Das Geschlecht der Depression: »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« in der Konzeptualisierung depressiver Störungen [1. Aufl.] 9783839417539

Depressionsdiagnosen nehmen weltweit zu. Das Bild der Depression ist dabei statistisch und ikonographisch das einer Frau

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Das Geschlecht der Depression: »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« in der Konzeptualisierung depressiver Störungen [1. Aufl.]
 9783839417539

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einführung: Depression & Geschlecht
1. Depression als »Volkskrankheit«
2. Frauen – Das depressive Geschlecht?
3. Geschlecht als Wissenskategorie
4. Fragestellung und Aufbau der Arbeit
4.1 Zur inter- und transdisziplinären Methode
4.2 Modell des Forschungsdesigns
A Expressivität & Instrumentalität. Psychologische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht
1. Einführung in Kapitel A
2. Klinische Definition depressiver Störungen
2.1 Häufigkeit und Chronifizierung
2.2 Diagnose und Symptome
3. Psychologische Studien zu Depression und Geschlecht
3.1 Frauen und Depression
3.2 Männer und Depression
4. Depression und Geschlecht: Psychologische Konzeptualisierungen
B Gleichheit & Differenz. Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht
1. Einführung in Kapitel B
2. Psychoanalytische Modelle der Depression
2.1 Trauer und Melancholie
2.2 Bezogenheit und Selbstkritik
2.3 Ein integratives Modell der Depression
2.4 Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression
3. Psychoanalytische Modelle der Geschlechtsidentität
3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität nach Freud
3.2 Revisionen
3.3 Unbewusste Phantasien
3.4 Geschlecht, Verlust und Depression
4. Depression und Geschlecht: Psychoanalytische Konzeptualisierungen
C Verweigerung & Selbstermächtigung. Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht
1. Einführung in Kapitel C
2. Depression als »weibliche« Verweigerungsstrategie
2.1 Weiblichkeit und Mutterschaft
2.2 Transgenerative Weitergabe
2.3 Frauen in der Antidepressivawerbung
3. Depression als »männliche« Ermächtigungsstrategie
3.1 »Unmännliche Männlichkeit«
3.2 Exkurs in die Melancholiegeschichte
4. Depression und Geschlecht: Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen
D Diskussion & Ausblick. Eine interdisziplinäre Konzeptualisierung von Depression und Geschlecht
1. Das Geschlecht der Depression
2. Diskussion und Resümee der Kapitel
2.1 »Weibliche« und »männliche« Depression
2.2 Geschlecht, Verlust und Depression
2.3 »Männliche« Melancholie und »weibliche« Depression
3. Fazit und Ausblick: Eine geschlechts-sensitive Theorie der Depression
Literatur
Abbildungen

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Nadine Teuber Das Geschlecht der Depression

Nadine Teuber (Dr.phil.) ist Psychologin und in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV). Sie hat im DFG-Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Psychoanalyse und Geschlecht, Depression und Schmerz sowie Trauma- und Antisemitismusforschung.

Nadine Teuber

Das Geschlecht der Depression »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« in der Konzeptualisierung depressiver Störungen

Die Publikationskosten wurden gefördert durch die Gerda-WeilerStiftung für feministische Frauenforschung D-53894 Mechernich, www.gerda-weiler-stiftung.de Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin, 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Dirk Krecker (2004). Ohne Titel. © VG BildKunst, Bonn 2011 Lektorat & Satz: Nadine Teuber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1753-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7 Einführung: Depression & Geschlecht | 9

1. 2. 3. 4.

Depression als »Volkskrankheit« | 9 Frauen – Das depressive Geschlecht? | 13 Geschlecht als Wissenskategorie | 16 Fragestellung und Aufbau der Arbeit | 19 4.1 Zur inter- und transdisziplinären Methode | 22 4.2 Modell des Forschungsdesigns | 26

A Expressivität & Instrumentalität Psychologische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht | 29

1. Einführung in Kapitel A | 29 2. Klinische Definition depressiver Störungen | 30 2.1 Häufigkeit und Chronifizierung | 30 2.2 Diagnose und Symptome | 32 3. Psychologische Studien zu Depression und Geschlecht | 37 3.1 Frauen und Depression | 38 3.2 Männer und Depression | 81 4. Depression und Geschlecht: Psychologische Konzeptualisierungen | 101 B Gleichheit & Differenz Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht | 107

1. Einführung in Kapitel B | 107 2. Psychoanalytische Modelle der Depression | 110 2.1 Trauer und Melancholie | 111 2.2 Bezogenheit und Selbstkritik | 119 2.3 Ein integratives Modell der Depression | 138 2.4 Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression | 144

3. Psychoanalytische Modelle der Geschlechtsidentität | 147 3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität nach Freud | 148 3.2 Revisionen | 153 3.3 Unbewusste Phantasien | 162 3.4 Geschlecht, Verlust und Depression | 171 4. Depression und Geschlecht: Psychoanalytische Konzeptualisierungen | 200 C Verweigerung & Selbstermächtigung Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht | 213

1. Einführung in Kapitel C | 213 2. Depression als »weibliche« Verweigerungsstrategie | 214 2.1 Weiblichkeit und Mutterschaft | 217 2.2 Transgenerative Weitergabe | 224 2.3 Frauen in der Antidepressivawerbung | 227 3. Depression als »männliche« Ermächtigungsstrategie | 244 3.1 »Unmännliche Männlichkeit« | 246 3.2 Exkurs in die Melancholiegeschichte | 251 4. Depression und Geschlecht: Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen | 270 D Diskussion & Ausblick Eine interdisziplinäre Konzeptualisierung von Depression und Geschlecht | 273

1. Das Geschlecht der Depression | 273 2. Diskussion und Resümee der Kapitel | 276 2.1 »Weibliche« und »männliche« Depression | 276 2.2 Geschlecht, Verlust und Depression | 278 2.3 »Männliche« Melancholie und »weibliche« Depression | 283 3. Fazit und Ausblick: Eine geschlechts-sensitive Theorie der Depression | 287 Literatur | 293 Abbildungen | 321

Dank

Ohne die Unterstützung Anderer wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Für die Betreuung der Promotion möchte ich meinen Professorinnen Christina von Braun vom Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und Marianne Leuzinger-Bohleber, Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts (SFI) in Frankfurt am Main, danken. Ihre Offenheit für interdisziplinäre Fragestellungen hat mein Forschungsvorhaben möglich gemacht. Das Research Advisory Board für Conceptual Research der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) hat mit zwei Stipendien meine Mitarbeit in der Vorstudie der LAC Depressionsstudie des SFI gefördert und die Erarbeitung des Exposés ermöglicht. Die finanzielle Unterstützung der Arbeit verdanke ich einem Promotionsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Gerda-Weiler-Stiftung für feministische Forschung danke ich für die Übernahme eines großen Teils der Publikationskosten. Besonderer Dank gilt den Patientinnen und Patienten der SFIVorstudie, die bereit waren, mit mir über ihre Erfahrungen mit oftmals langwierigen und quälenden Depressionen zu sprechen und mir einen Einblick in ihr Erleben und ihren Umgang mit der Krankheit ermöglicht haben. Thomas Pollak verdanke ich meine eigene psychoanalytische Auseinandersetzung mit Weiblichkeit und Depression. Dieses »triangulierende« Verständnis bildet einen Subtext des Buches, von dem ich zu Beginn des Vorhabens noch nichts wusste.

8 | DAS G ESCHLECHT DER DEPRESSION

Christina von Braun und Volker Hess, den assoziierten WissenschaftlerInnen, insbesondere Dorothea Dornhof und Inge Stephan, sowie den Kollegiaten und Kollegiatinnen des Graduiertenkollegs danke ich für viele wertvolle Ideen und produktiven Austausch. Für Anregungen und Kommentare meines Forschungsvorhabens danke ich auch den TeilnehmerInnen des IPA Research Training Programms 2005 in London. Bini Adamczak verdanke ich motivierende, geduldige und kontinuierliche Anregungen durch viele Diskussionen und ausführliche Korrekturen meiner Arbeit vom ersten Exposé bis zur Drucklegung. Juliane Karakayali hat Teile meiner Arbeit Korrektur gelesen und war mit Serhat Karakayali ein zu Hause in Berlin. Alexa Negele und Lars Aulbach gaben mir Anregungen in der Fertigstellung der Arbeit. Für Motivation und Unterstützung in der Zeit des Forschens und Schreibens danke ich Mériem Diouani und Kurt Grünberg. Ilka Quindeau verdanke ich Rat und Anregungen in der Vorbereitung der Promotionsverteidigung. Christine Jüchter vom transcript Verlag danke ich für die freundliche Zusammenarbeit. Dirk Krecker danke ich für das Titelbild. Il-Tschung Lim danke ich − neben ungezählten Stilfragen, Korrekturen, Kritik und vielem mehr − für die geteilte Zeit mit unseren Kindern Nabi und Juno und den Promotionen. Schließlich danke ich Elke und Bernd Teuber, meinen Eltern, für Unterstützung, Kommas und Kinderbetreuung. Ihnen ist das Buch gewidmet.

Einführung: Depression & Geschlecht

1. D EPRESSION

ALS

»V OLKSKRANKHEIT « We are henceforth living in a world where good old tiredness no longer exists: it’s the blues, depression, darling, where are you? Quick, my antidepressor! Jaques-Alain Miller (2008)

Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkrankt einmal im Leben an einer Depression (WHO 2005). Derzeit gelten in der BRD vier Millionen Personen als akut depressiv, weltweit sind es bis zu 121 Millionen Menschen (WHO 2005). Die Verordnungen von Antidepressiva haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt und die WHO schätzt, dass die Depression im Jahre 2020 weltweit die häufigste Krankheit nach der koronaren Herzkrankheit sein wird (WHO 2005). Depressive Störungen sind schon heute die häufigste psychische Diagnose in westlichen Ländern (Leuzinger-Bohleber 2005a). Personen, die nach 1970 geboren sind, haben heute ein zehnmal größeres Risiko als depressiv diagnostiziert zu werden als ihre Großeltern (Rosenhan & Seligman 1995). Zudem stellen depressive Symptome die häufigsten psychischen Beschwerden beim Hausarzt dar. In Deutschland sterben jährlich rund 11.000 Personen in Folge eines Suizids; 90 Prozent dieser Suizide stehen in Verbindung mit psychischen Störungen – in der Mehrzahl mit Depressionen (Nationaler Ethikrat 2007). Drei bis

10 | DAS G ESCHLECHT DER DEPRESSION

vier Prozent der depressiven PatientInnen versterben noch heute – trotz moderner Behandlungsmethoden an Suizid (Wolfersdorf 2008). Neben dem Zuwachs von Depressionen in klinischen und psychiatrischen Statistiken nimmt auch in der Wahrnehmung der Allgemeinbevölkerung die Bedeutung der Depression zu. Im gesellschaftlichen Diskurs ist sie zur »Volkskrankheit« geworden (Leuzinger-Bohleber 2005a). Der Depressionsforscher Martin Seligmann sprach bereits 1975 von der Depression als »common cold« der Psychiatrie. Die Metaphorisierung der Depression als Grippe verweist auf verschiedene Bedeutungen. Einerseits verdeutlicht sie, dass Depressionen in ihrer wahrgenommenen Verbreitung im gesellschaftlichen Alltag angekommen sind, andererseits liegt in der Metapher des grippalen Infektes auch die Hoffnung, dass die Depression so einfach zu kurieren sein könnte, wie eine Erkältungskrankheit. Dem Vergleich mit einer Infektionskrankheit liegt möglicherweise aber auch die (unbewusste) Annahme zugrunde, dass es sich bei Depressionen – ähnlich einer Erkältungswelle – um eine ansteckende Krankheit handeln könnte. Der Lacanianische Psychoanalytiker Jaques-Alain Miller (2008) bemerkt, dass Depression im gesellschaftlichen Diskurs als die Krankheit der Moderne schlechthin wie eine Pandemie verhandelt wird: »Depression is a pandemic, and it is as such, in fact, that the World Health Organization presents it, without quite being aware of it perhaps.« (Miller 2008:1). Miller (2008) vergleicht die Leidenschaft mit der weltweit im gesellschaftlichen Diskurs über Depression diskutiert werde mit globalen Debatten über AIDS oder die Vogelgrippe. Der Depressive von heute leide an einer »diskursiven Pathologie«. Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wird die Depression in einem Leitartikel von 2008 als »Krebs der Seele« bezeichnet (FAS 2008), ein Bild, das ebenso wie die Metapher des »common cold« die gestiegene Präsenz und Aufmerksamkeit in der Bevölkerung ausdrückt. Die Metapher vom Seelenkrebs spiegelt jedoch vor allem die Zerstörungskraft der Depression wieder – ein Krebs der Seele ist gefährlich und potentiell tödlich. Während der medizinisch-psychiatrische Diskurs die klinisch-individuelle Depressionssymptomatik in den Blick nimmt, diskutieren diese Aufsätze vor allem eine gesellschaftlich-diskursive Stimmung. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und der zunehmenden Entwicklung depressiver Störungen ist auch Thema

E INFÜHRUNG

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der Arbeiten des Soziologen Alain Ehrenberg und der Psychoanalytikerin Élisabeth Roudinesco. Beide attestieren der Gesellschaft der Gegenwart einen depressiven Zeitgeist (Ehrenberg 1998, Roudinesco 2002). Sie sehen in der »depressiven Gesellschaft« eine Abwendung des Subjekts von ehemals neurotischen Konflikten mit strengen, moralischen Über-Ich-Ansprüchen. Die modernen Subjekte sind nicht mehr, wie in Freuds Zeiten, von Konflikten zwischen Triebbedürfnissen und versagenden gesellschaftlichen Normen geplagt. Ihre Depression ist Ausdruck einer Überforderung von Selbstansprüchen der Eigenverantwortung, des autonomen Funktionierens und der ständigen Selbstoptimierung (Busch 2005). Ehrenberg (1998) vergleicht die Depression mit einer Erschöpfung des Subjekts, einem erschöpften Selbst, das müde und handlungsunfähig geworden ist, modernen kapitalistischen Ansprüchen der Eigenverantwortung, Individualität und Selbstverwirklichung gerecht zu werden. Die Depressiven von heute sind müde, sie selbst sein zu müssen. Die Müdigkeit wiederum steht in Widerspruch zum neoliberalen Subjektanspruch und wird so zur behandlungsbedürftigen depressiven Krankheit, der mit Antidepressiva zu begegnen ist. Auch Marianne Leuzinger-Bohleber (2005a) geht auf Grundlage klinischer Prognosen der WHO und aktueller Studien zur auffallend häufigen Verbreitung der Depression weltweit davon aus, dass die depressive Störung eine der häufigsten »Volkskrankheiten« des 21. Jahrhunderts darstellt. Depressionen verursachen für betroffene Personen und ihr soziales Umfeld große Belastungen. So bestehen die negativen Auswirkungen depressiver Episoden oftmals noch nach Jahren und erhöhen auch das Risiko von Kindern depressiv erkrankter Eltern später im Leben selbst an Depressionen zu erkranken. Schließlich verursachen depressive Störungen aufgrund krankheitsbedingter Fehltage und einer gehäuften Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen enorme Kosten im Gesundheitssystem (Leuzinger-Bohleber 2005a). Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob Depressionen tatsächlich gesellschaftlich zugenommen haben, oder ob sich eher die Diagnose und Wahrnehmung von »Störungen« und »Sozialcharakter« verändert haben (Leuzinger-Bohleber 2005a:17). Leuzinger-Bohleber warnt vor vorschnellen »Zeitdiagnosen«, denn letztlich sei die enorme Zunahme der Depression empirisch nicht einfach zu belegen (Leuzinger-Bohleber 2005a:18). Sie verweist damit auf eine Schwierigkeit, die sich auch in dieser Arbeit stellt. In welchem Zusammenhang stehen indivi-

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duelle klinische Phänomene und statistisch erhobene psychiatrische Häufigkeitsverteilungen mit nicht-klinischen gesellschaftlichen Prozessen und Stimmungen? Wie interagieren gesellschaftliche Wissensproduktion und wissenschaftlicher Diskurs?1 Der Psychoanalytiker Darian Leader (2008) fragt in »The New Black. Mourning, Melancholia and Depression«2, wie das Phänomen Depression eine solche Dominanz im medizinischen und gesellschaftlichen Diskurs erlangen konnte. Bezugnehmend auf Sigmund Freuds Arbeit »Melancholie und Trauer« (1917) betrachtet Leader die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer auch für die Depressionen von heute als zentral. Er argumentiert, dass die Depression vergleichbar mit der früheren Hysterie als Form eines unbewussten gesellschaftlichen Protestes betrachtet werden kann (vgl. von Braun 1985). Die moderne Gesellschaft stelle Werte wie Effizienz, ökonomische Produktivität, Autonomie und Selbstverwirklichung so sehr in den Mittelpunkt, dass sich Depressionen als notwendige Konsequenz vermehren müssten: »In a similar way, the more the modern society urges us to attain autonomy and independence in our search for fulfilment, the more resistance will take the

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Leuzinger-Bohleber (2005) plädiert für eine interdisziplinäre Pluralität der therapeutischen Forschung und Praxis zu Depression. Ein solches interdisziplinäres Vorgehen zeigt sich in der multizentrisch durchgeführten Studie zur Langzeittherapie chronischer Depressionen (LAC Studie). In der Studie wird die Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer und psychoanalytischer Langzeittherapien bei PatientInnen mit chronisch rezidivierenden Depressionen untersucht (vgl. Leuzinger-Bohleber 2005b). Von 2005 bis 2008 hatte ich die Gelegenheit in der Vorstudie zur LAC-Studie am Sigmund-FreudInstitut testpsychologische Untersuchungen durchzuführen. In diesem Rahmen führte ich Interviews mit depressiven Frauen und Männern und nahm an Klinischen Konferenzen der behandelnden TherapeutInnen teil. Auch wenn die Informationen, die ich von den PatientInnen und TherapeutInnen erhalten habe, nicht direkt in diese Arbeit einfließen, so stellen sie doch den praktischen Bezug und Hintergrund der theoretisch-diskursiven Auseinandersetzung mit »Depression und Geschlecht« dar.

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Der Buchtitel »The New Black« rekurriert auf der Metapher einer »Neuen Pest« (The Black) und stellt einer weitere Assoziationen zwischen Depression, Ansteckung und Pandemie dar.

E INFÜHRUNG

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form of the exact opposite of these values. It puts misery in the midst of plenty. Depression is thus a way of saying NO to what we are told to be.« (Leader 2008:13)

Ist die Zunahme der Depression eine Reaktion auf gesellschaftliche Zumutungen an Frauen und Männer? Inwiefern sind diese gesellschaftlichen Ansprüche verwoben mit einem geschlechtlichen Subtext, der an Frauen andere Normen und Anforderungen stellt als an Männer und wie interagieren ein solcher geschlechtlicher Subtext mit weiblicher und männlicher Depression? Der psychoanalytisch-empirische Ansatz von Leuzinger-Bohleber (2005a) und der psychoanalytischkulturwissenschaftliche Ansatz von Leader (2008) sowie die sozialpsychologisch-historischen Arbeiten von Roudinesco (2002) und Ehrenberg (1998) stehen exemplarisch für das interdisziplinäre Vorgehen dieser Arbeit. Um den Zusammenhang von Depression und Geschlecht zu untersuchen, wird in diesem interdisziplinären Ansatz sowohl ein Zugang über empirische psychologische Studien (Kapital A) und klinisch-psychoanalytische Theorie (Kapitel B) gewählt als auch ein kulturwissenschaftlicher, historischer Blick unter Einbezug von Methoden und Theorien der Geschlechterforschung (Kapitel C).

2. F RAUEN – D AS

DEPRESSIVE

G ESCHLECHT ?

Die weibliche Persönlichkeit kann als eine milde Manifestation einer klinischen Depression begriffen werden. Ellen McGrath (1994)

Neben einer statistischen Zunahme der Depressionsdiagnosen ist nach Wolfersdorf et al. (2006) eines der stabilsten Ergebnisse der Epidemiologie depressiver Störungen das konstante Überwiegen des weiblichen Geschlechts. In den Forschungsergebnissen zur Häufigkeit von Depressionen herrscht ein auffallender »Gap« zwischen den Geschlechtern (Bebbington 1996). Frauen erkranken doppelt so häufig, nach einigen Studien sogar bis zu dreimal häufiger, an Depressionen als Männer (Bebbington 1996, Kessler et al. 1993, Weissman et al. 1993, Gutierrez-Lobos et al. 2000). Das Depressionsrisiko von Frauen liegt dabei über die Lebensspanne berechnet mit bis zu 20 Prozent Lebens-

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zeitprävalenz etwa doppelt so hoch wie das Risiko von Männern mit etwa 12 Prozent (Nolen-Hoeksema 1987, APA 1996). Die Frage, die in diesem Buch gestellt wird, ist also nicht, ob Depression eine neue Volkskrankheit darstellt, sondern vielmehr, ob Depression eine Frauenkrankheit darstellt und wenn ja, warum? Sind Frauen das depressive Geschlecht? Frauen leiden häufiger unter Depressionen, aber sie berichten auch offener und öfter über depressive Symptome und suchen eher medizinische Hilfe auf als es betroffene Männer tun (Nolen-Hoeksema 2006). Dass Depressionen von Männern seltener berichtet werden, führt auch dazu, dass »männliche Depressionen« öfter unerkannt bleiben (MöllerLeimkühler 2000). Nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch im medizinischen Diskurs erscheint die Depression daher vor allem als eine Frauenkrankheit (Real 1997).3 Auf die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Perspektive in der Depressionsforschung wird nicht zuletzt aufgrund des in klinischen Studien konstanten Ergebnisses des Gender Gaps der Depression immer wieder hingewiesen (Piccinelli & Wilkinson 2000). Jedoch herrscht weit weniger Einigkeit darüber, welche Faktoren für diesen Unterschied verantwortlich sind

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Gibt man in die Suchmaschine Google »Depression« ein, finden sich 94.900.000 Einträge. Für eine Kombination »Depression + Women« 4.110.000 Einträge und für den Suchbegriff »Depression + Men« 2.280.000 Einträge (eingesehen am 1. Oktober 2008). Eine ähnliche Häufigkeitsverteilung wiederholt sich für eine auf den deutschsprachigen Raum begrenzte Suche. Google errechnet für »Depression« 2.530.000 Einträge, für »Depression + Frauen« 1.020.000 und für »Depression + Männer« 643.000. Die hohe Anzahl an Treffern für das Suchwort »Depression« – über 94 Millionen Einträge weltweit – zeigt das hohe gesellschaftliche Interesse an der Depression. Interessant ist, das die Begriffe »Frauen und Depression« sowohl im nationalen als auch im international Vergleich der Netzseiten etwa doppelt so häufig erscheint als die Verbindung »Männer und Depression«. Diese Ergebnisse illustrieren einen besonders weit verbreiteten Diskurs über Frauen und Depression und ein weniger ausgeprägtes Interesse an der Verbindung zwischen Männern und Depression. Darüber hinaus entsprechen die Ergebnisse zufällig etwa der statistischen Häufigkeitsverteilung des Depressionsrisikos von Männern und Frauen, das der Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht in dieser Arbeit zugrunde liegt.

E INFÜHRUNG

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(Piccinelli & Wilkinson 2000). Als Ursachen der Geschlechtsdifferenz der Depression werden biologische (z.B. hormonelle oder genetische Geschlechtsunterschiede) oder soziale, kulturelle und psychodynamische Hintergründe (Piccinelli & Wilkinson 2000, McMullen & Stoppard 2006) vermutet. In einer Übersichtsarbeit zu Depression und Geschlecht stellen Piccinelli und Wilkinson (2000) jedoch fest, dass in der Depressionsliteratur integrative Modelle, die unterschiedliche gesellschaftliche, innerpsychische und biologische Risikofaktoren miteinander in Beziehung setzen, weitgehend fehlen. Eine viel beachtete integrative Studie stellt die Arbeit der Projektgruppe »Frauen und Depression« der American Psychological Association (APA) dar. Die 1987, von der damaligen APA Präsidentin Bonnie R. Strickland, gegründete Projektgruppe begutachtete Literatur und Studien über Risikofaktoren und Fragen der Behandlung von Depressionen unter Einbeziehung einer integrativen biopsychosozialen Perspektive, die soziale, ökonomische, biologische und psychische Risikofaktoren berücksichtigt. Die Autorinnen identifizieren insbesondere psychosoziale Belastungsfaktoren als relevant für das weibliche Depressionsrisiko (McGrath et al. 1994). Besonders geschlechtsspezifische Persönlichkeitsmerkmale werden als auslösend für weibliche Depressionen betrachtet. Frauen zeigen mehr vermeidende, passive und abhängige Verhaltensmuster und pessimistisch-negative kognitive Attributionsstile, die zu einer starken Fixierung auf depressive Gefühle führen können und Handlungs- und Bewältigungsperspektiven verstellen können (McGrath et al. 1994). In Zusammenhang mit dieser Forschung ist auch die eingangs zitierte Bemerkung von Ellen McGrath einzuordnen, dass stereotype (Persönlichkeits-)Merkmale von Frauen wie die Beschreibung einer milden Depression anmuten. Die Projektgruppe benennt zudem geschlechtsspezifische Unterschiede in sozialen Beziehungen und soziale Rollen als Risikofaktoren. Während die Ehe für Männer einen Schutzfaktor darstelle, repräsentiert sie für Frauen oftmals einen erhöhten Risikofaktor (Weissman & Klerman 1977). Weiterhin seien Mütter kleiner Kinder besonders anfällig für Depression, wobei das Risiko mit der Anzahl der Kinder steige (McGrath et al. 1994). Auch werden Frauen öfter Opfer von Gewalt (McGrath et al. 1994). Die Häufigkeit von traumatischen Erlebnissen, wie körperlichem oder sexuellem Missbrauch, ist für Frauen erheblich größer als für Männer. Schätzungen von McGrath et al. (1994) gehen von 37 Prozent – 50 Prozent erlebten Gewalterfahrungen von Frauen bis zum

16 | DAS G ESCHLECHT DER DEPRESSION

Alter von 22 Jahren aus. Dabei werde, so die Autorinnen, Gewalt gegen Frauen als wichtiger Auslöser späterer Depressionen zu wenig in psychologischen Studien untersucht. Armut gilt als ein weiterer zentraler Risikofaktor für Depressionen, der besonders Frauen betrifft (McGrath et al. 1994). Die Studie von McGrath et al. (1994) ist eindrucksvoll, weil sie die wichtigsten in der Literatur bekannten Risikofaktoren für Depression einbezieht und miteinander in Beziehung setzt. Dabei wird der Einfluss psychosozialer Geschlechternormen und Geschlechtervorstellungen auf das individuelle Depressionsrisiko von Frauen besonders deutlich. Der Bedeutung kultureller, psychosozialer Geschlechternormen und individueller Geschlechtsrollenorientierung in der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen wird in dieser Arbeit unter Einbezug interdisziplinärer Perspektiven ausführlich nachgegangen.

3. G ESCHLECHT

ALS

W ISSENSKATEGORIE

Neben einem psychosozialen Verständnis von Geschlecht als Rollenorientierung, wie es der Studie von McGrath et al. (1994) zugrunde liegt, wird in dieser Arbeit basierend auf Methoden und Konzepten der Geschlechterforschung auf wissenschaftstheoretischer Ebene davon ausgegangen, dass die Kategorie Geschlecht nicht nur individuelles Erleben strukturiert und beeinflusst, sondern dass geschlechtliche Kodierungen sich auch in die gesellschaftliche Wissensproduktion, und das bedeutet für den vorliegenden Fall: in den Depressionsdiskurs einschreiben. Die Kategorie Geschlecht wird demnach sowohl für das individuelle Erleben als auch für die gesellschaftliche Wissensproduktion als »wissens- und wirklichkeitskonstituierender Modus« betrachtet (Hark 2007). Geschlecht als »Wissenskategorie« untersucht Geschlecht als relevante Ordnungskategorie, nach der Wissen über Depression strukturiert und hervorgebracht wird (von Braun & Stephan 2005). Dabei soll ausgehend von der Fragestellung des DFG-Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin untersucht werden, wie es zu geschlechtlichen Kodierungen von Depressionen kommt und wie Geschlechtercodes über Transferprozesse das subjektive Erleben depressiver PatientInnen beeinflussen. Eine Kernfrage lautet daher: Wie schreibt sich die Wissensproduktion über Depression und Geschlecht in die depressiven Körper ein?

E INFÜHRUNG

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Die impliziten und expliziten Funktionen geschlechtlicher Wissenskodierungen haben oftmals eine lange Geschichte und werden, obgleich sie das Selbstverständnis der Wissenschaften entscheidend prägen, vor allem in ihrer Historizität erkennbar (Braun & Stephan 2005). Dabei geht es nach Sabine Hark nicht darum, Geschlecht als allgegenwärtig relevante und ordnungsstiftende Funktion auszurufen, sondern vielmehr darum, danach zu fragen: »[...] unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten Geschlecht ein relevanter Faktor ist: wo sich beispielsweise Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verringern, aber auch wo sie sich verstärken, in welchen Konflikten auf Geschlecht als semantisches Reservoir zurückgegriffen wird und nicht zuletzt, welches Wissen über Geschlecht produziert und aktualisiert wird.« (Hark 2007:18).

Hark definiert einen Geschlechterbegriff, der Geschlechtlichkeit als konstitutives Element gesellschaftlicher Beziehungen betrachtet, das auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern gründet und dem als zentrale Ordnungskategorie durch Machtbeziehungen Bedeutung verliehen wird. Susanne Lettow (2007) geht zudem davon aus, dass geschlechtliche Normalisierungsstrategien heute vor allem über die Dichotomien »gesund/krank« und »normal/anormal« artikuliert werden. In diesem Sinne eignet sich die Wissensproduktion der Depressionsforschung besonders als Forschungsfeld, innerhalb dem sich die Ordnungsmacht der Wissenskategorie Geschlecht untersuchen lässt. Die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in der Depression werden als Ausgangspunkt dafür genommen, das »semantische Reservoir« (Hark 2007:18) und die Wissensproduktion über Depression in den Blick zu nehmen. In der vorliegenden Arbeit wird Geschlecht als eigenständige Analysekategorie verhandelt, anhand der Konzepte und Ergebnisse der Depressionsforschung und des gesellschaftlichen Depressionsdiskurses untersucht werden. Gefragt wird demnach nicht nur nach Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Männer und Frauen, sondern es wird nach der wissensstrukturierenden Bedeutung der Kategorie Geschlecht selbst gefragt. Dafür wird die symbolische Geschlechterordnung im Depressionsdiskurs in den Blick genommen. Die symbolische Geschlechterordnung ist hier sowohl thematische Klammer als auch Analysekategorie der Arbeit. Christina von Braun und Bettina Mathes

18 | DAS G ESCHLECHT DER DEPRESSION

(2007) weisen darauf hin, dass die Geschlechterordnung zumeist mit »der Frau« gleichgesetzt werde (von Braun & Mathes 2007). Dabei ist die Geschlechterordnung jedoch mehr als die Verortung von Weiblichkeit oder »die Frau« denn: »Jede kulturelle Zuordnung an die Weiblichkeit impliziert auch eine an die Männlichkeit.« (von Braun & Mathes 2007:10). In diesem Sinne werden in dieser Arbeit nicht nur weibliche Depressionen in den Blick genommen, sondern es wird insgesamt nach der Relevanz von Geschlecht als Wissenskategorie im Diskurs um Depression gefragt. Weibliche und männliche Depressionen werden zusammen als Ausdrucksformen einer Geschlechterordnung der Depression verstanden, so dass die Bedeutung von männlichen Depressionen ebenso relevant wird wie die von weiblichen. Von Braun und Mathes vertreten zudem die These: »[...] dass die Geschlechterordnung das Terrain ist, auf dem das Unbewusste jeder Kultur am deutlichsten agiert.« (von Braun & Mathes 2007:11). In dieser Arbeit soll anknüpfend an diese These anhand einer Analyse der dem Depressionsdiskurs zugrundeliegenden Geschlechterordnung nach einem solchen Unbewussten4 der untersuchten Wissenskulturen gefragt werden. Betrachtet wird nicht nur, wann und wie Geschlecht im Depressionsdiskurs verhandelt wird, sondern auch, wann es vordergründig nicht verhandelt wird, d.h. welches implizite Wissen über Geschlecht dem Depressionsdiskurs eingeschrieben und von ihm vorausgesetzt wird. Es geht einerseits also um die konkrete Bestimmung geschlechtsspezifischer Risikofaktoren und andererseits um eine Diskursanalyse der Funktion der »Wissenskategorie Geschlecht« im Depressionsdiskurs. Dabei basiert diese Arbeit nicht auf einem binären – geschlechtspezifischen – Geschlechtsbegriff, der sich in dichotom männlich vs. weiblich oder sozial vs. biologisch unterteilt. Die kulturwissenschaftliche Fragestellung der Arbeit erfordert eine historische, metatheoretische Anwendung des Geschlechtsbegriffes (vgl. Braun & Mathes 2007, von Braun und Stephan 2005), in der nicht nur nach den Effekten einer dichotomen Geschlechtordnung gefragt wird, sondern auch nach ihren Herstellungsprozessen selbst. Anhand der Analyse der Wissenskategorie Geschlecht wird eine Betrachtung der impliziten, latenten oder (un-/)vorbewussten kulturellen Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit im Depressionsdiskurs unternommen.

4

Einem nicht bewusst Gewussten, d.h. nicht Expliziten, nicht Reflektierten.

E INFÜHRUNG

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Dennoch ist das subjektive Erleben depressiver Frauen und Männer für dieses Buch zentral. Daher ist die Erklärungskraft empirischer und klinischer Depressionsuntersuchungen und -theorien für diese Arbeit ebenso wichtig wie eine kulturtheoretische Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung von Geschlecht im Depressionsdiskurs. Die Ausrichtung der vorliegenden Arbeit ist inter- bzw. transdisziplinär, weil sie Fragen nach dem Zusammenhang und den Transferprozessen zwischen individuell-geschlechtlichem Erleben von Depressionen mit kulturellen Geschlechterkodierungen im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Depressionsdiskurs stellt. Die Transdisziplinarität dieser Arbeit liegt in dem Versuch, die individuellen und gesellschaftlichen Ebenen der Fragestellung zu verknüpfen.

4. F RAGESTELLUNG UND AUFBAU

DER

ARBEIT

Die vorliegende Arbeit geht der Bedeutung kultureller Geschlechtervorstellungen und Emotionsnormen im Depressionsdiskurs nach. Dabei wird zunächst in der Darstellung eine disziplinäre Unterteilung vorgenommen, in der die hier bereits einführend vorgestellten disziplinären Erklärungsansätze zu Depression und Geschlecht aus Klinischer Psychologie, Psychiatrie und Gesundheitspsychologie (Kapitel A), Psychoanalyse (Kapitel B) und Kulturwissenschaft (Kapitel C) ausführlich dargestellt, diskutiert und schließlich miteinander in Beziehung gebracht werden (Kapitel D). Im Rahmen dieser Arbeit wird zunächst die Literatur zur empirisch-psychologischen Erforschung geschlechtlich unterschiedlicher Risikofaktoren von Depressionen untersucht. In Kapitel A Expressivität & Instrumentalität – Psychologische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht wird die Frage gestellt, ob in den untersuchten Studien ein Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht besteht, welche geschlechtsspezifischen Risikofaktoren in der Forschung identifiziert werden und wie ein signifikanter Zusammenhang vermittelt wird. Die zentrale Frage in dieser disziplinären Auseinandersetzung mit Depression und Geschlecht ist: Welche gesellschaftlichen und psychologischen (Risiko-)Faktoren machen Frauen für Depressionen empfänglicher als Männer? Der Fokus in diesem Kapitel liegt auf der Diskussion des Einflusses von Geschlechterrollen und Geschlechtsnormen auf weibliche und männliche Depressionen.

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Auffallend in der empirisch-psychologischen Forschung zu Depression und Geschlecht ist, dass weitgehend eine Trennung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialer Geschlechterrolle (gender) vorgenommen wird, und dass die Wissenskategorie Geschlecht bzw. die Produktion von Zweigeschlechtlichkeit und Differenz selten Teil der Untersuchung und Reflexion ist (vgl. Maihofer 1995). Unter Einbezug einer geschlechtertheoretischen Fragestellung (Maihofer 1995, Gildemeister & Wetterer 1992) wird daher auch diskutiert, welche Ergebnisse und welches disziplinenspezifische Wissen über Depression und Geschlecht ein solches Herangehen produziert und welche Fragen in diesem disziplinären Zugang nicht thematisiert werden können. In Kapitel B Gleichheit und Differenz – Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht wird die Verbindung zwischen Depression und Geschlecht weiter aufgefächert und differenziert im Hinblick auf verschiedene (Sub)-Typen der Depression (Blatt 2004, Arieti & Bemporad 1978) betrachtet. Psychoanalytische Depressionstheorien werden in ihren Erklärungen und Konzeptualisierungen der Geschlechterdifferenz in der Depression untersucht. Zentral für dieses Kapitel ist die psychoanalytische Literatur zu psychodynamischen Risikofaktoren für die Depression, besonders die Betrachtung einer innerfamiliären Dynamik, die Mädchen und Jungen in spezifischer und unterschiedlicher Weise für Depressionen empfänglich macht. Dabei wird vor allem die Interaktion zwischen gesellschaftlichen Normen und familiären geschlechtlichen Identifikationsprozessen in den Blick genommen. Neben der Betrachtung psychoanalytischer Depressionstheorien seit Freud (1917) werden daher psychoanalytische Theorien der Geschlechtsidentität und Geschlechtsentwicklung in Zusammenhang mit der Entwicklung depressiver Störungen thematisiert. In diesem Kapitel wird eine Erfahrung von »Geschlecht als Existenzweise« Maihofer (1995) thematisiert und mit der psychodynamischen Entwicklung von Depressionen verknüpft. Gegenstand ist nicht nur die jeweilige Verbindung zwischen Weiblichkeit, Männlichkeit und Depression, sondern auch die Beziehung von Depression, Zweigeschlechtlichkeit und Verlust. Auch in diesem Kapitel wird neben der Untersuchung geschlechtsspezifischer, psychodynamischer Risikofaktoren diskursanalytisch die disziplinäre Vermittlung des Zusammenhangs von Depression und Geschlecht in die Untersuchung einbezogen. Gefragt wird nach der Anknüpfung an und der Herstellung von implizitem vergeschlechtlichten Wissen im psychoanalytischen Depressionsdiskurs.

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Im Anschluss wird in Kapitel C Verweigerung und Selbstermächtigung – Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht auf gesellschaftlicher (nicht-klinischer, nichtindividueller) Ebene danach gefragt, welche historischen und kulturellen Verbindungen zwischen den Wissenskategorien Depression und Geschlecht bestehen und welche Bedeutungen der Depression bei Frauen und Männern zukommen können. Die leitende Frage der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, welche Geschlechterkodierungen dem Depressionsdiskurs zugrunde liegen. Hier werden klinische psychodynamische Überlegungen zum Zusammenhang von Depression und Geschlecht in Verbindung gebracht mit kulturwissenschaftlichen Theorien, die der Geschichtlichkeit einer „weiblichen« Depression und einer »männlichen« Melancholie nachspüren. Dabei werden historische Diskurslinien sichtbar, die bereits in der Antike vergeschlechtlichte Melancholietypen hervorbringen, deren Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich bis in den aktuellen medizinischpsychiatrischen Diskurs verfolgen lassen (Radden 2000). Darüber hinaus wird auf kulturwissenschaftlicher Ebene der Bedeutung von Depressionen bei Frauen und Männern als unbewusste Verweigerungsoder Ermächtigungsstrategien nachgegangen. Die zentrale Frage ist, wie und wann es zu einer solchen diskursiven Überlappung der Konzepte von symbolischer Weiblichkeit und Depression im medizinischen und gesellschaftlichen Diskurs kommt und welche gesellschaftliche Bedeutung einer weiblichen Depression dabei zukommt. Den auf unterschiedlichen Ebenen des Depressionsdiskurses ansetzenden Fragestellungen ist der Versuch gemein, anhand einer interdisziplinären Verknüpfung spezifischen disziplinären Wissens, ein interbzw. transdisziplinäres Erklärungsmodell zu entwickeln. Warum erkranken vor allem Frauen an Depressionen, während Männer seltener von Depressionen betroffen sind bzw. seltener als depressiv diagnostiziert werden? Dabei werden nicht nur »geschlechtsspezifische« Risikofaktoren in den Blick genommen, sondern in einem transdisziplinären Reflexionsprozess auch die Relativität des jeweiligen disziplinären Zugriffs auf das Forschungsfeld Depression und Geschlecht fokussiert. Gegenstand ist dabei zum einen auf klinischer Ebene ein geschlechtsspezifisches Risiko für depressive Störungen – indem gefragt wird, ob Frauen das depressive Geschlecht darstellen. Zum anderen wird die wissensstrukturierende Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Depressionsdiskurs untersucht. Dabei geht es nicht um eine Naturalisie-

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rung von Frauen und Männern als Kranke, sondern um die diskursive Verhandlung von Geschlecht in der Verhandlung von depressiven Symptomen. Hier wird – wie es der Titel der Arbeit nahelegt – weniger nach einem depressiven Geschlecht als nach dem Geschlecht der Depression gefragt. Die These dieses Buches lautet, dass die Geschlechterordnung und kulturelle Geschlechtskodierungen maßgeblich dazu beitragen, dass Depressionen bei Frauen häufiger vorkommen, offener und öfter berichtet und diagnostiziert werden, während sie bei Männern seltener diagnostiziert werden und so eine dichotomisierte Wahrnehmung von als Männer und Frauen depressiv gewordenen Personen verstärken. Untersucht werden geschlechtlich kodierte Dichotomien und Emotionsnormen der Depression. Dabei wird auf konzeptueller Ebene nach einer (unbewussten) Geschlechterordnung der Wissensproduktion über Depression gefragt und schließlich auch danach, wie sich geschlechtlich kodiertes Wissen über depressive Störungen in die Depressionsstatistiken und in das individuelle (Er-)Leben und die (Geschlechts-)Körper von depressiven Personen einschreibt. Die Frage zielt zum einen auf ein »Unbewusstes der Wissensproduktion« (von Braun, Dornhof & Johach 2009) und zum anderen auf kulturelle und individuelle Transferprozesse zwischen öffentlichem Wissensdiskurs und individuellen Wissensobjekten bzw. Wissenskörpern. 4.1 Zur inter- und transdisziplinären Methode In der Einführung wurde dargestellt, dass in diesem Buch transdisziplinäre Verbindungen zwischen der Wissensproduktion über Depression und Geschlecht in den untersuchten Disziplinen Psychologie, Psychoanalyse sowie Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung hergestellt werden. Anhand der inter- und transdisziplinären Perspektive auf Fragestellung, Methode und Ergebnisse werden die bearbeiteten Theorien und Studien der psychologischen Gesundheitsforschung und des medizinisch-psychiatrischen Diskurses sowie psychoanalytische Konzepte zu Depression und Geschlecht zusammengebracht mit Methoden und Perspektiven aus Geschlechterforschung und Kulturwissenschaft. Dabei hat eine solche inter- bzw. transdisziplinäre Pluralität im Herangehen sowohl in der Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. Maihofer 1995, von Braun & Stephan 2005) als auch in der Psychoanalyse (vgl. Leuzinger-Bohleber 2007) eine lange Tradition. Das hier verfolgte inter- bzw.

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transdisziplinäre Forschungsdesign wirft jedoch verschiedene Fragen auf. Daher werden im Folgenden die Chancen und Schwierigkeiten einer inter- und transdiziplinären Forschung bezogen auf die Wissenskategorien Geschlecht und Depression dargestellt. In einem komplexen Modell über psychoanalytische Forschungsprozesse geht Leuzinger-Bohleber der Frage nach, welche Forschungsund Erkenntnismethoden in der psychoanalytischen Wissensproduktion angewendet werden und wie diese miteinander interagieren (Leuzinger-Bohleber & Fischmann 2006, Leuzinger-Bohleber 2007). Sie geht davon aus, das unbewusste, vorbewusste und bewusste Prozesse in jeder Forschung zusammenwirken, wobei das Unbewusste den größten Anteil der Wissensproduktion ausmacht5: »Research takes place for the most part unconsciously or preconsciously. Only a very small portion of affective-cognitive information procession becomes subject to our conscious, professional reflections.« (Leuzinger-Bohleber und Fischmann 2006:1361). Die vorliegende Arbeit ist in dem Bereich der interdisziplinären extraklinischen psychoanalytischen Konzeptforschung lokalisiert. Der Unterschied zur klinischen psychoanalytischen Forschung besteht darin, dass die Konzeptforschung nicht in der psychoanalytischen, klinischen Situation selbst stattfindet, und dass ihre Erkenntnisse nicht direkt in die Begegnung mit Patienten einfließen, sondern dass sie »[...] ›nachträglich‹, nach-denkend klinische Beobachtungen konzeptualisiert oder bereits existierende Konzepte weiter erforscht (Konzeptforschung).« (Leuzinger-Bohleber 2007:980). Leuzinger-Bohleber und Fischmann definieren folgende Ziele für eine explizit interdisziplinärer ausgerichtete extra-klinischer Forschung: »However, in contrast to clinical or conceptual research – the aim is neither primarily to contribute to a deeper or more precise understanding of clinical material nor to study concepts in detail. The focus of interdisciplinary research is the exchange of psychoanalytic knowledge with the non-psychoanalytic (scientific) world.« (Leuzinger-Bohleber und Fischmann 2006:1373)

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Leuzinger-Bohleber (2007) beschreibt vielfältige Interaktionen und zirkuläre Prozesse zwischen und innerhalb klinischer und extraklinischer Forschung, theoretischen Modellen und Konzepten, zwischen klinischer Praxis, individueller privater Mini-Theorien in therapeutischer Praxis, empirischen Designs, klinischer Supervision und Qualitätszirkeln.

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Die Arbeit stellt einen Versuch dar, psychoanalytische und psychologische Konzepte mit Theorien aus Geschlechterforschung und Kulturwissenschaft in einen inter- bzw. transdisziplinären Dialog zu bringen und in ein transdisziplinäres Modell zu überführen. Dabei ist es nicht möglich, Konzepte im Detail zu ergründen oder direkt auf das klinische Verständnis der Depression einzuwirken (vgl. Leuzinger-Bohleber und Fischmann 2006). Ziel einer solchen interdisziplinären Herangehensweise ist vielmehr, Konzepte verschiedener Wissensdisziplinen miteinander in Verbindung zu setzen und dabei den jeweils spezifischen Zugang und die Relativität der jeweiligen disziplinären Wissensproduktion zu reflektieren. Dabei bestehen für inter- oder transdisziplinäres Arbeiten charakteristische Risiken. Diese liegen zum einen darin, dass theoretische oder methodische Konflikte der einen Disziplin auf die andere projiziert werden, um dort verortet und angegriffen zu werden, zum anderen besteht die Gefahr, dass den Disziplinen spezifische Daten und Forschungsfragen sowie spezifische Methoden, Modelle und Qualitätsfragen zugrunde liegen, die nicht einfach von einer Disziplin in die andere transferiert werden können (Leuzinger-Bohleber und Fischmann 2006). Disziplinen sprechen ihre eigene Sprache und entwickeln spezifische Konzepte und Theorien, die selbst wenn sie in beiden Disziplinen mit den gleichen Begriffen bezeichnet werden, nicht immer die gleichen Bedeutungen tragen (Leuzinger-Bohleber und Fischmann 2006). Diese Vorsicht ist im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit besonders relevant. Bereits ihre Kernbegriffe, Depression und Geschlecht, haben in jeder der hier angewendeten Disziplinen andere Bedeutungen und werden auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt, definiert und hergestellt. In Übereinstimmung mit methodischen Überlegungen der Geschlechterforschung sollen diese Unterschiede auch Teil des Erkenntnisprozesses werden. Die Bedeutung dieser Begriffe kann dabei nicht einfach von einer Disziplin in die andere übertragen werden. Anliegen dieses Buches ist es daher, die spezifische Perspektive der einzelnen Disziplinen auf Depression und Geschlecht kenntlich zu machen, aber darüber hinaus auch den Versuch zu unternehmen, dieses Wissen miteinander in einen Dialog zu bringen. Eine besondere Schwierigkeit besteht dabei darin, dass Begriffe wie »Geschlecht« oder »Depression« auch innerhalb der Geschlechterforschung und der Psychologie, Medizin und Psychoanalyse nicht eindeutig und einheit-

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lich definiert sind und oftmals auch innerhalb einer einzelnen Disziplin stark umstritten sind. Konzepte unterliegen im Zuge disziplinärer Theorieentwicklung immer auch einem Bedeutungswandel, der zu Ausdifferenzierungen und völlig unterschiedlichen Verwendungen innerhalb der Disziplinen führen kann (Dreher 1998). Ein solcher Pluralismus der Perspektiven und Ansätze innerhalb einer Disziplin ist nach Leuzinger-Bohleber (2007) gerade kennzeichnend für die disziplinäre Entwicklung einer Wissenschaft. Ziel dieses Buches ist daher nicht eine präzisere Bestimmung der innerdisziplinären Konzepte von Depression und Geschlecht, sondern vor allem eine inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung mit ihrer disziplinenspezifischen Herstellung und Historizität und ihren inter- und transdisziplinären Verbindungslinien. Interdisziplinäre Arbeiten stellen so eine Möglichkeit dar, die Transparenz innerhalb der Wissenschaften zu fördern, und »in-sich-geschlossene tote Kategorien« in inner-disziplinären Systemen herauszufordern (LeuzingerBohleber 2008). Für die Geschlechterforschung sind die Begriffe der Inter- und Transdisziplinarität zentral für den eigenen Disziplinierungsprozesses. Sie sind Teil des disziplinären »Gründungsmythos« (Hark 2005). Feministische Wissenschaftskritik ist von Beginn an als Forschung über Disziplinengrenzen hinweg angelegt und bis heute von ihrem Selbstverständnis her stark inter- und transdisziplinär geprägt (Kahlert, Thiessen & Weller 2005). Hark (2005) fügt dem jedoch hinzu, dass die Geschlechterforschung sich mittlerweile durchaus selbst als Disziplin verortet, mit eigenen spezifischen Theorien und methodischen Ansätzen, d.h. mit spezifischen Wissen und Wissensobjekten. Die »Undiszipliniertheit« der Frauen- und Geschlechterforschung sei mittlerweile Bestandteil einer notwendigen Disziplinenwerdung der Geschlechterforschung. Nur als nach außen abgrenzbare Disziplin ließe sich dem eigenen Anspruch auf »Undiszipliniertheit«, d.h. auf kritische Interund Transdisziplinarität gerecht werden. Hark plädiert für eine Verortung als »Disziplinierte Undiszipliniertheit«. Dabei sei die Gewordenheit der Geschlechterforschung unbedingt mitzudenken, denn diese sei die Voraussetzung, »[...] dass auch das eigene Wissen nicht aus der Reflexion ausgespart wird«. (Hark 2005: 85). Auch Andrea Maihofer (2005) sieht in den Gender Studies ein schwieriges Verhältnis zwischen Inter-/Transdisziplinarität und Disziplinarität. Sie diagnostiziert der Geschlechterforschung eine Gratwan-

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derung zwischen »Disziplin und Nicht-Disziplin« (Maihofer 2005: 188). So werde in der »scientific community«, die von der Autorin nicht genauer spezifiziert wird, wissenschaftliche Innovation und Kreativität mit Inter– und Transdisziplinarität gleichgesetzt und zur Norm erfolgreicher Forschungsprojekte erhoben (Maihofer 2005:185). Gleichzeitig werde jedoch auch vermehrt von der Unmöglichkeit berichtet, solide inter- oder transdisziplinär zu arbeiten und nicht nur »Etikettenschwindel« zu betreiben (Maihofer 2005:185). Wie Hark betont auch Maihofer den Widerspruch, dass Disziplinarität die unabdingbare Grundlage jedes inter- oder transdisziplinären Arbeitens darstelle. 4.2 Modell des Forschungsdesigns Als eine inter- und transdisziplinäre Konzeptarbeit bezieht sich dieses Buch auf Theorien und Modelle verschiedener Disziplinen (Psychologie, Psychoanalyse, Geschlechterforschung und Kulturwissenschaft). Zur Beantwortung der ersten Ebene der Fragestellung, warum Frauen häufiger depressiv werden als Männer bzw. warum Männer seltener als depressiv diagnostiziert und behandelt werden, werden Konzepte und Forschungsergebnisse der angewendeten Disziplinen dargestellt, zusammengefasst und mit Fragestellungen und Theorien aus der Geschlechterforschung verbunden. Dabei geht es zunächst um ein additives »mehr« an Informationen, Faktoren und Erklärungsmöglichkeiten. Die zweite Ebene der Fragestellung bewegt sich auf einer transdisziplinären Metaebene. Hier wird die Wissensproduktion über Depression und Geschlecht bzw. die Herstellung geschlechtlicher Differenz in den Disziplinen selbst in den Blick genommen. Anhand der Zusammenführung der disziplinären Diskurse wird gezeigt, wie Konzepte von Depression und Weiblichkeit ineinandergreifen, sich überlappen und gegenseitig bedingen. Untersucht wird, wie eine solche Verbindung zwischen den Konzepten entsteht, wie Wissen über Depression und Geschlecht hergestellt wird, aber auch auf welchen Wegen dieses Wissen in die individuelle Psyche von Männern und Frauen eingeschrieben wird. Welches vergeschlechtlichte Wissen und welche Geschlechtercodes werden dem Depressionsdiskurs und den depressiven Körpern – disziplinenübergreifend – eingeschrieben? Die Annahme, die diesem Buch zugrunde liegt, ist, dass gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen der symbolischen Geschlechterordnung sowohl

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auf die Selbstwahrnehmung von depressiven Personen einwirken, als auch die Wissensproduktion über Depression beeinflussen. Das folgende Modell illustriert die inter- bzw. transdisziplinäre Herangehensweise der Arbeit. Dargestellt sind die drei folgenden, an den jeweiligen Disziplinen ausgerichteten, Theoriekapitel mit korrespondierenden disziplinären Ebenen der Fragestellung und Analyse. Wie im weiteren Verlauf erkennbar wird, handelt es sich hierbei um künstliche Trennungslinien zwischen den Disziplinen.6 Abbildung 1: Aufbau und Fragestellung

6

Tatsächlich bestehen die hier modellhaft konstruierten Unterschiede, aber es existieren selbstverständlich auch Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, sowohl auf Ebene der Disziplinen als auch auf Ebene der Fragestellung und Bearbeitung der Kategorien Depression und Geschlecht.

A Expressivität & Instrumentalität Psychologische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht

1. E INFÜHRUNG

IN

K APITEL A

Im folgenden Kapitel werden empirisch-quantitative psychologische Studien und Theorien zu Depression und Geschlecht dargestellt. Hierfür erfolgt zunächst eine Einführung in die klinische Definition depressiver Störungen, Zahlen zu Häufigkeit und Chronifizierung von Depressionen sowie zur Diagnostik und Symptomatik. Die international angewendete klinische Depressionsdefinition nach dem Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA), dem Diagnostischen und Statistischen Handbuch psychischer Störungen (DSM-IV), wird einführend dargestellt. Diese Definition bildet die Grundlage, auf der die Studien zu Depression und Geschlecht in diesem Kapitel diskutiert werden. Daraufhin erfolgt eine Einführung in empirische (gesundheits-) psychologische Studien zu Depression und Geschlecht, wobei die Frage nach geschlechtsspezifischen Risikofaktoren für Depressionen bei Frauen und Männern im Zentrum der Untersuchung steht. Zunächst werden unterschiedliche Risikofaktoren identifiziert, die Frauen für Depressionen empfänglicher machen als Männer. Anschließend wird ein spezifisch männliches Depressionsrisiko bzw. eine Unterdiagnose »männlicher« Depressionen in den Blick genommen. Für depressive Männlichkeit wird hier auch die Frage nach einem Konflikt mit geschlechtlichen Emotionsnormen gestellt. Wenn Frauen als das depressive Geschlecht gelten, wie beeinflusst eine Depression dann die Geschlechtsidentität depressiver Männer?

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Darüber hinaus wird auf wissenschaftstheoretischer Ebene aus Perspektive der Geschlechterforschung nach dem Geschlechtsbegriff in der dargestellten psychologischen Wissensproduktion gefragt. Ausgehend von der Frage, welches Modell von Geschlechtlichkeit den hier diskutierten empirisch-orientierten Untersuchungen zugrunde liegt, wird überlegt, welche Ergebnisse eine sex/gender Trennung in den Studien hervorbringt, und welche Zusammenhänge von Depression und Geschlecht dabei nicht in den Blick genommen werden können.

2. K LINISCHE D EFINITION DEPRESSIVER S TÖRUNGEN 2.1 Häufigkeit und Chronifizierung Die Major Depressive Episode (MDE) stellt eines der größten Gesundheitsrisiken in den westlichen Industrieländern dar (LeuzingerBohleber 2005b). Depressionen sind die häufigste psychiatrische Diagnose, mit einer durchschnittlichen Prävalenz von ca. fünf Prozent (Williams 1997) bis zu 10,4 Prozent in der Bevölkerung (Maier et al. 1996, vgl. Leuzinger-Bohleber 2005b). Nach Prognosen der WHO leiden bis zu 300 Millionen Menschen weltweit derzeit an einer Depression. Das Erkrankungsrisiko variiert über die Lebenspanne und steigt im mittleren Alter stark an. Im höheren Alter sind depressive Störungen sogar die häufigste Erkrankung (Wolfersdorf 2005). Dabei scheint das Depressionsrisiko in den letzten 50 Jahren zuzunehmen (Kessler et al. 1994), wobei zusätzlich das Alter bei Beginn depressiver Episoden zu sinken scheint (Blazer et al. 1994). Ein Viertel der depressiven Episoden halten bis zu einem Monat an, die Hälfte bis zu drei Monaten und 15-39 Prozent der depressiven Episoden sogar bis zu einem Jahr (Keller et al. 1984). Auch die Rückfallquote der Depression nach Kurzbehandlung ist erschreckend hoch (Leuzinger-Bohleber 2005c). Depressionen haben eine Tendenz wiederzukehren: Etwa die Hälfte aller Personen, die an Depressionen erkranken, erleben eine zweite depressive Episode (Leuzinger-Bohleber 2005c). Trotz vielfältiger und verbesserter Therapiemethoden chronifizieren bis zu 30 Prozent – 50 Prozent der depressiven PatientInnen (Bohleber 2005, Leuzinger-Bohleber 2005c). Dabei werden verschiedene Begriffe verwendet, um jene Gruppe von PatientInnen zu beschreiben, die über

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einen langen Zeitraum unter chronifizierten bzw. stark rezidivierenden Depressionen leiden. Die chronische Form der Depression, die auch als »Difficult-to-treat Depression« (Rush, Thase & Dubé 2003) oder als »Treatment-Resistant-Depression« bezeichnet wird, übt einen enormen Leidensdruck auf die PatientInnen aus, die in ihren familiären und freundschaftlichen Beziehungen enorm belastet sind und sowohl ihre Lebensqualität als auch ihre psychische wie körperliche Gesundheit als bedroht oder zerstört erleben (Leuzinger-Bohleber 2005c). Die vernichtende Gefahr, die von einer Depression ausgeht, zeigt sich auch in dem hohen Suizidrisiko depressiver Personen. Dieses kann in manchen klinischen Studien bis zu 15 Prozent betragen und ist um ein Vielfaches höher als das Risiko der Gesamtbevölkerung, das bei 0,01 Prozent liegt (Field 2000). Die Depression geht als häufigste psychiatrische Diagnose mit dem häufigsten Suizidrisiko einher; bis heute versterben 3-4 Prozent aller an Depression Erkrankten durch Suizid (Wolfersdorf 2008). Nach Wolfersdorf ist die Suizidprävention daher einer der wichtigsten Bestandteile von Diagnostik, Therapie und Langzeitbehandlung depressiv erkrankter Menschen. Erschwerend kommt für den Umgang mit Depressionen hinzu, dass diese oftmals von einer komorbiden Persönlichkeitsstörung von Angst- oder Zwangsstörung und Alkoholmissbrauch begleitet werden (Bohleber 2005, Leuzinger-Bohleber 2005c, Leuzinger-Bohleber et al. 2002). Studien zur Behandlung von depressiven Personen haben gezeigt, dass die Mehrzahl der PatientInnen auf die erste oder zweite Behandlung mit einem Antidepressivum – heute werden meist selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) oder auch trizyklische Antidepressiva verwendet, mit Symptomreduktion reagieren (Bauer et al. 2004, vgl. Leuzinger-Bohleber 2005c). Trotzdem wirken Antidepressiva bei bis zu 20 Prozent der depressiven PatientInnen nicht und weitere 20 Prozent reagieren nur teilweise oder vorübergehend auf pharmakologische Therapie (Koscis 2003, Leuzinger-Bohleber 2005c). Nach Leuzinger-Bohleber (2005c) erleben selbst die PatientInnen, die eine Remission zeigen, über zwei Jahre hinweg eine Rückfallwahrscheinlichkeit von über 80 Prozent. Dieses schlechte oder nur partielle Ansprechen der PatientInnen auf Antidepressiva ist bislang nur unzureichend verstanden, es kann jedoch sehr wahrscheinlich nicht alleine auf eine fehlerhafte oder unzureichende Dosierung zurückgeführt werden oder einer Non-compliance mit der Medikamentenvergabe angelastet werden (Leuzinger-Bohleber 2005c).

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Heute gilt ein multimodales therapeutisches Vorgehen als Mittel der Wahl; depressiven PatientInnen wird meist eine Psychotherapie mit Pharmakotherapie empfohlen (Leuzinger-Bohleber 2005c, Paykel et al. 1999; Keller et al. 2000). Leuzinger-Bohleber (2005c) bemerkt, dass Studien über Langzeiteffekte von Therapien mit depressiven PatientInnen noch weitgehend fehlen und dass besonders wenige Therapievergleichsstudien über die Behandlung der schweren chronischen Depression vorliegen. Als Psychotherapie der Depression kommen psychoanalytische bzw. tiefenpsychologisch orientierte oder kognitivverhaltenstherapeutische Verfahren zur Anwendung, deren Wirksamkeit in verschiedenen Studien belegt werden konnte (Leichsenring 2001, Leuzinger-Bohleber et al. 2002 & 2003, Hautzinger & Welz 2004, Leichsenring & Rabung 2008). 2.2 Diagnose und Symptome Das psychiatrische Klassifikationssystem der APA, das diagnostischstatistische Handbuch mentaler Störungen (DSM-IV), definiert Depression anhand spezifischer Symptome, die in fest definierten Zeiträumen auftreten. Die unipolare Depression wird im DSM-IV kategorial von der bipolaren Störung unterschieden, in der sich depressive Episoden mit Episoden stark gehobener, reizbarer, manischer Stimmung abwechseln. Die Genese und Behandlung der bipolaren Stimmungslagen, die zwischen Manie und Depression changieren, unterscheiden sich grundlegend von der Therapie und Konzeption unipolarer affektiver Störungen. Auch das Geschlechterverhältnis in empirischen, epidemiologischen Untersuchen zur bipolaren Störung ist ein Anderes als das der unipolaren Depression. Für die bipolare Krankheit weisen Männer und Frauen ein gleich hohes Erkrankungsrisiko auf. Es wird davon ausgegangen, dass bipolare Episoden in weitaus größerem Ausmaß mit biologisch-genetischen Faktoren in Verbindung stehen als unipolare depressive Störungen. Doch auch die Bipolare Störung beinhaltet einen vergeschlechtlichten Subtext mit manisch/aktiv/männlicher Kodierung und depressiv/passiv/weiblicher Kodierung. Die Psychiaterin Kay Redfield Jamison (1997), die in dem Buch »An Unquiet Mind. A Memoir of Moods and Madness« autobiographisch ihre persönlichen Erfahrungen mit bipolarer Störung verarbeitet, beschreibt, dass ihre depressiven Episoden von KlinikerInnen und Angehörigen viel früher

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erkannt und anerkannt wurden als manische Phasen. Sie führt dies auf Emotionsnormen zurück, die für Frauen eine Nähe zur Depression herstellen während eine manisch-aggressive, reizbare Stimmungslage bei Frauen weniger leicht thematisierbar sei: »Depression, somehow, is much more in line with society’s notions of what women are all about: passive, sensitive, hopeless, helpless, stricken, dependent, confused, rather tiresome, and with limited aspirations. Manic states, on the other hand, seem to be more the provenance of men: restless, fiery, aggressive, volatile, energetic, risk taking, grandiose and visionary, and impatient with the status quo.« (Redfield Jamison 1997:122f)

Die häufigste unipolare Depressions-Diagnose, Major Depression (Major Depressive Episode/MDE), ist gekennzeichnet durch zwei Leitsymptome: 1. ein totaler Verlust des Interesses an (fast) allen Tätigkeiten und 2. eine traurige Verstimmung oder Niedergeschlagenheit, die sich über mindestens zwei Wochen hinzieht und die Mehrheit aller Tage vorherrscht. Symptome zweiten Ranges1 sind unter anderem Schlafstörungen, Appetitveränderungen, Müdigkeit, motorische Unruhe oder Verlangsamung, Suizidgedanken und/oder Suizidversuche, Entscheidungs- und/oder Konzentrationsschwierigkeiten. Als Dysthymie wird eine Form der Depression diagnostiziert, die nur an »der Hälfte aller Tage« vorhanden ist und nur zwei zusätzliche Symptome der Depression aufweist, die aber über einen längeren Zeitraum, mindestens aber über zwei Jahre besteht und eine eher charakterliche Disposition zur Depression darzustellen scheint. Dabei besteht der Unterschied in der Schwere der Depression und darin, dass hier keine klar abgrenzbare depressive Episoden beobachtet werden, sondern das Vorhandensein von depressiven Symptomen über einen längeren nicht abgrenzbaren Zeitraum. Für die Diagnostik ist es oftmals schwer, diese Depressions-Diagnosen klar abgrenzbar voneinander zu trennen, zumal sie nicht selten miteinander korrelieren und in Form einer Double Depression, einer Dysthymie bei gleichzeitiger akuter Major Depression, gemeinsam auftreten. In der Double Depression leiden die depressiven Personen unter einer grundsätzlichen, stets vorhanden depressiven Verstimmung, die phasenweise in Episoden einer Major Depression (MDE)

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Von den Symptomen zweiten Ranges müssen zusätzlich drei über einen zweiwöchigen Zeitraum vorhanden sein.

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gipfeln kann. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, auf einer zweiten Achse eine depressive Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, bei der nicht eine akute Störung, sondern eine charakteristische depressive Persönlichkeitsausprägung diagnostiziert wird.2 Die Kategorie der Major Depression weist verschiedene Unterformen auf, wie z.B. die lavierte somatische Depression, die sich vornehmlich in körperlichen Symptomen ausdrückt und in der Affekt und Interessensverlust weniger deutlich hervortreten oder die ängstliche Depression, in der Symptome der Angst die Depression weitgehend in den Hintergrund zurücktreten lassen können. Viele der Symptome der Major Depression können sowohl in einer positiven als auch einer negativen Ausprägung desselben Symptoms auftreten. So gilt sowohl Gewichtszunahme als auch Abnahme als Depressionssymptom, ebenso verlangsamte Motorik oder nervöse Agitiertheit. Auch die Schlafprobleme von Depressiven können sich in vermehrtem oder reduziertem Schlaf ausdrücken, in abendlichen Einschlafstörungen, zu frühem morgendlichen Erwachen oder in Durchschlafstörungen. Zur Veranschaulichung der operationalisierten Diagnosepraxis nach DSM-IV ist in der folgenden Abbildung eine Auflistung der Diagnosesymptome für die häufigsten unipolaren Depressionsdiagnosen dargestellt. Die Depression kann sich in einer Vielfalt von individuellen Ausprägungen zeigen, und es ist nicht immer leicht, sie zu diagnostizieren. Der Depressionsforscher Herbert Will fasst das Problem der symptomorientierten Diagnostik nach ICD-10, dem europäischen Klassifikationssystem, zusammen: »Wer sich mit der Diagnostik depressiver Störungen nach ICD-10 schwer tut, mag sich damit trösten, dass er nicht allein steht.« (Will 2008:57). So zeigen Interrater-Realibilitätsstudien das DiagnostikerInnen Depressive häufig »falsch« klassifizieren (Will 2008:57). Besonders dann, wenn die depressiven Symptome auf eine Dysthymie zurückzuführen seien, würde die Dysthymiediagnose, für die eine klare Psychotherapieindikation vorliege, häufig durch die Diagnose »Depression mit rezidivierenden Episoden« »wegdiagnostiziert« (Will 2008:57).

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Achse I des fünfgliedrigen DSM-Systems erfasst Klinische Störungen, Achse II Persönlichkeitsstörungen, Achse III medizinische Krankheitsfaktoren, Achse IV Psychosoziale Probleme und Achse V die Globale Beurteilung des Funktionsniveaus (GAF).

