Das Geschlecht der Anderen: Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie [1. Aufl.] 9783839415924

Die Konstitution von Geschlechtermetaphern wird im 19. und 20. Jahrhundert verstärkt an Konstruktionen eines »Anderen« g

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Das Geschlecht der Anderen: Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie [1. Aufl.]
 9783839415924

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die matriarchale Versuchung. Von Insekten, Menschen und der Konkurrenz der politischen Tiere
Spuren ou le gai savoir du monde animal
Transtier, Intertier. Tiermotive und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in den Filmen Transamerica und XXY
›Land gegen Bibel‹. Christentum, Kolonialismus, Moderne
Queering Terrorists. Vergeschlechtlichte Bilderpolitiken im Kontext von Krieg und Terror seit 9/11 – interdependent betrachtet
Gender und Lustmord in Theorie und Ästhetik. Über den konstitutiven Wechselbezug der binären heterosexuellen Geschlechtermatrix und des Lustmordmotivs in den kulturellen Phantasien des 20. Jahrhunderts
»Die entsetzliche Nothwehr einer unglücklichen Frau« – Der Giftmörderinnendiskurs des 19. Jahrhunderts in Heinrich Heines Feuilleton
Narrative Rekonstruktionen krimineller Handlungen von Frauen in Kindsmordgutachten der Gerichtlichen Medizin
Wie der wissenschaftliche und kulturelle Diskurs weiblichen Exhibitionismus unsichtbar macht
Von »Menschen-Bälgen«, »kostbaren Rassen« und »Canarienvögeln«. Fetischismus in Oskar Panizzas Erzählung Der Corsetten-Fritz
Das fremde Geschlecht der Irren und der Tiere. Ethnologie, Psychiatrie, Zoologie und Texte Robert Musils
Autor_innen

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Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.) Das Geschlecht der Anderen

| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan | Band 15

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.)

Das Geschlecht der Anderen Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sophia Könemann, Anne Stähr Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1592-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR Die matriarchale Versuchung. Von Insekten, Menschen und der Konkurrenz der politischen Tiere EVA JOHACH Spuren ou le gai savoir du monde animal HELEN FOLLERT Transtier, Intertier. Tiermotive und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in den Filmen Transamerica und XXY ANNA STRAUBE ›Land gegen Bibel‹. Christentum, Kolonialismus, Moderne CHRISTINA SCHRAMM Queering Terrorists. Vergeschlechtlichte Bilderpolitiken im Kontext von Krieg und Terror seit 9/11 – interdependent betrachtet KATHRIN KÖPPERT Gender und Lustmord in Theorie und Ästhetik. Über den konstitutiven Wechselbezug der binären heterosexuellen Geschlechtermatrix und des Lustmordmotivs in den kulturellen Phantasien des 20. Jahrhunderts IRINA GRADINARI »Die entsetzliche Nothwehr einer unglücklichen Frau« – Der Giftmörderinnendiskurs des 19. Jahrhunderts in Heinrich Heines Feuilleton ANNE STÄHR

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Narrative Rekonstruktionen krimineller Handlungen von Frauen in Kindsmordgutachten der Gerichtlichen Medizin KATJA GEIGER

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Wie der wissenschaftliche und kulturelle Diskurs weiblichen Exhibitionismus unsichtbar macht ULRIKE WOHLER

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Von »Menschen-Bälgen«, »kostbaren Rassen« und »Canarienvögeln«. 171 Fetischismus in Oskar Panizzas Erzählung Der Corsetten-Fritz SOPHIA KÖNEMANN Das fremde Geschlecht der Irren und der Tiere. Ethnologie, Psychiatrie, Zoologie und Texte Robert Musils FLORIAN KAPPELER

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Autor_innen

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Einleitung SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR

Das Wissen vom Geschlecht wird besonders seit dem 19. Jahrhundert an diverse Konstruktionen eines ›Anderen‹ gebunden. Figuren, in denen sich (geschlechtliche) Alteritäten herstellen, bevölkern wissenschaftliche Texte ebenso wie literarische und schreiben sich in die medialen Darstellungen der letzten beiden Jahrhunderte nachhaltig ein. Wenn der vorliegende Band von Figuren der Alterität spricht, so ist dies dem Spektrum der Konstruktionen des ›Anderen‹ geschuldet. Das Konzept der Alterität ist eng an diskursive und mediale Bedingungen und Darstellungsformen gebunden, in denen Wissen und Künste sich formieren. Der Begriff der Figur umreißt Figuren als Charaktere und Objekte von Diskursen, er verweist zugleich in seiner Bedeutung als rhetorische Figur auf die Verfasstheit von Rede und Texten und kann auch als Zeichnung oder bildliche Darstellung verstanden werden. Darüber hinaus zielt der Begriff der Figur auf den Unterschied zwischen wörtlicher und figuraler Bedeutung und lässt Figuren der Alterität niemals als bruchlose Konzeptionen erscheinen.1 Christina von Braun und Inge Stephan haben darauf hingewiesen, dass moderne westliche Diskurse Geschlecht zunächst historisch ausgeschlossen haben, um Wissen von den meist weiblich codierten Bereichen der Gefühle, des Körpers und des Zufälligen zu ›reinigen‹. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Strategie durch eine ›Einlagerung‹ der Kategorie Geschlecht ins Feld der Wissensproduktion ergänzt. Dabei wurde Geschlecht auch explizit zum Gegenstand des Wissens, so etwa in den Sexual- und Reproduktionswis-

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Vgl. Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_ Meets_OncoMouse™, New York 1997, S. 11.

8 | SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR senschaften.2 Man könnte dies zu der Annahme zuspitzen, dass Geschlechtlichkeit im 19. Jahrhundert zunächst nur zum Wissensobjekt erhoben werden konnte, indem sie aus der Definition von Subjekten des Wissens weiterhin ausgeschlossen wurde. Die zumeist männlich codierte Position des Wissenden impliziert eine Ignoranz der geschlechtlichen Bedingungen des Wissens. Der Komplex der Geschlechtlichkeit wird vielmehr als das ›Andere‹ aus dem autorisierten Wissen exkludiert. Das ›Andere‹ wird zum Un-Bewussten des Wissens, kann dabei aber nicht allein als Störfaktor der Wissensproduktion angesehen werden, sondern die Objektivierung diverser vergeschlechtlichter ›Anderer‹ ist konstitutiv für das Wissen selbst.3 Und in dem Maße, wie insbesondere im 20. Jahrhundert in selbstreflexiven Ansätzen etwa der Ethnologie oder der Psychoanalyse eine Doppelbewegung des Ausschlusses und der Objektivierung der Geschlechtlichkeit zu beobachten ist, greift die Kategorie des ›Geschlechts der Anderen‹ auf das Subjekt des Wissens über, so dass dieses seinerseits vergeschlechtlicht wird und als un-selbstverständlich, sich selbst fremd, ›anders‹ erscheinen kann. Trotz der Tendenz zur Auflösung von Binaritäten im statistischen Wissen, das sich auf Konzeptionen von Normalität und Devianz in den Humanwissenschaften ausgewirkt hat, setzen sich Bilder von Alterität, ob sie Fremde, Kranke, Delinquente oder nicht menschliches Leben betreffen, bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Ausgangspunkt der Tagung war die Annahme, dass das ›Geschlecht der Anderen‹ ab diesem Moment verstärkt pluralisiert, aufgelöst und dennoch reproduziert wird. Wenn es verschiedenste ›andere‹ Geschlechter gibt und diese auch die Subjektposition betreffen, von der aus sie zu Objekten des Wissens geformt werden, dann wird jede Kategorie des ›Anderen‹ wie des ›Eigenen‹ fragwürdig und verflüssigt sich zu verschiedensten Übergangsformen, Relationalitäten und Spezifikationen. Genauso kann die Konfrontation mit der Pluralität der Geschlechter der ›Anderen‹ aber auch dazu führen, Wissen entweder verstärkt von diesen zu ›reinigen‹ (etwa in mathematisierten Formen der Psychologie oder der Ökonomie) oder sie als funktionale Elemente zu vereinnahmen (so beispielsweise in neueren Methoden der Mediation in therapeutischen oder organisatorischen Zusammenhängen). Das Buch folgt der Annahme, dass das Wissen über das ›Geschlecht der Anderen‹ historisch besonders innerhalb einer interdisziplinären Verschränkung von Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie emergiert. Damit berührt der Band Disziplinen, in denen die Überschneidungen und Durch2 3

Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Wien/Köln 2005, S. 14ff. Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 9ff.

EINLEITUNG | 9 kreuzungen des Konzepts der Alterität besonders ins Auge fallen. Diese Disziplinen sind nicht unbedingt die einzigen, in denen vergeschlechtlichte Bilder eines ›Anderen‹ eine Rolle spielen. Auch kann der Band nicht für sich beanspruchen, die Überschneidungen der Konstruktionen von Alterität in den angesprochenen Disziplinen systematisch zu eruieren. Die einzelnen Beiträge werfen vielmehr Schlaglichter auf Figuren der Alterität in unterschiedlichen Bereichen des Wissens. Sie beleuchten darüber hinaus diverse darstellungstechnische und mediale Formen, welche in den verschiedenen Beiträgen stets als konstitutive Faktoren des Wissens hervorgehoben werden – als Beispiele können hier etwa die Graffiti-Kunst im Artikel von Christina Schramm, die verschiedenen Medien der Selbstaufzeichnung in Sophia Könemanns Beitrag, die Fotokomposition Helen Follerts, die Perspektive auf das Medium des Films bei Anna Straube oder das Organ der Presse im Artikel von Anne Stähr gelten. Die mediale Inszenierung bestimmt sowohl die Poetologie des Wissens als auch die Poetologie der Geschlechter. Der Begriff der Alterität ist als ein pluraler zu verstehen und impliziert daher sowohl die Möglichkeit, eine Reproduktion binärer Ordnungen vorzunehmen als auch bezüglich der Geschlechterverhältnisse auflösend zu wirken, weshalb er innerhalb des Tagungsbandes eine prominente Rolle einnimmt. Der Band schließt an Forschungen an, die in den letzten Jahren die Figuren der Alterität und deren geschlechtliche Implikationen besonders im Bereich des Wissens vom Fremden in den Blick genommen haben.4 Ausgehend von der Beobachtung, dass es besonders im 19. Jahrhundert zu Transfers zwischen Wissensgebieten kommt, die sich auf Figuren und Bilder der Alterität, Abweichung und Devianz beziehen, möchte dieser Band das Feld der vergeschlechtlichten Bilder des ›Anderen‹ in Bezug auf weitere Wissensbereiche eröffnen. Die Beiträge des Bandes gehen von den genannten Wissensfeldern aus, orientieren sich jedoch nicht allein an den jeweiligen Disziplinen, sondern berücksichtigen literarische, bildliche und filmische Darstellungsweisen des ›Anderen‹ in Wissenschaften und Künsten. Wissenschaften geben vor, sich in starker Abgrenzung zueinander zu entwickeln. Doch tatsächlich machen sie weitläufige Umwege quer durch andere Fächer, durchstreifen Terrains der Nichtwissenschaftlichkeit, machen Anlei4

So widmen sich etwa die Beiträge des Bandes Das Subjekt und die Anderen den »Überschneidungen und Überlagerungen in der Konstruktion von Alterität durch metaphorische Verschiebungen zwischen Körper- und Raumbildern, Sexualität und Geographie, interner und externer Fremdheit«, Herbert Uerlings/Karl Hölz/Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001, S. 9. Grundlegend siehe auch: Sander L. Gilman: Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race and Madness, Ithaca, New York 1985.

10 | SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR hen und Zweckentfremdungen in Kontexten, die mit der jeweils eigenen Arbeit auf den ersten Blick in keiner Verbindung stehen. In den Beiträgen des Tagungsbandes wird es auch um die Modi dieser Wissenstransformationen gehen: darum, wie sich beispielsweise Klassifikationsraster von einer Formsprache in die nächste übersetzen, welche Gestalt sie dabei annehmen und welche geschlechtlichen und sexuellen Grundkomponenten oder Vorannahmen von Einfluss sind, wenn ein Wissensobjekt zu einem solchen gemacht wird. So gesehen erscheint Interdisziplinarität eher als implizite Prämisse von Wissenschaft selbst denn als Handlungsanweisung für Arbeiten, die ihren epistemologischen Horizont ausdehnen möchten. Und manchmal ergibt es sich, dass ›illegitime‹ Anleihen und Bestandsaufnahmen den Rahmen für eine theoretische Übertretung ermöglichen und dadurch wegweisend für neue oder zukünftige Disziplinen werden. Nun ist aber Interdisziplinarität nicht nur eine Losung oder gar eine Methode, sondern auch eine historische Realität: Psychiater analogisieren psychische Krankheiten und kriminelles Handeln mit Denken und Verhalten sogenannter ›primitiver Völker‹; ethnologische Texte und Ausstellungspraktiken rücken diese Völker entwicklungsgeschichtlich wiederum in die Nähe zoologischer Objekte, der Tiere. Arbeitshypothese des Bandes ist, dass Psychiatrie, Kriminologie, Ethnologie und Zoologie in einem konkret historischen Verhältnis zueinander stehen, das als interdisziplinär bezeichnet werden mag. Die Beiträge setzen hier an und nehmen historische Überschneidungen von Wissensgebieten in den Blick, indem sie beispielsweise die Verschränkungen von Politik, Gender- und Insektenforschung untersuchen, analysieren, wie Kriminelle und ›Wahnsinnige‹ mit zoologischem Vokabular beschrieben werden oder anhand des Begriffs Fetisch den Transfer zwischen ethnografischen und religionswissenschaftlichen Diskursen zu den Diskursen von Ökonomie und Psychiatrie beschreiben. In den letzten Jahren wurde versucht, Wissen und Literatur, Bedingungen der Wissensproduktion und Formen, Genres und (mediale) Techniken der Darstellung aufeinander zu beziehen.5 Solche ›Poetologien des Wissens‹ gehen davon aus, dass Formen des Wissens nicht nur auf ihre Verifikationsnormen, sondern auch auf ihre gesellschaftlichen und historischen, symbolischen wie materiellen Produktionsformen hin zu analysieren sind. Diese stehen den

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Vgl. Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Wissens- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002; Joseph Vogl: »Robuste und idiosynkratische Theorie«, in: KulturPoetik 7/2, (2007), S. 249-258. Für einen Forschungsüberblick siehe Nicolas Pethes: »Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28 (2003), Nr. 1, S. 181-231.

EINLEITUNG | 11 genannten Ansätzen zufolge mit den gleichfalls historischen Formen, Genres und Techniken der Präsentation in einem konstitutiven Verhältnis. Die Beschäftigung mit materiellen, gesellschaftlichen und medialen Bedingungen von Wissen kann die Frage nach der Kategorie Geschlecht nicht ausklammern. Aktuelle Ansätze haben die Bedeutung von Geschlechterkategorien und -positionen für die Erforschung des Verhältnisses von Wissen, Literatur und Kunst hervorgehoben.6 Diese Perspektivierung wissenshistorischer und poetischer Forschung bildet den Ausgangspunkt für die Beiträger_innen des Bandes – mit Blick auf die unterschiedlichsten Figuren und Disziplinen und doch mit einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse. Die Organisation der Tagung sah vier einzelne Panels vor, die zwar alle die Verschränkung von Kategorien und Diskursen in den Blick nahmen, jedoch in sich disziplinär geordnet waren. Beiträge von Teilnehmer_innen und Organisator_innen der Tagung sind nun in einem Band zusammengefasst worden. Dabei spiegelt deren Anordnung nicht mehr die nach den Wissensgebieten Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie gegliederten Panels der Tagung wider, stattdessen ist die Folge der Beiträge durch Gemeinsamkeiten und Übergänge bestimmt, die sich entweder durch die behandelten Themenbereiche oder anhand der thematisierten medialen Präsentationsformen ergeben. Auf diese Weise verzahnen sich die einzelnen Beiträge in der Anordnung des Bandes durch ihre jeweiligen Überschneidungen. Der Beitrag von Eva Johach nimmt die Insekten in ihrer Funktion der »politischen Lebewesen« in den Blick und analysiert aus einer historischen Perspektive heraus die zunehmende Sexualisierung beispielweise des Bienenstaates im zeitgenössischen Diskurs. Dabei zeigt sie, auf welche Weise zoologisches Wissen konstitutiv für eine Geschlechterpolitik wurde, die bis ins 20. Jahrhundert hinein biopolitisch wirksam gemacht werden konnte. Die Künstlerin Helen Follert inszeniert ihre Bilder des ›Anderen‹ als Fotokomposition von Tierpräparaten, die sie im Genfer Musée de l’histoire naturelle aufgenommen hat. Sie erschafft eindrückliche Szenen der Blicke in ihrem fotografischen ›Bestiarium‹. Anna Straube fokussiert das Geschlecht der ›Anderen‹ im Medium des Films und zeigt am Beispiel der Filme Transamerica und XXY die (Un-) Möglichkeiten der medial inszenierten Überschreitung von Geschlechtergrenzen. Hierbei liegt der Fokus stets in der Verschränkung von Transgender, Alterität und den Tiermotiven, die beide Filme wiederholt aufrufen und zu einem Mechanismus werden lassen, der eine queere Erzählung erst ermöglicht.

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Vgl. Christina von Braun/Inge Stephan: Gender@Wissen sowie Sigrid Nieberle/ Elisabeth Strowick (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln/Weimar/Wien 2006.

12 | SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR Christina Schramm diskutiert in ihrem Artikel die Verschränkungen der Kategorien Christentum, Kolonialismus und Moderne am Beispiel Costa Ricas und untersucht davon ausgehend die Bilder und Vorstellungen, die der Diskurs für Lateinamerika heute bereithält. Im Mittelpunkt ihrer Analysen steht die Betrachtung eines Wandgraffitis an einem Gebäude der Universität in Costa Rica. Der Beitrag hinterfragt die Konstruktion von Alterität und Subalternität mit dem expliziten Ziel einer Entkolonisierung von Wissensproduktion. In ihrem Beitrag zu vergeschlechtlichten Bildpolitiken untersucht Katrin Köppert die Funktion von Gender in medialer Inszenierung und stellt die Darstellung des Terrorismus in den USA in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Sie fokussiert hierbei medientechnische und diskursive Bedingungen der Bildpolitiken und arbeitet deren Bedeutung beispielhaft für die Darstellung Bin Ladens und Lynndie Englands heraus. Irina Gradinaris Beitrag stellt die Frage nach der medialen Inszenierung des Lustmordes in Erzählungen und Bildern des 20. Jahrhunderts. Die Autorin analysiert die Genese dieser spezifischen Form des Verbrechens im kulturellen Diskurs vor dem Hintergrund eines psychopathologischen Wissens, in welchem der Lustmord als geschlechtlich codierte Kriminalitätsform imaginiert wird. Der Beitrag zeigt die Verschränkungen zwischen dem gesellschaftlichen Diskurs und den Inszenierungen in der Kunst und der Literatur. Anne Stähr beschäftigt sich in ihrem Artikel auch mit der literarischen Inszenierung eines geschlechtlich codierten Verbrechens am Beispiel des weiblichen Giftmordes. Sie analysiert den Fall der Marie Lafarge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stellt die Verschränkungen der Diskurse über die weibliche Verbrecherin und über Alterität heraus, wie sie bei der Besprechung des Falls durch den Korrespondenten Heinrich Heine in der deutschen Presse deutlich werden. Katja Geiger knüpft mit ihrem Beitrag an die kriminologischen Diskursanalysen an und untersucht narrative Methoden in Gutachten über die Kindsmörderin um 1900. Dabei stehen die Verschränkungen von gerichtsmedizinischem, juristischem und kriminologischem Wissen im Vordergrund. Die Autorin zeigt auf, wie die Erzählstrategien in den Gutachten eine geschlechtsspezifische Imagination der Verbrecherin ermöglichten. Ulrike Wohler beschäftigt sich in ihrem Artikel mit Bildpolitiken und Darstellungspraxen speziell eines Phänomens, das sie den »weiblichen Exhibitionismus« nennt. Sie stellt dabei Überlegungen zur Perversion und Devianz in den Mittelpunkt und fragt davon ausgehend nach Möglichkeiten weiblicher Selbstermächtigung durch das explizite Zurschaustellen von Weiblichkeit innerhalb der gesellschaftlich angenommenen Geschlechternorm. Im Beitrag von Sophia Könemann stellt die Autorin die Frage nach dem Zusammenhang von Exotik, Fetischismus und der Kategorie eines pathologi-

EINLEITUNG | 13 sierten ›Anderen‹, wie er in einer Erzählung Panizzas aufscheint. Sie analysiert dabei die Konstruktion eines Phantasmas vor dem Hintergrund ethnografischen, ökonomischen und psychiatrischen Wissens. In einem weiteren Schritt nimmt sie die Erzähltechniken selbst in den Blick und zeigt auf, wie diese mit den Wissensarchiven, Medien und Institutionen des Fin de Siècle korrespondieren Florian Kappeler schließlich fokussiert in seinem Beitrag am Beispiel von Musils Mann ohne Eigenschaften die Zusammenhänge ethnologischen, zoologischen und psychiatrischen Wissens unter der Perspektive ihrer Vergeschlechtlichung. Er zeigt dabei auf, wie das Wissen über das ›Andere‹ bei Musil eine »Kritik des Eigenen« begründet und stellt die Anbindung an Texte von Kretschmer und Lévy-Bruhl heraus. Der Blick liegt in diesem Beitrag immer auf der Möglichkeit einer Destabilisierung der geschlechtlichen Kategorien. An dieser Stelle möchten wir uns bei all denjenigen bedanken, ohne deren Hilfe dieser Band nicht zustande gekommen wäre. Unser besonderer Dank gilt den Organisator_innen der Tagung »Das Geschlecht der Anderen. Narrationen und Episteme in Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie des 19. und 20. Jahrhunderts«, die am 11. und 12. Dezember 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin als Veranstaltung des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« stattfand. Die Tagung, auf der die Beiträge dieses Bandes basieren, wurde konzipiert und organisiert von Florian Kappeler, Susann Neuenfeldt, Julie Miess, Julia Roth, Vojin Saša Vukadinović und den Herausgeberinnen. Danken möchten wir dem Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« und ganz besonders seiner Koordinatorin, Viola Beckmann, für ihre Unterstützung und Beratung. Schließlich möchten wir uns ganz herzlich bei den Herausgeber_innen der Reihe Gender Codes Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan bedanken, die uns ermöglicht haben, den Band in diese Reihe von Publikationen zu stellen.

Literatur Braun, Christina von/Stephan, Inge (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Wien/Köln 2005. Braun, Christina von/Dornhof, Dorothea/Johach, Eva (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009. Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007. Gilman, Sander L.: Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race and Madness, Ithaca, New York 1985.

14 | SOPHIA KÖNEMANN & ANNE STÄHR Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_ Meets_OncoMouse™, New York 1997. Haraway, Donna: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Elvira Scheich (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1996, S. 217-248. Nieberle, Sigrid/Strowick, Elisabeth (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln/Weimar/Wien 2006. Pethes, Nicolas: »Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28 (2003), Nr. 1, S. 181-231. Uerlings, Herbert/Hölz, Karl/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Vogl, Joseph: »Robuste und idiosynkratische Theorie«, in: KulturPoetik 7/2 (2007), S. 249-258.

Die matriarchale Versuchung. Von Inse kte n, Me nsc he n und der Konk urrenz de r politisc hen Tie re EVA JOHACH

D a s G e s c h l e c h t d e r An d e r e n : Ar i s t o t e l e s u n d d i e F o l g e n An einer berühmten Stelle seiner Historia animalium hat Aristoteles neben dem Menschen auch Bienen und Ameisen (sowie Kraniche und Wespen) unter die Kategorie zoon politikon gerechnet.1 Für Aristoteles ähnelten Bienen und Ameisen den Menschen darin, dass sie Gemeinschaften bilden und diese auf den Grundsatz kollektiver Arbeit aufbauen, das »gemeinsame Werk« (»koinon ergon«). Eine Differenz sah er darin, dass Kraniche und Bienen einen »Führer« besitzen, während die Ameisen als führerlos galten.2 Das prominente Auftreten von Insekten in der Kategorie der »politischen Lebewesen« stiftete eine prekäre Verwandtschaft mit dem Menschen, die sich unter verschiedenen Vorzeichen zu einer regelrechten ›Konkurrenzbeziehung‹ steigern ließ – auch wenn »politikon« im Aristotelischen Sinne eher als »sozial«

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»Gemeinschaften bilden diejenigen, welche alle zusammen an einer gemeinsamen Arbeit beschäftigt sind, dies thun aber nicht alle gesellschaftlich lebenden Thiere. Dergleichen sind der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise, der Kranich und sie haben entweder einen Anführer oder sie sind ohne Oberhaupt: die Kraniche und die Bienen z.B. stehen unter einem Anführer, die Ameisen dagegen und unzählige andre haben kein Oberhaupt.«, Aristoteles: Thierkunde. Griech. und deutsch, hg. und übersetzt von Hermann Aubert und Friedrich Wimmer, Bd. 1, Leipzig 1868, S. 199. Ebd. Im Fall der Wespen bleibt die Führungsfrage offen.

16 | EVA JOHACH übersetzt werden muss3 und Aristoteles, anders als viele, die sich später auf ihn beriefen, keineswegs so weit ging, den Insekten eine »polis« und damit eine politisch-soziale Lebensform im eigentlichen Sinne zuzuerkennen. Gemeinsamkeiten und Differenzen auszuloten, darin lag ein eigenartiger Reiz, der die Beschäftigung mit den sogenannten sozialen Insekten prägte. Welche Hierarchien beherrschten diese natürlichen Sozialgebilde, worauf beruhte ihre – bereits von antiken Autoren wie Aelian4 beschriebene – Arbeitsteilung, und nicht zuletzt: Welche Geschlechterordnung lag ihnen zugrunde? Aristoteles selbst kam auf diese Frage in einem anderen Zusammenhang zu sprechen. In seinem Werk Über die Zeugung und Entwicklung der Tiere versuchte er, die Bienen in geschlechtlicher Hinsicht näher zu bestimmen. Aristoteles war bekanntlich überzeugt, dass überall in der Natur das Modell der Zweigeschlechtlichkeit herrsche; gerade diese sozialen Lebewesen demonstrierten nun aber eine Abweichung von dieser Regel. Zunächst setzte sich der Bienenstock nicht aus zwei, sondern aus drei »Arten« von Bienen zusammen; hinzu kam aber, dass sich keine dieser Arten eindeutig in das Zweigeschlechterschema von männlich und weiblich einordnen ließ. Nicht nur hinsichtlich der »gemeinen Bienen«, sondern auch bei der geschlechtlichen Festlegung des »Führers« blieb für Aristoteles ein gewisser Zweifel. In der Historia Animalium gibt er indirekt zu erkennen, dass es eine bewusste Entscheidung war, die Führer als »Könige« (»basileis«) zu bezeichnen. Es gebe nämlich andere, nicht namentlich genannte Zeitgenossen, die von diesen als Mütter, »metéres«, sprächen. Und zwar würden sie deshalb »Mütter genannt, weil sie gebären sollen«5. Doch obwohl Aristoteles die »Könige« der Bienen in der männlichen Form adressierte, sprach er ihnen keine eindeutig männliche Geschlechtsidentität zu: Ähnlich wie Pflanzen vereinten sie aus seiner Sicht »sowohl das weibliche als auch das männliche Princip zugleich in sich.« Seine Fähigkeit zu gebären wies den Führer der Bienen als weiblich, sein Stachel hingegen als männlich aus. Dasselbe galt für die Arbeitsbienen. Was üblicherweise auf zwei Geschlechter verteilt ist, findet sich hier also in einem einzigen Körper: 3 4

5

»Zoon politikon«, in Ottfried Höffe: Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 620. Bei Aelian heißt es: »Der König der Bienen sorgt für die gute Ordnung des Schwarmes auf folgende Weise. Dem Einen befiehlt er, Wasser zu tragen; den Andern, im Innern Honigscheiben zu bilden; eine dritte Abtheilung schickt er auf die Weide aus. Dann wechseln sie mit der Arbeit nach der Reihe; und auf das schönste vertheilt, pflegen die Bejahrteren das Haus zu hüten. Dem Könige selbst aber ist es genug, [...] Gesetze vorzuschreiben nach der Weise großer Herrscher, welche die Philosophen Politiker und Königliche nennen.«, Aelianus: De natura animalium, liber V, 11, deutsch: Thiergeschichten, übersetzt von Friedrich Jacobs, Bd. 5, Stuttgart 1839-1842, S. 580f. Aristoteles: Thierkunde, Bd. 1, S. 519.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 17 die Fähigkeit, sowohl (nach männlicher Art) »in ein anderes hinein« als auch (nach weiblicher Art) »in sich hinein zu zeugen«6. Dass bei diesen Tieren niemals eine Kopulation zu beobachten war, war für Aristoteles ein weiterer Beleg dafür, dass sie sich »ohne Paarung« (»aneu ocheias«) fortpflanzten und die Fähigkeit zur Selbstzeugung besaßen; die einzigen, die über keinerlei Zeugungskräfte verfügten, waren die Drohnen. Liest man beide Textstellen im Zusammenhang, ergibt sich ein interessanter Fall geschlechterpolitischer Zoologie. Unter generativen Gesichtspunkten erklärt sich der Befund, dass dem »basileus« eine führende Stellung im Gemeinwesen der Bienen zukommt und er entsprechend von der Arbeit befreit ist, nicht aus seinen Führungsaufgaben, sondern aus seiner Aufgabe in der »Bruterzeugung«.7 Im Falle der sozialen Insekten hat Aristoteles die Geschlechterrollen demnach deutlich variabler gedacht, als dies in seinen sonstigen geschlechtertheoretischen Überlegungen der Fall ist. Dies hat Robert Mayhew in seinem Buch The Female in Aristotle’s Biology herausgearbeitet sowie in einem Artikel mit dem Titel King-bees and Mother-wasps: a Note on Ideology and Gender in Aristotle’s Entomology zusammengefasst.8 Ein vergleichender Blick auf die Wespen zeige nämlich, so Mayhew, dass es Aristoteles durchaus möglich war, die ›mütterliche‹ Gebärfunktion mit der Position 6

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So lautet Aristoteles’ Formulierung der Geschlechterdifferenz aus De Generatione, 1. Buch/1: »Männlich nämlich nennen wir ein Thier, welches in ein anderes zeugt, weiblich aber das, welches in sich hinein zeugt.« Dabei wird von zweierlei Samen ausgegangen, der auch Unterschiedliches für den Zeugungsvorgang beisteuert. Bekanntlich setzt Aristoteles dabei den männlichen Samen als »Bewegungsprinzip« und den weiblichen als »Material«. Aus feministischer Sicht ist hervorgehoben worden, dass mit Aristoteles’ Zeugungstheorie eine Festschreibung der Geschlechterrollen auf »Geist« vs. »Materie« stattfindet – der männliche Same ist fast so etwas wie göttliches pneuma, was dem Lebewesen den Geist einhaucht. Als äußerst zählebig sollte sich erweisen, dass nach Aristoteles’ Modell der männliche Same nicht materiell, sondern geistig zur Zeugung beiträgt. Von der formenden und belebenden Kraft des männlichen Samens hängt für Aristoteles zudem die Geschlechtsbestimmung ab: Ist diese stark genug, entsteht ein vollkommenes, d.h. männliches Lebewesen. Sofern sich der männliche Same nicht vollständig gegen die weibliche Materie durchsetzen kann, entsteht ein defizitäres weibliches Lebewesen; auf ähnlichem Wege entstehen auch Monster. Männliche Zeugung wäre demnach, wie es Albrecht Koschorke treffend ausgedrückt hat, eine Frage der »Materialbeherrschung«. Albrecht Koschorke: »Inseminationen. Empfängnislehre, Rhetorik und christliche Verkündigung«, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br. 2003, S.89-110, hier S. 95. Aristoteles: Thierkunde, Bd. 1, S. 519. Robert Mayhew: The Female in Aristotle’s Biology: Reason or Rationalization, Chicago 2004. Ders.: »King-Bees and Mother-wasps: a Note on Ideology and Gender in Aristotle’s Entomology«, in: Phronesis XLIV/2 (1999), S. 127-134.

18 | EVA JOHACH des Führers bzw. Königs zusammenzudenken. So werden die »Mutter-Wespen« in austauschbarer Wortwahl als Führer (»hegemones«) und Mütter (»metrai«) bezeichnet – wobei aufschlussreich ist, dass »metra« nicht Mutter, sondern Gebärmutter bedeutet, weshalb die korrekte Übersetzung eigentlich »Gebärmutterwespe« lauten müsste.9 Im Zuge der in der Spätantike einsetzenden Bemühungen, das naturkundliche Wissen einer Christianisierung zu unterziehen, wurde die besondere, ohne Kopulation vonstattengehende Fortpflanzungsweise der Bienen zum Anlass dafür, diesen Tieren eine besondere moralische Vorbildfunktion für den Menschen zuzusprechen. Was Aristoteles unter dem Begriff der Selbstzeugungsfähigkeit verhandelt, wird unter dem Stichwort der Keuschheit zu einem wichtigen Attribut der Biene. In der christlichen Tradition wurde diese Tugend zum Ausdruck einer göttlichen Gabe an die Biene, die lediglich mit der »conceptio immaculata«, der unbefleckten Empfängnis Mariens vergleichbar war. So heißt es im 4. Jahrhundert bei Kirchenvater Ambrosius: Apes nullo concubitu nascuntur nec libidine, nec partus doloribus quariuntur, sed integritatem corporis virginalem servantes subito filiorum Examen emittunt, quid mirum videtur, si Virgo Maria conceperit.10 (Die Bienen werden weder durch Beischlaf geboren noch durch Geschlechtsbegierde, noch jammern sie unter Schmerzen der Geburt, vielmehr stoßen sie, indem sie die jungfräuliche Unversehrtheit des Körpers bewahren, plötzlich einen Schwarm Kinder aus, was so wunderbar erscheint, als wenn die Jungfrau Maria empfangen hätte).

 Das Rätsel ihrer Fortpflanzung findet demnach sein Pendant in der unbefleckten Empfängnis Mariens; anders als die christliche Gottesmutter bringen die Bienen jedoch nicht nur ein einzelnes Kind, sondern gleich einen ganzen Schwarm hervor. Ambrosius beschreibt dies, nicht ohne auf die »schmerzfreien« Aspekte dieser Weise der Fortpflanzung hinzuweisen. Die Bienen transportieren so nicht nur die andauernde Aufforderung an den Menschen, seine Tugenden zu entwickeln und sich in Keuschheit zu üben, sondern sie verweisen durch das Privileg der jungfräulichen Unversehrtheit auch auf das verlorene Paradies und den Sündenfall.

9

Vgl. Aristoteles: Thierkunde, Bd. 1, S. 305. Für den Hinweis danke ich Helmut Johach. 10 Zitiert nach Johann Adolf Overbeck: Glossarium Melliturgicum oder BienenWörterbuch, in welchem die bisher bey der Bienenpflege bekannt gewordene oder gebräuchliche Kunstwörter und Redensarten nach alphabetischer Ordnung erkläret werden, Bremen 1765, S. 149. Eigene Übersetzung.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 19 Auch im wissenschaftlichen Terminus der »Parthenogenese« bleibt der hier artikulierte Mythos von der unbefleckten Empfängnis weiterhin erhalten, und diese bei vielen Insekten beobachtete Fortpflanzungsform sollte sich immer wieder anfällig für normalisierende Abwehr ebenso wie für geschlechterpolitische Verheißungen erweisen. Parthenogenese beschreibt eine Weise der Fortpflanzung bzw. Fortzeugung, die innerhalb der Zweigeschlechterordnung unmöglich ist11 – und so das radikal Andere des menschlichen Zeugungsgeschäfts versinnbildlicht. Die abweichende Geschlechterordnung und Fortpflanzungsweise der sozialen Insekten sowie die vermeintlich ›matriarchale‹ Verfasstheit ihrer Sozialform war dazu angetan, der prekären Konkurrenzbeziehung der so ungleichen ›politischen Tiere‹ eine besondere Dynamik zu verleihen. Die folgenden Ausführungen rekonstruieren einen Teil dieser ambivalenten Operationen, die man im Anschluss an Ethel Mathala de Mazza und Joseph Vogl als Ausdruck »politischer Zoologie« begreifen kann.12 Da sich jedoch, wie bereits an Aristoteles ersichtlich wurde, die Sozialordnung der Insekten kaum jemals unabhängig von ihrer Geschlechterordnung betrachten ließ, besitzt politische Zoologie in Bezug auf soziale Insekten unabdingbar den Charakter geschlechterpolitischer Zoologie. Insektengesellschaften sind als Teil einer »Geschlechtergeschichte des Politischen« zu betrachten.13

Geschlechterpolitische Reformen im Bienenstock Über Jahrhunderte christlichen Denkens war eine politisch-moralische Betrachtungsweise des Bienenstocks maßgeblich, die von einer Allianz aus Pfarrern und Imkern kultiviert wurde. Die Bienenzüchter, zumeist auch Geistliche, waren es, die nicht nur die moralischen, sondern auch die ›biologischen‹ Grundlagen dieser natürlichen Sozialgebilde studierten und ein praktisches Wissen davon entwickelten, wie diese Gesellschaften organisiert sind – und zwar lange bevor sie zum Gegenstand einer professionellen Naturforschung wurden. Der tiefgreifende Wandel in der Geschlechterordnung, der im Zuge der Biologisierungsprozesse im 17. und 18. Jahrhundert stattfand, wurde gerade von jenen geistlichen Imkern vollzogen, die mit beherzten anatomischen Untersuchungen die Geschlechtsorgane ihrer Zuchttiere offenlegten. Es verhält sich also keineswegs so, wie man vielleicht glauben könnte, dass die neu11 Bei Tieren ist auch möglich, dass beide Weisen der Fortpflanzung innerhalb einer Art zugleich auftreten. 12 Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin 2007. 13 Gabriele Boukrif/Claudia Bruns et al. (Hg.): Geschlechtergeschichte des Politischen. Entwürfe von Geschlecht und Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2002.

20 | EVA JOHACH en Erkenntnisse von unbestechlichen Naturforschern konstatiert und dann von den vorurteilsbelasteten geistlichen Imkern mühsam adaptiert werden mussten. So war es keiner der berühmten frühneuzeitlichen Naturforscher, sondern ein einfacher englischer Bienenzüchter namens Charles Butler, der bereits 1609 mittels anatomischer Studien auf die Eierstöcke des vermeintlichen Bienenkönigs stieß. Aufgrund des Befundes konnte dieser nicht länger »rex« heißen, und so sah sich Butler gezwungen, den lateinischen Titel, der dem mutmaßlichen Bienenkönig verliehen wurde, »to grace so worthy a creature with the worthier title«, künftig der Korrektheit halber mit »Queene« zu übersetzen.14 Da neben ihr die Männchen (Drohnen) keinerlei Herrschaft und Einfluss besäßen, sei der Bienenstock folglich ein »Amazonian Kingdome« (»sith the males heer beare no sway at al, this being an Amazonian or feminine kingdome«).15 Obwohl sich Butler angesichts dieses Befundes stellenweise nicht zurückhalten konnte, seine Darstellung mit misogynen Bemerkungen zu spicken, brachte ihn diese dramatische Reform der Geschlechterverhältnisse nicht dazu, dem Bienenstaat seinen Charakter als »perfekte« politische Ordnung abzusprechen. Möglicherweise versuchte er Queen Elizabeth I, in deren Diensten er stand und die von Zeitgenossen häufig anerkennend als Amazone bezeichnet wurde,16 zu schmeicheln, wenn er betonte, der Bienenstaat mit seiner Königin sei das Musterbild einer perfekten Monarchie, »expresse patterne of a perfect monarchie, the most natural & absolute forme of government«17. Dass der politische Vorbildcharakter auch nach dem Geschlechtswechsel seines Oberhaupts mehr oder minder intakt bleiben sollte, war jedoch eine Schlussfolgerung, die nicht alle Zeitgenossen gelten lassen wollten. Der Geistliche und Bienenzüchter John Thorley beispielsweise bezeichnete es als außerordentlich »ungerecht« (»unjust«), dass das Weibchen hier mit »königlichen Weihen und Insignien« ausgestattet werde, während die Männchen derart untergeordnete Position besetzten: »downgraded, treated with the utmost contempt, triumphed over and trampled upon [...], expelled and banished, and, in a word, slain without mercy«18. Am Ende der – insgesamt zäh verlaufenden – Biologisierungsprozesse des 17. und 18. Jahrhunderts hielt eine recht umfassende Sexualisierung in den 14 Charles Butler: The Feminine Monarchie or A Treatise concerning Bees and the due Ordering of them, Oxford 1609 (Reprint Amsterdam/New York 1969). 15 Charles Butler: The Feminine Monarchy, »Preface« (o.S.). 16 Vgl. hierzu Winfried Schleiner: »Divina virago: Queen Elizabeth as an Amazon«, in: Studies in Philology 75/2 (1978) S. 163-180. 17 Charles Butler: The Feminine Monarchie, Chapter I, 7. 18 John Thorley: The Female Monarchy, Being an Inquiry into the Nature, Order, and Government of Bees, London 1744, S. 90.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 21 Bienenstock Einzug: Sowohl das Oberhaupt als auch die Arbeitsbienen verloren ihre Fähigkeit zu keuscher Selbstzeugung, aus dem »König« der Bienen wurde eine Mutter mit einem recht devianten Reproduktionsregime, und die Drohnen wurden zwar trotz ihrer Stachellosigkeit als männlich identifiziert, aber zugleich auf einen recht begrenzten Befruchtungsbeitrag reduziert.19 Die »Tugenden«, die den Exempelcharakter ausmachten, verbanden sich nun zu einer mütterlichen Herrschaft, die es freilich auf der programmatischen Ebene aus den Kategorien der Herrschaft herauszulösen galt.20 Auf der Ebene der Zuschreibungen ließ sich jedoch kaum vermeiden, dass die zur devianten Reproduktionsgemeinschaft herabgesunkene Sozialform dennoch als politische Struktur, als »matriarchale« Herrschaft erscheint. Zwar war den meisten Autoren in der Verwendung des Topos bewusst, dass eine Anwendung politischer Kategorien auf den »Insektenstaat« keinerlei wissenschaftliche Substanz hat. Dennoch lässt sich sagen, dass – oftmals in einem konjunktivischspielerischen Register – die Politisierung dieser natürlichen Sozialgebilde auch im 20. Jahrhundert anhält. Man könnte von einer »Lust am Selbstvergleich« sprechen, der einer Anreicherung oder einer Verlegung der naturkundlichen Betrachtung in ein politisches Register Vorschub leistet – und so dem angesprochenen Konkurrenzverhältnis neue Nahrung gibt. Als (möglicherweise unwiderstehlicher) Mehrwert steht in Aussicht, in Form differenzieller Operationen das Eigene im Spiegel des Anderen verfremden zu können und auf diese Weise Spielräume für die Selbstthematisierung zu gewinnen.21 19 Die Kontroversen, von denen diese Prozesse begleitet sind, werden analysiert bei Jeffrey Merrick: »Royal Bees: The Gender Politics of the Beehive in Early Modern Europe«, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 18 (1988), S. 7-37; vgl. auch Frederick R. Prete: »Can females rule the hive? The controversy over honey bee gender roles in British beekeeping texts of the sixteenth-eighteenth centuries«, in: Journal of the History of Biology 24/1 (1991), S. 113-144. 20 So tritt etwa Jan Swammerdam dafür ein, den »Bienenstaat« nicht länger als politisch-moralische Ordnung, sondern von seinen biologischen Zwecken her zu bestimmen und betont, dass bei den Bienen »im übrigen bey ihnen keine Regierungen, keine Regenten-Wahl, keine bürgerliche, keine häusliche Einrichtung, Zucht und Tugenden im geringsten nicht zu bemerken sind.«, Jan Swammerdam: Bibel der Natur [1737/38], Leipzig 1752, S. 159. 21 Diese Operationen lassen sich meiner Meinung nach im Begriff der Anthropomorphisierung nicht adäquat fassen. Ein auf diesen Aspekt konzentriertes Vorgehen verliert aus den Augen, dass der natürliche Gegenstand nicht einfach ›überformt‹ wird und durch Zügelung des Anthropomorphisierungsbegehrens der Gegenstand ›rein‹ gehalten werden könnte. Zum zweiten verstellt die Konzentration auf den ›Nachweis‹ den Blick auf die eigentlich spannenden Fragen und ist somit aus wissensgeschichtlicher Sicht unergiebig. Und zum dritten hieße es, die Deutungsgeschichte von Insektengesellschaften vor allem unter der Perspektive des »Vertrautmachens« zu betrachten, wie sie sich etwa in der anheimelnden Rede von König und Königin, Arbeitern, Soldaten und Handwer-

22 | EVA JOHACH

Die Stammesgeschichte des Bienenstaats Die Soziogenese der Insekten trifft insofern einen neuralgischen Punkt, als sie die tradierte Geschlechterordnung moderner menschlicher Gesellschaften als einzig mögliche Grundlage erfolgreicher Staatsmodelle in Zweifel zieht. Offenbar war diesen vom Menschen evolutionär so weit entfernten Lebewesen der Übergang von der solitären zur staatenbildenden Lebensform ebenfalls gelungen – wenn auch auf einer völlig anderen Grundlage. Die bereits im 17. Jahrhundert etablierte Rede vom Bienenstaat als »Amazonian Kingdom« (Butler) aktualisiert sich im 19. Jahrhundert unter evolutionsbiologischen Vorzeichen, und die beiden so ungleichen politischen Lebewesen stehen nun exemplarisch für zwei divergente Formen der Soziogenese: Während die (westliche) Menschheit den patriarchalen Weg wählte, führen Insektengesellschaften eine matriarchale Alternative vor Augen. Und manchen Interpreten erschien es in losem Anschluss an Bachofens Studie über »mutterrechtliche Gesellschaften« (Mutterrecht und Urreligion, 1861) durchaus nicht abwegig, dass gerade darin ihre Überlegenheit gegenüber menschlichen Gesellschaften lag. Von Biologen der Jahrhundertwende wurde der Übergang der Insekten in die »staatenbildende« Lebensform als eine abweichende Entwicklung modelliert, die gewissermaßen am weiblichen »Geschlechtscharakter« ansetzt. Dies zeigt sich an der verbreiteten Hypothese, der Übergang in die staatenbildende Lebensweise gehe mit einer Teilung der weiblichen Funktion einher: Die Staatengründerin büßt, sobald ihre Töchter aus den Eiern schlüpfen, ihre »Muttergefühle« ein und lässt die gesamte Brutpflege von ihren Töchtern erledigen. Diese entwickeln umgekehrt keinen Geschlechtstrieb, sondern gehen sofort, ohne sich jemals zu paaren,22 zur Brutpflege über. Sie bleiben unbefruchtet und entwickeln sich zu »Hilfsmüttern« oder Ammen. Auf diese Weise entsteht eine arbeitsteilige Gesellschaft – allerdings mit der entscheidenden reproduktionsbiologischen Pointe, dass die Arbeit lediglich zwischen einer Mutter und ihren Töchtern geteilt ist. Die Männchen hingegen spielen nach kern, von Ackerbau und Viehzucht etc. niederschlägt. Der besondere Reiz bei der ›Politisierung‹ dieser natürlichen Gesellschaftsgebilde scheint mir allerdings gerade darin zu liegen, dass sie erlauben, das aus menschlichen Gesellschaften scheinbar Vertraute fremd zu machen. 22 Wie der Bienenforscher Heinrich von Buttel-Reepen zusammenfassend schreibt, kann dies als wesentlicher reproduktionsbiologischer Mechanismus für die Ausprägung von Insektengesellschaften gelten. Es entspreche einem »das ganze Insektenreich beherrschendem Gesetz [...], welches bewirkt, dass wenn unbefruchtete Weibchen in die Eiablage eintreten, ihre Neigung zur Kopulation für immer schwindet«. Heinrich von Buttel-Reepen: Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates, Leipzig 1903, S. 103.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 23 dem Befruchtungsakt der Königin für den Fortgang der »Gesellschaftsentwicklung« keine nennenswerte Rolle mehr. Die Irritation, die vom Insektenstaat Ende des 19. Jahrhunderts ausging, baut also auf einer Normverletzung auf, die sich insbesondere in der evolutionstheoretischen Modellierung bemerkbar macht. Die abweichende Reproduktionsordnung gerade der staatenbildenden Insekten wird nun nicht mehr als (von Gott) ›gegebenes‹ Faktum gehandelt, sondern als Resultat eines Prozesses, den es – trotz einiger nur spekulativ zu überbrückender Entwicklungsschritte – in seinen Etappen zu rekonstruieren galt. Gerade diese im wissenschaftlichen wie im populären Kontext unternommenen Versuche, den evolutionären Übergang zur Staatenbildung erzählbar zu machen, lassen erkennen, welche geschlechterpolitischen Erwartungen die Forscher an diese zoologische »Soziogenese« augenscheinlich anlegten. Der Übergang der Insekten zur staatenbildenden Lebensweise erscheint dann nicht selten als ein Prozess, bei dem eine erwartete ›natürliche‹ Entwicklung von der Ehe über die Familie hin zum Staat durchkreuzt wird oder wesentliche Phasen schlicht übersprungen werden. Wilhelm Bölsche, der begnadete und um die Jahrhundertwende viel gelesene Wissenschaftspopularisator, fand hierfür in seinem voluminösen Werk Das Liebesleben in der Natur (1898) einen ungemein treffenden Begriff: hysteron proteron. Wörtlich ›das Spätere zuerst‹ – ein aus der Rhetorik und Erzähltheorie bekannter Sachverhalt, bei dem zeitlich nachgelagerte Geschehnisse erzählerisch vorgezogen und so die chronologische Ordnung durchbrochen wird. Auf die Entwicklung des Bienenstaats bezogen, soll hysteron proteron eine Ungleichzeitigkeit bezeichnen, bei der die Entstehung des Staates vor und anstelle der auf geschlechtlicher Arbeitsteilung beruhenden Familie stattfindet. Bölsche kreierte damit eine Figur, mit der sich das mutmaßliche Evolutionsgeschehen in ein Narrativ bringen ließ. Seine poetologische (oder sogar genauer: narratologische) Figur verdichtet jedoch lediglich das, was professionelle Bienenforscher wie etwa Heinrich von Buttel-Reepen über die »Stammesgeschichte des Bienenstaates« in Erfahrung gebracht hatten.23 Die von Bölsche gewählte Verdichtung hat jedoch noch einen weiteren Clou: Sie stiftet eine geschlechterpolitische Fiktion. Postuliert wird eine Aufspaltung des ›einen‹, implizit wohl für unteilbar gehaltenen weiblichen Geschlechts und die Instituierung einer sekundären Mutterschaft, die als »zweite Mutter« auch explizit benannt wird. Die Entwicklung hin zur Staatenbildung resultiert, so die Hypothese, aus einer »Vertauschung« der Gefühle. Während das staatengründende Weibchen seine sorgenden Muttergefühle einbüßt, trifft auf die unbefruchtet gebliebenen Arbeitsbienen das Gegenteil zu: Diese »al23 Vgl. den Buchtitel Buttel-Reepens in der vorangegangenen Fußnote.

24 | EVA JOHACH ten Jüngferchen« oder »Vestalinnen« verlören das »ganze edelste Geschlechtsleben«, und sie widmeten sich ganz der Pflege einer Brut, die nicht ihre eigene ist. Ihre »Muttergefühle haben sich«, so Bölsche, »entwickelt, ehe die Geschlechtsgefühle ordentlich hervorgetreten waren«24. Was dadurch unmöglich werde, sei das Erreichen »der höheren Genossenschaft ›Mann und Weib‹«25. Nicht anderes als diese Tatsage war es, die für Bölsche letztlich das »fatale Plus« des Bienenstaates ausmachte.26 Die Geschlechterverhältnisse im Insektenstaat verletzen die Norm offenbar in so starkem Maße, dass Bölsche zu einem fast schon theatralischen Fazit gelangt: Der Bienenstaat setzte, und hier liegt seine Kühnheit wie seine Tragik, an der Geschlechtsecke ein. An jener Ecke, wo im ganzen der Tierentwicklung die Ehe im höheren Sinne sich herausentwickelt hat. Viel später, beim Menschen, sollte diese Ehe ein wichtigstes [sic] Problem werden in der Linie auch zur Staatsentwickelung. Aber die Biene begann mit der Staatenbildung auf einer Stufe, wo jene Eheentwickelung selber noch durchaus nicht geklärt war. Und das war ihr Verhängnis.27

Bölsche gibt den Vorbildcharakter dieser natürlichen Gesellschaften somit gänzlich auf; er betrachtet sie als eine »Sackgasse« der Evolution und kann nur noch konstatieren: »Es war eben nichts mit diesem Stamm.«28 

24 Wilhelm Bölsche: »Zur Geschichtsphilosophie des Bienenstaates« [1905], in: ders.: Weltblick. Der Schrei des großen Pan, Leipzig 1930, S. 212-242, hier S. 232. Illustriert wird die Aufspaltung der Mutterfunktion bei den Bienen durch einen Vergleich mit der menschlichen Familie: »Wie oft haben wir diesen Fall in unseren menschlichen Verhältnissen. Im Hause waltet neben der Mutter eine treue Bertha oder Anna, die älteste Tochter. Den jüngeren Kindern ist sie eine zweite Mutter. Blühend wachsen diese Kinder in der treuen Doppelpflege heran. Sie werden kräftige, lebensfrohe Männer und Frauen werden. Die gute Schwester aber hat vom ersten Tage ihrer Reife an einen verblühten Zug gehabt. Sie ist niemals hübsch gewesen. Als sie ein Kind war, hatte sie nur halbe Pflege, es waren noch die dürftigsten Zeiten des Hauses. Sie ist schmal und bleichsüchtig geworden. Und die Männer zu suchen, hat sie keine Zeit gehabt. Wenn andere zum Ball gingen, hat sie die kleinen nachgeborenen Geschwister gepflegt. Eine Art der Vertauschung der Gefühle ist dafür eingetreten: die Muttergefühle haben sich entwickelt, ehe die Geschlechtsgefühle ordentlich hervorgetreten waren, und einmal da, haben sie sie unterdrückt.« 25 Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe [1898], Bd. 1, Jena 1927, S. 423f. 26 Ebd., S. 420. 27 Ebd., S. 423. 28 Ebd., S. 426.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 25

Die matriarchale Versuchung Für andere hingegen ging offenbar gerade von dieser Verletzung des erwartbaren Entwicklungsgangs eine geschlechterpolitische Versuchung aus. Vertreter verschiedenster disziplinärer Herkunft und politischer Couleur entwickelten besonders im frühen 20. Jahrhundert die Bereitschaft, sich von der abweichenden Geschlechterordnung in Insektengesellschaften herausfordern zu lassen. Dabei entstanden höchst unterschiedliche Versionen politischer Zoologie, die keineswegs nur (wie bei Bölsche) auf eine Abwertung, Verwerfung oder Domestizierung des ›matriarchalen‹ Charakters dieser tierischen Gesellschaften abzielten. Und auch wenn es sich keinesfalls um eine Massenbewegung handelt, gibt es durchaus Stimmen, die den Bienenstaat als Muster für geschlechterpolitische Reformen empfehlen. Die oft schwindelerregenden Anverwandlungen reichen dabei von Verfechtern einer eugenischen NS-Biopolitik bis zu Apologeten homoerotisch fundierter Sozialmodelle. Motiviert wurden solche tendenziell affirmativen Bezugnahmen durch die von Verunsicherung getragenen geschlechterpolitischen Diskussionen des frühen 20. Jahrhunderts, etwa um die Frage, wie die bestehenden Sozial- und Geschlechterstrukturen den ›biopolitischen‹ Anforderungen gerecht werden konnten, denen sich die westlichen Gesellschaften in diesem Zeitraum ausgesetzt sahen. Die Verunsicherung betraf nun aber nicht nur die Stellung der Familie als bislang weitgehend unhinterfragte »Keimzelle des Sozialen«, sondern auch die Frage, welches der beiden Geschlechter (oder gar ein ›drittes‹?) den Anspruch erheben könne, das eigentlich »soziale«, d.h. mit dem wahren »sozialen Instinkt« ausgestattete Geschlecht zu sein. Für die Apologeten des Sozialmodells »Männerbund« war der Fall klar: Entscheidender als die zwischengeschlechtlichen Beziehungen sei die »physiologische Sympathie zwischen Mann und Mann«; diese sei nicht nur »eine normale Grundeigenschaft unserer Spezies«, sondern sogar weitaus »wichtiger als das Familienprinzip […], das im christlichen Europa zum Nachteil des nationalen Zusammenhalts auf Kosten der Männerfreundschaft übertrieben wird«29. Claudia Bruns verdanke ich den Hinweis, dass auch Hans Blüher, der berüchtigte Theoretiker des Männerbundes, der im frühen 20. Jahrhundert insbesondere die »Wandervogelbewegung« auf ihre triebtheoretischen Grundlagen hin untersucht hatte, auf das utopische Potenzial des Bienenstaats zurückgriff.30 Im ersten Teil sei-

29 Benedict Friedlaender: Die Liebe Platons im Lichte der modernen Biologie. Gesammelte kleinere Schriften, Treptow bei Berlin 1909, S. 218. Den Hinweis auf das Zitat verdanke ich Claudia Bruns. 30 Vgl. zu Blühers geschlechterpolitischer Position und den breiten politischen Kontext die umfassende Studie von Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Män-

26 | EVA JOHACH nes Buchs Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft entwirft Blüher den Bienenstaat als einen Möglichkeitsraum, in dem ›andere‹ Formen sozialer Integration vorgeführt werden: als ein Beispiel dafür, dass eine stabile Gesellschaft auch und gerade dann möglich ist, wenn der Primat der Familie durchbrochen wird. In einem kühnen Analogieschluss überträgt er die oben dargestellte sozial-integrative Bedeutsamkeit der sterilen weiblichen Arbeitsbienen auf den sogenannten »Typus inversus«. Auch wenn er hierfür, ohne dies näher zu thematisieren, die gesamte Geschlechtsstruktur des Bienenstaats umpolen muss, soll so die Evidenz entstehen, dass nicht der heterosexuelle Mann, sondern der »Typus inversus« das soziale Geschlecht par excellence ist. Um den utopischen Charakter des – von ihm kurzerhand zum »Männerbund« umgeschmolzenen – Bienenstaats freizusetzen, wandelt Blüher die oben diskutierte hysteron-proteron-Struktur in charakteristischer Weise ab: Während Bölsche (wie dargestellt, durchaus im Einklang mit der biologischen Forschung) argumentierte, die Familie sei hier gar nicht erst zum Durchbruch gekommen, erscheint der Bienenstaat in Blühers Darstellung als Sozialmodell, in dem die Familie überwunden und »zerstört« worden und etwas anderes (sprich: Fortschrittlicheres) an ihre Stelle getreten ist. Ein solches Sozialwesen funktioniert hervorragend, und zwar trotz der Tatsache, dass die »Sexualität zwischen Mann und Weib […] bis auf den nötigsten Rest vernichtet« wurde.31 Ergänzend fügt er allerdings hinzu: »Man könnte erschauern vor diesem Eingriff.« Dass die besondere Reproduktionsordnung der sozialen Insekten das Resultat eines »Eingriffs« darstellt, beherrschte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aber auch die Vorstellungen mancher Insektenforscher – auch wenn es nach Darwin selbstredend die Gesetze der Mutation und Selektion sind, die diesen Eingriff herbeigeführt haben. Einer derjenigen, die die Rekonstruktion dieser evolutionären Anpassungsprozesse mit bemerkenswerten geschlechterpolitischen Reflexionen verbunden haben, war der renommierte amerikanische Ameisen- und Termitenforscher William Morton Wheeler. Nicht nur das Studium der sozialen Insekten, sondern auch der von ihm verfochtene Ansatz einer »vergleichenden Soziologie«, d.h. der Vergleich mit den Sozialformen von Säugetieren und Menschen, zeugt für Wheeler von der Tatsache, dass das männliche das unsoziale, wenn nicht antisoziale Geschlecht ist. In einem bemerkenswerten Vortrag mit dem Titel »Animal Societies«, den Wheeler 1933 vor dem Kongress der American Society of Naturalists an der Harvard University hielt, identifizierte er gerade dies als zentrales »Problem«, das für die nerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln/Weimar/ Wien 2008. 31 Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Teil I: Der Typus inversus, Jena 1917-1919, S. 7.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 27 Instabilität der menschlichen Gesellschaften verantwortlich sei, und sie in »constant turmoil« hielt.32 Ausgehend hiervon ließ sich für Wheeler die Differenz zwischen menschlichen und Insektengesellschaften knapp auf den Punkt bringen: »The important difference lies, I believe, in what I shall call the ›problem of the male‹, which has been successfully solved by the social insects but not by mammal or human societies.«33 Insektengesellschaften können auf einen langen Prozess der »sozialen Evolution« zurückblicken, der bereits im Tertiär (also etwa vor 80 Mio. Jahren) begann, während unsere eigene Spezies überhaupt erst seit etwa 1 Mio. Jahren existiert und erst erheblich viel später damit begonnen hat, Gesellschaften oder gar Staaten zu bilden. Entsprechend hatten die sozialen Insekten, so die Darstellung Wheelers, ausreichend Zeit, das Stadium der »Unreife« zu überwinden, in dem sich die ungleich jüngeren menschlichen Gesellschaften nach wie vor befinden. Was die Insekten uns voraus haben, ist jedoch nicht nur das Alter, sondern »gewisse Eigenarten«, die erst für soziale Stabilität gesorgt haben: ihre spezielle Reproduktionsordnung. Wie um den »inferiority complex« der Männchen noch zu verstärken, so Wheeler, hätten die Weibchen begonnen, selbst aus unbefruchteten Eiern Nachwuchs zu produzieren. Die eigentliche ›Zumutung‹ besteht aber wohl in einem anderen Punkt: jener sinnreichen Einrichtung, der sogenannten »Spermathek«, einem Samenreservoir im Unterleib der Königin, worin der männliche Same über Jahre hinweg fruchtbar gehalten werden konnte und zur quasiautonomen Befruchtung verfügbar blieb. Für Wheeler ist sie das anatomische Symbol der »Lösung« dessen, was er als »problem of the male« bezeichnet. Das »Geheimnis« des evolutionären Erfolgs besteht demnach darin, dass es den Weibchen (d.h. der Mutter und ihren zahllosen unfruchtbaren Töchtern, den »Hilfsweibchen«) gelungen ist, den Beitrag der Männchen auf das absolut Notwendigste zu reduzieren. Dass die menschlichen Gesellschaften ihre Instabilität im Kern der sozialen Sprengkraft des männlichen Sexualtriebs verdanken – in dieser Annahme weiß sich Wheeler einig mit einem unbekannten deutschen Philosophen, der ein Jahr zuvor sein Buch Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter veröffentlicht hatte34: Ernst Bergmann, der seit 1916 als außerordentlicher Professor für Philosophie in Leipzig lehrte und im Erscheinungsjahr des Buches, 1932, Mitglied der NSDAP wurde. Bergmann lässt sich einer »deutschreligiösen« Erneuerungsbewegung zuordnen, die sich der 32 William Morton Wheeler: »Animal Societies«, in: ders.: Essays in Philosophical Biology, New York 1966, S. 233-261. 33 Ebd, S. 240 f. 34 Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932.

