus zehn Videoaufnahmen von Supervisionsgesprächen. Geschlechtskategorisch kombiniert, werden vier Typen von Kommunikationsdyaden untersucht: (1) Supervisor und Therapeut (2) Supervisor und Therapeutin (3) Supervisorin und Therapeut (4) Supervisorin und Therapeutin. Die Interaktionen der Supervisor_innen werden hinsicht© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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lich der beiden Kategorien »gemeinschaftlicher«/»direktiver« Redestil beobachtet und kodiert. Die Supervisand_innen werden hingegen hinsichtlich eines »kooperativen« /»resistenten« Redestils beobachtet. Die Studie verzeichnet insgesamt zwei Ergebnisse: Entgegen geschlechtsnormativer Erwartungen, ist erstens ein direktiver Supervisionsstil und ein resistenter Supervisand_innenstil eher in Dyaden beobachtbar, an denen eine Supervisorin beteiligt ist. Zudem war ein gemeinschaftlicher Supervisionsstil ausschließlich in den homogeschlechtlichen Dyaden beobachtbar. Darin kommunizieren Supervisand_innen sowohl kooperativ als auch resistent. Die Ergebnisse belegen außerdem, dass die Position einer Supervisorin weder von weiblichen noch von männlichen Supervisand_innen ohne Widerstände akzeptiert wird. Schließlich kommunizieren homogeschlechtliche Dyaden gemeinschaftlicher, unabhängig vom jeweiligen Geschlecht und vom jeweiligen Konversationsstil der Supervisand_innen. Die nun bekannten Einwände bezüglich einer genderbewussten Methodik, der Operationalisierung von Geschlecht und fehlenden Erklärungsansätzen für die Wirksamkeit von Geschlecht bzw. dessen Neutralisierung können auch hier vorgebracht werden. Zusätzlich bleibt intransparent, wie die unterschiedlichen Beobachtungskategorien für Supervisor_innen bzw. Supervisand_innen zustande kommen, das heißt, ob hier Hypothesen testend oder generierend vorgegangen wurde. Außerdem ist vorstellbar, dass auch Supervisand_innen gemeinschaftlich versus direktiv bzw. Supervisor_innen sowohl kooperativ als auch resistent kommunizieren können. Die Unterschiedlichkeit der Kategorien für beide Seiten der Dyade wird von den Autor_innen nicht begründet. Im Gegensatz zu den anderen unter 1. aufgeführten Studien weist diese jedoch die zusätzliche Wirksamkeit der Geschlechtskategorie des/der Supervisor_in nach. Wie die Studie von Sells, Goodyear, Lichtenberg, & Polkinghorne (1997) findet sie Unterschiede der Kommunikation in hetero- bzw. homogeschlechtlichen Dyaden heraus. Dem widerspricht wiederum die Studie von Darcy H. Granello (2003). In einer Inhaltsanalyse von 42 Supervisionsdyaden weist er nach, dass ausschließlich das Geschlecht der/des Supervisand_in den Modus der Einflussnahme der/des Supervisor_in bedingt, aber kein umgekehrter Einfluss besteht. Signifikant öfter akzeptieren Supervisor_innen Ideen, die von Supervisandinnen hervorgebracht werden bzw. bauen darauf auf. Supervisanden fragen sie hingegen öfter nach ihrer Meinung. Männliche Supervisand_innen bringen außerdem signifikant mehr Vorschläge ein als weibliche, die wiederum ihre Supervisor_innen öfter loben als männliche es tun. Ein letztes Ergebnis ist schließlich, dass das Alter der Beteiligten diese Tendenzen katalysieren bzw. abbremsen kann. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

56  Kapitel II  Stand der Forschung Diese Ergebnisse von Granello über die Höherwertigkeit »männlicher« Interaktionsbeiträge belegen wiederum, dass das Verhalten der Supervisor_innen und Supervisand_innen sich an Geschlechternormen orientiert. Die Effekte sind dabei jedoch vom Alter der Interagierenden abhängig. Wie das dazu in Widerspruch stehende Ergebnis, das Geschlecht der/des Supervisor_in spiele keine Rolle, zu diesen Aussagen passt, bleibt erklärungsbedürftig. Neben dem Einwand der fehlenden Erklärung für die Geschlechtsneutralität der Supervisor_in wird auch hier die bereits mehrfach geäußerte Kritik in Bezug auf Methodik und Operationalisierung von Geschlecht wirksam. Einen Zwischenstand zusammenfassend, wird Folgendes deutlich. Alle bis hierher erläuterten Studien haben bezüglich einer geschlechtsund interaktionsbezogenen Supervisionsforschung Pioniercharakter. Sie weisen jedoch ausschließlich widersprüchliche Ergebnisse auf. Zuerst dazu, inwiefern die Geschlechtskategorie der/des Supervisor_in relevant wird. Eine Studie (Sells et al. 1997) differenziert zwar, dass Geschlecht gleichzeitig eine Rolle spielen kann bzw. neutralisiert wird: Die Aufgabenorientierung der Interaktion wird durch das männliche Geschlecht beider Interaktionspartner bewirkt, bei der Einschätzung des Fähigkeitsniveaus von Supervisand_innen spielt es hingegen keine Rolle. Inwiefern die Kombination der Geschlechtskategorien in der Dyade für die Interaktion eine Rolle spielt, ist jedoch durch die Ergebnisse anderer Studien strittig. Zweitens zeigt sich, dass die Geschlechternorm der »männlichen Macht« bei den Supervisand_innen wirksam ist: Supervisanden wird in der Interaktion mehr kommunikativer Gestaltungsraum zugeschrieben bzw. von ihnen selbst eingefordert. Nur teilweise bestreitet dies die Studie von Sells et al. (1997), die keinen Einfluss auf die Selbsteinschätzung der Kompetenz der Supervisand_innen feststellt. Neben der Widersprüchlichkeit der Ergebnisse, erläutert keine der Studien, wie der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Verhalten in der Interaktion evident wird. Angesichts der theoretischen Überlegungen und Ergebnisse aus Kapitel I gibt es deshalb Einwände vorzubringen. So verzeichnen drei der fünf Studien ausschließlich geschlechtliche Unterschiede bei den Supervisand_innen, nicht aber bei den Supervisor_innen. Dieses Ergebnis bleibt erklärungsbedürftig. Wenn es tatsächlich zu Geschlechtsneutralisierungen der/des Supervisor_in in der Interaktion kommt, wäre es nötig zu beforschen, wie das geschieht. Außerdem wäre interessant, wie die Ergebnisse über einerseits Relevanz von Geschlecht und andererseits dessen Irrelevanz integrierbar sind. Alle Studien behandeln zudem Geschlecht als biologische, statische und nicht als soziale, prozesshafte Kategorie. Sie teilen Personen im Vorab in die Geschlechtskategorien »Frauen« bzw. »Männer« ein © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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und rechnen Unterschiede in deren Verhalten dann auf diese Kategorien zu. Damit reproduziert die bisherige geschlechts- und interaktionsbezogene Supervisionsforschung die Geschlechternormen, die sie als Ergebnis zu erhalten glaubt. Dies wird auch dadurch deutlich, dass im Konversationsverhalten ausschließlich von einer Unterschiedlichkeit zwischen »weiblichen« und »männlichen« Personen ausgegangen wird (ausgenommen die Supervisor_innen in manchen Studien). Das ist ein Ergebnis, das beispielsweise in der linguistischen Genderforschung längst nicht mehr haltbar ist (vgl. Kapitel III, Anmerkung 20). Die Studien liefern aus diesem Grund allesamt keine Erklärung dafür, wie Geschlecht die beobachteten Unterschiede – auch unabhängig von der/dem Forscher_in – erzeugen kann. Obwohl es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die angenommene Omnirelevanz von Geschlecht unzulässig ist und Neutralisierungsprozesse eine Rolle spielen (Sells, Goodyear, Lichtenberg & Polkinghorne, 1997), fehlt in der geschlechts- und interaktionsbezogenen Supervisionsforschung bisher eine Forschungsperspektive, nach welcher Geschlecht selbst als soziale und prozesshafte Kategorie explikationswürdig ist. Reifizierungseffekte könnten dabei teilweise eine Folge des deskriptiven methodischen Designs der Studien sein, welche offensichtlich Hypothesen testend Geschlechtskategorien unreflektiert annimmt und für alle drei Ebenen von Geschlecht hält (sex, sex category, gender, vgl. Kapitel I, Abschnitt 1). Eine Hypothesen generierende Forschung, die versucht, Sinn materialbezogen zu rekonstruieren statt ihn vorwegzunehmen, ist für das Umgehen solcher Reifizierungspotenziale besser geeignet (dass es dennoch Fallstricke gibt, zeigt Kapitel III).

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2.1 Geschlechtskategorien in der Deutung durch Supervisor_innen bzw. Coaches Interaktionsstudien stellen den Kern des Forschungsstandes dar, der für meine Forschungsfrage relevant ist. Des Weiteren gibt es Studien, die Interviews mit Supervisor_innen bzw. Supervisand_innen durchführen und untersuchen. Anhand eines teilstrukturierten Interviewleitfadens befragt zum Beispiel Verena Aichholzer (2004) ein Sample von 20 systemischen Coaching-Expert_innen, die selbstständig tätig sind. Fünf weibliche Coachs aus dem Sample sind dabei für Frauen bzw. Frauen in Führungspositionen spezialisiert. Aichholzer interessiert sich dafür, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

58  Kapitel II  Stand der Forschung inwiefern aus der Sicht weiblicher bzw. männlicher Coaches genderbezogene Faktoren im systemischen Coaching für sie selber bzw. die Klient_innen eine Rolle spielen. Sie geht in ihrer Studie explizit von »gender« und nicht von »Geschlecht« als Forschungsperspektive aus. Die Befragten werden so ausgewählt, dass Homogenität hinsichtlich der systemischen Coachingausbildung bzw. des Beratungsansatzes und Heterogenität hinsichtlich der weiteren Ausbildung, des Alters bzw. der Erfahrung als Coach besteht. Außerdem sorgt sie für eine Gleichverteilung der Proband_innen hinsichtlich des Geschlechts (sex category) und der Beschäftigung mit dem Thema Geschlecht. Aichholzer generiert mit einer nicht benannten und erläuterten Interpretationsmethode Auswertungskategorien auf der Basis ihrer Grundannahmen und Interviewfragen. Anschließend fasst sie alle Kategorien zu einem Kodierleitfaden zusammen, kodiert alle Interviews damit und quantifiziert sie dann. In einem letzten Schritt wählt sie zwei Beispiele für eine qualitative Analyse aus, verdeutlicht jedoch auch hier weder Fallauswahl noch Auswertungsmethode. Bereits methodisch wird damit nicht deutlich, welche Systematik Aichholzer verfolgt und ob gegebenenfalls Verwaschungen qualitativer und quantitativer Forschungslogiken geschehen. Bevor die für meine Forschungsfrage relevanten Ergebnisse skizziert werden sollen, möchte ich außerdem voran stellen, dass Aichholzer (2002) nicht deutlich genug macht, inwiefern sie bzw. die Befragten zwischen sex, sex category und gender unterscheiden. Diesen Zweifel begründe ich damit, dass in allen Darstellungen die natürliche Existenz von »Frauen« und »Männern« angenommen wird, obwohl zum anderen ausdrücklich von »gender« und nicht von »Geschlecht« die Rede ist. Gender wird jedoch kaum durch eine entsprechende sprachliche Distanzierungspraxis der Autorin bzw. der Proband_innen erkennbar, zum Beispiel die Reflexion von Geschlechternormen, von »Weiblichkeit«/»Männlichkeit«, »Frau«/»Mann« bzw. Zweigeschlechtlichkeit. Ich vermute, dass hier schlichtweg »Geschlecht« begrifflich durch »Gender« ersetzt wurde, ohne die Perspektive von einer naturalisierten und statischen hin zu einer sozialen und prozesshaften zu verändern. In der Darstellung der Ergebnisse werde ich diese Ungenauigkeit deshalb dadurch deutlich machen, dass ich von »Geschlecht« bzw. »Geschlechtskategorien« sprechen werde, obwohl die Autorin von »gender« spricht. Zum Geschlechtsbezug in Coachinginteraktionen erzielt Aichholzer zuerst folgende Ergebnisse: Erstens stimmen die meisten der Befragten – und hier mehrheitlich Frauen – einer Relevanz geschlechtsbezogener Faktoren zu. Alle Berater_innen betonen durchweg die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Als wirksame Geschlechtsfaktoren in der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Coachingbeziehung werden unterschiedliche Beziehungsdynamiken in heterosozialen Dyaden und die geschlechtssensible Sprache von Coaches, zum Beispiel die Kennzeichnung weiblicher Berufsbezeichnungen, genannt. Zweitens betonen die Coaches die Ressourcen, die in den Geschlechtskategorien jeweils liegen, nicht die Probleme. Drittens weisen Expert_innen unter den Coachs, die sich mit Geschlecht beschäftigt haben, im Interview eine bessere Beobachtung von geschlechtsbezogenen Problemen auf (z. B. Managerin mit Kindern). Viertens wird eine geschlechtssensible Sprache, das heißt die Kennzeichnung von weiblichen Akteur_innen, von drei weiblichen Coachs durchgängig verwendet. Es herrscht aber die Erfahrung vor, dass eine solche Sprache von Klient_innen beiderlei Geschlechts abgelehnt wird. Fünftens unterscheiden über die Hälfte der Coachs zwischen Themen, die eher von Frauen bzw. Männern ins Coaching hineingetragen werden. Sowohl weibliche als auch männliche Coachs rechnen Beziehungsprobleme, Karriereplanung, berufliche Veränderung, Doppelbelastung bzw. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Mobbing und sexuelle Belästigung als Themen eher Frauen zu. Bei teilzeitbeschäftigten Frauen verlagere sich der Schwerpunkt der Themen zugunsten von Familie und Partnerschaft. Themen, die Klienten mitbringen, seien berufliche Probleme, Karriereplanung, Konflikte, Auseinandersetzung mit der Führungsrolle und Erfolgsthemen. Beide Geschlechter bringen hingegen Karriereplanung, Konflikte und die Führungsrolle als Themen ein. Obwohl ein Drittel der Proband_ innen bestätigt, dass Unterschiede zwischen Klienten und Klientinnen in unterschiedlichen Phasen mitunter eine Rolle spielen, bringt, sechstens, die Frage nach geschlechtsbezogenen Faktoren in einzelnen Phasen des Beratungsprozesses wenig Ertrag. Schließlich geben die meisten der Befragten an, dass geschlechtsbezogene Faktoren eher in Gruppen- bzw. Teamcoachings als in Einzelberatungen eine Rolle spielen. Die zweite Frage, die sich Aichholzer stellt, ist, ob und wie das Zustandekommen von Coaching mit der Geschlechtskategorie zusammenhängt. Bei der Auswahl der Coachs, gibt die Mehrheit der Befragten an, sei Geschlecht relevant. Dazu gehört, dass bei sehr persönlichen Themen das jeweils eigene Geschlecht bevorzugt werde. Ein Viertel der Befragten (drei weibliche und zwei männliche Coachs) gibt an, Klientinnen und Klienten gleichermaßen zu beraten. Davon kommen auf neun Berater_innen eher Klientinnen bzw. auf sechs eher Klienten zu. Zugangschancen zum Coaching seien für Männer jedoch leichter, weil Coaching meistens Führungskräften von Seiten der Organisation angeboten werde und Führungskräfte meistens Männer seien. Bei Selbstfinanzierung seien es eher Frauen, die ein Coaching aufsuchen. Sie würden schneller Hilfe in Anspruch nehmen. Unter Männern werde das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

60  Kapitel II  Stand der Forschung eher als Zeichen der Schwäche diskreditiert. Es gibt jedoch aus Sicht der Coaches keine geschlechtsbezogenen Unterschiede hinsichtlich des Problemstadiums bzw. des Zeitpunkts der Inanspruchnahme von Coaching. Allerdings gibt es gleichzeitig den Befund, dass Frauen lieber und früher über ihre Probleme reden. Die Thematisierung geschlechtlicher Faktoren spielt in der Coachingausbildung und der Supervision der Coachs kaum eine Rolle. In der vertiefenden qualitativen Analyse der Interviews und der Literatur findet Aichholzer zusätzlich zwei geschlechtsbezogene Aspekte heraus: Da es als Schwäche gelte, Coaching in Anspruch zu nehmen, würden Männer dies seltener tun. Da die weibliche Sozialisation demgegenüber beinhalte, Schwächen zu zeigen und Probleme zu kommunizieren, würden Frauen deshalb auch leichter Beratung suchen. Ein weiteres Ergebnis ist, dass Frauen unter der Doppelbelastung leiden. Die geschlechtliche Arbeitsteilung und soziale Ungleichheit habe zur Folge, dass Frauen weniger finanzielle bzw. zeitliche Ressourcen und schlechtere Positionen haben, um ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Ihre Beratung beinhaltet entsprechend der anderen Lebensumstände andere Themen. Aichholzer stellt folglich umfassende Ergebnisse zu den Fragen dar, wie Geschlechtskategorien die Interaktion und das Zustandekommen von Coaching beeinflussen. Bedauerlicherweise macht sie ihre Interpretationsmethode nicht transparent. Für die Ordnungsgemäßheit und reflektierte Systematik der Auswertung gibt es deshalb keinen Anhaltspunkt. Problematisch ist außerdem die Vermischung qualitativer und quantitativer Forschungslogiken. Bei der Zahl von 20 Interviews kann zudem nicht von quantitativ verstandener Signifikanz und entsprechenden Mehrheiten etc. gesprochen werden. Keine der Forschungslogiken ist demnach konsequent durchgeführt. Wie bereits im Vorab erwähnt, wird in der Studie von gender geredet, obwohl Geschlechtskategorien gemeint sind. Auch in dieser Studie wird deshalb von Geschlecht als unabhängiger und statischer Variable ausgegangen in Verbindung mit den damit einhergehenden und bereits erwähnten Problemen. Für eine Verortung meines Forschungsanliegens im Feld bzw. für mein Forschungsdesign sind folgende Beobachtungen aufschlussreich. Erstens reagieren alle Befragten (und die Forscherin selbst) auf das Stichwort »Gender« mit dem Deutungsmuster von »zweigeschlechtlichen Geschlechtskategorien«. Demzufolge kann über ein regelrechtes Wissensmanko der Proband_innen spekuliert werden, zumal auch Coaches ausgewählt wurden, die sich nach ihrer Aussage mit »gender«, aber nicht mit »Geschlecht« beschäftigt haben. Möglicherweise unterliegt diese Selbstbezeichnung der Begriffskonjunktur von »gender«, ohne © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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das entsprechende sozialwissenschaftliche Wissen dazu zu kennen bzw. integriert verwenden zu können. Zweitens besteht bei den Coaches offensichtlich die abstrakte Vorstellung, Geschlecht spiele immer und überall eine Rolle. In ihrer dargestellten Praxis bedeutet das jedoch, entweder gänzlich ohne Kriterien bzw. Konkretisierungen Beratungen zu deuten oder aber, Geschlecht auf »Frau«-Sein bzw. geschlechtsbezogene Probleme auf die Doppelbelastung von Frauen zu reduzieren. »Männlichkeit(en)« befinden sich hingegen offenbar nicht im Problembewusstsein. Damit fällt insgesamt wiederum ein Wissensdefizit darüber auf, wie Geschlecht konkret in Interaktion wirksam ist. Die Themen im Coaching betreffend fällt des Weiteren auf, dass unter anderem auch solche Themen von den Coaches genannt werden, die Geschlechternormen darstellen. So sind für Frauen Doppelbelastung, sexuelle Belästigung, Beziehungsprobleme und für Männer hingegen rein berufliche Themen aus Sicht der Berater_innen markant. Hier fehlt zwar eine Reflexion Aichholzers darüber, inwiefern die Coaches selbst diese Themen normativ zurechnen, erwarten bzw. durch die Beratung verstärken und damit auch im Expert_inneninterview einem Doing Gender unterliegen. Dennoch kann, von der Autorin unintendiert, daraus abgeleitet werden, dass Geschlechternormen schon durch diese Haltung der Berater_innen im Coaching wirksam sind. Dazu steht im Widerspruch, dass ferner die Coaches sich selbst von möglichen Gendereffekten ausnehmen und sich als Gender-Neutren inszenieren, die von außen die Beratungssituation objektiv betrachten. Diese Haltung wird daran deutlich, dass aus ihrer Sicht Geschlecht eher in Gruppen- und Teamcoachings relevant sei, nicht aber im Einzelcoaching. Sie nehmen damit eine Geschlechtsdynamik zwar zwischen mehreren Klient_innen an, aber nicht zwischen sich selbst und dem ratsuchenden Gegenüber. Dieses Ergebnis verhält sich analog zu dem der Interaktionsstudien im Abschnitt 1, dass das Geschlecht der/des Supervisor_in nicht relevant sei. Was die Studie damit schließlich ungewollt belegt, ist, dass auch auf Geschlecht spezialisierte Berater_innen einen blinden Fleck in ihrer Selbstbeobachtung aufweisen, der der Logik folgt, dass, wer die Geschlechterdifferenz sieht, von ihr ausgenommen ist.

2.2 Geschlechtskategorien in der Deutung durch Supervisand_innen Welche Relevanz Geschlecht durch die/den Supervisand_in zugesprochen wird, untersuchen hingegen Raimund Erger und Manfred Molling © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

62  Kapitel II  Stand der Forschung (1991). Anhand von insgesamt 13 Tiefeninterviews von acht Frauen und fünf Männern, allesamt Mitarbeitende sozialer Institutionen und dort in Supervision, wird untersucht wie Frauen bzw. Männer Supervision wahrnehmen bzw. ob eine geschlechtsbezogene Wahrnehmung von und in Supervision existiert. Als Auswertungsmethodik benennen die Autoren die Satzanalyse bzw. -interpretation. Um ihr eigenes männliches Geschlecht auszugleichen, führen sie die Analyse u. a. in Diskussion mit einer mehrheitlich weiblichen Forschungsgruppe und auf einem Fachkongress durch. Erger & Molling kommen als erstes zu dem Ergebnis, dass der Einfluss des Geschlechts der Supervisorin auf die Supervision von beiden Geschlechtern gemäß einem Anspruch auf Gleichwertigkeit nivelliert wird. Bei näherer Analyse finden sich jedoch Unterschiede in der Wahrnehmung: (a) Frauen weisen eine ausgeglichene Geschlechterpräferenz auf. Auf der einen Seite bevorzugen sie einen Supervisor, weil es keine geschlechtliche Konkurrenz mit ihm gibt. Dieser wird dann als väterlich unterstützend erlebt. Auf der anderen Seite stellt in Einzelsupervisionen die Supervisorin eine Identifikationsfigur dar, die leichter Vertrauen zu den Supervisandinnen aufbauen kann – im Vergleich zu einem Supervisor, der schneller Projektionsfläche für Angst und die eigene Vater-/ Mutterproblematik bietet. (b) Männer bevorzugen einen männlichen Supervisor, attribuieren Konfrontations- und Konfliktfähigkeit auf ihn und erwarten, dass er ein Identifikationsmodell sei, an dem man sich messen kann, aber auch väterliches Verständnis. Supervisorinnen werden als ambivalent erlebt, zwischen konfliktvermeidend bzw. weniger konfrontativ und schützend. Auch ihr gegenüber wird durch Klienten männliches Dominanzverhalten versucht. Das zweite Ergebnis der Autoren betrifft Themen, die in der Supervision behandelt bzw. nicht behandelt und von Frauen und Männern zum Teil ähnlich und zum Teil unterschiedlich benannt werden: (a) Frauen thematisieren in Einzelsupervisionen biografische Zusammenhänge und in Gruppensupervisionen Team- und Beziehungskonflikte. Sie beobachten ein Defizit an Fallarbeit in Gruppensupervisionen, obwohl das von ihnen gewünscht wird. Die Tabuisierung von Rivalität, Macht, Sexualität und Erotik bewirkt in der Gruppe, dass die Teilnehmerinnen eigene Fallarbeit unterlassen, weil sie befürchten, dass diese Themen unterschwellig in der Fallarbeit fortgesetzt werden. In Einzelsupervisionen wird von Frauen außerdem der Zusammenhang zwischen der eigenen Person und Arbeit (Selbstbild, Autoritätsprobleme mit männlichen Vorgesetzten, eigene Vaterproblematik, selten: Mutterproblematik) thematisiert. (b) Männer tabuisieren ähnliche Themen wie Frauen (Macht, Rivalität, Sexualität, Konflikte mit dem internen Supervisor, eigene Beziehungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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ängste, Darstellen der eigenen Schwächen). Vereinzelt erleben sie die Thematisierung eigener Schwächen als persönliche Stärkung. Ähnlich wie Frauen nennen sie in der Supervision Themen, die den Zusammenhang zwischen eigener Person und Arbeit betreffen. Die Männer legen jedoch mehr Gewicht auf eine sachliche Auseinandersetzung und fachliche Qualifizierung.3 Drittens wurden das geschlechtsbezogene Rollenbild und das Erleben des anderen Geschlechts sehr unterschiedlich beschrieben: (a) Frauen haben die Tendenz, sich im Vergleich zu Männern als emotional offener zu erleben, äußern das aber nur selten in der Supervision. Das eigene geschlechtliche Rollenbild schwankt stark zwischen dem Eindruck, Männern überlegen, ebenbürtig bzw. unterlegen zu sein. Das Rollenbild weist auch Brüche auf, indem es zwischen traditionellem und emanzipatorischem Verständnis schwankt. Männer werden als emotional verschlossen und in einer traditionellen Männerrolle wahrgenommen. (b) Männer erleben Frauen als das »schwache« Geschlecht und definieren sich zum Teil über die negative Abgrenzung zu Frauen, zum Beispiel über die Zuschreibung von weniger Klarheit, geringerer Konfliktfähigkeit, mehr Emotionalität auf Frauen. Emotionalität werten sie je nach Bedarf ab oder deuten sie als Ergänzung zur Sachlichkeit. Die Autoren weisen zusammenfassend darauf hin, dass ein geschlechtsspezifischer Unterschied in der Wahrnehmung von Supervision vor allem dort nachweisbar sei, wo dieser Unterschied geleugnet bzw. nicht bewusst wahrgenommen werden würde. Geschlechtliche Unterschiede würden erst auf den zweiten Blick gesehen werden. Angesichts der bisherigen Kommentare und Anmerkungen zum Forschungsstand wird die Methodik betreffend insgesamt deutlich, dass die Autoren über den eigenen »männlichen« Forschungsstandpunkt und mögliche Verzerrungen reflektieren und entsprechende Ausgleichsmaßnahmen ergreifen. Sie ziehen zusätzlich eine ausschließlich »weibliche« Interpretationsgruppe zu Rate. Eine Reflexion über die Annahme, dass ein Wissensstandpunkt an den eigenen (Geschlechts-)Körper gekoppelt ist, findet jedoch nicht statt. Dazu bedürfte es einer wissenssoziologischen Theorie von »Geschlecht als Wissenskategorie« (beispielhaft im gleichnamigen Graduiertenkolleg der HU Berlin). Damit müsste hinterfragt werden, inwiefern die zusätzlich hinzugezogenen Forscherinnen allein durch ihr »Frau«-Sein mehr über Geschlecht wissen. Auch in dieser Studie ist es ferner ein Ergebnis, dass die Geschlechtskategorie des/der Supervisor_in Einfluss auf die Supervision hat. Supervisoren scheinen von beiden Geschlechtern jedoch geschlechtsnormativ wegen ihrer »Väterlichkeit« bevorzugt zu werden und stellen beide Male Konkurrenz – jedoch unterschiedlich konnotiert (positiv/negativ) – dar. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

64  Kapitel II  Stand der Forschung Supervisorinnen werden mit Vertrauen, weniger Konflikt und Schutz assoziiert. Beide Wahrnehmungen ähneln Geschlechternormativen, die durch Autoren nicht auf ihren Reifizierungscharakter reflektiert werden. Die Forscher stellen auch Gemeinsamkeiten fest, die scheinbar nicht an Geschlecht gekoppelt sind und somit Geschlechtsneutralität verzeichnen. Damit ist die Tabuisierung der Themen Rivalität, Macht, Sexualität und Erotik in Gruppensupervisionen gemeint. Erger & Molling zeigen damit, dass sie geschlechtsindifferente Ergebnisse zulassen und Reifizierungen entgegen wirken. An anderer Stelle werden jedoch wiederum mögliche Selbststereotypisierungen beider Gruppen von den Autoren nicht reflektiert. So finden sie geschlechtsnormativ heraus, dass Männer im Vergleich zu Frauen mehr Gewicht auf eine sachliche Auseinandersetzung und fachliche Qualifizierung in der Supervision legen. Die Perspektive eines geschlechtsbezogenen Rollenbildes ist die erste in den bisher skizzierten Studien, die auf das Verständnis von Geschlecht als gesellschaftsbezogenes soziales Geschlecht bzw. auf eine von der Gesellschaft abhängige Variable hindeutet. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass beide in der Studie vorhandenen Perspektiven – sex und gender – nicht modellhaft von den Autoren miteinander verbunden werden, sondern unverbunden nebeneinander stehen gelassen werden. Erkenntnistheoretisch ist das problematisch, da zum einen von Geschlecht als Biologie und zum anderen von Geschlecht als Sozialem ausgegangen wird. Inhaltlich ist auch hier eine Geschlechternorm bemerkenswert, die von den Autoren nicht als solche expliziert wird: dass Frauen das eigene Rollenbild betreffend, sich stärker an Männern zu orientieren und stärker zu schwanken scheinen, Männer sich hingegen über die Abwertung von Frauen (»schwach«) bzw. weiblichen Attributen (Emotionalität) überlegener positionieren. Ebenfalls im Interviewformat untersucht Marie-Luise Conen (1993), wie unterschiedlich Frauen und Männer in systemischen Supervisionsgruppen agieren und Erwartungen disponieren. Sie führt dazu eine schriftliche Befragung mittels eines Fragebogens mit sechzehn offenen Fragen durch, die sich auf Erfahrungen als Supervisand_in mit anderen Supervisand_innen bzw. mit Supervisor_innen beziehen. 33 weibliche und 12 männliche Supervisand_innen nehmen an der Befragung teil. Sie befinden sich zwischen zwei und vier Jahren in den Gruppensupervisionen der Autorin und sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Außerdem haben sie eine familientherapeutische bzw. systemische Ausbildung bzw. suchen diese in der Supervision. Das Ziel der Studie ist es, sowohl angenommene als auch bestehende geschlechtliche Unterschiede zu explizieren und Einschränkungen, die daraus erwachsen, zukünftig entgegenwirken zu können. Ihre Ergebnisse lassen sich in vier Teil© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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bereiche gliedern. Erstens scheinen Männer mehr als Frauen auf eine akzeptierende Gruppenatmosphäre und entsprechende unterstützende und kooperative Leitung der Supervision als Rahmenbedingungen für Offenheit angewiesen zu sein. Zweitens beobachten Frauen Männer stereotyp als rational und distanziert und lassen andere Deutungen kaum zu. Obwohl Bemühungen von Männern um andere Verhaltensweisen wahrgenommen werden, bezweifeln Frauen das Aufgeben von Privilegien durch Männer. Drittens scheint die Leitung durch eine Supervisorin für beide Geschlechter aus verschiedenen Gründen problematischer zu sein: für Männer, weil ihre Autorität und Kompetenz auf sie bedrohlich wirken und die Leitungsrolle einer Frau ungewohnt ist; für Frauen, weil sie einerseits modellhaft wirkt, aber andererseits Zweifel an der Erreichbarkeit eines solchen Habitus auslösen. Zum vierten, pflegen Frauen und Männer unterschiedliche Erwartungen an eine/n Supervisor_in: Supervisandinnen suchen bei einem Supervisor Verständnis für ihre Rolle als erwerbstätige Frau und bei einer Supervisorin ein Vorbild für Kompetenz. Supervisanden erwarten von allen Supervisor_innen eine hohe Kompetenz, von Supervisoren jedoch bezüglich Strukturiertheit und Ergebnisorientierung und von Supervisorinnen bezüglich Bestätigung und Anerkennung. Daraus folgend, stellt Conen fest, dass Supervisanden sich weniger mit dem eigenen Geschlecht als mit dem der Supervisandinnen auseinandersetzen. Als Teilnehmende einer Supervisionsgruppe seien Frauen mutiger im Äußern von Gefühlen und Selbsthinterfragungen, dem Eingestehen von Fehlern. Männer würden die Ursachen für eigene Defizite eher außerhalb ihrer selbst suchen. Außerdem redeten sie mehr und nehmen leichter mehr Raum damit ein. Schwierigkeiten gäbe es bei ihnen mit der Akzeptanz vorgegebener Strukturen in der Supervisionsgruppe. Sie gingen leichter in Konkurrenzverhalten mit einer Supervisor_in und mit anderen Männern. Frauen akzeptierten diese Strukturen müheloser. Bei diesen Ergebnissen wird jedoch nicht deutlich, aus welcher Perspektive (Selbst- versus Fremdbeschreibung der Supervisand_innen) gesprochen wird. Conen erklärt weiter alle geschlechtsdifferenten Verhaltensweisen aus der umfassenderen Übung von dominantem Verhalten durch die männliche Erziehung, ohne dafür empirisches Material hinzuziehen zu können. Die Distanz von Männern in einer Supervisionsgruppe sei aus dem hohen Erwartungsdruck an sich selber und an die Gruppe und dem damit verbundenen Überlegenheitsdenken heraus erklärbar, woraus auch Konkurrenzsituationen mit der/dem Supervisor_in entstehen könnten. Folgende Anmerkungen scheinen mir für diese Studie relevant: Auf der Ebene der Methode unterlässt Conen zunächst die Reflexion darüber, was eine Verwendung von Fragebögen impliziert. Die Proband_ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

66  Kapitel II  Stand der Forschung innen haben die Chance, sehr lange zu überlegen bevor sie sich äußern. Dadurch wird Effekten sozialer Erwünschtheit Vorschub geleistet und die Möglichkeit, latente Muster zu beforschen nahezu verunmöglicht. Da Conen nur eigene Klient_innen untersucht, liegt es auf der Hand, dass die Proband_innen sozial Erwünschtes antizipieren. Auch darüber gibt es in der Studie keine erkennbare Reflexion. Problematisch ist außerdem die Deutung von Mehrheiten, da die Stichprobe nicht repräsentativ ist. Inhaltlich geht die Studie zudem von vornherein von Unterschieden aus und bezieht sich fast durchweg auf Geschlechtskategorien mit biologischer und statischer Prämisse. Dem gegenüber werden von Conen wechselseitige Geschlechtsstereotypisierungen, das heißt ein Doing Gender, der Supervisand_innen registriert. Die Autorin benennt die Geschlechternormen, diskutiert daran aber nicht den Begriff von Geschlecht – statisch versus prozesshaft – , den die Proband_innen pflegen, sondern vermischt das Ergebnis mit solchen, die wiederum unreflektiert reifizieren. Dazu gehört, dass Männer geschlechtsneutral Kompetenz von Supervisor_innen erwarten, Frauen jedoch von Supervisoren Verständnis für ihre Erwerbstätigkeit, von Supervisorinnen ein Vorbild für Kompetenz erhoffen. Das Ergebnis wirft die Frage nach den Gründen auf, die für diese Unterschiedlichkeit verantwortlich sind. In diesem Zusammenhang scheint das Ergebnis, dass Frauen bei einem Supervisor Verständnis für ihre Rolle als erwerbstätige Frau suchen, außerdem regionenspezifisch für Westdeutschland zu sein. Hier wäre die theoretische Reflexion über die Zusammensetzung des Samples hilfreich für eine differenziertere Perspektive. Außerdem werden »Männer« und »Männlichkeit« von allen Befragten weniger als geschlechtsrelevantes Thema wahrgenommen. Auch dies wird von der Autorin nicht analysiert. Neben diesen Defiziten ist die Fokussierung auf Erwartungen in dieser Studie eine generisch sozialwissenschaftliche Perspektive, selbst wenn soziales Geschlecht als solches nicht expliziert und systematisiert wird. Ähnliche Schwierigkeiten sind zum Teil in der Studie von Karin Martens-Schmid (2007) zu verzeichnen. Auf der Basis einer früheren Befragung von 31 Führungskräften (von Bose, Martens-Schmid & Schuchardt-Hain, 2003) und der Analyse von 30 eigenen Coachingprozessen legt Martens-Schmid verschiedene Dimensionen fest, in welchen die Geschlechterdifferenz im Coaching stereotyp erwartbar wäre und gleicht diese Erwartungen mit der beobachteten Praxis ab. Die Autorin beschreibt, dass weder Anlässe und Themen, Erwartungen an die Prozessqualität, noch Ergebniserwartungen einen deutlichen Bezug zum Geschlecht der Klient_innen aufweisen. Nur in Bezug auf Erwartungen an das Geschlecht des Coaches gibt es eine Tendenz bei beiden Geschlechtern, eine Frau als Coach zu bevorzugen. Dies, obwohl im © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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ersten Impuls alle Klient_innen sagten, das Geschlecht des Coaches sei ihnen gleich, wenn nur Kompetenz und Kontakt gegeben seien. Männer würden mit einer weiblichen Coach eher das Gefühl verbinden, auf der Beziehungsebene besonders gut angenommen zu sein. Frauen erwarten darin ein größeres Verständnis für die Situation, sich in einer Männerwelt durchsetzen zu müssen und erwarten damit einhergehend auch eine größere Gendersensibilität des weiblichen Coaches. Martens-Schmid beobachtet in diesem Kontext geschlechtsnormative Spekulationen der Klient_innen darüber, ob ein männlicher Coach besser sei, wenn es um organisationsspezifische Belange, um Kompetenzprobleme und – was für die Fragestellung meiner Studie interessant erscheint – um Führung geht. Eine weibliche Coach sei möglicherweise besser geeignet, wenn es um personen- bzw. beziehungsbezogene Themen ginge. In puncto selbstreflexive Forschungspraxis geht diese Studie methodisch mit gutem Beispiel dadurch voran, dass sie eigene bzw. allgemeine Geschlechternormen vorher definiert und mit dem Material vergleicht. Allerdings ist das Problem sozialer Erwünschtheit bei der Befragung eigener Coachees bzw. das der eigenen Erkenntnisbegrenzung bei der Analyse ausschließlich eigener Prozesse auch hier einzuwerfen. Das Ergebnis, dass eine Frau als Coach bevorzugt wird, könnte zumindest auch damit zusammenhängen, dass ihre eigene weibliche Coach die Proband_innen gerade befragt. Vor dem Hintergrund sozialer Erwünschtheit ist das Ergebnis, die meisten Coachees würden eine Frau bevorzugen leider entwertet. Dennoch machen die Ergebnisse deutlich, dass geschlechtliche Attribuierungen im Zusammenhang mit dem Geschlecht des Coaches in der Deutung bzw. Erwartung der Coachees eine Rolle spielen. Bedauerlicherweise findet des Weiteren keine Explizierung bzw. Reflexion von Protokollierungs- bzw. Auswertungsmethoden statt, weshalb die Qualität der Ergebnisse nicht bewertbar ist. Auch macht Martens-Schmid nicht transparent, welche Ergebnisse aus welchem der beiden von ihr hinzugezogenen Materialarten stammen, so dass sich die Ergebnisse aus den beobachteten Beratungsinteraktionen mit den Interviews vermischen, obwohl eine Trennung und auch verschiedene Aussagequalitäten möglich wären. Die jüngste Studie dieser Art führt Jessica A. Walker (2007) durch. Sie untersucht Ereignisse in Interaktionsprozessen bei der Lehrsupervision, die aus der Sicht von Supervisandinnen als direkt oder indirekt geschlechtsbezogen erlebt worden sind. Die Ereignisse sind nach Walker durch folgende Dimensionen beeinflusst: (1) das Geschlecht der Supervisandin bzw. der/des Klient_in der Supervisandin (2) die soziale Konstruktion von Geschlecht oder (3) Stereotype und Unterstellungen von Geschlechterrollen. Die 111 befragten Supervisandinnen bewerten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

68  Kapitel II  Stand der Forschung 48 % der berichteten geschlechtsbezogenen Ereignisse als unterstützend. Die beiden am meisten unterstützenden geschlechtsbezogenen Ereignisse waren (a) wenn Supervisor_innen ein wissenschaftliches Modell eines Falls einer/eines Klient_in diskutieren und dabei Geschlecht als Kategorie integrieren oder (b) wenn sie Fragen geschlechtsbezogener Übertragung und Gegenübertragung mit ihren Supervisandinnen aufarbeiten. Zu den häufigsten als nicht unterstützend bewerteten Ereignissen gehören solche, in denen Supervisor_innen Kommentare über die Supervisandin machen, die auf Stereotypen basieren oder wenn Supervisor_innen eine geschlechtsbezogene Konversation ablehnen, die von der Supervisandin angeregt wird. Zu dieser Studie lässt sich anmerken, dass die Forschungsmethode betreffend erneut nicht deutlich wird, ob die Autorin Hypothesen testend oder generierend vorging, abgesehen davon, dass sie nicht darlegt, ob sie offen oder geschlossen befragt. Die hohe Zahl der Befragten deutet auf eine quantifizierende Hypothesen testende Vorgehensweise. Diesbezüglich ist fraglich, woher die untersuchten Dimensionen generiert werden. Die Trennschärfe der Dimensionen betreffend ist nicht nachvollziehbar, weshalb Stereotype bzw. Unterstellungen von Geschlechterrollen keine sozialen Konstruktionen von Geschlecht darstellen sollen. Die erste Kategorie untersucht hingegen eindeutig als biologisch zugeschriebenes Geschlecht (sex, sex category), die beiden anderen soziales Geschlecht. Offensichtlich wird dies von der Autorin jedoch nicht unterschieden. Diese Punkte deuten deshalb auf eine theoretische Unsicherheit im begrifflichen Gebrauch von sozialem Geschlecht hin. Demzufolge bleibt auch undeutlich, welche Zuschreibungsprozesse – biologische oder soziale – von den Supervisandinnen beobachtet werden. Des Weiteren expliziert Walker nicht, weshalb sie ausschließlich Frauen befragt. Die Unterscheidung von Geschlechtseinflüssen in unterstützend und nicht unterstützend, ist hingegen eine neue Erkenntnis, die die Annahme, Geschlecht sei ein zu vermeidender, weil negativer Faktor, deutlich macht und den Fokus auch auf die Funktionalität von Geschlechtskategorien als Deutungsmuster richtet. Durch das Fehlen einer männlichen Kontrollgruppe geht theoretisch die Möglichkeit einer größeren binnendifferenzierten Perspektive auf die untersuchte Gruppe verloren.

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Anlässe von Frauen für Leitungssupervision bzw. -coaching

Die einzige Studie, die sich mit beiden Themen  – Führung und Geschlecht – im Kontext von Supervision und Coaching beschäftigt, ist ebenfalls eine Interviewstudie, die keine direkten Interaktionen untersucht. Margit Kühne-Eisendle (2006) befragt acht Frauen aus dem ländlichen Raum Österreichs, die im Sozialbereich leiten und Einzelsupervision bzw. Einzelcoaching in Anspruch nehmen. Die Frauen sind zwischen 37 und 46 Jahre alt. Für die Befragung verwendet Kühne-Eisendle offene Leitfrageninterviews bzw. Expertinneninterviews. Ziel der Studie ist es, Gründe herauszufinden, weshalb Frauen in Führungspositionen Coaching bzw. Supervision in Anspruch nehmen und welchen Gewinn sie gegebenenfalls daraus ziehen. Das Hauptergebnis der Studie ist, dass Frauen in Führungspositionen Coaching bzw. Supervision als ständige Begleitung brauchen, um an ihrer Leitungsrolle und damit auftretenden Problemen arbeiten zu können bzw. sich bestärkt zu fühlen. Der zentrale Leidensdruck ist aus Kühne-Eisendles Sicht die Einsamkeit der Entscheidungen. Inhaltlich wird Geschlecht auch von dieser Forscherin als natürliche statische Tatsache hingenommen und nicht auf soziale Bedingtheit infrage gestellt. Möglicherweise verleitete dazu das homogeschlechtliche Setting der Studie. Vor diesem Hintergrund ist die Erkenntnis, dass sowohl die befragten Frauen als auch die Forscherin Frauen geschlechtsnormativ (vgl. Kapitel I, Abschnitt 2) als »Sozialwesen« konstruieren, die in der Führungsrolle darunter leiden einsam zu sein, ein evidentes – wenn auch von der Autorin unintendiertes – Ergebnis. Methodisch ist es ein Defizit, dass die Analysemethode nicht benannt bzw. gezeigt wird. Deshalb ist nicht erkennbar, wie die Forscherin versucht hat, Reifizierungen entgegen zu wirken.

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Soziales Geschlecht als Anlass für Supervision und Coaching

Schließlich möchte ich eine Studie erwähnen, die die einzige ist, die sich explizit mit sozialem Geschlecht beschäftigt. Wolfgang Wilhelm (2007) interessiert, inwiefern Supervision und Coaching von Transgenderpersonen genutzt werden und inwiefern sie in der Bearbeitung von transgenderbezogenen Problematiken hilfreich sind. Dazu führt er Leitfadeninterviews mit elf Transgenderpersonen durch, die er quantitativ © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

70  Kapitel II  Stand der Forschung auswertet. Als Ergebnisse der Untersuchung verzeichnet er, dass Supervision bzw. Coaching von Transgenderpersonen noch nicht sehr oft in Anspruch genommen wird, um Probleme im Arbeitsleben zu bearbeiten. Wenn das dennoch der Fall ist, wird das Thema Transgender von ihnen aber auch von der/dem Berater_in kaum explizit im Beratungsprozess angesprochen. Transgenderpersonen bewerten die Beratung jedoch als erfolgreicher bzw. kompetenter, wenn die/der Supervisor_in sich für die Thematik interessiert, Erfahrungen damit hat und das Thema kompetent ansprechen kann. Wilhelm beobachtet schließlich, dass alle Befragten Bedarf an professioneller Beratung zu Transgender in Verschränkung mit arbeitsplatzbezogenen Themen haben. Dabei sind vor allem Umgangsformen am Arbeitsplatz in der Rolle des Wunschgeschlechts, Begleitung von Wiedereinstiegen nach einer geschlechtlichen Veränderung und Strategien gegen Mobbing, Intrigen bzw. Diskriminierung Themen, die in der Beratung vorkommen sollten. Diese Studie erinnert unschwer an den Ursprung der sozialwissenschaftlichen Forschung zum sozial konstruierten Geschlecht (Doing Gender) (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1). Durch die Erforschung von Transgender kann aufgezeigt werden, dass geschlechtsbezogene Verhaltensweisen erlernt werden müssen und dass eine gesellschaftliche Regel der Zweigeschlechtlichkeit bzw. der damit verbundenen Norm heterosexuellen Begehrens (Heteronormativität)4 existiert. Wie die Ergebnisse von Wilhelm zeigen, stellt Transgender eine seltene Perspektive in der Supervision bzw. im Coaching dar. Es bleibt dabei unklar, von wem eine Tabuisierung von Transgender in der Beratung ausgeht bzw. wie ein gemeinsamer Prozess der (Ent-)Tabuisierung möglicherweise von statten geht. Methodisch ist problematisch, dass anhand von elf Interviews keine quantitative Auswertung sinnvoll ist. Stattdessen wäre womöglich eine qualitative Hypothesen generierende Forschungslogik angebrachter gewesen.