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Will kritisiert, dass viele KlinikerInnen zu einer »doppelten Buchführung« neigten, indem sie in ihrer Praxis altbewährte, aber im DSM überholte diagnostische Bezeichnungen, wie z.B. »neurotische Depression«, oder »reaktive Depression« verwendeten, aber zur Dokumentation gegenüber der Klinik, Wissenschaft oder Krankenkasse operationalisierte ICD-10 oder DSM-IV Diagnosen chiffrierten. Abbildung 2: DSM-IV Diagnose Depressiver Störungen

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Neben der Schwierigkeit einer reliablen kategorialen Depressionsdiagnostik aufgrund vielfältiger und individueller Symptomausprägungen werden die vom DSM gesetzten Cut-Off Werte als abstrakte Grenzziehung kritisiert, die ohne eine valide empirische Begründung stattfände (Field 2000). Nach Field (2000) ist z.B. theoretisch unklar, inwiefern eine als depressiv kategorisierte Person, die unter fünf Symptomen innerhalb von zwei Wochen leidet, sich von einer Person unterscheidet, die nicht die Kriterien erfüllt, aber unter drei Symptomen innerhalb von vie r Wochen leidet. Die Grenzziehungen erfolgten willkürlich. Die Kritik richtet sich dabei auf die Frage, welche validen Qualitätsunterschiede zwischen einer Major Depression nach DSM-IV und einer Depression, die DSM-IV Kriterien nicht erfüllt, tatsächlich bestehen. Ist der Unterschied ein kategorialer, der Depressive eindeutig von Nicht-Depressiven trennt? Tatsächlich erscheint eine kategoriale Trennung zwischen klinischem Krankheitsbild und »normaler« depressiver Verstimmung oder eine Abgrenzung hin zur Trauer schwierig. So fragen auch Patrick Luyten und Sydney J. Blatt am Beispiel der Depression: »Is it Time to change the DSM Approach to Psychiatric Disorders?« (Luyten und Blatt 2007:85). Das DSM-IV bietet objektive und universelle Kategorien an, die anhand einer einheitlichen symptomorientierten Klassifikation der Depression besonders die Vergleichbarkeit der Ergebnisse internationaler Forschung ermöglichen. Dennoch gibt es unter DepressionsforscherInnen auch immer wieder Kritik an der systematisch kategorialen Unterteilung. Der Depressionsforscher Sindey J. Blatt zum Beispiel betrachtet Depressionen als ein Kontinuum depressiven Affekts, das von milden, vorübergehenden Reaktionen auf ein belastendes Lebensereignis, bis hin zu schweren rezidivierenden oder langanhaltenden Störungen reicht, und in extremer Ausprägung auch mit psychotischen Symptomen einhergehen kann (Blatt 1995). In diesem Verständnis unterscheidet sich die Depression nicht kategorial vom gesunden Erleben, sondern nur in ihrer Ausprägung und Intensität. Sie ist auf einem Kontinuum angesiedelt von dysphorischer Stimmung oder »Mikrodepression« bis zur schweren klinischen Depression (Bohleber 2005: 781). Blatt steht damit in einer psychoanalytischen Tradition, in der die Depression nicht nur als Ausdruck von Krankheit oder Störung betrachtet wird, sondern in milder Ausprägung auch als Ausdruck des individuellen Spektrums menschlicher Reaktionen auf Verlust, Hilflo-

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sigkeit und Ohnmacht verstanden wird.3 Anstelle oder ergänzend zu einer kategorialen Unterscheidung nach dem Schweregrad der Symptome schlägt er eine inhaltlich geleitete Unterteilung nach der Depression zugrundeliegenden Themen und konflikthaftem Erleben vor (Blatt 2004). In der vorliegenden Arbeit wird die Depression sowohl als klinische psychiatrische Diagnosekategorie diskutiert als auch in ihrer Eigenschaft als eher dimensionaler Indikator einer – möglicherweise auch gesellschaftlich, kulturell erfassbaren – Stimmungslage. Dabei wird sowohl für eine klinisch-psychiatrische Definition als auch für eine inhaltlich-psychodynamische Konzeptualisierung sowie für kulturwissenschaftliche Bedeutungszusammenhänge der Depression von einem Zusammenhang mit geschlechtlichen Kodierungen ausgegangen, die im Folgenden zunächst für die klinische Depressionsdiagnose herausgearbeitet werden.

3. P SYCHOLOGISCHE S TUDIEN UND G ESCHLECHT

ZU

D EPRESSION

Frauen erscheinen als »depressives Geschlecht«. In empirischen, statistischen psychologischen oder psychiatrischen Untersuchungen, aber auch im gesellschaftlichen Depressionsdiskurs, dominieren Frauen das Bild der Depression. Im folgenden Kapitel 3.1. Frauen und Depression werden Studien zur Häufigkeitsverteilung der klinischen Depression bei Frauen und Männern sowie geschlechtsspezifische Risikofaktoren diskutiert, die Frauen für depressive Störungen empfänglicher

3

1953 beschreibt der Psychoanalytiker Eduard Bibring Depression als universelle menschliche Reaktionsweise auf einen Zustand von Hilflosigkeit gegenüber überwältigenden Schwierigkeiten (vgl. Bohleber 2005, Bleichmar 1996). Auch Sandler und Jofffe (1965) beschreiben die Depression als fundamentale psychische Affektreaktion auf den Verlust eines Idealzustands, die von der klinischen Ausprägung, die langanhaltender und intensiver ist, abzugrenzen sei (Mentzos 2006). Depression ist nach Joffe und Sandler (1965) ein Grundgefühl – ähnlich dem Gefühl der Angst (Mentzos 2006). Sandler, Joffe und Bibring nehmen an, dass die Depression – ähnlich der Signalangst – Abwehrkräfte mobilisieren kann und nicht notwendigerweise immer in eine Krise führen muss (Mentzos 2006).

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machen als Männer. In Kapitel 3.2. Männer und Depression werden die Befunde zu Frauen und Depression unter »umgekehrten Vorzeichen« wieder aufgegriffen und in Verbindung mit der Frage spezifisch »männlicher« Risikofaktoren und einer Unterdiagnose von »männlichen« Depressionen untersucht. 3.1 Frauen und Depression Statistische Untersuchungen des Depressionsrisikos bestätigen, dass Frauen öfter an Depressionen leiden als Männer (Bebbington et al. 1981, Kessler et al. 1993, Weissman et al. 1993, Gutierrez-Lobos et al. 2000). Das Depressionsrisiko von Frauen wird mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 20 Prozent als etwa doppelt so hoch eingeschätzt, wie das von Männern mit etwa 12 Prozent (Nolen-Hoeksema 1987, APA Research Agenda for Psychosocial and Behavioral Factors in Women’s Health 1996). Wolfersdorf et al. (2006) sowie Piccinelli und Wilkinson (2000) halten den Geschlechtsunterschied zwischen Männern und Frauen in der Depression sogar für eines der am besten belegten Ergebnisse der empirischen Depressionsforschung. Blazer et al. (1994) beispielsweise untersuchen in einer US-amerikanischen Studie die Prävalenz der Major Depressive Disorder (MDD) in einer randomisierten bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von über 8000 Männern und Frauen. Insgesamt weisen 4.9 Prozent der Personen in der Stichprobe eine Depression auf. Der Prozentsatz der Frauen liegt mit 6 Prozent deutlich höher als das Risiko der Männer mit 3.8 Prozent. Auch die Lebenszeitprävalenz der Depression für Frauen liegt in der Studie mit 21.3 Prozent etwa doppelt so hoch wie die der Männer mit 12.7 Prozent. Das geschlechtlich unterschiedliche Depressionsrisiko erweist sich als stabil, sowohl in internationalen Studien als auch für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Schichten innerhalb eines Landes. Innerhalb der USA weisen sowohl weiße, schwarze als auch lateinamerikanische Frauen erhöhte Depressionswerte gegenüber Männern auf (Russo, Amaro & Winter 1997). Ein Geschlechtsunterschied bleibt auch dann bestehen, wenn Einkommensniveau, Bildung und Beruf statistisch kontrolliert werden (Ensel 1982, Radloff 1975, McGrath et al. 1994). Stabile

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Werte in Geschlechtsunterschieden der Depression sind international publiziert (McGrath et al. 1994, Nolen-Hoeksema 1990, Dech 2005).4 Der sogenannte »Gender Gap« (Bebbington 1996) der Depression variiert zwar je nach diagnostischem Subtyp, in den häufigsten psychiatrischen Kategorien der depressiven Störungen ist er jedoch für Frauen substantiell erhöht, darunter MDE, Dysthymie, Atypische Depression und Saisonale Depression (Piccinelli & Wilkinson 2000). Zudem scheint es unerheblich, ob Studien sich an klinischen Diagnosekategorien orientieren oder im Sinne eines Kontinuums an der Häufigkeit angegebener depressiver Symptome in Fragebögen oder Interviewverfahren. Frauen weisen sowohl in der subklinischen Angabe von Symptomen depressiver Verstimmung als auch in klinischen Depressionsdiagnosen höhere Werte auf (Kessler et al. 1993). Kornstein et al. (1995) untersuchten 198 Männer und Frauen, die nach DSM-Kriterien unter einer chronischen Majoren Depression litten und die zum Zeitpunkt der Studie bereits mehr als zwei Jahre depressiv waren. In der Studie geben Frauen mehr und schwerere Symptome in allen untersuchten Bereichen an. In Übereinstimmung mit traditionellen Geschlechternormen berichten depressive Frauen häufiger von Problemen in der Ehe und Familie, während depressive Männer mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Alkohol- und Drogenmissbrauch berichten. Die APA bezeichnet Depressionen als wichtigstes psychisches Gesundheitsrisiko von Frauen, insbesondere von jungen Frauen, die Kinder großziehen (APA 2007, Glied & Kofman 1995). Das Depressions-

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In einem Review internationaler Depressionsraten weist Nolen-Hoeksema (1990) etwa doppelt so hohe Depressionsraten von Frauen gegenüber Männern für fast alle bislang untersuchten Länder nach. Nur in wenigen Ländern wurden keine signifikanten Geschlechtsunterschiede festgestellt (z.B. in Studien aus dem Irak, Indien, Ägypten, Zimbabwe und Nigeria). Die Gründe warum Männer und Frauen in diesen Ländern ein gleich hohes Depressionsrisiko aufweisen sind unklar. In den Studien, in denen keine Unterschiede gefunden wurden, wurden allerdings keine international anerkannten, einheitlichen diagnostischen Kriterien zur Depressionsdiagnose zugrundegelegt. Darüber hinaus ist es möglich, dass in manchen Entwicklungsländern der Zugang von Frauen zu psychiatrischer Hilfe stärker eingeschränkt ist, als der von Männern. Zusammenfassend zeigen jedoch Studien, die standardisierte Verfahren verwenden, signifikant höhere Depressionsraten für Frauen als für Männer.

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risiko von Frauen aus niedrigeren sozialen Schichten ist dabei besonders hoch. Ein niedrigerer Bildungsstatus und Arbeitslosigkeit erhöhen das Depressionsrisiko. Während ökonomische Faktoren das Depressionsrisiko generell verstärken, sind Frauen von diesen Faktoren disproportional stärker betroffen als Männer. Ein zusätzliches Problem für Frauen besteht in einer hohen Zahl von Fehldiagnosen (McGrath et al. 1994). Depressionen bei Frauen werden in 30-50 Prozent der Fälle vom Hausarzt nicht erkannt (McGrath et al. 1994). Gleichzeitig werden z.B. in den USA 70 Prozent aller Antidepressiva an Frauen verschrieben und dies oftmals nach nur ungenauer Diagnostik und Befundlage durch den Hausarzt. Die Medikamentenvergabe wird vielfach schlecht begleitet und der Missbrauch von ärztlich verschriebenen Medikamenten stellt daher besonders für Frauen eine Gefahr dar (McGrath et al. 1994). Eine unbegleitete Antidepressivavergabe kann Passivität und Opferhaltung zusätzlich verstärken und zur Aufrechterhaltung von Depressionen beitragen (McGrath et al. 1994). Insgesamt nehmen depressive Frauen mehr Medikamente ein als Männer, begehen mehr Medikamentenmissbrauch, weisen eine längere Krankheitsdauer auf und zeigen eine höhere Inanspruchnahme medizinischer Versorgung (McGrath et al. 1994). 3.1.1 Geschlechterdifferenz als methodischer Artefakt Während die Existenz einer Geschlechterdifferenz in der Depression gut belegt ist, herrscht über die Gründe für das erhöhte Risiko von Frauen bislang weniger Einigkeit (Nolen-Hoeksema et al. 1999, Piccinelli & Wilkinson 2000). Nach Gutierrez-Lobos et al. (2000) stehen die in empirischen Depressionsstudien konsistent nachweisbaren Geschlechtsunterschiede ganz im Gegensatz zum Mangel an Erklärungen für diesen Unterschied. Auch Piccinelli & Wilkinson (2000) fordern in ihrem Review des Gender Gaps einen integrativen Ansatz in der Erforschung des geschlechtlichen Depressionsrisikos. Uneinigkeit herrscht jedoch bereits über die Bewertung der geschlechtersensibeln Depressionsstatistiken: Beruhen die berichteten Geschlechtsunterschiede auf qualitativen und quantitativen Häufigkeitsunterschieden zwischen Männern und Frauen oder sind sie nur ein Ausdruck methodischer Ungenauigkeiten? Phillips und Segal (1969) argumentieren, dass Frauen deswegen öfter als depressiv diagnostiziert werden als Männer, weil sie häufiger professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Frauen zeigten konsistent mit weiblichen Rollennormen ein ausgeprägteres »Hilfesuch-Verhal-

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ten«, weshalb sie auch vermehrt einen Arzt oder Diagnostiker aufsuchen. Ein solcher methodische Bias kann durch randomisierte, bevölkerungsrepräsentative Stichproben, wie z.B. in der eingangs zitierten Studie von Blazer et al. (1994), umgangen werden. In diesen Studien werden Zufallsstichproben in der Allgemeinbevölkerung vorgenommen, und es wird nicht auf bereits diagnostizierte klinische Populationen zurückgegriffen, in denen sich nach der Theorie von Philips und Segal (1969) allein aufgrund einer höheren medizinischen Inanspruchnahme vermehrt Frauen finden. Eine Studie von O’Neil et al. (2004) bestätigt die Annahme, dass Frauen mit depressiven Symptomen eher medizinische Hilfe in Anspruch nehmen als Männer. Die AutorInnen untersuchen in einer Stichprobe von 183 depressiven Studentinnen und Studenten Ursachen für das häufigere Hilfesuchverhalten depressiver Frauen. In der Studie findet sich eine Tendenz von Studentinnen zu höherer Inanspruchnahme medizinischer, psychiatrischer Hilfe. Dabei stellte sich heraus, dass das häufigere Hilfesuchen nicht an einer häufigeren Prävalenz weiblicher Depressionen oder an deren Schweregrad lag. Unterschiede zeigen sich zwischen Frauen und Männern nur in den Einstellungen zu emotionalen Problemen und psychiatrischer Hilfe. Depressive Studentinnen neigen eher dazu Depressionssymptome als psychisches oder emotionales Geschehen zu betrachten und sich dafür Hilfe zu suchen, während männliche Studenten die Symptome eher als biologisch verursacht betrachten und weniger bereit sind, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Becker und Minsel (1989) vermuten hinter der erhöhten Häufigkeit der »weiblichen Depression« daher auch eine Verzerrung in der Angabe depressiver Symptome. Das höhere Depressionsrisiko der Frau sei das Artefakt einer erhöhten Antwortbereitschaft von Frauen in psychologischen Untersuchungen und gebe nicht die tatsächlichen Depressionszahlen wieder. Wie die Studie von O’Neil et al. (2004) nahe legt, besteht bei Frauen eine erhöhte Erinnerungsfähigkeit für depressive Episoden und eine größere Offenheit in der Wahrnehmung und Angabe depressiver Symptome. Bei Frauen gebe es, so Brähler und Felder (1999), eine größere Bereitschaft, über Ängste, Depressionen und seelische Konflikte zu berichten. Frauen und Männer reagieren auf Belastungen entsprechend den in der Gesellschaft vorherrschenden Geschlechtrollenzuschreibungen (Brähler und Felder 1999). Frauen werde eine schnellere Dekompensation zugebilligt, Männer hingegen

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würden eher zum Verdrängen angehalten. Eine höhere Leidensfähigkeit von Frauen kann aber auch als gesundheitserhaltender Faktor betrachtet werden (Brähler und Felder 1999, Richter 1973). Dass Frauen eine höhere Offenheit und eine andere Verarbeitung von Krankheit und Konflikten zeigen, wird nicht nur als Risiko diskutiert: McGrath (1994) interpretiert die höhere Bereitschaft von Frauen, über Traurigkeit und Schwierigkeiten zu berichten sogar als Kompetenz. Diese Fähigkeit stelle einen Schutzfaktor vor Depressionen dar. Die Fähigkeit über Probleme und Trauer zu sprechen, führe nicht dazu, dass mehr Frauen als depressiv kategorisiert würden, sondern erkläre vielmehr, warum – trotz aller spezifisch weiblichen Risiken für die Depression – »nicht mehr Frauen depressiv werden.« (McGrath 1994:48). Unabhängig davon, ob die Bereitschaft von Frauen, soziale Unterstützung und medizinische Versorgung einzufordern, einen Schutzfaktor oder einen methodischen Bias darstellt, kommen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass methodische Faktoren alleine den Geschlechtsunterschied nicht hinreichend erklären können. So weisen etwa Weissmann & Klerman (1977) darauf hin, dass empirische Untersuchungen einen realen Geschlechtsunterschied in den Häufigkeiten von Depression belegen, der nicht auf einen methodischen Bias oder Geschlechtsunterschiede in Hilfesuchverhalten oder ein weibliches »Overreporting« von Symptomen zurück geführt werden kann. Über die Lebenszeit betrachtet, scheinen Geschlechtsunterschiede sogar gar keinen signifikanten Einfluss auf die Angabe von Depressionen zu haben (Wilhelm & Parker 1994). Die gefundenen Geschlechtsunterschiede lassen sich also nicht vollständig durch eine geschlechtlich unterschiedliche Inanspruchnahme medizinischer Versorgung erklären, auch wenn der unterschiedliche Umgang mit psychischen Konflikten Einfluss auf die Depressionsstatistiken nehmen kann. Zusätzlich herrscht eine Kontroverse darüber, ob die erhöhten Depressionszahlen bei Frauen auf einen früheren Beginn von weiblichen Depressionen hinweisen oder auf häufigere und längeranhaltende Depressionsepisoden (Kessler et al. 1993). Für eine statistische Berechnung der Lebenszeitprävalenz, die das Risiko über die Lebensspanne berücksichtigt und die in Studien stabil bei etwa 2:1 liegt, ist diese Kontroverse jedoch unerheblich. Ein weiterer methodischer Faktor, der Auswirkungen auf die Depressionsstatistik ausüben kann, ist eine Tendenz von DiagnostikerInnen, Depressionen bei Frauen eher zu erkennen und öfter zu diagnosti-

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zieren als bei Männern. Potts et al. untersuchten das Ausmaß, in dem 523 KlinikerInnen Depressionsdiagnosen vom Geschlecht der Patientin oder des Patienten abhängig machen (Potts, Burnam & Wells 1991). Für eine große Stichprobe von 23101 PatientInnen wurde die (Depressions-)Diagnose von KlinikerInnen eingeholt und mit dem Ergebnis aus einem standardisierten diagnostischen Interview verglichen. Bei den im standardisierten Interview als depressiv diagnostizierten Patienten und Patientinnen erfassten die KlinikerInnen Depression bei Männern seltener als bei Frauen. Männer wurden im Vergleich zum standardisierten Test unterdiagnostiziert. Im Gegensatz dazu diagnostizierten KlinikerInnen auch Frauen als depressiv, die im standardisierten Interview als nicht depressiv diagnostiziert wurden. Frauen wurden demnach überdiagnostiziert. Die Studie unterstützt die These einer Überdiagnose von »weiblichen« Depressionen und einer Unterdiagnose von »männlichen« Depressionen. Die Ergebnisse blieben auch dann stabil, wenn demographische Variablen und der Schweregrad der Depression der Testpersonen einbezogen wurden. Da aber in vielen Untersuchungen zur Depressionsprävalenz allein standardisierte Instrumente zur Diagnose eingesetzt werden, kann der Depressionsunterschied nicht alleine auf einen methodischen Bias zurückgeführt werden. In Hinblick auf den Einfluss von Geschlechtsrollennormen auf die Wahrnehmung und Behandlung von Depressionen ist die Untersuchung jedoch sehr bedeutsam. Merkmale der Depression sind gesellschaftlich weitaus stärker in Übereinstimmung mit Weiblichkeitsvorstellungen als mit Männlichkeitsbildern und dies hat sowohl für den gesellschaftlichen als auch für den medizinischen Diskurs über Depressionen weitreichende Folgen. Ein weiteres interessantes Beispiel für den Einfluss der symbolischen Geschlechterordnung auf die Diagnosepraxis von KlinikerInnen ist eine Studie von der Terrence Real (1997) berichtet. Der Psychotherapeut und Männlichkeitsforscher beschreibt eine Studie, in der KlinikerInnen randomisiert mit Fallgeschichten konfrontiert werden, in denen jeweils eine Variable, nämlich das Geschlecht der PatientInnen, geändert wird. Die KlinikerInnen diagnostizierten sowohl depressive männliche Patienten als auch alkoholabhängige weibliche Patientinnen jeweils als schwerer krank als deren gegengeschlechtliches Pendant: weibliche Depressive und männliche Alkoholabhängige. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Geschlechtsrollenvorstellungen und Emotionsnormen die Diagnoseentscheidungen von KlinikerInnen weitreichend beeinflussen.

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Real vermutet, dass die KlinikerInnen geschlechtsrollen-inkongruente Personen unbemerkt für das »Abweichen« von Emotionsnormen bestrafen. PatientInnen, die geschlechtsbezogene Emotionsnormen übertreten, werden aufgrund geschlechtsinkongruenten Verhaltens als schwerer gestört erlebt, als PatientInnen, die sich im engdefinierten Rahmen der kulturellen Geschlechterordnung bewegen. Die Studien von Real (1997) und Potts et al. (1991) sind Beispiele für die Relevanz von geschlechtlich kodierten Wissen über Gesundheit und psychische Krankheit. Dieses vergeschlechtliche, oftmals nicht bewusst reflektierte Wissen beeinflusst KlinikerInnen darin, Depression bei Frauen öfter, möglicherweise auch zu oft zu diagnostizieren und bei Männern zu unterdiagnostizieren; es verleitet sie auch möglicherweise dazu, depressive Männer als schwerer krank zu erleben und zu behandeln als depressive Frauen. Aber nicht nur DiagnostikerInnen unterlaufen implizite Geschlechtsrollenzuschreibungen, die das Verhalten gegenüber depressiven Männern und Frauen beeinflussen: Hammen und Peters weisen in einer Studie von 1978, die 1992 von Joiner et al. repliziert wurde, nach, dass depressive Studentinnen, die offen um Unterstützung und Hilfe suchen, von ihren CollegemitbewohnerInnen mehr soziale Unterstützung erhalten als männliche Depressive, die Hilfe suchen. Depressive Studenten erfuhren in den Studien von 1978 und 1992 oftmals anstelle von Hilfsangeboten soziale Isolierung, Zurückweisung und zum Teil sogar offene Aggression. Depressives Hilfesuchverhalten war offenbar bei den StudentInnen in beiden Untersuchungen als weiblich markiert und daher für Männer stigmatisiert. Die geschlechtsstereotypisierte Zuschreibung und Normierung von als »weiblich« geltendem (Gesundheits-)Verhalten können im Umgang mit depressiven Personen zu Stigmatisierungen führen. Darüber hinaus beeinflussen sie möglicherweise auch die Bewertung empirischer Ergebnisse. Auf diesem Weg schreibt sich geschlechtliches Wissen über Depression sowohl in die psychologische Wissensproduktion ein als auch in den alltäglichen Umgang von KlinikerInnen und sozialem Umfeld mit Depressiven. 3.1.2 Geschlecht in psychologischer Gesundheitsforschung Die einführende Debatte über methodische Unklarheiten und diagnostische Fehleinschätzungen im Feld der Depressionsforschung unterstützt die Annahme der Bedeutung geschlechtlichen Wissens und di-

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chotomer Emotionsnormen in der Depressionsforschung. Die These, dass dichotome Geschlechtsrollennormen die psychische und physische Gesundheit von Männern und Frauen insgesamt stark beeinflussen, ist ein zentraler Ausgangspunkt von empirischen Studien und Untersuchungen der psychologischen Gesundheitsforschung. Bevor im Folgenden der Einfluss von Geschlechts- und Emotionsnormen auf die Depressionsentwicklung und Depressionsdiagnosen ausführlich diskutiert wird erfolgt zunächst ein einführender Exkurs in die Methoden und Ergebnisse der psychologischen Gesundheitsforschung und Geschlechtsrollenforschung. Dieser Exkurs dient auch dazu, den Geschlechterbegriff in den hier dargestellten Untersuchungen abzubilden. Dabei soll das Konzept der männlichen und weiblichen Geschlechtsrollenorientierung als zentraler Gegenstand der psychologischen Auseinandersetzung mit Geschlecht und Gesundheit diskutiert werden. Dass sich Männer und Frauen in ihrer gesundheitlichen Lage und ihren Bedürfnissen unterscheiden, dass also Geschlecht eine zentrale Variable ist, die den Gesundheitszustand beeinflusst, gehört nach Kolip und Hurrelmann (2001) mittlerweile zum gesundheitswissenschaftlichen Basiswissen. Global, wenn auch nicht in jedem Indikator, weisen psychologische, empirische Befunde auf eine geringere psychische Gesundheit von Frauen hin (Becker & Minsel, 1986). In epidemiologische Studien erkranken Frauen in westlichen Industriegesellschaften häufiger an psychischen Störungen als Männer, nehmen mehr ärztliche und therapeutische Hilfe in Anspruch und häufiger Psychopharmaka ein. Gleichzeitig erhalten Frauen, die sich mit körperlichen Symptomen an Ärzte wenden, häufiger psychosomatische Diagnosen. Frauen werden zudem seltener teurere Medikamente oder kostenintensive medizinische Diagnoseprozeduren verschrieben. Frauen leiden häufiger an Depressionen, aber auch an Angststörungen, Phobien und psychosomatischen Symptomen. Bei Männern werden hingegen häufiger Persönlichkeitsstörungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch diagnostiziert (Becker & Minsel 1986). Auch die Ergebnisse von Persönlichkeitsbögen bestätigen diese Unterschiede: Frauen beschreiben sich selbst als ängstlicher, depressiver und unsicherer als Männer (Richter 1973, Becker & Minsel 1986). Auch hier existiert ein Methodenstreit: Becker und Minsel (1989) halten geschlechtsspezifische Antworttendenzen, nach denen Frauen eher bereit seien, psychische Probleme zuzugeben, für die regelmäßig auftretenden geschlechtlich unterschiedlichen Selbstauskünfte für mitverantwortlich. Nach Beckmann (1976) ver-

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drängen Frauen aufgrund einer größeren emotionalen Offenheit psychische Konflikte weniger in körperliche Krankheiten als Männer. Im Zuge des Einflusses der Gender Medizin in den englischsprachigen Ländern und den oben genannten Studienergebnissen zum »Einflussfaktor« Geschlecht hat sich auch im deutschsprachigen Gesundheitsbereich ein spezifisches Interesse an der Erforschung des Einflusses der Kategorie Geschlecht auf die körperliche und psychische Gesundheit von Männern und Frauen etabliert (Brähler & Felder 1999). Die Erforschung von geschlechtsspezifischen Risiken geht dabei von einem mehrfaktoriellen Zusammenwirken von biologischen Faktoren, psychischer Disposition und sozialen Einflüssen aus. Interesse besteht vor allem daran, Faktoren zu identifizieren, die Männer und Frauen für verschiedene Formen von Stress und Krankheit verletzlich machen. Geschlechtspezifische Unterschiede zwischen Männern und Frauen sollen analysiert und für eine differenz-sensible medizinische Forschung nutzbar gemacht werden. Viele der Studien im Bereich der Gender Medizin erfassen dichotome Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf Ebene des Körpergeschlechts (sex), z.B. um Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Depressionssymptomen festzustellen, oder aber um die Wirkung von Antidepressiva oder Schmerzmitteln nach Geschlechtern getrennt zu erfassen. Andere Studien in der Gesundheitsforschung arbeiten mit einem differenzierteren Konzept der Geschlechtsrollenorientierung, in dem eine Trennung zwischen biologischen Geschlecht (sex) und individueller psychosozialer Geschlechtsrollenorientierung (gender) vollzogen wird. Prognosen über den Gesundheitsstatus und das Gesundheitsverhalten von ProbandInnen lassen sich durch ein Konzept der Geschlechtsrollenorientierung besser vorhersagen als durch eine Trennung nach biologischem Sex (Sieverding 1999). Trotzdem orientiert sich auch eine Konzeptualisierung individueller Geschlechtsrollenorientierungen letztlich an dichotomen Geschlechterkodierungen, weshalb auch diese Form der psychologische Forschung von Seiten der GeschlechterforscherInnen oftmals als eine unhinterfragte Reproduktion gesellschaftlicher Normen und der Geschlechterordnung kritisiert wird (Maihofer 1995, Gildemeister & Wetterer 1992). Der Fokus der empirisch-psychologischen Untersuchungen, wie sie hier dargestellt werden, liegt weniger auf einer (geschlechter- und wissenschaftstheoretischen) Frage nach der Herstellung von Geschlechternormen und dichotomen Rollenvorstellungen, sondern nach

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deren unterschiedlichem Einfluss auf Männer und Frauen; bzw. auf unterschiedlich vergeschlechtlichte Körper. Analysegegenstand ist dabei, anders als in der Geschlechterforschung, weniger die Frage nach der gesellschaftlichen Herstellung von Differenz, als die Frage nach ihren individuellen Auswirkungen, d.h. nach geschlechtsspezifischen Unterschieden als Folge verinnerlichter kultureller Geschlechtsrollenorientierungen. Der Einfluss von binären Geschlechtsrollenzuschreibungen auf die Gesundheit und Krankheit von Männern und Frauen wird heute in den medizinischen und psychologischen Untersuchungen der Gesundheitsforschung kaum mehr in Frage gestellt. Dabei zeigt sich, dass kulturelle Geschlechtszuschreibungen sich in besonderer Weise durch ein geschlechtlich unterschiedliches Gesundheitsverhalten in die Körper von Männer und Frauen einschreiben und unterschiedliche geschlechtsspezifische Gesundheitsrisiken für die Geschlechter hervorbringen. Im Folgenden werden Ergebnisse aus diesem Forschungsfeld präsentiert. Hierbei wird zunächst nicht explizit auf die Depressionsforschung Bezug genommen. Vielmehr wird hier die Wirksamkeit der kulturellen Geschlechterordnung und der in ihr begründeten dichotomen Rollenvorstellungen auf Krankheit und Gesundheit dargestellt, bevor spezifische Fragen an die Verbindung von Depression und Geschlecht gestellt werden. In diesem Kapitel erfolgt eine Einführung in die psychologische Forschung zur Geschlechtsrollenorientierung, anhand derer die hier dargestellten empirischen Fragebogenstudien und experimentellen Versuchsanordnungen zur Verbindung zwischen Depression und Geschlecht eingeordnet werden können. »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« sind komplexe Konstrukte, die in der psychologischen Definition so unterschiedliche Facetten umfassen wie Körperlichkeit, Sexualität, Werte und Normen, Aktivitäten, Eigenschaften und Verhaltensweisen sowie nonverbale Kommunikation (Alfermann 1996, Sieverding 1999). Gesundheitspsychologische Konzepte von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit«, wie sie in diesem Kapitel behandelt werden, arbeiten häufig mit einem Begriff der Geschlechtsrolle bzw. der Geschlechtsrollenorientierung, ein Konstrukt, das sich auf verschiedenen Ebenen des Geschlechtsbegriffes bewegt. Alfermann (1999) unterscheidet die Geschlechtsrolle nach a) dem biologischen Geschlecht, b) der sozialen Geschlechtsrolle, die oftmals mit dem biologischen Geschlecht kongruent ist, aber nicht immer mit ihm

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überlappen muss und c) psychologischen »Charakteristika« bzw. Persönlichkeitsmerkmalen, die mit dem biologischen und sozialen Geschlecht in Verbindung gebracht werden. Wahrnehmungen und Erfahrungen der Geschlechter werden durch die jeweilige, individuelle Geschlechtsrollenorientierung stark beeinflusst und üben in den meisten Lebenskontexten einen erheblichen Einfluss aus (Alfermann 1996, Sieverding 1999). Das Konstrukt der Geschlechtsrolle besteht aus: »[…] behaviors, expectations, and role sets defined by society as masculine or feminine which are embodied in the behavior of the individual man or women and culturally regarded as appropriate to males or females.« (O’Neil 1981:203). In dieser Definition bestimmt die Geschlechtsrollenentwicklung, in welcher Weise verschiedene individuelle Persönlichkeitsmerkmale erworben werden, die auf Grund sozialer Definitionen und gesellschaftlicher Erwartungen als für das eine oder andere Geschlecht als angemessen gelten. Der Prozess der Geschlechtsrollenentwicklung vollzieht sich dabei sowohl auf kognitiver als auch auf affektiver Ebene und schließt die Verhaltensebene mit ein (Alfermann 1993). Nach einer erweiterten Definition von GloglerTippelt (1996) umfasst die Entwicklung der Geschlechtsrolle, die sie mit dem Begriff der Geschlechtstypisierung beschreibt, die Entstehung der Geschlechtsidentität, den Erwerb von Wissen über die Geschlechtsstereotype von Geschlechtsrollen, dies sowohl auf individueller Ebene als auch in Form geschlechtsschematischer Urteilskategorien auf sozialer, gesellschaftlicher Ebene. Diese relativ übereinstimmenden Definitionen psychologischer GeschlechtsforscherInnen (Alfermann 1996, Glogler-Tippelt 1996, Sieverding 1999) gehen auf Weiterentwicklungen einer frühen Unterscheidung von Parsons und Bales (1955) zurück. Nach Parsons und Bales (1955) werden Männern und Frauen unterschiedliche Geschlechtsrollen im Familiensystem zugeschrieben. Dabei werde an den Mann, der den Ernährer der Familie darstelle, die Verhaltenserwartung einer instrumentellen/maskulinen Rolle gerichtet. Der Mann sei zuständig für die materielle Basis und die Repräsentation der Familie nach außen. Die Frau hingegen erfülle die komplementäre expressive/feminine Rolle, nach der sie für innerfamiliäre Angelegenheiten verantwortlich sei, vor allem für die sozial-emotionalen Bedürfnisse der Familie. Mit diesen dichotomen Rollenzuschreibungen sind nach Parsons und Bales (1955) Persönlichkeitseigenschaften verbunden. Von dem Mann würden dabei eher instrumentelle Eigenschaften er-

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wartet, wie z.B. Selbstvertrauen, Unabhängigkeit und Dominanz, während der Frau expressive Eigenschaften, wie z.B. Wärme und Hilfsbereitschaft, zugeschrieben würden5. Obwohl sich die sozialen Rollen von Frauen und Männern seit der von Parsons und Bales getroffenen Unterscheidung verändert haben, finden sich Männer noch immer überwiegend in beruflich höheren Positionen, erhalten mehr Gehalt und sind öfter in der Rolle des Familienernährers, während Frauen sich, auch wenn sie einem Beruf nachgehen, primär für die Familie verantwortlich fühlen (Alfermann 1996). Parallel zu der von Parsons und Bales (1955) eingeführten Trennung zwischen instrumenteller-maskuliner und expressiver-femininer Rolle, herrschte bis in die 70er Jahre in der Forschung die Vorstellung, dass Maskulinität und Feminität sich auf einer Dimension erfassen lassen, von einem Pol extremer Maskulinität zu einem Pol extremer Feminität (Alfermann 1996, Sieverding 1990). Entsprechend einem Bild komplementärer Eigenschaftsmuster herrschte ein Kongruenz-Modell psychischer Gesundheit vor, nach dem die psychische Gesundheit am höchsten bei Personen mit einem zum biologischen Geschlecht passenden kongruenten Eigenschaftsmuster sein sollte. Für gesunde Männer galt eine ausgeprägte Instrumentalität/Maskulinität bei gleichzeitig niedrig ausgeprägter Expressivität/Feminität als erstrebenswert. Als gesund für Frauen galt eine ausgeprägte Feminität mit niedrigen maskulinen Anteilen. Zu Beginn der 70er Jahre wurde dieses eindimensionale Modell jedoch massiv kritisiert und stattdessen ein zweidimensionales Modell entwickelt, nach dem Maskulinität und Feminität nicht als Endpunkte auf einem Kontinuum, sondern als zwei voneinander unabhängige Dimensionen betrachtet werden. Nach diesem Konzept darf eine »gesunde« Person nun unabhängig von ihrem Geschlecht nun sowohl maskuline als auch feminine Attribute besitzen. Ausgehend

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Selbstverständlich gibt es keine Persönlichkeitseigenschaften oder Verhaltensweisen, die nur bei Männern oder nur bei Frauen zu beobachten sind, weshalb Bezeichnungen wie maskuline/instrumentelle oder feminine/ expressive Eigenschaften irreführend sind. In der Regel werden mit einer solchen Etikettierung jene Eigenschaften bezeichnet, die entweder nach ihrer Auftretenshäufigkeit oder ihrer sozialen Erwünschtheit zwischen den Geschlechtern differenzieren (Sieverding 1999). Dadurch werden, wie vielfach von feministischer Seite kritisiert wird, jedoch die Unterschiede zwischen Frauen und zwischen Männern unsichtbar gemacht.

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vom zweidimensionalen Modell der Maskulinität und Feminität führte Bem (1974) das Konzept der psychologischen Androgynie ein. Zurückgreifend auf Platons Ideal-Vorstellung vom Menschen als androgynes (Kugel-)Wesen, wonach der Mensch auch immer Anteile des anderen Geschlechts mit einschließt, definiert Bem (1974) Personen, die sowohl über expressive als auch instrumentelle Eigenschaften verfügen, als androgyn. Im Gegensatz zum Kongruenz-Modell psychischer Gesundheit behauptet das Androgynie-Modell, dass androgyne Personen – und nicht eindimensional feminine oder maskuline Personen – über eine adaptivere psychische Gesundheit verfügen. Da androgyne Personen über ein größeres Repertoire an Eigenschaften und Verhaltensweisen verfügen als einseitig geschlechtstypisierte Personen, könnten diese sich auf die Erfordernisse von verschiedenen Situationen besser und flexibler einstellen. In Folge der Abkehr vom Kongruenzmodell psychischer Gesundheit wurden schließlich Operationalisierungen vorgenommen, die in Fragebögen Feminität und Maskulinität unabhängig vom biologischen Geschlecht als ein zweidimensionales Konstrukt erfassen. Die Gesundheitsforschung untersucht in der Folge nicht biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sondern unterschiedliche Geschlechtsrollenvorstellungen von Männern und Frauen, ausgehend von der Annahme, dass die individuelle Geschlechtsrollenorientierung (gender) die Gesundheit stärker beeinflusst, als das biologische Geschlecht (sex). Am weithin gebräuchlichsten sind in dieser Forschung zwei Messinstrumente der Geschlechtsrollenorientierung: Das »Sex Role Inventory« (BSRI) von Bem (1974) und der Fragebogen zur Erfassung von geschlechtsspezifischen Attributen, der »Personal Attributes Questionnaire« (PAQ) von Spence, Helmreich und Stapp (1974). Beide Instrumente erfassen gemäß einem traitpsychologischen Ansatz die geschlechtstypisierte Selbstzuschreibung von Persönlichkeitseigenschaften. Maskulinität und Feminität werden anhand psychologischer Eigenschaften im Sinne eines instrumentell-maskulinen und expressivfemininen Geschlechtsrollenstereotyps erfasst. Dabei gelten die verwendeten Eigenschaften als für Männer und Frauen sozial erwünscht, instrumentelle Eigenschaften werden als maskulin kodiert (z.B. Mplus – aktiv und selbstbewusst), und expressive Eigenschaften als feminin typisiert (z.B. Fplus – hilfsbereit und freundlich). Die deutsche Version des PAQ, der German Extended Personal Attributes Questionnaire (GEPAQ) von Runge et al. (1981), enthält darüber hinaus eine Skala

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mit sozial unerwünschten expressiven Eigenschaften (z.B. Fminus – weinerlich, nervös) und eine Skala mit sozial unerwünschten instrumentellen Eigenschaften (z.B. Mminus – überheblich, zynisch). Die zweidimensionale Hypothese des PAQ und BSRI wurde durch zahlreiche empirische Untersuchungen belegt, nach denen sich Männer als durchschnittlich instrumenteller und weniger expressiv beschreiben als Frauen. Dennoch gibt es einen großen (oftmals vernachlässigten) Bereich der Überschneidung zwischen den Geschlechtern und eine Vielzahl von Frauen, die sich als instrumenteller beschreiben als Männer und umgekehrt (Sieverding 1999). Anhand des zweidimensionalen Ansatzes von Messinstrumenten wie dem PAQ und dem BSRI besteht nun die Möglichkeit, Personen anhand ihrer Werte in den Skalen der instrumentellen und expressiven Eigenschaften in die Kategorien feminin, maskulin und androgyn einzuteilen. Im Balance-Modell von Bem (1974) wird eine Person dann als androgyn eingestuft, wenn expressive und instrumentelle Eigenschaften ausbalanciert, d.h. möglichst ähnlich gewichtet und ausgewogen sind. Diese ursprüngliche Balancedefinition von Androgynie hat sich jedoch gegenüber einem Additiven-Modell von Androgynie (Spence, Helmreich & Stapp, 1975) nicht durchgesetzt. Im Additiven Modell liegt Androgynie dann vor, wenn sich die Eigenschaftswerte in positiv bewerteten stereotypen Eigenschaften der Maskulinität und Feminität addieren, d.h. wenn eine Person über ein hohes Maß an Instrumentalität und Expressivität verfügt. Personen, die über niedrige Werte in beiden Skalen verfügen, werden von Spence als undifferenziert bezeichnet. Tatsächlich stellte sich in empirischen Untersuchungen heraus, dass sich die Gruppe der androgynen von undifferenzierten Personen durch ein höheres Selbstwertgefühl (Spence et al. 1975) und höhere Anpassungsfähigkeit (Gilbert, Waldroop & Deutsch 1981) bei Androgynen wesentlich unterscheidet. In Anlehnung an Spence und Helmreich (1978) können in Übereinstimmung mit der Empirie vier Geschlechtsrollen-Selbstkonzept-Typen unterschieden werden: feminin, maskulin, androgyn und undifferenziert. Die so konstruierten Persönlichkeitstypen unterscheiden sich in empirischen Studien in vielen Merkmalen der psychischen Gesundheit. Für ein Androgynie-Modell psychischer Gesundheit, wie es Bem (1974) postuliert, finden sich jedoch nur bedingt Belege. Beispielsweise zeigt eine Meta-Analyse Whitleys (1983) von über 35 Studien zwar, dass androgyne Personen über ein höheres Selbstwertgefühl verfügen

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als feminine und undifferenzierte Personen, maskuline Personen besitzen jedoch ein entweder gleich hohes oder sogar höheres Selbstwertgefühl als androgyne Personen. In der Meta-Analyse ließen sich fast 27 Prozent der Varianz im Selbstwertgefühl durch ein maskulines Selbstkonzept erklären, während ein expressives Selbstkonzept nur drei Prozent der Varianz erklären konnte. Bereits hier findet sich eine Überschneidung bzw. positive Korrelation von Instrumentalität/ Maskulinität und Selbstwert, die sich als wichtiger Faktor für den Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht erweisen wird. Taylor und Hall (1982) kommen nach einer Reanalyse verschiedener Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass ein Maskulinitäts-Modell psychischer Gesundheit mit der Datenlage wohl am ehesten vereinbar sei. Sieverding (1990) untersucht 450 MedizinstudentInnen unter denen feminine und undifferenzierte StudentInnen ein signifikant niedrigeres globales Selbstwertgefühl und einen geringeren Optimismus aufweisen als androgyne und maskuline StudentInnen – beide gelten als gut untersuchte Protektionsvariablen psychischer Gesundheit (Taylor & Brown 1988). Auch Helgeson (1994) fand einen Bezug zwischen Maskulinität/Instrumentalität und verminderter Depressivität, verringerter Angst, erhöhtem Selbstwertgefühl und weniger psychosomatischen Beschwerden. Geschlechtsunabhängig erscheint Anpassungsfähigkeit, Kompetenz, Kreativität und Flexibilität bei Probanden mit hoher Instrumentalität/Maskulinität, die auch als »Agency«6 bezeichnet wird, am höchsten ausgeprägt (Jones et al. 1978); und auch das Problemlöseverhalten scheint bei maskulinen ProbandInnen mit einer größeren Bereitschaft verbunden, sich Problemen zu nähern sowie mit größerer Selbstwirksamkeit und größerem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (Brems & Johnson 1989). Weiterhin beschreiben sich instrumentelle

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Agency bezeichnet im Englischen eine »Agentur« oder ein »Amt«. Neben der »Geschäftsstelle« steht der Begriff auch für »Tätigkeit« und »ausführendes Organ« (vgl. Leo Dictionary) und weist eine deutliche Assoziation zum beruflichen Bereich auf, der symbolisch mit Männlichkeit assoziiert ist. Dem Begriff der »Agency« wird in der Geschlechtsrollenforschung auch der Begriff der »Communion« (Bakan 1966) gegenübergestellt, der in der Übersetzung für religiöse »Kommunion« und »Gemeinschaft« steht und mit dem interpersonalen Bereich, und so symbolisch mit der Frau und dem kollektiven Gemeinschaftskörper assoziiert ist.

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Frauen als glücklicher, kompetenter und anpassungsfähiger als androgyne oder expressive Frauen (Bierhoff & Ludwig 1991). Frauen mit einem hohen Maß an Instrumentalität können nach Bierhoff & Ludwig (1991) mit negativen Lebensereignissen besser umgehen als Frauen, die sich als expressiv beschreiben. Bulimische Patientinnen beschreiben sich im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe hingegen als weniger instrumentell (Habermas 1990). Grimmel (1998) wiederum kritisiert Studien, die von einem Maskulinitätsmodell psychischer Gesundheit ausgehen. Er erkennt an, dass diese konsistent Ergebnisse hervorbringen, in denen maskuline Eigenschaften mit niedriger Angst, weniger depressiver Verstimmung und niedriger Feindseligkeit korrelieren. Trotzdem führten auch maskuline Eigenschaften nicht immer und universell zu größerer Zufriedenheit und Gesundheit (Grimmel 1989). In einem Berufsumfeld, in dem stärker feminine Eigenschaften gefragt werden (z.B. im Beruf der Krankenschwester oder anderen »Caretaking« Berufen) sind Erfolg und Zufriedenheit hingegen stärker vom Vorhandensein femininer Eigenschaften abhängig (Grimmel 1989). Eine Berufsanforderung, die nicht mit der individuellen Rollenorientierung einer Person übereinstimmt, kann zu Rollenkonflikten führen, ganz unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau bzw. um eine instrumentelle oder expressive Person handelt. Ein situationelles, kontextuelles Verständnis des Einflusses der Geschlechtsorientierung auf Gesundheit ist daher bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen (Grimmel 1998). Auch Alfermann (1999) betont, dass Feminität einen positiven Zusammenhang mit seelischer Gesundheit aufweisen kann, nämlich dann, wenn interpersonale Kompetenzen, wie Kontakt oder Beziehungsfähigkeit untersucht werden. Würde jedoch der Zusammenhang mit traditionellen leistungsbezogenen Erfolgsvariablen gemessen, sei Männern wie Frauen klar, worauf es ankomme: »[...] weniger auf feminine expressive, Eigenschaften, als vielmehr auf instrumentelle Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Unabhängigkeit und Selbstsicherheit.« (Alfermann 1999:68). Die Datenlage scheint Maskulinität (bzw. Instrumentalität/Agency) in Übereinstimmung mit binären Geschlechtsrollenzuschreibungen weithin eine positive Beziehung zu psychischer Gesundheit zu bescheinigen, während Feminität/Expressivität vergleichsweise unbedeutend, wenn nicht gar ungünstig für die Gesundheit erscheint (Whitley 1983). Trotz Bemühungen von Seiten feministischer ForscherInnen

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wie Bem (1974) oder Alfermann (1999) und Sieverding (1999) scheint es nicht zu gelingen, die Vorstellung von einem androgynen Gesundheitsmodell durchzusetzen oder zu belegen. Stattdessen hat sich in der Gesundheitsforschung ein Maskulinitätsideal bestätigt, dass für Maskulinität als Gesundheitsfaktor wirbt (Taylor & Hall 1982). Brovermann et al. (1972) kritisieren einen doppelten Standard psychischer Gesundheit, der mit kulturellen Geschlechtszuschreibungen kompatibel sei. Dabei seien die Eigenschaften, die dem gesunden Erwachsenen zugeschrieben würden, identisch mit typisch männlichen Eigenschaften, aber nicht mit den Eigenschaften gesunder Frauen, diese glichen vielmehr denen psychisch kranker Männer. Dass Frauen psychische Störungen durchschnittlich häufiger angeben, führte beispielsweise in älteren Fassungen des renommierten Freiburger Persönlichkeits-Inventars (FPI, Fahrenberg et al. 1974) zur Konstruktion einer Maskulinitätsskala, in der eine typisch männliche Selbstschilderung synonym mit psychischer Gesundheit gesetzt wurde, während eine als weiblich kodierte Selbstbeschreibung mit psychischer Gestörtheit gleichgesetzt wurde (Sieverding 1999). Obwohl die Maskulinitätsskala in der revidierten Fassung des FPI abgeschafft wurde, findet sich nach Alfermann (1999) ein entsprechender Maskulinitätsbias noch immer in der psychologischen Forschung zu Geschlecht und Gesundheit. Alfermann weist darauf hin, dass die Gesundheitsforschung an einem maskulinen Bias kranke, der solche Ergebnisse hervorbringe. Dies liege zum einen an einem Bias in der stereotypen Bewertung von Maskulinität und Feminität und zum anderen an einem Bias in den ausgewählten Indikatoren für seelische Gesundheit. Ein männliches Stereotyp wird auch daher positiver und differenzierter dargestellt, weil es der dominanten Ingroup entspricht (Alfermann 1999). Maskuline Eigenschaften werden gesellschaftlich positiver bewertet als weibliche (Williams und Best 1990). Darüber hinaus stehen instrumentelle Verhaltensweisen, definiert z.B. als eine aktive Lebensgestaltung und die Selbstsicherheit, eigene Ziele und Bedürfnisse zu verfolgen, nicht nur direkt im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit, sondern gesellschaftliche Verstärkungsmuster belohnen die Personen vielfach, die sich mit ihrem instrumentellen Verhalten kongruent mit den gesellschaftlichen Kriterien für Erfolg verhalten (Alfermann 1999). Nach diesen wird Erfolg und Glück vorwiegend nach beruflichen Kriterien gemessen, für die maskuline Eigenschaften wie Stärke und Aktivität begünstigend wirken. Wer sich selbst als ent-

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schlussfreudig, durchsetzungsfähig und leistungsorientiert wahrnimmt, tritt selbstbewusster auf, erhält mehr (materielle) Belohnungen und kann sein Leben positiver mit gestalten (Alfermann 1999). So werden Frauen beispielsweise im Beruf als weniger kompetent eingeschätzt als ihre männlichen Kollegen, erhalten weniger Belohnung und erleben sich in der Folge selbst als weniger instrumentell (Blechmann 1981). Alfermann (1999) kritisiert, dass »die gesellschaftlichen Kriterien für Gesundheit androzentristisch und damit maskulin, definiert sind« (Alfermann 1999:58). Feminität kann dann einen positiven Beitrag zu Gesundheit leisten, wenn anstelle einer Ähnlichkeit zwischen den Konstrukten Maskulinität und Gesundheit, Gesundheit und Lebensqualität anhand femininer Facetten gemessen wird. Zudem besteht die Gefahr, dass wissenschaftliche Theorien und Interpretationen von Geschlechtsunterschieden sich einem maskulinen Bias nicht entziehen können, da die ForscherInnen selbst Teil der androzentristischen Kultur sind, und deren kulturelle Standards verinnerlicht haben (Alfermann 1999). So werde alles Männliche vorschnell und unbewusst als Standard gesetzt und gelte als wertvoller. Festgestellte Geschlechtsunterschiede würden dann im Nachhinein wieder dafür herangezogen bestehende Ungleichheiten und stereotype Vorannahmen zu rechtfertigen (Alfermann 1999). Auch Janet Spence (1979), die Entwicklerin des PAQ, weist auf einen maskulinen Bias in Fragebogeninstrumenten zur Geschlechtsrollenorientierung hin. Dieser maskuline Bias werde hervorgebracht, indem Fragebögen wie der PAQ Gesundheit und Kompetenz mit Maskulinität gleichsetzten. Um dies zu umgehen, schlägt sie vor, eher von Instrumentalität und Expressivität zu sprechen, als von Maskulinität und Feminität. Ob eine solche Umettiketierung innerhalb der Instrumente bestehende, oftmals den Forschern wenig bewusste, Geschlechtszuschreibungen verändern kann, ist jedoch fraglich. Für den Männlichkeitsforscher Michael Meuser (1998) geht diese Überarbeitung nicht weit genug. In die Testkonstruktion, d.h. in die Formulierung und in die Item-Auswahl der Bögen gehen so Meuser: »massive stereotypisierende Annahmen über Geschlechtscharaktere ein« (Meuser 1998:51). So würden die Testitems überraschende Übereinstimmungen mit traditionellen Eigenschaftsdefinitionen des Geschlechterdiskurses im 19. Jahrhundert aufweisen. Zwar habe sich die Bewertung der Skalen verändert, und es werde nicht mehr von einem unidimensionalen Modell ausgegangen, auf dem hohe Maskulinitäts-

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werte auch niedrige Feminitätswerte bedeuteten. Weiter würde nicht mehr von Maskulinität- und Feminitätsskalen, sondern von expressiven und instrumentellen Persönlichkeitsmerkmalen gesprochen. Trotzdem seien die Inhalte dessen, was als »weiblich« oder »männlich« gelte, die gleichen geblieben. Daraus folge, dass ein Einsatz dieser Skalen die Stereotype abrufe, die in der Gesellschaft über symbolische Männlichkeit und Weiblichkeit existierten. Als normaler Mann gelte z.B., wer hohe Maskulinitätswerte und niedrige Feminitätswerte aufweise. Sowohl Hypermaskulinität (übersteigerte Aggressivität) als auch Effeminierung (Konfliktvermeidung) würden als Abweichung betrachtet, ebenso Homosexualität. Letztere bedeute zur Männlichkeit in diesem Diskurs dieselbe Differenz wie die Differenz von Frauen zu Männlichkeit. Auch Brähler und Felder (1999) verweisen auf diese Form der »Differenzen versus Artefakte« –Debatte, in der inzwischen nachgewiesen sei, dass Instrumenten wie dem Sex Role Inventory (Bem 1974) ein Geschlechterbias zugrundeliege. Die Differenzen zwischen Frauen und Männern, die sich anhand solcher Bögen feststellen ließen, seien mehr Artefakt als echte Differenzen und lägen vor allem an einer »maskulinen Schiefe« der Instrumente (Brähler & Felder 1999:22). So würden zum einen männliche negative Eigenschaften, wie Ärger, Reizbarkeit und Wut oftmals gar nicht erfasst, gleichzeitig finde sich aber eine große Schnittmenge zwischen Items, die seelische Gesundheit und Maskulinität erfassen, nicht aber zwischen seelischer Gesundheit und Feminität. Die Instrumente sind zwischen den Geschlechtern unausgewogen und stigmatisieren »weibliches« Verhalten (Brähler und Felder 1999). Die hier eingeführten Studien zu Geschlechtsrollenorientierung und Gesundheit verdeutlichen jedoch – trotz des Bias der ihnen zugrunde liegt – den erheblichen Einfluss geschlechtlicher Emotionsund Verhaltensnormen, insbesondere auf das Gesundheits- und Beziehungsverhalten von an diesen Normen orientierten Personen. Kulturelle Normen und geschlechtliche Zuschreibungen von symbolischer Weiblich- und Männlichkeit beeinflussen entscheidend die individuelle Selbstwahrnehmung, die Sexualität und das Verhalten. Über die Selbstwahrnehmung und die Emotionsnormen schreiben sich kulturelle Codes in die Gesundheit und Krankheit der Geschlechtskörper ein. Auch wenn die Fragebögen und Studien zur Geschlechtsrollenorientierung auf gesellschaftlichen Konstruktionen beruhen und sie die Her-

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stellung dieser Konstruktionen von Differenz selbst nicht hinterfragen oder reflektieren, so eignen sie sich doch zur Darstellung der Einschreibungsprozesse, durch die gesellschaftliche Konstruktionen von »richtigem Mann-Sein« und »richtigem Frau-Sein« in die Selbstwahrnehmung und in das Verhalten von Personen eingeschrieben werden. Geschlechtliches Wissen beeinflusst dabei sowohl die einzelnen Wissensobjekte in der Gesellschaft, die individuell angerufenen Männer und Frauen und ihre Beziehungen untereinander in einer hierarchischen Geschlechterordnung, als auch die gesellschaftliche Wissensproduktion über Geschlecht, Krankheit und Gesundheit. Auch für letzteres ist die hier zitierte Geschlechtsrollenforschung ein Beispiel. Wie Alfermann (1999) kritisiert, beeinflussen gesellschaftlichen Normen auch (oftmals nicht bewusst oder in der Forschung reflektiert) die Selbstwahrnehmung, der in diesem Bereich forschenden Personen, sie beeinflussen, welche Faktoren als Indikatoren psychischer Gesundheit gelten und welche nicht, und sie beeinflussen, welches Verhalten als weiblich oder männlich akzeptiert gilt und welches Verhalten als Abweichung von der Normierungen betrachtet wird und auch wie solche Abweichungen und Übertretungen bewertet werden. Risikofaktoren von Frauen, die im Folgenden für die Depressionsforschung identifiziert werden, weisen starke Bezüge zu den hier dargestellten Konstruktionen der Geschlechtsrollenforschung auf. Im Folgenden werden geschlechtsspezifische Risikofaktoren für »weibliche« Depressionen aufgezeigt und abschließend in Bezug auf die Kritik an der Geschlechtsrollenforschung von Seiten der Frauenund Geschlechterforschung diskutiert. 3.1.3 Risikofaktoren Der Exkurs in die gesundheitspsychologische Geschlechtsrollenforschung zeigt, dass Frauen bzw. an expressiven Geschlechtsrollenvorstellungen orientierte Personen (Frauen und sogenannte genderinkongruente Männer) höhere Depressionswerte aufweisen, als instrumentell orientierte Personen (z.B. Whitley 1983). Expressivität ist dabei definiert als eine Ausrichtung an stereotyp weiblichen Eigenschaften und Rollennormen wie Fürsorge, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, aber auch an sozial unerwünschten als weiblich kodierten Merkmalen wie Abhängigkeit, Klagsamkeit und Nervosität (GEAPQ, Runge et al. 1981). Betrachtet man diese negativen Beschreibungen von Expressivität oder »unmittigated communion« (Bakan 1966), so entsteht ein

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Bild, das der Beschreibung einer milden Depression gleicht. Brähler und Felder (1999) weisen darauf hin, dass Geschlechtsrollenstereotype, die eine feminine Geschlechtsrollen beschreiben, wie Abhängigkeit, Unterordnung, Hilflosigkeit und Ängstlichkeit, generell eine erstaunliche Übereinstimmung mit Merkmalen der Patientenrolle aufweisen. Wie im nächsten Kapitel dargestellt wird, korrelieren expressiv-weibliche Rollennormen in Studien zu Depression und Geschlecht deutlich mit Depressionsrisikofaktoren; auch hier besonders zum Nachteil von Frauen. 3.1.3.1 »Weiblicher« Persönlichkeitsstil Aufgrund der Bedeutung des hohen weiblichen Depressionsrisikos initiierte die APA 1987 eine Projektgruppe zum Thema »Frauen und Depression« unter der Leitung der Psychologin Ellen McGrath (McGrath et al. 1994). Die Projektgruppe untersuchte über mehrere Jahre weibliche Risikofaktoren, Fragen der Behandlung und Häufigkeiten von Depressionen in verschiedenen Frauenpopulationen. Diese Arbeit stellt bis heute eine der umfangreichsten psychologischen Untersuchungen zu »weiblichen« Depression dar. Eine überraschend hohe Zahl unterschiedlicher Belastungs- und Risikofaktoren erweisen sich hier für die weibliche Depression als relevant, wobei deutlich wird, dass Frauen besonders psychosozialen Risikofaktoren für die Depression ausgesetzt sind, die eine Verbindung zur psychologischen Geschlechtsrollenforschung aufweisen. McGrath et al. (1994) verfolgen eine integrative biopsychosoziale Forschungsperspektive, die Lebenssituationen von Frauen möglichst umfassend beleuchtet und möglichst umfassend Verbindungen zu dem erhöhten Depressionsrisiko analysierbar machen soll. Als zentralen Faktor für das weibliche Depressionsrisiko wurde ein Persönlichkeitsstil identifiziert, der bei Frauen häufiger anzutreffen ist als bei Männern (MacGrath et al 1994). Dieser ist gekennzeichnet durch ein vermeidend-passives und abhängiges Verhaltensmuster und einen pessimistisch-negativen kognitiven Denkstil. Dieser »weibliche« Persönlichkeitsstil führt nach McGrath et al. (1994) zu einer starken Fixierung auf depressive Gefühle und verstellt Handlungs- und Bewältigungsperspektiven. Nolen-Hoeksema (1999) betrachtet einen bestimmten »typisch weiblichen« Persönlichkeitsstil als wichtigen Risikofaktor in der Depressionsentstehung. Dabei zeigt sich, wie Persönlichkeitsmerkmale

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und externe – soziale und ökonomische Faktoren – in der Depressionsentstehung ineinandergreifen. Nach Nolen-Hoeksemas kognitiver »Role Strain Hypothese« sind Frauen einer Triade von Verletzlichkeitsfaktoren für die Depression ausgesetzt (Nolen-Hoeksema et al. 1999). Diese sind 1. eine höherer Belastung durch chronischen (Rollen-)Stress, 2. eine Tendenz zu ruminativen, grüblerischen Gedanken und 3. eine niedrigere Selbstwahrnehmung von Selbstwirksamkeit und Kontrolle über das eigene Leben. Die Autorin betont besonders die Bedeutung der negativen Konsequenzen eines geringeren sozialen Status und geringerer gesellschaftlicher Macht von Frauen. Aufgrund des niedrigeren sozialen Status müssten Frauen länger und mehr arbeiten als Männer, wobei sie weniger Lohn erhielten. Dabei stellten eine höhere Arbeitsbelastung von Frauen und ein ungleicher Machtstatus zwischen Männern und Frauen in heterosexuellen Beziehungen einen besonderen Risikofaktor für die Depression von Frauen dar. Frauen leiden oftmals unter einer Doppelbelastung von Arbeit und Sorge um Familie und Haushalt, insbesondere dann, wenn kleine Kinder zu versorgen sind. Diese Arbeitsüberbelastung zeige sich unter anderem in chronischem Stress und depressiven Symptomen. Gleichzeitig könne diese Lebenssituation, die durch ein Fehlen von Kontrolle über die Umwelt gekennzeichnet sei, zu einem kognitiven Denkstil führen, der Seligmans Faktor der »erlernten Hilflosigkeit« entspreche (Nolen-Hoeksema 1999, Seligman 1975). Die Frauen entwickeln Symptome wie Verlust an Motivation, niedrigem Selbstwert und fehlender Selbstwirksamkeit (Agency) und fehlender Kontrollüberzeugung über ihr Leben (Bandura 1977). Gleichzeitig führe der weibliche »Lack of Social Power« zu einer Tendenz, in grüblerische (ruminative) Gedanken – in ein »Zu-viel-Denken« (Nolen-Hoeksema 2006) zu verfallen. Frauen sind stärker als Männer dem Risiko ruminativer Gedankenprozesse ausgesetzt, in denen Gedanken unablässig wiederholt und in passiver Weise um die eigenen Sorgen kreisen und diese so vertiefen können. Sie neigen auch eher zu einem Fokussieren auf negativen Emotionen und wenden oftmals einen weniger aktiven Bewältigungsstil in der Folge belastender Ereignisse an (Nolen-Hoeksema et al. 1999). Während Männer sich als Bewältigungsstrategie eher durch körperliche Aktivität – oftmals auch durch Risikoverhalten – ablenken, können Frauen durch »zu-viel-denken« Depressionsepisoden verstärken (Nolen-Hoeksema 1987). Möglicherweise versuchen Frauen, durch wiederholtes Nachdenken über Probleme, Möglichkeiten der Kontrolle zu

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finden, die sie aber aufgrund einer niedrigen Selbstwirksamkeitsüberzeugung nicht in ihren Alltag implementieren können (NolenHoeksema et al. 1999). Ruminative Gedanken stellen einen wichtiger Risikofaktor sowohl in der Entstehung als auch in der Chronifizierung und Aufrechterhaltung von Depressionen dar (Alloy & Abramson 1994, Nolen-Hoeksema et al. 1999). In einem Teufelskreis, wie ihn Alfermann (1999) für die allgemeine Gesundheit von Frauen postuliert, führen häufigere negative Lebensereignisse von Frauen zu niedrigerer wahrgenommener Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen und vermehren ruminative Gedanken, die wiederum negativ Lebensereignisse beeinflussen und so in einem circulus vitiosus zur Entstehung und auch Aufrechterhaltung von Depressionen bei Frauen beitragen (NolenHoeksema 1999). Bereits 1986 beschrieben Brown und Harris in einem Modell depressiver Vulnerabilität, wie ein niedriges Selbstwertgefühl die Empfänglichkeit von Frauen gegenüber Depressionen erhöht. Ein niedriges Selbstgefühl wird wiederum durch soziale Risikofaktoren beeinflusst. Die AutorInnen identifizieren, basierend auf den Daten der renommierten britischen Camberwell Community Studie Londoner Frauen aus dem Jahr 1978 (Brown und Harris 1978), vier weibliche Depressionsfaktoren: 1. ein früher Verlust der Mutter (Verlust vor dem 11. Lebensjahr durch Tod oder Trennung), 2. die Anwesenheit von drei oder mehr Kindern unter 15 Jahren im Haushalt, 3. das Fehlen bezahlter Arbeit sowie 4. das Fehlen einer intimen vertrauensvollen Beziehung zum Partner. Diese psychosozialen Risikofaktoren von Frauen werden möglicherweise über einen Einbruch im Selbstwert in psychologische Verletzlichkeit übersetzt bzw. durch diese vermittelt. Während Brown und Harris (1978, 1986) noch davon ausgingen, dass die vier Faktoren die Empfänglichkeit von Frauen für Depressionen insgesamt nur erhöhen und erst wirksam werden, wenn sie mit anderen depressionsauslösenden externen Faktoren zusammentreffen (beispielsweise einem kritisches Lebensereignis), identifiziert Patton (1991) diese Faktoren als direkte Risikofaktoren, die das Depressionsrisiko auch ohne das Zusammentreffen mit einem »provoking agent« erhöhen können. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht, Persönlichkeitsstil und externen sozialen Faktoren in der Depressionsentstehung erweist sich jedoch als hoch komplex.

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Was sich in den hier diskutierten Theorien und Untersuchungen zeigt, ist, dass bestimmte psychologische Eigenschaften (hier mit dem Begriff des Persönlichkeitsstils zusammengefasst) öfter bei Frauen vorkommen und das Risiko von Depressionen erhöhen können bzw. mit einem höheren Risiko korrelieren. Ein »weiblicher Persönlichkeitsstil« entsteht jedoch in einem sozialen Kontext in dem besonders Frauen belastenden Situationen ausgesetzt sind, sei es durch Doppelbelastung von Arbeit und Beruf oder durch ein Leben, das gesellschaftlich durch weniger Kontrolle ausgezeichnet ist als das von Männern. Der Entstehung dieser sozialen Kontexte ist eine geschlechtliche Kodierung eingeschrieben, in der Frauen primär für expressive Rollenanteile verantwortlich sind (und sich verantwortlich fühlen) während Männer den instrumentellen Part übernehmen. Ein instrumentelles Selbstverständnis von Männern wird damit nicht allein durch eine psychologische Prädisposition für mehr Agency hervorgebracht, sondern durch die Geschlechterordnung und Geschlechterhierarchien gefördert. Wie Alfermann (1999) es für das Maskulinitätsmodell psychischer Gesundheit beschreibt, wird eine Person, die sich selbst als instrumentell wahrnimmt und überzeugt davon ist, ihr Leben unter Kontrolle zu haben, in der Gesellschaft vielfach positiv bestärkt, was wiederum auf die Kontroll- und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen des Einzelnen zurückwirkt.7

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Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion um die Bedeutung von pessimistischen Attributionen in der Depressionsgenese bei Frauen. Abramson et al. (1989) identifizieren einen pessimistischen Attributionsstil als Risikofaktor für Depressionen. Ihre kognitive Theorie der pessimistischen Attributionen basiert auf der Annahme einer überarbeiteten Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Abramson, Seligman und Teasdale (1978), nach der das Erleben von Hilflosigkeit nach belastenden Lebensereignissen beeinflusst wird von der Qualität der Attributionen (kausalen Zuschreibungen) dieser Ereignisse auf drei Dimensionen. Diese sind dichotome Zuschreibungen auf der Dimension 1. internal-external, 2. stabil-instabil und 3. global-spezifisch. Ein pessimistisches Attributionsmuster ist gekennzeichnet durch die Zuschreibung negativer Ereignisse als internal verursacht, als stabil vorhanden und als global übertragbar. So wird ein negatives Ereignis – z.B. eine gescheiterte Prüfung – negativ als internal/selbst verursacht, als stabil/unabänderlich und als global/ immer wieder so stattfindend attribuiert. Ein pessimistischer Attributionsstil führt zu fehlenden Kontroll- und

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Der Einwand verdeutlicht, dass einfache kausale Annahmen über das Verhältnis zwischen Persönlichkeit und Umweltfaktoren nicht möglich sind. Verkompliziert wird das Verhältnis auch dadurch, dass das Entstehen einer depressiven Episode nicht nur die Reaktion auf bestimmte »weibliche« Persönlichkeitsmerkmale sein kann, sondern dass das (rezidivierende oder chronische) Bestehen einer Depression wiederum selbst zu Veränderungen der Persönlichkeit führt. Akute Depressionen verändern die Selbstwahrnehmung und das Beziehungserleben depressiver Personen. Auch Attributionsstile können sich durch eine Depression nachhaltig verändern. Eine bestehende Depression verändert sowohl weibliche als auch männliche PatientInnen in Richtung »weibliche Merkmale« hin (McGrath et al. 1994). Eine vorhandene Depression beeinflusst demnach auch Personen, die vorher über instrumentelle Merkmale verfügt haben, in Richtung eines niedrigeren Selbstwertes, externaler Kontrollüberzeugungen und negativer Attributionsstile. Da diese Merkmale weiblich kodiert sind, verändert eine Depression Männer und Frauen in Richtung »weiblichen« Verhaltens und Fühlens. Flett, Vredenburg und Pilner (1985) untersuchten kanadische Undergraduate-StudentInnen zum Zusammenhang zwischen Selbstwahrnehmung und Depression. Das Vorhandensein von Depressionssymptomen über einen Zeitraum von drei Monaten (erfasst durch das Beck Depression Inventory BDI, Beck et al. 1961) führte bei den StudentInnen zu Veränderungen in der Angabe ihrer Geschlechtsrollenorientierung (erfasst durch den Personality Attributes Questionnaire/PAQ, Spence et al. 1974). Nach drei Monaten geben depressive StudentIn-

Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (Bandura 1977), und demnach auch zu der Annahme, dass die Bewältigung von Problemen außerhalb der eigenen Möglichkeit liegt. Eine Neigung zu pessimistischen Attributionen tritt bei Frauen offenbar öfter auf als bei Männern (McGrath et al. 1994). Unklar bleibt jedoch, ob ein pessimistischer Attributionsstil tatsächlich vor allem eine Ursache der Depression darstellt oder ob er nicht vielmehr einen Ausdruck größerer externer Belastungsfaktoren im Leben von Frauen ist. Die Frage ist, ob ein geringes Maß an subjektiv erlebter Kontrolle über das eigene Leben tatsächlich einem persönlichen Attributionsstil angerechnet werden kann oder ob dieser die reale Situation widerspiegelt, in der Frauen oftmals ökonomisch abhängiger sind und tatsächlich weniger Kontrolle über ihr Leben ausüben als Männer.