28 | EVA JOHACH weltanschaulichen Fundierung der völkischen Bewegung verschrieb – im Falle Bergmanns und einiger anderer implizierte dies auch eine Aneignung des Matriarchatsgedankens.35 Zwei Jahre nach Erscheinen seiner »Soziosophie« verfasste er für das Deutsche Ärzteblatt den Aufsatz Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts.36 Der Mensch der Gegenwart solle sich, so der wiederkehrende Aufforderungscharakter von Bergmanns Schrift, am Matriarchat und damit am Vorbild des Bienenstaates orientieren, denn deren »Muttergeist« sei der einzige Garant für ein integriertes Gemeinwesen37; der menschliche Staat hingegen sei in seiner jetzigen Form »geschaffen und bewegt von der männlichen Geschlechtstragödie in ihrer ganzen schauerlichen Pracht und Größe«38. In einer Fußnote lässt Wheeler erkennen, dass er zwar Bergmanns typisch deutschen »dionysischen« Tonfall bei der Übersetzung um einige Grad abkühlen musste, inhaltlich aber mit ihm übereinstimmt: Wenn es nicht gelänge, die männlich dominierten westlichen Gesellschaften »im Geiste des Mutterrechts« umzugestalten, dann, so wird Bergmann zitiert: »Finis humanitatis«! Diese Folgerung sei aber, so fügt Wheeler ironisch hinzu, »still too warm for presentation to a male scientific gathering«39. So ganz unrecht könnte er damit nicht gehabt haben, denn Wheeler geht nun daran, mit der ganzen Autorität der Biologie den Nachweis zu führen, das zentrale Problem menschlicher Gesellschaften liege im asozialen Charakter 35 Vgl. Eva Johach: »Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbewussten in Ernst Bergmanns ›Erkenntnisgeist und Muttergeist‹ (1932)«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld 2009, S. 264-280. 36 Ernst Bergmann: »Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts«, in: Deutsches Ärzteblatt (1934), S. 35-37. Zur Rezeption der Mutterrechtstheorie im Nationalsozialismus vgl. Eva-Maria Ziege: »Die Bedeutung des Antisemitismus in der Rezeption der Mutterrechtstheorie«, in: A.G. Genderkiller: Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005, S. 143-170, sowie dies.: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002. 37 Auch Bergmann führt das Problem sozialer Desintegration auf den Charakter des männlichen Sexualwesens zurück: »Der tragische Grundton seines Urwesens, beruhend auf seiner dramatischen, fragwürdigen, ungeschützten und ungesicherten, stets auf den Kampf und die Verdrängung des Nebenbuhlers angelegten Existenz, wird stets ein Hinderungsgrund sein für das Durchbrechen einer frohen und sonnigen Gemeinschaftsidee, wie sie uns der völlige Sieg des Muttergeistes bei den sozialen Hautflüglern in seiner Ordnungsfreude, seinem jubelnden Dienstwillen am Volksganzen so eindringlich veranschaulicht.«, Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. In Übersetzung zitiert bei W. M. Wheeler: Animal Societies, S. 259f. 38 Ernst Bergman: Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. 39 W. M. Wheeler: Animal Societies, S. 259.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 29 männlicher Sexualität begründet.40 Was Wheeler wie auch Bergmann als »matriarchale Umgestaltung« begreifen, zielt dann freilich nicht in erster Linie auf einen verstärkten gesellschaftlichen Einfluss von Frauen, sondern auf eine von den Männern selbst zu gestaltende Gesellschaftsreform »im Geiste des Mutterrechts«. Dies aber bedeutet ein Programm durchgreifender staatlicher Biopolitik. Während Bergmann dabei in allererster Linie die Steigerung der Geburtenrate, ja einen »Gebärzwang« für Frauen im Auge hatte, stellt Wheeler die Notwendigkeit einer »Domestizierung« der männlichen Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund – unter Aufbietung von allem, was die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu bieten haben: We seem to be confronted with the trilemma of either finding some means of socializing our males more completely, or of returning to a more unprogressive bisexual society like that of the termites (Russia already shows a suspicious approach to such a society), or of lapsing into something like Spengler’s Fellahin Society. For thousands of years attempts have been made to socialize the unsocial and antisocial males by fasting, prayer, sermonizing, systems of ethics, idealistic philosophies, legislation, prohibition, punishment, and discipline, but with very indifferent success. […] Fortunately, the youthful sciences of endocrinology, genetics, eugenics, penology, and psychiatry are beginning to provide us not only with this knowledge but also with suggestions for its practical application.41

Inauguriert wird ein Social engineering, das all das erreichen soll, was durch religiöse Rituale und sozialen Zwang bisher nicht erreicht werden konnte: die Domestizierung des männlichen Geschlechts, die den sozialen Insekten längst gelungen sei. Was sich hier als das störende ›Andere‹ zu erkennen gibt, ist nicht das weibliche, sondern das männliche Geschlecht, dessen Sexualtrieb sich offenbar nur unter hohem Aufwand in einen »Sozialtrieb« umwandeln lässt. Hier hört die matriarchale Versuchung endgültig auf, ein rückwärtsgewandtes Projekt für Romantiker zu sein. Und die queeren Tiere sind endgültig in der biopolitischen Moderne angekommen.

40 Da das weibliche Geschlecht niemals selbst »Geschichte, Weltanschauung und Staat machen« werde, sei es die – nahezu titanische – Aufgabe des männlichen Erkenntnisgeistes, seine eigene Dominanz abzuschaffen und sich im »Geiste« des Mutterrechts umzugestalten. »Vollbringt der männliche Erkenntnis- und Führergeist nicht die große Wendetat der Menschheitskultur, unter Umgehung seiner eigenen Wesensveranlagung [...] zu gestalten, dann: Finis humanitatis.«, Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. 41 W. M. Wheeler: Animal Societies, S. 251f.

30 | EVA JOHACH

Literatur Aelianus: De natura animalium, liber V, 11, deutsch: Thiergeschichten, übersetzt von Friedrich Jacobs, Bd. 5, Stuttgart 1839-1842. Aristoteles: Thierkunde. Griech. und deutsch, hg. und übersetzt von Hermann Aubert und Friedrich Wimmer, Bd. 1, Leipzig 1868. Bergmann, Ernst: Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932. Bergmann, Ernst: »Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts«, in: Deutsches Ärzteblatt (1934), S. 35-37. Blüher, Hans: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Teil I: Der Typus inversus, Jena 1917-1919. Bölsche, Wilhelm: »Zur Geschichtsphilosophie des Bienenstaates« [1905], in: ders.: Weltblick. Der Schrei des großen Pan, Leipzig 1930, S. 212-242. Boukrif, Gabriele/Bruns, Claudia et al. (Hg.): Geschlechtergeschichte des Politischen. Entwürfe von Geschlecht und Gemeinschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2002. Bruns, Claudia: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln/Weimar/Wien 2008. Butler, Charles: The Feminine Monarchie or A Treatise concerning Bees and the due Ordering of them, Oxford 1609 (Reprint Amsterdam/New York 1969). Buttel-Reepen, Heinrich von: Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates, Leipzig 1903. Friedlaender, Benedict: Die Liebe Platons im Lichte der modernen Biologie. Gesammelte kleinere Schriften, Treptow bei Berlin 1909. Heiden, Anne von der/Vogl, Joseph (Hg.): Politische Zoologie, Berlin 2007. Höffe, Ottfried: Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005. Johach, Eva: »Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbewussten in Ernst Bergmanns ›Erkenntnisgeist und Muttergeist‹ (1932)«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld 2009, S. 264280. Koschorke, Albrecht: »Inseminationen. Empfängnislehre, Rhetorik und christliche Verkündigung«, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br. 2003, S.89-110. Mayhew, Robert: The Female in Aristotle’s Biology: Reason or Rationalization, Chicago 2004. Mayhew, Robert: »King-Bees and Mother-wasps: a Note on Ideology and Gender in Aristotle’s Entomology«, in: Phronesis XLIV/2 (1999), S. 127134.

DIE MATRIARCHALE VERSUCHUNG | 31 Merrick, Jeffrey: »Royal Bees: The Gender Politics of the Beehive in Early Modern Europe«, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 18 (1988), S. 7-37. Overbeck, Johann Adolf: Glossarium Melliturgicum oder Bienen-Wörterbuch, in welchem die bisher bey der Bienenpflege bekannt gewordene oder gebräuchliche Kunstwörter und Redensarten nach alphabetischer Ordnung erkläret werden, Bremen 1765. Prete, Frederick R.: »Can females rule the hive? The controversy over honey bee gender roles in British beekeeping texts of the sixteenth-eighteenth centuries«, in: Journal of the History of Biology 24/1 (1991), S. 113-144. Schleiner, Winfried: »Divina virago: Queen Elizabeth as an Amazon«, in: Studies in Philology 75/2 (1978), S. 163-180. Swammerdam, Jan: Bibel der Natur [1737/38], Leipzig 1752. Thorley, John: The Female Monarchy, Being an Inquiry into the Nature, Order, and Government of Bees, London 1744. Wheeler, William Morton: »Animal Societies«, in: ders.: Essays in Philosophical Biology, New York 1966, S. 233-261. Ziege, Eva-Maria: »Die Bedeutung des Antisemitismus in der Rezeption der Mutterrechtstheorie«, in: A.G. Genderkiller: Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005, S. 143-170. Ziege, Eva-Maria: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002.

Spuren ou le gai sa voir du monde animal HELEN FOLLERT

An schönen Tagen herrscht zuweilen völlige Stille in den abgedunkelten Gängen und Räumen des Genfer Musée de l’histoire naturelle. An anderen Tagen wimmelt es von laufenden Kindern, deren aufgeregtes »Regarde ça!«, »Ehh, regarde celui-là«, »Moi, j’adore le kangourou«, »J’aime le zébra, moi«, sich mit dem erzieherischen Versuch, sie zur Raison zu rufen und ihnen zu erklären »Ça c’est un rhinocéros« mischt. Dann spaziert wieder ein einzelnes Duo vorbei. Ein Kind, das den großväterlichen Begleiter Namen um Namen nennen oder vorlesen lässt. Die Ordnung vor Ort ist verführerisch. Auf kleinen Tafeln sind Bezeichnung, Klasse, Rasse, Art, Geschlecht, Alter und Lebensraum des jeweiligen Ausstellungsstückes vermerkt. Zudem wird auf ihren Bestand, die Anzahl der lebenden Exemplare, die vom Aussterben bedrohten oder bereits Verschwundenen hingewiesen. Ich durchquere die Ausstellung, ausgestattet mit einer Lochkamera. Angesichts all der Augen fühle ich mich betrachtet, fixiert, obgleich ich die Schaulustige bin. Eine Besucherin fragt mich, ob ich versuche das Tier zu erwecken, welches ich während einer Aufnahme minutenlang mit kreisender Taschenlampe beleuchte. Nein, doch das Leuchten von Haut und Fell des Tieres strahlt in das Innere des hölzernen Gehäuses und hinterlässt Spuren auf dem Film. Aufgezogen auf eine skulpturale Nachbildung des Körpers ist die kunstfertig präparierte und arrangierte Haut, inmitten des inszenierten Dekors, das einzige Zeichen einer einstigen Präsenz. Die glasäugigen Figuren scheinen eher die projizierten Geschichten und imaginären Konstruktionen ihrer Produzenten zu konservieren und in Form zu fassen, als dass sie mir Zugang verschaffen zu einer möglichen Welt der Tiere. Die Einschreibungen auf den Film überlagern, überblenden, verwischen sich wechselseitig, ohne sich aber völlig zu vermischen oder aufzulösen. Die-

34 | HELEN FOLLERT ses ›Bestiarium‹ erschafft keine hybriden Körper, Monster oder symbolische Werte. Es bedient sich lebloser restituierter Tiere, die ich aus ihrer gegliederten Anordnung herauslöse und auf dem Band neue komponiere. In dieser Komposition bilden sie ein heiteres Ensemble, welches uns still anschaut, so als wüsste es etwas über uns. Helen Follert Genf, den 24. November 2009

SPUREN | 35 Spuren ou le gai savoir du monde animal Lochkamera-Fotografien (Filmstreifen, Mittelformat), Tintenstrahldruck auf 180g-Papier, 60x800 cm Ausstellung im Rahmen der Tagung »Das Geschlecht der Anderen«, Humboldt-Universität zu Berlin, 2009.

Transtier, Intertie r. Tiermotive und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in den Filmen Transamerica und XXY ANNA STRAUBE

Wir haben unsere Sexualität nicht befreit, sondern wir haben sie bis genau an die Grenze herangeführt. […] Durch sie kommunizieren wir folglich nicht mit der geordneten und glücklich profanen Welt der Tiere, vielmehr ist sie ein Riss: er läuft nicht um uns herum, um uns einzugrenzen oder zu bezeichnen, sondern um die Grenze in uns zu ziehen und uns selbst an der Grenze zu entwerfen.ϭ

Nicht nur gehören Tiermasken, Fake Pelze und Animal Prints zu den typischen Accessoires der aktuellen urbanen Queerkultur, sondern auch in neueren amerikanischen Spielfilmen über transgressive Geschlechtsidentitäten ist eine auffällige Dichte an Tiermotiven zu beobachten. Ich habe nun anhand zweier solcher Filme versucht, deren sehr verschiedene Tierwelten als Bebilderungen bestimmter Transgender- und Intersexdiskurse zu deuten. Zum einen geht es hier um den Transgender-Roadmovie Transamerica (R.: Duncan Tucker, USA 2005) und zum anderen um XXY, (R.: Lucia Puenzo, Argentinien 2007), einen der wenigen abendfüllenden Spielfilme über eine_n Intersexuelle_n. Beide Produktionen sind als narratives Kino für ein relativ breites Publikum geschaffen, Ersterer mehr an der Tragikomödie, Zweiterer mehr am 1

Michel Foucault: »Vorrede zur Überschreitung«, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 64-85, hier S. 64.

46 | ANNA STRAUBE Drama-Genre orientiert. In keinem der beiden Filme stehen dabei Tiere als Hauptfiguren im Vordergrund – wie etwa bei King Kong oder Bambi. Tatsächlich spielen Tiere hier weder als handelnde Protagonisten noch als Objekte des Begehrens eine nennenswerte Rolle. Die Tierfiguren sind marginalisiert, sie gehören zum Hintergrund, zur Ausstattung, zum Gesprächsthema, zur Charakterbeschreibung der handelnden Personen. Als immer wiederkehrende Motive sind sie dabei dennoch zentral für die jeweilige Bildsprache und narrative Metaphorik des Films. So habe ich auch auf den in der Filmtheorie seit Laura MulveyϮ so zentralen Begriff des »Gaze« in dieser Untersuchung verzichtet. Der Bezug auf Tiere steht hier weniger im Zusammenhang mit »visual pleasure«, sondern höchstens mit »metaphorical pleasure«. Mein Fokus liegt daher nicht unmittelbar auf Bilderpolitik oder darauf, wessen Betrachterperspektive welche Objekte hervorbringt, sondern er richtet sich zuallererst auf die diskursiven Verbindungen zwischen den dargestellten Tierwelten und den thematisierten geschlechtlichen Grenzgebieten.

T i e r e a l s M e t a ph e r ›Das Tier‹ als das primäre Andere des modernen humanistischen Subjekts erinnert an die Unterwerfung der Wildnis unter die Zivilisation, an die Abspaltung des sexuellen Körpers von der Vernunft, an Exotik, Tod, an ungleiche Machtverhältnisse. Gleichzeitig dienen Tierbilder jedoch immer auch der Vermittlung zwischen ›dem Menschen‹ und ›seinem Ursprung‹. Der Essayist und Kunstkritiker John Berger schreibt 1980 in seinem Essay Why we look at animals, es wäre »nicht unsinnig anzunehmen, dass die erste Metapher das Tier war«ϯ. Dabei bezieht er sich auf Rousseau, der in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen behauptet hatte, Metaphern wären älter als die »eigentlichen« Bedeutungen, die Sprache wäre aus Metaphern »geboren worden«.ϰ Das Besondere, das Neue an diesen fiktiven »ersten Menschen« war also deren Hang zum symbolischen Denken, das heißt die Fähigkeit, gleichzeitig Ähnlichkeit auszudrücken und Differenz zu produzieren. Berger beschreibt hier eine doppelt verschränkte, in gewisser Weise paradoxe Beziehung zwischen Tier, Mensch und Sprache: Indem die Menschen durch Tiermetaphern auf ihre Ähnlichkeit mit den Tieren Bezug nehmen, grenzen sie sich gleichzeitig von ihnen ab. Sie, als Menschen, sind keine Tiere mehr, sie 2 3 4

Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16.3 (1975), S. 6-18. John Berger: »Warum sehen wir Tiere an?«, in: ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1993, S. 12-35, hier S. 16. Ebd.

TRANSTIER, INTERTIER | 47 sind ihnen nur noch ähnlich. Die Tiermetapher repräsentiert also nicht ›den ursprünglichen Menschen‹, sie repräsentiert auch nicht ›das Tier‹, sondern sie produziert einen Menschen, der das Bild eines ihm ungleichen, ähnlichen Anderen als einen Spiegel benutzt, um sich darin indirekt selbst zu erkennen – eine Funktion, die auch für die Zoos der Moderne von Bedeutung ist.ϱ Berger schreibt weiter: »Die Tiere kamen aus dem Land hinter dem Horizont. Sie gehörten dorthin und auch hierher.«ϲ Außerhalb unseres Gesichtskreises, im unerreichbaren Zwischenraum zwischen Himmel und Erde, vermutet Berger einen von Tieren bewohnten Ort – den Garten Eden, das Paradies? Vielleicht ist es sinnvoll, diesen Horizont hier als die imaginäre Grenze zwischen Natur und Kultur, Wildnis und Zivilisation zu interpretieren. So fiele er gleichzeitig auch mit jener Frontlinie zusammen, die von ›weißen europäischen‹ Siedlern nach ihrer Ankunft in Amerika gezogen und immer wieder neu gezogen worden ist, im Kampf gegen die Wildnis, auf dem Vorstoß nach Westen. Im Film Transamerica ist genau diese Grenze immer noch produktiv und wird in einen metaphorischen Zusammenhang gestellt zur Transgression geschlechtlicher Grenzen.

T r a n s t i e r : ü b e r d i e G r e n z e z w is c h e n W i l d n i s und Zivilisation Oh give me a home, where the buffalo roam And the deer and the antelope play With each other. (Song aus Transamerica)

Die Transfrau Bree steht kurz vor ihrer vaginoplastischen Operation, als sie erfährt, dass sie einen 17-jährigen Sohn hat, der in New York wegen Ladendiebstahls (»he shoplifted a frog«…) in Haft sitzt. Auf Druck ihrer Psychotherapeutin fliegt sie widerwillig dorthin, um für ihn zu bürgen, gibt sich Toby aber nicht als sein Vater zu erkennen, sondern als eine Kirchenfreundin »des potenziellen Vaters«. Bree fühlt sich nun gezwungen Toby irgendwo sicher unterzubringen, jenseits von Straßenstrich und illegalen Drogen, will aber vor allem schnellstmöglich zurück nach Los Angeles, um ihre Operation nicht zu verpassen. So machen sich die beiden auf den Weg nach Westen, der tierfreundliche, rebellische Toby mit der Vision einer Karriere im (Porno-) Film-

5 6

Vgl. Christina Wessley: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 54. John Berger: »Warum sehen wir Tiere an?«, S. 15.

48 | ANNA STRAUBE business, die ziemlich gestresste Bree mit dem lang ersehnten Ziel, endlich eine ›wirkliche‹ Frau zu werden.

Imaginierte Tiere jenseits der ›American Frontier‹ Eine kurze Zusammenfassung des Films Transamerica könnte also auch so lauten: Zwei unkonventionelle weiße Amerikaner_innen durchqueren in einem großen alten Auto den nordamerikanischen Kontinent von Ost nach West, wo die Erfüllung ihrer Träume auf sie wartet. Schon allein diese Rahmenhandlung verweist auf die Mythologie der ›American Frontier‹ – die von christlichen Siedler_innen im 17.Jh. begonnene kriegerische Eroberung und sogenannte Zivilisierung des ›Wilden Westens‹ von der Ostküste aus. Diese Mythologie gilt als Identität stiftender Gründungsmythos der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn nicht sogar als »amerikanische Zivilreligion«ϳ. Im Zentrum der ›Frontier‹-Mythologie steht der Kulturwissenschaftlerin Brunotte zufolge die Obsession der Puritanier_innen für eine sowohl dämonisierte als auch sakralisierte ›Wildnis‹. Einerseits als gefährliches Chaos gedacht, in das sie abzufallen drohten, gilt die ›Wildnis‹ den religiösen Siedler_innen andererseits als das gelobte Land, die biblische Wüste, die durch Disziplin und harte Arbeit wieder in einen Garten Gottes verwandelt werden kann (und soll).ϴ Etymologisch ist das englische Wort ›Wild-deor-ness‹ dabei direkt an das Vorhandensein von wilden Tieren geknüpft. »Menschen, die diesen Raum betreten, laufen Gefahr, selbst in einen wilden, unkontrollierten Zustand zu verfallen, verzaubert, wirr oder monströs zu werden.«ϵ Eine theologische Verortung dieser Phantasien findet sich bei Jennifer Mason. Sie zeigt, dass ›Wildnis‹ im puritanischen Christentum offenbar als eine »condition visited upon animals as punishment for Adam and Eve’s disobedience toward God.« verstanden wurde.ϭϬ Dem Buch Genesis zufolge seien die Tiere ursprünglich alle zahm gewesen, hätten sich vegetarisch ernährt und mit den Menschen, denen sie selbstverständlich untergeordnet waren, friedlich zusammengelebt. Da sie also überhaupt erst durch den menschlichen Sündenfall aggressiv (›wild‹) geworden sind, kann dieser möglicherweise durch eine erneute Zähmung und Unterwerfung der Tiere wiedergutgemacht werden.

7

Martin Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western, Frankfurt a.M. 2006, S. 60. 8 Ulrike Brunotte: Puritanismus und Pioniergeist: die Faszination der Wildnis im frühen Neu-England, Berlin/New York 2000, S. 11. 9 Ebd., S.10. 10 Jennifer Mason: Civilized Creatures. Urban Animals, Sentimental Culture, and American Literature, 1850-1900, Baltimore 2005, S. 8.

TRANSTIER, INTERTIER | 49 Im inzwischen längst erfolgreich kolonisierten Amerika des 21. Jahrhunderts ruft der Roadtrip von Bree und Toby den mythologisierten Vorstoß in die ›Wild-deor-ness‹ filmisch wieder auf. Die ›Frontier‹ hat sich jedoch in einen rein imaginären Raum verschoben und markiert hier nur noch die diskursive Grenze zu einer abwesenden Post- oder Hyper-›Wildnis‹, die inzwischen komplett zu den Kunstprodukten gerechnet werden kann. So begegnen die beiden Abenteurer_innen auf ihrem Weg durch den Kontinent nicht einem einzigen lebenden Wildtier. Ein platt gefahrenes Opossum, ein frisiertes Schoßhündchen, ein Plüschaffe, ein Plastikdelphin, motorisierte SouvenirSquirrels, imaginäre Schlangen und ein paar wenige domestizierte Pferde und Hunde bilden die Fauna von Transamerica. Diese Transtiere, die Haustiere, Tier-Imitate und Tier-Phantasien des Diesseits säumen die Reise der beiden Protagonist_innen und geben ihnen dadurch immer wieder die Möglichkeit, sich metaphorisch mit Ursprünglichkeit, ›Wildnis‹, Differenz und Körperlichkeit auseinanderzusetzen. Ihr tragikomischer Roadtrip durch den künstlichen ›Wilden Westen‹ kann dabei auch als scheiternder Versuch der Konstruktion einer alternativen persönlichen Herkunft gelesen werden. Sowohl Vater als auch Sohn werden auf ihrer Reise unfreiwillig mit ihren realen Vätern und Müttern konfrontiert. Beide müssen sich den Verletzungen stellen, die ihre Eltern ihnen zugefügt haben und der Enttäuschung, die sie für sie bedeuten. Die gleichzeitig idealisiert entfernte und real unterdrückte Tierwelt Transamericas illustriert aber nicht nur diesen Konflikt zwischen imaginierter und verdrängter Herkunft, sondern sie dient vor allem auch der Bebilderung eines Gender-Diskurses, der die Authentizität des natürlichen Körpers negiert und Geschlecht als das Produkt materiell-semiotischer Konstruktionen kennzeichnet. Die religiöse, koloniale Grenzlinie der ›American Frontier‹ wird dabei als ein Ort der Vorläufigkeiten, Kämpfe, Zähmungen und Heilsversprechen in Brees Transkörper eingeschrieben. Auch wenn die transsexuelle Bree als christliche Missionarin ein Fake ist, diese Ausweichidentität sozusagen nur aufgesetzt ist, wie ihr Basecap mit der Schrift »I am proud to be a christian«, verknüpft ihre Doppelrolle auf komplexe Art und Weise den Transgender-Diskurs mit der christlichen ›Frontier‹-Mythologie. Die Tiermotive häufen sich in der Mitte des Films. Es wird nun auf Tobys Verlangen draußen gecampt. Doch das für die Western-Romantik obligatorische Lagerfeuer scheitert an fehlenden Streichhölzern – so sitzen beide nun im Schein einer elektrischen Lampe und zitieren aus dem ›weißen‹ Diskurs über amerikanische Ureinwohner_innen. Bree (wie auswendig gelernt): »Certain Native American tribes of the northern plains believed that loons were ancestoral spirits, trying to communicate with the physical world.« Toby (überzeugt, aber falsch liegend): »My real dad is part Indian. I mean he never told me, but I just know: it’s an Indian thing.« Das heimliche Ziel dieser

50 | ANNA STRAUBE transamerikanischen Reise – das »Land hinter dem Horizont« – wird offenbar nicht nur von Tieren bewohnt, sondern auch von ethnisierten Menschen: den Native Americans. Historisch wurden sie als »Edle Wilde« parallel zu ihrer realen »Ausrottung« fiktionalisiert und mythologisiert.ϭϭ Tobys eingebildeter indianischer Vater scheint hier auf genau diese Fiktionalisierung zu verweisen. Noch deutlicher wird dies in Brees wiederholtem Verweis auf das anthropologische Wissen, Native American Transgenders seien einst, vor ihrer brutalen Verfolgung durch die christlichen Kolonisatoren, als »Two spirits« respektiert und verehrt worden. Das von indianischen Vätern, Eulen-Geistern und Two-Spirit-Wesen bevölkerte imaginäre »Land hinter dem Horizont« dient hier als moralischer Bezugspunkt für das (Wieder-) Einfordern einer Toleranz, die ›früher‹ schon einmal vorhanden war. Tiere und Transgender werden dabei nicht einander entgegengesetzt – analog zu einer Sex/Gender- oder Real/Fake-Trennung –, sondern gemeinsam der christlichen Kultur gegenüberstellt. Auch das ist allerdings nicht neu: So wurden Native Americans durch die Spanischen Conquistadores gerade wegen der »Irrationalität« ihres Two-Spirit-Konzepts auf die Stufe von rechtlosen Tieren gestellt, um damit ihre Unterwerfung zu rechtfertigen.ϭϮ Kurz nachdem den zwei Reisenden dann von einem radikal-toleranten, aber betrügerischen Veganer all ihr Besitz geklaut worden ist, verlieben sich Bree und ein Cowboy-Hut tragender hybrider Native namens »Calvin Many Coats« heimlich ineinander und beim Mescal-Trinken zu Gitarrenspiel, umgeben von zahmen Pferden, erscheint Bree das erste Mal glücklich. Calvin, als einziger, lässt ihr das Recht auf ihr kleines Geheimnis: »Every woman has the right to a little secret«. Nicht nur der Filmtitel, die Struktur des Roadtrips und die Tierfiguren, sondern vor allem auch der wiederholt romantische Bezug auf Native Americans führen die Transperson Bree so immer wieder an die ›American Frontier‹. Es ist, als würde diese mitten durch ihre Transidentität und jede einzelne Station ihrer Reise hindurchgehen und als würde die Protagonistin immer wieder zwischen den Seiten der ›Frontier‹ hin- und herwechseln auf ihrem Weg der Transformation von Mann zu Frau.

11 Martin Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 67. 12 Joan Roughgarden: Evolution’s Rainbow. Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People, Berkeley/Los Angeles 2004, S. 335.

TRANSTIER, INTERTIER | 51

Der Zoo und das Versprechen von Originalität Toby: Do you like zoos? Bree: I don’t mind the modern ones, I guess, the animals may not be free, but at least they are safe. Toby: Yeah me too. Good night.

Neben den Verknüpfungen zum puritanischen ›Wild-deor-ness‹-Diskurs und der ›Frontier‹-Mythologie gibt es in Transamerica jedoch noch ein zweites wichtiges Motiv in Bezug auf Tiere und Transgender: den Zoo. Nachdem die beiden Protagonist_innen unvorbereitet einer Transfrauen-Party im Haus einer Freundin Brees beigewohnt haben, entschuldigt Bree sich für diese »Ersatz«-women, die »etwas vorspielen, was sie nicht sind«, und sofort springt die Unterhaltung zum Thema Zoo, dann zu Tobys imaginiertem Vater sowie Brees angeblich toten Eltern und dann wieder zurück zum Zoo. Doch wo sind die Zusammenhänge zwischen Transgender-Performance, fiktionalisierten Eltern und Zootieren? John Berger beschreibt den Zoo als einen Ort des doppelten Rückbezugs auf Originalität: Erwachsene gehen mit ihren Kindern in den Zoo, um diesen die Originale jener Nachbildungen zu zeigen, die in Trickfilmen, Bilderbüchern und in Form von Kinderspielzeug flächendeckend die westliche urbane Kinderwelt bevölkern. Gleichzeitig hoffen sie dabei auch darauf, »etwas von der Unschuld jener reproduzierten Tierwelt wiederzufinden, an die sie sich aus ihrer eigenen Kindheit erinnern«ϭϯ. Der Zoo verspricht also unechten Tierkopien entsprechende echte Tieroriginale auszustellen, und den Besucher_innen darüber hinaus eine geschichtslose, ursprünglich gebliebene Welt zeigen zu können. Der wiederkehrende Verweis auf Zootiere, Kuscheltiere und Tierspielzeug in Transamerica verbindet dieses Motiv nun mit dem Diskurs über die Echtheit von Geschlecht. Die größte Furcht der Protagonistin Bree ist es, nicht als ›echte Frau‹ wahrgenommen zu werden. In aufwändigem Einstudieren und ständigem Wiederaufführen ihrer Weiblichkeit kopiert sie diese von einer Kopie ohne Original. Judith Butler hat bestimmte (Trans-) Gender Performances in Rückgriff auf Fredric Jameson auch als Pastiche beschrieben: als eine Form der Parodie, die dann zum Tragen kommt, »when the normal, the original is revealed to be a copy, and an evitably failed one, as an ideal that no one can embody.«ϭϰ Der Protagonistin Bree reicht die soziale Performance von Weiblichkeit jedoch nicht aus, sie will auch genital eine Frau werden, sie will endlich komplett sein. Hinter der Grenze, die sie in Form einer 13 John Berger: »Warum sehen wir Tiere an«, S. 30. 14 Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York 1999, S. 176.

52 | ANNA STRAUBE chirurgischen Geschlechtsumwandlung dafür überschreiten muss, liegt das Versprechen einer konstruierbaren Ursprünglichkeit, einer zukünftigen Originalität, die allein von ihrer Entschiedenheit und dem Zugang zu den notwendigen Ressourcen und Technologien abhängt. Konstruierte Originalität heißt hier aber, im Unterschied zu Judith Butlers Pastiche, dass der Ursprung dennoch ein Sehnsuchtsobjekt bleibt, ein gerade in der Betonung seiner Abwesenheit und Zukünftigkeit emotional mächtiger Diskurs. Bree rehabilitiert im oben zitierten Gespräch den Zoo – verteidigt ihn vorsichtig gegen eine bereits vorausgesetzte Kritik: »I dont mind the modern ones, I guess. The animals may not be free, but at least they are safe.« Sie ist sich zwar nicht ganz sicher, sie schätzt aber, dass sie nichts gegen die Ausstellung, Verbildlichung, Disziplinierung und Domestizierung wilder Tiere einzuwenden hat, denn in gewisser Hinsicht lehnt Bree die ›Wildnis‹ ohnehin ab bzw. fürchtet sich vor ihr. Ihre präoperative ›Authentizität‹ ist nicht im männlich konnotierten ›Wilden Westen‹ zu suchen, wo man in »Butch«-Schlafsäcken schlafen und draußen pinkeln mussϭϱ, sondern vielmehr im – ebenso imaginären – »Ladies Room«, den sie im Laufe des Films auch ständig gezwungen ist aufzusuchen. Solange ihre ungeliebte »biological history« noch an ihrem Penis festgemacht werden kann, ist identitäre Sicherheit für Bree wichtiger als körperliche Freiheit und ist der kategorisierende Blick, der in ihrem Erscheinungsbild das Idealbild einer Frau wiedererkennt, tatsächlich ausschlaggebend für ihre soziale Existenz. »Der Zoo ist der Ort der gezähmten, normalen Natur.«ϭϲ Gleichzeitig lebt der Zoo laut Berger trotzdem oder gerade deshalb von der Hoffnung des modernen Menschen, dort etwas Ursprünglicheres, Wilderes, Authentischeres als sich selbst zu Gesicht zu bekommen. Diese Hoffnung wird beim Zoobesuch enttäuscht – ebenso wie vielleicht auch die Westküste als geografische Endstation der ›American Frontier‹ eine Enttäuschung darstellt. Kurz vor Ende des Films ist Toby zu sehen, wie er, angekommen am Pazifischen Ozean, sein leeres Drogen-Tütchen noch einmal ausleckt und wegschmeißt, die Kamera schwenkt auf ein paar Möwen. Er scheint zu denken: »Und jetzt?« Angekommen am westlichen Horizont, am Ziel von Transamerica und gleichzeitig immer noch auf der Grenze. Bree hingegen absolviert in diesem Moment ihre vaginoplastische Operation, die ein »kompletter Erfolg« wird und gleichzeitig auch eine schmerzhafte Trennung von sowohl ihrem Sohn Toby als auch ihrer Herkunftsfamilie darstellt. 15 Man denke an den Film Brokeback Mountain und dessen Erotisierung der sehnsüchtigen Wild-West-Männlichkeit: einer Lebensform, die nur auf Pferden und in den Bergen ausgelebt werden kann, fern der weiblichen, domestizierten ›Zivilisation‹. 16 Christina Wessley: Künstliche Tiere, S. 134.

TRANSTIER, INTERTIER | 53 So führt der Film seine Protagonist_innen immer wieder an die Grenzen zwischen ›Wildnis‹ und ›Zivilisation‹, Herkunft und Projektion, Original und Fake. Vor allem aber scheint diese Reise eine Heimreise zu sein, an einen sehnsuchtserfüllten Ort, den es noch nicht oder schon lange nicht mehr gibt: das »Land hinter dem Horizont«. So singt Dolly Parton am Ende des Films: »I’m just travelling travelling travelling, I am just travelling travelling home.« Doch der Refrain wird nur ein einziges Mal in dieser Version gesungen, schon in der ersten Wiederholung zitiert er sich selbst ein wenig anders: »I am just travelling travelling through.« Die Heimreise wird zu einer Durchreise, zur Durchquerung oder Überquerung dessen, was sich zwar ursprünglich nennt, aber für die Reisenden längst zu einem Projekt geworden ist und in der Zukunft gesucht werden muss.

Intertier: nacktes Leben aus dem Urmeer d e r E vo l u t i o n Alex: What is it? Alvaro: A rare species. Don’t touch it! Alex: What do you know about the species in my house?

Während der Film Transamerica eine horizontal und okzidental vorstoßende Reise durch einen (post-) ›zivilisierten‹ Kontinent inszeniert, spielt XXY hingegen in einem Haus in der ›Wildnis‹. Das argentinische Ehepaar Kraken hat sich in ein abgelegenes Haus in der Nähe eines Fischerdorfes an der uruguayischen Atlantikküste zurückgezogen, um sich und ihr nicht-operiertes intersexuelles Kind Alex vor feindlichen Reaktionen aus der Gesellschaft zu schützen. Nestor Kraken ist Meeresbiologe und seine Aufgabe im Fischerdorf besteht in der Untersuchung, Behandlung und Pflege gestrandeter oder verwundeter Riesenschildkröten. Rahmenhandlung des Films ist der Besuch eines befreundeten Ehepaars aus Buenos Aires mit ihrem Teenager-Sohn Alvaro. Der Vater ist plastischer Chirurg und Alex’ Mutter hat ihn auf eigene Faust eingeladen, um die Möglichkeiten einer genitalen Operation zu diskutieren. Denn die inzwischen fünfzehnjährige Alex hat aufgehört ihre weiblichen Hormone zu nehmen und die Mutter befürchtet, jetzt sei für Alex die Zeit gekommen, sich für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden. Alex sagt dem zurückhaltenden Alvaro, der von ihrer Intersexualität nichts weiß, schon beim ersten Treffen, dass sie Sex mit ihm haben will, und in der Unwetternacht, in der es später tatsächlich dazu kommt, treten die Spannungen zwischen allen Protagonist_innen offen zu Tage. Nachdem beiden Krakens klar geworden ist, dass das Chirurgenpaar mit ihrer intoleranten Einstellung gegenüber Intersexualität zu genau den Leuten gehört, mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollten,

54 | ANNA STRAUBE fährt Nestor einem alten Zeitungsartikel folgend zu einem als Mann lebenden Intersexuellen, um sich Rat zu holen. Dieser unterstützt den Vater in seiner noch unsicheren Haltung, Alex die volle Wahlfreiheit zu lassen und sie gegebenenfalls auch als Sohn zu akzeptieren. Als sie nach der Gewitternacht und einer wortkargen Aussprache mit ihrem Vater über den Strand nach Hause läuft, wird sie von Fischerjungs überwältigt und in einer Vergewaltigungsszene dazu gezwungen, »es« ihnen zu zeigen. Alex’ bester Freund Vando, dem sie kurz vorher in einem Streit die Nase gebrochen hatte, taucht auf und beschützt Alex und später am Lagerfeuer ist er es, der dem verwirrten Alvaro klarmacht: Vergiss Alex, »sie ist zu viel für dich«. Bevor Alvaro mit seiner Familie am nächsten Morgen abfährt, fragt Alex ihn provozierend, was er am meisten bereue, sie getroffen zu haben, oder »es« nicht gesehen zu haben. Daraufhin öffnet sie von sich aus ihre Hose und zeigt Alvaro ihr genitales Geschlecht, überzeugt davon, dass er in Wirklichkeit etwas anderes sucht und dass sie sich nicht wiedersehen werden.

›Das bloße Leben‹ im Zeitalter der Biomacht Die vorhin beschriebenen Transtiere waren konstruiert, individuell, oftmals immateriell: Sie erschienen als Idealbilder, Erinnerungsbilder, abwesende, imitierte, domestizierte oder auf Menschen übertragene Tiere. Die Intertiere in Lucia Puenzos Drama kommen jedoch aus einer ganz anderen Richtung: Sie stammen aus dem evolutionären Kontinuum, aus der materiellen ›Ursuppe‹ des Lebens. So beginnt der Film mit schleichenden barfüßigen Schritten durch einen Wald, parallel geschnitten mit blubbernden, pulsierenden TiefseePflanzen-Fisch-Korallentieren. Ist der Wald am Anfang des Films ein Verweis auf den anthropologischen ›Urwald‹, aus dem der Homo Sapiens einst gekommen sein soll? Soll die Tiefsee an das evolutionäre ›Urmeer‹ erinnern, den Ort der Entstehung des bakteriellen Lebens auf der Erde? Fast alle Szenen des Films spielen am Meer, selbst im Haus ist das Meer meistens durch ein Fenster zu sehen. Die Krakens haben Salzwasser-Aquarien in ihrem Haus. Doch im Gegensatz zu Transamerica kommt in XXY nicht ein einziges im Sinne von Zähmung domestiziertes Tier vor. Die Intertiere, das sind uralte, verletzte oder getötete Riesenschildkröten, Tiefseetiere, Insekten, Geckos, kleine Chamäleons, die auf Alex’ Fuß sitzen oder essbare getötete Tiere, von deren Fleisch der Chirurg Stücke abschneidet. Gab es an der ›Transamerican Frontier‹ nur noch die Imagination von ›Wildnis‹, so ist dieselbe hier präsent und lebendig, wenn auch den Menschen unterlegen und permanent vom Tod bedroht. Säugetiere und Vögel kommen überhaupt nicht vor. Dieses wirbellose und reptile Setting scheint eine evolutionäre Vorzeit aufzurufen, die um

TRANSTIER, INTERTIER | 55 Jahrmillionen älter ist als die menschlichen Gesellschaften und deren GenderKonstruktionen. Im Vergleich zu den Tierimitaten in Transamerica, die eher mit poststrukturalistischen und psychoanalytischen Theorien kommunizieren, verweisen diese urzeitlichen Intertiere damit stärker auf die in den Gender Studies zur Zeit hochaktuelle Debatte um die Lebenswissenschaften. Im Kontext der Verbindung von Feminist Studies mit Science oder Animal Studies wird dabei auch von einem »Neuen Materialismus«ϭϳ gesprochen.ϭϴ Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen die Kritik am anthropozentrischen, carno-phallogozentrischen Humanismus und die theoretische Orientierung weg von ›Doing Gender‹ hin zur Körperlichkeit des Geschlechts, zu Begehren, Affekt, (Bio-) Technologie, Evolution, Biopolitik und dem ›Leben als solchen‹. [W]as mit der ›Rückkehr des Lebens an sich‹ und der ›wahrhaften Körper‹ am Ende der Postmoderne unter dem Einfluss fortgeschrittener Technologien wiederkehrt, sind nicht nur die ›Anderen‹ in Form des klassischen Motivs der Moderne: Frau/ Ureinwohner/Natur. Was heute zurückkehrt ist ›der/das Andere‹ des lebendigen Körpers in seiner humanistischen Definition: das andere Gesicht von Bios oder vielmehr Zoe, die Fortpflanzungskraft des nicht-menschlichen, prä-menschlichen oder tierischen Lebens.ϭϵ

Die ›post-humanistische‹ Feministin Rosi Braidotti verweist in diesem Zitat auf die aristotelische, von Giorgio AgambenϮϬ wieder aufgegriffene Unterteilung des Lebens in »zoe« – das nackte, bloße, tierische Leben – und »bios« – die politische, diskursive, soziale Existenz. Für Braidotti steht »zoe« »für die vernunftlose Vitalität des Lebens, die unabhängig und ungeachtet rationaler Kontrolle passiert«Ϯϭ und bietet ihr damit die Grundlage für eine nomadischökologische Ethik lebendig vernetzter Tiermaschinen gegen das singuläre, humanistische ›Ich‹ des kapitalistischen Individualismus. 17 Rosi Braidotti zufolge teilt sich der ›Neue Materialimus‹ dabei in zwei Stränge auf: Der eine, dem Braidotti selbst zuzurechnen wäre, bezieht sich auf die politische Ontologie von Gilles Deleuze: das ›Tier-Werden‹, ›Minoritär-Werden‹, die anti-singuläre nomadische Multiplikation. Der zweite Strang sei die stärker epistemologisch orientierte feministische Wissenschaftsforschung (z.B. Evelyn Fox Keller, Susan Harding). 18 Siehe z.B. Myra J. Hird: »Animal Trans«, in: dies./Noreen Giffney: Queering the Non/Human, Ashgate 2008, S.227-243 und Rosi Braidotti: »Biomacht und posthumane Politik«, in: Marie-Luise Angerer/Christiane König (Hg.): Gender Goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, Bielefeld 2008, S. 19-39. 19 Rosi Braidotti: »Biomacht und posthumane Politik«, S. 29. 20 Giorgio Agamben: Homo Sacer, Frankfurt a.M. 1995, S. 11. 21 Rosi Braidotti: »Biomacht und posthumane Politik«, S. 29.

56 | ANNA STRAUBE Auch im Film XXY wird »das bloße Leben« stark gemacht, die Sympathien scheinen deutlich auf der Seite von »zoe« zu liegen. Das wilde und grenzenlose Kontinuum des Lebens – wie es sich in Alex’ Intersexualität zu manifestieren scheint – wird der urbanen Gesellschaft entgegengesetzt und außerhalb einer kontrollierenden Macht verortet, die sozial, institutionell und genuin menschlich gedacht wird. Nachdem Alex’ Mutter von ihrem Mann erfahren hat, dass Alex Sex mit Alvaro gehabt hat, fährt sie mit dem Chirurgenehepaar am Meer entlang und hält plötzlich an der Stelle an, wo sie »mit Alex schwanger« geworden ist. Eine gestresste Zigarette zwischen den Steinen rauchend erzählt sie, wie sie in dem Moment Angst hatte, von anderen Leuten gesehen zu werden – und fügt hinzu: »It’s ridiculous. To worry about what other people think.« Alex wurde also hier in der marinen Wildnis gezeugt und als sie geboren wurde, sagt ihr Vater, war sie »perfekt«. In der Stadt zu wohnen hieße, dieses perfekte Kind in die monströse Leere zwischen den Kategorien einer binären Geschlechterordnung fallen zu lassen oder es aus sozialem Druck heraus dem normativen Zugriff von Chirurgen auszuliefern, und so ziehen die Krakens ein einsameres, ländliches Leben vor, in der soziale Intoleranz scheinbar leichter auszublenden ist. Dennoch deckt sich die visuelle und narrative Politik des Films XXY nicht mit dem nomadischen Vitalismus von Rosi Braidotti. Denn die Hauptfigur Alex ist trotz oder gerade wegen ihrer Ausgrenzung aus dem binären GenderSystem ein Individuum mit einer starken Subjektivität, auch wenn sich diese Subjektivität nicht unbedingt durch verbale Sprache artikuliert: Im Film XXY wird überhaupt nur sehr wenig gesprochen. Vor allem aber teilt der Film weder Braidottis Euphorie für die »vitale Fortpflanzungsfähigkeit« als Grundelement des Lebens, noch verlangt er von seiner Protagonist_in eine ökofeministische Verbundenheit mit der Natur. Als Alex Alvaro am Strand einen Käfer abzeichnen sieht und er zu ihr sagt, sie solle ihn nicht anfassen, der sei selten, zerquetscht sie diesen Käfer mit der größten subjektiven Entschlossenheit: »What do you know about the species in my house?!« Alex weiß, dass sie etwas »Besonderes« ist und Gefahr läuft, als »Monster« betrachtet zu werden. Sich ein Selbst zu erkämpfen, das mit den Klassifikationen der Naturwissenschaften umgehen kann und ihnen etwas entgegenzusetzen weiß, ist für sie unverzichtbar und so hat sie keinen Grund, Braidottis Perspektive einer allzu harmonischen, subjektlosen Bio-Techno-Symbiose zu teilen.ϮϮ 22 Auch isst sie im Gegensatz zum urbanen Bürgersohn Alvaro Fleisch. Bei ihrem einzigen Einzeltreffen mit dem Chirurgen steht dieser in der Küche und schneidet Fleisch. Alex geht zu ihm hin und fragt ihn, ob er ihr Haus mag und ob er gerne Leute aufschneidet und sie nimmt sich ein Stückchen Fleisch und kaut daran, gespielt selbstverständlich, doch die Situation bleibt angespannt. In der

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Au t h e n t i z i t ä t u n d d e r N e u e M a t e r i a l i s m u s d e r L e b e n sw i s s e n s c h a f t e n Der Bezug auf Biologie und Lebenswissenschaften ist in XXY also zunächst positiv: Die in diesen Wissenschaften beschriebene Welt hat eine entscheidende Qualität mit Alex’ Welt gemeinsam: die natürliche Artenvielfalt. Das in permanenter Veränderung begriffene, ›wilde‹ tierische Leben verfügt über eigene Kraft und diese ist den menschlichen Akteur_innen, anders als in Transamerica, bis heute präsent. Gleichzeitig ist dieses Leben jedoch permanent bedroht und wird auch gerade über diese Bedrohung erst konstituiert. Gesellschaft, Stadt/Staat, Medizin, Bürgerlichkeit und Männerhorden (die symbolische Vergewaltigung von Alex wird personell und instrumentell mit dem Männerkollektiv des Fischerhafens in Verbindung gebracht) werden als Gegner der Artenvielfalt des Lebens dargestellt. Auch die Berufe der beiden Väter – Biologe vs. Mediziner – scheinen jeweils einen positiven und einen negativen Aspekt der Lebenswissenschaften zu inszenieren. Als Alvaro und Alex nach einer Schildkröten-Rettungsaktion dem Meeresbiologen bei der Arbeit an einer verletzten Schildkröte zusehen, meint Alex: »Am Ende sind unsere Väter im selben Business.« Damit wird zunächst erneut eine Aussage über die Ähnlichkeit oder Analogie von tierischen und menschlichen Körpern gemacht. Doch ihr Vater wirft Alex einen skeptischen Blick zu: Er scheint dem nicht zuzustimmen, denn er sieht seine Aufgabe darin, seltene Spezies vor der Ausrottung zu schützen, während der plastische Chirurg menschliche Körper nach idealen Vorbildern rekonstruiert. Auch als Väter sind sie entgegensetzt konzipiert: Der Chirurg liebt seinen Sohn Alvaro nur unter der Bedingung der Heterosexualität und des Talents, während Nestor Kraken seine Alex liebt, so wie sie ist: von Natur aus perfekt. Im Gegensatz zum Film Transamerica wird (plastische) Chirurgie hier nicht mit der Herstellung einer visionären, selbstbestimmten Authentizität assoziiert, sondern mit der Macht, von der Norm abweichende natürliche Körper dem binären Geschlechtermodell anzupassen. Hier wird deutlich, dass der Rekurs auf ›Authentizität‹ ganz unterschiedlich strukturiert sein kann, je nachdem, ob sie in einem »Land hinter dem Horizont« imaginiert wird oder

Koppelung an die kontroverse Figur des Chirurgen wird angedeutet, dass es sich bei Fleisch eigentlich um totes Tierleben handelt. Hierin, im Töten des Käfers und auch im Bild der getöteten Schildkröte, die Alex’ symbolische Vergewaltigung visuell vorwegnimmt, kommt ein weiterer Aspekt der lebenswissenschaftlichen Wende zum Vorschein: Durch einen Diskurs, der das Leben zum omnipotenten, dynamischen Agenten erklärt, fällt das Stigma der Differenz nun auf dessen binäres Anderes: den Tod (Vgl. Rosi Braidotti: Biomacht und posthumane Politik, S. 31).

58 | ANNA STRAUBE körperlich präsent ist.Ϯϯ Auch Mira L. Hird plädiert in ihrem Aufsatz Animal Trans dafür, Authentizität und ›Trans‹ neu zu denken. Mittels zahlreicher Beispiele aus der Tierwelt, die als trans-, inter-, homo-, a- oder polysexuelles Verhalten gelesen werden können, versucht sie zu zeigen, dass das – ›authentische‹ – tierische Leben in seiner Diversität und Entwicklung keineswegs eine heterosexuelle Ordnung favorisiert und der übliche Fokus auf (reproduktive) Funktionalität einen großen Teil der Evolution (-stheorie) unterschlägt: Evolution is commonly assumed to favor sexual reproduction over non-sexual reproduction and sex differences over sex diversity. [...] New materialism on the other hand, has generated a renewed interest in what I argue have become more silent, yet nevertheless intrinsic, elements of Darwinian theory: contingency, diversity, nonlinearity and self-organisation (all of which are distinctly non-functional).Ϯϰ

So soll durch die Umdeutung und Aneignung der Evolutionstheorie der heterosexistische Biologismus mit seinen eigenen Mitteln geschlagen werden. Die Natur als ein ungeordnetes, buntes, dynamisches und zufälliges System zu sehen, das keine klaren Botschaften für die Menschen produziert, verlegt die ›natürliche Ordnung‹ in den Bereich der menschlichen Wissensproduktion. Vorausgesetzt, dass Menschen ebenfalls Tiere sind, folgt aus der Existenz so vieler ›Queerer Tiere‹ und des erdgeschichtlich relativ jungen Alters heterosexueller Fortpflanzung, dass Human Trans-Inter-Queer keineswegs ›künstliche‹ Phänomene sind.Ϯϱ Wie im Film XXY wird die Frage nach der ›Urzeit‹ oder dem ›Ursprung‹ hier zur notwendigen Grundlage für die Bewertung von Gender-Phänomenen. Es reicht dabei aber nicht aus, entweder die ›Ursprungstiere‹ oder den heutigen Menschen zu kennen, auf die Entwicklungsgeschichte kommt es an. Und so beschäftigt sich der ›gute‹ Vater Nestor nicht nur mit Schildkröten: Er hat auch ein evolutionsbiologisches Buch geschrieben mit dem Titel: Origines de Sexo – Ursprünge des Geschlechts. Im Laufe des Films gibt Alex ihm das Buch zurück mit den Worten: »I finished it« (engl. UT). Es bleibt unklar, ob sie es wirklich gelesen hat, doch mit der Evolutionsgeschichte im Hintergrund kann sie nun selbstbewusst in die Zukunft blicken und so endet der Film mit einem Blick auf die weite See und einer ebenso traurigen wie selbstbewussten Alex, die den Arm ihres BiologenVaters um ihre Schulter legt und mit seiner Unterstützung entschlossen ist,

23 Trotz der Unterschiede zwischen den Konzepten ›Authentizität‹ und ›Ursprünglichkeit‹ halte ich eine Analogie hier für unproblematisch, da es mir auf den Gegensatz echt vs. falsch ankommt. 24 Myra J. Hird: »Animal Trans«, S. 239. 25 Vgl. ebd., S. 240.

TRANSTIER, INTERTIER | 59 das zu bleiben, was sie ist – auch wenn das hieße, sich körperlich in Richtung Mann zu verändern.

Schluss: Transtier und Intertier an der Grenze zum Ursprünglichen Aber indem es sich die Aufgabe stellt, das Gebiet des Ursprünglichen wiederherzustellen, entdeckt das moderne Denken darin sofort das Zurückweichen des Ursprungs, und es nimmt sich paradoxerweise vor, in der Richtung vorzugehen, in der sich dieses Zurückweichen vollzieht und sich unaufhörlich vertieft.Ϯϲ

Auch die Tierfiguren in den beiden Filmen können kein solches »Gebiet des Ursprünglichen« wiederherstellen. Doch scheint ihr Auftauchen tatsächlich eng mit der Frage nach der Originalität des sexuellen Körpers verbunden zu sein. Bei Berger erklärt sich diese Verbindung damit, dass der Ursprung des Menschen in der sprachlichen Geste der Abgrenzung vom Tier begründet liegt – einer Geste, die gerade durch die metaphorische Formulierung von Ähnlichkeit Differenz produziert. Aus diesem Paradox entsteht um das Tier herum ein visionäres »Land hinter dem Horizont«, das unerreichbar bleibt, weil dieser Horizont, wie oben beschrieben, bei Foucault in der Richtung zurückweicht, in der man vorgeht. Im Film Transamerica verläuft er entlang der ›American Frontier‹, einer kolonialen Grenzlinie der ›Zivilisation‹, die nach ihrer Ankunft im äußersten Westen des Kontinents eine doppelt unerfüllbare Sehnsucht sowohl nach ›Ursprünglichkeit‹ als auch nach fortschreitender Grenzverschiebung hinterlassen hat. Die Zähmung oder Metamorphose des transgeschlechtlichen Körpers, der seine »biologische Geschichte« zugunsten einer selbstbestimmten Materialisierung hinter sich lassen will, wird in der filmischen Narration dabei mit künstlichen, domestizierten und imaginären Tieren bebildert. Verweise auf die Entstehung des amerikanischen Kontinents und die deutliche Kritik an der Kolonisierung der einst transgendertoleranten Native Americans ändern dennoch nichts an der Grundstruktur des transamerikanischen Roadtrips: Es gibt nur ein Vorwärts, kein Zurück. Ganz anders in XXY: Anstelle eines horizontalen Ursprungsbegriffs, der sich stets hinter die Grenzlinie der anthropologischen Differenz oder des verlorenen Paradieses zurückzieht, wird ›Ursprünglichkeit‹ hier eher vertikal mit Zeugung, Entstehung und evolutionärer Entwicklung in Verbindung gebracht. 26 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1971, S. 402.

60 | ANNA STRAUBE Die Entdeckung Darwins, dass alle Lebewesen sich aus denselben Vorfahren entwickelt haben und der Mensch also genealogisch mit den ›Ur‹-Lebewesen in Verbindung steht, liefert dabei den theoretischen Hintergrund, auf dem Alex’ Intersexualität als naturgegeben verteidigt wird. Anders als in Transamerica wird der chirurgische Eingriff in ihren geschlechtlichen Körper als Ausdruck der normalisierenden Macht der Gesellschaft problematisiert, welche im Vergleich zur ›Ur‹-Vielfalt des »bloßen Lebens« negativ konnotiert ist. Hier an der uruguayischen Atlantikküste scheint es die ›Wildnis‹ auch tatsächlich noch zu geben: in Form eines drastischen Klimas, vor allem aber einer urzeitlichen Fauna, die ausschließlich aus Reptilien und wirbellosen Tieren besteht. ›Wildnis‹ muss nicht gezähmt oder projektiv konstruiert werden, sondern vielmehr vor dem menschlichen Übergriff geschützt werden. Als evolutionäres Konzept erscheint ›Ursprünglichkeit‹ hier dennoch nicht statisch, sondern vielmehr ist sie für den Menschen »das, was in seiner Erfahrung Inhalte und Formen einführt, die älter als er sind und die er nicht beherrscht«Ϯϳ – vielleicht aber auch nicht beherrschen muss. Die sehr verschiedenen Tierwelten der beiden Filme erscheinen nun als präzise Bebilderungen des Transgender- und des Intersex-Diskurses und dessen jeweiligen Umgangs mit genitaler Chirurgie, Authentizität, Freiheit und Körperlichkeit. Für die Narration kaum von Bedeutung, übernehmen die Tiermotive hier sogar genau diese Funktion: den Diskurs hinter der Story in eine Filmsprache zu übersetzen. Beiden Filmen gemeinsam ist damit die argumentative Konstruktion einer Tierwelt, die durchaus als queer bezeichnet werden kann, auch wenn sie selbst sprachlos bleibt.

Literatur Berger, John: »Warum sehen wir Tiere an?«, in: ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 1993, S. 12-35. Birke, Lynda/Bryld, Mette/Lykke, Nina: »Animal Performances: An Exploration of Intersections between Feminist Science Studies and Studies of Human/Animal Relationships«, in: Feminist Theory, Bd. 5 Nr. 2 (2004), S. 167-183. Braidotti, Rosi: »Biomacht und posthumane Politik«, in: Marie-Luise Angerer/Christiane König (Hg.): Gender Goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, Bielefeld 2008 S. 19-39. Brunotte, Ulrike: Puritanismus und Pioniergeist: die Faszination der Wildnis im frühen Neu-England, Berlin/New York 2000, S. 1-16. 27 Ebd., S. 399.

TRANSTIER, INTERTIER | 61 Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York 1999. Foucault, Michel: »Vorrede zur Überschreitung«, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 64-85. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1971. Haraway, Donna: When Species Meet, Minneapolis 2007. Hird, Myra L.: »Animal Trans«, in: dies./Noreen Giffney: Queering the Non/ Human, Ashgate 2008, S. 227-243. Mason, Jennifer: Civilized Creatures. Urban Animals, Sentimental Culture, and American Literature, 1850-1900, Baltimore 2005. Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16.3 (1975), S. 6-18. Roughgarden, Joan: Evolution’s Rainbow. Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People, Berkeley/Los Angeles 2004. Russel, Catherine: Experimental Ethnography: The Work of Film in the Age of Video, Durham 1999. Slotkin, Richard: Regeneration through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600-1860, Norman 2000. Weidinger, Martin: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western, Frankfurt a.M. 2006. Wessley, Christina: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008.

›La nd ge ge n Bibel‹. Christe ntum, Kolonialis mus, Moderne CHRISTINA SCHRAMM

Einführung In Zeiten des Protests gegen das Freihandelsabkommen zwischen Mittelamerika, den Vereinigten Staaten und der Dominikanischen Republik, wird die neue Architektur der global governance oft als ein Fortbestehen des Imperialismus oder als eine Rekolonisierung der eigenen Zukunft verstanden. Im Fall von Costa Rica ist in den letzten Jahren die Gewalt der Spanischen Eroberung Lateinamerikas von vor mehr als 500 Jahren erneut ins Bewusstsein vieler Menschen geraten. Ausgehend von einem Wandgraffiti werde ich aufzeigen, wie Christentum, Kolonialismus und Moderne ineinander verschränkt sind und zu bestimmten Vorstellungen von Lateinamerika geführt haben.1 Welche Mythen,

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In diesem Artikel spreche ich von Mittel- und Lateinamerika, von der Neuen Welt, Amerika und den Amerikas, ohne näher die Gründe für die spezifische Begriffswahl darzulegen. Neben den unterschiedlichen historischen Kontexten, spiegeln sie die verschiedenen Blickwinkel der hier zitierten Autor_innen wider. So fällt z.B. auf, dass die Karibik kaum Erwähnung findet. Wenngleich die Karibik als geopolitischer Raum sehr wichtig für das Verständnis der lateinamerikanischen und insb. der mittelamerikanischen Region ist, kann an dieser Stelle nur darauf verwiesen werden, dass in neueren mittelamerikanischen kulturwissenschaftlichen Arbeiten in der Tat die multiplen Beziehungen, die es in der Region zur Karibik gibt, betont werden. Vgl. hierzu Karl Kohut/Werner Mackenbach (Hg.): Literaturas centroamericanas hoy. Desde la dolorosa cintura de América, Frankfurt a.M./Madrid 2005. Für eine kritische und vertiefende deutschsprachige Diskussion der Begriffswahl und ihren Implikationen vgl. auch Anne Ebert/Maria Lidola/Karoline Bahrs/Karoline Noack (Hg.): Differenz

64 | CHRISTINA SCHRAMM Projektionen und Umkehrungen liegen dem zugrunde? Wie wirken sie bis heute hin fort? Welche Veränderungen sind zu erkennen? Die Fragen führen zu einer Diskussion von Wissensproduktionen und ihren (Neu-) Verortungen. Ein besonderes Anliegen ist mir hierbei, einzelne Wissensfelder miteinander zu verbinden, um transareale Konversationen jenseits binärer Ausschlusspraktiken zu fördern und somit zu einer Entkolonisierung von Wissensproduktionen beizutragen.2

Verortungen lateinamerikanischer Wissensproduktionen »vinieron. ellos tenían la Biblia y nosotros la tierra y dijeron: cierren los ojos y re[c]en y cuando abrimos los ojos, ellos tenían la tierra y nosotros la puta Biblia!«

»Sie kamen. Sie hatten die Bibel und wir das Land und sie sagten: schließt die Augen und betet und als wir die Augen öffneten, hatten sie das Land und wir die verdammte Bibel!«

›Land im Austausch gegen die Bibel‹, könnten wir dieses Graffiti nennen, das ich im Oktober 2006 an der Gebäudewand des Radiosenders der Universität von Costa Rica vorfand.3 Es zeigt, dass in Zeiten landesweiter Proteste gegen das Freihandelsabkommen zwischen Mittelamerika, den USA und der Domi-

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und Herrschaft in den Amerikas. Repräsentationen des Anderen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2009. Der Artikel stellt eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen Vortrages dar, den ich am 11.12.2009 auf der vom DFG-Graduiertenkolleg Geschlecht als Wissenskategorie organisierten internationalen Konferenz Das Geschlecht der Anderen an der Humboldt-Universität zu Berlin im Panel II Ethnologien der Geschlechter vorgetragen habe. Eine vorherige, kürzere Version habe ich unter dem Titel »Tierra por Biblia« – Cristianismo, colonialismo y modernidad auf dem II Congreso de Antropología Latinoamericana (28.07.-01.08.2008) an der Universität von Costa Rica in San José, Costa Rica vorgetragen. Der Artikel ist gleichzeitig Teil meiner laufenden Dissertation »Desde este otro lado« – Subjetividades e imaginarios sociales de las mujeres afrodescendientes e indígenas bribris en Costa Rica, die ich an der Universität von Costa Rica im Promotionsstudiengang Estudios de la Sociedad y la Cultura anfertige. Alle freien Übersetzungen ins Deutsche sind von der Autorin vorgenommen worden. Englische und Spanische Zitate im Original finden sich in den Fußnoten.

LAND GEGEN BIBEL | 65 nikanischen Republik die Gewalt der Spanischen Eroberung erneut ins Bewusstsein vieler Menschen in Costa Rica geriet. Als Metapher weist das Graffiti darauf hin, dass hinter der Logik des Tausches eine fortwährende Täuschung zwischen Spanischer Eroberung und aktuellen neoliberalen Politiken liegt. Es macht zudem deutlich, dass die Erinnerung an die territoriale und geistig-kulturelle Kolonisierung Lateinamerikas nie ausgelöscht wurde. Wenn ich mich auf Lateinamerika beziehe, heißt dies übrigens nicht, dass ich für Lateinamerika und die dortigen Wissensproduktionen, sondern eher von Lateinamerika aus schreibe, und zwar speziell von Costa Rica aus. Mit dieser Positionierung möchte ich die Frage nach den Repräsentationspolitiken als Teil internationaler akademischer Wissensproduktionen in den Raum stellen und einen in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften zu beobachtenden Trend problematisieren. Dieser besteht in Anlehnung an Mabel Moraña darin, dass Konstruktionen von Alterität oder Subalternität zu relevanten »Wissensfeldern« und »Them[en]« erhoben werden, ohne dass diese Entwicklung als solche selbst hinterfragt wird.4 Insbesondere im Fall von Lateinamerika hat jedoch das aktuelle Interesse, ›die Anderen‹ (neu) zu definieren, schon eine lange Tradition. Der Autorin folgend wurde in der Geschichte das lateinamerikanische Subjekt allmählich erobert, kolonisiert, emanzipiert, zivilisiert, modernisiert, europäisiert, entwickelt, [...], entdemokratisiert (und mit aller Impunität, redemokratisiert), und jetzt globalisiert und subalternisiert durch Diskurse, die, jeder in seinem Kontext, die Befreiung seiner Seele versprachen.5

Folglich wird Lateinamerika als eine Region mit eigenen vielfältigen theoretisierenden und kritischen Wissensproduktionen noch viel zu oft in der internationalen akademischen Welt verkannt. Diese Dynamik spitzt sich in Bezug auf Mittelamerika zu. Amalia Chaverri bemerkt kritisch, dass Mittelamerika jenseits von exotisierenden Diskursen aus dem Okzident oft nicht zu existieren scheint. Anstatt »einen wahrhaftigen Ort in der Geschichte des Okzidents zu besetzen«6, erscheint Mittelame-

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»fields of knowledge« und »theme[s]«, Mabel Moraña: »The boom of the subaltern«, in: Ana Del Sarto/Alicia Ríos/Abril Trigo (Hg.): The Latin American Cultural Studies Reader, Durham/London 2004, S. 650, Herv. i.O. »conquered, colonized, emancipated, civilized, modernized, Europeanized, developed, […], un-democratized (and with all impunity, re-democratized), and now globalized and subalternized by discourses that promised, each one in its context, the liberation of its soul.«, ebd., S. 651. »de ocupar un verdadero lugar en la historia de Occidente«, Amalia Chaverri: »América Central debe ser nombrada«, in Karl Kohut/Werner Mackenbach

66 | CHRISTINA SCHRAMM rika lediglich »als ein kultureller, ökonomischer und politischer Anhang von Lateinamerika. Mit anderen Worten, die Peripherie der Peripherie.«7 Mittelamerika wird kaum als ein Raum anerkannt, in dem »auch gedacht, gelacht und gelitten wird.«8 Ich schreibe also von diesem peripheren Rand aus und möchte die Leser_innen dazu einladen, darüber nachzudenken, mittels welcher Projektionen, Mythen, Essentialisierungen und Klassifizierungen Lateinamerika in der Welt verortet wurde und wird. Um die andauernde diskursive Kolonialität und Wege einer Entkolonialisierung zu fokussieren, gehe ich sowohl auf ideologische und religiöse Grundlagen des Kolonialismus ein, als auch auf die Verschmelzung von Christentum und Moderne.