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Zusammenfassung und Konsequenzen aus dem Forschungsstand für das Forschungsanliegen

An der Kritik der bisher vorliegenden Studien zum Themenbereich Supervision/Coaching und Geschlecht bzw. singulär Führung formen sich Ansprüche an Methodik und Theoriegenerierung heraus, die ich für die Umsetzung meines Forschungsanliegens als relevant betrachte. Zunächst zeigt sich in fast allen Studien – zumeist von den Forschenden unintendiert – die Wirksamkeit von Geschlechternormen und zwar © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Zusammenfassung und Konsequenzen

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sowohl für die Ratsuchenden als auch für die Berater_innen. Keine der beiden Seiten scheint sicher davon ausgenommen. Die Ergebnisse widersprechen sich dahingehend, ob und wie viel die Geschlechtskategorie jeweils Einfluss auf das Kommunikationsverhalten der einen bzw. anderen Seite hat. Über die Differenz je nach Geschlechtskategorie gibt es folglich kein eindeutiges Ergebnis. Dies bestätigt den State of the Art der linguistischen Genderforschung (vgl. Kapitel III, Anmerkung 20), dass es das Gesprächsverhalten betreffend weit weniger Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt, als zwischen Männern bzw. zwischen Frauen. Trotz dieser sich widersprechenden Ergebnisse über den Einfluss der Geschlechtskategorie, kann ein Doing Gender, das heißt die Zurechnung von geschlechtsnormativem Verhalten auf die Interagierenden, durch die Studien im Gros bestätigt werden: Sei es, dass Männer als Ratsuchende als autonomer, Frauen hingegen als »Sozialwesen«, die unter der Einsamkeit der Führungsrolle leiden, beobachtet werden. Sei es, dass Supervisoren Projektionsfläche für »Väterlichkeit« in verschiedenen Ausprägungen werden, das heißt von Klientinnen um das Verständnis ihrer Berufstätigkeit ersucht werden und von Klienten deren Bereitschaft zur sachlichen Auseinandersetzung und deren fachliche Qualifizierung erwartet wird. Währenddessen werden Supervisorinnen mit Empathie und weniger Konfliktbereitschaft assoziiert, die einem weiblichen »Geschlechtscharakter« entsprechen – nur um einige der Ergebnisse zu nennen. Auch wenn es Anhaltspunkte gibt, dass es daneben ebenso von Normen unbeeinflusste Teile der Interaktion gibt, dominieren insgesamt Verhandlungen von Geschlechternormen. Die Studien bestätigen damit ungewollt, dass es grundsätzlich Sinn macht, von Supervision und Coaching als sozialen Situationen auszugehen, in denen »doing gender while doing work« versus eine De-Thematisierung von Geschlecht stattfindet. In keiner der Studien wird diesbezüglich rekonstruiert, wie in der Interaktion diese Geschlechtsnormierung konkret validiert bzw. Geschlecht aufgelöst wird, das heißt, wie das Prozesshafte, Wechselhafte und Ambivalente an Geschlecht als Ordnungskategorie zu verstehen ist. Dieses Defizit hat mehrere Gründe. Der erste Grund ist, dass zumeist nicht genügend Kenntnisse über erkenntnistheoretische Konzepte von Geschlecht in der Forschungstradition der Supervision vorhanden sind. Der alltagsweltliche Begriff von Geschlecht wird in den Studien zumeist unhinterfragt übernommen. Dieser Begriff beinhaltet die Prämisse, dass es ausschließlich zwei Geschlechter gibt, die anhand von sozialen Konventionen bei der Geburt (sex) bestimmt werden und in sozialen Situationen festgestellt werden können (sex category). Die bisherige Forschung reflektiert ebenfalls nicht über ihre alltagsweltliche Vorannahme, dass diese Geschlechter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

72  Kapitel II  Stand der Forschung »Frau« und »Mann« sind und darüber, dass diese Annahme kontingent ist. Ausgenommen die Transgenderstudie von Wilhelm (2007) und zum Teil die Studie von Erger & Molling (1991), behandeln alle Studien Geschlecht stattdessen als biologische, statische und nicht als soziale, prozesshafte Kategorie. Sie teilen Personen im Vorab in die Geschlechtskategorien »Frauen« bzw. »Männer« ein und rechnen Unterschiede in deren Verhalten dann auf die Kategorien zu. Damit reproduziert die geschlechts- und interaktionsbezogene Supervisionsforschung die Geschlechternormen, die sie als Ergebnis zu erhalten glaubt. Sprich: Sie reifiziert die Geschlechterdifferenz statt sie zu untersuchen. Dies trifft bedauerlicherweise sogar auf Forschung zu, die explizit mit dem Begriff »gender« statt »Geschlecht« arbeitet. Unschwer kann hier festgestellt werden, dass mit theoretischen auch methodische Schwächen einher gehen, die verhindern, dass Geschlechternormen und Doing Gender untersucht werden können. Auch wenn der Fokus der Analyse ausschließlich auf die Differenz zwischen den Geschlechtskategorien »Frau« und »Mann« gelegt wird und keine Gemeinsamkeiten für möglich gehalten werden bzw. wenn nicht mehr als zwei Geschlechter solange für möglich gehalten werden, bis die untersuchte Praxis dies widerlegt, kommt es zu diesem Hindernis. Es fehlt in den Studien folglich bisher eine Forschungsperspektive, nach welcher Geschlecht selbst als soziale und prozesshafte Kategorie explikationswürdig ist, obwohl es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die angenommene Omnirelevanz von Geschlecht unzulässig ist und zuweilen Neutralisierungsprozesse eine Rolle spielen. Die Konsequenzen für mein Forschungsanliegen betreffen deshalb die theoretische Konkretisierung des Forschungsgegenstandes. Es scheint unabdingbar, dass, zumindest als Ergebnis, genau definiert werden muss, welche der Ebenen von Geschlecht – sex, sex category, gender – untersucht wird. Dass mich, als ein Ergebnis des Forschungsprozesses, ausschließlich gender bzw. die soziale Aushandlung von Geschlechternormen interessiert, habe ich bereits an anderer Stelle festgehalten (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1). Ich werde darauf außerdem in Kapitel III zurückkommen (vgl. Kapitel III, Abschnitt 6). Zum Zweiten muss darüber reflektiert werden, mit welchem Forschungswerkzeug diese Ebene sinnvoll untersucht werden kann. Dazu werde ich in Kapitel III Stellung nehmen. Zunächst so viel: Angesichts dessen, dass die »negotiated order« von geschlechtsbezogener Interaktion kaum durch das Zählen von Signalwörtern erfasst werden kann, ist eine Sinn rekonstruierende Methode dem Gegenstand angemessener. Diesbezüglich wird drittens vor allem deutlich, dass die Fragestellung des Doing Gender besonders Herausforderungen an die Selbstreflexivi© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Zusammenfassung und Konsequenzen

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tät der Forschung während des gesamten Forschungsprozesses – vom Zugang zum Feld bis zur Auswertung – stellt und besondere Vorkehrungen notwendig macht, den eigenen unintendierten Geschlechtsnormierungen als Forscherin entgegenzuwirken. In Kapitel III wird dies einen der Schwerpunkte darstellen.

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Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis

Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf. Platon (2006)

Die Geschichte der Hermeneutik (altgriechisch: auslegen, erklären, übersetzen) als Kunst der Auslegung ist lang. Sie reicht bis in die Antike zurück und in die Gegenwart der verstehenden Soziologie bzw. der qualitativen Methodik der Geistes- und Sozialwissenschaften hinein. Der Kern ihres Selbstverständnisses und das jeder Forschung, die sich als hermeneutische bezeichnet, ist das Verstehen all dessen (bzw. eines Teiles davon), was uns als Menschen umgibt, durch dessen sprachliche Ausdeutung. Damit hat die Hermeneutik sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung, nämlich als »Kunst«, vor allem heilige »Texte richtig zu deuten« (Grondin, 2009, S. 9), entfernt. Sie entwickelte sich über die »methodologische Grundlagenreflexion über den Wahrheitsanspruch und den wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften« (Grondin, 2009, S. 10) zur »universellen Interpretationsphilosophie«, die »Verstehen und Auslegung« als »grundlegende Vorgänge« begreift, »die man mitten im Leben selbst findet« (Grondin, 2009, S. 11). Hans-Georg Gadamer transformiert die Hermeneutik schließlich zur Methode der Geisteswissenschaften, indem er die Sprache als Gegenstand und als Verstehensvorgang in den Vordergrund der Hermeneutik rückt (vgl. Gadamer, 2010; ein Überblick über die Weiterentwicklung der Hermeneutik nach Gadamer ist bei Grondin, 2009, zu finden). Auf dieser erkenntnistheoretischen Basis wurden die qualitativen Methoden der Sozialwissenschaf© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis

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ten konkretisiert. Methodisch geschieht Auslegung hier, wie bereits im Zitat von Platon ersichtlich, auf der Basis von »sinnlichen Anschauungen und Wahrnehmungen« des Forschers und durch »fleißige gegenseitige Vergleichung«, die sich als »dialektische«, das heißt Widersprüche und Gegensätze zulassende, versteht. Die Hermeneutik hat das Ziel das »innere Wesen der Dinge« zu erfassen, indem »Namen« für Phänomene gefunden werden (»definierende Beschreibungen«). Die Haltung des Forschers befindet sich dabei in einer Balance zwischen Distanz und Nähe zum Gegenstand – zwischen »leidenschaftslosen Belehrungen« und »leidenschaftlicher Rechthaberei«. In Abgrenzung zu hermeneutischen Verfahren genießen die nomothetischen bzw. quantitativen Verfahren (vgl. Bohnsack, 2007) in und außerhalb der Sozialwissenschaften große Popularität. Dies scheinbar vor allem aus dem Grund, weil sie soziale Realität in mathematische Formulierungen übersetzen, die schneller in der sie umgebenden Gesellschaft, etwa der Politik, anschlussfähig sind (aus politikwissenschaftlicher Sicht kritisch dazu z. B. Angermüller, 2010). Zwischen beiden Ansätzen sozialwissenschaftlicher Methodik gibt es eine lange Auseinandersetzungshistorie, für die hier nicht der Raum zur Verfügung steht (vgl. dazu etwa Bohnsack, 2007). Im Fokus steht vielmehr die eindeutige Positionierung dieser Arbeit als an die hermeneutische, qualitative Tradition anschließend. Diese Entscheidung folgt der Maxime, die Methode dem Gegenstand angemessen zu wählen. Dabei folge ich Bruno Hildenbrand und Rosemarie WelterEnderlin (2004, S. 253 sowie Hildenbrand 1998, S. 112) für die Therapie und Rolf Haubl (2009, S. 180 f.) für die Supervision, die meinen dass beide eine lange Tradition aufweisen, mit interpretativ-fallrekonstruktiven Methoden erforscht zu werden. Sicher müssen Supervision und Coaching formal von Therapie abgegrenzt werden. Im Vergleich zu dieser, sind sie gesellschaftlich beispielweise nicht verpflichtet, an die Unterscheidung krank/gesund anzuschließen und mit dementsprechenden Deutungsmustern umzugehen, auch wenn es Anlässe bzw. Inhalte gibt, die auch in Supervision/Coaching das Thema Gesundheit, und zwar im Kontext von Arbeit, betreffen können (z. B. Burnout, Drogenmissbrauch). Der Schluss, dass auch Supervisions- und Coachingforschung an diese Tradition der qualitativen Therapieforschung anschließen kann (vgl. Gärtner, 2010, S. 440), scheint insofern als folgerichtig, als auch Supervision und Coaching die einzelne Person in die Verantwortung setzen, etwas am problematischen Sachverhalt zu verändern. Der Unterschied im Vergleich zur Therapie ist, dass das Verhalten der Person nicht im Rahmen von Krankheit gedeutet wird, sondern als durch sie selbst leichter änderbar. Coaching und Supervision sind »personenorientierte Beratungen in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

76  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Organisationen« (vgl. Kühl, 2008). Diese beiden Beratungsformen und Therapie müssen phänomenologisch nicht als voneinander getrennt betrachtet werden, sondern können auf einem Kontinuum gesellschaftlichen Risikomanagements von Personen angeordnet werden.1 Beide Beratungsformen arbeiten fallbezogen. Eine mathematische Standardisierung beraterischer Abläufe wäre deshalb absurd, weil sie ihrer Funktion der fallspezifischen Hilfestellung geradezu entgegenstehen würde. Vielmehr handelt es sich bei Therapie, Supervision und Coaching selbst um hermeneutische Verfahren, insofern sie wahrnehmungsbasiert auf Vergleichen beruhen, die in der Regel dialektisch ausfallen, eine Balance von Nähe und Distanz bezwecken und versprachlicht werden. Ich erweitere deshalb den Vorschlag von Hildenbrand (1998), mit einer der therapeutischen Situation angemessenen qualitativen Methodik zu arbeiten, auch für die Supervisions- und Coachingforschung, insofern sie interaktive Vorgänge untersucht. Dieses Kapitel wird jedoch keine Einführung in die qualitativen Methoden sein, die hier besprochen werden. Für die Darstellung von Geschichte, Prämissen und Formen der qualitativen Sozialforschung gibt es genügend und umfassende Fachliteratur, auf die ich hiermit verweisen möchte (z. B. Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008). Stattdessen sollen in diesem Kapitel für die Bearbeitung der Forschungsfrage relevant gewordene methodische Reflexionen und Prozesse offen gelegt werden. Dies erscheint mir vor allem deshalb notwendig, weil Kapitel II zeigt, dass diese Studie in mehrerlei Hinsicht Neuland betritt: durch die Perspektive von Geschlecht als sozial hergestellt (gender), durch die Untersuchung von Interaktionen und durch die Erforschung von Führung innerhalb des Rahmens von Supervision und Coaching. In Kapitel III muss deshalb vor der Darlegung der besonderen Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Forschungsfrage bereits darüber reflektiert werden, was eine Erforschung von Supervisions- und Coachinginteraktionen insgesamt schwierig macht (Abschnitt 1). Daraus folgen Entscheidungen bezüglich der Protokollierungsmethoden und der Aufnahmetechnik, die in den Abschnitten 3 und 4 erläutert werden. Für die gesamte Genderforschung gestaltet sich die eigene Involviertheit in den Gegenstand der Forschung beim Thema Geschlecht als besonders herausfordernd, mit dem immerwährenden Risiko der Verdinglichung der Geschlechterdifferenz durch die Forscherin selbst. Das Reifizierungsproblem innerhalb dieser Studie wird in Abschnitt 2 erörtert. An diese Überlegungen anschließend werde ich dokumentieren, wie ich dementsprechend Fälle mit welcher Intention ausgewählt habe und wie das Sampling, sowie der Zugang zum Feld von statten gingen (Abschnitt 3). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Reflexion der spezifischen Bedingtheit einer empirischen Erforschung

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Beide Vorüberlegungen aus den Abschnitten 1 und 2 haben jedoch nicht nur Auswirkungen auf Fallauswahl und Feldzugang, sondern auch auf die Protokollierung der Beratungsinteraktionen und auf deren Transkription und Anonymisierung (Abschnitt 4). Zudem wird auch die Auswertung des Materials, mittels Sequenzieller Analyse, systematischer Metaphernanalyse und Kodierparadigma aus der Grounded Theory dadurch beeinflusst (Abschnitt 5). Jeder qualitative Forschungsprozess läuft, im Gegensatz zu quantitativen Verfahren, außerdem zirkulär ab. Es ist darin impliziert, dass das heuristische Instrumentarium sich im Verlauf des Forschungsprozesses verändert, weil man sich als Forscherin in einem Lernprozess befindet. In diesem lernt man vor allem andere, das heißt, differenziertere Fragen an das Material zu stellen. Wo der Forschungsprozess, der die vorliegenden Ergebnisse erbrachte, begann und entlang welcher beiden wichtigen Achsen er sich entwickelte, wird in der »natural history« des Forschungsprozesses dargelegt (Abschnitt 6), bevor Besonderheiten in der Darstellung der Ergebnisse aufgezeigt werden (Abschnitt 7).

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Reflexion der spezifischen Bedingtheit einer empirischen Erforschung von Interaktion in Supervision und Coaching

Die Forschungsfrage befindet sich an der Schnittstelle zweier Gegenstände, deren Beforschung sich besonders schwierig gestaltet. Vor und während des Forschungsprozesses wurden diese Schwierigkeiten immer wieder reflektiert und Grenzen und Möglichkeiten der Gestaltung eruiert. Der erste Gegenstand, welche in der Regel Probleme bei der Erforschung bereitet, ist, neben dem Thema Gender (vgl. Abschnitt 2), die Supervision bzw. das Coaching selbst.

1.1 Öffentlichkeits- und Kontrollfunktion der Forschung für Supervision und Coaching Obwohl es um Supervision und vor allem Coaching eine gesellschaftliche Konjunktur gibt, befindet sich deren wissenschaftliche Erforschung2 deutlich im Abseits. Petzold, Schigl, Fischer & Höfner (2003) mutmaßen in ihrer Metaanalyse zur Supervisionsforschung darüber, wie dies zu erklären sei. Der erste Grund, der bereits die Materialgewinnung einer solchen Forschung erschwert, ist die gesellschaftliche Konstruktion © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

78  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis von Supervision/Coaching als »sozialwissenschaftlich fundierte Praxeologie«, die in »›sensiblen Diskretionsräumen‹ zum Einsatz kommt« (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner 2003, S. 21) und die sich durch die Schweigepflicht der Berater_innen rechtlich absichert. In der Beratung werden zum Teil hochsensible Informationen besprochen, deren Veröffentlichung schwerwiegende Konsequenzen vor allem für die Klient_ innen in ihrer jeweiligen Arbeitsorganisation bzw. ihrer Branche, aber auch für die Organisationen selbst haben können. Für die Berater_innen hätte die Brüchigkeit des durch sie garantierten Schutzraumes zur Folge, dass nicht selten ihre eigene berufliche Existenz auf dem Spiel steht, da ein Vertrauensverlust von enttäuschten Klient_innen bzw. Auftraggeber_innen auch weiter kommuniziert wird und der Berater_in ihre Glaubhaftigkeit als Diskretionsraum entzieht. Wenn sich ein Beratungstandem also für die Forschung öffnet, heißt das, dass sie sowohl einander als auch mir als Forscherin einen enormen Vertrauensbonus schenken, der zum höchsten Grad an Diskretion im Umgang mit diesen Daten führen muss. Im Falle einer Enttäuschung dieses Vertrauensbonus hätte dies, neben den schwerwiegenden Effekten für Klient_in, Organisation und Berater_in möglicherweise zur Folge, dass auch die weitere interaktionsbasierte Forschung über Supervision und Coaching unwahrscheinlicher wird, weil in Beratungsnetzwerken und -verbänden diese und ihr nachfolgende Forschung nicht vertrauenswürdig erscheint. Bezüglich der Anonymisierung wurden denn auch neben den üblichen, besondere Sicherheitsmaßnahmen eingeführt, die ich in Abschnitt 3.2 aufführe, und die den Schutzraum, den Supervision und Coaching bieten, respektieren. Neben dem Problem, das für die Forschung durch erhöhte Diskretion entsteht, gibt es jedoch noch einen weiteren Grund, der Berater_innen möglicherweise daran hindert, an Forschungen teilzunehmen. Dieser Grund hat mit der Historie der Supervision zu tun.3 Petzold, Schigl, Fischer & Höfner führen dafür die historische Verwandtschaft der Supervision mit dem englischen »supervisor« an (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003, S. 199 ff.), welcher im England des 14. Jahrhunderts begründet liegt. Der »supervisor« enthielt einen dominanten kontrollierenden, weil volksbeobachtenden, Schwerpunkt, welcher im heutigen Lehr- und Aufsichtsaspekt von Supervision, beispielsweise in der Lehrsupervision von Psychotherapeut_innen, mündet. Den kontrollierenden Ursprungscharakter hat die Supervision mit der empirischen Sozialforschung gemein.4 In der spärlichen Supervisions- und Coachingforschung spricht, im Unterschied zur Sozialforschung, ein »weitgehendes Fehlen von Untersuchungen der Macht- und Kontrollthematik« (Petzold, Schigl, Fischer & Höfner, 2003, S. 200) dafür, dass dieser historische Aspekt der Selbstbeschreibung der supervisorischen Beratung selbst Schwierigkeiten bereitet: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Reflexion der spezifischen Bedingtheit einer empirischen Erforschung

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»Die Kontrollen der Moderne sind vielfältig. Zu ihren mächtigsten Instrumenten zählt die empirische Forschung. Der massive Widerstand breiter Kreise der Psychotherapie gegen nomothetische Forschung (vgl. Petzold, Sieper 2002) oder auch der festzustellende Mangel an Forschung im deutschsprachigen Bereich der Supervision – vor allem von Effizienzforschung, die ja ›kontrolliert‹ – könnte er nicht (neben vielen anderen Ursachen und Gründen) auch damit zusammenhängen, dass der alte Diskurs machtvoller ›supervisors‹ zum Tragen kommt, die kontrollieren, aber es schlecht aushalten, kontrolliert zu werden?« (ebenda)

Die Erforschung von Coaching/Supervision wird vom Feld selbst deshalb möglicherweise ambivalent bewertet: zwar offiziell, zum Beispiel in Berufsverbänden, als Chance zum fachlichen Erkenntnisgewinn, aber informell auch als Kontrolle »von oben« mit der Gefahr der Demütigung, Abwertung bzw. Aufdeckung eigener Machtpraxen. Die hohen Ansprüche, die an Supervision hinsichtlich der Qualitätssicherung von Arbeit gestellt werden5, tragen sicher zu Befürchtungen der einzelnen Beratenden bei, bei Fehlern in der eigenen Arbeit für sie nachteilig beobachtet und bewertet zu werden. Supervisions- bzw. Coachingforschung muss auch aus diesem Grund mit enormen Widerständen rechnen, was sich beispielsweise in der geringen Bereitschaft von Supervisor_innen/ Coaches zur Teilnahme bzw. zur Aufzeichnung von Beratungssitzungen zeigen kann. Wie ich in dieser Studie versucht habe, mit diesem Problem, welches den Zugang zum Feld betrifft, umzugehen, wird in Abschnitt 3.2 ausgeführt werden.

1.2 Implikationen der infrage kommenden Erhebungsmethoden: authentisches Gespräch versus Interview Eine Möglichkeit, diese beiden Probleme zu umgehen, besteht darin, keine Beratungsinteraktionen aufzunehmen und zu analysieren, sondern mit einer/m der beiden Beteiligten, das heißt Berater_in oder Klient_in, zu sprechen, beispielsweise in Expert_inneninterviews oder in Fokusgruppendiskussionen. Dabei wird die Erinnerung der Beteiligten an die Interaktion abgefragt und aufgezeichnet. Die Forscherin inszeniert damit eine Situation, die so »natürlicherweise« nicht abgelaufen wäre und ist durch ihre Anwesenheit selbst Teil dieser Inszenierung. Beides – Erinnerung und künstliche Inszenierung – stellen Distanzierungen von der real abgelaufenen Interaktion dar, die dazu führen können, dass die Teilnahmebereitschaft von Berater_innen bzw. Klient_innen steigt. Dies auch und vor allem deshalb, weil sie so der Verantwortung für das real © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

80  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis in der Interaktion Abgelaufene, enthobener sind: Es lässt sich leichter darüber reden, wie etwas »richtig« geschieht, als es in vivo »richtig« durchzuführen. Tatsächlich konnte ich beobachten, dass etwa spontanes Interesse von Berater_innen an meiner Untersuchung bestand, solange sie davon ausgingen, dass ich Interviews führe. Nicht selten kam es zu Absagen, als nach einem konkretisierenden Gespräch deutlich wurde, dass ich die Beratungssitzungen direkt aufzeichnen möchte. Als Grund wurde oft die in Abschnitt 1.1 beschriebene Gefährdung der Schweigepflicht mit ihren Folgen angeführt. Macht man also Interviews, ist man als Forscherin auf der pragmatisch richtigen Seite, denn diese Forschung lässt sich leichter organisieren. Dies hat jedoch auch zur Folge, dass der Anspruch fallen gelassen werden muss, direkte Beratungsinteraktionen zu untersuchen. Aber gerade die Interaktionen während und nicht die Äußerungen über Beratung sind es ja, die Beratung als Arbeit alltäglich ausmachen. Es sind mithin vorrangig Ergebnisse über direkt beobachtete Beratungsinteraktionen, die die Supervisions-/Coachingforschung letztlich anwendbar machen. Meine Forschungsfrage, wie in Führungscoachings Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht wird, zielt klar darauf ab, real ablaufende Beratungsinteraktionen zu untersuchen. Aus diesem Grund habe ich an dem Erhebungsformat der authentischen Gespräche (WohlrabSahr & Przyborski, 2008, S. 151 ff.), wie sie im Abschnitt 4 aufgegriffen werden, trotz forschungspraktischer Probleme festgehalten. Es handelt sich hierbei um natürliche Interaktionen, die den höchsten Grad an Authentizität in der Sozialforschung darstellen (Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 17), weil sie den direkten Ablauf der »negotiated order« (zum Begriff vgl. Strauss, 1978 bzw. Strauss, 1993) und deren Relevanzstrukturen zeigen. Nur so können verlässliche Aussagen über Interaktion gemacht werden. Als »natürliches« Material sind sie für die Interaktionsforschung deshalb alternativlos.6 Zudem wählte ich eine Form der Datengewinnung, die keine teilnehmende Beobachtung durch mich darstellte, sondern mich als direkte Teilnehmerin des Gespräches ausschloss (vgl. Abschnitt 4). Diesen Zugang wählte ich deshalb aus, um zu gewährleisten, dass das Gespräch in seiner »Natürlichkeit« so wenig wie möglich durch mich als Forscherin gestört würde. Zu den diesbezüglichen Überlegungen zählten auch solche zum Material und dementsprechendem Technikeinsatz.

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Zum Problem der Reifizierung von Geschlecht

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1.3 Reflexion der Materialgewinnung und des Technikeinsatzes – Visuelle versus Auditive Medien Im Laufe der Studie ist mir oft der interessierte Einwand begegnet, dass ich sicher auch nonverbale Gesten untersuchen würde, weil diese für Beratung, zumal im Fokus von Gender, doch sehr relevant seien. Das Material betreffend, hätte das bedeutet, Videoaufnahmen zu machen; den Forschungsfokus betreffend, hätte dies eine Veränderung weg von der nur verbalen hin zur nonverbalen Interaktion bedeutet – einen vollkommen anderen Forschungszugang, mit anderen Problemen (etwa der Übersetzung von Körperlichkeit in Textlichkeit, vgl. dazu Bohnsack, 2003) und Implikationen7. Dass körperliche Repräsentationen in der sozialen Wirklichkeit von Beratung und auch im Doing Gender relevant sind, sei mithin nicht bestritten. In der Tat sind überaus ertragreiche Forschungen zu diesem Thema vorstellbar. Der Fokus dieser Studie hingegen ist ausschließlich auf die sprachlichen Gesten konzentriert. Dabei musste außerdem abgewogen werden, dass die Ergebnisse schließlich keine Aussagen über das nonverbale Handeln der Sprechenden treffen würden, die Ungestörtheit der Situation jedoch durch eine Kamera mehr beeinträchtigt werden würde, als durch ein auditives Aufnahmegerät. Wie daraus ersichtlich wird, waren nach den inhaltlichen für mich hierbei auch Gründe relevant, die mit dem schwierigen Zugang zum Feld durch Diskretionsverpflichtungen und Kontrollängste (1.1) und der Gewährleistung der »natürlichen Interaktion« (1.2) einher gingen. Der Eingriff in die Situation durch mich als Forscherin sollte deshalb so gering wie möglich gehalten werden. Alle Beratungsgespräche wurden dementsprechend ausschließlich mittels digitalen Diktiergeräts und in einem Fall mittels Notebook jeweils durch den/die Berater_in (dieses Verfahren folgt einem Vorschlag von Flick, 2006, S. 245) und jeweils nach Absprache mit der/dem Klient_in aufgenommen. Insofern handelte es sich um eine durch Technik vermittelte teilnehmende Beobachtung.8

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Zum Problem der Reifizierung von Geschlecht

Die zweite Bedingung, die die Studie methodisch in immer neue Reflexionsprozesse brachte, war das zweite Thema neben Führung, welches im Feld der Supervision/des Coachings untersucht werden sollte: Gender. Angesichts der politischen Ungleichheitssituation, die in Einleitung und Kapitel I aufgezeigt werden, hat meine Studie zwar einen klassisch feministischen Aufhänger, setzt die Untersuchung jedoch nicht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

82  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis als Frauenforschung um. Vielmehr versteht sie die problematische Situation als einen Effekt von »gender« auf Führung, der also nicht nur Frauen betrifft, sondern auch Männer etc. Die Untersuchung schließt sich damit der Geschlechterforschung an, wie sie etwa Cornelia Behnke und Michael Meuser (1999, z. B. S. 7) proklamieren und zieht dementsprechende Konsequenzen für Forschungsfrage, Fallauswahl, Feldzugang und Auswertung (vgl. die Abschnitte 3 bis 5). Meuser und Behnke unterstreichen, dass qualitative Geschlechterforschung, das heißt die Analyse des gesamten und nicht eines (i. d. R. des »weiblichen«) Teils des Phänomens Geschlecht, keine Frauenforschung und ein vergleichsweise junges Forschungsgebiet ist (einen kurzen historischen Abriss der Frauen- und Geschlechterforschung geben bspw. Behnke & Meuser, 1999, S. 19 ff.). Für die Frauenforschung nahmen qualitative Methoden von Beginn an einen hohen Stellenwert ein und haben maßgeblich zu deren Weiterentwicklung beigetragen (vgl. dazu Behnke & Meuser, 1999, S. 45 ff.). Diese besondere Ko-Evolution beeinträchtigt jedoch nicht das zentrale Merkmal jeder qualitativer Forschung: Sie ist in jedem Falle Feldforschung, das heißt, sie involviert die Forscherin ins Feld ihrer Untersuchung, statt sie außen vor zu lassen (vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 59). Allerdings geschieht das hier unter dem Fokus von Geschlecht, einer Dimension, die als schwer reflektierbar gilt und die besonders Gefahr läuft, die Ergebnisse der Forschung nach den nicht intendierten Vorstellungen des Forschers zu beeinflussen, das heißt die Geschlechterdifferenz zu reifizieren (Degele, 2008, S. 133 ff.). Wer Frauen- und/oder Geschlechterforschung betreibt, begibt sich methodisch auf glattes Parkett: Immerfort kann er/sie Gefahr laufen, unbemerkt Unterschiede zwischen Geschlechtern über zu betonen, Gemeinsamkeiten zu ignorieren, Geschlechterklischees unbemerkt ins Material hineinzudeuten und für objektive Ergebnisse einer neutralen Analyse zu halten (ebenda). Diese Reifizierungspotenziale liegen nicht nur in der Auswertung des Materials. Auch in der Fallauswahl, dem Sampling und dem Feldzugang kann es zu Vergegenständlichungen der Geschlechterdifferenz und Ignoranz der Geschlechterindifferenz durch eine vergleichs- und dadurch differenzfokussierte Forschung kommen. Als Forscherin wirkt man etwa bereits im Feldzugang an einer geschlechtlichen Zuschreibung mit, indem man von vorherein vorbestimmt, wer sich im Feld als »Frau«, »Mann« usw. sieht. Dies war bereits beim Anschreiben von Berater_innen der Fall, die ich als »Frau x« oder »Herrn y« ansprechen musste, wenn ich nicht große Verwirrung stiften (etwa durch die Anrede »Frau oder Herr oder sonstige x«) oder unhöflich und des Vertrauens nicht würdig wirken wollte (z. B. durch die Anrede »Hallo« oder »Guten Tag«). Wie in Kapitel II gezeigt wurde, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

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kann man auch durch die Auswahl der Fälle oder die Forschungsfrage die Geschlechterdifferenz vergegenständlichen, bevor eine Zeile Material interpretiert wurde: etwa dadurch, dass man von vornherein ausschließlich Unterschiede und zwar zwischen »Frauen« und »Männern« annimmt und entsprechende Gruppen selbst konstruiert, ohne für gegenläufige Informationen aus dem Feld offen zu sein. Dasselbe gilt für die Auswertung des Materials. Dazu kommt, dass man es nicht kontrollieren kann, von den Proband_innen selbst als »Frau«, »Mann«, »schwuler Mann«, »Transvestit«, »männliche Frau« etc. beobachtet und eingeordnet zu werden. Das bedeutet, dass auch Forscher_in und Proband_in mehr oder weniger expliziten Doing Gender-Prozessen unterworfen sind. Für mich als Forscherin bedeutete das, mir Strategien zu überlegen, meine eigenen geschlechtlichen Zuschreibungen und auch die von anderen zu neutralisieren, wohl wissend, dass ich Geschlecht als Ordnungskategorie niemals völlig ausblenden können würde (zu den konkreten Neutralisierungsstrategien vgl. die jeweiligen Abschnitte zur Fallauswahl, Feldzugang und Auswertung).

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Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

3.1 Bestimmung eines Falls – Interaktion statt Person Als Fall wurde in dieser Studie nicht eine Person, etwa die/der Berater_in bzw. die/der Klient_in, sondern die Interaktion zwischen beiden bestimmt. Diese Perspektive ist die Konsequenz aus meiner Forschungsfrage, die nach dem Doing Gender, das heißt der interaktiven und nicht etwa der persönlichen Validierung von Geschlechternormen (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1) fragt. Da diese Validierung immer zwischen mindestens zwei Menschen über deren Interaktion geschieht, macht diese Falldefinition für die Forschungsfrage Sinn. Demgemäß mussten Interaktionen zwischen Supervisor_innen/Coaches und Leitungskräften, die sich bei ihnen in Beratung befanden, gefunden werden, insofern davon ausgegangen wurde, dass es in diesen Interaktionen sowohl um Führungsnormen als auch um deren Verschränkung mit Geschlecht gehen würde. Die Interaktion sollte mit einer Führungskraft stattfinden, die bereits Klient_in der Berater_in sein und die der/die Berater_in selbst fragen sollte, an der Studie teilzunehmen. Ich wählte dazu bereits etablierte Führungskräfte aus, weil ich davon ausging, dass sie die Regeln, nach denen Führung stattfindet, bereits umfassend aus eigener Erfahrung ken© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

84  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis nen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass ich Führung konkretisieren musste, wenn die Studie nicht Gefahr laufen sollte, auch Personen, die »sich selbst führen« (z. B. Ich-AGs) oder die in Organisationen Personal beraten als Führungskräfte einzuschließen. Das Kriterium nach welchem von der Berater_in bemessen werden sollte, ob es sich um eine Führungskraft handelt, war die Personalverantwortung der Klient_in.

3.2 Zugang zu einem heiklen Feld Als Feld habe ich Supervisions-/Coachinginteraktionen in Deutschland und durch dort lebende Personen ohne Migrationshintergrund festgelegt. Aus forschungspraktischen Gründen, das heißt der zeitlichen Begrenztheit des Projektes, habe ich sowohl andere deutschsprachige Interaktionen (z. B. zwischen Personen mit Migrationshintergrund, in Österreich, in der Schweiz) bewusst aus dem Fokus meiner Fragestellung ausgeschlossen als auch die Erforschung der internationalen Beratungsszene. Trotz regionaler Einschränkung sollte sich der Feldzugang als eine der ersten Schwierigkeiten erweisen. Er ging über die Berater_innen von statten, da davon ausgegangen wurde, dass ihr Interesse an Beratungsforschung größer sei, als das von Führungskräften. Die beiden Zugänge können in aktiven und passiven Zugang unterschieden werden und zwar danach, ob die Beraterin dafür aktiv werden, zum Beispiel auf eine Ausschreibung reagieren, musste oder durch mich bzw. andere angesprochen wurde (vgl. Tabelle 2). Für beide Formen des Zugangs entwarf ich ein standardisiertes Anschreiben für die Berater_innen und eines zur Information ihrer Klient_innen9, die der Aufnahme der Gespräche ebenfalls zustimmen mussten. Das Feld von Supervision und Coaching ist dabei ein dynamisches, zum Großteil deshalb, weil die Begriffe »Supervision« und »Coaching« nicht geschützt sind. Jede/r der/die ihre/seine Tätigkeit damit überschreiben möchte, kann dies tun, auch ohne kontrollierte Ausbildung oder Qualitätssicherung. Das Feld, was sich daraus ergibt, ist deshalb sehr groß. Aus diesem Grund konzentrierte ich mich auf Berater_innen, die Mitglied innerhalb eines Dachverbandes waren bzw. eine zertifizierte Ausbildung hatten. Alle in den Fällen A bis E untersuchten Berater_ innen sind von einem Berufsverband zertifiziert. Dieses Merkmal habe ich bewusst konstant gehalten. Die Berater_innen im Sample folgen unterschiedlichen Beratungsschulen. Diese Schulen, oft auf der Basis von Therapieschulen, sind eine Besonderheit in der deutschen Beratungslandschaft. Im englischsprachigen Raum gibt es diese Besonderheit zum Beispiel nicht. Dort wird © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

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Tabelle 2: Zugänge zum Feld

aktiv

− Berufliche Netzwerke (Xing, Netzwerke von Doktoreltern, Vertrauensdozentin, Doktorand_innen, eigene beratungsbezogene Netzwerke) − Vorträge von Berater_innen im wissenschaftlichen bzw. politischen Feld

passiv

− Ausschreibung in Newslettern, Mitgliederzeitschriften und auf Homepages von Berufsverbänden bzw. gezieltes Anschreiben von Berater_innen

agogischer nach definierten Zielen wie Umgang mit Krisen, Reflektion und innovativer Transfer von Erfahrungen vorgegangen (vgl. etwa van Hees & Geißer-Pilz, 2010). International gibt es darüber hinaus keine Einigung darüber, wie Supervision/Coaching verfahren sollte. Um im Vorab keine Berater_innen mit nichtdeutschen Qualifikationen durch das Vorauswahlkriterium der Therapieschule auszuschließen, habe ich entschieden dieses Kriterium nicht für die Fallauswahl zu verwenden. Ein zweites Merkmal, welches ich bewusst konstant hielt, bezog sich auf die Berufserfahrung der Berater_in. Ich ging davon aus, dass der Beratungshabitus und dementsprechende Routinen beim Beraten sich erst nach einer Einstiegsphase verfestigen. Deshalb setzte ich zu Beginn mindestens fünf Jahre Beratungserfahrung voraus. Später öffnete ich das Sample wieder für Berater_innen in der Ausbildung oder Personen, die ihren Abschluss unlängst erworben haben. Dazu kooperierte ich mit einem Ausbildungsinstitut für Coaching, wobei es allerdings zu keinen Aufnahmen kam. Insgesamt habe ich 60 Supervisor_innen bzw. Coaches persönlich angeschrieben und fünf Ausschreibungen in Berufsverbänden unternommen und begleitet. Aus der persönlichen Kontaktaufnahme über berufliche und private Netzwerke ergaben sich Kontakte zu 20 Berater_innen. Diesem persönlichen und für die Berater_innen passiven Zugang entstammt das Material für zwei der Fälle aus dem Sample (aus Gründen der Anonymisierung wird nicht angegeben, um welche Fälle © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

86  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis es sich dabei handelt). Insgesamt wurde von fünf Berater_innen nach diesem Zugang Interaktionsmaterial aufgenommen.10 Der zweite Zugang zu Berater_innen wurde über Dachverbände versucht. Insgesamt habe ich vier deutsche Dachverbände für Coaching bzw. Supervision angeschrieben und von dreien kooperative Angebote, das heißt das Angebot der Ausschreibung meines Proband_innengesuches oder die gezielte Ansprache von Berater_innen durch den Verband, erhalten. Diese Verbände haben insgesamt circa 4800 Mitglieder. Darüber ergaben sich Kontakte zu Berater_innen, die in drei der hier analysierten Fälle mündeten. In beiden Zugängen gestaltete sich das Finden von teilnahmebereiten Berater_innen und Klient_innen als mühsam. Dies hatte mehrere Gründe. Erstens führten nicht alle Berater_innen ständig und viele Einzelberatungen durch. Dies hat vor allem einen ökonomischen Grund, denn Teamcoachings bzw. Trainings in Unternehmen/Organisationen werden beispielsweise oftmals höher honoriert als Einzelsettings. Zweitens gab es auch zeitliche Strukturen, die für die Forschung Auswirkungen hatten. Berater_innen passen sich scheinbar an den wirtschaftlichen und zeitlichen Rhythmus vieler Organisationen an, was zum Beispiel bedeutet, dass in den Sommermonaten Juni bis August kaum Beratungen stattfanden. Drittens passten nicht alle Klient_innen, die in Einzelberatungen waren, in das Profil einer Führungskraft mit Personalverantwortung. Der Großteil an Klient_innen waren Angestellte, Beamte oder allein arbeitende Selbständige. Daneben haben einige Berater_innen auch Doppeltätigkeiten, wie etwa als Therapeut_innen. Patient_innen kamen für meine Studie ebenfalls nicht infrage. Viertens lehnten Berater_innen eine Teilnahme ab, weil sie Angst hatten, dass sie bzw. ihre KlientInnen im Material erkannt werden würden und dies weitreichende Auswirkungen haben würde. Schließlich stimmten auch Klient_innen einer Aufnahme des Gespräches nicht zu, weil sie befürchteten, dass Informationen trotz Anonymisierung als organisationsspezifisch erkannt werden und Auswirkungen auf ihre Situation haben würden. Auch in Bezug auf das Geschlechterthema kann ich anhand von Reaktionen Gründe für eine gehemmte Teilnahmebereitschaft ableiten. Da ich über diesen Teil meiner Forschungsfrage nur die Berater_innen informierte, sind die Klient_innen davon ausgenommen. Ganz direkte Reaktionen darauf erhielt ich in der Regel jedoch auch von Berater_innen nicht. Eine der beiden Reaktionen war eine Absage eines Coaches, der sich nach zwei Wochen nach seiner begeisterten Zusage besann und meinte, ich solle doch besser weibliche Coaches ansprechen. Daraufhin fragte ich ihn hypothesenhaft, ob er auch Angst habe »als Mann« unter Diskriminierungsverdacht zu geraten, worauf er nicht einging, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

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sondern mir sehr freundlich ein Telefongespräch über eine Vermittlung zu Beraterinnen anbot – sogar während seiner Urlaubszeit im Ausland. Die Terminvereinbarung für dieses Telefongespräch schlief jedoch von seiner Seite aus ein. Diese Begebenheit passt aus meiner Sicht zu den Ergebnissen der Studie selbst (vgl. Kapitel VI), nachdem »Mann«-Sein gesamtgesellschaftlich zumeist tabuisiert wird und die Enttabuisierung mit (internalisierten) Sanktionen belegt ist. Auch die zweite Reaktion eines Beraters passt zu diesem Aspekt des Feldzugangs. Der Kontakt kam über ein Schneeballsystem zustande. Der Berater bestätigte im Kontakt mit mir, dass er »Männercoach« sei, obwohl er sich nach außen nicht so nenne. Er erklärte sich nicht dazu bereit, Interaktionsmaterial aufzunehmen, sondern nur zur Aufzeichnung eines Expertengesprächs. Seine Vermutung war, dass seine Klienten dem nicht zustimmen würden. Er selbst äußerte sich außerhalb des Experteninterviews so, dass er »geschützte Räume für Männer« garantiere, weil diese sich oft in »männlichen Identitätskrisen« befänden (Beobachtungsprotokoll vom 18. 6. 2009). Der Umstand, dass er diese Information unter keinen Umständen dann erwähnte, als ein Aufnahmegerät dabei stand, betont die Brisanz dieser Information aus seiner Deutung heraus. Dieses Verhalten stützt die Annahme, dass »Mann«-Sein in bestimmten Kontexten bzw. Milieus kein Thema sein darf, sondern durch Tabus geschützt in besonderen Räumen abläuft. Wie wir daran sehen, haben die drei Probleme, die in den Abschnitten 1 und 2 beschrieben wurden, Relevanz für den Feldzugang: Forschung wird veröffentlicht und damit begibt sie sich in ein Spannungsverhältnis zur Diskretion von Supervision/Coaching. Außerdem sind es Berater_ innen nicht gewohnt, bei ihrer Arbeit fachlich beobachtet zu werden. Des Weiteren stellt (männliches) Geschlecht ein heikles Thema dar. Für die Forscherin bedeuten die Umstände, die die Diskretion betreffen, dass sie hochkooperativ kommunizieren, Geduld und Verständnis für lange Entscheidungsprozesse von Berater_in bzw. Klient_in aufbringen und vor allem Diskretion garantieren muss. Diskretion gegenüber den Klient_innen wurde etwa dadurch sichergestellt, dass ausschließlich der/ die Berater_in deren Namen und den der Organisation kannte, außer sie wurden im Gespräch aufgenommen. Der/Die Berater_in bekam ein Informationsblatt für den/die Klient_in von mir ausgehändigt, welches durch den/die Berater_in vorher in Inhalt und Stil korrigiert werden konnte, wenn sie/er das wollte. Bei Bedarf habe ich angeboten, der Klient_in persönlich für Nachfragen zur Verfügung zu stehen. Ich habe zugesichert, dass das nicht anonymisierte Material nur mir allein zugänglich sein würde und meine Forschungsethik gegenüber beiden Proband_ innen explizit über meinen Berufsverband (damals: BDS) verpflichtet. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

88  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Bei starkem Zweifel der Teilnehmenden, habe ich das Recht eingeräumt, die gesamte Aufnahme oder Teile davon wieder zu löschen (zu dieser Vorgehensweise vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 158). Eine weitere Form der erhöhten Partizipation der Proband_innen, war die Zusicherung des Rechts, dass die Berater_innen vor Abgabe der Dissertation die Anonymisierung meines Textes überprüfen dürfen. Außerdem habe ich zugesichert, das Material sofort nach der Aufnahme zu anonymisieren und keine unanonymisierte Transkription herzustellen. Bei der Ausschreibung über die Berufsverbände, gab ich meine Adresse als Kontaktadresse an, um dem Eindruck entgegen zu wirken, dass ich dem Verband Informationen über die Berater_innen zukommen lassen würde (zur Fallgewinnung authentischer Gespräche in institutionalisierten Kontexten vgl. Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 157 f.). Angesichts der Reifizierungsproblematik von Geschlecht, die ich im Abschnitt 2 dargelegt habe, habe ich im Anschluss an Flicks Vorschlag für die Untersuchung heikler Felder (Flick, 2006, S. 89) eine Melange aus Verdecktheit und Offenheit versucht, was die Definition meiner eigenen Rolle im Feld betraf. Für die Berater_innen war die Geschlechtsbezogenheit meiner Fragestellung offen, wiewohl ich sie im Anschreiben bewusst offen formulierte: »ob, und wenn ja, wie geschlechtsbezogene Kommunikationsprozesse, während Coachinggesprächen eine Rolle spielen«. Damit wollte ich eine günstige Bedingung dafür herstellen, dass viele Facetten von Geschlecht, das heißt »Mann«-Sein, »Homosexuell«Sein etc. als Thema vorkommen können. Ich ging davon aus, dass das Thema »Frau«-Sein ohnehin mit Geschlecht assoziiert werden würde. Dem Problem der Reifizierung der Geschlechterdifferenz durch mich als Forscherin (vgl. Abschnitt 2 in diesem Kapitel) sollte damit ebenfalls entgegen gewirkt werden, da ich »Geschlecht« nicht als »Frau«/»Mann«Differenz vorstrukturierte.11 Den Berater_innen sagte ich mithin explizit, dass sie das Thema nicht forcieren müssen, sondern es ein ganz normales Beratungsgespräch sein soll. Dadurch war für sie ein Spektrum zwischen aktiver Initiation eines Geschlechterthemas und »Normalität« – was immer dies auch bedeuten mochte – aufgezeigt, in dem sie sich durch ihr Beratungshandeln positionieren konnten. Als zweiten Schritt gegen Reifizierung erwähnte ich im Anschreiben an beide Proband_innen jeweils mich und meinen Doktorvater namentlich. Damit beabsichtigte ich als gemischtgeschlechtliches Forschungsteam aufzutreten, ohne das so zu benennen, mit dem Effekt, dass soziale Erwünschtheit bezüglich der Interaktion damit eingegrenzt werden sollte. Zu den erhofften Effekten gehörte, dass es keine Projektionen geben sollte, wer ich sei und welche Forschungsergebnisse ich wohl © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

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»als Frau« bzw. »als Feministin« erwarte (auf solche Zuschreibungen weisen Behnke und Meuser (1999) hin). Vielmehr sollte die geschlechtsbezogene Projektion auf mich und meinen Doktorvater fallen und von beiden Sprechenden diversifiziert werden können. In Absprache mit den Berater_innen trat ich schließlich für die Klient_ innen als Forscherin in einem Kooperationsprojekt der Berater_in mit der Universität auf, in welchem es um Qualitätssicherung in Supervision/ Coaching geht. Das Geschlechterthema habe ich ihnen gegenüber zum einen deshalb verschwiegen, weil ich den Effekt, dass die Berater_innen meinen Forschungsfokus kennen und möglicherweise in der Interaktion sozial erwünscht reagieren, abmildern wollte. Die Berater_innen mussten so auf die Unkenntnis ihrer Klient_innen Rücksicht nehmen, was immer dies auch in der Praxis bedeutete. Zum anderen wollte ich die beruflich ernsthaften Anliegen der Klient_innen, die zudem die Beratung zum Teil privat finanzierten, nicht vordeterminieren.

3.3 Eigene Rolle im Feld Meine eigene professionelle Rolle im Feld war im gesamten Prozess ausschließlich die der Forscherin. Gegenüber allen Proband_innen trat ich in dieser Rolle auf. Sie und ihre Verpflichtungen ermöglichten mir Distanz zum Gegenstand und die forschungsethische und methodische Seriosität meiner Forschung. Die Nachteile dieser Rolle lagen jedoch in dem Öffentlichkeits- und Kontrollcharakter, den ich in Abschnitt 1.1 bereits referierte und der einen Zugang zum Feld schwer machte. Das verdeckte Kontextwissen, auf das ich durch meine eigene Ausbildung und Tätigkeit als Systemische Coach (SG) zurückgreifen konnte, hatte für meine Rolle als Forscherin dabei sowohl Vor- als auch Nachteile. Vorteilig wirkte sich die eigene Beratungserfahrung auf die Empathie für die Berater_innen aus, vor allem in Form eines erhöhten Verständnisses für Diskretionsbedürfnisse, auch im Hinblick auf Klient_innen. Ein weiterer Vorteil war die Kenntnis von Fachliteratur bzw. – verbänden, des Spektrums von Beratungsmethoden bzw. -ansätzen, typischen Problemen des Beratungsprozesses innerhalb des Auftragssystems (Auftragsgestaltung, Kontrolle durch Auftraggeber_innen, Regelmäßigkeit der Sitzungen, Finanzierung etc.). Ferner konnte ich durch meinen eigenen Beratungshintergrund semantisch gut an die Beratungssprache anknüpfen. Für die Bildung von Vertrauen in meine Forschung war dies sicher von Vorteil, wie auch für die Steigerung der Akzeptanz der Forschung. Aber Empathie und Erfahrung erzeugten auch einen Nachteil, denn möglicherweise wäre eine Forscherin ohne Beratungshintergrund »rück© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

90  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis sichtsloser« gegenüber den Bedingungen des Feldes vorgegangen, möglicherweise aber auch eher gescheitert.