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nen niedrigere Instrumentalitätswerte an als zu Beginn der Untersuchung. Obwohl auch diese Untersuchung, wie viele Untersuchungen zum Zusammenhang von Geschlechtsrolle und Depression, auf eine nicht-klinische Studentengruppe beschränkt bleibt, zeigt sie doch die Notwendigkeit einer Rekonzeptualisierung der Geschlechtsrolleninstrumente. Der Befund stellt die diagnostische Grundannahme der Fragebögen in Frage, nach der diese sogenannte Traits, d.h. stabile Persönlichkeitseigenschaften, erfassen und nicht als kontextabhängig gelten. Nach der Testkonstruktion dieser Fragebögen wäre anzunehmen, dass die Persönlichkeitsmerkmale über lange Zeiträume und verschiedene Situationen stabil bleiben und sich nicht als veränderbar erweisen. Eine Untersuchung, wie die von Flett et al. (1985), lässt jedoch vermuten, dass stereotype geschlechtsbezogene Eigenschaftsmuster, wie sie der PAQ erfasst, nicht nur in Interaktion mit gesellschaftlichen Geschlechtercodes entstehen und fortan gleich bleiben, sondern dass sie in kontextuellen Zusammenhängen auch hochgradig veränderbar und variabel sind. Zusammenfassend verdeutlichen die Untersuchungen zu Weiblichkeit, Persönlichkeit und Depression, dass an Frauen geschlechtsrollenkonforme Erwartungen adressiert werden und von diesen angenommen werden, nach denen Frauen expressiv auf die Bedürfnisse Anderer reagieren und besondere zwischenmenschliche Sensibilität zeigen sollen. Frauen sollen bzw. dürfen, anders als Männer, nach traditionellen Geschlechtsrollenormen sowohl für ihren eigenen Schmerz als auf für den von anderen sensibilisiert sein. Diese Betonung von Expressivität kann wiederum als Risikofaktor für psychische Gesundheit betrachtet werden, insbesondere in Bezug auf Depressivität und Angst. Eine hohe Instrumentalität stellt hingegen bei Frauen wie Männern einen Schutzfaktor vor Depressivität dar. Dabei scheint es unerheblich, ob einem mehrdimensionalen Geschlechtsrollenmodell zugrundeliegend, Instrumentalität mit hoher Expressivität gepaart ist (Androgynität) oder mit niedriger Expressivität. Ausschlaggebend scheint, dass ein Mangel an positiv männlich-instrumentell kodierten Eigenschaften wie Autonomie, Effizienz, Kompetenz und Selbstwirksamkeit das Risiko einer Depression erhöhen. Parallel zum Entstehen des Gender Gaps in der Depression findet sich dieser Gap in den Instrumentalitätswerten von Männern und Frauen erst ab Beginn der Adoleszenz (Marccotte et al. 1999).

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Geschlechtsrollenstudien belegen, dass Frauen, kongruent mit expressiven Geschlechtsrollenidealen, anderen häufiger Unterstützung und Hilfe anbieten, als Männer es tun. Frauen werden häufiger als AnsprechpartnerInnen, Vertrauensperson, Ratgeber und Quelle der Bestätigung von eigenen Kindern, Jugendlichen und ihrer Ehepartnern genannt (McGrath et al. 1994). Sie übernehmen einen Großteil der Verantwortlichkeit für Pflege der Kinder oder älterer Familienmitgliedern im Haushalt. Gleichzeitig berichten Frauen aber auch mehr Befriedigung aus ihren Beziehungen zu Partner, Kindern und in Freundschaften. Eine sogenannte interpersonale Ausrichtung wird von vielen expressiv-orientierten Frauen als befriedigend erlebt und kann zur psychischen Gesundheit beitragen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn gleichzeitig andere Rollenangebote zum Beispiel im Beruf bestehen (McGrath et al. 1994). Im folgenden Kapitel wird jedoch dargestellt wie die interpersonale Ausrichtung auch zur Depressionsentstehung beitragen kann. 3.1.3.2 Stress of Caring Wir haben schon einmal ganz allgemein festgestellt, daß die Ehefrau weniger Vorteile vom Familienleben hat als der Mann. Jetzt wird die Sache deutlich. Sie liegt darin, daß die eheliche Gemeinschaft der Frau schadet und die Anfälligkeit für den Selbstmord stärkt. Émile Durkheim (1897)

Die Psychologin Deborah Belle, die den Begriff des »Stress of Caring« geprägt hat, geht davon aus, dass Frauen in heterosexuellen Partnerschaften einen höheren Beitrag an sozialer Unterstützung leisten, der oftmals nicht durch mehr soziale Beziehungen außerhalb der Partnerschaft ausgeglichen werden kann und der einen »support gap« hinterlässt (Belle 1982). Dieser »Stress of Caring« kann die Stressbelastung von Frauen erhöhen, besonders dann, wenn kleine Kinder im Haushalt zu versorgen sind und so – vermittelt über ein höheres Potential an Stressoren – auch das Depressionsrisiko von Frauen erhöhen (APA 1996, 2007). Aufgrund der Tatsache, dass Frauen oftmals haupt-

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sächlich für (Für-)-Sorge in der Familie verantwortlich sind, besteht nach McGrath et al. (1994) das Risiko, dass Frauen mehr Unterstützung geben als sie erhalten. Frauen scheinen aufgrund ihrer Sozialisation in Gesellschaft und Familie oftmals empfänglicher für Probleme andere Personen in ihrer Umgebung. McGrath et al. diskutieren eine geschlechtsrollenkongruente Asymmetrie der Familienrollen in Haushalten mit kleinen Kindern als einen der wichtigsten Risikofaktoren für die Depression. Verheiratete Frauen weisen höhere Depressionsraten auf als unverheiratete Frauen, während für Männer das Gegenteil zutrifft (Weissman und Klerman 1987). Während die Ehe für Männer einen Schutzfaktor darzustellen scheint, erhöht sie für Frauen das Risiko, an einer Depression zu erkranken (Brown & Harris 1978, Kiecolt-Glaser & Newton 2007). Das Depressionsrisiko ist dabei besonders bei Müttern kleiner Kinder erhöht und steigt proportional mit der Anzahl kleiner Kinder im Haushalt. Frauen, die kleine Kinder versorgen, empfinden dies oftmals als eine hohe Belastung, unabhängig davon, ob sie zusätzlich einem Beruf nachgehen oder nicht. Diese Asymmetrie des Sorge-Tragens steht in Verbindung mit einer unterschiedlichen interpersonalen Ausrichtung von Männern und Frauen. In Übereinstimmung mit traditionellen Geschlechternormen berichten Frauen öfter von Problemen anderer ihnen nahestehender Personen, als von ihren eigenen Sorgen, wobei sie diese Probleme, stärker als Männer, als Ereignisse identifizieren, die sie selbst als anstrengend und belastend erleben (McGrath et al. 1994). Obwohl auch Männer sich durch Ereignisse, die eigene Kinder oder ihre Partnerin betreffen, als belastet erleben, geben Frauen an, sich oft nicht nur von diesen Belastungen, sondern auch zusätzlich von Ereignissen, die andere Personen in ihrem sozialen Netz betreffen, als belastet zu erleben (McGrath et al. 1994). Frauen sind nach McGrath et al. durch ein größeres Maß an allgemeiner Besorgtheit um Andere, einem größeren Risiko der Depression ausgesetzt. Auch Kessler und Macloed (1984) kommen in einem rollentheoretischen Ansatz zu dem Schluss, dass besonders die gefühlte Verantwortlichkeit für Andere das Depressionsrisiko von Frauen erhöhe. Auch in Partnerschaft und Ehe erleben Frauen und Männer Unterstützung unterschiedlich. Während Männer häufiger angeben sich in ihren Beziehungen durch ihre Partnerin verstanden und bestätigt zu fühlen, berichten Frauen weniger häufig von Zufriedenheit mit der in

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der Beziehung erfahrenen Unterstützung (MacGrath et al. 1994). Darüber hinaus geben Frauen an, sich mit ihren Problemen eher an andere Frauen zu richten als an ihre Partner; unter Stressbedingungen suchen Frauen eher Kontakt zu anderen Frauen als zu Männern (MacGrath et al. 1994). Frauen, die angeben in ihren Beziehungen unglücklich zu sein, weisen wiederum mehr depressive Symptome auf als Frauen, die angeben in glücklichen Beziehungen zu leben. Die Ehe bietet für Männer offenbar einen größeren sozialen Schutz als für Frauen. Für Frauen stellt dagegen besonders eine unglückliche Ehe ein bedeutendes Gesundheitsrisiko dar. Bezogen auf die Prävalenzraten der Majoren Depression zeigt eine Studie von Weissman (1987), dass verheiratete Frauen, in einem Zeitraum von sechs Monaten, dreimal häufiger depressiv werden als getrennt lebende, geschiedene oder alleinstehende Frauen. Bei verheirateten Frauen, die ihre Ehe als unglücklich erleben, entwickeln sogar die Hälfte aller untersuchten Frauen depressive Störungen (Weissman 1987). In glücklichen Ehen fallen die Depressionswerte zwar geringer aus als bei Frauen im Allgemeinen, sie sind jedoch immer noch fünfmal höher als bei Männern in glücklichen Ehen (Weissmann 1987). Im Allgemeinen weisen Ehefrauen in Studien zur Gesundheit höhere Werte mentaler Störungen auf als ihre Ehemänner, während alleinstehende Frauen, geschiedene Frauen und verwitwete Frauen sich von den Raten der Männer kaum unterscheiden. Bereits 1987 observierte Bebbington, dass bei Erstdiagnosen von Depressionen die Anzahl verheirateter Frauen am höchsten lag. Auch die bereits zitierte Studie von Brown und Harris (1978) unterstützt die Annahme, dass verheiratete Frauen, die nicht außerhalb des Hauses einer Arbeit nachgehen, ein erhöhtes Risiko für Depression in Kombination mit einem belastenden Lebensereignis aufweisen. Berufstätigkeit von Frauen senkt hingegen das Risiko, an einer Depression zu erkranken (Brown und Harris 1978). In einer aktuelleren Studie von Gutierrez-Lobos et al. (2000) erwiesen sich sowohl der Ehe- als auch der Arbeitsstatus als signifikante psychologische Variablen für das geschlechtlich unterschiedliche Depressionsrisiko. In der Studie stellte die Ehe für beide Geschlechter einen positiven Effekt dar, für Männer hatte der Ehestatus allerdings einen stärkeren Effekt. »Nie-verheiratet-gewesen-zu-sein« erhöhte für beide Geschlechter das Depressionsrisiko. In Übereinstimmung mit Weissman (1987) wiesen verwitwete Frauen im Jahr 2000 besonders niedrige Depressionsraten auf, während eine Schei-

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dung das Depressionsrisiko von Männern in der Studie erhöhte, nicht aber das der Frauen. Diese Befunde weisen auf die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Depression und Bedingungen für die Paarbeziehung hin. Da die Ehe besonders für Männer eine Schutzfunktion erfüllt, erleben diese durch Trennung und Scheidung eher als Frauen negative Auswirkungen. Frauen erhalten zwar weniger soziale Unterstützung innerhalb der Partnerschaft, organisieren sich aber während der Ehe mehr Unterstützung von außerhalb. Der Verlust an sozialer Unterstützung, wenn sich eine Partnerschaft auflöst, wird daher von Frauen als weniger gravierend empfunden als von Männern. Diese Hypothese erklärt die Befunde von Gutierrez-Lobos et al. (2000), nach denen verwitwete Frauen ein niedrigeres Depressionsrisiko aufweisen, und auch nach einer Scheidung nicht höher belastet sind als Männer. Für Männer, denen mit dem Verlust der Partnerin die wichtigste Quelle sozialer Unterstützung verloren geht, erhöhen sich die Raten. Die Vorteile bezüglich des Depressionsrisikos, die der Mann in der Ehe genießt, wenden sich ins Gegenteil. Erstaunlich ist, dass trotz Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen die Ergebnisse von Gutierrez-Lobos (2000) mit den älteren Studien von Bebbington (1987) und Brown und Harris (1978) weitgehend übereinstimmen: noch überraschender ist jedoch die hohe Übereinstimmung mit einer berühmten Studie über geschlechtlich unterschiedliche Selbstmordraten von Ehepartnern, die von Émile Durkheim vor über 100 Jahren durchgeführt wurde. Weil Durkheim, neben den historisch interessanten Daten, wichtige für diese Arbeit relevante Fragen formuliert, werden in einem kleinen historischen Exkurs seine die Ehe betreffenden Ergebnisse kurz skizziert. 3.1.3.3 Exkurs: Die Funktion der Ehe bei Émile Durkheim Durkheims soziologische Studie zum Selbstmord gehört zu jenen kanonischen Arbeiten, die in psychologischen Lehrbüchern immer wieder diskutiert werden (z.B. Comer 2001). Wenig Aufmerksamkeit wird dabei jedoch seinen Überlegungen zur Ehe geschenkt – und das, obwohl »Der Selbstmord« (1897, dt. 5. Auflage 1995) an zentraler Stelle nach der gesellschaftlichen Funktion der Ehe fragt. Seine über 100 Jahre alten empirischen Untersuchungen weisen dabei eine erstaunliche Übereinstimmung mit heutigen Studien zu Depression, Geschlecht und Ehestatus auf.

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Durkheim sieht in der Ehe eine strukturierende Bedeutung für die gesellschaftliche Geschlechterordnung. Sie verbinde sich gesellschaftlich mit der Entwicklung einer geschlechtlich dichotomen Arbeitsteilung und stelle das Grundprinzip der Organisation sozialer Beziehungen dar, in der sich zwei polar entgegengesetzte Geschlechtscharaktere entwickelten (Meuser 1998). Er betrachtet die Geschlechterdifferenz dabei entsprechend den geschlechtlichen Normen, die sich im 19 Jahrhundert herausbilden (vgl. Honegger 1991), in einer sozialen Dichotomie: »Man könnte sagen, daß sich die beiden großen Funktionen des psychischen Lebens getrennt haben, daß eines der Geschlechter die Gemütsfunktionen und das andere die Verstandesfunktionen übernommen hat.« (Durkheim 1988:106f). Bereits bei Durkheim findet sich eine (soziologische) Gegenüberstellung, in der Frauen eine »primitive Natur« und dem Mann eine »fortschrittliche Kultur« zugeordnet werden, die sich bis in die Geschlechtsrollentheorien der heutigen Zeit verfolgen lässt: »Die Frau ist weniger am Zivilisationsgetriebe beteiligt als der Mann, sie nimmt weniger daran Teil und zieht aus ihm weniger Gewinn; sie erinnert mehr an gewisse Züge primitiver Naturen.« (Durkheim 1988:304). Relevant in Bezug auf die Ergebnisse der »Stress of Caring«Forschung ist jedoch weniger Durkheims Geschlechtertheorie als seine empirischen Studien zum Selbstmord. Hier vergleicht er die Selbstmordraten verschiedener Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Orten und sogar unterschiedlichen Ländern (z.B. in Deutschland und Frankreich) miteinander. Dabei thematisiert er erstmalig die Auswirkungen einer geschlechtlichen Arbeitsteilung auf die Selbstmordraten von Frauen und Männern. Der Selbstmord ist bei Durkheim vor allem ein Problem des Mannes. In seinen statistischen Ergebnissen ist das durchschnittliche Verhältnis von vollzogenen Selbstmorden bei Männern und Frauen 4:1 – dem Selbstmord einer Frau stehen vier Selbstmorde von Männern gegenüber. Durkheim betrachtet den Selbstmord als ein differenziertes Phänomen, das sich in verschiedene Selbstmordtypen unterteilen lässt, wobei er auch auf eine spezifische Unterform des »depressiven Selbstmordes« zu sprechen kommt. Der depressive Selbstmord trete dann auf, wenn eine Person sich in einem Zustand tiefster Depression und überwältigender Traurigkeit befinde, in der sie ihre Beziehungen zur Umwelt nicht mehr richtig einschätzen könne. Das Leben erscheine dem Depressiven langweilig und schmerzhaft. Ebenso hartnäckig

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wie diese Melancholie sei auch sein Denken an Selbstmord. Der Depressive zeige große Starrheit und seine Motive seien immer wieder dieselben. Als Beispiel für einen depressiven Selbstmord beschreibt er ein junges Mädchen, dass seine Kindheit auf dem Land verbracht habe und im Alter von vierzehn Jahren aufgrund ihrer Ausbildung von dort weg muss: »Von diesem Augenblick an spürte es einen unsagbaren Kummer, einen ausgeprägten Hang zur Einsamkeit, und bald den Wunsch zu sterben, den nichts erschüttern konnte.« (Durkheim 1995: 49f). Frauen schütze jedoch zumeist eine – im Vergleich zu Männern – stärker ausgeprägte Traditionsgebundenheit, eine geringere Bildung und das weitgehende Fehlen intellektueller Bedürfnisse vor solchen Erschütterungen (vgl. Meuser 1998). Insbesondere für die Betrachtung der Ehe aber verweist Durkheim auf Unterschiede in der allgemeinen Selbstmordneigung von Frauen und Männern: »In jeder Alterstufe ist also der Anteil der Ehefrauen an den Selbstmorden von Verheirateten viel höher als der von Mädchen bei Unverheirateten« (Durkheim 1897/1995: 201). Er stellt fest, dass die verheiratete Ehefrau weniger an »Immunität« durch die Ehe gewinnt als der Mann.8 Zwar seien Ehen in denen Kinder geboren und aufgezogen würden weniger selbstmordgefährdet, als solche ohne Kinder, aber verwitwete Männer mit Kindern hätten wiederum ein besonders hohes Risiko an Selbstmord zu versterben. Zwar würden Kinder den Witwer »an das Leben binden«, aber sie verstärkten auch seine Krise. Was ihn vorher schütze, werde nun zur doppelten Aufgabe. Dabei ist es nach Durkheim die Funktion der fehlenden Mutter, die der Mann nicht ersetzen kann: »Gerade darum büßt er so viele Vorteile ein, die er während der Ehe genoß. Nicht weil er nun nicht mehr verheiratet ist, sondern weil die Familie, deren Oberhaupt er ist, sich auflöst. Nicht die fehlender Gattin, sondern die fehlende Mutter bringt die Katastrophe.« (Durkheim 1995:207)

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Allerdings stellt Durkheim regionale Unterschiede fest, während zum Erhebungszeitpunkt in Frankreich Frauen eher durch die Ehe benachteiligt sind und der Mann Vorteile erhält, trifft dies auf seine zeitgleiche Untersuchung in Deutschland speziell für den untersuchten Bezirk Oldenburg nicht zu. Durkheim stellt fest, dass es wohl auf die Struktur der Familie ankomme und erwähnt später die Unterschiede im Scheidungsrecht als wichtigen erklärenden Faktor: Dort, wo sich Frauen scheiden lassen können, gleichen sich die Selbstmordraten zwischen den Geschlechtern stärker an.

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Für Frauen stellt Durkheim in Übereinstimmung mit den viel späteren Untersuchungen von Brown und Harris (1987) fest: verheiratete Frauen begehen um die Hälfte öfter Selbstmord als gleichaltrige unverheiratete. Daraus schließt er: »Wir haben schon einmal ganz allgemein festgestellt, daß die Ehefrau weniger Vorteile vom Familienleben hat als der Mann. Jetzt wird die Sache deutlich. Sie liegt darin, daß die eheliche Gemeinschaft der Frau schadet und die Anfälligkeit für den Selbstmord stärkt.« (Durkheim 1995:207). Wenngleich Frauen in Ehen mit Kindern stärker von Durkheims errechneten »Erhaltungskoeffizienten« profitierten als Frauen ohne Kinder, so sei ihr Risiko doch immer noch ungleich höher als das verheirateter Männer: »Von einer Millionen Frauen mit Kindern verüben 79 Selbstmorde. Wenn man die Zahl zu der Selbstmordrate der unverheirateten Frauen [...] in Beziehung setzt, die 150 beträgt, dann findet man, daß die Gattin auch als Mutter nur einen Erhaltungskoeffizienten von 1,89 hat, also 35 Prozent weniger als die verheirateten Männer unter den gleichen Bedingungen.« (Durkheim 1897/ 1995:207)

In seinen Anmerkungen zu diesen Befunden unterscheidet sich Durkheim wenig von den Schlüssen, die aus den heutigen Befunden gezogen werden: »Man muss zugeben, dass die für die Frau so unheilbringende eheliche Gemeinschaft, selbst wenn Kinder fehlen, für den Mann wohltuend ist. Die sie wählen, bilden nicht eine Aristokratie von Geburt. Sie bringen in den Ehestand keine endgültige Veranlagung mit, in der der Selbstmord keinen Platz hat, sondern diese Konstitution wird ihnen im Verlauf des Ehelebens zuteil. [...]. Und das besagt, in welch hohem Grade der Selbstmord nicht etwa von angeborenen Eigenschaften des Individuums abhängt, sondern von äußeren, es beherrschenden Faktoren!« (Durkheim 1897/1995:213f).

Gleichzeitig stellt Durkheim entsprechend zu den Ergebnissen des Nachteils der Ehe für Frauen fest, dass Frauen mehr als Männer davon profitierten, wenn in Ländern eine Scheidung möglich ist, denn dann zeigt seine Statistik, sinken die Selbstmordraten für Frauen und steigen die von Männern: »Auf der anderen Seite sobald die Scheidung zulässig ist [...], ist der Ehemann weniger stark geschützt als die Frau, und deren Vorteil steigt im selben Maße, wie die Häufigkeit der Scheidun-

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gen.« (Durkheim 1897/1995:306). Durkheim argumentiert, dass die gesellschaftliche Funktion der Ehe vor allem dazu geeignet sei den Mann zu schützen. Studien, wie die von Durkheim (1897/1995) oder aktuellere Daten, z.B. von Gutierrez-Lobos (2000), unterstützen die Annahme, dass Männer von der ehelichen Beziehung stärker profitieren als Frauen. Dieser Effekt setzt mit dem Eintreten in den Ehestand ein und kehrt sich bei Scheidung oder Tod des Partner oder der Partnerin um. Neuere Studien weisen jedoch auf »schützende Faktoren« hin, die das Risiko der Depressivität von verheirateten Frauen senken. 3.1.3.4 Schutzfaktoren Als Schutzfaktor vor den untersuchten negativen sozialen Auswirkungen ehelicher Beziehungen auf Frauen gilt eine Berufstätigkeit von Frauen (McGrath et al. 1994). Diese wirkt sich besonders dann positiv aus, wenn Väter bereit sind, sich an der Kindererziehung zu beteiligen. So zeigen z.B. Ross und Mirowsky (1988): heterosexuelle Frauen, denen ein einfacher Zugang zu externer Kinderbetreuung möglich ist, die berufstätig sind und die mit Partnern leben, die sie in ihren Zielen unterstützen, weisen geringe Depressionswerte auf. Ihre Werte sind vergleichbar mit den niedrigen Raten von Männern und allein lebenden, berufstätigen Frauen. Frauen, die alleine für die Kinderbetreuung verantwortlich sind, zeigen hingegen hohe Depressionswerte. Für Männer findet sich in der Studie von Ross und Mirowsky (1988) interessanterweise kein solcher Zusammenhang. Weiterhin zeigt sich, dass berufstätige Ehefrauen mit Eheproblemen, selbst wenn diese durch Berufstätigkeit ausgelöst werden, weitaus geringere Depressionswerte aufweisen als nicht berufstätige Ehefrauen mit Eheproblemen (Aneshensel 1986, zitiert nach MacGrath et al. 1994). Aneshensel (1986) erfasst das Depressionsrisiko von Frauen in Beziehung zu Ehestand und Berufstätigkeit. Bei Frauen mit geringer Ehebelastung und geringer Berufsbelastung ist es am niedrigsten. Bei hoher Ehebelastung und hoher Berufsbelastung ist es stark erhöht. Diese Erhöhung ist jedoch weitaus weniger stark ausgeprägt als bei nicht berufstätigen Frauen mit hoher Ehebelastung. Die Zahlen verdeutlichen eine starke Differenz zwischen berufstätigen und nicht berufstätigen Frauen. Insbesondere bei bestehenden Schwierigkeiten in der Ehe wirkt sich Berufstätigkeit offenbar als Puffer für das Depressionsrisiko aus. Frauen schützt dabei besonders eine Partnerschaft, die nicht an traditionellen Geschlechternormen orientiert ist. In einer Untersuchung von Rosenfeld (1980)

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wurde das Depressionsrisiko von Männern und Frauen in traditionellen Partnerschaften mit dem Risiko in nicht-traditionellen Partnerschaften in Hinblick auf Rollen und Arbeitsteilung in der Partnerschaft verglichen. Erstaunlicherweise haben Frauen in nicht-traditionellen Partnerschaften nicht nur kein größeres Depressionsrisiko als ihre Partner, sondern die Männer in den gleichberechtigten, nicht-traditionellen Partnerschaften weisen sogar höhere Depressionswerte als die Frauen.9 Eine häufigere interpersonale Ausrichtung von Frauen und ein damit einhergehender Stress of Caring beeinflusst das weibliche Depressionsrisiko. Korrespondierend mit diesen Befunden scheinen Frauen auch mehr als Männer für Depression in Reaktion auf negative, belastende Lebensereignisse empfänglich, die expressive bzw. interpersonale Lebensbereiche betreffen. Nazroo et al. (1997) untersuchten Geschlechtsunterschiede bei Depressionen in der Folge allgemeiner belastender Lebensereignisse. Ausgehend von der Hypothese, dass Geschlechtsunterschiede in der Depression ein Ergebnis ungleicher Rollenverteilungen von Männern und Frauen sind, wurden 100 Paare befragt, die gemeinsam ein bedrohliches Lebensereignis erlebt haben, dass potentiell als depressionserzeugend für Männer und Frauen angenommen wird. Frauen der Studie weisen ein höheres Risiko für depressive Episoden nach dem belastenden Lebensereignis auf als ihre Partner. Konsistent mit der Rollenhypothese der Autoren erhöht sich das Depressionsrisiko für Frauen insbesondere in Bezug auf Lebensereignisse, die Kinder, Wohnung oder reproduktive Problemen betreffen. Die Verletzlichkeit für Lebensereignisse, die dem traditionell weiblichen Bereich zugeordnet sind, erhöhen aber nur dann das Depressionsrisiko, wenn die Beziehung des Paares eine traditionelle Rollenteilung vorsieht. Eine solche Rollenverteilung erlaubt es Männern in traditionellen Beziehungen, sich leichter von belastenden Lebens-

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Mit einer weniger traditionellen Beziehungsgestaltung werden auch Befunde erklärt, die zeigen, dass US-amerikanische Collegestudenten und Studentinnen in ihren Depressionswerten (und in den vollzogen Suizidraten), anders als andere untersuchte Gruppen, wenig voneinander abweichen. Möglichweise funktionieren Universitäten als Schutzraum oder Pufferzone vor gesellschaftlichen geschlechtlichen Rollenanforderungen. So berichten Nolen-Hoeksema (1990) und Lloyd & Miller (1997) bei nordamerikanischen CollegestudentInnen etwa gleich hohe Depressionsraten, d.h. keinen Gender Gap der Depression.

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ereignissen zu distanzieren, während bei den Frauen – einhergehend mit einem höheren Depressionsrisiko – ein höheres Verantwortlichkeitsgefühl besteht. Auch in einer Studie von Kendler et al. (2001) wurde untersucht, ob die Geschlechtsunterschiede in der Depression bei Frauen durch eine höhere Anzahl belastender Lebensereignisse oder von einer größeren Verletzlichkeit für einzelne Lebensereignisse verursacht werden. Zwillingspaare wurden in einem Interview nach Depressionsepisoden und belastenden Lebensereignissen befragt. Frauen berichteten höhere Raten von Lebensereignissen in Bezug auf Wohn- oder Beziehungsprobleme mit Kollegen, Freunden und Partnern. Männer berichteten hingegen von mehr Problemen bezüglich Beruf und Karriere, rechtlichen Schwierigkeiten oder Diebstahl. Männer erwiesen sich als empfänglicher für instrumentelle Belastungen, z.B. durch Arbeitsprobleme, Frauen hingegen zeigten sich verletzlicher für expressive Beziehungsprobleme im nahen Umfeld. Konsistent mit kulturellen Geschlechtszuschreibungen berichteten Frauen mehr interpersonale, Männer hingegen mehr berufsbezogene Probleme. Die Häufigkeit oder die Bewertung der Erlebnisse alleine konnte die Geschlechtsunterschiede der Depression hingegen nicht erklären. 3.1.3.5 Gewalt und Armut Eine Asymmetrie im Familiensystem und eine größere Empfänglichkeit für interpersonale Probleme wurden bislang als Risikofaktoren für weibliche Depressionen identifiziert. Diese Faktoren erscheinen wie Korrelationen oder Abbildungen einer geschlechtsspezifischen Aneignung von instrumentellen und expressiven Geschlechtsrollennormen. Sie stehen aber auch in Verbindung mit kontextabhängigen, sozialökonomisch definierten Risikofaktoren, die im Folgenden beschrieben werden. Es gibt besonders schwierige Lebensumstände, die für beide Geschlechter als Risikofaktor für Depression gelten, die aber von Frauen wesentlich öfter erlebt werden. Dazu gehören speziell Erfahrungen von Armut und Gewalt. Frauen verfügen weltweit über einen geringeren Zugang zu Bildung und geringeres Einkommen als Männer (vgl. z.B. Eurostat 2008). Die Projektgruppe um McGrath et al. (1994) identifiziert Armut als einen wichtigen Faktor in der Depressionsentstehung von Frauen. Frauen sind in westlichen Ländern öfter von einem niedrigen sozialökonomischer Status und von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer.

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Dabei sind Frauen aus Minderheiten und Frauen mit kleinen Kindern besonders betroffen. Allein lebende Frauen mit einem unterhaltsberechtigten Kind sind besonders gefährdet. In der Eurostat Studie (2008) weisen 2005 ungefähr 32 Prozent der allein erziehenden Eltern, in den EU-25 Staaten fast ausnahmslos Frauen, ein armutsgefährdendes Einkommen auf. Selbst berufstätige Frauen leben häufiger in Armut. Im Europavergleich wurde festgestellt: Frauen arbeiten öfter in Teilzeitarbeit und seltener in leitenden Funktionen. In der BRD arbeitende Frauen in den gleichen beruflichen Positionen im Durchschnitt 22 Prozent weniger Gehalt als Männer (Eurostat 2008). Dabei stehen diese Faktoren in Verbindung mit einer Geschlechterordnung, die eine Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen hervorbringt, die neben dem hier diskutierten Stress of Caring wirtschaftliche Nachteile und Abhängigkeiten von Frauen fördert. So sinkt die Beschäftigungsquote von Frauen nach der Geburt eines Kindes, während die von Männern sich nicht verändert (Eurostat 2008). In der EU-Vergleichsstudie von Frauen und Männern liegt die Erwerbsquote von Müttern bei 62 Prozent, während die Erwerbquote von Vätern mit 91 Prozent mit der kinderloser Männer vergleichbar ist (Eurostat 2008). Zudem arbeiten Frauen öfter als Männer in schlechter bezahlten »weiblich« kodierten Berufen (z.B. als ErzieherInnen oder Krankenschwestern). Ebenso gelten Erfahrungen von Gewalt und Trauma als signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung von Depressionen bei Frauen und Männern, die aber wie Armut in disproportionalem Verhältnis öfter von Frauen erlebt werden. McGrath et al. (1994) waren überrascht von dem Ausmaß, in dem Depressionen bei Frauen eine Langzeitfolge posttraumatischer Verarbeitungen von erfahrener Gewalt oder Misshandlung darstellen. Dabei lag die Häufigkeit von traumatischen Gewalterlebnissen, wie körperlicher oder sexueller Missbrauch, in den von der Projektgruppe gesichteten Studien weitaus höher als angenommen. Schätzungen der AutorInnen gehen von bis zu 37 Prozent Gewalterfahrungen von Frauen bis zu einem Alter von 22 Jahren aus, wobei die Dunkelziffer vermutlich noch höher liegt. Gewalt gegen Frauen ist ein wichtiger Auslöser für die spätere Entwicklung einer schweren Depression, der bislang noch in zu wenigen psychologische Studien Beachtung findet (McGrath et al. 1994). McGrath et al. (1994) kritisieren, dass Symptome, die in psychologischen Studien klinisch als Depression erscheinen würden, nicht selten auf eine lang anhalten-

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de posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen seien, deren Symptome sich mit Depressionssymptomen häufig überschnitten. Die untersuchten Viktimisierungserfahrungen beziehen sich insgesamt auf zwischenmenschliche Erfahrungen, erfolgen in Beziehungen und sind besonders für Frauen ein Risikofaktor. Missbrauch in der Kindheit findet sich bei bis zu 21,7 Prozent bis 37 Prozent der Frauen; bei Männer sind die Raten signifikant niedriger (McGrath et al. 1994). Körperlicher Missbrauch durch Partner wird in Studien auf 25 Prozent bis sogar 50 Prozent geschätzt. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geben in den USA bis zu 71 Prozent aller Frauen an. Depressive Störungen finden sich als häufigste diagnostizierte Folge von Gewalterfahrung. 10 In der BRD wurde 2008 eine Studie des Robert Koch Instituts (RKI) veröffentlicht, in der rund 40 Prozent aller Frauen über 16 Jahre Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt waren. Die Untersuchung berücksichtigte auch verschiedene Formen häuslicher Gewalt. Etwa jede vierte erwachsene Frau wurde mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Misshandlungen durch ihren Beziehungspartner. Zwei Drittel der Frauen mit Gewalterfahrungen berichteten mittlere bis schwere Formen körperlicher Gewalt, wie etwa Schläge mit der Faust oder Waffengewalt. Gleichzeitig wurde auch hier betont, dass erfahrene körperliche und oder sexuelle Gewalt in vielen Fällen zu Depressionen oder Angststörungen führen kann (GBE-Heft »Gesundheitliche Folgen von Gewalt« 2008). 3.1.3.6 Adoleszenz und Schwangerschaft Die Vielzahl der hier zitierten Studien unterstützt die Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen der symbolischen Geschlechterordnung, die gesellschaftlich dichotome »Zuständigkeitsbereiche« von Frauen und Männern hervorbringt, die mit unterschiedlichem Risiko

10 Jaconson und Richardson (1985) führten tiefenpsychologische Interviews mit Männer und Frauen und fragten explizit nach erlebten Gewalterfahrungen in Form von körperlicher Misshandlung oder sexuellem Missbrauch im Kindes- oder Erwachsenenalter. Die Raten für Missbrauch an Frauen liegen mit 50 Prozent in dieser Studie besonders hoch, was die Autoren mit einer vertrauensvollen Gesprächssituation und einem gezielten Nachfragen im Interview begründen, aufgrund dessen in ihrer Studie eine höhere Bereitschaft über Missbrauch zu berichten bestanden habe.

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für Depressionen einhergehen. Neben solchen »rollentheoretisch« argumentierenden Ansätzen gibt es jedoch auch ein Vielzahl von Untersuchungen, die auf einen unterschiedlichen biologischen Körper von Frauen und Männer fokussieren und die vor allem genetische oder hormonelle Faktoren als Risikofaktoren für Frauen identifizieren. Da in dieser Arbeit der Schwerpunkt nicht auf biologischen Depressionsfaktoren liegt, sondern auf geschlechtlichen Kodierungen und ihrem Einfluss auf depressives Erleben, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, ausführlich den Stand der Forschung in diesem Bereich wiederzugeben. Stattdessen werden mit Adoleszenz und Schwangerschaft zwei ausgewählte Risikofaktoren diskutiert, durch die exemplarisch gezeigt werden soll, dass eine Abgrenzung von körperlichen Faktoren, psychosozialem Erleben und gesellschaftlichen Kodierungen nicht einfach zu vollziehen ist. Biologische und psychosozial orientierte Studien stimmen darin überein, dass sich der Gender Gap der Depression und damit die erhöhten weibliche Depressionszahlen mit Beginn der Adoleszenz entwickeln (Nolen-Hoeksema 1999, Marcotte et al. 1999). So wird der Beginn des erhöhten Depressionsrisikos in der Adoleszenz mit hormonellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern begründet, deren hormoneller Status sich ab diesem Zeitpunkt stark auseinander entwickelt. Bebbington (1996) argumentiert hingegen, dass nicht der hormonellen Übergang in der Pubertät von Bedeutung für die steigenden Depressionszahlen bei Mädchen und Frauen ist, sondern der soziale Status der Adoleszenz. Die Adoleszenz bedeute neben hormonellen Veränderungen eine Zeit sozialer Umbrüche, die besonders für Mädchen mit einem Wechsel der sozialen Rollen verbunden sind. Der Eintritt in die Adoleszenz kann als ein verstärkter Druck auf Mädchen empfunden werden, eine weibliche, expressive Geschlechtsrollenidentität anzunehmen und auszudrücken. Bereits Sigmund Freud unterstreicht in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« die Bedeutung der Adoleszenz für die spätere Persönlichkeitsentwicklung, wobei er der Kategorie Geschlecht einen entscheidenden Stellenwert einräumt: »Es ist bekannt, daß erst mit der Pubertät sich die scharfe Sondierung des männlichen und weiblichen Charakters herstellt, ein Gegensatz, der dann wie kein anderer die Lebensgestaltung der Menschen entscheidend beeinflusst.« (Freud GW V 1904/1905:120). Übereinstimmend mit Freuds Befund einer zunehmenden Sondierung von »männlich« und »weiblich« in der Pubertät, stellen Galambos et al. (1990) in

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einer empirischen Untersuchung fest, dass sich die Geschlechtsrollenorientierung bis zum Alter von 13 Jahren intensiviert und besonders stark hervortritt. Zwischen 11 und 13 Jahren wird bei Jungen eine heftige Abgrenzung von Mädchen sichtbar. Während gleichaltrige Mädchen die Gleichheit von Männern und Frauen besonders betonen, bestehen Jungen in dieser Altersstufe besonders auf den Differenzen zwischen Männern und Frauen (Galambos et al. 1990). Die AutorInnen vermuten, dass diese Unterschiede in der Bewertung auf einen geschlechtlich unterschiedlichen Umgang mit gesellschaftlichen Attributionen und Rollennormen von Männlichkeit und Weiblichkeit einhergehen, die Männlichkeit mit einem höheren Wert versehen. Auch Maccotte et al. (1999) untersuchten Bedingungen für eine geschlechtlich unterschiedliche Depressionsentwicklung in der Adoleszenz. Über 300 Mädchen und Jungen aus zwei Altersklassen (14-15 Jahre und 16-17 Jahre), wurden anhand von Fragebögen getestet. Mit dem Beck Depression Inventory (BDI) wurde nach Depressionssymptomen gefragt, anhand des Bem Sex Role Inventory (BSRI) nach der individuellen Geschlechtsrollenorientierung und anhand des ProblemSolving Inventories nach der Problemlösekompetenz. Mit einem LifeEvent Questionnaire wurde zusätzlich die Angabe belastender Lebensereignisse erfasst. Unabhängig vom Alter geben Mädchen mehr depressive Symptome an als Jungen. In Übereinstimmung mit Geschlechtsrollenerwartungen beschreiben sich Mädchen stärker anhand expressiver Eigenschaften als Jungen, während Jungen mehr instrumentelle Eigenschaften angeben als Mädchen. Interessanterweise nimmt die Angabe instrumenteller Eigenschaften bei Jungen mit zunehmendem Alter zu, bei Mädchen hingegen ab. Die Geschlechtsunterschiede in den Angaben der Instrumentalität vergrößern sich demnach in der Adoleszenz mit fortschreitendem Alter. Gleichzeitig ergab sich eine negative Korrelation zwischen Instrumentalität und Depression für beide Geschlechter, d.h. je höher die Instrumentalitätswerte sind, desto niedriger sind auch die Depressionswerte. Ein ähnlicher Interaktionseffekt fand sich auch für die Angabe der eigenen Problemlösekompetenz. Während Mädchen mit zunehmendem Alter weniger Vertrauen in die eigene Problemlösefähigkeit aufweisen, zeigen Jungen in den höheren Altersstufen mehr Vertrauen in die eigene Problemlösekompetenz. Das Vertrauen adoleszenter Jungen in ihre Problemlösekompetenzen nimmt mit dem Alter zu, während das Vertrauen adoleszenter Mädchen abnimmt. Mädchen berichten in der Studie

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mehr belastende Lebensereignisse und das Gefühl, weniger Kontrolle über ihr Leben ausüben zu können als Jungen der Vergleichsgruppe. Marcotte et al. (1999) unterteilten die Gruppen daraufhin anhand der Depressions-Werte in eine depressive Gruppe und eine nicht-depressive Gruppe. Hier zeigte sich, dass sowohl depressive Jungen als auch depressive Mädchen sich als weniger instrumentell beschreiben, sich eine niedrigere Problemlösekompetenz zuschreiben und mehr belastende Lebensereignisse angeben als nicht-depressive Jungen und Mädchen. Für die Variable Expressivität finden sich hingegen keine Gruppenunterschiede, d.h. depressive Jungen und Mädchen beschreiben sich nicht expressiver als nicht-depressive Jungen und Mädchen; sie beschreiben sich aber als weniger instrumentell. Die Ergebnisse stimmen mit einem Maskulinitäts-Modell psychischer Gesundheit (Taylor & Hall 1982) überein, wonach Werte in der Dimension Instrumentalität zur statistischen Vorhersage psychischer Gesundheit aussagekräftiger sind als Expressivitätswerte. Gleichzeitig verdeutlichen die hier zitierten Untersuchungen zu Adoleszenz und Geschlechtsrollenorientierung eindrücklich den psychosozialen Rollendruck, in den Mädchen und Jungen hineinwachsen. Neben hormonellen Veränderungen in der Adoleszenz werden auch Hormonveränderungen in Zusammenhang mit einer Schwangerschaft als Risikofaktoren für die weibliche Depression diskutiert. McGrath et al. (1994) identifizieren verschiedene hormonell und genetisch bedingte »Frauenthemen« sowie um den weiblichen Körper zentrierte Themen, die psychisch hauptsächlich für Frauen relevant werden: z.B. Menstruation, Schwangerschaft, Unfruchtbarkeit, Abtreibung oder schwangerschaftsbedingte Lohnpausen. Auch Wolfersdorf et al. (2006) benennen Reproduktionsvorgänge bei Frauen (prämenstruelles Syndrom, Wochenbettdepressionen, Schwangerschaftsdepressionen, und klimakteriumsbedingte Depressionen) sowie eine intergenerationelle Depressionstradierung depressiver Verhaltensweisen von Müttern an Töchter als die zentralen Faktoren im Gender Gap der Depression. Die Diskussion um die Kategorie der postpartalen Depression macht jedoch deutlich, dass auch bei diesem vordergründig körpernahen und körperzentrierten Frauenthema eine Interaktion zwischen symbolischen Geschlechtszuschreibungen und geschlechtlich kodierten Wissens besteht. Die Klassifikation Postpartale Depression stellt einen umkämpften Diskussionspunkt in Bezug auf Frauen, Biologie und Depression dar.

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Eine postpartale Depression wird dann diagnostiziert, wenn Frauen nach einer Geburt im Wochenbett depressive Symptome entwickeln (vgl. DSM-IV). McMullen und Stoppard (2006) kritisieren, dass durch diese Diagnose der weibliche Körper zu stark biologisiert werde und auf hormonelle Veränderungen nach der Geburt reduziert werde, wobei soziale Risikofaktoren für eine Depression im Wochenbett im wissenschaftlichen Diskurs oftmals nicht gesehen würden. Die Autorinnen untersuchen, wie die Entstehung einer Depression im Wochenbett im Wissenschaftsdiskurs begründet wird. Im untersuchten psychologischen Diskurs, untersucht an Universitäten, in psychologischen Ratgebern und auf Broschüren der kanadischen psychologischen Gesellschaft, werden ökonomische oder sozial orientierte Depressionsgründe, wie Lebensumstände, Anzahl der Kinder im Haushalt oder Beziehung zum Partner, meist ignoriert, während biologische und individuelle Persönlichkeitseigenschaft besonders betont werden. Sie kritisieren ein subtiles »mother blaming« in der Literatur zur Kindbettdepression und ein Fehlen der Thematisierung von Trennung, Verlust sowie realer Einschränkungen und Anpassungsschwierigkeiten, die Frauen durch die Geburt eines Kindes erleben. Whiffen & Gottlib (1993) hingegen argumentieren, dass Frauen nach der Geburt statistisch betrachtet gar kein tatsächlich höheres Depressionsrisiko aufweisen als zu einem anderen Lebenszeitpunkt und sehen in dieser Klassifikation einen »natürlichen« Vorgang bei Frauen pathologisiert. Demgegenüber stehen Studien von Weissman, Lead und Tischler (1988) nach denen 80 Prozent der Depressionen von Frauen mit Reproduktion in Verbindung stehen sollen und ferner von Cox et al. (1993), die argumentieren, dass Frauen in der Lebenspanne nach einer Geburt dem höchsten Depressionsrisiko ausgesetzt sind. Nach Menos und Wilson (1988) werden 80 Prozent aller postpartalen Depression gar nicht bemerkt und bleiben daher unbehandelt. Eine unbehandelte postpartale Depression kehrt in späteren Schwangerschaften jedoch oftmals zurück und übt einen starken negativen Einfluss auf das Kind und den Partner aus (Menos & Wilson 1988). Auch für diese Depressionsform werden Schutz bzw. Resilienzfaktoren identifiziert, die denen entsprechen, die das generelle Depressionsrisiko von Frauen senken. Frauen, die nach der Geburt einen Beruf haben, zu dem sie zurückkehren, sind nach Paykel et al. (1980) weniger verletzlich für postpartale Depressionen. In der Studie von Menos und Wilson (1988) erwies sich eine hohe Angabe von Agen-

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cy/Instrumentalität als zentraler Schutzfaktor vor Depressionen. In ihrer Vergleichsstudie von 29 postpartal depressiven Frauen mit 27 postpartalen Frauen ohne Depression korreliert Instrumentalität negativ mit Depression. Auch eine als gut erlebte soziale Unterstützung durch den Partner verhinderte in der Studie das längere Bestehen einer postpartalen Depression. Die genannten Studien widersprechen einem rein biologistischen Begründungszusammenhang, in dem Hormone oder Genetik allein für das Depressionsrisiko verantwortlich gemacht werden. Sie verweisen auf den Stellenwert des konkreten psychosozialen Kontextes, in dem Depressionen entstehen. Auch für die postpartale Depression lässt sich eine biopsychosoziale Perspektive annehmen, in der körperliche, psychische und soziale Faktoren miteinander interagieren und ein erhöhtes weibliches Depressionsrisiko hervorbringen, dass nicht von einem Faktor alleine provoziert wird, sondern von dem Zusammentreffen mehrerer Vulnerabilitätsfaktoren bedingt ist. 3.1.4 Zusammenfassung: Frauen und Depression Im Folgenden werden in einer modellhaften Zusammenfassung die bisherigen Ergebnisse des Kapitels dargestellt. Die diskutierten Risikofaktoren für Depressionen bei Frauen werden hierbei noch einmal mit geschlechtsrollenbezogenen Emotionsnormen in Beziehung gesetzt: Das Modell der »weiblichen« Risikofaktoren illustriert, auf der Ebene der empirischen sozialpsychologisch orientierten Forschung zu Depression und Geschlecht, eine Vielzahl miteinander interagierender Faktoren, die vor allem eine »weibliche Geschlechtsrollenorientierung« – die in den Untersuchungen meist rückgebunden ist an Körpergeschlecht – mit Depression in Verbindung bringen. Dabei interagieren diese Faktoren mit Geschlechtsrollennormen und einer auf Zweigeschlechtlichkeit hierarchisch aufbauenden Arbeitsteilung. Auch Persönlichkeitsfaktoren interagieren mit geschlechtlichen Rollenanforderungen und Emotionsnormen. Schließlich stehen auch vordergründig als körperliche Faktoren in Erscheinung tretende, vor allem biologisch diskutierte, »Frauenthemen« (Schwangerschaft, Adoleszenz, Wechseljahre etc.) in einem psychosozialen Kontext, der Frauen für Depressionen empfänglicher macht. Verkompliziert wird die Forschung über Depression und Geschlecht auch dadurch, dass sich geschlechtliche Emotionsnormen nicht nur in die »Untersuchten« einschreiben, sondern auch in die Theorie und Praxis der Untersuchenden. So können

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sie zu einem theoretischen Bias in Fragestellung und Ergebnissen der Depressionsforschung führen, in dem Merkmale der Depression mit Merkmalen von Weiblichkeit gleichgesetzt werden. Welche Auswirkungen diese hier für Frauen identifizierten »biopsychosozialen« Risikofaktoren auf das Depressionserleben und das -risiko von Männern haben, wird im folgenden Kapitel untersucht. Abbildung 3: Risikofaktoren »weiblicher« Depression

3.2 Männer und Depression Im vorangegangen Kapitelabschnitt wurden vor allem empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Depression dargestellt, die zeigen, wie sich kulturelle Zuschreibungen an symbolische Weiblichkeit mit den Merkmalen und Auslösern einer Depression überschneiden und Diagnose, Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie von Depressionen bei Frauen beeinflussen können. Gleichzeitig wurde überlegt, ob die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die mit der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit einhergeht, Frauen aufgrund unterschiedlicher Faktoren stärker für die Entstehung einer Depression verletzlich macht als Männer. Dass Frauen ein statistisch höheres Depressionsrisiko aufweisen als Männer, heißt aber nicht, dass die Geschlechterordnung keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit von Männern ausüben kann oder dass die Depression beim Mann zu vernachlässigen wäre. Parallel zur Darstellung im vorangegangenen Kapitel wird

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im Folgenden zunächst eine Zusammenfassung allgemeiner gesundheitspsychologischer Untersuchungen zu Männlichkeit und Krankheit dargestellt und in einem zweiten Schritt auf ihren Zusammenhang mit Männlichkeit und Depression hin untersucht. 3.2.1 Männlichkeit und Mortalität Die Geschlechtsrollenmodelle psychischer Gesundheit und die Forschungsergebnisse des negativen Zusammenhangs zwischen einer expressiven Geschlechtsrollenorientierung und psychischer Gesundheit machen deutlich, wie eng symbolische Weiblichkeit – auch unabhängig vom biologischen Geschlecht – mit psychischen und psychosomatischen Problemen und einem weniger positiven Selbstbild zusammenhängt. Instrumentalität/Agency bzw. Maskulinität hingegen korreliert in empirischen Untersuchungen mit Werten von höherem Selbstwertgefühl, Optimismus und Selbstwirksamkeit und geringer psychischer Belastung (Whitley 1983). Im Folgenden wird jedoch eine Kehrseite kultureller Männlichkeitsnormen dargestellt und diskutiert. »Maskulinität« stellt, so das in der Gesundheitsforschung noch immer aktuelle Maskulinitätsmodell, unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen einen zentralen Faktor psychischer Gesundheit dar (Taylor und Hall 1982). Das Fehlen von »Maskulinität« bzw. Agency begünstigt dagegen die Entstehung psychischer und psychosomatischer Krankheiten. Rückt man jedoch körperliche Risiken ins Zentrum der Beobachtung erscheint ein anderes Bild. Betrachtet man hier die Datenlange, so scheint es, als fördere eine traditionelle Männlichkeit körperliche Gesundheitsrisiken.11

11 So zeigen beispielsweise Daten von Helgeson (1994), dass extreme bzw. negative Ausprägungen von Maskulinität bei Männern und Frauen (definiert als unmitigated agency – ungemilderte Maskulinität) mit Angaben von Gleichgültigkeit gegenüber Anderen korreliert, mit geringer Einfühlsamkeit und geringer Hilfsbereitschaft, sogenanntem Typ-A-Verhalten, weniger Bereitschaft zur Gesundheitsvorsorge und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Drogenmissbrauch (Helgeson 1994). Frauen und Männer mit hoher Maskulinität bei gleichzeitig geringer Feminität schildern z.B. mehr Ungeduld und Angespanntheit, rauchen mehr und neigen verstärkt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Alfermann 1993).

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Ausgehend von der Frauenforschung ist die männliche Geschlechtsrolle zunehmend in eine Krise und in die Kritik geraten. War in der früheren Forschung der Mann Maßstab und Norm für psychische Gesundheit, so werden heute traditionelle Werte von Männlichkeit nicht nur zunehmend in Frage gestellt, sondern sogar als pathologisch betrachtet (Hollstein 1999). Der Normalitäts- und Gesundheitsbegriff von Männlichkeit erscheint, so problematisiert Hollstein: »[...] als eine Definition von Krankheit und Unterdrückung« (Hollstein 1999:72). In den USA, wo eine Reflexion über Männlichkeit früher einsetzte, wies Goldberg bereits 1977 auf den schlechten Gesundheitsstatus von Männern hin (Goldberg 1977). Goldberg legte in einer Zusammenfassung empirischer Studien mit dem Titel: The Hazards of Being Male« dar, dass Männer über die gesamte Lebensspanne hinweg disproportional höherer Raten an Unfällen, Verbrechen, Krankheiten und Selbstmorden aufweisen als Frauen. Bei Jungen ist zum einen die Säuglingssterblichkeit wesentlich höher, zum anderen sterben Männer im frühen und mittleren Erwachsenenalter häufiger an Todesursachen, die durch gesundheitliches Risikoverhalten bedingt sind, wie Unfälle, Bronchialkrebs, Leberzirrhose, Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie durch Gewalteinfluss und Selbstmord. Bei Sucht-erkrankungen ist der Anteil der Männer 3-5mal höher als derjenige der Frauen. Insgesamt ist die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen 6,4 Jahre länger als die der Männer. Medizinisch-biologische Faktoren alleine können die kürzere Lebenserwartung von Männern jedoch nicht erklären. Männer führen insbesondere in den Bereichen die Statistik der Mortalitätsraten an, in denen die Todesursachen stark mit individuellem (Risiko-)Verhalten zusammenhängen, das direkt oder indirekt mit einer psychosozialen Orientierung an Männlichkeitsvorstellungen in Verbindung gebracht werden kann (Degenhardt & Thiele 2001). Männer leiden häufiger an Erkrankungen, die auf Risikoverhalten wie Rauchen, Alkoholkonsum oder fettreiche Ernährung zurückgeführt werden können (Degenhardt & Thiele 2001, Waldron & Johnson 1976). Im Gegensatz dazu scheint in vielen Studien ein Faktor ganz besonders positiv in Zusammenhang zu gesundheitsförderndem Verhalten zu stehen: weibliche Rollenorientierung (Courtenay 1998).12

12 Eine international erhobene Mortalitätsstatistik von Männern und Frauen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren verdeutlicht den Zusammenhang zwi-

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Swanson und Forrest (1987) erklären, dass die wichtigste Ursache für das »kranke männliche Geschlecht« in der Struktur der männlichen Rollenvorstellungen liege, die darauf angelegt sei, Männer mit Risiken, Gefahren und Bedrohung zu konfrontieren. Wesentliche Züge der normativen, traditionellen Männlichkeit sind nach Degenhardt und Thiele (2001) beispielsweise, dass Männer beruflich erfolgreich und durchsetzungsfähig sein sollen, kein als weiblich kodiertes oder homosexuelles Verhalten zeigen und stark, ausdauernd und gesund sein sollen. Aggressivität, Risikolust und Trinkfestigkeit gehören zum maskulinen Ideal im Gegensatz zu Emotionalität und der Fähigkeit, Probleme und Hilflosigkeit einzugestehen. Zur männlichen Rolle gehöre es nicht nur Gefahren zu trotzen, sondern auch die damit verbundenen Probleme, Ängste und Leiden nicht zuzugeben (Hollstein 1999). Dementsprechend suchen Männer weniger ärztliche und professionelle Hilfe auf. Eine geringere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems entsteht auch durch die »männlichen« Ansprüche an die eigene Person, Probleme selbst und ohne fremde Hilfe zu lösen (Kolip & Hurrelmann 2000). Für Frauen hingegen ist Krankheit oftmals der (einzige) gesellschaftlich legitimierte Grund, sich aus familiären und beruflichen Überlastungen zurückzuziehen und eigene Bedürfnisse voranzustellen. Ein Umstand, der zu einer ebenso verzerrten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führt. In Bezug auf Männlichkeit und Depression finden sich hier wichtige Hinweise. Für Männer mit einer instrumentellen Orientierung ist es scheinbar nicht nur schwerer, sich depressive Symptome einzugestehen oder deswegen Hilfe aufzusuchen und anzunehmen, sondern es ist auch wahrscheinlicher, dass ihre Symptome von Ärzten weniger beachtet oder körperlich umgedeutet werden (Möller-Leimkühler 2006).

schen Risikoverhalten und Geschlecht (Redfield Jamison 1999). »Leading cause of death« in dieser Altersgruppe sind bei Männern Verkehrsunfälle, (bei Frauen sind Verkehrsunfälle auf Platz 5), gefolgt von Tuberkulose, Gewalteinwirkung (3.) und Selbstmord (4.). Selbstmord ist bei Frauen dieser Altersgruppe, die zweithäufigste Todesursache, auch wenn in absoluten Zahlen Frauen weniger Selbstmorde begehen als Männer. Redfield Jamison vermutet, dass die zentrale Bedeutung des Suizids für Frauen mit den höheren weiblichen Depressionsraten zusammenhängt. Die Depression steht als psychiatrische Krankheit am häufigsten in Verbindung mit Selbsttötung (Redfield Jamison 1999).

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Der Psychoanalytiker Heinrich Deserno (1999) berichtet, dass Männer auf depressive Symptome eher mit Externalisierung und auffälligem Verhalten reagieren, z.B. mit Aggression oder Alkoholmissbrauch, die Depressivität betäuben oder überdecken sollen. Vergleicht man die Häufigkeiten von Depression und Angst bei Frauen mit den Raten von Alkoholmissbrauch und anderen externalisierenden Symptomen bei Männern gleichen sich die Häufigkeiten psychischer Störungen auf »beiden Seiten« an. 3.2.2 Alexithyme Männlichkeit Ein wesentlicher psychologischer Unterschied zwischen den Geschlechtern bzw. zwischen den symbolischen Geschlechterkonstruktionen, an denen sich die Geschlechter orientieren, liegt im emotionalen Erleben und Emotionsausdruck begründet, wobei Männer im Vergleich zu Frauen wesentliche Restriktionen in ihrem Emotionsausdruck erleben. Eine grundlegende Annahme in der psychosomatischen Medizin sieht in der Beeinträchtigung des Emotionsausdrucks und des Emotionserlebens negative Effekte für die Gesundheit (Taylor 1987). Eine solche Beeinträchtigung von Emotionalität, die oftmals in Zusammenhang mit Männlichkeit diskutiert wird, ist die Alexithymie (Levant 1995). Bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts beobachtet Alexander (1950), dass die Entstehung und der Verlauf von bestimmten körperlichen Krankheiten negativ von der Repression konflikthafter Gefühle beeinflusst werden. Dieses eingeschränkte Gefühlserleben wurde 1973 erstmals von Sifneos mit dem Begriff Alexithymie (aus dem Griechischen a = ohne, lexi = Wort, thymos = Emotion) geprägt, um Personen zu beschreiben, die unfähig sind, Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken bzw. zu benennen und denen eine Differenzierung von körperlichen und emotionalen Folgen einer Belastungssituation nicht gelingt. Kappis und Egle (2003) beschreiben das Bild eines alexithymen Patienten: »Werden Belastungs- oder Stresssituationen geschildert, spürt man kaum eine innere Beteiligung der Patienten, Fantasie und Vorstellungsvermögen sind ebenso spärlich wie die verwandte Sprache. Menschen mit Alexithymie zeigen geringe Autonomie, sie sind stark sozial angepasst, und es bestehen oft symbiotisch enge Beziehungen zu einem Partner.« (Kappis & Egle 2003:130)

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Neben der Diagnostik durch den klinischen Eindruck hat sich in der wissenschaftlichen Forschung besonders ein in Kurzform eingesetzter 20 Item Fragebogen durchgesetzt, die Toronto-Alexithymie Skala (TAS-20, Taylor 1997), deren deutsche Version durch Kupfer, Brosig und Brähler (2000) mit 26 Items als TAS-26 vorliegt. Die TAS beschreibt Alexithymie anhand von drei Dimensionen, 1.) Schwierigkeit bei der Identifikation von Gefühlen (SIG), 2.) Schwierigkeit des Benennens von Gefühlen (SBG) und 3.) Extern Orientiertem Denkstil (ED). In einer großen epidemiologischen Studie an mehr als 1000 Personen der finnischen Allgemeinbevölkerung zeigte sich unter Verwendung der TAS-20 eine Alexithymierate von 13 Prozent. Werden klinische Stichproben untersucht, liegt der Anteil der alexithymen Personen deutlich höher mit bis zu 55 Prozent in einer Studie an essentiellen Hypertoniepatienten (Todarello et al. 1995) oder bei 53 Prozent in einer Gruppe von Unfallopfern, die später eine chronische somatoforme Schmerzkrankheit entwickelten (Cox et al. 1994). Alexithyme Personen klagen über eine größere Anzahl körperlicher Beschwerden (Taylor 1996, Taylor et al. 1992) und zeigen ein ungünstigeres Krankheits- und Bewältigungsverhalten (Lumley et al. 1997). Ronald Levant (1995) geht davon aus, dass eine milde Form der Alexithymie unter erwachsenen Männern weit verbreitet ist. Dies resultiert, so Levant, aus der männlichen Sozialisation, die von Jungen verlange, den Ausdruck von Gefühlen der Verletzbarkeit und Hilfsbereitschaft zu unterdrücken und sich stattdessen als emotional stoisch zu erleben. Nicht nur würden Jungen nicht dazu aufgefordert, zu lernen, Gefühle zu identifizieren und auszudrücken, ihnen werde gar davon abgeraten, diese überhaupt wahrzunehmen. Nach Levant sind Männer sich ihrer Gefühle oftmals nicht bewusst. »Lacking this emotional awareness, when asked to identify their feelings, they tend to rely on their cognition and try to logically deduce how they should feel. They cannot do what is so automatic for most women – simply sense inwardly, feel the feeling and let the verbal description come to mind.« (Levant 1995:239)

In Levants Argumentation zeigen sich stereotype Geschlechterkodierungen, nach denen Männer kognitive, intellektuelle Verarbeitungsprozesse leichter fallen als Frauen, während Frauen »automatisch« und intuitiv mit ihren Gefühlen in Kontakt sind. Diese dichotomen Zuschreibungen zeigen exemplarisch wie in der hier diskutierten psychologischen Forschung binäre Emotionsnormen durch den Forschungs-

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diskurs »abgebildet« werden und gleichzeitig Gefahr laufen, weiter ein- bzw. fortgeschrieben zu werden. Levants Kollege und Mitbegründer einer »New Psychology of Men« (1995), William Pollack, geht davon aus, dass Männer sich vor Gefühlen verschließen und dabei Depression und Traurigkeit genauso außen vorhalten wie empathische und intime Beziehungen. Die Unfähigkeit von Männern, Emotionen auszudrücken bezieht sich jedoch vor allem auf als »weiblich« kodierte Gefühle, wie z.B. Gefühle der Liebe, Zärtlichkeit, Vertrauen, Scham und Verletzlichkeit, Gefühle von Wut, Feindseligkeit und Aggression würden von Männern hingegen erwartet (Solomon 1995).13 Männlichkeit ist nach Deserno (1999) auch eine Reaktionsbildung gegen das Weibliche. Resultate dieser Reaktionsbildung seien eine zwanghafte Sexualisierung und Aggressivierung des Geschlechterverhältnisses, in dem die Verschiedenheit der Geschlechter übertrieben werde und Gleichheit in Hinblick auf gemeinsame Fähigkeiten, aber auch gemeinsame Unvollkommenheiten und Verletzbarkeiten, abgewehrt werde. Männliche Eigenschaften erinnerten an eine medizinische Ausschlussdiagnose: »Männlich ist nicht weiblich, nicht kindlich im Sinne von unreif, aber auch nicht alt, weil nicht schwach. Solche Männlichkeit ist vor allem als sozial konstruierte Abgrenzung zu verstehen. Obgleich sie offensiv anmutet, definiert sie sich in entscheidenden Punkten exnegativo, also vor allem das Weibliche verneinend.« (Deserno 1999:86)

In Studien, die als Belege für Levants Theorie der normativen maskulinen Alexithymie herangezogen werden, korrelieren oftmals nur Teildimensionen der Alexithymieskalen mit den untersuchten Variablen: So findet eine ethnolinguistische Studie über Alexithymie in einer Stichprobe kanadischer StudentInnen bei Männern höhere Werte im extern orientiertem Denken als bei Frauen (Dion 1996). Helmers und Mente (1999) berichten über Untersuchungen einer Stichprobe von 118 gesunden männlichen Studenten, dass die Schwierigkeit, Gefühle zu identifizieren, assoziiert ist mit schlechten Nahrungsgewohnheiten

13 Studien von Archer (1994) und McCeary (1994) zeigen, dass Männer von ihrer Umwelt für als »weiblich« geltendes Verhalten häufiger bestraft werden, während crossgeschlechtliches Verhalten von Frauen öfter toleriert und weniger streng bestraft wird.