Evangelisierung als Fundament des Kolonisierungsprojekts Die enge Verknüpfung zwischen territorialer und geistiger Kolonisierung ist bekannt.9 Hier möchte ich auf einen der größten Widersprüche im Kolonialismus aufmerksam machen: die Notwendigkeit, die »›Anderen‹ sowohl zu ›zivilisieren‹, als auch in einem fortwährenden Anderssein zu fixieren.«10 Mittels der Christianisierung und des Kontakts zu Spaniern wurden der autochtonen Bevölkerung neue Verhaltens- und Identitätsmodelle aufgezwungen, die den in Europa vorherrschenden Bildern und verschiedenen religiösen, literarischen, politischen, wissenschaftlichen und historischen Diskursen entsprachen.11 In den Worten von Raúl Fornet-Betancourt verweist die Geschichte des Kolonialismus und der damit verbundenen kapitalistisch wirtschaftlichen Expansion sowie der Auferlegung eines westlichen Kulturmodells gegenüber den amerindischen Kulturen dabei auf »die gewaltsame Verneinung des An-

(Hg.): Literaturas centroamericanas hoy. Desde la dolorosa cintura de América, Frankfurt a.M./Madrid 2005, S. 201. 7 »como un apéndice cultural, económico y político de América Latina. En otras palabras, la periferia de la periferia.«, ebd. 8 »también se piensa, se ríe y se sufre.«, ebd. 9 María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 15f. 10 »it both needs to ›civilize‹ its ›others‹, and to fix them into perpetual ›otherness‹«, Ania Loomba: Colonialism/Postcolonialism, London/New York 2000, S. 173. 11 Es liegt nahe, dass der Einfluss der katholischen Kirche und ihr Missionsauftrag je nach Region und Zeitepoche sehr unterschiedliche Formen angenommen haben.

LAND GEGEN BIBEL | 67 deren, wo der Andere, wenn er nicht physisch zerstört wird, abgewertet und den Interessen des Imperiums unterstellt wird.«12 Der Genozid an den indigenen Völkern während der Eroberung der Neuen Welt hatte zwischen katholischen Gelehrten wichtige Debatten darüber provoziert, wie dem massiven Tod der Indígenas vorzubeugen wäre. Insbesondere Bartolomé de Las Casas (1484-1566) kritisierte die Eroberung als ungerecht und verteidigte, dass Indígenas eine Seele hätten und daher gerettet werden könnten.13 Für ihn waren Indígenas weder Barbaren noch natürliche Sklaven. Las Casas vertrat vor der Spanischen Krone und vor Juan Ginés de Sepúlveda (ca. 1490-1573) die Ansicht, dass Indígenas natürliche Rechte besaßen, die allen Menschen zu eigen wären. Ihm zufolge verfügten Indígenas auch über eine Rationalität, die ihnen die Notwendigkeit zu verstehen erlaubte, sich von ihren eigenen Religionen im Tausch gegen die christliche abzuwenden.14 Seine Argumentation basierte Las Casas auf dem ›Recht der Völker‹, wonach indigene Völker das Recht hatten, ihr Land gemäß ihren eigenen Regeln und Logiken zu besitzen, zu verwalten und zu regieren, auch wenn sie in den Augen der Spanischen Krone als Ungläubige galten. Las Casas setzte sich damit für einen gemeinsamen Vertrag zwischen Spaniern und Indígenas ein, der die Aufteilung der Gebiete unter Spaniern erlaubte und gleichzeitig eine friedliche Evangelisierung der Indígenas vorsah. Seine Kritik führte 1542 zu der Schaffung der Neuen Gesetze, in denen Indígenas zwar als Menschen mit Rechten formal anerkannt wurden,15 die spanischen Missionare die westliche Logik jedoch nicht verließen, sich den indigenen Kosmovisionen gegenüber als Überlegene zu positionieren.16 Die im Rahmen der zwar friedlich gedachten Evangelisierung tatsächlich ausgeübte geistige Gewalt wurde als solche nicht anerkannt, obwohl nach Guy Rozat ge12 »la violenta negación del otro, donde el otro, si no se le destruye físicamente, es desvalorizado y puesto en función de los intereses del imperio.«, Raúl FornetBetancourt: Hacia una filosofía intercultural latinoamericana, San José 1994, S. 21f. 13 Vgl. Bartolomé de Las Casas: Brevísima relación de la destrucción de las Indias [1552], Madrid 2001. 14 Vgl. Susana Nuccetelli: Latin American Thought. Philosophical Problems and Arguments, Cambridge MA 2002, S. 114ff. 15 Für eine ausführliche Diskussion von Las Casas’ Völkerrechtskonzept sowie dessen Bedeutung für aktuelle Gerechtigkeitsdebatten im Kontext neoliberaler Globalisierung vgl. Josef Bordat: »Bartolomé de Las Casas – Kritiker der Conquista und Vater des Völkerrechts«, in: http://www.museo-on.com/go/museoon/ _ws/.../bartolomdelascasas.pdf (Stand: 16.09.2010). 16 Trotz der Anerkennung der ›Rechte der Völker‹, fand dieses Völkerrecht in der Praxis keine wirklich konsequente Anwendung. Es entsteht hier die Frage, inwieweit das Evangelisierungs- und Zivilisierungsvorhaben sonst gänzlich hätte aufgegeben werden müssen.

68 | CHRISTINA SCHRAMM rade die Evangelisierung »am Anfang der Transformation und der Neuerfindung aller indigener Semantik«17 lag. Die sprachliche Neuerfindung war notwendig, »um neue historisch-kulturelle Referenzen und persönliche und kollektive Identitätsmodelle aufzuerlegen, die den Indio erfinden/konstruieren.«18 Indigene Völker wurden so zu ›den Anderen‹; sie dienten den Menschen in Europa gleichzeitig als Spiegel, in dem diese ihr eigenes aber verkehrtes Gesicht sahen. Rozat betont, dass die ab dem 16. Jh. durch die Evangelisierung konstruierte okzidentale Geschichtsschreibung über Amerika nicht nur »unfähig [ist,] die präkolumbischen Kulturen zu verstehen und zu beschreiben«19. Das Ziel jeglicher europäischer diskursiver Produktion ist laut Rozat außerdem eine »narzisstische Selbstbestätigung«20; eine Selbstbestätigung, die innerhalb einer dichotomen Logik der Umkehrung stattfindet: »Einer definiert sich als die Umkehrung des Anderen, oder eher noch, der Andere erhält Existenz nur als die Umkehrung des Einen.«21 Bell Hooks zeigt, dass diese weißen europäischen Diskurse ein Sehnen nach Lust beinhalten: Es wird »das ›Primitive‹« romantisiert und es wird nach einem »realen primitiven Paradies« gesucht, »egal ob seine Verortung ein Land oder ein Körper, ein dunkler Kontinent oder eine dunkle Haut ist, wahrgenommen als perfekte Verkörperung dieser Möglichkeit.«22 Der koloniale Wunsch äußert sich in dieser ›Beziehung‹ mit der Neuen Welt als einem Raum, der nicht durch Subjekte besetzt wird, sondern durch westliche Übertragungen, innerhalb derer die Beziehung zwischen Kolonialität und Sexualität entscheidend ist. Im Okzident sind als ›verfehlt‹ bezeichnete Formen von Sexualität, wie Homosexualität und Promiskuität, mit einem kulturell und rassisiert konstruierten und in der Ferne verorteten ›Anderen‹ in Verbindung gebracht worden.23

17 »en el origen de la transformación y de la re-invención de toda la semántica indígena«, Guy Rozat: »Las representaciones del Indio: una retórica de la alteridad«, in: Debate Feminista, Otredad 13 (1996), S. 56. 18 »para imponer los nuevos referentes histórico-culturales y modelos de identidad personal y colectiva que van a inventar/construir al indio.«, ebd., Herv. C.S. 19 »incapaz de entender y describir las culturas precolombinas«, ebd., S. 58. 20 »autoafirmación narcisista«, ebd. 21 »uno se define por ser el inverso del otro, o más bien, el otro toma existencia sólo como el inverso de Uno.«, ebd., S. 50. 22 »Es precisamente la añoranza por el placer que ha llevado al Occidente blanco a mantener una fantasía romántica de lo ›primitivo‹ y la búsqueda concreta de un paraíso primitivo real, ya sea que su ubicación sea un país o un cuerpo, un continente oscuro o piel oscura, percibido como la encarnación perfecta de esa posibilidad.«, Bell Hooks: »Devorar al otro: deseo y resistencia«, in: Debate Feminista, Otredad 13 (1996), S. 23. 23 Vgl. auch Ania Loomba: Colonialism/Postcolonialism.

LAND GEGEN BIBEL | 69 Anne McClintock folgend wurden die Amerikas, ebenso wie Afrika, zu einem »porno-tropics für die europäische Imagination«24, zu einem geistigen Ort, »auf den Europa seine verbotenen Wünsche und sexuellen Ängste projizierte«25 und mit dessen Hilfe ›verkehrtes‹, aber auch normatives Verhalten zu Hause definiert wird. Das eroberte Land wird als ein weiblicher Körper interpretiert, in den koloniale Phantasien der Verheißung und Angst in Bezug auf die kolonialen Gebiete eingeschrieben werden. Bestes Beispiel für die Feminisierung und Erotisierung der Neuen Welt ist die allegorische Darstellung von ›Amerika‹ als eine halbnackte Frau.26 Wie Rozat kritisch feststellt, schafft hierdurch »[...] der christlich westliche Logos [...] die Ursprungsmatrix, die Amerika denkbar und sagbar macht.«27

Die Moderne als vielschichtiges Konzept Der Prozess der Okzidentalisierung offenbart, wie Christentum und Moderne ineinander verschmelzen und sich gegenseitig bedingen. Das als Teil einer kolonialen Machtmatrix entstehende moderne Weltsystem basiert dabei auf globalen Hierarchien von Herrschaft und Ausbeutung, die auf ein vielfaches

24 »a porno-tropics for the European imagination«, Anne McClintock: Imperial leather. Race, gender and sexuality in the colonial contest, New York/London 1995, S. 22. 25 »onto which Europe projected its forbidden sexual desires and fears«, ebd. 26 Anne McClintock hat eine ausführliche Diskussion dieser Allegorie vorgenommen. Vgl. ebd., S. 24ff. Vgl. auch Edward J. Gallagher: »America by Johannes Stradanus«, in: http://www.lehigh.edu/~ejg1/ed/strad1.html (Stand: 16.09.2010). Wenngleich ich mich hier auf die klassische Allegorie von Amerika beschränke, halte ich es für angebracht, diese Diskussion um queertheoretische Argumente zu erweitern. In Christina Schramm: »Queering Latin American coloniality«, unveröffentlichtes Manuskript, San José 2010, analysiere ich die Feminisierung und Erotisierung von Amerika in Hinblick auf im Begehren vorhandene Ambivalenzen und Paradoxien. Bezüglich der kritischen Diskussion zu Paradoxien und deren Widersprüchen vgl. Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009, S. 99ff., an die ich anknüpfe. Vgl. desweiteren auch meine Rezension »Das Handhaben von Paradoxien in Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus von Antke Engel«, in FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 49 (2010), S. 91-93. 27 »[e]l logos occidental cristiano […] elabora así la matriz originaria que vuelve pensable y decible América.«, Guy Rozat: »Las representaciones del Indio«, S. 57.

70 | CHRISTINA SCHRAMM miteinander verwoben sind.28 Es ist daher angebracht, die Moderne als ein vielschichtiges Konzept zu verstehen. Wenngleich oft das Europa des 18. und 19. Jh. als einziger Ursprungsort für die Moderne angesehen wird und nach Linda Tuhiwai Smith »die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens, die Erkundung und ›Entdeckung‹ anderer Welten durch Europäer, die Expansion von Handel, die Gründung von Kolonien und die systematische Kolonisation indigener Völker«29 umfasst, greift diese Definition in Hinblick auf Lateinamerika zu kurz. Bernal Herrera weist auf die kritischen Debatten innerhalb der Lateinamerikanischen Subaltern Studies hin, die das eurozentristische Konzept der Moderne um die Existenz von »kolonialen, peripheren oder einfach multiplen«30 Formen der Moderne erweitern. Allesamt bilden diese unterschiedlichen Formen Teile einer global zu verstehenden Moderne, die sich jedoch je nach Ort und Zeit unterschiedlich ausgestaltet. Das Christentum im 16. und 17. Jh. zählt demnach zu den zentralen Grundideologien, entlang derer sich die moderne Vorstellungswelt strukturiert. Mit der Französischen Revolution strukturieren weitere konservative, liberale und sozialistisch-marxistische Ideologien die Moderne zunehmend nach säkularem Weltbild.31 Entscheidend ist bei dieser Argumentation, dass die von religiösen Kriterien geprägte Eroberung und Kolonisation Lateinamerikas nicht als »das letzte große mittelalterliche Unternehmen«32 jenseits der Moderne, also als der Moderne vorgängiges Unternehmen zu verstehen ist, sondern eben als fester Bestandteil derselben. Mit dieser Kritik wird sich vom traditionellen Verständnis der Moderne als einer Bewegung abgewendet, die sich abgrenzend und im Gegensatz zum Religiösen selbst konstituiert.33 Moderne und Religion schließen sich nicht gegenseitig aus. Vor dem Hintergrund des Kolonialismus als Ideologie, die sich mit der Eroberung und Kolonisation Amerikas etabliert und im 18. Jh. mit der Ausweitung des britischen Impe28 Vgl. Aníbal Quijano: »Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina«, in: Edgardo Lander (Hg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas Latinoamericanas, Buenos Aires 2005, S. 208. 29 »[t]he development of scientific thought, the exploration and ›discovery‹ by Europeans of other worlds, the expansion of trade, the establishment of colonies, and the systematic colonization of indigenous peoples«, Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing methodologies. Research and indigenous peoples, London/New York 2006, S. 59. 30 »coloniales, periféricas, o simplemente múltiples«, Bernal Herrera: »Estudios subalternos en América Latina«, in: Diálogos Vol. 10 Nr. 2 (2010), S. 115. 31 Vgl. Walter Mignolo: Historias locales / diseños globales. Colonialidad, conocimientos subalternos y pensamiento fronterizo, Madrid 2003, S. 29. 32 »la última gran empresa medieval«, Bernal Herrera: »Estudios subalternos«, S. 116f. 33 Ebd., S. 117.

LAND GEGEN BIBEL | 71 riums und Frankreich nach Asien und Afrika restrukturiert,34 wird vielmehr deutlich, dass christliche und säkulare Weltbilder einander bedingen. Viele der Argumentationslinien und zentralen Metaphern der Moderne stammen aus dem christlich religiösen Diskurs, wie Ideen vom Fortschritt aufzeigen. Lineare Auffassungen von Zeit und Raum und darin enthaltene Ideen vom Fortschritt werden insbesondere während der Aufklärung gefestigt. Tuhiwai Smith problematisiert, wie die europäische Geschichtsschreibung ein zunehmend verstandesorientiertes und wissenschaftliches Verständnis der Vergangenheit forciert und sich in einem globalen Kontext verortet, der sich durch seine Teilung in statische, gut definierte Räume charakterisiert. Dabei sind sowohl zeitliche als auch räumliche Perspektiven eng mit Vorstellungen über Fortschritt verbunden, insofern dieser in den Worten der Autorin »in Begriffen von technologischer Weiterentwicklung und geistlicher Rettung ›gemessen‹ werden konnte.«35 Auch Bolívar Echeverría analysiert die Verschränkung von Moderne und Religion, indem er mit Verweis auf Max Weber kritisch aufzeigt, wie die liberale Idee eines kapitalistisch wirtschaftlichen Fortschritts auf einer protestantischen Arbeitsethik basiert.36 Der Autor macht zudem deutlich, dass diese im Okzident lange Zeit vorherrschende und allgegenwärtig erscheinende puritanische und nordeuropäische Version der Moderne nie die einzige war. Durch sie sind immer schon auch andere Formen der Moderne überlagert oder in den Hintergrund gedrängt worden. Nicht nur, aber insbesondere in Hinblick auf den lateinamerikanischen Kontext sei so mit Echeverría an dieser Stelle noch einmal die Bedeutsamkeit des 17. Jh. für die Verschränkung von Christentum und Moderne hervorgehoben. Echeverrías Argumentation folgend steht das 17. Jh. für eine eigene bemerkenswerte historische Welt. »Eine historische Welt, die verbunden mit dem Versuch der katholischen Kirche existierte, eine eigene, religiöse Moderne zu konstruieren, die sich um die Wiederbelebung des Glaubens drehte«37. Diese Moderne galt »als Alternative zu der abstrakten individualistischen Moderne, die sich um die Dynamik des Kapitals drehte.«38 Wenngleich diese historische Welt im 18. und 19. Jh. mit der Französischen Revolution in Europa und den Unabhängigkeitskämpfen in Lateiname34 Vgl. Walter Mignolo: Historias locales / diseños locales, S. 29. 35 »Progress could be ›measured‹ in terms of technological advancement and spiritual salvation.«, Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing Methodologies, S. 55. 36 Bolívar Echeverría: »El ethos barroco«, in: Debate Feminista. Otredad 13 (1996), S. 71. 37 »Un mundo histórico que existió conectado con el intento de la iglesia católica de construir una modernidad propia, religiosa, que giraba en torno a la revitalización de la fe«, ebd., S. 81. 38 »como alternativa a la modernidad individualista abstracta, que giraba en torno a la vitalidad del capital.«, ebd.

72 | CHRISTINA SCHRAMM rika durch liberale, säkulare Weltanschauungen verdrängt wurde, sind moderne Vorstellungswelten nach wie vor eng mit religiösen Diskursen verwoben. So werden laut Echeverría Logiken kapitalistischer Produktivität mittels der Etablierung einer christlichen Arbeitsethik »auf die Ebene der Technik individueller Selbstdisziplinierung« übersetzt.39 Aufgrund dieser Verschränkung von Religion und Moderne lässt sich zu dem Ergebnis kommen, dass sich die Idee des Fortschritts dabei – und nicht erst seit der jüngsten globalen Finanzkrise zu Beginn des 21. Jh. – als ein Mythos entpuppt. Für Franz Hinkelammert stellt sie sogar den zentralen Mythos der Moderne dar, der auf dem Versprechen einer besseren Zukunft basiert und sich mit Hilfe einer unbegrenzten Übertragung artikuliert, in der menschliche und kapitalistische Entwicklung eng miteinander verwoben sind.40 Die moderne Vernunft ist demnach nichts anderes als eine mythische Vernunft; eine Vernunft, die vorherige Mythen einfach durch neue ersetzt.41 Dabei geht Hinkelammert nicht so sehr davon aus, dass die kapitalistische Moderne auf dem christlich religiösen Denken aufbaut, sondern vielmehr schon an sich einen religiösen Charakter hat. Hinkelammert bezieht sich in seiner Argumentation u.a. auf Walter Benjamin, der bereits 1921 kritisch darlegte, dass im Kapitalismus eine Religion zu erblicken wäre. »[D]er Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung der selben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben«.42 Diese Religiosität und dieses Rettungsversprechen sind trotz der tiefgreifenden Krise, in der sich das auf Fortschritt berufende Projekt der Moderne befindet, auch in aktuellen internationalen neoliberalen Politiken allgegenwärtig.43

Au s b l i c k Anknüpfend an die bisherige Diskussion möchte ich zum Schluss die Frage aufgreifen, welche Bedeutung andere Facetten moderner Vorstellungswelten haben, jene anderen Welten, die in ihrer Abwesenheit immer schon auch gegenwärtig gewesen sind. Ich beziehe mich dabei zunächst auf Hinkelam39 »las demandas de la productividad capitalista […] al plano de la técnica de autodisciplinamiento individual«, Bolívar Echeverría: »El ethos barroco«, S. 75. 40 Franz Hinkelammert: Hacia una crítica de la razón mítica. El laberinto de la modernidad. Materiales para la discusión, San José 2007, S. 70. 41 Ebd., S. 69. 42 Walter Benjamin: »Kapitalismus als Religion [Fragment]«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd VI, Frankfurt a.M. 1991, S. 100, http://raumgegenzement.blogsport.de/2009/11/02/walterbenjamin-kapitalismus-als-religion-fragment-1921/ (Stand 21.09.2010). 43 Franz Hinkelammert: Hacia una crítica de la razón mítica, S. 142.

LAND GEGEN BIBEL | 73 mert, der sich kritisch damit auseinandersetzt, inwieweit hegemoniale Diskurse den Blick auf andere abwesende, aber zugleich gegenwärtige Welten erschweren. Jedes institutionelle System ist ein Spiegel, in dem sich die ganze Welt widerspiegelt und wir können die Welt nicht sehen außer als eine in diesem Spiegel der Institutionalität widergespiegelte Welt. Das was nicht in dem Spiegel zu sehen ist, ist die Abwesenheit einer anderen Welt, die immer gegenwärtig ist in Abwesenheit.44

Mit diesem Zitat möchte ich nicht nur dem bisherigen Argument von der Moderne als ein vielschichtiges Konzept Nachdruck verleihen, sondern auch darauf verweisen, dass solch konzeptuelle Ausdifferenzierung der Moderne Impulse für eine Neuverortung von akademischen Wissensproduktionen geben kann. Es geht mir also darum, diese anderen, in der Abwesenheit gegenwärtigen Welten zu fokussieren; eine Abwesenheit, die in den Worten von Hinkelammert schreit, die »sich bemerkbar macht durch Leid, Schmerz, nicht befriedigter Bedürfnisse.«45 Hinkelammert betont, dass die Wissenschaft diesen Schrei (an)hören muss, »der ihr aus der gegenwärtigen Abwesenheit dessen entgegenkommt, was versteckt ist, [aber] dabei ist alles zu konditionieren.«46 Der Aufruf lädt dazu ein, den Blick zu schärfen und danach zu fragen, wie sehr die Entwicklung westlicher Wissenschaft von neuen, durch die Kolonisation entstandenen Wissensproduktionen profitiert hat. Denn nicht nur die materiellen Reichtümer der Kolonien, die von Seiten der Kolonialmächte gestohlen, ›ausgetauscht‹ und nach Europa gebracht wurden, haben zu der Verwirklichung eines kapitalistischen Entwicklungsmodells in Europa beigetragen. Auch die Wissensproduktionen durch das Sammeln von Ideen, Vorstellungsbildern und Erfahrungen von und mit indigenen Völkern wurden genauso zu einer Ware kolonialer Ausbeutung. Es entstanden »geteilte Geschichten«47 zwischen Lateinamerika und Europa, bei denen die europäische Expansion nicht nur die kolonisierten Gebiete veränderte, sondern auch umgekehrt: Kolonien verwandelten sich in Untersuchungslabore, in denen sich die kulturelle, 44 »Todo sistema institucional es un espejo, en el cual se refleja todo el mundo y no podemos ver el mundo sino como mundo reflejado en este espejo de la institucionalidad. Lo que no se ve en el espejo, es la ausencia de otro mundo, que siempre está presente en ausencia.«, ebd., S. 231. 45 »[s]e hace notar por el sufrimiento, el dolor, las necesidades no satisfechas.«, ebd., S. 228. 46 »La ciencia tiene que escuchar este grito, que le viene de la ausencia presente de lo que está escondido, condicionando todo.«, ebd. 47 Sebastian Conrad/Shalini Randeria: »Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9.

74 | CHRISTINA SCHRAMM politische und wirtschaftliche Moderne Europas gestaltete. Gleichzeitig »dienten die amerikanischen Kolonien auch jenen in Afrika und Asien, die sich in der Hochblüte des Imperialismus etablierten, als Vorbild.«48 Aníbal Quijano betont, dass »in diesem Sinne die Moderne von Anfang an auch kolonial« war, also von der Kolonialität von Machtpolitiken geprägt wurde und auch heutzutage immer noch wird.49 Die Tatsache, dass das hegemoniale Zentrum dieses sich bildenden modernen/kolonialen Weltsystems in NordMitteleuropa liegt, ist für Quijano ein zentraler Aspekt, um zu verstehen, warum sich auch die intellektuellen Wissensproduktionen dort zentrieren und weltweit eine hegemoniale Position eingenommen haben.50 Tuhiwai Smith konkretisiert, wie diese koloniale Moderne innerhalb der wissenschaftlichen Wissensproduktionen »einen Prozess der systematischen Fragmentierung«51 herbeigeführt hat, der auch heute noch anhand der disziplinären Teilung der indigenen Welt zu sehen ist. Knochen, Mumien und Schädel zu Museen, Kunsthandwerk zu privaten Sammler_innen [und Tourist_innen], Sprache zur Sprachwissenschaft, »Bräuche« zu Anthropolog_innen, Überzeugungen und Verhaltensweisen zu Psycholog_innen.52

Dem Zitat ist hinzuzufügen, dass kommunales indigenes Wissen um die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, wie z.B. von Heilpflanzen, kommerzialisiert und als Ware auf dem Weltmarkt gehandelt wird. Wissen indigener Medizin wird Ärzt_innen und über Patentierungen der PharmaIndustrie zugesprochen, was laut Chandra Talpade Mohanty nicht nur auf den »Kontrast zwischen westlichen wissenschaftlichen Systemen und indigenen Epistemologien und Medizinsystemen« verweist,53 sondern auch auf »die kolonialistische und korporative Macht, westliche Wissenschaft zu definie-

48 Fernando Coronil: »Unterwegs zu einer Kritik des Globalzentrismus. Mutmaßungen über das Wesen des Kapitalismus«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 63. 49 »[e]n ese sentido, la modernidad fue también colonial desde su punto de partida«, Aníbal Quijano: »Colonialidad del poder«, S. 217. 50 Ebd. 51 »a process of systematic fragmentation«, Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing methodologies, S. 28. 52 »[b]ones, mummies and skulls to the museums, art work to private collectors, languages to linguistics, ›customs‹ to anthropologists, beliefs and behaviours to psychologists.«, ebd. 53 »contrast between Western scientific systems and indigenous epistemologies and systems of medicine.«, Chandra Talpade Mohanty: Feminism without borders. Decolonizing theory, practicing solidarity, Durham/London 2003, S. 233.

LAND GEGEN BIBEL | 75 ren.«54 Gerade bei der Patentierung und Vermarktung indigenen Wissens werde klar, inwieweit westliche Wissensproduktionen normativ von kapitalistischen Werten beeinflusst werden. Dieser Aspekt kann hier nicht weiter vertieft werden, doch möchte ich anhand dieses Beispiels darauf aufmerksam machen, dass die Orientierung an kapitalistischen Werten, wie an privatem Eigentum und Profit, Fragen nach dem Verhältnis von Eigentumsrechten und Wissen aufwirft. Problematisch ist z.B., dass kommunales indigenes Wissen, das oft in den Händen von Frauen liegt, von den in internationalen Freihandelsabkommen geregelten intellektuellen Eigentumsrechten ausgeschlossen bleibt. Wie Mohanty aufzeigt, wird dadurch insbesondere indigenen Frauen das Recht auf (geistiges) Eigentum verwehrt.55 Die bisherige Diskussion über die Dynamik von Wissensproduktionen lässt erkennen, dass diese sowohl innerhalb der disziplinär strukturierten Wissenschaften als auch innerhalb all der Wissensfelder stattfindet, die sich nicht in den wissenschaftlichen Kontext einordnen.56 Die dabei übliche Hierarchisierung von wissenschaftlichen Produktionen gegenüber denen aus anderen Wissensfeldern produziert neben einer Geschichte des Wissens immer auch Geschichten des Schweigens. Indigene Wissenssysteme z.B. werden als solche nicht (an-) erkannt und stattdessen eher als »mündliche Traditionen« reklassifiziert.57 Wenn wir an eine Entkolonisierung von Wissensproduktionen denken, dann rückt die Frage nach der Bedeutung von Repräsentation also unweigerlich in den Vordergrund. Denn sie verleiht den Eindruck von ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹. Ihr Hinterfragen ermöglicht es, im Spiegel jene unsichtbaren Spiegelungen von anderen Welten zu finden, die in Abwesenheit immer gegenwärtig sind; also jene ›Wirklichkeiten‹, die sich versteckt und verzerrt hinter den vorherrschenden Bildern und Trugbildern befinden. Es geht somit auch »um das Unbewusste als epistemologisches Feld, auf dem sowohl in der Wissensgeschichte als auch in der modernen Wissens- und Geschlechterordnung eine komplexe und vielfältige Dynamik entfaltet wurde.«58 Dieses Hinterfragen ist konfliktbeladen und legt leicht eine Reihe von Spannungsverhältnissen offen, wie ich sie anhand von fünf Thesen skizzieren werde. Damit einhergehend nehme ich eine angedachte Verortung der Kulturwissenschaften in Mittelamerika vor. Sicher bedarf es weiterer Überlegun54 »the colonialist and corporate power to define Western science.«, ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach: »Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften«, in: dies. (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 11. 57 »oral traditions«, Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing methodologies, S. 33, Herv. i.O. 58 Christina von Braun et al.: »Das Unbewusste«, S. 11.

76 | CHRISTINA SCHRAMM gen. Mögen die folgenden Aspekte daher zur Diskussion einladen und ausblickend Wege einer Entkolonialisierung von Wissensproduktionen aufzeigen. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem transdisziplinären Horizont von Kulturwissenschaften und ihrer Umsetzung in disziplinär geprägten akademischen Kontexten. Die verwendeten Sprachen variieren erheblich und sind potentielle Quellen für Missverständnisse. Dies macht es m.E. erforderlich, Spannungen offen zu legen und mit ihnen auf konstruktive Weise zu arbeiten, anstatt sie zu unterschätzen, sich ihnen gegenüber abzugrenzen oder sie gar zu personalisieren. Um eine Kritik am Okzidentalismus zu erarbeiten, schlage ich daher mit Gabriele Dietze vor, eine »kritische Theorie als ›korrektive Methodologie‹ einzusetzen«, was demnach bedeutet, »den ›Streit der Fakultäten‹ nicht als abgrenzende, sondern als bereichernde Differenzierung zu begreifen.«59 Die Kritik am westlichen modernen Denken erfordert es, Schlüsselkonzepte und ihre Beziehungen untereinander zu überdenken, wie ich anhand der Verschränkung von Christentum, Moderne und Kolonialismus gezeigt habe. Die geschlechtliche Feminisierung von Lateinamerika als das bzw. die ›Andere‹ macht es notwendig, Konstruktionen von ›Subalternität‹, zu hinterfragen.60 Mittel- und Lateinamerika wird oft mit den Subaltern Studies in Verbindung gebracht. Dieser Diskurs scheint angebracht, um Diskursen aus dem Norden entgegenzutreten; doch sein verallgemeinerter Gebrauch ist problematisch. Mit Marc Zimmerman und Gabriela Baeza ist zu fragen, ob »die Subaltern Studies einfach die Tropikalisierung des Südens von Seiten der Theoriker aus dem Norden sind?«61 Hier ist der Tropikalismus die Version des Südens, die dem Orientalismus bei Edward Said entspricht. Der Tropikalismus verweist auf das Bild von »Mittelamerika als eine[m] heruntergekom59 Gabriele Dietze: »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Claudia Brunner/Gabriele Dietze/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus, S. 45. 60 An anderer Stelle habe ich ausführlicher argumentiert, warum es sinnvoll ist, auch Konstruktionen von ›Subjektivität‹, ›Vorstellungsbildern‹ und ›Repräsentation‹ zu dekonstruieren und mit einer radikalen Kulturkritik zu verbinden. Vgl. Christina Schramm: »Subjetividades, representaciones e imaginarios. Aportes teóricos para el estudio de una cultura polifónica y polilógica«, in: Istmo 18 (2009), in: http://collaborations.denison.edu/istmo/proyectos/schramm.html (Stand: 15.09.2010). Die darin geführte Diskussion ist um das Konzept der Kolonialität als strukturierendes Moment zu erweitern und zu problematisieren. Eine ausführliche Analyse dieser Zusammenhänge wird im theoretischkonzeptuellen Teil meiner Dissertation zu finden sein. 61 »¿Son los estudios subalternos simplemente la tropicalización del Sur de parte de los teóricos del Norte?«, Marc Zimmerman/Gabriela Baeza: »Introducción«, in: Gabriela Baeza Ventura/Marc Zimmerman (Hg.): Estudios culturales centroamericanos. El nuevo milenio, San José 2009, S. xx.

LAND GEGEN BIBEL | 77 menen und unordentlichen Ort, der [externe] Hilfe benötigt«, so wie es diverse Freihandelsabkommen (TLC/CAFTA oder PPP) vertreten.62 Solch ein begrenztes und entkontextualisiertes Bild von Mittelamerika kann letztendlich als eine Fortsetzung des kolonialen Diskurses verstanden werden.63 »Globale Designs des Okzidentalismus« – angefangen von der christlichen Mission im 16.-17. Jh. über den Zivilisierungsauftrag im 18.19. Jh. sowie Entwicklungspolitiken im 20. Jh. bis hin zu globalen Marktinteressen im 21. Jh. – haben zwar, wie Manuela Boatcă zusammenfasst, unterschiedliche Vergeschlechtlichungen vorgenommen, doch werten sie allesamt ›das Andere‹ ab.64 Sie erschweren neue Wissensproduktionen sowohl über als auch innerhalb Mittelamerika(s) erheblich. Hinsichtlich der Produktionen über Mittelamerika kritisiert John Beverly, dass Kulturtheoretiker_innen aus dem Norden selten ihre Türen für einen befruchtenden Austausch mit ihren

62 »Desarrollado bajo la égida del neoliberalismo, la lógica del tropicalismo imagina a Centro América como un degradado y desordenado lugar que requiere la ayuda, en este caso, de agentes expertos en tecnologías ultra modernas.«, Ana Patricia Rodríguez: »La producción cultural en Centro América bajo la égida del neoliberalismo«, in: Gabriela Baeza Ventura/Marc Zimmerman (Hg.): Estudios culturales centroamericanos. El nuevo milenio, San José 2009, S. 31. 63 Die neoliberale Sprache greift dabei auf eine lange, spezifische, Wissensgeschichte zurück. An anderer Stelle analysiere ich z.B., wie die europäische Reiseliteratur des 19. Jh. den kolonialen Logos festigt. Narrationen und Sichtweisen von Reisenden zu Lateinamerika und den mittelamerikanischen Tropen zeigen auf, wie ›das Geschlecht der Anderen‹ fortgeschrieben wird. Vgl. Christina Schramm: »›Colocando América en el mundo‹. Miradas y narraciones. El ejemplo de Wilhelm Marr: Viaje a Centroamérica«, in: Istmo 14 (2007), in: http://collaborations.denison.edu/istmo/n14/articulos/colocando.html (Stand: 08.09.2010). Ergänzend sei darauf verwiesen, dass im Verlauf des 20. Jh. eine Verlagerung zu beobachten ist, bei der europäische Reiseliteratur von der nordamerikanischen Kulturindustrie abgelöst wird. (Zum Thema der internationalen Kulturindustrien siehe auch George Yúdice: The expediency of culture. Uses of culture in the global era, Durham/London 2005). Dennoch prägen auch weiterhin Verlagspolitiken aus Europa das internationale Bild von Mittel- und Lateinamerika sowie der Karibik. Vgl. Christina Schramm: »Disculpe, ¿usted acaso tiene el libro Limón Blues?«, in: Ístmica 9/10 (2005-2006), S. 135-141. 64 Boatcă übernimmt mit »Globale Designs« einen Begriff, der von Walter Mignolo geprägt worden ist. Vgl. Walter Mignolo: Historias locales / diseños locales. Boatcă klassifiziert die o.g. vier Zeitperioden hinsichtlich der in ihnen vorherrschenden okzidentalen Vergeschlechtlichung der ›Anderen‹: zunächst herrsche die Vorstellung von der Jungfräulichkeit der Neuen Welt vor; später die Vorstellung, dass das Exotische weiblich ist; Tradition werde mit Passivität gleichgesetzt und heute von der Vorstellung vom Lokalen als irrational überlagert. Vgl. Manuela Boatcă: »Lange Wellen des Okzidentalismus. Ver-Fremden von Geschlecht, ›Rasse‹ und Ethnizität im modernen Weltsystem«, in: Gabriele Dietze et al. (Hg.): Kritik des Okzidentalismus, S. 246.

78 | CHRISTINA SCHRAMM mittel- oder lateinamerikanischen Kolleg_innen geöffnet haben.65 Innerhalb Mittelamerikas habe dies zu einer »kulturellen Kritik gegen die ›Theorie‹«66 geführt, die – paradoxerweise – »keine Kritik ihrer eigenen Begrenzungen machen [oder zulassen] kann«67. Sie geschieht aus der Notwendigkeit, sich als Alternative gegenüber den ›metropolitanen‹ Modellen darzustellen. Beverly kritisiert die Tendenz, dass durch solch eine Argumentation erneut territoriale Grenzen festgeschrieben werden. Auch Ana Patricia Rodríguez problematisiert diese Tendenz, indem sie davon ausgeht, dass sich »[z]u Beginn des 21. Jh. mittelamerikanische Kulturen [...] nicht mehr strikterweise innerhalb der nationalen geographischen [und kulturellen] Grenzen verort[en]« lassen.68 Eine weitere Problematik liegt m.E. in der Art und Weise, wie die Logik dessen verwendet wird, was kritisiert wird, insofern als die oppositionale Abgrenzung zu okzidentalen Theorieproduktionen aus dem Norden oft auf einem Befreiungsdiskurs basiert, »der sich jedoch immer innerhalb des okzidentalen [...] Logos befindet.«69 Die (De-) Konstruktion von mittelamerikanischen kulturellen Bildern ist somit eine kontroverse Aufgabe, die sich zwischen tropikalisierenden und gegenkritischen Diskursen bewegt. Angesichts der massiven Kritik sowohl an liberal geprägten hegemonialen Vorstellungsbildern von mittelamerikanischen Kulturen, die diese in den jeweiligen nationalen Kontexten verorten, als auch an Diskursen, die in den letzten Jahrzehnten revolutionäre Kulturen auf die Region projizierten,70 stehen wir hier vor der Herausforderung, diese Makronarrationen kritisch zu hinterfragen und aufzuspalten. Eine Möglichkeit ist die Produktion von Kleinstgeschichten, wie von Ottmar Ette vorgeschlagen,71 in deren Licht sich die Trugbilder der großen Narrationen brechen und zerstreuen. Ausgehend von ihrer konkreten Körperlichkeit schaffen Kleinstge65 Vgl. John Beverly: »Dos caminos para los estudios culturales centroamericanos (y algunas notas sobre el latinoamericanismo) después de ›9/11‹«, in: Gabriela Baeza Ventura/Marc Zimmerman (Hg.): Estudios culturales centroamericanos, San José 2009, S. 38. 66 »crítica cultural contra la ›teoría‹«, ebd., Herv. i.O. 67 »Pero no puede hacer una crítica de sus propias limitaciones para presentarse como alternativa a lo que ve como modelos ›metropolitanos‹.«, ebd. 68 »Al inicio del siglo XXI, las culturas centroamericanas […] ya no están estrictamente localizadas dentro de las fronteras geográficas nacionales.«, Ana Patricia Rodríguez: »La producción cultural en Centro América«, S. 27. 69 »Otra duda que se presenta tiene que ver con el uso de la lógica de lo mismo que está siendo criticado, esto es, el discurso de la liberación siempre se encuentra dentro del logos […] occidental.«, Christina Schramm: »La crisis de la filosofía latinoamericana«, in: Hoja Filosófica 14 (2006), S. 2., Herv. i.O. 70 Ana Patricia Rodríguez: »La producción cultural en Centro América«, S. 27. 71 Vgl. Ottmar Ette: Del macrocosmos al microrrelato. Literatura y creación – nuevas perspectivas transareales, Guatemala 2009.

LAND GEGEN BIBEL | 79 schichten Theoretisierungen, die über ihre bloße Sichtbarmachung im internationalen Kontext hinaus zu transarealen Gesprächen einladen können. Ette entwirft mittels einer Analyse von solchen microrrelatos eine Poetik der Bewegung, die statisch abgegrenzt und in sich kohärent erscheinende (Id-) Entitäten (wie z.B. geografische Räume, historische Epochen, Disziplinen in der Wissenschaft) kreativ und produktiv dekonstruiert. Der Autor problematisiert damit u.a., dass »[d]er Fehler im System der europäischen Expansion in letzter Instanz darin liegt, dass das Wissen über das Leben des Anderen nicht zu einem Wissen geführt hätte, um mit dem Anderen zusammen zu leben.«72 Angesichts dieser Wissenschaftskritik stellt sich die Frage, wie ein transdisziplinärer und transarealer Austausch von Wissensproduktionen gefördert werden kann. In Hinblick auf meine zweite These möchte ich den Vorschlag von Tuhiwai Smith aufgreifen, das Konzept der Imagination zu revidieren. Nach Tuhiwai Smith, die sich auf Toni Morrison bezieht, lassen sich Imaginationen nicht nur auf unterschiedliche Vorstellungsbilder vom In-der-Welt-Sein reduzieren, sondern auch und v.a. als ein Weg verstehen, die Welt miteinander zu teilen.73 Sie können somit zu »philosophischen Bündnissen« führen, die über die politischen und geografischen Grenzen hinausgehen.74 Es gibt viele Anzeichen dafür, dass ein gemeinsames Interesse an geteilten Vorstellungswelten zunimmt, wie z.B. die Konferenz ›Das Geschlecht der Anderen‹ deutlich gemacht hat.

Literatur Benjamin, Walter: »Kapitalismus als Religion [Fragment]«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd VI, Frankfurt a.M. 1991, S. 100-102, in: http://raumgegenzement.blog sport.de/2009/11/02/walter-benjamin-kapitalismus-als-religion-fragment1921/ (Stand 21.09.2010). Beverly, John: »Dos caminos para los estudios culturales centroamericanos (y algunas notas sobre el latinoamericanismo) después de ›9/11‹«, in: Gabriela Baeza Ventura/Marc Zimmerman (Hg.): Estudios culturales centroamericanos, San José 2009, S. 34-47.

72 »El error en el sistema de la expansión europea consiste en última instancia en que el conocimiento acerca de la vida del Otro no se tradujera a un conocimiento para convivir con el Otro.«, Ebd., S. 120, Herv. i.O. 73 Vgl. Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing methodologies, S. 37. 74 »alianzas filosóficas«, Christina Schramm: »La crisis de la filosofía latinoamericana«, S. 2.

80 | CHRISTINA SCHRAMM Boatcă, Manuela: »Lange Wellen des Okzidentalismus. Ver-Fremden von Geschlecht, ›Rasse‹ und Ethnizität im modernen Weltsystem«, in: Claudia Brunner/Gabriele Dietze/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus, Bielefeld 2009, S. 233-249. Bordat, Josef: »Bartolomé de Las Casas – Kritiker der Conquista und Vater des Völkerrechts«, in: http://www.museo-on.com/go/museoon/_ws/.../ bartolomdelascasas.pdf (Stand: 16.09.2010). Braun, Christina von/Dornhof, Dorothea/Johach, Eva: »Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften«, in: dies. (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 9-23. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Chaverri, Amalia: »América Central debe ser nombrada«, in Karl Kohut/ Werner Mackenbach (Hg.): Literaturas centroamericanas hoy. Desde la dolorosa cintura de América, Frankfurt a.M./Madrid 2005, S. 201-217. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: »Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in: dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-49. Coronil, Fernando: »Unterwegs zu einer Kritik des Globalzentrismus. Mutmaßungen über das Wesen des Kapitalismus«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 55-79. Dietze, Gabriele: »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Claudia Brunner/Gabriele Dietze/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus, Bielefeld 2009, S. 23-54. Ebert, Anne/Lidola, Maria/Bahrs, Karoline/Noack, Karoline (Hg.): Differenz und Herrschaft in den Amerikas. Repräsentationen des Anderen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2009. Echeverría, Bolívar: »El ethos barroco«, in: Debate Feminista 13 (1996), S. 67-87. Engel, Antke: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009. Ette, Ottmar: Del macrocosmos al microrrelato. Literatura y creación – nuevas perspectivas transareales, Guatemala 2009. Fornet-Betancourt, Raúl: Hacia una filosofía intercultural latinoamericana, San José 1994. Gallagher, Edward J.: »America by Johannes Stradanus«, in: http://www. lehigh.edu/~ejg1/ed/strad1.html (Stand 16.09.2010).

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82 | CHRISTINA SCHRAMM Schramm, Christina: »Subjetividades, representaciones e imaginarios. Aportes teóricos para el estudio de una cultura polifónica y polilógica«, in: Istmo 18 (2009), in: http://collaborations.denison.edu/istmo/proyectos/ schramm.html (Stand: 15.09.2010). Schramm, Christina: »Das Handhaben von Paradoxien in Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus von Antke Engel«, in FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 49 (2010), S. 91-93. Schramm, Christina: »Queering Latin American coloniality«, unveröffentlichtes Manuskript, San José 2010. Tuhiwai Smith, Linda: Decolonizing methodologies. Research and indigenous peoples, London/New York 2006. Yúdice, George: The expediency of culture. Uses of culture in the global era, Durham/London 2005. Zimmerman, Marc/Baeza, Gabriela: »Introducción«, in: Gabriela Baeza Ventura/Marc Zimmerman (Hg.): Estudios culturales centroamericanos. El nuevo milenio. San José 2009, S. xiii-xxxv.

Queering Terrorists. Vergeschlechtlichte Bilderpolitiken im Kontext von Krieg und Terror se it 9/11 – inte rde pe nde nt betrac htet KATRIN KÖPPERT

Bilderpolitiken – Blickpolitiken Das gefräßige Auge ist längst nicht ausgehungert.ϭ Dem Blick auf ein Bild scheint die Hoffnung innezuwohnen, sich in der Distanznahme zum im Bild Objektivierten zu schützenϮ und gleichsam zu aktivieren. Auf der unermüdlichen Suche nach etwas, das über die Banalität der eigenen Wirklichkeit hinausdeutet, untergebe ich mich einer Schule des Sehens und ersehne im Anblick eines Bildes mehr zu erblicken, als das bloße Auge es vermag.ϯ Die an die Aussage Siegfried Kracauers angelehnte Annahme, das Bild würde mehr zu sehen geben als die äußere Wirklichkeit es vermag, verweist entgegen ihrer Intention, dem filmischen und fotografischen Bild eine Echtheit in der Darstellung der äußeren Wirklichkeit zu attestieren, implizit auf den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit im Bild. Das Mehr im Bild deutet auf die Künstlichkeit der Herstellung von Naturtreue im Bild hin, das umso natürlicher scheint, je stärker es konstruiert und mittels chemisch, mechanisch-

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Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007, S. 180. Vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1996.

84 | KATHRIN KÖPPERT apparativer bzw. digitaler Verfahren gefertigt ist.ϰ Die Künstlichkeit wirkmächtiger Bilder folgt dabei ästhetischen Konventionen und ist eingebettet in einen spezifischen Bilddiskurs, der als Ordnungsfunktion nicht nur die Aussagen über Bilder determiniert, sondern darauf verweist, dass es sich nicht um zufällige oder schuldlose Repräsentationen handelt.ϱ Bilder der Gewalt, Bilder von Krieg und Terror fungieren daher nicht als reine Dokumente – auch wenn sie der Wirklichkeit etwas entreißenϲ –, sondern als Teilhabende und Teilnehmende an Kriegsinszenierungen. Kriegsbilder, die das Ergebnis von Gewalt und Herrschaft sind, können Gewalt und Herrschaft reinstallieren, so dass sich Bilder als Komplizen hegemonialer Machtverhältnisse fassen lassen. Kriegsführung und Kriegsfotografie gehen ineinander über, »[w]enn man für die Nachrichtendienste arbeitet [...] dann folgt man Befehlen, führt sie aus und hält sich an die Deadline. Jeden Tag. Das ist die Mentalität eines Soldaten«ϳ, so Greene, der damit die Mechanismen des Krieges mit den Mechanismen der Bildproduktion in Einklang bringt. Bilder in der Funktion des Vermittelns treten dann nicht länger als Abbildungen auf, sondern sind Akteure des Krieges. Mit der Kamera als Waffeϴ wird ein Wissen im Bild und jenseits dessen, was das Bild zeigt, hergestellt. Aufgrund der Performativität bestimmen Bilder Politiken mit und schaffen Fakten, so dass sie durchaus als Waffen problematisiert werden können, da sie im Kampf um Sichtbarkeitsverhältnisse und im Kampf um die Vormachtstellung spezifischer Bildbedeutungen in Umlauf gebracht werden, zirkulieren und Betrachtende mit ihrer Botschaft treffen, berühren und ggfs. innerlich zerstören können. Der Bildakt wäre dann ein Tötungsakt und der Tötungsakt ließe sich gleichermaßen als

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Vgl. Horst Bredekamp: »Drehmomente – Merkmale und Ansprüche des Iconic Turn«, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn: Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 20. Vgl. Philipp Sarasin: »Bilder und Texte. Ein Kommentar«, in: WerkstattGeschichte 47 (2008), S. 79, S. 77. Vgl. Georges Didi-Hubermann: Bilder trotz allem, München 2007, S. 15. Stanley Greene: Black Passport. Journal eines Kriegsfotografen, hg. und mit einem Nachwort von Teun van der Heijden, Sulgen 2009 (20. Szene. ´05. Irak Reloaded). Susan Sontag: Über Fotografie, München/Wien 2010, S. 19. Wenn Susan Sontag davon spricht, »daß wir die Kamera ›laden‹ und ›zücken‹ und ein Bild ›schießen‹«, entsteht das Bild der Kamera als Waffe sowie das der Kamera als Phallus. Diese Verschmelzung wurde im Rahmen der psychoanalytischen und feministischen Filmtheorie vielfach verarbeitet und ermöglichte, den Blick als männlich konnotierten Blick zu konstatieren, währenddessen die Frau zum Bild, zur Leinwand, zur Sinnträgerin wurde. Vgl. Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 48-65.

QUEERING TERRORISTS | 85 ein Bildakt verstehen.ϵ Hatte Roland Barthes einst behauptet, Fotografieren tötet, scheint dies eingegangen zu sein in eine politische Praxis, zu töten, um das Töten abbilden zu können und zirkulieren zu lassen.ϭϬ Vor dem Hintergrund einer schnellen, weltweiten und niedrigschwelligen Distributionsmöglichkeit via Internet bedeutet dies unter Umständen nicht nur, dass sich Bildpolitiken vervielfältigen, sondern sich im Streben nach Vereinnahmung und Durchsetzung spezifisch zu lancierender Aussagen in ihrer Aussagekraft entfesseln und verstärken. Solange »das Töten eines Menschen den Zweck hat, seinen Tod zum Bild werden zu lassen«ϭϭ, lässt sich nicht nur die Frage aufwerfen, ob wir es mit zusehends gewalttätigeren Bildern zu tun haben werden, sondern auch ob »das Betrachten diese[r] Bilde[r] unabdingbarer Akt der Beteiligung«ϭϮ ist, wie Bredekamp behauptete und daraufhin zum Boykott der Bilder aufrief. Schließlich würden die Betrachtenden im Konsum eines Bildes im Kontext eines Informations- und Bilderkrieges zu Komplizen visueller Tötungen, da sie selbst von der Bannkraft eines Bildes infiziert und in Folge der einsetzenden Immunisierung und Lähmung gegenüber den performativ hergestellten Grausamkeiten im Bild abstumpfen und absterben, was das Risiko evoziert, im Bild hergestellte Bedeutungen zu reproduzieren und transportieren.ϭϯ Zumal die Betrachtung je nach Kameraperspektive und Blicklenkung eine Identifikation mit den im Bild zentrierten Personen zu evozieren in der Lage ist, so dass sich wiederholt fragen ließe, ob das Betrachten einer Grausamkeit selbst eine Grausamkeit ist.ϭϰ Schließlich wäre denkbar, dass ich mich in Identifikation mit den im Bild und durch das Bild tötenden Personen einer Tötung mitschuldig oder mich in Identifikation mit den im Bild Getöteten einer eigenen Entschuldung an der Reproduktion der Grausamkeit im Bild durch ein passives, sensationalistisches und dem Schrecken anhängendes schaulustiges Konsumieren haftbar mache. Jedoch tauchen im Kontext des Medienumbruchs neue Fragen auf, die sich nicht mehr vor dem Hintergrund des Konsumierens von Bildern, sondern vor dem Hintergrund des Produzierens und Manipulierens von Bildern beantworten lassen. Nicht nur, dass Bilder in differierende Kontexte transferiert 9

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Vgl. Linda Hentschel: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 7-27, hier S. 14. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M. 1985, S. 19. Horst Bredekamp/Ulrich Raulff: »Handeln im Symbolischen. Ermächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstrategien des Krieges«, in: Kritische Berichte 33 (2005), S. 10. Ebd., S. 10. Vgl. Susan Sontag: Über Fotografie, S. 26. Vgl. Linda Hentschel: »Einleitung«, S. 10.

86 | KATHRIN KÖPPERT neue Bedeutungen hervorzubringen in der Lage sind, pluralisieren sich auch die Instanzen der Medienproduktionen, so dass sich nicht allein der Wahrnehmungsmodus und -status der professionellen bzw. amateurhaften Bildproduzent_innen verändert, sondern der des Bildes. Dieses erscheint als Akteur verselbstständigt, aber auch angreifbarer, insofern es keine Bedeutungsautonomie beansprucht, sondern kontextabhängig eingelesen, rezipiert, fragmentiert und manipuliert werden kann. Photoshop-Bearbeitungen, Bildcollagen und YouTube-Einbindungen von Bildern verweisen auf ganz spezifische und aus verschiedenen Standorten der Positionierung resultierende Bildaneignungen, die verstärkt durch inter- und transmediale Bilderwanderungen im Zeitalter von Social Media und kollaborativen Netzwerksystemen erschweren, dass Kontrolle über die Distribution und Verwendung bestehenden Bildmaterials ausgeübt werden kann.ϭϱ Die Aktivierung von Betrachtenden im Rahmen einer florierenden Kultur digitaler Selbsttechnologisierung und medialer Guerillapraxen ermöglicht parallel zur Gefahr der Reproduktion gouvernementaler Politiken eine Steigerung kritischer und kreativer Bildbetrachtung und verwendung. Entsprechend der Performativität von Bildern werden in der Wiederholung Verschiebungen möglich. Allein aus dem Grund erscheint mir der Boykott von Bildern zu verkürzt. Eher könnte ein Boykott eines reduktiven Konsums von Bildern, der die Risiken der Re- und Produktion hegemonialer, konsensueller Sichtbarkeitsverhältnisse nicht abzuwenden versucht, erwogen werden. Schließlich geht es mir in der Analyse um die Infragestellung der Autoritarismen und Konsensualisierungen antagonistischer Bildbedeutungen sowie der Prozesse der Fixierung, Stereotypisierung und Privilegierung ausschließlich einer Bedeutung, die, medial vermittelt, den Ausschluss dessen bewirkt, was nicht stereotyp repräsentierbar istϭϲ – jedoch nicht, ohne nicht auch das Bedingungsverhältnis von Bild und Blick in die Analyse miteinzubeziehen. Letztlich sind Bildbedeutungen nicht statisch, sondern korrespondieren mit der spezifischen Einnahme eines Blickes, der im Rahmen dieses Textes einer aus queer-feministischer, kritisch-weißer Perspektive gespeisten und einer spezifisch kulturell geformten Weise des Sehens geschuldet ist.ϭϳ Bilder im Kontext von Krieg und Terror, Krieg gegen den Terror, Terror gegen den Krieg insbesondere seit 9/11 lassen sich zwar multi15 Vgl. Susanne Regener: »Bilderwanderungen im digitalen Zeitalter. Mediale Strategien der Kriminalisierung«, deutsche Fassung von: »Mediernes kriminaliserende billedstrategier. Billedvandringer i den digitale tidsalder«, in: Hans Dam Christensen/Helene Illeris (Hg.): Visuel Kultur. Viden, Liv, Politik, København 2009, S. 428-447. 16 Vgl. Stuart Hall: »Das Spektakel des Anderen«, in: ders.: Ideologie – Identität – Repräsentation, Hamburg 2004, S. 108-166. 17 Vgl. Cornelia Brink: »Vor aller Augen: Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung«, in: WerkstattGeschichte 47 (2008), S. 61-74, hier S. 71.

QUEERING TERRORISTS | 87 valent lesen, aber obliegen – auch als »Agenten der Gouvernementalität«ϭϴ – meinem Blick, ohne damit behaupten zu wollen, dass mein Blick außerhalb hegemonialer Machtverhältnisse steht.

Vergeschlechtlichte Bilderpolitiken als Modi d e r S e l b s t ve r g ew i s s e r u n g Der Anschlag vom 11. September 2001 ging weit über die Logik bisheriger Kriegsführung hinaus und schien in Folge »gezähmt« werden zu müssen.ϭϵ Ein strategisches Mittel der Zähmung ist die visuelle Minimalisierung der Toten und Verletzten, sprich der humanen Kosten, durch die Entkörperlichung im Bild ganz in der Tradition visueller Darstellungen von Krieg.ϮϬ Wurde das Schlachtfeld früher durch Schlachtgemälde oder Kriegslandschaftsfotografien von z. B. Roger Fenton ästhetisiert, findet heute eine technoide Ästhetisierung des Schlachtfeldes anhand grünstichiger Nachtaufnahmen mit Lichtpunkten unter den Bedingungen elektronischer Übertragung statt, was einer Derealisierung der Kriegsdarstellung entspricht.Ϯϭ Demzufolge konnte z. B. der Irakkrieg als »sauberer Krieg« propagiert werden. Derealisierung setzte auch da an, wo die Künstlichkeit und Artifizialität hervorgehoben wurde, um den irrationalen Schock zu meistern und zu beherrschen. Dementsprechend kursierten später Fotografien des zerstörten WTC, die regelrecht eine Schönheit des Schreckens im Sinne der Ästhetisierung zur Stiftung von Sicherheit und Bewältigung inszenierten – wie z. B. die Bilder des amerikanischen Dokumentarfotografen James NachtweyϮϮ oder der Fotoausstellung Here is New York. A Democracy of PhotographsϮϯ. Der anhand dieser Funktionen der Ordnung und Zähmung irrationalisierte und ethnisierte Terror schien nunmehr durch einen rational konnotierten »Krieg gegen den Terror« im Modus der okzidentalistischen SelbstvergewisserungϮϰ rationalisiert werden zu müssen.Ϯϱ In der 18 Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld 2009, S. 31. 19 Vgl. Silke Wenk: »Visual Politics, Memory, and Gender«, in: Ulrike Auga (Hg.): Gender in Conflicts: Palestine – Israel – Germany, Berlin 2006, S. 113133. 20 Vgl. Gerhard Paul: Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 470. 21 Vgl. Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 2005, S. 343-375. 22 http://www.jamesnachtwey.com/ (Stand: 18.10.2010). 23 http://hereisnewyork.org/index2.asp (Stand: 18.10.2010). 24 Claudia Brunner: »Wenn die Terrorismusforschung zum Feminismus konvertiert«, Zusammenfassung des Vortrags vom 28. Oktober 2009 im Rahmen der Fachtagung »Hat Terrorismus ein Geschlecht?« des Gunda-Werner-Instituts, in:

88 | KATHRIN KÖPPERT beständigen Herstellung terroristischer Andersheit und spezifischer Eigenheit kam es nunmehr zur Mobilisierung bestimmter Bilder, die den Schrecken einerseits überwinden helfen und andererseits eine implizite Legitimationsgrundlage für explizite Gewalt gegenüber dem im Bild als ›anders‹Ϯϲ Aufgerufenen schaffen sollte. In diesem Zusammenhang spielt die Reaktivierung eines kollektiven Geschlechtergedächtnisses im Moment der Visualisierung eine entscheidende Rolle. Dabei verstehe ich Geschlecht im interdependenten Zusammenhang mit Kategorisierungen wie »Rasse«, Sexualität, Nation, Religion, Klasse – um nur einige zu nennen. Demzufolge können Frauen in ihren spezifischen Positionierungen in kriegerischen Auseinandersetzungen nie nur als Opfer, Witwen, leidende Mütter gefallener Soldat_innen und Männer in ihren spezifischen Positionierungen nie nur als Helden oder Beschützer pauschalisiert werden.Ϯϳ Vielmehr lassen sich solche Positionierungen mittels vielfältiger Überlagerungen auffächern und differenzieren. Diesen Differenzierungen und Pluralisierungen von Subjektpositionierungen scheinen, im Versuch, offizielle Kriegsgeschichten heroischer Soldaten und verletzlicher Frauen zu erzählen, spezifische Bilderpolitiken entgegen zu wirken, um nicht nur Kontrolle über Bilder und deren Zirkulation auszuüben, sondern einen gesellschaftlichen Konsens zu generieren und (bilder-) politische Überlegenheit zu demonstrieren. Stereotype Geschlechterbilder werden demzufolge aufgerufen und im Bild arrangiert, um Unsicherheiten mit der vermeintlichen Sicherheit bekannter Geschlechterrepräsentationen zu befrieden und die Notwendigkeit für militärische Kontrolle und Gewalt zu legitimieren. Somit lässt sich im Zusammenhang von Krieg und Terror von vergeschlechtlichten Bewältigungs-, Sichtbarkeits- und Selbstvergewisserungsphantasmen sprechen. Folglich inszenierte und visualisierte der professionelle Fotograf Thomas E. Franklin anhand der Kameraperspektive amerikanische Feuerwehrmänner nach den Anschlägen ähnlich der Anordnung im Bild Joe Rosenthals, das als Ikone der militärischen Siegesoperation 1945 auf dem Iwo Jima in Japan im

http://www.gwi-boell.de/web/gewalt-konflikt-terrorismusforschung-feminismus1635.html (Stand: 12.07.2010). 25 Eine Strategie, Terror zu irrationalisieren, ist der Verweis auf Selbstmordanschläge, die entgegen einer vermeintlich rationalen und geordneten Kriegsführung als Signifier für Chaos und Weiblichkeit zu lesen sein sollen, vgl. Claudia Brunner: »Hegemonic Discourse on Palestinian Women Suicide Bombers and the Logic of Gender«, in: Ulrike Auga (Hg.): Gender in Conflicts: Palestine – Israel – Germany, Berlin 2006, S. 23-35. 26 Im Folgenden setze ich einfache Anführungszeichen ein, um Andersheit als Produkt hegemonialer Machtverhältnisse und -prozesse kenntlich zu machen. 27 Vgl. Krista Hunt/Kim Rygiel: »(En)Gendered War Stories and Camouflaged Politics«, in: dies. (Hg.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics, Aldershot/Burlington 2006, S. 1-24.