3.4 Theoretisches Sampling nach der Grounded Theory – Externe und interne Kontrastierung Die Teilnahmebereitschaft an der Studie konnte als sehr unwahrscheinlich angesehen werden. Als günstig haben sich unter solchen Bedingungen Fallgewinnungsverfahren erwiesen, die nicht nach einem anonymen Zufallsprinzip vorgehen, sondern als »purposive sampling« (Schnell, Hill & Esser, 1995, S. 279 ff.), das heißt als absichtsvolle Fallauswahl, initiiert werden. Das Sampling wurde dem folgend als Schneeballsystem initiiert: Berufliche und persönliche Kontakte wurden über die Suche nach Proband_innen informiert und um Weiterempfehlung gebeten. Bei der Suche und Auswahl der Fälle spielten theoriegeleitete Kriterien eine Rolle, die schrittweise in das Netzwerk kommuniziert wurden. Ich bin beim Sampling der schrittweisen Fallauswahl nach dem Schema des theoretischen Sampling von Barney Glaser und Anselm Strauss (1998, S. 70 f.) gefolgt: »Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorien zielenden Prozeß der Datensammlung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel sammelt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind, um seine Theorie zu entwickeln, während sie emergiert. Dieser Prozeß der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene […] Theorie kontrolliert.« (Glaser & Strauss, 1998, S. 53)

Mit dem theoretischen Sampling war die Zusammenstellung der Fälle und deren Kontrastierung von einer der Vorgehensweisen der Grounded Theory geleitet, wie sie von Glaser und Strauss (zur Darstellung der gesamten Methode und ihrer Entwicklung vgl. Glaser & Strauss, 1998) begründet wurde. Das Sampling, als theoretisches Sampling gestaltet, ist – neben der Form der Auswertung mit dem Kodierparadigma, die in Abschnitt 5 zum Tragen kommt – eines der Handwerkszeuge der Grounded Theory. Anhand erst offener und später theoretischer Kriterien soll eine Kontrastierung von Fällen ermöglicht werden und damit auch ein Feld, für welches die Aussagen letztlich Gültigkeit besitzen. Alle Berater_innen, die an den Interaktionen/den Fällen beteiligt sind, weisen mindestens fünf Jahre Beratungserfahrung und eine Zertifizierung eines Dachverbandes für Supervision bzw. Coaching auf. Alle Klient_innen sind Leitungskräfte mit Personalverantwortung und Wei© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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sungsbefugnis. Im Sample befinden sich außerdem ausschließlich Fälle, die freiwillig zustanden kamen. Gemäß dem theoretischen Sampling stellen die Fälle, abgesehen von diesen gemeinsamen Kriterien, vorrangig Kontraste zueinander dar. Die Fälle A bis E unterscheiden sich dabei entlang der Kriterien, die Tabelle 3 zeigt. Das Sample stellt damit eine Bandbreite von Beratungssituationen dar, die sich bezüglich dieser Kriterien unterscheiden. Tabelle 3: Theoretisches Sampling nach Kontrastierungskriterien Berater_in

− »Gender-Expert_innen-Wissen«: beratungsbezogen/beratungsextern/keines (Fall A/Fall B und C/ Fall D und E)

Klient_in

− Leitungsebene: mittlere Leitungsebene/ Inhaber_in (Fall A, B, C, E/ Fall D) − Organisationstyp: Non-Profit/ Profit (Fall A, B, C, E/Fall D) bzw. Sozialer Sektor (Fall A, B, C)

Beratung

− Stellung des Gespräches im Beratungsprozess: Erstgespräch/ im Prozess (Fall E/ Fall A bis D) − Geschlechtskategorien in der Dyade: w/w, w/m, m/w, m/m (Fall A, B/ Fall C/Fall D/Fall E)

Ein theoretisches Kriterium ist etwa die berufliche Erfahrung der Berater_in mit Geschlecht und dementsprechendes Wissen. Da davon ausgegangen werden kann, dass »Geschlechterwissen« im Sinne einer Alltagsunterscheidung, jedem zur Verfügung steht und auch von jedem verwendet wird, wird mit Wetterer (2008) konkretisiert, dass es sich neben »alltagsweltlichem Geschlechterwissen« auch um das »Wissen praxisorientierter Gender-Expert_innen« und »wissenschaftliches Geschlechterwissen« handeln kann (Wetterer, 2008, S. 57)12. »Alltagsweltliches Geschlechterwissen« ist ein »inkohärentes und plurales Erfahrungswissen, das Handlungsfähigkeit ermöglicht und den sinnhaften Aufbau der Alltagswirklichkeit ebenso voraussetzt wie fortschreibt« (Wetterer, 2008, S. 50). Diese Wissensform ist »weitgehend vorreflexiv« und orientiert sich an der bipolaren Unterscheidung zwischen Mann und Frau, ohne Distanz dazu. Das »Wissen praxisorientierter GenderExpert_innen« verfügt im Vergleich dazu, über eine »reflexive Distanz«, »die es ihnen ermöglicht, die Beziehung zwischen Wissen und Handeln von Fall zu Fall herstellen und sehen zu können« (Wetterer, 2008, S. 52) und »die Handlungsrelevanz ihres Wissens jeweils adressatenbezogen unter Beweis zu stellen und deutlich zu machen, dass und was Gender Management, Gender Budgeting oder Gender Trainings beitra© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

92  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis gen zur Erreichung der jeweiligen Organisationsziele« (Wetterer, 2008, S. 53). »Wissenschaftliches Geschlechterwissen« unterscheidet sich vom Expert_innenwissen dadurch, dass es »handlungsentlastet« ist, das heißt »die Orientierung an alltagsweltlichen Sinnbezügen [ist] für dessen Produktion und Gestalt ohne Relevanz« (Wetterer, 2008, S. 55). Allerdings ist es selbst eine »soziale Praxis«, »die der Anerkennung bedarf« (ebenda). Eine reflexive Distanz zu Geschlecht als Ordnungskategorie steht also nur bestimmten Praxisfeldern zur Verfügung. Die Fälle A, B und C erfüllen das Kriterium des »Gender-Expert_innen-Wissens« der Berater_in in verschiedener Ausprägung. Damit sollte untersucht werden, ob und wie sich gegebenenfalls dieses Wissen im Vergleich zum »alltagsweltlichen Geschlechterwissen« des Beraters in den Fällen D und E auf die Interaktion über Führung und Geschlecht auswirkt. Dies ist vor allem von Interesse, um zu beurteilen, inwiefern sich dieses Wissen für die Beratung »lohnt« bzw. es darin sichtbar wird und einen Unterschied macht. Im Fall A etikettiert sich die Beraterin Frau Burmeier nach außen sichtbar als »Frauencoach«. Sie berät zum Großteil Frauen und hat Erfahrungen als Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstrainerin für Frauen. Ihr Wissen als »Genderexpertin« betrifft neben der Spezialisierung auf die Belange von weiblichen Personen im Berufsleben auch Körperpraxis. Die Beraterin Frau Henschel in den Fällen B und C weist Erfahrungen im Gender Mainstreaming auf.13 Das daraus generierte Expertinnenwissen kommt jedoch nicht in ihrer von außen erkennbaren Selbstdarstellung als Beraterin, beispielsweise im Internet, vor. Sie bezeichnet sich weder als »Gendercoach«, noch zeigt sie nach außen eine Spezialisierung auf die Beratung von Frauen bzw. Männern (»Frauencoach«, »Männercoach«). Ihre Klientel besteht sowohl aus Frauen als auch aus Männern. Frau Henschel hat demnach beratungsexternes »Gender-Expert_innenWissen«, welches sie für ihre Identität als Beraterin nicht expliziert. Für Klient_innen und den entsprechenden Rahmungsprozess der Beratung scheint dieses Wissen aus ihrer Sicht nicht relevant. Der Berater Herr Werner in den Fällen D und E weist demgegenüber kein solches Wissen auf. Dies wurde aus dem nicht vorhandenen Etikett in der Selbstbeschreibung wie beispielsweise »Gendercoach«, »Frauencoaching«, »Männercoach« abgeleitet, wie auch an seiner explizit geäußerten Motivation für die Teilnahme an der Studie, sich weniger für Genderfragen, als vielmehr für qualitative Methodik zu interessieren. Das zweite und dritte theoretische Kriterium entlang welchem ich Fälle miteinander kontrastiert habe, setzte bei der Klient_in an. Zunächst unterscheiden sich die Fälle A, B, C, E vom Fall D dahingehend, als letzterer als einziger eine Beratung der 1. Leitungsebene der Klientin darstellt. Die Klientin Frau Bühlau ist die Inhaberin ihrer Firma wäh© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

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rend die übrigen Klient_innen jeweils auf der zweiten Leitungsebene führen. Außerdem ist ihre Firma die einzige Profit-Organisation in den Fällen. Die Organisationen der anderen Klient_innen sind NonProfit-Organisationen und sind in den Bereichen Familienhilfe, offene Ganztagsschule, kirchliche Kindertagesstätte und Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt. Mit diesen beiden Kriterien sollte vor allem der Unterscheidung in der sozialen Praxis nachgegangen werden, Posten im Top-Management würden ganz anders funktionieren, als im mittleren Management und Non-Profit-Organisationen anders als solche die Profit vorweisen müssen. Außerdem sind Organisationen im Sozialbereich, wie die der Klient_innen der Fälle A, B, C horizontal geschlechtssegregiert (vgl. Kapitel I). Durch ihre Familienanalogie haben sie eine weibliche Tradition. Es sollte untersucht werden, ob es hier ein anderes Führungsverständnis gibt, welches »Frau«-Sein mehr impliziert als in der Profit-Organisation der Klientin im Fall D, die in einem vermännlichten technischen Bereich angesiedelt ist und womöglich eher »Mann«-Sein mit Führung zusammen denkt. Weitere Kriterien, um ein diverses Sample zusammen zu stellen, beziehen sich auf die Beratungssituation. So unterscheiden sich die Fälle darin, dass die Sitzungen an verschiedener Stelle im gesamten Beratungsprozess stattfanden. Dieses Kriterium entstammt der Beratungspraxis, die Erstgespräche scharf von folgenden unterscheidet, weil hier die Regeln der Zusammenarbeit und der Arbeitsbeziehung expliziter geklärt werden als danach. Ich habe vermutet, dass einerseits die geschlechtsbezogenen Regeln von Führung hier expliziter geklärt werden. Andererseits stand dem entgegen, dass aufgrund seiner Brisanz, Geschlecht im Erstgespräch weniger thematisiert werden würde, als in späteren Sitzungen eines Beratungsprozesses. Fall E stellt als einziges ein Erstgespräch dar, während die Fälle B und C jeweils die vierte, Fall A die fünfte Sitzung darstellen und auch der Sitzung im Fall D bereits zwei voraus gegangen sind. Schließlich unterscheiden sich die Fälle auch bezüglich der Dyadenzusammenstellung nach den Geschlechtskategorien. Es handelt sich um ein Kriterium, welches zu Beginn der Studie als externe Kontrastierung zuerst eingeführt und später durch die anderen internen Kontrastierungen ergänzt wurde. Dieses Merkmal kommt dem Forschungsstand (vgl. Kapitel II), als auch Hypothesen aus der Beratungspraxis nach, nachdem »Frauen« anders als »Männer« miteinander und jeweils auch in gemischtgeschlechtlichen Räumen miteinander interagieren. In den Fällen A und B sprechen jeweils zwei weibliche Personen miteinander, im Fall E zwei männliche. Die Fälle C und D sind heterosoziale Dyaden, insofern dort eine Beraterin mit einem Klienten bzw. ein Berater mit einer Klientin sprechen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

94  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Das Sample als Ergebnis der Zusammenstellung der Fälle dieser Studie sieht so aus, wie Abbildung 1 es zeigt. Daraus wird auch ersichtlich, nach welchen Kriterien jeweils zwei Fälle miteinander verglichen wurden und wie aus den Ergebnissen des Vergleiches der jeweils nächste Fall bestimmt wurde. Die unterstrichenen Merkmale stellen dabei in der Abbildung das nach Maßgabe der zu entwickelnden Theorie neue Kontrastkriterium dar. Der kontrastierende Vergleich der Interaktionen begann bei Fall A, der die Merkmale des expliziten »Gender-Expertinnen-Wissens« der Beraterin und die Beratung der 2. Leitungsebene in einer Non-ProfitOrganisation als homosoziale weibliche Beratungsdyade aufweist. Im Fall B wird die homosoziale weibliche Dyade ebenso beibehalten, wie die Beratung auf zweiter Leitungsebene und die Non-Profit-Organisation. Der Unterschied zum ersten Fall ist hingegen das »Gender-ExpertinnenWissen«, welches durch die Beraterin im Fall B nicht expliziert wird. Um einen Kontrastfall dazu zu prüfen, wurden die Merkmale der zweiten Leitungsebene, der Non-Profit-Organisation und des impliziten »Gender-Expertinnen-Wissens« im Fall C konstant gehalten und lediglich eine Geschlechtskategorisierung der Beratungsdyade verändert. Im Fall C trifft im Kontrast zu den vorhergehenden Fällen eine Beraterin auf einen Klienten. Im Fall D wurden weitere Merkmale variiert. Es ist der einzige Fall, in welchem die Klientin auf erster Leitungsebene und in einer ProfitOrganisation arbeitet. Die Dyade setzt sich hier aus einem Berater und seiner Klientin zusammen und der Berater verfügt hier lediglich über »alltagsweltliches Geschlechterwissen«. Fall E schließlich, setzt dieses Geschlechterwissen des Beraters, die 2. Leitungsebene und die Non-Profit-Organisation des Klienten konstant und variiert zwei Merkmale. Erstens handelt es sich hier um die einzige männliche Dyade im Sample und zum Zweiten um das einzige Erstgespräch. Aus den Merkmalen ergibt sich ein abgestecktes Feld, für welches die Ergebnisse, die in den folgenden Kapiteln dargestellt werden, Gültigkeit beanspruchen können. Es handelt sich um ein Feld, an dem zertifizierte Berater_innen an den Beratungssituationen teilnehmen, die mindestens fünf Jahre Berufserfahrung aufweisen. Die Ergebnisse gelten für Interaktionen von Berater_innen mit alltagsweltlichem Geschlechterwissen bis hin zu »Gender-Expert_innenwissen«, die von der Genderausrichtung der Studie wissen und daran freiwillig teilnehmen. Von Klient_innenseite aus, erstreckt sich das Feld von der zweiten Leitungsebene bis zur Firmeninhaberschaft bzw. von Profit- bis zu Non-Profit-Organisationen. Des Weiteren besitzt das Ergebnis Gültigkeit für alle geschlechtskatego© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Fallauswahl, Sampling und Feldzugang

Fall A

Fall B

Frauencoaching der 2. Leitungsebene

Coaching der 2. Leitungsebene

Non-Profit (Familienhilfe)

Non-Profit (Offene Ganztagsschule)

Beraterin (w)/Klientin (w)

Nicht explizierte Erfahrung der Beraterin im GenderMainstreaming  Beraterin (w)/Klientin (w)

Fall C

Fall D

Coaching der 2. Leitungsebene

Coaching der 1. Leitungsebene

Non-Profit (kirchliche Kindertagesstätte)

Profit (Technischer Bereich)

Nicht explizierte Erfahrung der Beraterin im GenderMainstreaming

Alltagsweltliches Geschlechterwissen des Beraters

Beraterin (w)/Klient (m)

Berater (m)/Klientin (w)

Fall E Coaching der 2. Leitungsebene Non-Profit (Entwicklungszusammenarbeit) Alltagsweltliches Geschlechterwissen des Beraters Berater (m)/Klient (m) Erstgespräch

Abbildung 1: Fallübersicht

rischen Dyaden zwischen Berater_in und Klient_in, die nach »Frau« und »Mann« unterscheiden, sowie für jede Phase der Beratung, ausgenommen ein Abschlussgespräch. Schließlich gehören zum Feld ausschließlich Beratungsinteraktionen, die unter bundesrepublikanischen Bedingungen und zwischen Vertreter_innen einer weißen, nichtmigrantischen Dominanzkultur mit deutscher Staatsbürgerschaft stattfinden. Diejenigen Interaktionen, die durch das Sample nicht vertreten sind, sind vor allem die zwischen Personen, die nicht freiwillig an der Studie, vor allem mit diesem Forschungsinteresse, teilnehmen. Dazu gehören offenkundig »Männerberater_innen« bzw. Personen, die aus bestimm© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

96  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis ten Gründen größere Angst davor haben, sich in Bezug auf das Thema nicht politisch korrekt zu verhalten. Damit ist augenscheinlich gemeint, »Frauen wissentlich bzw. unwissentlich zu diskriminieren«. Nicht erfasst sind im Sample außerdem Situationen, in denen sich eine bzw. beide teilnehmenden Personen geschlechtlich bzw. sexuell14 anders (selbst-)verorten als es die bipolare Geschlechterdifferenz mitsamt ihrer heterosexuellen Norm vorgibt. Des Weiteren kann nichts darüber ausgesagt werden, wie eventuelle andere bzw. gleiche Geschlechterkulturen, zum Beispiel bei Personen mit Migrationshintergrund bzw. andere gesellschaftliche Voraussetzungen wie etwa andere Gesetzgebungen und Strukturen15, in die Situation hineinragen. Neben der Beachtung der Grenzen des Samplings, gibt es in diesem Untersuchungsschritt auch Fallstricke des Problems der Reifizierung von Geschlecht (vgl. Abschnitt 2) zu beachten und Lösungen dafür zu gestalten. Vorrangig besteht die Gefahr – wie der Forschungsstand in Kapitel II zeigt – als Forscherin im Vorab die gesellschaftliche Unterscheidung zwischen »Frau« und »Mann« als einziges und unhinterfragtes Kriterium für die Fallkontrastierung zu übernehmen, nur die daraus entstehenden Beratungsdyaden miteinander zu kontrastieren (w/w; w/m; m/w; m/m) und die entstehenden Unterschiede unreflektiert darauf zuzurechnen, ohne den Zusammenhang der Interaktion mit Geschlecht am Material zeigen zu können. Dabei liefe man Gefahr, (a) das Kriterium der Geschlechtskategorie der Sprechenden unhinterfragt im Vorab zu übernehmen und beispielsweise nicht zu warten, bis die Sprechenden sich in der Interaktion in diese Kategorien einordnen. Damit würde man Geschlecht als dichotome unabhängige Variable annehmen, die selbst nicht erklärungsbedürftig ist, wie es in quantifizierender Forschung zumeist geschieht.16 Dies gilt es zu vermeiden, wenn Geschlecht untersucht werden soll. Daraus folgt die zweite Gefahr, nämlich (b) andere Kriterien, die für die Fallkontrastierung wichtig sind, zu übersehen bzw. auszuschließen, dass die Geschlechtskategorie der Sprechenden womöglich überhaupt nicht relevant ist. Um beiden Fallstricken entgegen zu wirken, wurde beim Sampling Wert auf Reflexion und Flexibilität gelegt: Um Geschlecht als abhängige Variable (a) bereits beim Sampling offen zu halten, musste reflektiert werden, dass die bipolare Unterscheidung Frau/Mann selbst schon gesellschaftlich voraussetzungsvoll und dominant ist. Gleichzeitig ist sie nicht die einzig existierende geschlechtsbezogene Unterscheidung (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1). Um die Perspektive gegenüber dem Material zu erweitern, nahm ich deshalb die Unterscheidung von mehr als zwei Geschlechtern als Möglichkeitsraum so lange an, bis mich die Reaktion der Proband_innen eines Besseren belehrte. Beispielsweise hielt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Datengewinnung

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ich es für denkbar, dass es zufällig in meinem Sample Führungskräfte bzw. Berater_innen gibt, die homosexuell, transgender, intersexuell oder transvestitisch etc. sind, bzw. sich als »weiblich-männlich« oder »wedernoch« verstehen. Wie und ob in solchen Fällen Geschlecht in spezifischer Weise konstruiert und mit Führung in Zusammenhang gebracht werden würde, wäre von großem Interesse gewesen. Um anderen Kriterien die Tür zu öffnen (b), wurden zu Beginn der Studie zwar nach dem Kriterium »Kombination der Geschlechtskategorien der Dyade« Beratungssitzungen gesucht. Das Kriterium wurde jedoch als externe Kontrastierung begriffen, die erst noch als gültig bestätigt werden müsse. Als sich herausstellte, dass dieses Kriterium für die Forschungsfrage nicht relevant ist (vgl. Kapitel V und VI), wurde nach anderen materialinternen bzw. -externen Kriterien gesucht.

4

Datengewinnung

4.1 Protokollierung eines authentischen Beratungsgesprächs In Abschnitt 1.2 habe ich bereits gezeigt, welche Gründe dafür sprachen, keine Interviews mit Berater_innen zu führen, sondern »natürliche« Beratungsinteraktionen, das heißt authentische Gespräche, aufnehmen zu lassen: »Das Ziel ist es hierbei, die Interaktion der Untersuchten weitgehend so, wie sie im Alltag stattfindet, aufzuzeichnen.« (Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 155)

Das Material, welches am Ende analysiert wurde, sind »Transkripte von Tonaufzeichnungen« (ebenda) dieses »natürlichen« Materials. Dafür instruierte ich den/die Berater_in, jeweils ein Gespräch mit einer Klient_in mitzuschneiden, nachdem diese/r sich damit einverstanden erklärt hatte. Zumeist hielt der/die Berater_in in der Sitzung mit der Klient_in Rücksprache, ob sie/er sich eine Teilnahme vorstellen könne, zeigte ihr/ihm mein Informationsblatt, bot gegebenenfalls eine Rücksprache mit mir an und vereinbarte dort auch mit ihm/ihr, welche der nächsten Sitzungen aufgenommen werden sollte. Manchmal lief dieser Prozess auch per E-Mail bzw. Telefon ab. Danach informierte die/der Berater_in mich über den Ausgang der Rücksprache. Sobald der Termin für die Aufnahme fest stand, schickte ich der/dem Berater_in mein Gerät postalisch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

98  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis zu. Den Vorteil, das Gerät nicht selbst im Raum zu installieren, habe ich darin gesehen, dass es vor der Beratungssituation keine Irritationen durch meine Anwesenheit gab. Es galt so wenig wie möglich in die Interaktion einzugreifen bzw. Erwartungsdruck zu erzeugen, etwa dadurch, dass Berater_in bzw. Klient_in mich vorher sehen oder wissen, dass ich im Vorzimmer sitze und warte. Alle Aufnahmen wurden deshalb von den Berater_innen durchgeführt, in drei Fällen nachdem ich ihnen das Aufnahmegerät postalisch zugesendet hatte. Danach sendeten sie mir das Gerät auf dem Postweg wieder zurück. Die Fälle D und E nahm der Berater hingegen mit seinem Notebook auf und sandte mir danach die Audiodatei per E-Mail zu. Diese Form der Datenprotokollierung folgt einer durch Technik vermittelten teilnehmenden Beobachtung (vgl. Abschnitt 1.3). Ich als Forscherin war so gleichzeitig anwesend und nicht anwesend: Bei der Aufzeichnung war ich selbst weder im, vor dem Beratungsraum noch in der gleichen Stadt zugegen, sondern nur das Aufnahmegerät, welches etwa die Größe eines Mobiltelefons und eine schlichte Farbgebung hatte, das heißt relativ unauffällig war. Durch diese Rahmenbedingung nahm ich zwar die Rolle einer vollständigen Beobachterin ohne Teilnahme ein, musste im Material selbst jedoch Bezüge auf das Aufnahmegerät feststellen, welche ihm einen Sinn zusprachen. Dafür ein Beispiel, in dem ich die Eingangssequenz im Fall A zeige: B: Rotes Licht leuchtet. K: Dann geht’s los. B: Genau. [] /Rascheln mit Papier/ (4)

Das Gespräch beginnt mit der Äußerung der Beraterin (mit B abgekürzt) »Rotes Licht leuchtet.« und leitet die Verständigung über den Rahmen, in dem das Gespräch stattfindet, ein. Die Information, die mit dieser technischen Selbstvergewisserung gegeben wird, ist »Hab acht!« und zielt auf Konzentration bei der folgenden als wichtig eingestuften Aktivität ab. Typisch für Beratungsgespräche ist mit dieser Rahmung ein Anfang vor dem Anfang beobachtbar (zur Rahmung von Beratungsgesprächen vgl. Hildenbrand (1999) bzw. Turner (1976)). Spezifisch für dieses Gespräch ist die Rahmung dennoch, weil auf die Aufnahme des Gespräches und dessen abweichenden öffentlichen Charakter Bezug genommen wird (zum Öffentlichkeitscharakter der Supervisions-/Coachingforschung vgl. Abschnitt 1.1). So ist das »rote Licht« welches »leuchtet« und auf welches beide nach Maßgabe der Beraterin Acht geben sollen, auch vor einer Liveübertragung beim Radio oder Fernsehen denkbar. Sein Achtungscharakter hingegen ist durch die Farbbestimmung »rot« auch als © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Datengewinnung

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Alarmsignal deutbar, etwa als Signal einer Verkehrsampel. Die Information der Beraterin rahmt also etwas (a) als wichtig und (b) als die Selbstkontrolle bzw. das Rollenbewusstsein beider erfordernd. Von der Beraterin wird folglich mit dem ersten Satz deutlich gemacht, dass das Gespräch aufgenommen und hinter dem Aufnahmegerät eine Öffentlichkeit (die Forschung) steht, die zuhört. Die Situation wird von ihr damit als bedeutend gerahmt und evoziert den Veröffentlichungscharakter des gesamten Gespräches. Die Klientin (mit K abgekürzt) kommuniziert daraufhin das Beginnen des eigentlichen Beratungsgespräches (»Dann geht’s los.«). Die Beraterin stimmt dem zu (»Genau«). Anhand dieses Ausschnittes kann gezeigt werden, dass das erhobene Material zum einen nicht gänzlich »natürlich« sein kann, weil das Aufnahmegerät für die Beteiligten sichtbar bleibt. Dies war auch im Falle der Aufnahmen mit dem Notebook so, obwohl es sich möglicherweise sogar eleganter in die Situation einfügte, weil der Berater es zu seinen Arbeitsgeräten zählt und sich dadurch gegebenenfalls weniger irritiert fühlte. Zum anderen hegte ich aus mehreren Gründen die Hoffnung, dass nicht die gesamte Interaktion dadurch beeinflusst werden würde. Erstens waren die Geräte sehr unauffällig. Es bestand also die Chance, dass die Sprecher_innen sie im Laufe des Gespräches vergessen würden. Ich entschied mich jedoch dagegen, den Gewöhnungseffekt zusätzlich durch eine Aufnahmeroutine zu begünstigen, das heißt, indem ich regelmäßig Aufnahmen zwischen einer Berater_in und einer Klient_in hätte machen lassen, um erst danach eine Sitzung für die Transkription auszuwählen (dieses Verfahren schlagen Wohlrab-Sahr und Przyborski, 2008, S. 158 f., vor). Die Entscheidung gegen diese Variante lag in den besonderen Anforderungen an Diskretion begründet (vgl. Abschnitt 1), die einen Zugang zum Feld ohnehin enorm erschwerten. Weitere Annahmen über die Situation bestärkten jedoch die Zuversicht, dass das Material dennoch relativ unverfälscht sein würde. Etwa hat der/die Klient_in, zweitens, ein Anliegen in der Beratung, welches durch eine berufliche Krise verursacht ist. Ich war zuversichtlich, dass sie/er die zur Verfügung stehende Zeit mit der Berater_in für sich gewinnbringend nutzen wollen würde und zumindest keine Themen zurückhalten würde, die gerade Leidensdruck verursachen. Die/der Berater_in erhält durch die Aufnahme, drittens, die Möglichkeit, ihre/seine Kompetenz durch den souveränen Umgang mit Forschung zu zeigen und sich möglichst wenig beeindruckt davon zu verhalten.

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100  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis

4.2 Transkription und Anonymisierung Sofort nach der Aufnahme des Materials und dessen Zusendung an mich, wurde es transkribiert. Die der Analyse zugrundeliegenden empirischen Materialien sind aus den bereits benannten Datenschutz­gründen nicht öffentlich zugänglich. Für die Transkription wurde das Transkriptionssystem verwendet, welches in Tabelle 4 abgebildet ist (zur weiteren Ausführung über Prinzipien der Transkription verweise ich auf Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 160 ff.). Relevant für die Auswahl der Transkriptionszeichen war, dass neben verbalen auch paraverbale Äußerungen (Lachen, Husten) darin Eingang finden konnten, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass darin wesentliche Informationen für die Auswertung liegen konnten. Das System durfte jedoch ungenauer als ein linguistisches sein, da zum Beispiel sich Stimmhebungen etc. für eine soziologische Analyse als vernachlässigenswert erwiesen.17 Nach der Transkription habe ich das Transkript jeweils an der akustischen Aufzeichnung kontrolliert. Da der Anonymisierung wegen des beschriebenen Problems erhöhter Diskretion in der Supervisions-/Coachingforschung besondere Bedeutung zukommt, möchte ich explizit erläutern, nach welchen Prinzipien dies geschah. Nach allgemeinen Konventionen der Sozialforschung für Transkription »müssen alle Daten und Merkmale, die Rückschlüsse auf konkrete Personen erlauben, anonymisiert werden« (Wohlrab-Sahr & Przyborski, 2008, S. 162). Im erhobenen Material betraf dies die Namen von Personen, Gebäuden, Organisation, Städten bzw. Orten, Ländern und von Zeitungen. Um das Material für Gruppeninterpretationen zusätzlich gemäß der Fragestellung zu anonymisieren, wurde außerdem das Geschlecht der Sprechenden als Information im Transkript ausgelassen (zur Begründung vgl. Abschnitt 5). Darin war inbegriffen, dass – wie in Transkripten sonst durchaus üblich – keine synonymen Nachnamen für die Sprechenden eingesetzt wurden, um die Möglichkeit der Herleitung des Originalnamens und dessen Vergeschlechtlichung (sex) in keinem Fall zu begünstigen. Stattdessen wurden rollenbezogene Buchstabenkürzel (»B«= Berater_in bzw. »K« = Klient_in) für die Sprecher_innen eingesetzt. Wie beim Feldzugang zugesichert, wurde schließlich vor der Abgabe der gesamten Arbeit den Berater_innen, die für sie zutreffende Fallrekonstruktion zugesandt und die Möglichkeit gegeben, die Anonymisierung der Sprecher_innen zu überprüfen.

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Auswertung Tabelle 4: Transkriptionszeichen ,

kurze Pause (Kommas werden nicht grammatisch genutzt)

[...]

gleichzeitiges Sprechen

unterstrichen

betontes Sprechen

fett

lautes Sprechen

leises Sprechen

=

direkter Anschluss ohne Pause zwischen den Wörtern; Wortverschleifung

(2)

Anzahl der Sekunden, die eine Pause andauert

:

Dehnung von Lauten

@(.)@

Lachen

ga-

Abbruch eines Wortes

((seufzt))

Kommentar des/der Transkribierenden zur Sprechweise

/Telefon klingelt/

Kommentar des/der Transkribierenden zu gesprächsexternen Ereignissen

(

unverständlich (hat in etwa die Länge des Gesprochenen)

)

(ich)

5

unsichere Transkription, schwer verständlich

Auswertung – Kombination sinnrekonstru­ ierender hermeneutischer Verfahren zur Analyse von Interaktion und konditionaler Struktur

5.1 Gegenstandsbegründete Auswahl der Auswertungsverfahren Die Auswertung des so gewonnenen Interaktionsmaterials muss unter der Überschrift der Rekonstruktion des Sinns sozialer Realität stehen, will sie sich als qualitative Sozialforschung verstehen. Dabei sind Analysemethoden zu wählen, die es ermöglichen, sozialen Sinn in seiner Form, das heißt den Kontrast zwischen ausgewählten und möglichen Handlungen zu beobachten: »Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im

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102  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im ganzen sich offen, garantiert also immer auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit. Die Verweisung selbst aktualisiert sich als Standpunkt der Wirklichkeit, aber sie bezieht nicht nur Wirkliches (bzw. präsumtiv Wirkliches) ein, sondern auch Mögliches (konditional Mögliches) und Negatives (Unwirkliches, Unmögliches).« (Luhmann, 1984, S. 93)

Jedes qualitative Auswertungsverfahren muss mithin Aktuelles vor dem Hintergrund des Möglichen verdeutlichen. Die drei miteinander kombinierten Verfahren, die ich für die Untersuchung ausgewählt habe, legen dabei verschiedene Schwerpunkte: Mit der Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik (zur ausführlichen Darstellung der Methode verweise ich an dieser Stelle auf die einschlägige Literatur wie z. B. Oevermann, Allert, Konau & Krambeck, 1979 und Wernet, 2006) lassen sich objektive, das heißt »protokollierbare[n] Spur[en]«, die die Interaktionsteilnehmer_innen »hinterlassen« (Wohlrab-Sahr, 2003, S. 123) haben, untersuchen.18 Solche »Spuren« können nur bedingt als von den Interagierenden beabsichtigt angenommen werden. Dies zu entscheiden, ist auch nicht das Anliegen der Objektiven Hermeneutik, welches in meiner Studie relevant wird. Interessant ist stattdessen, dass die Methode soziale Realität als von den subjektiven Absichten der Sprechenden emergierenden Text deutet. Sie eignet sich deshalb zur Analyse geschlechtsbezogener Interaktion – vorausgesetzt man versteht Interaktion als Drittes zwischen anwesenden Personen – , welche durch Arrangements, Personen nach Geschlecht ordnet und ihnen bestimmte Positionen zuweist (vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4). Insofern zeigt die Sequenzielle Analyse latente vergeschlechtlichte Sinnstrukturen in der Interaktion auf, die durch beide Sprecher_innen hervorgebracht und getragen werden. Durch sie kann deutlich werden, wo und wie gesellschaftliche vergeschlechtlichende Strukturen in der Interaktion reproduziert bzw. transformiert werden. Der erste Grund, warum die Sequenzielle Analyse in meiner Studie an ihre Grenzen geriet, war, dass Geschlecht nicht in allen Sequenzen von den Gesprächsteilnehmer_innen thematisiert wurde (zum Reifizierungsproblem in den Auswertungsverfahren und entsprechenden Maßnahmen vgl. Abschnitt 5.2), vor allem nicht in der durch die Objektive Hermeneutik präferierten Eingangssequenz. Stattdessen zeigten sich materialübergreifende Sprachbilder für Führung, die eine Affinität zu geschlechtsnormierten Rahmen aufzeigten, ohne dies zumeist explizit zu tun:

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Auswertung

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»Unter Rahmen sind nicht nur raum-zeitliche Vorgaben zu verstehen […], sondern alle Ereignisbestimmungen, unausgesprochenen Informationen und Welterfahrungen, die einzuordnen erlauben, was innerhalb und was außerhalb einer Situation stattfindet.« (Hettlage, 1999, S. 194) [Hervorhebungen im Original]

Diese metaphorisierten Rahmen/Erfahrungsschemata (vgl. Kapitel I, Abschnitt 6), kamen zwar auch in Sequenzen vor, in denen Geschlecht offen verhandelt wurde und konnten so mit der Sequenziellen Analyse untersucht werden. Zudem brauchte ich jedoch ein Instrument, mit welchem über das gesamte Material hinweg latente Erwartungen bzw. Erfahrungsschemata in Sprachbildern im Hinblick auf die Forschungsfrage systematisch erfasst und analysiert werden konnten. Mit der systematischen Metaphernanalyse (vgl. Lakoff & Johnson, 2008, Buchholz & von Kleist, 1997 und Schmitt, 1997) konnte das geschehen. Vor allem die überwiegenden Stellen im Material, in denen Geschlecht nicht explizit zum Thema der Interaktion wurde, in denen aber Erfahrungsschemata bzw. Erwartungen, die mit Führung verbunden werden und die über die Interaktionssituation hinaus in die gesellschaftliche Struktur hineinreichen, besprochen wurden, konnten damit untersucht werden. Die Metaphernanalyse ist jedoch bezüglich Interaktion ein sehr statisches Instrument, insofern damit schlecht von subjektiven kognitiven Deutungsmustern auf das Dritte – emergierende Interaktion – abstrahiert analysiert werden kann. Die Versuchung einer psychologisierenden, rein kognitiven, Deutung von Metaphern ist stets gegeben. Um diesem Mangel entgegen zu wirken, nahm ich nur die metaphorischen Konzepte in den Blick, die als kollektive interaktive Praxis zwischen den Sprechenden gelten konnten (sharing), nicht aber solche, die nur ein/e Sprecher_in verwendete. Der zweite Grund, warum die Sequenzielle Analyse mit einer anderen Methode ergänzt wurde, war, dass sie als Methode eine deutliche Schwäche aufweist, wenn es um die Analyse struktureller Bedingungen eines Phänomens geht.19 Da Geschlecht jedoch nicht nur als ein interaktionales Phänomen begriffen werden kann, sondern immer strukturelle Vorgaben daran beteiligt sind bzw. Interaktion auf Struktur zurückwirkt (vgl. Kapitel I, Abschnitt 5), reicht die Sequenzielle Analyse als Instrument nicht aus. Mit der Metaphernanalyse konnte ich zwar Erfahrungsschemata und Erwartungen als gesellschaftliche Strukturen ausmachen. Dennoch fehlte ein Instrument, mittels dessen beide Ergebnisbereiche – Interaktion und Struktur – integriert werden konnten. Deshalb habe ich schließlich das Kodierparadigma aus der Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1998) hinzu gezogen und damit Ergebnisse, die Interaktion und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

104  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis strukturelle Bedingungen betreffen, miteinander in Beziehung gebracht (vgl. Kapitel VI, Abschnitt 7).

5.2 Gefahr der Reifizierung in der Auswertung und Gegenmaßnahmen Alle Methoden erforderten nicht nur eine Begründung ihrer Anwendung, sondern darüber hinaus besondere Maßnahmen, die absicherten, dass ich als Forscherin dem Problem der Reifizierung von Geschlecht (vgl. Abschnitt 2) entgegen wirkte. Diese Maßnahmen waren jeweils an die Methode angepasst. Den Ausführungen zur Durchführung der Methoden sei deshalb vorangestellt, wie das Problem der Reifizierung von Geschlecht virulent wurde und wie dem versucht wurde entgegen zu wirken. Vor allem drohten unreflektierte stereotype Zuschreibungen des Verhaltens der Sprecher_innen auf die durch sie repräsentierte Geschlechtskategorie während der Sequenziellen Analyse. So praktizieren Konversationsanalysen der Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. etwa Kotthoff, 1988) zuweilen eine Zuschreibung von Sprechakttypen auf die von vornherein als bipolar angenommene Differenz zwischen Frau/Mann, ohne offen zu sein für alternative Deutungen oder Gemeinsamkeiten zwischen Frauen und Männern bzw. Unterschiede zwischen Frauen bzw. zwischen Männern20. Methodisch gehört es zu einer der größten Herausforderungen der qualitativen Genderforschung, eine »Nullhypothese«21 möglich zu machen, das heißt die Auswertung so zu organisieren und zu praktizieren, dass die Möglichkeit besteht, dass Geschlecht keine Rolle spielt bzw. nicht von außen durch die Forscherin als Deutungskategorie ans Material herangetragen wird (Reifizierung). In diesem Fall würde die Forscherin nur das aus dem Material ausgraben, was sie selbst dort vergraben hat, nicht aber entdecken, was das Material aus sich selbst heraus an Mustern produziert. Von mir als Forscherin erforderte das, dass ich mir selbst misstrauen lernte und dementsprechende Neutralisierungsstrategien einsetzte. Die erste Strategie betraf das Material in seiner Darstellung als Transkript. Wie in Abschnitt 4.2 erwähnt, stellte ich geschlechtsverblindete Transkripte her, nämlich solche, in denen auch das Geschlecht anonymisiert wurde (diese Maßnahme folgt dem Vorschlag von Hagemann-White, 1994, vgl. auch Gahleitner, 2004). Dies hatte den Grund, dass die Interpretationsgruppen, die Sequenzen und Ausschnitte aus meinem Material analysierten, so keine Information darüber hatten, welcher Geschlechtskategorie die Sprechenden zugehören. Da ich selbst das Material kannte, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Auswertung

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konnte ich mich nicht vollkommen voreinnahmslos dazu verhalten. Deswegen habe ich in drei verschiedenen Gruppen Auszüge und Sequenzen interpretieren lassen, die in allen Methoden ein wichtiges Korrektiv für mich waren. Davon waren zwei Gruppen solche mit »wissenschaftlichen Geschlechterwissen«, davon eine die konstruktivistisch und eine die differenztheoretisch geprägt war. Eine Gruppe hatte keine solche Spezialisierung, sondern war mit »alltagsweltlichem Geschlechterwissen« ausgestattet.22 Auf die Art versuchte ich einen Pool von Hypothesen zum Material zu generieren, die über meine eigene Deutung hinaus gingen. Ich selbst benutzte diese Transkripte ebenfalls. Sie erleichterten es mir durch ihre neutralisierte Form, Gegenhypothesen zu bilden und zu prüfen, ob ich Geschlecht als Erklärungskategorie von außen an das Material herantrug. Mit der ersten hängt auch die zweite Neutralisierungsstrategie zusammen, die den Vorschlag Regine Gildemeisters (2004b) aufnimmt, keine geschlechtsbezogenen Hypothesen zu entwickeln, sondern die Passagen zu finden, in denen die Sprechenden selbst explizit Geschlecht als Deutungskategorie verwenden. Die geschlechtsverblindeten Transkripte eigneten sich für diese Form der Analyse sehr gut. Wenn ich allein interpretierte, erleichterten sie es mir, bei jeder Hypothese die Fragen zu stellen, (a) ob sie auch Bestand hätte, wenn ich die Geschlechtskategorie der Sprechenden nicht kennen würde und (b) ob ich wirklich am Material belegen könne, dass für die Sprechenden Geschlecht als Deutungshorizont wirksam ist: »Mit anderen Worten: Wir suchen nicht auf der Grundlage unseres Wissens, dass nun gerade eine Frau oder ein Mann […] spricht, nach Unterschieden, sondern die genannten Kategorien werden für uns erst dann zu relevanten und untersuchenswerten Phänomenen, wenn die entsprechenden sozialen Rollen auch von den Beteiligten im Untersuchungsfeld als bedeutsam rekonstruiert werden […] In diesem Fall machen die Beteiligten einander selbst kenntlich, aus welcher Rolle sie sprechen bzw. als welche Identität sie jeweils den anderen anerkennen.« (Bergmann, Nazarkiewicz, Dolscius & Finke, unveröff. Manuskript, S. 144)23

Diese auferlegten Interpretationsregeln trafen ausschließlich auf die Sequenzanalyse zu (Maßnahmen für die Metaphernanalyse vgl. Abschnitt 5.4).

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106  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis

5.3 Die Sequenzielle Analyse als Methode zur Erforschung des »processual ordering« der Interaktion Wie in Kapitel I dargelegt, wird Gender als strukturelles und als interaktionales Phänomen begriffen. Dies ist das übergeordnete Ergebnis der Analyse (vgl. Kapitel VI) und es ist wiederum durch die Auswertungsmethodik bedingt: Die Auswertung der Transkripte folgte zum Teil der Objektiven Hermeneutik, insofern es darum ging Sequenzen zu finden, die Antworten auf die Forschungsfrage zu finden versprachen. Ziel der Auswertung war es, zentrale Konzepte resp. Fallstrukturen zu finden, die für die Forschungsfrage, inwiefern in Leitungssupervision/-coaching Geschlecht in Zusammenhang mit Führung normativ verhandelt wird, relevant sind. Auf dem forschungspraktischen Weg dahin stellte sich bei der Auswertung vor allem das Problem, als Forscherin nicht selbst Geschlecht in das Material hinein zu lesen, wo es nicht vorhanden war. Gemäß der Neutralisierungsregel, die weiter oben erläutert wurde, wurden deshalb nur die Sequenzen ausgewählt, in denen die Sprechenden selbst über Geschlecht sprachen.24 Diese Studie verortet sich deshalb bewusst nicht als Konversationsanalyse. Das heißt Mutmaßungen darüber, wie das Geschlecht der Sprechenden die Konversationshaltung und Beziehung mitbestimmt, ist ein Fokus, der hier ausdrücklich nicht mit der Analyse von Interaktion gleichgesetzt wird. Das Problem der Reifizierung würde durch eine solche Forschungshaltung verstärkt. So kann ich aufgrund der Sicherungsmaßnahmen (Geschlechtsverblindung) keine plausiblen Aussagen darüber machen, wie die Sprechenden beispielsweise »als Frau und Mann« zueinander stehen. Erst wenn sie dies thematisieren, würde es in die Konzeptbildung einfließen. Um klarer zu machen, wann aus meiner Sicht ein Fehler, das heißt ein Doing Gender als Forscherin, geschehen wäre, möchte ich ein Beispiel anbringen. Die Sequenz entstammt Fall A und findet inmitten des Gespräches statt: 183 K: 184 185 186 B: 187 K: 188 B: 189 K:

wenn ich den Eindruck hab (2) dass sozusagen das Projekt, oder für irgendwas was man zusammen macht, wenn das nicht wirklich (2) von Herzen, gewollt ist (2) dann verlier ich die Lust. A, r, die Elke als Person braucht auch so ne [hm] Herzens, äh, Angelegenheit? Ja also ich bin auchMit Herz und Seele dabei, so was? Ja,

Die Klientin (K) beschreibt eine Bedingung dafür, wann sie bei ihrer Leitungstätigkeit die »Lust« »verliert«, nämlich dann »wenn das [die Arbeit – Anm. A.P.] nicht wirklich (2) von Herzen gewollt ist« (184). In einer nicht reflektierten, das heißt Reifizierungshaltung als Forsche© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Auswertung

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rin, würde ich – auch ohne zu wissen, dass es eine Frau ist, die spricht – bereits hier eine Hypothese entwickeln: K spricht vom »Herzen«, das heißt, ihr/ihm ist »Gefühl« und »Hingabe« wichtig bei der Arbeit, das heißt, es handelt sich um eine »Frau«. Und zwar deshalb, »weil Frauen über Gefühle reden und mehr fühlen als Männer«. Da die Beraterin (B) diese Herz-Metapher, die für Gefühl und »Frau«-Sein steht, wiederholt aufnimmt (186, 188) und dies sogar laut tut (fette Schrift), hält sie den/ die Klienten_in für eine »Frau« und gibt »ihr« das zu verstehen. Ich habe die reifizierende Haltung deshalb zugespitzt dargestellt, um besonders kenntlich zu machen, was ich für vermeidenswert halte. Denn hier geschehen zwei nicht belegte Schlüsse: (a) der Schluss »Herz« = »Gefühl«: Ebenso könnte K meinen, dass »Kraft« oder »Konzentration« = »Herz« bedeuten. (b) der Schluss »Herz« = »Gefühl« = »Frau«: Damit würde die emotionale Seite des Menschseins nur der einen Seite der Menschheit zugewiesen (vgl. dazu die »Geschlechtscharaktere« in Kapitel I). Und nicht nur das, sondern auch der Begriff von »Gefühl« würde so möglicherweise Emotionen wie Ärger, Zerstörungswut, Trotz oder Hass ausschließen. Diese Sequenz wurde nicht für eine Sequenzielle Analyse ausgewählt. Denn außer der Herz-Metapher, die eine klischeehafte Zuschreibung auf das »Frau«-Sein der Klientin durch mich als Forscherin provoziert, deutet rein gar nichts in dieser Sequenz darauf hin, dass die Sprechenden über Geschlecht reden. Dennoch fließt ein Teil der Sequenz in die Analyse ein, weil hier eine Metapher beobachtbar wird, anhand der eine Haltung als Leitungskraft verdeutlicht wird. Ich werde im Abschnitt 5.4 darauf zurückkommen. Zuvor möchte ich illustrieren, wie sich die Neutralisierungsregel auf das Scannen von Sequenzen auswirkte, indem ich eine Sequenz zeige, die für das Kodieren ausgewählt wurde. Sie entstammt ebenfalls Fall A: 4 Finanzen, was geben sie dir [Verwaltung]. Ja. Ja. Und das sind einfach schwierige 5 Arbeitsbedingungen auch. (2) Und da sag ich jetzt mal wieder, so was machen die 6 nur mit Frauen. (2) 7 K: Wie das, e wie =wie? 8 B: Wenn da jetzt n Mann wäre, wenn das jetzt n Familienzentrum wäre was von 9 einem Mann geführt würde [hm] mit dem würden die so was doch gar nicht 10 machen. 11 K: 12 B: Die trauen sich so was immer viel mehr mit Frauen zu machen.