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sowie größerem Alkohol- und Drogenmissbrauch, während die Schwierigkeit, Gefühle zu kommunizieren, in Beziehung steht mit sesshafter, angepasster Lebensführung. Fisher und Good (1997) bescheinigen Männern mit Alexithymie Schwierigkeiten in intimen Beziehungen. Untersuchungen mit dem PAQ wiederum zeigen, dass Männer, die sich selbst als expressiver beschreiben, geringere Probleme haben, Gefühle zu zeigen, als instrumentelle Männer. Männer, die sich gemäß dem PAQ als undifferenziert beschreiben, berichteten sowohl von Problemen, Gefühle zu zeigen als auch davon, Gefühle entgegengebracht zu bekommen (O’Neil et al. 1986). Weiterhin steht Alexithymie in Beziehung zu verminderter sozialer Unterstützung, weniger engen sozialen Beziehungen und allgemein geringeren sozialen Fähigkeiten (Lumley et al. 1997).14 Trotz der hier skizzierten Übereinstimmung darüber, dass besonders Männlichkeit mit der Beschneidung von Gefühlen einhergeht, bleibt offen, inwiefern Weiblichkeit und eine traditionelle Orientierung an expressiven Rollennormen nicht auch das Gefühls- und Verhaltensrepertoire von Frauen einengen. Wut, Aggression, Durchsetzungsfähigkeit und Ehrgeiz, die zentrale Aspekte der stereotyp-männlichen Rolle darstellen, werden bei Frauen ebenso wenig gefördert und toleriert, wie bei Männern weiblich kodierte Gefühle von Schwäche, Sensibilität und Hilfsbedürftigkeit.15

14 Es wurde versucht, die Geschlechtsunterschiede in der Alexithymie hirnphysiologisch z.B. mit einer unterschiedlichen hemisphärischen Lateralisation von Männern und Frauen zu erklären. Eine alternative psychosoziale Theorie vermutet, Frauen seien generell mehr auf ihre Gefühle eingestimmt als Männer. Dies stimmt überein mit den bereits zitierten Überlegungen Beckmanns (1976), dass es für Frauen dank größerer Offenheit, Probleme zuzugeben, weniger nötig sei, Gefühle in somatische Symptome zu verdrängen. 15 In Übereinstimmung mit psychodynamischen Überlegungen, dass besonders Frauen Aggressivität eher gegen sich selbst richten als nach außen (z.B. Kristeva 1989), berichten psychologische Untersuchungen in einem Meta-Review von Eagly & Steffen (1986), dass erwachsene Männer durchschnittlich aggressiver sind als Frauen. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen nach Pollack (1995), dass Mütter, obwohl sie wesentlich mehr Wörter für Emotionen benutzen, wenn sie mit ihrem Töchtern sprechen, selten oder nie mit ihnen über Wut sprechen, während sie

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In Übereinstimmung mit Überlegungen zur Alexithymie der Männlichkeit zeigt eine Arbeit zum Zusammenhang von Geschlecht, Schmerzkrankheit und Alexithymie, dass sowohl eine traditionell weibliche als auch eine männliche Geschlechtsorientierung mit erhöhten Alexithymiewerten bei SchmerzpatientInnen und gesunden Kontrollpersonen korreliert (Teuber 2004, Teuber, Thiele & Eberhardt 2006). Für beide Geschlechter führt eine einseitige Orientierung zu Einschränkungen im emotionalen Erleben und im Emotionsausdruck. Eine Korrelation von traditioneller Weiblichkeit und Männlichkeit mit Alexithymie unterstützt diese These. In Hinblick auf Depression und Geschlecht lassen sich interessante Verbindungen zur Alexithymieforschung knüpfen. Einerseits ist zu vermuten, dass Restriktion im aggressiven Erleben und Ausdruck von Frauen einen bedeutenden Risikofaktor für die Depression von Frauen darstellen kann. Aber auch in Hinblick auf eine Depression bei Männern bzw. eine männliche Abwehr von Depressionen, finden sich interessante Verweise und überraschende Gemeinsamkeiten. Zum einen sind hier Studien zu nennen, die einen Zusammenhang, d.h. eine positive Korrelation zwischen Alexithymie und Depression bestätigen (Duddu et al. 2003, Honkalampi et al. 2000, Taylor et al. 1994). In

dies regelmäßig mit ihren Söhnen tun. Anscheinend erwarten Töchter auch mehr positive Reaktion von ihren Müttern, wenn sie Traurigkeit ausdrücken als wenn sie Wut ausdrücken, während es sich bei Jungen umgekehrt verhält (Fuchs & Thelen 1988). Ein unterschiedliches Umgehen von Männern und Frauen mit Aggression diskutiert Schmauch (1987) in Zusammenhang mit unterschiedlichen Erfahrungen in der frühen Mutter-KindInteraktion. Schon im Kindesalter agierten Jungen vermehrt aggressiv, während der Körper von Mädchen bewegungsloser wirke, ein Umstand, den die Autorin mit einer fehlenden Konfliktauseinandersetzung mit der Mutter in Verbindung bringt. Mädchen könnten sich, basierend auf einer ambivalenzfreien Symbiosephase, regressiv an die Mütter richten, sie dürften leiden, würden aber abhängig gehalten. Mütter fühlten sich daher auch durch die körperlichen regressiven Bedürfnisse der Mädchen weniger bedroht als durch die der Jungen, deren Autonomiebestrebungen stärker unterstützt würden und die somit schon früh zu einer Abwehr von Körperempfindungen und Leiden angehalten würden. Dieses bereits in der Kindheit ausgebildete Verhalten werde durch die in der Gesellschaft vorherrschenden Idealbilder forciert und aufrechterhalten.

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einer aktuellen Studie über Zusammenhänge zwischen Alexithymie und Depression am Beispiel von stationär-psychiatrisch behandelten Patienten, werden alexithyme Personen nach DSM-IV häufiger als depressiv diagnostiziert als nicht-alexithyme PatientInnen (Nolte 2008). Durch die stationäre Behandlung zeigen sich sowohl die Alexithymie – als auch die Depressionswerte – gegen Ende des stationären Aufenthalts als erheblich niedriger. In dieser Studie waren die Depressionswerte von Alexithymen sogar dreimal niedriger als die der Nichtalexithymen, was dafür spreche, dass alexithyme PatientInnen gut auf eine stationäre Depressionsbehandlung ansprechen (Nolte 2008). Alexithymie und Depression beeinflussen sich gegenseitig und überschneiden sich konzeptuell16; eine Behandlung der Depression führt offenbar auch gleichzeitig zu einer Behandlungen der Alexithymie (Nolte 2008). Duddu et al. (2003) untersuchten die Häufigkeit von Alexithymie in somatoformen und depressiven Störungen. Verglichen wurden 30 nach DSM-IV als somatoform und 30 als depressiv diagnostizierte PatientInnen mit 30 gesunden Kontrollpersonen. Gemäß den Erwartungen weisen somatoforme und depressive PatientInnen höhere Alexithymiewerte auf. Die PatientInnengruppen zeigt größere Schwierigkeiten, Gefühle und Körpersensationen zu identifizieren. Die depressiven PatientInnen geben sogar signifikant mehr Schwierigkeiten an, Gefühle zu kommunizieren als die somatoformen PatientInnen. Honkalampi et al. (2001) unternahmen eine prospektive Studie über 12 Monate, in der Alexithymie (anhand TAS-20) bei 116 ambulanten DepressionspatientInnen (erfasst mit BDI) und 540 Kontrollpersonen in der Allgemeinbevölkerung untersucht wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders der Schweregrad der Depression in der Studie signifikant mit Alexithymie assoziiert ist. Je schwerer die Depression, desto höhere Alexithymiewerte fanden sich. Gleichzeitig veränderten sich die Alexithymiewerte innerhalb der 12-monatigen Untersuchungszeit analog zu den Depressionswerten. Die Autoren nehmen an,

16 Hier zeigt sich eine interessante Widersprüchlichkeit in Bezug auf Depression und Geschlecht. Zum einen berichten Forscherinnen wie McGrath (1994) und Redfield Jamison (1997) von Überlappungen der Konzepte von Weiblichkeit und Depression, während Nolte (2008) davon ausgeht, dass sich auch die nach Levant »männlich« kodierte Alexithymie mit Depression überschneidet.

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dass die Alexithymie daher weniger als Persönlichkeitseigenschaft, sondern mehr als kontextabhängiges Phänomen betrachtet werden muss. Wie in der Arbeit von Nolte scheinen Alexithymie und Depression auch hier korrelierende Konzepte zu erfassen. 2004 untersuchten Honkalampi et al. 116 depressive PatientInnen über einen zweijährigen Zeitraum auf einen Zusammenhang von Alexithymie, belastenden Kindheitserfahrungen und soziodemografischen Variablen. Auch in dieser Studie wurden die Skalen TAS-20 und BDI sowie DSM-IIV Diagnosen, zusammen mit einem Fragebogen zu soziodemographischen Angaben und »adverse childhood experiences« eingesetzt. Es ergab sich eine signifikante Korrelation zwischen Alexithymiewerten und den Variablen »harte Selbst-Disziplin« und »unglückliche Kindheit« sowie Depressionssymptomen nach 12 Monaten, sowie mit Depressionsdiagnosen nach 24 Monaten. Besonders interessant an dieser Untersuchung ist der Zusammenhang von »harter Selbstdisziplinierung«, Depression und Alexithymie. Möglicherweise steht Alexithymie mit einer »männlichen« Depressionsform in Verbindung, die durch strenge Selbstdisziplinierung und harsche Selbstkritik gekennzeichnet ist (vgl. introjektive Depression nach Blatt 2004, Kapitel B.2.3). Nimmt man zwei unterschiedliche Depressionstypen an, in diesem Fall eine mit Alexithymie korrelierende männlich kodierte Depressionsform und eine mit Expressivität korrelierende weibliche, löst dies den Widerspruch auf, dass zum einen Weiblichkeit mit Depression (McGrath et al. 1994) und zum anderen Männlichkeit und Depression (Nolte 2008) korrelieren. Tatsächlich findet sich im folgenden Diskurs über Männer und Depression eine explizit männliche Konzeptualisierung der Depression.

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3.2.3 »Real Men Real Depression« There is a terrible collusion in our society, a cultural cover-up about depression in men. Terrence Real (1997)

In den letzten Jahren lässt sich ein deutlicher Anstieg der Depression bei Männern verzeichnen. Es scheint, als stünde hier ein Wechsel der Aufmerksamkeit bevor. Eine groß angelegte Kampagne des USamerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) mit dem bedeutungsvollen Titel »Real Men Real Depression« adressierte 2005 und 2006 explizit Männer, um für einen anderen »männlichen Umgang« mit Depressionen zu werben (Rochlen et al. 2005). Die groß angelegte Kampagne erreichte bislang über 34 Millionen Zuschauer über das Fernsehen und zusätzlich acht Millionen Personen über das Internet. Die TV- und Internetwerbung sind dargestellt in Form von Augenzeugenberichten, in denen Männer unter dem Slogan: »It takes courage to ask for help. These men did:« von ihren eigenen speziell männlichen Erfahrungen mit Depressionen berichten. Abbildung 4: Ausschnitt aus der Website der RMRD Kampagne (2006)

Durch die Kampagne wird versucht, Depression von dem Image der Frauenkrankheit zu befreien und Männern zuzugestehen, depressiv und männlich zugleich sein zu können (Rochlan et al. 2005). Beabsichtigt ist vor allem, das Hilfesuchverhalten der US-amerikanischen Männer zu verändern, indem Hilfesuchen rekodiert werden soll, und

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zwar weg von »weiblicher Schwäche« hin zu »männlicher Stärke«. Dabei werden Stereotypen und Normen symbolischer Männlichkeit positiv bedient, während als weiblich kodierte Eigenschaften und abweichende Männerrollen ignoriert werden. So handelt es sich bei den Augenzeugendarstellungen um Berichte heterosexueller Feuerwehrmänner, Soldaten, Richter, Anwälte und anderer erfolgreiche Männerbiographien, die das aktive Erleiden der Depression in ihrer Darstellung erst zu »richtigen« Männern macht. Männer, die einer traditionellen Männlichkeitsnorm nicht entsprechen, migrantische Männer, homosexuelle Männer oder Männer in »geschlechtsinkongruenten« Rollen, werden in der Kampagne nicht oder kaum repräsentiert.17 Hier scheint es, als solle Depression vom Stigma der Weiblichkeit bereinigt werden. Die bislang diskutierte Verknüpfung zwischen Depression, Weiblichkeit und Schwäche soll aufgehoben werden. Es wirkt, als sei die Depression eine andere, je nachdem, ob eine Frau oder ein Mann von ihr betroffen ist. Neben einer Aufwertung des Hilfesuchverhalten des depressiven Mannes gibt es Bestrebungen, eine »andere« männliche Depression zu erfassen und zu untersuchen. Der Alexithymieforscher und ehemalige Präsident der APA Ronald Levant fordert eine gesonderte Depressionskategorie zur verbesserten Diagnose der Depression beim Mann (Levant 2006). Einen Risikofaktor für die Depression beim Mann stellt

17 Homosexuelle und sogenannte »geschlechtsrolleninkongruente« Männer weisen ein besonders hohes Depressionsrisiko auf. So zeigt eine US-amerikanische Studie von Mills et al. (2004), dass homosexuelle Männer eine um 17,2 Prozent erhöhte Depressionsprävalenz gegenüber heterosexuellen Männern haben. Carlson & Baxter (1984) berichten, dass für homosexuelle – nicht aber für heterosexuelle Männer, eine positive Korrelation zwischen niedrigen Maskulinitätswerten und Depression, sowie zwischen hohen Feminitätswerten und Depressionen bestehe. Josephson und Whiffen (2007) untersuchten 510 homosexuelle Männer anhand des PAQ Geschlechtsrollenfragebogens und analysieren das Depressionsrisiko homosexueller Männer in Zusammenhang mit geschlechtsrollenbezogenen »weiblichen« Risikofaktoren einer »ungemilderten Expressivität« (unmittigated communion = niedrige Instrumentalitätswerte / hohe Expressivitätswerte). Diese Form der Expressivität korreliert mit sexueller Belästigung und so genannt »submissivem« Verhalten. Diskriminierung und Belästigung stellen wiederum eigenständige Risikofaktoren für Depressionen dar.

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Levant zufolge die normative männliche Alexithymie dar. Alexithyme Männer würden depressiv, weil sie nicht fühlen könnten, nicht identifizieren könnten, was in ihnen vorgehe und innere Regungen externalisieren müssten. Auch in Deutschland gibt es Versuche, eine »geschlechtersensible Depressionsdiagnostik« einzuführen, die verhindern soll, dass männliche Depressive unerkannt und unterversorgt bleiben. Die Psychiaterin Anne Maria Möller-Leimkühler (2004, 2006) macht auf die Unterbehandlung und Unterdiagnostizierung depressiver Männer aufmerksam. Sie führt die geringeren Zahlen der Depression beim Mann auf ein geringeres bzw. mangelndes Hilfesuchverhalten und eine einseitige Depressionsdiagnostik zurück. Dabei blieben Männer mit unspezifischen bzw. »männerspezifischen« Depressionssymptomen unterversorgt. Aufgrund der männlichen »Rollenklischees« und als weiblich geltender depressiver Symptome neigten Männer dazu, Symptome zu dissimulieren bzw. anhand rollenkonformer externalisierender Stressverarbeitungsstrategien (z.B. mit Alkohol oder Aggression) abzuwehren. Daher werde die Depression beim Mann oftmals nicht rechtzeitig erkannt. Nach Möller-Leimkühler sprechen die breit diskutierten psychosozialen Faktoren in der Tat gegen ein geringeres Depressionsrisiko bei Männern. Bei Männern gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen Beruf, traditioneller Biographie und psychischer Gesundheit (Mirowsky & Ross 1995). Sie leiden seltener unter der für Frauen bedrückenden Doppelbelastung und verfügen nicht über die Biologie des weiblichen (Risiko-)Zyklus, der oftmals für Depressionen von Frauen herangezogen wird. Männer verfügen über eine höhere Schmerztoleranz und ein geringeres Körperbewusstsein (Teuber, Thiele und Eberhardt 2006). Sie neigen weniger zum Psychologisieren und eher zu einem externalisierten Denkstil (Shields et al. 1989) und anders als bei Frauen, hat die Ehe bei Männern scheinbar einen stabilisierenden positiven Effekt (Brown & Harris 1978, Kiecolt-Glaser & Newton 2001). Gleichzeitig liegt die Rate vollzogener Suizide beim Mann jedoch mindestens dreimal so hoch wie die der Frau. Allerdings liegt die Rate von Suizidversuchen bei Frauen deutlich höher (Statistisches Bundesamt 2000). Männer verwenden oftmals »sicherere« und gewaltvollere Selbstmordmethoden und sind daher öfter »erfolgreich« in der Umsetzung des Selbstmordes. Möglicherweise bringen Frauen, die öfter als Männer zu verschriebenen Medikamenten greifen, in Selbstmordversuchen einen Hilferuf unter, während Männer zu tödlicheren Metho-

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den wie Schusswaffen, Erhängen oder anderen gewaltvollen Methoden greifen, die auch von geschlechtlich kodierten Vorstellungen starker Männlichkeitsideale zeugen (Blatt 2004). Dagegen führt Redfield Jamison (1999) den »geringeren Erfolg« sich suizidierender Frauen nicht auf stärkeres Hilferufverhalten oder ambivalente Todeswünschen zurück, sondern darauf, dass Frauen die Letalität von verschriebener Medikation im Allgemeinen überschätzen, während sie die Tödlichkeit von Schusswaffen unterschätzten (Redfield Jamison 1999). Für Möller-Leimkühler (2000) verweisen die hohen Suizidraten bei Männern auf eine versteckte Depression beim Mann. Diese können beachtlich sein, wenn man davon ausgeht, dass zwar nicht jede Depression mit einem Suizid einhergeht, aber fast 90 Prozent der Suizide mit einer psychischen Störung (vor allem mit Depression, Substanzmissbrauch oder Schizophrenie) (Bronisch 2003). Dabei sieht Möller-Leimkühler die Hauptgründe der Unterversorgung und Diagnose der Männer in mangelnder Hilfesuche, externalisierender Stressverarbeitung und einem Gender Bias in der Diagnose der Depression. Zwar würden Studien darauf verweisen, dass sich Männer und Frauen in der Angabe depressiver Symptome der Majoren Depression nicht unterscheiden, sie vermutet jedoch, dass sich, insbesondere bei emotionalen und depressiven Symptomen, eine niedrige Inanspruchnahme und ein geringes Hilfesuchverhalten von Männern auswirkt. Die statistisch geringere Behandlungsquote von Männern ließe nicht auf eine geringere Behandlungsbedürftigkeit schließen, sondern vielmehr auf eine größere Diskrepanz zwischen Hilfebedarf und Hilfesuche. Traditionelle Männlichkeit befördere Barrieren bei der Hilfesuche, indem sie die Symptomwahrnehmung schon als ersten Schritt im Prozess der Hilfesuche negativ beeinflusse und Reaktionen auf Symptome steuere (Möller-Leimkühler 2000). MöllerLeimkühler vermutet, wie ihr amerikanischer Kollege Ronald Levant, dass Männer andere Symptome erleben, die nicht als Depression erkannt werden und die eine spezifisch männliche Depression kennzeichnen. Dazu gehören Feindseligkeit und aggressives Verhalten, erhöhter Alkoholkonsum und Agitiertheit. Als Hinweis auf die Validität ihrer Vermutung führt sie Studien an, die zeigen, dass sich die Depressionsrate in orthodox-jüdischen Gemeinden, die Alkohol und Suizid gesellschaftlich tabuisieren, bei Männern und Frauen nicht unterscheidet (Lowenthal et al. 1995) und dass sich auch die Depressionsraten bei den Amish People nicht geschlechtlich unterscheiden, wo Männer- und Frauennormen streng egalitär seien (Jakubaschk 1994).

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Möller-Leimkühler stellt ein Konzept der männlichen Depression vor, das erstmals im Rahmen eines Suizidpräventionsprogramms in Schweden entwickelt wurde und seither zunehmend an Popularität gewinnt (Rutz 1999, Rutz et al. 1995). Anhand von Autopsien wurde diagnostiziert, dass männliche Suizidopfer häufig depressiv und/oder alkoholabhängig waren, aber weniger den dortigen Ärzten als vor allem der Polizei und den Ordnungsbehörden auffielen. Neben klassischen Depressionssymptomen zeigten diese Männer vor allem Symptome von Gereiztheit, Irritabilität, Aggressivität, Ärgerattacken oder antisoziales Verhalten. Eine Berücksichtigung dieser spezifisch männlichen Faktoren in der Therapie führte zu einer Reduktion der Suizidrate bei Männern in der schwedischen Studie. Leimkühler kritisiert, dass die üblichen Beurteilungsverfahren zur Erfassung von Depression vom »Prototyp der weiblichen Depression« ausgingen und überwiegend Symptome aber auch Bewältigungsmechanismen enthielten, die von Frauen berichtet würden (z.B. Antriebslosigkeit, Grübeln, Selbstvorwürfe, depressive Verstimmung). Die untypisch–typischen männlichen Depressionssymptome wie Aggressivität, Irritabilität, Aktivismus oder exzessiver Alkoholkonsum würden nicht erfasst. Dies führe zu Fehldiagnosen in Richtung von Persönlichkeitsstörungen und Substanzmissbrauch und ließe die zugrunde liegende männliche Depression unerkannt und unbehandelt. Der Psychotherapeut Terrence Real veröffentlichte 1997 einen Bestseller zum Thema männliche Depression mit dem Titel »I don’t want to talk about it. Overcoming The Secret Legacy of Male Depression«, in dem er seine Erfahrung aus 20 Jahren Therapie mit Männern darstellt. Nach Real (1997) leiden Männer, die depressiv werden, unter zwei Stigmata, erstens dem Stigma einer psychischen Störung und zweitens dem Stigma »weiblicher Emotionalität«. Real verweist auf die Studie von Hammen und Peters (1978), die gezeigt habe, dass depressive Studentinnen von ihren Mitbewohnern mehr soziale Unterstützung erhalten als depressive männliche Studenten. Dies sei ein Beispiel für das Tabuisieren männlicher Emotionalität: Männer, die depressive Emotionalität zeigen, würden aufgrund des Stigmas femininer Emotionalität sozial isoliert und sogar offener Aggression als Reaktion ausgesetzt. Dieses Stigma und die Abweisung bei Versuchen des Hilfesuchens sei möglicherweise auch ein Grund weshalb Männer eher zur Bewältigung durch Alkohol neigten als durch Hilfesuchen (Murakumi 2002). Die Studie von Hammen & Peters (1978) sei nur

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ein Beispiel für den Einfluss kultureller Emotionsnormen, die es so schwierig mache, Depression bei Männern zu diagnostizieren und zu behandeln. Auch Real (1997) kritisiert Geschlechtervorstellungen, nach denen Männer nicht verletzbar sein sollen und keinen Schmerz zeigen dürften. Da die Depression als unmännlich gelte, erkenne die Gesellschaft diese nicht als Krankheit von Männern. Die Normierung der Depression als weiblich führe zu einem kulturellen Verstecken und Übersehen der Depression des Mannes: »Depression carries, to many a double stain – the stigma of mental illness and also the stigma of ›feminine« emotionality.« (Real 1997:22). Aufgrund der Stigmatisierung sogenannter »femininer« Emotionalität beim Mann geht Real davon aus, dass männliche Depressionen sich anders manifestieren als weibliche. Er argumentiert, dass es wenig gäbe, was zwischen den Geschlechtern unterschiedlicher sei, als die Art und Weise, wie Gefühle erlebt werden. Warum sollte ausgerechnet die Depression, als Störung des Affekts von Männern und Frauen, gleich erlebt und bewältigt werden? Real zufolge gibt es Männer, die eine typische – »overt depression« (offene, offen gezeigte Depression) aufweisen, wie sie bei Frauen zu beobachten sei. Es gäbe aber noch mehr Männer, die unter einer »hidden depression«, versteckter Depression leiden und untypische Symptome aufweisen, die selten diagnostiziert würden. Aus diesem Grund werde männliche Depression auch durch die DSMKriterien nicht erfassbar. Er beschreibt die Depression der Männer in seiner Praxis als eine »covert depression« (nicht offen gezeigte Depression). Männer mit dieser Depressionsform seien besonders aggressiv, alexithym und beziehungsunfähig. Oftmals kämen sie nicht von sich aus zur Behandlung, sondern weil ihre Partnerinnen oder Kinder unter ihnen litten und sie schickten. Diese Depressionsform zeige sich als milde aber chronische Form und beeinträchtige soziale Beziehungen der betroffenen Männer. Einer seiner männlichen depressiven Patienten beschreibt, dass die Depression ihn und seine sozialen Beziehungen nach und nach auflöse: »The depression is disappearing me.« (Real 1997:40). Ein anderer Patient, den Real als aggressiv, alkoholabhängig und als durch seine Vaterbeziehung traumatisiert beschreibt, entspricht den oben dargestellten Vorstellungen von Levant (2006) und Möller-Leimkühler (2000) besonders: »David suffers from what I call a covert depression. It is hidden from those around him, and its largely hidden from his own conscious awareness. Yet it

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nevertheless drives many of his actions. David Ingles buries himself in work; he wraps his disquiet in anger and numbs his discontent with alcohol. Everywhere in his life, the prohibition against bringing his vulnerable feelings into the open fosters behaviors that leave him and the people around him even more disconnected.« (Real 1997:41)

Real führt weiter aus, wie sich eine versteckte Depression des Mannes oftmals durch die Väter tradiere, denen die Sprache und Wahrnehmung der eigenen Gefühle fehle und die oftmals selbst unter einer unerkannten Depression litten, die aufgrund vergeschlechtlichter Emotionsnormen weder entdeckt noch behandelt werden könne und die durch diese oftmals noch verstärkt werde. Er beschreibt die Tradierung einer covert Depression bei Männern eindrücklich am Beispiel seiner eigenen Erfahrungen mit seinem Vater. »As other fathers have done to their sons, my father – through the look in his eyes, the tone of his voice, the quality of his touch – passed the depression he did not know he had on to me just as surely as his father had passed it on to him – a chain of pain, linking parent to child across generations, toxic legacy.« (Real 1997: 21)

Was Real hier so eindrücklich als toxisches Erbe beschreibt ist eine szenische Weitergabe der Depression, die sich nonverbal über Gesten, Blicke und Bewegungen tradiert und besonders dann Wirksamkeit entfaltet, wenn eine Sprache und Trauer über das Erlebte nicht zur Verfügung steht. Auch hier verstärken dichotome Emotionsnormen den Konflikt, in dem sich depressive Männer befinden, indem sie bei Männern Gefühle der Schwäche und Verletzlichkeit und das Anerkennen der männlichen Hilfebedürftigkeit tabuisieren und ihren Ausdruck sowohl von Seiten der Männer als auch von Seiten der KlinikerInnen verhindern. Real, Levant und Möller-Leimkühler argumentieren, dass gerade wegen der binären Geschlechternormen, die Emotionalität, besonders eine depressive Emotionalität, mit Feminität gleichsetzen, eine besondere Beachtung von männlichen Depression notwendig wird. Die Studien und das klinische Material, das die MännlichkeitsforscherInnen präsentieren, spricht für einen besonderen, geschlechtsspezifischen Ausdruck von Depressionen bei Männern, die sich anders, weniger passiv, äußern als die klassische, als weiblich kodierte, Depression.

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Was in der Männerforschung oftmals undiskutiert bleibt, ist die Frage, ob die sogenannte »männliche Depression«, wenn sie weder durch klassische Symptomdiagnosen nach DSM-IV zu erfassen ist noch offen als Depression erkennbar ist, überhaupt noch eine Depression ist? Ist die depressive Dynamik eines aggressiven, gestressten Mannes vergleichbar mit der antriebslosen, gehemmten Depression, die Frauen scheinbar vermehrt zeigen? Und sollten mit einer »Männerdepression« andere Therapieschwerpunkte einhergehen? Und wenn ja, welche? Im Zentrum dieser Depressionskategorie stehen zunächst nicht Gefühle der Trauer, Leere oder psychischer und psychomotorischer Gehemmtheit, sondern deren Abwehr und Externalisierung. Statt Passivität und Rückzug finden sich Aktivität, Aggression und Reizbarkeit. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob mit einer »eigenen« männlichen Depressionskategorie, die sich auf den ersten Blick nicht als eine Depression erkennen lässt, nicht auch eine Aufwertung der Depression bei Mann erfolgen soll, ähnlich der »Real Men Real Depression«-Kampagne. Schließlich bleibt auch die Frage, welche Männer unter der klassischen Major Depression leiden, wie sie in der vorliegenden Arbeit erfasst wird. Wenn Männer »eigentlich« nicht depressiv werden, wer wird dann depressiv und wie erleben depressive Männer ihre Depression? Gleichzeitig lassen sich »untypisch« depressive Männer für eine Depressionsstudie im klassischen Setting nur schwer gewinnen, da sie selten wegen emotionaler Konflikte Hilfe aufsuchen. Die Überlegungen Möller-Leimkühlers, Levants und Reals bilden schließlich auch einen Ausschnitt aus dem gesellschaftlichen Hintergrunddiskurs ab, vor dem Männer und Frauen zu Depressiven und als solche erkennbar werden. Depressionen und Depressionssymptome gehen für Männer als auch für Frauen mit spezifischen Rollenvorstellungen und Emotionsnormen einher. Diese können depressive Störungen bei Frauen und Männern unterschiedlich begünstigen, mindestens aber deren Ausdruck und Bewältigung formen und beeinflussen. Die Depression markiert und verdeutlicht sowohl bei Männern als auch bei Frauen einen (Rollen)konflikt mit der Geschlechterordnung. Depressive Frauen und Männer geraten in einen Konflikt mit verinnerlichten symbolischen Vorstellung über das, was als gesellschaftlich angemessenes weibliches und männliches Verhalten gilt. In diesem Zusammenhang steht auch die Dissertation der Psychologin Ruth Berger (2003) über Konflikterleben depressiver PatientInnen.

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Die Autorin untersucht interpersonale Konflikte bei depressiven PatientInnen anhand des Frankfurter Konfliktfragebogens (Lauterbach 1996). Dabei findet sie heraus, dass sich die Konfliktthemen von Gesunden und Depressiven wenig unterscheiden, wenn man von krankheitszentrierten Themen, wie Antidepressivaeinnahme und Konflikten bezüglich depressiver Symptomatik, absieht. Der gravierendste Unterschied zwischen den Gruppen findet sich jedoch beim Thema Geschlechtsrollen. Ohne dass die Untersucherin das Thema Geschlecht zunächst besonders in den Blick ihrer Untersuchung nimmt, erweist sich als ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Depressiven und Gesunden, dass depressive Männer und Frauen signifikant mehr Rollenkonflikte mit dem eigenen Geschlechtsrollenideal angeben. Neben den direkt depressionsbezogenen Konfliktthemen wie z.B. »Einnahme verordneter Medikamente«, »Vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten/Therapeutin« findet sich in der Untersuchung nur der Konflikt »Richtiger Mann/Richtige Frau – Sein« signifikant häufiger bei depressiven PatientInnen, als bei KontrollprobandInnen (Berger 2003). Männer und Frauen aus der depressiven Gruppe geben das Geschlechtsrollenthema als signifikant an, aber keine Person der nichtdepressiven Kontrollgruppe. Zur Überraschung der Autorin stellt sich das Geschlechtsideal in der Untersuchung als wichtigstes Konfliktfeld depressiver ProbandInnen heraus, da es die Depressiven als einziges Thema, von 46 untersuchten Konfliktbereichen, signifikant von Gesunden unterscheidet: »Es handelt sich hierbei um ein nicht nur aktuell, sondern auch längerfristig bedeutsames und höchst konflikthaftes Thema bei den Depressiven, während es bei den Kontrollprobanden keine Erwähnung findet.« (Berger 2003:7). Die Autorin merkt an, dass sich ein Rollenkonflikt zum Thema »richtiger Mann« oder »richtige Frau«-Sein auch direkt auf das Erleben der depressiven Krankheit beziehen könnte, das Konflikte mit den Idealen der Rollenvorgaben heraufbeschwöre, z.B. durch einen Verlust an Leistungsfähigkeit, Stigmatisierung aufgrund der psychischen Krankheit oder sexuellen Problemen. Sie lokalisiert die Geschlechtsrollen-Konfliktthematik, aber bereits vor Beginn der depressiven Thematik und nimmt an, dass es sich um ein chronisches und durchweg als »hoch dramatisch erlebtes Thema handelt« (Berger 2003:105). Sie macht jedoch aufgrund ihrer Stichprobe die Einschränkung, dass der geschlechtsrollenbezogene Konflikt auch ein Ausdruck eines spezifisch männlichen Konfliktes darstellen könne, denn ihre Stichprobe besteht zu zwei Dritteln aus Männern.

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Insgesamt finden sich in der Arbeit trotz der Bedeutung, die die Autorin dem statistischen Ergebnis beimisst, kaum Erklärungsansätze für den festgestellten Geschlechtsrollenkonflikt. Die interessanten Daten aus Bergers Studie passen jedoch gut zu den Hypothesen von Real (1997), Levant (2006) und Möller-Leimkühler (2000), nämlich dass Depression vor allem bei Männern einen Rollenkonflikt auslöst, der die kognitiven Ressourcen der Patienten stark belasten kann. Es ist zu vermuten, dass die vor allem männlichen PsychiatriepatientInnen, sich in einem Stadium befinden, in dem die Depressionsdiagnose bereits erfolgt ist, und in dem eine Abwehr der Depression durch Externalisierung nicht mehr möglich ist. In diesem Stadium findet sich in der Untersuchung eine verstärkte Thematisierung der durch die Depression entstandenen Rollenkonflikte. Diese Ergebnisse unterstützen die Überlegung, dass Männer einem besonders hohen Druck der Rollenkonformität ausgesetzt sind, Ansprüchen autonomer Männlichkeit zu entsprechen. Mit diesen Emotions- und Verhaltensnormen, fühlen sich depressive Patienten, da sie einer »gesunden« Norm nun nicht mehr entsprechenden, in einem Konflikt. Offenbar empfinden depressive Männer sich in einem Widerstreit mit verinnerlichten Vorstellungen und Normen von Männlichkeit. Anzumerken ist jedoch, dass nicht nur die depressiven Männer Konflikte mit einem Ideal des «richtig Mann-Seins« empfinden, sondern dass auch depressive Frauen Rollenkonflikte erleben. Ein weiblicher Rollenkonflikt aufgrund depressiven Erlebens wird in Kapitel C.2. aufgegriffen. Dass auch die »weibliche« Depression zum Widerstreit mit Vorstellungen über »Richtiges-Frau-sein« führt, wird dort aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive diskutiert.

4. D EPRESSION UND G ESCHLECHT : P SYCHOLOGISCHE K ONZEPTUALISIERUNGEN Carol Gilligan (1996) kritisiert die psychologische Forschung als eine Herangehensweise, die Autonomie und Männlichkeit einseitig als zu erfüllende Entwicklungsbedingung definiert und diese Annahme in Messinstrumente umsetzt, die Weiblichkeit als Abweichung von der männlichen Norm erfassen, so dass diese als unerwünscht herauskommen muss:

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»Der immer wieder auftauchende Befund dieser Studien ist, daß die Eigenschaften, die für das Erwachsensein als notwendig betrachtet werden – die Fähigkeit zu autonomem Denken, zu klaren Entscheidungen und verantwortlichem Handeln – mit Männlichkeit assoziiert werden und als Attribute des weiblichen Selbst nicht als wünschenswert gelten. Die Stereotypen zeugen von einer Aufspaltung von Liebe und Arbeit, wobei den Frauen expressive Fähigkeiten zugesprochen werden, während instrumentelle Fähigkeiten in der Domäne des Mannes verbleiben. Doch aus einer anderen Perspektive betrachtet spiegeln diese Stereotypen eine Konzeption des Erwachsenseins, die als solche unausgewogen ist, da sie der Abgetrenntheit des individuellen Selbst den Vorzug vor der Verbindung mit anderen gibt und ein autonomes Leben voll Arbeit höher einschätzt als die Interdependenz der Liebe und Anteilnahme.« (Gilligan 1996:28)

So wird durch Gilligan die Annahme einer wissenschaftlichen Objektivität und Geschlechtsneutralität von Theorien hinterfragt. Die vermeintliche Neutralität von Wissenschaft, wie auch die der Sprache selbst, muss durch die Erkenntnis in Frage gestellt werden, dass auch Kategorien des Wissens, wie die Kategorie Geschlecht, Konstrukte sind, die hergestellt werden und die sich verändern. Gilligan kritisiert, dass auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse impliziten Normen »zum Opfer fallen«, die Männlichkeit unreflektiert zur Norm erheben und versuchen, »Frauen aus männlichem Stoff zu schneidern« Gilligan 1996:28). Sie identifiziert eine Geschlechtskodierung, die auch für die in diesem Kapitel dargestellten Untersuchungen zu »weiblichen« Risikofaktoren der Depression ein Problem darstellt. In diesen Studien wird Weiblichkeit mit Expressivität und Communion gleichgesetzt, während Männlichkeit mit instrumentellen Eigenschaften kongruent gesetzt wird. Darüberhinaus folgen die so konstruierten Fragebögen und Eigenschaftslisten einer zugrundeliegenden hierarchischen Orientierung an Autonomienormen, wie Gilligan sie beschreibt. Was die hier dargestellten Studien zur Geschlechtsrollenorientierung von Männern und Frauen eindrucksvoll belegen, ist, wie stark sich gesellschaftliche, kulturelle Emotionsnormen in die Psyche, Körper und das Handeln von Personen einschreiben. Diese Einschreibungsprozesse oder deren Ergebnisse gehen mit einem unterschiedlichen Depressionsrisiko für Männer und Frauen einher und werden in einer unterschiedlichen Diagnosepraxis von »männlichen« und »weiblichen« Depressionen sichtbar. Die Studien, die in diesem Kapitel dargestellt und diskutiert wurden, zeigen ein für Frauen und Männer spezifisches Depressionsrisi-

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ko, das mit unterschiedlichen Risikofaktoren für die Geschlechter korreliert. Der individuellen Geschlechtsrollenorientierung einer Person an symbolischer Weiblichkeit oder Männlichkeit kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Kapitel A hat gezeigt, dass in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen eine Differenz zwischen Frauen und Männern existiert und dass mit Weiblichkeit und Männlichkeit unterschiedliche Emotionsnormen einhergehen, die sowohl die Diagnose, Erforschung und Behandlung als auch das individuelle Erleben von Depressionen beeinflussen können. Psychologische Studien, die an einem binären Geschlechtsbegriff orientiert sind, vermögen aufgrund einer dichotomen Zweiteilung zwischen Männer- und Frauenkörpern (sex) auf der einen und sozialem Geschlecht (gender) auf der anderen Seite nicht, die historische Herstellung von Geschlechtlichkeit und Differenz selbst in den Blick zu nehmen. Hierfür bietet sich eine transdisziplinäre Erweiterung der Geschlechtsrollenperspektive durch eine wissenstheoretische Meta-Perspektive der Geschlechterforschung an. Im Folgenden soll exemplarisch die Konzeptualisierung Andrea Maihofers (1995) von »Geschlecht als Existenzweise« dargestellt werden. Ihre Perspektive und Definition des Geschlechterbegriffs zeigt Probleme einer rollentheoretisch orientierten psychologischen Fragestellung auf und macht deutlich, warum die Einbeziehung einer psychoanalytische Ebene der Fragestellung, wie sie im nächsten Kapitel eingenommen wird, notwendig ist. Andrea Maihofer untersucht das Verständnis von Geschlecht, Geschlechtskörper und Geschlechterdifferenz im feministischen Diskurs der 90er Jahre, in dem eine Trennung zwischen einem biologischen Geschlecht (sex) und einem sozialen Geschlecht (gender), wie er in den hier dargestellten psychologischen Studien erfolgt, in Frage gestellt wird. Sie beschränkt sich in ihrer Analyse dabei nicht auf die Untersuchung sozialer Geschlechterrollen (gender), sondern bezieht die Frage nach der Herstellung geschlechtlicher Körper (sex) mit ein, wobei sie die Herstellung der Geschlechterdifferenz selbst als zentrales Forschungsinteresse benennt: »Ist der Geschlechtskörper (sex) keine selbstverständliche Basis des Geschlechts (gender) mehr, dann geht es nämlich nicht mehr lediglich um die Historizität der jeweiligen Geschlechtsrollen. Das Geschlecht selbst (sex/gender) wird in einem grundlegenden gesellschaftstheoretischen Sinne zu einem erklärungsbedürftigen Phänomen.« (Maihofer 1995:15)

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Maihofer (1995) entwickelt in der Auseinandersetzung mit einem dekonstruktivistischen Geschlechterbegriff eine Auffassung von Geschlecht als einer komplexen Verbindung historisch entstandener Denk-, Gefühls- und Körperpraxen, als eine historisch und kulturell determinierte Art und Weise, als »Frau« und als »Mann« zu existieren. Nach ihrer Definition von »Geschlecht als Existenzweise« vermeidet die Autorin eine einseitige Festlegung des Geschlechterbegriffs entweder auf der Seite des Geistes (gender) oder der Natur (sex) und betrachtet anstelle dessen die Kategorie Geschlecht in ihrer Gesamtheit als gesellschaftlichen, hegemonialen Konstitutionsprozess. Sie plädiert dafür, das Dilemma einer Spaltung des Geschlechterbegriffes in Körper und Geist »auszuhalten«, die dazu führe, dass Geschlecht letztlich immer innerhalb der Dichotomien Geist/Körper oder Kultur/Natur bestimmt werde. Theorien neigten dazu sich mehr der einen oder anderen Seite zuzuwenden. Dieses Problem beschreibt sie als ein strukturell mit dem binären westlichen Denken verbunden, welches nicht umgangen werden könne. Denn aufgrund des dichotomen Denkens in Oppositionen könne auch der Begriff Geschlecht nur innerhalb einer binären Logik betrachtet werden. Maihofer grenzt sich von Theorien ab, in denen Geschlecht zwar in sex und gender getrennt wird, in denen aber dennoch eine biologische Basis des Geschlechtes stets unhinterfragt vorausgesetzt werde. Der rollentheoretische gesundheitspsychologische Geschlechtsbegriff läßst sich Maihofer folgend nach seiner Wirkmächtigkeit und Wissensproduktion befragen: »So reproduziert, wie gezeigt, die herkömmliche Sex-gender-Trennung gerade in ihrem ausdrücklichen Insistieren auf einer Trennung zwischen dem natürlichen biologischen Geschlechtskörper und den gesellschaftlichen Geschlechtsrollen und -identitäten die Opposition zwischen Natur/Körper/Materie einerseits und Kultur/Geist/Bewußtsein andererseits. Des weiteren wird trotz der behaupteten Trennung ein monokausaler Zusammenhang behauptet, demzufolge das soziale Geschlecht letztlich doch – wie auch immer ›verdünnt« – im biologischen Geschlecht begründet ist, beispielsweise was die angeblich natürliche Zweigeschlechtlichkeit oder die Selbstverständlichkeit menschlicher Heterosexualität anbetrifft.« (Maihofer 1995:75)

Die hegemionale Ordnung des heutigen Geschlechterdiskurses sieht Maihofer in der bürgerlichen Geschlechterkonstitution des 18. Jahr-

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hunderts begründet, in der sich die Norm der bürgerlichen Familie herausbilde. Für diese Arbeit ist besonders ihre Beobachtung relevant, dass ein Diskurs dann als hegemonial zu betrachten ist, »[...] wenn in ihm das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen normiert, zensiert und diszipliniert wird« (Maihofer 1995:82).18 Die Frage dieser Arbeit ist, wie Depressions- und Geschlechtsdiskurs ineinandergreifen und ein spezifisch »weibliches« Risiko für depressives Denken, Fühlen und Handeln hervorbringen? Diese Frage, der im Kapitel A unter psychologisch-rollentheoretischer Perspektive nachgegangen wurde, wird im folgenden Kapitel anhand einer psychoanalytischen Perspektive weiterverfolgt. Die unterschiedlichen Risikofaktoren, die in diesem Kapitel in Zusammenhang mit geschlechtlich kodierten Emotionsnormen identifiziert wurden, stellen einen Zusammenhang her zwischen der symbolischen Geschlechterordnung und einem höheren Risiko für Depressionen bei Frauen sowie einer Unterdiagnose von Depressionen bei Männern. Die Frage nach der Herstellung von Geschlechtlichkeit selbst oder nach den Einschreibungsprozessen der geschlechtlichen Emotionsnormen in die als Männer und Frauen sozialisierten Personen stellen diese Studien kaum. Wie und in welchem Kontext eine »körperliche und seelische Realität und Materialität« von Geschlechtlichkeit hergestellt wird (Maihofer 1995:83) und wie diese Konstruktion von Geschlechtsidentität mit der Entstehung von Depressionen interagiert, lässt sich durch eine rein psychologische Perspektive, die Geschlechtsdifferenz zwar äußerlich abbildet, ihre Verinnerlichung oder psychische Herstellung aber nicht hinterfragt, nicht beantworten. Die Herstellung der Geschlechter ist kein rein sozialer Prozess sondern ein gesellschaftlicher, der nicht nur soziale Beziehungen und Verhältnisse einschließt, sondern auch ökonomische, technologische und institutionelle Macht und Herrschaftsverhältnisse enthält (Maihofer 1995). Dabei sind Männer und Frauen aber nicht nur als »Effekt«

18 Maihofer beschreibt die geschlechtlichen Zu- und Einschreibungen im »hegemonialen Geschlechtsdiskurs« als binär organisiert: »Diese Zuschreibungen definieren »männliche« und »weibliche« Eigenschaften oder Fähigkeiten. Männer sind danach: (u.a.) aktiv, autonom und rational, nehmen den Status des Subjekts ein und repräsentieren Kultur; Frauen hingegen sind passiv, beziehungsorientiert und irrational, nehmen des Status des Objekts ein und repräsentieren die Natur.« (Maihofer 1995:100).

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von Darstellungen und Wahrnehmungen zu verstehen, sie werden nicht als etwas »Äußerliches« konstruiert. Mit Maihofers Begriff der »Existenzweise« lässt sich explizit die historisch entstandene »körperliche und seelische Realität und Materialität« von Geschlechtlichkeit in den Blick nehmen (Maihofer 1995:83). Dass sie Materialität als gesellschaftlich hervorgebracht betrachtet, bedeutet jedoch nicht, dass Geschlechtskörper nicht auch etwas natürliches Gegebenes sind: Maihofer hinterfragt jedoch, dass man wissen könne, wie Geschlechtskörper als etwas natürliches beschaffen sind und welche Bedeutung sie haben, denn die Wahrnehmung des Körpers und des Geschlechtes finde stets innerhalb einer symbolischen Ordnung statt, die wiederum historisch entstanden und gesellschaftlich bestimmt sei. Wie aber entstehen in dieser (hegemonialen) Ordnung Geschlechtskörper, die spezifisch denken, Fühlen und Handeln, die ihren Körper spezifisch erleben und in ihm existieren? Welche Fantasien und unbewussten Konflikte entstehen in Zusammenhang mit der Herstellung von Geschlechtsidentität? Wie und warum hängt die geschlechtliche »Existenzweise« mit der Entstehung depressiver Strukturen bei Frauen scheinbar stärker zusammen als bei Männern? Antworten auf diese Fragen werden in Kapitel B. Gleichheit und Differenz – Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht untersucht. Dabei soll den Fragen nachgegangen werden, warum Frauen sich als expressiver erleben als Männer, warum Merkmale von Weiblichkeit und Depression zu überlappen scheinen und was Frauen stärker als Männer für eine interpersonale Ausrichtung prädestiniert, die wiederum mit einem erhöhten Depressionsrisiko einherzugehen scheint. Wie entwickelt sich eine Identität als weiblich oder männlich innerhalb der Familie und mit welchen Risiken für Depressionen kann die Geschlechtsidentitätsaneignung einhergehen? Wie werden kulturelle Emotionsnormen verinnerlicht? Auf wissenschaftstheoretischer Ebene wird betrachtet, wie Depression und Geschlecht psychoanalytisch konzeptualisiert werden und welche geschlechtlichen Normierungen sich in einen psychoanalytischen Depressions- und Weiblichkeitsdiskurs einschreiben. Die Frage einer unterschiedlichen, geschlechtsspezifischen »Frauen«- und »Männer«-depression wird hier erneut aufgegriffen.

B Gleichheit & Differenz Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht

1. E INFÜHRUNG

IN

K APITEL B

In Abgrenzung zur empirisch orientierten Psychologie ist die Psychoanalyse weniger mit äußeren (Risiko-)Faktoren oder bewussten Selbstzuschreibungen von ProbandInnen befasst, wie sie in der Entstehung von Depressionen bei Männern und Frauen wirksam sein können. Zentraler Inhalt psychoanalytischer Konzeptionen von Depression und Geschlecht sind vor allem unbewusste Prozesse und Phantasien, psychische (Trieb-)Konflikte und die Entwicklung zentraler Objektbeziehungen (Müller-Pozzi 1991). Psychoanalytisches Denken fokussiert auf das Unbewusste und auf unbewusste Konflikte. Geschlecht und Sexualität stellen für die psychoanalytische Theorie ebenso zentrale Themen dar, wie die Untersuchung und Behandlung psychischen Leidens, wobei Depressionen die größte Gruppe der behandlungsbedürftigen »Störungsbilder« in der psychoanalytischen Therapie ausmacht (Leuzinger-Bohleber et al. 2002, Will 2000). Nach Müller-Pozzi (1991) stellt die Psychoanalyse eine einzigartige Möglichkeit dar, die psychische, zunächst unbewusste Wirklichkeit des Menschen und seine Gewordenheit zu verstehen. So vermittelt sie auch ein Verständnis der »Existenzweise« – also im Sinne Maihofers (1995) der habitualisierten Praxen des Denkens, Handelns und Fühlens sowie des »ImKörper-Seins« einer Person. Die Psychoanalyse bewegt sich dabei anders als die Psychologie nicht allein auf der Ebene des Verhaltens, sondern vor allem auf der ihr spezifischen Dimension der Erforschung des Unbewussten. Leuzinger-Bohleber (2002) definiert vier charakte-

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ristische Merkmale der Psychoanalyse als Wissenschaft. So unterscheidet sich die Psychoanalyse z.B. von Psychologie und Kulturwissenschaft durch ihren spezifischen Gegenstand: »[...] die Spezifizität ihrer professionellen Erfahrungen (innerhalb des charakteristischen psychoanalytischen Settings), ihres Forschungsgegenstandes (unbewusster Fantasien und Konflikte), ihrer Forschungsmethoden (Analyse von Übertragung und Gegenübertragung, freie Assoziation, frei schwebende Aufmerksamkeit, Traumanalyse) und ihrer charakteristischen Prüfkriterien psychoanalytischer Hypothesen (in der klinischen oder extraklinischen Forschung).« (Leuzinger-Bohleber 2002:32)

Die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1904/1905), in denen Freud zuerst sein Modell der psychosexuellen Entwicklung des Kindes und ein frühes psychodynamisches Konzept der Geschlechtsdifferenz beschreibt, sind bis heute einer der grundlegendsten, aber auch umstrittensten Texte in der Psychoanalyse. Insbesondere Freuds Weiblichkeitstheorie, die er 1923 in »Die infantile Genitalorganisation« (GW XIII), 1924 in »Der Untergang des Ödipuskomplexes« (GW XIII), 1925 in »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« (GW XIV) und 1931 in »Über die weibliche Sexualität« (GW XIV) weiterentwickelt und kontinuierlich überarbeitet, wird sowohl innerhalb der Psychoanalyse als auch in der Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung kontrovers diskutiert. Der Geschlechterbegriff Freuds und psychoanalytische Weiterentwicklungen seiner Weiblichkeitstheorie stellen für dieses Buch jedoch einen zentralen Bezugspunkt dar. Eine feministische Kritik an der Psychoanalyse von Seiten der Geschlechterforschung bezieht sich oftmals weniger auf diese strukturelle Ebene der psychoanalytischen Methode, die in ihrem spezifischen Forschungsprozess »das ›Allgemeine« im ›Besonderen« sucht« (Leuzinger-Bohleber 2002:32), sondern vor allem auf Freuds Weiblichkeitsentwurf (Rendtorff 2008). Dabei wird Freud unter anderem zum Vorwurf gemacht, dass er dem männlichen Geschlecht eine Vorrangstellung einräume, und dass er das weibliche als abgeleitetes, abweichendes, defizitäres Geschlecht konzipiere, wobei besonders häufig das Konzept des Penisneids kritisiert wird (Rendtorff 2008, Gilligan 1996). Darüber hinaus wird die Bedeutung der Mutter und der Mutterschaft für die kindliche Entwicklung als einseitige Verantwortungszu-

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weisung und als »motherblaming« kritisiert, während die Einbeziehung des Vaters in die kindliche Entwicklung oftmals zu spät oder gar nicht erfolge. Dabei stellt die Geschlechterforscherin Barbara Rendtorff (2008) jedoch auch fest, dass feministische LeserInnen Freuds oftmals übersehen, dass das psychoanalytische Theoriemodell weniger starr und festgelegt ist, als es eine kursorische Freud und Sekundärtextlektüre erscheinen lassen mag. Freuds Werk sei vieldeutiger und widersprüchlicher als es auf den ersten Blick erscheine und zudem habe Freud selbst immer wieder innerhalb seines Werkes, insbesondere bezogen auf sein Weiblichkeitskonzept, auf den Konstruktionsprozess und die Beschränkungen seines Wissenstands verwiesen (Rendtorff 2008). Im Folgenden werden entlang einer für die Psychoanalyse spezifischen Fragestellung unbewusste Konflikte, Phantasien und Objektbeziehungen identifiziert, die sowohl in der Entstehung von Depressionen bedeutsam sein können als auch mit der Entwicklung der Geschlechtsidentität zusammenhängen. Darüber hinaus wird anhand der Frage nach unbewussten Phantasien und Konflikten innerhalb der psychoanalytischen Geschlechtertheorie auf wissenschaftstheoretischer Ebene auch nach impliziten und expliziten geschlechtlichen Einschreibungen, also nach einem geschlechtlichen Subtext der psychoanalytischen Depressions- und Weiblichkeitstheorien gefragt. Im Kapitel B.2. Psychoanalytische Modelle der Depression wird zunächst auf unterschiedliche psychodynamische Depressionsrisiken von Männern und Frauen eingegangen. Bereits 1917 beschreibt Sigmund Freud in »Trauer und Melancholie« ein Modell der Depression, an dem sich psychoanalytische Theorien zu Depression trotz inhaltlicher Weiterentwicklungen bis heute im Kern orientieren. In diesem Kapitel werden psychoanalytische Depressionskonzepte und -theorien in Zusammenhang mit Geschlecht dargestellt und diskutiert. Dabei wird eine Ausdifferenzierung der Depressionskonzepte erfolgen, wie sie gegen Ende des vorangegangenen Kapitels in der Postulierung einer geschlechtsspezifischen »Frauen und Männer«-Depression bereits angelegt ist. Geschlechtliche Einschreibungen in psychoanalytische Depressionskonzepte sollen dabei ebenso thematisiert werden wie psychodynamische geschlechtsspezifische Risikofaktoren für Depression. Im Anschluss an die Darstellung psychoanalytischer Konzeptualisierungen von Depression erfolgt in KapiteL B.3. Psychoanalytische

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Modelle der Geschlechtsidentität eine Einführung in die psychoanalytische Theorie der Geschlechtsidentitätsentwicklung und in Freuds Weiblichkeitstheorie, die in Hinblick auf feministische Revisionen der Freudschen Theorie und auf Zusammenhänge mit unterschiedlichen Depressionsrisiken von Jungen und Mädchen diskutiert wird. Nicht nur finden sich in psychoanalytischen Theorien geschlechtsspezifische Bezüge zur Entwicklung von Depressionen sondern die Aneignung der Geschlechtsdifferenz selbst stellt z.B. in der Theorie Judith Butlers (1991) oder Luce Irigarays (1980) einen unbetrauerbaren Verlust dar, der im Modus der Melancholie verarbeitet werden muss. Darüber hinaus lassen sich insbesondere an Freuds Weiblichkeitstheorie und ihren kritischen Revisionen geschlechtliche Kodierungen psychoanalytischen Wissens nachvollziehen, die auch für das Verständnis einer geschlechtersensiblen Depressionstheorie bedeutsam sind. Das Kapitel zu psychoanalytischen Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht schließt mit einer Überlegung zur Verbindung von unbetrauerbaren Verlusten, Geschlecht und Depression.

2. P SYCHOANALYTISCHE M ODELLE DER D EPRESSION Das folgende Kapitel zu psychoanalytischen Modellen der Depression beginnt mit Freuds zentralem Text »Trauer und Melancholie«. Im Anschluss daran werden wichtige psychoanalytische Weiterentwicklungen vorgestellt, die Bezüge zum Verhältnis von Depression und Geschlecht aufweisen. Dabei werden Konzeptualisierungen von zwei binären, geschlechtlich kodierten Depressionstypen, z.B. durch Sidney J. Blatt (1974, 2004) oder frühere Modelle von Silvano Arieti und Jules Bemporad (1978), ausführlich auf ihren Bezug zur Geschlechterdifferenz der Depression diskutiert. Anhand dieser inhaltlichen Ausdifferenzierungen von Depressionen, die weitgehend explizit aber auch latent einen Bezug zu vergeschlechtlichem Wissen aufweisen, werden in der psychoanalytischen Theorie vorgenommene, unterschiedliche strukturelle Einordnungen sowie Überlegungen zu Genese und Behandlung von depressiven Störungen illustriert. Abschließend wird zusammenfassend ein integratives Depressionsmodell von Hugo Bleichmar (2003) vorgestellt, in dem wichtige historische und aktuelle psychodynamische Depressionskonzepte miteinander in Beziehung gesetzt werden.

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2.1 Trauer und Melancholie Sigmund Freud vergleicht die Melancholie in seinem berühmten Text »Trauer und Melancholie« aus dem Jahr 1917 mit dem Trauerprozess. Auf noch heute aktuelle Weise beschreibt er den Zustand der Melancholie wie folgt: »Die Melancholie ist seelisch gekennzeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust von Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.« (Freud 1917 GW X:429)

In Freuds genauer Beobachtung und Beschreibung der Melancholie sind die zentralen Symptome der zeitgenössischen klinischen Depressionsdiagnose bereits enthalten. Freud beschreibt den Verlust von Freude und Interesse, das Gefühl der Trauer oder Leere, die Leistungshemmung und das verlorene Selbstwertgefühl, die noch heute die wichtigsten klinischen Symptome der Depression darstellen. Auch die Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit vieler Depressiver finden hier bereits Erwähnung. Besonders bedeutsam ist jedoch, dass Freud als erster die Melancholie mit einem (realen oder subjektiv erlebten) Verlust in Verbindung bringt. Dieser Verlust bezieht sich, ganz gleich ob real oder imaginiert, immer auf ein (verlorenes) Objekt, auf eine verlorene Beziehung. Der Verweis auf den Aspekt des Verlustes ist bis heute in vielen psychoanalytischen Theorien der Depression zentral (Blatt 2006, Bleichmar 2003). Freud entwickelt sein Konzept der Melancholie in Bezug auf und in Abgrenzung zur Trauer, wobei die Melancholie für ihn eine pathologische Form der Trauer darstellt. Aufgrund des ähnlichen Gesamtbildes und der gemeinsamen Anlässe von Melancholie und Trauer betrachtet Freud beide Prozesse in Beziehung zueinander. Mit Ausnahme der Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, das in der Melancholie vorherrschend ist, weist die Trauer dieselben Züge, dasselbe Bild auf wie die Melancholie. Die schwere Trauer ist eine Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer »an ihre Stelle gerückte Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« (Freud GW X 1917: 429). Der Rückzug von der Außenwelt und die Hemmung des Interes-

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ses oder der Verlust der Fähigkeit, sich ein anderes Liebesobjekt zu wählen, sind nach Freud in der schweren Trauer ebenso vorhanden wie in der Melancholie. Die Symptome der Trauer erscheinen anders als die der Melancholie jedoch nicht als pathologisch: »Wir fassen es leicht, daß diese Hemmung und Einschränkung des Ichs der Ausdruck der ausschließlichen Hingabe an die Trauer ist, wobei für andere Absichten und Interessen nichts übrig bleibt. Eigentlich erscheint uns dieses Verhalten nur darum nicht pathologisch, weil wir es so gut erklären können.« (Freud GW X 1917:429)

Bei Personen mit einer »krankhaften Disposition« zur Melancholie tritt an die Stelle einer gelungenen Trauerarbeit jedoch ein »schädlicher« melancholischer Prozess, der dazu führe, dass der Trauerprozess nicht vollzogen und der Verlust nicht nach einiger Zeit überwunden werden kann (Freud GW X 1917:429). Die Melancholie wird als ein unabgeschlossener Trauerprozess verstanden.1 Der Trauerprozess hingegen besteht darin, dass durch eine oftmals langwierige Trauerarbeit die Realität des Objektverlusts anerkannt und verarbeitet wird. »Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen.« (Freud GW X 1917:430). Auch wenn die Anerkennung der Realität und der darauffolgende Abzug der Libido vom Objekt sich schmerzlich gestaltet und »ein begreifliches Sträuben« (Freud GW X 1917:430) enthält, so bezeichnet Freud es doch als normal, wenn sich die Realität schließlich durchsetzt. Die Trauerarbeit ist eine Anerkennung der Realität, in der das geliebte Objekt nicht mehr zur Verfügung steht; die Libido überlässt der Realität den Sieg und wird – in langsamen Schritten – vom Objekt abgezogen. Im gelungen Fall befreit sich das Ich durch einen schmerzlichen und aufwendigen Prozess der Trauerarbeit, in dem die Erfahrung der Endlichkeit und des Verlustes Anerkennung finden und in dem das verlorene Objekt endgültig zu Grabe getragen wird. Während eine vollzogene Trauerarbeit so zur Anerkennung der Realität und zu einem voll-

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Fast 100 Jahre nach Freud verweist das DSM-IV darauf, eine akute depressive Episode diagnostisch immer von einer akuten Trauerreaktion abzugrenzen. Sind depressive Symptome in Folge eines Verlustes aufgetreten, ist zunächst von einer Depressionsdiagnose abzusehen.

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ständigen Abzug der libidinösen Besetzung des verlorenen Objekts führt, wird die Libido im Fall der Melancholie in das Ich zurückgezogen und dient dazu, im Ich eine Identifizierung mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Im Unterschied zur Trauer, in der Verluste bewusst bewältigt werden können, bleibt der Verlust in der Melancholie unbewusst. Wie Trauernde sind auch Melancholiker beherrscht von einer Hemmung und Interesselosigkeit, die aber nur in der Melancholie mit einer Herabsetzung des Selbstwertgefühls einhergeht und die Freud als eine »Verarmung des Ichs« beschreibt. Anders als in der Trauer kann die Libido hier nicht vom Objekt abgezogen und der Verlust nicht bewusst betrauert werden. Anstelle der Trauer und der Entziehung der narzisstischen Objektbesetzung entsteht ein Rückzug der Libido in das Ich, wo die Libido nicht eine beliebige neue Verwendung findet, sondern dazu dient »eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen.« (Freud GW X 1917:435). Nicht immer kann der Verlust der einer melancholischen Verarbeitung zugrunde liegt, genau benannt werden und eben diese Unfähigkeit den Verlust bewusst zu repräsentieren, markiert den zentralen Unterschied zur Trauer. Der Melancholiker könne zwar benennen, wen er verloren habe, aber was er verloren hat bzw. was der Verlust repräsentiere, bleibe jedoch unbewusst: »In noch anderen Fällen glaubt man an der Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen, aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht bewusst erfassen kann, was er verloren hat. Ja dieser Fall könnte auch vorliegen, wenn der die Melancholie veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, in dem er zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat. So würde uns nahe gelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verlust unbewußt ist.« (Freud GW X 1917:431)

Diese Ausführungen zeigen auch: der melancholische Verlust betrifft, selbst im Falle eines realen Objektverlustes oder einer realen Trennung vom Objekt, nicht das tatsächliche Objekt, sondern vor allem die Vorstellung, die sich der Melancholiker vom Objekt macht bzw. die Bedeutung, die es für ihn erfüllt. Nicht jeder erlebte oder wahrgenommene Verlust wird zu einem melancholischen, sondern nur jener, der nicht bewusst betrauert werden kann. Voraussetzung für eine solche

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Form des melancholischen Objektverlustes ist, dass eine Bindung an eine Person besteht, in der durch eine erlebte Kränkung oder Enttäuschung von Seiten der geliebten Person eine Erschütterung der Objektbeziehung entstanden ist. Die Ursache für den melancholischen Verinnerlichungsprozess besteht in der ambivalenten Objektwahl, also in einer ambivalenten Bindung an ein Objekt, das als eine reale Kränkung oder Enttäuschung erlebt wurde. Beruht die Objektbesetzung auf einer solchen ambivalenten Beziehung, tritt an die Stelle des Libidoabzugs bzw. an die Stelle der Objektbeziehung eine narzisstische Identifizierung – mit der Folge, dass die ambivalent geliebte Person nicht aufgegeben werden muss. Der Verlust des Anderen wird zu einem narzisstischen Verlust des Ichs: »Der Schatten des Objektes fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hat sich ein Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich.« (Freud GW X 1917:435)

Durch die melancholische Identifizierung wird die Ich-Struktur verändert und angegriffen. Sie wird vom verlorenen Objekt überschattet, das nun ambivalente Gefühle nicht mehr gegen das Objekt, sondern im Ich hervorbringt. Die narzisstische Identifizierung mit dem Objekt übt einen zerstörerischen Einfluss auf das Ich aus: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« (Freud GW X 1917:431). Mit der melancholischen Internalisierung des Objektes werden auch die ambivalenten Gefühle introjiziert: der Konflikt befindet sich jetzt nicht mehr zwischen dem Ich und dem Objekt, sondern ist unbewusster Teil des Ichs geworden. Das Gefühl der Verlassenheit und die Wut auf das verlassende Objekt können nicht bewusst gemacht werden. Sie richten sich gegen das Ich, welches mit dem Objekt identifiziert ist. So beschreibt Freud, dass in der Selbstanklage des Melancholikers bei genauer Betrachtung noch die Anklage an das verlorene Objekt erkennbar ist. »Hört man die mannigfaltigen Selbstanklagen des Melancholikers geduldig an, so kann man sich endlich des Eindrucks nicht erwehren, daß die stärksten unter

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ihnen zur eigenen Person oft sehr wenig passen, aber mit geringfügiger Modifikation einer anderen Person anzupassen sind, die der Kranke liebt, geliebt hat oder lieben sollte.« (Freud GW X 1917:434)

Aus den Klagen des Melancholikers werden Anklagen an das verlorene Objekt. So erklärt sich auch die von Freud beobachtete fehlende Scham über die Offenlegung der eigenen Verfehlungen in den Selbstanklagen des Melancholikers. Der Unterschied zwischen dem Melancholiker und dem Gesunden liege nämlich auch darin, dass sich der Melancholiker nicht schäme, von den eigenen Schwächen zu berichten: »Man könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der eigenen Bloßstellung eine Befriedigung findet.« (Freud GW X 1917:433). Freud erkennt in den Selbstanklagen Vorwürfe an das Liebesobjekt, die von dem Objekt weg in das eigene Ich hinein genommen sind. Wut und Ambivalenz, die auf das Objekt bezogen waren, werden mit dem Objekt in das Ich introjiziert und wenden sich dort gegen das Ich.2 Wut und Aggression werden nicht gegen das verlorene Objekt gerichtet, sondern wüten gegen das eigene Ich. Im Unbewussten des Melancholikers entsteht ein Ambivalenzkonflikt, in dem »[...] Haß und Liebe miteinander ringen, die eine um die Libido vom Objekt zu lösen, die andere um diese Libidoposition gegen den Ansturm zu behaupten.« (Freud GW X 1917:444).

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Die Depression entsteht in einer Beziehung. In einem Workshop am Sigmund-Freud-Institut (SFI) zur Methode der psychoanalytischen Depressionstherapie im November (2006) führt der Depressionsforscher und Psychoanalytiker David Taylor von der Tavistock Clinic London aus, dass die Depression sich von vielen Persönlichkeitsstörungen wesentlich darin unterscheide, dass in ihr immer der Versuch läge, ein Objekt zu schützen. Depressive leben im Schatten ihrer frühen Beziehungen zu wichtigen Objekten. Diese Beziehungen sind hoch ambivalent besetzt und oftmals schwer auszuhalten, vor allem aber sind sie gekennzeichnet durch die ständige Präsenz des Anderen und der inneren Bezogenheit auf den Anderen. Anders als in den Persönlichkeitsstörungen, auf die Taylor (2006) sich in seinem Kommentar bezieht, existiert hier ein Objekt, das zunächst losgelöst vom Ich differenziert wahrgenommen wird und dann zum (Selbst-) Schutz ins Ich hineingenommen wird. Die Depression ist ein unbewusster Schutz der Beziehung durch Introjektion des Verlorenen.

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Freud (1923) hat den Prozess der melancholischen Identifizierung in seinen späteren Arbeiten nicht mehr als einen notwendig pathologischen Prozess betrachtet, sondern als grundlegenden und universellen Prozess der menschlichen Entwicklung. In »Das Ich und das Es« (GW XIII 1923) greift Freud den Prozess der melancholischen Verinnerlichung in überarbeiteter Form wieder auf. Er beschreibt ihn nun als einen typischen psychischen Vorgang, der maßgeblichen Anteil an der Ich-Bildung trägt: »Es war uns gelungen, das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich wieder aufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine Identifikation abgelöst wird. Damals erkannten wir aber noch nicht die ganze Bedeutung dieses Vorganges und wussten nicht wie häufig und typisch er ist. Wir haben seither verstanden, daß solche Ersetzung einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat und wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen was man seinen C h a r a k t e r heißt.« (Freud GW XIII 1923:256f)

Der Ichcharakter wird über die Einverleibung wichtiger Objekte gebildet, deren libidinöse Besetzungen durchaus trotz und neben der Einverleibung erhalten bleiben können. Besonders in der oralen Phase ließen sich Objektbesetzungen und Identifizierungen nicht voneinander trennen. Freud vermutet hier, dass auch später in der Entwicklung die Regression auf diesen oralen Mechanismus der Introjektion es überhaupt erst möglich macht, dass ein Objekt aufgegeben werden kann: »Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt erst die Bedingung, unter der das Es seine Objekte aufgibt.« (Freud GW XIII 1923:257) Bereits in »Trauer und Melancholie« weist Freud darauf hin, dass Identifizierungen eine Vorstufe der Objektwahl bzw. Objektbesetzung darstellen, in denen das Ich ein Objekt durch Verzehr und Einverleibung auswählt. Der Ersatz des Liebesobjekts durch narzisstische Identifizierung mit dem Objekt ist für Freud ein bedeutsamer Mechanismus, der im Sinne eines »ursprünglichen Narzissmus« der Objektwahl vorangeht: »Es möchte sich dieses Objekt einverleiben, und zwar der oralen oder kannibalischen Phase der Libidoentwicklung entsprechend auf dem Wege des Fressens.« (Freud GW X 1917:436). 1923 beschreibt er die melancholische Identifizierung als einen nichtpathologischen Prozess der »Charakterbildung«, wobei sich das Ich aus den Spuren erlebter Verluste zusammensetzt bzw. sich überhaupt

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erst aus dem »Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen« formt (Freud GW XIII 1923:257).3 Wie aber lässt sich ein pathologischer Prozess der melancholischen Identifizierung von dem häufigen Prozess der nicht-pathologischen Charakterbildung abgrenzen? Freud (1917) weist insbesondere auf die Bedeutung der Ambivalenz und der narzisstischen Objektbeziehung hin, um eine pathologische Form der melancholischen Identifizierung von einer gelungen Trauerarbeit abzugrenzen. Dabei verwendet er Begriffe wie Introjektion und Identifizierung in diesem frühen Text zur Melancholie synonym. Auch wenn bereits in »Trauer und Melancholie« für die Depression unterschiedliche Differenzierungslinien zwischen einem früheren oral-intojizierten, narzisstisch verarbeiteten Verlust und einer später in der Entwicklung stattfindenden Schulddepression, die mit Über-Ich Strukturen und einem Verlust and Selbstwert einhergeht, bereits angelegt sind, unterscheidet er diese Formen der Verinnerlichung hier noch nicht konsequent (vgl. Blatt 2004). Anhand eines späteren Modells des Psychoanalytikers Stavros Mentzos (1982) lassen sich Identifikationsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen der Subjektkonstitution voneinander unterscheiden. In seinem Modell der »Internalisierungsprozesse« beschreibt er, dass Verinnerlichungen eines Objektes auf verschiedenen strukturellen Ebenen stattfinden können, wobei sie psychodynamisch charakteristische Merkmale aufweisen. Eine solche Ausdifferenzierung ermöglicht nicht zuletzt auch eine genauere Betrachtung psychodynamischer Annahmen über den Zusammenhang von Depression und Geschlecht. In »Trauer und Melancholie« entwickelt Freud ein erstes Modell der Verinnerlichung von Objektbeziehungen. Mentzos (1982) hat das Konzept der Internalisierung wieder aufgegriffen und verschiedene Prozesse der Objektinternalisierung systematisch voneinander differenziert. Nach seiner Unterteilung lassen sich drei Ebenen der Internalisierung unterscheiden: Inkorporation, Introjektion und Identifikation. Die Internalisierung ist der Oberbegriff für drei auf unterschiedlichen Strukturebenen ablaufende Prozesse der Verinnerlichung. Dieses Modell ist besonders deshalb interessant, weil es eine methodisch klare

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Ein solcher melancholischer Prozess der Ichbildung wird von Judith Butler (1991) aufgegriffen und in eine Theorie der Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit überführt.