QUEERING TERRORISTS | 89 kollektiven Gedächtnis verankert istϮϴ. Auf der offenen Wunde des Ground Zero, die durch die sich im Hintergrund auftürmende Ruine des WTC im Bild markiert ist, werden drei weiße Feuerwehrmänner mit Blick auf die sich erhebende Flagge zentral gerahmt, so dass nicht nur auf der symbolischen Ebene das Geschehen ungeschehen gemacht werden kann, sondern ein visueller Sieg durch die Behauptung männlich-amerikanischer Potenz errungen wird, insofern sich der Fahnenmast als Phallus im Bild einprägt.Ϯϵ Entsprechend der Reaktivierung einer scheinbar stabilen Geschlechterordnung wurde weiße Männlichkeit anhand von Bildern der Heldenverehrung und des Männerbündischen reinstalliert, um zu einem Sicherheits- und Überlegenheitsgefühl in Zeiten der Krise und Verwundung zurückkehren zu können.ϯϬ Dies verdeutlichten die Bildinszenierungen George W. Bushs inmitten von Soldaten auf der USS Abraham Lincoln am 01. Mai 2003 eindrücklich.ϯϭ Im Rahmen dieser Bilder wurde zudem die Ikonografie bekannter Kriegs- und Katastrophenfilme genutzt, um im Konnex von Männlichkeit und Maschine militärische Sicherheit zu suggerieren. Interessant hierbei ist, dass die afro-amerikanischen Soldaten aus den Zentren der Bilder gedrängt erscheinen, um ein Whitening amerikanischer Wehrhaftigkeit zu erzielen und ein Darkening von Terroristen zu ermöglichen.

(Queer) Darkening of Terrorists Eine parallel virulente Strategie der visuellen Strukturierung nach 9/11 scheint die Repräsentation des »Feindes« im Zuge einer »[rassisierten] Grammatik der Repräsentation«ϯϮ in Fotografien und vor allem in Karikaturen und Bildbearbeitungen zu sein, die anhand zahlreicher Stereotypisierungen wie auch Modifizierungen durchsetzt, dem Terror ein Gesicht einzuschreiben, das nicht-weiß, nicht-christlich, nicht-amerikanisch ist.ϯϯ Zweckdienlich und mittels einer Sprache von Licht und Schatten in Szene gesetzt, wurden die Fahndungsfotos der »Most wanted Terrorists« 2001 enthüllt und durch die Ansprache von George W. Bush Terrorism has a face, and today we expose it 28 http://www.flickr.com/photos/luvi/1258392654/ (Stand: 12.07.2010). 29 http://web.mac.com/tomefran/THOMAS_E._FRANKLIN/NEWS.html (Stand: 12.07.2010). 30 Vgl. Linda Hentschel: »Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernementalität seit 9/11«, in: dies. (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror, Berlin 2008, S. 189ff. 31 http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-29910.html (Stand: 12.07.2010). 32 Stuart Hall: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, S. 133. 33 Vgl. Karen Engle: »The Face of A Terrorist«, in: Cultural Studies Critical Methodologies, Bd. 7, Nr. 4 (2007), S. 397-424, hier S. 403f.

90 | KATHRIN KÖPPERT for the world to seeϯϰ diskursiv gerahmt. Dabei fungierten die Bildunterschriften in Korrespondenz zum Bild mit Angaben zum Namen, zur Sprache und Hautfarbe als stilistische Mittel der geschlechtlichen Identifikation, kulturellen Markierung und Ethnisierung, so dass die Verdächtigten als nicht-weiß, nicht-amerikanisch, nicht-englisch-sprechend, aber männlich hergestellt wurden. Selbst der eine amerikanische Staatsbürger, der sich unter den Verdächtigten befand, wurde in das rassifizierende Raster eingefasst, insofern die Angaben zu seinem Namen, seiner Sprache und äußerlichen Erscheinung ethnisierende und dämonisierende Implikaturen beinhaltetenϯϱ, um nicht die Frage aufkommen zu lassen, warum der Krieg gegen den Terror gegen den Mittleren Osten geführt werden müsse und nicht gegen Amerika selbst. Demzufolge diente die offizielle Enthüllung und Distribution der Bilder der »Most Wanted Terrorists« viel eher der diskursiven Operation der Stigmatisierung von Terroristen anhand eines Darkenings sowie der Evokation und Kollektivierung von Angst und Abwehr der Stigmatisierten denn der Warnung der Bevölkerung, nunmehr wachsam zu sein, um einen Terroristen überführen zu helfen. Jenes diskursive Facing der Terroristen durch das FBI ließe sich als im kollektiven Bewusstsein eingelagert und anhand vielfältiger Bildmodi multipliziert und mobilisiert verstehen. Im Folgenden betrachte ich daher die sich als Poster in New York oder per Mailinglisten und Internet nach 9/11 virtuell ausbreitenden und zirkulierenden Repräsentationen vor allem Osama bin Ladens.

Osama bin Laden – ›queered signifier‹ des Terrors Trotz des Umstandes, dass Osama bin Laden sich genauso wenig von terroristischen Anschlägen distanziert hat wie ihm auch keine Beteiligung an den Anschlägen nachgewiesen werden konnte, wurde er anhand überproportional vieler Darstellungen und visueller Metamorphosen zum hauptsächlichen »flickering signifier«ϯϲ des Terrors. Dabei variieren die Visualisierungen je nach Kontext und Blickeinnahme, können aber u. a. auf ein interdependentes und sich verzahnendes Schema der Sexualisierung, Feminisierung, Rassifizierung, Primitivierung und Entmenschlichung zurückgeführt werden. Unter der Voraussetzung eines interdependenten Verständnisses bezeichne ich dieses Schema vorerst als Queering des Terroristen im Sinne einer deprivilegieren34 http://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2001/10/200110103.html (Stand: 10.07.2010). 35 http://www.fbi.gov/wanted/terrorists/teryasin.htm (Stand: 10.07.2010). 36 N. Katherine Hayles: »Virtual Bodies and Flickering Signifiers«, in: http:// www.english.ucla.edu/faculty/hayles/Flick.html (Stand: 12.07.2010).

QUEERING TERRORISTS | 91 den Bildpraxis, um darauf mit der herrschaftskritischen Methode queerender Wissensproduktionen zu reagieren. Signifikant dabei erscheint mir die Bildwanderung des Konterfeis Osama bin Ladens aus dem Jahr 1998, das der Agentur Associated Press von einem anonymen Fotografen zugespielt wurde.ϯϳ Unabhängig vom Entstehungshintergrund wurde es zu einem dominierenden Visualisierungsmoment der westlichen Medien. Zugleich erlangte es in Form eines Al Quaida PropagandaFotosϯϴ eine diametral entgegengesetzte Aussagekraft, was auf den Zusammenhang von Bilddiskurs und Bildtransfer verweist.ϯϵ Das Bild, das sich aufgrund politischer Instrumentalisierungen verselbstständigte, wird zwar je nach Kontext different rezipierbar, jedoch nicht unter Auslassung spezifisch gouvernementaler Diskurse. Daher lässt sich die anonyme Photoshop-Bearbeitung des AP-Bildes als Verlängerung einer westlich-dominanten Bildtradition sexualisierter Darstellungen ethnisierter Männer verstehen, womit sich Politiken durchsetzen, die sich im Facing des Terroristen implizit andeuten und in der YouTube-Bearbeitung »Osama bin Laden is a Dick Head«ϰϬ externalisieren und potenzieren. Anhand der Ersetzung des Turbans mit einem Teil des männlichen Genitals kann der Körper und somit das Geschlecht in Folge der Umkehrung des cartesianischen Subjekts als Ausdruck der (sexuellen) Identität verstanden werdenϰϭ, so dass das Körperbild Artikulationsraum für Identität, Charakter und Moral Bin Ladens wird. Im Rahmen eines solchen Diskurses gelten Bilder des ›Anderen‹ als Abbildungen und Repräsentationen dessen, was sie zeigen. Demnach lässt sich das transformierte Bild Bin Ladens als Ausdruck übersteigerter Männlichkeit lesen, was sich affirmativ auch auf arabischen Webseiten zur Unterstützung eines maskulinistischen Selbstbildes finden ließ. Zugleich ist der Ort des Verstandes im Bild durch Potenz substituiert, was darauf verweist, dass hier der abendländische Diskurs vernunftgeleiteter Unterdrückung von Sexualität in sein Gegenteil verkehrt zu sein scheint. Der ›Andere‹ wird demnach als hypersexualisiert und irrational hergestellt und bestätigt. Da das Bild höchst konstruiert und im Rahmen des 37 http://www.apimages.com/OneUp.aspx?st=k&kw=osama%20bin%20laden&sh owact=results&sort=relevance&intv=None&sh=1010&kwstyle=and&adte=127 8928669&pagez=20&cfasstyle=AND&rids=9de8b280ff04401aadd4e9b4aa488a 7a&dbm=PThirtyDay&page=1&xslt=1/ (Stand: 13.07.2010). 38 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a2/Bin_Laden_Poster2.jpeg (Stand: 12.07.2010). 39 Für diesen Hinweis danke ich Andrea Nachtigall. 40 http://www.youtube.com/watch%3Fv%3D-0i3JaD76KU (Stand: 13.07.2010). 41 Vgl. A.G. Gender-Killer: »Geschlechterbilder im Nationalsozialismus. Eine Annäherung an den alltäglichen Antisemitismus«, in: dies. (Hg.): Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005, S. 15.

92 | KATHRIN KÖPPERT YouTube-Videos nachvollziehbar manipuliert ist, ließe sich einerseits behaupten, dass die Künstlichkeit des interdependenten Verhältnisses von Sexualität und Race aufgezeigt würde. Andererseits wird die Identifikation des rassifizierten Mannes mit dessen Geschlecht im Bild reinskribiert und ohne jede performative Störung durchgesetzt. Wiederholt wird die Phantasie angeregt, sich den ethnisierten Mann als überpotenten, hypersexuellen triebhaften ›Primitiven‹ zu imaginieren und mittels Photoshop und Informationstechnologien zu erarbeiten, was zusätzlich ermöglicht, den ›Anderen‹ in der Überblendung von Kopf und Genital zu fetischisieren. Die Fetischisierung in der digitalen Bearbeitung ermöglicht dann eine Bannung und Beherrschung der vermeintlich terroristischen Bedrohung. Schließlich kann im Bild eine Differenz zu weißen, amerikanischen Männerhelden begründet werden, die den Penis haben, aber nicht der Penis sind, um Lacan aufzugreifen.ϰϮ Insofern Lacan in dieser Herleitung die Frau als das Subjekt bezeichnet, das nicht den Penis hat, sondern der Penis ist, oder anders ausgedrückt, nicht die Macht hat, Bilder herzustellen, sondern darauf reduziert ist, Bild zu sein, kann die Bebilderung Bin Ladens als Penis auch als visuelle Verweiblichung gelesen werden. Indem sich die visuelle Verweiblichung als symbolische Kastration vollführt, deutet sich eine Delegitimierung ethnisierter Männlichkeit mittels Effeminierung an, die sich in weiteren Karikaturen gewalttätig visualisieren. An das Bildrepertoire der Lynchmorde schwarzer Männer in den 1930er Jahren in den Südstaaten anknüpfend, wird in einer Karikatur Osama bin Laden nicht nur aufgeknüpft, sondern in Variation und gleichsam visueller Potenzierung an dem Organ aufgehängt, das zuvor als Sinnbild für die Sexualisierung und Pervertierung markiert wurde – seinem Genital.ϰϯ Diese visuellen Verweiblichungsphantasien und -strategien durchsetzen sich wahlweise mit einer Homosexualisierung als historischer Praxis der Delegitimierung. Kündigt sich in der Bildüberschrift »World’s biggest Dickhead« des YouTube-Videos wie auch der Bildunterschrift »When being an asshole just isn’t enough« der Abbildung Osama Bin Dickhead der Verweis auf den Anus an, vollzieht sich in der Abbildung Osama, Empire State Building die anale Penetration Bin Ladens durch das Empire State Building als Symbol Amerikas und die Anrufung Bin Ladens als »Bitch«ϰϰ. Die Diskursivierung ethnisierter Männlichkeit als effeminierte Männlichkeit, die sich auch in der gebückten Darstellung Carl Lewis’ auf roten Stöckelschuhen in der Pi-

42 Vgl. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: ders.: Schriften II, Weinheim/Berlin 1986, S. 129ff. 43 Vgl. Karen Engle: »The Face of A Terrorist«, S. 413. 44 http://www.thehumorsource.com/system/items/33456.jpg (Stand: 13.07.2010).

QUEERING TERRORISTS | 93 relli Kampagne »Power is nothing without control« ausdrücktϰϱ, wird durch die weiblich konnotierte passive Haltung Bin Ladens multipliziert. Bin Laden wird somit nicht nur als Terrorist, sondern als ›Queer Terrorist‹ reinskribiert. Solange Queers und Terroristen diskursiv als Bedrohung der Nation imaginiert werden, können die »Monster, terrorists und fags«ϰϲ anhand der Darstellung der imperialen und aktiv-penetrierenden Kraft Amerikas visuell bezwungen werden. Jene Be- und Überwältigung bzw. Vergewaltigung im Bild kann die heteronormative Hegemonie Amerikas wiederherstellen helfen, so dass die Frage, wer wen im Bild penetriert, verletzt oder tötet, rassifizierend und machtherstellend beantwortet wird. Der als Kastration eingelesene Einsturz der phallischen Zwillingstürme wird visuell durch eine anale Penetration und Kastration beantwortet und an diejenigen rückadressiert, die die Angst vor der Bedrohung und Kastration amerikanischer Vormachtstellung auslösten. Sexualisierte Bildkonstruktionen sind einer Immunisierung Amerikas durch die Infektion und Verletzung der ›Anderen‹ im Bild zweckdienlich, was sich durch das Empire State Building in der Lesart einer Schmerz verursachenden Spritze ausdrückt. Die Androhung homosexueller Penetration als Waffengewalt geht gleichermaßen von dem skandalumwitterten Bild »Fag Bomb«ϰϳ aus, in dem Bin Laden als Pars pro Toto für den islamistischen Terror in die Passivität gedrängt werden sollte, aber vor allem die afghanische Bevölkerung pauschal adressiert wurde. Dabei dient die Figuration von Soldat und Maschine nicht nur der Bezwingung und Vernichtung der als »fags« konstruierten ›Anderen‹, sondern der Rassifizierung von Homosozialität und Homosexualität in der visuellen Erniedrigung, indem aus der Mitte des Militärs sowie der Mitte des Bildes heraus auf etwas außerhalb des Bildes Stehendes verwiesen wird.

45 Carl Lewis fotografiert für eine Pirelli Anzeigenkampagne, in: http://i.telegraph.co.uk/telegraph/multimedia/archive/00863/carl_lewis_pirelli__ 863104c.jpg (Stand: 12.07.2010). 46 Jasbir K. Puar/Amit Rai: »Monster, Terrorist, Fag: The War on Terrorism and the Production of Docile Patriots«, in: Social Text 20, Nr. 372 (2002), S. 117148, hier S. 117. 47 Das Bild, das eine US Militär-Kampfflugzeug-Bombe mit der Aufschrift »High Jack this Fags« zeigt und während der Afghanistan-Invasion 2001 fotografiert wurde, wurde nach einer Kontroverse, welche die GLBT-Community auslöste, zurückgezogen, in: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Fag_bomb.jpg (Stand: 12.07.2010).

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Osama Bin Dickhead http://uncyclopedia.wikia.com/wiki/File:Osama-Bin-Laden-Dick-Head.jpg (Stand: 12.07.2010)

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Ab u G h r a i b – F o l t e r z e l l e d e r › E n t m ä n n s c h l i c h u n g ‹ Die (homo-) sexuelle Folter, die sich auch in den Bildern Abu Ghraibs vollzieht, ist als spezifische Zivilisierungstechnik paradoxerweise der Ort, an dem die islamische Tabuisierung homosexueller Handlungen auf die Homophobie des US Militärs und die Voreinstellungen heteronormativer Geschlechtlichkeit trifft.ϰϴ Der Zwang zu homosexuellen Handlungen im Bild als Form der Folter setzt voraus, dass Homosexualität diskursiv auf beiden Seiten die Zerstörung der Integrität der Kulturen und der Nation sowie der dargestellten Betroffenen auszudrücken vermag. Daher wird Homosexualität immer dann instrumentalisiert, wenn es als Mittel der Delegitimierung die ›Perversion‹ bestimmter Systeme hervorheben soll, was u. a. zu Bildbearbeitungen führt, die eine Allianz zwischen Bush und Bin Laden bzw. Saudi-Arabern auszudrücken versuchen, ohne sich der eigenen Homophobie bewusst zu sein, einen Text ins Netz zu stellen, der über die Kollaboration zweier verfeindeter Systeme sprechen möchte und dabei Bilder homosexuellen Austauschs zu Illustrationszwecken missbraucht.ϰϵ Der bei den Bildern Abu Ghraibs eingenommene Kamerablick der sowohl fotografierenden als auch betrachtenden Personen ermöglicht zudem, die erhabene Position der Penetrierenden einzunehmen, so dass die Betrachter_innen aufgrund der Blicklenkung an der Destruktion und symbolischen Tötung der Penetrierten bei gleichzeitiger Selbstvergewisserung beteiligt werden. Ein weiteres Beispiel für die Aktivierung durch Beteiligung ist die aktive Imagination in eine Position des Folternden und Penetrierenden im mit Pulp-Fiction-Musik unterlegten Internetspiel »Osama bin Laden in Fist of Allah«ϱϬ. Per Mausklick wird Bin Laden an Gefängnismauern angekettet, durch anale Penetration gefoltert und schmerzverzerrt animiert. Folterphantasien werden als Tötungsphantasien im Internet mit der Aufforderung »Finish Him« mobilisiert, so dass es sich nicht länger nur um eine Immunisierung und Sicherung der Betrachtenden im Blick auf die Gewalt der ›Anderen‹ handelt. Stattdessen besteht hier ein Akt der Entmännlichung auf Grundlage der Kastration durch Vergewaltigung, der als symbolische Entmenschlichung und Tötungϱϭ nicht nur einen Bildakt beschreibt, sondern einen Blick-Akt. Die Aufforderung, dem Befehl »Again« per Mausklick zu folgen, um die Vergewalti-

48 Vgl. Judith Butler: »Folter und Ethik der Fotografie«, in: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror, Berlin 2008, S. 205-228. 49 Vgl. Michelle Mairesse: »The Bush-Saudi-Connection«, in: http://www.hermespress.com/BushSaud.htm (Stand: 12.07.2010). 50 http://www.newgrounds.com/portal/view/34435 (Stand: 13.07.2010). 51 Judith Butler spricht vom homosexuellen Akt als Mord, vgl. dies.: »Folter und Ethik der Fotografie«, S. 222.

96 | KATHRIN KÖPPERT gung erneut auszulösen, korrespondiert mit dem Blick, so dass der Gebrauch dieser Bilder die Bedingungen der Gewalt im Bild ermöglicht und die Anwesenheit von Augenzeug_innen in der Folterzelle Abu Ghraibs reproduziert.ϱϮ Vor dem Hintergrund virtueller Politiken der Entmännlichung und Entmenschlichung = ›Entmännschlichung‹ scheint die Frage nach der »Banalisierung des Bösen«ϱϯ insoweit gerechtfertigt, dass Bilder wie die Abu Ghraibs entstehen und zirkulieren können. Die endlose Wiederholbarkeit der Bearbeitungsformen der Bilder in Form von Computerspielen schreiben die Spuren des Terrors tiefer ein, ohne dass die Frage nach den Mechanismen der Bildermobilisierung oder der eigenen Verantwortung im Umgang mit diesen Bildern gesellschaftspolitisch verhandelt wird. Stattdessen wird das Böse externalisiert und auf einzelne Personen verlagert, denen die Gesellschaft moralische Gleichgültigkeit, Verkommenheit oder Invertierung bescheinigt. Im Anschluss daran möchte ich schließlich auf das Beispiel Lynndie Englands als einer der Akteur_innen in der Folterzelle eingehen.

L yn n d i e E n g l a n d – P o s t e r - G i r l terroristischer Brutalität? Konnten viele in Umlauf gebrachte Repräsentationen viktimisierter Weiblichkeit als das »Antlitz des Schmerzes«ϱϰ nach 9/11 evozieren, dass kriegerische Handlungen und militärische Gewalt maskulinisiert wurden, lässt sich in Bezug auf das Verbrechen des Militärs in Abu Ghraib behaupten, dass eine visuelle Feminisierung stattfand bzw. dass das ›Gesicht Abu Ghraibs‹ ein weibliches ist. Die sich in den Folterbildern vollziehende Außergesetzlichkeit des Krieges gegen den Terror konnte durch die Reartikulation der stereotypen Geschlechterordnung beherrschbar gemacht werden. Mit dem ersten Erscheinen Lynndie Englands in den Fotografien verschwanden die Abbildungen männlicher Soldaten.ϱϱ Die Unsichtbarmachung der männlichen Folterer ermöglichte der männlich konnotierten US-Armee, sich als Zeichen der Befreiung und des Schutzes zu inszenieren, während die Visualisierungen Englands die politischen Verhältnisse zu überblenden halfen. Diese waren mit Sexualisierungen angereichert, so dass England als Projektionsfläche sexueller Phantasien fun52 Vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung, S. 12. 53 Hannah Ahrendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986, S. 371. 54 »Das Gesicht der Schmerzen«, in: Bild, 11.09.2002, Titelseite. 55 Vgl. Melisa Brittain: »Benevolent Invaders, Heroic Victims and Depraved Villains: White Femininity in Media Coverage of the Invasion of Iraq«, in: Krista Hunt/Kim Rygiel (Hg.): (En)Gendering the War on Terror. War Stories and Camouflaged Politics, Aldershot/Burlington 2006, S. 73-96.

QUEERING TERRORISTS | 97 gieren und als Domina des amerikanischen Traums fetischisiert werden konnte. England diente u. a. als Fetisch und Katalysator für die Phantasien einer Gesellschaft, die sich anhand solcher Abspaltungen als Mitte herzustellen wusste. Jene Ränderung gelang mit Mitteln der Rahmung Englands als deviante und maskulinisierte Frau, die anhand der Anrufungen klassenspezifischer Klischees als Negativfolie der Karriere Jessica Lynchs visualisiert wurde, wobei weiße amerikanische Männlichkeit aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwand. Die Fokussierung auf ihre ›invertierte Weiblichkeit‹ in den Darstellungen als Hure, Domina oder Butch drängte weiße Männlichkeit aus den visuellen Rahmungen des Horrors von Abu Ghraib. Entgegen den Figurationen männlich konnotierter, rationaler und militärischer Kriegsführung konnte der Terror in Abu Ghraib als irrationales und somit weibliches Moment hergestellt werden. In sadistischer Pose vor der Kamera inszeniert ermöglichte die globale Verbreitung ihres Gesichtes die Ablenkung von der Beteiligung der Regierung an der Folter sowie den Aufbau öffentlichen Supports in einer Zeit der Krise, während England allein das Verbrechen angelastet und nur ihr zum Verhängnis wurde. Trotz des Umstandes, dass auch sie fotografierendes und folterndes Subjekt war, wurde sie als Objekt und Spektakel im Bild mobilisiert und entsprechend des als ›anders‹ inszenierten Terroristen Osama bin Laden für die Instandsetzung einer nationalen Identität funktionalisiert. Die Funktionalisierungen, die ich versucht habe herauszuarbeiten, obliegen dabei nicht primär der Frage, wer Bild-Autor_in oder Bild-Publikator_in ist.ϱϲ Aus Gründen der Fokussierung auf medientechnische und diskursive Bedingungen der Politiken, die sich in Bildern herstellen und regulieren, ist es möglich, digitale Bildbearbeitungen von anonymen Amateur_innen neben Fotografien professioneller Kriegsreporter_innen zu stellen, da beide Repräsentationsformen kulturprägende Instanzen sein können, unsere Wahrnehmung prägen und im Austausch mit ikonografisch und kommunikativ geprägten Blickkulturen stehen.ϱϳ Daher scheint es möglich, dass das Bild im Verhältnis zu Produktionskontext, Distributionsort und Betrachtung eine Eigenlogik entwickelt. Zugleich ist es in hegemoniale Machtstrukturen eingebunden und kann politische Wirksamkeit erreichen, wenn es nicht durch kritische Blickeinnahmen angeeignet und mobilisiert wird. Ungeachtet meiner Positionierung im Kontext queer-feministischer, kritisch-weißer und okzidentaler Perspektiven, die einen spezifischen Blick auf das Material bedingen, muss danach gefragt werden, welche Blickkulturen die Bilder wie hervorbringen 56 Vgl. Philipp Sarasin: »Bilder und Texte«, S. 78. 57 Vgl. Susanne Regener: »Forschungsfeld Visuelle Kultur. Die alte und die neue Welt der Fotografie«, in: Ruth Ayaß/Jörg Bergmann (Hg.): Qualitative Methoden der Medienforschung, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 438.

98 | KATHRIN KÖPPERT und neu bestimmen. Schließlich lassen sich auch Strategien der Bildermobilisierung finden, die die Visibilitätsreserven des Westens für ihre spezifischen Interessen nutzen, u. a. um die westlichen Humanitäts- und Souveränitätserzählungen z. B. im Kontext vermeintlicher Befreiungsoperationen zu unterminieren. Das Propagandaplakat Osama bin Ladens ist dafür ein Beispiel, die Zurschaustellung soldatischer Opfer z. B. in Falludscha im April 2004 ein anderes.ϱϴ In diesem Kampf um Sichtbarkeitsverhältnisse wird das gefräßige Auge nicht ausgehungert werden können.

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58 Vgl. Linda Hentschel: »Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernementalität seit 9/11«, S. 191.

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Gender und Lustmord in Th eorie und Ästhetik. Über den konstitutiven Wechselbezug der binäre n hete rose x uelle n Gesc hlec htermatrix und des Lustmordmotivs in de n k ulture llen Pha ntasie n des 20. Ja hrhunde rts IRINA GRADINARI

Eines Tages werden die Menschen sagen, ich habe das 20. Jahrhundert geboren. Jack the Ripper1

Steht das 20. Jahrhundert im Zeichen des Lustmordes? Zumindest prägt der Lustmord seine kulturellen Phantasien, wie der filmische Jack the Ripper vorführt – eine fiktive Figur, die paradigmatisch gerade durch den Film hervorgebracht wurde. Beim Sprechen über den Lustmord stößt man jedoch auf ein Paradox. Gesetzlich gesehen existierte er nie, dennoch ist er kein Anachronismus, sondern gerade heutzutage ein prominenter Gegenstand der populärwissenschaftlichen Kriminalliteratur und ein beliebtes literarisches, bildkünstlerisches und filmisches Sujet. Den wenigen ›realen‹ gegenwärtigen Lustmördern steht eine umfangreiche Anzahl von kulturellen Imaginationen gegenüber. Möchte man sich ihrer Analyse widmen, wird man gezwungen, die Diskursgeschichte zu rekapitulieren, weil sich der Lustmord nicht definieren lässt, was letztendlich seine Diskreditierung in den theoretischen Debatten zur Folge hatte. 1

Das Zitat stammt aus dem Film From Hell (USA 2001) von Albert und Allen Hughes. Im Film wird es als Zitat aus einem Brief von Jack the Ripper angegeben.

104 | IRINA GRADINARI In der deutschen Bundeskriminalstatistik oder im Strafgesetzbuch wurde der Begriff Lustmord nie gebraucht. Der Brockhaus definiert Lustmord 2006 als »vorsätzl. Tötung eines Menschen zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, soweit der Täter in der Tötungshandlung selbst sexuelle Befriedigung sucht.«2 Diese Definition ist vom Paragrafen 211 des StGB abgeleitet, der verschiedene Definitionen für Mord vorgibt, ohne den Begriff Lustmord zu verwenden. In der Kriminalstatistik des Deutschen Reiches wird am Anfang des 20. Jahrhunderts von »Notzucht mit der Verursachung des Todes« gesprochen, was eher selten registriert wird. Beispielsweise sind 1915 den Angaben zufolge nur zwei Fälle und 1920 nur sechs Fälle vorzufinden. Später wird der Begriff Sexualmord eingeführt und bis 2001 verwendet. Ab 2001 spricht man von »Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten«. Stephan Harbort, deutscher Spezialist für Serienmord, berichtet in seinem populärwissenschaftlichen Buch Das Hannibal-Syndrom über die Zunahme von Serientaten.3 Von 1986 bis 1995 gibt er 1855 Sexual- und Raubmorde an, von denen 8,2% Serientätern zugeschrieben werden.4 Die offiziellen Statistiken machen zwar keine Aussage über die Zahl der Serientaten, berichten dafür aber über eine Verminderungstendenz bei der Anzahl von Sexualmorden. 1977 liegt die Zahl bei 72, 1986 bei 56, 1997 bei 19, 2005 bei 28 und 2006 beträgt die Zahl der Morde im Zusammenhang mit Sexualdelikten nur 4% von der Gesamtanzahl aller begangenen Morde: 23. Diese Differenz in der Anzahl ergibt sich aus der Definition des Lustmordes bzw. Sexualmordes, deren Wandlung sich im 20. Jahrhundert in drei Phasen vollzieht: Die Ausdifferenzierung des Lustmordes in der Sexualpathologie und Kriminalanthropologie, die Psychologisierung des Lustmordes und der Verlust des wissenschaftlichen Interesses bis hin zu seiner völligen Diskreditierung als analytische Kategorie. Die Ausdifferenzierung des Lustmordmotivs bedingen die jeweiligen Disziplinen, die den Lustmord mit ihren Paradigmen zu erklären versuchen. Die Kriminalanthropologie stellt den Körper, dessen Destruktionstrieb am lesbaren Signifikanten sichtbar wird, ins Zentrum. Der lustmörderische Trieb wird von Degenerations- und Atavismuszeichen abgeleitet. Der Gegenstand der Psychiatrie ist dagegen die unsichtbare Psyche, und der Werdegang des Täters – besonders familiäre Erlebnisse und kindliche Traumata – wird zum Fokus. Die Ausdifferenzierung des Lustmordes und sein Definitionswandel bestimmen im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur Kriminalanthropologie und -psychologie, sondern auch Literatur, bildende Kunst und Film. Die Studien von Martin Lindner5, Hania Sieben2 3 4 5

Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 17, Mannheim 2006, S. 295. Stephan Harbort: Das Hannibal-Syndrom, Leipzig 2001, S. 16. Stephan Harbort: Das Hannibal-Syndrom, S. 22. Martin Lindner: »Der Mythos ›Lustmord‹: Serienmörder in der deutschen Literatur, dem Film und der bildenden Kunst zwischen 1892 und 1932«, in: Joachim

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 105 pfeiffer6 und die Aufsätze des Sammelbandes zum Lustmord als mediales Phantasma, herausgegeben von Susanne Komfort-Hein und Susanne Scholz7, zeigen, wie die verschiedenen Medien an der diskursiven Formung des Lustmordes um 1900 teilnehmen, indem sie den wissenschaftlichen Ansätzen ihrer Zeit Erklärungskonzepte entnehmen, diese popularisieren und mediumsbedingte Transformationen vornehmen. Trotz dieser intermedialen Wechselwirkung oder gerade deswegen bleibt der Lustmord eine Leerstelle, in die jede Epoche ihre Phantasien, Wünsche und Ängste, aber auch ihre wissenschaftlichen Ansätze projiziert. Als undefinierbares Phänomen ist er ein Narrationshebel8, der die Erzählung als Erklärung in Gang setzt, und zugleich ein Narrationsschema bzw. ein Gerüst, das bestimmte Erzählungsstränge und Figuren enthält, die aber immer neu aufgefüllt werden können. Die männliche Geschlechtsidentität wird dabei zur Grundlage aller Argumentationen, weil die Kriminalanthropologie den Lustmord vorwiegend mit der und über die männliche Sexualität erklärt. So wird das Lustmordmotiv seit seiner Entstehung an die heteronormative Geschlechtermatrix bzw. an die männliche Subjektivität gebunden, die über die Abspaltung ›gefährlicher‹ Tendenzen hervorgebracht wird. Die Dopplungen und Überschreitungen als De- und Restabilisierungsnarrativ werden laut Walter Erhart9 bereits seit dem 18. Jahrhundert zur Männerwerdung in der Literatur eingesetzt. Der Lustmord scheint also geeignet, diese im Prozess dargestellte Entwicklung zum Mann zu verwirklichen. Wegen des großen Umfangs des Themas, das den Rahmen dieses Aufsatzes sprengt, werden hier nur die Tendenzen des Lustmorddiskurses in Bezug auf

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Lindner (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien: Konstellation in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 272-305. Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln/Weimar/Wien 2005. Susanne Komfort-Hein/Susanne Scholz (Hg.): Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein/Taunus 2007. Martin Lindner: »Der Mythos ›Lustmord‹«, S. 272f. Lindner spricht vom Lustmord als einem Anti-Text, der die Lücken im Sinnstiftungsprozess aufreißt und eine Diskursgenese anstößt. Walter Erhart: »Forschungsbericht – Das zweite Geschlecht: Männlichkeit interdisziplinär«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 30/2 (2005), S. 156-232, hier S. 204. »In der bürgerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts […] ist Männlichkeit in hohem Maße doppelt konstruiert: empfindsam und kriegerisch, privat und öffentlich. Ihre Geschichte besteht nun gerade darin, diese Dopplung in eine narrative Bewegung zu führen. […] Wie es die rites de passage zeigen, besteht Männlichkeit aus einer Wegstrecke, die durch viele Orte hindurchführt, einer Passage, durch die sich Männlichkeit in Form von Grenzüberschreitungen und Initiationen konstituiert. Männer eignen sich Männlichkeit an, indem sie eine Geschichte darstellen, indem sie in eine Geschichte gezwungen werden, indem sie performativ eine Geschichte vollziehen.«

106 | IRINA GRADINARI die Geschlechterordnung im 20. Jahrhundert mit Gewichtung auf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur skizziert, die in drei Etappen der Lustmorddiskursentwicklung entsprechend vorgestellt werden. Der Aufsatz fungiert als Forschungsbericht über die Ergebnisse der Dissertation Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die 2009 an der Universität Trier fertig gestellt wurde.10

Entstehung des Lustmordmotivs Der Begriff Lustmord entsteht in der deutschen Kultur zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. An seiner anfänglichen Entwicklung und Ausdifferenzierung arbeiten vorwiegend die deutschen Kriminologen, so dass in seiner Definition die damalige Vorstellung vom männlichen Trieb zugrunde gelegt wurde. Grimms Wörterbuch erwähnt zum ersten Mal den Begriff, der aber offensichtlich in den Massenmedien schon einige Zeit kursierte. Mit Referenzen auf die aktuellen Zeitungen wird »Lustmord« 1885 als ein »neuerdings aufgekommenes Wort«, als »Mord aus Wollust, nach vollbrachter Notzucht«11 beschrieben. Was genau darunter zu verstehen ist, präzisiert Richard von Krafft-Ebing in Psychopathia Sexualis (1886)12, der die Ideen der Kriminalanthropologie vereinnahmt, zumal auch Cesare Lombroso die verbrecherische Ätiologie auf die Sexualität zurückführt. Krafft-Ebings Definition markiert jegliche Abweichung von den damals herrschenden männlichen Sexualnormen: gesteigerte Potenz und Impotenz, oft in Zusammenhang mit ›Perversionen‹, unter die Sadismus, Masochismus, Homosexualität, Fetischismus und Pädophilie fallen.13 Der Lustmord wird entweder zur Fortsetzung des Koitus (als Beweis des gesteigerten Triebes) oder zu dessen Ersatz (als Beweis für Triebmangel) erklärt. Dank der kriminalanthropologischen Ansätze wird das Paradigma des ›natürlichen‹ Triebes zentral, der durch die Kultur nicht eingedämmt wurde. Bei der Analyse anderer Studien dieser Zeit (Erich Wulffen14, Felix Rit15 ter , Josef Rahser16 und Magnus Hirschfeld17) lässt sich feststellen, dass sich 10 Die Dissertation erscheint 2011 bei transcript in der Reihe Lettre. 11 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Leipzig 1885, S. 1348. 12 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, München 1984, S. 80. 13 Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«, S. 192. Siebenpfeiffer unterscheidet in Referenz auf die Definition von Peter Gast (1930) drei Lustmorde: den Mord während, nach oder vor dem Geschlechtsverkehr. 14 Erich Wulffen: Der Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte, Berlin 1920. 15 Felix O. E. Ritter: Der Lustmord und ihm verwandte Erscheinungen perverser Geschlechtsempfindungen. Populär-medizinische Studie, Niemegk 1890. 16 Josef Rahser: Scheinbarer Lustmord, Düsseldorf 1935.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 107 der Lustmord allem voran zu einem männlichen Täterdiskurs herausbildete, weil die Fallgeschichten sowohl die Definition dieses Verbrechens unmittelbar aus der männlichen Sexualkonstitution herleiten als auch für die Beispiele männliche Täter verwenden: Unter den Vampiren, Lustmördern, Nekrophilen und Kannibalen findet sich eine Reihe Impotente, die beim Weibe unfähig sind und nur unter Verübung ihrer verbrecherischen Handlung zu einer Ejakulation gelangen. […] Auch deshalb, weil das Weib einen solchen Zustand nicht kennt oder wenigstens nicht als Qual empfindet, liegen ihm die genannten Verbrechen fern. Selbst bei Nymphomanen ist der Geschlechtstrieb nicht derartig monströs, daß er zu Lustmord, Nekrophilie und Kannibalismus gelangt.18

Da nicht jeder Mord vor, während oder nach dem Geschlechtsverkehr als Lustmord betrachtet wurde, differenziert er sich in eine »echte«, »unechte« und »vorgetäuschte« Tat19, deren Zuschreibung über den Geschlechterdiskurs vorgenommen wird. Während »echt« und »unecht« den männlichen Tätern aufgrund der Intensität ihres Triebes zugeschrieben werden, begehen die Frauen »vorgetäuschte« Lustmorde – das Motiv der Nachahmung, also der Maskerade, die den von ›Natur‹ aus nicht vorhandenen Trieb vortäuscht. In der Festlegung des »echten« Lustmordes ist auch die Visualisierung von Bedeutung, da die Fotografie an die Stelle tritt, an der die Sprache versagt. In den kriminologischen Büchern werden bis in die 1960er Jahre Opferfotografien abgebildet. Neben dem durch die grausamen Bilder unterstützten Voyeurismus legen die Fotografien visuell fest, was Lustmord ist. Paradoxerweise werden die Täter kaum abgebildet, die in der kriminalanthropologischen Argumentation Stigmata des destruktiven Begehrens am Körper tragen. Die Opfer werden also zum Signifikanten des lustmörderischen Triebs des Täters. In diesem Zusammenhang sind auch die Figuren Fritz Haarmann und Peter Kürten zu erwähnen, die in der Weimarer Republik zu paradigmatischen Lustmördern diskursiviert worden sind.20 Sie stehen ebenso im Dienste der fehlenden Definition des Lustmordes, die über prototypische Figuren in den deutschen kriminologischen Schriften bis in die 1980er Jahre erfolgt.21 Argu-

17 Magnus Hirschfeld: Sexualität und Kriminalität. Überblick über das Verbrechen geschlechtlichen Ursprungs, Wien/Berlin/Leipzig/New York 1924. 18 Erich Wulffen: Der Sexualverbrecher, S. 377. 19 Erich Wullfen: Der Sexualverbrecher, S. 473. 20 Vgl. Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«, S. 333. Sie listet in der Endnote 30 weitere exemplarische Lustmörder auf. 21 In einem Bericht aus der Zeitschrift Kriminalistik von 1957 werden beispielsweise zwei Sexualmörder mit Kürten verglichen; 1963 analysiert der Kriminalist Steffen Berg in Das Sexualverbrechen den Fall Kürten. 1970 rekonstruiert der

108 | IRINA GRADINARI mentiert die Kriminologie über die Fallgeschichte, so werden die Lustmörder durch die Analogieziehung zu Haarmann und Kürten sowie zu anderen berühmten Lustmördern als solche klassifiziert. Dennoch charakterisierte der Lustmord nicht nur das Männliche, wie der Fall von Jack the Ripper zeigt, bei dem unter den vielen Verdächtigen auch eine Frau als Täterin vermutet wurde. Der Kriminologe Erich Wulffen22 und der Gerichtsmediziner Julius Kratter23 führen auch Lustmörderinnen vor, deren Entsprechung in zeitgenössischer Literatur, Film und Kunst mir mit Ausnahme eines Filmes nicht bekannt ist.24 Der weibliche Lustmord markiert die Geschlechterirritation25 und pathologisiert in Analogie zum männlichen Lustmord die Abweichung von den bürgerlichen Geschlechternormen. Es geht entweder um lesbische oder politische Morde,26 die als Aneignung des männlichen Begehrens gelesen wurden, jedoch mit einem Unterschied: Ist der männliche Lustmord aus dem männlichen Begehren heraus abzuleiten, dient der weibliche Lustmord hingegen der Hervorhebung von ›untypischen weiblichen‹ Begehrensformen und wird aus der Reihe der ›üblichen weiblichen‹ Verbrechen Kinds- und Giftmord27 ausgegrenzt.28 Der Lustmord steht mithin in einem konstitutiven Wechselbezug zu der heterosexuellen Geschlechtermatrix: Er hilft alles als pathologisch auszugrenzen, was nicht zu den Normvorstellungen der Geschlechter dieser Zeitperiode gehört. Zugleich erfüllt die binäre heterosexuelle Geschlechtermatrix eine sinnstiftende Funktion für den

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Publizist Max P. Schaeffer in Der Triebtäter: Lustmörder vor Gericht neben anderen Mördern die Taten von Haarmann und Kürten. Erich Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, Berlin 1923. Julius Kratter: Gerichtsärztliche Praxis. Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. 2, Stuttgart 1919. Stefan Höltgen: Schnittstellen – Serienmord im Film, Marburg 2010. Der Film Supernatural (USA 1933) von Victor Halperin zeigt einerseits, dass die Frau über den destruktiven Trieb nicht verfügen kann, weil die Mörderin vom Geist einer anderen Mörderin besessen wird (Hexenmotiv), andererseits ist der Ursprung dieses Triebes eine andere, früher hingerichtete Serienmörderin. Signifikant ist jedoch, dass der Trieb im Film als nachgeahmt und »unecht« definiert wird. Karsten Uhl: »Die ›Sexualverbrecherin‹. Weiblichkeit, Sexualität und serieller Giftmord in der Kriminologie, 1870-1930«, in: Susanne Komfort-Hein/Susanne Scholz (Hg.): Lustmord: Medialisierung eines kulturellen Phantasmas um 1900, Königstein/Taunus 2007, S. 133-148. In seinem Aufsatz zeigt Uhl, dass die von den Frauen begangenen Verbrechen, die durch herrschende Geschlechternormen nicht erklärt werden konnten, als Lustmord definiert wurden. Erich Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecherin, S. 274f. u. S. 391. Karsten Uhl: »Die ›Sexualverbrecherin‹«, S.133-148. Laut Uhl wurde der Giftmord, der als ein sexualisiertes, ›natürliches‹ weibliches Verbrechen definiert wurde, analog zum Lustmord angesehen. Zur geschlechtsspezifischen Diskursivierung verschiedener Verbrechen vgl. Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 109 Lustmord, der durch den Trieb des Täters bzw. durch die Vorstellung von der männlichen (hetero-) normalen Sexualität definiert wird.

Abb.1 Raubmord. Tötung einer Prostituierten in Wien. Der Täter hat die Prostituierte nach dem Geschlechtsakt erstochen. Erkennungsdienst Wien (eventuell 1910). Aus: Erich Wulffen: Der Sexualverbrecher, Berlin 1920, S. 464 Wie kommt es dazu, dass sich der männliche Lustmörder in den kulturellen Repräsentationen durchsetzt? Die ›Vermännlichung‹ des Lustmordes wird durch die Organisation des ästhetischen Darstellungssystems bedingt, das traditionellerweise den männlichen Helden zum Protagonisten macht.29 Denn die eindeutige geschlechtsspezifische Einordnung des Verbrechens und die Popu-

29 Einige Beispiel dazu: Lulu (1892/1913) von Frank Wedekind, Mörder Hoffnung der Frauen (1907/ 1910) von Oskar Kokoschka, Die Ermordung einer Butterblume (1913) von Alfred Döblin sowie die Bilder von Otto Dix, George Grosz und Heinrich Maria Davringhausen. Weiterhin die Filme Das Wachsfigurenkabinett (1924, Paul Leni), The Lodger (1927, Alfred Hitchcock), Die Büchse der Pandora (1929, Georg Wilhelm Pabst), M – eine Stadt sucht einen Mörder (1931, Fritz Lang).

110 | IRINA GRADINARI larisierung des Lustmordes als männliches Verbrechen (ob es um einen hetero- oder homosexuellen Täter geht) erfolgen hauptsächlich in der bildenden Kunst, in der Literatur und im Film.30 Zum Beispiel ist die Fotografie des Mordes an einer Prostituierten [Abb. 1] aus dem Buch von Erich Wulffen Der Sexualverbrecher (1910) zu erwähnen, die laut Siebenpfeiffer höchstwahrscheinlich als Inspirationsquelle für Rudolf Schlichters Bild [Abb. 2] diente. Während Wulffen diesen Mord als Raubmord definiert, nennt Rudolf Schlichter sein Bild Der Lustmord (1924). In Anlehnung an den populären Jack the Ripper-Topos wird der Mord an der Prostituierten als Lustmord imaginiert. Martin Lindner hebt die Doppelcodierung des Lustmörders in den ästhetischen Imaginationen der Weimarer Republik hervor, die mit der Ästhetik des jeweiligen Stils der deutschen Literatur zusammenhängen. Während der Geschlechtsrausch31 bzw. Kontrollverlust in den kriminologischen Schriften eines der zentralen Merkmale des »echten« Lustmordes ist, findet in Literatur und Kunst eine Verdopplung der Lustmörderfigur statt. Die expressionistische Ästhetik wertet den Lustmörder als Helden bzw. als Rebellen auf, der im Rausch die wilhelminische Ordnung sprengt, und die neusachliche Ästhetik wertet ihn als einen angepassten, verklemmten Bürger ab, der kalkuliert tötet.32 Zu dieser Zeit beginnt der Mythos Jack the Ripper in Literatur und Film seine Existenz, während er in der deutschen Kriminologie wegen seiner Fehlaufklärung nur wenig Platz einnimmt.33 In Betracht dieses konstitutiven Wechselbezugs zwischen Kriminologie, Literatur, Kunst und Film kann die Definition von Hania Siebenpfeiffer für den Lustmord um 1900 herangezogen werden: 1) Mord an Prostituierten, 2) Sexualisierung der Taten, 3) Jack the Ripper als Prototyp des Lustmörders und 4) Serialität und Ritualisierung der Taten.34 Mit den Täterfiguren werden 30 Weitere Werke findet man bei Siebenpfeiffer, Lindner und Höltgen. 31 Magnus Hirschfeld: Sexualität und Kriminalität, S. 62-63. So definiert Hirschfeld beispielsweise den Lustmord als eine der »furchtbarsten Formen gesteigerter Sexualität. […] Unter einem echten Lustmord können wir nur einen verstehen, der im Geschlechtsrausch vorgenommen zur Entspannung der Geschlechtslust dient.« Der Geschlechtsrausch als Merkmal des Lustmordes ist auch bei Wulffen und Rahser zu finden. 32 Lindner nennt die literarischen Darstellungen des Lustmordes sogar Gutachten, weil sie mit der Begründung dieses Verbrechens viel differenzierter als die kriminologischen Schriften umgehen. Er weist darauf hin, dass die Tat zwar aus der ›Natur‹ heraus und rauschhaft dargestellt wird, jedoch oft philosophisch fundiert wird. Damit wird die Kritik an der bürgerlichen Kultur möglich. 33 Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 44. Krafft-Ebing definiert die Taten von Jack the Ripper als Substitut für den sexuellen Akt, da die Opfer auf seine »viehische Wollust« hindeuten. Er übernimmt neben den Fällen aus Deutschland auch einige Fälle aus den Studien Lombrosos. 34 Vgl. Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«, S. 190.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 111 in den ästhetischen Repräsentationen krisenhafte Phänomene der Moderne verhandelt wie das Trauma des Krieges35, Modernisierung und Urbanisierung, Autoritäts- und Subjektkrisen36, die als Gewalt erfahren werden. Weiblichkeit wird dabei zum Signifikanten des männlichen ›Urtriebes‹ des Täters.

Abb. 2 Rudolf Schlichter: Der Lustmord (1924), 69 x 53 cm, Aquarell und schwarze Kreide. 35 Vgl. Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton 1995. Tatar betrachtet die Werke von Georg Grosz und Otto Dix als Korrelation von traumatischen Erfahrungen der Moderne, die durch die Großstadt, die politische Krise und besonders den Ersten Weltkrieg hervorgerufen werden. Die Künstler Otto Dix und Georg Grosz waren beispielweise Kriegsveteranen. 36 Kathrin Hoffmann-Curtius: »Frauenmord als Spektakel. Max Beckmanns Martyrium der Rosa Luxemburg«, in: Susanne Komfort-Hein/Susanne Scholz (Hg.): Lustmord, S. 91-114. Die Gleichstellung von Künstler und Lustmörder bei Otto Dix und George Grosz liest Hoffmann-Curtius als Konstruktion einer virilen Männlichkeit, die sich als heroische Verbrecherfigur (Nietzsche) »gegen obsolet gewordene Idealvorstellungen im eigenen Lande« und gegen »bürgerliche Totalitätskonzepte« des Subjekts und Künstlers durch die Zerstörung von Weiblichkeit als Symbol für »Vollkommenheit, Einheit und Ganzheit« wendet. Darüber hinaus können die Ölbilder von Grosz und Dix mit der Darstellung der Lustmorde an Frauenfiguren als »De- und Konstruktion des eigenen Schaffensprozesses interpretiert werden; sie malten dessen strukturelle Gewalt in Opposition zur akademischen Tradition des idealen, ganzen Aktbildes« (S. 106 f.).

112 | IRINA GRADINARI Zusammenfassend wird der Lustmord für die Stabilisierung der Kultur eingesetzt, deren Krise am Genderdiskurs ausgehandelt wird. In der Kriminologie wird der männliche Trieb vollständig an den Körperanomalien (Gehirn, Drüsen, Genitalien) ablesbar und erschafft dadurch in Analogie zur Hysterie eine Eindeutigkeit, die der Modernisierungsschock der Kultur entzieht. Der Lustmörder ermöglicht dadurch auch eine Stabilisierung der bestehenden kulturellen Ordnung, indem er die Natur und nicht die Kultur als Quelle der Destruktion verkörpert. In der Literatur wird dagegen mit dem Lustmord das ›Natürliche‹ auf- und das Bürgerliche abgewertet. So stellt der Lustmörder sowohl das radikale Andere der Kultur dar, das Erlösungsphantasien erfüllt, als auch einen Repräsentanten der Norm, der Kulturkritik ausübt.

P s yc h o l o g i s i e r u n g d e s L u s t m o r d e s In den 1950er Jahren breitet sich die Psychoanalyse im Lustmorddiskurs aus und verdrängt langsam die kriminalanthropologischen Konzepte. Dieses Datum ist nur bedingt als fix zu sehen, da kein Schnitt im Paradigmenwechsel stattgefunden hat, sondern anthropologische, psychoanalytische und psychiatrische Ansätze seit den 1930er Jahren bis zum Anfang der 1970er Jahre miteinander konkurrieren oder sich ergänzend für die Erklärung eingesetzt werden.37 In den früheren kriminologischen Schriften wird schon teilweise die Psychoanalyse gebraucht, allerdings nicht zur Erklärung des Lustmordes. Die 1950er Jahre als Zeitangabe für den Paradigmenwechsel hängen mit der Veröffentlichung der psychoanalytischen Studie des US-amerikanischen Kriminalpsychologen Joseph de River Der Sexualverbrecher38 zusammen, die 1949 erschien (auf Deutsch 1951). Im Film wurde bereits seit den 1930er Jahren mit (trivial-) psychoanalytischen Ansätzen für den Lust- und Sexualmord gearbeitet.39 Hier lässt sich die an dieser Stelle nicht weiter zu diskutierende

37 Vgl. Wolfgang Berner/Edda Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, Stuttgart 1986. Die Angaben aus den Jahren 1952 bis 1983 demonstrieren zahlreiche vergebliche Versuche, die Sexualverbrechen über das Geschlecht zu erklären. So wurde beispielsweise in den 1960er Jahren die später widerlegte Annahme verbreitet, die XYY-Störung, die u.a. als Supermaskulinitäts-Syndrom definiert wurde, könne als Ätiologie krimineller Devianz begründet werden. 38 Joseph Paul de River: Der Sexualverbrecher. Eine psychoanalytische Studie, Heidelberg 1951. 39 Vgl. Stefan Höltgen: Schnittstellen, S. 74-87. Laut Höltgen ist der psychoanalytische Diskurs für die Erklärung der Trieb- und Sexualmorde schon in den 1930er Jahren in Filmen nachweisbar, wie beispielsweise in Doctor X (USA 1932) von Michael Curitz, Supernatural (USA 1933) von Viktor Halperine und Pièges (F 1939) von Robert Siodmak.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 113 These aufstellen, dass gerade der Film die Psychoanalyse als Erklärung des Lustmordes für die Kriminologie attraktiv machte. Dieses Paradigma konfiguriert die Geschlechter im Lustmorddiskurs neu. Der Lustmörder wird in der Kriminalpsychiatrie und -psychologie dank neuer Erklärungsmuster von einem ›Urmann‹ zu einem ›unfertigen‹, in der Regel effeminierten Mann.40 Die Argumentation verläuft nicht mehr anhand der Sammlung von Krankheitserscheinungen, deren Beweise am Körper zu sehen sind, sondern die Psyche wird analysiert, deren Entwicklung an der Beziehung zur Mutter oder zum Geschlechtspartner festgemacht wird. In diesem Kontext steigt in den kriminologischen Schriften auch die Konjunktur der homosexuellen oder transsexuellen Täter.41 Die Erklärungen dazu sind sehr unterschiedlich, wie zum Beispiel das Scheitern des Ödipuskomplexes, der Konflikt aus der Diskrepanz zwischen den physiologischen Bedürfnissen und der normativ eingeengten Möglichkeit zur Triebverwirklichung oder das Scheitern bei der Herstellung der ersten sexuellen Beziehung mit der Partnerin oder dem Partner, um nur einige wenige zu nennen. Die Fallgeschichten und die Gutachten beschränken sich in der Regel nicht auf eine Erklärung. Das psychoanalytische/psychologische Paradigma ist zweifellos fortschrittlich, da es das ›Natürliche‹ im Lustmord in Frage stellt, indem es die Sozialisation des Mannes zunehmend problematisiert. Die Erklärungen verraten jedoch Angst vor der Verweiblichung des Mannes, die mit der Position der Frau in der Psychoanalyse, aber auch und nicht zuletzt mit der Nachkriegszeit und der neuen Rolle der Frau in der Gesellschaft zusammenhängt. Zur Quelle der Triebstörungen wird die Mutter.42 Darüber hinaus privatisieren die Familiengeschichten die Ätiologie des Verbrechens, die den Lustmord zu einem einzelnen und persönlichen Sachverhalt und damit zur Ausnahme in der Kultur macht.

40 Vgl. Nikolaus Becker/Eberhard Schorsch: Angst, Lust, Zerstörung – Sadismus als soziales und kriminelles Handeln. Zur Psychodynamik sexueller Tötungen, Gießen 1977. Ihre Studie führt den Fall von Manfred W. (1968/69) vor, den sie als Selbststabilisierung durch Mord deuten. Der Täter gehört nach ihrer Definition zur Gruppe der unmännlichen Täter. 41 Ein Fall bei dem deutschen Obermedizinalarzt Steffen Berg (1962) beschreibt einen Transvestiten, der Frauen umgebracht hat, um selbst zur Frau zu werden: um ihre Kleidung anzuziehen oder aus ihren Haaren eine Perücke zu machen. 42 Die Psychiater Becker und Schorsch sehen die Ursachen der Triebstörung in der Primärsozialisation (in der Beziehung zur Mutter). Der Kriminalmediziner Steffen Berg (1962) macht wiederholt in seinen Fallgeschichten darauf aufmerksam, wenn der Mörder ein unehelicher Sohn ist – Mutter als Hure. Lustmörder töten Frauen – so stellt der US-amerikanische Kriminalpsychologe de River in einem Fall (1951) fest – aus Rache an der Mutter, zu deren symbolischen Stellvertreterinnen die Opfer werden.

114 | IRINA GRADINARI Die Psychoanalyse und später die Entwicklungspsychologie entwickeln aber keine einheitliche Theorie der Perversionen, die die Ätiologie des Lustmordes erklären könnte, was die Individualisierung des Täters und auch letztendlich die Diskreditierung des Lustmordes zur Folge hat. Die gesamte Biografie rückt in den Vordergrund, das merkt man auch an den Fallgeschichten, die im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts länger und ausführlicher werden. Der Täter wird also zum Geheimnis, dessen Motivation bei jedem Fall aufs Neue aus seiner Biografie rekonstruiert werden muss. Diese Unerklärbarkeit und vor allem die Unsichtbarkeit der Pathologie ist am viel kritisierten Begriff der Psychopathie erkenntlich.43 Als Effekt dieser Unlesbarkeit wird das Motiv der Maskerade im Lustmord häufig – ebenfalls aus dem Repertoire der Weiblichkeitszuschreibungen: Die Täter tarnen sich mit der Normalität, sind in der Masse nicht identifizierbar. Die geschlechtsspezifische Definition des Lustmordes differenziert sich dabei weiterhin: De River unterscheidet sadistischen Mord und Lustmord. Während der Lustmord hauptsächlich innerhalb einer heterosexuellen Beziehung geschieht, werden unter sadistischen Morden die von Homosexuellen oder Frauen subsumiert. Der deutsche Kriminalmediziner Steffen Berg44 (1963) unterscheidet sechs Kategorien des Sexualmordes, von denen die letzten zwei als Lustmord im Sinne Krafft-Ebings definiert werden. Berg löst dabei die geschlechtsspezifische Definition des Lustmordes auf. Er analysiert auch homosexuelle Lustmörder und Kindsmörderinnen. Bezeichnenderweise bespricht Steffen Berg ausführlich den männlichen Masochismus, dessen Popularität in den ästhetischen Repräsentationen seit den 1960er Jahren zunimmt und bis heute diagnostiziert werden kann.45 Die kriminologischen Studien weisen also eine große Vielfalt von Konzepten und geschlechtsspezifischer Variation auf, während in Literatur und Film der männliche Täter zentral bleibt und ein trivial-vulgäres Verständnis der Psychoanalyse zu einem dominanten Erklärungskonzept für den Lustmord wird. Literatur und Film leisten also eine Komplexitätsreduktion der theoreti43 Vgl. Deborah Cameron/Elisabeth Frazer: Lust am Töten, Berlin 1990, S. 119: »Das Problem ist ein endloser Kreislauf: Psychopathen werden als Menschen definiert, die entsetzliche sadistische Verbrechen begehen, und der Grund, warum sie diese Verbrechen begehen ist, dass sie Psychopathen sind.« 44 Steffen Berg: Das Sexualverbrechen. Erscheinungsformen und Kriminalistik der Sittlichkeitsdelikte, Hamburg 1963. 45 Vgl. Peter Weibel (Hg.): Phantom der Lust: Visionen des Masochismus in der Kunst, 2 Bde, München 2003. Die Studie hält das seit den 1950er Jahren gestiegene Interesse am Masochismus in der westlichen Kultur an mehreren Kunstwerken fest. In der bildenden Kunst kann generell eine Vervielfältigung der sadistischen und masochistischen Repräsentationen festgestellt werden, die auf viele Motive, auch auf den Lustmord, anspielen, jedoch werden diese von den Künstlern nicht als Lustmord definiert.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 115 schen Ansätze der Psychoanalyse und Psychiatrie, die dadurch auch popularisiert werden. Dank dieser Psychologisierung wird die Subjektivitätsthematik im Lustmord zentral, die im Rahmen einer ödipalen Konstellation inszeniert wird.46 In dieser ›psychologischen‹ Periode modifiziert sich der Lustmord in den ästhetischen Repräsentationen (Film und Literatur) und nimmt die Form an, die wir heute kennen: 1) ein männlicher Täter und ein in der Regel weibliches, schönes Opfer, das nicht unbedingt Prostituierte ist, 2) eine nicht überwundene ödipale Situation und ein kindliches Trauma des Täters, die durch eine böse Mutter und einen schwachen oder fehlenden Vaters verursacht werden, 3) Bezug des Mordes zur Sexualität des Täters und des Opfers, 4) Nahkontakt beim Töten durch das Messer oder die Strangulation, 6) Serialität und Ritualisierung und 5) Referenzen auf berühmte historische Lustmörder. Der Detektiv wird eher im Film zum Bestandteil des Lustmordnarrativs, während in der Literatur diese Figur nur bedingt zum narratologischen Schema zu zählen ist, wie die Texte der deutschen Avantgarde um 1900 oder die der Gegenwartsliteratur zeigen. Dieses Schema kann nur als ein abstrahiertes ›Ideal‹ verstanden werden, das in den literarischen und filmischen Repräsentationen auf eine sehr unterschiedliche Weise umgesetzt und zum größten Teil unterwandert wird. So wird der Lustmord, der die meisten der oben genannten Kriterien aufweist, in Das Versprechen (1958) von Friedrich Dürrenmatt für das Scheitern des Subjektes funktionalisiert. Hier wird der Lustmord als Leerstelle dargestellt, die sich in ihrer Undefinierbarkeit jeglicher Logik entzieht. Im Kino wird beispielsweise mit dem Lustmord eine selbstreflexive Infragestellung der Genese von filmischen Gewaltphantasien zum Thema. Peeping Tom (USA, 1960) von Michael Powell oder Psycho (1960) von Alfred Hitchcock reflektieren die Genese der sexualisierten Filmphantasien als mediumsspezifischen Effekt, indem sie den Lust- bzw. Sexualmord mit dem Blick und der Kamera zusammenführen.47 Festzuhalten ist, dass der Lustmord im Film und in der Literatur zur Identitätsverhandlung des Mannes wird: Die ›positive‹ Konnotation des Lustmordes verschwindet und er markiert den Mangel an ›echter‹ Männlichkeit, zu46 In diesem Zusammenhang kann der Kriminalroman Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt erwähnt werden, der in der Forschung (z.B. bei Lindner) als Repräsentation des Lustmordes diskutiert wird. Zwar ist der Mörder auch mit den Degenerationsmerkmalen (kriminalanthropologische Tradition) ausgestattet; er weist auch eine psychodynamische Pathologie entsprechend dem psychoanalytischen Paradigma auf. Seine pathologische Lust markiert seine ältere Ehefrau, Vertreterin der Mutterfigur, der auch Mittäterschaft zugesprochen wird. Die Filmbeispiele sind Hitchcocks Psycho (USA 1960) und Frenzy (U.K. 1972), in denen die Mutter zur Quelle des männlichen Destruktionstriebs wird. 47 Weitere Filme dieses Paradigmas siehe bei Höltgen.