Die Beraterin spricht hier ganz offensichtlich von Leitungskräften in ihrer vergeschlechtlichten Form »Mann« (8) bzw. »Frau« (6, 12) und führt explizit ihr Geschlecht als Grund dafür an, welches Verhalten ihnen gezeigt wird, nämlich Respekt gegenüber dem »Mann« und mangelnde © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

108  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Anerkennung gegenüber der »Frau«. Als Forscherin interessiert mich hier nicht, welches Geschlecht B und K haben, und zwar deshalb, weil es B und K auch nicht interessiert – zumindest nicht für mich sichtbar. Dennoch hat die Sequenz einen großen Informationsgehalt für die Forschungsfrage, weil auf der Basis von empirischem Material Konzepte abstrahiert werden können. Denn »Mann«-Sein wird hier als etwas verhandelt, was offensichtlich Respekt erwartbar macht. Schließlich machen »die« nicht »so was« mit einer Person, die ein »Mann« ist. Respekt steht als Konzept nicht wortwörtlich im Text. Tatsächlich erlaubt »so was« sowohl von negativen als auch von positiven Handlungen als Möglichkeitshorizont auszugehen. In den Zeilen 4 und 5 ist jedoch die Rede von »schwierigen Arbeitsbedingungen«, die »nur mit Frauen« (6, 12) gemacht werden. Geschlecht wird hier außerdem bipolar und »Frau« bzw. »Mann« als komplementäre Kategorien gedeutet. Der Darstellung zweier unterschiedlicher Interpretationsweisen – einer reifizierenden und einer distanzierten – soll damit genüge getan sein. Im Fall A werden die letzte Sequenz und auch die Herz-Metapher noch eine Rolle spielen. Ich fasse vorerst zusammen, dass nur solche Sequenzen mit der Sequenzanalyse erfasst wurden und – unter gegebenen Neutralisierungsmaßnahmen – für die Sequenzanalyse erfasst werden durften, in denen das Material selbst von Geschlecht sprach. Als Ergebnis dieser Auslese wurden damit auch die Fälle B und C als solche registriert, die an keiner einzigen Stelle im Gespräch über Führung in Konnotation mit Geschlecht offen normativ redeten. Allerdings nur weil dort, wie auch in allen anderen Fällen, sprachliche Phänomene vor kamen, die mit der Sequenziellen Analyse und den ihr entsprechenden Gegenmaßnahmen gegen Reifizierung ebenfalls, aber nicht systematisch erfasst werden konnten, die scheinbar aber eine große Rolle in der Supervisions-/Coachinginteraktion spielen. Diese Phänomene waren Metaphern, das heißt sinnlich-anschauungsbezogene Erfahrungs- und Erwartungsschemata, die Führung beschrieben.

5.4 Systematische Metaphernanalyse – Analyse von Erfahrungsschemata und impliziten Führungserwartungen Um Metaphern zu analysieren bedarf es einer Definition, die eingrenzt, was eine Metapher ist. Diese Definition, die an die Auffassung von Lakoff & Johnson (2008) anschließt, wurde in Kapitel I erläutert. Sie folgt einem ausgeweiteten Metaphernverständnis, nach dem unsere gesamte Sprache von Metaphern durchzogen ist, die Bedeutungen aus einem Lebensbereich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Auswertung

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auf einen anderen übertragen. Metaphern in diesem Verständnis bestehen aus einem bildgebenden oder Quellbereich und einem bildempfangenden oder Zielbereich, sowie einer Verbindung zwischen beiden. Die Metapher hat durch die Verwendung des Quellbereiches außerdem die Fähigkeit, am bildempfangenden Bereich Eigenschaften zu betonen (Highlighting). Bei der Metaphernanalyse handelt es sich im Gegensatz zur Sequenziellen Analyse um ein Instrument mittlerer Reichweite, welches keine sequenzielle Analyseform annimmt (Grundsätze und Durchführung der Metaphernanalyse werden ausführlich dargestellt in Buchholz & von Kleist, 1997, vgl. auch Schmitt, 1997). Sie stellt unter diesem methodologischen Gesichtspunkt eine Kontrollmethode25 zur ersten Methode dar. Dies war jedoch nicht der primäre Grund dafür, sie hinzuzuziehen. Vielmehr stieß ich in den Sequenzen auf Metaphern für Führung, die den Sinngehalt, mit welchem über Führung gesprochen wurde, ganz erheblich mitprägten. Im Fall A werde ich zum Beispiel sehr ausführlich zeigen, wie Metaphern offen dafür verwendet werden, falsche und richtige Führung zu verdeutlichen. Dort wird zum Beispiel als falsche Führungshaltung gerahmt, wenn die Klientin sich in der Leitungsrolle als »Mutter« definiert (»bin ich hier die Mutter? Ne? von dem Verein«, Fall A, 37–38). Da der Fokus dieser Forschungsarbeit Interaktion ist, wurden schließlich nur die metaphorischen Konzepte als interaktiv wirksam gedeutet und in die Analyse einbezogen, die von beiden Sprecherinnen wechselseitig benutzt und in Zusammenhang mit Führung verhandelt wurden. Der Fokus der Auswertung war demnach das Sharing26 von metaphorischen Konzepten zwischen den Sprechenden, das heißt die Interaktion der Führungsbilder zwischen den Akteur_innen. Der Zielbereich, nach dem ich Metaphern selektierte, war immer Führung. Ich wollte wissen, mit welchen anderen Erfahrungsschemata Führung in Verbindung gebracht wurde und ob diese Bezüge zu vergeschlechtlichten Lebenswelten aufweisen oder neutral sind. Außerdem interessierte mich, welche Erwartungen an Führung mit den Metaphern aufgeworfen werden (Highlighting) und ob auch diese eine Nähe zu vergeschlechtlichten oder aber neutralen Erfahrungsschemata hätten. Die Analyse der Metaphern folgte dabei drei Fragen, die Geschlechterund Führungsnormen betrafen: Die erste Frage war, welche Unterzielbereiche von Führung werden durch Metaphern beschrieben? Welche Aspekte von Führung als übergeordnetem Zielbereich sind also differenzierbar?27 Zweitens, zielte ich auf Erfahrungsschemata ab, mit denen Führung gedeutet wurde, indem ich fragte, welche Quellbereiche verwendet werden, um Führung zu beschreiben. Schließlich interessierten mich auch die Erwartungen an Führung, welche durch die Metaphern vermittelt wurden, das heißt deren Highlighting. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

110  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Statt des Lexikons, welches beispielsweise Rudolf Schmitt (1997) vor der Analyse anzulegen empfiehlt, um einen Möglichkeitshorizont der Deutung zu eröffnen und sich gegen die Reproduktion eigener Geschlechternormen zu schützen, führte ich wiederum Gruppeninterpretationen durch. Diese reichten jedoch nicht aus, um der neuerlichen Gefahr der Reifizierung der Geschlechterdifferenz durch mich und die Interpret_innen des Materials zu begegnen.28 Schmitt bemerkt dazu: »Die Rekonstruktion von Metaphern zur Demonstration der Unterschiede von Geschlecht findet sich als Forschungsstrategie recht oft […]. Freilich bleibt es meist beim Sammeln gegensätzlicher Metaphoriken, bei denen nicht klar wird, ob das Trennende zwischen den Geschlechtern überfokussiert bzw. Gemeinsamkeiten übersehen werden oder wie mit gegenläufigen Befunden umgegangen werden kann.« (Schmitt, 2009)

Schmitt bezieht sich dabei auf Studien, die die Sprechenden selbst im Vorab nach Geschlechtskategorien (männlich/weiblich) einteilen und Unterschiede im Metapherngebrauch auf Geschlecht beziehen. Geschlecht wird hier als unabhängige Variable verwendet, wobei der Forscher sich nicht darüber im Klaren ist, dass er selbst die Unterteilung vorgenommen hat, die er später als Ergebnis seiner Studie meint zu erhalten (vgl. Abschnitt 5.2): »Der Vorwurf des doing gender kann ihnen durchweg gemacht werden, weil sie die Geschlechter-Dichotomie durch Zuspitzung besonders differenter Metaphern in ihren Befunden in einer forcierten Weise herstellen. Sie übersehen durchweg, dass es auch zwischen den Geschlechtern geteilte metaphorische Konzepte der Welt gibt, stellen damit – unfreiwillig – die Macht sozialer Stereotype dar wie her und sind in dieser Lesart unverzichtbar als Ausgangspunkt einer möglichen kritischen Bearbeitung.« (vgl. Schmitt, 2009)

Diesem Risiko habe ich mit der Geschlechtsverblindung des Materials und mit der Interpretation der Metaphern in den drei verschiedenen Gruppen entgegen gewirkt. Die Geschlechtskategorie der Sprechenden interessierte auch in der Metaphernanalyse so lange nicht, bis die Metaphern selbst Bezug auf Geschlecht nahmen, zum Beispiel im Fall A mit den Metaphern der »Hausfrau« und der »Mutter« als offen verweiblichte Metaphern. Schwieriger gestaltete sich die Analyse von den zahlenmäßig überwiegenden Metaphern, die sich nicht explizit mit Geschlecht verbanden, aber starke Traditionen vergeschlechtlichter Lebenswelten berührten. Es stellte sich die Frage, ob sie überhaupt in die Analyse aufgenommen werden sollten und wenn ja, wie, ohne mit einer Zuordnung nach dem Schema »Kampf ist männlich« die Geschlechterdifferenz zu reifizie© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Auswertung

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ren. Schmitt weist darauf hin, dass Einordnungen von Metaphern zu Geschlechtskategorien kulturell und damit auch sprachlich bedingt sind: »Metaphorische Projektionen dürften also nicht einfach binär und nicht frei von thematischen oder kulturellen Prägungen sein; eine Zuweisung bestimmter Geschlechtsqualitäten durch Metaphern ist immer nur partiell möglich.« (ebenda)

Die Problematik der Einordnung der Quellbereiche betrifft deren Zusammenfassung zu übergeordneten metaphorischen Konzepten, wie etwa Technik, Kampf, Naturwissenschaften, Kleinhandel29, die wiederum zu sinnlich-anschaulichen Lebenswelten Bezug nehmen, die gleichzeitig kulturell geprägte Vergeschlechtlichungen aufweisen. Nicht in jeder Kultur gibt es traditionelle Strukturen, dass vorrangig Männer außen kämpfen oder Frauen innen im Haus sind. Die dominierende westeuropäische Kultur weist hingegen diese Sozialgeschichte der Geschlechterdifferenz auf (vgl. Kapitel I, Abschnitte 2 und 3), auch wenn nicht jede einzelne Familie/Gruppe so organisiert ist und es auch anderweitig gesellschaftliche Abweichungen geben kann30. Auch Metaphern, die nicht offen einen Geschlechtsbezug anführen, befinden sich nicht in einem ahistorischen und damit ageschlechtlichen Raum. Insofern entschied ich mich, auch diese Metaphern in die Deutung einzubeziehen. Hierbei gab es nun erhebliches Potenzial zum Doing Gender als Forscherin und zwar erstens bei der Zuordnung der Quellbereiche zu Geschlechtskategorien. Um zu reifizieren, hätte ich Quellbereiche von solchen Metaphern als ausschließlich entweder weiblich oder männlich einstufen müssen. Damit wäre ausgeschlossen, dass es weitere geschlechtliche Kategorien, solche, die sowohl weiblich als auch männlich sein können31 oder etwa neutrale Quellbereiche, geben könne. Diesem kritischen Einwand verpflichtet, reflektierte ich in jedem Fall, ob sich eine gegenteilige oder neutrale Zuordnung als ebenso plausibel erweist, zum Beispiel Kampf lebensweltlich auch als weibliches oder neutrales Prinzip bzw. Pflege auch als männlich oder neutral. Damit setzte ich jedes metaphorische Konzept zum gesellschaftlichen Feld, aus dem das Material stammte, und den kulturellen Geschlechternormen darin in Relation. Das Ziel war es, Ambivalenzen und Brüche wahrzunehmen und zuzulassen, wo sie durch die Metaphern auftauchten. Beispielsweise geschah dies im Fall A durch die offen geschlechtsbezogene Metapher des »Amazonenschlags«, die von der Beraterin als Alternative für den »Ritterschlag« eingesetzt wurde. Hier wechselt die personelle Besetzung nach dem Kriterium des Geschlechts der Kämpfenden: »Amazone« versus »Ritter«. Die Zuschreibung von Kampf als männlich wird durch diesen Metapherngebrauch aufgebrochen. Für die geschlechtsimpliziten Metaphern war © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

112  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis die Feststellung von solchen Brüchen und Ambivalenzen nur ableitend möglich. Hier geriet die Methode im Vergleich zur Untersuchung offener Geschlechtsnormierung mittels Sequenzieller Analyse sichtlich an ihre Grenzen. Neben der Öffnung für mehr Zuordnungen als »männlich«/»weiblich«/»neutral« entschied ich mich deshalb dafür, zumindest das Tempo und die Linearität der Zuordnung von vergeschlechtlichten Quellbereichen zu verlangsamen. Ansonsten hätte zu schnell von Quellbereichen wie Kampf, Pflege usw. auf Geschlecht geschlossen werden können. Dann wäre zum Beispiel Kampf immer männlich und Pflege immer weiblich. Mit diesen Überlegungen und Maßnahmen verzahnt sich auch eine dritte Fehlerquelle. Sie betraf den Analyseschritt, aus dem Highlighting der Metaphern, Erwartungen an Führungen zu verdichten und diese auf ihr Gendering hin zu prüfen und gegebenenfalls einzuordnen. Dieser Schritt barg ebenfalls die Gefahr, Erwartungen an Führung zu schnell geschlechtlich zuzuschreiben. So hätten alle Führungserwartungen, die etwa mit Rationalität einhergehen sofort als männlich zugeordnet werden müssen. Gruppeninterpretationen und das gezielte Einbeziehen von widersprechenden Deutungen sollten auch hier dazu führen, dass Reifizierungen durch die Studie abgemildert werden. Um diese verschiedenen Fehlerquellen und Gegenmaßnahmen deutlich zu machen, greife ich das Textbeispiel aus Abschnitt 5.3 auf: 183 K: 184 185 186 B: 187 K: 188 B: 189 K:

wenn ich den Eindruck hab (2) dass sozusagen das Projekt, oder für irgendwas was man zusammen macht, wenn das nicht wirklich (2) von Herzen, gewollt ist (2) dann verlier ich die Lust. A, r, die Elke als Person braucht auch so ne [hm] Herzens, äh, Angelegenheit? Ja also ich bin auchMit Herz und Seele dabei, so was? Ja,

Beide Sprecherinnen, von denen ich laut Transkript das Geschlecht nicht kenne, verwenden hier die Metapher des »Herzens« (184, 186, 188). Das Herz ist ein Teil jedes menschlichen Körpers, ein Organ, welches für die Blutzirkulation wichtig ist. Ohne Herz stirbt ein Mensch. Als Metapher hat das Herz eine lange Tradition (vor allem in der christlichen Kirche wird es als Symbol für das Opfer und die Liebe Jesu verwendet, vgl. Geerlings & Mügge, 2006) und wurde symbolisch – vor aller anatomischen Wissenschaft – vor allem für das Zentrum von Fühlen und Denken gehalten. Abgesehen von der neutralen Liebessymbolik scheint das Herz auch Weiblichkeit zu symbolisieren. Gedankenexperimentell und lebensweltlich nachvollziehen lässt sich das etwa bei Schmuck (zur sozialen Bedeutung von Schmuck als Ergänzung des Körpers und zur Synthese von individueller und Gruppenidentität vgl. Simmel, 1908a © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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bzw. Simmel, 1908b), der normativ gesehen für Mädchen aber auch Frauen zuweilen eine Herzform annimmt, als Ornament und in Rottönen Kleidung ziert, die als »weiblich« in Kaufhäusern ausgewiesen ist usw. Das Herz wird aber auch für Männlichkeit in Anspruch genommen, etwa im Kinofilm »Mit Herz und Hand«, in dem es um einen neuseeländischen Motorradfahrer geht, der Rekorde aufstellt, bzw. in selbstbeschreibenden Slogans im Handwerk (die Stiftung »Handwerk stiftet Zukunft« wirbt z. B. ebenfalls »Mit Herz und Hand«). In diesen materialisierten Formen lassen sich Erwartungen ablesen, oftmals normierte Erwartungen, die schlecht irritierbar sind und etwa allen medizinischen Versicherungen entgegenstehen, dass auch andere Personen, nämlich alle, ein Herz besitzen. Eine reifizierende Interpretation wäre es für mich gewesen, wenn ich die Metapher ausschließlich als »weiblich« bzw. »männlich« bestimmt und eine neutrale, zum Beispiel medizinische, Deutung nicht für möglich gehalten hätte. Die Metapher wurde deshalb im Fall A zum Quellbereich »Körperteile/Organe« zugeordnet und als neutral gedeutet, jedoch mit dem Verweis, dass es eine solche Normierung in der Interaktion geben könnte. Damit komme ich zum zweiten Fehler, den ich hätte begehen können: der Reifizierung der Erwartungen, die meiner Lesart nach durch die »Herz«-Metapher an Führung heran getragen werden. Die Klientin spricht davon, dass ihr »Herz« bei der Arbeit wichtig sei. Damit impliziert sie Einsatz, Hingabe und eine starke Identifizierung mit ihrer Arbeit. Wenn jemand sein Herz für etwas gibt, dann gibt er symbolisch sein Leben, also das Kostbarste was er/sie hat, dafür. Es geht hier um das Aufgeben der Distanz zum eigenen Handeln, um ein Höchstmaß an Integrität und Hingabe. Als reifizierende Forscherin würde ich – auch ohne die Kenntnis der Herzmetapher – wiederum von »Hingabe« auf »Weiblich«-Sein schließen. Ich würde dies damit begründen, dass Frauen aus meiner Sicht biologisch mehr Empathie besitzen, sich mehr für andere aufopfern und weniger an sich selbst denken. Aus diesen Gründen würde ich schließlich die Erwartung an Führung als »weiblich« einordnen. Als distanzierte Forscherin sind mir diese Geschlechternormen bewusst, auch dass sie in sozialen Kontexten Verwendung finden und auch, dass ich selbst nicht umfassend gegen ihre Wirksamkeit geschützt bin. Zusätzlich stelle ich – im Sinne einer Gegenthese – infrage, ob aus meinen alltäglichen Beobachtungen heraus, wirklich ausschließlich »weibliche« Personen Empathie, Gemeinsinn bzw. Hingabe entwickeln. Dies führt wiederum dazu, dass sich ein Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Geschlechternormen und alltäglicher Praxis auftun kann. Auch hier, wie in den anderen Maßnahmen gegen Reifizierung, gilt es stand zu halten und nicht in die eine oder andere Richtung auszuschlagen: etwa © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

114  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis indem an den Geschlechternormen festgehalten oder aber ihre Existenz grundlegend verneint wird.

5.5 Integration von Interaktion und Struktur – das Kodierparadigma der Grounded Theory Trotzdem ich das Analyseinstrument der Grounded Theory, das Kodieren, durch die Sequenzielle Analyse ersetzte32, arbeitete ich mit dem Kodierparadigma der Grounded Theory von Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996), um die Ergebnisse der beiden Analyseformate zu integrieren. Das Kodierparadigma ordnet empirische Ereignisse in die Kategorien (strukturelle) Bedingungen, Interaktion, intervenierende Bedingungen und Konsequenzen ein (Strauss & Corbin, 1996, S. 78 ff.). Wie Hildenbrand (2007) zeigt, können darüber Interaktion und Struktur eines Phänomens geordnet und dargestellt werden, und genau das war erforderlich. Diese Vorgehensweise bot sich vor allem deshalb an, weil ich sowohl in der Sequenziellen Analyse als auch in der Metaphernanalyse Bezüge zur gesellschaftlichen Struktur, das heißt zur geschlechtlichen Segregation von Arbeit bzw. zur Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben, ausmachen konnte. Um zu illustrieren, wie diese Kodierung von Strukturen vor sich ging, möchte ich zuerst auf die Analyse der Sequenz aus Abschnitt 5.3 zurückkommen: 4 Finanzen, was geben sie dir [Verwaltung]. Ja. Ja. Und das sind einfach schwierige 5 Arbeitsbedingungen auch. (2) Und da sag ich jetzt mal wieder, so was machen die 6 nur mit Frauen. (2) 7 K: Wie das, e wie =wie? 8 B: Wenn da jetzt n Mann wäre, wenn das jetzt n Familienzentrum wäre was von 9 einem Mann geführt würde [hm] mit dem würden die so was doch gar nicht 10 machen. 11 K: 12 B: Die trauen sich so was immer viel mehr mit Frauen zu machen. 11 K: Das es dann irgendwie dass mer ne Haushaltssperre haben dass mer nicht weiß 12 wann wie lang wann wird denn das Geld jetzt endlich frei. 13 B: Und dass man den Frauen einfach auch so was zumuten kann für wenig Geld zu 14 arbeiten und so was alles. 15 K: Ja des sowieso. 16 B: Ja. (2) N Mann hätte gleich erst mal zehntausend Euro mehr ausgehandelt für die 17 Stelle. 18 K: Ja, glaubste? 19 B: Ja, ich hab grad so ne Liste aus Manager, äh, Magazin im Internet gefunden. Im 20 Bildungsbereich ist das Durchschnittsgehalt, [@(.)@] ä:h siebenundvierzig tausend 21 bei den Männern siebenundsechzig tausend.

B begründet ihre These, dass »Männer« in einer Führungsposition anders (8–10) behandelt werden als »Frauen« (6, 12, 13–14) mit einem enormen Verdienstunterschied in vergleichbaren Positionen (16, 19–21). Dieser, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Auswertung

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nach der Geschlechtskategorie konstituierte, Unterschied ist aber nicht nur Teil der Interaktion. B beruft sich vielmehr auf Daten außerhalb der Interaktion (hier: in einer Fachzeitschrift für Führungskräfte, 19), die die gesellschaftliche Struktur der Lohnarbeit widerspiegeln (vgl. dazu Kapitel I, Abschnitte 2 und 3). Diese Struktur fällt für »weibliche« Führungskräfte weitaus ungünstiger aus als für »männliche«. Gäbe es solche numerisch fixierbaren strukturellen Unterschiede nicht, hätte B auch keine Chance, ihr Deutungsmuster vom »Frau«-bzw. »Mann«-Sein auf dieser Basis plausibel aufzubauen. So aber greifen Interaktion und Lohnstruktur ineinander: K kann dem nichts Gegenteiliges entgegnen (11, 18) bzw. bestätigt die strukturelle Ungleichheit (15). Auch die Metaphernanalyse zeigt interaktiv-strukturelle Verschränkungen an. In allen Fallrekonstruktionen wird deutlich, wie horizontale bzw. vertikale geschlechtliche Segregation auf die Ausdeutung von Metaphern Einfluss nimmt. So hängt es beispielsweise von der gesellschaftlichen Besetzung mit »Frauen«, »Männern« etc. ab, ob Militär – als Metaphernquellbereich und Erfahrungsschema – weiterhin als »männlich« gelten kann oder ob es Transformationen dafür geben muss. Oder: von der strukturellen Vereinbarkeit von Familie und Leitungspositionen, das heißt von der Abmilderung vertikaler Segregation, hängt es ab, ob »Mutter«-Sein (»bin ich hier die Mutter? Ne? von dem Verein«, Fall A, 37–38) als Metapher für eine Leitungsposition weiterhin abgelehnt oder als positiv besetztes Erfahrungsschema möglich wird. Es sollte deutlich geworden sein, dass das Kodierparadigma die Ereignisse in metaphorischen Konzepten und interaktiven Aushandlungen der Geschlechterordnung in Beziehung setzt, sowie ihre strukturellen Bezüge deutlich macht und klar zuordnet. Das Problem der Reifizierung bestand dabei für das Kodieren nach dem Kodierparadigma nicht, weil sowohl die Analyse der Metaphern als auch der Sequenzen bereits genügend abgesichert war. Dennoch blieb bei der Kodierung darauf zu achten, dass ich beim Kodieren der Strukturen die Geschlechterdifferenz »beim Wort« nehmen musste – das heißt, ich musste die gesellschaftliche Annahme, dass es »Frauen« und »Männer« bzw. ausschließlich die beiden gibt, übernehmen – , während ich sie in den Interaktionen als deutungsbedürftig und kontingent beobachtete. Diese unterschiedliche Beobachtung erfordert die dialektische Kompetenz, die Geschlechterdifferenz als zum einen gesellschaftliches Ordnungsprinzip, welches binär funktioniert, insofern für gültig zu halten, als sie soziale Realität herstellt. Das Spannungsverhältnis dazu bildet zum anderen die Realität in Interaktionen, die deutlich macht, dass die Geschlechterdifferenz aber gleichzeitig als Prozess vorgestellt werden muss (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1), insofern ein »doing gender«, das heißt eine »activity of © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

116  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis managing situated conduct in light of normative conceptions of attitudes and activities appropriate for one’s sex category« (West & Zimmerman, 1987, S. 127), beobachtbar wird. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die in diesem Kapitel aufgezeigten Strategien gegen mich selbst als Mitglied einer Gesellschaft, die im Grunde beides – Norm und Abweichung – beinhaltet, der ständigen und kritischen Selbstüberprüfung bzw. der Überprüfung der Ergebnisse bedürfen. Einmal erkannt, bedeutet dies nicht die immerwährende Garantie, dass man als Forscherin nicht wieder in die Normfalle treten kann. Um eine Metapher zu bemühen: Geschlechternormen sind eingetretene Wege, geradezu Autobahnen in der Deutung sozialer Wirklichkeit. Sie besitzen viele Auffahrten und wenige Abfahrten. Wenn man einmal eine Abfahrt gefunden hat, befindet man sich plötzlich im Niemandsland, einer Wüste, die den Abweichungsweg, den man nun geht, immer wieder mit Sand verwischt. Dieser Weg ist wenig benutzt und schlecht sichtbar, im schlechtesten Fall ist er noch nicht einmal als Weg zu bezeichnen. Setzt man einmal den Fuß daneben, befindet man sich wieder mitten im Verkehr der Norm-Schnellstraße und tritt aufs Gaspedal. Geschlechternormen sind sehr viel schnellere und gewohntere Deutungsmuster als ihre Abweichung. Letztere brauchen psychische und soziale Zeit und Routinen, um sich zu generieren. Dieser komplexe Sachverhalt, den die Untersuchung von Geschlecht im Rahmen von Leitungssupervisionen/-coaching deshalb darstellt, kann mithin einige Perspektivenverschiebungen bedeuten.

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Zwei wesentliche Perspektivenverschiebungen in der Geschichte des Forschungsprozesses

In Anlehnung an das Konzept der »natural history« (z. B. erläutert in Bohnsack, 2005) möchte ich deswegen am Ende des Kapitels Einblick darin geben, wie sich die Forschung an meiner Fragestellung im Zeitverlauf verändert hat. Dies tue ich aus dem Grund, um darzustellen, dass qualitative Forschung weder linear noch von Anfang an berechenbar abläuft (in einer Grafik illustriert Strauss (1998, S. 46) diesen Sachverhalt). Ich wähle dafür zwei Entwicklungen aus, die ich für die zentralen Prozesse der »natural history« dieser Studie halte. Beide betreffen die Perspektive auf den Gegenstand und damit auch dessen Definition und die Fragestellung, mit der ich auf das Material zuging. Die erste Veränderung war die der Falldefinition weg von der Person hin zur Interaktion. Das gesamte Forschungsdesign in meinem Exposé © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Zwei wesentliche Perspektivenverschiebungen

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war noch darauf ausgerichtet, etwas an der Person der Berater_in zu finden, was darüber Aufschluss gibt, warum sie sich so und nicht anders im Gespräch verhält. Daraus wollte ich personelle Typen und Bedingungen dafür extrahieren. Ich ging davon aus, dass je ein/e Supervisor_in/ Coach einen geschlechtsbezogenen Beratungsstil aufweist. Das Forschungsdesign war zu Beginn auch sehr viel umfangreicher. Neben den Beratungsgesprächen, erhob ich von jeder Berater_in ein Genogramm der Herkunftsfamilie, welches ich analysieren wollte (vgl. etwa Hildenbrand, 2005). Außerdem führte ich narrative Interviews zur Berufsbiographie und ein Expert_inneninterview zum Thema meiner Studie durch, in welchem die Berater_innen aber auch die aufgenommenen Sitzungen kommentieren konnten. Die Perspektive der Person wurde durch die Ergebnisse des Materials jedoch falsifiziert. Denn ich fand heraus, dass es immer beide Gesprächspartner_innen sind, die an der Thematisierung von Geschlecht und Führung und der Aufrechterhaltung des Themas beteiligt sind. Dies hatte Konsequenzen für die Forschungsfrage, die Auswertung und das Material. Die Forschungsfrage konnte nun nicht mehr nur den Beratungsstil der Berater_in fokussieren, sondern musste die gesamte Interaktion der Anwesenden einbeziehen. Dementsprechend musste ich meine Perspektive auf das Material und meine Auswertungsmethode ändern. Diese Verschiebung bedeutete aber auch, dass circa zwei Drittel meines erhobenen Materials – nämlich das über die Hintergründe der Berater_innen: Genogramme und Interviews – in dieser Studie nicht verwendbar waren. Die zweite Veränderung betraf die theoretische Perspektive auf das Material, nämlich weg von Geschlecht hin zu Gender. Ich ging im Grunde in alle Reifizierungsfallen, die ich in diesem Kapitel aufgezeigt habe. Obwohl konstruktivistisch geschult, ging ich zu Beginn der Studie mit dem Forschungsstand (vgl. Kapitel II) noch davon aus, dass Berater_ innen als Frauen bzw. Männer unterschiedlich mit ihren Klient_innen umgehen, die wiederum auch anders mit ihren Berater_innen umgehen, je nachdem, ob sie selber Frauen bzw. Männer sind. Ich stellte nicht infrage, in welcher Geschlechtskategorie ich die Sprechenden verortet sah, obwohl das Material geschlechtsverblindet war. Dies beweist für mich auch, dass eine methodische Strategie einmal gesetzt, nicht die Neutralität des Auswertungsprozesses bestimmt. Dies betraf auch die Analyse der Metaphern, denn auch die Zuordnung der Quellbereiche der Metaphern in »weiblich«/»männlich« stellte ich anfänglich nicht infrage. Ich suchte zum Beispiel danach, dass zwei Männer Kampfmetaphern verwenden und zwei Frauen nicht. Aber ich fand nicht das, was ich suchte. Der Annahme, dass sich das Geschlecht im Umgang der Sprechenden miteinander zeigen würde, standen alle Ergebnisse der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

118  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis Analyse, inklusive ausnahmslos alle Ergebnisse aus Gruppeninterpretationen, völlig entgegen. Keine Interpretation fand heraus, wer von den Sprechenden welches Geschlecht hatte und wie das plausibel begründet werden konnte. Der entscheidende Umschwung erfolgte hier nicht durch die Analyse des Materials, sondern durch die Veränderung der Perspektive darauf. Memos und weitere Theoriebildung, vor allem eine ausgedehnte Lektüre in den Gender Studies und Auseinandersetzung mit Fachkolleg_innen trugen dazu bei, dass ich verstand, dass ich dem Material nicht durch meine eigene Zuschreibung vorgreifen durfte. Sondern ich musste warten und auf die Stellen achten, in denen das Material selbst Geschlecht zusammen mit Führung zum Thema machte. Erst dort durfte ich beobachten, wie das geschieht und welche Typen sich dabei differenzieren ließen. Meine Fragestellung veränderte sich infolge dessen noch mehr und noch grundlegender. Begonnen hatte ich mit der Frage »Inwiefern zeigen sich bei Einzelcoachings geschlechtsspezifische Besonderheiten im Stil der Beratung weiblicher gegenüber der Beratung männlicher Führungskräfte?«. Nun interessierte mich »Inwiefern wird in Leitungssupervisionen/-coachings Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht und normativ verhandelt?«. Anders als zu Beginn der Forschungsarbeit veränderte sich dadurch auch meine generelle Haltung gegenüber Fragen, die nicht die gleichen bleiben wollen. Ich betrachte es mittlerweile als Ergebnis von Forschung, andere eventuell bessere Fragen stellen zu lernen und weniger, Antworten zu finden. Die Bewegung ging weg von einem statischen hin zu einem prozessualen Verständnis von Forschung. In diesem neuen Verständnis ist Forschung aus meiner Sicht ein Gestaltungsprozess. Damit möchte ich nicht Wasser in die Mühlen derjenigen gießen, die behaupten, qualitative Forschung erfinde ihre Ergebnisse. Vielmehr betrachte ich die stetige Arbeit an der Fragestellung als Schleifen an den Gläsern und das Variieren ihrer Größe und Farbe, durch die man die soziale Welt als Forschende sieht.

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Hinweise zur Darstellung

Um Besonderheiten der Ergebnisdarstellung, die nun folgen wird, für die Leser_in einsichtig zu machen, möchte ich einige wenige Bemerkungen dazu machen, welche formalen Entscheidungen dafür getroffen wurden. Zunächst zur geschlechtsbezogenen Sprachregelung der Studie: Die Akteur_innen der Fälle werden in der vergeschlechtlichten Form angesprochen, in der sie sich mir bzw. gegenseitig vorgestellt haben. Ist © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Hinweise zur Darstellung

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von allgemeinen Akteur_innen die Rede, wird eine Form gewählt, die »weiblichen« und »männlichen« Handelnden entspricht, zum Beispiel »Klient_innen«. Mir ist bewusst, dass ich damit die zweigeschlechtliche Differenz von Geschlecht immer noch reproduziere und etwa Transgender-, intersexuelle Personen bzw. Personen, die sich in dieser Differenz grundsätzlich nicht verorten können, zumindest sprachlich ausschließe. Außerdem distanziere ich mich mit dieser Sprachregelung nicht deutlich genug von Heteronormativität. Um all diesen Bedürfnissen, die mit geschlechtlicher Selbstverortung einhergehen gerecht zu werden, würde meine Sprache sehr komplex und zulasten des Inhalts ausfallen. Ich bitte diejenigen, die dies betrifft oder die diese Individualrechte für andere vertreten, um Nachsicht. Wenn es Ihnen möglich ist, bitte fühlen Sie sich eingeladen, sich dennoch angesprochen zu fühlen. Das gesamte Material wird nicht geschlechtsblind dargestellt, obwohl es so analysiert wurde. Die Leser_in hat in jeder Falldarstellung Einsicht darin, welcher Geschlechtskategorie beide Sprechenden angehören bzw. sich selbst darin einordnen. Diese Darstellungsweise hat keine inhaltlichen Gründe, sondern kommt einer besseren Lesbarkeit nach. In den auszugsweisen Sequenzen werden die Sprecher_innen aber als geschlechtsneutrale Kürzel dargestellt. Die Leser_in kann damit selbst überprüfen, inwiefern sie/er selbst reifizierende Hypothesen aus dem bekannten Wissen der Geschlechtskategorien der Akteur_innen bildet bzw. auch am Material beweisen könnte, wenn diese Information nicht bekannt wäre. Bei der Darstellung von Gesprächsausschnitten, wird der/die Berater_in jeweils mit B, die/der Klient_in jeweils mit K abgekürzt. Die Nummerierung der Zeilen beginnt bei jedem Fall neu, damit eine überaus große Zeilenzahl vermieden wird. Wenn aus dem Originalprotokoll in den Fallrekonstruktionen zitiert wird, steht den Zeilennummern die Bezeichnung »Protokoll Fall x« voran. Im Kapitel V, das heißt im Fallvergleich, werden die Zitate aus dem Original ebenfalls mit der Bezeichnung »Protokoll Fall x« gekennzeichnet. Die Zitate aus den Falldarstellungen werden hingegen mit der Fallbezeichnung und der dortigen Zeilennummer kenntlich gemacht, zum Beispiel »Fall A, 231«. Die Nummerierung der Zeilen in den Transkriptausschnitten entspricht des Weiteren nicht dem Vorkommen im Originalprotokoll, sondern dient nur der Orientierung während der Darstellung. Es gehört zu den grundlegenden Problemen qualitativer Forschung, wie die Ergebnisse dargestellt werden. Denn es ist immer mehr Material analysiert worden, als am Ende gezeigt werden kann. Fall A, das heißt das Gespräch zwischen der Beraterin Frau Burmeier und der Klientin Frau Enders ist der erste Fall, der dargestellt wird. Ich zeige ihn deshalb © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

120  Kapitel III  Hermeneutische Methodik und Forschungspraxis ausführlicher als die nachfolgenden, um der Leser_in die Interpretationsweise transparent zu machen und sie/ihn zu eigenen Interpretationen anzuregen. Die folgenden Fälle werden etwas verkürzter dargestellt. Zu Beginn jeder Falldarstellung zeige ich die Organisationsstruktur auf, in denen der/die Klient_in jeweils leitet. Ich halte diese grafische Darstellung für notwendig, um zu illustrieren, auf welcher Ebene der/die Klient_in leitet und in welche interne Struktur diese Leitung eingebettet ist, das heißt, wie viele Positionen ihr unterstellt sind und wie wem gegenüber sie gegebenenfalls berichtsverpflichtet ist. Außerdem werden Hypothesen dazu entwickelt, wie günstig die Bedingungen für die Leitung einzuschätzen sind und vor welchem Hintergrund womöglich der Leidensdruck der Klient_in, eine Beratung aufzusuchen, entstanden ist. Allerdings führe ich keine systematische Analyse der Organisationsstruktur anhand meines Materials durch. Die Fallrekonstruktionen beginne ich außerdem nicht, wie in der Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik üblich, mit der Eingangssequenz, da die Eingangssequenzen in keinem der Fälle Aufschluss über meine Forschungsfrage gegeben haben.

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Kapitel IV  Fallrekonstruktionen – Beratungsinteraktionen über Führung und Geschlecht

Nachdem die methodische Vorgehensweise mit ihren Besonderheiten nun erläutert wurde, werde ich in diesem Kapitel nacheinander die fünf Fälle rekonstruieren, deren Auswahl ich im Abschnitt 3.4 des Kapitels III bereits besprochen und begründet habe. Bei der Rekonstruktion der fünf Beratungsinteraktionen folge ich meiner Forschungsfrage: Inwiefern bzw. in welchen Deutungshorizonten wird in Leitungssupervision/coaching Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht und normativ verhandelt? Ich werde die Fälle dabei in der Reihenfolge darlegen, die ich in Abbildung 1 dargestellt habe.

Fall A »So was machen die nur mit Frauen.« – Frauencoaching auf der Leitungsebene eines Familienzentrums 1

Kurzporträt der Beratungssituation

Im ersten Fall treffen zwei Frauen aufeinander. Eine der Sprecherinnen ist die Beraterin Frau Burmeier. Sie ist studierte Erwachsenenpädagogin und circa 55 Jahre alt. Beruflich hat sie als Coach, Supervisorin, Trainerin und Organisationsberaterin verschiedene ineinandergreifende Tätigkeitsprofile. Außerdem ist sie Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungslehrerin für Frauen. Auch ihre Klientel für Einzelberatungen besteht hauptsächlich aus Frauen. Frau Burmeier bezeichnet sich selbst als »Frauencoach« (das beratungsbezogene Gender-Expert_innenwissen der Beraterin stellte ein Kriterium für das Sampling dar, vgl. Kapitel III, Abschnitt 3). Die zweite Sprecherin ist ihre Klientin Frau Enders. Zum Zeitpunkt des Coachings ist sie seit einigen Monaten Leiterin eines neu gegründeten Familienzentrums in einer Stadt in Westdeutschland. Sie wurde vom Beirat bzw. Vorstand als Erste eingestellt. Das Familienzentrum bietet Erziehungsberatung und Projekte für Familien und Kinder an. Die Position von Frau Enders wird in der Organisation mit »Koordinatorin« bezeichnet. Diese Bezeichnung legt bereits nahe, dass die Ini© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

122  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen tiator_innen des Familienzentrums Skrupel bezüglich der Idee der Leitung in Verbindung mit Hierarchie haben, aber gleichzeitig eine solche für erforderlich halten. Ein weiterer Beleg für diese paradoxe Struktur ist die Stellenbeschreibung von Frau Enders, welche keine Dienst- und Fachaufsicht gegenüber ihren Mitarbeiterinnen aus den Trägern umfasst (vgl. Abbildung 2). Damit ist ihrer Position jede legitime fachliche und verwaltungsbezogene Weisungs- und Kontrollmöglichkeit über die Mitarbeiterinnen genommen. Führung geschieht hier folglich ohne Weisungsbefugnis, was besondere Schwierigkeiten bei der Legitimierung von Entscheidungen hervorruft. Einzig gegenüber einer Mitarbeiterin, die im Familienzentrum in Vollzeit als Erzieherin arbeitet, ist sie weisungsbefugt. Finanziert wird das Familienzentrum teils von der Stadt und teils von öffentlichen Trägern. Letztere setzen ihre Finanzierung durch die teilzeitliche Entsendung von Mitarbeiterinnen ins Familienzentrum um. Seitens der Träger hat Frau Enders gegenüber ihren Mitarbeiterinnen demzufolge keine direkte Weisungs- und Leitungsfunktion, sondern verwaltet die Finanzen für Projekte des Familienzentrums.

Abbildung 2: Organisationale Struktur der Führungstätigkeit von Frau Enders

Die Strukturen, in welchen Frau Enders leitet, können damit von vornherein als sehr problematisch gesehen werden. Da Leitung in ihnen gleichzeitig offiziell tabuisiert und informell erwartet wird, erschweren © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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allein sie jede Leitungstätigkeit enorm, ganz abgesehen von persönlichen Leitungskompetenzen. Es handelt sich bei dem Familienzentrum um eine Einrichtung in der Sozialen Arbeit, einem Sektor, der aufgrund seines familienaffinen Gegenstands eher durch Frauen besetzt wird (zur horizontalen Segregation und den zugrundeliegenden »Geschlechtscharakteren« vgl. Kapitel I, Abschnitte 2 und 3). Aufgrund dieser Dominanz gibt es in diesem Sektor vergleichsweise mehr weibliche Führungskräfte als in anderen Sektoren wie Wirtschaft, Politik, Landwirtschaft, Medizin, Wissenschaft usw. Deshalb kann vermutet werden, dass Führung durch Frauen hier einen Normalitätsstatus genießt. Im Fall A wird die fünfte Coachingsitzung im Beratungsprozess zwischen Frau Burmeier und Frau Enders beschrieben. Das Coaching kam dadurch zustande, dass die Beraterin eine Zukunftswerkstatt des Familienzentrums moderiert hatte und Frau Enders sie danach ansprach, Einzelsitzungen mit ihr zu machen. Die Klientin zahlt die Beratung selbst.

2

Exklusion von »Weiblich«-Sein aus und Inklusion von »Mann«-Sein in Führung – Offene Reproduktion von Geschlechternormen

Gemäß der Fragestellung, die ausschließlich dem Doing Gender bei der Beratung von Führungskräften bzw. der Verhandlung von Geschlechternormen im Rahmen von Führung folgt, wird die Verwendung von »sex« bzw. »sex categories« im Folgenden nicht untersucht (zur begrifflichen Abgrenzung vgl. Kapitel I, zur ausführlichen Erörterung des methodischen Zugangs vgl. Kapitel III). Vielmehr sind im Gespräch Sequenzen interessant, in denen Führung und Geschlecht aufeinander bezogen und explizit und im Rahmen von Normen verhandelt werden.1 Dies wird im Fall A sowohl von der Beraterin als auch von der Klientin in verschiedenen Kontexten initiiert bzw. praktiziert. Die offene Verhandlung von Geschlechts- und Führungsnormen wird dabei von bestimmten Themen ausgelöst, wie etwa der mangelnden Anerkennung der Führungstätigkeit, ausgedrückt durch deren defizitäre finanzielle Ausstattung.

2.1

»Frau«-Sein begründet fehlende und »Mann«-Sein vorhandene finanzielle Anerkennung von Führung

Im Zuge der Beratungssitzung kommt die finanzielle Struktur, in der die Klientin arbeitet, zur Sprache. Die Beraterin nennt hierbei das Thema © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

124  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Geschlecht als mögliche Begründung für die Probleme der Klientin, eine klare Leitungsrolle zu definieren: 1 B: Ist ne Hypothese von mir, dass, dass das auch n Teil von diesem ganzen System ist 2 wo’s konfus ist. (2) [hm] Ne, also das sind nicht nur die Frauen die wo du nicht alles 3 sehen kannst was die machen sondern auch noch nach da oben, [hm] mit den 4 Finanzen, was geben sie dir [Verwaltung]. Ja. Ja. Und das sind einfach schwierige 5 Arbeitsbedingungen auch. (2) Und da sag ich jetzt mal wieder, so was machen die 6 nur mit Frauen. (2) 7 K: Wie das, e wie =wie? 8 B: Wenn da jetzt n Mann wäre, wenn das jetzt n Familienzentrum wäre was von 9 einem Mann geführt würde [hm] mit dem würden die so was doch gar nicht 10 machen. 11 K: 12 B: Die trauen sich so was immer viel mehr mit Frauen zu machen. 11 K: Das es dann irgendwie dass mer ne Haushaltssperre haben dass mer nicht weiß 12 wann wie lang wann wird denn das Geld jetzt endlich frei. 13 B: Und dass man den Frauen einfach auch so was zumuten kann für wenig Geld zu 14 arbeiten und so was alles. 15 K: Ja des sowieso. 16 B: Ja. (2) N Mann hätte gleich erst mal zehntausend Euro mehr ausgehandelt für die 17 Stelle. 18 K: Ja, glaubste? 19 B: Ja, ich hab grad so ne Liste aus Manager, äh, Magazin im Internet gefunden. Im 20 Bildungsbereich ist das Durchschnittsgehalt, [@(.)@] ä:h siebenundvierzig tausend 21 bei den Männern siebenundsechzig tausend. 22 K: Das gibt’s doch nicht. 23 B: Ja toll, ne? 24 K: 25 B: Ja, ne.

Frau Burmeier weist ihre Klientin darauf hin, dass sie das Problem nicht nur bei den schlecht kontrollierbaren Tätigkeiten ihrer Mitarbeiterinnen sieht (2–3), sondern auch in der Höhe der Finanzierung der Leitung (3–4). Sie macht das Problem danach vom Geschlecht der Leitung abhängig und führt aus, was sie damit meint (5–6, 8–10). Die Klientin schildert daraufhin konkrete finanzielle Probleme, die sie hat (11–12), woran die Beraterin wiederum ausführt, wie sie weibliches Geschlecht an die Probleme gekoppelt sieht (13–14). Frau Enders stimmt ihr zu (15), worauf die Beraterin über das Verhalten eines Mannes bei einer Gehaltsverhandlung für die Stelle der Klientin spekuliert (16–17) und ihre These numerisch begründet (19–21). Für die Klientin ist diese Information neu (18, 22). Die Beraterin ironisiert den Sachverhalt schließlich (23) und bestätigt das Erstaunen der Klientin (25). Geschlecht kommt im Textausschnitt zuerst als sex category »Frauen« (2) vor, in welche die Mitarbeiterinnen eingeordnet werden. Geschlecht wird hierüber jedoch nicht normativ verhandelt. Dazu müsste eine Sprecherin Verhaltenserwartungen mit dem weiblichen Geschlecht der Mitarbeiterinnen assoziieren, zum Beispiel »das sind nicht nur die Frauen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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die typischerweise Probleme haben, ihre Arbeit öffentlich und selbstbewusst zu präsentieren« oder »das sind nicht nur die Frauen, die autonom arbeiten wollen und sich deshalb nicht in die Karten sehen lassen«. Solch eine Verknüpfung von Geschlechtskategorie und normativer Verhaltenserwartung kann hier jedoch nicht beobachtet werden. Anders ist es in den folgenden Zeilen. Anlässlich der konkreten »schwierigen Arbeitsbedingungen« (4–5) ihrer Klientin, äußert Frau Burmeier Kritik an struktureller Diskriminierung von Frauen: »Und da sag ich jetzt mal wieder, so was machen die nur mit Frauen« (5–6). Dass es sich bei der angesprochenen Diskriminierung auch komplementär um zugeschriebene Ohnmacht und mangelnde Wehrhaftigkeit der Frauen handelt, wird dadurch deutlich, dass die Beraterin vom »trauen« der Geldgeber spricht: »Die trauen sich so was immer viel mehr mit Frauen zu machen« (12). Das biologische weibliche Geschlecht von Personen dient ihr zur Erklärung schlechter finanzieller Arbeitsbedingungen. »Frauen« werden in dieser Erklärung als passive Opfer der Umstände gedeutet und es wird als normativ erwartbarer Horizont erklärt, dass mit ihnen etwas »gemacht« (12) wird. Frau Enders bedient sich damit der strukturell abgestützten Geschlechternorm von der ohnmächtigen und passiven Frau (vgl. Kapitel I, Abschnitt 2), die auch unter schlechten Bedingungen arbeitet (13–14). Sie bringt damit auch die geschlechtliche horizontale Segregation des Arbeitslebens und dementsprechende Strukturen verweiblichter Teilzeitarbeit bzw. Arbeit im Niedriglohnsektor als Deutungshorizont in die Interaktion ein. Das weibliche Geschlecht der Klientin und anderer »Frauen« in Führungspositionen verwendet sie dabei als naturalisierte, weil biologisch-körperliche, Letztbegründung für das respektlose finanzbezogene Verhalten der »anderen« (»die«, 9, 12). Eine Veränderung dieses Verhaltens ist damit verunmöglicht. Es sei denn, die »Frauen« ändern ihre Geschlechtskategorie und werden zum »Mann«. Denn als Kontrast dazu führt sie den »Mann« an, »mit dem« »die so was doch gar nicht machen« »würden«, »wenn das jetzt n Familienzentrum wäre was von einem Mann geführt würde« (8–9). Sehr deutlich führt sie mit diesem direkten Kontrast das System der Zweigeschlechtlichkeit fort, welches ausschließlich zwischen Frau/ Mann unterscheidet und daran entlang Ereignisse deutet. Das »Mann«Sein eines Leiters macht im Gegensatz zum »Frau«-Sein aus ihrer Sicht einen Unterschied in der finanziellen Struktur seiner Position. Zum einen begründet sie das mit dem respektvolleren Verhalten gegenüber dem Leiter (»mit dem würden die so was doch gar nicht machen« (9–10)). Zum anderen führt Frau Burmeier auch ein finanziell fordernderes Verhalten des Leiters an: »Ja. (2) N Mann hätte gleich erst mal zehntausend Euro mehr ausgehandelt für die Stelle« (16–17). Aus diesen beiden Variablen – © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

126  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Verhalten der Verwaltung und Verhalten des Mannes – resultiert für sie die gesellschaftliche Struktur, dass Männer als Leiter im Bildungsbereich circa ein Drittel mehr verdienen (19–21). Auch hier verwendet Frau Burmeier normative Erwartungen an Männlichkeit, indem sie Autorität und forderndes Verhalten auf »Mann«-Sein zuschreibt. Und auch hier scheint das Verhalten des »Mannes« und der Verwaltung nicht veränderbar, weil es an das als biologisch dargestellte »männliche« Geschlecht gekoppelt ist. Die Klientin nimmt in der Interaktion eine reagierende Haltung ein. Sie praktiziert diese Haltung als Informiert Werden (»Wie das, e wie = wie?«, 7) und leise Zustimmung zu den Diskriminierungsbeobachtungen (»«, 11) bzw. den Beobachtungen »männlichen« Durchsetzungsvermögens der Beraterin (»Ja, glaubste?«, 18). Frau Enders konkretisiert außerdem, was die Beraterin mit dem »so was« (5, 9) meint, das sich Verwaltungen »trauen« mit Frauen zu »machen«, nämlich sie langen Phasen finanzieller Unsicherheit auszusetzen (11–12). Klarer wird ihre Zustimmung zur Bemerkung der Beraterin, »dass man den Frauen einfach auch so was zumuten kann für wenig Geld zu arbeiten« (13–14): Für sie hat diese Information keinen Neuigkeitswert mehr, sondern ist Normalität (»Ja des sowieso.«, 15). Die pekuniäre Konkretisierung des Mehrverdienstes von Männern ruft hingegen ihre Empörung hervor (»Das gibt’s doch nicht.«, 22; »«, 24). Insgesamt übernimmt die Beraterin in dieser Sequenz die Funktion der Anklägerin finanzieller Ungleichheit in Leitungspositionen und begründet diese mit dem jeweiligen Geschlecht von Leiter_innen. Da sie dabei das Prozesshafte und Soziale (vgl. Kapitel I, Abschnitt 1) von Geschlecht nicht als Perspektive einbringt, sondern es als Variable naturalisiert, wirkt die Geschlechterdifferenz und die mit ihr begründete soziale Schieflage zementiert. Die Klientin folgt der Beraterin in ihren Setzungen und bringt selbst kein Expert_innenwissen ein. Die aktive Rolle von Frauen bei ihrer Benachteiligung (zur Mittäterschaft von Frauen an ihrer eigenen Unterdrückung vgl. Thürmer-Rohr, 1987) wird zudem von beiden zugunsten einer strukturellen Kritik ignoriert: Die »Frau« wird als passiv und den Verhältnissen ohnmächtig ausgeliefert gedeutet, während der »Mann« sein Schicksal entwirft (vgl. de Beauvoir, 2006, S. 86 ff.). Ausgelöst durch das Thema Anerkennung aktualisieren damit beide Sprecherinnen offen Geschlechternormen über Weiblichkeit und Männlichkeit.