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Binnendifferenzierung dieser mehrdimensionalen Struktur von Internalisierung erlaubt und in Verbindung gebracht werden kann mit unterschiedlich frühen Formen einer depressiven Entwicklung. Internalisierungsprozesse vollziehen sich Mentzos (1982) zufolge auf unterschiedlichen Reifungs- bzw. Strukturniveaus. In der Kindheit entwickeln sie sich parallel zu einer sich erst entwickelnden Fähigkeit zur Subjekt-Objekt-Differenzierung, die sich auf die Möglichkeiten der Verarbeitung von Internalisierungen auswirkt. Mentzos nimmt an, dass im späteren Leben Objekte durch Regression auf unterschiedlich frühe Internalisierungsprozesse internalisiert werden. Inkorporationen finden sehr früh in der kindlichen Entwicklung statt. Sie sind triebnahe frühe archaische – orale Internalisierungsprozesse bzw. sehr frühe Einverleibungen in das Ich. Sie finden statt, bevor eine Selbst-Objekt Differenzierung ausgebildet ist und das Kind zwischen sich und der Umwelt sicher unterscheiden kann. In einer Regression zu dieser Internalisierungsform wird die Subjekt-Objekt-Differenzierung wieder aufgehoben. Es handelt sich bei der Inkorporation um einen frühen körpernahen, leiblichen Vorgang, um eine Verkörperung, die sich in pathologischen Prozessen beispielsweise in starken psychosomatischen oder psychotischen Symptomen ausdrückt (Mentzos 1982). Introjektionen finden in einem Reifungsstadium statt, bei dem zwischen Selbst und Objekt bereits unterschieden werden kann, ohne dass bereits eine vollständige Ablösung erfolgt ist. Objektbeziehungen werden als ambivalent und als konflikthaft erlebt. Eine Realität des Objekts außerhalb des Selbst wird zwar anerkannt, die Anerkennung selbst ist aber mit starker Angst und Verlassenheitsgefühlen behaftet sowie mit Aggressionen gegen das Objekt verbunden, das in der Trennung nicht zur Verfügung steht (Mentzos 1982). Eine melancholische Introjektion des Objekts kann auf dieser Ebene stattfinden. Introjiziert wird dabei nicht nur das Objekt, sondern auch die Wut und der Hass, der sich auf das verlorene Objekt – und in der Folge – gegen das Ich richtet. Internalisierte Wut und Ambivalenz erklären auch die depressive Hemmung und den Interesseverlust an der Umwelt (Mentzos 1982).4 Identi-

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Freud (1917) beschreibt die melancholische Identifizierung jedoch auch als Einverleibung, als Form der oralen Inkorporation. Anders als Mentzos (1982) unterscheidet er die Introjektion nicht von der Inkorporation und auch den Begriff der Identifizierung verwendet er im Gegensatz zu Ment-

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fikationen finden auf einem bereits relativ reifen Entwicklungsniveau statt, in dem konstante und weniger bedrohliche Objektbeziehungen zur Verfügung stehen. In diesem Stadium kann Wut und Ambivalenz auch ausgedrückt werden, »ohne exzessive Destruktivität und katastrophale Angst« auszulösen (Mentzos 1982:45). Der von Freud (1923) beschriebene nicht-pathologische Prozess der Charakterbildung lässt sich auch als ein solcher Identifikationsprozess verstehen. Wenngleich alle drei Internalisierungsprozesse als Teil der Entwicklung; als »Teilmomente der Reifung« (Mentzos 1982:45) betrachtet werden, können Störungen bei der Ausbildung dieser Reifungsprozesse zu Fixierungen und zu Prädispositionierungen der Aktivierung dieser Internalisierungstendenzen führen und so über diese Form der Abwehrprozesse, z.B. in die Depression führen. Die melancholische Identifizierung, in der das verlorene Objekt zur Zwecken der Aufhebung des Verlustes in das Ich internalisiert wird, ist demnach ein Vorgang, der auf verschiedene regressive Stufen der Ich-Entwicklung zurückgreifen kann. 2.2 Bezogenheit und Selbstkritik Viele Jahre nach Freuds Schrift »Trauer und Melancholie« (GW X 1917) steht die Betonung einer internalisierten Beziehung weiterhin im Zentrum psychoanalytischer Depressionstheorien. Für die vorliegende Erörterung ist dabei insbesondere die Depressionstheorie von Sidney J. Blatt (1974, 2004) interessant, der zwei Depressionen auf unterschiedlichen Reifungs- bzw. Funktionsniveaus voneinander unterscheidet. Blatts psychodynamische Operationalisierungen der Depression beziehen sich dabei zumeist implizit auf eine Unterscheidung weiblicher und männlicher Depressionen und weisen konzeptuell interessante Übereinstimmungen mit symbolischen Geschlechtsvorstellungen und Emotionsnormen auf. Auch Blatt (1976) greift dabei auf eine differenzierte Internalisierungstheorie zurück, in der, wie bei Mentzos, strukturell entlang der Entwicklungslinie des Kindes unterschiedliche Internalisierungsprozesse definiert werden. Blatt, der über 20 Jahre klinische Forschung und Praxis in seiner Depressionstheorie verbindet, nahm bereits 1974 eine bis heute aktuelle Konzeptualisierung psychodynamischer Depressionstheo-

zos als allgemeinen Übergriff (bei Mentzos entspricht dieser Überbegriff der Internalisierung).

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rien vor. Er unterscheidet dabei einen anaklitischen Depressionstyp von einem introjektiven Depressionstyp (Blatt 1974, 2004)5. Die anaklitische Depression ist gekennzeichnet durch Abhängigkeitsgefühle, Verlustängste und Verlassenheitsgefühle und wird ausgelöst durch den Verlust einer wichtigen Beziehung. Die introjektive Depression zeichnet sich hingegen durch Versagensängste und selbstkritische Gefühle der Wertlosigkeit aus. Der Verlust, den dieser Depressionstyp markiert, ist vor allem ein Selbstwert- oder Identitätsverlust. Eine introjektive Depression tritt häufig als Folge des Scheiterns bei der Erreichung eines zentralen Ziels oder Projektes auf. Blatt (2004) unterscheidet für beide depressive Entwicklungen unterschiedliche Funktionsniveaus. Die anaklitisch Depressiven unterscheiden sich von den introjektiv Depressiven nicht nur inhaltlich nach der Empfänglichkeit für unterschiedliche Auslöser oder durch die vordergründige Thematik der Depression, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sich auf Andere beziehen, sowie in ihren frühen Beziehungserfahrungen mit den ersten Liebesobjekten in der Kindheit: »These individuals with dysphoric experiences around abandonement or around failure and guilt differ in their expressions of depression, in their early experiences in caring relationships, in their sensitivity and vulnerability to different types of stressful life events, and in how they engage their environment.« (Blatt 2004:151)

Um die unterschiedlichen Faktoren, die für den unterschiedlichen Ausdruck der Depression relevant sind, identifizieren zu können, haben Blatt und seine Mitarbeiter den Depressive Experience Questionnaire konzi-

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Der Begriff der introjektiven Depression ist nicht mit der melancholischen Intojektion zu verwechseln. Blatt (1974) bezieht sich hierbei auf »introjektive Identifizierung« als typischen Prozess in der Über-Ich-Bildung. Auch der Begriff der »anaklitischen Depression« entspricht nicht der Verwendung der anaklitischen Depression bei Spitz (1946), sondern er wird von Blatt (2004) im Sinne Freuds nach der wörtlichen Bedeutung des griechischen Wortes anaclitas – »anlehnen« verwandt. Anaklitische Prozesse werden von Blatt dabei als früher in der Entwicklung des Kindes lokalisiert, in der das Kind basale Bedürfnisse nach Versorgung und Nähe verspürt, während introjektive Prozesse mit der späteren Über-Ich-Entwicklung einhergehen.

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piert (DEQ, Blatt, D’Affilitti, & Quinlan 1976). Im DEQ werden die anaklitische und introjektive Dimensionen depressiven Erlebens systematisch in einem Fragebogenverfahren operationalisiert. Obwohl es selbstverständlich innerhalb einer Person auch Mischformen des depressiven Erlebens geben kann, ermöglicht die inhaltlich-dimensionale Unterscheidung der Depression ein differenzierteres diagnostisches und therapeutisches Verständnis der Depression (Blatt 2004).6 Anaklitisch depressive Personen leiden, kongruent mit Zuschreibungen symbolischer Weiblichkeit, unter Abhängigkeit in Beziehungen und einer vermehrten Sorge um Verlassenheit. Die anaklitische Dimension umfasst interpersonale Themen, z.B. Beziehungserleben, Abhängigkeitsgefühle und eine Bezogenheit auf Andere, wie sie im vorangegangenen Kapitel etwa für das Konzept der Expressivität dargestellt wurden. Entsprechend der dominanten Rollenstereotype vermutet auch Blatt, dass Frauen für depressive Reaktionen infolge interpersonaler Verluste verletzlicher sind: »Females are usually more vulnerable to dysphoria in response to disruptions of interpersonal relations such as withdrawal of affection and the unavailability of others.« (Blatt 2004:92). Frauen sind offenbar stärker beziehungsorientiert als Männer. Daraus entstehe auch eine signifikante Beziehung zwischen Weiblichkeit und anaklitischer Depression. Auch Peter Fonagy weist im Vorwort zu Blatts Buch »Experiences of Depression« (2004) darauf hin, dass sich dessen Depressionstypologie besonders gut dazu eignet, die Geschlechtsunterschiede in psychischen Störungen zu verstehen: »[...] we immediately find that the distinction is of enormous help in understanding gender differences in psychopathology. Girls

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Im DEQ beinhaltet die anaklitische Depression: »[...] feelings of loss, abandonment, helplessness, and lonliness; wanting to be close to, related to, and dependent on others; and being concerned about hurting or offending others for fear of losing the dependent gratification others can provide« (Blatt 2000:735). Die introjektive Depression ist definiert als: »[...] depressive experiences that are more internally directed and focused on disruptions of self-definition and self-esteem, and that are expressed in concern about feeling guilty, empty, hopeless, unsatisfied, insecure, selfcritical, ambivalent about oneself and others, and lacking in a sense of autonomy and self-worth; about having failed to meet expectations and standards; and about feeling pressured by responsibilities and threatened by change.« (Blatt 2000:735)

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are known to show internalizing patterns, whereas boys tend to show an externalizing one.« (Fonagy 2004:x/xi). Der Dichotomie Mädchen/Junge stellt Fonagy Internalisieren/ Externalisieren gegenüber, welche wiederum der Dichotomie anaklitische/introjektive Depression entspricht. Blatt (2000) und Fonagy (2004) schreiben Frauen und Mädchen expressive Rollennormen zu und nehmen an, dass sie stärker für anaklitische Depressionen empfänglich sind. Jungen und Männer werden hingegen in Übereinstimmung mit instrumentell-männlichen Geschlechtskodierungen als empfänglicher für die introjektive Depressions-Thematik betrachtet. Ein solches Depressionskonzept fügt dem Verständnis der geschlechtlich unterschiedlichen Depressionsrisiken eine Differenzierungs- und Erklärungsebene hinzu, indem parallel zu den Bereichen der Expressivität/Instrumentalität zwei zugehörige dichotome Depressionstypen identifiziert werden. Ergebnisse der Erforschung von geschlechtsspezifischen Risiken unter Verwendung des DEQ werfen jedoch Widersprüche auf, die dem dichotomen Verständnis von Geschlechtsrollen und Depressionstypen zunächst zu widersprechen scheinen: Untersuchungen von Blatt und seinen Kollegen belegen vielfach, dass Frauen öfter anaklitische Depressionen entwickeln als Männer (Blatt 2004). Anaklitisch depressive PatientInnen leiden, ähnlich wie es für depressive Frauen beschrieben wird, öfter unter somatischen Beschwerden, die Ausdruck einer zugrundeliegenden Depression sind und suchen häufiger ärztliche Hilfe auf (Blatt 2004). Oftmals geht, wie Blatt vermutet, einer anaklitischen Depression der Verlust einer wichtigen Beziehungsperson voraus. Werden anaklitisch-depressive Personen suizidal, verwenden sie für Selbstmordabsichten häufig eine Überdosis verschriebener Medikamente, z.B. Antidepressiva (Blatt et al. 1982). Blatt sieht in den Selbstmordversuchen anaklitischer Personen eher einen Hilferuf als in dem introjektiven Pendant und betont die kommunikative Funktion anaklitischer Suizidmethoden. Blatt vermutet, dass introjektive Depressionen hingegen häufiger bei Männern anzutreffen sind, die, gemäß einem stereotyp maskulinen Ideal, eher unter Belastungen in Zusammenhang mit Leistungsstreben, persönlichem Versagen und ausgeprägtem Perfektionismus leiden (Blatt 2004). Introjektive, selbstkritisch Depressive sind einer höheren Selbstmordgefahr ausgesetzt, da sie unter (zu) hohen Ansprüchen und einem strengen strafenden Über-Ich leiden, während sie sich gleichzeitig nur selten einer anderen Person anvertrauen können (Blatt et al.

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1982). Im Kontext der introjektiven Depression verlaufen Suizidversuche nach Blatt (2004) daher oftmals tödlich. Ähnlichkeiten zwischen der introjektiven Depression und Beschreibungen einer »männlichen Depression« (Möller-Leimkühler 2000), zeigen sich hier in fehlendem Hilfesuchverhalten, erhöhter Suizidgefahr aufgrund aggressiver Methoden und einer höheren Vulnerabilität für berufliche Stressoren. Im Gegenzug zur introjektiven Depression erinnert die anaklitsche Definition an Studien über depressive Frauen, die Frauen z.B. ein stärkeres Hilfesuchverhalten zuschreiben und für Frauen eine größere Selbstmordversuchsrate belegen, bei gleichzeitig niedrigerer vollzogener Selbstmordrate (vgl. Redfield-Jamison 1997). Der Bezug von Blatts Operationalisierungen der Depression zu geschlechtlichen Stereotypen und zu den Befunden der in Kapitel A dargestellten psychologischempirischen Depressionsstudien ist eindrücklich. Blatts intensive langjährige Forschung mit dem Depressive Experience Questionnaire (DEQ), der beide Typen der Depression operationalisiert, führt jedoch zu einem komplexeren Bild. Während Frauen, wie prognostiziert, häufiger unter anaklitischer Depression leiden als Männer, weisen sie ein ebenso hohes Risiko für selbstkritische, introjektive Formen auf. Die doppelte Vulnerabilität von Frauen beginnt, wie auch die statistischen Häufigkeitsunterschiede in der Depression zwischen Männern und Frauen, in der Adoleszenz. Anhand der DEQForschung konnte Blatt et al. (2004) zeigen, dass adoleszente Mädchen ein höheres Level an internalisierten Beschwerden aufweisen als Jungen, und dass sie entsprechend auch eher als Jungen dazu neigen anaklitische Depressionen zu entwickeln, die mit somatischen Beschwerden einhergehen. Die Mädchen in Blatts Untersuchungen klagten häufiger über somatische Probleme, depressive Verstimmung und gegen das Selbst gerichtete Aggression. Jungen, die nach Blatt eher zu externalisierten Störungen neigen als Mädchen, gaben häufiger aggressives oder delinquentes Verhalten an und zeigten mehr introjektive Depressionssymptome. Gleichzeitig musste Blatt feststellen, dass Mädchen, entgegen seinen Erwartungen, aber ebenso für selbstkritische, introjektive Depressionssymptome verletzlich waren und somit ebenso wie die Jungen auch für Probleme der Selbstwertregulierung anfällig sind.7

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Milne und Lancaster (2001) identifizieren Prädiktorvariablen für die Depressionen von weiblichen Adoleszenten. 59 adoleszente Mädchen wurden anhand des DEQ für Adoleszente auf ihr Depressionsrisiko hin untersucht.

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Auch erwachsene Frauen weisen sowohl anaklitische als auch introjektive Symptome auf, während Männer vornehmlich zur introjektiven Depression neigen (Blatt 1986, Blatt 2004, Beutel et al. 2004).8 Mädchen und Frauen sind also sowohl für depressive Selbstwertprobleme als auch für depressive interpersonale Probleme empfänglich, während Jungen und Männer Depressionen öfter als Folge besonders hoher Ichideale und einer besonders strengen Selbstkritik entwickeln. Dass Frauen häufiger unter Depressionen leiden als Männer, lässt sich damit in Verbindung bringen, dass sie ein kombiniertes Risiko für beide Depressionstypen aufweisen, während viele Männer offenbar nur für einen Typ der Depression verletzlich sind. Frauen sind empfänglicher für Ängste, Konflikte und Sorgen der anaklitischen und introjektiven Depression, was einen Zusammenhang nahelegt zu Risi-

Gemessen wurden die Variablen: Seperation-Individuation, interpersonale Konflikte (anaklitische Depression), selbstkritische Konflikte (introjektive Depression), Bindungsstil, elterliche Objektrepräsentationen und Depressionssymptome. Anhand der Variablen wurde ein Modell weiblichadoleszenter Depression entwickelt, in dem sowohl Gefühle von Abhängigkeit als auch das Erleben von Selbstkritik und das Scheitern an eigenen Erwartungen als depressions-auslösende Faktoren identifiziert wurden. Darüber hinaus bringen die Forscher niedrige Werte in »mütterlicher Fürsorge« und einen unsicheren Bindungsstil mit einer höheren Verletzlichkeit für Depressionssymptome in Verbindung. Adoleszente Mädchen sind sowohl für anaklitische als auch für introjektive Konflikte verletzlich und Depressionen in dieser Altersgruppe weisen darüber hinaus einen starken Zusammenhang mit der frühen Beziehung des Mädchens zur Mutter auf. Die Beziehung zum Vater wurde in der Studie nicht erfasst. 8

Beutel et al. (2004) haben den DEQ ins Deutsche übersetzt und ihn an zwei PatientInnenstichproben aus der stationären psychosomatischen Behandlung validiert. Die Validierung unterstützt die Grundannahmen von Blatt et al. (1976). Hohe Werte in der Skala Abhängigkeit korrelieren bei Patientinnen mit einer erhöhten körperlichen Symptombelastung und »expressiv-aufdringlichem« Verhalten. Ausgeprägte Selbstkritik wiederum korreliert mit sozialem Rückzug, geringer sozialer Unterstützung, Introversion, abweisendem Verhalten, Suizidgedanken und rezidivierender Depression. »Entsprechend verbreiteten gesellschaftlichen Leitbildern [...]« finden sich für Frauen höhere Werte in der Dimension Abhängigkeit als für Männer (Beutel et al. 2004:12).

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ken, die mit einer expressiven und instrumentellen Rolle einhergehen. Eine doppelte Verletzlichkeit für depressive Konflikte spiegelt möglicherweise eine doppelte Rollenbelastung von Frauen wieder, wie sie in dieser Arbeit thematisiert wird. Frauen sind empfänglich für Rollenzuschreibungen und Rollenansprüche in beiden aus der Geschlechterordnung abgeleiteten Bereichen: Expressivität und Instrumentalität. Die Doppelbelastung und Empfänglichkeit für ein »doppeltes Depressionsrisiko« von Frauen lässt sich alternativ auch soziologisch als »innere Vergesellschaftung« (Schmidt-Becker 2003) konzeptualisieren. Anschließend an das Konzept der »doppelten Vergesellschaftung« (Beer 1989, Schmidt-Becker 2003) kann überlegt werden, ob das doppelte Risiko von Frauen mit einer »doppelten Diskriminierung« einhergeht. Mit dem Einfluss des Feminismus ist es Frauen gelungen, sich einen Zugang zu »männlichen« Rollenbereichen zu erkämpfen, es ist aber offenbar weniger gelungen, Männer ebenso konsequent für die Übernahme von »weiblichen« Rollen zu gewinnen. Frauen fühlen sich heute beiden Bereichen zugehörig; Männer nach wie vor hauptsächlich einem. Frauen fühlen sich sowohl für den Bereich der »Produktion« – für berufliche Erwerbsarbeit und Karriere – zuständig als auch hauptverantwortlich für den Bereich der häuslichen »Reproduktion« und Familienarbeit. Frauen werden ebenso wie Männer als Arbeitskräfte sozialisiert, aber sie sind in stärkerem Maße auch in gesellschaftliche Reproduktionsaufgaben, wie das Gebären und Versorgen von Kindern eingebunden (vgl. Kapitel C). Frauen werden jedoch in beiden Bereichen unterlegene Positionen zugewiesen: auf dem Arbeitsmarkt stehen ihnen schlechtere Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten zur Verfügung und die Haus- und Familienarbeit wird gegenüber der Erwerbsarbeit als gesellschaftlich minderwertiger betrachtet, gleichzeitig wirkt sich die Versorgung der Familie nachteilig auf die berufliche Karriere aus (Belinszki 2003). In Kapitel A wurde deutlich, wie stark diese gesellschaftlichen Faktoren mit einer Entstehung von Depressionen bei Frauen zusammenhängen. Nach Becker-Schmidt (2003) wirkt sich die doppelte Vergesellschaftung im Sinne einer »inneren Vergesellschaftung« auf die Subjektkonstitution von Frauen aus: Frauen entwickeln eine ambivalente Identität, in der sie einerseits für Anforderungen und Anerkennungsstrukturen des Arbeitsmarkts (introjektive Dimension) sensibilisiert werden und andererseits empfänglich sind für Anforderungen aus dem Bereich der symbolischen Weiblichkeit, in dem Beziehungs- und Familienarbeit, Mutterschaft, Fürsorge und unentgeltli-

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che Reproduktionsarbeit zu leisten sind (anaklitische Dimension). Dabei sind sie widersprüchlichen Anforderungen und (Emotions-)Normen ausgesetzt, die der dichotomen Aufspaltung von Produktion und Reproduktion entsprechen und die sich – oftmals unvereinbar – gegenüberstehen (Belinszki 2003, Schmidt-Becker 2003). Anders als auf Männern, die diesen Widersprüchen weitaus weniger stark ausgesetzt sind, lastet auf Frauen nicht nur die »doppelte Belastung«, sondern auch der Druck und Anspruch, diese beiden gesellschaftlich auseinandertrifftenden Bereiche in ihrem Alltag zu verbinden (Becker Schmidt 2003). Möglicherweise macht diese mehrfache »Doppelung« von Zuständigkeitsbereichen, die aus psychologischer Perspektive einer doppelten Rollenorientierung und aus soziologischer Perspektive einer doppelten Vergesellschaftung entspricht, Frauen vermehrt sowohl für instrumentelle als auch für anaklitische Verluste verletzlich. Auch Blatt (2004) nimmt an, dass das größere Depressionsrisiko von Frauen mit der doppelten Empfänglichkeit für introjektive und anaklitische Depressionen zusammenhängt: »Depression ist two to three times more prevalent in woman, possibly bevause they are as vulnerable as men to issues of self-criticism but are also much more vulnerable to issues of lonliness, abandonment, and rejection. This combined vulnerability to feelings of loss and abandonment as well as self-criticism plasces women at greater risk for depression.« (Blatt 2004:99f)

Zur weiteren Klärung der Frage, wie die unterschiedlichen Depressionstypen mit Geschlechternormen und geschlechtlichen Anforderungen einhergehen und welche geschlechtliche Kodierungen ihnen möglichweise zugrundliegen, wird im Anschluss an dieses Kapitel noch einmal ausführlich auf theoretische Zugänge zur Depression verwiesen, die ebenso wie die Konzeptualisierungen Blatts, auf eine dichotome Unterscheidung depressiven Erlebens zurückgreifen. Hierfür erfolgt zunächst eine Lokalisierung der anaklitischen und introjektiven Depression auf entsprechend unterschiedlichen Strukturniveaus. 2.2.1 Depressionen auf unterschiedlichem Strukturniveau Blatt bezieht sich in seiner Unterscheidung der anaklitischen und introjektiven Depression auf Freuds Melancholiekonzept von 1917. Bereits Freud diskutiert eine Verbindung zwischen Melancholie und dem oralen Stadium der Inkorporation, das dem Stadium der Libidoentwick-

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lung mit einer »echten« Objektwahl vorausgehe und mit dem das Ich seine Objekte erwählt. In diesem frühen Stadium sind Selbst-ObjektRepräsentanzen noch nicht vollständig entwickelt. Eine Unterscheidung zwischen Selbst und Objekt ist (noch) nicht möglich und der entsprechende »Internalisierungsmodus« der Inkorporation erfolgt als ein körpernahes – nicht selten psychosomatisches – Geschehen. Blatt vollzieht für diese als anaklitisch definierten Depressionstypen eine strukturelle Positionierung, die starke Ähnlichkeiten zum Ansatz von Mentzos aufweist9. So lokalisiert er in Freuds Text eine orale Inkorporation, die er von einer späteren Form der introjektiven melancholischen Verarbeitung, der sogenannten »Schulddepression«, unterscheidet. Letztere vollziehe sich bei einer Depression, die mit dem Über-Ich in Zusammenhang stünde und die mit einer reiferen und komplexeren Phase psychologischer Entwicklung korrespondiere. Diese Form der (Schuld-)Depression, die Blatt als introjektive Depression operationalisiert, ist gekennzeichnet durch Gefühle von Schuld, Selbstbestrafung und Selbstablehnung. Während Freud in »Trauer und Melancholie« sowohl die Entwicklungslinien der Schulddepression als auch die des frühen oralen Mechanismus in ein Konzept der Melancholie überführt, trennt Blatt diese in zwei unterschiedliche Depressionstypen: anaklitische Depression auf einem frühen oralen Entwicklungsniveau und in-

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Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Otto Kernberg (1978), der verschiedene »depressiv-masochistische Charakterstrukturen« voneinander unterscheidet. Eine »komplexe« Depressivität identifiziert er auf höherem psychischen Funktionsniveau und unterscheidet sie von einer depressiven Struktur, die durch so genannte »primitive«/»archaische« Selbstdestruktivität gekennzeichnet ist. Die Depressivität sei im ersten Fall eher Reaktionsbildung und stehe strukturell dem Zwangscharakter nah, in ihr dominierten psychodynamisches Ausagieren und vor allem unbewusste Schuldgefühle. Eine depressive Charakterstruktur auf früherem Niveau, mit Anteilen starker Selbstdestruktivität, sei besonders durch das Fehlen von Schuldgefühlen gekennzeichnet (was von Kernberg als Hinweis auf eine fehlende Über-Ich Beteiligung gewertet wird). Das frühe Funktionsniveau ist charakterisiert durch selbstverletzendes Verhalten und impulsive Suizidversuche. Je höher das Strukturniveau nach Kernberg, desto manifester die Depression. Die Qualität der depressiven Gefühle von starker Schuld und Sorge weist auf eine stärkere Fähigkeit zur Über-Ich Integration hin, im Gegensatz zu ohnmächtiger Wut, Leere oder Hoffnungslosigkeit.

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trojektive Depression auf einem späterem ödipalen Niveau. Dabei bezieht sich die anaklitische Entwicklung in der psychodynamischen Konzeptualisierung auf eine frühe Entwicklungsstufe des Kindes, bei der die symbiotische, dyadische Beziehung zur primären Bezugsperson (in Theorie und Praxis meistens zur Mutter) von zentraler Bedeutung ist. Die introjektive Depression steht, als späteres entwicklungsgeschichtliches Geschehen in Zusammenhang zur (triangulierenden) Vaterbeziehung, denn der Vater wird stärker in Zusammenhang zur späteren (Über-Ich)- Entwicklung des Kindes gebracht (vgl. Kapitel B.3). Aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Einordnung anaklitischer und introjektiver Depressionen rät Blatt (2004) auch dazu, die Behandlungstechnik entsprechend anzupassen. Selbstkritisch, introjektive PatientInnen profitieren besser von länger andauernden intensiveren psychoanalytischen Behandlungen, da sie länger dazu benötigen eine therapeutische Beziehung einzugehen (Blatt 1996). In kurzen psychotherapeutischen Behandlungen zeigen diese PatientInnen weniger therapeutische Veränderungen. Anaklitische PatientInnen gehen hingegen schneller therapeutische Bindungen ein und profitieren auch bei einer geringeren Anzahl wöchentlicher Stunden und einer kürzeren Therapiedauer (Blatt 2004). Anaklitische Depressive profitieren zudem eher von einer unterstützenden Therapie als von einem klassisch abstinenten Setting. Trennungen, wie sie das klassische analytische Therapiesetting vorsieht, sind für anaklitische Personen, aufgrund der geringeren Symbolisierungsfähigkeit, schwerer auszuhalten und können als große Zumutung erlebt werden (Blatt 2004). Hinweise auf die beiden Depressionsdimensionen finden sich sowohl bereits bei Freud als auch in nachfolgenden psychoanalytischen Theorien der Depression (vgl. z.B. Beck 1983, Arieti & Bemporad 1983, Bleichmar 1996). Daher vermutet Blatt (1998), dass die anaklitische und introjektive Dimension des Erlebens eine grundlegende Polarität menschlichen Erlebens charakterisieren. Auch Freud konzipiere in »Das Unbehagen in der Kultur« einen dimensionalen Konflikt zwischen Egoismus und Altruismus (Freud 1930) und unterscheide zwischen einer Polarität von Eigen-(Selbst-)Interesse und Interesse an Anderen, zwischen Objekt-Libido und narzisstischer Selbst-Liebe (Blatt 1998). Dabei stünde die Libido einerseits im Interesse der Bindung, Intimität und interpersonaler Bezogenheit und andererseits im Interesse aggressiver Triebe, Autonomie, Kontrolle und Identitätsdefi-

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nition. Die Dimension der Objektlibido stehe in Beziehung zu sozialer Angst und Angst vor Kontaktverlust. Die Selbstlibido hingegen in Beziehung zu Schuldgefühlen und Über-Ich- Konflikten. Während die strukturell früher angesiedelten Depressionen das Thema Verlust und Verlassenheit im Zentrum haben und eine frühe Depression der Beziehung darstellen, die mit unvollständigen Objektrepräsentanzen einhergeht, sind im Erleben der introjektiven Depression Gefühle von Schuld und Selbsthass zentral. Die Fähigkeit zur Objektkonstanz und Objektrepräsentation ist in der introjektiven Dimension stärker entwickelt (Blatt 2004). Blatt (2006) verweist darauf, dass Freuds Beschreibung der zwei Hauptaufgaben des Lebens und der zentralen Ziele der analytischen Therapie »Liebes- und Arbeitsfähigkeit«, diese fundamentalen Dimensionen menschlichen Erlebens widerspiegeln. Gleichzeitig bilden diese Bereiche auch die binären instrumentellen und expressiven Lebensbereiche ab (Parsons und Bales 1955). Die Dimensionen verweisen auch auf einen in der Psychoanalyse vielfach beschriebenen, psychischen Grundkonflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit, der auch in nicht-pathologischer Form als Grundkonstante im Leben von Männern und Frauen vorhanden ist. Auch Mentzos definiert einen Grundkonflikt zwischen Autonomie-Abhängigkeit: »Das Begriffspaar Autonomie-Abhängigkeit bezieht sich, im Bereich der Entwicklungspsychologie und der Normalpsychologie, auf eine zentral wichtige, wenn nicht die wichtigste psychische Polarität: Es geht um den Gegensatz, aber letzlich auch um die durch dessen dialektische Aufhebung reulstierende Integration zwischen psychischen Prozessen, Bedürfnissen und Motivationen, welche einerseits in Richtung Selbstkonsitutierung, Selbsterhaltung, Selbstabgrenzung, Selbstdifferenzierung, Selbstsicherheit, aber auch unabhängige stabile Selbstwerteinschätzungen und freie Selbstbestimmung und andererseits in Richtung vermehrte Nähe und Bindung bzw. Getragenwerden sowie eine objektbezogene Selbstsicherheit und Selbstwertigkeit wirksam werden.« (Mentzos 2000:78)

Im psychoanalytischen Verständnis besteht die »Polarität« in der unsausweichlichen Dichotomie zwischen Abhängigkeit und Autonomie, zwischen basalem Sicherheitsbedürfnis und Sehnsucht nach Verbundenheit an dem einen Pol und Trennungswünschen und Identitätsfindung an dem anderen Pol. Der Konflikt wird für die Entwicklung des

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Säuglings nicht nur als unausweichlich, sondern sogar als zwingend notwendig betrachtet (Mentzos 2000). Erst die Spannung zwischen beidem mache Entwicklungsschritte möglich. So besteht beim Kind von Anfang an eine starke »primäre Motivation« sowohl zur Verselbstständigung als auch zur Kommunikation (Mentzos 2000). Für diese Arbeit ist besonders die enge konzeptuelle und diskursive Verknüpfung des abhängigen Pols mit symbolischer Weiblichkeit und des Autonomie-Pols mit symbolischer Männlichkeit relevant. Diese Verflechtung und geschlechtliche Kodierung scheint dabei nicht nur kulturell wirksam, sondern taucht als Korrelat im depressiven Erleben und im Depressionsrisiko von Männern und Frauen wieder auf. Gleichzeitig sind Abhängigkeit und Autonomie sowohl in der psychoanalytischen Theoriebildung als auch im familiären Beziehungsgeflecht zumeist geschlechtlich einseitig an die Figuren der Mutter und des Vaters gebunden. Die frühe Mutterbeziehung wird assoziiert mit Abhängigkeit, Sicherheitsbedürfnis und frühen, noch nicht vollständig ausgereiften, (vorsprachlichen) Formen der Selbst-Objekt-Differenzierung sowie bei einer pathologischen Entwicklung – mit anaklitischer Depression. Die Vaterbeziehung steht hingegen für eine spätere (symbolisierbare) AutonomieEntwicklung hin zu Indivdiuation und Identitätsbildung, sie repräsentiert eine spätere Entwicklung des Kindes mit bereits ausgeprägter SubjektObjekt Differenzierung und steht auch für die Fähigkeit zur Triangulierung, d.h. die Fähigkeit, eine »dritte« Perspektive einzugehen und rein »dyadische« Beziehungsmuster zu primären Bezugspersonen (meist zur Mutter) zu überwinden. Wenngleich auf jeder Entwicklungsstufe des Kindes Konflikte zwischen Autonomiestrebungen und Abhängigkeitsgefühlen angenommen werden, z.B. beim Stillen/Abstillen, beim Laufen und Sprechen, lernen usw., so verweist die anaklitische Depressionsdimension auf den abhängigen Pol des hier beschriebenen Grundkonfliktes und weiter auf Hypothesen über die frühe Mutter-Kind Interaktion. Sie erscheint in der psychoanalytischen Wissensproduktion, kongruent mit den kulturellen Geschlechtsrollennormen, vor allem als weiblich kodiert. Die anaklitische Depression verweist auf eine »Sollbruchstelle« in der frühen Mutter-Kind-Beziehung, die, wenn sie späteren Belastungen nicht standhalten kann, depressives (anaklitisches) Erleben bedingen kann. Während sich psychologische Untersuchungen und Modelle der Depression in Kapitel A vor allem auf einem eher »äußerlichen« deskriptiven Niveau befinden, auf dem Unterscheidungen zwischen

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Männern und Frauen bzw. instrumentellen und expressiven Personen vorgenommen werden, differenziert die psychoanalytische Theorie nicht nur deskriptiv, sondern vor allem inhaltlich-genetisch zwischen anaklitischen und introjektiven Depressiven. Diese inhaltliche Trennung und genetische Grundannahme ist wiederum in ein hierarchisches Strukturmodell überführt, in dem die (implizit) als weiblich kodierte Depressionsform als früheres und schwereres Defizit betrachtet wird als die (implizit) als männlich kodierte introjektive Depression. Diese inhaltlich-strukturelle Trennung führt zu einem differenzierten Verständnis der Depression und zu verbesserten klinischen Konzeptualisierungen der Depression sowie zur Möglichkeit einer Erklärung der Depressionsgenese. In sie eingeschrieben ist jedoch eine Geschlechterordnung, die auch mit psychoanalytischen Konzepten der familiären Sozialisation und der Aneignung von Geschlechtsidentität korreliert (vgl. B.3.). 2.2.2 Geschlechtliche Kodierungen Ausgehend von Blatts Theorie und seinen empirischen Studien mit dem DEQ können zwei Ebenen der Fragestellung identifiziert werden. Zum einen die Frage nach Einschreibungsprozessen eines gesellschaftlichen Umfelds in das Erleben und Entstehen von Depressionen bei Frauen und Männern; und zum anderen die Frage nach geschlechtlichen Kodierungen der psychoanalytischen Theorie und Praxis selbst. Beide Fragestellungen lassen sich anhand einer Betrachtung von geschlechtlichen Voranahmen Blatts und der expliziten Referenzen auf Geschlechtsrollentheorien in seinen Arbeiten besser nachvollziehen. So verweist Blatt (2004) explizit auf eine binäre Geschlechtsrollentheorie, die er bei der Entwicklung seiner Operationalisierungen der Depression zur Kenntnis genommen habe und die in seine Konzeptualisierungen Eingang gefunden hätte. Die in Blatts Werk enthalten Bezüge zur Geschlechterrollentheorie illustrieren den geschlechtlichen Subtext seiner Depressionstheorie (z.B. Blatt 2004, Blatt 2000, Blatt 1998). Blatts Arbeiten enthalten z.B. Referenzen auf die Geschlechtsrollentheorie David Bakans (1966), der die Geschlechtsrollen-Unterscheidungen zwischen communion und agency entwickelt hat. Communion ist nach Bakan ein »loss of self and self-consiousness in a merging and blending with others and the world.« (Bakan 1966). Sie ist definiert als Teilhabe an der Gemeinschaft, in Kommunion mit

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einem größeren Organismus, die Betonung von Harmonie und Gemeinsamkeit (vgl. Alfermann 1999). Agency dagegen betont Individualität und Trennung, Selbstbehauptung und einen Trieb, das eigene Umfeld zu kontrollieren und zu bezwingen; das Bakan als ein Verlangnen nach »Separation und Mastery« beschreibt. Bakans Unterteilungen entsprechen rollentheoretischen Zuschreibungen, wie die der Expressivität vs. Instrumentalität (Spence & Helmreich 1978). Darüberhinaus verweist Blatt (2000) auf die (differenz-)feministische Moraltheorievorstellung von Carol Gilligan (1982). Gilligan vollzieht eine geschlechtlich kodierte Differenzierung von »männlicher« Justice (Gerechtigkeit – vor allem bei Männern) vs. »weiblicher« Care (Fürsorge, Pflege, Zuwendung – vor allem bei Frauen)-Orientierung.10 Während Freud binär geschlechtlich-kodierte Dimensionen von Objekt-Liebe und Selbstliebe als antagonistisch darstellt (vergleichbar mit den Konzeptualisierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit bei Parsons und Bales 1955), versteht Blatt depressive Erlebensarten als dialektische Dimensionen, die einander in der Persönlichkeitsentwicklung bedingen und notwendig brauchen, die aber in der einen oder anderen Richtung aus dem Gleichgewicht geraten können: »Most forms of psychopathology can be viewed as deriving from an exaggerated overemphaszies on either relatedness of self-definition and a defensive avoidance of the other.« (Blatt 2004:732). Eine mit Blatt vergleichbare, konzeptionelle Unterscheidung von Depressionstypen wurde auch vom Begründer der kognitiven Therapie Aaron Beck (1983) vorgenommen sowie durch die psychodynamisch orientierten Depressionsforscher Silvio Arieti und Jules Bemporad (1983), Stavros Mentzos (1982) und Hugo Bleichmar (2003). Die Positionen dieser Forscher beruhen zwar auf unterschiedlichen theoretischen Begriffsdefinitionen, dennoch ist ihnen eine inhaltliche Differenzierung von Depressionstypen gemeinsam, die an den unbewussten Konflikten, Charakterstrukturen und Lebenserfahrungen von individuellen Personen orientiert ist (Blatt 1998). Gemeinsam ist den Differenzierungen aber auch die geschlechtliche Kodierung, die hier bislang

10 Gilligan (1982) entwickelt ihre Theorie in Abgrenzung zu psychologischen und psychodynamischen Konzeptualisierungen, die sich unreflektiert und unhinterfragt an einer »männlichen« Autonomienorm orientierten, wobei sie die Eigenständigkeit einer weiblichen (Bindungs-)Entwicklung vernachlässigten, und sie stattdessen als Abweichung der Norm definierten.

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nur für Blatts Arbeit herausgearbeitet wurde. Im folgenden werden, in verkürzter Form, auch die Positionen von Beck (1983), Mentzos (1982), Arieti und Bemporad (1983) und schließlich das integrative Depressionsmodell von Bleichmar (2003) in Bezug auf den Zusammenhang von Depression und Geschlecht dargestellt. Diesen psychodynamischen Konzeptualisierungen ist gemeinsam, dass sie auf einer Polarität beruhen, in die traditionelle Geschlechternormen eingeschrieben sind bzw. dass sie Depressionstypen abbilden, die von diesen binären Geschlechternormen beeinflusst sind. Beck (1983) unterscheidet aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Perspektive die »sozial abhängige/soziotrope« von einer »autonomen« Depression. Seine dimensionale Unterscheidung verweist am Pol sozialer Abhängigkeit auf das hohe Bedürfnis von Personen nach positiven Beziehungen, Wünsche nach Annahme und Akzeptanz, Intimität und Unterstützung (vgl. Beutel et al. 2004). Auch hier wird die interpersonale Depression durch Verluste in Beziehungen ausgelöst. Am Pol der Autonomie wird die Depression durch Unabhängigkeit, Besitzdenken, Zielstreben und übermäßige Leistungsorientierung markiert (vgl. Beutel et al. 2004). Wie bei der introjektiven Depression ist es entweder ein Verlust über die Kontrolle der Umwelt oder ein Scheitern am Erreichen eines Zieles, das eine autonome Depression aulöst. Bereits in der Wortwahl findet sich die Dichotomie zwischen Abhängigkeit und Autonomie wieder, die von Beck jedoch nicht in Hinblick auf Depression und Geschlecht expliziert oder reflektiert wird. In einer Untersuchung von 2005 verweisen McBride et al. (2005) darauf, das Geschlechtsunterschiede in den Dimensionen der sozialen Abhängigkeit und Autonomie bislang weitgehend unbeachtet geblieben sind. Die Autoren schlagen hier erstmals vor, die Dimensionen hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung bei depressiven Frauen und Männern zu untersuchen. Auch Mentzos unterscheidet zwei »besondere Variationen von Depression« (Mentzos 1982:189), die er vom klassischen Muster des depressiven Modus unterscheidet. Die eine Variation sei gekennzeichnet durch passive PatientInnen, bei denen Ich-Hemmung und Rückzug, Aggression und Autoaggression sowie die Introjektion des ambivalenten Objekts eine geringere Rolle spielten. Vielmehr seien diese Depressiven, die ihn an René Spitz’ Konzept der (1960) anaklitischen Depression bei Säuglingen erinnern, erkennbar durch passive Anhänglichkeit, Weinerlichkeit und Hilflosigkeit. Wie Blatt (1974, 2004)

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vermutet auch Mentzos (1982) bei dieser Depressionsform eine Regression auf eine frühe symbiotische Phase. Diese deute auf eine Fixierung bzw. Sollbruchstelle in der frühen Phase der Entwicklung hin. Sie verweise auf eine nicht geglückte Selbst-Objekt Differenzierung in der frühen Mutter-Kind Beziehung. Wie bereits Margaret Mahler (1978) deutlich gemacht habe, stünden viele depressive Zustände mit einem unglücklichen Verlauf in dieser durch die Bedeutung der Mutter dominierten Phase in Zusammenhang (Mentzos 1982). Eine andere Variation ließe sich bei PatientInnen in narzisstischen Krisen beobachten. Am deutlichsten sei diese narzisstische Form erkennbar an Personen, die im Rahmen einer narzisstischen Krise einen Suizidversuch unternehmen. Nicht Auto-Aggression sei hier die Motivation für den Selbsttötungsversuch, sondern eine aktive Vorwegnahme einer gefürchteten Katastrophe in Erwartung von Rettung. Erwartet werde eine Vereinigung mit dem Universum (vgl. Communion) in einer Welt jenseits von Kränkungen und Verlusten.11 Die Depressionsformen, die Arieti und Bemporad (1983) voneinander abgrenzen, sind für dieses Thema besonders relevant, weil diese Autoren sich als Einzige ausführlich mit den Geschlechterkonnotationen ihrer Operationalisierungen befassen. In ihrem Buch »Depression. Krankheitsbild, Entstehung, Dynamik und psychotherapeutische Behandlung« betonen die Autoren explizit den Einfluss von Geschlecht auf eine von ihnen definierte »dominant other« vs. »dominant goal« orientierte Depression. Aus interpersonaler theoretischer Perspektive unterscheiden auch sie Depressionen in zwei Typen. Sie grenzen dabei einen »dominant other« orientierten Depressionstyp,

11 Diese in ihren Beschreibungen eher als »weiblich« kodierten Variationen grenzt Mentzos von einer klassischen Definition des depressiven Modus ab. In diesem betont er mit Freud (1917) die Rolle von Aggression und Autoaggression. Ein Objektverlust wird zum Anlass dieser Depressionsentwicklung, in dem eine oral-fixierte Person Verlust durch massive Introjektion des Objekts kompensiert. Dabei stelle die Introjektion eine »relativ unreife« Form der Internalisierung dar. Anders als eine Identifikation in der gelungenen Trauerarbeit, führe die »primitive und undifferenzierte« Introjektion nicht zu einer Erleichterung oder Lösung, sondern im Gegenteil zu größeren Schwierigkeiten. Dies liege daran, dass es sich bei dem Introjekt um ein ambivalentes, also sowohl ein gehasstes als auch geliebtes Objekt handele.

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(»dominant Anderen«, dt. Beutel et al. 2004:2), der in »kindlicher, fordernder Abhängigkeit von Beziehungen verharrt« (Beutel et al. 2004:2) von einem »dominant goal« orientiertem Typ (dt. »dominantes Ziel«, Beutel et al. 2004:2), dessen depressive Thematik um Leistung und Schuld kreist. Eine Person, die für eine »dominant other« Depression empfänglich ist, ist stark von der Bestätigung durch Andere abhängig, ihr Selbstwert und Lebenssinn hängt von der Befriedigung durch den Anderen ab. Anklammerndes Verhalten, Passivität und manipulatives Verhalten sowie ein Vermeiden von Konflikten und Wut seien für die Beziehungen dieser Personen charakteristisch. Wie Blatts anaklitische Depression wird auch dieser Depressionstyp durch den Verlust eines wichtigen Anderen ausgelöst, durch Trennung von einer wichtigen Bezugsperson (Arieti & Bemporad 1983, Blatt 2004). Eine Person mit einer »dominant goal« Ausrichtung ist hingegen – wie Blatts introjektiver Typ – besonders leistungsorientiert, die Depression hängt vom Erreichen bestimmter Ziele ab, häufig im Bereich der Karriere und Selbstverwirklichung (Arieti & Bemporad 1983, Blatt 2004).12 Arieti (1983) betont, dass psychiatrische Konditionen mehrfach bestimmt sind. So könne im Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter sozialer Faktoren der entscheidende Grund dafür liegen, ob pathogene Muster erworben werden oder ob sie vermieden werden können. Besonders für Frauen existierten jedoch belastende soziale Faktoren, die das Depressionsrisiko erhöhen könnten: »Ich finde es durchaus einleuchtend, daß die meisten wichtigen psychodynamischen Muster, die zur Depression führen [...] aus soziokulturellen Gründen mit größerer Wahrscheinlichkeit bei Frauen anzutreffen sind.« (Arieti 1983:454). Das psychodynamische Risikomuster, das Arieti – gesellschaftlich bedingt – als besonders relevant für Frauen betrachtet, ist gekennzeichnet durch eine »willfährige Haltung« gegenüber einer dominan-

12 Arieti und Bemporad (1983) beschreiben zudem eine weniger stark beachtete dritte Depressionsform, in der die Depression konstanter Teil der Persönlichkeit ist. Diese Personen fühlen sich chronisch leer und hoffnungslos, haben Schwierigkeiten intime Beziehungen einzugehen und aktiv am alltäglichen Geschehen teil zu nehmen. Oftmals neigen diese Person mit schweren Depressionen dazu, sich lebenslang um die Bedürfnisse anderer zu kümmern, und ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen.

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ten Bezugsperson, im Anschluss an frühe Verlusterfahrungen. Diese von ihm als weiblich definierte Haltung stelle eine Orientierung des ganzen Lebens auf eine dominante Bezugsperson dar oder auf Beifall und Befriedigung von Seiten der Bezugsperson; sie sei gekennzeichnet durch eine Abhängigkeit und Ausrichtung auf das dominante Ziel der romantischen Liebe. Im Fall der weiblichen Depression greifen hierbei spezifische Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind Interaktion mit sozialen Positionierungen von Frauen in einer androzentristischen Geschlechterordnung ineinander: »In einer patriarchalischen Gesellschaft verdrängt die Frau häufig den Kummer, den Zorn und die Enttäuschung, die ihre untergeordnete Stellung mit sich bringen. Diese Verdrängung führt nun aber im günstigsten Fall zur neurotischen Abwehr, im ungünstigsten Fall fördert sie die Entstehung ernsthafter seelischer Störungen, insbesondere der Depression. Auch wenn wir die allerersten Anfänge des Musters weiblicher Abhängigkeit in die ersten zwei oder drei Lebensjahre zurückverfolgen können, so kann man dennoch sagen, daß dieses Muster in vielen Fällen nicht weiterbestehen und keine so festen Wurzeln schlagen könnte, wenn die Gesellschaft insgesamt es nicht fördern würde.« (Arieti 1983:456)

Weiblichkeit werde gesellschaftlich mit Abhängigkeit gleichgesetzt, was sich wiederum ungünstig mit spezifischen weiblichen Erfahrungen in der Kindheit verbinde und im ungünstigen Fall zur Entstehung depressiver Störungen beitragen könne. Dem Mann käme gesellschaftlich die Rolle zu »als starke Stütze« für die Hilflosigkeit der Partnerin zu wirken. So fördere der Mann diese Hilflosigkeit und bringe sie mit hervor. Ähnlich wie Nolen-Hoeksema (1999) argumentiert Arieti (1983) hinsichtlich des größeren Depressionsrisikos von Frauen für ein Ineinandergreifen von Persönlichkeit und Gesellschaft. So mache eine reale abhängigere und untergeordnete Stellung Frauen anfälliger für Depressionen. Diese Abhängigkeit sei auch der Grund, weshalb Frauen sich selbst schlechter helfen könnten und gegenüber bestimmten Lebensereignissen verletzlicher seien als Männer. Diese Ereignisse könnten so zum auslösenden Faktor einer pathologischen Entwicklung werden. Im Gegensatz dazu werde ein Mensch, der sich auf die eigenen inneren Möglichkeiten und Fähigkeiten verlasse, von ungünstigen Umständen weniger stark getroffen.

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Arieti (1983) verweist, wie Blatt (2004), auch auf die frühe Kindheit, speziell auf die Mutterbeziehung, um den Befund der größeren Abhängigkeit von Frauen zu erklären. Sowohl Töchter als auch Söhne müssten die Erfahrung eines frühen Verlustes machen. Gleichwohl sei die Beziehung von Tochter und Mutter eine besondere, denn die Mutter erziehe besonders ihre Töchter, nicht aber ihre Söhne, zur Erfüllung eben jener Beziehungspflichten, die in der Folge zur Depression führen könnten (Arieti 1983, Chodorow 1978). Die Abhängigkeit von anderen wichtigen Bezugspersonen werde von Müttern besonders an Töchter tradiert und diese geschlechtlich einseitigen transgenerativen Prozesse würden darüber hinaus noch gesellschaftlich verstärkt. Die Frage, inwiefern das Geschlecht des Mädchens innerhalb der Familendynamik zu größerer Abhängigkeit und Beziehungsorientierung führt, wird im nächsten Kapitel ausführlich diskutiert. Arieti räumt ein, dass auch Frauen dominante Ziele verfolgten, auch auf sie treffe also eine »goal orientation« zu. Öfter als bei Männern handele es sich hier aber weniger um identitätsstiftende Ziele oder berufliche Ambitionen, sondern traditionell häufiger um interpersonale Beziehungsziele, wie z.B. das Ideal romantischer Liebe. Dieses Ideal sei aber im Begriff, sich aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen im Geschlechterverhältnis zu ändern: »Bei Männern hat die Depression, die durch die Erkenntnis ausgelöst wird, daß ein dominantes Ziel nicht erreicht worden ist, in aller Regel mit dem beruflichen Werdegang zu tun. Da heute immer mehr Frauen sich vom traditionellen Zielen ab- und dem Ziel einer beruflichen Karriere zu wenden, läßt sich wohl voraussagen, daß in Zukunft immer mehr Frauen auch in diesem Bereich enttäuscht sein werden, vor allem wenn die Diskriminierung der berufstätigen Frauen weiter anhält.« (Arieti 1983:457)

In Arietis Prognose von 1983, wird eine gesellschaftliche Entwicklung vorweggenommen, die durch Blatts Forschungsergebnisse gestützt wird. Arieti nimmt mit seinen Vermutungen die Befunde von Blatt vorweg, nach denen eine zunehmende Orientierung von Frauen an instrumentellen Rollenzuschreibungen sie für introjektive Depressionsentwicklungen ebenso empfänglich macht wie Männer. Blatts Ergebnisse belegen, dass Frauen zwar öfter unter einer anaklitischen Depression leiden, aber ebenso oft wie Männer auch unter einem introjektiven Depressionstyp (Blatt 2004). Frauen scheinen heute daher in dop-

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pelter Hinsicht verletzlich für Depressionen. Während introjektiv depressive Frauen in ähnlicher Weise wie Männer mit Identitätszielen und einem kritischen Über-Ich kämpfen, sind sie trotzdem weiterhin stärker von interpersonalen Risiken betroffen als Männer. Und noch in einer anderen Hinsicht sind heterosexuelle verheiratete Frauen nach Arieti doppelt gefährdet: »Manche Frauen sind doppelt gefährdet. Sie verbinden sich durch ihre Heirat mit einer männlichen dominanten Bezugsperson und fühlen sich nicht nur dann unerfüllt, wenn sie selbst ihr dominantes Ziel nicht erreichen, sondern auch dann, wenn dies ihrem Ehemann nicht gelingt. Ob die verheiratete Frau glücklich ist, hängt leider noch immer davon ab, ob ihr Mann sich erfüllt und zufrieden fühlt: für den Mann gilt dies längst nicht in gleichem Maße.« (Arieti 1983:457)

2.3 Ein integratives Modell der Depression In »Some Subtypes of Depression, their interrelations and implications for psychoanalytic treatment« stellt Hugo Bleichmar (2003) schließlich ein integratives Modell der Depression vor, das zentrale psychoanalytische Depressionstheorien aufeinander bezieht und integriert. Sein komplexes Depressionsmodell grenzt Theorien der Depression voneinander ab und setzt sie gleichzeitig in einem übergreifenden Modell zueinander in Beziehung. In seinem Modell wird noch einmal deutlich, dass eine Depression sich häufig nicht allein auf der Basis des verinnerlichten Verlustes einer geliebten Person entwickelt, sondern dass oftmals eine äußere belastende Realität mit inneren Faktoren interagiert. Bleichmars Darstellung erlaubt einen übersichtlichen Bogen über die historischen Depressionstheorien seit Freud und verweist schließlich wieder zurück auf die von Blatt (2004) operationalisierte Trennung in anaklitische und introjektive Depressionen. In Anlehnung an Freud sieht auch Bleichmar (2003) in der Depression eine Reaktion auf einen realen oder drohenden Objekt-Verlust, der mit einem starken Wunsch einhergeht, das Objekt nicht zu verlieren. Der Verlust des Objekts wird sowohl von einem intensiven Begehren nach dem Objekt begleitet als auch von der Repräsentation, dass dieses Begehren unerfüllbar ist. Dabei kann sich der Wunsch und das Begehren, wie bei Blatt, auf Bindungswünsche und Sicherheitsbedürfnisse richten oder sich auf narzisstische Vorstellungen der Omni-

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potenz, Grandiosität und Identifikation mit einem idealen Selbst beziehen. Auch Bleichmar sortiert die Wünsche in der Depression implizit nach einem introjektiven und anaklitischen Begehren. Das Begehren richtet sich nach Identität, Autonomie, Agency und Kontrolle oder geht einher mit interpersonalen Wünschen nach Bezogenheit, Sicherheit und Harmonie mit Anderen. Joffe und Sandler (1965) folgend, charakterisiert er die Depression als einen unerfüllten Wunschzustand, als Mangelzustand, in dem der Idealzustand versagt bleibt. Das (verlorene, narzisstisch besetzte) Objekt wird dabei als das erlebt, was Glück und Erfüllung verspricht. Der depressive Zustand ist eine Fixierung auf diesen als unerfüllbar erlebten Wunsch. Depression entsteht durch die Kombination mit der Vorstellung eigener Hilflosigkeit, die darin besteht, diesen Idealzustand nicht durch eigene Kraft erreichen zu können (Joffe und Sandler 1965).13 Bleichmar (2003) definiert den depressiven Zustand demnach allgemein als Fixierung auf einen Wunsch, der als unerfüllbar wahrgenommen wird und einen zentralen Platz in der Innenwelt des Patienten einnimmt, und der – gepaart mit einer Selbstrepräsentation als machtund hilflos – durch eine affektive und motivationale Kompenente gekennzeichnet ist: durch den depressiven, dysphorischen Affekt und die psychomotorische Hemmung. Bleichmar beschreibt verschiedene Wege, die in einen solchen depressiven Zustand führen können. Dabei geht er von unterschiedlichen Ursachen der Depression aus. Ein wichtiger Auslöser der Depression ist z.B. eine traumatische äußere Realität. Nach Bleichmar gibt es Situationen, in denen die äußere

13 Die im Kapitel A3. Frauen und Depression dargestellten empirischen Untersuchungen zur Verbindung von Depression mit niedrigem Selbstwert und geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sowie Hilflosigkeit, die vor allem das Risiko der Depression von Frauen erhöhen, greifen diese psychoanalytische Überlegungen implizit wieder auf. Zumeist orientieren diese Studien sich jedoch explizit an einem Modell der erlernten Hilflosigkeit von Abramson et al. (1978) ohne die psychoanalytischen Theorien von Bibring (1953), Freud (1917) oder Joffe und Sander (1965) zu rezipieren, in denen der Zustand der Hilflosigkeit und des verlorenen Selbstwertes bereits beschrieben ist. Der Psychoanalytiker Edward Bibring hat bereits 1953 darauf hingewiesen, dass Gefühle der Hilfs- und Machtlosigkeit eine zentrale Rolle in der Entstehung der Depression spielen.

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Realität so traumatisch wirken kann, dass sie ein Gefühl der Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht hervorbringt, das in die Depression führt. Dies könne durch verschiedene traumatische Situationen ausgelöst werden. Gewalterfahrungen, wie sie in Kapitel B besonders für Frauen als depressionsauslösend eingeführt werden (McGrath et al. 1994), fallen in diesen von Bleichmar (2003) definierten Bereich. Eine traumatischen Erfahrung reicht vom frühen Verlust einer Elternfigur oder der Erfahrung von späterer Gewalt bis zu einem kummulativen Trauma, das durch ein zeitlich überdauerndes traumatisierendes Ausgeliefertsein gekennzeichnet sein kann. Auch schwere Krankheit oder anderen Vorkommnisse, die die eigene Identität oder den Selbstwert bedrohen, schließt er in die Definition der traumatischen äußeren Realität ein. Traumatische Beeinträchtigungen des Selbstwerts, der Selbstwirksamkeit (Agency) und der Beziehung zu nahen Bezugspersonen können Personen für spätere Depressionen verletzlich machen. In der traumatischen Genese einer Depression liegt ein wichtiger Erklärungsfaktor für das häufigere Entstehen von Depression bei Frauen, die häufiger als Männer Opfer traumatischer sexueller oder körperlicher Gewalt werden. Chronifizierte Depressionen sind immerhin die häufigste Langzeitfolge von traumatisierenden Gewalterfahrungen. Der Umgang mit traumatischen Erfahrungen und Depression kann jedoch sehr unterschiedlich verlaufen. Eine Person kann auf eine traumatische äußere Realität direkt mit erlebter Hilflosigkeit reagieren oder aber indirekt mit einer Abwehr von Ohnmacht, z.B. durch eine phobische Vermeidung interpersonaler Kontakte und Bindungswünsche, die dann dazu beiträgt, dass positive Lernerfahrungen vermieden werden, die als stützende soziale Beziehungsmöglichkeiten und Ich-Ressourcen wirken könnten. Eine auf diese Art »narzisstisch abgewehrte« Depression ist nach Bleichmar (2003) durch Vorstellungen von Grandiosität und Omnipotenz charakterisiert, die eine Abwehr eigener Ängste und Schamgefühle darstellen. Die Depression tritt dann hervor, wenn diese brüchige Abwehr zusammenbricht und an ihrer Stelle keine anderen Mechanismen zur Selbstsorge vorgenommen werden können. Die Darstellung der narzisstischen Depression erinnert an die Schilderungen eines »männlichen« Umgangs mit Depressionen, in der depressive Ängste und Symptome durch Risikoverhalten und Externalisierungen abgewehrt werden müssen (vgl. Deserno 1999). Als zweiten depressionergen Faktor verhandelt Bleichmar (2003) die Rolle der Aggression: In der psychoanalytischen Literatur existiert eine Kontroverse um die Bedeutung der Aggression in der Depression.

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Klein (1935, 1940) betrachte die Aggression als zentralen Faktor und Auslöser jeder Depression, während beispielsweise Bibring (1953) sie nur in manchen Fällen der Depression als präsent ansieht und stattdessen einen Mangel an Selbstwert als zentral betrachtet (Bleichmar 2003). Kohut (1977) sieht die Aggression nur in der Abwehr als bedeutsam an. Sie sei in der Depression nur ein sekundäres Phänomen, wenn durch das wahrgenommene Scheitern des Objekts narzisstische Wut und Schmerz ausgelöst würden. Im Melancholiemodell Freuds (1917) wird die Bedeutung der Aggression auf das verlorene Objekt bereits eingeführt, denn mit der Internalisierung des Objekts wird auch die Aggression auf das Objekt nach innen gewendet und findet sich dort in Form von Selbstablehnung und Schuldgefühlen. Bleichmar (2003) erkennt diesen Konflikt zwischen internalisierter Aggression und daraus folgenden Schuldgefühlen an, betont aber, dass Aggression nicht in jeder Depression als fundamentaler Faktor vorkommen muss. Anders als Klein (1935, 1940) oder auch Karl Abraham (1923), die Aggression gegen das mütterliche Objekt als wichtigsten Auslöser für Depressionen betrachten, führt Bleichmar verschiedene ursächliche Faktoren an (Bleichmar 2006).14 Schließlich betrachtet Bleichmar (2003) auch die Identifizierung mit depressiven Eltern als wichtigen Faktor in der Depression. Bleichmar verweist auf Anna Freud, die bereits 1965 warnt, dass ein Kind depressiver Eltern, um sich in Einklang mit der Mutter fühlen zu können, in sich selbst die depressive Stimmung der Mutter herstelle. Diese Annahme nimmt eine wichtige Erkenntnis der modernen Bindungsforschung zu Depression vorweg, nach der sich Säuglinge der Stimmung der wichtigsten Bezugsperson anpassen. Der transgenerationalen Tradierung von Depressionen kommt eine bedeutende Rolle in der Weitergabe der Depression zu. Dass hierbei aber auch dem Geschlecht des Kindes eine entscheidende Funktion zukommt, wird in den nächsten Kapiteln betrachtet. Bleichmar schlägt aufgrund der unterschiedlichen möglichen Genesen von Depressionen vor, diese nicht als eine »closed category« (Bleichmar 1996:947) zu betrachten sondern ein integratives Modell zu verfolgen, in dem die Depression als multifaktoriell augelöst be-

14 Kristeva (1987) beschreibt eine nach innen gewendete Aggression gegen die Mutter geschlechtsspezifisch als depressiven Mechanismus, der die höhere Depressionspräsenz besonders bei Frauen erklärt.