116 | IRINA GRADINARI gleich wird er zum Kompensationsinstrument dieses Defizits. Diese ›Verweiblichung‹ des Mannes macht den Lustmord zum Medium der Transgression der heterosexuellen Geschlechtermatrix, wie beispielsweise in Psycho oder später in Das Schweigen der Lämmer. Diese Darstellung des Lustmörders veranschaulicht vor allem die Zementiertheit der heterosexuellen Geschlechtermatrix, da deren Überschreitung oder Stabilisierung mit massiver Gewalt imaginiert wird. Darüber hinaus wird der Lustmord mit vielen anderen Motiven verknüpft, so dass sich seine Formen vervielfältigen.48

Diskreditierung des Lustmordes Mit der Privatisierung und der damit verbundenen Biografisierung des Lustmordes wird er vervielfältigt und individualisiert, so dass er nicht mehr greifbar ist. Die zahlreichen Versuche, den Lustmord als geschlechtsspezifisches bzw. männliches Sexualverbrechen zu erklären bzw. zu vermeiden, scheitern. Die Erklärung des Lustmordes aus dem (männlichen) Geschlecht heraus existierte in Deutschland bis in die 1970er Jahre, in denen im Fall der Sexualverbrechen noch die Kastration als Prävention eingesetzt wurde.49 Die Abkoppelung des Lustmordes von der (männlichen) Sexualität hat den Sinnverlust für den Lustmord zur Folge, so dass der Lustmord als analytische Kategorie in der Kriminologie oder Kriminalpsychiatrie heutzutage nicht mehr gebraucht wird. Zurzeit kann man in den kultur- und populärwissenschaftlichen Debatten zwei entgegengesetzte Tendenzen feststellen. Die erste besagt, dass nicht nur der Lustmord existiert, sondern auch andere, motivlose Morde als solche erfasst werden müssen. Die feministische Studie von Deborah Cameron und Elisabeth Frazer Lust am Töten (1990) definiert den Lustmord als Erotisierung des Tötungsaktes an sich und betrachtet beispielsweise die Morde von Männern an ihren Ehefrauen als Lustmorde. Die Studie übt durch die theoretische Auseinandersetzung mit dem Lustmord Kritik am Patriarchat, das als frauenfeindliches System den Lustmord strukturell voraussetzt. Auch in den aktuellen populärwissenschaftlichen Studien (Manfred Riße 2007 über den »Kannibalen von Rotenburg«) findet man den Begriff Lustmord, jedoch hauptsächlich im Zusammenhang mit historischen Fällen wie denen von Fritz Haarmann, Peter Kürten und Jürgen Bartsch. Einerseits historisieren die Au48 Vgl. Höltgens Studie, die die thematischen Anbindungen an das Serienmördermotiv, das sich teilweise mit dem Lustmordnarrativ überschneidet, ausführlich analysiert. Die Hollywood-Filme üben über den Serienmord Kritik an Politik, Staat, Ökonomie usw., besonders nach dem Zweiten Weltkrieg. 49 Vgl. Wolfgang Berner/Edda Karlick-Bolten: Verlaufsformen der Sexualkriminalität, S. 54.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 117 tor_innen dadurch den Lustmord, andererseits verbinden sie narrativ die aktuellen Fälle mit dem Lustmord, so dass der Begriff weiterhin erhalten bleibt.50 Die zweite Tendenz besagt, dass der Lustmord nie existierte. Zunächst wird der Lustmord immer öfter in den kriminologischen Schriften durch den Sexualmord ersetzt, dann durch den Serienmord, der die sexuelle Ätiologie fast vollkommen auslöscht. Anfang der 1980er Jahre wird der Lustmord als höchst ideologische und für die Kriminalpsychiatrie untaugliche Definition verworfen (Becker/Schorsch51, Pfäfflin52). In Anlehnung an die Angaben des National Center for the Analysis of Violent Crime (USA) zeigt Füllgrabe auf, dass die Motivation nicht in der sexuellen Lust, sondern in der Vernichtung als Machtmanifestation liegt, zu der auch Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung gehören.53 Bezeichnenderweise benennt er das Machtgefühl über das Opfer als thrill – ein Begriff, der dem Filmgenre Thriller seinen Namen gegeben hat. Die Popularisierung des Lustmordsujets im Film scheint geradezu diesem Genre zu verdanken zu sein, denn das sexualisierte Geheimnis kann als Grundlage der Thrillernarration beschrieben werden.54

50 Manfred Riße: Abendmahl des Mörders. Kannibalen – Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2007. So beginnt beispielsweise Manfred Riße seine Darstellung der Gerichtsverhandlungen im Fall des Kannibalen von Rotenburg Meiwes/ Brandes mit Lustmorden von Fritz Haarmann, Peter Kürten und anderen, die als Lustmörder bezeichnet wurden. 51 Nikolaus Becker/Eberhard Schorsch: Angst, Lust, Zerstörung. Laut Becker und Schorsch geht es bei Tötungsdelikten in Zusammenhang mit Sexualität beim Täter jedoch nicht um einen Lustgewinn, sondern um einen Zusammenbruch der psychischen Abwehrmechanismen, der sich in der Haltlosigkeit, Gefühlsarmut, Willensschwäche und Egozentrik manifestiert. 52 Friedemann Pfäfflin: »Lust am Lustmord«, in: Der Nervenarzt 53 (1982), S. 549-551, hier S. 550. »Nicht nur die Lustmörder werden damals [Anfang des 20. Jahrhunderts; Anm. d. Verf.] erfunden, sondern auch die Zwangskranken, die Psychopathen und viele andere Kreaturen, die ihr Dasein und Sosein der Psychiatrie verdanken, Kreaturen, die es vorher nicht gab oder die vorher namenlos waren.« 53 Uwe Füllgrabe: »Sadistische Mörder«, in: Hannspeter Dinges/Uwe Füllgrabe (Hg.): Gewalttätige Sexualtäter und Verbalerotiker, Bremen 1992, S. 125-156, hier S. 125: »Der sadistische Mord ist also keineswegs sexuell motiviert, sondern durch Aggressivität, Hass und durch das Bedürfnis der Macht über ein Opfer.« In seiner Untersuchung zerstört Füllgrabe mehrere Mythen über Lustmörder wie gesteigerte Potenz oder Impotenz, niedrige Intelligenz des Täters, zerrüttete Verhältnisse in der Familie oder Täter als Opfer von Gewalt in der Kindheit. 54 Vgl. Georg Seeßlen: Thriller. Kino der Angst, Marburg 1995. Um die Definition des Thrillers werden mehrere Debatten geführt, jedoch heben fast alle Untersuchungen das Geheimnis und sexualisierte Gewalt als Bestandteil der filmischen Thriller hervor.

118 | IRINA GRADINARI Die Erklärungsmuster des Lustmordes werden zwar teilweise im Serienmord beibehalten, jedoch (auch geschlechtsspezifisch) modifiziert. In den USA wird der Serienmord im Zusammenhang mit der sexuellen Handlung betrachtet, der deutsche Serienmordspezialist Stephen Harbort zählt auch serielle Raubmorde dazu. Ist der Lustmord ein explizit männliches Verbrechen, vereinnahmt der Serienmord auch die Frauen. Kann der Lustmord hauptsächlich als deutscher Diskurs angesehen werden, so ist der Serienmord ein USamerikanischer Diskurs (die meisten Filme, Diskussionen, theoretischen Ansätze, selbst die Serienmörder haben ihren Ursprung in den USA).55 Während der Lustmord in der Kriminologie und Psychiatrie verworfen wird, nimmt seine Popularität in den kulturellen Repräsentationen zu. In Literatur, bildender Kunst56 und Film können alle Formen von Lustmord, Sexualmord oder Serienmord beobachtet werden, modifiziert durch die kulturellen Tendenzen, aber auch die Entstehung neuer Gattungen und Repräsentationstechniken. Es lässt sich feststellen, dass sich einige Elemente des Lustmordnarrativs zu selbstständigen Genres entwickelt haben: Jack The RipperFilme, Serienmörderfilme, Splatter-und Slasher-Genres, aber besonders auch der Thriller, der dem Lustmord seine Entfaltung im Film ermöglichte. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur57 hat der Lustmord ebenfalls Konjunktur. Er wird auch für die Herausbildung der männlichen, krisenhaften Subjektivität verwendet, die in der Regel im Rahmen der heterosexuellen binären Matrix stattfindet. Jedoch emanzipieren sich auch Frauenfiguren zu Triebtäterinnen, die nicht als Gift- oder Kindsmörderinnen gezeigt werden, sondern als Männermörderinnen mit dem Motiv des Lustgewinns. Der Roman Die Hirnkönigin (1999) von Thea Dorn, der eine der wenigen Lustmörderinnen in der deutschsprachigen Literatur darstellt, übt Kritik am männlichen 55 Der Begriff Serienmord verdankt seine Verbreitung und seine Erklärungsmodelle dem US-amerikanischen FBI-Agenten Robert K. Ressler Anfang der 1990er Jahre. 56 Als ein seltenes Beispiel des Themas Lustmord in der bildenden Kunst der Gegenwart kann Jenny Holzers Zyklus Lustmord zum jugoslawischen Krieg genannt werden. Das Lustmord-Projekt beginnt mit dem Bilderzyklus Da wo Frauen sterben bin ich hellwach im Künstlermagazin der Süddeutschen Zeitung 46 vom 19.11.1993, gewidmet dem letzten jugoslawischen Krieg; der Titel wird sogar mit zur Druckfarbe beigefügtem Blut der jugoslawischen Frauen ausgedruckt. Später stellt Holzer die Installation Lustmord im ehemaligen Kloster, Kunstmuseum des Kantons Thurgau, vom 22. September 1996 bis 27. April 1997 aus. 57 Die Schwierigkeiten mit der Definition hatten zur Folge, dass für die Analyse diejenigen Texte gewählt wurden, die explizit auf den Lustmord hinweisen: solche, die den Lust-, Sexual- oder Triebmord als Begriff erwähnen, den Namen bekannter Lustmörder wie Jack the Ripper, Fritz Haarmann, Peter Kürten u.a. nennen sowie die Sexualisierung der Tat vollbringen.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 119 Repräsentationssystem. Die Lustmörderin ist buchstäblich Produkt des Patriarchats, Inkarnation von literarischen, mörderischen Femmes Fatales von Athene bis Salomé, die die Vaterordnung mit ihrer eigenen Waffe schlägt. Auch in der Schmerznovelle (2001) von Helmut Krausser erscheint die Lustmörderin als Produkt männlicher Kunst. Dieses Werk differenziert das Verbrechen geschlechtsspezifisch. Der weibliche Lustmord am Mann suspendiert die patriarchalische Ordnung, der männliche Lustmord an der Frau stellt sie wieder her. Diese de- und restabilisierende Funktion des Lustmordes für die Geschlechterordnung, die zugleich für die gesellschaftliche ›Realität‹ des literarischen Werkes konstitutiv erscheint, kann in allen analysierten Texten festgestellt werden. Der heterosexuellen Geschlechtermatrix, so suggeriert die Gegenwartsliteratur, liegt Gewalt zugrunde. Die binäre Opposition vom männlichen Täter und weiblichen Opfer ist immer noch weit verbreitet, so dass die notorische »schöne Leiche«58 als unheilvolles ästhetisches Element weiter verwendet wird, selbst wenn einige Werke dieses Motiv durchaus kritisch reflektieren. Festzustellen ist eine Dominanz an androgynen Phantasien, die über den Lustmord realisiert werden. Die Androgynie hat besonders in den selbstreflexiven Texten eine Konjunktur, die einen androgynen Künstler im Sinne Walter Benjamins59 imaginieren. Der Lustmörder-Künstler tötet die Frau, um ihre Weiblichkeit zu vereinnahmen, wie beispielsweise in Das Parfum (1985) von Patrick Süskind oder Die Hirnkönigin von Thea Dorn, die das patriarchalische Kunstprinzip für ihre weibliche Protagonistin umkehrt. Die Mörderin eignet sich das männliche Gehirn als Schöpfungsorgan an, das ihr das Patriarchat abspricht. Die Mörderin in der Schmerznovelle kann malen, weil ihr ermordeter Ehemann, der Künstler war, in ihr weiterlebt. Die Novelle Barfuß (1997) beschreibt ebenfalls einen androgynen Künstler, der zum freiwilligen Opfer des Lustmordes wird. Der Lustmord stellt dabei in Anlehnung an Kafkas Der Prozess eine Selbstauflösung des Autors in seinem Text dar. Die Novelle Kleebergs setzt mithin die poststrukturalistische Idee vom Tod des Autors ästhetisch um. Zunehmend rückt die Opferperspektive in den Vordergrund – ebenfalls ein neues Paradigma im Lustmorddiskurs. Das binäre Schema wird immer öfter formal vorgeführt, um es durch seine Affirmation zu dekonstruieren. Einige Werke gestehen den weiblichen Opfern die Mittäterschaft zu, auch wenn 58 Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. 59 Walter Benjamin: »Nach der Vollendung«, in: ders.: Gesammelte Schriften: Denkbilder, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1989, S. 305-438. Walter Benjamins Denkbild Nach der Vollendung entwickelt eine solche männliche Kunstphantasie, in der der androgyne Dichter aus der Vereinigung der weiblichen und männlichen Gegensätze mit dem weiteren Absterben des Weiblichen das Kunstwerk hervorbringt.

120 | IRINA GRADINARI sie zu verschiedenen Zwecken eingesetzt wird. Während die Frauenfiguren in Jelineks Roman Gier (2000) das Patriarchat teils aus Unfähigkeit und Ohnmacht, teils aus eigener Unreflektiertheit unterstützen, bietet Der Fall Arbogast (2001) von Thomas Hettche den weiblichen Opfern Befriedigung an. Sie wollen während der Extase, die der Strangulation zugeschrieben wird, umgebracht werden. Der ›echte‹ Täter ist das Opfer selbst, das den Mörder für die Erfüllung seines masochistischen Begehrens ausnutzt. Mit dieser Täter-OpferUmkehrung bekommt der Lustmord ein theatralisches Moment, weil das Opfer der eigentliche Regisseur der Unterwerfung ist, der die Regeln festlegt.60 Der psychoanalytische Diskurs erscheint als Erzählrahmen. Alle gegenwärtigen Lustmordrepräsentationen können kaum als psychologisch definiert werden, denn sie konstruieren die Psyche des Täters oder die des Opfers als Zitatenkonglomerat. Die Selbstreflexivität und die Intertextualität lösen den psychologischen Diskurs ab. Darüber hinaus nutzen die Autor_innen die Psychoanalyse, um den Vater als gesetz- und normgebende Instanz für die Kritik einzusetzen. Versteht Maria Tatar den Lustmord um 1900 als Muttermord, so kann das Paradigma um 2000 als symbolischer Vatermord definiert werden. Denn der Lustmord wird zum Produkt des Patriarchats, das sich dadurch als eine ungeeignete und inhumane gesellschaftliche Struktur entblößt. Der Lustmord erscheint in einigen Romanen für die männliche Subjektivitätsbildung geradezu konstitutiv, so dass nicht das Pathologische, sondern die Norm nur über den Lustmord hervorgebracht werden kann. In diesem Zusammenhang verwischen zunehmend die Differenzen zwischen Täter und Detektiv.61 So zeigt der avantgardistische Roman Gier von Elfriede Jelinek, dass der Lustmord auf allen Ebenen – gesetzlich, ökonomisch, historisch, politisch und vor allem ästhetisch – produziert wird. Der Lustmörder ist Gendarm, also das Gesetz selbst, das die frauen- und fremdenfeindliche Konsumgesellschaft legitimiert. Die Schmerznovelle von Helmut Krausser setzt den Lustmord an einer Frau in Referenz auf die Traumnovelle von Arthur Schnitzler zur Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft ein, mit deren Tod die aufgelösten Differenzen und Normen wiederhergestellt werden. Der Kriminalroman Finstere Seelen (1999) setzt den Lustmord ebenfalls als eine Voraussetzung zur Herausbildung ›normaler‹ Männlichkeit ein. Nicht nur sind Polizisten die Lustmörder, sondern nur derjenige wird zum Mann, der den Lustmord began-

60 Vgl. Slavoj Žižek: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 59: »So wie im masochistischen Theater die Passivität des Masochisten seine Aktivität verbirgt – er ist der Regisseur, der die Szene arrangiert und der Domina befiehlt, was sie mit ihm machen soll –, verbirgt sein moralischer Schmerz kaum seine aktive Lust an dem moralischen Sieg, der den/die andere(n) erniedrigt.« 61 Stefan Höltgen stellt die gleichen Tendenzen im modernen Serienmordfilm fest.

GENDER UND LUSTMORD IN THEORIE UND ÄSTHETIK | 121 gen hat. Der Lustmord wird dabei zur Abwehr gegen die unübersichtlichen ökonomischen Prozesse eingesetzt, die mit Weiblichkeit codiert werden. Die Ent- und Renaturalisierung des Lustmordes bzw. der Destruktion, die der männlichen Sexualität inhärent ist, existieren parallel, obwohl die meisten Texte (von Jelinek, Dorn, Eckert, Krausser, Kleeberg, Hettche) den Lustmord als Effekt bestimmter sozialer, politischer, ökonomischer und ästhetischer Strukturen darstellen. In diesen Werken wird auch Männlichkeit zur Maskerade. Mit der Deessentialisierung des destruktiven Triebes als einer substantiell männlichen Eigenschaft geht auch die Naturalisierung der Geschlechtskonstruktionen verloren. Zusammenfassend enthält der Lustmord als ästhetisches Motiv utopisches Potenzial, indem er zum Entwurf eines anderen, ›dritten‹ Geschlechts eingesetzt wird, und dystopisches Potenzial, indem er die normierte heterosexuelle Männlichkeit konstituiert. Der Lustmord kann mithin auf vielschichtige Weise kulturelle Grundstrukturen freilegen, insbesondere in Hinsicht auf die Geschlechterordnung in ihrer Verknüpfung mit staatlicher Macht, Exekutive und Legislative sowie mit Blick auf Körperkategorien und den Umgang mit dem Fremden, Anderen. Zugleich bleibt er dadurch weiterhin als populäres Motiv erhalten.

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»Die entsetzlic he Nothw ehr einer unglück lichen Fra u«. Der Giftmörderinne ndisk urs des 19. Jahrhunderts in He inrich Heines Fe uilleton ANNE STÄHR

Soviel ist aber gewiß, daß der Prozeß der Dame von Glandier ein wichtiges Aktenstück ist, wenn man sich mit der großen Frauenfrage beschäftigt, von deren Lösung das ganze gesellschaftliche Leben Frankreichs abhängt. (Heinrich Heine, Lutezia)

Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert markiert, darauf hat die Geschlechterforschung der letzten Jahre verstärkt hingewiesen, auch einen Umbruch in der Geschlechterordnung. Eine zunehmende Dichotomisierung der Kategorien ›weiblich‹ und ›männlich‹ ist in so unterschiedlichen Bereichen wie den Künsten, der Literatur, den Wissenschaften sowie im Alltagswissen und in der Gesetzgebung zu beobachten. Die Wissenschaften konstruieren diese Opposition vermehrt auf der Grundlage naturalisierter Zuschreibungen. Signifikant für diese Entwicklung sind die Verschränkungen, die Geschlechterkategorien mit weiteren Kategorien des ›Anderen‹ eingehen. Offensichtlich sind Alteritäten stets geeignet, sich wechselseitig zu stabilisieren und auf diese Weise opponente Geschlechterzuschreibungen immer weiter zu verfestigen. Ein Beispiel für eine solche gegenseitige Verstärkung ist das Bild der Verbrecherin. In diesem gehen Vorstellungen des ›typisch Weiblichen‹ mit denen von ›Kriminellen‹ eine Allianz ein, die ein neues Bild der als doppelt deviant wahrgenommenen Verbrecherin hervorbringt. ›Sex‹ und ›Crime‹ verbünden sich in der jungen Disziplin der Kriminologie des 19. Jahrhunderts zu

124 | ANNE STÄHR einem wirkmächtigen Diskurs, in dessen Zentrum eine Kriminelle steht, die ihre Position gerade aus ihrer als spezifisch weiblich markierten ›Natur‹ gewinnt. Prominente Vertreterinnen, Prototypen dieser vergeschlechtlichten Verbrecherin, sind die Kindsmörderin und die Giftmörderin, deren Bilder in den Erzählungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verstärkt zirkulieren. Der vorliegende Beitrag untersucht ein Fallbeispiel der zweiten Kategorie; es handelt sich um den Fall der Marie Fortunée Cappelle, verheiratete Lafarge, die 1840 in Frankreich wegen Gattenmordes durch Arsen verurteilt wurde. Dieser Gerichtsprozess fand ein extremes Echo in der internationalen Presse, die aus allen Teilen der Welt anreiste, um über den Fall der Marie Lafarge zu berichten. Die Heftigkeit der Meinungen und die starke Anteilnahme widerstreitender Parteien zeigt die Brisanz eines Falls, auf dessen Folie offensichtlich gesellschaftliches Krisenmaterial verhandelt wurde, nämlich die Frage nach der Rolle der Geschlechter im bürgerlichen Diskurs. Einer der Korrespondenten, der im Feuilleton über die verurteilte Mörderin schrieb, war der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine. Er musste jedoch nicht, wie viele seiner Kolleg_innen, anreisen, da er während der 1840er Jahre in Paris lebte und als Auslandskorrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung arbeitete. Der Fokus meines Aufsatzes liegt auf der Erzählung dieses Falls in Heinrich Heines Korrespondenzartikel, der später in der Lutezia (1854) erschienen ist.

Prozess und Urteil1 Marie Cappelle (1816-1852) wuchs nach dem Tod ihrer leiblichen Eltern bei Pflegeeltern in Paris auf und heiratete 1839 Charles Lafarge. Die Ehe war über eine Heiratsvermittlerin arrangiert worden und beruhte auf der Annahme der Familie Cappelle, der Bräutigam sei ein wohlhabender Schlossbesitzer. Tatsächlich lebte Lafarge jedoch verschuldet im ehemaligen Kartäuserkloster Le Glandier, wohin ihm seine Braut nach der Hochzeit folgte. Es gab darüber hinaus Hinweise auf sexuellen Missbrauch durch den Ehemann. Angesichts dieser Umstände bat Marie Lafarge ihren Mann umgehend um die Scheidung, dieser lehnte eine solche jedoch ab. Das französische Eherecht war 1814 nach einer kurzfristigen Erweiterung des weiblichen Handlungsspielraums nach der Französischen Revolution in dieser Hinsicht wieder massiv eingeschränkt 1

Die folgenden Ausführungen zum Tathergang entnehme ich, wenn nicht anders angegeben, den Anmerkungen zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe Heinrich Heines. Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 13, Hamburg 1973-1997, S. 1208ff. (Im Folgenden abgekürzt mit DHA).

DIE ENTSETZLICHE NOTHWEHR EINER UNGLÜCKLICHEN FRAU | 125 worden. Nach Inkrafttreten des Code Civil waren Ehefrauen faktisch rechtsunfähig und konnten sich nicht eigeninitiativ scheiden lassen. Diese gesellschaftliche Benachteiligung stand jedoch während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark in der Kritik. Die Debatte um die Ehescheidung wurde besonders von den Vertreter_innen des Saint-Simonismus geführt. So ist bei Bazard folgende Stellungnahme zu finden: Wir haben schließlich auf einen der wichtigsten Gesichtspunkte der Gemeinschaft hingewiesen, auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Dieser Punkt wird besonders zu erörtern sein, und wir werden erklären müssen, wie die Frau, die zuerst Sklavin war […], allmählich die Gefährtin des Mannes wird und in der Gesellschaftsordnung von Tag zu Tag einen größeren Einfluß erhält […].2

Heine selbst war schon vor seiner Übersiedlung nach Paris regelmäßiger Leser der saint-simonistischen Zeitschrift Le Globe und beschäftigte sich seit geraumer Zeit mit Fragen zu sozialer Gerechtigkeit und explizit mit der rechtlichen Stellung der Frau in der Gesellschaft und besonders in der Ehe. So verfasste er beispielsweise einige seiner Promotionsthesen im Bereich des römischen Eherechts. Darüber hinaus kann anhand seiner Lektüreaufzeichnungen nachgewiesen werden, dass sein Interesse beim Lesen von Le Globe besonders den Artikeln zur sogenannten ›Frauenfrage‹ galt, wie Anstreichungen an Titeln wie Les industriels, les femmes et les artistes (29.12.1831), Sur les rélations de l’homme et de la femme (19.2.1832) und La femme (22.2.1832) zeigen.3 So verwundert es nicht, dass er, nun als Korrespondent in Paris, dem Fall Lafarge besondere Aufmerksamkeit schenkt. In einem Brief flehte Mme Lafarge ihren Mann an, in die Scheidung einzuwilligen. Ihre Begründung lautete, sie liebe ihn nicht: Ich täuschte dich auf niedere Weise. Ich liebe Dich nicht, ich liebe einen Andern. […] Ich Unglückliche! ich glaubte, daß ein Kuß auf die Stirn Alles sei, was du fordern könntest, ich glaubte, daß du gütig wie ein Vater sein würdest. Begeifst du nun, was ich, wie ich in den drei Tagen gelitten habe! […] Wenn du willst, so nehme ich Arsenik, ich habe Arsenik. Du warst so gut gegen mich, daß ich dir gern mein Leben opfere […]. Aber deine Liebkosungen dulden, nimmer!4

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Zitiert nach Gottfried Salomon-Delatour (Hg.): Die Lehre Saint-Simons, Neuwied 1962, S. 107f. Vgl. Koon-Ho Lee: Heinrich Heine und die Frauenemanzipation, Stuttgart/Weimar 2005, S. 136. In der Übersetzung des französischen Originalbriefs von Felix Mendelssohn Bartholdy, hier zitiert nach DHA 13, S. 1215f.

126 | ANNE STÄHR Charles Lafarges stimmte einer Scheidung jedoch nicht zu und brach zu einer Reise nach Paris auf. Dort erhielt er ein Paket mit Kuchen von seiner Frau, nach dessen Genuss er erkrankte. Bei seiner Rückkehr verschlechterte sich sein Zustand, woraufhin Cholera diagnostiziert wurde. Parallel zu diesen Vorgängen bat Marie Lafarge den Hausarzt mehrmals um Arsen, um laut eigener Aussage die Rattenplage in Le Glandier zu bekämpfen. Sie wurde von Hausangestellten dabei beobachtet, wie sie dem Kranken mehrmals weißes Pulver aus einer kleinen Dose verabreichte.5 Nach wenigen Tagen starb Charles Lafarge, und Marie Lafarge wurde verhaftet, da verschiedene Indizien (zum Beispiel die Dose, in der tatsächlich Arsen nachgewiesen wurde) gegen sie sprachen. Zunächst wurde sie jedoch nicht wegen Mordes, sondern wegen Diebstahls zu zwei Jahren verurteilt, da ein ungeklärter Fall aus ihrer Jugend wieder aufgenommen wurde, bei dem sie angeblich Schmuck entwendet hatte. Diese erste Verurteilung machte den Fall Lafarge in ganz Europa bekannt und als es in Tulle zur zweiten Verhandlung vor Gericht kam, hatte sich das Interesse für die sogenannte Giftmörderin von Le Glandier stark fokussiert. Journalisten aus aller Welt reisten nach Tulle, um über den Prozess zu berichten. Nach verschiedenen gescheiterten Versuchen durch Toxikologen und Ärzte wies der berühmte Kriminalmediziner und Toxikologe Mathieu Orfila durch die Marshsche Methode6 schließlich in der Leiche von Charles Lafarge Arsen nach7, woraufhin Marie Lafarge am 19. September 1840 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt wurde. Da zu Beginn der Verhandlung die Verteidigung Lafarges selbst nach einem Gutachten durch Orfila verlangt hatte, konnte sie es nun nicht mehr verhindern. Raspail immerhin stellte nach dem Urteil einen Antrag auf Revision und konnte Orfila Untersuchungsfehler nachweisen. Dennoch scheiterte der Revisionsversuch, und Marie Lafarge wurde wegen Mordes verurteilt. Louis Philippe milderte das Urteil zu einer Gefängnisstrafe. Auch die geplante öffentliche Ausstellung der Verurteilten auf dem Marktplatz von Tulle wurde zurückgenommen. Marie Lafarge ver-

5 6

7

Vgl. Jürgen Thorwald: Handbuch für Giftmörder, München 1972, S. 12. Der Chemiker James Marsh (1787-1853) entwickelte diese Methode 1836 während eines anderen Giftmordprozesses am Königlichen Arsenal von Woolwich. Vgl. Rolf Giebelmann: Weibliche Wunder, Wahrheiten und Wirkungen. Kulturgeschichtliches zur Toxikologie, Aachen 1998, S. 27. Die Menge des nachgewiesenen Arsens in der Leiche reichte laut Orfilas Kontrahenten François-Vincent Raspail (1794-1878) nicht aus, um einen Menschen zu töten. Diese Aussage wurde jedoch nicht mehr berücksichtigt. Raspail hatte argumentieren wollen, er könnte im Fuß des Präsidentensessels ebensoviel Arsen nachweisen wie im Leichnam Lafarges. Vgl. hierzu DHA 13, S. 1216. Andere Quellen berichten, Raspail sei zu spät zur Verhandlung gekommen und habe sein Argument nicht mehr vorbringen können. Vgl. http://www.nlm.nih. gov/visibleproofs/galleries/cases/orfila.html (Stand: 16.12.2010).

DIE ENTSETZLICHE NOTHWEHR EINER UNGLÜCKLICHEN FRAU | 127 brachte zehn Jahre im Gefängnis in Montpellier, wurde 1851 schwer krank entlassen und starb kurz darauf, vermutlich an Tuberkulose. Während des Prozesses war es in der Beweisführung zu verschiedenen Pannen gekommen, wobei das Beweismaterial unsachgemäß gelagert worden war und mehrere Ärzte widersprüchliche Gutachten verfasst und die Marshsche Probe nicht ordnungsgemäß durchgeführt hatten. Die anschließende Übernahme des Arsen-Nachweises durch Orfila wurde medienwirksam inszeniert, indem der Toxikologe anreiste, die Exhumierung des Toten anordnete und sich stundenlang mit dessen Überresten einschloss, um die nötigen Experimente durchzuführen. Auf diese Weise erhielt das Verfahren eine Dynamik, in deren Zentrum der männliche Experte stand. Gleichzeitig etablierte er eine als wissenschaftlich unfehlbar wahrgenommene Methode und ließ auf diese Weise keinen Zweifel an der Beweisbarkeit des Mordes anhand von Indizien. Die Verknüpfung des männlichen Expertenwissens mit der modernen Technik, die nur er allein zu bedienen imstande schien, schuf endlich den unumstößlichen Beweis für die Schuld der Angeklagten.

Diskursformation der devianten Verbrecherin Die Verurteilung Marie Lafarges und das enthusiastische Interesse der Medien und der Bevölkerung an dem Fall lässt ein Zusammenwirken verschiedener Phänomene vermuten, die gemeinsam ihre ›unnatürliche‹ Charakteristik herstellen und so für Faszination sorgen. So ist besonders die Tatsache aufschlussreich, dass Marie Lafarge eine schreibende Frau, eine Autorin ist, die auch noch während ihrer Gefangenschaft kreativ tätig ist und unter anderen Schriften ihre Memoiren veröffentlicht. Sie entspricht somit nicht dem Ideal einer französischen Ehefrau, sondern fällt unter jene künstlerisch schaffenden Frauen, die Baudelaire folgendermaßen beschreibt: Die Frauen schreiben, schreiben, mit einer alles überschwemmenden Geschwindigkeit; ihr Herz plappert über ganze Bogen von Papier hin. Sie kennen gemeinhin weder Kunst noch Maß, noch Logik; ihr Stil schleppt und wogt wie ihre Kleider.8

Indem schreibenden Frauen in ihrem Schaffen die naturalisierte Eigenschaft des Irrationalen bescheinigt wird, geraten sie in ihrer Rolle als Schriftstellerinnen an den Rand des gesellschaftlich Akzeptierten. Eine Frau, die schreibt, handelt per se gegen ihre ›natürliche‹ Konstitution und sieht sich dem Vor8

Charles Baudelaire: »Studien über Poe«, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, Bd. 2, München/Wien 1983, S. 298.

128 | ANNE STÄHR wurf des Perversen gegenüber. Diese angedeutete Devianz wird im Fall Marie Lafarges noch durch ein zweites verdächtiges Moment gefüttert: dem der Frigidität. Downing hat darauf hingewiesen, dass Lafarges Bitte an ihren Ehemann, sie freizulassen, in der öffentlichen Wahrnehmung als Bitte um ihre Jungfräulichkeit verstanden und transportiert wurde: This […] refusal to lose her virginity and her expressed wish to die rather to consummate the marriage have suggested to contemporary commentators colluding evidence of the ›unnatural‹ nature oft her female murderer. […] [B]oth the murder of her husband and her refusal to engage in sexual intercourse are run together as twin symptoms of deviation9

So wird am Fall der Marie Lafarge eine Furcht vor Ordnungsverlust verhandelt, die sich aus der Unvereinbarkeit von weiblichen Gender-Rollen und beobachtetem Verhalten einzelner Akteurinnen generiert. Die geschlechtliche Ordnung gerät ins Wanken, wenn eine Frau aggressiv, sogar mörderisch gegen ihren Ehemann vorgeht. Die Folge dieser Verunsicherung ist die Kopplung des als ›unnatürlich‹ wahrgenommenen Mörderischen mit weiteren ›unweiblichen‹ Charakteristika. Die Verbrecherin ist nicht nur kriminell, sie ist auch frigide, desexualisiert, und sie übt die Tätigkeit des Schreibens aus, die eigentlich den rational denkenden Männern vorbehalten ist. Im Zusammenfall dieser Eigenschaften entsteht eine Figur, die in ihrer Devianz insofern akzeptiert werden kann, als sie schon vor dem Verbrechen außerhalb der Norm stand, das Verbrechen demnach lediglich die logische Folge ihrer ›Unnatur‹ darstellt.

H e i n e s P l ä d o ye r i m F e u i l l e t o n Die Selbstinszenierung des Toxikologen Orfila, der den Fall schließlich untersuchte, wird bei Heinrich Heine kritisch-ironisch nacherzählt. Heine berichtet 1840 im 20. Journalartikel der Leserschaft der Augsburger Allgemeinen Zeitung, für die er als Pariser Korrespondent tätig war, über den Fall Lafarge. Dabei ergreift er gemeinsam mit den sogenannten ›Lafargisten‹ Partei für die Angeklagte und bringt die Argumente des Staatsanwalts in einen instabilen Zusammenhang. Heines Artikel stellt Orfilas Kompetenz infrage und zielt direkt auf dessen Selbstdarstellung als unfehlbarer Wissenschaftler ab:

9

Lisa Downing: »Murder in the Feminine: Marie Lafarge and the Sexualization of the Nineteenth-Century Criminal Woman«, in: Journal of the History of Sexuality, Bd. 18, Nr. 1 (2009), S. 121-137, hier S. 130f.

DIE ENTSETZLICHE NOTHWEHR EINER UNGLÜCKLICHEN FRAU | 129 [U]nd bedenkt man andererseits, daß der Mann, auf dessen Ausspruch die Jury das Verdammungsurtheil basirte, ein berüchtigter Intrigant und Charlatan ist, eine Klette am Kleide der Großen, ein Dorn im Fleische der Unterdrückten, schmeichelnd nach oben, schmähsüchtig nach unten, falsch im Reden wie im Singen: o Himmel! dann zweifelt man nicht länger, daß Marie Capelle unschuldig ist, und an ihrer Statt der berühmte Toxologe, welcher Dekan der medizinischen Fakultät von Paris, nemlich Herr Orfila, auf dem Marktplatz von Tulle an den Pranger gestellt werden sollte!10

Heines Strategie ist hier eindeutig der Versuch, den Experten zu diskreditieren und seine charakterlichen Mängel herauszustellen, um dessen Glaubwürdigkeit zu untergraben. Nebenbei ironisiert er Orfilas künstlerische Ambitionen bei den musikalischen Soiréen seiner Frau.11 Die theatralischen Auftritte Orfilas im Giftmordprozess dienen Heine als Grundlage für seine Kritik an der Vorgehensweise des Experten: Wer aus näherer Beobachtung die Umtriebe jenes eiteln Selbstsüchtlings nur einigermaßen kennt, ist in tiefster Seele überzeugt, daß ihm kein Mittel zu schlecht ist, wo er eine Gelegenheit findet, sich in seiner wissenschaftlichen Spezialität wichtig zu machen und überhaupt den Glanz seiner Berühmtheit zu fördern. In der That, dieser schlechte Sänger […] würde auch kein Bedenken tragen, ein Menschenleben zu opfern, wo es gälte, das versammelte Publikum glauben zu machen, niemand sey so geschickt wie er, jedes verborgene Gift an den Tag zu bringen! Die öffentliche Meinung geht dahin, daß im Leichnam des Lafarge gar kein Gift, desto mehr hingegen im Herzen des Hrn. Orfila vorhanden war.12

In diesen Ausführungen entspricht der Autor der Sympathie der französischen Bevölkerung für die Verurteilte, die sich während des Prozesses zunehmend bildete und dazu führte, dass schließlich sogar der anklagende Staatsanwalt ausgewechselt werden musste, weil er zu ihren Gunsten parteiisch war. Heine selbst gibt an, dass »[d]iejenigen, welche dem Urtheil der Jury von Tulle beystimmen, […] eine kleine Minorität«13 bilden. Die Reaktionen in der deutschen Presse dagegen sind sehr viel distanzierter. Die Redaktion der Augsburger Allgemeinen Zeitung druckt in derselben Ausgabe, in der Heines Artikel erscheint, einen weiteren Beitrag mit dem Titel Ein deutsches Wort über den Prozeß der Wittwe Lafarge, worin die Sympathie der Franzosen für die verurteilte Mörderin scharf angegriffen wird: »Aber jener Fanatismus, der 10 DHA 13, S. 90. 11 In einem späteren Artikel vom 6. Januar 1841 heißt es in Anspielung auf den Prozess: »Hr. Orfila meckert wieder seine unbarmherzigsten Romanzen, gesungenes Rattengift.« DHA 13, S. 105. 12 DHA 13, S. 90. 13 DHA 13, S. 90.

130 | ANNE STÄHR einem zweideutigen, einem bereits von dem Criminalprozeß gebrandmarkten Weibe eine Glorie um das Haupt malt, ist ein so unsittlicher Ausbruch der französischen Gesellschaft, daß es jeden Mann von Gefühl für Sitte und Recht mit Ekel und Unwillen erfüllt.«14 Dieser Beitrag aus Deutschland zieht eine Demarkationslinie zwischen akzeptablem juristischen und moralischen Verhalten, auf deren einen Seite sich Deutsche und Männer von ›richtiger‹ Gesinnung befinden, auf der anderen dagegen Frauen, Verbrecher_innen, Französinnen und Franzosen und (wie in folgenden Äußerungen deutlich wird) Jüdinnen und Juden. Es handelt sich hierbei sowohl um nationalistische als auch um vergeschlechtlichte Abgrenzungsmechanismen, die sich zugleich gegen den schreibenden, frankophilen Juden Heine wenden. Die Mainzer Unterhaltungsblätter drucken Auszüge von Heines Artikel über den LafargeProzess ab und kommentieren, es handele sich hierbei um »einen neuen Beleg für die schon öfter von uns gerügte Gesinnungslosigkeit, Frechheit und Schamlosigkeit dieses verkommenen Genies«, in der die »gaminartige Gesinnung des edlen Heinrich selber genugsam«15 deutlich werde. Die Kategorie der ›Sittlichkeit‹ gerät hier in Korrespondenz mit dem zeitgenössischen Geschlechterdiskurs. Sie wird als eine männliche Kompetenz verstanden, geleitet von Ratio und Urteilsvermögen. Diese Fertigkeiten werden Frauen und eben auch jüdischen Schriftstellern abgesprochen. Vielmehr offenbart ein solcher gerade durch sein Plädoyer für eine als ›unsittlich‹ wahrgenommene Verbrecherin seine Inkompetenz und daher seine beschädigte Männlichkeit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Heine 1854 seinen Artikel für den Druck der Lutezia in dieser Hinsicht etwas abschwächte. Im Artikel von 1840 hatte er noch kompromisslos Partei für Marie Lafarge ergriffen, und zwar unabhängig von der Tat: [D]ie arme Madame Lafarge, die ich sogar für unschuldig halte – und wäre sie schuldig, auf Ehr und Gewissen, ich würde sie freygesprochen haben […]. Selbst in diesem schlimmsten Falle sah ich in dem Mord des Lafarge nur einen Akt der Verzweiflung, die entsetzliche Nothwehr einer unglücklichen Frau […].16

Das angenommene Motiv der Verzweiflung und der daraus folgenden Notwehr rechtfertigt im Artikel sogar einen Mord. In der überarbeiteten Version schwächt Heine die Aussage ein wenig ab, indem er seine Argumentation an-

14 Beilage der Augsburger Allgemeinen Zeitung, S. 2275, zitiert nach DHA 13, S. 1205. 15 Mainzer Unterhaltungsblätter Nr. 289 (18. Oktober 1840), S. 1155 f., zitiert nach DHA 13, S. 1205 f. 16 DHA 13, S. 324.

DIE ENTSETZLICHE NOTHWEHR EINER UNGLÜCKLICHEN FRAU | 131 deren in den Mund legt, das Motiv der Notwehr, das Heine weiterhin anführt, wird nun durch das Kollektiv der »Vertheidiger« gestützt: Diejenigen, welche dem Urtheil der Jury von Tulle beystimmen, bilden eine sehr kleine Minorität und geberden sich nicht mehr mit der frühern Sicherheit. Unter ihnen giebt es Leute, welche zwar an die Vergiftung glauben, dieses Verbrechen aber als eine Art Nothwehr betrachten und gewissermaßen justifizieren. Lafarge, sagen sie, sey einer größern Unthat anklagbar: er habe, um sich durch ein Heirathsgut vom Bankerotte zu retten, mit betrügerischen Vorspiegelungen das edle Weib gleichsam gestohlen und sie nach seiner öden Diebeshöhle geschleppt, wo, umgeben von der rohen Sippschaft, unter moralischen Martern und tödtlichen Entbehrungen, die arme verzärtelte, an tausend geistige Bedürfnisse gewöhnte Pariserinn, wie ein Fisch außer dem Wasser, wie ein Vogel unter Fledermäusen, wie eine Blume unter limosinischen Bestien, elendiglich dahinsterben und vermodern mußte!17

Der Erzähler verlagert hier seine Meinung zum Mordfall von einem einzelnen Protagonisten hin zu einem Meinungskollektiv, um durch diese Einbettung in eine Gemeinschaftsüberzeugung die eigene Position zu stärken. Allerdings gerät ihm die Darstellung von Marie Lafarges ›Entführung‹ auf das Landgut zu einer Erzählung über Alterität, indem er verstärkt zoologische und botanische Termini bemüht, die ihre ›Fremdheit‹ illustrieren. Marie Lafarge ist nicht nur geographisch fremd, ihre betonte Andersartigkeit weist schon auf das Verbrechen hinaus, das sie innerhalb des Diskurses über ideale Weiblichkeit zum ›Anderen‹ und Abweichenden stempelt. Dieser Eindruck verstärkt sich in den folgenden Ausführungen: Als das unglückliche Weib sah, daß sie gefangen war, eingekerkert in der wüsten Carthause, welche Glandier heißt, bewacht von der alten Diebesmutter, ohne gesetzliche Rettungshülfe, ja gefesselt durch die Gesetze selbst – da verlor sie den Kopf, und zu den tollen Befreyungsmitteln, die sie zuerst versuchte, gehört jener famöse Brief, worin sie dem rohen Gatten vorlog, sie liebe einen Andern, sie könne ihn nicht lieben, er möge sie also loslassen, sie wolle nach Asien fliehen und er möge ihr Heirathsgut behalten. Die holde Närrinn! In ihrem Wahnsinn glaubte sie, ein Mann könne mit einem Weibe nicht leben, welches ihn nicht liebe, daran stürbe er, das sey der Tod…Da sie aber sah, daß der Mann auch ohne Liebe leben konnte […] griff sie zu purem Arsenik […].18

Das zentrale Argument für die Unschuld von Marie-Fortunée Lafarge ist folglich ihre Unzurechnungsfähigkeit aufgrund fehlender Affektkontrolle, die wiederum auf eine hohe Emotionalität zurückgeführt wird. Phrasen wie »den 17 DHA 13, S. 90. 18 DHA 13, 90f.

132 | ANNE STÄHR Kopf verlieren«, »Tollheit«, »Wahnsinn« und »Närrin« referieren direkt auf ein Wissensfeld, das sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit Blick auf die Verbrecherin zunehmend im wissenschaftlichen Diskurs etabliert.19 Die sich verfestigende Dichotomie der Geschlechtscharaktere manifestiert sich unter anderem in der Spiegelung von ›männlicher Vernunft‹ und ›weiblichem Gefühl‹, wobei letzteres in der Kriminologie der 1830er und 1840er Jahre im Zusammenhang mit der Kindsmörderinnendebatte verstärkt als mildernder Umstand herangezogen wird. Uhl stellt fest: »Die bei ›der Frau‹ über die Vernunft herrschenden Gefühle »bestimmen das Weib zu vielfachen Handlungen«20. Eine solche Mischung aus Emotionalität und Passivität zieht somit zwingend eine mildere Strafpraxis nach sich, da eine derartig begriffene Kindsmörderin kein Verbrechen aus freiem Willen begangen haben kann«.21 Auch Vogel weist in ihrer Studie zum Geschlechterdiskurs um 1800 auf gehäuft auftretende geschlechtscharakteristische Zuschreibungen seit der Jahrhundertwende hin, nach denen Frauen als viel stärker emotional gelten als Männer.22 Insofern wird das Verbrechen ›der Frau‹ als aus ihrer weiblichen ›Natur‹ heraus motiviert begriffen und dementsprechend naturalisiert. Downing hat darauf hingewiesen, dass in der Verhandlung um Marie Lafarges Verbrechen eine gesellschaftliche Furcht angesichts einer männermordenden Frau auszumachen ist, da diese sich durch ihre aggressive Handlung nicht geschlechtsrollenkonform verhält. Die als ›natürlich‹ geltende Geschlechterordnung gerät durch eine weibliche Aggressorin so ins Wanken, dass Stabilisierungsmechanismen notwendig werden, wie sie weiter oben schon beschrieben wurden.

Fazit Mit einer solchen Auffassung steht der Text Heines zunächst augenscheinlich in enger Korrespondenz. Die fehlende Emotionalität ihres Ehemanns übersteigt in der Darstellung Marie Lafarges Vorstellungsvermögen, ihre Handlungen befinden sich in einem Feld des (spezifisch weiblichen) Wahns und der Irrationa19 Die Psychiatrie hat sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Disziplin ausgeformt, trotzdem kann man die Anfänge eines Denkens in psychiatrischen Begriffen erkennen, die einige Jahrzehnte später in der Untersuchung der Hysterikerin aufgegriffen werden. 20 Johann Baptist Friedreich: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, Leipzig 1835, S. 354. 21 Karsten Uhl: Das »verbrecherische Weib«. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster 2003, S. 47. 22 Caroline Vogel: Geschlechterdiskurs und Lebensrealität um 1800. Elisabeth Staegemann – ihr literarisches Werk und ihr Salon, Regensburg 2001, S. 40.

DIE ENTSETZLICHE NOTHWEHR EINER UNGLÜCKLICHEN FRAU | 133 lität. Eben das Irrationale dient dem Text als Untermauerung seiner Argumentation für einen Freispruch der Marie Lafarge. Er bewegt sich damit einerseits in dichter Korrelation mit dem kriminologischen Diskurs während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nimmt eine stark geschlechtlich codierte Darstellung der Debatte vor. Geschlecht wird als spezifische Identität der Verbrecherin inszeniert, die vergeschlechtlichten literarischen Bilder bedienen sich aus einem Archiv, in dem das weibliche Verbrechen die geschlechtliche Devianz der Frau kennzeichnet. Andererseits hebt der Text jedoch den Kontrast des Verbrechens der Marie Lafarge gegenüber dem Diskurs der weiblichen Giftmörderin in einem speziellen Punkt hervor. Denn das Charakteristikum eines solchen Verbrechens in den öffentlichen Debatten ist stets die Kälte und Berechnung, mit der die Täterin angeblich vorgeht. Gerade indem man ihr fehlende Emotionalität vorwirft, entweiblicht man sie und dekonstruiert auf diese Weise ihre ›natürliche‹ Geschlechtszugehörigkeit. Auch wird als Motiv der typischen Giftmörderin gerade nicht gefühlte Verzweiflung, sondern vielmehr (meist finanziell orientiertes) Kalkül angeführt. Die Logik dahinter besteht in der Annahme, dass eine Verbrecherin ihre ›weibliche Natur‹ hinter sich lassen muss, um zur Mörderin zu werden, wobei der Fall der Kindsmörderin hier eine Ausnahme bildet. Der Artikel 20 der Lutezia schreibt also in diesem Fall gegen den Diskurs an, wobei die Methode nicht die Ironisierung ist, sondern der Bruch mit den Konventionen diskursiver Begründungsmuster.

Literatur Baudelaire, Charles: Studien über Poe. Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1983. Downing, Lisa: »Murder in the Feminine: Marie Lafarge and the Sexualization of the Nineteenth-Century Criminal Woman«, in: Journal of the History of Sexuality, Bd. 18, Nr. 1 (2009), 121-137. Friedreich, Johann Baptist: Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, Leipzig 1835. Giebelmann, Rolf: Weibliche Wunder, Wahrheiten und Wirkungen. Kulturgeschichtliches zur Toxikologie, Aachen 1998. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorfer Ausgabe, Hamburg 1973-1997. Lee, Koon-Ho: Heinrich Heine und die Frauenemanzipation, Stuttgart/Weimar 2005. Salomon-Delatour, Gottfried (Hg.): Die Lehre Saint-Simons, Neuwied 1962. Thorwald, Jürgen: Handbuch für Giftmörder, München 1972.

134 | ANNE STÄHR Uhl, Karsten: Das »verbrecherische Weib«. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster 2003. Vogel, Caroline: Geschlechterdiskurs und Lebensrealität um 1800. Elisabeth Staegemann – ihr literarisches Werk und ihr Salon, Regensburg 2001.

Narrative Rekons truktione n krimineller Ha ndlunge n von Fra ue n in Kindsmordgutac hte n de r Geric htliche n Me diz in KATJA GEIGER

Was als Ursprung oder Auslöser einer kriminellen Handlung verstanden wird, unterliegt rechtlichen, politischen und moralischen Interpretationsmöglichkeiten, die in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bestehen. Die Frage, ob Delinquenz in körperlich-psychischen Anomalien des Individuums, im sozialen Umfeld oder gar in der Geschlechtszugehörigkeit der straffällig gewordenen Person zu suchen ist, wird in spezifischen kulturellen und historischen Kontexten durch unterschiedliche, nicht zuletzt naturwissenschaftliche Akteure zu beantworten versucht. Eine dieser Akteursgruppen ist die Gerichtliche Medizin, deren Beteiligung am Diskurs über Kindsmord um 1900 im Zentrum dieses Artikels steht. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei narrativen Strategien und Mustern gewidmet, die medizinische Sachverständige in den einzelnen Strafprozessen anwendeten, um das Verbrechen zu erklären. Die Erzählstile in medizinischen Texten sind nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Logik von Gutachtern aufschlussreich. Verglichen mit zeitgenössischen kriminologischen, juristischen und alltagsweltlichen Äußerungen im Diskursfeld des Kindsmordes können die gerichtsmedizinischen Narrationen einen Zugang zu mehreren kultur- und wissenschaftshistorischen Fragekomplexen eröffnen. Sie geben darüber Auskunft, wie kulturelle Vorstellungen von Weiblichkeit, sozialer Herkunft und Verbrechen in den verschiedenen Darstellungen von strafrechtlich relevantem Handeln Platz fanden, sie verdeutlichen, wie solche Wissensbestände durch eine medizinische Spezialdisziplin aufgegriffen und weiter verarbeitet werden und wie wissenschaftliche sowie Diskurse, die anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, vor allem dem Recht, entspringen, sich wechselseitig instruierten.

136 | KATJA GEIGER In gerichtsmedizinischen Auseinandersetzungen mit dem Kindsmord stand dem erkennenden wissenschaftlichen Subjekt ein Untersuchungsobjekt gegenüber, das sich in mehrerlei Hinsicht als ›anders‹ entpuppte: Einerseits unterschieden sich die beschuldigten Frauen durch ihre Geschlechtszugehörigkeit vom Gerichtsmediziner, andererseits durch ihre soziale Herkunft aus dem Dienstbotenmilieu. Aus einer solchen Opposition ergaben sich spezifische Darstellungsweisen des ›Anderen‹ in wissenschaftlichen Texten. Wie medizinische Sachverständige kollektives Wissen über und Vorstellungen von Kindsmörderinnen rezipierten und ihre Aussagen über diese weibliche Verbrechergruppe als objektiv zu deklarieren vermochten, zeigt sich in den schriftlichen Produkten ihrer professionellen Arbeit. Als thematischer Rahmen, um diese Verschränkung hier vorzustellen, dient die im 18. Jahrhundert begonnene und bis ins 20. Jahrhundert in Gerichtsmedizin und Kriminologie kontrovers geführte Debatte, ob Frauen während der Geburt in einen psychischen Ausnahmezustand verfallen können, der eine unbeabsichtigte Tötung des Neugeborenen im Affekt zur Folge haben kann. Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der juristischen Auseinandersetzung mit dem Delikt wurden dem weiblichen Körper und der weiblichen Psyche bestimmte Dispositionen zugeschrieben, die als kausal mit der Tat in Zusammenhang stehend erachtet wurden. Um die historischen und kulturellen Rahmungen dieses Denkens herauszustellen, kann die Kategorie Geschlecht als Analyseinstrument nutzbringend angewendet werden, insbesondere für eine Klärung von Fragen, die sich auf jene Gemengelage von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Praktiken beziehen, innerhalb derer Geschlecht als Naturgegebenheit konstruiert wurde (und wird).1 Als Quellengrundlage für eine Untersuchung der narrativen Verhandlung von Verbrechen und Geschlecht durch die Gerichtsmedizin bieten sich Obduktionsgutachten aus Kindsmordfällen an, da sie Auskunft über den fachlichen Diskurs und über das praktische Arbeiten der medizinischen Experten geben. Ihr Einsatzort waren die Gerichte, wo Erkenntnisse über die wahrscheinlichste Ursache von Verletzungen an der sezierten Leiche dem Richter, den Anwälten und den Geschworenen in allgemein verständlichen Worten dargelegt wurden. Wie bedeutungsvoll die Gutachten für Beweisverfahren waren, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Kindsmordfällen abgehalten wurden, verdeutlicht der Umstand, dass sie obligatorisch von den Gerichten in Auftrag gegeben wurden. Indem sie eine konkrete kriminelle Handlung 1

Für einen Überblick zu diesbezüglichen Ansätzen in der feministischen Wissenschaftstheorie vgl. Sabine Höhler/Bettina Wahrig: »Geschlechterforschung ist Wissenschaftsforschung – Wissenschaftsforschung ist Geschlechterforschung«, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 14 (2006), S. 201-211.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 137 im Lichte kollektiver Wissens-, Bewertungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsvoraussetzungen betrachten und sie sodann als Schrift auf dem Papier materialisieren, schufen sie eine von mehreren Grundlagen2 für juristisches Entscheiden.3 Den gerichtsmedizinischen Texten kommt damit neben ihrer unmittelbaren Nutzung als objektive Sachverhaltsdarstellungen in den einzelnen Strafprozessen auch die Funktion von Transformations- und Speichermedien hinsichtlich ihrer medizinisch-rechtlichen Inhalte zu. Denn einerseits verarbeiten sie verschiedene Diskurse rund um den Kindsmord und zeitgenössische Vorstellungen ›normaler‹ und ›abnormer‹ Weiblichkeit im Einzelfall, und andererseits bewahren sie die gezogenen Schlüsse über die juristische Urteilsfindung hinaus für weitere gerichtsmedizinische und rechtliche Arbeit. Mit Michel Foucault können sie als »ruhmlose Archive« bezeichnet werden. In Überwachen und Strafen prägte er den Begriff, um damit jenes in der Neuzeit entstehende Geflecht von Schreiben und Schrift zu bezeichnen, das von den »Wissenschaften vom Menschen« produziert wurde und der Beschreibung, Kontrolle und Sanktionierung von Individuen diente.4 Gutachten waren also wesentliche, von Gerichtsmedizinern bediente Instrumente staatlicher Machtausübung und nahmen eine nicht zu unterschätzende Position innerhalb der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« ein. Mit diesem oftmals in kulturund wissenschaftshistorischen Arbeiten herangezogenen Terminus bezeichnet Lutz Raphael die ab dem späten 19. Jahrhundert erkennbare, zunehmende Einflussnahme und Wirkmächtigkeit von Expertenwissen und Expertenhandeln in allen Gesellschaftsbereichen.5 Raphael hebt die Humanwissenschaften – unter denen er alle Wissenschaftszweige subsumiert, die »den Menschen in seinen gegenwärtigen Lebensumständen« als gemeinsamen Untersuchungsgegenstand teilen – aufgrund ihres regen Engagements für Definitionen und rechtliche Sanktionierung abweichenden Verhaltens sogar als »handgreif-

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Anzumerken ist an dieser Stelle, dass den Gerichtsverhandlungen Entscheidungsmechanismen, die nicht auf der medizinischen Expertise allein beruhten, zugrunde lagen. Einige Frauen wurden durch die Gutachten schwer belastet, bei anderen wirkten sich die Urteile der medizinischen Sachverständigen neben anderen Milderungsgründen wie dem geringen Alter, Unbescholtenheit und Geständigkeit strafmindernd aus. Vgl. Joachim Linder/Claus-Michael Ort: »Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert«, in: dies. (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 3-80, hier S. 39f. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976, S. 245ff. Vgl. Lutz Raphael: »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1996), S. 165-193.

138 | KATJA GEIGER lichste Form« der Verwissenschaftlichung des Sozialen hervor.6 In diesen Disziplinenkanon kann die Gerichtliche Medizin eingeordnet werden, da sie sich an der Gestaltung eines überfachlichen Verbrechensdiskurses beteiligte und somit sowohl auf der Ebene der Theorie als auch auf der Ebene praktischer Gutachtertätigkeit verschiedene Formen der Macht über unangepasste Personen(gruppen) ausübte. Die Grundlage dafür stellten die im 19. Jahrhundert bestehenden Ansprüche und die Überzeugung dar, menschliches Handeln aus einer naturwissenschaftlichen Analyse körperlich-psychischer Funktionsweisen des Individuums erklären zu können. Folgende Äußerung eines Grazer Gerichtsmediziners von 1908 veranschaulicht die naturwissenschaftliche Sichtweise auf delinquentes Handeln: Aus der Erkenntnis der materiellen Ursachen psychischen Geschehens, in voller Würdigung des wesentlichen Einflusses allgemein somatischer Verhältnisse auf die Vorgänge des Seelenlebens und demgemäß auch auf das Handeln, wurde der Arzt dazu geführt, gut und böse nicht so sehr nach ihrer sozialen Seite hin einzuschätzen als die individuelle Genese, auf dem Hintergrunde allgemeiner Naturgesetze ins Auge zu fassen.7

Im Fall des Kindsmordes stellte der weibliche Organismus die »materielle Ursache psychischen Geschehens« dar. Gleichzeitig wurde der Körper dabei stärker als in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen Verbrechensformen an den »Einfluss somatischer Verhältnisse auf die Vorgänge des Seelenlebens« rückgebunden.8 Die weibliche Psyche in ihrer starken Unterwerfung unter anatomische Voraussetzungen spielte bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle in Diskussionen um das Strafmaß für Mütter, die ihre neugeborenen Kinder getötet hatten.9 Die Annahme einer physiologisch bedingten Beeinträchtigung des Geistes- und Gemütszustandes der Gebärenden mündete schließlich in der Abschaffung der Todesstrafe für Kindsmord 1813 in Bayern, 1839 in Würzburg, 1840 in Han-

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Ebd., S. 167. Hermann Pfeiffer: »Über die Wechselbeziehung zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft«, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 27 (1908), S. 46-62, hier S. 54f. Für einen Überblick über kriminologische Diskurse über Verbrecherkörper vgl. die Einleitung in Peter Becker/Richard Wetzell (Hg.): Criminals and their Scientists, Cambridge 2006. Für die Anfänge dieser Diskussion im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert vgl. Kerstin Michalik: Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen, Pfaffenweiler 1997, S. 316ff, S. 366ff.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 139 nover, 1841 in Hessen, 1845 in Baden und 1851 in Preußen.10 Bereits 1803 war in der Habsburgermonarchie der Kindsmord zum nicht mehr mit dem Tod zu ahndenden Delikt der privilegierten Tötung erklärt worden. Neben literarischen, pädagogischen, juridischen und kameralistischen Auseinandersetzungen mit dem Kindsmord wurden die Gesetzesänderungen dieser Zeit nicht zuletzt auch von einem aufgeklärten medizinischen Diskurs unterstützt.11 Allerdings galt die Anerkennung einer Ausnahmesituation während und kurz nach der Geburt nur für ledige Mütter. Vor allem der durch die Illegimität der Schwangerschaft entstandene »Ehrennotstand« der Frau wurde als Voraussetzung eines durch die Entbindung hervorgerufenen abnormen Geisteszustandes aufgefasst. Der Familienstand der Angeklagten und damit einhergehend ihre soziale Stellung in der Gesellschaft fand also nicht nur in der rechtlichen Behandlung des Verbrechens Berücksichtigung, sondern war auch fester Bestandteil einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Sicht auf die kriminelle Handlung. Im Einzelfall erwies sich die Differenzierung zwischen bewusst getroffener Entscheidung zur Tötung und Sinnesverwirrung allerdings als schwierig, da aus der zeitlichen Distanz zur Tat das Ausmaß von Geburtsschmerzen, Bewusstseinstrübungen und Ängsten nur schwer bestimmbar war. Ausschlaggebend war der Zustand der Täterin während der Tötung und weiter, wann der Entschluss zur Tat gefasst worden war, ob das Verbrechen nach einem vorab geschmiedeten Plan erfolgte oder in der Verwirrung des Moments durch Eigenverantwortlichkeit nicht mehr regulierbar war. Von den gerichtsmedizinischen Experten wurde eine Rekonstruktion des Verlaufes der heimlichen Geburt und insbesondere auch der psychischen Mechanismen, denen die beschuldigte Frau unterworfen war, erwartet. Die spezielle Situation, in der sich die ledige Mutter vor, während und unmittelbar nach der heimlichen Geburt befand, eröffnete einen isolierten Interpretationsraum, in dem Körper und Gemütszustand scheinbar anderen Gesetzen unterworfen waren als sonst. Über eine Annäherung bzw. Einfühlung in diese Ausnahmesituation war es den Medizinern möglich, die Tötung eines Neugeborenen von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus als natürliche weibliche Verhaltensweise zu deklarieren.12 10 Hania Siebenpfeiffer: »Entartete Mütterlichkeit – Kindsmord in literarischen und nicht-literarischen Texten des 20. Jahrhunderts«, in: Antje Hilbig/Claudia Kajatin/Ingrid Miethe (Hg.): Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 133-152, hier S. 135. 11 Vgl. Gerhard Ammerer: »Kindsmord und Gerichtsmedizin in Österreich zur Zeit der Aufklärung«, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 15 (1995), S. 127-160, hier S. 127ff. 12 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass der Begriff Situation im deutschsprachigen Raum in seinem empathischen und modernen Gebrauch zuerst in Diskursen

140 | KATJA GEIGER Um die Wende zum 20. Jahrhundert rief die medizinische und rechtliche Praxis in Kindsmordfällen allerdings zunehmend Kritik im Kreise der Gerichtsmediziner und Kriminologen hervor, da viele Experten der Ansicht waren, eine mildere Behandlung von Kindsmörderinnen wäre zumeist ungerechtfertigt. Der bedeutendste Vertreter der Kriminologie in Österreich, Hans Gross, stellte in einem Fachvortrag 1906 den physiologisch bedingten Ausnahmezustand während der Geburt vehement in Abrede und äußerte seine Überzeugung, dass sich die Mehrzahl aller Kindsmorde bei klarem Bewusstsein der Mutter ereigneten. Als Beweise für eine bereits vor der Geburt bestehende Tötungsabsicht führte er die drei wichtigsten, seit dem 18. Jahrhundert in Strafverfahren vorgebrachten Indizien ins Feld, als da sind die Verheimlichung der Schwangerschaft, die Unterlassung von Vorbereitungen auf die Geburt sowie die heimliche und ohne Beistand erfolgende Geburt.13 In Fachjournalen empörten sich Praktiker, dass die Sonderstellung des Delikts in der Urteilssprechung auf einem Dogma beruhe, das »nicht selten über alle objektiven Darlegungen der Staatsanwaltschaft und des Gerichtsarztes hinweg« täusche.14 Und tatsächlich lässt die Durchsicht von Prozessakten des Wiener Landesgerichtes für Strafsachen ab 1900 erkennen, dass in Kindsmordfällen die Gutachten der Gerichtsmediziner zumeist die Anklage unterstützten. Gleichzeitig jedoch bejahten die Geschworenen immer häufiger das Zutreffen des § 2 StGB 1852.15 In diesem Paragraphen des Österreichischen Strafgesetzbuches von 1852 waren »Gründe, die den bösen Vorsatz ausschließen« und somit eine Handlung als nicht strafbar klassifizierten, angeführt.16

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um den Kindsmord Verwendung fand, um die Notwendigkeit der Einfühlung in die Lage der Täterin zu markieren. Vgl. Michael Niehaus: »Wie man den Kindermord aus der Welt schafft. Zu den Widersprüchen der Regulierung«, in: Maximilian Bergengrün/Johannes F. Lehmann/Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 221-66, hier S. 32ff. Vgl. W[enzeslaus] Gleispach: »Über Kindsmord«, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 27 (1907), S. 224-270. H. Gummersbach: »Das gerichtsmedizinische Gutachten und die Strafverfolgung bei der Kindstötung«, in: Deutsche Zeitschrift für die gesamte Gerichtliche Medizin 22 (1933), S. 419-426, hier S. 419. Ich möchte bezüglich dieser Feststellung auf meine Dissertation verweisen, in der ich mich derzeit anhand von Wiener Prozessakten eingehend mit der Komplexität der Verfahren und mit der Stellung der gerichtsmedizinischen Expertise vor Gericht beschäftige. Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Österreich 1852, S. 497. Die in Kindsmordfällen relevanten Formulierungen des Paragraphen, der auch Geisteskrankheit, Minderjährigkeit und Notwehr als Gründe für Straffreiheit beinhaltete, finden sich in Punkt b) und c): »Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet: b) wenn die That bei abwechselnder Sinnenverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte; oder

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 141 Um nun, nach der Skizzierung des Diskurses um die Sinnesverwirrung, der Frage genauer nachzugehen, wie kriminelle Handlungen von Frauen in gerichtsmedizinischen Schriftprodukten narrativ rekonstruiert und naturwissenschaftlich gedeutet wurden, ist zunächst ein Blick auf die praktische Arbeit zu werfen, die Gutachter leisteten, um in Kindsmordfällen Evidenzen für die Gerichte herzustellen. Den Ausgangspunkt stellte die Obduktion der Kindesleiche im Seziersaal dar. Indem der Gerichtsmediziner bei dieser Arbeit nicht nur mit dem Ergebnis der kriminellen Handlung – dem toten Körper des Neugeborenen – konfrontiert war, sondern auch mit weiteren zum Zeitpunkt der Sektion verfügbaren Informationen, ist eine Vorstellung von der Täterin und dem Ablauf des kriminellen Handelns präsent. Zur Verfügung gestellt werden die Auskünfte in Form von Polizeiberichten und Ermittlungsakten des Untersuchungsrichters, der nach Möglichkeit während der Obduktion anwesend zu sein hatte.17 Um die erhobenen Befunde als Beweise vollständig und in materieller Form zu bewahren, wurden sie als Obduktionsprotokoll von einem oder mehreren Schreibern zu Papier gebracht. Der Akt des Protokollierens ist als komplexe Technik zu verstehen, die einer gesetzlich reglementierten Aufzeichnungslogik folgte und die Übertragung des gesamten Körpers in Schrift zum Ziel hatte.18 Objektivität sollte im Gutachten nicht nur durch die genaue Einhaltung der gesetzlich angeordneten Sektionsinstruktionen gewährleistet werden, sondern auch durch die Berufserfahrung der medizinischen Experten. Diese bestand in der Routine des Erkennens sowie des Gebrauchs von Instrumenten. Gerade in der medizinischen Diagnostik war der Einsatz von »tacit knowledge«19 traditionell von zentraler Bedeutung, glich doch in der Praxis kaum je ein Krankheitsverlauf einem anderen. Bei Sektionen toter Neugeborener wurden die Gerichtsmediziner neben den behördlichen Vorgaben von ihrem gesammelten Wissen über typische, den Kindern durch die Mütter beigebrachte Verletzungen bei der Suche nach der Todesursache angeleitet. Dass c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung (§§. 236 und 523) oder einer anderen Sinnenverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen worden [ist].« 17 Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich, Jahrgang 1855, S. 26. 18 Vgl. Christoph Hoffmann: »Schneiden und Schreiben. Das Sektionsprotokoll in der Pathologie um 1900«, in: ders. (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008, S. 153-196, hier S. 158-161. 19 Nach Michael Polanyi handelt es sich bei »tacit knowledge« um Wissen, das in konkreten Handlungen ausgeführt wird und weder systematisch aufgeschrieben noch aus schriftlichen Leitfäden erlernt werden kann; »tacit knowlwdge« ist praxisverschränktes Handlungswissen, das vor allem in von Lehrern angeleiteten Lernprozessen entsteht. Vgl. Theodore M. Porter: »Quantification and the Accounting Ideal in Science«, in: Social Studies of Science 22 (1992), S. 633651, hier S. 645f.