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Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

2.2

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»Bin ich hier die Mutter?« – Führung ist keine weibliche Familienrolle

Die folgende Sequenz zeigt, dass die Reproduktion von Geschlechternormen aber auch vom Themenkreis Verantwortungsübernahme ausgelöst und über Sprachbilder offen verhandelt werden kann. Gleich zu Beginn des Beratungsgespräches berichtet die Klientin, Frau Enders, davon, welches Thema sie in der Sitzung besprechen möchte. Aus ihrer Sicht »kommt der ganze Laden nicht in die Puschen« (Protokoll Fall A, 16), womit sie das Familienzentrum meint. Der Ausschnitt konkretisiert, was für sie das Problem ist und wie ihre Erklärung dafür lautet: 26 K: Also was mich nervt ist dieses, Ideen und, ah, die Stühle sind zu hart, da bräuchte 27 man eigentlich Sitzkissen, da sagt aber keiner, weißte was, ich besorg welche. Diese 28 Ha- ich merke so ne Haltung ist so:, ah, die Elke. Ich glaub es, ich glaub es29 B : Hypothese, genau. 30 K: Und ich hab sie bisher erfüllt. Das ist das Problem. 31 B: Das ist das Problem, würd ich auch sagen. 32 K: Aha. @(.)@ [@(.)@] 33 B: Das ist deine Rollenkonfusität. 34 K: Vielleicht, ja. 35 B: Also ich, meine Hypothese ist dass das deine Rollenkonfusität ist, und dass das 36 eben genau dieses ä, Thema ist mit Reproduktionsarbeit, also bin ich in ner 37 Reproduktionsarbeit oder wer bin ich denn hier eigentlich, bin ich hier die Mutter? 38 Ne? von dem Verein, und ich bin doch eigentlich die Koordinatorin aber was ist das 39 eigentlich für ne Rolle, [hm] so? 40 K: Ja. 41 B: Da, da ist es konfus. Rolle, Thema Rolle und Selbstverständnis. 42 K: Ja und vielleicht noch, auch, wie weit, also, die Koordination, heißt ja nicht, zum 43 Beispiel für mich heißt eigentlich, wenn ich so drüber nachdenke dann denke ich, 44 also meine Vorstellung von nem Team also das ist jetzt so die Haltung die ich so: 45 entwickel ist, ich möchte mit Kollegen arbeiten die: (2) Verantwortung 46 übernehmen, Projektverantwortung übernehmen, und, wo, die sozusagen mir, die 47 sozusagen mir gegenüber in der Bringschuld sind, nicht ich muss sie an was 48 erinnern. Hier, wir haben doch letztes Mal ausgemacht dass, das möcht ich nicht, 49 ich möchte dass die mir, rechtzeitig zum Beispiel wenn sie wollen dass das äh in die 50 Presse kommt, dann müssen die mir vier Wochen vorher diesen Artikel äh, 51 zumailen, und, ich setze das um und mach das äh oder bewerbe das dann über die 52 Verteiler Stadt und und und, das versteh ich drunter. Aber bei denen ist es so, ich 53 muss sie dran erinnern. 54 B: Ja, das ist die Mutterrolle. 55 K: Genau. Und darauf hab ich keine Lust mehr. Weil des macht mich konfus, weil ich 56 hab dann das Gefühl, ja was noch, was, was, an was soll ich denn jetzt noch 57 denken, weil da hat ja jeder was, was anderes. (2)

Nachdem die Klientin beschrieben hat, dass sie die mangelnde Verantwortungsübernahme ihrer Mitarbeiterinnen »nervt« (26), reflektiert sie darüber, wie sie selbst an diesem Umstand beteiligt ist (30). Die Beraterin bestätigt sie in der Annahme, dass das Hauptproblem darin bestünde, dass die Klientin die Erwartungen ihrer Mitarbeiterinnen, übermäßig © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

128  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen viel Verantwortung zu übernehmen, bislang erfüllt habe (31). Frau Burmeier bezeichnet das Problem der Klientin als »Rollenkonfusität« (33, 35, 41) und führt aus, zwischen welchen Rollen ihrer Meinung nach bei der Klientin Verwirrung besteht: zwischen der der »Mutter« und der der »Koordinatorin« (36–38). Zu dieser Verwirrtheit kommt es aus ihrer Sicht, weil beide Rollen einen gemeinsamen Arbeitsbereich aufweisen – die »Reproduktionsarbeit« (36, 37). Frau Enders nimmt die Frage der Beraterin auf, wie die Rolle der »Koordinatorin« bestimmt werden kann und formuliert ihre Vorstellung von einem funktionierenden Team, in welchem die Mitarbeiterinnen antizipatorischer und selbstverantwortlicher arbeiten (42–52). Dagegen grenzt sie die gegenwärtige Situation ab: »Aber bei denen ist es so, ich muss sie dran erinnern« (52–53). Die Beraterin deutet dieses gegenwärtige Verhalten der Klientin als »Mutterrolle« (54) und macht damit deutlich, welches Verhalten mit »Mutter« sein gemeint und aus ihrer Sicht falsch ist: eine übertriebene Verantwortungsübernahme und Kontrolle der Arbeitsumwelt, die nicht von der Autonomie der Mitarbeiterinnen ausgeht und sich dahingehend nicht selbst kontrollieren kann. Frau Enders bestätigt sowohl die Deutung als »Mutterrolle« als auch die Bewertung des eigenen Verhaltens (55) und begründet ihre Zustimmung (55–57). An einer anderen Stelle macht Frau Enders deutlich, dass sie selbst und auch die Mitarbeiterinnen sie in einer »Mutter«-Rolle wahrnehmen: »Also, ich =ich bin dann so wie so ne Mama soll ich sie an alle Termine erinnern« (Protokoll Fall A, 24). Diese Perspektive der Klientin, die mit der der Beraterin korrespondiert, ist in folgender Hinsicht bemerkenswert: Beide verwenden mit der Metapher der »Mutter« den Quellbereich der Familie, um das Führungsproblem der Klientin zu verdeutlichen. Dass die Bezeichnung von beiden figürlich verstanden wird, wird daran deutlich, dass sich die Beraterin auf die »Rolle« der Mutter bezieht (39, 54). Es handelt sich bei den Mitarbeiter_innen nicht um die tatsächlichen Kinder der Klientin, denn die Klientin hätte die Gelegenheit ergreifen können, dies zu korrigieren. Stattdessen nimmt sie die Metapher der Beraterin an anderer Stelle auf (Protokoll Fall A, 24). Auch wenn Frau Burmeier in der Sequenz gegen eine »Rollenkonfusität« spricht und damit Hilfestellung gibt, geschieht mit dieser Metapher auf Ebene der Verhandlung von Geschlechternormen folgendes: Erstens zieht die Beraterin zur Deutung des problematischen Verhaltens der Klientin – entgrenzter Verantwortungsübernahme – die Metapher der »Mutter« heran. Die Metapher wird hier so verwendet, dass deutlich wird, dass das Erfahrungsschema dieser weiblich tradierten Familienrolle nicht auf Führung übertragbar ist. Konkreter gesagt, wird die Relation der »Mutter« zu pflege- und aufsichtsbedürftigen Kindern © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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als Bild eingebracht und als Führungsrolle kritisiert. Darüber sind sich beide Sprecherinnen einig. Zweitens trennt die Beraterin »Mutter«-Sein von der Tätigkeit des Leitens und reproduziert damit die weibliche Geschlechternorm: In Bezug auf die Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben bzw. auf Segregation (vgl. Kapitel I) wird ausgeschlossen, dass es eine Synthese von weiblicher Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, besonders in Leitungskontexten, geben kann. Vielmehr wird normativ erwartet, dass Frauen aufgrund der Familiengründung zu Hause bleiben bzw. nach Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten – beides Handlungen, die nur sehr selten mit Führungspositionen vereinbar sind bzw. nur nach politischem Druck strukturell durch Organisationen unterstützt werden. Zum Dritten wird Führung damit in der Sequenz als genuin geschlechtsneutral und allein durch »Mutter«-Sein gestört vorgestellt. Diese Idee von Führung ist auf dem »Mann- und Vaterauge« blind. Denn der Patriarch als Oberhaupt des vormodernen Familien- und Arbeitshaushalts, des oikos (ganzes Haus), ist traditionell eng mit Vorstellungen von Führung verbunden und beeinflusst neben anderen Ideen hegemonialer Männlichkeit diese bis heute. Frau Burmeier initiiert damit, viertens, die Reproduktion einer Vorstellung vom »Mutter«-Sein als einer ausschließlich fürsorgenden aufopfernden Tätigkeit, die keine Macht- bzw. Leitungsaspekte beinhaltet, sondern lediglich dienenden Charakter hat. Ähnliches wäre in Bezug auf »Vatersein« und Führung wohl kaum vorstellbar. Damit reproduziert sie – und später auch die Klientin – sprachlich wiederum die auf »Geschlechtscharakteren« aufbauende Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben, sowie geschlechtliche Segregation. Umgekehrt wird Leitung damit gleichzeitig als Tätigkeit imaginiert, die keine Fürsorgeaspekte beinhaltet. Schließlich wiederholen beide Sprecherinnen damit gleichzeitig die Erwartung, dass Frauen in Leitungspositionen »Mutter«-Rollen einnehmen (vgl. dazu bspw. Ernst 1999; aus politikwissenschaftlicher Sicht beschrieben in Rastetter, 2007 bzw. Rastetter, 2009), obwohl auch andere Deutungen dieses Verhaltens der Klientin denkbar wären. Beispielsweise hätten sie die Klientin als dem Idealbild einer heterarchischen, demokratischen bzw. partizipativen Organisationsstruktur folgend bzw. schlicht als sehr aktiv und steuernd interpretieren können. Frau Burmeier stößt mit dieser Deutung und ihren Implikationen bei der Klientin auf Zustimmung. Wie die Beraterin reproduziert auch sie die Deutung, dass ein Verhalten nach einer imaginären Mutterrolle nicht mit Leitung vereinbar sei. Damit meint sie vor allem die Verantwortung für Termine der Mitarbeiterinnen. »Mutter«-Sein bedeutet für © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

130  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen sie, nicht delegieren zu können, die Mitarbeiterinnen »wirklich n bisschen wie Kinder« (Protokoll Fall A, 42) zu behandeln, indem sie ihnen alle terminlichen Lasten abnimmt und ihre »Ansprüche« (Protokoll Fall A, 129) erfüllt. Aber auch generelle »Ansprüche« der Mitarbeiterinnen an sie, »dass ich das alles machen soll damit ihr, dann immer g, schön gut da steht« (Protokoll Fall A, 129), ordnet Frau Enders ihrer deplatzierten »Mutterrolle« zu: 58 K: So die Kinder sind ansprüchlich, [ja] und Mama mach ma, mach ma, was ist n jetzt. 59 Und dann: [ja] meckern wenn’s irgendwie nicht so läuft. So komm ich mir vor, das 60 stimmt.

Sie deutet das verantwortungsschwache Verhalten der Mitarbeiterinnen ausdrücklich in der zur »Mama« komplementären »Kinder«-Rolle (58). An einer anderen Stelle diskreditiert Frau Burmeier das »mütterliche« Verhalten ihrer Klientin gegenüber den Mitarbeiterinnen durch Spott: »@Die große Mutter spielen.@ @(.)@-« (Protokoll Fall A, 57). Damit untermauert sie nicht nur erneut die Abwertung übertriebenen Kontrollverhaltens, sondern macht überdies deutlich, dass sie auch die Überlegenheitsinszenierung der Klientin (»große«) als unangebracht und für selbstkontrollbedürftig befindet. Die Klientin folgt der Beraterin wiederum in dieser Bewertung (»@Ja ich hab daheim nen Sohn, das reicht mir. @ Naja.«, Protokoll Fall A, 58). Die Trennung von »Mutter«- und »Koordinatorin«-Sein wird in der Sitzung auf Initiative der Beraterin außerdem materialisiert, indem sie die Klientin auffordert, sich im Wechsel auf drei verschiedene Stühle zu setzen, die sie mit »Mutterrollenstuhl«, »professioneller Koordinatorinstuhl« und »Elkestuhl« (Protokoll Fall A, 75–77) definiert. Nacheinander auf jedem der Stühle sitzend, soll die Klientin aus der jeweiligen Perspektive heraus aussprechen, wie ihr Erleben ist und welche Bedürfnisse sich daraus ableiten lassen. Das Ziel dieser Trennung der Rollen ist für die Beraterin ebenfalls deutlich: 61 62 63 64 65

B: K: B: K: B:

Und dass du diese Rolle dann auch wirklich offiziell hier ablegst. [hm] Die Mutterrolle meinste?Ja. Mh, gerne. @(2)@ Okay.

Gemäß der Störung, die die »Mutterrolle« für die Leitung des Familienzentrums darstellt, fordert Frau Burmeier ihre Klientin auf, die Mutterrolle in der Sitzung am Ende »offiziell« abzulegen (61–63). Ihre Klientin ist damit einverstanden (64). Aus der Deutung durch ein Sprachbild wird © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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demnach ein Lösungsansatz abgeleitet. Dieser zielt auf die Bereinigung der Tätigkeit als »professionelle Koordinatorin« von dem als »mütterlich« gedeuteten übermäßigen Steuerungsverhalten, mangelnder diesbezüglicher Selbstkontrolle und übertriebener Überlegenheit. Eine Diskussion darüber, inwiefern »Mutter«-Sein als verweiblichte Familienmetapher gelten kann, erübrigt sich an dieser Stelle aufgrund der offenen weiblichen Personenbezeichnung in der Metapher (sex category). Anders verhielte es sich mit der Metapher »Eltern«-Sein oder »Familie spielen«. Hier würden gegebenenfalls auch männliche Akteure und andere Generationen einbezogen und der Geschlechtsbezug möglicherweise verdeckt sein (vgl. Abschnitt 4).

2.3

»Mädchen für alles« und »Hausfrauentätigkeit« – Führung ist keine verweiblichte haushaltsnahe Dienstleistung

Neben der reproduktiven Verhandlung von »Frau«- bzw. »Mutter«Sein als mit Führung inkompatibel, wird ein Aspekt von Geschlecht in Zusammenhang mit Führung verhandelt, der metaphorisch Bezug auf private Hausarbeit bzw. hausarbeitsbezogene Erwerbsarbeit nimmt. Die offene Verhandlung von weiblichen Geschlechternormen wird, wie in Abschnitt 2.1, mit der mangelnden Anerkennung als Leiterin ausgelöst. Frau Enders reflektiert dabei über die Gründe, die die Mitarbeiterinnen dazu veranlassen, ihr so viel Verantwortung zu überlassen und selbst wenig zu übernehmen. Die Begründung ist für sie folgende: 66 K: Weil meine Arbeit ist ja nicht so sichtbar. [Mhm] Also die Koordinationstätigkeit ist 67 ja, ich sags mal vergleichbar mit ner Hausfrauentätigkeit, wenn sie nicht gemacht 68 ist fällts jedem auf wenn sie gemacht wird, 69 B: Ja genau (3) /Schreibgeräusche/ 70 K: So fühl ich mich auch. 71 B: ((atmet aus)) Die Reproduktionsarbeit. 72 K: Genau. 73 K: Also ich ha- merk dass ich immer wieder konfus werde. Das ist so ein Zustand, und 74 was mir auch extrem so aufgefallen ist /Schreibgeräusche/ ist das ich irgendwie 75 immer so n ähm von ich meine son Erwartungsdruck zu spüren. vor allem von den 76 A-Träger-Kolleginnen. die haben immer Ideen, was ma alles noch machen könnte, 77 ham aber selber wenig Bereitschaft da was zu übernehmen. es landet immer 78 irgendwie so das Gefühl das alles ich bin so das Mädchen für alles. Von 79 Hausbelangen von wenn de:r Feuermelder losspringt, äh pf /Schreibgeräusche/ (3) 80 für die Projekte für die Einteilung von Urlaub äh, ja also für die Teamsitzungen für 81 de- für die Themen. ich kann es gar nicht so genau sagen aber es es landet 82 irgendwie alles /Geräusche/ vom Gefühl her es es stimmt wahrscheinlich s is jetzt 83 auch ungerecht was ich sag ja aber es landet irgendwie zu viel auf jeden Fall bei 84 mir.

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132  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Nachdem der Grund zwischen den beiden Sprecherinnen genau festgelegt wurde (66–72), führt Frau Enders weiter aus, welche Mängel sie selbst aufweist (73) und wie sie ihre Mitarbeiterinnen wahrnimmt (73–77). Schließlich macht sie wiederum die Folge dieser Konstellation deutlich, nämlich dass sie selbst zu viele Aufgaben erhält (77–78). Die Begründung, warum ihr die Mitarbeiterinnen so viel Arbeit zumuten, liegt für Frau Enders in der Unsichtbarkeit (66) der »Koordinationstätigkeit«. Es liegt also aus ihrer Sicht an einem Mangel, der in der Art ihrer Tätigkeit liegt. Um diesen Mangel an Wahrnehmbarkeit durch andere und deren Anerkennung zu verdeutlichen, deutet sie ihre Arbeit mit einer Metapher aus dem Quellbereich Haushalt als »Hausfrauentätigkeit« (67). Das Gemeinsame ist für sie, dass beide Tätigkeiten erst von der Umwelt wahrgenommen werden, wenn sie nicht erledigt werden, bei Erledigung nicht sichtbar sind und keine Anerkennung genießen (66–68). Mit der Analogisierung ihrer Tätigkeit mit einer »Hausfrauentätigkeit« zieht die Klientin eine als weiblich markierte und tradierte Tätigkeit zur Deutung eines Führungsproblems heran (Eckes findet 1997 heraus, dass es vier weibliche Geschlechterstereotype gibt: »Tussie«, »Hausfrau«, »Karrierefrau« und »Emanze«). Dies ist auch eine Reaktion, die die normative Verknüpfung von »Mann«Sein und Führung bricht und im Abschnitt 3.2 erläutert werden wird. Hier geht es mir zunächst darum, aufzuzeigen, dass Frau Enders die Metapher verwendet, um einen Mangel an Anerkennung deutlich zu machen. Sie reproduziert damit nicht nur die normative Erwartung, dass Haushaltstätigkeiten von Frauen ausgeführt werden, sondern auch, dass diese Tätigkeiten nicht ausreichend wahrgenommen und gesellschaftlich anerkannt werden (vgl. bspw. Ostner, 1979): Sie sind »nicht so sichtbar« (66), weil sie im Haus stattfinden und nicht entlohnt werden bzw. nicht wie Erwerbsarbeit über Lohn anerkannt werden und repräsentativ nach außen wirken. Warum auch die zustimmende Reaktion der Beraterin und deren anschließender Versuch, Hausarbeit aufzuwerten problematisch sind, werde ich im Abschnitt 3.2 zeigen. Vorrangig fällt auf, dass sich das Muster »Verdeutlichung von Abwertung durch eine metaphorische Analogie zu verweiblichten Tätigkeiten« innerhalb der Sequenz wiederholt. Als Führungseigenschaften werden dadurch Erfolg und Außenwirkung hervorgehoben. Ähnlich verhält es sich mit einer anderen Metapher, die sich auf eine hausbezogene Tätigkeit bezieht, jedoch als Erwerbsarbeit organisiert ist: Die Zuweisung eines Übermaßes an Aufgaben deutet die Klientin als »ich bin so das Mädchen für alles« (78). Der Quellbereich der Metapher, der zur Deutung des Führungsproblems heran gezogen wird, ist © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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die haushaltsbezogene Dienstleistung – ein Sektor, der strukturell stark verweiblicht ist, was durch den Sprachgebrauch der Klientin wieder gegeben wird. »Mädchen für alles« ist ein modernerer Begriff für ein Faktotum, von lat. fac totum für »Mach alles!«. Faktotum als Bezeichnung ist im 17. Jahrhundert aufgekommen, um eine Person zu kennzeichnen, die in einem Haushalt, Betrieb oder in Klöstern, Schulen etc. viele Hilfsaufgaben wahrnimmt, für die keine spezialisierten Fähigkeiten erforderlich sind. Faktoten konnten als unentbehrliche bis hin zu geduldeten Personen gelten. Ihnen gemeinsam ist, dass dafür keine berufliche Ausbildung gebraucht wird. Angesichts der Geschichte der Frauenarbeit (vgl. dazu Hausen & Krell, 1993) wird deutlich, dass subordinierende Hilfstätigkeiten (ohne Ausbildung), auch im Sinne von Assistenz, normativ mit »Frau«-Sein verbunden werden (untere hierarchische Stufen und Assistenztätigkeiten in Organisationen entsprechen weiblichen Stereotypen bzw. stereotypisierten Organisationsstrukturen, vgl. Hausen & Krell, 1993). Außerdem wird das »Mädchen«-Sein durch die Metapher herausgehoben, das heißt, es geht um eine ledige und kinderlose Frau, die als Hausangestellte arbeitet. Die Ehelosigkeit und Kinderlosigkeit waren wichtige Bedingungen für Hausangestellte und Dienstmädchen, die ihre ununterbrochene Verfügbarkeit garantierten. Im Vergleich mit der »Hausfrauentätigkeit« geht es in dieser Rahmung zwar um eine außerhäusliche Tätigkeit als Lohnarbeit. Der Charakter der Arbeit als unsichtbarer Dienst bleibt jedoch bestehen (zum Dienen als »weibliches« Prinzip vgl. Weber-Kellermann, 1990). Die Abwertung geht offensichtlich aber auch mit der Deutung einher, dass es sich dabei »nur« um die Umsetzung von Ideen im Gegensatz zur Ideenbildung handelt (»die haben immer Ideen, was ma alles noch machen könnte, ham aber selber wenig Bereitschaft da was zu übernehmen.«, Protokoll Fall A, 46–48). Mit der Metapher werden dienstbeflissene Unterordnung, Heteronomie gegenüber einem Dienstherrn und die eigene Unklarheit über Ziele (»für alles«) bzw. das Angewiesensein auf Anordnungen als Verhaltensweisen einer Leitungskraft abgelehnt. Vielmehr wird die Notwendigkeit von Autonomie, eigener Zielklarheit und Statusbewusstsein deutlich gemacht. Die strukturell nicht vorhandene Weisungsbefugnis im Familienzentrum und die diffuse Beteiligung der kooperierenden Träger (vgl. Abbildung 2) unterstützen die Metapher, insofern sie tatsächlich Deutungsspielräume erlauben, die Frau Enders nicht nur als »Leiterin«, sondern als Dienstleisterin gegenüber ihren Mitarbeiterinnen positionieren. Dies geschieht durch die paradoxe Struktur, dass Leitung zwar inoffiziell geleistet, aber nicht so genannt werden darf und durch die finanzielle Struktur, das heißt die Teilfinanzierung der Mitarbeitsstellen durch andere Träger. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

134  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Zusammengefasst sind es die weiblichen Rollen »Frau«, »Mutter«, »Hausfrau« und »Dienstmädchen«, die aufgrund von übertriebener Kontrolle bzw. Überlegenheit, mangelnder Selbstkontrolle, Unterordnung, Unklarheit über Ziele, Heteronomie, mangelnder Außenwirkung bzw. Statusbewusstsein und mangelndem Erfolg als inkompatibel mit Führung gedeutet werden. Gleichzeitig wird »Mann«-Sein durch Durchsetzungsvermögen und Respekt im Umfeld als geeignet für Führung interpretiert. Beide Sprecherinnen reproduzieren damit Geschlechternormen in Verschränkung mit Führungsnormen.

3

Verschränkung von »Weiblich«-Sein und Führung – Offene transformative Gestaltung

Neben dieser Validierung tradierter Erwartungen an Geschlecht und Führung habe ich in einzelnen Ausschnitten andererseits bereits solche kenntlich gemacht, in denen dies nicht geschieht, sondern Versuche unternommen werden, diese Erwartungen zu verändern und Geschlechternormen zu brechen. Diese Versuche sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Auffällig ist, dass bei diesen Transformationsansätzen ausschließlich metaphorische Konzepte im Zentrum der Interaktion stehen.

3.1

Führen ist keine »Hausfrauenarbeit«, sondern »Reproduktionsarbeit« – Ersatz eines abwertenden durch ein neutrales Erfahrungsschema

Wie bereits im Abschnitt 2.3 ersichtlich, unternimmt die Beraterin einen Versuch, die als »Hausfrauentätigkeit« gedeutete »nicht sichtbare« Tätigkeit der Klientin aufzuwerten. Sie tut das, indem sie diese als »Reproduktionsarbeit« (90) bezeichnet. 85 K: 86 87 88 B: 89 K: 90 B:

Weil meine Arbeit ist ja nicht so sichtbar. [Mhm] Also die Koordinationstätigkeit ist ja, ich sags mal vergleichbar mit ner Hausfrauentätigkeit, wenn sie nicht gemacht ist fällts jedem auf wenn sie gemacht wird, Ja genau (3) /Schreibgeräusche/ So fühl ich mich auch. ((atmet aus)) Die Reproduktionsarbeit.

Durch diesen Begriff kritisiert die Beraterin den gesellschaftlichen Zustand des Nichtanerkennens von Hausarbeit, ohne auf die Abwertung der Leitung als »Hausfrauentätigkeit« zu reagieren. Sie ignoriert die Metapher der Klientin. Stattdessen unternimmt sie einen Versuch, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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»Hausfrauentätigkeit« und damit die Führungstätigkeit der Klientin aufzuwerten, indem sie sie in Bezug zur »Produktion« bringt. Zwei Punkte lassen jedoch die Grenzen dieser Umdeutung von Leitung durch die Bezeichnung als »Reproduktionsarbeit« erkennen: Erstens bestärkt die Beraterin ihre Klientin mit dem Begriff darin, dass Koordination/Leitung nichts »Produktives« sei. Gemessen am Produzieren stellt sie so einen stets verzichtbaren Luxus dar. Zweitens wird Reproduktionsarbeit in Deutschland gesellschaftlich weder durch Finanzierung noch durch die entsprechende wohlfahrtsstaatliche Infrastruktur (z. B. Rentenversicherung, Krankenkassen etc.) anerkannt. Die Bezeichnung als »Re-Produktion« bzw. »Arbeit« ist insofern irreführend, weil sie eine Gleichsetzung mit der Produktion suggeriert, die strukturell nicht gegeben ist.2 Im Vergleich zur »Hausfrauentätigkeit« ist demnach begrifflich ausschließlich gewonnen, dass Leitung als »Arbeit« gedeutet wird und mit diesem Begriff Anerkennung einhergeht. Die Selbstverortung als »Hausfrau« scheint dies aus Sicht der Beraterin nicht zu leisten. Anders als auf diese Abwertung durch die Klientin, zeigt die Beraterin hingegen keine Reaktion bei deren Selbstverortung als »Mädchen für alles«. Dieses Bild bleibt ungebrochen stehen und damit auch in seinem Abwertungscharakter gültig.

3.2

Führung ist »Mutter«- bzw. »Hausfrau«Sein – Transformativer Gebrauch verweiblichter Erfahrungsschemata

Wie ich im Abschnitt 2.2 bereits erläutert habe, identifiziert Frau Burmeier ein wesentliches Führungsproblem ihrer Klientin als Übernahme einer imaginären Mutterrolle gegenüber den Mitarbeiterinnen (37, 54), woraus für sie »Rollenkonfusität« entsteht. Die Beraterin diskreditiert »Mutter«-Sein und trennt es als »mütterlich« gerahmtes, überfürsorgliches Verhalten von Führung ab. Im Gegensatz dazu bricht sie an anderer Stelle das normative Modell auf, dass Frauen als »Mütter« ausschließlich in der privaten Sphäre Autorität ausüben. Dies geschieht, als die Beraterin ein Modell erläutert, mit welchem sie das wenig verantwortungsbewusste Verhalten der Mitarbeiterinnen erklärt: 91 B: 92 93 94

@(.)@ das System, mit dem ihr euch beschäftigt, ist Familie. [hm] Das, eure Einrichtung heißt auch noch Familienzentrum. [] Und ihr, reproduziert [ah] dort auch n Familiensystem. [Mhm.] Und du bist oben in der Hierarchie, das heißt, du bist die Mutter. (2) Und du kennst systemische Aufstellungen, du kennst die

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136  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen 95 Ordnung und in der Ordnung bist du oben. [Mhm] Und deswegen verhalten die sich 96 ja auch so weil du bist oben und sie sind eine Stufe drunter. [hm] Du möchtest aber 97 auf Augenhöhe sein. 98 K: Ja. 99 B: Du möchtest aber schon in der ersten Reihe stehen weil du das Zentrum nach 100 außen vertrittst, [Mhm] und das wäre jetzt dann die professionelle Seite.

Dazu überträgt sie den Gegenstand der Arbeit der Organisation – Familie – auf die Organisation selbst, indem sie sich diese als Familiensystem vorstellt (91–93). In diesem abgeleiteten organisationalen Familiensystem weist sie der Klientin die Leitungs- und »Mutter«-Rolle zu (94). Die Beraterin spricht die Klientin dabei als Expertin für Systemaufstellungen an (94) und begründet das Verhalten der Mitarbeiterinnen mit Hierarchie (95–96). Danach kontrastiert sie diese Hierarchie mit den gegenläufigen Bedürfnissen der Klientin (96–97). Frau Enders bestätigt diesen Widerspruch (98). Danach stellt die Beraterin das hierarchische Modell in veränderter Form wieder her – jetzt geht es bei Leitung um »vorn« statt »oben« stehen (99) – , begründet die Hierarchie mit der Notwendigkeit der Außenvertretung (99–100) und rahmt dieses Modell als »professionell« (100). Die Beraterin bricht in dieser Sequenz eine Norm auf, indem sie Führung als allein männliches Prinzip (vgl. Connell, 2006, Lange, 1998) ignoriert und »Oben«-Sein als die Rolle der Mutter deutet (»du bist oben in der Hierarchie, das heißt, du bist die Mutter«). Sie tut das in Abgrenzung zur Kinderrolle der Mitarbeiterinnen (»sie sind eine Stufe drunter«) und in Nichterwähnung einer Vaterrolle. Ihre Haltung weist jedoch eine Ambivalenz auf: Einerseits schreibt sie der »Mutterrolle« Macht und Leitung zu, andererseits lehnt sie die »Mutterrolle« als Führungsmetapher an anderer Stelle (vgl. Abschnitt 2.2) ab. Indem die Beraterin Frau Enders dort darin bestärkt, die »Mutterrolle« als Leiterin abzulegen, liegt die Annahme nahe, dass damit – gleichzeitig – auch Attribute der Macht verloren gehen. Ähnlich verhält es sich mit dem Modifikationsversuch, den die Klientin unternimmt und der im Abschnitt 2.3 dargestellt wurde (66–67). Frau Enders analogisiert ihre Tätigkeit als Koordinatorin mit einer »Hausfrauentätigkeit« (67). Damit bricht sie normative Deutungen der Leitungsrolle als haushaltsferne und vermännlichte Tätigkeit auf. Der Bruch wirkt aus zwei Gründen jedoch nicht stabil: Erstens wird Führung nur entschärft als »Koordination« von der Klientin bezeichnet. Personalleitung mit entsprechender Anerkennung wird durch diese Bezeichnung bereits untergraben. Zum anderen hängt dies auch mit den bereits aufgezeigten strukturellen Problemen der Position der Klientin zusammen. Leitung wird strukturell weder als Leitung benannt, noch strukturell mit genügend Weisungsbefugnissen ausgestattet. Stattdessen geht es um die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Verwaltung von Geldern und Arbeitszeiten. Der Verantwortungsaspekt und deshalb auch eine Anerkennungsstruktur von Führung sind damit strukturell ebenso hinfällig. So verwundert es auch nicht, dass die Klientin Haushalt in seiner Unsichtbarkeit als negative Analogie heranzieht. Als verweiblichte Zuschreibung trägt sie so eingesetzt zur Abwertung von Koordination bei, nicht aber zur Aufwertung von Weiblichkeit, wie es etwa durch das bekannte Zitat von Margret Thatcher geschehen kann: »Jede Frau, die die Probleme der Haushaltsführung versteht, versteht auch die Probleme, ein Land zu führen«.3

3.3

»Amazonenschlag« – Führung ist der Kampf einer Frau

Ganz anders gestalten beide Sprecherinnen einen weiteren Modifikationsversuch im folgenden Ausschnitt. Frau Enders beginnt von einer Begebenheit zu berichten, die für sie mit der Rolle der »Koordinatorin« verbunden ist, während sie der Stuhl-Methode der Beraterin folgt. 101 K: Bei der Beiratssitzung hab ich ja dann das du angeboten bekommen, das war 102 sozusagen der Ritterschlag weil se. gemerkt hat ich, konkurrier nicht sondern, ich 103 bin da, gemeinsam. 104 B: Das wär jetzt dieser Stuhl wieder, ne? 105 K: Hm. 106 B: Kannste dich da nochmal hinsetzen? 107 K: Mhm. 108 B: Also als Koordinatorin, höre ich, hat, hast du schon Erfolge zu verzeichnen, [ja] 109 nämlich in der Außenwirkung. 110 K: In den Außenwirkung schon, [hm] . 111 B: Ritterschlag bekommen. [in der Auß-] [@(.)@] n Amazonenschlag muss man ja 112 jetzt sagen, [@(.)@] der war doch, ne? 113 K: @Genau.@ 114 B: Wir sind ja geschlechtersensibel, [@(.)@] n Amazonenschlag haste gekriegt. 115 ((lächelnd gesprochen)) [@(.)@]

Die Klientin berichtet von der Beiratssitzung, in welchem sie von einem Beiratsmitglied rituell auf Augenhöhe gehoben wird, indem ihr das Du angeboten wird (101–102). Sie begründet diese Reaktion des Beirats mit ihrem kooperativen Arbeitsstil (102–103). Die Beraterin fragt nach, welche Rolle das Erzählte betrifft und schlägt den »KoordinatorinnenStuhl« vor (104, 108). Die Klientin bestätigt die Vermutung der Beraterin (105) und kommt deren Aufforderung, sich auf diesen Stuhl zu setzen (106) nach (107). In der Rolle der Koordinatorin wird die Klientin von der Beraterin auf ihre Erfolge aufmerksam gemacht (108–109). Die Klientin stimmt ihr darin zu (110). Frau Burmeier verwendet danach für das Angebot zum Duzen eine Metapher (»Ritterschlag«, 111). Danach lacht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

138  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen die Klientin laut auf (111). Die Beraterin verändert nun die Metapher so, dass die Person in der Metapher nicht mehr männlich, sondern weiblich ist (111–112), das heißt, sie verändert die Geschlechtskategorie. Das tut sie ebenfalls laut (111–112). In hoher Lautstärke lacht die Klientin wieder auf, nachdem die Beraterin die veränderte verweiblichte Metapher benutzt (112) und bestätigt die Veränderung nochmals lachend (113). Die Veränderung der Metapher wird von der Beraterin im Anschluss mit der Geschlechtssensibilität beider Sprecherinnen begründet (114). Die Klientin reagiert darauf mit einem lauten Auflachen (114), woraufhin die Beraterin die veränderte – verweiblichte Metapher – nochmals lächelnd wiederholt (114–115). Die Klientin lacht wieder laut auf (115). Im Kern der Sequenz geht es um die »Erfolge« (108) der Klientin als Leiterin des Familienzentrums und die Anerkennung, die sie dafür von anderen Personen auf Leitungsebene, vom Beirat, erhält. Diese Anerkennung an Frau Enders zu vergeben, kommt als eine Führungskompetenz des Beirates im Gespräch vor. Konkret ist davon die Rede, dass der Beirat Frau Enders das Du anbietet. Es ist die Klientin, die dieses Angebot zuerst als »Ritterschlag« (102) bezeichnet, welcher später von der Beraterin wieder aufgenommen wird (111), um die »Erfolge« (108) der Klientin »in der Außenwirkung« zu beweisen. Sie schiebt jedoch eine veränderte Metapher nach: Die Klientin hat keinen »Ritterschlag« bekommen, sondern einen »Amazonenschlag« (111, 114). Hier findet eine Begriffserfindung durch die Beraterin statt, indem Wortbestandteile neu miteinander kombiniert werden. Offensichtlich unternimmt die Beraterin mit ihrer Erfindung den Versuch, die Geschlechternorm vom »kämpfenden Mann« zu durchbrechen. Sie schreibt die Erwartung des Kampfes und auch die Möglichkeit des Sieges einer weiblichen Kämpferinnenrolle (»Amazone«) zu und behält den Teil der Metapher, der die öffentliche Anerkennung ausdrückt (»-schlag«), bei. Insofern könnte man von einer in Sprache wahrnehmbaren Verweiblichung von Kampf und Anerkennung sprechen. Dass dies von der Beraterin intendiert ist, zeigt ihr selbstironischer Bezug auf Geschlechtssensibilität und die erneute Wiederholung ihres erfundenen Terminus (114). Eine ironische Haltung gegenüber beiden zentralen Metaphern zeigen beide Sprecherinnen: Die Beraterin setzt mit diesen Metaphern zwar die Außenwirkungsarbeit ihrer Klientin mit einem heldenhaften, edelmütigen und siegreichen Kampf gleich, welcher die Aufnahme in einen geadelten Status nach sich zieht. Da jedoch im gesamten Gespräch undeutlich bleibt, was die Klientin als Leiterin getan hat, um diese Anerkennung zu erhalten, wirkt der »Ritterschlag« übertrieben und in seiner Zurechnung auf die Klientin ungerechtfertigt. Das Lachen der Klientin, mit dem sie den »Ritterschlag« kommentiert (111), scheint ihren Zweifel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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daran zu bestätigen. Auch den »Amazonenschlag« (112, 115) und die »Geschlechtssensibilität« (114), die die Beraterin beiden Sprecherinnen zuschreibt, kommentiert die Klientin durch lautes Lachen, was die Annahme erhärtet, dass hier Ironie im Spiel ist. Insgesamt lässt das Verhalten beider Sprecherinnen die Deutung zu, dass es sich um eine von beiden Seiten getragene Übertreibung handelt, in deren Zentrum die kuriose Verweiblichung des »Ritterschlages« steht. Das Erfahrungsschema, welches zur Deutung von Anerkennung in einer Führungsposition verwendet wird, ist der ritterliche Kampf. Der Ritterschlag gilt historisch als Initiationsritus für zumeist adelige Männer, mit denen sie in den Ritterstand aufgenommen wurden – die sogenannte Ritterpromotion (vgl. Fleckenstein, 2002, Paravicini, 1994). Die Aspiranten mussten nicht nur Ansprüchen an Kampftechnik und Erfolg genügen, sondern vor allem an Ehrenhaftigkeit und Selbstbeherrschung. Letztere wurde durch den Ritterschlag, in frühen Formen als Schlag ins Gesicht, später durch Antippen durch Schwert oder Hand, geprüft, den der Bewerber nicht erwidern durfte. Darüber, dass Frauen, Nichtadelige etc. in den Ritterstand erhoben wurden, ist nichts bekannt. Als historisiertes Erfahrungsschema handelt es sich hier also um eines, das Personen vorbehalten war, die qua Geburtsgeschlecht (sex) bzw. über die in Kleidung, Habitus und Körper erkennbare Geschlechtskategorie (sex category) sowie geerbtem Adel (Klasse) dafür als passend bestimmt waren. Die Personifizierung der Klientin als »Amazone« wird von beiden Sprecherinnen offensichtlich als passendere wenngleich übertriebene Modifikation dieser Norm erachtet (111–115). Amazonen sind ein mythologisches kriegerisches Frauenvolk, das sich durch den Kampf vor allem zu Pferde und mit dem Bogen auszeichnet. Die Herkunft des Wortes Amazone ist nicht geklärt.4 Über höfische Strukturen und Anerkennungsrituale ähnlich einem Ritterschlag ist nichts bekannt. Dementsprechend existiert auch der Terminus des »Amazonenschlages« bis dato nicht. Abgesehen von der unterschiedlichen Vergeschlechtlichung der beiden Personifizierungen ist die Parallele, dass es bei beiden – »Ritter« und »Amazone« – um Kampf und Sieg durch Schwert bzw. Bogen geht. Lebensweltlich wird Führung in jeder der Metaphern also im Rahmen von Kampf gedeutet. Dieser Rahmen bzw. Quellbereich wird durch die erfundene zweite Metapher nicht aufgehoben, sondern macht nach der Variation die Fähigkeiten, derer es bedarf, um zu führen, deutlicher: Beim Führen geht es, erstens, um Kampfbereitschaft, Sieg und Ehre. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wird beim »Ritterschlag« mithin deutlicher als beim »Amazonenschlag«. Die zweite Fähigkeit, die im Rahmen von Kampf durch beide Metaphern aufgerufen wird, wird deutlich, wenn man die Rolle des Beirates als Leitung fokussiert: Es © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

140  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen gehört offenbar auch zu Führung, das Kampfverhalten anderer fundiert zu beurteilen, Anerkennung dafür auszusprechen und auf dieser Basis die Entscheidungsmacht über die Zugehörigkeit zu einem qualifizierten Stand inne zu haben (hier wird die Verschränkung von Führung mit »Klasse« deutlich). Aus dieser Perspektive wird der Aspekt der Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe und damit die Wechselwirkung von Geschlecht und sozialer Klasse deutlicher, sowie die Exklusionsmacht, über die Führung verfügt. Als Zugangskriterium für Führung verliert der siegreiche und selbstkontrollierte Kampf durch die neu erfundene Metapher der Beraterin nichts an Wirkmächtigkeit. Dennoch kann der Transformationsversuch der Beraterin insofern als Erfolg versprechend gedeutet werden, als er zumindest die Führungstätigkeit einer weiblichen Person in einem Erfahrungsschema wiederholt und, von Ironie getragen, von der Klientin zumindest nicht offen abgelehnt wird. Die sprachliche Kennzeichnung weiblicher Leitung kann deshalb als Teilschritt einer umfassenden interaktiven und strukturellen Transformation des Geschlechterverhältnisses in Führungspositionen aufgefasst werden. Auf die vorangegangenen Abschnitte 2 und 3 zurückblickend stellen metaphorische Konzepte von Führung insgesamt ein Potenzial sowohl für Reproduktionen als auch für Transformationen von Geschlechternormen dar. Dies vor allem deshalb, weil durch sie Führungsprobleme, -kompetenzen und Lösungsansätze in der Beratung sinnlich-anschaulich gedeutet werden können, wo Führung als abstraktes Konzept Orientierungsbedarf erzeugt. Die Orientierungskraft von Metaphern entsteht durch ihren Bezug zu sinnlich-anschaulichen Erfahrungsschemata und damit einhergehenden Erwartungsstrukturen (zum Metaphernbegriff vgl. Kapitel I, Abschnitt 6), welche Eigenschaften jemand, der/die führt, ausbilden sollte. Bis hierher sollte ebenfalls deutlich geworden sein, dass metaphorische Konzepte im Fall A offen dafür verwendet werden, Führung vergeschlechtlicht zu deuten. In den soeben besprochenen Sequenzen zeigt sich, dass Erfahrungsschemata des »Mutter«-, »Hausfrau«-, »Mädchen für alles«-Seins für Führung entweder ungeeignet erscheinen oder lediglich ambivalente Aufwertungsversuche bedeuten. Das Erfahrungsschema des Kampfes hingegen scheint für beide Sprechenden so gültig für Führung zu sein, dass es auch eine Verweiblichung auf Akteursebene übersteht und beibehalten wird – eine Beobachtung, die sich auch für Metaphern fortsetzen lässt, die nicht offen eine Geschlechtskategorie mit thematisieren.

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Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

4

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Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata von Führung in metaphorischen Konzepten

Bisher waren die metaphorischen Konzepte jeweils von Sequenzen umgeben, die thematisch beobachten lassen, wann es zu einer offenen Verhandlung beider Normierungsgrundlagen – Führung und Geschlecht – kommt. Nach Maßgabe von Lakoff & Johnson (2008) (vgl. Kapitel I, Abschnitt 6) ist jedoch unsere gesamte Sprache von Metaphern durchdrungen. Im Folgenden werde ich deshalb weitere metaphorische Deutungshorizonte für Führung aufzeigen, die in keine offenen Verhandlungen von Geschlechternormen eingebettet sind, jedoch von beiden Sprecherinnen verwendet werden und unter anderem auf verdeckte Geschlechtsbezüge hinweisen. Allen voran gibt es weitere Sprachbilder, die Führungsdefizite, -kompetenzen und Lösungsansätze aus dem Quellbereich (zur Metaphernanalyse vgl. Kapitel III) Kampf heraus deuten, wenngleich sie nicht so offen wie »Ritterschlag« und »Amazonenschlag« Geschlecht mit thematisieren.

4.1

Führen ist Kampf

Einmal in die Reihen des »ritterlichen Adels« bzw. der »Amazonen« aufgenommen, gelten Regeln, wie man sich als Führungskraft zu verhalten hat, welche Fähigkeiten man zeigen sollte bzw. welche Führungsdefizite zu vermeiden sind. In der Kritik steht im Beratungsgespräch beispielsweise das Verhalten des A-Trägers, der die Arbeitszeiten und das Tätigkeitsprofil seiner Mitarbeiterinnen nicht offen kommuniziert und so strukturell immer wieder für Irritationen sorgt. 116 B: 117 K: 118 B: 119 K: 120

Da ist wieder der alte Konflikt, mit dem A-Träger. Ja, der ist von Anfang an n bisschen da. Genau. Und ich glaube auch dass ich den n bisschen gescheut hab, ähm (3) weil:, weil sich, weil sie sich da nicht gerne in die Karten kucken lassen, ich weiß es nicht.