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trachtet wird und in dem differenzierte therapeutische Zugänge zur Depression möglich werden. Zwar würde Freuds »Schulddepression« in der psychoanalytischen Literatur oftmals als der Prototyp der Depression betrachtet, sie sei aber nur eine Form der Depression, was eine multidimensionale Herangehensweise erforderlich mache (Bleichmar 2003). Bleichmars Modell zeigt auf, wie externe Faktoren, z.B. eine traumatische äußere Realität und interne Faktoren, wie erlebte Hilflosigkeit und Ohnmacht interagieren, wobei in seinem Depressionsmodell der Wunsch und das Begehren immer im Zentrum stehen (Gullestad 2003). Der Verlust, auf den sich der depressive Wunsch bezieht, kann, wie hier bereits ausgeführt wurde, in jedem Stadium der Entwicklung stattfinden. Gullestad (2003) charakterisiert in einem Kommentar zu Bleichmar besonders eindrücklich den frühen Verlust, der auch der anaklitischen Depression zugrunde liegt (Blatt 2004). Dieser frühe Verlust bezieht sich nicht auf ein vom Subjekt differenziertes Objekt sondern, im Sinne Kristevas (1987), auf eine Prä-Objekt Phase. In dieser Entwicklungsphase, die vor der Fähigkeit zur Subjekt-ObjektDifferenzierung liegt, ist das Objekt einem »Ding« gleich (Kristeva 1987). Dieses Ding sei dadurch charakterisiert, dass es noch nicht als Objekt repräsentiert sei, dass es also einer Symbolisierung durch Sprache noch nicht zugänglich gemacht werden könne. Verlust in diesem frühen Zeitraum der Entwicklung kann nicht symbolisiert und daher auch nicht betrauert werden. Gullestad betont Freud (1917) folgend, dass es eben diese »Unfähigkeit zu trauern« sei (Mitscherlich & Mitscherlich 1967), die den frühen Verlust zur Depression werden läßt. Eine mangelnde Objektkonstanz beeinträchtigt die Fähigkeiten zu trauern, Ambivalenz zu ertragen und eine für die Trauer notwendige optimale Distanz zu wahren (Akthar 1997). Ein unbetrauerbarer Verlust, wie er in dieser Entwicklungsstufe entsteht, kann daher eine Depression nach sich ziehen, die von anderer Qualität ist, als die Schuldoder introjektive Depression. Auch André Green (1993, 2004) verweist auf eine solche »frühe« Depression. Er spricht von einer »weißen Depression«, die nicht durch Gefühle der Trauer oder Niedergeschlagenheit, sondern durch Abwesenheit charakterisiert ist. Green versteht eine solche Depression als Manifestation einer Leere, als »psychische Löcher« im Unbewussten, die mit der Verinnerlichung einer »toten« depressiven Mutter einhergehen (Green 1993). Die Leere ist Ausdruck einer früh »verlorenen

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Liebe«, die durch einen Besetzungsabzug vom Primärobjekt in der sich noch entwickelnden psychischen Struktur des Kleinkindes entsteht (Green 1993: 233). Die Leblosigkeit und der Mangel an affektiver Spiegelung entstehen durch eine zwar äußerlich anwesende, aber innerlich abwesende depressive Mutter (Green 1993). Das Kind, das unter der affektiven Regungslosigkeit und Depressivität der Mutter leidet, verinnerlicht eine »tote Mutter«, es identifiziert sich mit der mütterlichen Depressivität und entwickelt in sich selbst eine »geliehene« Depression (Will 2008:80). Es ist eine inkorporierte depressive Struktur, die sich später im Leben – auch wenn nicht manifest – auf die nahen Liebesbeziehungen auswirken kann. Im Kind entsteht eine »weiße Trauer«, in der Verlust und Mangel nicht symbolisiert und nicht betrauert werden können. Die »gefrorene Liebe« schreibt sich in den Körper ein, in dem das nicht verfügbare Objekt eine »kannibalistische Konservierung« erfährt (Green 1993:215). In der Bindungstheorie von Fonagy und Taget (2003) wird ein solcher früher Verlust als ein nicht-mentalisierbarer Affektzustand – als ein Fehlen von »mental agency« beschrieben. »Mental agency« beschreibt die wichtige universelle Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit (Fonagy et al. 2002). Die Erfahrung des Ichs als selbstwirksam, als in der Lage, andere Menschen und Ereignisse zu beeinflussen, sich als Verursacher von Ereignissen zu erleben, diese Erfahrung »of making a diffference« gilt in der Bindungsforschung als zentrale und wichtige Entwicklungserfahrung (Gullestad 2003:127). Eine Depression ist hier nicht nur eine Beeinträchtigung der Stimmung, sondern sie ist insbesondere eine Beeinträchtigung des Erlebens von mental agency. Der Begriff der Agency schließt wiederum an den für diese Arbeit zentralen Begriff der Instrumentalität an, der als Schutzfaktor für die Depression betrachtet wird und der in der Geschlechtsrollenforschung explizit männlich kodiert ist. Anschließend an die Studien zu Depression und Geschlechtsrollenorientierung ist nun zu fragen, warum die Entwicklung von Agency bzw. Instrumentalität bei Frauen weniger ausgeprägt ist und auf welchen frühen Verluste eine solche »weibliche« Entwicklungseinschränkung beruhen könnte. Mit diesen schulenübergreifenden Verweisen auf frühe unbetrauerbare – nicht mentalisierbare – Verluste schließen diese Ausführungen wieder an Freuds (1917) »Melancholie und Trauer« und den Beginn dieses Kapitels an. Im Folgenden wird nun, nach einer Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen, insbeson-

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dere die Entwicklung der weiblichen Geschlechtsidentität in dem hier eingeführten Zusammenhang zu frühen unbetrauerbaren Verlusten diskutiert. 2.4 Psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression Morris Eagle (1988) stellt Unterschiede zwischen psychoanalytischen Schulen, speziell zwischen Freud’scher Triebtheorie und einer an der Bindungsforschung orientierten Objektbeziehungstheorie, gegenüber. Er identifiziert einen dichotomen Konflikt zwischen der Bedeutung der ersten primären Objektbeziehungsliebe und der Bedeutung der Selbstliebe. In der klassischen Psychoanalyse nach Freud werde der Trieb als primär gesetzt, während die Objektbeziehungen als sekundär betrachtet würden, d.h. Objekte seien nur Mittel zum Zweck der Erfüllung und Durchsetzung der Triebbedürfnisse, auf sie richte sich das Begehren, sie selbst hätten jedoch keines. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf das Modell der anaklitischen Depression nach Spitz (1960), das sich trotz der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse, die durch Spitzs Pionier-Untersuchungen über die Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung entwickelt wurden, eng an den Rahmen der Freud’schen Triebtheorie halte. So beschreibe Spitz die Wirkung einer frühen Trennung von der Mutter als Folge des Verlustes des Liebesobjekts. Die Trennung sei nach Spitz aber besonders deswegen von Bedeutung, weil sie die Abfuhr sowohl libidinöser als auch aggressiver Triebe unterbreche. Nicht der Verlust des Objektes selbst wird hier betont, sondern die verlorenen Möglichkeiten der Triebabfuhr und Befriedigungsmöglichkeiten. Eagly (1988) wiederum sieht hier einen Widerspruch zu modernen Konzeptionen von Objektliebe: »Aus dieser Perspektive sind Objekte und Objektbeziehungen in erster Line als Mittel und Werkzeuge zur Abfuhr libidinöser und aggressiver Triebe von Bedeutung. So gesehen haben sie in der Tat einen sekundären, abgeleiteten Status.« (Eagle 1988:11). ObjektbeziehungstheoretikerInnen betrachten Bindungs- und Abhängigkeitsbedürfnisse hingegen als primär und heben ihre eigenständige Bedeutung in der frühen Kindheit gegenüber autonomen Triebbedürfnissen hervor (Mentzos 2000). Heute wird in der psychoanalytischen Theorie oftmals von einer Interaktion von Triebbefürfnissen und Bindungs- und Abhängigkeitsbedürfnissen ausgegangen (Mentzos

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2000). Interessant sind solche innerpsychoanalytischen Konflikte um schulenspezifische Konzeptualisierungen aber in Zusammenhang mit der Fragestellung nach geschlechtlichen Codes und geschlechtlichen Hierarchisierungen in der psychoanalytischen Depressionstheorie. Im triebtheoretischen Ansatz wird der Trieb als Bedürfnisbefriedigung konzipiert, in der die Selbstliebe hierarchisch vor die Beziehungsbedürfnisse gesetzt wird, während die Bedeutung des Anderen gleichsam herabgesetzt scheint. In diesem Sinne ließe sich vermuten, ob hier nicht eine hierarchische Postulierung von Autonomie über Abhängigkeit vorgenommen wird, wie sie z.B. Gilligan (1996) kritisiert. Hier finden sich Konflikte zwischen der Bedeutung von Autonomie und Abhängigkeit im Schulenstreit der Psychoanalyse wieder. In diesem Zusammenhang ist ferner von Bedeutung, dass Freud den Trieb selbst als männlich und aktiv betrachtet, während er Weiblichkeit als passiv und beziehungsorientiert konzipiert: »Ja wüsste man den Begriffen ›männlich‹ und ›weiblich‹ einen bestimmten Inhalt zu geben, so ließe sich auch die Behauptung vertreten, die Libido sei regelmäßig und gesetzmäßiger männlicher Natur, ob sie nun beim Manne oder beim Weibe vorkomme und abgesehen von ihrem Objekt, mag dies der Mann oder das Weib sein.« (Freud GW V 1904/1905:120f)

Auch die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser, deren Kritik an psychoanalytischen Weiblichkeitskontruktionen im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt wird, verweist auf diese binären Geschlechtszuschreibungen in Freuds Triebmodell: »Hat sich die Mann-Frau-Polarität schließlich konstituiert, dann repräsentiert das Männliche für Freud Subjekthaftigkeit, Aktivität und den Besitz des Penis, während das Weibliche das Objekt und die Passivität fortsetzt.« (RohdeDachser 1989b:79). Dass der Trieb bei Freud als aktiv und männlich definiert ist, die Objekte jedoch als weiblich und passiv kodiert werden, steht in der Tradition geschlechtlicher Kodierungen, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickeln (Honegger 1991). Auch in die in diesem in diesem Kapitel diskutierten Depressionstheorien sind geschlechtliche Subtexte eingeschlossen, die sich zu diesen Kodierungen zurückverfolgen lassen. Sie durchziehen Vorstellungen über das Verhältnis von Abhängigkeit und Autonomie, beeinflussen die Bewertung von Objektbeziehung vs. Selbstzielen und zeigen sich in einer Konzeptualisierung des

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Triebes als männlich und aktiv in Abgrenzung zu einem passiv-weiblichen Objekt. Zusammenfassend werden hier noch einmal die zentralen Argumente in Bezug den Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht in psychoanalytischen Depressionstheorien auf den zwei unterschiedlichen Ebenen der Fragestellungen dargestellt: • Erstens erlauben inhaltlich orientierte psychoanalytische Differenzierungen von Depressionstypen, eher als symptomorientiertedeskriptive Beschreibungen, eine geschlechtsspezifische Betrachtung des unterschiedlichen Depressionsrisikos von Männern und Frauen und seiner Genese. Hier ist besonders die DEQ-Forschung anhand der Operationalisierungen in anaklitische und introjektive Depressionsdimensionen zu nennen (Blatt 2004). Ergebnisse dieser klinischen und empirischen Forschung sind für die geschlechtsspezifische Frage nach männlichen und weiblichen Risikofaktoren besonders relevant. Der Befund, dass Frauen eine größere Empfänglichkeit für anaklitische Depressionen aufweisen als Männer, dass sie aber ein ebenso hohes Risiko für introjektive Depressionen zeigen, wurde hier in Bezug auf die These einer Doppelbelastung von Frauen diskutiert. • Zweitens erlaubt die Betrachtung der Konzeptualisierungen geschlechtlich unterschiedlich kodierter Depressionstypen in der psychoanalytischen Theorie und klinischen Praxis eine Verbindung zur nun folgenden Theorie der Geschlechtsidentitätsentwicklung. Insbesondere anhand geschlechtlicher Kodierungen der frühen kindlichen Entwicklung und der frühen Mutter-Tochter Beziehung lassen sich Zusammenhänge zu einem geschlechtlichen Subtext der Wissensproduktion über Depression herstellen. Geschlechtliche Kodierungen des psychoanalytischen Wissens wurden in Bezug auf strukturellhierarchische Einordnung der dargestellten Depressionstypen in eine früher gestörte »weiblich« kodierte Depressionsform und eine später gestörte »männlich« kodierte Depressionsform diskutiert. Diese Betrachtung wird im folgenden Kapitel aufgegriffen und weiter entwickelt. Im nächsten Kapitel wird ein Zusammenhang zwischen der Entstehung »früher« nicht symbolisierbarer Depressionsformen und der Entwicklung der Geschlechtsidentität beim Mädchen herausgearbeitet. Denn diese verläuft unter besonderen Schwierigkeiten in der frühen präödipalen Beziehung zum gleichgeschlechtlichen ersten Liebesobjekt der Mutter.

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3. P SYCHOANALYTISCHE M ODELLE DER G ESCHLECHTSIDENTITÄT Die Psychoanalytiker sehen diesen ersten Augenblick – der im übrigen nicht sichtbar ist – nicht. Foetale Situation oder foetale Regression, sagen sie, über die es nicht viel zu sagen gibt. Ein glattes Verbot. Es gäbe dort die Gefahr der Verschmelzung, des Todes, des tödlichen Schlafs, wenn der Vater nicht dieses zu enge Band mit der Ur-Matrix zerschneiden würde: indem er an deren Stelle die Matrix seiner Sprache setzt? Aber die Ausschließlichkeit seines Gesetzes schließt den ersten Körper, die erste Behausung, diese erste Liebe aus. Sie opfert sie, um daraus Stoff für das Imperium der Sprache zu machen, die das männliche Geschlecht so stark privilegiert, daß sie es mit dem menschlichen Geschlecht verwechselt. Luce Irigaray (1989)

Freud (1926) erzählt die Entwicklung des Mädchens zur Frau als eine Geschichte von Verlust, Neid und Unvollständigkeit. Während spätere psychoanalytische Theorien auch die Entwicklung des Jungen als eine von Verlusten und Entbehrungen gekennzeichnete beschreiben, ist der Junge bei Freud nicht auf der Verliererseite. Zwar ist auch er einem ödipalen Verbot unterworfen, aber seine Entwicklung zum Mann verläuft, dank seiner Ausstattung mit dem begehrten Objekt Penis, geradliniger und unkomplizierter als die des Mädchens. Während der Junge bei Freud den Verlust des Penis nur fürchtet, hat das Mädchen ihn immer schon verloren. Im Folgenden wird zunächst die klassische Theorie der Geschlechtsentwicklung nach Freud (1925) skizziert. Im Anschluss daran werden psychoanalytische Kritik und Weiterentwicklungen der Freudschen Geschlechtstheorie dargestellt und diskutiert, die wiederum in Zusammenhang mit der Entwicklung von geschlechtlich kodierten Depressionen betrachtet werden. Hierfür erfolgt zunächst eine kurze Darstellung feministischer Revisionen von Freuds Weiblichkeitstheorie durch Nancy Chodorow (1978) und Carol Gilligan (1996). Bezug-

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nehmend auf eine Arbeit von Christa Rohde-Dachser (1989) wird diese feministisch-objekttheoretische Perspektive ebenso wie die Sichtweise Freuds, auf unbewusste Phantasien und geschlechtliche Zuschreibungen untersucht. Ausgehend von der Überlegung, dass die Anerkennung der Geschlechtsdifferenz bei Mädchen und Jungen Kränkungen und Verlusterfahrungen nach sich zieht, vornehmlich etwa die Kränkung, nur ein Geschlecht sein zu können, werden psychoanalytische Entwicklungstheorien von Irene Fast (1991) und Melanie Klein (1932) diskutiert. Abschließend wird Judith Butlers (1995) These von Geschlecht als unbetrauerbarem Verlust auf die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht und auf einen geschlechtsspezifischen Kontext von Depression, Weiblichkeit und ambivalenter Mutter-Tochter-Bindung (Jay 2005) angewendet. 3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität nach Freud Nach Freud (1904/1905, 1925, 1931, 1933) sind Jungen und Mädchen von Geburt an und bis zu dem Bewusstwerden der Geschlechterdifferenz »männlich«. Männlichkeit wird dabei als aktiver, Weiblichkeit als passiver Pol verstanden. Auch das kleine Mädchen betrachtet er zunächst als »kleiner Mann« (Freud 1933a). Sie verfügt über eine als männlich kodierte Klitoris, das Pendant zum Penis des Jungen. Ihre libidinöse Orientierung ist männlich, d.h. aktiv ausgerichtet und die passiv kodierte Vagina ist ihr noch unbekannt. Das Mädchen richtet sein sexuelles Interesse auf die Klitoris, die es aktiv, wie der Junge den Penis, zur Befriedigung nutzt. In der Pubertät soll das Mädchen im Zuge der weiblichen Entwicklung die klitorale (aktiv-männliche) Sexualität aufgeben und in passiv-weiblicher Weise auf die Vagina verlegen. Die sexuelle Konstitution des Mädchens wird auch dadurch erschwert, dass Trieb und Begehren von Freud als aktiv und Aktivität als männlich gedacht werden. Das Mädchen begehrt zunächst, wie der Junge, die Mutter als erstes Liebesobjekt. Auf Grundlage der »männlichen« Basis muss das Mädchen nun aber ihre Weiblichkeit entwickeln und sich von der Mutter abwenden. Dies ist keine leichte Aufgabe, wie im Anschluss an Freud noch zahlreiche Ansätze konstatieren werden (Klein 1932, Irigaray 1980, Kristeva 2001): denn der »Ödipuskomplex des Mädchens birgt ein Problem mehr als der des Knaben« (Freud GW XIV 1925:

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22), nämlich einen Objektwechsel vom ersten gleichgeschlechtlichen Liebesobjekt hin zum Vater. Dabei muss das Mädchen die vorangegangene »männliche« Positionierung überwinden, ein Prozess, der mit der folgenschweren Entdeckung ihrer »unzureichenden« Anatomie einsetzt. Das Mädchen in Freuds Sexualtheorie vergleicht sich mit dem Jungen und fühlt sich wegen des fehlenden Penis im Nachteil. »Die Anatomie ist Schicksal, um ein Wort Napoleons zu variieren. Die Klitoris des Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein Penis, aber das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem männlichen Gespielen wahr, dass es ›zu kurz gekommen‹ ist, und empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur Minderwertigkeit.« (Freud GW III 1924:400)

Freud nimmt an, dass das Mädchen durch den Anblick des Penis des männlichen Anderen sofort bereit ist, anzuerkennen, dass sie keinen Penis hat und in der Folge in Penisneid verfällt: »Sie ist im Nu fertig mit ihrem Urteil und ihrem Entschluß. Sie hat es gesehen, weiß, daß sie es nicht hat, und will es haben.« (Freud GW XIV 1925:24). Mit der Entdeckung des Geschlechtsunterschieds und ihrer Penislosigkeit beginnt für das enttäuschte Mädchen der Weg in die als passiv kodierte Weiblichkeit. Freud sieht in der anatomischen Geschlechtsdifferenz die Ursache dafür, dass sich das Mädchen von der Mutter, die es nicht mit dem begehrten Objekt Penis ausgestattet hat und die selbst keinen hat, ab- und dem Vater zuwendet. Dabei setzt er in seiner Theorie Männlichkeit implizit als Norm und beschreibt geschlechtliche Differenz als weibliche Abweichung von einer unhinterfragten männlichen (Phallus-)Norm.15 Das Mädchen erlebt sich nach Freud als unvollständig, als von der Mutter fehlerhaft ausgestattet. Die Mutter erscheint dem Mädchen in der Folge im Angesicht der phallischen Übermacht als ebenso unvollständig. Schuld an der Unvollständigkeit, Wertlosigkeit und Kastration des Mädchens ist die Mutter, die sie nicht mit einem Penis ausgestattet hat. Sie wendet sich gekränkt von ihr ab und stattdessen hin zum Vater, von dem sie sich, um sich narzisstisch wieder zu vervollständigen, einen Penis erhofft: »In solcher Weise drängt die Erkenntnis des anatomischen Geschlechtsunterschieds das kleine Mädchen von der Männlichkeit und

15 Carol Gilligan (1996) wird später kritisieren, dass Freud hier aus einem Theorieproblem, nämlich der Frage, warum das Mädchen sich überhaupt von der Mutter abwendet, ein Problem der weiblichen Entwicklung macht.

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von der männlichen Onanie weg in neue Bahnen, die zur Entfaltung der Weiblichkeit führen.« (Freud GW XIV 1925:27). Bei Freud (1925) ist die Erkenntnis des Mädchens, nicht mit einem Penis ausgestattet zu sein, eine tiefgreifende Verlusterfahrung, eine »schicksalshafte« Kastrationserfahrung, in deren Folge das Mädchen sich zur Frau mit einer passiven weiblichen Orientierung entwickeln wird. Enttäuscht und unzufrieden mit ihrem Liebesorgan gibt das Mädchen die klitorale Selbstbefriedigung auf, wobei es von einem aktiven männlichen Modus in einen passiven, weiblichen Modus übertritt. Von der Mutter enttäuscht, schwächt sich das homosexuelle Begehren nach der Mutter ab und wird durch eine heterosexuelle Hinwendung zum Vater ersetzt, in dem Versuch, von diesem doch noch mit einem Penis ausgestattet zu werden und schließlich im Wunsch nach der Zeugung eines Sohnes, der die eigene Unvollständigkeit korrigieren soll: »Das Mädchen gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären.« (Freud GW XIII 1924:401). Der Vater steht (symbolisch) für die Erreichung der Heterosexualität des Mädchens und nur durch ihn kann der Penisneid des Mädchens überwunden werden. In Folge der weiblichen Entwicklung ist auch die Sublimierungsfähigkeit der Frau eingeschränkt. Freud unterstellt dem Mädchen, dass es als Folge des anatomischen Geschlechtsunterschieds ein weniger ausgeprägtes Über-Ich entwickelt. Dass Mädchen ist – weil bereits kastriert – weniger empfänglich für die Kastrationsangst, die dem Über-Ich im Ödipuskomplex die Macht sichert. Denn anders als der Junge, der im Besitz des Penis ist und sich vor der Vollziehung der Kastration fürchtet, akzeptiert das Mädchen die Kastration als bereits vollzogene Tatsache. »Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch ein mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und zum Abbruch der infantilen Genitalorganisation.« (Freud GW XIII 1924:401). Das Mädchen entwickelt in der Folge ein geringer ausgebildetes Über-Ich und ist somit weniger »anfällig« für Normen, Rechtsgefühl und unerbittliche (Selbstwert-)Ansprüche durch das Über-Ich. »Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee nicht erwehren, dass das Niveau des sittlich Normalen für das Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern.« (Freud GW XIV 1925:168)

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Das Mädchen besitzt ein schwächeres und weniger autonomes ÜberIch, denn die ödipale Kastrationsangst des Jungen kann das bereits kastrierte Mädchen nicht verspüren. In der Folge bleiben ihre Interessen mehr auf ihre engen sozialen Beziehungen beschränkt: »Charakterzüge, die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung zur Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des Lebens, sich öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und feindseligen Gefühlen leiten lässt, fänden in der oben abgeleiteten Modifikation der Über-Ichbildung eine ausreichende Begründung.« (Freud GW XIV 1925:168)

In diesen Bemerkungen finden sich explizit geschlechtliche Zuschreibungen, wie sie auch in späteren Konstruktionen einer instrumentellmännlichen (Moral, Rechtsempfinden, Autonomie und Rationalität) und einer expressiv-weiblichen (Gefühlsorientierung, Abhängigkeit) Geschlechtsrollenorientierung konstruiert werden. Die Aussagen lassen sich aber auch in einen Zusammenhang bringen mit der Annahme einer größeren Anfälligkeit für introjektive Depressionen bei Männern und für anaklitische Depressionen bei Frauen (Blatt 2004). Freud beschreibt hier vor allem eine »männliche« Anfälligkeit für unerbittliche Selbstkritik, die in Depressionen münden kann. Eine Frau wäre nach dieser Definition aufgrund eines weniger strengen Über-Ichs weniger den Gefahren vor Versagensängsten oder einer zu harrschen Selbstkritik ausgesetzt und damit insgesamt auch weniger dem Risiko einer introjektiven Depression. Ebenso finden sich hier stark dichotomisierte, an die Anatomie gebundene, Zuschreibungen einer interpersonellen Orientierung von Frauen. In Übereinstimmung mit geschlechtlichen Stereotypen des 19. Jahrhunderts reagiert die Frau bei Freud vornehmlich affektiv. Sie ist nicht frei von Gefühlen, die aus der Beziehung zu Anderen entstehen. Während der Mann (bzw. das Über-Ich des Mannes) eher dazu bereit ist, sich autonom und unabhängig zu machen und sich abstrakten, gesellschaftlichen Normen und der Realität anzupassen, verbleibt die Frau in einer die Realität verleugnenden »Gefühlsorientierung«. In Übereinstimmung mit der strukturellen Einordnung der anaklitischen und introjektiven Depressionstypen, die für die introjektive Depression eine spätere Entwicklung in Zusammenhang mit einem strafendem Über-Ich postuliert, führt Freud einen Geschlechtsunterschied in den Moralvorstellungen auf eine unterschiedliche Fähigkeit in der Über-

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Ich Entwicklung zurück. Ein zu strenges Über-Ich, wie in der introjektiven Depression, ist Ausdruck einer ausgeprägten Über-Ich Bildung und der Anerkennung der äußeren Realität. Auch wenn Freud anmerkt, dass selbst die wenigsten Männer dieses »Ideal« je erreichten, und dass Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruktionen sind, deren Inhalt ungesichert sei, so erhebt er ein autonomes (»männliches«) ÜberIch doch zum Idealzustand, in deren Abweichung eine von Freud postulierte Gefühlsorientierung und weniger unerbittliche Moralvorstellung der Frau zum weiblichen Entwicklungsproblem wird: »Durch den Widerspruch der Feministen, die uns eine völlige Gleichstellung und Gleichschätzung der Geschlechter aufdrängen wollen, wird man sich in solchen Urteilen nicht beirren lassen, wohl aber bereitwillig zugestehen, daß auch die Mehrzahl der Männer weit hinter dem männlichen Ideal zurückbleibt, und daß alle menschlichen Individuen infolge ihrer bisxeuellen Anlage und der gekreuzten Vererbung männliche und weibliche Charaktere in sich vereinigen, so daß reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruktionen bleiben mit ungesichertem Inhalt.« (Freud GW XIV 1925:30)

Anders als das Mädchen erlebt der Junge in Freuds Theorie keine solchen Unzulänglichkeitsphantasien. Mit einem Penis ausgestattet ist seine einzige (dafür aber große) Sorge, dass ihm dieser durch die Mutter oder den Vater als Strafe wieder abgenommen werden könnte, weswegen er auch anders als das Mädchen dazu in der Lage ist, ein starkes Über-Ich und eine ausgeprägte Moralvorstellung zu entwickeln, denn er allein kennt reale Kastrationsangst. Die Anerkennung des Geschlechtsunterschieds ist ein »schicksalhafter Einschnitt« (Schmauch 1993:22), der für Mädchen und Jungen unterschiedliche Folgen nach sich zieht.16

16 Der Psychoanalytiker Charles Brenner (1975, vgl. Bell 2004) stellt einen interessanten Zusammenhang zwischen dem schicksalhaften Einschnitt der Geschlechtsaneignung und einer unterschiedlichen Neigung von Jungen und Mädchen zu Depressionen her. In Anlehnung an Freuds Unterscheidung des weiblichen und männlichen Kastrationskomplexes unterscheidet er eine männliche Kastrationsangst von einer weiblichen Kastrationsdepression. Allgemeiner formuliert argumentiert er, dass Angst mit der noch bevorstehenden Katastrophe der Kastration assoziiert sei (Junge), Depression dagegen auf die bereits stattgefunden Katastrophe verweise (Mädchen). 1926

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3.2 Revisionen Bereits zu Freuds Lebzeiten sind seine Thesen zur Entwicklung der Geschlechtsidentität innerhalb des psychoanalytischen Diskurses umstritten (Deutsch 1925, Horney 1926, Jones 1933). Karen Horney stellt bereits 1926 in einem Aufsatz zur »Flucht aus der Weiblichkeit« die

bezeichnet Freud Objektverlust, Liebesverlust und Kastration als die Gefahren des kindlichen psychischen Lebens. Brenner bezieht sich exakt auf diese »calamities of childhood«: Objektverlust und Liebesverlust würden in der psychoanalytischen Depressionstheorie vielfach diskutiert, depressiver Affekt in Bezug auf Kastrationserlebnisse jedoch kaum thematisiert. Brenner verbindet die Kastration nicht nur mit der von Freud als zentral angesehenen Emotion der (Signal-)Angst, sondern mit der Vorstellung, dass auch die Depression als Reaktion auf die Entdeckung einer bereits stattgefundenen Kastration entstehen kann (Bell 2004). »The unpleasure to be avoided is, in fact, of two kinds: anxiety and what I propose to call depressive affect. The first has to do with danger, that is, with a calamity that is anticipated; the second, with a calamity that has already occurred.« (Bell 2004:177). Brenner (1975) weist darauf hin, dass für Mädchen und auch für manche Jungen Kastration nicht nur eine Bedrohung aus der Zukunft darstellt (wie die Kastrationsangst), sondern in der psychischen Realität tatsächlich stattgefunden haben kann. Er bezieht sich hier auf Jungen mit einer sogenannt starken »femininen« Identifizierung, die verletzlicher seien für die Vorstellung, dass die Katastrophe der Kastration bereits eingetreten sei. Brenner vermutet weiter, dass die Depression bei Mädchen weitaus präsenter sei als bei Jungen, da Mädchen die Kastration als einen Fakt anerkennen, der bereits passiert ist. Entwicklungsstudien über Mädchen in der präödipalen Phase liefern nach Bell (2004) Hinweise auf Brenners Interpretation der weiblichen Kastrationsdepression. So bestünde eine positive Beziehung zwischen Schwierigkeiten mit der Sphinkter- und Blasenkontrolle, Kastrationsreaktion und depressiver Verstimmung bei Mädchen. Bei manchen Mädchen zeige sich die depressive Kastrationsreaktion in dem Gefühl beschädigt zu sein, ein Gefühl der Beschädigung, welches sich auf die Blasenkontrolle ausweiten kann und im Symptom des Einnässens sichtbar werde (Bell 2004). Die Annahme, dass vor allem Mädchen auf die Erkenntnis der anatomischen Geschlechtsdifferenz mit Depressionen reagieren, während Jungen eher Signalangst, ob des drohenden Unheils der Kastration erfahren, ist eine interessante Verbindung zwischen Geschlecht, Verlust und Depression.

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These auf, die Theorie der kindlichen Geschlechtsentwicklung nach Freud entspreche der Phantasie eines vierjährigen Jungens. Horneys frühe und kontrovers diskutierte Freud-Kritik weist demnach auf Ähnlichkeiten zwischen den Vorstellungen des kleinen Jungen über die Situation des »penislosen« Mädchens und Freuds Theorien über die weibliche Entwicklung hin. »Unser jetziges analytisches Bild der weiblichen Entwicklung – ob richtig oder falsch – gleicht auf alle Fälle auf ein Haar den Vorstellungen, die sich der Knabe aus seiner typischen Situation heraus vom Mädchen macht.« (Horney 1926/1984:29). Horney kritisiert Freud für einen unreflektierten männlichen Blick auf Weiblichkeit. Freuds zentrale Arbeiten zur Weiblichkeit zwischen 1925 und 1933 werden auch als Repliken auf diese ersten feministischen Bemühungen innerhalb der Psychoanalyse verstanden (vgl. Brede 1989, Quindeau 2008).17 Aus feministischer Perspektive wurde innerhalb der Psychoanalyse immer wieder versucht, Frauen hinsichtlich ihrer Triebentwicklung mit Männern gleichzustellen, das weibliche Genital aufzuwerten und das Freudsche Konzept der Bisexualität der Geschlechter stärker zu betonen (Brede 1989). Im Zuge des Feminismus der 70er Jahre wurde die Kritik der frühen Psychoanalytikerinnen erneut aufgegriffen. Diese späteren feministischen Arbeiten thematisieren zunächst vor allem die Bedeutung von Gleichheit und Differenz innerhalb der Psychoanalyse, versuchen geschlechtspezifische Formen von Aktivität und Passivität zu formulieren und ein eigenständiges weibliches Begehren in den Blick zu nehmen (Brede 1989, Mitscherlich-Nielsen 1989). Margarate Mitscherlich (1985) kritisiert etwa Freuds Vorstellung, dass weiblich zu sein bedeute, ein Mängelwesen zu sein, dessen Geschlecht erst dadurch entstehe, dass es seine penislose Minderwertigkeit anerkenne.

17 Mitchell kritisiert in ihrem Buch »Psychoanalyse und Feminismus« (1976), dass Horney ihre zutreffenden Annahmen, dass die Frau nicht wirklich »minderwertig« sei, sondern nur einer »männlichen« Kultur unterworfen werde, durch ihre Berufung auf die »wahre Natur« der Frau entwerte und resümiert: »nichts hätte für die weitere Psychoanalyse der Frau verderblicher sein können als diese Berufung auf die ›wahre Natur‹ der Frau.« (Mitchell 1976:158). Auch Quindeau (2008) argumentiert, dass Horney (1926) anders als Freud von einem eindeutig angeborenen weiblichen Geschlecht ausgeht, und damit hinter Freuds früherer Annahme einer konstitutionellen Bisexualität zurückfällt.

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Dabei verführten psychoanalytische Konzepte von Weiblichkeit nicht selten dazu, Frauen, die ihren »Mangel« nicht akzeptieren wollten, dafür zu kritisieren, dass sie die Realität nicht anerkennen wollten, und infolgedessen die genitale Stufe einer »reifen Weiblichkeit« nicht erreichten. Nach Mitscherlich mündet die Polarisierung der Geschlechter in eine Abwertung von Weiblichkeit, die allein den Zweck hat, Männlichkeit aufzuwerten. Ebenso sieht Rohde-Dachser (1989b) in der klassischen Weiblichkeitstheorie nach Freud die Frau als »Mängelwesen« konstruiert, wobei ihr die Chance einer Entwicklung aus dieser Position heraus versperrt bleibe: »Im Licht der Freudschen Weiblichkeitstheorie erscheint die Frau nach wie vor als Mängelwesen, das sich mit seiner genitalen Minderausstattung, dem Penismangel eben, abzufinden hat und dabei auf Ersatzlösungen angewiesen ist, unter denen lebenslanger ›Penisneid‹ die schlechtere und die Ausbildung ›reifer Weiblichkeit‹ die bessere ist.« (Rohde-Dachser 1989b:77)

Im psychoanalytischen Diskurs existiert die Frau vor allem als Beziehungsfigur, in der sie Kind oder Mann ergänzt (Rohde-Dachser 1989b). So besitzt sie nur eine abgeleitete Identität (Rohde-Dachser 1989b). Anders als dem Mann bleibt ihr ein autonomer Status verwehrt; sie wird ausschließlich in den Rollenkontext der Familie eingebunden (Rohde-Dachser 1989b). Es gibt für sie keinen »Ort in der Kultur« (Rohde-Dachser 1989b:77). Die Psychoanalyse besitze daher keine adäquate Theorie für einen (Autonomie)-Schritt der Frau in die Kultur, denn dieser sei immer nur Ausdruck von Penisneid oder ödipaler Rivalität. Die Frau verbleibe im Raum des Privaten, wobei die psychoanalytische Theorie zur Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen maßgeblich beitrage: »Psychoanalyse hat sich als patriarchale Wissenschaft etabliert. Mit ihrer Theorie (und möglicherweise auch ihrer Methode) affimiert sie die für diese Gesellschaftsform charakteristischen Abwehrstrukturen bei Mann und Frau. Entgegen ihrem immer wieder reklamierten emanzipatorischen Auftrag trägt sie auf diese Weise auf Kosten der Frau zur Aufrechterhaltung des bestehenden Geschlechterverhältnisses und der darin implizierten Machtstrukturen bei. Ihr Diskurs produziert gesellschaftliche Unbewußtheit, anstatt sie aufzuheben.« (Rohde-Dachser 1989b:89)

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Auch praktizierende PsychoanalytikerInnen und ihre PatientInnen sind nicht frei von gesellschaftlichen Normen und kulturellen Codes über Geschlecht und diese schreiben sich oftmals unbewusst sowohl in psychoanalytische Theorien als auch in die Praxis ein: »Nach meiner Überzeugung handelt es sich hier um Bilder des ›Männlichen‹ und des ›Weiblichen‹, die das Patriarchat tief ins Unbewußte von Männern und Frauen eingeschrieben hat. Ihnen gemeinsam ist die Phantasie, daß alle Gefahr von der Frau ausgeht, die deshalb beherrscht und kontrolliert werden muß, und zwar durch das superiore männliche Prinzip.« (Rohde-Dachser 1989b:93f)

Die Phantasien, die in der psychoanalytischen Theorie und Praxis hervorgebracht werden, geben daher nicht nur Aufschluss über Geschlecht, sondern auch über gesellschaftliche Konstruktionsprozess und Machtverhältnisse in der Herstellung von Geschlechtlichkeit.18 Auch Carol Gilligan (1996) kritisiert, dass Freud seine Theorie der psychosexuellen Entwicklung vor allem anhand von Erfahrungen des männlichen Kindes entwickelt. Die Beobachtung der starken präödipalen Bindung des Mädchens an die Mutter hätte Freud zwar dazu veranlasst, einen Entwicklungsunterschied zwischen Mädchen und Jungen einzuräumen, diesen lasse er für die Frauen aber in der Folge als weibliches Defizit erscheinen. Ausgehend von einem Problem in der Theoriebildung habe Freud die weibliche Entwicklung zu einem Problem der Entwicklung schlechthin umgedeutet und diese sodann mit einer problematischen Beziehung von Frauen verknüpft. Theoretikerinnen wie Nancy Chodorow (1978) oder Janine Chasseguet-Smirgel (1976) kritisieren ebenfalls einen »phallischen Monismus« Freuds und gehen dazu über, anstelle des Vaters die Mutter als erste Bezugsperson in das

18 Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie betrachte z.B. einen Schritt zum Vater meist als Zeichen einer gesunden heterosexuellen Entwicklung des Mädchens, erwähne aber zu selten, dass damit eine fortschreitende Entwertung ihres eigenen Geschlechts beschrieben werde, und dass die Abwendung des Mädchens von der Mutter genau entlang den patriarchalen Wertsetzungen verlaufe (Rohde-Dachser 1989b). So wird Homosexualität trotz z.B. einer Rekonzeptualisierung des negativen Ödipus als »lesbischen Ödipuskomplex« durch Poluda-Korte (1993) nach wie vor meist als Abweichung vom ödipalen heterosexuellen Entwicklungsziel dargestellt.

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Zentrum ihrer Theorien zu stellen. In dieser »umgekehrten Perspektive« auf die Geschlechterdifferenz steht die Mutter als primäre Bezugsperson im Zentrum. Wobei nach Rohde-Dachser (1989) auffalle, dass bei Chodorow (1978) nun nicht mehr das Mädchen, sondern der Junge den größeren Verlust erleide. Gilligan (1996) und Chodorow (1978) kritisieren nicht die Freud’sche Konstruktion von Differenz oder die Konstruktion von geschlechtsspezifischen Persönlichkeitsmerkmalen, die bei Freud mit den biologischen Geschlechtskörpern einhergehen, sondern seine phallozentristische »Bewertung« der geschlechtsspezifischen Eigenschaften, für die sie nunmehr eine Umbewertung vorschlagen. Im Folgenden sollen die Überlegungen von Chodorow und Gilligan kurz dargestellt und im Anschluss daran, als eine spezifische Form feministischer Wissensproduktion innerhalb des psychoanalytischen Diskurses, nach ihrem impliziten Geschlechtsbegriff befragt werden: Chodorow geht von der Feststellung aus, dass die primären Bezugspersonen von Jungen und Mädchen weiblich sind, weil es Mütter sind, die sich hauptsächlich um Kinder kümmern. Am Anfang steht für Jungen und Mädchen die Beziehung zur Mutter, wobei eine »Asymmetrie der Geschlechter« entstehe, in der Jungen und Mädchen geschlechtsspezifische Beziehungsstile entwickelten. Die Mutter-SohnBeziehung ist durch geschlechtliche Differenz geprägt, der Sohn wird von der Mutter als anderes Objekt geliebt und als heterosexuelles Objekt begehrt. Die Mutter-Tochter-Beziehung hingegen ist von Gleichheit geprägt, die Tochter ist Selbstobjekt der Mutter, sie wird geliebt, aber weniger begehrt (Rohde-Dachser 1989). Zentraler noch ist die Perspektive des Kindes: der Sohn erlebt sich selbst als anders, als verschieden von der Mutter, die Tochter betrachtet sich als ähnlich bzw. gleich, was für die geschlechtsspezifischen Identifizierungsprozesse bei Chodorow ähnlich schicksalshafte Folgen nach sich zieht wie die Konzeption der Anatomie für Freud. In Chodorow Theorie soll jedoch nicht Anatomie das Schicksal sein, sondern die asymmetrische soziale Geschlechterordnung der Familie, die für Mädchen und Jungen unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklungen hervorbringt. Ursache für die Geschlechterdifferenz ist hier nicht ein Mangel der Frau, sondern die frühe Sozialisation des Kindes, ausschließlich oder doch zumindest vor allem mit dem primären Liebensobjekt Mutter. Diese einseitige frühe Beziehung schreibt die grundlegenden Unterschiede in die Persönlichkeit ein, und zwar für die weibliche Persönlichkeit in Richtung

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von Verbindung und Gleichheit und für die männliche in Richtung von Differenz und Autonomie (Gilligan 1996). Chodorow (1978) grenzt sich von Freuds Sicht auf die weibliche Entwicklung ab und stellt ihr eine eigene Entwicklungstheorie von Weiblichkeit entgegen, nach der Frauen, weil ihre Objektwelt von Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit dem ersten Liebesobjekt geprägt sei, eine stärkere Fähigkeit zur Empathie besitzen, auf die Gefühle und Bedürfnisse Anderer sensibler eingehen zu können und diese Bedürfnisse mehr als ihre eigenen erleben. Weil Mädchen von Personen des gleichen Geschlechts erzogen würden, erlebten sie sich als weniger ungleich (und weniger autonom) als Jungen und mehr im Einklang mir der äußeren Objektwelt (Gilligan 1996). Auch Gilligan erklärt bezugnehmend auf Chodorow Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf der Ebene psychosozialer Rollenorientierungen: »Abhängigkeit wird von Frauen und Männern anders erlebt. Für Jungen und Männer sind Ablösung und Individuation entscheidend an die Geschlechtsidentität gebunden, da die Ablösung von der Mutter die entscheidende Vorrausetzung für die Entwicklung von Männlichkeit ist. Für Mädchen und Frauen hängt die Entwicklung von Weiblichkeit oder weiblicher Identität nicht vom Vollzug der Ablösung von der Mutter oder vom Fortschritt der Individuation ab. Da Männlichkeit durch Ablösung definiert wird, Weiblichkeit hingegen durch Bindung, wird die männliche Geschlechtsidentität durch Intimität bedroht, die weibliche Geschlechtsidentität hingegen durch Trennung. Männer haben deshalb Schwierigkeiten mit Beziehungen, während Frauen Probleme mit ihrer Individuation haben.« (Gilligan 1996:17).

Gilligan postuliert für Frauen ein stärkeres Eingebettet-Sein in Bezug auf persönliche Beziehungen und kritisiert, dass dieses zum »Handicap für die Persönlichkeitsentwicklung« (Gilligan 1996:17) von Frauen werde, weil psychologische (und psychoanalytische) Untersuchungen Markierungspunkte zunehmender Ablösung darstellten. Frauen würde dann per definitionem ein Unvermögen unterstellt, sich entwickeln zu können: »Der immer wieder auftauchende Befund dieser Studien ist, daß die Eigenschaften, die für das Erwachsensein als notwendig betrachtet werden – die Fähigkeit zu autonomem Denken, zu klaren Entscheidungen und verantwortlichem Handeln – mit Männlichkeit assoziiert werden und als Attribute des

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weiblichen Selbst nicht als wünschenswert gelten. Die Stereotypen zeugen von einer Aufspaltung von Liebe und Arbeit, wobei den Frauen expressive Fähigkeiten zugesprochen werden, während instrumentelle Fähigkeiten in der Domäne des Mannes verbleiben. Doch aus einer anderen Perspektive betrachtet spiegeln diese Stereotypen eine Konzeption des Erwachsenseins, die als solche unausgewogen ist, da sie der Abgetrenntheit des individuellen Selbst den Vorzug vor der Verbindung mit anderen gibt und ein autonomes Leben voll Arbeit höher einschätzt als die Interdependenz der Liebe und Anteilnahme.« (Gilligan 1996:28)

Das Verdienst der Arbeiten von Chodorow (1978) und Gilligan (1996) ist es, darauf hinzuweisen, dass Männlichkeit in psychoanalytischen und klassisch psychologischen Theorien (Gilligan kritisiert u.a. auch Piaget und Kohlberg) meist unreflektiert als Norm gesetzt wird und alle sich ergebenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen meist zu Lasten der Frauen als Abweichung und weibliche Entwicklungsschwierigkeiten postuliert werden. Anstelle einer Abwertung von Weiblichkeit postulieren die Autorinnen die Anerkennung der Differenz zwischen Männern und Frauen und eine Aufwertung spezifisch weiblicher Eigenschaften. Gilligan folgert daraus, dass es anstelle einer männlichen Überbewertung von Autonomie und Individuation die Aufgabe von Frauen sei, weibliche Werte der Fürsorge, Empathie und Bindung (Care Orientierung, Gilligan 1982 ) stärker zu vertreten und gegen einen männlichen Wissenschaftsanspruch der Entwicklungspsychologen zu verteidigen: »Das schwer fassliche Mysterium der weiblichen Entwicklung liegt in der Erkenntnis der andauernden Bedeutung der Bindung im menschlichen Lebenszyklus. Die Aufgabe der Frau im menschlichen Lebenszyklus ist es, diese Erkenntnis wachzuhalten, während die Litaneien der Entwicklungspsychologie den Wert der Ablösung, der Autonomie, der Individuation und der naturgegebenen Rechte preisen.« (Gilligan 1996:34)

Obwohl sich Chodorow (1978) und Gilligan (1996) von Freuds Theorie abgrenzen, um zu zeigen, dass nicht Anatomie sondern Sozialisation »Schicksal« sei, berufen sich beide Theorien letztlich auf die Annahme zweier biologisch unterschiedener Geschlechter. Die Herstellung der binären Geschlechtsdifferenz selbst hinterfragen sie

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nicht.19 So wird zwar die Bewertung der Differenz kritisiert, die Konstruktion der Differenz jedoch nicht in den Blick genommen (Maihofer 1995). Maihofer (1995) kritisiert Chodorows Annahme (1978) einer unterschiedlichen Identitätsbildung von Jungen und Mädchen, in der Jungen zur Autonomie und Mädchen zur Beziehungsorientierung erzogen würden. Chodorow leite letztlich die unterschiedliche Entwicklung von Jungen und Mädchen aus einem »natürlichen« Erleben der körperlichen Gleichheit des Mädchens mit der Mutter und dem Erleben der körperlichen Differenz des Jungen von der Mutter ab. Während sich das Mädchen aufgrund körperlicher Gleichheit mit der Mutter identifiziere, löse sich der Junge aufgrund der erlebten Ungleichheit von ihr, um sich fortan mit dem Vater zu identifizieren. Maihofer (1995) kritisiert Chodorows Herangehensweise als biologistisch und schlägt vor, die Erfahrung »unterschiedlicher« oder »gleicher« Körper besser als erstes Konstruktionsmoment in der Herstellung von Geschlechtsidentität zu fassen. Es sei eben nicht einfach »natürlich«, den Körper der Mutter als gleich bzw. verschiedengeschlechtlich zu erfahren, sondern der Moment der Identifizierung selbst verweist bereits auf eine erste Konstituierung weiblicher und männlicher Identität. Und diese müsse eben selbst als Herstellungsprozess betrachtet und analysiert werden: »Diese biologische Evidenz kann selbst schon als Effekt des hegemonialen Geschlechtsdiskurses und seiner Konstituierung des modernen Geschlechtskörpers gesehen werden und damit als Teil der gegenwärtig als normal geltenden ›Zumutung‹ das Geschlecht des eigenen Körpers zu werden.« (Maihofer 1995:101). Dabei ist die Art und Weise der geschlechtlichen Existenz weder beliebig, noch ist sie frei wählbar oder willkürlich veränderbar (Maihofer 1995). Transformationsprozesse aber seien feststellbar, sowohl in der individuellen Ausprägung der geschlechtlichen Existenzweise als auch in der historischen Betrachtung gesellschaftlicher Prozesse. Chodorow (1978) und Gilligan (1982) reproduzieren letztlich die hegemonialen »weiblichen« und »männlichen« Identitäts- und Moral-

19 Womit die differenz-orientierten Theorien auch hinter Freud selbst zurück bleiben, der zumindest in Teilen seiner Theorie immer wieder von einer konstitutionellen Bisexualität von Männern und Frauen ausgeht (vgl. Quindeau 2008).

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entwicklungen, die mit der Konstituierung heterosexueller Subjekte verbunden sind (Maihofer 1995). Auch Renate Gildemeister (1992) kritisiert die differenz-feministische Herangehensweise von Gilligan und Chodorow aus dekonstruktivistischer Perspektive. An deren Untersuchungen sei vor allem problematisch, dass es dort um eine Konstruktion von Weiblichem und Weiblichkeit »an sich« gehe, die nicht mehr auf dem Erleben von einzelnen Frauen, sondern auf der Erfahrung von »Weiblichkeit schlechthin« beruhe (Gildemeister 1992:224). Obwohl von Gilligan und Chodorow nicht intendiert, führe das in der Konsequenz zu einer Verabsolutierung des Anderen, des genuin Weiblichen. Die Basis dieses Prozesses sei zwar nicht länger die Biologie, sondern die Psyche oder die psychische Entwicklung, nichtsdestotrotz wird nach Gildemeister aber an der Differenz konzeptionell festgehalten und weiterhin binär konstruiert (Gildemeister 1992). Gildemeister kritisiert die Revision psychoanalytischer Weiblichkeitstheorie daher auf gleicher Ebene wie Maihofer die psychologischen Rollentheorien in Kapitel A: »In der Mehrzahl der Diagnosen besteht somit auch dort eine Übereinstimmung mit der traditionell konstatierten ›Polarität‹ der Geschlechtscharaktere, wo ihr Ziel deren Überwindung war. Ob man deren Inhalt nun als ›Verbundenheit vs. Getrenntheit‹, ›Emotionalität und passive Abhängigkeit vs. Rationalität und Aktivität‹ oder in den Dimensionen von ›Expressivität vs. Instrumentalität‹ beschreibt, ist dabei vergleichsweise irrelevant.« (Gildemeister 1992:225)

Das Problem liegt in der gewählten Strategie der Enthierarchisierung der Geschlechterdifferenz. Dichotomie und Binarität selber werden nicht in Frage gestellt, sondern lediglich inhaltlich umgewertet oder umkodiert. Dies führt zu einer Wiederholung und immer wieder erneuerten Einschreibung von Differenz, die letztlich eine Veränderung der binären Geschlechterordnung unmöglich macht: »Jede Strategie, die auf eine Enthierarchisierung der Differenz abzielt, ohne das binäre Grundmuster in Frage zu stellen, alle Versuche der Aufwertung ›des‹ Weiblichen erscheinen nämlich aus dieser Perspektive notwendigerweise immer auch als Bestätigung und Reifizierung genau jenes Klassifikationsvorgangs, ohne dessen Dekonstruktion eine qualitative Veränderung des Geschlechterverhältnisses nicht möglich ist.« (Gildemeister & Wetterer 1992:248)

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Aber nicht nur aus der Perspektive einer dekonstruktivistischen Geschlechterforschung, sondern auch innerhalb der Psychoanalyse werden differenz-feministische Revisionen der Freud’schen Weiblichkeitstheorie kritisiert. Im Folgenden wird daher unter Berücksichtigung einer explizit psychoanalytischen Fragestellung nach den unbewussten Phantasien hinter der hier diskutierten binären Herstellung von Differenz in psychoanalytischen Geschlechtstheorien gefragt (Rohde-Dachser 1989a). 3.3 Unbewusste Phantasien Die Psychoanalytikerin Maya Nadig wirft in ihrem Artikel »Die gespaltene Frau – Mutterschaft und öffentliche Kultur« die Frage auf, inwiefern die psychoanalytische Theorie und Praxis geschlechtsspezifische Herrschaftsmechanismen spiegelt und verstärkt, anstatt sie aufzudecken. (Nadig 1989:165). Die Psychoanalyse habe von der Einsicht, das sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht Dimensionen darstellen, die auf kulturellen Konstrukten beruhen: »sehr wenig in die Metatheorie aufgenommen« (Nadig 1989:165). Warum sich die psychoanalytische Theorie gegen das Eindringen neuer Erkenntnisse über die Konstruktion von Geschlecht und damit einhergehende Wissensordnungen wehrt, beantwortet Nadigs Text allerdings nicht. Einer kulturwissenschaftlichen Antwort auf die Frage einer unbewussten Wissensproduktion über Weiblichkeit bei Freud, geht Sander Gilman (1994) nach. Er sieht in Freuds Weiblichkeitstheorie das Resultat einer Projektion verinnerlichter (unbewusster) antisemitischer Stereotype und Bilder. Freud sei als jüdischer Naturwissenschaftler und Mediziner im Wien des 19. Jahrhunderts alltäglich mit biologistisch rassistischen hegemonialen Vorurteilen über Juden konfrontiert gewesen und habe eigene Ängste über die jüdische Identität auf die Frauen, als eine andere kulturelle Minderheit projiziert. Dabei funktioniere sowohl die Kategorie Geschlecht als auch die der »Rasse« (race) als Ort des Anderen, in dem Ängste und Unbehagen untergebracht und abgespalten würden. Über einen psychoanalytischen Zugang identifiziert auch RohdeDachser (1989a) eine Strategie der Spaltung und Projektion eigener Ängste durch psychoanalytische Geschlechtertheorien in »das Andere«. Auch sie fragt, ob Verluste und Kränkungen, in diesem Fall Verluste, die mit der Geschlechterdifferenz einhergehen, durch die psy-

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choanalytischen Theorien über Weiblichkeit im Anderen untergebracht werden sollen. Für die vorliegende Darstellung ist die Frage von zentraler Bedeutung, inwiefern in die psychoanalytische Wissensproduktion über Geschlecht – und zwar sowohl bei Freud als auch in der feministischen Kritik – implizit/unbewusst äußerst voraussetzungsreiche Annahmen über die Geschlechterdifferenz unhinterfragt für den eigenen Diskurs zugrundegelegt werden. In diesem Zusammenhang weist RohdeDachser auf die Problematik einer dichotomen Konstruktion von Ähnlichkeit und Differenz bei Chodorow hin. In feministischen Objektbeziehungstheorien tauche die Schwierigkeit der Freud’schen Theorie mit umgekehrten Vorzeichen wieder auf: In diesen Ansätzen müsse nicht wie bei Freud das Mädchen, sondern der Junge, mit der Mutter brechen. In Chodorows Darstellung führe dies dazu, dass der Junge in der Folge einen großen Teil seiner Gefühlswelt unterdrücken müsse. Später würden Frauen in ihm dann die Angst auslösen, der Versuchung zu erliegen, in die Primärbeziehung zur Mutter zurückzufallen. Diese Angst mache ihn unfähig, seine Gefühle auszudrücken und emotional für Andere empfänglich zu sein. In der Mutter-TochterBeziehung finde hingegen kein Bruch statt, die Beziehung bleibe ein Leben lang bestehen, wenn auch ambivalent besetzt. Rohde-Dachser (1989) stellt fest, dass eine Feindseligkeit des Mädchens gegenüber der Mutter, bei Chodorow vor allem aufgrund der mütterlichen Allmacht in den ersten Lebensjahren, entstehe, die durch kein drittes Objekt gemildert werde, denn der Vater ist als relevantes Objekt abwesend. Wenn er später hinzukomme, etwa als heterosexueller Beziehungspartner, sei er nur von zweitrangiger Bedeutung, denn die Beziehung zu ihm werde nie die Exklusivität der Primärbeziehung zur Mutter erreichen können. Er stelle einfach kein genügend wichtiges Objekt dar, um die Liebe zur Mutter brechen zu können (Chodorow 1986, zitiert nach Rohde-Dachser 1989a). Das Mädchen suche beim Vater eine unbelastete Alternative zur Mutter-Tochter-Dyade. Der Vater jedoch sexualisiere nun diese Beziehung und mache die »kleine Frau« zur Rivalin der Mutter. Nur aufgrund der Enttäuschung über die Abwesenheit des Vaters erfolge eine späte Idealisierung des Vaters (Rohde-Dachser 1989). Rohde-Dachser (1989a) befragt nun Chodorows Theorie nach ihrem unbewussten Gehalt. Der These Luce Irigarays (1980) folgend, wonach aus der Verhandlung der Geschlechterdifferenz stets das Un-

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bewusste spricht, sucht sie mittels tiefenhermeneutischer Interpretation nach dem Unbewussten psychoanalytischer Geschlechtertheorien. Durch die Entschlüsselung des Textes hinter dem Text soll die von Irigaray benannte Ebene der unbewussten Phantasien aufgedeckt werden. Die Autorin zeigt, wie sich Phantasien über die Geschlechterdifferenz hartnäckig und dauerhaft aufrechterhalten können und ferner, welche unbewussten Funktionen ihnen dabei zufallen. Anhand einer exemplarischen Untersuchung der Weiblichkeitstheorie nach Freud und Chodorow (1978) identifiziert sie kulturelle unbewusste Mythen über die Differenz der Geschlechter, die sich immer wieder neu selbst herstellen und dabei die Differenz zwischen den Geschlechtern stabilisieren und fortwährend neu konstituieren. Rohde-Dachsers Untersuchung ist für die Fragestellung dieser Arbeit nun auch deshalb von besonderer Relevanz, weil sie explizit nach der Strukturierung und Produktion psychoanalytischen Wissens über Geschlecht fragt und dabei eben nicht auf der Ebene von geschlechtsspezifischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen verbleibt, sondern die Konstruktion der Differenz selbst ins Zentrum ihrer Frage rückt. So kommt Rohde-Dachser viele Jahre nach Horney (1926) erneut darauf zu sprechen, welche (unbewusste) Funktion den psychoanalytischen Sexualitäts- oder Geschlechtertheorien zukommt. Dabei postuliert sie, dass nicht nur die Geschlechtertheorie Freuds, sondern auch die feministische Revision, z.B. durch Chodorow (1978), eine unbewusste Funktion erfüllt. Sie analysiert unbewusste Botschaften, die den Theorien eingeschrieben sind und fasst diese in verdichteten Beschreibungen zusammen. Die Theorie der Geschlechterdifferenz nach Freud beschreibt Rohde-Dachser als eine unbewusste männliche Phantasie aus der Sicht des Jungens: »Für meine Mutter (später: meine Frau) bin ich der Einzige. Sie wird immer bei mir bleiben, denn sie ist abhängig von mir. Ich brauche sie mit niemand zu teilen. Sie braucht mich, nicht umgekehrt. Mein Penis garantiert mir ihren Besitz, Sie selbst hat nichts, worum ich sie beneiden könnte. Im Gegenteil, sie beneidet mich. Ich bin es, der sie liebt und begehrt, sie selbst ist ohne Begehren. Deshalb wird sie auch nie nach einem anderen verlangen.« (RohdeDachser 1989a:122f.)

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Daher braucht der Junge (Mann) niemals zu befürchten, dass er zum passiven Objekt weiblicher Liebe oder weiblichen Begehrens wird. Er muss ihre Liebe mit keinem/keiner anderen teilen und kann nicht von ihrem Begehren überwältigt werden oder gar vor ihr versagen, denn sie kann (da der Trieb männlich gedacht ist) nicht ohne ihn sexuell genießen. Sie kann auch nicht mit ihrer Situation unzufrieden sein, denn ihre Familie ist ihre Welt und sie hat, aufgrund ihrer Beziehungsorientierung, keine anderen Interessen als ihn. Die Theorie der feministischen (Gegen-)Perspektive stellt Rohde-Dachser als unbewusste weibliche Phantasie aus der Sicht des Mädchens dar: »Jungen müssen sich von der Mutter trennen, ich bin es, die bleiben darf. Es gibt keine intensivere und sichere Beziehung als die zwischen meiner Mutter und mir. Väter (Männer) sind demgegenüber von sekundärerer Bedeutung. Sie sind ohnehin nie da. Die Beziehung zu ihnen ist überdies enttäuschend, weil sie Gefühle weder annehmen noch erwidern können. […] Ich werde vom Vater (einem Mann) nie wirklich abhängig sein. Deshalb kann er mich auch nicht existentiell enttäuschen. […] auch die Mutter ist vom Vater enttäuscht […]. Die eigentlich, wirklich befriedigende Beziehung hat sie zu mir. Ich verstehe sie, weil ich ihr ähnlich bin, ganz im Gegensatz zum Vater […]. Wenn ich Mutter manchmal hasse, dann nur, weil Vater ihr so viel Macht einräumt und sich selbst davonstiehlt. Und wenn sie mich beneidet, dann nur weil Vater mich zur Rivalin macht, was ich selbst nie wollte.« (Rohde-Dachser 1989a:122ff)

Die binären Theorien zur Geschlechterdifferenz enthalten eine unbewusste Botschaft. Die Unterschiede zwischen den »männlichen« und »weiblichen« Phantasien sind sowohl in Inhalt als auch in der Struktur der Theorien in vielerlei Hinsicht konform mit gesellschaftlichen Vorstellungen über symbolische Weiblichkeit und Männlichkeit. Während die »männliche Theorie« den Unterschied betont, fokussiert die »weibliche Theorie« die Ähnlichkeit. Die männliche Entwicklung stellt ein sichtbares Geschlechtsmerkmal, den Penis, in den Vordergrund während die weibliche Theorie die Beziehung betont. Die feministische Theorie wertet die Mutterbeziehung auf, während sie die Enttäuschung durch den Vater, der wie alle Männer ungenügend ist, verharmlost. Die Menschen sind in der feministischen Revision nun nicht mehr »Anhängsel ihrer Geschlechtsteile« (Chodorow 1978), ihre Ana-

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tomie ist nicht Schicksal. Vielmehr ist es nun die Beziehung, die im Vordergrund steht (Rohde-Dachser 1989a). In der männlichen Phantasie steht anstelle der Beziehung, ein Objekt im Zentrum (Rohde-Dachser 1989a). Der Phallus, repräsentiert durch den Vater, werde als Partialobjekt repräsentiert, ähnlich der Brust bei Melanie Klein (1932). Es fehlt die Beschreibung des dazugehörigen Menschen, des Vaters. Die Autorin vergleicht diese Vorstellung mit einer männlichen Fetischisierung. Das Fehlen der Definition des Mannes kann jedoch auch als Ausdruck einer unmarkierten Normsetzung von Männlichkeit verstanden werden. Männlichkeit ist bei Freud vor allem definiert durch die weibliche Abweichung von der Norm. Die androzentristische Normierung selbst wird dabei nicht sichtbar. Während die weibliche Version Gefühle betont, wehrt die männliche diese ab und schreibt sie der Frau zu: Allein die Frau empfindet Neid, Eitelkeit, Leidensbereitschaft, Freude (Rohde-Dachser 1989a). Die hegemoniale männliche Version bekräftige den Status Quo und seine Aufrechterhaltung, während die weibliche Revision Utopie und Veränderung betone. In beiden Versionen finden sich symbolische Zuweisungen an das andere Geschlecht, wenngleich die weibliche Erwartung an den Mann stärker ambivalent sei und sich weniger an dessen Anatomie richte als an tradierte Rollenbilder und Verhalten (Rohde-Dachser 1989a). Rohde-Dachser betrachtet die so gewonnenen unbewussten Phantasien jedoch nicht nur in Hinblick auf ihre Unterschiedlichkeit, sondern sucht nach impliziten Gemeinsamkeiten in Struktur und Inhalt. Hier zeigt sich in den Theorien eine geschlechtsunabhängige Verarbeitung der Entdeckung der Geschlechterdifferenz. Sowohl Freud als auch der feministischen Revision ist gemeinsam, dass sie ein dyadisches, symbiotisches Beziehungsmuster mit der Mutter entwerfen, das von keiner (inneren oder äußeren) Trennung bedroht scheint. In den Theorien existiere wirkliche Abhängigkeit vom Gegengeschlecht, Neid, sexuelle Rivalität und Schuld nicht. Hier gibt es keinen Konflikt (Rohde-Dachser 1989a). Die Mutter ist dem Kind ein exklusives Selbstobjekt, ihre Interessen sind mit denen des Kindes vollkommen identisch (vgl. auch Benjamin 1990, von Braun 1985). Sie habe keine anderen bedeutsamen Beziehungen als jene zum Kind. Ihre Sexualität und ihr Begehren sind nicht von Bedeutung. Nach Rohde-Dachser erfüllen beide Phantasien eine Funktion, nämlich die, gegen basale Risi-

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ken und Verluste, wie sie mit der Entdeckung des Geschlechtsunterschieds verbunden sind, nämlich Trennungsangst, Kränkung und Erfahrungen von Unvollkommenheit, Ohnmacht und Abhängigkeit, zu schützen. »In ihrem Zentrum steht die Illusion von der Unzerstörbarkeit der Primärbeziehung, die durch die Erfahrung des Geschlechtsunterschieds scheinbar nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr bekräftigt wird.« (Rohde-Dachser 1989a:129). Gleichzeitig stützen und stabilisieren sie durch die Betonung der jeweiligen Überlegenheit über das andere Geschlecht, die Herstellung der jeweiligen Geschlechtsidentität und der Differenz. Wie Horney (1926) identifiziert Rohde-Dachser in den von ihr extrahierten unbewussten Phantasien Strukturen, die für das psychische Funktionieren eines zwei- bis vierjährigen Kindes in der ödipalen Krise typisch sind. Horney weist auf die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen den Phantasien eines vierjährigen Jungen über die Situation des »penislosen« Mädchens und Freuds Theorien über die weibliche Entwicklung hin. Rohde-Dachser weist ihrerseits darauf hin, dass Kinder am Ende des zweiten Lebensjahrs den Geschlechtsunterschied entdecken und fortan diese Entdeckung sowohl kognitiv als auch emotional verarbeiten müssen. In den von ihr aufgeschlüsselten Phantasien findet die Autorin typische Abwehrmechanismen, wie sie in der Kindheit häufig vorkommen: Spaltung (Mutter gut – Vater böse), Verleugnung (es gibt keinen erwachsenen Rivalen zu mir als Kind), Projektion (es gibt keinen Grund zu Neid, das andere Geschlecht ist es, dass neidisch ist) sowie Idealisierung (Primärbeziehung). Wie aber schreiben sich diese Phantasien in wissenschaftliche Modelle ein? Einerseits stellen, so Rohde-Dachser (1989a), die unbewussten Phantasien das Arrangement der Geschlechter immer wieder neu her und schaffen eine Wahrnehmungs- und Denkidentität (Freud 1900). Wobei sich Wahrnehmungsidentität auch dadurch herstelle, dass es immer wieder Frauen und Männer gäbe, die das Stereotyp erfüllten und dem Unbewussten somit als »Beweis« dienten, andererseits würden Beobachtungen, die der Regel nicht entsprechen, als regelbeweisende Ausnahmen abgehandelt. Gleichzeitig inszenierten die Individuen durch Wiederholungszwang ihre unbewussten Phantasien stets aufs Neue. Verantwortlich seien auch institutionelle Mechanismen, in denen feministische Theorien vorwiegend von Frauen vorgelegt und rezipiert würde, aber kaum Eingang in den psychoanalytischen Diskurs fänden und Prozesse der fortgesetzten Widerlegung, die dafür sorgten, dass kein

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Text über Weiblichkeit in der Psychoanalyse erscheine, der sich nicht noch einmal am Gründungsvater Freud abarbeite. Warum aber sind Geschlechter-Phantasien so hartnäckig und widerstandsfähig? Die Autorin vermutet, dass die Phantasien nicht nur eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung der Geschlechtsidentität besitzen, sondern für die Aufrechterhaltung des psychischen Funktionierens generell. Kinder würden sehr früh damit beginnen, verfügbare Informationen in binäre Codes (z.B. gute/böse Brust) zu strukturieren. Sie vermutet, dass die binäre Klassifikation in männlichweiblich dabei einem zentralen psychischen Strukturprinzip entspricht. Dem Kind diene diese Unterscheidung, hat es diese einmal als Orientierung für das Selbstbild getroffen, als Identifizierungsangebot. Es kann nun kongruente Verhaltensweisen imitieren, welche ihm das kulturelle und familiäre Umfeld vorlebe. Die Theorien über die Geschlechterdifferenz enthalten die Phantasie einer ungebrochenen Dyade mit dem Primärobjekt, ohne die trennenden und angsterfüllenden Aspekte von Neid, Eifersucht und Schuld gemeinsam, so schaffen sie im Sinne einer Abwehr eine Basis für das psychische Funktionieren. Sie liefern eine basale Sicherheit, die dabei helfe, das Risiko zwischenmenschlicher Beziehungen, insbesondere die zum Anderen, eingehen zu können (Rohde-Dachser 1989a). Wie im Folgenden ausführlich diskutiert wird, machen sie den Verlust unsichtbar, der mit dem Verlust des ersten Liebesobjekts (Butler 1995) und mit der Aneignung der Geschlechtsidentität (Fast 1991) einhergeht. Auch Luce Irigaray (1989) argumentiert, dass in psychoanalytischen Weiblichkeitstheorien unbewusste Ängste über die Beziehung zum Anderen untergebracht werden. Insbesondere männliche Ängste vor der Beziehung zu der ersten Anderen, der »Mutter-Frau«, vermutet sie als Ursache für die Abwertung von Weiblichkeit. Regressive, aber tabuisierte Wünsche und Sehnsüchte nach einem ursprünglichen vollkommenen Zustand im Mutterbauch trügen daher in sich die Gefahr des Wahnsinns. Durch Theorien über Frauen und Weiblichkeit, von Seiten der »männlichen Wissenschaft«, würden diese Ängste in Schach gehalten: »Das Problem stellt sich zunächst auf diese Weise. Jedes Geschlecht hat einen Bezug zum Wahnsinn. Jedes Begehren hat einen Bezug zum Wahnsinn. Aber augenscheinlich hält sich das eine Begehren für die Weisheit, das Maß und die Wahrheit und überlässt dem anderen Geschlecht die ganze Bürde des Wahnsinns, den es sich selbst nicht zuschreiben, nicht zu gestehen will. Dieser Be-

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zug des Begehrens zum Wahnsinn ist in besonderer Weise in der Beziehung zur Mutter angelegt. Beim Mann ebenso wie bei der Frau. Aber der Mann entzieht sich häufig und lastet sie der Frau auf – den Frauen.« (Irigaray 1989:29)

Dem Vater und der durch ihn symbolisierten Sprache käme in der psychoanalytischen Theorie die Bedeutung eines Verbots zu. Dieses verbiete die Sehnsucht nach dem frühen Körper-an-Körper-Sein mit der Mutter. In der Psychoanalyse werde dieser erste Augenblick, die erste Beziehung, unsichtbar gemacht und stattdessen als fötale Regression und gefährliche Verschmelzung zwischen Mutter und Kind identifiziert, wobei an den Vater die Aufgabe gestellt werde, an die Stelle der präödipalen Mutter-Kind Liebe die »Matrix seiner Sprache« zu setzen (Irigaray 1989:35). Dies schließe den ersten Körper, die erste Behausung und erste Liebe zur Mutter mit ein, die dem »Imperium der Sprache« geopfert würde.20 Wie Gilligan (1996) kritisiert sie, dass als männlich gesetzte Eigenschaften wie symbolische Fähigkeiten, Ablösung, Differenz und Sprache privilegiert würden, während mit der Frau identifizierte Bereiche wie Gleichheit, Einheit, Verschmelzen und Bindung als problematische Abweichung und Regression betrachtet würden. Dabei merke das privilegierte männliche Geschlecht nicht, dass es unreflektiert die Frau als das Andere beschwöre und sich selbst als das Eine, das einzige menschliche Geschlecht setzt (Irigaray 1979). Irigaray fragt, wie sich ein Imaginäres über diese erste Beziehung zur Mutter entwickeln könne, wenn darüber keine symbolische Vorstellung existiere. Sie vermutet, dass sich ein solches Begehren nach der »Ur-Matrix« in die Körper-Öffnungen der Frauen einschreibt und dort als Bedrohung, Ansteckungsgefahr, Abgrund und Wahnsinn abgewehrt wird. Hierbei wird ein Bezug hergestellt zwischen psychoanalytischen Konzepten über die frühe Mutter-Kind-Beziehung und Kon-

20 Auch Janine Chasseguet-Smirgel (1976) verweist auf eine der frühen Mutter zugeschriebene Allmacht. Sie kritisiert den psychoanalytischen Phallozentrismus als Ausdruck der Abwehr einer allmächtigen Mutter-Imago, die in Schach gehalten werden solle. Rohde-Dachser (1989b) und Morée (2001) kritisieren jedoch, dass Chasseguet-Smirgel später selbst der Versuchung erliegt, die symbolische Welt des Vaters und der Sprache als rettende Funktion auszurufen und sie einer gefährlichen Verschmelzungsgefahr mit der Mutter dichotom gegenüberzustellen.