142 | KATJA GEIGER Erfahrung als eine Vorbedingung für objektives Erkennen und Beschreiben von Sachverhalten eine zentrale Position in Medizin und Kriminalistik einnahm, ist in der Wissenschaftstheorie bereits vielfach thematisiert worden. Nennen möchte ich hier mit Blick auf die forensische Ermittlungslogik die »Intuition« im ärztlichen Denken bei Ludwik Fleck,20 die »Kunst des intelligenten Vermutens« in Theorien zur Spur21 sowie das »geschulte Urteil«,22 wie es von Lorraine Daston und Peter Galison als objektive wissenschaftliche Leistung thematisiert worden ist. Im Obduktionsgutachten, als zweiter Stufe der schriftlichen Verarbeitung von Ergebnissen der Leichenöffnung, produzierte der Gerichtsmediziner eine Darstellung der von ihm untersuchten Sachverhalte. Um das Gericht über Todesursache und Tathergang in Kenntnis zu setzen, verarbeitete er seine medizinischen Erkenntnisse aus der Obduktion sowie das ihm zusätzlich über Täterin und Tat zur Verfügung gestellte Wissen. Erfahrungen aus anderen Fällen wurden dabei sowohl als argumentative Stütze als auch als Muster für die narrative Rekonstruktion der Handlung eingebracht. Eine Passage aus einem Kindsmordgutachten von 1903 kann zeigen, wie die verschiedenen Bestandteile der Erkenntnis narrativ komponiert wurden: [D]iese Kratzer [Anm. K.G.: am Hals der Kindesleiche] besitzen auch theilweise eine so charakteristische, durch die Fingernägel herbeigeführte Form und Lage, daß ein würgendes Zusammenpressen durch die den Kindeshals umfassende Hand der Kindesmutter als außer jedem Zweifel stehend bezeichnet werden kann. Ebenso sicher ist es, daß die den Tod zunächst herbeigeführt habende Rachenzerreissung nicht durch den angeblichen Sturz des Kindes entstanden sein kann, sondern von einem durch die Mundöffnung eingeführten Fremdkörper herrühren muß, der tief in den Rachen herabgestossen und dann wieder zurückgezogen worden war. Aller Wahrscheinlichkeit nach und gemäß vielfacher Erfahrung über die Entstehung ähnlicher Verletzungen hatte die Kindesmutter einen oder mehrere ihrer Finger dem Kinde durch den Mund in den Rachen gestossen.23

20 Vgl. Ludwik Fleck: »Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens«, in: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983, S. 37-45, hier S. 39. 21 »Die Kunst des intelligenten Vermutens« wird in Theorien zur Spur als Fertigkeit, die unter bestimmten Bedingungen neue Erkenntnisse hervorbringt, ohne die kausalen Zusammenhänge zu kennen, verstanden. Vgl. Sybille Krämer: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 11-35. 22 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison (Hg.): Objektivität, Frankfurt a.M. 2007, S. 327ff. 23 WStLA, 2.3.4. A11-VrLGI, Fall Marie Gerb, 1546/1903. Bl. 49v.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 143 In einer objektiven, urteilsfreien Schilderung sollte im Gutachten aus medizinischer Perspektive erläutert werden, wie die Dinge sich am wahrscheinlichsten zugetragen hatten. Damit durfte die gerichtsmedizinische Darstellung noch keinen Anspruch auf die Repräsentation der Wahrheit erheben, da erst die Geschworenen nach eingehender Sichtung aller Beweismittel darüber zu entscheiden hatten, wie eine potentiell kriminelle, in der Vergangenheit liegende Handlung abgelaufen war. Das Verfassen eines Obduktionsgutachtens kann somit als Erzählen im Möglichkeitsmodus bezeichnet werden. Primärer Zweck war die allgemein verständliche, sprachliche Vermittlung der wahrscheinlichsten Variante von Tathergang und Todesursache an alle am Strafprozess beteiligten medizinischen Laien. Gerichte sind als eigene Sprachräume zu verstehen, in denen die Akteure bestimmte Regeln des Sprechens und Schreibens zu berücksichtigen hatten. Deutlich wird das bereits in Diskussionen über eine »gute Gerichtssprache«, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wurden. Im Wesentlichen handelte es sich um geschriebene Sprache, die den Bedürfnissen von Beamten und Rechtsexperten genügen musste. Ein sich neu herausbildender Beamtentypus war dazu berufen, mittels bürokratischer Terminologie und entlang genormter Prozeduren objektive und allgemein nachvollziehbare Sachverhaltsdarstellungen zu liefern.24 Um eine überfachliche Verständlichkeit der Inhalte zu gewährleisten, wurde ebenso wie im gerichtsmedizinischen Gutachten die Reduktion von Fachausdrücken angemahnt. Mediziner und Juristen trafen sich so auf einer sprachlichen Interaktionsplattform, von der aus Wissen über einen Straffall ausgetauscht und über die Schuldfrage kommuniziert werden konnte. Gerichtsmediziner waren sich der Tragweite der Ergebnisse ihrer Arbeit bewusst und ebenfalls der Schwierigkeit, unparteiisch und neutral zu bleiben. Besonders auf der Ebene der im Gutachten zu verwendenden Sprache wurde dieses Problem häufig diskutiert. In einem Handbuch findet sich die Empfehlung: Sonst soll man in der Ausdrucksweise so vorsichtig sein, daß nicht einmal der Schein erweckt werde, man verlasse den objektiven Standpunkt des Sachverständigen. Man hüte sich also in einem Falle von Kindsmord zu sagen, die Mutter habe das Kind gewürgt, zumal je eine Feststellung, daß gerade die Mutter es war, welche die Würgespuren gesetzt hat, objektiv gar nicht möglich ist und die auf die eigene

24 Peter Becker: »Recht schreiben – Disziplin, Sprachbeherrschung und Vernunft. Zur Kunst des Protokollierens im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt a.M. 2005, S. 49-76, hier S. 50.

144 | KATJA GEIGER Mutter als Täterin hinweisende Erfahrung gerade im einzelnen Falle ausnahmsweise vielleicht nicht zutreffen könnte.25

Die Formulierungen sollten demnach keinerlei Verdächtigungen enthalten, allerdings hielten sich die Gutachter in der Praxis nicht strikt an diese Vorgabe und scheuten nicht davor zurück, Verdachtsmomente auszusprechen. Deutlich wird dieser Widerspruch beispielsweise in einem Kindsmordgutachten von 1900, das ausgerechnet aus der Feder des eben zitierten Wiener Gerichtsmediziners Albin Haberda stammt: Die eigenthümliche Auslösung der oberen Gliedmaßen sammt den Schulterblättern und der Schulter- und Brustmuskulatur weist auf die beim Zerlegen des Geflügels gebräuchliche Art des Tranchierens hin. Es legt dies einen Schluß auf die Persönlichkeit der Thäterin nahe.26

Interessant an diesem Befund ist, dass es sich um den verstümmelten Rumpf eines unbekannten Neugeborenen handelte, der in einem Fluss aufgefunden und zur weiteren Ermittlung an das Institut für Gerichtliche Medizin in Wien überstellt worden war. Zum Zeitpunkt der Obduktion waren nähere Tatumstände nicht bekannt. Der Obduzent hatte zwar bei der mikroskopischen Untersuchung des Lungengewebes festgestellt, dass das Kind »durch Ertrinken in Schmutzwasser eines gewaltsamen Todes gestorben war«27, Hinweise auf die Person, von der die Gewalthandlung ausgegangen war, lagen ihm aber nicht vor. Da er aber zuvor die Zerstückelung der Leiche narrativ in ein bestimmtes Setting eingeordnet hatte, zog er den Schluss, dass es sich um eine Täterin handeln müsse. Diese als Feststellung formulierte Vermutung des Gerichtsmediziners wurde in weiteren den Fall betreffenden Ermittlungen insofern aufgegriffen, als die wenig später ausfindig gemachte Verdächtige eingehend über ihre Erfahrungen mit dem Tranchieren von Geflügel vernommen wurde. Fragt man nach geschlechtsspezifischen Elementen in der Darstellung der Kindsmörderin in Obduktionsgutachten, sind fernerhin die Anforderungen an die Persönlichkeit der gerichtsmedizinischen Experten zu berücksichtigen. Als Voraussetzung für die Wahrung von Objektivität während der Berufsausübung galten ein einwandfreier Charakter, Rechtsverständnis und Pflichtgefühl sowie Selbstdisziplin im Sinne einer Ausschaltung von Subjektivität. Anders gesagt wurde erwartet, dass Gerichtsmediziner aufgrund ihrer Persön25 Albin Haberda: »Behördliche Obduktionen«, in: Paul Dittrich (Hg.): Handbuch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit 2, Wien 1913, S. 345-700, hier 635. 26 WStLA, 2.3.4. A11-VrLGI, Fall Anna Krejsa. 1900/5059. Bl. 15r, Bl. 16v. 27 Ebd., Bl. 15v.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 145 lichkeitsstruktur in der Lage seien, von Projektionen kultureller Wissensbestände in wissenschaftliche Objekte abzusehen. In der Erfüllung eines offiziellen Amtes hatte das private hinter dem professionellen Selbst zu verschwinden, der Expertenblick musste frei von Emotion und distanziert von den in einen Fall involvierten Personen sein. »Unparteilichkeit und Redlichkeit, Wahrheitsliebe und Rechtschaffenheit« – eben jene Kennzeichen, die ein moralisch und sittlich gefestigtes bürgerliches Selbst ausmachten – sollten sowohl die Berufsgruppe der Gerichtsmediziner als auch die Berufsgruppe der Richter auszeichnen.28 Charakter, Wissenschaftlichkeit, bürgerliche Herkunft, Objektivität und Männlichkeit waren in diesem Bild miteinander verschränkt. Die Kindsmörderin, der es in den medizinischen Darstellungen in der Regel vor allem an Wahrheitsliebe mangelte, befand sich in direkter Opposition zu diesem Ideal. So findet sich in einem Beispielgutachten aus einem Lehrbuch von 1919 folgende Aussage über eine Frau, die die Tötung ihres neugeborenen Kindes leugnete: Auch sonst finden sich in den Angaben der P. sehr zahlreiche Widersprüche, welche bei ihren wiederholten Vernehmungen teilweise aufgeklärt worden sind. Sie mußte über Vorbehalt zahlreicher Zeugenaussagen verschiedene falsche Angaben, die sie ursprünglich gemacht hatte, berichtigen. Es beleuchten diese zeugenmäßigen Widerlegungen ihrer ursprünglichen Angaben, daß sie jedenfalls eine Person von geringer Wahrheitsliebe ist. […] Mit den festgestellten objektiven Tatsachen im unlösbaren Widerspruch stehen auch die Erzählungen über den Hergang ihrer Geburt.29

Während objektive Distanz des Gerichtsmediziners zu seinen Untersuchungsgegenständen vorausgesetzt war und der forensische Experte als das moralisch gefestigte, bürgerliche und männliche »Andere« der Kindsmörderin auftrat, wurde bei der Herstellung von Obduktionsgutachten gleichzeitig von ihm verlangt, die Beweggründe für kriminelles Handeln nachzuvollziehen. Entzogen sich Tathergang und Tatmotiv auch der direkten Wahrnehmung des wissenschaftlichen Experten, so meinte er doch, über die Entzifferung von Spuren auf und in der Leiche sowie über die Einfühlung in die Psyche der Kindsmörderin die in der Vergangenheit liegende Realität transparent und erzählbar machen zu können. Ereignisse wurden in einer »Semiotik der Übertretung« hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Bedeutung geschildert. Entlang immer wiederkehrender Leitsemantiken verlieh der Gerichtsmediziner dem bereits stattgefundenen und nicht unmittelbar fassbaren Unrecht eine schriftliche Gestalt, die vor dem Hintergrund kultureller Muster als böse, krankhaft, 28 Vgl. Peter Becker: »Recht schreiben«, S. 73f. 29 Julius Kratter: Gerichtsärztliche Praxis. Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. 2, Stuttgart 1919, S. 429.

146 | KATJA GEIGER grausam oder auch als typisch weiblich codierbar war.30 Solche in den wissenschaftlichen Texten immer wiederkehrenden Motive sind die bereits erwähnten Schilderungen der Angst, dass die Dienstgeber die heimliche Geburt des Kindes durch dessen Schreien entdecken könnten oder Versuche, die Schwangerschaft vor der Umwelt zu verbergen. Ob die Handlungen der beschuldigten Frauen von Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern und Geschworenen im Strafprozess als kriminelles Vorgehen gegen das Kind, als körperlich-psychisches Versagen oder als Ergebnis der sozialen Situierung der Frauen ausgelegt wurden, ergab sich nicht zuletzt aus der Art und Weise wie der einzelne Fall im medizinischen Gutachten erzählt wurde. Die in den Schriftstücken aufbereiteten Befunde über die Kindesleiche wurden im Abgleich mit den Aussagen der Frauen, mit Zeugenaussagen und mit Vorstellungen über die Tat, wie sie auch in populären Darstellungen kursierten, nach deren Relevanz für die jeweilige Argumentation als narrative Rekonstruktion des Falles gruppiert, um so eine Erklärung für das Zusammenspiel von persönlicher Verantwortung, psychischer Disposition und sozialer Situation der Kindsmordangeklagten bereitzustellen. Im Wesentlichen lassen sich drei Erklärungsmuster für die Tat herausstellen, die von unterschiedlichen Sprechern in unterschiedlichen Kombinationen miteinander erzählt wurden: 1. Eine im Körper der Frau verortete Veranlagung: An die Stelle eines klaren Bewusstseins trat bei dieser Deutung des Kindsmordes eine körperliche Dysfunktionalität. Dem Verhalten der Frau wird der Charakter eines Naturereignisses zugeschrieben, ihre Handlung wird als unsteuerbar und losgelöst von ihrer persönlichen Verantwortlichkeit aufgefasst. Eine solche Verhaltensform lediger Frauen während der Geburt wurde in zahlreichen medizinischen Abhandlungen als vom wissenschaftlichen Standpunkt möglich beschrieben, wenngleich um 1900 zunehmend Skepsis an diesem Erklärungsmodell angemeldet wurde. Nicht zuletzt wurde das Argument der Sinnesverwirrung auch von den Beschuldigten selbst zur Beteuerung ihrer Unschuld vorgebracht, spätestens zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung, wobei anzunehmen ist, dass die Frauen von ihren Strafverteidigern vorab eigens über die rechtliche Schlagkraft der Behauptung einer Verwirrung der Sinne unterrichtet worden waren: Also nahm ich ein Stück Zeitungspapier und stiess dieses Zeitungspapier dem Kinde durch den Mund in den Hals. Ich tat es nur deshalb, um das Kind am das (sic!) Schreien zu verhindern, ich hatte aber gar nicht die Absicht das Kind zu tödten. Ich war damals durch die Geburt des Kindes so überrascht und aufgeregt, dass ich gar

30 Joachim Linder/Claus-Michael Ort: »Zur sozialen Konstruktion der Übertretung«, S. 27.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 147 nicht wusste, was ich tat; ich bestreite aber entschieden die Absicht zu haben, das Kind zu tödten.31

2. Die Tat als freie, geplante Entscheidung der Täterin: Die Kindsmörderin wird als zurechnungsfähig eingeschätzt, ihre Handlung als vorausbeschlossener, berechnender Akt. Als klare Indizien für diese Position werden in der gerichtsmedizinischen und juristischen Handhabung der Fälle vor allem die fehlenden Vorbereitungen für die Zeit nach der Geburt angesprochen (z.B. wenn eine Frau keine Säuglingswäsche angeschafft hat und sich nicht rechtzeitig an eine Hebamme oder Entbindungseinrichtung gewandt hat) sowie gezielt ausgeübte, ein klares Bewusstsein voraussetzende Gewalt gegen das Neugeborene. Schuldig wurde die ledige Mutter hierbei besonders dadurch, dass sie ihren Zustand verheimlicht hatte und dass sie an einem heimlichen Ort abseits von diversen Kontrollmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft ihr uneheliches Kind geboren hatte. Heimlichkeit bzw. Lüge und kriminelle Absicht bedingten sich dabei und waren auch durch die unter Punkt 3 genauer beschriebenen sozialen Verhältnisse nicht entschuldbar. Ein Beispiel eines 1902 am Wiener Landesgericht für Strafsachen geführten Kindsmordprozesses kann diese Auslegung der Tat als verbrecherischen Akt verdeutlichen. Unter Rückgriff auf das gerichtsmedizinische Gutachten, Polizeiprotokolle und Zeugenaussagen plädierte der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift folgendermaßen für die Schuldigkeit eines ledigen Dienstmädchens: [A]ls Motiv führt sie [Anm. K.G. die Angeklagte] die Angst vor dem Vater und der Tante Theresia Heller, welch letztere gesagt haben soll, daß sie ihre Nichte steinigen werde. Doch auch diese Angabe kann nur als eine leere, unbegründete Ausflucht angesehen werden, da sie nicht in einer ähnlich verzweifelten Lage war, wie so manche andere uneheliche allein dastehende Kindesmutter, da sie den Kindesvater zur Alimentation heranziehen konnte und während des Wochenbettes gewiß die Unterstützung ihres Vaters gefunden hätte. Aus dem durch den bisherigen Lebenswandel der Beschuldigten gekennzeichneten Charakter geht vielmehr hervor, daß ihr das Kind eine unbequeme Last war, die sie auf jede Weise, selbst auch durch ein Verbrechen, beseitigen wollte.32

3. Das soziale Umfeld: Als primäre Ursache für den Kindsmord konnte auch die Lebenssituation der Täterin verstanden werden. Wurzelnd in der Annahme, dass finanziell von ihrer Arbeitsleistung abhängige Dienstmädchen vor allem aus Angst vor sozialer Stigmatisierung und unter ökonomischem Druck 31 WStLA, 2.3.4. A11-VrLGI, Fall Agnes Kulik 5218/1909. Protokoll der Hauptverhandlung, Bl. 68r. 32 WStLA, 2.3.4. A11-VrLGI, Fall Marie Ulrich 3472/1902. Anklageschrift, Bl. 50v.

148 | KATJA GEIGER keinen anderen Ausweg als die Tötung ihres Neugeborenen sahen, wurde die Tat den gesellschaftlichen Verhältnissen mehr als der einzelnen Täterin angelastet. Dass die Verantwortlichkeit für das Unrecht in gesellschaftlichen Missständen zu suchen war, ist im Besonderen politischen Stellungnahmen zum Kindsmord zu entnehmen. So sprach bereits Friedrich der Große von einer »Schuld der Gesetze«, die die ledigen Mütter in eine demütigende Lage brächten.33 Anfang des 20. Jahrhunderts sprachen vor allem Vertreter_innen der Sozialdemokratie die soziale Dimension des Problems an. Adelheid Popp, eine Wiener Sozialdemokratin, die für den Ausbau der Frauenrechte eintrat, verfasste die folgende paradigmatische Schilderung des Moments, in dem ein Kindsmord sich ereignete: Wohin soll sie [Anm. K.G.: die Mutter] ihre Schritte lenken? Der Hunger wird immer unerträglicher, das Kind sucht an der leeren Brust, der jungen Mutter wird schwindelig, Entsetzen und Verzweiflung überkommen sie – und die grausige Tat wird vollbracht.34

Popp argumentierte in ihren Stellungnahmen zum Kindsmord entlang einer ähnlichen Erzähllogik wie Gerichtsmediziner, die die Sinnesverwirrung zum Zeitpunkt der Geburt als gängige Erscheinung verstanden. Sie spricht ebenso von einem Impuls, dem die Frau sich nicht selbstbestimmt entziehen konnte. Allerdings nehme der Handlungszwang seinen Ausgangspunkt nicht im dafür anfälligen weiblichen Körper oder weiblichen Gemüt, sondern dränge sich der Frau von außen in Form gesellschaftlicher Missstände auf: Hat man denn noch nicht aus den zahlreichen Prozessen gelernt, in denen Kindesmörderinnen vor Gericht standen, von den Geschworenen aber freigesprochen wurden, weil sie unter u n w i d e r s t e h l i c h e m [Anm. K.G. im Original hervorgehoben] Zwang, fast immer unter dem Zwang des Hungers und sehr oft der Obdachlosigkeit gehandelt hatten?35

Narrative Darstellungen der Situation, in der ledige heimlich Gebärende sich befanden sowie der Aufbau einer gewissen Spannung vom Entschluss zur Tat bis hin zu ihrer Verwirklichung ähnelten sich aber nicht nur in gerichtsmedizinischen und juristischen Besprechungen eines Falles oder in politischen Stellungnahmen, sondern auch in der populären Literatur. Ein älteres Beispiel dafür ist die Erzählung Das lebendig vergrabene Kind, veröffentlicht 1856 in

33 Vgl. Michael Niehaus: »Wie man den Kindermord aus der Welt schafft«, S. 22. 34 Adelheid Popp: Schutz der Mutter und dem Kinde. (= Lichtstrahlen 21), Wien 1910, S. 18. 35 Ebd., S. 17.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 149 der illustrierten deutschen Familienzeitschrift Gartenlaube.36 In Form von Ausschnitten aus dem Verhörprotokoll kommt die Mutter in der Geschichte selbst zu Wort. In ihrer Aussage werden, wie in vielen gerichtsmedizinischen und politischen Schriften, soziale Not, Angst vor Anfeindungen und ein außergewöhnlicher Gemütszustand als Beweggründe für die Tat angegeben: Ich dachte über mein Schicksal nach, daß ich noch so jung und schon so unglücklich wäre, weil mich Niemand mit dem Kinde nehmen werde. […] Da nahm ich mir vor, mich des Kindes zu entledigen und es in der Erde zu vergraben, damit es sterben sollte und ich wieder frei würde. Aber sofort überkam mir auch eine solche Angst, daß ich dachte, ich müsse mir mit dem Kinde das Leben nehmen; es war mir, als wenn ich nur halb klug wäre. […] So wie ich den Gedanken hatte, daß ich das Kind begraben wollte, war ich ganz dumm […] und es war mir nur immer, als wenn ich das Kind jetzt vergraben müsste.37

Zusammenfassung Seit dem 18. Jahrhundert kursierte im Spannungsfeld von Medizin, Politik, Recht und Alltagswelt die Vorstellung, dass durch eine Verwirrung der Sinne während der Geburt Frauen dafür anfällig wären, ihre neugeborenen Kinder zu töten. Autoren der verschiedenen Bereiche stellten den Topos ins Zentrum ihrer Überlegungen über die Ursprünge der kriminellen Tat. Vertreter der Gerichtsmedizin, die im 19. Jahrhundert noch rege an der wissenschaftlichen Etablierung eines außergewöhnlichen Bewusstseinszustandes während der Geburt beteiligt waren und damit nicht zuletzt an entscheidenden Änderungen in den Strafgesetzbüchern mitwirkten, meldeten um 1900 zunehmend Kritik an dem Konzept an. Deutlich wird das im allgemeinen gerichtsmedizinischen und kriminologischen Diskurs ebenso wie in einzelnen Obduktionsgutachten, die in Kindsmordfällen vor Gericht der objektiven Wahrheitsfindung dienen sollten. Ungeachtet dieser Skepsis war die Annahme eines in der speziellen Situation der Geburt häufig vorkommenden Kontrollverlustes fest in der Praxis der Rechtsprechung und in Alltagsdiskursen verankert. Kennzeichnend für die Darstellungen von und das Denken über Kindsmörderinnen war die Eng36 Vgl. Hania Siebenpfeiffer: »Darstellung weiblicher Delinquenz in der Gartenlaube«, in: Elfi Bettinger/Angelika Ebrecht (Hg.): Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts, Stuttgart 2000 (=Querelles, Jahrbuch für Frauenforschung 2000), S. 231-254. 37 »Das lebendig vergrabene Kind. Vom Verfasser der schwarzen Mare«, [d.i.: Jodocus Deodatus Hubertus Temme], in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt 10 bzw. 11 (1856), S. 124-128, S. 141-145, zit. nach Hania Siebenpfeiffer: »Darstellung weiblicher Delinquenz«, S. 248.

150 | KATJA GEIGER führung körperlicher und charakterlicher Zuschreibungen in Kombination mit den sozialen Entstehungsbedingungen der Tat. Ob nun ein spezifisch weiblicher körperlich-psychischer Funktionsausfall, infolge dessen die Mutter ihres freien Willens verlustig wurde, eine von langer Hand geplante verbrecherische Absicht oder aber schlechte soziale, von der Politik zu verantwortende Lebensbedingungen als Auslöser aufgefasst wurden, variierte in den unterschiedlichen Beschreibungen. In jedem Fall aber, ob nun eine Loslösung der Tat von der Täterin plausibel gemacht werden sollte oder ob es um die Belegung einer kriminellen Absicht ging, musste die zum Tod des Neugeborenen führende Handlung selbst zunächst erzählt werden. In Obduktionsgutachten um 1900 stützen die schreibenden Gerichtsmediziner ihre wissenschaftlichen Darstellungen auf eben diese narrative Verschränkung von sozialem Lebensraum, weiblichem Innenraum, bürgerlichen Idealbildern und naturwissenschaftlich-medizinischem Wissen. Die Rekonstruktion eines Falles entlang einer gängigen Erzählstruktur und unter Einbindung kultureller Wissensbestände über das Verbrechen gewährleistete die Verständlichkeit medizinischer Inhalte für alle an einer Gerichtsverhandlung beteiligten Personen. Mit dem Grundsatz der strengen Objektivität, zu der Sachverständige durch die Gerichte und nach dem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis ihres Faches angehalten waren, stand diese Art des wissenschaftlichen Schreibens aber nicht in Widerspruch. War auch die Ausblendung subjektgebundener Vorannahmen bei der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Gegenständen angemahnt, finden sich in den Gutachten doch zahlreiche Feststellungen, die über die direkte Betrachtung der Kindesleiche hinaus Wissen über die Begleitumstände des Kindsmordes inkludierten. Und da es sich um ein nur von Frauen begehbares Verbrechen handelte, weisen die Beschreibungen auch klar geschlechtsspezifische Merkmale auf. Kindsmörderinnen waren nicht nur beinahe einheitlich weibliche, ledige Angehörige des Dienstbotenstandes, sie wurden auch mit ähnlichen Charaktereigenschaften wie Leichtsinnigkeit oder Unehrlichkeit belegt. Sie befanden sich somit in direkter sozialer Opposition zu den männlichen, bürgerlichen Gerichtsmedizinern, deren wissenschaftlichen Blicken sie unterworfen waren. Um nun diese Differenz in ein medizinisch-rechtliches Feld einzuschreiben, bot das gerichtsmedizinische Obduktionsgutachten einen narrativen Raum, in dem Kindsmörderinnen hinsichtlich ihrer körperlichen, moralischen und sozialen Dispositionen als ›anders‹ darstellbar waren.

NARRATIVE REKONSTRUKTIONEN KRIMINELLER HANDLUNGEN | 151

Literatur Ammerer, Gerhard: »Kindsmord und Gerichtsmedizin in Österreich zur Zeit der Aufklärung«, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 15 (1995), S. 127-160. Becker, Peter/Wetzell, Richard (Hg.): Criminals and their Scientists, Cambridge 2006. Becker, Peter: »›Recht schreiben‹ – Disziplin, Sprachbeherrschung und Vernunft. Zur Kunst des Protokollierens im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.): Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt a.M. 2005, S. 49-76. Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt a.M. 2007. Fleck, Ludwik: »Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens«, in: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983, S. 37-45. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976. Gleispach, W[enzeslaus]: »Über Kindsmord«, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 27 (1907), S. 224-270. Gummersbach, H.: »Das gerichtsmedizinische Gutachten und die Strafverfolgung bei der Kindstötung«, in: Deutsche Zeitschrift für die gesamte Gerichtliche Medizin 22 (1933), S. 419-426. Haberda, Albin: »Behördliche Obduktionen«, in: Paul Dittrich (Hg.): Handbuch der ärztlichen Sachverständigentätigkeit 2, Wien 1913, S. 345-700. Hoffmann, Christoph: »Schneiden und Schreiben. Das Sektionsprotokoll in der Pathologie um 1900«, in: ders. (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008, S. 153196. Höhler, Sabine/Wahrig, Bettina: »Geschlechterforschung ist Wissenschaftsforschung – Wissenschaftsforschung ist Geschlechterforschung«, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 14 (2006), S. 201-211. Krämer, Sybille: »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme«, in: dies./Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M. 2007, S. 11-35. Kratter, Julius: Gerichtsärztliche Praxis. Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. 2, Stuttgart 1919. Linder, Joachim/Ort, Claus-Michael: »Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert«, in: dies. (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, S. 3-80.

152 | KATJA GEIGER Michalik, Kerstin: Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen, Pfaffenweiler 1997. Niehaus, Michael: »Wie man den Kindermord aus der Welt schafft. Zu den Widersprüchen der Regulierung«, in: Maximilian Bergengrün/Johannes F. Lehmann/Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 221-66. Pfeiffer, Hermann: »Über die Wechselbeziehung zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft«, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 27 (1908), S. 46-62. Popp, Adelheid: Schutz der Mutter und dem Kinde. (= Lichtstrahlen 21), Wien 1910. Porter, Theodore M.: »Quantification and the Accounting Ideal in Science«, in: Social Studies of Science 22 (1992), S. 633-651. Raphael, Lutz: »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1996), S. 165-193. Siebenpfeiffer, Hania: »Entartete Mütterlichkeit – Kindsmord in literarischen und nicht-literarischen Texten des 20. Jahrhunderts«, in: Antje Hilbig/ Claudia Kajatin/Ingrid Miethe (Hg.): Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 133-152. Siebenpfeiffer, Hania: »Darstellung weiblicher Delinquenz in der Gartenlaube«, in: Elfi Bettinger/Angelika Ebrecht (Hg.): Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts, Stuttgart 2000 (= Querelles, Jahrbuch für Frauenforschung 2000), S. 231-254.

Wie der w issensc haftlic he und k ulturelle Disk urs w eiblic he n Ex hibitionismus uns ic htba r mac ht ULRIKE WOHLER

Einführung Bei der kultursoziologischen Untersuchung des Exhibitionismus geht es nicht nur um das – gesellschaftlich und kulturell geprägte – Sexualverhalten, um sexualwissenschaftliche und psychologische Erklärungen von Exhibitionismus oder strafrechtliche Erwägungen. Sie erfasst darüber hinaus alltagskulturelle Aspekte wie z.B. Mode und gesellschaftliche und wissenschaftliche Normen bzw. Normierungen. Um dem Phänomen des Exhibitionismus näher zu kommen, muss man sich zunächst mit dem Perversionsbegriff auseinandersetzen, um sich dann den Geschlechtsrollenklischees und letztendlich den kulturellen Ausformungen weiblichen Exhibitionismus’ zu widmen. Die entscheidende Frage dabei ist, ob abweichendes Verhalten generell pervers bzw. krankhaft ist oder ob die Kategorisierung dessen, was natürliches bzw. normales Sexualverhalten sei, diese Unterscheidung erst produziert. These dieses Beitrags ist, dass weiblicher Exhibitionismus im Gegensatz zum männlichen Exhibitionismus kulturell von der hegemonialen Kultur unterstützt wird. Das erklärt sich daraus, dass dieser im vorherrschenden weiblichen Geschlechtsrollenklischee enthalten ist, männlicher dagegen dem männlichen Geschlechtsrollenklischee widerspricht, da dieses sich nicht auf Gefallen, sondern auf Leistung stützt, der Mann auf der begutachtenden und damit Subjekt-Seite zu stehen hat. Kulturelle Phänomene wie Misswahlen, Mannequins auf dem Laufsteg, die oft körperbetonte Mode sowie das weibliche Geschlechtsrollenklischee entziehen den weiblichen Exhibitionismus dem

154 | ULRIKE WOHLER Diskurs. Damit ist auch der oft kritisierte Objektcharakter verbunden, der Frauen zugeschrieben wird. Während also Exhibitionismus bei Männern ein Straftatbestand ist, wird er in Kunst und Alltagskultur in seiner weiblichen Variante in Konventionen überführt und dadurch unsichtbar.

M ä n n l i c h e r E x h i b i t i o n i s m u s – P e r ve r s i o n , D e v i a n z oder normalbiologische Variante? Per Definition ist Exhibitionismus die Neigung zur Zurschaustellung der primären Geschlechtsmerkmale des Mannes - Penis und Hoden - mit dem Ziel, sexuelle Erregung bzw. Befriedigung zu erreichen. Man geht bei Exhibitionismus in der Regel von einer Perversion bzw. einer Devianz aus, die strafrechtlich verfolgt wird. Beide Begriffe, Perversion wie Devianz, klassifizieren und normieren, indem sie das ›Normale‹ vom ›Nicht-Normalen‹ trennen und damit das ›Andere‹ konstituieren. Der größte Teil der sexualwissenschaftlichen Schriften enthält neben der Kategorisierung auch die Tendenz zur Klassifizierung und damit Normierung. Auch die Psychoanalyse kann sich letztlich davon nicht freimachen. Dass Exhibitionismus ein Strafrechtsbestand ist, sagt viel darüber aus, wie weit die bürgerliche Gesellschaft zur Durchsetzung ihrer Sexualmoral in die Sexualität mittels juristischer Mittel eingreift. Die Normierung menschlicher Sexualität und das Bestreben ›natürliches‹ von ›unnatürlichem‹ oder anders formuliert ›normales‹ von ›abnormem‹ Sexualverhalten abzugrenzen, ist ein Merkmal der bürgerlichen Sexualwissenschaft, Medizin und Psychologie. Richard von Krafft-Ebing war der Erste, der diese Normierung in einer umfassenden Systematik mit seiner Psychopathia sexualis (1. Auflage 1886) einführte. In diesem Werk kategorisiert er sexuelle Abweichungen als Perversionen und schafft dafür die Begrifflichkeiten. Foucault erkennt folgerichtig, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ›Medizin der Perversionen‹ und die ›Programme der Eugenik‹ innerhalb der ›Technologie des Sexes‹ die beiden großen Neuerungen waren1. Schenk konstatiert dazu: »Nun wurde die Sexualwissenschaft, zum Teil unfreiwillig, zur normierenden Instanz. Auch die neu entstehende Psychoanalyse wirkte in dieselbe Richtung, indem sie ein bestimmtes Modell einer ›gesunden‹ Sexualität von ›pathologischen‹ Varianten absetzt«2. Erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts 1 2

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1997, S. 142. Herrad Schenk: »Die Sehnsucht nach dem privaten Glück. Von der Schwierigkeit, im Zeitalter der lauten Sexualität Intimität zu leben«, in: Eberhard Göpel/Ursula Schneider-Wohlfart (Hg.): Provokationen zur Gesundheit. Beiträge

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 155 verstanden sich Sexualwissenschaft und »Zweige der Psychoanalyse und Psychotherapie ausdrücklich auch als Anwälte sexueller Minderheiten«3. Sieht man sich den Exhibitionismus an, wird die Fragwürdigkeit von Kategorien besonders deutlich, wenn man den Bereich Kunst und Kultur und den des Alltags- bzw. Sexualverhaltens parallel betrachtet oder einander gegenüber stellt. Bühnenkünstler genießen es beispielsweise, im Rampenlicht zu stehen und sich ansehen zu lassen. Oft wird das einfach mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur in Verbindung gebracht. Das ist nicht unbedingt falsch, aber es unterschlägt den Lustaspekt, der im Angesehenwerden durchaus eine Rolle spielen kann. Es hat also durchaus etwas mit Exhibitionismus zu tun, es ist die Lust am Sich-Selbst-Ausstellen. Wenn wir uns das Ganze einmal etymologisch ansehen, wird es deutlicher: Im Englischen bezeichnet exhibition begrifflich nichts anderes als Ausstellung, ob es nun eine Gemäldeausstellung oder die des eigenen Körpers oder der eigenen Person im Ganzen bezeichnet. Im Fremdwörterbuch des Duden ist »Exhibition« im Gegensatz dazu auf die Zurschaustellung (insbesondere) der Geschlechtsorgane in der Öffentlichkeit reduziert4. Ernest Borneman wiederum erörtert, dass es zwei Formen der Entblößung der Genitalien gebe: die perverse und die kultischrituelle5. Damit ist umrissen, wo sich mein Exhibitionismusbegriff vom klassischen Perversions- oder Devianzbegriff unterscheidet, bzw. wie er erweitert wird: Es handelt sich hierbei um eine kulturelle Konstante, deren sexuelle oder lustvolle Konnotation dadurch natürlich nicht verliert, aber um den gesellschaftlich-kulturellen Aspekt erweitert wird. Ausschließlich männlicher Exhibitionismus wird als sexuelle Perversion beschrieben und ist nach § 183 StGB strafbar, während weiblicher Exhibitionismus zwar benannt wird, es ihn darüber hinaus aber gar nicht zu geben scheint. Zur Erfüllung des Tatbestands wird meist nur das überraschende Vorzeigen des entblößten Penis’ angesehen, masturbatorische Zusatzhandlungen sowie die Erektion werden zumeist nicht vorausgesetzt.6 Kentler und Schorsch erörtern die Sexualstrafrechtsreform vom 23.1.1973, nach der exhibitionistische Handlungen mit einer besonderen Vorschrift erfasst werden. Die Tat wird erst auf Antrag verfolgt, bei besonderem

3 4 5 6

zu einem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Frankfurt a.M. 1995, S. 179-183, hier S. 181. Ebd. Duden Fremdwörterbuch, 4. überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Mannheim/Wien/Zürich 1982, S.234. Ernest Bornemann: Lexikon der Liebe A - K, München 1968, S. 301. Werner Benz: Sexuell anstößiges Verhalten. Ein kriminologischer Beitrag zum Exhibitionismus (§ 183 StGB) und zur Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB) sowie zu deren strafrechtlicher Problematik – mit einem rechtshistorischen und einem rechtsvergleichenden Überblick, Lübeck 1982, S. 62.

156 | ULRIKE WOHLER öffentlichem Interesse kann aber auch die Strafverfolgungsbehörde einschreiten.7 Es wird im neuen Sexualstrafrecht von »der geringen Schwere der Rechtsgutverletzung« gesprochen, was Kentler und Schorsch dazu bewegt, sich zu wundern, warum exhibitionistische Handlungen überhaupt noch in das Strafrecht aufgenommen wurden.8 Die Begründung für die strafrechtliche Regelung liegt 1. in der Tabuierung, was sich auf das Schamgefühl der Allgemeinheit bezieht, 2. in der schwierigen Einschätzbarkeit der Handlung für die ›Opfer‹, also ob es bei der exhibitionistischen Handlung bleiben wird oder ob sie nur den Anfang einer schwereren Tat markiert, 3. soll damit der Schutz vor Belästigung durch sexuelle Handlungen erwirkt werden, 4. brächte die Allgemeinheit kein Verständnis dafür auf, dass diese Belästigung zugemutet würde, 5. kann es sich möglicherweise um ein Symptom für schwere Delikte handeln, 6. wird auf ausländisches Recht verwiesen, in dem allein das Schamgefühl einen Strafgrund darstelle und 7. soll ein zusätzlicher Druck zur Motivierung zur Behandlungsbereitschaft hergestellt werden.9 Beide Autoren empfinden diese Auffassung als »eigenartig gespalten«, weil einerseits Verständnis für die Persönlichkeitsprobleme aufgebracht werde, aber gleichzeitig nicht auf das Strafrecht verzichtet werden könne.10 Sie verweisen darauf, dass sich in drei unterschiedlichen Untersuchungen kein einziger Fall von Gewaltanwendung gefunden hätte. Sie resümieren, dass »rationale, wissenschaftlich begründbare Argumente für die Bestrafung des Exhibitionismus, der ein Prototyp einer ›Straftat ohne Opfer‹ […] ist, nicht zu finden sind«11. Zur Persönlichkeit des Exhibitionisten erklärt Schorsch, dass diese im Vergleich zu allen anderen sexuellen Straftätern am wenigsten auffallend und am seltensten mit psychopathologischen Kategorien zu beschreiben sei.12 Freud wiederum schreibt zur kindlichen Zeigelust: Indes müssen wir zugestehen, dass auch das kindliche Sexualleben, bei allem Überwiegen der Herrschaft erogener Zonen, Komponenten zeigt, für welche andere Personen als Sexualobjekte von Anfang an in Betracht kommen. Solcher Art sind die in gewisser Unabhängigkeit von erogenen Zonen auftretenden Triebe der Schau- und Zeigelust und der Grausamkeit, die in ihre innigen Beziehungen zum Genitalleben erst später eintreten, aber schon in den Kinderjahren als zunächst von der erogenen Sexualtätigkeit gesonderte, selbständige Strebungen bemerkbar werden. Das kleine 7

Helmut Kentler/Eberhard Schorsch: »Kein Strafrecht gegen exhibitionistische Handlungen«, in: Herbert Jäger/Eberhard Schorsch (Hg.): Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 105-114, hier S. 105. 8 Ebd., S. 106. 9 Vgl. ebd., 106f. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 112. 12 Eberhard Schorsch: Sexualstraftäter, Stuttgart 1971, S. 116.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 157 Kind ist vor allem schamlos und zeigt in gewissen frühen Jahren ein unzweideutiges Vergnügen an der Entblößung seines Körpers mit besonderer Hervorhebung der Geschlechtsteile13.

Schmidt und Sigusch stellen darüber hinaus fest, dass die soziale Bewertung von exhibitionistischen Akten in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich ist.14 Pawlic wiederum sieht die Tatsache, dass die meisten Sexualforscher Ärzte waren und sind, als problematisch an, weil von dieser Tatsache abzuleiten ist, dass »hier vermutlich auch die Auffassung von der sexuellen Abweichung als einer zu behandelnden Krankheit ihren Ansatzpunkt hat«15. Angesichts der empirischen Datenlagen stellt Pawlic in Frage, »was man überhaupt als sexuelle Abweichung auffassen will. Immerhin sind es nur 6 Prozent, die keine von den im Tabellenteil dokumentierten Spielarten der Sexualität zumindest gelegentlich praktizieren«16. Schorsch weist auf den Umstand hin, dass »sexuelle Perversionen in einer Gesellschaft durch die Art und Begrenzung der geltenden Moral als Phänomen und als Problem geschaffen« werden.17 Die Funktion des Sexualstraftäters besteht Schorsch zufolge darin, dass dessen »Taten […] verbotene sexuelle Wünsche in uns wecken, deren Existenz wir uns bewusst nicht eingestehen mögen«18. Daraus schließt er, dass die Perversionen etwas Wichtiges beinhalten, wenn man sich mit der Frage nach einer freieren Sexualität auseinandersetzt. Aspekte seiner Argumentation sind hierbei, dass die Perversionen auf die Grenzen und Beschränkungen des Erlaubten hinweisen und diese transzendieren19, und dass sie die Utopie sexueller Freiheit und unbeschnittener Lust sichtbar machen. Schorsch argumentiert weiter, dass Perversionen Reaktionen und Rebellionen gegen die Kümmerformen der Sexualität sind und damit letztlich die Selbstverständlichkeit einer ›normalen‹ Sexualität in Frage stellen, deswegen werden sie als Bedrohung wahrgenommen und müssen, wie auch die Sexualität im Ganzen, durch ihre Abqualifizierung als unreifer Ausdruck verharmlost und entschärft werden. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass 13 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Einleitung von Reimut Reiche, Frankfurt a.M. 1996, S. 93. 14 Gunter Schmidt/Volkmar Sigusch: Zur Frage des Vorurteils gegenüber sexuell devianten Gruppen, Stuttgart 1967, S. 3. 15 Jürgen Pawlic: Sexuelle Abweichungen, Hamburg/Lemgo/Rinteln 1993, S. 52. 16 Ebd. 17 Eberhard Schorsch: Perversion, Liebe, Gewalt. Aufsätze zur Psychopathologie und Sozialpsychologie der Sexualität 1967-1991, hg. v. Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch, Stuttgart 1993, S. 33. 18 Ebd., S. 33. 19 Schorsch nennt hier bei Exhibitionismus und Voyeurismus, dass diese die Beschränkung der Sexualität durch ihre Intimisierung durch die Schamschranke aufzeigen, vgl. ebd., S. 34.

158 | ULRIKE WOHLER der gesellschaftliche Liberalisierungsprozess durch repressive Entsublimierung (Herbert Marcuse) gekennzeichnet ist, was gleichbedeutend ist damit, dass die quantitative Ausweitung die qualitative Intensivierung verhindert.20 Schorsch plädiert für die Bewusstmachung der Sprengkraft und politischen Dynamik, die der Sexualität innewohnt, und die verleugnet und vergessen wird.21 Von Bredow würdigt die Klassifizierung ebenfalls durchaus kritisch: Mit der Klassifizierung kann im Chaos der Homosexuellen, Sadisten, Masochisten, Frotteure, Fetischisten, Nekrophilen, Sodomisten usw. Ordnung geschaffen werden. Auf die Differenz kommt es an – und in der Differenz beweist und verliert sich der ärztliche Blick. [...] Die Sicherung der Gesellschaft gegen die Abartigen ist auf das Aussieben der Auffälligen beschränkt.22

Da es sich bei vielen Abweichungen um strafrechtlich relevante Verhaltensweisen handelt, kommt dem Begriff der Devianz auch eine wichtige Rolle bei der Frage nach dem Anspruch auf Behandlung im Verhältnis zur Option der Bestrafung zu.23 Bräutigam und Clement erörtern, dass in der Sexualwissenschaft die Begriffe der »sexuellen Devianz« bzw. »sexuellen Abweichung« vor allem deshalb geprägt wurden, weil die Grenzen zwischen »normaler« und »abweichender« Sexualität schwer zu ziehen seien.24 Stoller bezeichnet die Perversion als »erotische Form von Hass«. Darüber hinaus stellt er die Perversion in den Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität: Ich bin aber vor kurzem zu der Auffassung gelangt, dass Perversion aus dem Versuch entsteht, Bedrohungen der eigenen Geschlechtsidentität, das heißt, des Be20 Marcuse führt dazu aus: »Das Lustprinzip absorbiert das Realitätsprinzip; die Sexualität wird in gesellschaftlich aufbauenden Formen befreit (oder vielmehr liberalisiert). Dieser Gedanke schließt ein, dass es repressive Weisen von Entsublimierung gibt, im Vergleich zu denen die sublimierten Triebe und Ziele mehr Abweichung, mehr Freiheit und mehr Weigerung enthalten, die gesellschaftlichen Tabus zu beachten«, Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994, S. 92. Zur repressionsfreien Sublimierung vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969 (X. Kapitel »Die Verwandlung der Sexualität in den Eros«, S.195-218). 21 Eberhard Schorsch: Perversion, Liebe, Gewalt, S. 33. 22 Wilfried von Bredow/Thomas Noetzel: Befreite Sexualität? Streifzüge durch die Sittengeschichte seit der Aufklärung, Hamburg 1990, S. 195f. 23 Vgl. Walter Bräutigam/Ulrich Clement: Sexualmedizin im Grundriss. Eine Einführung in Klinik, Theorie und Therapie der sexuellen Konflikte und Störungen, Stuttgart/New York 1989, S. 137. 24 Ebd.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 159 wusstwerdens von Männlichkeit und Weiblichkeit, zu bewältigen, denn das ist der Fall bei den Patienten, die ich behandle.25

Stoller verteidigt den psychoanalytischen Zugang gegen Untersuchungen, die versuchen, die psychische Motivation durch Evolution, Vererbung und Neurophysiologie zu ersetzen, und die - wie z.B. Ullerstam26 - als Argument anführen, dass sexuelle Praktiken, die in unserer Kultur als pervers gelten, in anderen Kulturen nicht als pervers angesehen werden. Morgenthaler wiederum definiert Perversionen als Funktion: »Das perverse Syndrom ist [...] ein fester Bestandteil der Gesamtperson. Die Plombenfunktion der Perversion ist dauerhaft und festgefügt«27. So wie Butler28 von der Zwangsheterosexualität spricht, spricht Morgenthaler von der Unterdrückung des polymorph-perversen Charakters des menschlichen Sexuallebens: Perversionen sind sexuelle Erlebniswelten, die besonders befremdend und uneinfühlbar erscheinen, [...] weil die psychische Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen in den kulturellen und sozialen Bereichen bestimmter Gesellschaften den polymorph-perversen Charakter des menschlichen Sexuallebens unterdrückt und Heterosexualität ein ideologisches Monopol der Gesellschaftsmoral darstellt. Das meiste, was über Perversionen gesagt wird, ist verlogen. Was man pervers nennt, ist ein Mythos. [...] Jede Gesellschaft produziert Perversionen und die Perversen, die sie braucht.29

Interessant ist bei Morgenthalers Ansatz, dass er den Perversionsbegriff daran festmacht, ob sexuelle Befriedigung nur durch ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Praktik oder einen bestimmten Gegenstand erreicht werden kann oder ob es einfach eine zusätzliche Variante im Sexualverhalten ist, die die ›normalen‹ Praktiken ergänzt. Janine Chasseguet-Smirgel, die in der psychoanalytischen Tradition und damit über den männlichen Perversen schreibt, definiert ihre Haltung wie folgt: Ich betrachte Perversionen nicht ausschließlich als Abweichungen von der natürlichen Sexualität, die nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Menschen betreffen, obwohl ihre Rolle und Bedeutung im soziokulturellen Bereich nicht überschätzt

25 Robert J. Stoller: Perversion. Die erotische Form von Hass, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 14. 26 Lars Ullerstam: Die sexuellen Minderheiten, Hamburg 1965. 27 Fritz Morgenthaler: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 30. 28 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 46 und S. 58. 29 Fritz Morgenthaler: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, S. 170.

160 | ULRIKE WOHLER werden können. Ich betrachte Perversionen in einem weiteren Sinne als Dimension der menschlichen Psyche im Allgemeinen, als Versuchung des Geistes, die jedem von uns widerfährt.30

Weiter zieht sie die Möglichkeit in Betracht, dass es »zu den Wurzeln des universellen Inzesttabus gehören [könnte], dass das Nicht-Dürfen das kindliche Nicht-Können [des, wie ich einschränkend ergänzen würde, männlichen Kindes, d. Verf.] ersetzt«31. Freud definiert Perversion in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie wie folgt: »Die Perversionen sind entweder a) anatomische Überschreitungen der für die geschlechtliche Vereinigung bestimmten Körpergebiete oder b) Verweilungen bei den intermediären Relationen zum Sexualobjekt, die normalerweise auf dem Wege zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden sollen«32. Weiter führt Freud aus, dass bei keinem »Gesunden« irgendetwas als pervers zu Bezeichnendes neben dem »normalen Sexualziel« fehlen dürfte, und dass diese Tatsache allein genüge, »um die Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens Perversion darzutun«33.

Weiblicher Exhibitionismus Generell wurde und wird Exhibitionismus als männliche Perversion angesehen. Lars Ullerstam konstatiert zu diesem Umstand: Wenn man sich die von den sexualwissenschaftlichen Verfassern vorgelegte Kasuistik unter die Lupe nimmt und sich dabei strikt an die Tatsachenfeststellung hält (und Wertungen sowie abwertende Diagnosen beiseite lässt), bekommt man den Eindruck, dass es sich überwiegend um völlig gesunde Menschen handelt34.

Er schließt bei seiner Argumentation dennoch nicht aus, dass es sich beim Exhibitionismus auch um eine Zwangshandlung handeln kann »wie der Zwang, auf die Fugen zwischen Bürgersteigplatten zu treten«35. Quinsel macht deutlich, dass der Exhibitionismus von Frauen in der Fachliteratur oft

30 Janine Chasseguet-Smirgel: Kreativität und Perversion, Frankfurt a.M. 1986, S. 7. 31 Ebd., S 8f. 32 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 53. 33 Ebd., S. 63. 34 Lars Ullerstam: Die sexuellen Minderheiten, S. 63f. 35 Ebd., S. 68.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 161 nicht als ›echter‹ Exhibitionismus angesehen wird.36 Während der männliche Exhibitionismus Gegenstand vieler strafrechtlicher, medizinischer wie psychoanalytischer Untersuchungen ist, spielt weiblicher Exhibitionismus hier keine bzw. eine untergeordnete Rolle. Quinsel schreibt: »Einige jüngere Untersuchungen der Psychopathie scheinen den Eindruck zu verfestigen, dass Freud die Geneigtheit der Frau unterschätzte, ihre Sexualität in exhibitionistischen Handlungen zu projizieren«37. Er konstatiert: »Es gibt Frauen, die geborene Künstlerinnen des Striptease sind, die nichts lieber tun, als sich auszuziehen, während Männer ihnen zusehen. Die Gelegenheit, das zu tun, verschafft ihnen eine beträchtliche sexuelle Erregung und eine persönliche Befriedigung«38. Ullerstam beispielsweise hält weiblichen Exhibitionismus für ein allgemeines Phänomen, welches sich von einem spezifischen Trieb zum Exhibitionieren unterscheidet.39 Die Tatsache, dass der männliche Exhibitionist seinen Penis, und damit den ›Phallus‹ präsentiert und dabei in der Regel erregt wird, während aus psychoanalytischer Perspektive immer wieder von der ›ganzen Frau als Phallus‹ gesprochen wird, spielt hier eine entscheidende Rolle. Damit kann die weibliche Exhibitionistin im Gegensatz zum Mann als Ganzkörpererregte einzelne Teile ihres Körpers präsentieren, darunter auch die sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale, und somit in der Gesellschaft kulturell verankert und akzeptiert agieren. Es hat gar den Anschein, dass die Tatsache, dass Frauen exhibitionistisch veranlagt sind, so selbstverständlich ist, oder wie oben deutlich wurde, nicht als ›echter‹, d.h. als pathologischer Exhibitionismus gewertet wird, dass es keiner näheren Erörterung bedarf, außer es beiläufig in eine Aussage mit einfließen zu lassen. Daraus schließe ich, wie auch aus den bereits genannten Quellen und Zitaten, dass weiblicher Exhibitionismus kulturell im Gegensatz zum männlichen Exhibitionismus von der hegemonialen Kultur unterstützt wird. Osborn betont ferner die gesellschaftliche Akzeptanz des weiblichen Exhibitionismus, vor allem durch Magazin-Fotos, Striptease-Vorführungen etc. Er führt aus, dass sich die Männer zur Empirezeit in so knappen Hosen zeigen durften, »dass ihre Genitalien kaum zu übersehen gewesen sein dürften«40. Seiner Ansicht nach ist der Maßstab der Perversion »nicht das Natürliche, 36 37 38 39 40

Reinhart Quinsel: Exhibitionismus, München 1971, S. 98. Reinhart Quinsel: Exhibitionismus, S. 15. Ebd., S. 109. Lars Ullerstam: Die sexuellen Minderheiten, S. 61. Robert W. Osborn: Sex in den USA. Zwischen Prüderie und Perversion, Hamburg 1966, S. 110.

162 | ULRIKE WOHLER sondern die Sitte«41. Oliver König formuliert entsprechend: »[F]olgt man der Vorstellung der Angstlust des Exhibitionisten, so wird nochmals deutlich, wie sehr öffentliche Moral und subjektive ›Pathologie‹ aufeinander angewiesen sind«42. Daran zeigt sich ebenfalls, dass die Gesellschaftsform prägt, was erlaubt ist und was nicht. Das erklärt sich aus der von mir anfangs formulierten These, dass weiblicher Exhibitionismus im weiblichen bürgerlichen Geschlechtsrollenklischee enthalten ist, männlicher dagegen dem heteronormativ bestimmten männlichen Geschlechtsrollenklischee der bürgerlichen Epoche widerspricht. Susan Sontag beschreibt in ihrem Essay zum Fotoband Women von Annie Leibowitz Frauen als Projektionsfläche. Sie beschreibt die Erwartungshaltung an Frauen und sieht sicher richtig, dass diese auf einer anderen Ebene stattfindet als bei Männern. Der Seinsdruck der Männer, der in Kontrast zum Druck des Scheines bei Frauen steht, bleibt hier aber unberührt. Misswahlen, Mannequins auf dem Laufsteg, die oft körperbetonte Mode und das weibliche Geschlechtsrollenklischee machen weiblichen Exhibitionismus unsichtbar, da es zur Frauenrolle gehört, nackte Haut zu Markte zu tragen und begutachtet zu werden. Damit erklärt sich auch der oft kritisierte Objektcharakter, der Frauen zugeschrieben wird. Sontag beschreibt den konstitutiven Charakter der Schönheit bzw. Attraktivität für Frauen, sie zieht das Fazit: »Ein Mann ist immer zu sehen. Frauen werden angeschaut«43. Darüber beschreibt sie die Eigenschaft der Schönheit als etwas Totales bei einer Frau44, was es ihr – meiner Ansicht nach – genau durch die beschriebene Inszenierung ihres Äußeren erlaubt, ihren Exhibitionismus unerkannt und ungestraft auszuleben.

Wie äußert sich weiblicher Exhibitionismus im Vergleich zum männlichen Exhibitionismus? Wenn wir uns anschauen, was als exhibitionistisch gilt, muss klar sein, dass die wechselnde Mode, nicht nur heute, sondern auch in früheren Epochen, auch viel mit Verdecken und Zeigen von Körperpartien zu tun hat und hatte, und dass diese immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, konservativ oder progressiv, war und ist. Letztlich spielt die gesellschaftliche Akzeptanz einer möglichen Zurschaustellung des weiblichen Körpers durch Mode und Konventionen, beispielsweise bei bestimmten Anlässen, im Ver41 Ebd. 42 Oliver König: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral, Opladen 1990, S. 267. 43 Susan Sontag: »Ein Photo ist keine Meinung. Oder doch?«, in: Annie Leibovitz: Women, München 1999, S. 19-37, hier S. 23. 44 Ebd., S. 30.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 163 hältnis zu der des männlichen Körpers eine entscheidende Rolle. Weiblicher Exhibitionismus als ›Massenphänomen‹ ist erkennbar am Zeigen von Beinen, Dekolleté, Pumps etc., da hierdurch sekundäre Geschlechtsmerkmale betont werden und der Blick auf den Körper gelenkt wird. ›Reiner‹ Exhibitionismus zeigt sich durch das bewusste Ausziehen bei offenem Fenster, in dem Wissen, beobachtet zu werden, und kann sich darüber hinaus in der Ausübung von Berufen wie Stripteasetänzerin, Schauspielerin, Model etc. äußern, wenngleich nicht alle, die sich in diesen Berufsfeldern betätigen, exhibitionistisch sein müssen: Auch in durchaus konservativen Segmenten der Kultur und Modewelt sind Mannequins und Schauspieler_innen zu finden, sie bilden Images ab, die mit der Alltagswelt – und damit mit den Werthaltungen der unterschiedlichen sozialen Milieus – korrelieren. In Kunst und Alltagskultur wie Mode, Werbung, Striptease und GoGoDancing, Videoclips etc. äußert sich der weibliche Exhibitionismus auf kulturelle Weise. Beispiele avantgardistischer Tänzerinnen, Schauspielerinnen oder Popstars mit offensichtlich exhibitionistischen Neigungen sind die NacktTänzerin Anita Berber in den 20er Jahren für die Zeit der Avantgarde und die Schauspielerin Marilyn Monroe und der Popstar Madonna für die Postmoderne, bei letzterer zeigt sich der Exhibitionismus besonders deutlich in Videos wie Justify my love oder ihrem Buch Sex.45 Das neueste Enfant terrible auf diesem Terrain, das berechtigt das performative Erbe Madonnas angetreten hat, ist Lady Gaga, die sich nicht nur gerne zeigt, sondern darüber hinaus auch noch Mut zur demonstrativen monströsen Hässlichkeit besitzt. Männlicher Exhibitionismus äußert sich quer zur gesellschaftlichen Rolle des Mannes, da das männliche Geschlechtsrollenklischee sich nicht auf Gefallen, sondern auf Leistung stützt, der Mann auch auf der begutachtenden und damit Subjekt-Seite zu stehen hat. Männlichkeit scheint das Gegenteil davon zu sein, nackte Haut zu zeigen, da das männliche Geschlecht als nicht ›schön‹, eher noch als attraktiv gilt. Quinsel unterstreicht durchweg für den Exhibitionismus von Männern und Frauen narzisstische und autoerotische Motive. Wie bereits erörtert, hat aus psychoanalytischer Sicht weiblicher Exhibitionismus den Körper an sich zum Thema, während der männliche Exhibitionismus den Penis ins Zentrum setzt.46 Dadurch, dass die Frau nicht auf die Entblößung allein ihrer Vagina angewiesen ist, sondern alle sekundären Geschlechtsmerkmale einzeln bloßlegen kann, ist es ihr auf gesellschaftlich ungefährlichere Weise möglich, sich zu zeigen. Es ist eine andere Form der Machtdemonstration, die im Verwei45 Vgl. Ulrike Wohler: Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld 2009. 46 u.a. Reinhart Quinsel: Exhibitionismus, S. 98.

164 | ULRIKE WOHLER gern des Angepriesenen besteht, als beim Mann, der mit seinem Penis dem Gegenüber sein ›Können‹ beweisen will. So kann sie zwar in ein ›schlechtes Licht‹ geraten, ist aber davor gefeit, in ihrer exhibitionistischen Handlung kriminalisiert zu werden. Der Mann steht mit seiner Demonstration von genitaler Potenz in dem Verdacht des sexuellen Übergriffs auf sein Gegenüber, welchem er sich ›offenbart‹. Darüber hinaus ist allein die anatomische Tatsache, dass die Vagina z.B. im Stehen nicht ohne Anstrengung bzw. Verrenkung direkt anzusehen ist, etwas, was in diesem Kontext nicht übersehen werden sollte. Die Existenz weiblichen Exhibitionismus’ zeigt die Bürgerlichkeit gewisser feministischer Positionen an und stellt sie in Frage: Diese beinhalten, dass Striptease, Pornografie und Werbung à la ›Sex sells‹ die ›Frau an sich‹ entwürdige und auf ein Sexualobjekt reduziere. Der Emma-Feminismus beispielsweise, der die Frauen dazu ermuntert, gegen Werbung mit erotischem Gehalt und der Zurschaustellung weiblicher Geschlechtsmerkmale beim Werberat Beschwerde einzulegen, wird mit dieser Argumentation ausgehebelt, da viele Frauen sich von dieser Art Feminismus nicht angesprochen fühlen können, auch, weil sie – vielleicht aufgrund ihres eigenen latenten Exhibitionismus’? – darin nichts Frauenfeindliches sehen können. Quinsel spricht dem Exhibitionismus ebenfalls emanzipatorischen Gehalt zu, weil dieser Widerstand leiste gegen die Beschneidung von Freiheit »im Namen der gesellschaftlichen Stabilität« und »gegen alles, was den sexuellen Impuls verbergen oder zähmen möchte«47. Sich aus der psychoanalytischen Sichtweise hervorwagend, äußert er sich auch über Modeentwicklungen, Zivilisation und Demokratie, hierbei allerdings etwas undifferenziert. Der Ansatz ist jedoch erörterungswert, gerade weil er aus dem medizinisch-sexualwissenschaftlichen Wissenschaftsbereich stammt. Die Ansichten Quinsels, Ullerstams, Morgenthalers und auch Schorschs markieren einen Paradigmenwechsel, der einen Weg aus der Normierungsfalle heraus aufzeigt: Unser Zeitalter ist exhibitionistisch: Der Rocksaum rutschte immer höher. Zugegeben, seit den zwanziger Jahren hat es ständig auch rückläufige Tendenzen gegeben – und wir erleben gerade eine solche –, aber im allgemeinen dürfte von der weiblichen Figur in den letzten fünfzig Jahren innerhalb der moralischen Grenzen unserer Zivilisation mehr sichtbar geworden sein als jemals zuvor48.