Die Beraterin erinnert die Klientin daran, dass der »Konflikt« zwischen ihr und dem A-Träger eine Geschichte hat (116). Frau Enders bestätigt das und fügt hinzu, dass der Konflikt von Anfang an präsent ist (117), was Frau Burmeier bestätigt (118). Die Klientin begründet ihr Verhalten, den Konflikt mit dem A-Träger zu umgehen (119) damit, dass sich dieser intransparent bezüglich seiner Strukturen verhält (120). Die mangelnde Transparenz des A-Trägers deutet Frau Enders in einem Szenario des Kartenspiels (120). Der A-Träger als Teilzeit-Leitung ihrer Mitarbeite© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

142  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen rinnen wird als Spielgegner in Szene gesetzt, der nichts von seinen Karten zeigt. Das Kartenspiel als symbolischer Kampf um Geld und Ehre ist wahrscheinlich im 14. Jahrhundert in Deutschland eingeführt worden (ältere Quellen belegen, dass sie aus Japan und China stammen und zuerst aus Holz gefertigt wurden, vgl. Meyers Großes Konversationslexikon, 2010), fand zumeist in öffentlichen Trinkstuben statt und ging mit dem Genuss alkoholischer Getränke und oft tatsächlichen Kämpfen unter Alkoholeinfluss einher (vgl. Wörner, 2010). Das Kartenspiel, in welchem der A-Träger und auch Frau Enders als Spieler_innen vorkommen, ist eines, in welchem es erwartbar ist, dass sich der A-Träger »in die Karten kucken« lässt. Sonst würde Frau Enders nicht ihre Enttäuschung darüber verlautbaren lassen, dass das nicht geschieht (120). Folglich handelt es sich bei dem in Szene gesetzten Kartenspiel um eines, in welchem es Verbündete gibt, beispielsweise beim Skat. Der A-Träger hält die verabredete Transparenz zwischen Verbündeten nicht ein und lässt sich nicht in die Karten sehen, um gemeinsam mit Frau Enders und dem Familienzentrum das Spiel zu gewinnen. Wer dabei die dritte bzw. weitere Spielpartei/en ist bzw. sind, wird durch den Textausschnitt nicht deutlich. Deutlich wird nur, dass an Führung die Erwartung gestellt wird, dass jemand, die/der führt, beurteilen kann, ob es sich um Freund oder Feind handelt und Vereinbarungen mit Bündnispartner_innen einhält. Mangelnde Fairness als auch mangelnder Gemeinsinn sind hingegen inakzeptabel. Eine andere Erwartung an Leitung ist, dass sich die Klientin als Leiterin nicht von ihren Mitarbeiterinnen zur gehorchenden Soldatin bzw. zum folgsamen Jagdhund formen lassen sollte. Ihre Wahrnehmung in Hinblick auf die Erwartungen der Mitarbeiterinnen sei zu schnell auf »Appell« (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2011), das heißt die Erfüllung von deren Erwartungen, gerichtet. In diesem Bild diagnostiziert die Beraterin, dass die Klientin auf dem »Appellohr« (Protokoll Fall A, 19) höre und bekommt von ihr Recht (Protokoll Fall A, 20). Im Bild steht nicht etwa das Hören selbst in der Kritik. Vielmehr ist es das falsche Hören, was als unangemessen für Führung bewertet wird, das heißt das, was auf die gehorsame Befolgung von Anweisungen gerichtet ist. Um im vorherigen Bild zu bleiben, handelt es sich um den Befehl zu Kampf und Heteronomie, welcher von Leitung nicht erwartet wird entgegen genommen zu werden. Sowohl wenn die Klientin die Rolle der Soldatin als auch des Jagdhundes einnimmt, ist deutlich, dass von der Leitung selbst erwartet wird, autonom zu sein und Anweisungen zu Kampf und Jagd zu kommunizieren. Im metaphorischen Konzept von »Führen ist Kämpfen« lassen sich noch weitere Metaphern herausstellen, die vor allem Lösungen für Führungsprobleme ausdrücken. Darin geht es zunächst um den sportlichen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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Wettkampf. In diesen Bildern werden einerseits Kampfbereitschaft und Siegeswille als Führungsfähigkeiten angesprochen. Es geht etwa darum, dass ihre Mitarbeiterinnen mit Frau Enders »an einem Strang ziehen« (Protokoll Fall A, 132, 146) und dass Frau Enders lerne »sofort den Ball zurück« (Protokoll Fall A, 267) zu geben. Letzteres Bild betont jedoch andererseits auch die Aspekte, Verantwortung (»den Ball«) an die Mannschaft abzugeben, das Spiel also nicht allein zu übernehmen, sondern sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen, sowie die Schnelligkeit, dies zu tun. Andere Metaphern reichen bereits in den des ernsthaften Kampfes hinein, etwa wenn es darum geht »Entscheidungen« zu »treffen« (Protokoll Fall A, 256, 269). Sogar Geräuschimitationen im Gespräch drücken den Schusscharakter und damit die Schnelligkeit von Entscheidungen aus und können als Metaphern gelesen werden (»zack bumm, [hm] dann bist du auf der offensiven Seite. [] Dann führst du dich selbst. [hm]«, Protokoll Fall A, 286). Ein Ziel, wie beispielsweise eine Zielscheibe oder einen Gegner – hier: eine Entscheidung – zu »treffen«, beschreibt immer Zielklarheit. Es geht darum, das Ziel durch einen Satz, Schlag oder Schuss auf direkter Linie punktgenau zu erreichen. Hier verschränkt sich die Fähigkeit zum Kampf mit der zur Selbstkontrolle, etwa um gut anzuvisieren. Um Führung zu verbessern, drängen diese Bilder aber offensichtlich auch zu mehr Erfolg und Überlegenheit. Eindeutige Kampfszenarien werden andererseits herangezogen, um deutlich zu machen, dass es um den körperlichen Vergleich mit und den Sieg über Gegner/n geht. Etwa, wenn die Klientin sagt, dass sie »keine Machtkämpfe« (»ich hab keine Lust auf so was, ich will keine Machtkämpfe.«, Protokoll Fall A, 257) oder sie den Mitarbeiterinnen nicht »immer überlegen« sein wolle (»gut dass ich mal irgendwie, nicht immer nur die Überlegene und so«, Protokoll Fall A, 427). Im Kontext wird deutlich, dass es hier auch um Maßhalten geht. Grundsätzlich stellen beide Prinzipien des kämpferischen Vergleichs und der körperlichen Überlegenheit jedoch eine normative Erwartung dar. Das wird auch deutlich, wenn es nicht um konkrete Personen geht, die als Gegner_innen gegenüber stehen, wie in folgendem Beispiel: 121 B: Wenn du aber schaffst als, Koordinatorin die oben ist, die Gärung zu bewältigen mit 122 diesem Team, dann hast du für dich, total viel geschafft. In deiner Rolle, auch ein 123 Team, zu führen. [hm]

Hier geht es um den Umgang mit einer konfliktären Phase im gesamten Team, die an früherer Stelle »storming« (Protokoll Fall A, 180) und hier »Gärung« (121) genannt wird. Die Lösungsidee wird hier nicht etwa in ein naturwissenschaftliches Bild gebracht, zum Beispiel »die Gärung zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

144  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen synthetisieren«. Stattdessen entsteht ein Lösungsszenario, welches sich auf Sieg durch Gewalt bezieht: »Bewältigen« (121) wird von »in seine Gewalt bringen; beherrschen« abgeleitet (vgl. Kluge, 1999, S. 106) und stellt die Erwartung auf, dass gute Führung in Konfliktphasen bedeutet, die Situation initiativ in seine Kontrolle zu bekommen und sich durchzusetzen. Darüber hinaus werden auch körperliche Kraft, Selbstkontrolle und Stabilität in Kampfszenarien als Führungsfähigkeiten verdeutlicht, etwa wenn die Beraterin erwartet: »Damit es dich nicht, umwirft, egal was kommt« (Protokoll Fall A, 422). Auf größere Schlachten beziehen sich weitere Sprachbilder, die Lösungen beschreiben. Die Klientin wird von der Beraterin beispielsweise in ein Kriegsszenario gestellt, in welchen sie »aber schon in der ersten Reihe« (Protokoll Fall A, 49) stehen solle. Die Planung von Schlachten bzw. Kriegen betreffen die Erwartungen, als Führungskraft für »Strategie« (Protokoll Fall A, 268, 414) zuständig zu sein. Damit werden eine Metaperspektive, Mut und Kampfbereitschaft als Führungsnormative formuliert.

4.2

Führen ist Haushalt

Die offene Deutung von Defiziten einer Führungstätigkeit als weibliche Haushaltsführung habe ich bereits im Abschnitt 2.3 gezeigt. Frau Enders begründet die Überforderung durch ihre Mitarbeiterinnen dort damit, dass die Koordinationstätigkeit unsichtbar und nicht anerkannt sei (66). Um diesen Mangel an Wahrnehmbarkeit und Anerkennung zu verdeutlichen, vergleicht sie ihre Arbeit mit einer »Hausfrauentätigkeit« (67). Damit zieht sie explizit eine Metapher zu Rate, die als verweiblicht sichtbar wird. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Metapher, die ausdrückt, welche Defizite sich Frau Enders selbst zuschreibt. Genau genommen kann sie deshalb nicht als eine Metapher bezeichnet werden, die, so wie die bereits genannten, Führungsdefizite beschreibt. Vielmehr charakterisiert sie damit Nachteile der Leitungstätigkeit, die durch externe Strukturen begründet sind. Dass die Beraterin dennoch auf den von der Klientin offen aufgeworfenen Quellbereich reagiert, zeigt folgender Ausschnitt, dem eine Erzählung der Klientin über ihre enttäuschten Erwartungen an die Selbstständigkeit ihrer Mitarbeiterinnen vorausgeht. 124 B: Weil Elke braucht eigentlich Teamarbeit auf Augenhöhe. 125 K: Genau. 126 B: Elke hadert noch n bisschen mit der Führungsrolle. (2) Bestimmerin sein. 127 K: Ich bin nicht, weißte, sagen mir mal so, ich damit hader ich wirklich und ich weiß 128 auch nicht ob ich, ä wirklich ne Führungskraft bin, und sein will.

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Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

145

Die Beraterin fragt die Klientin, ob sie deshalb enttäuscht sei, weil sie ein Arbeitsmodell bevorzuge, das ohne Hierarchie auskommt (124). Frau Enders stimmt dem zu (125), worauf Frau Burmeier feststellt, dass sie sich wenig mit der »Führungsrolle« und dem damit verbundenen Vorgeben von Handlungen identifiziere (126). Die Klientin stimmt dieser Diagnose zu und stellt substanziell in Frage, ob sie eine Führungskraft sei bzw. sich dahin entwickeln möchte (127–128). Das Problem, welches die Klientin mit der »Führungsrolle« hat, ist aus Sicht beider ihre mangelnde Integrität. Abgesehen davon, dass mit Führung hier ausschließlich anweisende Tätigkeiten verhandelt werden (»Bestimmerin sein«) und nicht etwa auch partizipative oder delegierende5, wird die defizitäre Haltung der Klientin in einem metaphorischen Konzept ausgedrückt: Sie »hadert« (126, 127) mit der »Führungsrolle«. Ein »Hader« ist ein abgetragenes Kleidungsstück, welches für die Papierherstellung oder – gebräuchlicher – als Putz- bzw. Scheuertuch verwendet wird (vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 1998–2010). Die Klientin erscheint mit dieser Metapher in einem Szenario, in welchem sie »hadert«, das heißt als im Scheuern, Auswringen, den Fußboden bzw. andere hausinterne Elemente reinigend, begriffen wird. Das Hilfsmittel, mit welchem sie das bewerkstelligt, ist das Putztuch, der »Hader« bzw. im übertragenen Sinne die Führungsrolle. Die Metapher wird im Gespräch dafür eingesetzt, ein Defizit der Klientin beim Leiten zu beschreiben: mangelnde Identifikation mit dieser Tätigkeit. Kritisiert wird also die Beziehung der Klientin zu ihrer Position. Im Szenario wird die Führungsrolle zum »Hader«, also als etwas Zweites neben der Klientin und als etwas von ihr wesenhaft Verschiedenes vorgestellt. Was die Metapher demnach ausdrückt, ist zum einen Distanz und zum anderen substanzielle Verschiedenheit. Die Verschiedenheit – Mensch versus textiles Putzutensil – weist jedoch keine Gleichwertigkeit der Klientin und der Führungsrolle auf. Vielmehr ist die Klientin im Szenario sowohl größer als der »Hader« bzw. die Führungsrolle als auch wertvoller. Letzteres darum, weil es sich beim »Hader« um ein abgetragenes Kleidungsstück bzw. um ein nicht besonders wertvolles Stück Stoff handelt, mit dem die Führungsrolle versinnbildlicht wird. Das Bild erlaubt es demnach auch, von einer Abwertung der Führungsrolle zu sprechen. Dazu könnte die Deutung kommen, dass das Putzen an sich nicht als passende Haltung für Führung gedeutet wird. Die körperliche Haltung beim Putzen ist die des Bückens und auf die Kniegehens – gemeinhin Haltungen, die mit Dienstbarkeit und Unterordnung einhergehen. Das Thema des Putzens ist die Beschäftigung mit Schmutz, eine Tätigkeit mit gesellschaftlich geringem Ansehen – ob nun inner- oder außerhäuslich. Auch hier liegt die Deutung nahe, dass die Führungsrolle mit diesem Bild des »Haderns« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

146  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen als abgewertet und diese Haltung der Klientin von beiden Sprecherinnen als kritikwürdig beurteilt wird. Es scheint nicht wünschenswert, mit der Führungsrolle zu »hadern«. Die Beziehung zur eigenen Führungsrolle sollte keine sein, die durch Distanz und Abwertung gekennzeichnet ist, sondern – so der Schluss – durch Identifikation und Statusbewusstsein.

4.3

Führen ist Technik

Ein weiteres metaphorisches Konzept, mittels welchem Lösungen für Führungsprobleme vorgeschlagen werden, deutet Führung als technisches Phänomen. Die Klientin setzt sich beispielsweise als sich selbst steuernde Maschine in Szene, die entweder Schalter bedient (»als hätte ich grade so n Schalter umgelegt«, Protokoll Fall A, 42) oder als Dampfmaschine in einer Lokomotive, einem Schiff etc. ins Bild tritt, die sich in ihrer Kraft zügeln sollte (131): 129 K: 130 131 132

ich merke jetzt, jetzt ist es so dass ich eher so n bisschen in der Ge- ä, der Gefahr bin, dass ich jetzt, zu: ähm, , das was ich vielleicht falsch gemacht habe, jetzt m, quasi mit Volldampf um, umsetze. @(3)@ Ich hab irgendwie ne Wut auf, die nerven mich

In beiden Bildern geht es um die Fähigkeit der Selbstkontrolle. Im zweiten um die Kontrolle eigener Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit, die im Blick behalten bzw. verbessert werden sollte. Selbstkontrolle tritt auch in den Szenarien auf, mit denen Führungsdefizite beschrieben werden. Etwa bei der Eruierung der »Konfusität« der Klientin, die diese oft im Tagesgeschäft empfindet. 133 K: 134 135 B: 136 K: 137 B: 138 K: 139 140 141 142 B:

Das Konfuse ist wenn ich den Eindruck hab, ähm, dass g ganz viele Erwartungen an mich ran getragen werden. Wie reagierst du da? M- (2) Steigst du irgendwie aus? Nee, ich bin dann irgendwie verwirrt und überlege dann, äh: f, ist das jetzt meine Aufgabe, müsste ich das eigentlich machen, es, gehört das jetzt zu meinen Koordinationsaufgaben, ja, die erwarten das, ne, vielleicht schon. Also ich, reagier dann eherDu reagierst richtig.

Die Klientin versucht eine Bedingung ihrer »Konfusität« zu bestimmen (133–134). Frau Burmeier fragt sie nach ihrer Reaktionsweise in solchen Situationen (135) bzw. nach einer Haltung, welche von ihr als inkompatibel gerahmt wird (137). Die Klientin verneint diese Reaktion und beschreibt, was sie stattdessen denkt (138–140). Sie setzt an, ihr daraus entstehendes Verhalten zu beschreiben (140–141), wird jedoch von der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

147

Beraterin unterbrochen und in ihrer Reaktion von dieser positiv bewertet (142). Mit ihrer Frage »Steigst du irgendwie aus?« (137) imaginiert die Beraterin ihre Klientin als in einem Fahrzeug sitzend und im Begriff dieses vorzeitig zu verlassen. Dass es sich um ein vorzeitiges und als falsch bewertetes »Aussteigen« handelt, wird daran deutlich, dass die Klientin dieses Verhalten stark ablehnt (»nee«, 138) und von der Beraterin ganz explizit darin bestärkt wird (142), was durch die Lautstärke noch zusätzlich unterstrichen wird (142). Ob Frau Enders im Bild als Fahrerin oder Beifahrerin im Fahrzeug sitzt, kann nur daran festgemacht werden, dass das Aussteigen als drastisch von beiden Sprecherinnen bewertet wird. Es muss sich im Bild folglich um die Klientin als Fahrerin handeln. Mit dem Bild des »Aussteigens« und dessen Bewertung verdeutlichen beide, was in einer Situation hoher Erwartungsdichte nicht »richtig« (142), sondern ein Defizit wäre: aus mangelndem Gemeinsinn das Fahrzeug »Familienzentrum« im Stich zu lassen. Stattdessen geht es anscheinend um »drinnenbleiben« und »weiterfahren«, das heißt um Kontrolle des Fahrzeugs und eine stabile Zeitstruktur (138, 142).

4.4

Führen ist Pflege

Ein anderes Erfahrungsschema für Führung kommt mit der Deutung von Führungskompetenzen als Pflegekompetenzen in die Interaktion. So reflektiert Frau Enders vor dem Hintergrund ihrer Ziele für das neue Jahr auch über eine eigene Fähigkeit, die Führung betrifft: 143 K: 144 145 146 147 148 149 B: 150 K: 151 152 153 154 155 156 157 158 159 B: 160 K: 161 162

Sagen wir mal so, ich möchte gerne ins neue Jahr starten mit mehr Klarheit. Dass alle sozusagen besser wissen, wofür bin ich zuständig, was ist so mein Bereich und, und ich auch. Und dann können wir irgendwie die:, äh, die Wintermonate gut füllen. Und da kommt der nächste Sommer und dann können wir wieder n bisschen locker lassen. @(.)@ [@(.)@] @Das ist ja auch wichtig@ dass man sich nicht nur auspowert, ne. Richtig, genau. Und wie geht’s dir denn so mit der Ansage jetzt? Gut, geht mir gut. Ich hab grad so gedacht, wie gut dass es Supervision gibt. [@(.)@] @(.)@ Und ich bin letzte Woche, es war auch so, ich hätte am Dienstag Teamsitzung gehabt, da hatte ich aber auch, ich hatt n schlechten Tag, also ich bin irgendwie, mit totalem Kopfweh aufgewacht und dann hab ich mir überlegt ((seufzt kurz)) vielleicht wär’s gut wenn ich einfach daheim bleib mit meiner Wut, und mich erhol, und die mal alleine ihre Teamsitzung machen lass, war auch so n Gedanke, ich bin sonst nicht so, also, n, ich hab mich nicht gut gefühlt aber dachte dann auch, und ich komm zu dir zur Supervision und dann bin ich vielleicht n bisschen, sachlicher wenn ich wieder hin geh. Also hab auch dafür, für mich gesorgt. Hast du’s dann ausfallen lassen für dich, warst zu Hause? Ich hab äh, angerufen hab gesagt dass ich Kopfweh habe und nicht komme. [ja] Das war gut. [ja] Hab ich mich n bisschen äh, erholt, - Weil ich glaub ich wär sonst echt, [()] irgendwie unsachlich geworden.

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148  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Sie setzt sich als Ziel, eigene Zuständigkeiten als »Koordinatorin« für sich und die Mitarbeiterinnen zu klären (143–145), um auf dieser Grundlage im Winter besser zu arbeiten (145–146). Im Sommer könne das Leistungsniveau wieder niedriger sein (146–147), weil auch Entlastung wichtig sei (147–148). Die Beraterin bestätigt sie in ihrer Entlastungsannahme und fragt sie nach ihrer momentanen emotionalen Haltung zum Gesagten (149). Die Klientin bewertet das Gesagte als positiv und bringt dies mit der Beratungssitzung in Verbindung (150). Sie und die Beraterin lachen danach kurz (151). Frau Enders schließt daran die Erzählung über eine Selbstentlastung angesichts von Kopfschmerzen an (151–155). Darin spielt die Supervisionssitzung mit Frau Burmeier eine Rolle (157), aber auch ihr Umgang mit ihrer »Wut« (154) durch lokale Distanz zum Team (154–155). Dabei betont sie die Irregularität der eigenen Distanznahme (»ich bin sonst nicht so«, 156). Die Beraterin fragt nach, ob sie wegen dieses Zustandes zu Hause geblieben war (159), woraufhin die Klientin richtig stellt, dass sie sich abgemeldet habe (160). Sie bewertet diese Entscheidung als positiv (160–161) und begründet dies mit ihrer eigenen »Erholung« (161) in der freien Zeit und mit der für sie inakzeptablen Alternative, die Selbstkontrolle in der Teamsitzung zu verlieren (161–162). Die eigene Fähigkeit, sich angesichts körperlicher (Kopfschmerzen) und sozialer Belastung (Wut auf das Team) zurückzuziehen bis sie die Kontrolle über sich selbst garantieren kann, deutet die Klientin in einem metaphorischen Rahmen von »Selbstsorge« (158). »Sorgen« besitzt insofern Ähnlichkeit zum »Kümmern«, als am Wort direkt der Ursprung aus den Gefühlsbezeichnungen Sorge, Kummer, Gram, Traurigkeit deutlich wird (vgl. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2010). Lebensweltlich typisch ist der Begriff in allen vergüteten und unvergüteten Arbeitsfeldern, die als »Sorgearbeit« bezeichnet werden können. Dazu zählt das Aufziehen, Betreuen und Pflegen von Kindern und von kranken, armen, betagten bzw. Not leidenden Menschen. »Sorgen« drückt Hilfestellung aus, wenn ein Gegenüber seine Autonomie verloren bzw. noch nicht erlangt hat. Es beinhaltet dabei nicht nur materielle Pflege im Sinne von Körperpflege. Das könnte auch mit Begriffen wie »füttern«, »waschen«, »eincremen« etc. ausgedrückt werden. Vielmehr bezieht das »Sorgen« auch die psychosoziale Komponente der Pflege ein und impliziert eine Idee von Hilfsbedürftigen sowohl in ihren körperlichen als auch in ihren psychischen und sozialen Bedürfnissen (vgl. Hausmann, 2009, S. 85 f.). Die Fähigkeit zur Pflege setzt dabei Empathie voraus, das heißt die Fähigkeit zu Einfühlung in das pflegebedürftige Gegenüber bei gleichzeitiger Distanz6. Im metaphorischen Konzept von Pflege und Sorgearbeit pflegt und reguliert Frau © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

149

Enders sich selbst. In der Rolle der Pflegenden und der Hilfsbedürftigen erkennt sie sich dabei gleichzeitig Autonomie ab und schreibt sich die Fähigkeit der Hilfeleistung zu. Die Metapher ist in dieser Hinsicht ambivalent. In der Rolle der Hilfsbedürftigen hat sie Autonomie verloren und bekommt einen Krankenstatus attestiert. Als Pflegende genießt sie Überlegenheit gegenüber der Kranken dadurch, dass sie ebendiese Autonomie besitzt und praktische Techniken der Genesungsförderung beherrscht. Die Führungskompetenz, die mit dieser Metapher betont wird, ist das Urteilsvermögen, »kranke«, das heißt nicht funktionierende Anteile zu identifizieren, dazu eine empathische Metaperspektive einzunehmen und biopsychosozial aktiv – pflegend – zu werden. Unter dem eigenen nicht funktionierenden Anteil versteht Frau Enders den drohenden Verlust der Selbstkontrolle durch »Wut«. Selbstkontrolle wird damit als weiteres Ziel der »Genesung«, das heißt als Führungsfähigkeit herausgestellt. Die Beraterin stimmt mit diesen Führungseigenschaften überein, indem auch sie den Rahmen von Führung als Selbstpflege bei der Eruierung von Lösungen verwendet. Inhaltlich geht es darum, was die Klientin der eigenen »Konfusität« als Koordinatorin entgegen stellen kann. 163 K: 164 165 B: 166 167 168 169 170 171 K: 172 B:

in der letzten Sitzung war auch irgendwas, ja so quasi n Kindertag organisieren da hab ich gesagt, was soll ich n noch organisieren. Ja, das ist dann so n bisschen diese Trotzhaltung. Wenn du konfus wirst wäre jetzt ne Möglichkeit für dich zu sorgen weil es geht ja um dich, dass du [ja] für dich sorgst, dass du erst mal denkst, halt Elke, konfus. [hm] Stopp. Was genau macht dich konfus? Anforderungen. [ja] Erwartungen. Frage, was will ich? Was will ich Elke und was will ich Koordinatorin. [hm] Was will ich, was brauche ich? [hm] Klarheit. Also des, des, [ne] der Punkt ist, ich ähNicht was wollen die, was will ich?

Sie schildert der Beraterin dafür die eigene Reaktion an einem Beispiel (163–164). Frau Burmeier rahmt die Haltung der Klientin als ungeeignet (165) und macht ihr einen Alternativvorschlag, in welchem es um die Reflexion der Situation, das Kontrollieren der eigenen Reaktionen (»Stopp«, 165–170), aber auch um Willensbildung geht (168–169, 172). Diesen Vorschlag deutet Frau Burmeier als »Sorge um sich selbst« (166) mit den bereits genannten Implikationen und Schlüssen auf Führungsfähigkeiten: die Identifizierung und Distanznahme von nicht funktionierenden Anteilen – hier Trotz (165) – und die »Selbstpflege« und Genesung durch rationale Reflexion.

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150  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen

4.5

Von »Sehen« bis »Ziehen« – Führen als Wahrnehmung, Körperorgan und Aktivität

a)

Führen ist gutes Sehen

Metaphern funktionieren, wie im Kapitel I erläutert, vor allem deshalb als Orientierungshilfen, weil sie Bezüge zu sinnlich-anschauungsbezogenen Erfahrungsschemata herstellen. Bisher wurden Metaphern analysiert, die Führung in lebensweltlichen figurativen Rahmen deuten. Dennoch besteht bei den Deutungsrahmen von Familie, Dienstleistung, Kampf, Technik, Pflege und Haushalt natürlich ein Bezug zur Wahrnehmbarkeit. Die Imagination metaphorischer Szenarien kann nur funktionieren, wenn die Erfahrung sinnlicher – überwiegend visueller aber auch taktiler, auditiver, olfaktorischer und gustatorischer – Reize vorausgesetzt werden kann. Für Metaphern bedarf es folglich eines Körpers als Wahrnehmungsinstrument. Insofern, und wie ich in Kapitel I mit Lakoff & Johnson (2008) erörtert habe, weist jede Metapher einen Körperbezug auf, wie auch die im Folgenden näher beschriebenen Metaphern. Nur setzen diese den Körper mikroskopischer bzw. einzelne Bestandteile, Sinnesorgane und Sinneswahrnehmungen konkreter in Szene. So werden Führungsdefizite von der Klientin beispielsweise als mangelnde oder falsch ausgerichtete Aufmerksamkeit im Sehen (Protokoll Fall A, 87, 300) gedeutet. Diese betrifft Gesprächsausschnitte, die mit der Information durch die Stadt bzw. den A-Träger zusammen hängen. Im Folgenden geht es um die Verwaltung der Finanzen des Familienzentrums, die Frau Enders als Koordinatorin obliegt. 173 K: 174 175 176 177 B: 178 K: 179

das ist für mich jetzt auch nochmal wichtig, die Finanzen, dass ich wirklich Überblick hab, das ist auch in, bei der Stadt äh, blickst auch hinten und vorne nicht durch, was, da gibt’s tausend Haushaltsstellen und die darf nicht mit der, ist nicht mit der kompatibel, also saublöd. Das macht aber auch konfus, oder? Das macht mich auch konfus, ich weiß immer noch, dass wir Geld haben aber nicht wie viel, und des, aber ich hab jetzt noch einen Monat Zeit, gut.

Die Klientin definiert, was sie als Ziel betrachten würde (173–174) und formuliert ihr externes Problem bei der Verwaltung der Gelder (174– 176). Die Beraterin fragt nach, ob es sich dabei um einen Grund für »Konfusität« handelt (177) und wird durch die Klientin bestätigt (178), die die Auswirkungen auf die Finanzstruktur des Familienzentrums benennt (178–179). Den eigenen Mangel, die »Haushaltsstellen« strukturell zu entziffern und dadurch Handlungssicherheit zu gewinnen, deutet die Klientin als Mangel des Sehens: »blickst auch hinten und vorne nicht durch« (174). Die städtischen Haushaltsstellen werden als »schwarze« oder zumindest undurchsichtige »Behälter« in Szene gesetzt, deren © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

151

Mechanismen für Frau Enders schwer zu entschlüsseln sind. Eigentlich wäre »Klarsicht«, das heißt Überblick und Urteilskraft gefragt. Die Metapher hebt jedoch hervor, dass Frau Enders sich als lückenhaft informiert deutet. Sie macht selbst deutlich, dass »Durchblicken« bzw. »Überblicken« (173) die Fähigkeit wäre, die sie als Leiterin benötigt. Neben der Klientin (Protokoll Fall A, 87, 88, 94, 141, 180, 183, 192, 289, 291, 300, 319, 344, 365, 370, 372, 416) nimmt auch die Beraterin den metaphorischen Rahmen des Sehens in Anspruch, um Lösungen zu verdeutlichen. In Bezug auf die uneindeutige Struktur der Haushaltsstellen stellt sie fest: 180 B: Ja, aber da kommt auch von der Seite wenig Klarheit, [hmhm] und du brauchst ja 181 eher Klarheit und Kontrolle. [genau] Und da ist, irgendwie, so was, ne, was zu 182 deinem Grundgefühl beitragen könnte.

Auch sie definiert die Lösung für das Problem der Klientin mit deren »Klarheit« (180, 181). Die angestrebte »Klarheit« verwendet sie hier gemeinsam mit dem Bedürfnis nach »Kontrolle« (181). Das erklärt, was ein einmal garantiertes »Durchsehen« ermöglichen würde: die bessere Kontrolle von (finanziellen) Verfahren und die rationalere Planung des Familienzentrums. Auch der Deutungsrahmen des Sehens zielt demzufolge auf Kontrolle durch die Verlangsamung von Reaktionszeiten – das heißt nur Wahrnehmen, nicht Reagieren – als bessere Bedingungen für Kontrolle von Situationen ab. b)

Führen ist »mit Herz dabei sein«

Ein ganz anderes Ziel hebt die folgende Metapher hervor, die das bisherige Verhalten der Mitarbeiterinnen von Frau Enders deutet und in Aussicht stellt, wie dieses stattdessen beschaffen sein sollte: 183 K: 184 185 186 B: 187 K: 188 B: 189 K: 190 B: 191 K: 192 193 194 195

wenn ich den Eindruck hab (2) dass sozusagen das Projekt, oder für irgendwas was man zusammen macht, wenn das nicht wirklich (2) von Herzen, gewollt ist (2) dann verlier ich die Lust. A, r, die Elke als Person braucht auch so ne [hm] Herzens, äh, Angelegenheit? Ja also ich bin auchMit Herz und Seele dabei, so was? Ja, und ich bin auch enttäuscht. AlsoWenn die andern nicht mit Herz und Seele dabei sind? Ja, und wenn se das dann aber so blöd verschleiern, weil dann denk ich mir, dann gebt die Stunden ab, dann stellen wir ne neue Kollegin von mir aus, bei dem A-Träger ein, ne junge frische, die Lust hat. Mich kotzen Leute an die, irgendwie: ä, wie soll ich das sagen, nehmen und nicht richtig geben wollen, [hm] mich kotzt das an.

Die Klientin bemängelt, dass ihre Mitarbeiterinnen das Familienzentrum, das heißt »das Projekt« (183) »nicht wirklich von Herzen« wollen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

152  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen (184). Die Beraterin hält fest, dass das für Frau Enders als Koordinatorin jedoch wichtig sei (186, 188, 190). Sie wird durch Frau Enders mehrmals darin bestätigt (187, 189, 191) und unterbricht sie jeweils nach ihrer Zustimmung (188, 190) um diesen Punkt, »Mit Herz und Seele dabei« (188) zu sein, festzuhalten. Hier wird Bezug auf das »Herz« als körperliches Organ bzw. Teil des Körpers genommen. Als Metapher hat das Herz eine lange Tradition (vor allem in der christlichen Kirche wird es als Symbol für das Opfer und die Liebe Jesus verwendet, vgl. Geerlings & Mügge, 2006). Vor der anatomischen Wissenschaft wurde es symbolisch vor allem für das Zentrum von Fühlen und Denken gehalten. Sie drückt damit alles andere als Distanz aus, sondern vielmehr die stärkste Integrität und Hingabe, die denkbar ist. Im Gespräch zwischen Frau Enders und Frau Burmeier stellt das »Herz« gleichzeitig eine Problemanalyse und einen Lösungsansatz dar. Medizinisch gesehen ist das Herz ein Organ, welches durch den Herzschlag und den Puls wahrnehmbar ist. Es ist ein zentrales Organ des Körpers, welches die Blutzirkulation verantwortet. Fehlt es in einem Körper, führt dieser Zustand zum Tod. Aber genau das wird als Lösung von der Beraterin insinuiert: Die Mitarbeiterinnen ihrer Klientin sollten »mit Herz und Seele« dabei sein. Sie sollten bereit sein, ihr Herz, etwas Lebensnotwendiges, für die Arbeit hin zu »geben« (194) bzw. die Arbeitsaufgabe bis zum »Herzen« und damit zur »Seele« vordringen zu lassen. Arbeit und die sie Ausführende werden so identisch miteinander. Innen ist gleich außen, Arbeit ist Person. Die Metapher drückt damit ein Höchstmaß an Integrität bei der und Hingabe an die Arbeit aus. Eine Norm, von der deutlich wird, dass die Klientin sie selbst erfüllt. Sonst wäre ihre deutliche Enttäuschung – »mich kotzen Leute an« (193, 194–195) – nicht erklärbar. Es handelt sich um eine Äußerung des Unrechtsempfindens, der Asymmetrie zwischen der Aufopferung der Klientin und der Mitarbeiterinnen, die »nicht richtig geben wollen« (194). c)

Führen ist kontrolliertes Gehen

Weitere metaphorische Konzepte zur Deutung von Lösungsansätzen schöpfen ebenfalls aus körperlichen Bezügen. Diese sind jedoch anders geartet. Sie deuten Führen nicht als Wahrnehmung oder als Teile des Körpers, sondern als konkrete nach außen sichtbare Tätigkeiten, die mittels des Körpers verrichtet werden. Ein Teil dieser Metaphern, die zwischen beiden Sprecherinnen für Lösungsszenarien verwendet werden, stammt aus dem Quellbereich des Gehens (Protokoll Fall A, 61, 102, 184, 257, 297). Die Beraterin rät ihrer Klientin beispielsweise zu folgendem Umgang mit finanziellen Anfragen ihrer Mitarbeiterinnen: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.« 196 B: 197 198 199 200

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Du könntest aber auch sagen, der Etat ist eh erschöpft, dieses Jahr gibt’s nichts mehr. Du musst ja nicht gleich rennen und Geld besorgen, [hm] du kannst auch sagen, wir haben n festen Etat und dieses Jahr ist eh nix mehr drin und ich möchte Anfang des Jahres, mit euch ne Sitzung machen wo wir uns nochmal über das Haus unterhalten. [hm] Dann führst du sie.

Frau Enders wird geraten, Anfragen zurückzuweisen und nicht sofort die Erwartungen der Mitarbeiterinnen zu erfüllen. Frau Burmeier bringt die Klientin dabei in ein Lösungsszenario, wo sie »nicht gleich rennt« (197). Es geht also aus ihrer Sicht nicht um vollkommene körperliche Verausgabung, sondern um selbstkontrolliertes Tempo. Auch in ihrer Vorstellung für das ganze Team (»ihr habt euch auch jetzt n bisschen ausgeruht, und jetzt geht’s wieder voran.«, Protokoll Fall A, 184) macht sie die Notwendigkeit der Kontrolle der Aktivität des Teams und eines sicheren Ziels deutlich. Obwohl die Klientin sich dazu antreibt, zeitliche Strukturprobleme mit den Mitarbeiterinnen initiativ und mutig zu bearbeiten (»da muss ich eigentlich ran«, Protokoll Fall A, 102), spricht sie dabei nicht von »sprinten«, »rennen« oder einem »Marathon«, sondern vom »gehen« »zu den nächst, äh, nächsten Ebene« (Protokoll Fall A, 257). Auch sie stimmt mit der Auffassung überein, dass es beim Führen um kontrolliertes Gehen geht. d)

Führen ist kein »Schleppen«

Dies bestätigen auch die Metaphern, die Führen als Ziehen (Protokoll Fall A, 65, 68) unter bestimmten Bedingungen ablehnen. Inhaltlich kann hier der Bogen zum Beginn der Falldarstellung geschlagen werden: »Wut« und »Frust« (Protokoll Fall A, 63) der Klientin angesichts der mangelnden Verantwortungsübernahme der Mitarbeiterinnen sind zum Thema geworden und die Beraterin hat vorgeschlagen, dass Frau Enders diese Gefühle auf Stühlen sitzend »nochmal richtig raus« (Protokoll Fall A, 63) lässt: 201 B: 202 203 K: 204 205 206 207 K: 208

Weil dann hat’s wenigstens hier mal Raum gehabt, weißte? [hm] Sonst schleppste’s wieder mit. [hm] Ja das möcht ich auch nicht weil ich hab ja nächste Woche Teamsitzung und dann, am Donnerstag hab ich Steuerungsgruppe und ich, möchte ja irgendwie schon, korrekt mich verhalten, also sachlich sein. (4) Von mir aus, das können wir, äh ja warum nicht, vielleicht ist das gut, dass ich das nicht mitschleppe, das könnte schon, gut sein, ja.

Sie stellt in Aussicht, dass nachdem diese Gefühle in der Sitzung »Raum gehabt« (201) haben, sie nicht von der Klientin »wieder« »mitgeschleppt« (201–202) werden. Frau Enders schließt an diese Begründung an (207– 208). »Schleppen« ist ein Begriff, der suggeriert, dass eine Person, ein © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

154  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Tier oder ein Fahrzeug mit aller Kraft etwas Schweres mühsam nah am Boden entlang zieht (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2011). Die Gegenstände, die gezogen werden, können Säcke, Körbe, Koffer, Steine, Ziegel, landwirtschaftliche Geräte, Lastkähne, Fischnetze, Wagen, Personen etc. sein. Sie sind lebensweltlich also vielfältig. Durch die Metapher des »Schleppens« und deren beidseitige Ablehnung wird wiederum bestätigt, dass es nicht um grenzenlose körperliche Verausgabung beim Ziehen geht, sondern dass Führen als selbstkontrollierte Leistung bzw. indem man seine Lasten kontrolliert selbst besser funktioniert. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur Norm, das »Herz« an die Arbeit hinzugeben (vgl. Abschnitt 4.5 b), das heißt einem Bild, was Aufopferung mit all ihren Gefahren (z. B. Burnout, Depressionen), inszeniert.

4.6

Reflexion über die Vergeschlechtlichung des Konzeptes der Führung in metaphorisierten Erfahrungsschemata und Erwartungen

Angesichts der dargestellten Erfahrungsschemata in den Quellbereichen der metaphorischen Konzepte – was kann nun über eine Vergeschlechtlichung von Führung in Metaphern gesagt werden, die nicht offen von den Sprechenden mit Geschlecht in Relation gesetzt werden? Wo liegen mögliche Grenzen einer solchen Bestimmung von Geschlechtsbezügen? Zum einen scheint die Möglichkeit nahe zu liegen, Kampf, Wettkampf, Krieg und Technik als von Männern sowie Pflege und Haushalt als von Frauen erwartete Tätigkeitsfelder zuzuordnen und deshalb als in Struktur geronnene Geschlechternormen zu klassifizieren. Zum anderen scheint einiges dagegen zu sprechen, dass eine solche Zuordnung zulässig ist (vgl. das Problem der Reifizierung von Geschlecht Kapitel III, Abschnitt 2) und die damit verbundenen Geschlechternormen noch wirksam sind. Das metaphorische Konzept, welches Führung als Kampf deutet, kann dann als vermännlichtes Führungskonzept gelten, wenn davon ausgegangen würde, dass jeder Kampf männlich sei. Eine solche Deutung würde sich beispielsweise dadurch bestätigt wissen, dass ausschließlich Männer in den »Ritterstand« erhoben wurden bzw. es Erwartungen gibt, die Jagen, Kämpfen, Kriegsausführung und -planung mit Männlichkeit in Zusammenhang bringen (bspw. untersucht in Gottburgsen, 2002). Auch die erfundene Metapher des »Amazonenschlages« könnte aus dieser Perspektive nicht viel ändern, weil sie immer noch den Kampf als Szenario benutzt, welcher seiner Geschichte nach als vermännlicht gelesen werden würde. Das Prinzip des Kampfes würde, im Gegenteil, durch die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

155

Variation der Geschlechtskategorie bei gleichzeitiger Beibehaltung des Kampfaspektes nach dieser Lesart hervorgehoben und reproduziert. Die Abwegigkeit verweiblichten Kampfgebarens würde durch die Notwendigkeit eines mythologischen Beispiels in Ermangelung realer Strukturen nur noch deutlicher. Dennoch kommen Zweifel an einem naturhaften Körper- und deshalb Verhaltensunterschied zwischen den Geschlechtern, einem »Geschlechtscharakter« (vgl. Kapitel I, Abschnitt 2), auf, der die Differenz zwischen männlichem Kämpfen und weiblichem Umkämpft werden bzw. Opfersein begründen will. Es fallen Ungereimtheiten an der Zuordnung kämpferischer Bereitschaft als Männlichkeit in Abgrenzung zu Weiblichkeit auf: Am Beispiel des »Ritterschlages« wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass männliches Geschlecht allein kein Kriterium für Kampf sein kann. Gerade in diesem Beispiel scheint Männlichkeit vielmehr in ihrer Beziehung zu Klasse (Adelige), Gesundheit (nicht etwa disability) und Kampfkompetenz zu entstehen.7 In der sozialen Realität, nicht nur der Bundesrepublik, dienen Frauen in Armeen, prügeln sich, üben häusliche Gewalt aus, erwerben Jagdscheine bzw. spielen Skat.8 Vor diesem Tatbestand wäre zu definieren, in welchen kulturellen und historischen Kontexten, ob und wie die geschlechtlichen Sphären getrennt werden bzw. wurden. Dazu gibt es eine umfangreiche geschichtswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Forschung, die Geschlechtsaspekte berücksichtigt oder in den Fokus setzt (bspw. Opitz-Belakhal, 2010 und Martschukat & Stieglitz, 2001). Sie macht deutlich, dass die Konnotation von Wettkampf und Kampf mit Männlichkeit verkürzt ist und Gefahr läuft, die geschlechtliche Trennung der Sphären zu verdinglichen. Unter der Überschrift »Flintenweiber« analysiert Klaus Theweleit (2002, S. 78 ff.) beispielsweise das Bild der proletarischen kommunistischen kämpfenden Frau in Zeitdokumenten aus dem Nationalsozialismus. Uns soll hier nicht die psychoanalytische Deutung dieser Dokumente interessieren, die Theweleit vornimmt, sondern dass anhand dieser historischen Dokumente die These unhaltbar ist, dass Kampf ausschließlich – qua Natur – von Männern ausgeführt wurde und werden konnte: »dass es nicht einmal das Schlimmste ist, hier mit Kopfschuß zu fallen wie dieser Junge eben, daß es viel schlimmer ist, von diesem viehischen Gegner gefangen zu werden, um von genießerisch lächelnden Flintenweibern den längsten Tod zu empfangen, den bittersten und zerquältesten, den einer sterben kann.« (aus Goote, 1935, S. 286 in Theweleit, 2002, S. 81)

Im Beratungsgespräch selbst wird die Erwartung, dass Kampf männlich sei, von der Beraterin durch die Reformulierung des »Ritterschlags« als »Amazonenschlag« gebrochen. Es bleibt jedoch der einzige Versuch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

156  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen einer geschlechtlichen Brechung von Kampfmetaphern im gesamten Gespräch. Dennoch macht sie die Intention der Brechung einer Regel und damit auch die Regel sichtbar, das heißt die Abweichung, als Abweichung markiert, markiert auch die Norm. Die Markierung als intendierte Brechung geschieht hierbei auf zwei Ebenen: Einmal wird die personelle Besetzung durch die Beraterin geschlechtlich ausgetauscht und deutlich mit »Geschlechtssensibilität« (114) begründet. Die gesamte Brechung wird außerdem durch eine erhöhte Lautstärke und beidseitiges Lachen bzw. Lächeln begleitet, was nicht nur auf eine ironische Haltung (zur Genealogie der Ironie am Beispiel der Pädagogik vgl. Krüger, 2010) schließen lässt, sondern auch auf den Ausnahmecharakter der verweiblichten Form des Kampfes und seiner Anerkennung. Trotz der Tatsache, dass Frauen in Armeen dienen, im Judo kämpfen usw., erscheinen entweder die kämpfende Frau als verunsichernde Abweichung oder die Inanspruchnahme des mythologischen Beispiels samt seiner Nichtentsprechung eines Anerkennungs- und Initiationsrituals bei Amazonen. Die Norm, dass sowohl die Anerkennung des Sieges als auch der Kampf selbst einen Mann betrifft, verdeutlicht sich gerade durch die als Modifikation gerahmte Modifikation. Gäbe es diese Norm nicht, würden weder Frauen bei Ritterschlägen, in Armeen, beim Skat oder bei der Reparatur eines Motorrads, noch Männer in der Pflege oder beim Häkeln auffallen, weil nicht entlang der Geschlechterdifferenz (Mann/Frau) unterschieden werden würde. Norm und Abweichung präzisieren sich, das wird am Material deutlich, in ihrer Wechselwirkung. Auch in der Lebenswelt der Technik können Bestätigungen und Einwände für und gegen eine männliche Normierung gefunden werden. Die Beschäftigung mit Fahrzeugen und Maschinen jedweder Art sowie Transport und Logistik als Anwendungsbereiche von Technik können als vermännlicht beobachtet werden (vgl. Connell, 2006, S. 207 ff. bzw. S. 249). Auch wenn Forschungsergebnisse zeigen, dass Frauen mittlerweile beispielsweise auch in Fahrberufen arbeiten (vgl. Wergen, 2005), selbstverständlich Führerscheine machen (dass dies in älteren Generationen noch nicht üblich war, zeigt bspw. Schürmann, 2005) und Maschinen erfinden, bedienen oder warten, wird ebenfalls deutlich, dass sie als »geschlechtsatypische« Tätigkeiten bzw. Berufe und mithin als Abweichung vor dem Hintergrund einer Norm gedeutet werden. Spezielle Programme zur Motivation von Frauen, sich in sogenannten MINTFächern, das heißt in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik auszubilden, wären andernfalls überflüssig.9 Die Norm einer Vermännlichung von Technik und deren Brechung in der weiblichen Besetzung entsprechender Interessen und Tätigkeiten bestätigen sich folglich ebenfalls wechselseitig. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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Es bedarf nun kaum mehr der Erwähnung, dass dieser Verweisungszusammenhang von Norm und Abweichung auch für die Lebensbereiche der Pflege und des Haushalts Geltung besitzt. Pflege entspricht einem Tätigkeitsfeld, was gemeinhin mit »Wohlfahrt« bezeichnet wird und was aufgrund seiner engen Verbindung zur innerfamilialen Arbeit als verweiblicht bezeichnet werden kann (zu der damit einhergehenden gesellschaftlichen Abwertung aufgrund der historischen Verankerung dieser Tätigkeiten in christlicher Barmherzigkeit und Haushaltsaffinität vgl. Brückner, 2004). »Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Geschlecht und Pflege ist augenscheinlich: Pflegeberufe sind nach wie vor zum weit überwiegenden Teil Frauenberufe, und in der Familienpflege übernehmen Partnerinnen alter Männer, Töchter und Schwiegertöchter den Hauptanteil und die Hauptlast der Pflege. […] Die hinsichtlich der Pflege erneut sichtbar werdende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern lässt sich als hierarchisch komplementär strukturiert beschreiben. Sie entspricht der Geschlechterarbeitsteilung im Lebensverlauf bis ins Alter.« (Backes, 2005, S. 359)

Andererseits löst sich die vergeschlechtlichte Berufswahl von Pflegeberufen beispielsweise weiter auf. Eine wachsende Zahl von Männern ergreift einen Pflegeberuf (vgl. Ummel, 2004) bzw. leistete noch bis vor kurzen Zivildienst10. Auch in privaten Haushalten pflegen immerhin 27 % der Männer ihre Familienangehörigen (Meyer, 2006, S. 18). Die Tätigkeiten des Putzens und Saubermachens, als Dienstleistungsberuf (Tengs, 2007) bzw. als Teil der Hausarbeit, ist eine, die in der Erwartung steht, eher von Frauen bewerkstelligt zu werden (vgl. Abschnitt 2.3). Aber auch hier kann nicht mit Fug und Recht behauptet werden, dass es keine Männer gäbe, die nicht als Reinigungskräfte arbeiten bzw. zu Hause Wäsche bügeln, die Küche putzen bzw. die Toilette reinigen würden. Abgesehen davon, dass die Erwartung männlicher Haushaltsführung resistent gegenüber einer Normalisierung zu sein scheint (vgl. Blättel-Mink, Kramer & Mischau, 2000), ist eine substanzielle Zuschreibung von Hausarbeit auf Weiblichkeit nicht plausibel. Noch weniger schlüssig wäre es zu sagen, dass körperliche Aktivitäten (Gehen, Ziehen) »männlich« bzw. Bereiche körperlicher Passivität (Sehen) »weiblich« determinierte Quellbereiche seien (zur Zuschreibung von Aktivität und Passivität zu »Geschlechtscharakteren« vgl. Hausen, 1976 bzw. Kapitel I, Abschnitt 2). Von Bezügen auf bestimmte Körperteile und Organe als »weiblich« oder »männlich« ganz zu schweigen. Eine Zuordnung des Herzens zum »Frau«-Sein muss zumindest angesichts dessen, dass jeder Mensch ein Herz benötigt um zu leben, absurd erscheinen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

158  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Da die Abweichungen von Geschlechternormen weder logisch noch historisch neu sind, verwundert hingegen die Beharrlichkeit, mit welcher die Ideen männlichen Kampfes, männlicher Technikaffinität, weiblicher Pflegebereitschaft und Haushaltstätigkeit, der Weiblichkeit des Herzens, der Männlichkeit der Tat etc. aufrechterhalten bleiben. Diese Deutungsmuster sind permanenten Enttäuschungen ausgesetzt. Dennoch kann beispielsweise weder eine arbeitsteilige Trennung der Sphären in Produktion und Reproduktion, noch deren Vergeschlechtlichung geleugnet werden. Es scheint sich um Erwartungen und daran anknüpfende Institutionalisierungen zu handeln, die enttäuschungsresistent sind. Damit bewegen wir uns im Bereich von Geschlechternormen, wie sie im Kapitel I definiert wurden – als enttäuschungsresistente Erwartungen. Ähnlich verhält es sich mit den Erwartungen an Führung, die über Metaphern vermittelt werden. Tabelle 5 gibt einen Überblick darüber, welche Erwartungen an das Verhalten einer Führungskraft durch Metaphern geäußert werden. Dabei handelt es sich um solche, die (1) Aktivität und Handeln (Kontrolle der Umwelt, Mut, Initiative, Siegeswille, Kampfbereitschaft, Überlegenheit, Erfolg, Zielklarheit, Autonomie, körperliche Leistungsfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Stabilität), (2) Rationalität (Selbstkontrolle, Metaperspektivität, Urteilsvermögen, Anweisung) und (3) Statusbewusstsein und Wirkung nach außen ausdrücken. Im Vergleich mit dem, was mit Hausen (1976) über bipolar konstruierte naturalisierte »Geschlechtscharaktere« (vgl. Kapitel I, Abschnitt 2) gesagt wurde und darüber, wie sich unsere soziale Welt auf diese Unterscheidung aufbaut, können Affinitäten dieser Eigenschaften zu vermännlichten Verhaltenstraditionen gesehen werden. Dies ebenfalls in dem Wissen, dass es Männer gibt, die diese Eigenschaften nicht aufweisen bzw. Frauen, die ihnen sehr wohl entsprechen. Ebenso sind die Eigenschaften, die sich auf verweiblichte Traditionen beziehen, das heißt (4) Passivität (Gemeinsinn, Hingabe), und (5) Emotionalität (Empathie), selbstverständlich idealtypisch bzw. normativ zu verstehen. Es ist jedoch auffällig, dass diese Eigenschaften im Material sehr viel seltener attraktiv für die Bestimmung optimierter Leitung erscheinen. Dies betrifft auch Eigenschaften, die (6) keine geschlechtscharakterliche Tradition aufweisen (Aufmerksamkeit, Schnelligkeit, Langsamkeit, Fairness, Integrität, Kommunikation). Auch auf der Ebene von Erwartungen an passendes Führungsverhalten weisen die Orientierungskonzepte der Metaphern damit verdeckt Bezüge zu männlichen Traditionen auf (rationale bzw. aktive Männlichkeit) und werden von wenigen verweiblichten und neutralen Erwartungen gebrochen. Für die Einschätzung einer Vergeschlechtlichung der sprachbildlichen Erfahrungsschemata sind sowohl diese Spannungsverhältnisse © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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Tabelle 5: Führungsfähigkeiten in Quellbereichen im Fall A Erwartungen 1. Aktivität und Handeln Kontrolle der Umwelt Mut Initiative Siegeswille Kampfbereitschaft Überlegenheit Erfolg Zielklarheit Autonomie Körperliche Leistungs­ fähigkeit Durchsetzungsfähigkeit Stabilität

Quellbereiche Kampf, Technik, Gehen, Sehen, Ziehen, Familie (kontrolliert) Kampf, Gehen Kampf, Gehen Kampf Kampf Kampf, Pflege, Familie (kontrolliert) Kampf, Haushalt Kampf, Gehen, Dienstleistung Kampf, Dienstleistung Kampf, Technik (kontrolliert), Ziehen (kontrolliert) Kampf Kampf, Technik

2. Rationalität Selbstkontrolle Metaperspektivität Urteilsvermögen Anweisung

Kampf, Technik, Gehen, Pflege, Ziehen, Familie Kampf, Sehen, Pflege Kampf, Technik, Sehen, Pflege Kampf

3. Statusbewusstsein und Wirkung nach außen Status (class) Wirkung nach außen

Kampf, Haushalt, Dienstleistung Haushalt

 4. Passivität Gemeinsinn Hingabe

Kampf, Technik Körperteil

 5. Emotionalität Empathie

Pflege

 6. Sonstige Aufmerksamkeit Schnelligkeit Langsamkeit Fairness Integrität Kommunikation

Sehen Kampf, Technik (kontrolliert) Sehen Kampf Haushalt, Körperteil Kampf, Technik

zwischen arbeits- und lebensweltbezogenen Geschlechternormen bzw. Erwartungen als auch deren Brechungen ausschlaggebend. Meiner Meinung nach bedeuten sie Folgendes: Das Spannungsverhältnis zwischen Geschlechternormen und deren Brechungen kann erstens durch das Material nicht aufgelöst werden. Es gibt also keine plausible, eindeutige geschlechtliche Zuordnung der Quellbereiche sowie der erwarteten Führungseigenschaften. Dennoch kann angesichts der reellen Auswirkungen von Geschlechternormen benannt werden, welche Geschlechternormen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

160  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen mit Lebensbereichen und Attributen verwoben und hartnäckig sind. Vor dieser Folie können stattfindende Brechungen im Beratungsgespräch erkannt und benannt werden. Damit wird auch das Gestaltungsfeld zwischen Norm und Brechung deutlich. Im Fall A werden etwa in einer auffälligen Breite Kampfmetaphern für den Ausdruck von Führungsfähigkeiten verwendet. Wenn Führung als Kampf gedeutet wird, ist die Möglichkeit gegeben, dass damit stillschweigend eine männliche Normierung von Führung geschieht. Dies kann deshalb geschehen, weil es außerhalb der Interaktion, in der Gesellschaft, diese Norm gibt, die in die Interaktion hineinreichen kann. Es sei denn, die Norm wird expliziert – wie durch den »Ritterschlag« – und gebrochen (»Amazonenschlag«). Wie oft, von wem und in welchen Kontexten dies wiederholt werden müsste, damit die Norm sich erschüttern lässt und die Erwartung ihre Lernresistenz aufgibt, darüber kann mit diesem Material keine Auskunft gegeben werden. Es scheint nur eines klar: Um zu verändern muss auch wiederholt werden.