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zepten der Oralität. Dabei markiert die Abwehr eines frühen Begehrens und der ersten Liebe auch hier einen unbetrauerbaren Verlust: »Der unveränderliche Charakter dessen, was man in den analytischen Therapien Oralität nennt, der grenzenlose Durst, der Wunsch von ihr, der Mutter, bis zum Bersten gefüllt zu werden, von dem man uns so viel erzählt und der bestimmte Kuren unmöglich machen soll, dieser Schlundcharakter des Säuglingsmundes – und auch des weiblichen Geschlechts -, ist er nicht bereits vom ödipalen Haß aus gedacht und phantasiert? Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß der Hunger eines Kindes oder der sexuelle Appetit einer Frau unstillbar wären. Alles beweist das Gegenteil. Aber diese Mundöffnungen des Kindes und jedes Begehren werden zum Abgrund, wenn der Aufenthalt in utero zensiert wird und wenn die Narbe, die die Trennung von dieser ersten Behausung, dieser ersten Amme, hinterläßt, ungedacht und uninterpretiert bleibt. Beinhaltet das, was das Kind von der Mutterbrust begehrt, nicht das Verlangen, ›alles‹ zu bekommen? [...]. Dieses ›alles‹ verlagert sich in die orale Gier, statt in seinem Raum, in seiner Zeit angesiedelt zu werden, und in der Trennung davon.« (Irigaray 1989:37)

Auch Irigaray postuliert also, dass der männliche Blick auf die Frau und auf Weiblichkeit aus der Perspektive des ödipalen Jungen gedacht wird. In ihrer Interpretation liegt diesem Blick ein Verlust der ersten Liebesbeziehung und der monadischen Beziehung (Grunberger 1988) zwischen Mutter und Kind im Uterus zugrunde, der unbetrauerbar und unsymbolisierbar verborgen werden muss. Die Verknüpfung der Konstruktion von Geschlechtlichkeit mit einem frühen unbetrauerbaren Verlust, stellt also eine zentrale Verknüpfung von Geschlecht, Melancholie und Depression dar. In Irigarays Theorie verbinden sich diese ersten Verluste direkt mit der Konstruktion von Weiblichkeit. Rohde-Dachser wiederum zeigt, dass sowohl den Vorstellungen von Weiblichkeit aus der Perspektive des Jungen als auch den Vorstellungen von Männlichkeit aus der Perspektive des Mädchens (Verlust-)Ängste eingeschrieben sind, die durch die jeweiligen Theorien über Geschlecht zum Verschwinden gebracht werden sollen. Wie aber sind diese frühen Verluste und die mit ihnen einhergehenden Kränkungen und Getrenntheitserfahrungen, nicht Alles sein zu können und nicht Alles haben zu können, mit der Aneignung und Anerkennung der Geschlechtsdifferenz verknüpft?

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3.4 Geschlecht, Verlust und Depression In den Phantasien, die Rohde-Dachser (1989a) und Irigaray (1989) für die psychoanalytischen Theorien über Geschlecht identifizieren, liegen nicht nur eine Vermeidung von Rivalität, Neid und Konflikt, sondern auch eine Verleugnung des Verlustes und der Kränkung, die mit der Anerkennung der Geschlechtsdifferenz einhergehen. Wenngleich sich mit Rohde-Dachser (1989a) argumentieren lässt, dass viele psychoanalytische Theorien über die Geschlechterdifferenz versuchen, den Verlust und die (ödipalen) Konflikte, die mit der Geschlechterdifferenz einhergehen, zu überdecken, so gibt es doch zentrale Texte, die auf frühe Verluste und ödipale (Geschlechter-)Konflikte verweisen und diese sogar in das Zentrum ihrer Geschlechtertheorie stellen. Theorien, die Verlust und Geschlechtlichkeit zusammendenken, verweisen auf eine Verbindung zwischen Depression und Geschlecht, die im Folgenden dargestellt werden soll. Von Irene Fast (1991), für die Geschlecht eine Kränkung für Mädchen aber auch für Jungen darstellt, über Melanie Klein (1932), bei der die menschliche Entwicklung nicht ohne Verluste und Neid voranschreitet, bis zu Judith Butler (1995), für die Geschlecht selbst eine melancholische Verarbeitung des Verlustes des ersten gleichgeschlechtlichen Liebesobjekts markiert, lassen sich anhand psychoanalytischer Theorien zu Geschlecht und Depression die Spuren einer Verlustgeschichte nachvollziehen. 3.4.1 Geschlecht als Kränkung Irene Fast (1991) bezieht sich explizit auf die Kränkung durch den schicksalhaften Einschnitt der Geschlechterdifferenz im Leben des Kindes. Die Autorin beschreibt in ihrem Buch »Von der Einheit zur Differenz – Psychoanalyse der Geschlechtsidentität« wie die Kränkung, nur über ein Geschlecht zu verfügen, bei Jungen und Mädchen Neid produziert. Ihre Theorie handelt von der kränkenden Erfahrung, die das Kind im zweiten Lebensjahr macht, wenn es den anatomischen Geschlechtsunterschied entdeckt, anerkennt und damit bestimmten (Körper und Identifikations-)Grenzen unterworfen wird. Sie argumentiert, dass auch der Junge mit der Anerkennung des Geschlechtsunterschieds an neue Grenzen stößt, und dass auch er Neid empfindet und einen Verlust verspürt, der verarbeitet werden muss. Die Anerkennung des anatomischen Geschlechtsunterschieds solle bei Jungen und Mädchen nicht verleugnet, sondern in einer schrittweisen Auseinanderset-

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zung mit der Differenz bewusst gemacht und durchgearbeitet werden. Anders als Rohde-Dachser ist es nicht Fasts Anliegen, die Herstellung der Differenz selbst in den Blick zu nehmen, vielmehr argumentiert sie dafür, beiden Geschlechtern in Hinblick auf die Differenz mehr »Gerechtigkeit« widerfahren zu lassen. Bei Fast stellt die Erfahrung der Geschlechterdifferenz die universelle Kränkung dar, nicht alles sein zu können. Verfügt das Kind bis zu diesem Erkenntnisschritt noch über die omnipotente bisexuelle Vorstellungen, sowohl Kinder gebären als auch zeugen zu können und sowohl Mutter als auch Vater ähnlich zu sein, erlebt es in der Folge einen Verlust an Identifizierungsmöglichkeiten. Sie geht von einer, bereits bei Freud beschriebenen, konstitutionellen Bisexualität aus, nach der sowohl Jungen als auch Mädchen bis zur Aneignung der Differenz davon überzeugt sind, sowohl wie die Mutter als auch wie der Vater werden zu können. Durch die Anerkennung der Geschlechtsdifferenz müssen nicht nur die geschlechtsinkongruenten Identifizierungen aufgegeben werden, auch das Begehren nach Mutter und Vater bahnt sich in neue Wege. Dabei ist die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschieds die erste Entdeckung eines Verlustes, einer Kränkung und Wunde, die aus unterschiedlicher psychodynamischer Perspektive betrachtet werden kann. 3.4.2 Geschlecht und Depressive Position The manic-depressive and the person who fails in the work of mourning, though their defenses may differ widely from each other, have this in common, that they have been unable in early childhood to establish their internal good objects and to feel secure in their inner world. Julia Kristeva (2001)

Melanie Klein (1932) kann keine unbewusste Abwehr der negativen, trennenden Gefühle von Neid, Schuld und Hass in der Primärbeziehung unterstellt werden. Vielmehr stellt die von Julia Kristeva (2001) als »most original innovator, male or female, in the psychoanalytic arena« gefeierte Pionierin, kränkende Gefühle von Angst, Neid und

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Trauer in das Zentrum ihrer psychoanalytischen Entwicklungstheorie. Die Forscherin entwickelt ihre Theorie der kindlichen Entwicklung aufgrund ihrer Pionierarbeit in der Analyse mit Kindern in den frühen zwanziger Jahren. Nach Kristeva provoziert Klein besonders mit der Idee, dass die Entwicklung des Symbolischen und des Denkens beim Kind auf Grundlage eines Muttermordes (Matricide) entstehen. Von besonderer Bedeutung sei in Kleins Theorie, dass die Mutter, anders als bei Freud, die zentrale Figur darstelle. Bei Klein steht nicht der Vater und sein Penis im Mittelpunkt der menschlichen Entwicklung, sondern die Mutter und ihre Brust. Der Vater droht in ihrer Theorie vielmehr zu verschwinden und spielt nur noch eine marginale Rolle (Britton 2006). Anders als Freud betrachtet Melanie Klein die Bedeutung des Phallus lediglich als Abkömmling der früheren Zuwendung zur weiblichen Brust (Klein 1932). Bedeutsam für diese Arbeit ist besonders, dass die Geschlechterdifferenz bei Klein vor dem Hintergrund der depressiven Position entsteht. Diese depressive Entwicklungsstufe trägt alle Züge der depressiven Krankheit, wobei sie von Klein aber als eine notwendige Entwicklungsstufe konzeptualisiert wird, die erstmals mit dem Verlust der mütterlichen Brust durch Abstillen in Gang gesetzt wird (Klein 1932). Die Entwicklung für den Jungen und das Mädchen verläuft dabei unterschiedlich. Die Entwicklungsaufgabe der depressiven Position ist es dabei, trotz der erlebten Verluste ein gutes ambivalenztolerantes inneres Objekt im Ich zu installieren. Nach Kristeva (2001) werden dabei sowohl die Mutter als auch der Vater, sowie beide als Paar, im Inneren repräsentiert: »From the perspective of the depressive position, the task of resolving the Oedipus conflict requires that a good breast (a good mother), a good father and a good creative couple are established inside the ego. That entails introjecting the two sexes – the two Others – as manifested in the suffering common to depressive working through.« (Kristeva 2001:81)

Die depressive Position stellt eine Weiterentwicklung, einen Entwicklungsschritt, aus der von Klein als schizoide Position beschriebenen präödipalen Phase dar, in der das Kind oder der Säugling noch nicht in der Lage ist, ambivalente Gefühle zu integrieren, sondern diese psychotisch in »nur Gut« und »nur Böse« aufspaltet. Nach Kristevas Lesart von Klein entwickelt sich das Ich, vergleichbar mit Freuds Ich-

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Bildung in der Melancholie, in der depressiven Phase unter der »schwarzen Sonne der Melancholie« (Kristeva 2001). Ziel der depressiven Phase ist es, trotz des Verlustes, ein »genügend gutes« (mütterliches) inneres Objekt zu entwickeln. Dies hat den Vorteil, dass ein Kind trotz realer Verluste und Enttäuschungen und den damit einhergehenden ambivalenten Gefühlen gegenüber dem Objekt Mutter, ein gutes, stabiles inneres mütterliches Objekt aufbauen kann, und damit auch spätere Verluste im Leben besser bewältigen und überwinden kann (Klein 1975). Ein solches gutes inneres Objekt schützt dann bei späteren Verlusterfahrungen vor Depression und Verzweiflung. Eine depressive Position ist aber vom Kind nicht leicht zu erreichen, um sie wird im Laufe der Entwicklung des Kindes und auch im späteren Erwachsenenleben immer gerungen. Auch bei Klein scheint besonders das Mädchen verletzlich für Schwierigkeiten in der Entwicklung einer gelungenen depressiven Position (Kristeva 2001). Im Gegensatz zu Freud, der den Kastrationskomplex als Vorraussetzung für die Entwicklung des Über-Ichs ansieht und der die ÜberIch Bildung von Frauen daher als weniger gelungen betrachtetet, verbindet Klein die Über-Ich Entwicklung mit der Mutter. Nach Klein ist es die Beziehung zur Brust, die als erstes Objekt introjiziert wird und die das Über-Ich formt. So beeinflusst die Beziehung zur Mutter die gesamte Über-Ich Entwicklung. Aber auch Klein unterscheidet die Über-Ich Entwicklung bei Jungen und Mädchen. Während die Ängste des Jungen um die Bedrohung der Kastration kreisen, fürchtet das Mädchen den Verlust der mütterlichen Liebe und assoziiert diese mit einer Angst des Muttermords (Matricide) (Kristeva 2001). Nach anderen Interpretationen Kleins ist das Äquivalent der männlichen Kastrationsangst, die Angst der Frau vor dem Körperinneren (MitscherlichNielsen 1975). Weil die Ängste des Mädchens (vor ihrem Körperinneren oder vor dem Mord an der Mutter) ungleich existentieller sind als die Kastrationsangst des Jungen, entwickelt das Mädchen nach Klein nicht ein schwächeres, sondern sogar ein rigideres und verfolgenderes Über-Ich als der Junge. Trotz umgekehrter Vorzeichen ist die Interpretation der unterschiedlichen Über-Ich Bildung aber erstaunlicherweise dieselbe. Das Mädchen braucht nach wie vor äußere Objekte stärker als der Junge, weil diese ihr, so Klein, helfen sollen, eigene Angst- und Schuldgefühle in Schach zu halten (Mitscherlich-Nielsen 1975). Trotz unerbittlichem Über-Ich ist das Mädchen weiter abhängiger als der Junge.

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Kristeva unterscheidet zwei Stadien des Ödipuskomplexes in der Theorie Kleins: Im Ödipus I sind Mädchen und Junge von der Mutter verführt. Das Kind erlebt sich als ungetrennt, es ist symbiotisch an sie gebunden. Diese Primärbeziehung verfügt nicht über Sprache und wird von Sinneseindrücken, Mund an Brust, Mund an Mund, Haut an Haut, Teilobjekt an Teilobjekt dominiert. Hier handelt es sich um die ideale Beschreibung eines ungetrennten Urzustandes, dessen Verlust in lacanianischen Interpretationen Freuds überhaupt erst Bewusstsein und Begehren auslöst und der ein »untröstliches Trostbedürfnis« beim Menschen wecken soll (Gast 2007). Durch das Durchlaufen der depressiven Position wird das kleine Mädchen in die Lage versetzt, ihre Mutter als ganzes Objekt (und damit auch sich selbst als eigenständiges Subjekt mit Begehren) wahrzunehmen. Anders als in der oralen und analen Phase – die von Kristeva dem Oedipus I zugeordnet werden, wechselt das Mädchen nun während der phallisch-genitalen Phase des Oedipus II das Objekt. Das Mädchen und der Junge identifizieren sich fortan mit dem Vater. Die Identifikation des Mädchens mit dem Vater ist jedoch – wie bei Freud – komplizierter und verläuft anders als die des Jungen: »On the one hand the girl identifies with the father as a Phallus, as a symbolic occurrence that exerts power on the mother through its absence or presence, and that contains a visible and detachable object: the penis.« (Kristeva 2001:152). Der Penis selbst wird für das Mädchen zu einem Objekt der Begierde, das nun (anders als die Brust) außerhalb der Mutter existiert. Während sich das Mädchen von der Mutter abwendet und löst, entwickelt sie Hassgefühle auf die nun katastrierte, weil penislose, Mutter. Die Beziehung zu ihr wird depressiv gefärbt. Diese Abwertung des Weiblichen unterstützt das Verlassen der Mutter als begehrtes Objekt und wird abgelöst durch eine phallische Identifizierung. Kristeva (2001) beschreibt dies als eine phallische Investition in Zeichen und Gedanken, die mit der Annerkennung der väterlichen Funktion durch das Mädchen erfolgt. Die Autorität des Vaters (des Phallus) geht über die sinnliche Domäne des Alltags hinaus, der Vater wird als eine unsichtbare Macht wahrgenommen; er und mit ihm die Männlichkeit sind Symbol für Macht und Denken. Aber obwohl das Mädchen nun mit dem Phallus identifiziert ist und jetzt, da sie das erste Mal getrennt vom Objekt existiert, zum Subjekt wird, bleibt sie, anders als der Junge, von dieser Dynamik gleichzeitig auch distanziert. Ihr nämlich fehle der begehrte Penis und ihre Klitoris bleibe für sie stets »invisible and unrecognizable« (Kristeva 2001:153).

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In der symbolischen Welt des Phallus, die mit der depressiven Position ins Leben gerufen wird, verbleibt das penislose Mädchen im Exil. Sie gehört nicht dazu, sie tut nur so »als ob«, dabei erlebt sie sich als maskiert, als verkleidet. Wie bei Joan Riviere (1929) gibt es hier einen Bezug zwischen Weiblichkeit und Maskerade. In ihrer Entwicklung zum denkenden und sprechenden Subjekt verbleibt das Mädchen auf der phallischen Seite und wechselt das Objekt. Sie wählt den Penis als begehrtes Objekt, der nun nicht mehr den Penis innerhalb der Mutter (Ödipus I), sondern den Penis des Vaters (Oedipus II) darstellt: »The Oedipus I (Love-hatred for the mother who possesses the penis) followed by the dual movement of Oedipus II (phallic symbolic identification and a desire for the fathers own penis): what Freud called psychic bisexuality, which he believed was more pronounced in women than men, is shaped in and is explained by the ambiguity of the changes in psychic posture that occur throughout the women’s development. This complex movement helps explain the uncanny maturity exhibited by certain women who manage to achieve psychic bisexuality, in contrast to the immaturity of men who remain attached to their mothers. But it also helps explain the psychosexual difficulties that most women experience and the multiple failures that keep them inside the excitability of hysteria, the throes of depression, or most commonly, frigidity.« (Kristeva 2001:154)

Die Veränderung der »psychischen Position« die das Mädchen, nicht aber der Junge, aktiv vornehmen muss, beschreibt auch Christina von Braun in »NICHTICH« (1985). Ähnlich wie Kristeva (2001) sieht von Braun in der mit dem Vater assoziierten Welt der Sprache die symbolische Funktion, anhand der es dem Mädchen gelingt, sich von der Mutter zu unterscheiden und Selbst und Objekt erstmals zu differenzieren: »Die Mutter ist für die Tochter nicht das »andere Sexualwesen«, sondern ein Spiegelbild ihrer Selbst. Sie kann in der Beziehung zur Mutter nicht das Gefühl ihrer ›Unvollständigkeit‹ entwickeln, das sie erst zum Sexualwesen macht. Die Abgrenzung gegen die Mutter, das Geboren-Werden als ich, als sexuelles Individuum, ist für sie durch die Geschlechtsidentität nicht möglich, denn eben die hat sie mit der Mutter gemein. Durch die unterscheidende Funktion der Sprache hingegen kann sie sich gegen die gleichgeschlechtliche Mutter abgrenzen. Die Sprache erlaubt es ihr, ein Bewußtsein ihrer ›Unvollständigkeit‹ zu entwickeln, zu ihrem ich zu finden, ein Sexualwesen zu werden.« (von Braun 1985:152f)

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Die Sprache und mit ihr die Verbindung zum Vater erlaubt dem Mädchen eine Differenzziehung zur Mutter und damit erst die Erkenntnis der eigenen Getrenntheit. Die Autorin erklärt mit einem erhöhten Abgrenzungsbedürfnis des Mädchens gegenüber der Mutter auch die Beobachtungen, dass Mädchen oftmals früher sauber werden als Jungen, und dass kleine Mädchen im Durchschnitt früher sprechen lernen. Denn für das Mädchen erfüllt die Sprache eine andere Funktion als für den Jungen: für das Mädchen repräsentiert sie die Möglichkeit, sich von der Mutter abzugrenzen und so ein eigenes Ich, eine eigene Subjektivität und ein eigenes Begehren zu entwickeln. Für den Jungen erfüllt sie eine umgekehrte Funktion: »Die Tochter wird Sexualwesen, indem sie, mit Hilfe der Sprache eine Grenze zwischen sich und der Mutter zieht, der Sohn ist – durch seine geschlechtliche Unterscheidung – Sexualwesen und kann, mit Hilfe der Sprache, in Beziehung zum anderen Geschlecht treten.« (von Braun 1985:153). Wie bei Fast (1991) ist hier die Erkenntnis bzw. das »Bewusstsein« der Geschlechtsdifferenz eine Erkenntnis der eigenen »Unvollständigkeit«, die das Kind als »Sexualwesen« mit eigenen Wünschen und Begehren überhaupt erst konstituiert: »Der Begriff des Bewusstseins bedeutet im Japanischen ›erkennen‹ und zugleich ›teilen‹. Das ist für mich die treffende Definition des Begriffs »Bewusstsein«: das Wissen um die eigene ›Unvollständigkeit‹, wie sie sich in Geschlechtszugehörigkeit und Sterblichkeit ausdrückt.« (von Braun 1985:13) Anders als für den Jungen, der sich als verschieden, als nichtgleich mit der Mutter erlebt, besteht für das Mädchen die Schwierigkeit, sich vom dem mit der Mutter als gleich erlebten und von ihr als gleich kommunizierten Körper zu lösen und zu unterscheiden. Wie bei Kristeva ist es die Funktion der Sprache und des Denkens, die die Subjektwerdung des Mädchens begleitet und die sie aus einer für sie mehr als für den Jungen bedrohlichen Welt der symbiotischen Beziehung zur Mutter befreit. Anders als bei Kristeva, bei der die Sprache eindeutig und für beide Geschlechter gleich der Welt des Vaters zugeordnet wird, unterscheidet von Braun eine »weibliche« und eine »männliche« Funktion der Sprache. Während die weibliche Funktion dazu diene, eine Abgrenzung zu vollziehen, Verschiedenheit zu betonen und schließlich die eigene Unvollständigkeit, die durch die Verschmelzung mit der Mutter bedroht ist, wiederherzustellen, diene die »männliche« Funktion der Sprache dazu, über Kommunikation mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu treten und ferner auch dazu, Unterschiede

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und damit Unvollkommenheit wieder zu verbergen. Von Braun sieht in der abendländlichen Kultur eine Dominanz der »männlichen« Sprachfunktion, die die »Sprache als Unterscheidung der sexuellen Identität der Frau in den Hintergrund gedrängt« hat (von Braun 1985:156). Die Sprache werde vielmehr zum Mittel einer »symbiotischen« Vereinigung der Geschlechter, in der die Unterscheidung und Unterscheidungsmöglichkeit aufgehoben ist. Unabhängig davon, ob Mädchen und Junge eine jeweils eigene Funktion der Sprache entwickeln, erscheint die Entwicklung des Mädchens bei Kristeva und von Braun ungleich komplizierter als die des Jungen, denn das eigene Geschlecht des Mädchens muss zunächst »ausgegrenzt werden« (von Braun 1985:156), bevor eine Identifizierung möglich wird. Diese »Kompliziertheit« der Entwicklung, für die auch aufgrund der abendländischen »männlichen« Funktion der Sprache kaum Rituale oder Symbolisierungsmöglichkeiten für die vom Mädchen erlebten Verluste zu Verfügung stehen, trägt möglicherweise dazu bei, dass sich bei Frauen eine größere Empfänglichkeit für Depressionen entwickelt.21 Das Mädchen erlebt frühere und unsymbolisierbare Verluste in einer komplizierteren Entwicklung als der Junge. Diese Entwicklungsdynamik macht es später für die Depression empfänglicher als den Jungen.

21 Anders als in der abendländischen christlichen Kultur, die von Braun (1985) als »männliche« Sprachkultur identifiziert, verfügt das traditionelle Judentum über vielfältige Rituale, in denen die Unvollständigkeit der männlichen und weiblichen Geschlechtsidentität symbolisiert ist. Auch wenn die Befunde gleich hoher Raten an Depressionen bei orthodoxen Juden und Jüdinnen wohl auf ein starkes Tabu von Alkohol und Selbsttötung zurückzuführen sind (vgl. Lowenthal, Goldblatt, Gorton 1995), so ist die Frage danach, welche Rituale und Symbolisierungsmöglichkeiten für die Unvollständigkeit von Männern und Frauen in der Kultur zur Verfügung stehen, dennoch für diese Arbeit zentral. In Kapitel C wird aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auch danach gefragt, wie der Verlust, der mit der Anerkennung der eigenen Unvollständigkeit, die mit der Bewusstwerdung der Geschlechtsdifferenz einhergeht, für Männer und Frauen gesellschaftlich unterschiedlich verarbeitet und betrauerbar werden kann. Christina von Brauns These einer »männlichen« Funktion der abendländischen Kultur folgend (von Braun 1985), lässt sich überlegen, wessen Verluste überhaupt zur Sprache gebracht werden dürfen und betrauert werden können?

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In »Schwarze Sonne: Depression und Melancholie« (1987, dt. 2007) entwickelt Kristeva, basierend auf ihrer Klein-Rezeption, eine Theorie der weiblichen Melancholie, mit der sich die »soziologisch bestätigte größere Häufigkeit von Depression bei Frauen erklären ließe« (Kristeva 2007:79). Nach Kristeva ist die Melancholie Ausdruck eines primären Impulses zum Muttermord, der sich gegen das weibliche erste LiebesObjekt richtet. Kristeva unterscheidet dabei, dass sich die »primäre Aggression« von Frauen gegen das gleichgeschlechtliche Objekt richtet, und daher in abgewehrter Form einem nach innen gerichteten Masochismus gleichkomme, während die männliche Position, aufgrund der Ausrichtung auf ein differentes – nichtgleiches Objekt, einem nach außen gerichteten Sadismus entspreche (Kristeva 1987). Für Frauen – nicht aber für Männer – postuliert Kristeva daher eine Nähe zur Melancholie und Depression: einen melancholischen Masochismus. Kristeva argumentiert, dass der Verlust der ersten Beziehung zur Mutter für alle Menschen im Zuge der »Autonomisierung« lebensnotwendig sei (Kristeva 2007:36). Im Fall des heterosexuellen Mannes oder der homosexuellen Frau könne das verlorene Objekt als erotisches Objekt wiedergefunden werden. Im Fall der heterosexuellen Frau aber müsse es mit »nur zu bewundernder symbolischer Anstrengung« eine Übertragung auf den Anderen, auf das andere Geschlecht erfahren, das nun erotisiert werde (Kristeva 2007:36). Immer aber führe die »je nach Individuum und Toleranz des umgebenden Millieus« stärker oder schwächer ausgeprägte Gewalttätigkeit des muttermörderischen Impulses durch seine Hemmung in der Abwehr zu einer Inversion auf das Ich (Kristeva 2007:37). Kristeva beschreibt plastisch diese ambivalente Introjektion der Liebe und des Hasses auf das Objekt: »›Ich liebe es (scheint der Depressive in Bezug auf sein verlorenes Wesen oder Objekt zu sagen), aber mehr noch hasse ich es; weil ich es liebe, nehme ich es, um es nicht zu verlieren, in mir auf, aber weil es hasse, ist dieses andere in mir ein schlechtes Ich, ich bin schlecht, ich bin nichts, ich töte mich‹. Der Vorwurf gegen sich wäre demnach der Vorwurf gegen einen Anderen, und die Tötung seiner selbst also die tragische Verkleidung eines Mords an einem Anderen.« (Kristeva 2007:18)

Dem Mann kann es gelingen, den auf sein Ich gerichteten Hass auf einen Hass gegen Weiblichkeit zu verlagern, in dem er das phantasmatische und zugleich schützende Wissen entwickelt, wonach der Hass

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von »Ihr« kommt, in dem er »Sie« zum Ebenbild des Todes macht (Kristeva 2007). Durch eine solche Inversion bleibe der Hass auf die Mutter zwar erhalten, das Schuldgefühl werde jedoch ausgelöscht. Der Hass auf die Mutter stelle damit zum einen ein Schutzschild gegen die Verschmelzung dar und zum anderen ein Schutzschild gegen den Muttermordimpuls. Während der Mann einen solchen Sadismus gegen die Frau entwickeln, ausleben und aushalten könne, sei dies für die Frau jedoch unmöglich. Die Frau ist sowohl mit der Mutter identifiziert als auch mit einer Introjektion des weiblichen Körpers, daher ist eine Inversion des muttermörderischen Impulses für sie »schwieriger, wenn nicht unmöglich« (Kristeva 2007:37). Ihr Hass auf die Mutter wendet sich nicht nach außen, sondern ist in ihr selbst abgeschlossen. Die Frau und der homosexuelle Mann teilen daher eine »depressive Ökonomie« (Kristeva 2007:37). Kristevas Lesart von Klein und ihre Weiterentwicklung zeichnet zwei Probleme der weiblichen Entwicklung nach, die sie für eine depressive Ökonomie besonders verletzlich machen: Zum einen die schwierige Arbeit der Transdisposition des ersten Begehrens nach der Mutter auf das gegengeschlechtliche Liebesobjekt des Vaters und die schwierige, wenn nicht gar unmögliche Verarbeitung des Mutterhasses, der sich anders als beim Mann auf ihren eigenen – mit der Mutter identifizierten – Körper richtet. Die von Kristeva untersuchte melancholisch-depressive Disposition bezieht sich dabei auf einen frühen Objektverlust, also in einem Stadium, in dem »Ding« und Objekt noch eins sind – und es liegt nahe zu überlegen, ob der depressive Modus, den sie hier vorschlägt und der sich für Frauen häufiger bzw. chronischer entwickelt, mit der Kategorie der »frühen« anaklitischen Depression zusammengebracht werden kann, die tatsächlich häufiger bei Frauen als bei Männern auftritt. Den hier diskutierten Theorien ist gemeinsam, dass Mädchen aufgrund der wahrgenommenen »Geschlechtsgleichheit« mit der Mutter eine komplizierte Entwicklung durchlaufen und dass sie einen anderen Verlust des ersten gleichgeschlechtlichen Liebesobjektes erleben als Jungen, die sich von der Mutter anders und früher als getrennt erleben. Im folgenden Kapitel wird nun unter Einbezug der Perspektive von Judith Butler (1991) die melancholische Verarbeitung des Verlustes des ersten gleichgeschlechtlichen Liebesobjekts bei Mädchen und Jungen betrachtet.

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3.4.3 Geschlecht als melancholische Identifizierung It may at first seem strange to think of gender as a kind of melancholy, or as one of melancholy’s effects. Judith Butler (2002)

Judith Butler (1991) bezieht sich, wie Kristeva (2007), auf einen frühen Verlust des ersten »gleichgeschlechtlichen« Liebesobjekts bzw. auf dessen frühe Verwerfung. Anders als bei Kristeva ist nach Butler jedoch nicht nur eine primär weibliche Disposition für Depression die Folge dieses ersten Verlustes, sondern das Geschlecht selbst ist Ausdruck einer auf dem Verlust basierenden melancholischen Identifizierung. In Butlers Theorie trifft Freuds Konzept einer melancholischen Trauer mit der Vorstellung zusammen, dass die Geschlechtsidentität selbst einen Verlust markiert. Bei Butler (1991, 2002) ist die Geschlechtsidentität (die männliche und die weibliche) selbst eine Form der Melancholie; sie ist Ausdruck einer Geschlechtermelancholie. Das Geschlecht ist Effekt und Ausdruck einer melancholischen Identifizierung: »Im folgenden Abschnitt ›Freud und die Melancholie der Geschlechtsidentität‹ versuche ich, die zentrale Bedeutung der Melancholie als Konsequenz eines uneingestandenen Trauerschmerzes auszulegen, der sich mit dem Inzesttabu verbindet, das die sexuelle Positionen und Geschlechtsidentitäten begründet, indem es uneingestandene Verluste instituiert.« (Butler 1991:228)

Butler schließt an Freuds (1917) Theorie der melancholischen Identifizierung an und argumentiert, dass in einer heterosexuellen Gesellschaft die gleichgeschlechtliche Objektwahl und die gleichgeschlechtliche erotische Liebe als Möglichkeit verworfen werden müssen. Da diese Möglichkeiten verworfen werden, sind sie nicht betrauerbar und werden zu melancholischen Gespenstern, die in Form der melancholischen Identifizierung als Männlichkeit und Weiblichkeit die Geschlechtskörper heimsuchen. In der Theorie von Butler (1995) verkörpert die Geschlechtsidentität eine Form der pathologischen Trauer, die aufgrund des nicht betrauerbaren Verlusts des ersten homoerotischen Liebesobjekts in der Kindheit entsteht. Mit der Verwerfung des ersten Liebesobjektes geht auch eine Ablehnung oder Abkehr von ge-

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schlechtsinkongruenten Eigenschaften in der Kindheit einher. Diesem Prozess liegt nach Butler eine heterosexuelle Zwangsmatrix zugrunde, die ein Homosexualitätstabu errichtet und durch die in einem Raster der kulturellen Intelligibilität Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert: »Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muß es ein festes Geschlecht geben, das durch eine feste Geschlechtsidentität zum Ausdruck gebracht wird, die durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.« (Butler 1991:220)

Butler, deren »Gender Trouble« (dt. »Das Unbehagen der Geschlechter« 1991) nicht nur in der Geschlechterforschung für Aufruhr gesorgt hat, entwirft mit ihrer Interpretation von Geschlecht als Effekt einer melancholischen Identifizierung eine dekonstruktivistische psychoanalytische Theorie, in der Geschlecht durch Sexualität und Begehren hervorgebracht wird und in der die Geschlechtsidentität umgekehrt Sexualität und Begehren formt. In ihrer Theorie werden aufgrund der gesellschaftlichen Konstruktion von zwei binären Geschlechtern und damit einhergehenden gegensätzlichem homo- oder heterosexuellen Orientierungen die ersten homoerotischen Liebesobjekte der Kindheit, also die gleichgeschlechtlichen Elternteile, zu verlorenen Objekten, deren Verlust nicht betrauert werden kann.22 Heterosexuelle Ideologie und Praxis ist nach Butler daher tief verwoben mit einer Melancholie, in der die Geschlechter eine »melancholische Maskerade« (Riviere 1929) aufführen. Butler räumt ein, dass es unterschiedlichste Erfahrungen von Geschlecht und Sexualität gibt, für ihre Argumentation ist jedoch die allgemeine Frage nach unbetrauerten und unbetrauerbaren Verlusten für die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten zentral. Dafür macht sie Freuds Theorie der Identifizierung mit dem verlorenen Objekt für die Erklärung des Prozesses der Geschlechtsbildung fruchtbar. Sie unter-

22 Die Aneignung der Geschlechtlichkeit vollzieht sich bei Butler in drei Schritten: Die heterosexuelle Matrix der Zweigeschlechtlichkeit produziert binär geschlechtliche Anrufungen, durch die zwei Geschlechter hergestellt werden und in der Homosexualität einem Verbot unterworfen ist. Über den so erzeugten Verlust des homosexuellen Objekts und Begehrens konstruiert sich in der Folge die Geschlechtsidentität.

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nimmt ein »cultural engagement« mit der Psychoanalyse, dessen Ziel es ist, transdisziplinäre Beziehungen zwischen den Wissensfeldern Philosophie und Psychoanalyse herzustellen. Aufgrund des gesellschaftlichen Homosexualitätstabus muss das Kind das gleichgeschlechtliche Liebesobjekt und das Begehren nach dem gleichgeschlechtlichen Elternteil aufgeben. Neben dem Inzesttabu, das auch in der heterosexuellen Objektwahl ein zentrales Verbot darstellt, kann der tiefe doppelte Verlust (von Objekt und Begehren) aufgrund des Homosexualitätstabus nicht betrauert werden. Dies führt zu schwerwiegenden geschlechtlichen Konsequenzen. Denn das verworfene Begehren und Liebesobjekt wird, da es nicht bewusst betrauert werden kann, durch melancholische Identifizierung zum formgebenden Teil der Geschlechtsidentität. Butler bezieht sich dabei auf Freuds Aussagen in »Trauer und Melancholie« (1917) und auf spätere Ergänzungen in »Das Ich und das Es« (1923). Bezugnehmend auf Freud versteht sie die Melancholie als einen unfertigen Prozess der Trauer, der für die Ichbildung zentral ist und der bereits bei Freud in Verbindung mit der Aufgabe eines Sexualobjekts verhandelt wird: »Soll oder muss ein solches Sexualobjekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht selten die Ichveränderung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich wie bei der Melancholie beschreiben muss: die näheren Verhältnisse dieser Ersetzung sind uns noch nicht bekannt. Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte aufgibt. Jedenfalls ist der Vorgang zumal in den frühen Entwicklungsphasen ein sehr häufiger und kann die Auffassung ermöglichen, dass der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält.« (Freud GW XIII 1923:57)

Hier ist die Bildung des »Ichcharakters« ein Prozess, in dem sich die Schatten verlorener Liebesobjekte niederschlagen, das Ich wird gebildet aus den vergangen Effekten melancholischer Identifizierungen, die hier nicht als pathologischer Prozess verstanden werden, sondern als zentraler Mechanismus der Ich-Bildung. Darüber hinaus wird die melancholische Identifizierung bzw. die melancholische Errichtung des Anderen im Ich von Freud sogar als eine notwendige Bedingung vermutet, durch die das Ich überhaupt erst bereit ist, von seinen Objektbesetzungen zu lassen. Freuds klassisches Beispiel für diesen Prozess der Ichbildung sind Frauen: »Bei Frauen, die viele Liebeserfahrungen ge-

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habt haben, glaubt man, die Rückstände ihrer Objektbesetzungen in ihren Charakterzügen leicht nachweisen zu können.« (Freud GW XIII 1923:57f). Die Rückstände der verlorenen Liebesobjekte sind eine archäologische Erinnerung an die unaufgelöste Trauer (Butler 1995). In Freuds theoretischer Weiterentwicklung der frühen Thesen aus »Trauer und Melancholie« (1917) bedeutet das verlorene Objekt loslassen zu können, nicht mehr das vollständige Ablösen vom Objekt, sondern einen Transfer des äußeren Objektes in ein inneres durch melancholische Introjektion. Die Introjektion bewahrt das verlorene Objekt in der Psyche auf, dem völligen Verlust wird so Einhalt geboten, die Annahme der Trauer um das Objekt in einen unbestimmten Ort in der Zukunft verschoben. In der melancholischen Identifikation wird das verlorene Objekt im Ich internalisiert, einverleibt und phantasmatisch aufrechterhalten. In der Identifizierung liegt daher immer beides, das Verbot und das Begehren: Die Melancholie verkörpert den unbetrauerten Verlust. Das Objekt wird aber nicht nur psychisch aufgenommen und aufrechterhalten, sondern wie Butler betont, es wird inkorporiert und in den Körper einverleibt. Butler bezieht sich dabei wiederum auf Freud (1923), für den das Ich auch immer Körper-Ich ist. Freud bezeichnet den Körper als die Projektion einer Oberfläche und die Ich-Entwicklung als immer schon durch ein Konzept des Körpers bestimmt: »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.« (Freud GW XIII 1923:252f). Den melancholischen Mechanismus der Einverleibung denkt Butler als einen somatischen Vorgang, als Projektion einer Oberfläche. Im Anschluss an Nicolas Torok und Maria Abraham (1987) argumentiert sie weiter, dass die Inkorporation oder Einverleibung einen leeren – wortlosen – Raum schafft, eine Krypta, die den Körper selbst als einverleibten Raum besetzt. Abraham und Torok betonen, dass in der Melancholie der Zustand des verleugneten Trauerschmerzes aufrechterhalten wird, in dem das Objekt magisch im Körper am Leben erhalten wird. Butler unterscheidet an dieser Stelle nun eine später in der Entwicklung stattfindende Introjektion von der früheren Inkorporation bzw. eine melancholische Identifizierung im Symbolischen von einer eben nicht symbolisierbaren melancholischen Einverleibung. Die Inkorporation kann nicht versprachlicht und muss daher somatisch ausgedrückt werden. Als besonders früher Prozess in der Ich-Entwicklung schreibt sie sich direkt in den Körper ein und wird nicht symbolisch

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repräsentiert. Sowohl Butler als auch Abraham und Torok verweisen auf den Prozess der melancholischen Einverleibung der Mutter, der dazu führt, dass ein leerer Raum entsteht, in dem der Verlust nicht in Wörter verschoben werden kann, sondern indem er kryptiert werden muss23. Butler begreift die geschlechtliche Identität als eine solche Krypta – als körpergewordenen Ausdruck einer Einverleibung, die den Verlust in und auf den Körper schreibt. Abraham und Torok (2001) formulieren in »Trauer oder Melancholie. Introjizieren – inkorporieren« eindrücklich, wie sie sich diesen körperlichen Prozess der Inkorporation vorstellen: »Um den Verlust nicht »schlucken« zu müssen, stellt man sich vor, das Verlorene in Form eines Objekts zu verschlucken oder verschluckt zu haben.« (Abraham & Torok 2001:547). Dabei unterscheiden sie die Inkorporation von der Introjektion. Die Einverleibung erspare anders als die Introjektion, die »Mühsal der Verarbeitung« und die Erfahrung der Bedeutung des Verlustes (Abraham & Torok 2001:554). In der Einverleibung durch Inkorporation stößt demzufolge die Arbeit der Introjektion auf das Hindernis eines Verbotes, was dazu führt, dass der Einverleibung die Worte fehlen. Diese unsagbare Trauer, die Butler dem Homosexualitätstabu zuschreibt, führt zur Errichtung einer intrapsychischen – heimlichen – Gruft im Inneren. Dieses Geheimnis im Inneren bewahre den Verlust, zusammen mit der Verwerfung, für immer auf. Abraham und Torok beschreiben dies als eine Verewigung der heimlichen Lust: »Einverleibungsphantasien entstehen dann, wenn man nicht anders kann, als eine heimliche Lust nach deren Verlust zu verewigen, indem man daraus ein intrapsychisches Geheimnis macht.« (Abraham und Torok 2001:551) Nach Butler besteht der Unterschied zwischen dem Inzesttabu in der heterosexuellen Objektwahl und der homosexuellen Objektwahl in dieser Verwerfung, die im Sinne des doppelten Verlustes nur bei der homosexuellen Objektwahl entsteht. Denn das heterosexuelle Inzesttabu kann durchaus betrauert werden; der Verlust, den es markiert, führt zwar zur Verschiebung des Objektes, nicht aber zur Verschiebung des Objektziels bzw. nicht zur Verleugnung des Begehrens selbst. Der Verlust des homosexuellen Liebesobjekts jedoch führt dazu, dass sowohl Ziel als auch Objekt aufgegeben werden. Dies führt zu einer doppelten Verneinung und Verwerfung. Durch diese Verwerfung erst

23 Vgl. Greens Konzept der weißen Trauer (Green 2004).

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entwickelt sich die melancholische inkorporierte Struktur, die die heterosexuelle Identität stiftet. Butler beschreibt also den komplizierten Prozess der Geschlechtsidentitätsbildung im Sinne der Einverleibung als einen maßgeblich psychosomatischen Vorgang, bei dem bestimmte Körperteile und Lustzentren an Bedeutung gewinnen und andere an Bedeutung verlieren – bei dem also nicht nur eine psychische Aneignung der heterosexuellen Geschlechtsidentität stattfindet, sondern durch einen körperlichen Prozess der Naturalisierung eines melancholischen Verlusts des gleichgeschlechtlichen Elternteils eben jene Geschlechtlichkeit überhaupt erst entsteht: »Wenn die Differenzierung der Geschlechtsidentitäten auf dem Inzesttabu und dem vorgängigen Tabu gegen die Homosexualität beruht, ist der Prozess, ein Mann oder eine Frau zu werden (›becoming a gender‹), der mühsame Vorgang, naturalisiert zu werden. Dieser Prozeß erfordert eine Differenzierung der Köperlüste und Körperteile auf der Grundlage der kulturell erzeugten Bedeutungen der Geschlechtsidentität (gendered meanings). Angeblich sind die Lüste im Penis, in der Vagina und in der Brüsten verortet oder gehen aus diesen Körperzonen hervor. Freilich entsprechen solche Beschreibungen einem Körper, der bereits als für die jeweilige Geschlechtsidentität spezifischer (gender-specific) instituiert oder naturalisiert ist. Mit anderen Worten: bestimmte Körperteile werden genau deshalb zu Vorstellungszentren der Lust, weil sie dem normativen Ideal eines solchen, für die Geschlechtsidentität spezifischen Körpers entsprechen. In bestimmtem Sinne werden die Lüste durch die melancholische Struktur der Geschlechtsidentität determiniert, die manche Organe für die Lust abtötet, andere wiederum zum Leben erweckt. Die Frage welche Lüste leben dürfen und welche sterben müssen, steht oft im Dienste der Legitimationsverfahren der Identitätsbildung, die sich innerhalb der Matrix der Normen und der Geschlechtsidentität vollzieht.« (Butler 1991:111)

Durch die melancholische Struktur des Geschlechts, in der sowohl das Ziel des Begehrens als auch das Begehren selbst, die homosexuelle Besetzung, verleugnet werden, entsteht entlang normativer Setzungen der heterosexuellen Matrix der Zweigeschlechtlichkeit eine Krypta. In den Körperraum werden Ziel und Objekt eingeschlossen und so die heterosexuelle Geschlechtsidentität hervorgebracht. Steve Garlicks (2002) beschreibt in »Melancholic Secrets: Gender Ambivalence and the Unheimlich« im Anschluss an Butler ein

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melancholisch einverleibtes Geschlecht als ein »unheimliches Heim« (»haunted home«). Einerseits stellen, so Garlicks, die normativen Positionen feminin und maskulin einen Rahmen her, in dem eine Person kulturell intelligibel (anrufbar) wird und formen somit ein Zuhause, eine Behausung, in der eine Person existieren kann – mithin also eine Heim, von dem aus sich die Identität entwickelt. Gleichzeitig seien diese vergeschlechtlichten Identitäten aber auch das Äquivalent eines unheimlichen Hauses, wie Freud (1919) es in seinem Text über das Unheimliche beschreibt. Die Geschlechter würden als Behausung von den melancholischen Strukturen des verlorenen Anderen heimgesucht. In diesem Sinne stellt die Heimsuchung ein Geheimnis dar, das dem geschlechtlichen Heim zugrunde liegt. Garlicks (2002) argumentiert mit Freud, dass das Unheimliche aus dem verlorenen, verdrängten, ehemals Vertrauten des gleichgeschlechtlichen Liebesobjekts entsteht und einen inneren Wiederholungszwang enthält: »Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimliche, Altvertraute«. Die Vorsilbe »un« an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.« (Freud GW XII 1919:259). Das Geschlecht ist nach Butler schließlich Ausdruck einer »unheimlichen« melancholischen Einverleibung des ehemals vertrauten und zugleich begehrten gleichgeschlechtlichen Liebesobjekts und des homoerotischen Begehrens. Der Prozess der Verwerfung und melancholischen Identifizierung des ersten homoerotischen Liebesobjekts hat mehrere Konsequenzen für die Geschlechtsidentität (Hansell 1998). Erstens führt die Verwerfung zur Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen verworfenen Elternteil und so zu einer Reproduktion stereotyper Geschlechtsidentität (Hansell 1998). Das unbewusste Motiv für diese Identifikation ist ein Ungeschehenmachen-Wollen des Verlustes: Wenn ich so werde wie der Elternteil, den ich liebe, dann habe ich sie/ihn nie verloren (Hansell 1998). Zweitens kann die melancholische Verwerfung zur Aufrechterhaltung von homophoben Tendenzen in der Gesellschaft führen, denn diese erinnern an das unliebsame verworfene Begehren (Hansell 1998). Und drittens führt die Identifikation schließlich zur Tendenz einer ambivalenten Bindung an die abgewerteten Eigenschaften des anderen Geschlechts. So begehrt z.B. der heterosexuelle Mann die Frau, die er niemals sein wird. In der Frau und im Weiblichen bringt der Mann seine verworfenen

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weiblichen Anteile unter, um sie dort abzuwerten oder zu idealisieren (Hansell 1998).24 Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau wendet Bulters »cultural engagement« auf die klinische Fragestellung nach dem erhöhten Depressionsrisiko von Frauen an (Quindeau 2005). Sie nimmt in ihrem Aufsatz über Weiblichkeit und Depression an, dass Frauen von der Butler’schen Verwerfung in besonderer, doppelter Weise betroffen sind. Denn für Mädchen wie auch für Jungen ist in den meisten Fällen die Mutter das erste Liebesobjekt. Da die Mutter aber nur für Mädchen nicht aber für Jungen ein gleichgeschlechtliches Liebesobjekt darstellt, trifft sie das Homosexualitätstabu früher und in anderer Form als den Jungen. Für Mädchen ist die Mutter das verlorene Objekt, und aufgrund der weiblichen Dominanz des »Mutterns« (Chodorow 1978) ist dieses verlorene Objekt in den meisten Fällen das primäre, erste Liebesobjekt. Wie bereits dargestellt wurde, wird in Butlers Theorie das Mädchen zum Mädchen, indem es einem Verbot unterworfen wird, das ihr die Mutter als Objekt ihres Begehrens verbietet; nicht das Fehlen des Phallus ist Ursache für die Hinwendung zum Vater und die Identifikation mit der Mutter, sondern das Verbot ihres als homoerotisch kodierten Begehrens nach der Mutter. Das verbotene Liebesobjekt kann nicht bewusst betrauert werden und wird so über melancholische Identifizierung im Ich wieder aufgerichtet und zu einem Teil dieses Ichs. Bei Butler (1995) wird also das Mädchen zum Mädchen, in dem es das verbotene Objekt der Mutter und das Begehren nach der Mutter durch melancholische Identifizierung in sich selbst installiert.

24 Freud (1904/1905) beschreibt Männlichkeit und Weiblichkeit mal als biologisch ererbte Dispositionen und an anderen Stellen als theoretische Konstruktion mit ungesichertem Inhalt, die als bisexuelle Anlagen sowohl in Männern als auch in Frauen entwickelt sind. Folgt man Butler sind die Geschlechter vielmehr Errungenschaften, die mit dem Erreichen von Heterosexualität einhergehen. In Butlers Logik wird Geschlecht durch eine heterosexuelle Positionierung überhaupt erst hergestellt und stabilisiert. Die Bedrohung dieser heterosexuellen Positionierung geht daher umgekehrt einher mit der Bedrohung der Geschlechtsidentität. In der heterosexuellen Matrix, wie Butler sie beschreibt, stellt z.B. das Begehren einer Frau nach einer anderen Frau, das eigene Frau-sein in Frage. Homosexualität kann so die Geschlechtsidentität stark verunsichern.

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Bereits 1980 (dt. 1989) beschreibt Irigaray das Homosexualitätstabu als gesellschaftliche und psychoanalytische Norm, die für das Mädchen schwere Folgen hat: »Wenn die analytische Therapie sagt, daß das kleine Mädchen die Liebe seiner und zu seiner Mutter, das Begehren seiner und nach seiner Mutter aufgeben muß, um in das Begehren des Vaters einzutreten, dann unterwirft sie die Frau einer normativen Heterosexualität, die in unseren Gesellschaften üblich, aber vollkommen pathogen und pathologisch ist. Weder das Mädchen noch die Frau brauchen die Liebe zur Mutter aufzugeben. Das reißt sie aus ihrer Identität, ihrer Subjektivität.« (Irigaray 1989:44)

Nach Quindeau (2005) erleidet das Mädchen aber nun nicht nur einen schlimmeren Verlust, weil es das erste Liebesobjekt verliert, sondern sogar einen doppelten. Wie Fast (1996) geht die Autorin von einer konstitutionellen Bisexualität des Kindes aus und nimmt an, dass das Mädchen in der ödipalen Phase anerkennen muss, dass sie nur ein Geschlecht sein kann und somit die geschlechtsinkongruenten, gegengeschlechtlichen Identifizierungen mit dem Vater aufgeben muss, so wie der Junge, die gegengeschlechtlichen Identifizierungen mit der Mutter verliert. Quindeau betont, dass auch die Aufgabe der bisexuellen Identifizierung des Kindes mit beiden Elternteilen, die es zugunsten einer eindeutigen Geschlechtsidentität aufgeben muss, einen melancholischen Verlust darstellt. Gleichzeitig muss das Mädchen jedoch den Verlust ihres ersten Liebesobjekts der Mutter betrauern bzw. verwerfen. Nach Quindeau könnte dieser frühe doppelte Verlust sie besonders für spätere Depressionen anfällig machen. Dabei scheint hier die besondere Qualität des Verlusts des Liebesobjektes bedeutsam: Der Verlust des Mädchens ist schwerwiegender, weil es mit der aufgegebenen homosexuellen Besetzung der Mutter das erste Liebesobjekt verliert. Der Junge, der die gleichgeschlechtliche Liebe zum Vater aufgibt, erfährt diesen Verlust später als das Mädchen, da die Mutter meist sowohl für den Jungen als auch für das Mädchen das erste Liebesobjekt darstellt, während der Vater hingegen erst später hinzukommt. So beschreibt auch Butler (1991), dass das Mädchen den ersten Liebesobjektverlust niemals ersetzen kann. Während Mädchen das (spätere) ödipale Begehren des Vaters verdrängen und auf ein Substitutobjekt verlagern (auf einen anderen Mann oder später einen Sohn), ist für das erste, aufgrund des Homosexualitätsta-

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bus verworfene Begehren nach der Mutter, welches, da verworfen, nie stattgefunden hat, kein Substitut möglich. Es handelt sich in der Verwerfung um ein doppeltes »never-never« – ein »never having loved, therefore never having lost«. Statt eines Transfers des Begehrens der Mutter auf eine andere weibliche Figur, wird die Existenz der homosexuellen Bindung verworfen. Nach Butler entsteht so mit der homosexuellen Verwerfung eine eindeutige heterosexuelle Geschlechtsorientierung, bei der allein der Vater begehrt werden darf und später durch ein anderes gegengeschlechtliches Objekt ersetzt werden kann, während die Mutter zum ambivalenten Ort der Identifikation wird. Das Resultat ist bei Butler eine heterosexuelle Kultur der Geschlechtermelancholie, in der Feminität und Maskulinität die Spuren unbetrauerter Liebe darstellen. Butlers Annahme der Konstruktion von Geschlecht über einen melancholischen Verlust ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Innerhalb der Queer Theory wird Butler vorgeworfen, dass sich ihre deterministisch anmutende psychoanalytische Theorie nicht mit ihrer Performativitätstheorie in Einklang bringen lasse. Innerhalb der Performativitätstheorie akzentuiert Butler den Prozess der Herstellung des körperlichen Geschlechts als performativen Akt der Wiederholung und der kontinuierlichen (Neu-)Produktion, der erst durch die ständige Wiederholung den Anschein von Natürlichkeit und Vorgängigkeit des Geschlechtskörpers erzeugt (Butler 1995). Anders als die unbewussten Vorgänge, die einem Wiederholungszwang gleich in der Melancholietheorie Butlers von einem Subjekt als kaum beeinflussbar erscheinen, betont die Idee der Performativität, dass jede Wiederholung auch eine Abweichung vom Original darstellt und dass sich so Widerständigkeiten ergeben, die für eine politische oder widerständige Lesart von Geschlecht produktiv gemacht werden können. Dabei ist jedoch auch für Butlers Theorie der Geschlechtermelancholie die Annahme zentral, dass es keine dem Geschlecht vorgängige Natur gibt, die die Geschlechtsidentität hervorbringt. Es sind auch hier die kulturellen Normierungen und Identifikationsprozesse in der heterosexuellen Matrix der Zweigeschlechtlichkeit, die Geschlecht und Geschlechtskörper überhaupt erst konstituieren. Andererseits kann nun genau diese Annahme wiederum gegen Butler gewandt werden: Wie kann das Kind ein Homosexualitätstabu anerkennen, wenn es keine der Heterosexualität vorgängige Vorstellung von Geschlechtsidentität hat?

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Auch in Psychoanalyse, in der sie allerdings weitaus weniger als in der Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft und der Geschlechterforschung rezipiert wurde, wird Butler kritisiert. Exemplarisch soll hier eine psychoanalytische Kritik von Reimut Reiche (2004) skizziert werden. Der Psychoanalytiker geht der Frage nach, welchen Gebrauch FeministInnen und andere TheoretikerInnen, die Butler folgen, von der Psychoanalyse und Lacan machen. Er wirft Butler vor, dass sie Lacan etwas zuschreibt, was es bei Freud nur vordergründig nicht gebe, um ihn dann gleichsam »feministisch aufzubessern«. Gleichzeitig unterstellt er Butler, dass sie weitaus weniger radikal sei, als ihr sprachlicher Gestus es nahe lege. Ihre Popularität liege vielmehr darin, dass sie ein »attraktives Angebot« für all jene mache, »die sich sexuell nicht festlegen wollen oder können.« (Reiche 2004:24). Hier sieht er vornehmlich Frauen in Gefahr, denn bei Frauen sei »in kulturgeschichtlicher Dimension Sexualobjekt und Sexualziel nicht so stark verlötet wie beim Mann.« (Reiche 2004:24). Als noch bedeutender wertet er die Motivation, die er vielen Frauen unterstellt, die Butlers verführerischem Angebot erliegen würden. Diese Frauen steckten nach Reiche in einem »Coming Out Konflikt« und nutzen nun Butlers »degendering« als Schutzmantel, um diesen Konflikt zu umgehen. Als direkte Kritik an Quindeaus ButlerRezeption bemerkt er, dass die Idee »das die ausgeschlossene (homosexuelle) »Hälfte« gleichsam als kultureller Untoter weiterlebt« (Reiche 2004:22) zwar interessant wäre, aber seit Platons Theorie der Zweigeschlechtlichkeit eigentlich nicht neu sei. Darüber hinaus unterstellt er Butler, dass ihre Theorie der Verwerfung des homosexuellen Liebesobjektes auch mit konventionellen psychoanalytischen Theorien abzudecken gewesen wäre. Er vermutet, dass Butler diese Theorien »höchstwahrscheinlich gar nicht kennt« (Reiche 2004:22). Tatsächlich wurde die Idee einer melancholischen Identifizierung des Mädchens mit der Mutter bereits 1980 von Luce Irigaray thematisiert, was Butler jedoch durch mehrfache Verweise auf die Autorin explizit zum Ausdruck bringt. Reiche aber verweist darauf, dass auch der negative Ödipuskomplex oder Theorien zur latenten Homosexualität schon lange vor Butler genügend gut dargestellt worden seien. Tatsächlich sieht Irigaray bereits 1980 in der Entdeckung der Kastration beim Mädchen einen unbetrauerbaren Verlust und verbindet diesen als erste mit der Ausbildung einer melancholischen Struktur bei Frauen. Sie argumentiert, dass die Anerkennung der Kastration für das kleine Mädchen einen Verlust darstellt, der sich jeder Möglichkeit der

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Vorstellung oder Symbolisierung entzieht. Für Frauen stelle die Melancholie eine psychoanalytische Norm dar, die auf dem Begehren beruhe, einen Penis zu haben – ein Begehren, das nicht bewusst werden kann und daher melancholisch verarbeitet werden müsse. Irigaray zufolge ähneln sich daher in Freuds Arbeiten die Struktur der Melancholie und die Struktur der Weiblichkeit ernorm. Irigaray identifiziert hier eine konzeptuelle Überlappung von Melancholie und Weiblichkeit, wie sie sich in modernen Definitionen auch für Depression und Weiblichkeit findet. Die Ähnlichkeit zwischen Melancholie und Weiblichkeit bei Freud ist jedoch keine Begriffliche, sondern eine strukturelle: Denn sowohl für Melancholie als auch für Weiblichkeit existiere immer eine doppelte Verleugnung, die sowohl das Ziel als auch das Objekt des Begehrens betreffe und melancholisch verarbeitet werden müsse (Irigaray 1980, Butler 1991). In »Speculum – Spiegel des anderen Geschlechts« vergleicht Irigaray die Struktur der Melancholie bei Freud mit der diskursiven Struktur seiner Weiblichkeitsstheorie (Irigaray 1980). Das Mädchen erlebe in ihrer Entwicklung einen anderen, schwereren Verlust als der Junge – mit melancholischen Folgen. Der Junge bei Freud entwickelt eine »vorbildliche Identifizierung« zum Vater und verfügt über die Mutter als sexuelle Objektbesetzung (Irigaray 1980:82). Hingegen ist für das Mädchen die Mutter das erste Liebesobjekt, »das erste Objekt des Begehrens« und gleichzeitig der bevorzugte »Identifikationspunkt« (Irigaray 1980:82) in Hinblick auf ihre Ich-Entwicklung und Sexualität. Aber nachdem das Mädchen ihrer Kastration und der der Mutter gewahr wird, und damit auch der Kastration ihres Objektes und ihrer (Selbst-)Repräsentanzen, bleibt ihr auch nach Irigaray »nur die melancholische Lösung übrig« (Irigaray 1980:82). Irigaray (1980) liest »Trauer und Melancholie« (Freud GW X 1917) parallel zur Entwicklung der weiblichen Sexualität und stellt dabei Übereinstimmungen zwischen der melancholischen Symptomatik und der Libido-Ökonomie des kleinen Mädchens her, das die vollzogene Kastration entdeckt hat. Freud beschreibe die von ihm identifizierten melancholische Symptome auch in der Entwicklung des Mädchens nach Anerkennung ihres phallischen Mangels: Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, Verlust der Liebesfähigkeit (statt Liebe, ist der Wunsch des Mädchens nach dem Vater geprägt vom Wunsch nach einem Penis, nur Eifersucht und Neid sind die Motivation dieser Liebe), Hemmung der Leistung (in dem das Mädchen sich in die Passivität der Weiblich-

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keit hinein entwickelt) und vor allem die Herabsetzung des Selbstgefühls, die das Mädchen beim Eintreten in den Ödipuskomplex begleitet, da es sich im Vergleich mit dem »besser ausgestatteten Knaben in seiner Selbstliebe gekränkt« (Irigaray 1980:83) findet. Diese Herabsetzung des Selbstgefühls beim Mädchen, die es mit allen Frauen teile, unterscheide die melancholische Verarbeitung von der Trauer. Wie der Melancholiker bei Freud (1917) kann das Mädchen nicht deutlich erkennen, was es verloren hat, nur wen. Der Verlust des Untergangs der Mutterbeziehung, der ihre Beziehung zu allen Frauen und zu sich selbst negativ einfärbe, könne nicht bewusst repräsentiert werden. Denn das Mädchen hat zu diesem Zeitpunkt noch kein Bewusstsein für ihre sexuellen Triebregungen oder ihre Libidoökonomie, es kennt sein ursprüngliches Begehren nach der Mutter nicht: es hat noch nicht die Fähigkeit erlangt, den Verlust zu symbolisieren. Es handelt sich, wie es später Butler für jene erste Form homosexuellen Begehrens postulieren wird, um einen unbetrauerbaren Verlust, der melancholisch verarbeitet werde muss: »Dem ›Ich‹ des kleinen Mädchens wird daher durch den Nachweis der ›vollzogenen Kastration‹ eine irreperable Niederlage und Verwundung zugefügt, deren Wirkung man an Merkmalen des Krankheitsbildes der Melancholie ablesen kann.« (Irigaray 1980:85). Irigaray verweist in ihrem Text erstmals auf den wichtigen Prozess der melancholischen Identifizierung, mit dem das Mädchen auf den Verlust reagiert. Wie bei Butler ist diese Identifizierung der Ersatz für das verlorene Objekt. Der melancholische Komplex ist nach Irigaray eine offene Wunde und erklärt für die Frau charakteristische regressive Tendenzen in ihrer Sexualität und Ich-Entwicklung. Der Ansatz von Butler ist jedoch, dass hier die Aneignung der Geschlechtsidentität selbst als Identifizierungsprozess verstanden wird. Und dies nicht nur für das Mädchen, sondern auch für die melancholische Bearbeitung des verlorenen homosexuellen Begehrens des Jungen. Dabei geht es ihr nicht um eine bloße »demokratische Erweiterung« des melancholischen Verlustes auf Jungen, sondern um die Herstellung von Geschlecht selbst. So wirft sie »dem Feminismus« vor, dass die Beschäftigung mit der Frage, was Frauen sind, worunter sie leiden und wie sie befreit werden können, genau die Herrschaftslogik und die Differenz reproduziert, bei der die Geschlechtsdifferenz unhinterfragt fortgeschrieben wird (Butler 1991). Irigaray mag zwar bereits vor Butler auf das Problem des homosexuellen Begehrens der Frau aufmerksam gemacht haben, aber anders

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als Butler stellt sie die Differenz der Geschlechter selbst nicht in Frage, sondern affirmiert diese aus feministischer »umgekehrter Perspektive«. Der entscheidende Unterschied in Butlers Vorgehen liegt darin, dass sie die Herstellung der Differenz selbst ins Zentrum ihrer Analyse stellt.25 Butler kritisiert Irigaray dafür, dass sie, indem sie global eine monologische maskuline Ökonomie identifiziert, in der die Geschlechterdifferenz verortet seien, versucht »den Feind in einer einzigen Gestalt« zu identifizieren. Damit betreibe Irigaray einen Umkehr-Diskurs, der unkritisch die Struktur des Unterdrückers nachahme, statt andere Begrifflichkeiten bereitzustellen. Als Beispiel nennt sie Irigarays wohl umstrittenste These, wonach ein auto-erotisches Begehren der »zwei-sich-berührenden Schamlipppen« der Frau gewaltsam durch einen Lust-tötenden Akt der Penetration des Penis getrennt würde (Butler 1991:225f). Mit dieser unkritischen Bewertung der anatomischen Besonderheit der Frau reproduziere Irigaray eben den von ihr kritisierten gesellschaftlichen Diskurs, der weibliche Körper in künstliche voneinander getrennte Teile, wie »Vagina« und »Klitoris« etc. zerlege. Butler kritisiert, dass Irigray trotz oder gerade wegen ihrer Bemühungen, eine andere Sprache und neue Begrifflichkeiten für die Frau einzuführen (»frau sprechen« Irigiray 1979), Differenz immer wieder neu herstelle und affirmiere. Irigaray kritisiere, dass Freud die Frau vor allem als Mangel und Abweichung konstruiere und schließt daraus, dass Freud eigentlich gar keine Vorstellung von Geschlechterdifferenz habe, da dem Mann keine eigene Vorstellung der Frau entgegengesetzt werde. Ihre Antwort darauf ist aber nicht eine Dekonstruktion von männlichem Begehren, sondern der Versuch, ein eigenes weibliches Begehren und weibliche Lust einzuführen, beruhend auf einer Gleichheit zwischen Frauen, die auf derselben Ebene konzentriert ist, wie die von ihr postulierte männliche Differenz. Damit wird jedoch nicht nur eine Differenz zwischen männlich und weiblich fortgeschrieben, sondern auch eine Differenz zwischen Frauen unsichtbar gemacht.26

25 Diese Umwerfung eines differenzfeministischen Standpunkts, von dem aus Frauen für Frauen sprechen, hat Butler auch von Seiten der Geschlechterforschung Misstrauen eingebracht (vgl. Benhabib, Butler, Cornell & Fraser »Der Streit um die Differenz« 1993). 26 Auch Pierre Bourdieu kritisiert Irigarays Position als essentialistisch: »Bemerkenswert ist, daß der feministische Diskurs sehr oft in eben den Essen-

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Interessanterweise übt die Psychologin Meg Jay (2007) nun wiederum aus eher differenzfeministischer Perspektive an Butlers Theorie der Geschlechtermelancholie eine ähnliche Kritik. Nach Jay desartikuliert Butlers Theorie eine Differenz zwischen Frauen, in dem von einer universell weiblich-melancholischen Geschlechtsaneignung ausgegangen werde. Frauen entwickelten aber nur unter bestimmten Umständen eine melancholische Geschlechtsidentität (Jay 2007). Jay wendet Butlers Theorie auf die Frage dieser Arbeit an, nämlich auf die Frage nach dem erhöhten Depressionsrisiko von Frauen. Ihre Theorie soll kurz zusammenfassend dargestellt werden. Dabei wird anhand von Jays Arbeit auch aufgezeigt, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn eine philosophisch-kulturwissenschaftliche Theorie wie die von Butler auf klinische Depressionskonzepte angewandt wird. 3.4.4 Geschlechtermelancholie oder weibliche Depression Jay (2007) stellt für den US-amerikanischen Raum fest, dass Butlers Theorie des melancholischen Geschlechts als transdisziplinäres Konzept, die zur Zeit einflussreichste psychoanalytische Theorie in den Gender Studies darstellt. Gleichzeitig falle jedoch das völlige Fehlen dieser Theorie in psychoanalytischen oder psychologischen Forschungsarbeiten zu Depression und Geschlecht auf. Die Arbeiten von Jay (2005, 2007) stellen dabei eine Ausnahme dar. Aus objekttheoretischer psychoanalytischer Perspektive argumentiert Jay (2005), dass eine von Butler beschriebene Geschlechtermelancholie dazu beitragen kann, zu erklären, weshalb Frauen für Depressionen verletzlicher sind als Männer. So stelle sich eine klinisch relevante melancholische Identifizierung nämlich nicht universell, sondern vor allem bei Frauen und nur selten bei Männern ein, wobei aber auch zwischen Frauen individuelle Unterschiede im Vorhandensein einer melancholischen Identität existierten. In Anschluss an Freud argumentiert Jay (2005, 2007), dass der

tialismus verfällt, den er der ›männlichen Erkenntnis‹ zu Recht vorwirft [...] man käme gar nicht nach mit dem Aufzählen der ununterschheidbar konstatierenden und perfomativen Aussagen (der Art die Frau ist plural, unbestimmt, usf.), die tief Durchherrscht sind von der Logik der Mythologie, gegen die sie Position beziehen [...]« (Bourdieu 1997: 138 bezugnehmend auf Irigaray 1980 und Kristeva 1974).