Und weiter:

47 Ebd., S. 174 und S. 171. 48 Ebd., S. 171.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 165 Ist es ein Zufall, dass nur in demokratischen Ländern der Rocksaum sich zu unvorhergesehenen Höhen erhoben hat und der Bikini auf die Größe zweier Briefmarken geschrumpft ist? Die Frage zielt tiefer, als es zunächst den Anschein hat. Nur in jenen Kulturen, die aktiv die Freiheit in Form einer Überfülle an Wahlmöglichkeiten fördern, haben die Frauen das Recht und die Möglichkeit, ihre Schönheit anzupreisen, falls sie es wünschen, und die Männer ihren Kurswert an Männlichkeit49.

Exhibitionistinnen sind extrovertiert. Sie zeigen sich gerne und lassen sich gerne ansehen. Das lässt sich in der Regel schon durch einige kleine Kniffe erzielen: Tiefe Dekolletés, kurze Röcke, interessant gemusterte Strumpfhosen oder Strümpfe, halterlos oder mit Strumpfhaltern, Pumps, etwas auffälligeres Make-up, auffällige Farben und Stoffe. Diese Aspekte sichern vielen Frauen schon ein Mehr an Aufmerksamkeit. Valerie Steele betrachtet »Mode als symbolisches System, das sich mit den Formen der Sexualität verbindet – sowohl mit der sozialen Geschlechtsidentität (gender) als auch mit dem sexuellen Verhalten (und der erotischen Anziehung)«50. Gleichzeitig ist die Mode ein Ausdruck von Lebensziel und Lebensstil und trägt damit ganz entscheidend zur Selbstinszenierung bei oder, wie Christine Waidenschlager es formuliert: »Kleidung ist immer Ausdruck des Lebensgefühls, der Lebensqualität der jeweiligen Besitzer und somit Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen«51. Walter Benjamin hat die gesellschaftliche Bedeutung der Mode wie folgt zusammengefasst: Das brennendste Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihren außerordentlichen Antizipationen. […] Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. – Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen52.

Durch Entwicklungen wie die Erfindung der Kunstseide und der Nähmaschine und die Entstehung der Textilindustrie und damit der Konfektion wird Mode ein Massenphänomen, das sich auch Frauen unterer Einkommensgruppen leisten können, die Mode wird damit demokratisiert, es erfolgt mit der

49 Ebd., S. 172. 50 Valerie Steele: Fetisch. Mode, Sex und Macht, Reinbek bei Hamburg 1998, S.9. 51 Christine Waidenschlager: »Einleitung«, in: Mode der zwanziger Jahre, Ausstellungskatalog, hg. vom Berlin Museum, Berlin 1991, S. 8-10, hier S. 9. 52 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1983, S. 112.

166 | ULRIKE WOHLER Angleichung der Modestile auch eine optische Annäherung verschiedener Gesellschaftsschichten.53 Am Beispiel der Mode der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts lässt sich dies sehr gut zeigen: Anstelle des Korsetts, das eine S-förmige Linie hergestellt hatte, werden jetzt Schlankheitspillen, Hungerkuren, chirurgische Eingriffe und gummierte Bandagen zum Flachdrücken weiblicher Formen genutzt. Das äußere Korsett wird zum Teil gewissermaßen durch das innere, d.h. durch Selbstdisziplin, ersetzt. Die Unterwäsche vervollständigt die äußere Erscheinung. Avantgardistisch erscheint die Entwicklung der Unterwäsche vom Korsett und pfundschwerer Wäsche zu einem Hemdhöschen mit knöpfbarem Steg aus zartem Stoff ohne Rüschen, damit es unter der Kleidung nicht aufträgt. Hemdhöschen aus Seide sind in der zweiten Hälfte der 20er Jahre oft das einzige, was unter Kleidern getragen wird.54 In den 20ern trägt die Frau sehr spitze Schnürhalbschuhe mit ganz flachen Absätzen, hochhackige Abendschuhe, flache Sportschuhe und halbhohe Trotteurs und dazu »fleischfarbene Strümpfe, die das Bein nackt erscheinen lassen«55. Die Stoffe der Abendkleider sind weich und fließend, dadurch kann sich die schlanke, sportlich trainierte Figur in der Bewegung gut abzeichnen.56 Gleichzeitig setzt sich das dekorative Schminken bei modebewussten, emanzipierten Frauen durch: Das Make-up der zwanziger Jahre wollte demonstrieren, dass sich seine Trägerin über die herrschenden bürgerlichen Moralvorschriften hinwegsetzte und das Recht auf die freie Liebe, das jahrtausendelang zu den Privilegien des Mannes gehörte, für sich in Anspruch nahm. Die Augen wurden schwarz umrandet die Augenbrauen ausrasiert und Lippen und Fingernägel rot angemalt57.

Koch beschreibt diesen Umstand sehr anschaulich: Der Gipfel ihres demonstrativen Aufbruches aus der bisherigen optischen Konformität, den die neue Frau in den Zwanzigern unternahm, war das Rauchen, das sie sich in aller Öffentlichkeit leistete. Lange mondäne Zigarettenspitzen in der Hand, die Lippen dunkelrot gezeichnet, ein kurzes rotes Charlestonkleid mit wippenden Fran-

53 Vergl. Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wilhelmshaven 1987, S. 341. 54 Frauenalltag und Frauenbewegung 1890 – 1980, Ausstellungskatalog, hg. v. Historisches Museum Frankfurt am Main, Basel/Frankfurt a.M. 1981, S. 57. 55 Erika Thiel: Geschichte des Kostüms, S. 403. 56 Christiane Koch: »Sachlich, sportlich, sinnlich. Frauenkleidung in den zwanziger Jahren«, in: Kristine von Soden/Maruta Schmidt (Hg.): Neue Frauen. Die zwanziger Jahre, Berlin 1988, S. 16-19, hier S. 19. 57 Erika Thiel: Geschichte des Kostüms, S. 399.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 167 sensäumen am Leib – eigentlich ein »Hauch von Nichts« – so saß sie in oft fragwürdigen Lokalen und amüsierte sich58.

Wenn wir uns der weiteren Entwicklung zuwenden, sind auch Aspekte wie die männliche Gesellschaftskleidung und Fetischmode zu berücksichtigen. Steele verweist mit Blick auf Modedesigner wie Vivienne Westwood und Jean-Paul Gaultier auf den Aspekt der Fetischmode oder – wie sie auch schreibt – den der »perversen« Stile. Heute sind Korsetts, bizarre Schuhe und Stiefel, Leder und Gummi sowie Unterwäsche, die als Oberbekleidung getragen wird, auf dem Laufsteg alltäglich geworden.59 Steele bemerkt, dass mit den sich ändernden Haltungen gegenüber ›abweichenden‹ Formen der Sexualität auch das Verständnis für ›perverse‹ Stile gewachsen sei.60 Noch heute bietet der Mann in seinem schwarzen Smoking den dunklen Hintergrund, vor dem die Frau in aller Farbigkeit erstrahlen kann. Über den Mann und seine Mode konstatiert René König, dass dieser auch heute noch in Gesellschaftskleidung sehr viel stärker angezogen sei als die ihn begleitende Frau: In Gesellschaftskleidung sind die Männer meist viel »angezogener« als die Frauen, aber auch in der Alltagskleidung zeigen Frauen mit schulterfreien Kleidern und mit nackten oder bestrumpften Beinen mehr von ihrem Körper als die Männer61.

Gesellschaftliche Anlässe dienen Frauen zur Ausstellung ihrer Schönheit und körperlichen Reize. Um Aufmerksamkeit wird mit tiefen Dekolletees und langen Beinschlitzen geworben. Dort können und konnten sie ihre exhibitionistischen Neigungen gesellschaftskonform ausleben. Besondere Beachtung sollte an dieser Stelle aber auch der Tatsache geschenkt werden – das zeigt die Mode des Mannes sehr deutlich – dass er noch einen viel weiteren Weg bezüglich der optischen Selbstdarstellung vor sich hat als die Frau.

Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Definition eines sogenannten ›sexuell abweichenden‹ Verhaltens zu hinterfragen ist. Vor allem Morgenthaler, Ullerstam, Quinsel und einzelne Zweige der genannten Wis58 Christiane Koch: Sachlich, sportlich, sinnlich. Frauenkleidung in den zwanziger Jahren, S. 19. 59 Valerie Steele: Fetisch. Mode, Sex und Macht, S. 10. 60 Ebd., S. 13. 61 René König: Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozess, München/Wien 1985, S. 63.

168 | ULRIKE WOHLER senschaften verstehen sich als Anwälte sexueller Minderheiten und zeigen Wege aus der Normierungsfalle auf, indem sie sexuell Abweichenden ein Recht auf geschlechtlichen Genuss zugestehen. Der Exhibitionismus von Frauen wird entweder als selbstverständlich genommen oder nicht als ›echter Exhibitionismus‹ im pathologischen Sinne angesehen. Daraus ist zu schließen, dass der weibliche Exhibitionismus im Gegensatz zum männlichen kulturell unterstützt wird. Das männliche Geschlechtsrollenklischee stützt sich nicht auf Gefallen, sondern auf Leistung. Der Druck des Scheins bei Frauen steht im Kontrast zum Seinsdruck der Männer. Exhibitionismus bzw. Zeigelust geht also im weiblichen Geschlechtsrollenklischee der bürgerlichen Epoche auf, während er bzw. sie dem bürgerlichen männlichen Geschlechtsrollenklischee widerspricht. Dadurch fehlt es Männern an Möglichkeiten, ihre Zeigelust kulturell eingebettet umzusetzen, während Frauen sich ungestraft entblößen können. Der Mann dagegen steht mit der Demonstration von genitaler Potenz im Verdacht des sexuellen Übergriffs. Männliche Exhibitionisten haben nur die Chance, ihre Zeigelust subversiv und nonkonformistisch, aber straffrei in künstlerischen, kulturindustriellen und populärkulturellen Berufszweigen auszuleben. Gleichzeitig ist an der Tatsache, dass sich Frauen innerhalb gesellschaftlicher Konventionen im öffentlichen Raum entkleiden oder auch sehr spärlich kleiden können, Männer sich solche Handlungen aber nicht leisten könnten, auch ablesbar, dass es innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Bereiche gibt, in denen Männer, sprich: ihr Habitus, ihre Selbstinszenierungsmöglichkeiten, ihr Kleidungsstil und ihre Emotionalität enorm eingeschränkt sind. Damit zeigt sich auch, dass die bürgerliche Ideologie, Moral und Körperpolitik nicht nur frauenfeindlich, sondern letztendlich auch männerfeindlich ist, weil sie sexualfeindlich ist und am Postulat der Natürlichkeit der Geschlechtscharaktere festhält.

Literatur Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1983. Benz, Werner: Sexuell anstößiges Verhalten. Ein kriminologischer Beitrag zum Exhibitionismus (§ 183 StGB) und zur Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB) sowie zu deren strafrechtlicher Problematik – mit einem rechtshistorischen und einem rechtsvergleichenden Überblick, Lübeck 1982. Bornemann, Ernest: Lexikon der Liebe A - K, München 1968. Bräutigam, Walter/Clement, Ulrich: Sexualmedizin im Grundriss. Eine Einführung in Klinik, Theorie und Therapie der sexuellen Konflikte und Störungen, Stuttgart/New York 1989.

WEIBLICHER EXHIBITIONISMUS | 169 Bredow, Wilfried von/Noetzel, Thomas: Befreite Sexualität? Streifzüge durch die Sittengeschichte seit der Aufklärung, Hamburg 1990. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. Chasseguet-Smirgel, Janine: Kreativität und Perversion, Frankfurt a.M. 1986. Duden Fremdwörterbuch, 4. überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Mannheim/Wien/Zürich 1982. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1997. Frauenalltag und Frauenbewegung 1890 – 1980, Ausstellungskatalog, hg. v. Historisches Museum Frankfurt am Main, Basel/Frankfurt a.M. 1981. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Einleitung von Reimut Reiche, Frankfurt a.M. 1996. Kentler, Helmut/Schorsch, Eberhard: »Kein Strafrecht gegen exhibitionistische Handlungen«, in: Jäger, Herbert/Schorsch, Eberhard (Hg.): Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 105-114. Koch, Christiane: »Sachlich, sportlich, sinnlich. Frauenkleidung in den zwanziger Jahren«; in: Kristine von Soden/Maruta Schmidt (Hg.): Neue Frauen. Die zwanziger Jahre, Berlin 1988, S. 16-19. König, Oliver: Nacktheit. Soziale Normierung und Moral, Opladen 1990. König, René: Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozess, München/Wien 1985. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1969. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994. Morgenthaler, Fritz: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt a.M./New York 1994. Osborn, Robert W.: Sex in den USA. Zwischen Prüderie und Perversion, Hamburg 1966. Pawlic, Jürgen: Sexuelle Abweichungen, Hamburg/Lemgo/Rinteln 1993. Quinsel, Reinhart: Exhibitionismus, München 1971. Schenk, Herrad: »Die Sehnsucht nach dem privaten Glück. Von der Schwierigkeit, im Zeitalter der lauten Sexualität Intimität zu leben«, in: Eberhard Göpel/Ursula Schneider-Wohlfart (Hg.): Provokationen zur Gesundheit. Beiträge zu einem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Frankfurt a.M. 1995, S. 179-183. Schmidt, Gunter/Sigusch, Volkmar: Zur Frage des Vorurteils gegenüber sexuell devianten Gruppen, Stuttgart 1967. Schorsch, Eberhard: Sexualstraftäter, Stuttgart 1971. Schorsch, Eberhard: Perversion, Liebe, Gewalt. Aufsätze zur Psychopathologie und Sozialpsychologie der Sexualität 1967-1991, hg. v. Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch, Stuttgart 1993.

170 | ULRIKE WOHLER Sontag, Susan: »Ein Photo ist keine Meinung. Oder doch?«, in: Annie Leibovitz: Women, München 1999, S. 19-37. Steele, Valerie: Fetisch. Mode, Sex und Macht, Reinbek bei Hamburg 1998. Stoller, Robert J.: Perversion. Die erotische Form von Hass, Reinbek bei Hamburg 1979. Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wilhelmshaven 1987. Ullerstam, Lars: Die sexuellen Minderheiten, Hamburg 1965. Waidenschlager, Christine: »Einleitung«, in: Mode der zwanziger Jahre, Ausstellungskatalog, hg. v. Berlin Museum, Berlin 1991, S. 8-10. Wohler, Ulrike: Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld 2009.

Von » Me nschen-Bälgen « , » k ostbare n Rassen « und » Canarienvögeln « . Fetisc his mus in Oska r Pa nizzas Erzä hlung De r Cors ette n-Fritz SOPHIA KÖNEMANN

Unter Canarienvögeln und geschwänzten Affen treibt sich dieses kostbare Geschöpf auf einer Insel in einem Urwald herum, schaukelt und gaukelt, schnalzt und zwitschert, und erfüllt die Luft mit Farben und Tönen. Das war die Rasse, aus der ich mein Orange-Ideal abstammen ließ, und alle farbigen Bälge, die bei uns von den Fraunzimmern aus weiß der Himmel welch neidischen Gründen auf dem bloßen Leib getragen werden.1

Oskar Panizzas Erzählung Der Corsetten-Fritz konzentriert diverse Phantasmen eines Anderen – exotische Orte, eine »farbige, glitzernde Menschenrasse«2 und Mischungen zwischen Mensch und Tier – im Gegenstand eines Korsetts, das der Ich-Erzähler in einem Schaufenster betrachtet. Im Mittelpunkt der Erzählung von 1893 steht der Fall eines Fetischisten, der seine Lebensgeschichte erzählt. Wie man erst am Ende des Textes erfährt, ist die Erzählung insofern gerahmt, als der Ich-Erzähler Insasse einer psychiatrischen Anstalt ist und dort im Auftrag eines Psychiaters die Geschichte aufschreibt. Die Erzählung wird damit als eine psychiatrische Fallgeschichte präsentiert.

1 2

Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, in: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen, München 1981, S. 203-223, hier: S. 211. Ebd., S. 206.

172 | SOPHIA KÖNEMANN Anhand dieses Textes soll im Folgenden versucht werden, die Projektion geschlechtlichen Begehrens auf ein exotisiertes, animalisches und pathologisiertes Anderes nachzuvollziehen. In einem zweiten Schritt sollen Verfahren, Institutionen und Medien, die im Text das Erzählen einer fiktiven Lebensgeschichte bedingen, in den Blick genommen werden. Der Erzähler schreibt die Geschichte seines Lebens und konzentriert sich dabei auf die Begegnung mit dem von ihm begehrten Korsett. Bemerkenswertt ist erstens, wie in diesem Text das Korsett als Fetisch erscheint: nämlich als Ware, die zwischen individueller Faszination, exotischen Phantasmen, religiöser Obsession und paranoiden Wahnideen oszilliert. Zweitens werde ich darauf eingehen, wie der Ich-Erzähler Fritz als Insasse der Psychiatrie sein Leben beschreibt und dabei eine Identität als Fetischist und psychisch Kranker generiert. In der Forschung zum Corsetten-Fritz wird mehrfach auf die Nähe der Erzählung zur Freudschen Theorie des Fetischismus von 19273 hingewiesen, deren Grundzüge Panizza avant la lettre skizziere.4 In diesem Zusammenhang wird auch unterstellt, es gebe Parallelen zwischen dem in der Erzählung dargestellten Fall und der Psyche des Autors. Derartige Versuche, anhand des Textes die Psyche des Autors oder einer Figur zu analysieren, bleiben im Folgenden ausgespart. Stattdessen geht es darum, den bei Panizza dargestellten Fetisch als ein interdiskursives Konzept5 zwischen den Wissensbereichen der Ethnologie, Ökonomie und Psychiatrie zu untersuchen. Panizzas Erzählung verbindet in bemerkenswerter Weise die wichtigsten Wissensfelder, in denen der Fetischbegriff eine Rolle spielt. Bereits bei der ersten Begegnung des Protagonisten mit dem fetischisierten Objekt, dem Korsett, wird deutlich, dass der Gegenstand hier nicht allein als sexueller Fetisch im Sinne der Psychoanalyse erscheint, sondern in einem Arrangement, das zugleich die Verwendung des Begriffs in Ethnografie und Ökonomie aufruft. Hinter dem riesengroßen, spiegelblanken, aus einem Stück bestehenden Glasfenster saßen, oder schwebten, oder stacken ein bis zwei Dutzend Menschenleiber, das heißt Ausschnitte von Menschenleibern, ohne Kopf, ohne Beine, aber nicht gerade geschlachtet, sondern mehr abgehackt, ausgeschälte Rümpfe mit d’rangelassener Hüfte, aber blutlos, sogar höchst säuberlich, glänzend, seidig, furchtbar graziös und ele3 4

5

Sigmund Freud: Fetischismus, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1976, S. 305-317. Vgl. u.a.: Fritz E. Hoevels: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, Freiburg i.Br. 1996; Patrice Neau: »Un cas de fétichisme. L’amateur de corsets d’Oskar Panizza«, in: Günter Krause: Literalität und Körperlichkeit = Littéralité et corporalité, Tübingen 1997, S. 209-223. Vgl. Jürgen Links Ausführungen zum Begriff »Inter-Diskurs«, Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983, S. 16ff.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 173 gant, und wie zum Umarmen und Küssen eingerichtet; […] »Magst Du herkommen, wo Du willst, – rief ich innerlich mit einem überquellenden Impuls – und wenn Du auch nur ein Stück bist, so bist Du doch prachtvoll, Du gleisendes Orange-Wesen, und wenn ich Dich besäße, dann wäre wohl mein Glück gemacht!« [...] Aber jetzt kam mir doch ein Stück Besonnenheit, und ich begann nachzudenken, wieso diese Bruchstücke von Individuen hierherkämen. Sollte irgendwo eine so kostbare Menschenrasse leben, – begann ich zu grübeln, – von der ich noch nichts weiß, und die man mir verborgen gehalten hat? Also eine farbige, glitzernde Menschenrasse, ähnlich dem, was unter den Vögeln die Kakadus und Kolibris sind!6

In der zitierten Passage begegnet der jugendliche Erzähler den Korsetts als ihm gänzlich unbekannten Gegenständen, die augenblicklich eine große Faszination auf ihn ausüben. Sie ziehen ihn vollständig in ihren Bann, so dass er seine Umgebung vergisst. Die Korsetts erscheinen ihm als Hüllen oder Oberflächen von fremden Mischwesen zwischen Mensch und Tier und zugleich als rätselhaft. Die Phantasie, die sich ausgehend von diesen Gegenständen einstellt, ruft unterschiedliche Diskurse auf, in denen im 19. Jahrhundert der Begriff Fetisch verwendet wird. Die Fixierung des Protagonisten auf die ausgestellten Korsetts erscheint zunächst als individuelle Obsession, die in Zusammenhang mit erotischem Begehren steht. Damit wird der Fetisch als sexuelle Perversion, wie ihn die Psychiatrie beschreibt, thematisiert. Der Gegenstand des Begehrens ist für Fritz jedoch gleichzeitig Ausgangspunkt einer phantastischen Vision, die ihn die Korsetts als Rümpfe einer fremden »Menschenrasse«, eines »vielleicht indischen Geschlecht[s]«7 imaginieren lässt. Diese Phantasien verweisen auf die Herkunft des Fetischbegriffs aus der Ethnografie und die Zuschreibung fetischistischer Praktiken an sogenannte ›Wilde‹ und ›Naturvölker‹. Ein dritter Diskurs, für den der Fetischismus eine Kategorie darstellt, ist die Ökonomie, besonders als Waren- und Geldfetisch wie von Karl Marx im Kapital beschrieben.8 Die begehrten Korsetts in der Erzählung nämlich liegen als Waren in einem Schaufenster und können für Geld erworben werden. Auf diese drei Bereiche und ihre Verwendung des Fetischbegriffs soll nun im Einzelnen eingegangen werden. Der Begriff Fetisch wurde zunächst von der Ethnografie verwendet. Eingeführt wurde er im 15. Jahrhundert von portugiesischen Reisenden, die bei den Bewohnern der Westküste Afrikas Praktiken beobachteten, die sie als magisch beschrieben. Das Wort Fetisch geht auf das Portugiesische feitiço zu-

6 7 8

Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 204f. Ebd., S. 208. Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, Erster Abschnitt, in: ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, Berlin, DDR 1968, S. 85f.

174 | SOPHIA KÖNEMANN rück, das seit dem späten Mittelalter in der Bedeutung von Zaubermittel verwendet wird und welches wiederum vom lateinische Wort facticius, das Hergestellte, im Gegensatz zum Natürlichen, abstammt.9 In Reiseberichten wurde über die kultische Verehrung von Gegenständen und den Glauben an die Zauberkraft von Dingen vor allem in Afrika berichtet. Neuere Forschungen zur Entstehung des Fetischkonzepts10 haben darauf hingewiesen, dass dem Begriff ein synkretistischer Effekt11 zugrunde liegt, dass also dieses Konzept im Zusammentreffen von Angehörigen afrikanischer Religionen und christlichen Reisenden und Kolonialisten entstand. Dabei wurde die auch im Christentum als Reliquienkult zu beobachtende Dingverehrung in abwertender Weise den Bewohnern Afrikas zugeschrieben. Reisende, Missionare und Ethnografen beschrieben die Verehrung von Gegenständen bei den kolonisierten Völkern als Fetischismus und bezeichneten diesen als primitive Form von Religion. Missionare bemühten sich, die Fetische durch christliche Heiligenbilder zu ersetzen und beeinflussten damit bestehende Rituale. Hartmut Böhme bemerkt dazu: »Es scheint im Christentum, in seiner Ambivalenz dem Bilderkult und der Magie (Wundern) gegenüber, angelegt zu sein, dass über Jahrhunderte der Fetischismus ein Kampfbegriff ist, mit dem man am jeweils Anderen dasjenige als abergläubisch, primitiv, pervers, entfremdet herabsetzt, was man an sich selbst verpönt, mühsam zügelt oder verdrängt.«12 Eine Verbindung des Fetischs mit den ›Fremden‹ bzw. ›Anderen‹ liegt auch in Panizzas Erzählung vor. Dem faszinierten Jüngling vor dem Schaufenster eröffnet sich ausgehend von den bunt schillernden Korsetts eine ganze Welt exotischer Wesen. Im Moment vor dem Schaufenster verharrt Fritz’ Imagination nicht im Bereich der europäischen Stadt. Die Phantasmen, die sich bei diesem Anblick einstellen, lassen ihn die Korsetts als Hüllen exotischer Wesen auf einem fremden Kontinent imaginieren. Die Glasscheibe des Warenhauses wird für ihn zur Grenze einer fremden Welt, die er imaginär überschreitet. Das Schaufenster fungiert als Bühnenraum dieser phantastischen Vision. Vor dem Schaufenster vollzieht Fritz eine Grenzüberschreitung: 9

Vgl. Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 14. 10 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006; Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge; Christine Weder: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007. 11 Vgl. hierzu Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge, S. 20: »Der Schluß ist also nicht von der Hand zu weisen, daß der ›fetischistische Komplex‹ der Bewohner Westafrikas in der spezifischen Form, in der er in den europäischen Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben wird, als eine Reaktion auf die europäische Kolonisation und die Implantation des katholischen Christentums entstanden ist.« 12 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 167f.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 175 Er vergisst seine Umgebung, die Straßen der Stadt, er vergisst die ihn umringenden Menschen und überlässt sich der Phantasie. Das Schaufenster ermöglicht ihm den Transit in einen anderen Raum außerhalb der städtischen Umgebung, auf einen ›fremden Kontinent‹, der doch das Produkt seiner Imagination ist. Die glitzernde Scheibe gibt so nicht nur den Blick auf einen Innenraum frei, sondern eröffnet den Raum für Projektionen, eine Bühne, auf der die Waren zu Lebewesen werden und sich als unwiderstehliche Verlockungen inszenieren. Einen vermeintlichen Eingang zu dieser Welt findet der Erzähler schließlich in einem Bordell, als er in einer der Prostituierten sein korsettiertes Idealwesen zu erkennen meint.13 Fritz’ Phantasien verbildlichen, was in den Schriften der Ethnografen über kolonisierte Völker angelegt ist. Auch hier wird die eigene Dingverehrung, das Verlangen nach den Korsetts, auf ein Reich fremder Wesen projiziert. Die Korsetts im Schaufenster werden wie präparierte Figuren eines Kultes als »Menschen-Mumien« beschrieben, die in einer großen Sammlung ausgestellt sind. Obwohl die Menschenleiber auf brutale Art (»abgehackt«, »ausgeschält«) zugerichtet worden sind, erscheinen sie kunstvoll drapiert und »höchst säuberlich, glänzend, seidig, furchtbar graziös«. Die Anordnung der Korsetts im Schaufenster lässt zudem an Ausstellungen ethnologischer Museen denken, wie sie sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa etablierten.14 Die Art, in der die Erzählung die fetischisierten Objekte ausstellt, indem sie sie als Arrangement hinter einer Glasscheibe präsentiert, überblendet bereits zwei Verwendungsbereiche des Fetischbegriffs: Den Fetisch als Ware und als Begriff aus der Ethnografie. Der Text zeichnet an dieser Stelle nicht reflexiv die Herkunft des Fetischkonzepts aus ethnografischen Diskursen nach, sondern das fetischisierte Objekt der Erzählung selbst wird ausgestattet mit den schillernden, fremden, magischen Attributen, die in der Genealogie des Fetischbegriffs auf die ›Fremden‹ bzw. ›Anderen‹ projiziert wurden. Das Objekt des Begehrens wird auf einem fremden Kontinent, in einer phantastischen Welt verortet. Indem das begehrte Objekt, das Korsett, im Schaufenster eines Warenhauses ausgestellt wird, thematisiert die Erzählung mit der Ökonomie einen weiteren

13 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 219. 14 Vgl. Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge, S. 249ff. Thomas Wegmann verweist auf die Entsprechung von Schaufenster und Museum als »dem Gebrauch entzogene[..] Sphären«, Thomas Wegmann: »Erzählen vor dem Schaufenster. Zu einem literarischen Topos in Thomas Manns Gladius Dei und anderer Prosa um 1900«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 33, Heft 1, in: http://www.reference-global.com/doi/pdf/ 10.1515/iasl.2008.003 (Stand: 15.12.2010), S. 48-71, hier S. 55.

176 | SOPHIA KÖNEMANN Verwendungsbereich des Fetischbegriffs.15 Das Arrangement, in dem die Korsetts dort erscheinen, soll verlocken und zum Kauf verleiten. Auf Fritz üben sie die gewünschte Wirkung aus, indem sie sein Begehren auf sich ziehen. Da Fritz aber, wie er sich vergegenwärtigt, nicht in der Lage ist, sie zu bezahlen und damit käuflich zu erwerben, binden sie sein Begehren, bleiben aber für ihn ein nicht einlösbares Glücksversprechen. Ausgehend von der schillernden Oberfläche der Korsetts entwickelt der Erzähler jedoch auch eine Theorie darüber, was sich hinter dieser Erscheinung verbirgt. Wenn Fritz sich fragt, wie die prachtvollen Gegenstände in dieses Schaufenster gekommen sind, konstruiert er eine Erklärung, die die Waren als Güter kolonialen Raubs beschreibt, hinter dem er eine Verschwörung aufzudecken meint: In einem fernen Land, wo ewiger Sonnenschein herrscht, mögen sie wohl in der Luft schweben, diese federleichte, graziöse Sippe! Und werden dort von Schurkenhand eingefangen und abgehäutet! – Einerlei – fuhr ich nach einigem Bedenken fort, – jetzt sind sie da; und jetzt gilt es, sie zu erwerben. Denn offenbar, – darüber war ich orientirt – ist das, was hinter diesen Riesenscheiben aufgestellt ist, zu verkaufen. Aber wer kann so kostbare Menschen kaufen? Wohl nur ein König! Mein Gott, rief ich, was wird dieser orangene Menschen-Vogel kosten? Gewiß einige Zehntausend Gulden. Die werde ich nie besitzen. Und so werde ich im Leben nie glücklich sein.....!16

In Fritz’ Vision werden die ausgestellten Gegenstände in fremden Ländern brutal erbeutet, wie es in kolonisierten Ländern mit kostbaren Gütern, Kultgegenständen und Rohstoffen geschehen ist. Er vermengt diese Erklärung jedoch mit einer hochgradig antisemitisch personalisierenden Spekulation über den Kapitalismus. Hinter dem Raub und dem anschließenden Geschäft mit den »Menschenhülsen« stecken in Fritz’ Vorstellung die Juden: »Und Juden sind es, die diese entfernten Menschenrassen abschießen lassen, die Bälge importiren und verkaufen; und daran ihr Geld verdienen.«17 Verbildlicht wird diese Verschwörungstheorie im Stereotyp eines im Schaufenster und in der Erinnerung auftauchenden »Judenkopf[s]«, der das Begehrte »mit einem ausgestopft-süßlichen Lächeln«18 entzieht. Der Ärger über die versagte, da für ihn nicht bezahlbare Ware evoziert bei Fritz das antisemitische Klischee des Juden als Kapitalisten, ebenso wie er die Vorstellung vom kolonialistischen Raub den Juden zuschreibt.19 Fritz meint, hinter der im Schaufenster ausge15 16 17 18 19

Vgl. ebd., S. 61. Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 207. Ebd., S. 210. Ebd., S. 207. Zum Zusammenhang von Fetischismus und Antisemitismus vgl. Moishe Postone: »Antisemitismus und Nationalsozialismus«, in: http://www.copyriot.com/

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 177 legten Ware eine verborgene Welt zu erkennen. Die Ware erscheint als Fetisch, der das Begehren auf sich zieht und dabei zugleich ein Geheimnis verbirgt. Der sozialhistorische Entstehungszusammenhang der ausgelegten Ware als Produkt von Arbeit wird vom Protagonisten nicht durchschaut. Stattdessen ersinnt er eine Erklärung ihrer Herkunft. Der Eindruck des Schaufensters führt bei Fritz, wie ich behaupten würde, letztlich auch zu einem nicht bloß individuellen Beziehungswahn: einer Paranoia, die ihn zu antisemitischen Verschwörungstheorien verleitet. Die Fetischisierung von Waren als »systematische Verdeckung der gesellschaftlichen Verhältnisse«20 bildet die Voraussetzung für Projektionen, wie Fritz sie vor dem Schaufenster vornimmt. Fritz’ Versuch einer Erklärung verbleibt an der Oberfläche der Erscheinung und beruht auf Projektionen und Phantasmen. Die Erzählung verbindet Fetischismus mit Antisemitismus und repräsentiert so eine imaginäre Wahrnehmung der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx kritisch analysiert. Für Marx, der seinen Fetischbegriff in Auseinandersetzung mit ethnologischen und religionstheoretischen Ansätzen entwickelt,21 besteht der Fetischcharakter der Ware darin, dass sie einen gesellschaftlichen Zusammenhang verschleiert. Die Ware verfügt über Tauschwert, der nur scheinbar durch ihr materielles Vorliegen gegeben ist. Was laut Marx dabei verborgen bleibt und die Ware zum Fetisch macht, ist die Tatsache, dass der Wert der Ware von der in ihr verausgabten Arbeitskraft bedingt ist und damit gesellschaftliche Form hat. Im Corsetten-Fritz geht die Verbindung von Fetischismus und Glücksversprechen der Ware mit der Konstruktion einer antisemitischen Verschwörungstheorie einher. Das wird vor allem gegen Ende der Erzählung deutlich, wenn Fritz seine Theorie, wie für diese Entwürfe üblich, gegen jeden möglichen Einwand absichert: »Diejenigen, die jene Vorgänge leugnen, beweisen damit, daß sie in ihren Sinnen krank, oder an jenem Complot betheiligt sind.«22 Das Korsett wird an dieser Stelle in doppelter Weise mit einem ›Anderen‹ in Verbindung gebracht: Als begehrtes Objekt wird es auf einem fremsinistra/reading/postone1.html (Stand: 27.07.2010): »Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift.« 20 Falko Schmieder: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin/Wien 2004, S. 279. 21 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 309. 22 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 223.

178 | SOPHIA KÖNEMANN den Kontinent verortet, und mit »kostbaren Rassen« assoziiert. Als fetischisierte Ware verbirgt das Korsett ein Rätsel. Dieses meint Fritz in seiner Vision aufzudecken, indem er den Warencharakter und den damit verbundenen kolonialistischen Raub wiederum ›Anderen‹, nämlich den Juden zuschreibt. Auf die Tatsache, dass Fritz die Korsetts als Mischungen zwischen Mensch und Tier imaginiert, kann an dieser Stelle nur am Rande eingegangen werden und doch ist die Beschreibung der Korsett-Wesen auch in dieser Hinsicht interessant: Oder sind es gar keine Menschen, sondern Vögel? Oder eine Misch-Race? Sie haben also – fing ich jetzt an zu construiren – einen höchst zarten, gracilen Leib, das heißt, Hüfte, Taille, Brust und die zwei höchst interessanten, an ihr hervorspringenden, schäumenden Kugeln; rechts und links von der Brust fliegen zwei weiße, nackte, schlanke Arme heraus, zum Rudern, zum Fliegen; farbige fledermausartige Flughäute verbinden diese ihrer ganzen Länge nach mit dem Körper, wie aufgebauschte Regenschirme; und zwischen den zarten, Perlmutter-Fingern, noch weiche, durchsichtige Schwimm-Häute. Oben an die Brust setzt sich ein blendend-weißer, vielleicht schon befiederter Hals an; dann folgt ein Mäulchen von Corallenfarbe, ein spitzes schlankes Näschen, hinter blau-grünen Wimpern versteckte schwarze AugenPunkte, citronengelbe Augenbrauen; und dieß Alles umspült, umflattert, umwogt, je nachdem der Wind geht, von einem Wald, von Wellen-Strähnen blau-schwarzer Haare, die die Perlmutter-Oehrlein, die Wangen, Kinn, Gesicht, die Brustballons, ja stellenweise die ganze Gestalt in ein Netz von dunklem Wirrwarr einhüllen. Eine Stimme von einem süßen »Pi-pi-pi-pi-pi!« wird dieses Flatter-Geschöpf vielleicht von sich geben.23

Panizza verwendet hier Elemente einer Ästhetik des Fin-de-siècle, wie sie etwa in Bildern Gustave Moreaus als Sphinx- und Vogelfrauen auftauchen.24 Auch in der Literatur um 1900 ist die tierische Frau ein häufiger Topos, gerade wenn sie mit Verführung und sexuellem Begehren in Verbindung steht. Verwiesen sei hier beispielhaft auf Frank Wedekinds Figur Lulu, die als »schönes, wildes Tier«25 charakterisiert wird und Rachildes: L’Animale.26

23 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 211f. 24 Vgl. Renate Werner: »Geschnürte Welt. Zu einer Fallgeschichte von Oskar Panizza«, in: Bettina Gruber/Gerhard Plumpe: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, Würzburg 1999, S. 213-234, hier S. 224. 25 Frank Wedekind: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie, historischkritische Ausgabe der Urfassung von 1894, Darmstadt 1990, S. 8. 26 Rachilde (Marguerite Valette-Eymery): L’Animale, Paris 1903. Vgl. dazu Emily Apter: Feminizing the Fetish. Psychoanalysis and Narrative Obsession in Turnof-the-Century France, Ithaca, New York 1991, S. 26.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 179 Ausgehend vom Korsett als Kleidungsstück und damit einer Oberfläche und Maskerade, »construir[t]« der Erzähler ein ganzes Wesen. In seiner Phantasie ist das Korsett die Hülle von Chimären, Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Der Konstruktcharakter dieser Wesen wird vom Text explizit hervorgehoben und die Aufmerksamkeit der Lesenden so auf die Phantasietätigkeit des Protagonisten gelenkt. Dessen Imagination wird ironisiert, indem die einzelnen beschriebenen Körperteile im Diminutiv erscheinen (»Mäulchen«, »Näschen«, »Oehrlein«), so dass das Tiermotiv als Produkt der Phantasie des Ich-Erzählers kenntlich wird. Der Fetisch hat hier die rhetorische Form einer Synekdoche: Er repräsentiert einen begehrten Körper, nicht jedoch den einer Frau, sondern das Phantasma eines Körpers, das sich ausgehend von einem Kleidungsstück, einer Art Maskerade, einstellt. Das weibliche Wesen, dessen natürliche Hülle in Fritz’ Vorstellung das Korsett ist, wird hier als ein animalisches ›Anderes‹ imaginiert und zugleich verklärt. Von zentraler Bedeutung für die Erzählung sind Psychiatrie und Sexualwissenschaft als dritter Diskurs des Fetischismus. Von der Psychiatrie wird der Begriff Fetisch gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen und wird zu einem zentralen Konzept der sich herausbildenden Sexualwissenschaft. Der französische Psychiater Alfred Binet ist der Erste, der diesen Begriff 1887 in seiner Schrift Le Fétichisme dans l’amour verwendet. Er übernimmt den Fetischbegriff von Max Müller, einem Religionswissenschaftler.27 Bei Binet heißt es: »dans le culte de nos malades, l’adoration religieuse est remplacée par un appetit sexuel«28. Die religiöse Verehrung heiliger Gegenstände wird also zur sexuellen Obsession der Fetischisten transformiert. Gleichzeitig bedeutet die Übertragung des Konzepts von der Ethnografie auf die Psychiatrie eine Analogisierung von psychisch Kranken und ›Primitiven‹. Inwieweit der Fetisch bei Fritz mit sexuellem Begehren verbunden ist, bleibt jedoch fraglich. Einerseits ist Fritz’ Begehren auf ein hochgradig sexualisiertes Stück weiblicher Kleidung, das Korsett, fixiert.29 Andererseits bleibt explizit geschilderte Erregung und Sexualität im Text ausgespart, eine überbordende Phantasie, religiöse Obsession und Tagträumerei scheinen an die Stelle sexueller Erregung getreten zu sein. Als Fritz einige Jahre nach dem Erlebnis vor dem Schaufenster von einem Freund mit ins Bordell genommen

27 Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 383. 28 Alfred Binet: »Le Fétichisme dans l’amour«, in: Revue Philosophique de la France et de L’étranger, 12. Jg., 2. Halbband (1887), S. 142-167 und 252-274, hier S. 144. 29 Zum Korsett als Fetisch vgl. auch David Kunzle: Fashion and Fetishism: A Social History of the Corset, Tight-Lacing and Other Forms of Body Sculpture in the West, Totowa, New Jersey 1982.

180 | SOPHIA KÖNEMANN wird, meint er, in der Prostituierten die Verkörperung seines Idealwesens zu erkennen. Von ihrem Anblick ist er derart überwältigt, dass er das Bewusstsein verliert. Die von ihm im Bordell erwarteten sexuellen Handlungen bleiben aus. Ist also der Fetischismus eine Strategie, der Norm des heterosexuellen, auf den Coitus gerichteten Begehrens zu entkommen? Das Korsett ist einer der Gegenstände, die prototypisch in den Fallgeschichten der Psychiater als Fetische auftauchen. Die Psychiatrie beschreibt neben dem Körperteilfetischismus bevorzugt Fälle, in denen Stücke weiblicher Kleidung zum Fetisch werden.30 Von pathologischem Fetischismus ist bei Krafft-Ebing und auch bei Freud31 erst dann die Rede, wenn allein der fetischisierte Gegenstand, nicht aber die Person, der dieser als Körperteil, Kleidungsstück oder sonstwie Assoziiertes angehört, begehrt wird. Werden mit einer Person verbundene Gegenstände begehrt, gilt dies hingegen nicht als pathologische Form des Fetischismus, solange das Hauptziel des Verlangens diese Person selbst bleibt. Es werden auch Fälle beschrieben, bei denen mit der Verlagerung des Begehrens auf einen bestimmten Gegenstand und dem Desinteresse gegenüber der Person und deren Körper das Verschwinden sexuellen Begehrens zusammengeht. Die ›Anomalie‹ dieser Fetischisten wird dann gerade in der Abwesenheit sexuellen Begehrens gesehen, eine Pathologie, die Krafft-Ebing als »Anästhesia sexualis« beschreibt.32 Anhand der verschiedenen Verwendungen des Fetischbegriffs, die die Erzählung aufgreift, ist zu beobachten, dass der Text den Fetisch als einen interdiskursiven Begriff reflektiert. Es ist jedoch in diesem Fall nicht erst die Literatur, die diese Diskurse in Verbindung bringt, sondern das Konzept wird von Ökonomie und Psychiatrie aufgegriffen, indem auf dessen Verwendung in Ethnografie und Religionswissenschaft hingewiesen wird. Der Transfer des Begriffs findet also schon zwischen den unterschiedlichen Disziplinen bzw. Diskursen statt. Panizzas Text konzentriert diese Diskurse im Gegenstand des Korsetts und den sich an dieses knüpfenden Phantasien und Visionen. Er führt den Fetisch als einen schillernden Begriff vor, ohne jedoch dessen Verwendung kritisch zu reflektieren. In den vorangegangenen Abschnitten konnte gezeigt werden, wie Panizzas Erzählung im Gegenstand des Korsetts diverse Diskurse des Fetischismus 30 »In einer grossen Zahl von Fällen handelt es sich hier um Stücke weiblicher Leibwäsche, die ja durch ihren intimen Charakter besonders geeignet sind, solche Assoziationen zu knüpfen.«, Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung, 9. Auflage, Stuttgart 1894, S. 174f. 31 Vgl. ebd., S. 20; Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1991, S. 53. 32 Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 42f.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 181 konzentriert. Anhand der Imaginationen des Erzählers war zudem zu beobachten, wie das Objekt des Begehrens in der Erzählung als exotisiertes, animalisches ›Anderes‹ erscheint. Der letzte Abschnitt fragt nach Verfahren, Institutionen und Medien, die im Text das Erzählen der fiktiven Lebensgeschichte bedingen und dazu beitragen, dass der Protagonist als psychisch und sexuell abweichend erscheint. Das Phantasma eines ›Anderen‹ bleibt so in der Erzählung nicht auf den begehrten Gegenstand beschränkt, sondern betrifft auch die Identitätskonzeption des Ich-Erzählers. Mit der Abwesenheit heterosexuellen Begehrens fehlt Fritz ein konstitutiver Teil männlicher Geschlechtsidentität. Sein Begehren gegenüber dem Korsett ist jedoch mit Schaulust verbunden und bringt ihn in die Position eines Beobachters, dessen Blick sich auf ein begehrtes Objekt richtet, eine tendenziell männliche Position. Fritz kann das im Schaufenster ausgestellte Objekt jedoch gerade nicht von einer gesicherten Warte aus beobachten, sondern droht ständig von dessen Anblick überwältigt zu werden. Zudem zieht er durch seine Schaulust selbst Aufmerksamkeit auf sich. Zunächst sind es die Blicke der Menschen auf der Straße, die ihn vor dem Schaufenster umringen und ihn als Curiosum ansehen. Wenn er sich vom Schaufenster abwendet, empfängt ihn aus der Menschenmenge »ein höllisches Gelächter, in dem Hohn, Spott, Mitleid, Verachtung, Schadenfreude, Alles durcheinander klang«33. Auf diese öffentliche Bloßstellung reagiert der Erzähler mit Beschämung: »Ich wurde blutroth im Gesicht«34. Am nächsten Tag verpassen ihm seine Mitschüler – wenn man so will – in einem performativen Sprechakt die Identität als Fetischist: »[A]ls ich zur gewohnten Zeit in die Classe trat, empfing mich ein vierzig- bis fünfzigstimmiger Ruf: ›Corsetten-Fritz! Corsetten-Fritz!‹ – Die ganze Geschichte war ausgeplaudert worden.«35 Auch in Fritz’ Wahnbildern setzt sich diese »Anrufung«36 fort, wenn er gegen Ende der Erzählung Pfarrer geworden ist und ihm während seiner ersten Predigt die Mitschüler der Jugend erscheinen, die ihn wie damals beschimpfen.37 Am Ende ist es nicht mehr Fritz, der seinen begehrlichen Blick auf ein exotischtierisches ›Anderes‹ richtet, sondern er selbst gerät als sexuell deviantes Individuum in den Blick; zunächst der Öffentlichkeit und der Mitschüler als curioses Spektakel, dann des Psychiaters, der ihn als pathologischen Fall, als einen Fetischisten und Wahnsinnigen ansieht.

33 34 35 36

Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 214f. Ebd. Ebd., S. 215. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001, S. 101f. 37 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 222.

182 | SOPHIA KÖNEMANN Es lohnt sich, an dieser Stelle auf die Erzählsituation des Textes zurückzukommen. Wie eingangs erwähnt, schreibt Fritz seine Lebensgeschichte in der Psychiatrie im Auftrag eines Psychiaters. Dies scheint den Fokus seiner Aufmerksamkeit zu bestimmen. Er konzentriert sich auf Erscheinungen geistiger Abwesenheit sowie die Begegnung mit dem Korsett als Fetisch, also auf Aspekte seiner Lebensgeschichte, die den Psychiater interessieren könnten. Auch hinsichtlich der Form der Erzählung ist der Blick auf psychiatrische Theorien des Fetischismus aufschlussreich. Binet führt den sexuellen Fetischismus auf ein prägendes Erlebnis in der Kindheit zurück38, bei dem ein Gegenstand sich mit sexueller Erregung verknüpft. Diese Assoziationstheorie übernimmt auch Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis39. Nach dem Moment der Verknüpfung oder Assoziation von Begehren und Gegenstand suchen Psychiater und Sexualwissenschaftler daraufhin in den Lebensgeschichten von Fetischisten. Übrigens wird auch von Ethnografen die prägende Begegnung mit dem Fetisch als »first contact scene« beschrieben.40 Einen solchen Moment bildet in der Erzählung Der Corsetten-Fritz das zentrale Ereignis vor dem Schaufenster, in dem Fritz erstmals die Korsetts erblickt. Sowohl der Anlass, aus dem Fritz in die Stadt geht, als auch der Ort, an dem er das Schaufenster vorfindet, markieren die außergewöhnliche Bedeutung, die diese Szene für Fritz hat: Zum ersten Mal ist der streng von seinen Eltern – später von seiner Tante – behütete Junge in der Stadt unterwegs. Er hat von seiner Tante »im Flüsterton«41 den Auftrag erhalten, dort ein Paket für sie abzuholen. In einer der dunklen Gassen erblickt er in einem Schaufenster die Korsetts, die ihm von da an nicht mehr aus dem Kopf gehen. Von diesem Moment an beschäftigt ihn der Gegenstand in seinen Träumen und auch tagsüber, wenn er dessen Geheimnis zu ergründen versucht. Die Szene vor dem Schaufenster ist so entsprechend den Theorien der Psychiatrie der Ausgangspunkt eines fetischistischen Begehrens. Die Erzählung ist als Lebensgeschichte des Protagonisten chronologisch geordnet. Markiert wird dieses Vorgehen durch Satzanfänge wie »so wurde ich achtzehn Jahre alt«42, »[e]in Vierteljahr später«43, »inzwischen neunundzwanzig Jahr alt«44 usw. Erst gegen Ende des Textes kommt es zu einem 38 Alfred Binet: »Le Fétichisme dans l’amour«, S. 166. 39 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 18. 40 Hartmut Böhme: »Fetischismus und Sexualität. Auf dem Weg zu einem metapsychologischen Konzept: Binet – Krafft-Ebing – Freud«, in: Kulturtheorie. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, hg. v. Ortrud Gutjahr, Würzburg 2005, S. 161-184, hier S. 163. 41 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 206. 42 Ebd., S. 213. 43 Ebd., S. 217. 44 Ebd., S. 220.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 183 deutlichen Bruch der Chronologie. Fritz hat inzwischen Theologie studiert und hält seine erste Predigt. Dabei erscheinen ihm die Mitschüler seiner Jugend, die ihn wie damals ärgern und auch aussehen, »als seien sie 6 bis 8 Jahre jünger«45. Dieser Anachronismus irritiert selbst den Ich-Erzähler und erscheint hier als Symptom der von der Psychiatrie in der Geschichte festgestellten Wahrnehmungsstörungen. Auch wenn beim Erzähler »Hallucinationen«, »Gesichts- und Gehörstäuschungen«46 diagnostiziert werden, tritt der Psychiater als Figur nicht in Erscheinung. Er wird außerhalb der Erzählung positioniert und wird nur als diejenige Instanz erwähnt, die das Aufschreiben der Lebensgeschichte angeregt hat. Die Psychiatrie wird auf diese Weise im Text als eine Institution präsentiert, die zur Produktion biographischer Texte und zur Selbstbefragung anregt.47 Dabei wird die Aufnahme literarischer Verfahren von der Psychiatrie, wie sie besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts stattfand, als Produktion von Lebensgeschichten erkennbar. Interessant ist, dass Panizza im Corsetten-Fritz diese Verbindung wiederum im literarischen Text reflektiert. Man ist sich zuweilen unsicher, ob die phantastischen Elemente des Textes als Teile einer genuin literarischen Schreibweise oder als Delirien eines Geisteskranken zu lesen sind. Wenn Fritz aus der Psychiatrie sein Leben erzählt, so sind die Aufzeichnung der Geschichte und deren Form von dieser Institution mitbestimmt. Sie ist jedoch nicht die einzige Instanz, die im Corsetten-Fritz Anlass zum Erzählen gibt. Weitere Institutionen, die Fritz zum Schreiben und Erzählen bringen, sind in der Geschichte die Schule und die Kirche. So schreibt Fritz einen Schulaufsatz zum Thema: »Die Bestimmung des Menschen«48, in dem er ebenfalls auf die begehrten Korsetts Bezug nimmt. Die Schule und deren Praktik des sogenannten ›deutschen Besinnungsaufsatzes‹ liefern so den Anstoß, Rechenschaft über sich abzulegen. Panizzas Text erscheint nur wenige Jahre nachdem 1890 auf Befehl Kaiser Wilhelm II. der Deutschunterricht und innerhalb dieses Faches der Aufsatz ins Zentrum der schulischen Bildung gerückt ist.49 Die Erzählung diskutiert mit der Schule eine weitere Institution, die zum ›freien‹ Schreiben anregt und damit eine Selbstäußerung im Medium der Schrift fordert. In seinem Aufsatz beginnt der Erzähler »rückhaltlos die Erlebnisse meiner letzten Jahre, innerer und äußerer Natur, die Annahme eines zweiten Menschengeschlechts, meine Visionen und Peinigungen, bei

45 Ebd., S. 223. 46 Ebd. 47 Vgl hierzu. Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973-1974, Frankfurt a.M. 2005, S. 255f. 48 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 215. 49 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, 4. Auflage, München 2003, S. 224.

184 | SOPHIA KÖNEMANN Tag und bei Nacht, mein Occupirt-Sein durch jenes Orange-Wesen, darzulegen«50. Für diesen Aufsatz wird er zwar aufgrund »›unziemlicher Ausdrücke und unsittlicher Anspielungen‹« bestraft, erhält aber für die »›Selbständigkeit in Behandlung schwieriger und abgelegener Thematas‹« die beste Note. Fritz führt seine besondere Befähigung zu dieser Form des Schreibens auf die bereits im Elternhaus ausgeprägte Praxis, Vorgänge seines Inneren aufzuschreiben, zurück: »da ich von früh an mich daran gewöhnt hatte, meine Gedanken und Empfindungen schriftlich niederzulegen«51. Da Fritz aus einem protestantischen Elternhaus kommt und seine Erziehung, wie er angibt, besonders von seinem Vater, einem Pfarrer, geleitet wurde, kann die Aufzeichnung seiner Empfindungen und Gedanken mit einer Tradition der »überwiegend protestantisch-religiösen Lebens- und Gewissensprotokolle«52 seit dem 16. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden. Einen weiteren Anstoß, seine Vergangenheit zu rekapitulieren, liefert seine erste Predigt in der Kirche, also wiederum die Religion. Während dieser Predigt ist Fritz jedoch keinesfalls souverän. Für ihn fühlt es sich an, als würde sein Inneres wie eine Maschine auseinanderfallen, während er sich an den Text der Predigt klammert. Er legt hier keine Beichte ab, doch die kirchlichprotestantische Umgebung trägt zur Entfesselung bisher geheim gehaltener Vorstellungen bei und zwingt ihn zu einer »Tour«, in der er Stationen seines Lebens durchläuft. Parallel zum Predigttext verläuft also seine Erinnerung, die offenbar eine eigene Dynamik entwickelt hat: »Während meine Predigt ruhig und sicher wie eine Spule abrollte, begleitet von guten Gesten und sicherem Tonfall, merkte ich, wie sich in meinem Innern etwas ablöste; ein Maschinentheil davonrannte«53. Die Maschinenmetapher und das Abspulen der Stimme lassen sich medientheoretisch mit der Erfindung der ersten Geräte zur Tonaufzeichnung in Verbindung bringen. An dieser Stelle erzählt nicht ein introspektives Ich seine Lebensgeschichte, sondern diese wird von einer automatisierten Stimme abgespielt. In der Erzählung wird so der Übergang von der Schrift als privilegiertem Medium der Selbstaufzeichnung zur phonographischen Speicherung des Gedächtnisses reflektiert.54 Die letzte Instanz, die Fritz dazu bringt, seine Lebensgeschichte zu schreiben, ist dann wie bereits erwähnt die Psychiatrie. Und auch hier ist Fritz

50 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 216. 51 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 215. 52 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift: der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 10. 53 Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz, S. 221. 54 Zu den Verfahren der Selbstaufzeichnung vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 39.

PANIZZA: DER CORSETTEN-FRITZ | 185 nicht der souveräne Erzähler, sondern wird vom Psychiater dazu angehalten, sein Leben auf Krankheitssymptome und Lüste hin zu befragen. Wenn die Erzählung den Psychiater außerhalb des Textes verortet, weist sie ihm eine Position zu, die er mit uns als Leser_innen der Geschichte teilt. Seine Tätigkeit als Hermeneut, der anhand von Texten psychische Krankheiten diagnostiziert, wird mit der Rolle der Lesenden, die einen literarischen Text interpretieren, verglichen. Es bleibt schließlich nicht ein Psychiater der einzige Leser des Textes, sondern die Leseposition des Psychiaters kann von allen Lesenden eingenommen werden. Panizzas Text reflektiert die Verschränkung unterschiedlicher Verfahren der Selbstaufzeichnung in bemerkenswerter Weise: Der Text hat die Form einer Fallgeschichte, thematisiert mit Schule und Kirche neben der Psychiatrie jedoch auch andere Institutionen, die das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte fördern. Indem schließlich die Predigt und das Schreiben eines introspektiven Subjekts vom Abspulen einer Automatenstimme – im zweifachen Wortsinne – abgelöst werden, zeichnet der Text den Übergang einer Tradition der protestantischen ›Schrift-Konfession‹ über die institutionell geprägten Selbstauslegungen in Psychiatrie und Schule zur technischen Aufzeichnung der Stimme durch den Phonographen nach.

Literatur Apter, Emily: Feminizing the Fetish. Psychoanalysis and Narrative Obsession in Turn-of-the-Century France, Ithaca, New York 1991. Binet, Alfred: »Le Fétichisme dans l’amour«, in: Revue Philosophique de la France et de L’étranger, 12. Jg., 2. Halbband (1887), S. 142-167 und 252274. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. Böhme, Hartmut: »Fetischismus und Sexualität. Auf dem Weg zu einem metapsychologischen Konzept: Binet – Krafft-Ebing – Freud«, in: Kulturtheorie. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, hg. v. Ortrud Gutjahr, Würzburg 2005, S. 161-184. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1997. Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973-1974, Frankfurt a.M. 2005. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1991.

186 | SOPHIA KÖNEMANN Freud, Sigmund: Fetischismus, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1976, S. 305-317. Hoevels, Fritz E.: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, Freiburg 1996. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, 4. Auflage, München 2003. Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung, 9. Auflage, Stuttgart 1894. Kunzle, David: Fashion and Fetishism: A Social History of the Corset, TightLacing and Other Forms of Body Sculpture in the West, Totowa, New Jersey 1982. Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983. Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 1, Erster Abschnitt, in: ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, Berlin, DDR 1968. Neau, Patrice: »Un cas de fétichisme. L’amateur de corsets d’Oskar Panizza«, in: Günter Krause: Literalität und Körperlichkeit = Littéralité et corporalité, Tübingen 1997, S. 209-223. Panizza, Oskar: Der Corsetten-Fritz, in: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen, München 1981, S. 203-223. Postone, Moishe: »Antisemitismus und Nationalsozialismus«, in: http://www. copyriot.com/sinistra/reading/postone1.html (Stand: 27.07.2010). Rachilde (Marguerite Valette-Eymery): L’Animale, Paris 1903. Schmieder, Falko: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin/Wien 2004. Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift: der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986. Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie, historischkritische Ausgabe der Urfassung von 1894, Darmstadt 1990. Weder, Christine: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2007. Wegmann, Thomas: »Erzählen vor dem Schaufenster. Zu einem literarischen Topos in Thomas Manns Gladius Dei und anderer Prosa um 1900«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 33, Heft 1 (2008), in: http://www.reference-global.com/doi/ pdf/10.1515/iasl.2008.003 (Stand 15.12.2010), S. 48-71. Werner, Renate: »Geschnürte Welt. Zu einer Fallgeschichte von Oskar Panizza«, in: Bettina Gruber/Gerhard Plumpe (Hg.): Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann, Würzburg 1999, S. 213234.

Das fremde Geschlecht de r Irre n und de r Tiere. Ethnologie, Ps ychiatrie, Zoologie und Texte Robe rt Mus ils FLORIAN KAPPELER

Im 33. Kapitel des 2. Buches von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften besuchen die Romanfiguren Ulrich, Clarisse und Stumm von Bordwehr eine psychiatrische Anstalt. Eine ihrer Abteilungen wird folgendermaßen charakterisiert: Schon begannen sie sich auch einem Schreien und Schnattern zu nähern, das aus einem ungeheuren Vogelkäfig zu dringen schien [...]. Was in den Betten saß, flatterte, aufgeregt und schreiend, mit Armen und Augen [...], wie fremde, in einen gemeinsamen Käfig gesperrte Vögel, von denen jeder die Sprache eines anderen Eilands spricht. Manche saßen frei und manche waren mit Schlingen an den Bettrand gefesselt [...]: Paralyse, Paranoia, Dementia praecox und andere waren die Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.1

Die in der Psychiatrie Internierten werden mit Vogelarten verglichen. Ihre Stimmen erscheinen als indifferentes »Schreien und Schnattern« und werden damit von individuellen menschlichen Äußerungen abgegrenzt: In den Betten sitzt ein ›Was‹, kein ›Wer‹, zoologisch klassifizierte Arten, keine individuellen Subjekte.2 Als internes Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Arten 1 2

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, I. 1. und 2. Buch, Reinbek bei Hamburg 2001 [i.f.: MoE], S. 987. Für Jacques Rancière ist die Unterscheidung von Sprache und Geschrei, »zwischen den Worten jener, die einen Namen haben und dem Brüllen der Wesen ohne Namen«, konstitutiv für die Frage, wer als Subjekt – und insbesondere als politisches Subjekt – anerkannt wird, indem »eine lautliche Aussendung als Re-

188 | FLORIAN KAPPELER werden die Differenzen von Sprachen und Herkunftsorten genannt, so die Insel, die für zoologische und ethnologische Forschungen wegen ihrer Abgeschlossenheit oft eine wichtige Rolle spielt. Die Arten sind, da alle von unterschiedlichen Inseln stammen, nicht nur für die Beobachtungssubjekte, sondern auch untereinander ›fremd‹. Die zoologische Klassifikation psychiatrisierter Menschen verbindet sich mit einer für ethnologische Diskurse typischen Zuschreibung, der Fremdheit. Schließlich wird der ethnologische und zoologische Terminus der ›Rasse‹ mit Kategorisierungsweisen der psychiatrischen Nosologie identifiziert: Paralyse (Lähmung), Paranoia und Dementia praecox (Schizophrenie). Es ist ein fremdes und befremdendes Geschlecht, das hier vorgestellt wird und sich als Produkt einer Verschränkung ethnologischen, psychiatrischen und zoologischen Wissens erweist. Diese Verschränkung könnte als Produkt eines rein literarischen Spiels mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Diskursen aufgefasst werden. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt gezeigt, dass Musils Roman ganz im Gegenteil dazu auf eine ethnologisch-psychiatrisch-zoologische Konfiguration verweist, die sich unabhängig von dem literarischen Text gebildet hat, wenn sie auch diskursiv und intertextuell stark mit ihm verbunden ist. Die systematische Abgrenzung kann als eine Grundoperation wissenschaftlicher Disziplinen angesehen werden. Tatsächlich bilden sich diese jedoch häufig im Kontext anderer Fächer, berühren Terrains der Nichtwissenschaftlichkeit und nutzen Wissen anderer Disziplinen. Interdisziplinarität und Interdiskursivität können als historische Voraussetzung wissenschaftlicher Disziplinen und Diskurse gelten (und erst abhängig davon als methodische Handlungsanleitung).3 Ein Beispiel dafür ist der interne Zusammenhang von Ethnologie, Psychiatrie und Zoologie bei der Konstruktion eines ›Anderen‹ im frühen 20. Jahrhundert. Aus diesem umfangreichen und eher mannigfaltig verbundenen als systematisch geordneten Wissenskomplex sollen zwei Beispiele ausgewählt werden, die auch für den MoE relevant sind: Ernst Kretschmers Verwendung ethnologi-

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de verstanden […], während eine andere nur als Lärm wahrgenommen wird«, Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, S. 35, S. 34. Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Berlin 1985, S. 46ff. Zum Diskurs/Wissensbegriff Foucaults vgl. Arnold I. Davidson: »Über Epistemologie und Archäologie. Von Canguilhem zu Foucault«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault, Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M. 2003, S. 192-211 und Florian Kappeler: »Die Ordnung des Wissens. Was leistet Michel Foucaults Diskursanalyse für eine kritische Gesellschaftstheorie?«, in: Prokla. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Nr. 151 (2008), S. 255-270.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 189 scher Konzepte im psychiatrischen Diskurs und die Verbindung ethnologischen und zoologischen Wissens in der Insektenforschung von Maurice Maeterlinck und Houston Stuart Chamberlain. Trotz dieser Voraussetzung eines bestimmten außerliterarischen (inter-) diskursiven Komplexes ist es – wie in einem zweiten Schritt gezeigt wird – ergiebig, die literarische Rekontextualisierung dieser Konfiguration bei Musil zu untersuchen. Im Fokus stehen hier Musils ethnologisch und psychiatrisch inspiriertes Konzept des »anderen Zustands«4 und die Darstellung von imaginären Transformationen männlicher Subjektivität im MoE, die besonders mit zoologischem Wissen in Verbindung stehen. Die Analyse fokussiert den Zusammenhang von Geschlechterkategorien, (interdisziplinärem) Wissen und Darstellungsweisen. Dabei soll gezeigt werden, dass der interdiskursive und interdisziplinäre Komplex von Ethnologie, Psychiatrie und Zoologie, in den sich Musils Roman produktiv einschreibt, eine wichtige Funktion für die Reproduktion und Transformation historischer Geschlechterkategorien besitzt.5 Die Kategorie Geschlecht ist nicht nur methodologisch betrachtet, sondern auch realhistorisch eine interdisziplinäre und interdiskursive Kategorie. Einen Ausgangspunkt für die gendertheoretische Analyse der ethnologisch-psychiatrisch-zoologischen Konfiguration bildet die dem gesamten Tagungsband Das Geschlecht der Anderen zugrundeliegende Beobachtung, dass Geschlecht zumindest im modernen europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts primär den ›Anderen‹ zugeschrieben wird – so etwa den Tieren, Irren, ›Primitiven‹. Der gesellschaftlich dominierende (heterosexuelle, weiße, bürgerliche) Mann setzt sich dagegen oft gerade dadurch geschlechtlich in Szene, dass er als Angehöriger des selbstverständlich herrschenden Geschlechts sich (angeblich) nicht in Szene setzt. Der vergeschlechtlichende Blick des nicht explizit vergeschlechtlichten Subjekts macht die ›Anderen‹ und ihre Geschlechter zu Objekten des Wissens. Bei Musil geht diese Rechnung nicht auf: Hier wird das ›Andere‹ innerhalb des männlichen Subjekts selbst situiert und dessen hegemoniale Position damit partiell transformiert. 4

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Robert Musil: »Anmerkungen zu einer neuen Ästhetik« [i.f.: Musil: AznÄ], in: ders.: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino [i.f.: KA], Lesetexte, Bd. 12, Essays, (DVD-Version) Klagenfurt 2009, S. 490. Ein wesentlicher Bezugspunkt dieses methodischen Ansatzes sind neben ›Poetologien des Wissens‹ (z.B. Joseph Vogl: »Robuste und idiosynkratische Theorie«, in: Kulturpoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, Nr. 7/2 (2007), S. 249-258) Schriften von Donna Haraway (u.a. Donna Haraway: »Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York 1995, S. 73-97 und dies.: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan_Meets_OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997.