5

Zusammenfassung Fall A

In Bezug auf die Forschungsfrage, inwiefern in Leitungssupervision bzw. -coachings Führung mit Geschlecht in Verbindung gebracht und normativ verhandelt wird, kann ich folgende Ergebnisse zusammenfassen. Im Fall A wird Geschlecht in Verschränkung mit Führung von beiden Sprecherinnen offen verhandelt. Dies geschieht vorrangig in metaphorischen Konzepten, die Führen als Ereignis in einer Familie, als Haushalt, Dienstleistung und Kampf deuten und offen vergeschlechtlichen bzw. normativ verhandeln. Ausgelöst wird die offene Validierung von Geschlechternormen im Fall A durch die Themen Verantwortungsübernahme und Anerkennung. Dabei kommt es sowohl zu Reproduktionen von Geschlechternormen als auch zu Modifikationsversuchen. Reproduktiv wird »Mutter«-Sein aus überverantwortlichem Verhalten abgeleitet und als nicht kompatibel mit Führung bestimmt. Weiterhin wird die fehlende Anerkennung von Leitung mit einer Analogie zum »Hausfrau«- bzw. »Mädchen für alles«-Sein gedeutet. Schließlich wird – ohne Metapherngebrauch – das weibliche Geschlecht der Klientin als Begründung für die finanzielle Mangelausstattung des Familienzentrums herangezogen. Komplementär dazu wird das »Mann«-Sein einer Person für Respekt und Durchsetzungsfähigkeit verantwortlich gemacht. Obwohl es auch Modifikationen von Deutungstraditionen gibt, wird deutlich, wie schwierig sich dies gestaltet. Fall A zeigt, dass durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie die schwache gesellschaftli© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall A  »So was machen die nur mit Frauen.«

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che Anerkennung von Reproduktionsarbeit solche Versuche erschwert werden. Aber auch das konsequente Heraus rechnen von Machtaspekten aus der »Mutterrolle« sorgen für die Ambivalenz und Destabilisierung dieser Transformationsformen: So gibt es den Versuch, Macht und Führung der »Mutter«-Metapher zuzuschreiben. Dieser Versuch wird durch die gleichzeitige Ablehnung dieser als Führungsmetapher jedoch untergraben; eine Praxis übrigens, die für das Zusammenfallen von Vater- und Führungsrolle (patriarch) nicht nur undenkbar wäre, sondern im Gegenteil Tradition besitzt. Ein zweiter Versuch Leitung als »Hausfrauentätigkeit« zu deuten bzw. Hausfrauenarbeit zur Reproduktionsarbeit aufzuwerten, wird unternommen und gleichzeitig durch die gesellschaftlichen Bedingungen der Nichtwahrnehmung bzw. Nichtanerkennung von Reproduktionsarbeit untergraben. Zu Reformulierungen von »Mann«-Sein kommt es nicht. Stattdessen wird das vermännlichte Erfahrungsschema des Kampfes von der Beraterin mit einer Frau besetzt (»Amazonenschlag«) und damit ein dritter metaphorischer Modifikationsversuch unternommen, der interaktiv anschlussfähig ist. Neben offenen sind verdeckte Geschlechtsbezüge beobachtbar. Metaphorische Konzepte, die Orientierung bei der Deutung von Führungsdefiziten, -kompetenzen und Lösungen von führungsbezogenen Problemen bieten, stellen Führung ebenfalls in Szenarien dar, die sie als Kampf und Haushalt deuten, wie dies bei der offenen Verhandlung bereits der Fall war. Darüber hinaus werden die Erfahrungsschemata Technik, Pflege, Sehen, Gehen, Ziehen und ein Körperteil herangezogen, um Führung zu deuten. Kampf- und Technikmetaphern verweisen damit auf Erfahrungsschemata und Lebenswelten, die eine stark vermännlichte Tradition besitzen und im Gespräch – anders als es durch den »Amazonenschlag« geschieht – in dieser Tradition nicht gebrochen werden. Gleichermaßen sind Haushalt und Pflege Erfahrungsschemata, die eine stark verweiblichte Tradition besitzen und hier ungebrochen verwendet werden. Tabelle 5 zeigt, dass das Konzept, welches am breitesten zur Orientierung in Führungsfragen verwendet wird, »Führen als Kampf« ist. Es deckt eine große Breite an Erwartungen an Führung ab. Da Kampf als lebensweltliche Praxis trotz gegenläufiger Bewegungen nach wie vor stark männlich normiert wird, besteht die Möglichkeit, dass Führung durch diesen extensiven Metapherngebrauch, im Gespräch stillschweigend männlich normiert wird. Einmal wird diese Norm offen von der Beraterin angesprochen und gebrochen (»Amazonenschlag«). In den sprachlichen Bildern kommen außerdem Fähigkeiten zum Vorschein, die von jemandem erwartet werden, der/die führt. Tabelle 5 stellt auch einen Überblick über die entsprechenden Quellbereiche und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

162  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen deren Verdeutlichung von Führungsfähigkeiten dar. Wie daraus ersichtlich ist, kann ein Quellbereich für den Ausdruck mehrerer Fähigkeiten verwendet bzw. kann eine Führungseigenschaft durch mehrere Quellbereiche ausgedrückt werden. Die Führungsfähigkeiten zielen insgesamt vorrangig auf Rationalität und auf Aktivität ab. Auch auf der Ebene von Erwartungen an passendes Führungsverhalten weisen die Orientierungskonzepte der Metaphern damit verdeckt Bezüge zu männlichen Traditionen auf (rationale bzw. aktive Männlichkeit), obwohl auch verweiblichte (Passivität, Emotionalität) sowie neutrale Führungseigenschaften diese Dominanz aufbrechen. Da im Gespräch »Mann«-Sein explizit nur vereinzelt und peripher in Verschränkung mit Führung verhandelt wird und diverse »Männlichkeiten« explizit gar kein Thema werden, ist dieses Ergebnis auf bildlicher Sinngebungsebene beachtlich. Denn offen nimmt die Verhandlung von Weiblichkeiten vor allem in den Erfahrungsschemata des »Mutter«- und »Hausfrau«-Seins sehr großen Raum ein und mobilisiert Modifikationen, die den Abwertungen des Weiblichen entgegen wirken. Zwischen offener und verdeckter Ebene des Geschlechtsbezugs besteht im Fall A demnach ein eklatantes Spannungsverhältnis: Während auf offener Ebene Geschlecht als Weiblichkeit abgewertet wird und Modifikationen hervorruft, wird auf der verdeckten Ebene der Erfahrungsschemata und Führungseigenschaften die Tradition männlicher Führung im Gros weitergeführt und nur schwach durch verweiblichte und neutrale Schemata gebrochen. Es kann damit die These aufgeworfen werden, dass bei der Verhandlung von Führung gleichzeitig und verdeckt männliche Rahmen mit reproduziert werden. Dies ist in Bezug auf den Fall deshalb bemerkenswert, weil es sich um ein Coaching mit dem Etikett »Frauencoaching« handelt bzw. um eine Organisation der Sozialen Arbeit, in der weibliche Führung keine Ausnahme darstellt. Inwiefern diese Ergebnisse auch in einer Beratungssitzung auffindbar sind, die sich nicht als »Frauencoaching« bezeichnet, werde ich in den folgenden beiden Fällen B und C untersuchen. Hier bringt die Supervisorin einen beratungsexternen Erfahrungshorizont aus dem Gender Mainstreaming mit, den sie jedoch nicht in ihr Beratungsprofil einfließen lässt.

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Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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Fall B »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.« – Leitungssupervision in einer Ganztagsschule mit Gender-MainstreamingErfahrung der Beraterin 1

Kurzporträt der Beratungssituation

Fall B beschreibt ebenfalls die Begegnung zwischen einer Beraterin und einer Klientin. Die Beraterin, Frau Henschel, ist selbständige Supervisorin und lebt in einer größeren Stadt in der Bundesrepublik. Frau Henschel verfügt, wie Frau Burmeier im Fall A, ebenfalls über GenderExpert_innenwissen (zum Sampling und zur Definition von Gender-Expert_innenwissen vgl. Kapitel III, Abschnitt 3.3): Sie weist Erfahrungen im Gender Mainstreaming auf (konkretere Angaben können aufgrund der Anonymisierung nicht gemacht werden). Diese Erfahrung zeigt sie jedoch nicht in ihrer von außen erkennbaren Selbstdarstellung als Beraterin, beispielsweise im Internet. Das heißt, sie bezeichnet sich weder als »Gendercoach«, noch zeigt sie nach außen eine Spezialisierung auf die Beratung von Frauen bzw. Männern (»Frauencoach«, »Männercoach«). Ihre Klientel besteht sowohl aus Frauen als auch aus Männern. Ihr vis-à-vis im Beratungsgespräch von Fall B ist ihre Klientin, Frau Wolf. Zum Zeitpunkt der Sitzung ist Frau Wolf circa 30 Jahre alt und seit einigen Monaten Leiterin einer Offenen Ganztagsschule (OGTS) in freier Trägerschaft. Die Organisation ist, wie die der Klientin aus Fall A, ebenfalls im frauendominierten Sozialbereich angesiedelt, wo auch weibliche Führung stärker repräsentiert ist. Die Offene Ganztagsschule ist von einem Elternverein und in Ausgründung einer Schule institutionalisiert worden, mit der nun kooperiert wird. Frau Wolf ist neben der Personalführung auch für das pädagogische Konzept der Ganztagsschule zuständig. Ihr untergeordnet sind eine Stellvertreterin, die vor Frau Wolf die Leitung inne hatte, und eine unbestimmte Anzahl von Hauptamtlichen und 400-Euro-Kräften, die pädagogisch mit den Kindern arbeiten (vgl. Abbildung 3). Der ehrenamtliche Vorstand und sämtliche Angestellte der Ganztagsschule sind weiblich.

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164  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen

Abbildung 3: Organisationale Struktur der Führungstätigkeit von Frau Wolf

Als allein durch die Struktur begründetes Konfliktpotenzial Frau Wolfs erscheint, dass ihre Vorgängerin nicht nur weiterhin in der Organisation, sondern als ihre Stellvertreterin, tätig ist. Außerdem handelt es sich um eine Organisation, die finanziell schlecht abgesichert ist, was am Einsatz von 400-Euro-Kräften für die Nachmittagsbetreuung deutlich wird. Die Leitung dieser teilzeitbeschäftigten, niedrigbezahlten Kräfte erfordert einen enormen Verwaltungs- aber auch Koordinationsaufwand, da sie Bedingungen der Sozialversicherungen, zeitlich zuverlässige Verfügbarkeit und die geringe Bindung an den Arbeitgeber etc. vermitteln muss. Im Fall B wird die vierte von fünf Beratungssitzungen zwischen Frau Henschel und Frau Wolf beschrieben, die durch den Vorstand der Offenen Ganztagsschule genehmigt wurden. Der Verein finanziert die Beratung und erwartet pointiert Einblick in die Ergebnisse der Beratung. Für die nächste – fünfte – Sitzung ist geplant, dass eine Person aus dem Vorstand teilnimmt, um sich die bisherigen Ergebnisse und Themen der Beratung darlegen zu lassen. Auf dieser Basis wird über eine Fortführung des Coachings für Frau Wolf im Vorstand entschieden werden.

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Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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Vom Fehlen offen reproduktiver bzw. transformativer Verhandlung von Geschlechternormen – Geschlechtsindifferenz

Im Fall A wurde gezeigt, wie zwischen der Beraterin und der Klientin Geschlecht in Verschränkung mit Führung offen normativ verhandelt wird. Dabei kommt es sowohl zu expliziten Reproduktionen von Normen als auch zu deren Modifikation. Anders als Fall A, weist Fall B keine solchen offenen Verhandlungen von geschlechtsbezogenen Führungsnormen auf. Weder die Beraterin, noch die Klientin unternehmen etwas in diese Richtung. Das offene Reden über Erwartungen an Geschlecht im Kontext von Führung findet hier also nicht statt. Das Schweigen über Geschlecht verweist stattdessen möglicherweise auf das Phänomen, welches nach Wetterer (2003) »rhetorische Modernisierung« genannt wird (vgl. Kapitel I, Abschnitt 5). Bezüglich des Interaktionsmaterials stellt sich, an diese Vermutung anknüpfend, die Frage, ob es sich um eine durchgehende Modernisierung auf rhetorischer Ebene handelt oder ob es auf der Ebene metaphorischer Konzepte Geschlechtsbezüge gibt, die ein verdecktes Reden über Geschlechternormen im Kontext von Führung praktizieren. Da metaphorische Konzepte mittels Erfahrungsschemata auf die gesellschaftliche Struktur von Führung verweisen, könnte damit über die sprachliche Deutung dieser strukturellen Ebene Aufschluss gegeben werden. Die Praxis der Interaktion wird deshalb im Folgenden weiter beobachtet und zwar dahingehend, ob auch die schwerer zu kontrollierende sprachbildliche Deutung von Führung dieser indifferenten Praxis entspricht: Werden metaphorisierte Erfahrungsschemata und Erwartungen benutzt, die keine Bezüge zu vergeschlechtlichten gesellschaftlichen Strukturen bergen? Und werden, angesichts der Einfärbung von Metaphern durch geschlechtliche Traditionen, überhaupt metaphorische Konzepte für Führung verwendet (ich werde in den Abschnitten 4 und 5 in Kapitel V auf das Phänomen zurückkommen)?

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Verdeckter Geschlechtsbezug – Erfahrungsschemata für Führung in metaphorischen Konzepten

Die letzte Frage kann mit einem klaren »Ja« beantwortet werden: Es werden von beiden Sprecherinnen metaphorische Konzepte verwendet, um Führungsdefizite, -kompetenzen und Lösungen auszudrücken. Diese Metaphern werden Quellbereichen entlehnt, die bereits aus Fall A © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

166  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen bekannt sind, das heißt eine Deutung von Führen als Kampf, Technik, Pflege, Sehen und Gehen.

3.1

Führen ist Kampf

Wie im Fall A kommt es zu Deutungen von Führung als Kampf, die Defizite der Klientin bzw. der stellvertretenden Leiterin bei der Leitung betreffen. Der Mangel, der aus Sicht der Beraterin, bei ihrer Klientin hervorsticht, ist ein übermäßiger Ehrgeiz und damit verbundene starke Selbstzweifel: 1 B: ich hab den Eindruck dass Sie, ä Ihre:, wenn ich Sie so erlebe, mh, dass Sie, sehr 2 äh, leistungsorientiert sind, dass Sie sehr wenn nur n kleinster Fehler passiert das 3 sofort nehmen, so ähm, weiter am Lack zu kratzen. [hm] Das muss ja nicht sein 4 oder? 5 K: Ja stimmt. 6 B: Weil damit ä, halten Sie: sich ziemlich in Trab und Fr-, diese Frau auch, also damit 7 füttern Sie sozusagen diesen Konflikt. [hm] Weil da haut die ja immer rein. Und die, 8 wird immer was finden, [ja =ja] was Sie nicht gut machen

Frau Henschel diagnostiziert hohe Leistungsansprüche der Klientin an sich selbst (1–2) und ein hohes Maß an Selbstbestrafung (2–3). Sie heißt dieses Verhalten der Klientin nicht gut (3–4). Die Klientin stimmt ihr darin zu (5), woraufhin die Beraterin noch weiter ausführt, wie diese Haltung dazu führt, sich selbst und ihre Stellvertreterin in dem Muster von Kritik und Selbstbestrafung zu halten (6–8). Ihre Klientin und ihre Stellvertreterin werden bildlich dabei zu Huftieren, welche von Frau Wolf »in Trab« »gehalten« werden11 (6). Mit Trab wird die beschleunigte Zweitaktgangart eines Pferdes bezeichnet. Dabei setzt es einen Vorderfuß und den diagonal entgegengesetzten Hinterfuß zugleich auf (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010). Bei Steigerung des Tempos verfällt das Pferd in den Galopp (die langsamste Gangart ist der Schritt). Die Klientin wird in diesem Szenario als Huftier verbildlicht, welches sich selbst nicht gestattet, den eigenen Gang zu verlangsamen und im Schritt zu laufen. Das Defizit liegt nicht darin, dass sie zu langsam läuft, sondern zu schnell. Sonst hätte Frau Henschel auch sagen können »damit halten sie sich und ihre Kollegin vom Galopp ab« und müsste nicht davon sprechen, dass Frau Wolf sich und die Kollegin »ziemlich« (6) im Laufen halte. Die Bezeichnung der Gangart als »Trab« deutet zunächst auf eine reine Tiermetapher hin. Aus dem Kontext wird aber deutlich, dass es nicht nur um das Gehen, sondern um die Einhaltung der Gangart geht (»halten«, 6). Im Alltag eines Tieres spielt diese Einhaltung hingegen keine Rolle, abgesehen von Wettkämpfen, wie beispielsweise Turniere und Rennen. Die Einhaltung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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der Gangart ist beispielsweise im Trabrennen Bedingung eines validen Ergebnisses und kann bei Nichteinhaltung zur Disqualifikation führen. Auch die Stellvertreterin Frau Wolfs wird damit als Pferd gedeutet und zwar als eines, mit dem die Klientin ein Rennen läuft und welches sie dazu weiter anspornt (6). In dem Rennen beider Pferde/Kolleginnen wird um die Erfüllung höchster Ansprüche als Leiterin (»die, wird immer was finden, was Sie nicht gut machen«, 7–8) gerungen. Das Hervorstechende dieser Metapher ist zum einen die Anstrengung, die damit betont wird und als Führungsfähigkeit eher die Kontrolle von eigener Kampfbereitschaft hervorhebt. Denn ein Pferd, welches nicht langsam gehen oder gar stehen bzw. liegen darf, wird sich selbst schnell erschöpfen, gefährdet die eigene Gesundheit und das eigene Leben. Zum anderen wird damit die Notwendigkeit eines kontrollierten Siegeswillen hervorgehoben, das heißt passend, je nach Situation und Problem, in Schritt, Trab oder Galopp zu verfallen bzw. niedrigere oder höhere Ansprüche an sich selbst zu formulieren bzw. formulieren zu lassen. Drittens geht es deshalb auch um Selbststeuerung, denn die Klientin »hält sich« (6) als Pferd im Laufen, könnte aber auch bremsen oder langsamer gehen. Dass auch die Stellvertreterin an einem Wettrennszenario in der Organisation mitwirkt und aus ihrer Sicht unrechtmäßige Siege erzielt, macht die Beraterin in einem weiteren Ausschnitt deutlich. Frau Wolf erzählt ihr von einem Streit zwischen dem Vorstand und ihrer Stellvertreterin in einer Vorstandssitzung und davon, wie diese Situation zustande gekommen sei. Dabei betont sie, dass die Stellvertreterin eigentlich nicht zur Vorstandssitzung eingeladen war. 9 B: Und hatten Sie ihr denn gesagt, als es darum geht dass sie mitkommen wolle, das 10 hatte sie schon vorher angekündigt. Hatten Sie ihr denn gesagt dass das geht oder 11 das geht nicht? 12 K: Ich hab gesagt das ist nicht mehr, also das =das gibt’s nicht mehr. Ich soll da alleine 13 hingehen. Und, das reicht ja auch. Also der Vorstand hat ja auch nochmal gesagt 14 das reicht, [ja] wenn einer von uns da ist. Es soll ja nur unsere Position vertreten 15 werden. [ja] Von der kleinen Betreuung von unserem anderen ist auch nur die 16 Leitung dabei. 17 B: Ja ist ja auch okay. [ja] Man kann da sicherlich in Ausnahmefällen die, begründet 18 sind abweichen wenn’s was gibt. Aber, sicherlich (in so einer)- dann is sie aber- das 19 hatten Sie ihr so klar gesagt? 20 K: Ja, das war auch schon beim letzten Mal. 21 B: Und dann is sie aber trotzdem, aufgelaufen. 22 K: Hm. 23 B: Und, dann hat niemand gesagt wieso sitzen Sie hier? Oder-

Die Beraterin fragt nach, ob die Klientin der Stellvertreterin Einhalt geboten hat (9–11). Die Klientin nennt ihren Wortlaut, mit welchem sie die Teilnahme zurückwies (12–13) und begründet dies sachlich (13, 14–16) und autoritär, das heißt durch die Anweisung des Vorstandes (13– © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

168  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen 14). Die Beraterin bestätigt sie (17), geht kurz auf Ausnahmen von der Regel ein (17–18) und fragt nochmal nach der Deutlichkeit der Ansage der Klientin (18–19). Die Klientin stimmt dem zu und erwähnt, dass sie die Stellvertreterin schon bei der letzten Vorstandssitzung ausgeladen hatte (20). Die Beraterin stellt fest, dass die Stellvertreterin dann trotzdem anwesend war (21) und fragt nach, ob jemand in der Vorstandssitzung ihr Beisein angesprochen habe (23). Das Verhalten der Stellvertreterin, trotz Absage an ihre Teilnahme, dennoch zur Sitzung zu erscheinen, wird von der Beraterin als »auflaufen« (21) gedeutet. Auflaufen (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) ist einerseits ein Begriff aus der Seefahrt, der bezeichnet, dass ein Schiff auf ein Riff, eine Sandbank oder Ähnliches aufgefahren ist. Andererseits wird »auflaufen« in der Landwirtschaft benutzt, um das Aufgehen der Saat zu beschreiben. In sportlichen Kontexten ist damit, drittens, das Aufrücken zur Spitze in einem Rennen gemeint. Letzteres ist die Deutung, die hier am plausibelsten erscheint – mit folgender Begründung: Auflaufen im Sinne eines auf Grund gefahrenen Schiffes wird sprachbildlich für Situationen der Starre bzw. des Scheiterns benutzt. Die Stellvertreterin konnte sich aber mit ihrer Offensive durchsetzen, bei der Vorstandssitzung dabei zu sein. Sie hatte Erfolg, auch wenn sie für ihr Verhalten von der Beraterin kritisiert wird. Mit dem »Auflaufen« der Stellvertreterin kann auch nicht ein Aufgehen und Keimen der Saat gemeint sein, denn es ist nicht die Rede von einem Wachstum durch ihr bzw. der Anschlussfähigkeit ihres Verhaltens – im Gegenteil, es entsteht ein Konflikt. Stattdessen handelt es sich szenisch um ein erfolgreiches »Auflaufen« der Stellvertreterin zur Spitze eines Rennens, das heißt zur Vorstandssitzung. Die Vorstandssitzung wird damit als Instanz großer körperlicher Leistung ins Bild gerückt. Mit der Metapher wird deshalb nicht nur die Leistungsfähigkeit, der Siegeswille und die Zielstrebigkeit der Stellvertreterin betont, wenngleich diese – wenn man die konkrete Einbettung in die sie umgebende Sinnstruktur betrachtet – auch als unpassend abgewertet wird (21), sondern auch die derjenigen, die bereits an der »Spitze« »laufen« und in erster Position führen. Von jemandem, der /die stellvertretend führt, wird hingegen erwartet, dass sie/er weiß, wann man »zur Spitze auflaufen« soll und wann nicht, das heißt, wann man zur »Spitze« dazu gehört und wann man davon ausgeschlossen bleibt und sich mit der zweiten Position begnügen soll. Die hybride Position einer Stellvertreterin zwischen Selbstkontrolle, Angriffsbereitschaft und Siegeswille wird damit ebenso deutlich, wie die Anforderungen, die an Führung gestellt werden. Dass Defizite nicht nur im Rahmen von Wettrennen von den Sprecherinnen gesehen werden, sondern auch in Gewaltszenarien, kommt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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beispielsweise bereits im Ausschnitt 1–8 zum Vorschein. Die Beraterin bezeichnet das Verhalten der Stellvertreterin mit »da haut die ja immer rein« (7). Jene scheint immer wieder auf dieselbe Körperstelle zu schlagen – mit der Hand, mit der Faust oder mit einem Gegenstand. Das Schlagen bezeichnet hier die unmäßige – »immer« (7) – und unfaire Kritik durch die Stellvertreterin. Die von ihr attackierte Körperstelle ist der Selbstzweifel Frau Wolfs, gut genug zu leiten (2–7), wobei das Schlagen ihrer Vorgesetzten komplementär zu deren »Trab halten« (6) zu funktionieren scheint. Auch wenn mit dem Sprachbild die Angriffslust, die Kraft und Ausdauer der Stellvertreterin hervortreten; Mangel an Fairness und unbotmäßige Kraftausübung gegenüber Geschwächten werden von der Beraterin als Negativschablone passenden Führungsverhaltens bewertet. Die Klientin nimmt in diesem Bild die Position des Gewaltopfers ein, die zwar nicht in diesem, aber in weiteren Ausschnitten von beiden Sprecherinnen (Protokoll Fall B, 95, 98) kritisiert wird, beispielsweise hier: 24 B: darüber dass sie ganz schnell, äh, sich auch persönlich angegriffen fühlen und diese 25 Tür [hm] öffnen sofort sagen, hhhhh ((erschrecktes Sprechen)) um Gottes Willen 26 ich hab was falsch gemacht, ä, stricken Sie natürlich an dem Problem mit.

Das Problem, dass die Klientin Informationen möglicherweise schnell als Kritik deutet, bringt Frau Henschel in ein Bild des Angegriffen-worden-Seins:12 »dass sie ganz schnell, äh, sich auch persönlich angegriffen fühlen« (24). Das Besondere des Bildes ist hier, dass die Klientin als passiv und nicht kampfbereit bzw. wehrhaft inszeniert wird. Im Kontext wird aber noch etwas Anderes deutlich: Es scheint weniger bedeutsam, dass Frau Wolf von jemandem angegriffen wird, sondern, dass sie sich so »fühlt« (24). Damit wird ein Spielraum zwischen Tatsache und Wahrnehmung bzw. eigentlichem Angriff und dem »gefühlten« Angriff eröffnet. Dieser Spielraum lässt die Deutung zu, dass Frau Wolf gegebenenfalls gar nicht angegriffen wird, dies aber dennoch so deutet. An der Wahrnehmungsfähigkeit und damit auch an der Urteilsfähigkeit der Klientin kann somit potentiell gezweifelt werden bzw. ob etwas als Angriff wahrgenommen wird oder nicht, kann als von der Klientin steuerbar (24–26) interpretiert werden. Der Eigenanteil der Opferrolle von Frau Wolf wird demzufolge ebenso versinnbildlicht wie die Unzulässigkeit einer Opferposition als Leiterin überhaupt. Mut und Kampffähigkeit finden als Fähigkeiten hier ebenso Widerhall wie Urteilskraft. Dass Führungskompetenzen auch ohne Negation in Kampfszenarien gedeutet werden, zeigt die Ausnahme vom Opfer-Sein, die die Klientin an sich im Umgang mit der Stellvertreterin beobachtet: »Da fühlt ich mich jetzt auch nicht so, persönlich angegriffen« (Protokoll Fall B, 160). Die Kontrolle der eigenen Gefühlszustände durch Abstand halten bzw. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

170  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen dadurch, keine Opferposition einzunehmen, werden von ihr damit als Kompetenz angesprochen. In folgendem Ausschnitt spielt hingegen Mut zum Kampf eine zentrale Rolle. Es geht um die Zusammenfassung des Entwicklungsstandes der Klientin. 27 B: >Was klappt denn noch gut? Oder was ist der Ist-Stand?< 28 (22) 29 /Papierrascheln/ 30 K: ((seufzt)) 31 B: @(.)@ Was heißt das jetzt? [@(.)@] @(2)@ 32 K: Ist schon schwierig da so drauf zu kucken und zu kucken was da klappt oder, sich 33 auch vor Augen zu führen was man @da eigentlich@ so den ganzen Tag34 B: Also ich finde, [macht, was ähm-] was da auch gut klappt ist erst mal Ihre äh 35 Lernbereitschaft. 36 K: Ja. 37 B: >Sie haben sich darauf eingelassen sagen dann aha das ist gut oder nochmal was 38 mal was mitzunehmen.< Und das find ich auch wichtig das zu sehen. [hm] Oder sich 39 auch immer wieder dieser Situation zu stellen. Oder Sie haben vorhin gesagt, vor 40 zwei Wochen hab ich überlegt, ich schmeiß den Job hin.

Nachdem die Klientin ihre Schwierigkeiten damit bekennt, eine positive Perspektive auf ihre Arbeit (32) genauso wie eine distanzierte Perspektive (32–33) einzunehmen, antwortet die Beraterin anstelle der Klientin (34–35). Ihre Metapher für eine Fähigkeit der Klientin ist, »sich auch immer wieder dieser Situation zu stellen« (38–39). Dass damit deren Leitungstätigkeit gemeint ist, zeigt die Alternative, an die von der Beraterin erinnert wird: »Sie haben vorhin gesagt, vor zwei Wochen hab ich überlegt, ich schmeiß den Job hin« (39–40). Frau Henschel interpretiert die kontinuierliche Ausführung von Leitung als Bereitschaft, einen Wett-/ Kampf mit jemand anderem anzutreten (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010). In diesem Sinne wird die Metapher in anderen Kontexten beispielsweise dafür herangezogen, wenn es um die Bereitschaft geht, ein Duell anzunehmen, ein Interview zu führen oder sich an die Polizei auszuliefern. Beide Male geht es um einen (rhetorischen) Wettkampf, das Sichausliefern an mögliche Angriffe bzw. Kritik und eigene Verteidigung bzw. Stellungnahme, jeweils unter dem Gesichtspunkt des Bewahrens bzw. der Wiederherstellung der eigenen Ehrbarkeit. Im Fall B »stellt« sich die Klientin ihrer Situation als Leiterin (38–39) und wagt einen Kampf mit ihrer Tätigkeit, die sie herausfordert. Die Leitungstätigkeit ist dementsprechend ihre Gegnerin, die es zu besiegen gilt. Die Metapher betont dabei den Mut und den Status der Klientin, aber noch nicht ihre Siegesaussichten. Nachdem sich die Klientin nicht mehr als Opfer fühlt, sich selbst besser kontrollieren kann und Mut bezeugt, wird sie in wirklichen Kämpfen mit der Stellvertreterin gedeutet, sobald diese Frau Wolf kritisiert. Als Lösung in solchen Situationen schlägt Frau Henschel vor, dass Frau © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

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Wolf ihre Stellvertreterin für ihre Kritik loben und die Kritik in entsprechende Kommunikationsformate (»Runde«, Protokoll Fall B, 227) kanalisieren könnte: 41 B: 42 43 44 45 46

Dann fühlt sie sich da erst mal [dann fühlt sie sich-] wertgeschätzt und, [hm] und dieser Mechanismus dass Sie reagieren müssen, innerlich ist weg. (2) Das ist überhaupt n sehr gutes Instrument. (3) Also damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus. [ja] Weil, solche Leute können einen ja wirklich krank machen, ne, weil, wenn (sie sagt), nee dann machen sie sich immer klar, wenn ich das will, finde ich immer einen Fehler.

Danach begründet sie ihren Vorschlag damit, dass die Stellvertreterin sich wertgeschätzt fühlt (41) und die Klientin nicht in Rechtfertigungsdruck für einen Fehler gerät (41–42). Die Beraterin bewertet Lob als gut geeignet (42–43), um sich selbst zu schützen (43–44). Schließlich begründet sie diese Taktik mit der Generalisierung eines solchen Typs von Mensch (44), der gesundheitsgefährdend sei. Sie rät der Klientin, nicht auf solche Menschen einzugehen, sondern sich zu vergegenwärtigen, dass immer Fehler von ihnen gefunden werden können (45–46). Die Lösungsidee, sich vor der Destruktivität einer Kritik durch Lob der Kritikerin zu schützen, bringt Frau Henschel in das Bild: sich »aus der Schusslinie heraus[zu]nehmen« (43–44). Die Arbeitssituation wird mit einer Kampfszene verglichen. Die Klientin und die Beraterin (»wir«, 43) werden als gemeinsam einem Geschoß ausweichend dargestellt. Genauer gesagt, geht es um eine »Schusslinie«, das heißt um eine wahrnehmbare Bahn eines Schusses. Die Schussbahn könnte deshalb wahrnehmbar sein, weil regelmäßig Geschosse zwischen zwei Punkten passieren. Es wäre dann vorhersehbar, davon getroffen zu werden, wenn man sich auf diese Bahn bzw. Linie begibt. Die Beraterin rät der Klientin, dem Schuss – der Kritik – auszuweichen. Das Bild schließt das aktive Schießen, das heißt Angreifen der Klientin aus. Stattdessen betont es die Rolle der Angegriffenen, aber – durch defensives Agieren – nicht Getroffenen. Die defensive Haltung wird dabei als Kalkül inszeniert, seine Kräfte gegenüber vorhersehbaren und berechenbaren Angriffen nicht zu verschwenden. Es handelt sich um kontrollierte Kampfbereitschaft. Insofern wird auch Schnelligkeit beim Ausweichen betont. Deutlich militärischer wirkt ein Lösungsszenario, in welchem es um die Gestaltung der Beziehung zur Stellvertreterin gegenüber den 400-Euro-Kräften geht: 47 B: 48 49 50 51

was ja auch mit ihr zu besprechen ist ist nochmal: Vier Augen Gespräch, dass Ihnen daran liegt dass Sie auch gegenüber den vierhundert Euro Kräften n Stück als, ä, ähm, kooperierende Einheit auftreten, [ja] dass eben das in der Außenbasis auch ne gewisse Form der Außendarstellung ist, [hm] und dass Sie das wichtig finden äh, dass da, äh, nicht son Bild rüber kommt man sei Katz und Maus. [ja]

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172  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Frau Henschel rät zu einem Gespräch unter vier Augen (47), in welchem die Klientin gegenüber ihrer Stellvertreterin klärt, dass beide gegenüber den 400-Euro-Kräften geschlossen agieren sollten (47–49), als »kooperierende Einheit« (49). Zu vermeiden sei ein konfliktärer Eindruck, den die Mitarbeiterinnen von ihren beiden Leiterinnen haben könnten (50–51). Obwohl »Einheit« auch als Größe zur Maßbestimmung benutzbar ist, können Maßeinheiten nicht miteinander »kooperieren«. Näher liegt deshalb die Deutung von »Einheit« als militärischem Verband, der motorisiert oder beritten in einem Kriegsszenario auftreten kann (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010). Man denke etwa an »kämpfende Einheiten«, »eine Einheit von Panzern«, »Einheiten der Luftwaffe« usw. Die Klientin und ihre Stellvertreterin, als Leitung der Ganztagsschule, kommen so als militärische Einheit ins Bild, die ihre Überlegenheit gegenüber Angestellten durch ihren Gemeinsinn, ihre Selbstkontrolle und eine Metaperspektive gewinnen. In abgeschwächteren Kampfbildern, die sich eher auf sportlichen Wettkampf, als auf Krieg beziehen, schlägt die Beraterin vor, der Stellvertreterin die »Spielregel« mitzuteilen, innerhalb der sie Kritik äußern kann (»also es gibt ne Spielregel, () und ne Spiel Spielregel kann man ner Mitarbeiterin auch sagen«, Protokoll Fall B, 87), indem sie Frau Wolf direkt anspricht. Spielregeln sind festgelegte Konventionen, nach denen ein Spiel ablaufen soll. Sie betreffen die Anzahl der Teilnehmer_innen, die Voraussetzungen und den Verlauf eines Spiels. Sie beinhalten auch die Definition, wann ein Spiel gewonnen wurde. Zum Teil liegen diese in gedruckter Form vor, werden aber auch mündlich mitgeteilt. In diesem Bild sind Frau Wolf und ihre Stellvertreterin Teilnehmerinnen an einem Spiel, in welchem es eine Regel gibt, wie man sich zu verhalten hat, die die Stellvertreterin scheinbar nicht kennt bzw. sich nicht daran halten möchte. Schließlich kann man auch gezielt falsch spielen. Die Metapher der Spielregel impliziert die kontinuierliche und faire Ordnung von Arbeitsabläufen und Kommunikation. Damit wird Steuerung als zu leistende Führungsaufgabe in Szene gesetzt und komplexe menschliche Zusammenhänge vereinfacht. Wiederum andere Bilder setzen die Klientin in einen Rahmen des einseitigen und ungleichen Kampfes, der Jagd. Zum Beispiel geschieht das in einer Rollenspielübung, in der die Beraterin die Rolle des Vaters von Frau Wolf einnimmt und Frau Wolf üben soll, sich ihrem Vater gegenüber anders zu verhalten: 52 B: 53 54 55

Und das könnten Sie do, Sie könnten das ja mal, machen Sie doch mal Probeangeln. Versuchen Sie mal. Setzen Sie sich mal Ihren Vater im, im, in der Vorstellung da hin und sagen Sie mal, Papa, ne drei reicht auch. (2) Probieren Sie mal. (5)

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Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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56 B: Sitzt der so richtig oder muss der vielleicht n bisschen anders sitzen? Stuhl weiter 57 weg näher ran? (3) 58 K: Nö der sitzt, [ja?] ja, so ne leichte Entfernung ist schon: [hm. Das ist auch real so?] 59 in Ordnung. 60 K: Ja. 61 (7) 62 B: Sagen Sie ihm das ruhig mal. Und, in nem Satz der v-, der zu Ihnen passt, vielleicht 63 ist das jetzt, nicht richtig was ich grad gesagt habe . (3) 64 K: Papa für mich is ne drei vollkommen in Ordnung ((atmet hörbar aus)) und wenn ich 65 auch mal schlechter bin das, is nicht schlimm ich muss da, selber dann, ich lern da 66 selber was draus wenn ich, auch mal was schlechteres mache man muss das mal en 67 bisschen auch, überarbeiten und, n Fehler muss man auch mal machen dürfen, das 68 ist völlig in Ordnung.

Frau Henschel fordert die Klientin auf, im Coaching sich gedanklich ihren Vater auf einem Stuhl sitzend vorzustellen (52–54) und ihm gegenüber einen geringeren Anspruch an eine Schulnote laut auszusprechen (54). Die Beraterin arrangiert sich anstelle des Vaters auf einem Stuhl, fragt die Klientin nach richtiger Sitzweise und Abstand des Vaters (56–57, 58) und bekommt Rückmeldungen darüber von der Klientin (58–60). Nach eine längeren Pause (61) wiederholt Frau Henschel ihre Aufforderung vom Anfang (62) und ermutigt die Klientin, ihre eigenen Worte zu finden (62–63). Die Klientin spricht schließlich ihren imaginierten Vater an, indem sie den Anspruch der Fehlerlosigkeit abstuft (64–68). Die Szene, die wir hier verfolgen können, wird von der Beraterin mit der Überschrift »Probeangeln« versehen (52). Die Klientin wird dadurch in ein Szenario versetzt, in welchem sie – ohne Gewässer und ohne Fisch – übt, die Angel auszuwerfen. Auf einer Wiese mit einem Kunststoffköder ausgeführt, spricht man auch vom Trockenangeln.13 Dabei geht es um das möglichst treffsichere bzw. weite Auswerfen der Angel. Dass Angeln gesellschaftlich als Jagdsport gedeutet wird, bezeugen Fachmessen, die so betitelt werden14 bzw. Ausstattungsgeschäfte, die Jagd- und Angelbedarf verkaufen. Die Klientin übt nun in der Beratung das Angeln. Sie angelt ohne Wasser und ohne realen Erfolg bzw. Fisch. Es handelt sich folglich um eine Situation, in welcher Frau Wolf nicht unter dem Handlungsdruck steht, einen Fisch zu fangen, das heißt, alles im Umgang mit ihrem Vater richtig zu machen. Schließlich ist ihr Vater nicht anwesend, sondern wird von Frau Henschel gespielt (53–54). Der Klientin wird von der Beraterin die Rolle einer Angelelevin zugewiesen (52–53, 62–63), die durch gutes Trocken-Training, auch besser im tatsächlichen Angeln wird. Das bedeutet, dass sie lernt, ihrem gegenwärtigen und vergangenen Vater anders, nämlich selbstbestimmter zu begegnen (53–54). Die Metapher des Probeangelns betont die Initiative, unter kontrollierbaren Bedingungen und mithilfe einer Zwei-Stufen-Logik des Lernens Fähigkeiten zu erwerben, das heißt durch Training die Realität zu üben. Eine Logik © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

174  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen des Entweder-Könnens-oder-Nichtkönnens wird damit unterbunden und damit auch eventuell nicht erlernbare Fähigkeiten. Dadurch dass die Klientin als potenzielle »Jägerin« im Bild erscheint, wird außerdem ihre Autonomie – sie versorgt sich selbst mit Nahrung – und Gefährlichkeit in Aussicht gestellt. Letztere wird beim Angeln durch die Taktik des Köderlegens und geduldigen Wartens in Deckung beansprucht. Die Überlegenheit über das Beutetier wird folglich durch die bessere Selbstkontrolle erreicht. Die Vermeidung der Übernahme der Rolle des gejagten Tieres bzw. Opfers spricht die Beraterin an einer anderen Stelle des Gespräches damit an, dass Frau Wolf »nicht immer in diese Kompetenzfalle« gehen solle (Protokoll Fall B, 93). Damit ist die Tendenz der Klientin gemeint, bei Kritik von außen, sofort an der eigenen Leitungskompetenz zu zweifeln. In diesem Lösungsbild ist die Klientin ein gejagtes Tier, dem eine Falle gestellt wird, in die es nicht gehen soll. Eine Falle ist eine Vorrichtung, mit der man als schädlich definierte Tiere fängt (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts 2008–2010). Das können beispielsweise Mäuse im Haus oder Marder und Füchse auf dem Hühnerhof sein. Das Fangen geschieht häufig mittels eines Köders, was auch in Redensarten Niederschlag findet, beispielsweise: »Mit Speck fängt man Mäuse«. Oder aber die Falle ist geschickt auf dem üblichen Weg des Tieres platziert, etwa an einer Engstelle, wie einem Loch im Zaun, an der das Tier keine Wahl hat auszuweichen. Wenn ein Tier nicht in eine Falle geht, ist das entweder Glück oder aber es wittert die Falle und umgeht diese. Zu Letzterem scheint die Beraterin Frau Wolf anregen zu wollen und das, obwohl im Kontext klar wird, dass die »Kompetenzfalle«, in die sie später läuft, auch von der Klientin selbst aufgestellt wird. Die Lösungsmetapher der Beraterin macht zum einen klar, dass eine Falle, die man wahrnimmt, umgangen werden kann und plädiert somit für Aufmerksamkeit, Intuition und eine Metaperspektive. Andererseits vermittelt Frau Henschel damit auch, dass die Position der Gejagten nicht mit einer Führungsposition kompatibel ist.

3.2

Führen ist Technik

Mittels eines anderen Quellbereiches wird die Klientin als Fahrzeug bzw. als Fahrerin eines Fahrzeuges gedeutet. Das Führungsdefizit des Selbstzweifels wird von Frau Henschel in folgendem Ausschnitt technisiert: 69 B: Das ist übrigens manchmal auch ne ganz gut Methode, manchmal wenn man so 70 merkt dass man so rumfährt dann hilft es einem mal innerlich zu sagen, und wen 71 wird das in fünfzig Jahren interessieren?

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Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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Obwohl es hier bereits um einen Lösungsansatz geht (70–71), bezieht sich die Beraterin dabei auf die mangelnde Selbstsicherheit der Klientin und deutet diese als »Rumfahren« (70). Die Klientin wird in diesem Bild als ein Fahrzeug bedienend und steuernd, jedoch auch ohne Ziel, vorgestellt. Dabei bleibt offen, ob sie auch selbst als Fahrzeug verstanden wird, welches sich unzureichend steuert. Gemeinsam ist beiden Varianten die Bewertung von Ziellosigkeit als inkompatibel mit Leitung. Das rationale Steuern eines Fahrzeugs auf ein Ziel zu, wird entsprechend als Führungsfähigkeit herausgehoben. Auch um eine Lösung vorzuschlagen, bezieht sich die Beraterin auf eine Fahrzeugmetapher. So ist im Gespräch mehrfach davon die Rede, dass die Klientin anders mit der Kritik der Stellvertreterin umgehen lernen sollte. Dazu gehört für die Beraterin auch, dass sie diese nicht sofort negativ beurteilt, sondern die Mitarbeiterin dafür lobt. Sie deutet diese optimierte Gegenreaktion der Klientin als »nicht darauf einsteigen« (Protokoll Fall B, 229). Dabei handelt es sich um eine umgangssprachliche Äußerung, die wiederum eine Fahrzeugmetapher beinhaltet. Das Fahrzeug ist hier die Kritik der Stellvertreterin, in die die Klientin als Beifahrerin »einsteigen« kann oder nicht. Einsteigen und mitfahren bedeutet dabei, der negativen Beurteilung durch die Stellvertreterin zu folgen. Vor dem Fahrzeug stehen zu bleiben, bedeutet, die Kritik aus der Distanz heraus positiv zu bewerten und unabhängig von den Fahrkünsten einer anderen, das heißt autonom, zu bleiben. Mit dem Bild der optionalen Mitfahrt wird die Klientin als Entscheiderin in Szene gesetzt, die zwischen Affekten und Reaktionsweisen wählen kann. Damit werden wiederum Distanz, Autonomie und Selbstkontrolle betont. Gemäß der Deutung von Führung als technischem Vorgang, bewertet die Klientin es auch als Kompetenz, angesichts der Kritik der Stellvertreterin in der Teamsupervision »zurückschalten« zu können: 72 K: Da hab ich schon, da hab ich also innerlich dann nochmal durch geatmet und hab 73 ihr nochmal ganz ruhig gesagt, [super] der Termi, Termin ist dann und dann, das 74 hab ich dir gesagt. Da fühlt ich mich jetzt auch nicht so, persönlich angegriffen also 75 ich hab’s dann, schon gemerkt, du bist grad wieder dabei [ah ja, okay] das 76 persönlich zu nehmen. [hm] Schalt da wieder zurück, [hm] sag ihr das nochmal und 77 dann ist gut.

Die Klientin beschreibt ihr Vorgehen in der Situation (72–74) und erzählt, dass sie sich nicht persönlich angegriffen fühlte (74) aber bemerkte, wie das geschieht (75–76). Danach berichtet sie davon, wie sie sich selbst instruierte, sich von dem eigenen Gefühl zurückzunehmen (76) und die Information schlichtweg zu wiederholen (76–77). Die Selbstinstruktion der Klientin enthält die kybernetische Metapher des »Zurückschaltens« (76). Frau Wolf deutet sich selbst als Maschine bzw. Fahrzeug, die/das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

176  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen in mehreren Stufen hoch und herunter schaltbar ist – zumindest gibt es nicht nur »an« und »aus«. In diesem Sprachbild werden Steuerung bzw. Selbststeuerung, vor allem was das Tempo betrifft, als vorteilhafte Führungsfähigkeiten verdeutlicht. Voraussetzung dafür ist ein gutes Urteilsvermögen, wann zurück- und wann vorgeschalten wird. Die Eigenschaften der Selbststeuerung werden auch in kybernetischen Lösungsbildern der Klientin hervorgehoben, in denen sie sich selbst »abschalten« (Protokoll Fall B, 100, 105) als Verhaltensweise anrät: »Einmal so, mir selbst sage jetzt, schaltest du kurz ab und dann bist du wieder (2) und dann gehst du erst daran« (Protokoll Fall B, 105). Auch hier ist die Klientin eine Maschine, die sich »kurz«»abschaltet« und dann weiter agiert, ähnlich einem Neustart eines Computers nachdem er nicht mehr weiter prozessieren kann. Auch die Beraterin schlägt Lösungen in kybernetischen Sprachbildern vor. Dabei bringt sie beispielsweise eigene Leitungserfahrungen als Beispiel an, wie die Klientin mit Kritik von Mitarbeiterinnen umgehen kann: 78 B: 79 80 81 82 83 84

also, ich hab =ich hab das zum Beispiel, ((zieht kurz Luft durch die Nase ein)) als Leiterin immer so gemacht, dass so klar war, m, mir, mit mir kann jeder, darüber reden in meiner Abteilung was er nich, richtig findet. Da gibt’s n Verfahren, [hm] das hör ich mir an und das prüf ich auch, und wenn ich der Meinung bin ähm das kann ich nachvollziehen:, m, hab ich das abgestellt. [ja] Das hab ich allerdings auch getan. Also das, dazu gehört natürlich auch @sagen@ zu können ma, oh da haben Sie recht, das tut mir leid. [ja] So.

Nach der Rahmung des Folgenden als eigene Erfahrung als Leiterin (78–79) beschreibt sie ein Verfahren, das durch Offenheit gegenüber Kritik (79–80), Prüfung der Kritikpunkte durch die Leiterin (80–81) und gegebenenfalls Veränderungen (81–82) gekennzeichnet war. Sie betont dabei aber auch die Bereitschaft, selbstkritische Konsequenzen für das eigene Leitungshandeln zu ziehen (82–84) und dem Gegenüber recht zu geben. Den Lauf von berechtigt kritisierten Verhaltensweisen als Leiterin zu beenden, deutet Frau Henschel als »abstellen« (82). Der Maschinenbezug wird ersichtlich, wenn die Objekte, die »abgestellt« werden können in den Fokus gerückt werden. So können etwa Radios, Lautsprecher, Motoren, Bügeleisen, elektrische Lichtquellen, Uhren, Hausklingeln, Heizungen, Wasserhähne etc. an- und abgestellt werden (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010). Frau Henschel wird in diesem Bild zur technischen Fachfrau, die weiß, wie man eine Maschine im Prozessieren unterbricht. Diese Maschine ist in diesem Fall ein Teil ihres eigenen Leitungsverhaltens. Mit dem Bild wird wiederum die Fähigkeit der Selbststeuerbarkeit von Leitungsverhalten ins Zentrum gerückt, die durch Distanz zum eigenen Verhalten, das heißt Reflexivität und eine realistische © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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Beurteilung eigener Kompetenzen, möglich wird. Außerdem werden die Initiative und vor allem die Konsequenz, etwas als Fehler Erkanntes »abzustellen«, sichtbar. Auf die Klientin als Computer referiert sie in der Vorstellung, dass es um die Veränderung der emotionalen und kognitiven Deutungsmuster der Klientin geht. 85 B: Wie könnten Sie denn das, sich jeden Tag klar machen? Weil, so ne emotionale ä 86 Programmierung zu verändern, geht eben auch step by step. [hm] Lassen Sie uns 87 doch mal kucken, was wär da gut? 88 K: Also ich hatte grad schon überlegt mir, ich, meine Schwester schreibt mir immer zu 89 Weihnachten Postkarten wo genau so was mal @drauf steht.@ [ah] Glaub an dich 90 selber und so was. Äh, ob ich mir die noch irgendwo mal hin hänge.

Frau Henschel fokussiert mit einer Frage auf den Transfer der gewonnenen Erkenntnis in den Alltag der Klientin (85). Sie begründet ihre Frage mit einer schrittweisen Veränderung von emotionalen Gewohnheiten (85–86) und wiederholt ihre Frage (86–87). Die Klientin hat dazu eine Idee, die sie ausführt (88–90). Die erlernten Gewohnheiten ihrer Klientin deutet die Beraterin dabei als »Programmierung« (86), die zu verändern sei. Eine Programmierung bzw. – in diesem Fall – Umprogrammierung (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) bezieht sich auf elektronische Rechenautomaten, das heißt Computer. Damit wird die Tätigkeit des Erstellens von Computersoftware bezeichnet. Die Programmierung betrifft dabei Rechenvorschriften, mittels derer der Computer Daten verarbeiten kann. Frau Wolf wird in dieser Metapher zu einer hoch entwickelten Rechenmaschine, deren Programmierung, das heißt deren Rechenvorschriften, verändert werden soll/en. Mit Emotionen (85) verbundene Deutungsgewohnheiten von Realität sind in diesem Sprachbild Rechenoperationen, die nach bestimmten Regeln verlaufen und Verlässlichkeit und Stabilität garantieren. Diese Regeln werden durch das Bild als veränderbar gedeutet, weil in einer Maschine eine Tabula rasa hergestellt werden kann – in menschlichen Psychen allerdings nicht. Dennoch wird der Innovationsgedanke durch das »Umprogrammieren« stark gemacht. Außerdem impliziert das Bild eine kontrollierbare, logisch-rationale, schrittweise (86) und lineare berechenbare stabile Veränderung der psychischen Vorgänge der Klientin. Alles Irrationale, Chaotische, Nicht- bzw. Schwerveränderbare und Zirkuläre der menschlichen Psyche wird mit dieser Metapher ausgeblendet. Frau Wolf als Leiterin wird einmal mehr als sich selbst steuernde rationale Maschine ins Licht gerückt.

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178  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen

3.3

Führen ist Pflege

Wie im Fall A wird zwischen den beiden Sprecherinnen Führung auch im Rahmen von Pflege verhandelt. Schon im Ausschnitt 1–8 (vgl. Abschnitt 3.1) wird ein Defizit der Klientin, ihr übermäßiger Selbstzweifel, in Szene gesetzt: 91 B: ich hab den Eindruck dass Sie, ä Ihre:, wenn ich Sie so erlebe, mh, dass Sie, sehr 92 äh, leistungsorientiert sind, dass Sie sehr wenn nur n kleinster Fehler passiert das 93 sofort nehmen, so ähm, weiter am Lack zu kratzen. [hm] Das muss ja nicht sein 94 oder? 95 K: Ja stimmt. 96 B: Weil damit ä, halten Sie: sich ziemlich in Trab und Fr-, diese Frau auch, also damit 97 füttern Sie sozusagen diesen Konflikt. [hm] Weil da haut die ja immer rein. Und die, 98 wird immer was finden, [ja =ja] was Sie nicht gut machen

Hier wird das Bild des Fütterns benutzt, um deutlich zu machen, dass Frau Wolf aktiv an der Aufrechterhaltung des Konfliktes mit der Stellvertreterin beteiligt ist: sie »füttert« ihn (96–97). Der Konflikt mit der Stellvertreterin, bestehend aus indirekter scharfer Kritik an Frau Wolf und deren diesbezüglicher Permeabilität, ist in diesem Bild ein Tier bzw. ein pflegebedürftiger Mensch, beispielsweise ein Säugling, alter Menschen, Kranker. Füttern (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) ist ein Vorgang in welchem einem Lebewesen Nahrung gegeben wird, weil dieses zu unselbständig ist, um dies selbst zu tun bzw. unselbständig gehalten wird, etwa im Tierpark. Füttern gehört zum Erfahrungsschema der Pflege, entweder der von Menschen oder Tieren. Wenn Frau Wolf als den Konflikt »fütternd« imaginiert wird, wird ihr aktiver Anteil an dessen Wachstum bzw. Dasein deutlich. Das »Futter« für das Fortbestehen des Konfliktes ist dabei ihr eigener Selbstzweifel, den sie durch die Kritik der Kollegin entfachen lässt. Aus dem Kontext wird deutlich, dass Frau Wolf keine pflegerische Arbeit am Konflikt leisten, das heißt ihn nicht füttern, sondern verhungern lassen sollte. Denn statt Belohnung, die für einen sozialen Akt wie die Pflege von hilflosen Lebewesen erwartbar wäre, erntet Frau Wolf Strafe in Form von »Schlägen« (»reinhauen«, 97). Der Konflikt wird damit als nicht pflegebedürftiges eventuell böswilliges Lebewesen umgewertet und die Kontrolle des eigenen Fürsorgeverhaltens für den Fall eines Angriffes als Leitungsfähigkeit unterstrichen. Im gleichen Deutungsrahmen rät die Beraterin zu einer Lösung, die – wie im Fall A – auf »Selbstsorge« abzielt, wenn sie Kritik von Mitarbeiterinnen trifft: »der Punkt wo Sie zur Ruhe kommen könnten wär mal zu sagen, so ich sorg hier gut für mich. (2) Und mal zu kucken was macht Sie wieder sicher« (Protokoll Fall B, 145). »Sorge« als begriffli© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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cher Pfeiler der »Sorgearbeit« ist ein Terminus laienhafter bzw. beruflicher Hilfestellung, wenn ein Gegenüber seine Autonomie verloren bzw. noch nicht erlangt hat und biopsychosoziale Hilfe erhält. Menschen – Kinder, Kranke, Alte etc. – aber auch Tiere sind wie gesagt als pflegebedürftig vorstellbar. Im metaphorischen Konzept von Pflege soll Frau Wolf sich selbst pflegen, das heißt sich selbst gegenüber biopsychosoziale Hilfe leisten. In den gleichzeitigen Rollen der Pflegenden und der Pflegebedürftigen, wird ihr die Fähigkeit der Hilfeleistung zu- und gleichzeitig Autonomie abgesprochen: In der Rolle der Pflegebedürftigen hat sie durch die Kritik der Stellvertreterin Autonomie verloren und bekommt einen Krankenstatus attestiert. Als Pflegende genießt sie Überlegenheit gegenüber dem kranken Anteil dadurch, dass sie ebendiese Autonomie besitzt, aber auch Wissen über und praktische Techniken der Genesungsförderung beherrscht. Als Fähigkeiten, die für Leitung wichtig sind, stehen hier Unterscheidungskraft – »kranke«, das heißt nicht funktionierende Anteile zu identifizieren – und eine empathische Metaperspektivität im Vordergrund. Ähnlich verhält es sich damit, wie sich die Klientin die Beziehung mit ihrer Stellvertreterin als gelöst vorstellt. Dabei spricht sie ihr den Status der Pflegenden zukünftig ab und sich selbst zu: 99 K: Also mir wäre wichtig dass ich, nochmal mit meiner Stellvertreten- äh, rin also 100 irgendwie, hm, ihr nochmal klarmachen kann (1) dass sie sich vielleicht da ein 101 bisschen auch fallen lassen kann dass sie nicht, die Angst hat da läuft alles schief 102 wenn sie sich nicht, drum kümmert. 103 B: 104 (8) 105 B: 106 K: Also es wird sowieso n längerer Prozess sein weil sie ja auch, sehr lange dann die 107 Leitungsfunktion, hatte. (1) Und [hm] das ist natürlich auch schwierig wenn sie 108 jetzt, wenn jemand Fremdes (2) vielleicht ne andere Vorgehensweise, sieht die ihr 109 auch gar nicht liegt.

Frau Wolf schwebt eine Klärung mit der Stellvertreterin vor, bei der sie diese von Verantwortungsbereichen entledigt, die ihr selbst zufallen (99–102). Dabei antizipiert sie Probleme und einen längeren Prozess (106–109). In ihrem Vorschlag wird klar, was die frühere Leiterin als Leiterin getan hat: Sie war für alles verantwortlich, das heißt, sie hat sich »gekümmert« (102). Ähnlich zum »Sorgen« im Fall A ist auch »Kümmern« von einer Gefühlsbezeichnung – »Kummer« (vgl. Grammatischkritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 2010) – abgeleitet und lebensweltlich typisch in Wohlfahrtstätigkeiten bzw. Reproduktionsarbeit. Ebenso wie »Sorgen« hebt Kümmern als Metapher die biopsychosoziale Kontrolle der Umwelt bei der Leitung hervor (vgl. Fall A, Abschnitt 4.4). Als pflegebedürftiges heteronomes Objekt kommt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

180  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen der Verein in den Fokus, die Leitungsaufgaben mithin als Pflegeaufgaben, die attraktiv sind und um die es Konkurrenz gibt. Im Vergleich zur Metapher der »Selbstsorge« erscheint Frau Wolf hier – unambivalent – ausschließlich in der Position der Autonomen und Überlegenen, die über Fähigkeiten der Hilfeleistung verfügt.

3.4

Führen ist Naturwissenschaft

Anders als Fall A nimmt die Interaktion zwischen Frau Henschel und Frau Wolf auch auf metaphorische Konzepte Bezug, die Führung als Naturwissenschaft deuten. Defizite beim Führen werden im folgenden Ausschnitt beispielsweise als Probleme mit Naturgesetzen gerahmt. Die Klientin schildert, wie die Stellvertreterin ihre Kritik an ihr ihr gegenüber verschweigt und erst an prominenter Stelle anbringt. Aus Sicht der Beraterin wird Frau Wolf durch diese Kritik instabil in ihrem Selbstwert als Leiterin. 110 K: Weil sie wird jetzt auch nicht mir, sie wird mir nicht im Gespräch sagen da läuft’s, 111 mit den Informationen das läuft da und da nicht gut können wir da was dran 112 verändern? Sondern, da wird sie mir aber sagen es läuft alles soweit in Ordnung. 113 B: Und dann kommt das an ner andern [Dann kommt das] Stelle? 114 K: an ner andern Stelle ja. 115 K: Hm. Und was, was sind denn so die, die Stellen wo Sie merken e, das hebelt Sie 116 dann, persönlich aus weil das eben nicht so ne Sachebene is. Weil, es gibt 117 Menschen die machen das so. (2)

Nachdem die Klientin geschildert hat, wie ihre Stellvertreterin Kritik ihr gegenüber verschwiegen hat (110–112), fragt die Beraterin nach, ob sie die Kritik an anderer Stelle anbringe (113). Die Klientin stimmt dieser Deutung zu (113–114). Die Beraterin regt danach eine Analyse der Kritikpunkte an und bringt das mit dem Bild eines Hebels (115), der an verschiedenen »Stellen« (115) angesetzt wird, in einen physikalischen Deutungsrahmen. Ein Hebel ist »ein Körper, welcher um eine feste Achse drehbar ist und einen Kraft- und einem Lastarm« (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) hat. Der Hebel ist so konstruiert, dass mit wenig Kraftaufwand eine schwere Last angehoben werden kann.15 In der Metapher wird Frau Wolf durch die Kritik der Stellvertreterin ausgehebelt (115–116), »weil das eben nicht so ne Sachebene is« (116), sondern die Kritik unsachlich und persönlich wird. Frau Wolf ist im Bild eine Last, die die Stellvertreterin mit wenig Kraftaufwand bzw. unsachlicher Kritik von ihrem Standort weg bewegen kann. Die Metapher betont damit ihre mangelnde Stabilität angesichts »unsachlicher« Vorgehensweisen Dritter. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

181

Die Klientin beschreibt auf Nachfrage der Beraterin auch noch näher, wie ihre physikalische Instabilität zu verstehen ist: 118 B: Was, was ist das genau, was, was passiert dann bei Ihnen? 119 K: Weil ich das Gefühl hab ich hab das dann eigentlich schon richtig gemacht, [hm] 120 und wenn mir dann jemand sagt ich hab’s nicht richtig gemacht dann ist das schon 121 wieder son, dann rotier ich schon wieder innerlich und kucke, hast du es doch nicht 122 richtig gemacht?

Frau Wolf erzählt von ihrer Einschätzung, etwas richtig gemacht zu haben (119) und in dieser Annahme irritiert zu werden (120–122). Ihre Irritation, die durch die gegenteilige Beurteilung ihrer Leistung ausgelöst wird, beschreibt Frau Wolf als inneres »Rotieren« (121). Rotation (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) ist ein physikalisches Prinzip. Es ist eine Drehbewegung eines Körpers auf einer kreisförmigen Bahn bzw. auf einer Fläche um eine feste Achse. Auch eine Rotation um die eigene Achse ist möglich (Eigenrotation). Dabei befindet sich die Achse im Körper. Rotation kann die verschiedensten Körper betreffen, beispielsweise astronomische Gestirne, Kreisel und Karusselle. Frau Wolf deutet sich als einen solchen Körper, dessen Mangel sie darin sieht, dass er sich um die eigene innere Achse bewegt, wenn er kritisiert wird. Durch die Kritik wird demnach eine Eigenrotationsbewegung der Klientin von außen angestoßen. Die Naturgesetzmäßigkeit der Bewegung und auch der Zeit, bis die Bewegung zum Erliegen kommt, wird durch dieses Bild gestärkt und damit auch die Beschränkung der Einflussmöglichkeiten. Da Naturgesetze sich jeglichem Veränderungseinfluss entziehen, beschreibt das Bild den heteronomen Verlust von Kontrolle über die innere Bewegung. Ihre autonome Selbststeuerung als Führungskompetenz betont sie hingegen in einer anderen physikalischen Metapher. Während die Beraterin die Klientin fragt, ob sie darunter leide, dass sie die Position der Leiterin nicht gut genug ausfülle, schreibt sich die Klientin zugleich eine Fähigkeit zu: 123 K: Ja das liegt in meiner Natur der @Dinge@ glaub ich, ich war schon immer so, 124 @(.)@ [mhm] dass ich mir selbst einen Druck mache und, [hm] das selbst versuche 125 so gut wie möglich und wenn ich das Gefühl hab jemand anders sagt mir, das war 126 nicht das Beste, dann nehm ich das an. [hm] Dann nehm ich das erst mal an und 127 sag, das war nicht mein Bestes. (2)

Sie erklärt es zu ihrer »Natur« (123), dass sie sich selber zur Leistung motiviert (124–125) und negative Kritik von außen immer zuerst annehme (125–126). Dabei ist die Haltung der Klientin gegenüber ihren eigenen Fähigkeiten ambivalent: Sie beschreibt einerseits ihre Fähigkeit, sich »natürlich« (123) selbst zu motivieren, als positiv. Anderseits deutet sie das als, sich »selbst einen Druck machen« (124). Druck (vgl. Digitales © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

182  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) ist neben einem Begriff für die Herstellung von Büchern, ein physikalischer Terminus für das Einwirken einer Kraft auf eine Fläche. Er kann statisch oder dynamisch sein und gemessen werden. Frau Wolf imaginiert sich in diesem Bild gleichzeitig als druckerzeugende Kraft und Fläche. Sie hebt mit dem Bild folglich auch beides – initiativ Kraft erzeugen und aushalten, das heißt stabil bleiben – hervor und geht erkennbar in eine Metaperspektive zu sich selbst. Selbstkontrolle in Verbindung mit Aktivität – »mir selbst einen Druck« machen – gehört jedoch wiederum zu den als positiv bewerteten Leitungsmerkmalen. Ausschließlich die Beraterin verwendet solche naturwissenschaftlichen Metaphern auch, wenn sie Lösungen für Führungsprobleme vorschlägt. Damit die Klientin die eigenen Ansprüche neu bewertet und lernt, Fehler auszuhalten, schlägt die Beraterin eine Methode vor, die die Klientin Zuhause üben soll: 128 B: 129 130 131 132 133 B: 134 135

Ich würd Ihnen gerne auch noch ne Aufgabe mitgeben, [ja] an der Stelle, und zwar, äh, was auch hilfreich ist an so ner Stelle ist sich selber mal:, ähm, n Brief zu schreiben [hm] (1) in dem Sie sich die Erlaubnis geben, dass Sie experimentieren dürfen mit dem Fehler machen. (4) Sie können sich dabei, ähm, gerne so nen fiktiven Vater vorstellen. Weil ähm, auch da geht’s ja manchmal im Leben drum, dass wir so die Programmierung die uns, die Eltern mitgegeben haben auch mal aufgeben. [ja]

Frau Henschel schlägt der Klientin vor, sich selbst einen Brief zu schreiben (128–130). In diesem soll sie sich erlauben, Erfahrungen mit dem Fehler-machen zu sammeln (130–131). Die Beraterin schlägt vor, sich dabei einen »fiktiven Vater« vorzustellen (133). Ihren Vorschlag begründet sie damit, dass es gelte, internalisierte Werte, die von den Eltern gelernt wurden, zuweilen infrage zu stellen bzw. aufzugeben (133–135).16 Die beratende Instruktion des Ausprobierens von Fehlern wird von der Beraterin als »experimentieren« (130) gedeutet. Ein Experiment ist ein wissenschaftlicher Versuch, der schwerpunktmäßig in Naturwissenschaften wie Chemie, Physik und Biologie angewandt wird17, um neues Wissen zu generieren. Auch in der Psychologie gibt es Experimente, deren Sinnhaftigkeit jedoch ebenfalls in einem naturwissenschaftlichen Duktus, das heißt durch Kontrollierbarkeit und Messbarkeit begründet wird (das entspricht auch der historischen Entwicklung der Psychologie aus den Naturwissenschaften heraus, vgl. beispielsweise frühe Fragestellungen der Psychophysik Gustav Theodor Fechners, 1907). In der Metaphorik des Experimentierens kommt die Klientin als Forscherin vor, die Labor- bzw. Feldexperimente durchführt und deren Verlauf und Ergebnisse dokumentiert und später beurteilt. An © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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anderen Stelle wird diese Metapher von Frau Henschel wiederholt (Protokoll Fall B, 218, 227): Sie schlägt beispielweise einen Satz vor, den die Klientin sich vor dem Beginn der Arbeit sagen kann: »Ich, gehe heute wieder an mein Experimentierfeld« (Protokoll Fall B, 218). Hier ist deutlicher von Feldexperimenten die Rede. Mit dem Fehlermachen zu experimentieren ist eine Haltung, die sich von der moralischen Haltung »Fehler sind schlecht« grundlegend unterscheidet. Vornehmlich besteht der Unterschied darin, dass Ausprobieren und dabei auch Fehlermachen zum wissenschaftlichen Beobachtungsgegenstand und nicht zum moralischen Tabu gemacht wird. Dies setzt bei der Klientin die Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber eigenen Handlungen voraus, wie auch die der Trennung von Beobachtung und Wertung sowie Mut zur Innovation. Mit der Metapher wird außerdem die Fähigkeit der kontrollierten Einflussnahme auf einzelne Faktoren des Experiments bzw. des eigenen Handelns in Realsituationen betont. Der Klientin wird damit durch die Beraterin ein Selbstbild vorgeschlagen, welches sich durch (Selbst-) Distanz, Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit und kontrollierte Steuerungsaktivität auszeichnet. Zum Experimentieren gehört für Frau Henschel auch, andere Reaktionen gegenüber der Kritik der Stellvertreterin zu zeigen, als es Frau Wolf und ihre Kollegin gewohnt sind. Wie bereits erwähnt, schlägt sie vor, die Kollegin für ihre Kritik zu loben: 136 B: aber dann ist es auch wieder bei ihr. Können Sie sich das vorstellen? 137 K: Ja, das, das ist sogar sehr gut. 138 B: Das würd ich einfach machen. Das vergiftet nicht, das ist ne echt, [ja] entgiftende 139 Form von Gegenreaktion. [ja] Ich steig da nicht drauf ein, ich muss jetzt nicht sagen, 140 ah, schon wieder, ((verstellt Stimme)) ne, [hm]

Sie begründet den strategischen Einsatz von Lob damit, dass Frau Wolf die Kritik der Stellvertreterin damit nicht annehmen, sondern ihr zurückgeben würde (136). Frau Henschel fragt die Klientin danach, ob diese Reaktionsweise für sie vorstellbar sei (136). Frau Wolf stimmt dem Vorschlag sehr stark zu (137). Die Beraterin schlägt vor, das Loben auszuprobieren (138) und begründet das damit, dass diese Reaktion nicht destruktiv sei (138–139). In der Übernahme der Perspektive der Klientin gibt Frau Henschel in Ich-Form wieder, wie Frau Wolf dann nicht reagieren müsste (139–140). Loben als konstruktiven Umgang mit Kritik deutet die Beraterin dabei als »Entgiftung« (138). Die Situationen, in denen ein Lebewesen beabsichtigt oder zufällig vergiftet wird, sind entsprechend sehr vielfältig und reichen von einem Bienenstich in Wald und Flur bis zu einer Alkoholvergiftung in einschlägigen Etablissements. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine Beeinträchtigung der Gesundheit eines Lebewesens, die vorübergehend, dauerhaft oder tödlich sein kann.18 Bei © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

184  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen einer Entgiftung handelt es sich um einen gezielten chemischen Prozess medizinischer Expert_innen oder Laien, der zum Ziel hat, den Giftstoff aus dem gefährdeten Organismus zu entfernen bzw. durch ein Gegengift zu neutralisieren (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010). Dabei wird eine chemische Substanz verwendet, um eine andere »Gegenreaktion« (139) zu bewirken, die den Organismus nicht schädigt. Das Sprachbild ist demzufolge einem medizinischen Kontext entlehnt. Frau Wolf tritt in diesem Szenario als Ärztin, Apothekerin, informierte Laiin19 oder Ähnliches auf, die die Fähigkeit des Entgiftens besitzt. Bereits vergiftet ist in diesem Bild die Beziehung zwischen ihr und der Stellvertreterin. Anders kann die Notwendigkeit einer Ent-Giftung durch die Klientin nicht erklärt werden. Eine weitere Vergiftung der Reaktion sähe, nach Maßgabe der Beraterin, so aus, dass Frau Wolf sich über die Kritik echauffiert bzw. sich schuldig fühlt (139–140), das heißt, sie negativ beurteilt. Durch die positive Rahmung der Kritik »entgiftet« Frau Wolf stattdessen die Beziehung zur Stellvertreterin. Hervorgehoben werden durch diese Metapher sowohl Überlegenheit durch medizinische Optimierungskompetenz, Selbstkontrolle und Mut in Gefahrensituationen als auch ein hohes ethisches Bewusstsein, dem es um die Rettung von Gesundheit bzw. Leben geht. Aus dem Bereich der angewandten Physik stammt ein Vorschlag der Beraterin, zuweilen eine zeitlich distanzierte zeitliche Perspektive auf Entscheidungen einzunehmen, um den Perfektionsdruck zu minimieren: 141 B: Ja, [ja] also was ich so, vielleicht in fuffzig Jahren noch sagen kann, so als L, als 142 Leitungskraft, ja, aber wie ich da vorgegangen bin das kann ich heute immer noch 143 akzeptieren oder, [hm] befürworten. Also, m, manchmal kriegt’s darüber auch n 144 bisschen was Geerdeteres. [ja] Das, das fänd ich einfach ganz wichtig . [] Gut. [gut] Vielen Dank. (3) 146 B: Ähm /Geräusche am Gerät/Ich mach das-

Sie bringt eine langfristige Perspektive ins Spiel (141–143) und begründet ihren Vorschlag (143–144). Schließlich postuliert sie die Wichtigkeit ihres Vorschlages (144) und die Klientin stimmt ihr leise zu (145). Die Beraterin beschließt die Sitzung (145), was die Klientin akzeptiert (145). Sie bedankt sich bei der Klientin (145) und schaltet das Aufnahmegerät ab (146). Es sei einmal dahingestellt, dass die Langzeitfrage bei der Klientin vermutlich eher noch mehr Druck auslösen könnte, das Richtige zu tun bzw. zeitüberdauernde richtige Entscheidungen zu treffen. Der Vorgang, sich Fehler aus der zeitlichen Distanz eher zu verzeihen und sich davon nicht zu sehr emotional aufwühlen zu lassen, wird als »Erdung« (144) bezeichnet. Erdung ist eine Methode aus der Elektrotechnik, in der eine elektrisch leitfähige Verbindung mit dem Erdboden hergestellt wird, um eine zu hohe Spannung daran abzuleiten. Sind elektrische Geräte, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

185

Gebäude etc. zum Beispiel über einen Leiter mit dem Erdreich verbunden, werden sie als »geerdet« bezeichnet. Dies wird aus Gründen des Schutzes zum Beispiel zum Ableiten von Fehlspannung, Störströmen und Blitzen (vgl. Knies & Schierack, 2006) durch Schutzleiter, Schutzleiterklemmen, Blitzableiter etc. erreicht. Es geht dabei um die Beherrschung von Fehlerstrom und um den Schutz von Geräten und Lebewesen vor zu großen Berührungsspannungen. Die Klientin erscheint durch die Metapher als Gerät, Gebäude bzw. Lebewesen, was noch keinen Leiter ins Erdreich besitzt, wenn es zu Fehlerstrom kommt. Die Folge wären Kurzschlüsse und entsprechende Beschädigungen. Im Falle von Lebewesen kann eine Fehlspannung zum Beispiel bei einem Blitzschlag tödlich sein. Wenn das Ziel der Beraterin eine verbesserte »Erdung« der Klientin ist (144), dann imaginiert sie damit eine bessere Kontrolle ihrer übermäßigen Spannungen, die durch ihre Ansprüche entstehen. Selbstkontrolle, aber auch ein Überschuss an kognitiver Leistungsfähigkeit (»Strom«) stehen im Fokus dieser Metapher. Bei Letzterer wird deutlich, dass diese Art der Reflexion – Perfektionismus – besser kontrolliert werden sollte, um gut führen zu können.

3.5

Führen ist Politik

Ein Erfahrungsschema, welches im Fall A noch nicht verwendet wurde, ist das der Politik. Ganz explizit kommt es bei der Beschreibung von Defiziten vor, etwa wenn die Beraterin die Kritik der Stellvertreterin am Vorstand und Frau Wolf wiedergibt: »also das klappt ja nicht mit der Informationspolitik« (Protokoll Fall B, 147). Damit kritisiert die Stellvertreterin aus Sicht der Klientin eine perforierte Weitergabe von Informationen (Protokoll Fall B, 49). Im Rahmen von Politik geht es um Macht, kollektiv bindende Entscheidungen, Regierung und Opposition. Politisch Verbündete bekommen mehr bzw. andere Informationen als politische Gegner_innen. Wenn die Stellvertreterin kritisiert, dass die »Informationspolitik« von Frau Wolf nicht funktionieren würde, dann kritisiert sie aus Sicht der Beraterin zweierlei: erstens, dass Frau Wolf nicht unterscheiden könne, wem sie Informationen aus der Kommunikation mit dem Vorstand weitergeben soll, das heißt, wer Freund und wer Feind ist. Es ist anzunehmen, dass damit die Leitungsebene versus die Mitarbeiter_innen bzw. Außenstehende gemeint sind. Diese Kritik ergibt zusammen mit dem Bestehen der Stellvertreterin auf Inklusion in die Vorstandssitzung nur Sinn, wenn diese sich als Leitung sieht, vom Vorstand bzw. Frau Wolf aber als untergeordnet betrachtet wird (»Feindin« bzw. Mitarbeiterin). In einem Fall würde sie alle Informationen erhalten, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

186  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen im anderen nur ausgewählte oder veränderte. Aus diesem Widerstand der Stellvertreterin gegen die kommunikative Exklusion resultiert der zweite Kritikpunkt der Stellvertreterin, nämlich dass Frau Wolf nicht wisse, was und wie viel sie der Stellvertreterin – als »Freundin« bzw. Mitglied der Leitungsebene – mitteilen solle. Die Metapher »Informationspolitik« hebt demnach die mangelnde »politische« Kompetenz der Klientin hervor, das heißt, ihre Fähigkeit Macht und Interessenskämpfe als Bestandteile der Organisation wahrzunehmen und innerhalb derer zu agieren. Auch mit Hierarchie einhergehende Gruppeneinteilungen in der Ganztagsschule, das heißt Wissende und Weniger-Wissende bzw. Herrscher und Beherrschte, geraten ihr aus ihrer ›unpolitischen‹ Perspektive zu wenig bzw. gar nicht ins Blickfeld – so zumindest deutet die Beraterin die Kritik der Stellvertreterin. Dass diese Kritik nicht nur auf die Weitergabe von Informationen zielt, sondern auch generell auf mangelnde Leitungsfähigkeiten Frau Wolfs wird an folgendem Gesprächsausschnitt deutlich. Darin berichtet Frau Wolf vom Streit zwischen Stellvertreterin und Vorstand in der Vorstandssitzung und von der von ihr danach in Betracht gezogenen Konsequenz den Verein zu verlassen (147): 147 K: Ich hatte überlegt da aufzuhören. @(.)@ 148 B: Hm. 149 K: Also ich war soweit. 150 B: Und warum, - Also, ich mein das ist natürlich schon n Grund 151 genug. Aber dass Sie das ein Stück nochmal näher sagen. Was war so, der Teil wo 152 Sie besonders verärgert drüber waren? Oder () 153 K: Also, ich hab, mir, selbst, gedacht ob ich das nicht gut genug mache. (2) 154 B: Hm. (2) 155 K: Dass sie sich so schlecht vertreten fühlt. 156 B: Hm. 157 (7) 158 K: Also dass sie auch das Gefühl hat (1) ähm, dass, also, sie scheint ja das Gefühl zu 159 haben dass sie’s besser macht, [mh] besser gemacht hat.

Sie erwähnt ihre Phantasie, ihre Position zu kündigen (147) und deutet an, dass dieser Überlegung ein Prozess voranging (149). Die Beraterin hakt nach, wie es zu diesem Gedanken kam (150–152). Die Klientin begründet die Überlegung mit ihrer mangelnden Leistung (153) in den Augen der Stellvertreterin (155). Danach führt sie die Perspektive der Stellvertreterin aus, als Leiterin mehr geleistet zu haben als Frau Wolf (158–159). Die Stellvertreterin »fühlt« sich von Frau Wolf möglicherweise »schlecht vertreten« (155). Ein/e Vertreter_in übernimmt die Funktion einer/s Abgesandten, tritt also an die Stelle von einer anderen Person bzw. einer Körperschaft, nimmt dessen/deren Interessen bzw. Rechte wahr, und repräsentiert diese/n (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts, 2008–2010) integer vor ande© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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ren. Von Politiker_innen wird in Demokratien auch als »Volksvertreter_innen« gesprochen und macht das »Vertreten« als politisches Prinzip deutlich. Frau Wolf wird im Bild, das der Stellvertreterin zugerechnet wird, als »schlechte« Abgesandte vorgestellt. Ihren Mangel macht die ungenügende Verteidigung der Interessen der Stellvertreterin gegenüber dem Vorstand – nach außen – aus. Die Metapher wirkt hierbei vor allem durch ihren Öffentlichkeitscharakter, das aktive Durchsetzen von klaren Zielen in Verhandlungsprozessen, aber auch genügend Selbstkontrolle um konsensfähig zu sein – Fähigkeiten, die die Stellvertreterin Frau Wolf abspricht. Dieser Mangel ist für Frau Wolf so grundsätzlicher Natur, dass sie ernsthaft erwogen hat, ihre Stelle zu kündigen (147). Dieser Mangeleinschätzung widerspricht die des Vorstandes, der es Frau Wolf im Streitgespräch mit der Stellvertreterin – im Gegenteil – zuspricht, die Interessen der gesamten Leitung zu »vertreten«: »die kann das doch auch alleine vertreten die Position« (Protokoll Fall B, 49). Nach Frau Wolfs Lesart sieht der Vorstand sie also sehr wohl mit den Kompetenzen ausgestattet, die Interessen der Leitung in der Vorstandssitzung zu vertreten. Durch die Metapher wird sowohl ihre Standfestigkeit als auch ihre rhetorische Kampffähigkeit innerhalb des Vereins betont. Diese Vertretungskompetenz wird von der Beraterin aufgenommen, wenn sie als Lösung vorschlägt, realen Widerspruch zu äußern. Einmal betrifft das die Ansprüche des Vaters an die Leistungen seiner Tochter Frau Wolf: »Also das ruhig mal so zu vertreten weil heute ist das ja anders, wir sind ja heute nicht mehr, so in diesem Abhängigkeitsverhältnis« (Protokoll Fall B, 218)20. Kommunikation als Fähigkeit ihrer Klientin, überträgt Frau Henschel hier in ein Lösungsszenario. Sie knüpft daran auch in einem weiteren Vorschlag an, in welchem es darum geht, wie die Klientin auf das grenzübertretende Verhalten (160) ihrer Stellvertreterin hätte reagieren können: 160 B: Aber ich finde äh, das ist ja sehr übergriffig zu sagen morgen komm ich mit. 161 K: Ja. 162 B: Und da:, finde ich gehört erst mal eindeutig n Votum hin zu sagen nein, das ist so 163 nicht geklärt. Und wenn du der Meinung bist dass du dabei sein müsstest, da 164 kannst du mir das jetzt sagen und dann, kann’s n Gespräch mit dem Vorstand 165 geben und dir. Und dann können die was dazu sagen ob sie das wollen oder nicht. 166 Punkt.

Sie bewertet die Ansage der Stellvertreterin zuerst als ungerechtfertigt (160), was die Bestätigung der Klientin findet (161). Danach plädiert sie dafür, der Stellvertreterin zu widersprechen (162–163) und den Verfahrensweg, wer wie miteinander redet, transparent zu machen (163–166). Den vorgeschlagenen Widerspruch der Klientin deutet Frau Henschel als »Votum« (162). Votum steht lat. für Gelübde (vgl. Krünitz, 1773– © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

188  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen 1858/2010) und bedeutet ursprünglich ein einseitiges rechtlich einklagbares Versprechen gegenüber Gott. Danach hat sich die Bedeutung als Gutachten bzw. Urteil in einer beratenden Versammlung durchgesetzt, welches mit oder ohne Einfluss auf die Entscheidung sein kann. In Volksvertretungen oder anderen Körperschaften kann durch ein Votum Vertrauen oder Misstrauen gegenüber einer Person in einem politischen Amt bekundet werden und bewirkt Konsequenzen für dessen Weiterführung. Ein »Votum« gegen das Verhalten der Stellvertreterin äußernd, wird die Klientin in der Sphäre der Politik verortet und mit der Macht des Nein-Sagens, welches Konflikte bzw. Kämpfe produziert, ausgestattet. Die Beraterin stellt damit in Aussicht, dass es sich in Zukunft nicht um eine einseitige Entscheidung der Stellvertreterin handelt, sondern um einen politischen Aushandlungsprozess, in dem Entscheidungsbefugnisse und Verfahren geklärt werden. Im weiteren Verlauf der Sequenz wird deutlich, dass die Beraterin dafür plädiert, dass der Vorstand, nicht aber Frau Wolf, für die Entscheidung zuständig sein sollte, wer an der Vorstandssitzung teilnehmen darf (164–165). Die Klientin würde die Funktion einer Zubringerin von Widersprüchen übernehmen (163–165). Strukturell würde der Vorschlag eine Stärkung und Klärung der Hierarchie der Ganztagsschule bedeuten, in der Leiterin und Vorstand deutlich ungleichrangig agieren. Metaphorisch impliziert die Lösungsidee der Beraterin wiederum Aktivität, Mut zum Widerspruch, als auch rhetorische Fähigkeiten, die die Klientin entwickelt sollte.

3.6

Von »Sehen« bis »Fallen« – Führen als Wahrnehmung, Körperteil, Aktivität und Passivität

a)

Führen ist gutes Sehen

Wie im Fall A werden zwischen den Sprecherinnen Erfahrungsschemata interaktiv verwendet, die sich mikroskopischer auf Sinneswahrnehmungen bzw. einzelne Tätigkeiten und Teile des Körpers beziehen. Dazu gehört, wie im Fall A, eine Vielzahl an Metaphern, die sich auf visuelle Wahrnehmung beziehen (Protokoll Fall B, 12, 77, 78, 87, 100, 101, 128, 204, 221, 231, 292). Beispielsweise deutet Frau Wolf es als eigene Defizite, »sich vor Augen zu führen, was man @da eigentlich@ so den ganzen Tag« (Protokoll Fall B, 292) macht und »zu kucken was« an ihrer Tätigkeit »klappt« (Protokoll Fall B, 292). Sie deutet sich mit diesen Bildern als nicht bzw. kaum sehend. Die Metaphern drücken einen Mangel an visuell bedingter Aufmerksamkeit und Urteilsfähigkeit aus und damit auch die Schwierigkeit, das – zumindest schnell – zu verändern. Es wird deutlich, dass ein systematischer »Blick« bzw. »Durchblick« im Sinne © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

Fall B  »Damit nehmen wir uns aus der Schusslinie heraus.«

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einer rationalen Strukturierung des eigenen Arbeitsalltags und der eigenen Stärken durch eine Metaperspektive nötig wäre. In diesem Verständnis werden Seh-Metaphern auch für Lösungsideen verwendet: »Klarheit« (Protokoll Fall B, 77, 78, 87, 101, 231) in Bezug auf Denken und Handeln bei der Leitung ist ebenso wünschenswert wie das »Sehen« (Protokoll Fall B, 12, 204) der eigenen Leitungsrolle bzw. der »Blick von außen« (Protokoll Fall B, 100, 221) darauf sowie damit verbundene veränderbare Denkmuster. Damit wird auch eine Verlangsamung von Reaktionszeiten – nur Wahrnehmen, nicht Reagieren – als bessere Bedingung für die Kontrolle von Situationen betont. b)

Führen ist Gehen

Auch Sprachbilder, die sich der Tätigkeit des Gehens bedienen, werden von beiden verwendet, um Leitungsdefizite zu beanstanden. Zuerst »geht« die Klientin in ihre Ansprüche an sich selbst »zu stark rein« (Protokoll Fall B, 449). Sie erwartet zu viel und zu schnell von sich selbst und lädt dies emotional »zu stark« auf. Das Bild macht deutlich, dass es ihr an einer justierten Metaperspektive und Selbstkontrolle bezüglich ihrer Erwartungen an sich selbst mangelt. Mangelnden Konsens und starke Spannungen zwischen Frau Wolf und ihrer Stellvertreterin vermittelt das Bild ihres »gegeneinander Gehens« (Protokoll Fall B, 160). Statt gemeinsam auf ein Ziel zuzugehen, was dem Zweck des Vereins entspräche, wird die Kraft in das aufeinander Reagieren investiert. Lösungen für Probleme beim Leiten, werden von beiden Sprechenden als das initiative Suchen und Finden von »Wegen« (Protokoll Fall B, 77, 87, 89, 93, 101, 209, 234) gesehen. Damit werden Entscheidungsalternativen und Möglichkeiten der Steuerbarkeit verdeutlicht, etwa wenn Frau Henschel sagt, »Ja ich glaube auch da gibt es mehrere Wege« (Protokoll Fall B, 101), oder die Klientin feststellt »Fehler äh, sind nicht schlimm sondern helfen einem weiter, einen besseren Weg zu finden« (Protokoll Fall B, 209). Wenn Wege gefunden sind, können sie beschritten werden. Das sollte »step by step« (Protokoll Fall B, 204), in einzelnen »Schritten« (Protokoll Fall B, 240) von statten gehen, das heißt nicht zu schnell und zu unkontrolliert. Wichtig bleiben jedoch Initiative und Mut. Es sollte etwa nicht unterlassen werden, »an etwas ran zu gehen« (Protokoll Fall B, 11), etwas »durchzugehen« (Protokoll Fall B, 11) oder in die Arbeit »mehr [Energie] reingehen« (Protokoll Fall B, 360) zu lassen. Dennoch ist es wichtig, die eigene Bewegung zu kontrollieren und beispielsweise nicht auf Dinge »einzugehen« (Protokoll Fall B, 159), die nicht zuträglich sind. Möglicherweise benötigt auch eine dritte Person Informationen über die Gangart bzw. »wie« etwas »zu laufen hat« (Pro© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403556 — ISBN E-Book: 9783647403557

190  Kapitel IV  Fallrekonstruktionen tokoll Fall B, 231), denn schließlich kann auch etwas »schief laufen« (Protokoll Fall B, 78). c)

Führen findet »im Kopf« und »in der Hand« statt

Im Gegensatz zu Fall A spielen im vorliegenden Fall nicht das »Herz«, sondern vielmehr »Kopf« und »Hand« als Teile des Körpers eine Rolle. So werden die kognitiven Kompetenzen der Klientin etwa durch folgende Metapher bestätigt: 167 B: 168 169 170

Und ich finde auch, Führungskräfte sind dafür da, m, mitzukriegen A wo’s n Fehler gibt und ne Form anzubieten, wie man das gut entwickeln kann. Und, [hm] wie das, wie man das gut entwickeln kann im Kopf ist Ihnen das glaub ich klar ne? [ja] Das ham wir ja auch schon n paar Mal besprochen hier.

Sich Möglichkeiten auszudenken und strategisch zu planen, wie man als Leitung mit Fehlern umgeht, deutet die Beraterin als Fähigkeit der Klientin, Ideen »im Kopf zu entwickeln« (169). Dass Denken dem Kopf, das Fühlen dem Herzen und das »Tun« den Händen zugeordnet wird, ist uns mehr als geläufig. Dennoch benutzen wir nicht den ganzen Kopf zum Denken, sondern nur das Gehirn. Und auch dort benutzen wir nicht alle Gehirnregionen bei jedem Denkvorgang. Die Metapher betrachtend gibt es eine Gleichung, der wir oft folgen: Kopf = Gehirn = Denken. Unterschieden wird diese Gleichung beispielsweise von Herz = Puls = Fühlen. Wenn die Beraterin folglich diese Metapher mit dem Duktus benutzt, dass die Klientin über Fehlermanagement nachdenken könne, betont sie dabei das rationale und reflexive Urteilsvermögen der Klientin in Form von strategischem Planen (»entwickeln«). Dem entspricht auch ein Lösungsvorschlag der Beraterin, denn »Veränderung ist ja erst mal eine die sozusagen, >die in ihrem Kopf passieren muss-