190 | FLORIAN KAPPELER

E t h n o l o g i e / P s yc h i a t r i e / Z o o l o g i e u m 1 9 0 0 Die Ethnologie der Psychiatrie Der psychiatrische Diskurs um 1900 greift häufig auf ethnologisches Wissen zurück. Beim Tübinger Psychiater Ernst Kretschmer ist eine ethnologisch fundierte Entwicklungsgeschichte zentral für die gesamte Theoriebildung: Bestes »Fundament« psychiatrischen Erkennens ist ihm zufolge die »Psychologie der Primitiven«, die eine »unverfälschte Quelle« für die Psychiatrie darstellen soll.6 In seiner Schrift Medizinische Psychologie konstruiert Kretschmer dazu in Anknüpfung an Bleulers Konzept des »dereistischen Denkens«7, die von Wilhelm Wundt begründete »Völkerpsychologie« und ethnologisches Wissen eine Theorie der »primitiven Sprachen«8, die ohne Abstrakta und grammatikalischen Aufbau funktionierten, und der entwicklungsgeschichtlichen Entstehung von Abstrakta aus Bildserien. Dieser Entwicklungsgeschichte der Sprache zufolge stellen Phänomene wie Verdichtung, Verschiebung oder symbolisches Sprechen im Traum, bei psychischen Krankheiten oder in der Dichtung einen Rückfall in frühere Entwicklungsstufen dar.9 Traum, Hypnose, hysterische Dämmerzustände und schizophrene Denkstörungen weisen »eklatante Analogien zu früheren stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufen«10 auf. Kretschmers Schriften referieren also stark auf ethnologisches Wissen; zudem finden sich zumindest Spuren zoologischen Wissens. So werden »nervöse« und »seelisch nicht ganz ausgereift[e]«11 Frauen in unglücklichen Ehen mit Mäusen und Hühnern verglichen. Eine hysterische Frau erscheint als »gereiztes kleines Tier«12. Außereuropäische Gesellschaften, psychisch Kranke, Tiere und auch Frauen scheinen sich zu ähneln: Der zoologische Vergleich wird bei Kretschmer nicht auf Männer, sondern allein auf Frauen angewendet. Bei hysterischen Symptomen spricht Kretschmer von »Primitivreaktionen«, d.h. unmittelbaren Wirkungen von Erlebnisreizen ohne »Interpolation einer entwickel-

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Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie: ein Leitfaden für Studium und Praxis, Stuttgart 1922, S. 13. 7 Das »dereistische Denken« bezeichnet bei Bleuler eine Form des Wunschdenkens, das jenseits der Strukturen ›westlicher‹ Rationalität – etwa in Traum, Krankheit, Mythologie oder Dichtung – die Wirklichkeit abspaltet, Begriffe verdichtet oder auflöst und Symbole als reale Entitäten auffasst. Vgl. Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 1923, S. 34f. 8 Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie, S. 18. 9 Ebd., S. 20. 10 Ebd., S. 53. 11 Ebd., S. 100. 12 Ebd., S. 109.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 191 ten Gesamtpersönlichkeit«13. Auch der motorische Ausdruck befindet sich bei hysterischen Anfällen auf »älteren Stufen«14 menschlicher Entwicklung, was sich am rhythmischen Bewegen, Panik oder religiöser Ekstase zeige. Diese rassistische Auffassung der Hysterie als ›primitiver‹ menschlicher Atavismus ist vom ethnologischen Theorem unterschiedlicher Entwicklungsstufen menschlicher Kulturen inspiriert und wird mit zoologischen Bildern kombiniert. Der Übergang von psychiatrischem und ethnologischem zu zoologischem Wissen basiert u.a. darauf, dass mit Wilhelm Wundt die Trennung von Tier und Mensch im ›Primitivismus‹ verortet15 und postuliert wird, diese sei an ›Naturvölkern‹ noch heute studierbar. Gerade diese Schnittstellen besitzen für geschlechtliche Codierungen große Bedeutung. Dabei verbindet sich die Unterscheidung von ›normalen‹ europäischen Subjekten auf der einen, ›Irren‹, ›Primitiven‹ und Tieren auf der anderen Seite mit der zwischen ›Normalen‹ und ›Perversen‹, zwischen dem impliziten ›eigenen‹ (meist männlichen) Geschlecht der wissenschaftlichen Subjekte und dem expliziten (oft weiblichen) Geschlecht der ›Anderen‹, der Forschungsobjekte. Diese Integration ethnologischen Wissens in den psychiatrischen Diskurs, wie sie Kretschmer praktiziert, schlägt sich innerhalb des ethnologischen Diskurses im frühen 20. Jahrhundert ganz deutlich auf die Seite von Theorien, die ein evolutionistisches Fortschrittsdenken voraussetzen, das außereuropäische Kulturen als nicht fortschrittlich oder gar als nicht fortschrittsfähig definiert.16 Die Entwicklung der Menschheitsgeschichte verläuft demnach vom ›Einfachen‹ zum ›Komplexen‹ und setzt europäische Gesellschaften an die Spitze dieses Prozesses.17 Andere Spielarten ethnologischen Wissens im frühen 20. Jahrhundert wenden sich gegen diese Annahmen, so der von den Forschungen Émile Durkheims beeinflusste Ansatz Lucien Lévy-Bruhls. Sein Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Differenz der modernen, europäischen und der ›primitiven‹ Denkweisen und Sprachen nicht ethnisch begründet, sondern sozial produziert ist. Dabei geht Lévy-Bruhl davon aus, dass es auch im modernen Europa Übergänge zwischen diesen Denkweisen und Sprachen gibt,

13 Ebd., S. 188. 14 Ebd., S. 98ff. 15 Vgl. Wilhelm Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele [1863/ 1864], 4. umgearbeitete Auflage, Hamburg/Leipzig 1906. 16 Vgl. z.B. Markus Joch: »Deutsche Anti-Evolutionisten? Konzeptionen der Kulturkreislehre um 1900«, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, 2. überarbeitete Auflage, Bern 2003, S. 77-96. 17 Dies muss allerdings nicht zu einer negativen Bewertung ›primitiver‹ Gesellschaften führen, da das Fehlen historischen Fortschritts auch zur Stabilität, Ganzheitlichkeit und Traditionalität verklärt werden kann.

192 | FLORIAN KAPPELER womit ihre jeweilige Zuordnung zu europäischen und ›primitiven‹ Gesellschaften wankt. Ganz im Gegensatz zu Kretschmer betont Lévy-Bruhl den Wortreichtum und die »grammatikale Kompliziertheit der Sprachen«18 in ›primitiven‹ Gesellschaften und die »Sorgfalt«, »die sie auf den Ausdruck der konkreten Einzelheiten verwenden, welche in unseren Sprachen entweder von selbst mitverstanden werden oder unausgedrückt bleiben«19, also auf die Explikation von Konnotationen. Es handle sich bei den ›primitiven‹ zwar um eher schildernde als klassifizierende Formen der Sprache, in denen spezifische Termini wichtiger seien als abstrakte Gattungsbegriffe. Zugleich verfügten diese Sprachen aber über Eigenschaften (etwa Genauigkeit, präzise Explikation), die auch in der wissenschaftlichen Tradition europäischen Denkens höchst positiv bewertet werden. Im Vergleich europäischer und ›primitiver‹ Gesellschaften wird bei Lévy-Bruhl ein doppeltes Geschichtsnarrativ vorausgesetzt, das Fortschritts- und Rückschrittsannahmen koppelt: »Der Fortschritt des abstrakten und begrifflichen Denkens wird von einer Verminderung des beschreibenden Wort- und Zeichenmaterials begleitet, das ehemals zum Ausdruck des Denkens, als es konkreter war, gedient hat«20. Bedingung des Fortschritts sei die Entwicklung abstrakter begrifflicher Sprachen, aber hinsichtlich individualisierter und konkreter Ausdrucksweisen erlebten moderne europäische Gesellschaften einen Rückschritt. Dies gilt auch für Geschlechterkategorien. Im Anschluss an das Buch Esquisse d’une grammaire raisonée de la langue aléoute des Linguisten Victor Henry weist Lévy-Bruhl darauf hin, dass es bei bestimmten Kulturen in British Columbia (westliches Kanada) »keine grammatikalische Unterscheidung des Geschlechts« gebe, sondern »verschiedene Termini« in Verwendung seien. Die an der Küste lebenden Menschen, die mehr von der ›westlichen‹ Gesellschaft beeinflusst seien, würden diese Termini kaum mehr unterscheiden. »Das legt den Gedanken nahe, daß die vielfachen, verschiedenen Formen durch die Stämme, die die grammatikalische Trennung der Geschlechter verwenden, verloren wurden«21. Zumindest die begriffliche Voraussetzung von nur zwei verschiedenen Geschlechtern ist demzufolge ein historisches Produkt und mit den eher abstrakten, ›wissenschaftlichen‹ Darstellungsweisen

18 Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, 2. Auflage, Wien/Leipzig 1926, S. 92. 19 Ebd., S. 116. 20 Ebd., S. 149. 21 Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 116. Vgl. Victor Henry: Esquisse d’une grammaire raisonée de la langue aléoute. D’après la grammaire et le vocabulaire de Ivan Véniaminov, Paris 1879.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 193 ›westlicher‹ Kulturen assoziiert, während die Sprachen ›primitiver‹ Gesellschaften mehr Geschlechter kennen. Damit wird die implizite männliche und heterosexuelle Norm, welche Kretschmers Verbindung von Ethnologie und Psychiatrie kennzeichnet, soziohistorisch relativiert. Lévy-Bruhls Ansatz tendiert allgemein in Richtung einer Soziologisierung der Ethnologie. Dabei gilt das Augenmerk den spezifischen sozialen Differenzen zwischen menschlichen Gesellschaften. Dagegen weisen die Schnittstellen von Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie bei Kretschmer Berührungspunkte mit einem durch evolutionistische Theoreme gestützten Rassismus auf.

Psychiatrie, Ethnologie und ›andere Zustände‹ Ernst Kretschmers ethnologisch inspirierte Psychiatrie und die soziologische Ethnologie Lucien Lévy-Bruhls unterscheiden sich also in vielen Punkten deutlich. Gleichwohl stellen beide wesentliche Quellen von Musils Konzept des »anderen Zustands« dar. In einem seiner grundlegenden theoretischen Texte zur Ästhetik und Poetik, den Ansätzen zu einer neuen Ästhetik, zitiert Musil beide explizit.22 Welche Rolle also spielen Kretschmers Psychiatrie und Lévy-Bruhls Ethnologie für Musils Begriff des »anderen Zustands«? Und: Was ist unter dem »anderen Zustand« zu verstehen? In seinem Essay Der deutsche Mensch als Symptom bezeichnet Musil ihn als Gegenpol zur europäischen Moderne. Eine entscheidende Komponente dieser ist laut Musil der Kapitalismus, der wiederum der wissenschaftlichen Denkform verwandt ist: So verweisen etwa das quantitative Messen durch Geld (Kapitalismus) und die Signifikation durch mathematische oder sprachliche Zeichen (Wissenschaft) Musil zufolge aufeinander.23 Der »andere Zustand« ist dagegen den kapitalistischen Kategorien des »Rechnens, Zweckens, Schätzens, Drückens, Begehrens und der niedrigen Angst als grundverschie-

22 Robert Musil: AznÄ, S. 490. In der Musil-Forschung wird der »andere Zustand« oft als Ort missverstanden, der sich irgendwo (und sei es nur in der Handlung des Textes) wiederfinden lassen müsste. Christoph Hoffmann und Albert Kümmel betonen dagegen seine epistemologische und poetologische Herkunft und Funktion. Vgl. Christoph Hoffmann: Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942, München 1997, S. 139ff. und Albert Kümmel: Das MoE-Programm: eine Studie über geistige Organisation, München 2001, S. 275. Auch sie explizieren aber nicht seinen Zusammenhang mit psychiatrischem und ethnologischem Wissen sowie seine antikapitalistische Komponente. 23 Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom, in: ders.: KA, Bd. 15, Fragmente aus dem Nachlass, S. 16f.

194 | FLORIAN KAPPELER den entgegengesetzt«24. Er stellt also erstens eine Kategorie dar, welche der Kritik kapitalistischer Verhältnisse dient. Zweitens erscheint er als epistemischer Modus: Er eröffnet eine Perspektive, die Trennung von Rationalität und Emotionalität im europäischen Wissenssubjekt zu überwinden: »Unsre Wissenschaft kann man geradezu als sympathielose Betrachtung beschreiben, denn das ist ein wesentlicher Kern der Forderung, daß sie nicht phantastisch sei. Man wird da allerdings fragen, ob sich denn wirklich auch leblose Dinge verändern, je nachdem ob man sie mit oder ohne Liebe betrachtet, und ich möchte diese Frage bejahen«25. Ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis neuzeitlicher europäischer Wissenschaften sind emotionale und subjektive Faktoren Musil zufolge für den Prozess der Wissensproduktion konstitutiv.26 Der »andere Zustand« des Erkennens, in welchem diesen Faktoren darüber hinaus sogar die bestimmende Funktion zukommt, wird mit einem Vokabular beschrieben, das Lévy-Bruhl für das prälogische Denken ›primitiver‹ Gesellschaften verwendet. Auch dieses kennzeichnet eine Verbindung rationaler und emotionaler Elemente und ein Übergang zwischen subjektiven und objektiven Elementen.27 Drittens muss der »andere Zustand« als ästhetische und poetische Kategorie verstanden werden: Er bezeichnet wie Lévy-Bruhls Begriff der Partizipation »ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen«28. Anhand von LévyBruhls ethnologischer Schrift Das Denken der Naturvölker kann laut Musil gezeigt werden, dass zwischen dem alogischen Denken und Sprechen der ›Primitiven‹ und durch Künste evozierten Erlebensformen in modernen, europäischen Gesellschaften ein starker Zusammenhang besteht. Auch die formalen Darstellungsmittel von Dichtung, die solche Zustände bewirken, etwa Metaphorik, Metonymie oder Rhythmik, »der Gebrauch der Wiederholung, ja des Pleonasmus als Reizmittel, das Einstreuen sinnloser (das heißt geheimer, zauberhafter) Worte«29 entspringen, wie Musil in seinem poetologischen Text Literat und Literatur ausführt, ihrer Herkunft (a) nach prämodernen Kontexten. Welche Rolle spielt dabei nun psychiatrisches Wissen? Kretschmers Theorie des Ästhetischen bezieht die »primitiven Sprachen« und die Kunst auch hinsichtlich ihrer psychoeffektiven Funktion (b) explizit aufeinander. 24 25 26 27 28

Ebd., S. 20. Ebd. Vgl. auch Robert Musil: MoE, S. 302f. Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 21f., S. 30f. Robert Musil: AznÄ, S. 496; Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 58. 29 Robert Musil: Literat und Literatur [i.f.: LL], in: ders.: KA, Lesetexte, Bd. 12, Essays, S. 411. Vgl. Robert Musil: AznÄ, S. 490.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 195 Dichtung zeichnet sich demnach durch traumähnliche und ›primitive‹ Stilisierungen, Rhythmen und Stimmungen aus, durch das »Aufeinanderplatzen kontrastierender Wortsphären« und »das Unausgesprochene hinter den Worten«30, die Konnotationen. Damit ähnelt das Kunsterleben hypnotischen Zuständen, die Kretschmer »Ausnahmezustände« nennt, welche »inselförmig abgegrenzt den Fluß des gewöhnlichen Seelenlebens«31 unterbrechen. Musil schreibt direkt auf Kretschmer Bezug nehmend: »Der a.Z. hat (K. Medizinische Psych.) grosse Verwandtschaft mit Traum und via Traum mit alten Bewusstseinsformen«32. Kunst und besonders Literatur sind demzufolge psychische Verdichtungen und Verschiebungen von Worten und Bildern. Dadurch werden bestimmte Relationen von Zeichen fokussiert, die sonst unsichtbar blieben.33 Diese »Zwischentöne [...], in der Dichtung der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte [...] sprengen [...] die Formelhaftigkeit des Daseins«34. Die Wirkung eines Kunstwerks wird laut Musil häufig als »Illusion« bezeichnet. Dieser Begriff ist aber nur verständlich in »Analogie zu dem [...], was die Psychiatrie unter einer Illusion versteht; also eine ›Störung‹, bei der Elemente der Wirklichkeit zu einem unwirklichen Ganzen ergänzt werden, das Wirklichkeitswert usurpiert«35. Wichtig ist das Wort ›usurpieren‹: Der ästhetische »andere Zustand« bezeichnet nicht eine andere Welt, sondern eine zeitlich begrenzte andere Wahrnehmung. Seine »Einmaligkeit und Augenblicklichkeit«36 sowie »reine Aktualität und Erregung« sind »niemals von Dauer«37. Musil zufolge ist es falsch, wenn Irritationen dieser Art »zu einem neuen Ganzen, das Abnorme zur neuen Norm«38 synthetisiert werden. Damit grenzt er sich explizit von Substantialisierungen angeblich prämodernen Sprechens und von pauschalen Abwertungen oder Verherrlichungen pathologischen oder ›primitiven‹ Denkens ab.39 Des Weiteren verfolgen sowohl moderne als auch prämoderne Kunst nicht-ästhetische soziale Ziele (c), aber auf unterschiedliche Weise: In ›primitiven‹ Kulturen wird angenommen, Dichtung beeinflusse die reale Welt auf ›mystische‹ Art in direkter Weise, wozu ihr Inhalt und ihre Form fest anein30 Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie, S. 67. 31 Ebd., S. 70. 32 Robert Musil: Tagebücher, 2 Bände, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1101f. 33 Robert Musil: AznÄ, S. 490. 34 Ebd., S. 498. 35 Ebd., S. 492. 36 Ebd., S. 503. 37 Ebd., S. 506. 38 Ebd., S. 491. 39 Robert Musil: AznÄ, S. 506.

196 | FLORIAN KAPPELER ander gebunden sein müssen.40 Auch im Kontext der europäischen Moderne soll die Dichtung Musil zufolge eine Funktion haben, die über reine Selbstreferentialität hinausgeht und auf reale Wirkungen in der Welt abzielt. So wäre es ein Irrtum, wenn man im Kunsterleben ästhetizistisch »bloß die Überraschung durch das isolierte [...] Erlebnis bemerken [würde]; die ist nur Mittel, es handelt sich auch da um die Sprengung des normalen Totalerlebnisses. Und diese ist ein Grundvermögen jeder Kunst«41. Musil spitzt dies in Literat und Literatur zur These zu: »Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis«42. Die Pointe von Musils Argumentation liegt darin, dass gerade irrationale, den ›primitiven‹ Gesellschaften und damit dem ›Anderen‹ verhaftete Mittel eine rationale, kritische Wirkung in Bezug auf die ›eigene‹ moderne Gesellschaft haben können. Die mit irrationalen poetischen Mitteln erzeugten »anderen Zustände« zielen letztlich auf eine rationale Erkenntnis und Kritik des ›Eigenen‹.43 Das erscheint nur auf den ersten Blick als paradox: Wenn die Sprachen der ›Primitiven‹, wie oben ausgeführt, Lévy-Bruhl zufolge eine genauere und anschaulichere Darstellung erreichen können als abstrakte und ›wissenschaftliche‹ Schreibweisen, dann liegt es nahe, sie für eine Darstellung und Kritik der europäischen, kapitalistischen Moderne zu gebrauchen. Insofern übernimmt Musil zwar partiell Kretschmers ästhetische Theorie, knüpft sie aber an Lévy-Bruhls doppeltes Geschichtsnarrativ, das modernen, europäischen Gesellschaften einen Mangel an schilderndem Vokabular vorwirft, und löst sie von ihren rassistischen Voraussetzungen.

Zoologie, Ethnologie und Gender Mensch. Rasse. Tier. Was bedeuten die bisherigen Ausführungen für die Kategorie Geschlecht? Meine These ist, dass besonders die Verbindung des ethnologischen und psychiatrischen Wissens mit dem zoologischen Diskurs für die Reproduktion sexistischer und rassistischer Zuschreibungen zentral ist. Genau dies ergab bereits die Analyse von Kretschmers Medizinischer Psychologie. Musil über40 Nicola Gess bezeichnet dieses Ziel ›primitiver‹ Kunst als »Herstellen« statt »Darstellen«. Vgl. Nicola Gess: »Expeditionen im Mann ohne Eigenschaften. Zum Primitivismus bei Robert Musil«, in: Alexander Honold/Norbert Christian Wolf/Rosmarie Zeller (Hg.): Robert Musil und die Fremdheit der Kultur, München 2010 (im Erscheinen). 41 Robert Musil: AznÄ, S. 496. 42 Robert Musil: LL, S. 411. 43 Robert Musil: AznÄ, S. 492.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 197 nimmt signifikanterweise genau diesen Teil von Kretschmers Konzeption in seinem Theorem des »anderen Zustands« nicht. Im Mann ohne Eigenschaften spielt zoologisches Wissen dagegen eine wichtige Rolle, hat aber eine ganz andere Funktion als bei Kretschmer: Gerade die Verbindung mit zoologischem Wissen destabilisiert hier, u.a. durch die Verwendung des Konzepts des »anderen Zustands«, androzentrische und heteronormative Zuschreibungen. Die Verbindung zoologischen und ethnologischen Wissens ist teils in der Struktur biologischen Wissens um 1900 begründet. Die Entstehung der Biologie als generelle Lebenswissenschaft im 19. Jahrhundert überschritt die Disziplinengrenzen zwischen Botanik, Zoologie und Anthropologie, womit zum Einen die Grenze von Mensch und Tier aufgelöst und zum Anderen die sexuelle Fortpflanzung zum universellen Kennzeichen des Lebendigen und damit auch des Menschen wurde.44 In diesem Zusammenhang verschwammen auch die Grenzen von Zoologie, Anthropologie und Ethnologie: Dies wird z.B. im umfangreichen (achtbändigen) zeitgenössischen Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie explizit als dessen raison d’être angegeben.45 Während die meisten Einträge dieses Handbuchs gegenüber der wissenschaftlichen Aussagekraft der Kategorie ›Rasse‹ skeptisch sind, erlangte Houston Stuart Chamberlain zur selben Zeit mit seiner Schrift Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts zweifelhaften Ruhm als einer der theoretischen Wegbereiter des modernen (und besonders des deutschen) Rassismus und Antisemitismus. Bei ihm verbindet sich eine Indifferenzierung der Unterschiede von Tieren und Menschen und eine Biologisierung des Menschen direkt mit einem rassistischen Weltbild: »Wichtiger [als die Unterscheidung von Mensch und Tier] dünkt mich die Unterscheidung von Mensch und Mensch«46. Entsprechend werden Menschen genauso in Rassen eingeteilt wie Tiere, und sie werden nicht als sozial überlegen angesehen: Ameisen sind Menschen Chamberlain zufolge geistig ebenbürtig und staatlich sogar besser organisiert, wie etwa die »Abschaffung des unheilschwangeren Geschlechtstriebes bei einem grossen Prozentsatz der Bevölkerung«47 zeige. Zugleich ge44 Wolfgang Riedel: «Homo Natura». Literarische Anthropologie um 1900, Berlin 1996, S. 158ff. 45 Gustav Jäger/Anton Reichenow/Johannes Frenzel/Paul Matschie (Hg.): Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie. Aus der Reihe Encyklopädie der Naturwissenschaften, 8 Bände, Breslau 1880-1900. 46 Houston Stuart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1915, S. 57. 47 Houston Stuart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, S. 61. Ameisen praktizieren eingeschlechtliche Fortpflanzung aus unbefruchteten Eizellen (Parthenogenese bzw. »Jungfernzeugung«). Zur Geschichte der »Politi-

198 | FLORIAN KAPPELER horchen ›Menschenrassen‹ demselben »unpersönlichen Impuls« wie Tiere; die (mögliche) Rationalität menschlicher Gesellschaften wird also nivelliert: Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber sehr homogene Masse. Neigte sich ein grosser Geist von den Sternen aus beschaulich über unsere Erde, so würde ihm sicherlich die Menschheit irgend eines Weltteiles so einförmig dünken, wie uns ein Ameisenhaufen: er würde wohl Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen unterscheiden, er würde bemerken, dass die einen hierhin, die anderen dorthin rennen, im Grossen und Ganzen aber würde er doch den Eindruck erhalten, dass sämtliche Individuen einem gemeinsamen, unpersönlichen Impuls gehorchen und gehorchen müssen.48

In Chamberlains Buch gibt es keine gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur Individuen und Massen bzw. Rassen. Erstere werden durch die Stellung innerhalb der Arbeitsteilung (»Krieger, Arbeiter, Faulenzer und Monarchen«) definiert und sind durch die »unpersönlichen Impulse« der jeweiligen Rasse bestimmt. Dies kann Chamberlain zufolge aber erst erkannt werden, wenn man einen Blick von den Sternen als Position eines Wissenssubjekts imaginiert, von der aus betrachtet Menschenrassen und Tierarten in ihrem Verhalten dann sehr ähnlich zu sein scheinen. Mit der Stellung innerhalb der Arbeitsteilung, dem unpersönlichen Impuls, der Dominanz der ›Rasse‹ und dem planetarischen Blick49 sind wesentliche Momente benannt, die auch in den Schriften des von Musil intensiv rezipierten Literaturnobelpreisträgers und Insektenforschers Maurice Maeterlinck über die Insektenstaaten der Termiten, Ameisen und Bienen eine wichtige Rolle spielen. In Maeterlincks Buch Das Leben der Ameisen werden die Insekten stark anthropomorphistisch dargestellt: »Nun kennzeichnen die Nutzviehzucht und das Halten von Parasiten, insbesondere zu Luxuszwecken [...] den Höhepunkt ihrer gegenwärtigen Zivilisation«50. Begriffe wie »Nutzviehzucht«, »Luxuszwecke«, »Zubereitung der Lebensmittel«51 oder auch »Zivilisation« vermenschlichen die Ameisen. Zugleich werden die Insekten in eine Entwicklungsgeschichte eingereiht: Entsprechend bestimmter Evolutionsgeschichten des Menschen wird ange-

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schen Zoologie« vgl. Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007. Houston Stuart Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, S. 25. Vgl. Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre, Würzburg 1994, S. 289ff. Maurice Maeterlinck: »Das Leben der Ameisen«, in: Nobelpreis für Literatur 1911/1912/1913, Bd. 12/14, Maeterlinck. Hauptmann. Tagore, Lachen am Zürichsee 1994, S. 219. Ebd., S. 260.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 199 nommen, auch die Ameise habe sich von der Jagd über das Hirtenleben (die Läusezucht der Ameisen) zum Ackerbau (ihre Pilzzucht) entwickelt.52 Wie bei Chamberlain erlaubt die Vermenschlichung der Insektenstaaten zugleich eine Biologisierung menschlicher Gesellschaften: »Auch wir gehorchen nur den Notwendigkeiten des Lebens [...], und das, was wir unsern Verstand nennen, das hat den gleichen Ursprung und den gleichen Zweck wie das, was wir bei den Tieren Instinkt nennen«53. Die Organisation menschlicher Gesellschaften folgt damit letztlich biologischen Prinzipien. Im Gegensatz zum Menschen, der moralisch abwertend als »der erste und größte Parasit der Erde«54 bezeichnet wird, erscheint der Ameisenstaat als Ideal: »Wir haben hier die Idealrepublik, wie wir Menschen sie nie kennenlernen werden, die Republik der Mütter. Obgleich sie Jungfrauen sind, empfinden sie alle kraft ihrer Berufung Mütterlichkeit tiefer und leidenschaftlicher als die eigentliche Gebärerin«55. Ideal ist für Maeterlinck nicht die Gesellschaft der Menschen, sondern die der jungfräulichen »Mütter«, d.h. der unfruchtbaren Ameisenarbeiterinnen, welche die Brutpflege der von der Königin gelegten Eier betreiben, also die vollständige Trennung von sexueller Fortpflanzung und mütterlicher Reproduktionsarbeit. Die Figur der »asketisch keusche[n] [...] geschlechtslose[n] Arbeiterin«56 kann als eugenische Imagination einer fortpflanzungsunfähigen menschlichen Arbeiter_innenklasse interpretiert werden. Die Ameise insgesamt wird als »tief mystisches Wesen« beschrieben, deren »Totem [...] der Geist des Ameisennestes«57 ist. Wenn Maeterlinck behauptet, dass »der primitive Mensch« analog zu den Ameisen noch durch »den Geist seiner Sippe«58 bestimmt gewesen sei, dann verbinden sich Zoologie und Ethnologie zu einer Konstellation, die gegenwirkende Kräfte zu einem möglichen Ende des Menschen am ehesten von dessen Anfängen her erwartet. Der Hinweis auf ein ›primitives‹ Kollektiv der Sippe als den Insektenstaaten verwandtes positives Gegenbild zur heutigen Gestalt des Menschen erinnert an faschistische Ideologien. Dazu passt, dass neben der Jungfräulichkeit die »Selbstaufopferung« die entscheidende Tugend ist, aufgrund derer die Arbeiterinnen die Idealität des Ameisenstaates verkörpern.59 52 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., S. 220. Vgl. Robert Musil: MoE, S. 303. Maurice Maeterlinck: Das Leben der Bienen, Jena 1912, S 55., S. 57. Maurice Maeterlinck: »Das Leben der Ameisen«, S. 366. Ebd., S. 229. Ebd., S. 236. Ebd., S. 373. Ebd. Bei all diesen Zuschreibungen handelt es sich nicht um eine individuelle Phantasterei des Poeten Maeterlinck: Auch in Texten anerkannter universitärer Zoologen wird die Unfruchtbarkeit und die Aufopferung ans Kollektiv als Überwin-

200 | FLORIAN KAPPELER Dieses Opfer an das zukünftige Geschlecht – »der Sieg der Rasse und der Zukunft«60 – liegt in der Aufopferung der Individuen für die Belange der biologischen Reproduktion des Kollektivs, d.h. der Art, die laut Maeterlinck im »Ameisenstaat« organisiert wird. Die ökonomische invisible hand, wie sie der Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith bereits in der Bienenfabel des Arztes und Sozialtheoretikers Bernard Mandeville finden konnte, wird bei Maeterlinck durch eine instinktive invisible hand der biologischen Reproduktion im organischen Staat ersetzt:61 Es soll nicht mehr der Versuch individueller Nutzenmaximierung durch unsichtbare Zauberhand ökonomischen Wohlstand schaffen, sondern die instinktive Aufopferung des individuellen Interesses zugunsten kollektiver Vorgaben die Reproduktion der Art sichern.

Verfremdungen des Männlichen Ganz im Gegensatz zum völkisch-rassistischen Ideal des Insektenstaates bei Maeterlinck und Chamberlain wird in Musils Roman zoologisches Wissen zur Explikation und Destabilisierung geschlechtlicher Kategorien eingesetzt, während Rassifizierungen hier kaum eine Rolle spielen.62 »Vielleicht sind wir auf dem Weg zum Ameisenstaat oder irgendeiner anderen unchristlichen Aufteilung der Leistungen«63: Diese Diagnose aktueller gesellschaftlicher Ent-

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dung angeblich natürlicher Konkurrenz und Asozialität dargestellt: »Auch scheinen die Arbeiter der Insektenstaaten mit dem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit einen Teil ihrer Individualität verloren und an ein größeres Ganzes, ihren Staat, abgegeben zu haben. Ihren Genossen gegenüber ist der sonst die Natur durchdringende Konkurrenzkampf erloschen«, Franz Doflein/Richard Hesse: Tierleben und Tierbau in ihrem Zusammenhang betrachtet, 2 Bände, Bd. 2, Leipzig/Berlin 1910, S. 759. Maurice Maeterlinck: Das Leben der Bienen, S. 46. Vgl. Eva Johach: »Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels«, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin S. 75-89 und dies.: »›Schicksalvolles Zauberbild‹. Maurice Maeterlincks Leben der Bienen zwischen Wissenschaft und Poesie«, in: Norbert Otto Eke/Eva Geulen (Hg.): Texte, Tiere, Spuren. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie (2007), S. 322-338. An einigen Stellen kritisiert Musil Maeterlincks Insektenstudien explizit, besonders die biologistische Gleichsetzung von Menschen und Insekten und das Ideal ihres (bewussten) Opfers für die Gemeinschaft, das voraussetzt, Insekten als individuelle Personen anzusehen. Vgl. Robert Musil: »Geist und Erfahrung«, in: ders.: KA, Lesetexte, Bd. 12, Essays, S. 857 (»Die aber nur das an ihm [dem Menschen] sehn, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen«) und Robert Musil: »Frühe Tagebuchhefte«, in: ders.: KA, Bd. 16, S. 133 (»Die Arbeitsbienen leben nur ein Jahr, arbeiten sich zu Tode. – So handeln keine Individuen!«). Robert Musil: MoE, S. 218.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 201 wicklungen, die der Protagonist des Romans, Ulrich, vorträgt, steht ganz explizit im Gegensatz zu völkischen Modellen des Staates: Ulrich in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden [...]. Augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung könnte vielleicht sogar gesteigert werden.64

Der Bienenstaat, dessen Darstellung hier der des Ameisenstaats sehr ähnlich ist, stellt für Ulrich kein Ideal dar, sondern weist Ähnlichkeiten mit den realen gesellschaftlichen Tendenzen der kapitalistischen Arbeitsteilung auf. Wenn bei Musil die Verbindung zoologischen und ethnologischen Wissens eine Bedeutung besitzt, dann innerhalb einer Art ›Ethnologie des Eigenen‹, deren Kritik wie Musils Konzept des »anderen Zustands« auf den Kapitalismus zielt. Der zoologische Vergleich Ulrichs malt eine Gesellschaft aus, in der ›Spezialisten‹ (bei den Bienen: Arbeiterinnen) für die materielle Produktion zuständig sind, die Drohnen für sexuelle Lust und intellektuelle Muße und die Königin für die generative Reproduktion. Diese Imagination hat weitgehende Implikationen für die (vergeschlechtlichte) Arbeitsteilung: Fortpflanzung und andere Arbeiten werden strikt getrennt und auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Geschlechter aufgeteilt. Die aktive Fortpflanzung bleibt dabei Privileg einer einzigen Instanz, aber im Gegensatz zu Maeterlinck wird nicht die Trennung von sexueller Fortpflanzung (Mutter) und Brutpflege (Arbeiterinnen) betont, sondern die von Fortpflanzung (Mutter) und sexueller Lust (Männer). Letztere ist ebenso wie die intellektuelle Tätigkeit den Männern vorbehalten. Das Modell ordnet die gesellschaftlichen Arbeiten also folgendermaßen zu: Materielle Produktion: Spezialist_innen65 – Generative Reproduktion: Königin – Intellektuelle Muße und sexuelle Lust: Männliche Drohnen. Lust, Muße und Intellekt sind explizit männlich codiert, Reproduktionsarbeit explizit weiblich.66 Die Imagination ist also mit männlich domi64 Ebd., S. 359. 65 Es gibt zumindest kein explizites Zeichen dafür, dass diese in Ulrichs Imagination per se weiblich sein und hauptsächlich Brutpflege betreiben sollen, wie es bei den Bienen gemäß zoologischem Wissen der Fall ist. 66 Es ist anzunehmen, dass Ulrich sich selbst dem ersteren Bereich zuordnet: »Er [=Ulrich] gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war«, Robert Musil: MoE, S. 358. Auf der anderen Seite wird den spezialisierten Arbeiterinnen und Arbeitern der Bereich des Intellektuellen nicht prinzipiell abgesprochen, sondern es wird in dieser Hinsicht eine weitere arbeits-

202 | FLORIAN KAPPELER nierten Geschlechterverhältnissen verbunden, die allerdings nicht als Ideal, sondern als möglicher Effekt der derzeitigen realen gesellschaftlichen Verhältnisse dargestellt werden. Ein zweites Beispiel der Verknüpfung von Zoologie und Gender im MoE weist dagegen in Richtung transformatorischer Momente geschlechtlicher Zuschreibungen. Im Zuge eines Zweifels an der aktuellen, historisch gewordenen Realität stellt Ulrich auch seine geschlechtliche Identität in Frage. In mir wenigstens lehnt sich etwas dagegen auf, daß das sogenannte reife Mannesalter der Gipfel solcher Entwicklung sein soll [...]. Wenn ich die libellenartige Myrmeleonina, die Ameisenjungfer wäre, würde mir furchtbar davor grauen, daß ich ein Jahr vorher der breite, graue, rückwärtslaufende Myrmeleon, der Ameisenlöwe war, der am Rand der Wälder eingegraben unter der Spitze eines Sandtrichters lebt und mit seiner unsichtbaren Zange Ameisen um die Taille fasst, nachdem er sie vorher durch eine geheimnisvolle Beschießung mit Sandkörnern erschöpft hat. Und zuweilen graut mir wirklich ganz ähnlich vor meiner Jugend, auch wenn ich damals eine Libelle gewesen und jetzt ein Untier sein sollte.67

Ulrich verwirft also die Idee der männlichen Identität als Produkt einer ›Entwicklung‹, die weitere geschlechtliche Veränderungen im Erwachsenenalter ausschließt. Dies veranschaulicht er mittels eines Gedankenexperiments, in dem er sich als Ameisenjungfer und als deren Larve, als Ameisenlöwe, imaginiert. Beim Ameisenlöwen (Myrmeleo) handelt es sich, wie der Zoologe Franz Doflein in seinem zeitgenössischen Buch Der Ameisenlöwe beschreibt, um eine unglaublich plumpe, dicke und hässliche Larve, die Ameisen frisst,68 wobei sie die Beute in ihrem Sandloch, in das sie fällt, umklammert. Im 8. Kapitel seines Buchs, dem Abriß der Lebensgeschichte des Ameisenlöwen thematisiert Doflein auch Geschlechterdifferenzen bei der Larve: Diese kann Mann oder Frau sein. Die »Imago«, d.h. das geschlechtsreife erwachsene Insekt nach Verpuppung und Metamorphose, – bei Doflein »Landlibelle«, heute »Ameisenjungfer« (Myrmeleonina) genannt – besitzt ganz im Gegensatz zum Ameisenlöwen eine sehr hübsche, schlanke und zarte Gestalt. Da sie Eier legt, wird sie von Doflein als Insektenmutter bezeichnet.69 teilige Differenzierung imaginiert: »Es würde für den Erfolg vielleicht darauf ankommen, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht«, ebd., S. 359. 67 Ebd., S. 290. 68 Franz Doflein: Der Ameisenlöwe. Eine biologische, tierpsychologische und reflexbiologische Untersuchung, Jena 1916, S. 48. 69 Ebd., S. 125, S. 128. Allerdings ist die Landlibelle/Ameisenjungfer nicht Gegenstand seines Buches und, wie er einräumt, auch sehr viel schlechter erforscht als ihre Larve. Dass es sich bei den »Jungfern« keineswegs nur um eier-

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 203 Im MoE steht besonders die Frage der Metamorphose im Vordergrund. Diese bezeichnet in der Zoologie eine verwandelnde Form der Entwicklung von Generation, Gestalt und Geschlecht. Ulrich imaginiert sich hypothetisch als Ameisenjungfer, die aus einer ameisenjagenden Larve hervorgegangen ist, wobei ihm vor der eigenen Vergangenheit »graut«. Daraufhin sagt er umgekehrt, es graue ihm auch davor, sollte er (wiederum hypothetisch) früher eine Ameisenjungfer gewesen sein und jetzt ein Ameisenlöwe. Dieses Tier eignet sich für das imaginäre Spiel mit geschlechtlichen Formen schon deshalb gut, weil die Larve aufgrund des Morphems »Löwe« sprachlich männlich codiert ist und die entwickelte Form weiblich, während zumindest die Larve auf dem zoologischen Stand des Wissens zur Entstehungszeit des MoE zugleich männlich und weiblich sein kann. Ulrichs männliche Identität wird durch den Ameisenlöwenvergleich imaginär aufgelöst. Es ist nicht mehr klar, welche Richtung ihre Entwicklung haben und nehmen soll, während die, die sie bisher genommen hat, auf jeden Fall falsch ist, da Ulrich in ihr entweder in der Vergangenheit oder in der Gegenwart eine gruslige Larve war, die allein ihren Reflexen folgte und Ameisen jagte. Das Bild des Mannes als Jäger bezeichnet eine sozial und sexuell aggressive und herrschaftsförmige Männlichkeit.70 Diese mit dem Myrmeleon assoziierten Formen männlich codierten Jagdverhaltens erscheinen Ulrich nun als fragwürdig, während sich als feminisierter Fluchtpunkt neuer geschlechtlicher Codierungen die hübsche »Myrmeleonina« abzeichnet. Es »gingen Veränderungen mit ihm [Ulrich] vor sich; er erweichte, seine innere Form, die immer die des Angriffs gewesen war, ließ nach und zeigte Neigung, umzuschlagen und in das Verlangen nach Zärtlichkeit, Traum, Verwandtschaft oder weiß Gott was überzugehn«71. Die Kritik der »Härte« bestimmter sozialer Verhältnisse wird geschlechtlich codiert und mit der Kritik der ›männlichen‹ Härte und Angriffslust verbunden. Solche imaginativen Transformationen männlicher Subjektivität Ulrichs, die sich besonders gegen Ende des 1. Buches und im 2. Buch des MoE häufen, hängen wiederum mit legende »Mütter« handelt, ist erst seit 1991 wirklich belegt, da eine Paarung von Ameisenjungfern, die in der Dunkelheit stattfindet und unter Laborbedingungen unterbleibt, vorher nicht von Menschen beobachtet werden konnte. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ameisenjungfern (Stand: 30.5.2010). Entsprechend spielt sie in der Kultur- und Literaturgeschichte ganz im Gegensatz zu ihrer Larve, die in Literatur (etwa bei Wilhelm von Kügelgen, Rudolf Schleemüller, Mark Twain, Edgar Allan Poe), Film (Star Wars VI – Die Rückkehr der JediRitter, Enemy Mine) sowie Video- und Computerspielen (Half-Life 2, Final Fantasy, Space Adventure Cobra, Pokémon) eine verbreitete Figur ist, kaum eine Rolle. 70 Vgl. Robert Musil: MoE, S. 42. 71 Ebd., S. 566f.

204 | FLORIAN KAPPELER Musils Konzept des »anderen Zustands« zusammen: Die neuen Zustände von Ulrich implizieren neben »Zärtlichkeit« mit »Traum« und »Verwandtschaft« Elemente, die auch für Lévy-Bruhls Begriff der alogischen »Partizipation« und Musils davon inspiriertes Konzept des »anderen Zustandes« konstitutiv sind. Diese Momente einer Transformation dominanter hegemonialer Männlichkeit, bei dem neben zoologischem ethnologisches Wissen eine wichtige Rolle spielt, verbinden sich im 2. Buch des MoE, dessen 1. Kapitel bereits die Kapitelüberschrift Die vergessene Schwester trägt, mit dem Komplex von Erinnerung und Gedächtnis.72 Das ist kein Zufall: Lévy-Bruhl und im Anschluss an ihn der Psychologe Erich Rudolf Jaensch schreiben ›Primitiven‹ ein hervorragendes, »photographisches« Gedächtnis zu.73 Im Gegensatz zu modernen schriftbasierten Wissenskulturen sind Lévy-Bruhl zufolge elaborierte Mnemotechniken für die oft schriftlosen ›primitiven‹ Gesellschaften und ihre »primitiven Sprachen« konstitutiv.74 Über Ulrich wird gesagt: »Er besaß sonst weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut; es hatte darum etwas ganz Ungewöhnliches an sich, daß plötzlich ganze Satzgruppen in seiner Erinnerung vor ihm standen, und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe«75. Während Ulrich sich zuvor – und darin der Rationalität moderner, europäischer Gesellschaften verbunden – Einzelheiten oder Wortlaute nicht merken konnte, verleiht ihm nun die »Nähe« seiner Schwester Agathe ein photographisches Gedächtnis im Sinne Lévy-Bruhls und Jaenschs, das es ihm erlaubt, sich an reine Schriftzeichen oder Laute und nicht an deren semantischen oder pragmatischen Sinn zu erinnern. Diese von der Schwester auf Ul-

72 Ebd., S. 671. 73 Der Experimentalpsychologe Erich Rudolf Jaensch, den Musil in seinem Aufsatz Aus der Begabungs- und Vererbungsforschung zitiert (vgl. Robert Musil: »Aus der Begabungs- und Vererbungsforschung«, in: ders.: KA, Lesetexte, Bd. 10, Wissenschaftliche Veröffentlichungen), referiert auf Lévy-Bruhls Buch Das Denken der Naturvölker. Jaensch beschäftigt sich dabei mit Wahrnehmungen, die keine Entsprechung in der Realität haben, ohne mit Halluzinationen gleichzusetzen zu sein, und die er sowohl bei Jugendlichen als auch bei den ›Primitiven‹ zu beobachten meint. Als Beispiel nennt er deren »eidetisches«, d.h. fotografisches Gedächtnis. Dass in der Beziehung Ulrichs und Agathes Imaginationen der Kindheit eine entscheidende Rolle spielen, entspricht Jaenschs These einer Gemeinsamkeit partizipativen Verhaltens in »primitiven« Kulturen und im jugendlichen Alter. Vgl. Erich Rudolf Jaensch: »Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis«, in: Zeitschrift für Psychologie, Bd. 91, Heft 1 und 2 (1923), S. 83-87, S. 88-144. 74 Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 31, S. 46, S. 87. 75 Robert Musil: MoE, S. 702.

DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 205 rich übertragene Fähigkeit76 rückt diesen in die Nähe prämodernen Denkens und ›primitiver‹ Sprachen. Die Kindheitserinnerungen Ulrichs werden mit Tiervergleichen verbunden, welche eines jener irrationalen Elemente darstellen, die Musils Kritik des ›Eigenen‹ poetisch induzieren: Zu jener Zeit waren in der Stadt Ankündigungen eines Zirkus angeschlagen gewesen, worauf nicht nur Pferde, sondern auch Löwen, Tiger ebenso wie große, prächtige, in Freundschaft mit ihnen lebende Hunde vorkamen [...], als es ihm gelang, sich eines dieser bunten Papiere zu verschaffen und die Tiere auszuschneiden, denen er nun mit kleinen Holzständern Steife und Halt gab. Was sich sodann begab, läßt sich nur mit einem Trinken vergleichen, das den Durst nicht zu Ende löscht [...] und war ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe, die zu besitzen er [...] jetzt ebenso stark vermeinte, wenn er sie ansah, wie er fühlte, daß daran etwas Letztes fehlte [...], wovon dann gerade das Verlangen das maßlos durch den Körper strahlende erhielt.77

Ulrichs Begehren gilt hier der bildlichen Präsentation zahmer Raubtiere, die friedlich mit Hunden zusammenleben. Die Abbildung gezähmter Tiere begründet den Wunsch nach einem Gender-Crossing, »so daß er sich plötzlich bei ihrem [Agathes] Anblick [...] ganz in der gleichen unsagbaren Weise wie nach den Tieren auf den Ankündigungen des Zirkus danach sehnte, ein Mädchen zu sein«78. Der Anblick der Schwester evoziert ein Begehren nach einem Geschlechtswechsel, das mit dem durch die Bilder der zahmen Tiere ausgelösten Verlangen analogisiert wird. Es kommt im Zuge der Begegnung Agathes und Ulrichs zu einer Umcodierung, die zugleich Gegenstände zoologischen Wissens und Geschlechtercodierungen betrifft. Tiere erscheinen hier nicht als kategorisierte Wissensobjekte, sondern als Stützpunkte feminisierender Transgressionen hegemonial männlicher Geschlechterzuschreibungen. Ulrich fasst diese Veränderung seiner geschlechtlichen Position im 2. Buch zusammen, wenn er über sich selbst sagt, er sei »ein Krieger aus dem Harnisch geschnallt«, der »seinen Leib so müd und zart werden [sieht], daß ihn die Vögel davontragen könnten«79. Diese Vögel sind nicht Angehörige zoologisch, psychiatrisch oder ethnologisch klassifizierter Arten wie die in der Psychiatrie internierten Menschen im 33. Kapitel des 2. Buches des MoE, 76 Auch diese Übertragung stellt eine »Partizipation« dar, die Lévy-Bruhl auch als »Mitteilung von Eigenschaften durch Übertragung, Berührung, Fernwirkung, Ansteckung, Beschmutzung, Besessenheit« beschreibt. Vgl. Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, S. 77f., S. 58. 77 Robert Musil: MoE, S. 689, vgl. S. 891. 78 Robert Musil: MoE, S. 690. 79 Ebd., S. 941. Vgl. zur subjektivitätstranszendierenden Funktion von Tieren auch ebd., S. 802.

206 | FLORIAN KAPPELER sondern Elemente einer Überschreitung geschlechtlicher Zuschreibungen. Sie werden nicht in Käfige gesperrt und wissenschaftlich kategorisiert, sondern sprengen geschlechtliche Kategorisierungen, indem sie das männliche Subjekt, nun seines Panzers ledig, auf eine imaginäre Reise entführen. Solche imaginären, irrationalen, mit dem Diskurs der ›primitiven‹ Gesellschaften und des ›Anderen‹ verknüpften Darstellungsmittel wie die Tiervergleiche inaugurieren bei Musil eine Kritik des ›Eigenen‹, so etwa innerhalb der europäischen Moderne hegemonialer Formen der Männlichkeit. Die Recodierung ethnologisch-psychiatrisch-zoologischen Wissens verwendet, so das Ergebnis der Analysen dieser Konfiguration, Momente von Kretschmers evolutionistischer ästhetischer Theorie für die Konzeption der Kategorie des »anderen Zustands«, löst sie aber von ihren rassistischen Voraussetzungen und knüpft sie an Lévy-Bruhls Geschichtsnarrativ, das modernen, europäischen Gesellschaften einen Mangel an schilderndem Vokabular vorwirft. Auf ähnliche Weise garantiert die Verbindung ethnologischen und psychiatrischen Wissens mit dem zoologischen Diskurs bei Musil weniger eine Reproduktion sexistischer und rassistischer Zuschreibungen, sondern ermöglicht eine Explikation und Destabilisierung geschlechtlicher Kategorien. Die diskutierten Essays Musils und der MoE schreiben sich zwar wie Kretschmer, Chamberlain oder Maeterlinck in die interdiskursive Konstellation von Ethnologie, Psychiatrie und Zoologie ein, verfolgen aber ganz andere Ziele als diese: Nicht die rassistische und sexistische Codierung des Wissens, sondern seine Verwendung zur Kritik solcher Codierungen.

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DAS FREMDE GESCHLECHT DER IRREN UND DER TIERE | 207 Rosemarie Zeller (Hg.): Robert Musil und die Fremdheit der Kultur, München 2010 (im Erscheinen). Haraway, Donna: »Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 73-97. Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan_Meets _OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997. Heiden, Anne von der/Vogl, Joseph (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007. Hoffmann, Christoph: Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942, München 1997. Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, München 1995. Jäger, Gustav/Reichenow, Anton/Frenzel, Johannes/Matschie, Paul (Hg.): Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie. Aus der Reihe Encyklopädie der Naturwissenschaften, 8 Bände, Breslau 18801900. Joch, Markus: »Deutsche Anti-Evolutionisten? Konzeptionen der Kulturkreislehre um 1900«, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, 2., überarbeitete Auflage, Bern 2003, S. 77-96. Johach, Eva: »Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels«, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich/Berlin 2007, S. 75-89. Johach, Eva: »›Schicksalvolles Zauberbild‹. Maurice Maeterlincks Leben der Bienen zwischen Wissenschaft und Poesie«, in: Norbert Otto Eke/Eva Geulen (Hg.): Texte, Tiere, Spuren. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 322-338. Kappeler, Florian: »Die Ordnung des Wissens. Was leistet Michel Foucaults Diskursanalyse für eine kritische Gesellschaftstheorie?«, in: Prokla. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Nr. 151 (2008), S. 255-270. Kretschmer, Ernst: Medizinische Psychologie: ein Leitfaden für Studium und Praxis, Stuttgart 1922. Kümmel, Albert: Das MoE-Programm: eine Studie über geistige Organisation, München 2001. Lévy-Bruhl, Lucien: Das Denken der Naturvölker, 2. Auflage, Wien/Leipzig 1926. Maeterlinck, Maurice: »Das Leben der Ameisen«, in: Nobelpreis für Literatur 1911/1912/1913, Bd. 12/14, Maeterlinck. Hauptmann. Tagore, Lachen am Zürichsee 1994. Maeterlinck, Maurice: Das Leben der Bienen, Jena 1912.

208 | FLORIAN KAPPELER Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, I. 1. und 2. Buch, Hamburg 2001. Musil, Robert: Tagebücher. 2 Bände, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983. Musil, Robert: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino, (DVD-Version) Klagenfurt 2009. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002. Riedel, Wolfgang: «Homo Natura». Literarische Anthropologie um 1900, Berlin 1996. Schraml, Wolfgang: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der 20er Jahre, Würzburg 1994. Vogl, Joseph: »Robuste und idiosynkratische Theorie«, in: Kulturpoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft. Nr. 7/2 (2007), S. 249-258. Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Mensch- und Tierseele [1863/1864], 4., umgearbeitete Auflage, Hamburg [u.a.] 1906.

Au t o r _ i n n e n

Helen Follert (geb. 1980 in Köln) lebt und arbeitet in Frechen (D) und Genf (CH). 2000-2004 studierte sie Kunstpädagogik an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein Halle/Saale und an der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg. 2006 Diplôme d’art visuel, Ecole supérieure des beaux-arts Genève, 2008 Diploma of Advanced Studies, Ceramics and polymers, Haute école d’art et de design Genève, seit 2009 Stipendiatin des Atelier genevois de gravure. Diverse Ausstellungen in der Schweiz und in Deutschland.Thema der künstlerischen Arbeit ist die Spur der leiblichen Präsenz. Ephemere Erscheinungen, Bewegungslinien und Einschreibungen von Licht bleiben zurück als graphische und rhythmische Formen. Kontakt: www.helenfollert.de Katja Geiger ist Assistentin in Ausbildung am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Wissensgeschichte, Geschlechtergeschichte, Medizingeschichte, erste Hälfte 20. Jahrhundert. Der Titel ihres Dissertationsprojekts lautet: »›Der objektive Befund‹ – Gerichtliche Medizin und das Verbrechen Kindsmord zwischen Naturwissenschaft, Recht und Gesellschaft in Wien 1900-1930«. Zuletzt erschienen: »Die Spur des Verbrechens – Verschriftlichung von Beweisen in der Gerichtlichen Medizin«, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 5 (2009) »Spuren«, S. 121-139. Irina Gradinari (Dr. phil.) ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Germanistik (Neuere deutsche Literaturwissenschaft) und der Slavistik der Universität Trier tätig. Ihre Forschungsinteressen liegen bei deutsch-russischen Komparatistikstudien, Gender, Queer und Postcolonial Studies, Psychoanalyse, Memoria-Theorien, Gegenwartskino und russischem Postmodernismus. Zuletzt erschienen: Geschlechter-Szenen. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater, Freiburg 2010 (zusammen mit Franziska Bergmann und Antonia Eder). Eva Johach (Dr. phil.) ist derzeit Forschungsstipendiatin der DFG an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich mit einem Forschungsprojekt zur Wissensgeschichte von Insektengesellschaften. Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte, Kultur- und Mediengeschichte, Krankheitstheorien und Sozialpathologien, moderne Esoterik. Veröffentlichungen u.a.: Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i.Br. 2008; Das

210 | DAS GESCHLECHT DER ANDEREN Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009 (zusammen mit Christina von Braun und Dorothea Dornhof); ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 2 (2010), »Mimesen« (zusammen mit Jasmin Mersmann und Evke Rulffes). Florian Kappeler ist ab Mai 2011 wissenschaftlicher Koordinator des Graduiertenkollegs am Zentrum für Geschichte des Wissens (Zürich) und Lehrbeauftragter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Z.Z. Abschluss des Promotionsprojekts »Situierungen der Geschlechter. Psychiatrie, Sozioökonomie, Anthropologie und Statistik in Robert Musils Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹«. Zuletzt erschienen: »Die Organisation des Möglichen. Poetologien kapitalistischen Organisationswissens bei Robert Musil«, in: Karin Harrasser/Roland Innerhofer/Katja Rothe (Hg.): Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse, Bielefeld 2011, S. 49-72; »Jenseits von Mensch und Tier. Science, Fiction und Gender in Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft Nr. 4 (1/2011) (mit Sophia Könemann). Sophia Könemann ist Mitglied des PhD-Netzwerks »Das Wissen der Literatur« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 Arbeit am Promotionsprojekt »Vita sexualis. Poetiken des Biographischen in Literatur und Psychiatrie um 1900«. Wissenschaftliche Hilfskraft in der DFG-Forschergruppe »Kulturen des Wahnsinns (1870-1930). Schwellenphänomene der urbanen Moderne« am Institut für Geschichte der Medizin der Charité Berlin. Zuletzt erschienen: »›Einunddreißig Zöpfe? Wahnsinnstaten‹. Ein Haarfetischist im öffentlichen Diskurs«, in: Volker Hess/Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.): Am Rande des Wahnsinns, erscheint 2011 (mit Benjamin Marcus); »Jenseits von Mensch und Tier. Science, Fiction und Gender in Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft Nr. 4 (1/2011) (mit Florian Kappeler). Katrin Köppert ist seit SS 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFGForschungsprojekt »Medienamateure in der homosexuellen Kultur« am Lehrstuhl Mediengeschichte der Universität Siegen. Ihr Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Medien-Techniken des Begehrens in Amateur-BlickKulturen. Assoziation an das Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Queer Theory, Postcolonial Theory, Interdependenzanalyse, Visuelle Kultur und Kulturen des Populären. Zuletzt erschienen: »Alle waren sportlich, jugendlich und jungenhaft.« Fotografische Selbstzeugnisse jungen- und jugendbewegter Medienamateure, in:

AUTOR_INNEN | 211 Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 7 (2011); »Queeruptionen im neuen? Feminismus Ǧ zur Enthierarchisierung von Differenzen«, in: Ilse Nagelschmidt/Kristin Wojke/Britta Borrego (Hg.): Interdisziplinäres Kolloqium zur Geschlechterforschung. Die Beiträge, Frankfurt a.M. 2010, S.117-128 (mit Francesca Schmidt). Christina Schramm promoviert derzeit im transdisziplinären Promotionsstudiengang »Estudios de la Sociedad y la Cultura« an der Universidad de Costa Rica in San José zu Subjektivitäten und sozialen Vorstellungsbildern schwarzer und indigener Frauen in Costa Rica. Arbeitsschwerpunkte: Feministische Theorien, Queer Theory, Postkoloniale Studien / Estudios de la colonialidad, Lateinamerikanische Kulturwissenschaften.Zuletzt erschienen: »Subjetividades, representaciones e imaginarios. Aportes teóricos para el estudio de una cultura polifónica y polilógica«, in: Istmo 18 (2009), in: http://collaborations. denison.edu/istmo/proyectos/schramm.html; »Das Handhaben von Paradoxien in Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus von Antke Engel«, in FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 49 (2010), S. 91-93. Anne Stähr schrieb ihre Dissertation im Fachbereich Neue deutsche Literatur zum Thema »Ironische Inszenierung der Geschlechter in Heinrich Heines Lutezia (1840-1844/1854)« und wird die Promotion im April 2011 abschließen. Sie war assoziierte Kollegiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« sowie zuletzt Mitglied im »Kollegium jüdische Studien«, beides an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen: »›Seine Nerven werden krankhaft überreitzt.‹ Zum Diskurs über den effeminierten Juden in Heinrich Heines Lutezia«, in: Heine-Jahrbuch 2010 (49), hg. v. Sabine Brenner-Wilczek, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf 2010, S. 50-62. Anna Straube studiert Gender Studies, Philosophie und Europäische Ethnologie (Magister) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Freischaffende Autorin und Filmemacherin unter dem Namen Anna Zett. Themen und Forschungsinteressen: Tiermetaphern, Zoologie der kolonialen Moderne, Dinosaurierfilme, Queer Theory, Utopie im 21. Jh., Filmgeschichte. Zuletzt erschienen: »Tiere sind vor allem etwas Utopisches«, Text zur Ausstellung »Animamamomoderne« organisiert zusammen mit Hanna Bergfors, Kottishop Berlin (2011); »Tiermotiv«, 15min, HD-Video, mit Hanna Bergfors (2011); Vortrag »Undeutliche Tiere und Queeres Begehren im Neuen Argentinischen Kino«, auf dem Theaterfestival »Grenzgänger_innen: Frauen/Bilder der Amerikas in Bewegung«, Haus der Kulturen der Welt Berlin (2010).

212 | DAS GESCHLECHT DER ANDEREN Ulrike Wohler (Dr. phil.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover, freiberufliche Beraterin, Trainerin, Dozentin, Referentin, Mediatorin und Tänzerin. – Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Gender Studies, Queer Studies, Performance Studies und Soziologische Theorie. Zuletzt erschienen: Weiblicher Exhibitionismus. Das postmoderne Frauenbild in Kunst und Alltagskultur, Bielefeld 2009; »Tanz zwischen Avantgarde und Moderne – Anita Berber und Mary Wigman«, in: Lutz Hieber/Stephan Moebius (Hg.): Avantgarden und Politik, Bielefeld 2009, S. 67-88. Kontakt: www.ulrike-wohler.de.

GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht 2009, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1145-8

Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken September 2011, ca. 450 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8

Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (2., unveränderte Auflage 2010) 2009, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.) Scham und Schuld Geschlechter(sub)texte der Shoah 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1245-5

Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.) Nationalsozialismus und Geschlecht Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945 2009, 456 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-854-4

Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.) Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900. Festschrift für Christina von Braun Mai 2011, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1572-2

Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften 2010, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0

Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3

Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht

Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie 2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-733-2

Jana Husmann Schwarz-Weiß-Symbolik Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie 2010, 410 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1349-0

Ulrike Klöppel XX0XY ungelöst Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität 2010, 698 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1343-8

Katarzyna Leszczynska Hexen und Germanen Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung 2009, 396 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1169-4

2007, 270 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-713-4

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