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Zusammenhang zwischen Melancholie und Geschlecht durch eine ambivalente Bindung zum verlorenen gleichgeschlechtlichen LiebesObjekt Mutter moderiert wird. So sei es nicht der Verlust eines gleichgeschlechtlichen Elternteils per se, der Geschlechtermelancholie auslöse, sondern vielmehr die Internalisierung einer ambivalenten gleichgeschlechtlichen Bindung, die melancholisch verarbeitet werde. Butlers Theorie werde oftmals dafür kritisiert, dass sie »theoretical mirages« entwerfe, die mit der Realität der Geschlechtsunterschiede und dem Alltagleben der Personen nichts zu tun hätten (Jay 2007). Butler müsse sich der klinischen Frage stellen, ob die Geschlechtsidentität tatsächlich immer melancholisch sei und zu welchen Bedingungen sie melancholisch werde. Jay wendet Butlers Konzept auf diese klinischpsychologische Fragestellung an und fragt nun, wie das Konzept der melancholischen Geschlechtsidentität dazu beitragen kann, zu erklären, warum Frauen öfter depressiv werden als Männer und warum manche Frauen depressiv werden, während es andere nie werden. »While I argue that on average women may be more likely to experience melancholy gender than men, research and clinical experience suggest that, of course, some women will not experience melancholy gender and some men will.« (Jay 2007:1281). Butlers Konzept sei für psychologische ForscherInnen und KlinikerInnen zu wenig anwendbar, da Butler darauf verzichtet habe, Unterschiede zwischen den Geschlechtern und individuelle Unterschiede innerhalb der Geschlechter zu thematisieren. Jay argumentiert dabei folgendermaßen: da in der klinischen Literatur bekannt sei, dass Frauen mindestens zweimal häufiger als Männer unter Depressionen leiden, müsse begrifflich eher von einer »melancholy femininity« gesprochen werden als von einer »melancholy masculinity« (Jay 2007). Jay verweist in ihrer Theorie der melancholy femininity wie Butler auf die Theorie Freuds. Sie argumentiert jedoch anders als Butler vor allem in Anschluss an feministisch-psychoanalytische, objekttheoretische Konzeptionalisierungen (Chodorow 1994, Goldner 1991, Harris 1991). Auch sie betont, dass anders als beim Jungen, das erste präödipal verlorene Objekt des Mädchens ein homoerotisches ist, dass nicht ersetzt werden kann, während das verlorene Objekt des Jungen heterosexuell und ersetzbar ist. Anders als Butler versteht Jay ihr adaptiertes Konzept der Geschlechtermelancholie explizit als ein klinisches, das individuelle Unterschiede erklären soll. Obwohl Frauen eher dafür prädispositioniert seien, eine melancholische Geschlechtsidentität zu entwickeln,

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hätten längst nicht alle Frauen ein melancholisches Geschlecht. Anschließend an Freuds »Trauer und Melancholie« weist Jay auf die Bedeutung der Ambivalenz in der Entstehung der Depression hin. Es sei die Ambivalenz gegenüber dem verlorenen Objekt, die dazu führe, dass Liebe und Hass gleichermaßen in das Objekt introjiziert würden. Ambivalenz stelle zwar einen zentralen Faktor in jeder Mutter-KindBeziehung dar, vor allem aber sei sie kennzeichnend für die MutterTochter Beziehung. Durch die Introjektion einer ambivalenten Beziehung wird der Hass auf das Objekt in das Selbst hineingenommen, wüte dort gegen das Ich und findet in der Depression aber auch in der Persönlichkeit vieler nicht depressiver Frauen, in dem Symptom eines herabgesetzten Selbstwertgefühls einen Ausdruck. Jays Argumentation erinnert an die Arbeiten von Kristeva (1987) oder Irigay (1989), es ist jedoch unklar, inwieweit ihre Form der femininen Geschlechtermelancholie sich mit Butlers Ansatz in Einklang bringen lässt. Jay unterscheidet sich grundlegend von Butlers Theorie (1991). Während Butler Geschlecht selbst als den Körper gewordenen Ausdruck einer melancholischen Identifizierung fasst, grenzt Jay eine pathologische melancholische Identifizierung von einer »gesunden« gelungenen Identifizierung ab. Während Butler die Herstellung von Geschlechtlichkeit selbst in den Blick nimmt, wendet Jay Butlers Konzeptualisierungen auf die Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen an. Diese Anwendung von Butlers Theorie auf eine klinische, psychoanalytisch-orientierte Betrachtung des Zusammenhangs von Geschlecht und Depression ist nicht unproblematisch. Butler entwirft zwar eine psychoanalytisch inspirierte Theorie der Geschlechtsidentität, nicht aber eine klinische Theorie der Depression. Jay aber will anhand der von ihr veränderten Theorie Butlers die bekannten Geschlechtsunterschiede in der Depression erklären. Interessant ist dabei besonders ihre interdisziplinäre Verknüpfung von Empirie und Theorie. Jay nutzt Butlers Konzept als Ausgangspunkt, um empirische Daten aus einer über 40 Jahre anhaltenden Langzeitstudie zu Depressionen bei Frauen auszuwerten.27 In der Langzeit-

27 In der Mills-Langzeitstudie wurden seit 1958 in Abständen immer wieder die gleichen 125 Frauen anhand psychologischer Fragebogeninstrumente zu Führungsstil und Lebenszielen befragt. Die Frauen wurden im Alter von 21, 27, 43, 52 und zuletzt mit 61 Jahren untersucht. Jay nutzt das vielfältige Datenmaterial für eine Untersuchung des von ihr postulierten Zusam-

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untersuchung identifiziert Jay anhand der Datenlage eine stabile positive Korrelation zwischen Feminität und Depression. Je femininer eine Frau sich in der Untersuchung beschreibt, desto höher sind auch ihre Depressionswerte (Jay 2007). Gleichzeitig zeigen sich in der Studie auch die von Jay postulierten individuellen Unterschiede zwischen Frauen, die sich analog mit ihren Hypothesen durch unterschiedliche Bindungsstile voraussagen lassen. Der Zusammenhang von Depressivität und Feminität wird in den Studiendaten durch einen ambivalenten Bindungsstil moderiert. Während Korrelationsanalysen die Verbindung zwischen Feminität und Depressivität in der Studie allgemein bestätigen, zeigen genauere Moderator- und Mediatorenanalysen, dass die Verbindung zwischen Feminität und Depression entscheidend durch das Vorhandensein einer ambivalenten Bindung an die Mutter bedingt wird. Jay vermutet, dass Feminität von Depressivität nicht direkt beeinflusst ist, sondern über Bindungsstil moderiert wird. Hoch ambivalente Bindungsstile führen so zu einer signifikanten Verbindung zwischen Feminität und Depression, während niedrig ambivalente Bindungsstile zu einer negativen Korrelation führten. Das heißt in Jays Daten ist eine hohe Feminität nicht notwendig mit Depression verbunden, sondern Feminität führt nur in Kombination mit einem ambivalenten Bindungsmuster zu depressiven Störungen. Diese Daten belegen zwar einen signifikanten Zusammenhang zwischen klinischer Depression, dem Geschlechtsrollenkonzept der femininen Geschlechtsrolle und einem ambivalenten Bindungsstil. Aber lassen sich diese Ergebnisse auch auf ein Butlersches nichtklinisches Konzept der Geschlechtermelancholie übertragen? Jay, die sich anhand der Daten in ihrer Hypothese der Rolle der Ambivalenz bestätigt sieht, vermutet, anschließend an die Theorie Chodorows (1978), dass die Verarbeitung eines Verlustes des primären Liebesobjekts durch Identifizierung beim Mädchen im »gelungenen« Fall ebenso gut sein kann – wenn nicht besser als die Verarbeitung des Jun-

menhangs zwischen Bindung, Feminität und Depression. Anhand einer von ihr vorgenommen Adaption des California Psychological Inventory (CPI), für die sie eine Feminitätsskala und eine Depressionsskala entwirft sowie anhand von Daten aus einem Attachment-Interview testet sie ihre Hypothesen. Dass Jay dabei unterschiedliche interdisziplinäre Konstruktionen und Begrifflichkeiten von Weiblichkeit, Feminität und Geschlecht aufeinander bezieht, ist Stärke und Schwäche ihres Ansatzes zugleich.

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gen durch die Suche nach einem gegengeschlechtlichen Sexualobjekt. Wie Rohde-Dachser es bei Chodorow kritisiert, verweist Jay auf den nun gegenüber dem Jungen hervorgehobenen positiven Effekt, dass das Mädchen die Mutter aufgrund der gleichgeschlechtlichen Internalisierung gar nicht »wirklich« verlieren muss: »Although gender identification may be, as Butler suggests, initially motivated by the inability to have same-sex object sexually, through internalization being something is having it and having it all the time.« (Jay 2007:1315). Wie Chodorow sieht sie in der größeren Nähe und Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Chance. Anders als Butler, die diese Thematik nicht beschäftigt, hält Jay es für zentral, dass es die Mütter sind die »muttern«. Die Frage sei aber eben nicht, ob Identifizierung stattfindet, sondern welche Qualität diese habe. Es sei relevant, ob eine Tochter Ambivalenz und Melancholie introjiziere oder eine »sichere Basis«, von der aus die Entwicklung eines geschlechtlichen Selbst beginnen könne. Aus diesem Anschluss an Chodorow geht auch hervor, dass es Jay, anders als Butler, nicht um die Analyse der Herstellung von Geschlecht geht, sondern vielmehr um die Frage, wie eine »sichere« und nicht-ambivalente Herstellung von Geschlechtsidentitäten gelingen kann. Jay argumentiert daher, dass ein unbetrauerbarer Verlust nur für die weibliche Entwicklung charakteristisch sei – hingegen nicht für die männliche. Maskulinität werde nicht aufgrund eines unbetrauerbaren Verlusts installiert, sondern durch eine Identifizierung mit der heterosexuellen Matrix auf der Ebene des Über-Ichs. Diese Argumentation stellt einen Verknüpfungspunkt her zwischen Blatts Theorie einer anaklitschen (frühen) Depression und einer introjektiven (späteren) Depression (Blatt 2004). Für das Mädchen ist ein früher oraler Verlustes des ersten Liebesobjekts charakteristisch, der nicht betrauerbar ist und der melancholisch einverleibt werden muss. Für den Jungen ist ein späterer Verlust charakteristisch, der auf ödipaler Ebene der Über-IchBildung entsteht und der eher melancholisch introjiziert und symbolisiert werden kann, der aber auch zu einem strafenden, selbstkritischen Über-Ich führen kann. Das Mädchen verliert Aspekte der präödipalen Bindung an ihre Mutter, es bleibt zwar seiner Mutter verbunden, aber es kann sie nicht – anders als Jungen es können – durch ein ödipales Liebesobjekt, das so ist wie die Mutter, ersetzen. Der weibliche Verlust kann, da es sich um eine präödipale Bindung handelt, nicht kognitiv symbolisiert werden. Der Junge hat – anders als das Mädchen –

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keine so starke homoerotische Bindung an das gleichgeschlechtliche Liebesobjekt Vater. Vielmehr identifiziert er sich später aufgrund des ödipalen Tabus mit dem Vater, aber nicht aufgrund einer melancholischen Identifizierung. Zusammenfassend weisen alle hier zitierten Arbeiten auf eine Besonderheit der weiblichen Entwicklung hin, die für das Mädchen bedeutet, dass es sein erstes Liebesobjekt verlieren und dieses (unter bestimmten Bedingungen) unbetrauerbar – melancholisch introjizieren muss. Während Butler in dieser melancholischen Identifizierung die psychosomatische Herstellung eines melancholischen Geschlechtskörpers sieht, argumentieren Jay (2005), Irigaray (1980) Kristeva (1987) oder Quindeau (2005), dass Weiblichkeit im »Herstellungsprozess« näher an der Entwicklung einer depressiven Struktur liegt als Männlichkeit. Es scheint naheliegend, dass der frühe präodipale Verlust der Mutter beim Mädchen eine Prädisposition zu Depressivität einleiten kann, die sich z.B. in einer größeren Empfänglichkeit für die anaklitische Depression bei Frauen nicht aber bei Männern ausdrücken kann. Gleichzeitig ist eine Anwendung der melancholischen Geschlechtertheorie auf das erhöhte Depressionsrisiko von Frauen immer auch in Gefahr Differenz, neu einzuschreiben oder geschlechtliche Kodierungen einzuführen, die mit hierarchischen Setzungen und mit impliziten androzentristischen Normierungen einhergehen.

4. D EPRESSION

UND G ESCHLECHT : P SYCHO ANALYTISCHE K ONZEPTUALISIERUNGEN Ist also die Psychoanalyse eine anti-fundamentalistische Theorie, die jene sexuelle Vielschichtigkeit bejaht, die die starren, hierarchischen sexuellen Codes wirksam dereguliert? Oder hält die Psychoanalyse einen Komplex von Voraussetzungen über die Grundlagen der Identität aufrecht, die gerade zugunsten dieser Hierarchien arbeiten? Judith Butler (1991)

In der hier vorangestellten Textpassage fragt Butler danach, inwiefern die psychoanalytische Theorie hierarchische Codes bejaht oder dere-

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guliert, und ob sie normative Identitätsbezüge aufrechterhält oder zu identifizieren und zu dekonstruieren hilft (Butler 1991:11). Im Bezug auf den bereits diskutierten psychoanalytischen Diskurs über Depression und Geschlecht lautet die Antwort: beides. Die im Kapitel über psychoanalytische Geschlechtertheorie formulierte feministische Kritik an Freuds Weiblichkeitstheorie macht deutlich, dass Freuds ursprüngliches Modell einen unmarkierten androzentristischen Blick der Psychoanalyse seiner Zeit einführt, der sich, wenn er unreflektiert übernommen wird, bis in aktuelle und moderne Depressionskonzepte fortschreiben kann. Gleichzeitig liegt auch einer feministischen Kritik an Freud von Horney (1926) über Chodorow (1978), von Gilligan (1996) bis hin zu Irigaray (1980) ein oftmals impliziter biologischer Determinismus zugrunde, der von einem binären Geschlechtermodell ausgeht, das von der Geschlechterforschung seit den 1990er Jahren zunehmend in Frage gestellt wird (Butler 1991, Maihofer 1995). In diesem Kapitel wurde aus geschlechtertheoretischer Perspektive daher darauf verwiesen, dass eine Untersuchung der wechselseitigen Beeinflussung und der Einschreibungsprozesse von Körper und Psyche in der Herstellung von Geschlechtlichkeit nicht umhin kann, auch nach Herstellungs- und Konstruktionsprozessen von Geschlechtsidentität und Sexualität selbst bzw. nach der Herstellung von Differenz zu fragen. Die hier aus Perspektive der Geschlechterforschung eingeführte Kritik deckt sich jedoch an vielen Punkten mit einer innerpsychoanalytischen Kritik an psychoanalytischen Konzeptualisierungen von Geschlecht (Rohde-Dachser 1989a). So weist auch die Geschlechterforscherin Astrid Lange-Kirschheim (2007) darauf hin, dass insbesondere die Theorien von Rohde-Dachser und Butler einander ergänzen: »[...] da sie beide der binären Ordnung immanente Asymmetrierung und Hierarchisierung aufzeigen, dabei, und das ist Butlers Beitrag, auch das Männliche als Konstrukt erkennen lassen.« (Lange-Kirchheim 2007:199). Im Zentrum von Rohde-Dachsers Analyse (1989a, 1989b) steht die psychoanalytische Theorie der Weiblichkeit als Produktion eines historisch zu verortenden männlichen Unbewussten, während bei Butler die Kritik an Geschlecht als Ordnungskategorie selbst zentral ist (Lange-Kirchheim 2007). Differenz- und identitätsorientierte Kritik identifizieren Vorstellungen von Weiblichkeit in der Psychoanalyse als Konstruktion, nicht aber die von Männlichkeit. Ebenso werden Identitäts- und Differenzkonstruktionen selbst nicht in

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den Blick genommen. Eine Anbindung an die Kulturtheorie Butlers dient auch dazu, Setzungen und Geschlechtercodes zu hinterfragen, die sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Gesellschaft unhinterfragt übernommenen würden. Das gemeinsame Interesse der Psychoanalyse und Geschlechterforschung an der Aufdeckung unbewusster Phantasien und Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Sexualität macht sie dabei zu idealen Verbündeten (Rendtoff 2008:135).28 Der spezifische Beitrag der Psychoanalyse ist eine Theorie der Vermittlung, Übersetzung und des Sichtbarmachens der »psychosomatischen« Wechsel- und Einschreibungsprozesse zwischen Körper und Geist, wie sie bereits in Freuds Entwicklungstheorie des Kindes in Beziehung zu den pflegenden Personen identifiziert werden (Freud GW XV 1933). Eine psychoanalytische Betrachtung von Geschlechtsidentität ist daher immer auch eine Betrachtung von »Geschlecht als Existenzweise« in dem Sinne, wie es Maihofer (1995) fordert. Dabei muss Geschlecht in der psychoanalytischen Betrachtung nicht eindeutig einer dichotomen Betrachtung von Körper oder Geist zugeschlagen werden; die Psychoanalyse bietet sich an als ein verbindender Betrachtungsversuch von Geschlecht, insbesondere in der Vermittlung zwischen Körper und Geist, zwischen Phantasie und Materialität, wie sie

28 Bourdieu ist hier allerdings anderer Meinung: In seinem Text »Die männliche Herrschaft« kritisiert er umfassend die psychoanalytische Theorie als »Rechtfertigungsideologie«, die eben nicht dazu geeignet sei zum Verbündeten der feministischen Theorie zu werden. »Die theoretische Mehrdeutigkeit der psychoanalytischen Theorie, die die grundlegenden Postulate der männlichen Weltsicht ungeprüft übernimmt und damit Gefahr läuft, unwissentlich als Rechtfertigungsideologie zu dienen, ist nicht geeignet, den von ihr (und sei es negativ) beeinflußten feministischen Theorien die Arbeit zu erleichtern. Da auch sie es ja mit dem in ihnen selbst und ihren Analyseinstrumenten präsenten männlichen Unbewußten zu tun haben, schwanken sie zwischen zwei entgegengesetzten Sicht- und Gebrauchsweisen dieser ungewissen Botschaft. Man hat Mühe zu unterscheiden, ob sie die Botschaft selbst verwerfen und deren essentialistische Sicht des weiblichen Lebenszusammenhangs, die Naturalisierung einer gesellschaftlichen Konstruktion, oder das, was die Botschaft trotz allem von der benachteiligten Stellung enthüllt, die die soziale Welt objektiv den Frauen zuweist.« (Bourdieu 1997:138).

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in der Entwicklung des Kindes in der Beziehung zur primären Bezugperson unter dem »Primat des Anderen« (Laplanche 1988) entsteht. Den Versuch einer solchen Vermittlung stellt z.B. die SexualitätsTheorie Quindeaus dar (Quindeau 2008, Bayer & Quindeau 2004). Sie zeigt auf, welche Bedeutung der gesellschaftlichen Geschlechterordnung, sowohl für die Konstitution und den Umgang mit dem eigenen Körper und der Sexualität als auch für die jeweiligen Konzeptualisierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zukommt. Dabei konzipiert sie die Entwicklung der Sexualität und der Geschlechtsidentität im Anschluss an Laplanches »Allgemeine Verführungstheorie« als eine Konstruktion unter dem Primat des Anderen (Laplanche 1988). Die unbewussten Phantasien über den eigenen Körper und die individuelle Subjektivität des Kindes entwickeln sich in der asymmetrischen Beziehung zu den erwachsenen Bezugspersonen, mit denen das Kind interagiert. Dabei treffen auf das Kind unbewusste »rätselhafte Botschaften«, z.B. über Geschlecht, Sexualität und Körper von Seiten der Erwachsenen, an deren Rätselhaftigkeit das Kind sein Unbewusstes und seine (auch geschlechtliche) Subjektivität überhaupt erst entwickelt. Laplanche (1988) spricht in seiner »Allgemeinen Verführungstheorie« von einer Verführung des Kindes durch die »rätselhaften Botschaften« des erwachsenen Unbewussten, die das Kind nicht verstehen und verarbeiten kann und die sich im Sinne eines traumatischen Einbruchs29 in die kindliche Psyche einschreiben. Er geht davon aus, dass die rätselhaften Botschaften zutiefst in die Entwicklung des Kindes eingreifen, dass sie die Psyche, das Unbewusste und das Begehren des Kindes überhaupt erst hervorbringen.30 Laplanche selbst sieht in der allgemeinen Verführungstheorie die Möglichkeit, sowohl die Ausbildung errogener Zonen (Psychosexualität) als auch die Entstehung binärer Geschlechtercodes (Gender) und die Frage des Triebes und die

29 Quindeau (2008) spricht anstelle des Traumas von einer Spur, die sich einschreibt. 30 In einem Kommentar zu Laplanches Theorie der Verführung des Kindes durch den Erwachsenen im Rahmen des Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Berlin (2007) verweist Butler darauf, dass diese »rätselhaften Botschaften« für das Kind verunsichernde vergeschlechtlichte Botschaften darstellen, die die Geschlechtsidentität prägen und anhand oder aufgrund derer das Kind die eigene Geschlechtlichkeit überhaupt erst entwickelt.

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des Unbewussten in der Beziehung und Interaktion zwischen Kind und Erwachsenen zu verorten und sie somit nicht allein physiologisch oder heriditär zu begründen: »Insbesondere die frühzeitige Verführung verdient unsere ganze Aufmerksamkeit im Rahmen einer neuen Triebtheorie. Begriffe wie die ›errogene Zone‹, die ›somatische Quelle des Triebes‹, des ›partialen analen, oralen oder phallischen Triebes‹ können nur dann aus den Aporien befreit werden, in die uns eine waghalsige Physiologie treiben will, wenn man sich daran erinnert, daß diese Zonen vor allem und im wesentlichen Übergangs- und Austauschstellen, »Brennpunkte« der mütterlichen Pflege sind.« (Laplanche 1988:226)

Die Allgemeine Verführungstheorie Laplanches eignet sich als eine Konstitutionstheorie der Psyche besonders dazu, nach der Herstellung von Geschlechtsidentität und von Differenz zu fragen. In seinem Aufsatz »Ausgehend von der anthropologischen Grundsituation ...« kommt Laplanche (2004) erstmals auf seine Vorstellung der Aneignung der Geschlechtsidentität zu sprechen. Hier verwendet er den Begriff »Gender«, wobei er jedoch explizit darauf eingeht, dass damit weder die Begriff Geschlecht oder Sexualität »eskamoniert« werden sollen, also dass er sie mit seiner Begriffwahl nicht trickreich zum Verschwinden bringen wollte (Laplanche 2004:26). Ausgehend von Freuds Anekdote zur Illustration der infantilen Sexualität verweist er auf das Bild des Weltraumreisenden vom Sirius, der bei seinem ersten Besuch auf der Erde über die Einteilung des Menschen in zwei Teile rätselt (Freud GW XV 1933). Durch dessen Augen betrachtet Laplanche »Gender« im »Habitus der Menschen« als eine »rätselhafte Botschaft« (Laplanche 2004:26). Der außerirdische Besucher kann auf Anhieb den Unterschied der Geschlechtsorgane nicht erkennen, die Unterscheidung der Menschen in zwei Geschlechter erfolgt also zunächst über eine Reihe von Merkmalen, die nicht direkt mit den Geschlechtsorganen zu tun haben (Laplanche 2004). Laplanche verbindet nun seine allgemeine Verführungstheorie mit der Frage, wie das Geschlecht in den Menschen kommt. Bei Laplanche entsteht das Geschlecht, im körperlichen, sozialen und umfassend sexuierten Sinn in der sozialen Interaktion mit den primären Bezugspersonen des Kindes: »Darin, dass wir den Gender in erster Linie als eine Botschaft verstehen, eine Zuschreibung (und zwar eine rätselhafte, wie wir sehen werden), eine Zuschreibung im Sozialen im weitesten Sinne

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des Wortes durch den ›sozius‹, d.h. durch eine Gruppe von Personen.« (Laplanche 2004:27). Wie Butler (1991: »Es ist ein Mädchen«), betont auch er die »Anrufung« des Kindes durch den Anderen als ersten Moment der »Identifizierung«, genauer des Identifiziert-Werdens: »Du, kleiner Hermann, Du bist ein Junge«. (Laplanche 2004:27). Die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen ist eine asymmetrische, d.h. der »aktive« Erwachsene und sein Unbewusstes treffen auf ein passives, unvorbereitetes Kind. Laplanche konzipiert diese Interaktion im Sinne eines Attentats oder Traumas (Laplanche 1988). Das Kind ist kein aktives, kein »kompetenter Säugling«, wie in der modernen Bindungsforschung (Dornes 1997), sondern es ist in Bezug auf die »Botschaft« des erwachsenen Unbewussten, so auch in Bezug auf die geschlechtliche Anrede und Anrufung, unvorbereitet. Es weiß diese Botschaft nicht zu übersetzen, das Rätsel nicht zu lösen. Die Botschaft stellt daher ein Enigma dar, das gelöst und das in Sprache übersetzt werden will. Die Botschaft formt eine Spur, die sich in das Kind einschreibt und nach fortgesetzter Umschrift verlangt (Quindeau 2008). Geschlecht ließe sich mit Laplanche als eine »rätselhafte Botschaft« verstehen, die das Kind im Laufe seiner Entwicklung zur Übersetzung, zur fortwährenden Umschrift drängt, vergleichbar vielleicht mit Butlers Idee der performativen Herstellung von Geschlechtlichkeit. Sowohl Butlers Theorie als auch die von Laplanche werden fälschlicherweise oftmals als eine die Biologie verneinende Theorie betrachtet. Dabei ist Laplanches Konzeption nicht eine, die Körperlichkeit oder Sexualität verdrängt: ob die Körperlichkeit erworben oder heriditär ist, spielt für seine Theorie zunächst keine Rolle (Laplanche 2004). Zentral ist die These, dass die »Psychosexualität« und die Geschlechtsidentität sich überhaupt erst an der Aufgabe der »rätselhaften Botschaften«, an den Zuschreibungen durch den erwachsenen Anderen entwickeln. Geschlechtlichkeit wird vor allem unbewusst durch »rätselhafte Botschaften« im Sinne einer »Immission« in das Kind hineintransportiert. Die geschlechtlichen Botschaften sind daher unbewusste und rätselhafte, weil sie auch für die Erwachsenen Rätsel darstellen, die zeitlebens auf »Übersetzung drängen« (Quindeau 2008). Der zentrale Aspekt dieser Theorie liegt in der Frage der Identifizierung. Laplanche fragt anders als beispielsweise Chodorow (1978) danach, wer in der Beziehung zwischen Kind und primären Bezugspersonen eigentlich wen identifiziert. Dabei dreht er den Begriff der

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Identifikation radikal um. Das Kind, das in seiner Theorie nicht als aktiv, sondern, was die Frage der Botschaften betrifft, zunächst als passiv, als »Empfänger« betrachtet wird identifiziert sich nicht mit jemand anderen, sondern es wird durch den Anderen identifiziert. Laplanche betrachtet Freuds primäre Identifizierung nicht als eine Tätigkeit des Kindes, anders als z.B. Chodorow, in deren Theorie das Mädchen sich aufgrund ihrer Genitalien und ihrer wahrgenommen Gleichheit mit der Mutter identifiziert, sondern in dieser Betrachtung entsteht Identifikation durch die Zuschreibung des Anderen: »[...] es geht nicht um ein sich mit jemandem identifizieren, sondern um ein identifiziert werden durch jemanden. Das Subjekt wird identifiziert, indem ihm ein bestimmtes Geschlecht zugeschrieben wird.« (Laplanche 2004:26). Dass die geschlechtlichen Zuschreibungen so wirksam und drängend werden, liegt in ihrer Rätselhaftigkeit, es ist eine unbewusste Botschaft des Anderen an das Kind, an der das kindliche Unbewusste, das kindliche Begehren und die kindliche Sexualität sich überhaupt erst entfalten. Laplanche (1988) verwendet die Metapher der »Ansteckung«, wenn er beschreibt, dass sich das Kind durch die (unbewusste) Sexualität des erwachsenen Anderen ansteckt bzw. dass es durch sie angesteckt wird. Das »Virus« der Geschlechtlichkeit identifiziert, infiziert und »infiltriert« den kindlichen Körper, die Entwicklung der kindlichen Psyche (Laplanche 1988). Welche Inhalte mit den rätselhaften Botschaften transportiert werden liegt dabei in der individuellen Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson, die sich wiederum in einer gesellschaftlichen Umwelt bewegen, in der kulturelle Zuschreibung das bewusste und unbewusste Wissen der beteiligten Personen über Geschlecht beeinflussen. Sie bestimmen, was gewusst wird, sie verändern den Inhalt der Botschaft, d.h. die kulturellen Zuschreibungen beeinflussen auch das unbewusste »mehr an Inhalt«, den das Kind zunächst verdrängen muss und das im kindlichen Unbewussten immer wieder zur Übersetzung und Umschrift drängt. Im Sinne der Nachträglichkeit, des Traumas der »zwei Zeiten«, beschreibt die rätselhafte Botschaft von Anfang an und im Nachhinein die Psyche, das Begehren und das Unbewusste des Kindes. Laplanche Konstitutionstheorie funktioniert genau an der Schnittstelle zwischen Individuum, Gesellschaft und Unbewusstem. Sein zentrales Interesse liegt dabei in der Bedeutung der infantilen Sexualität für die Bildung des Unbewussten sowohl beim Kind als auch beim Erwachsenen:

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»Das infantile Sexuelle, um dies abschließend noch einmal zu betonen, ist das Herz des Unbewussten. Es ist das letztlich Irreduzible der Alterität, das in eben dieser Bewegung der Domestikation der Alterität mittels des Geschlechtsunterschieds und der phallischen Logik zum Vorschein kommt wie auch im Fehlschlagen dieses Domestikationsversuches. Um die Sache noch etwas zuzuspitzen. Der Gender wird domestiziert, symbolisiert durch diesen hypervereinfachenden Code anwesend/abwesend, phallisch/kastriert und das 1/0 der Computer. Ohne Zweifel ist es so, dass die Rigidität des Paares phallisch/kastriert ganz direkt dafür verantwortlich ist, dass das Wesentliche des infantilen Sexuellen der Symbolisierung notwendig entgehen muss. Gerade dieses infantile Sexuelle aber ist das eigentliche Objekt unserer psychoanalytischen Erfahrung.« (Laplanche 2004:29)

Quindeau (2008) geht in ihrer Weiterentwicklung von Laplanches Theorie dabei von einer Bisexualität des Kindes aus, die sie in Anlehnung aber auch in Abgrenzung zu Freud nicht biologisch begründet, sondern die sie über das erste Begehren nach beiden Elternteilen erklärt und, darin Laplanche folgend, in der frühen Abhängigkeit des Säuglings von seinen primären Bezugspersonen begründet sieht31. Dabei verwirft sie ein binäres Modell der Geschlechterordnung zugunsten eines allgemeinen bzw. androgynen Modells, in dem die Geschlechter immer sowohl »männlich-aktive« als auch »passiv-weibliche« Anteile in sich tragen, und die dazu führen, dass sich die Geschlechter eher individuell untereinander als dichotom voneinander unterscheiden. Das Freud’sche Primat der Genitalität wird dabei ebenso wie das der Heterosexualität kritisch hinterfragt. Freud selbst hinterfragt in einer viel zitierten Fußnote aus den »Drei Abhandlungen über die Sexualität« die Konstruiertheit der Begriffe »männlich« und »weiblich« innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses und verweist auf ihre vielschichtige Komplexität:

31 Freud verweist auf die Bedeutung der konstitutionellen Bisexualität, z.B. in folgender Aussage: »Seit dem ich mit dem Gesichtspunkte der Bisexualität bekannt geworden bin, halte ich dieses Moment für das hier maßgebende und meine, ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen, wird man kaum zum Verständnis der tatsächlich zu beobachtenden Sexualäußerungen von Mann und Weib gelangen können.« (Freud 1904/1905 GW V:121).

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»Es ist unerlässlich, sich klar zu machen, daß die Begriffe ›männlich‹ und ›weiblich‹, deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der Wissenschaft zu den verworrendsten gehören und nach mindestens d r e i Richtungen zu zerlegen sind. Man gebraucht männlich und weiblich bald im Sinne von A k t i v i t ä t und P a s s i v i t ä t , bald im b i o l o g i s c h e n und dann im s o z i o l o g i s c h e n Sinne. Die erste dieser drei Bedeutungen ist die wesentliche und die in der Psychoanalyse zumeist verwertbare. Ihr entspricht es, wenn die Libido oben im Text als männlich bezeichnet wird, denn der Trieb ist immer aktiv, auch wo er sich ein passives Ziel gesetzt hat. Die zweite, biologische Bedeutung von männlich und weiblich ist die, welche die klarste Bestimmung zulässt. Männlich und weiblich sind hier durch die Anwesenheit von Samen-, respektive Eizelle und durch die von ihnen ausgehenden Funktionen charakterisiert. Die Aktivität und ihre Nebenäußerungen, stärkere Muskelentwicklung, Aggression, größere Intensität der Libido, sind in der Regel mit der biologischen Männlichkeit verlötet, aber nicht notwendigerweise verknüpft, denn es gibt Tiergattungen, bei denen diese Eigenschaften vielmehr dem Weibchen zugeteilt sind. Die dritte, soziologische Bedeutung erhält ihren Inhalt durch die Beobachtung der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen. Diese ergibt für den Menschen, daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf, sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen abhängen als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.« (Freud GW V 1904/1905:121, Herv.i.O.)

Die verwirrende, rätselhafte Frage danach, mit welchen Inhalten symbolische »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« gefüllt sind, beschäftigt jedoch nicht nur die Wissenschaften, sondern auch ihre Subjekte. Es sind die PatientInnen in psychoanalytischen Therapien selbst, die sich in einem Konflikt mit ihren eigenen Vorstellungen des »RichtigenMann-Seins« oder »Richtigen-Frau-Seins« befinden können, was noch einmal auf die praktische Relevanz einer Konzeptualisierung von Geschlecht für die Psychoanalyse verweist (Quindeau 2008). Auch Karola Brede (1989) geht davon aus, dass die Psychoanalyse insbesondere zu der Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht und Gesellschaft viel beizutragen hat:

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»Die Dialektik von Gleichheit und Unterschiedenheit der Geschlechter wird in der Psychoanalyse von der inneren Situation der Subjekte her – ihrem Erleben, ihren Phantasien, ihren Abwehrkonflikten gegenüber Sexualität und Aggression – entwickelt. Zur Problematisierung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen trägt die Psychoanalyse folglich dadurch bei, daß sie zu zeigen erlaubt, wie Ungleichheit, die sich in sozialen Tatsachen wie beruflicher Benachteiligung ausdrückt, in der psychischen Repräsentierung von Weiblichkeit in den Frauen vorweggenommen ist. Sie ermöglicht zu rekonstruieren wie die Internalisierung weiblicher Rollenmuster sich in die subjektive Überzeugtheit von der eigenen Mangelhaftigkeit verwandelt. Auf diese Weise wird es möglich, einen Zusammenhang zwischen der vergleichsweise geringen Vertretung von Frauen in der Öffentlichkeit bzw. dem Fehlen von sozialen Formen, wie zum Beispiel einer kollektiv getragenen, von Nadig beschriebenen Mutterschaft [...] und Verboten herzustellen, die sich an die eigene Person richten und innere Konflikte schüren: der verpönte Penisneid, das unehrenhafte Begehren und – im Falle der Mutterschaft – das uneingestehbare Verwendung des Kindes als Selbstobjekt.« (Brede 1989:19)

Auf die von Brede beschriebene Art und Weise kann die Psychoanalyse dazu dienen, innere Phantasien und Konflikte von Personen in Bezug auf ihr individuelles Erleben von Geschlechtlichkeit zu identifizieren. Dabei entsteht, wie z.B. in der Theorie Laplanches (1988), nicht nur eine individuelle Konzeptualisierung von Geschlecht, sondern auch eine Theorie der Vermittlung zwischen individuellem geschlechtlichem Erleben, gesellschaftlichen Normierungen und körperlichen Übersetzungsprozessen. Ausgehend von den Überlegungen dieses Kapitels ist erstens zu fragen, welche Phantasien und welches Wissen über Depressionen auf diese Weise transgenerativ durch geschlechtliche rätselhafte Botschaften von Eltern in ihre Kinder transportiert werden. Zweitens ist zu fragen, ob die Aneignung der Geschlechtsidentität des Mädchens mit früheren, möglicherweise weniger symbolisierbaren und betrauerbaren Verlusten einhergeht als die des Jungen. Laplanche folgend ließe sich z.B. fragen, ob der Identifizierung »Du bist ein Mädchen« eine andere Verlustgeschichte eingeschrieben ist als der des Jungen und wie ferner das Erleben und Entstehen von Depressionen mit dem Erleben von Gleichheit und Differenz einhergeht. Zusammenfassend weisen die hier dargestellten Theorien zu Depression, Melancholie und Geschlecht Merkmale und Besonderheiten

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der weiblichen Entwicklung auf, die eine erhöhte Empfänglichkeit für Depressionen bei Frauen verstärken. Übereinstimmend weisen die hier zitierten psychoanalytischen GeschlechtstheoretikerInnen auf einen früheren Verlust der primären mütterlichen Bezugsperson von Mädchen hin (Irigaray 1980, Kristeva 1987, Quindeau 2005, Jay 2007) und auch darauf, dass dieser frühe Verlust, ausgelöst durch die vom Mädchen wahrgenommene Geschlechtsgleichheit mit der Mutter, unbetrauer- und unsymbolisierbar die Bildung einer melancholischen psychischen Struktur von Frauen begünstigen kann. Ein früher Verlust bzw. die Erschütterung der frühen Beziehung zur primären Bezugsperson wiederum gilt als Risikofaktor für anaklitische Depressionen, die wiederum öfter bei Frauen als bei Männern vorkommen (Blatt 2004). Gleichzeitig können psychoanalytische Geschlechtstheorien dazu beitragen, zu verstehen, wie sich gesellschaftliche Prozesse und die kulturelle Geschlechterordnung in die Psyche von Frauen und Männern einschreiben und geschlechtsspezifische Strukturen begünstigen, die vermittelt über die Konstruktion von Gleichheit und Differenz, eine Beziehungsorientierung von Frauen und eine Autonomieorientierung von Männern befördern. Hier interagieren psychische individuelle Phantasien, Verhalten und Körpererleben mit gesellschaftlich dominanten Verstärkungs- und Interpretationsmustern. Wie in Kapitel A aufgezeigt wurde, korrelieren eine »expressiv-weibliche« und eine »instrumentell-männliche« Orientierung wiederum signifikant mit dem Depressionsrisiko. Zurückgreifend lässt sich für dieses Kapitel festhalten, dass die psychoanalytischen Depressions- und Geschlechtstheorien entweder kritischer Ausdruck oder implizites Abbild der symbolischen Geschlechterordnung sein können. Sie sind jedoch besonders dazu geeignet, das individuelle Erleben, die individuellen Vermittlungs- und Einschreibungsprozesse der Geschlechterordnung in die Psyche und Körper depressiver Personen darzustellen und anhand der ihr spezifischen Fragestellung, Modelle zu entwickeln, die diese Prozesse analysierbar machen. Interessant wäre weiterhin zu fragen, wie die psychoanalytische Theorie und Praxis dazu beitragen kann, die Verluste, die mit der kulturellen Geschlechterordnung einhergehen, und die für Mädchen besonderes früh und wirksam sind, zu betrauern bzw. betrauerbar zu machen. Die Frage ist demnach, wie die psychoanalytische Wissensproduktion für eine Politik des Verlusts (Eng & Kazanjian 2003, Politics of Loss) nutzbar gemacht werden kann, die es aus geschlechts-

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theoretischer Perspektive ermöglicht, Verluste die mit der Geschlechterordnung einhergehen, zu identifizieren und in ihr liegende mögliche Risiken, z.B. für die Entstehung von Depressionen, zu benennen. Der Frage einer Politik des Verlusts, ebenso wie die Frage, ob auch ein ermächtigender Umgang mit Verlust im Depressionsdiskurs eingeschrieben ist, wird im nächsten Kapitel nachgegangen. Hier steht nun die Untersuchung historischer und kulturell-kollektiver Bedeutungen von Depression und Melancholie im Zentrum, wobei im folgenden Kapitel zunächst weiter der Frage nach der Bedeutung von Geschlecht und Depression in transgenerationalen Tradierungsprozessen nachgegangen wird.

C Verweigerung & Selbstermächtigung Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht

1. E INFÜHRUNG

IN

K APITEL C

Im folgenden Kapitel werden Annahmen über Weiblichkeit, Mutterschaft und Generativität in Hinblick auf Depressivität bei Frauen diskutiert. Zunächst werden nach einer begrifflichen Einführung in Generativitätskonzepte psychoanalytische und kulturelle Konzepte weiblicher Generativität und Mutterschaft diskutiert. In den vorangegangenen Kapiteln wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, warum Depressionen in statistischer und diskursiver Häufung besonders Frauen betreffen bzw. warum besonders Frauen unter einer »Erschöpfung des Selbst« (Ehrenberg 1998) leiden. Im Folgenden soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, was Depressionen für Frauen bedeuten, bzw. welche kulturell-gesellschaftliche Bedeutung einer weiblichen Depression zukommt? Depression wird hier unter dem Aspekt einer »weiblichen« Verweigerungsstrategie betrachtet. Im Anschluss erfolgt eine kursorische Darstellung empirischer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen von Geschlechterdarstellungen in der Antidepressivawerbung seit den 50er Jahren. Die Darstellungen der Antidepressivawerbung zeigen exemplarisch, in welchem engen Bedeutungszusammenhang Vorstellungen über Weiblichkeit, Generativität und Reproduktion mit depressiven Störungen verknüpft werden. Sie deuten die Depression auch als ein »Nichterfüllen« weiblicher Geschlechternormen – als eine paradoxe Form der Verweigerung. Im Anschluss erfolgen komplementäre Überlegungen zur »männlichen« Depression als einer Ermächtigungsstrategie. Ausge-

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hend von der Überlegung, dass Depressionen für Männer und Frauen eine unterschiedliche Bedeutung transportieren, wird in diesem Unterkapitel der spezifischen Bedeutung einer männlichen Depression nachgegangen. In einem abschließenden Kapitel werden die hier identifizierten vergeschlechtlichten Diskursstränge – ein weibliches Verweigern oder Scheitern und eine männliche Ermächtigung – einer kulturhistorischen Untersuchung von Männlichkeit und Weiblichkeit im Melancholiediskurs unterzogen. Dieser Exkurs in die Melancholiegeschichte greift die Frage des psychoanalytischen Kapitels über eine geschlechtsspezifischen Entwicklung von Verlusten und einen vergeschlechtlichen Umgang mit Verlusten erneut auf und ordnet diese historisch in einem neuen Zusammenhang ein. Die zentrale Frage ist hier nicht nur, ob Männer und Frauen in ihrer Entwicklung andere Verluste erleben, sondern auch die, wie Männer und Frauen Verluste erleben und vor allem welche gesellschaftliche Bedeutung männlichen und weiblichen Verlusten zukommt. Darüberhinaus wird hier gefragt, ob dem Zugang zu einer Sprache des Verlustes oder der Darstellbarkeit von Verlustund Mangelerfahrungen ein geschlechtlicher Subtext unterliegt.

2. D EPRESSION ALS » WEIBLICHE « V ERWEIGERUNGSSTRATEGIE Bislang ging es vorrangig um die Klärung der Frage, warum das Depressionsrisiko von Frauen höher ist als bei Männern. Psychoanalytische Überlegungen zeigen auf, dass die Entwicklungsaufgaben des Mädchens im familiären und gesellschaftlichen Kontext möglicherweise schwerer wiegen und von mehr Verlusten gekennzeichnet sind und Mädchen aus diesem Grund auch weniger gesellschaftliche Kompensationsmöglichkeiten offen stehen als Jungen. Gleichfalls wurde gezeigt, dass auch in wissenschaftlichen Theorien über Depression binäre Geschlechtercodes vorgenommen werden, die kulturelle Annahmen über Weiblichkeit und Männlichkeit einerseits in ihren Diskurs aufnehmen und andererseits Gefahr laufen, diese zu verstetigen und erneut hervorzubringen. Ein wichtiger Knotenpunkt, in dem Diskurse über Weiblichkeit und Depressivität zusammenlaufen, ist in diesem Zusammenhang der gesellschaftliche und wissenschaftliche Generativitäts- und Reproduktionsdiskurs. Zunächst soll hier der in dieser

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Arbeit verwendete Begriff der Generativität hergeleitet und dann im Anschluss in Hinblick auf Weiblichkeit und Depression diskutiert werden. Nach Erikson erfordert Generativität: »[...] Vertrauen in die Zukunft, den Glauben an die Menschheit und die Fähigkeit, sich auch für andere Menschen einzusetzen« (Erikson 1988:117). Diese Fähigkeit geht Depressiven verloren. Vielmehr herrscht, eine von Erikson (1988) als Gegenspieler der Generativität beschriebene, »Stagnation« und »Selbstabsorption« vor. Die von Ehrenberg (1998) beschriebene Handlungsunfähigkeit in der Depression wird zu einer Verweigerung von Generativität. Depressive Frauen erfüllen die Ansprüche einer Gesellschaft, die Generativität zur Hauptaufgabe von Frauen, insbesondere von Müttern macht, nicht. Sie sind nicht mehr einsetzbar für die Beziehungsarbeit, für den Dienst am Anderen. Diese Verneinung findet eine Zuspitzung im Bild des Selbstmordes, ein Akt, der mit der Depression in enger Verbindung steht und der als Höhepunkt der Selbstabsorption, als Aufkündigung aller Hoffnung auf Generativität verstanden werden kann. Generativität wird definiert als eine gesellschaftliche Produktivität, insbesondere in Verbindung mit einer liebevollen Fürsorge für Andere und dem Zeugen und Großziehen eigener Kinder. In einem engeren Sinne wird Generativität mit Fruchtbarkeit, Zeugungskraft, Generationalität und Reproduktivität gleichgesetzt bzw. mit dem transgenerativen Hervorbringen neuer Generationen. Sie erscheint wie ein Appell an weibliche Fürsorge, eine Erweckung oder Anerkennung mütterlicher Eigenschaften in der Gesellschaft – einer Gesellschaft, in der nach wie vor Frauen die Hauptsorge um den Nachwuchs übernehmen. Vorstellungen über Generativität stehen in engen Zusammenhang mit Vorstellungen über Mutterschaft. In den folgenden Kapiteln werden diese Vorstellungen über Weiblichkeit, Mutterschaft und Generativität mit Ergebnissen aus der Depressionsforschung in Verbindung gebracht. Denn der Diskurs um Weiblichkeit und Depression, so die zugrunde liegende Annahme der folgenden Überlegungen, ist auf vielfältige Weise mit Beschreibungen über Generativität verflochten. Handelt es sich also bei der Korrelation zwischen steigenden Depressionszahlen und einer steigenden »Zeugungsfrustration« (Erikson 1988) der modernen Frauen um ein depressives Phänomen? Es drängt sich zumindest der Eindruck auf, als sei Generativität vor allem ein Auftrag, der mit symbolischer Weiblichkeit einhergeht und der von

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depressiven Patientinnen verweigert wird oder weniger aktiv formuliert: an dem sie aus vielfältigen Gründen scheitern.1 Die bisherige Blickrichtung wird also nunmehr umgekehrt, um aus der Perspektive der Niedergedrückten, der Stagnierten und Inaktiven zu beschreiben, was Generativität für die Depression bedeutet. Der Druck, der vor allem auf Frauen lastet, sich mit einer weiblichen, d.h. Sorge tragenden und beziehungsorientierten, expressiven Rolle zu identifizieren und der mit Depressionsrisiken in Verbindung steht, wird im Folgenden am Beispiel von psychoanalytischen und psychiatrischen Diskursen über Mutterschaft und Generativität verdeutlicht. Die These lautet, dass gesellschaftliche Rollenanforderungen in eine weibliche Depression führen können, sich in einer bestehenden Depression jedoch zugleich auch eine Verweigerungsstrategie bzw. ein Scheitern am weiblichen Rollendruck ausdrückt. Einerseits kann »Die weibliche Persönlichkeit« mit Ellen McGrath (1994) als eine milde Manifestation einer klinischen Depression begriffen werden oder mit Kay Redfield Jamison (1997) als Ausdruck gesellschaftlicher Vorstellungen über Weiblichkeit, wie Passivität, Sensibilität, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Abhängigkeit. Andererseits überschreitet eine klinisch diagnostizierte schwere oder chronische Depression aber die Grenzen dessen, was als gesellschaftlich anerkannter und tolerierter Spielraum von Weiblichkeit gilt.

1

Bei Erikson (1988) lässt sich der Begriff der Generativität, anders als im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs um stagnierende Geburtszahlen in westlichen Ländern, nicht allein auf Fortpflanzung und Familie reduzieren und ist nicht explizit mit symbolischer Weiblichkeit gleichgesetzt. Er definiert das Erwachsenenalter als »Bindeglied zwischen den Generationen« (Erikson 1988:85), als Mittelrolle zwischen zwei Phasen des Lebens und dem Generationszyklus, in dem der Konflikt zwischen Generativität und Selbstabsorption bzw. Stagnation verhandelt wird. Dabei umfasst Eriksons Definition von Generativität sowohl Fortpflanzungsfähigkeit (Reproduktion) als auch Produktivität und Kreativität in einem kulturellen Sinne. Auch das Hervorbringen von neuen Produkten und Ideen sowie eine »Art Selbst-Zeugung« sind Aufgaben in seinem Stufenmodell (Erikson 1988:86). Dieses Generativitätsideal ist dabei in verschiedener Weise an symbolische Weiblichkeit oder Männlichkeit adressiert. Hier sind nicht nur Themen symbolischer Weiblichkeit enthalten, sondern auch Aspekte melancholischer Männlichkeit, an die im Kapitel C angeknüpft wird.

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2.1 Weiblichkeit und Mutterschaft Abhängiger als die Frauen sind nur die Kinder, daher sind die Mütter oft so abhängig von der Abhängigkeit ihrer Kinder. Ruth Klüger (1993). Weiter Leben

Folgt man der Argumentation feministischer Forscherinnen wie Jessica Benjamin (1990), Christina von Braun (1985), Vera King (2006) oder Christa Rohde-Dachser (1989b) hat die Psychoanalyse an der Konstruktion der generativen Ansprüche an die Frau in der Vergangenheit entscheidend mitgewirkt. Benjamin (1990) kritisiert in »Die Fesseln der Liebe«: »Die Psychologie im Allgemeinen und die Psychoanalyse im Besonderen haben zu einem verzerrten Mutterbild beigetragen, das tief in unserer Kultur verankert ist.« (Benjamin 1990:27). In Arbeiten der Psychoanalyse herrsche ein Mutterbild vor, das die Mutter zum bloßen Hilfsmittel für das Baby herabsetze und ihr jegliche Selbstständigkeit und Subjektivität abspreche. Dem Kleinkind gegenüber, dessen Weg von der Symbiose in die Ablösung in der traditionellen Psychoanalyse vielfach dargestellt wurde, erscheine die symbolische Mutter in der psychoanalytischen Literatur als Anhängsel des kindlichen Ichs. Die Mutter ist zuständig für die Entwicklung des Babys. Sie ist das Objekt der kindlichen Bedürfnisse, das selten mehr will (oder wollen soll), als für ihr Kind da zu sein. Benjamin betrachtet die Entsubjektivierung der Mutter als Folge einer symbolischen Geschlechterordnung, die eine hierarchische Aufspaltung in einen gesellschaftlich aufgewerteten öffentlich-männlichen und einen abgewerteten privat-weiblichen Bereich vollziehe. Studien zum Gender Gap in der Depression, wie sie im Psychologiekapitel A dargestellt wurden, thematisieren die daraus folgenden materiellen, ökonomischen Abhängigkeiten von Frauen als Risikofaktoren für die Depression (vgl. z.B. McMullen & Stoppard 2006). Neben den materiellen Abhängigkeiten von Frauen existieren nach Benjamin psychische Muster, die eine »nostalgische Sehnsucht nach einer traditionellen Verteilung der Geschlechterrollen [...]« heraufbeschwörten (Benjamin 1990:200). Die »gute« ideale Mutter solle zwar in Heim und Herd ihre Erfüllung finden, sie wird dafür aber nicht gesellschaftlich geachtet. Zudem erzeuge die Beschränkung des Ideals

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der mütterlichen Fürsorge auf die ersten Lebensjahre ein Gefühl des Mangels, dass die Angst davor schüre, Kleinkinder in »Fremd«betreuung zu geben. Denn so werde ihnen auch noch diese kleine verordnete Dosis an Intimität, Schutz und Wärme entzogen. Nach Benjamin wird die Diskussion um Krippenplätze und Kinderbetreuung so zu einem Blitzableiter, der »alle mögliche Ängste und Phantasien über die Mutterrolle auf sich zieht.« (Benjamin 1990:207). Christina von Braun befasst sich bereits 1985 in ihrem Buch »NICHTICH« mit der Rolle der Psychoanalyse in der Konstruktion von Mütterlichkeitsidealen. Dabei macht sie deutlich, dass es nicht allein eine Abwertung des mütterlichen Ideals ist, die eine Entsubjektivierung nach sich ziehe, sondern dass es das Ideal an sich ist, welches Frauen »willenlos« mache. Nach von Braun geht die Entwicklung des Mütterlichkeitsideals im 19. Jahrhundert, in dem sich auch die Norm der Kleinfamilie herausbildet, mit einer gleichzeitigen Ausblendung der realen Mutter einher. Zunächst treten im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Pädagogen an, die den Müttern die Mutterschaft lehren wollen, die sich also über die Annahme, dass Mütterlichkeit erlernt und daher beigebracht werden kann, allmählich der Mutterschaft als einem Wissensfeld und einer Wissenspraxis »bemächtigen« (von Braun 1985:216). So sei es z.B. das Anliegen des Erfinder des Kindergartens, Friedrich Fröbel, gewesen, den Müttern durch pädagogisch ausgebildete Unterstützung dazu zu verhelfen, eine »gute Mutter« zu werden (von Braun 1985). Im 20. Jahrhundert hätten die Mütter schließlich die Mutterrolle soweit verinnerlicht, dass es scheinbar keiner Belehrung mehr bedürfe. Vielmehr tauchten nun z.B. psychoanalytische Diskurse auf, in denen Psychoanalytiker den Müttern Hilfestellung anbieten, ihre mütterlichen Instinkte wiederzuentdecken, sich der »Natur ihrer Mutterliebe« hinzugeben. Von Braun aber argumentiert, der Instinkt oder die »natürliche« Liebe der Mutter zum Kinde sind hier bereits fremdbestimmt. Sie haben mit dem »Wünschen und Wollen der Mutter« nichts zu tun: »Nicht ein Ich der Mutter sondern Normalität und Natur sind hier am Werke« (von Braun 1985:220). Von Braun beschreibt wie die ideale oder »genügend gute« Mutter auch bei Winnicott (1957) von »Natur aus« hingebungsvoll und aufopfernd konzipiert ist. Im Gegenzug erscheine eine Frau mit Ich, Sexualität und Willen als unmütterlich. Mütterlichkeit bedeute Selbstlosigkeit und Selbstvergessenheit: »die symbolische Mutter ist gänzlich Ich-los.« (von Braun 1985). Wie Benjamin fragt von Braun, wie es ein »Band« oder eine

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Bindung zwischen Mutter und Kinde geben könne, wenn die Existenz des mütterlichen Ichs geleugnet wird: »Wie soll ein Dialog zwischen zwei Partnern entstehen, wenn der eine von beiden als ›sprachlos gilt, mit dem Tier verglichen wird, das den Gesetzen der ›Natur‹ und den ›Trieben‹ unterworfen ist?« (von Braun 1985:221). In der Folge werde auch das Kind, welches an die willenlose Mutter gekettet sei, für nichtig erklärt – auch das Kind erscheint als passives Wesen, das der Allmacht der Mutter ausgesetzt ist. Von Braun kritisiert demnach, dass der Diskurs der Psychoanalyse, trotz aller Bemühung um Subjektivität an der Inszenierung der ichlosen Mutter mitwirkt.2. Rohde-Dachser (1989) fasst ihre Analyse der Mutterbilder in psychoanalytischen Entwicklungstheorien ähnlich zusammen: »Die Rolle der Mutter ist der des Kindes komplementär. Beide zusammen konstituieren die »Mutter-Kind-Beziehung«. In dieser Beziehung ist die Mutter von schicksalshafter Bedeutung für das Kind, das seinerseits eher passivrezeptiv gedacht wird und von daher als um so massiver den mütterlichen Einwirkungen ausgesetzt. Eine ›hinreichend gute Mutter‹ (Winnicott 1949) übernimmt vielfältige Funktionen für das Kind: Körperpflege, Reizschutz, Dialog, Spiegelung, Vermittlung von Sicherheit und Geborgenheit und anderes mehr fallen in ihr Ressort. Sie ist Verkörperung ›primärer mütterlicher Liebe‹ (Balint 1937), ein mit dem Kind verwobener und ausschließlich auf seine Bedürfnisse eingestellter Organismus. Verweigert die Mutter diese Rolle oder füllt sie unzureichend aus, schädigt sie ihr Kind und zeichnet verantwortlich für seine mögliche Fehlentwicklung.« (Rohde-Dachser 1989b).

Die Mutter wird entsubjektiviert und objektiviert, in der Folge werden sowohl die Mutter als auch das Kind als passiv und abhängig beschrieben. Und nach wie vor wird der Rolle des Vaters und des spezifischen Kontexts, in dem Mutter und Kind eine Beziehung aufbauen,

2

Nach von Braun (1985) geht die Idealisierung der Mutterschaft, die letztlich nichts anderes als eine weitere Entsubjektivierung darstellt, einher mit dem Ausbleiben tatsächlicher Mutterschaft. Die Autorin zeigt, anhand von historischen Beispielen in Deutschland, Frankreich und Italiens während des letzten Jahrhunderts, dass eine zunehmende Entsubjektivierung bedingt durch hohe Ideale oder gar nationalsozialistischem Zwang zur Mütterlichkeit mit rückläufigen Zahlen tatsächlicher Geburten einhergeht.

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in der Psychoanalyse noch immer zu wenig Bedeutung geschenkt (Rohde-Dachser 1989b). Nadig (1989b) kritisiert die psychoanalytische Theoriebildung wiederum dafür, dass sie Mutterschaft pathologisiere und kulturelle und soziale Zusammenhänge ausblende. Die Libido der Frau werde in Zusammenhang mit einem Kind entsexualisiert; Isolation und verinnerlichter Verzicht erscheine als Normalität. Dabei werde gesellschaftliche Ideologie widergespiegelt, statt aufgedeckt. Die Mutter werde entsozialisiert und aus der Mutterschaft resultierende Überforderungssituationen würden als immanenter Teil der Mutterschaft betrachtet. Solche Entsubjektivierung und gesellschaftliche Zumutungen an die Mutter finden dann in der Mutter durchaus auch im Sinne einer Depression einen Ausdruck: »Störungen und Mängel im sozialen Gefüge werden in die Mutter hinein verlagert und kommen dann von innen heraus in Form von Depressionen, Neurosen, Unfähigkeiten oder Psychosen zum Ausdruck.« (Nadig 1989b:156). Als Beispiel einer gesellschaftlichen Unbewusstmachung in der psychoanalytischen Theorie führt auch Nadig die Theorie Winnicotts ein, den sie eigentlich als »einen der frauen- und mütterfreundlichsten Autoren« (Nadig 1989b: 157) bezeichnet. Sie zitiert Winnicott mit einer zentralen Beschreibung von Mütterlichkeit, die sie wiederum als eine Pathologisierung betrachtet: »Es gibt sicherlich viele Frauen, die im übrigen gute Mütter und zu einem reichen und fruchtbaren Leben fähig sind, jedoch diese »normale Krankheit« nicht zustande bringen, die sie fähig macht, sich von Anfang an mitfühlend und einsichtig den Bedürfnissen des Kindes anzupassen.« (Winnicott 1956:156)

Nadig betont, dass Winnicotts Definition der »genügend guten Mutter« nicht biologisch gemeint sei, die primäre Mütterlichkeit sei eher als eine Art und Qualität der Kommunikationsbereitschaft zu verstehen, als eine Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse des Säuglings einzustellen. Hierbei falle jedoch auf, dass diese Fähigkeit von Winnicott mit einer Krankheit verglichen werde, mit einem »auffälligen Sonderzustand«, der aus dem gesellschaftlichen Normalverhalten herausfalle. Weiter führe Winnicott genau jene Frauen als unfähig im Erreichen dieses wichtigen »Sonderstatus« an, die anderweitig im Leben reichen Interessen nachgingen, die also außerhalb des Mutterdaseins an der öffentlichen Kultur teilhätten. Winnicott expliziert in seinem Text,

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dass eine solche »männliche Identifizierung« (Winnicott 1956) als Ausdruck eines verdrängten Penisneids wenig Raum für primäre Mütterlichkeit lasse. Winnicott stelle einen Konflikt seiner Zeit zwischen Berufstätigkeit und Mutterschaft angemessen dar, interpretiere ihn aber dann als individuelles Entwicklungsproblem der Frau. Die Auseinandersetzung der feministischen Autorinnen mit den psychoanalytischen Konzeptualisierungen von Mutterschaft zeigen, dass Weiblichkeitsvorstellungen und dazugehörige Emotionsnormen für Frauen einen Generativitätsdruck herstellen, der Konflikte in der Vereinbarkeit von Mutterschaft mit der Identität, dem Wünschen und Wollen der Frauen hervorbringen kann. Diese Konflikte werden jedoch meist nicht als gesellschaftliche benannt, sondern werden, wie Nadig es beschreibt, in die Frauen hineinverlagert. Diese Überlegungen werden gestürzt durch Studien in Kapitel A, die besonders solche Faktoren mit Depressionen bei Frauen in Verbindung bringen, die mit Reproduktion und weiblichem Caring in Verbindung stehen, wie z.B. das Versorgen kleiner Kinder im Haushalt oder eine traditionelle heterosexuelle Partnerschaft ohne Berufstätigkeit der Frau (vgl. Mac Grath et al. 1994). Die Soziologin Vera King (2006) argumentiert, dass die Notwendigkeit, mit Beginn der Elternschaft die Interessen des Babys über die eigenen zu stellen, oder bestimmte Lebensziele einzuschränken, zum Hinausschieben oder Ablehnen der Elternschaft führen kann. Sie führt an, dass besonders in Deutschland, »im Land der guten Mutter«, die Berufstätigkeit von Frauen bei Geburt eines Kindes dramatisch abnimmt. Eine Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft wirke sich jedoch positiv auf die Geburtenrate aus und unterstütze Mütter im Umgang mit ihren Kindern. Es sei dringend notwendig, Männer in die Transformation der Elternschaft einzubeziehen, um zu verhindern, dass Frauen unter den »generativen Druck« geraten, allein zuständig zu sein für »Altruismus, Fürsorge und Dasein für Andere« (King 2006). Die Adoleszenz betrachtet sie dabei als zentralen Faktor in der Entwicklung von Generativität. Adoleszente Individuationsprozesse sind nach King (2006) die Voraussetzung zur Übernahme der späteren Position der psychischen Elternschaft. Hierbei falle auf, dass sich junge Frauen, nicht aber junge Männer, bereits in der Adoleszenz über die (Un-)Vereinbarkeitsthematik von Berufszielen und Kinderwunsch bewusst sind. So geben junge Frauen an, dass sie erst berufliche Ambitionen verfolgen und konsolidieren wollen und ihren Kinderwunsch

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herausschieben oder aber sie halten sich mit beruflichen Ambitionen von Anfang an zurück. Für Mädchen bleibe aufgrund der frühen Auseinandersetzung mit diesem Konflikt zwischen familiären und beruflichen Zielen wenig Spielraum für das in dieser Phase notwendige Ausleben narzisstischer Größenphantasien.3 Die Mädchen trainieren möglicherweise schon in der Adoleszenz für die spätere Entsubjektivierung. Interessanterweise ist die Adoleszenz auch in der Depressionsforschung der Wendepunkt, an dem sich das höhere Depressionsrisiko für Mädchen einstellt. Offenbar markiert der Eintritt in die Adoleszenz einen verstärkten identifikatorischen Druck auf Mädchen, sich dem Primat der Generativität zu unterwerfen, das die von King (2006) beschriebenen Konflikte hervorruft.4 Wie stark der Diskurs um Mutterschaft und Weiblichkeit mit dem Erleben von Depression bei Frauen verflochten sein kann – wie stark sich dieser Diskurs in die depressiven Körper einschreibt – veranschaulicht auch eine Untersuchung von Linda McMullen (1999). Sie

3

Ein Fazit aus der deutschen Vorwerk-Familienstudie von 2008 illustriert, dass ein weibliches »Wünschen und Wollen« für junge Männer keine Selbstverständlichkeit ist: »Das Selbstbild der heutigen Mütter hat sich deutlich gewandelt. War die Nachkriegsgeneration vielfach noch von einer ›Opfermentalität‹ der Mütter geprägt, finden es heute mehr als zwei Drittel aller jungen Frauen (16 – 29 Jahre) ganz besonders wichtig, dass eine berufstätige Mutter nicht nur für die Familie da ist, sondern auch eigenen Wünschen und Interessen nachgeht. Gleichaltrige Männer bringen solchen Emanzipations- und Autonomieansprüchen verbreitet Argwohn entgegen: Nur jeder dritte junge Mann gesteht einer jungen Mutter solche Freiheiten zu. Hierin könnte eine wesentliche Ursache für die Bindungsscheu und Kinderlosigkeit vieler in der jüngeren Generation liegen« (Vorwerk Familienstudie:6).

4

Auch in der Theorie von Freud (1923) fällt die Pubertät zusammen mit der Ausbildung einer Geschlechtlichkeit, in der ein Junge zum aktiven Subjekt wird, während ein Mädchen in die symbolische Welt der passiven objektivierten Weiblichkeit eintritt: »Erst mit Vollendung der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität mit männlich und weiblich zusammen. Das männliche fasst das Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weibliche setzt das Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibs an.« (Freud GW XIII 1923: 297f).

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unternimmt anhand der Aussagen von zehn depressiven Frauen in psychodynamischer Psychotherapie eine Metaphernanalyse depressiven weiblichen Sprechens. Besonders auffallend sind dabei die Selbstzuschreibungen mehrerer Frauen, die sich selbst als zu bemutternd (»too mothering«) oder als zu naiv-kindisch (»too child-like«) darstellen und dies kausal mit ihrer Depression in Verbindung bringen. Die Autorin interpretiert diese Aussagen in Verbindung mit dem hier diskutierten Mütterlichkeitsdiskurs, der Frauen und Kinder als eine gemeinsame Kategorie identifiziert und von der dominanten männlichen Kultur und der in ihr vorherrschenden Autonomieideale isoliert: »As a category, mothers and children are often relegated to a low position, devalued for their inability to participate in the important (public) tasks of a culture and for their stereotypically conceived lack of autonomy. In a socialhistorical moment that prizes autonomy almost above everything else, the roles of mother and child clearly carry little real value.« (McMullen 1999:12)

Mit Recht weist McMullen darauf hin, dass in der Gesellschaft strenge kulturelle Regeln darüber herrschen, was als »zu bemutternd« und was noch als angemessenes Versorgen betrachtet wird. Einerseits solle sich die Frau versorgend und unterstützend verhalten, aber nicht so sehr, dass sie damit die Freiheit und Autonomie des Anderen einschränke (McMullen 1999:12). Die Annahme und der Ausdruck dieses Diskurses durch die depressiven Patientinnen in dieser Stichprobe verweisen auf die kulturelle Bedeutung der Weiblichkeitsideale für die Depression. Dies äußere sich auch in der Unwahrscheinlichkeit, dass ein depressiver Vater sich selbst als zu »bevaternd« bezeichnen würde. Sich selbst als zu bemutternd zu identifzieren, liefere den Frauen hingegen eine Möglichkeit, sich einen eigenen Anteil an ihren depressiven Schwierigkeiten zu erklären. »Mothering« werde zur kulturell akzeptierten Erklärung depressiver Schwierigkeiten. McMullen betont, dass die kulturelle Akzeptanz einer entwerteten Rolle von Müttern auch erkläre, warum sich viele Frauen mit der Rolle der Depressiven identifizieren könnten. Während Männlichkeit mit Autonomie und Reife assoziiert ist, werde Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Kindlichkeit als defizitär beschrieben: »Given both the centrality of the discourse of deficiency in ›depression‹ and the ready availability of the devalued roles of mother and child as explanatory models for deficiency, it is not surprising that ›depression‹ is a highly probable place for many

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women to be.« (McMullen 1999:13). So sieht McMullen in den entwerteten Kategorien von Weiblichkeit und Mutterschaft eine Erklärung für die statistische Häufung von Depressionen bei Frauen. Auch sie bezieht sich auf die diskursive Entknüpfung von symbolischer Weiblichkeit, Subjektstatus, Sexualität und Begehren. Dieser Diskurs schreibt sich in depressive Frauen ein und wird von ihnen als kognitives Erklärungsmodell für »weibliche Depressionen« aufgerufen. Die depressiven Frauen in der Studie wissen um die weiblichen Rollenanforderungen und ihre engen Toleranzgrenzen, sie erleben ihre Depression als ein Scheitern, als ein Versagen an diesen Normen. Es ist nicht ein Scheitern an »zu wenig« Weiblichkeit, sondern an einem »zuviel« an Weiblichkeit. 2.2 Transgenerative Weitergabe Im folgenden Kapitel werden anhand der Betrachtung psychoanalytischer Theorien zu transgenerationalen Tradierungsprozessen psychische Folgen einer »Entsubjektivierung« von Müttern für ihre Kinder, insbesondere für die Töchter herausgearbeitet. Wolfgang Mertens beschreibt in seiner psychoanalytischen Entwicklungstheorie einen weiteren Nachteil der »einseitigen Dominanz des Mutterns« (Mertens 1994). Darin stellt er Überlegungen an zur Bedeutung der Geschlechtsgleichheit von Mutter und Tochter für die Weitergabe von Generativität. Die Dominanz der präödipalen MutterKind-Beziehung habe besonders für die Töchter Auswirkungen auf das psychische Erleben. Denn die (gleichgeschlechtlichen) Mütter können es ihren Töchtern erschweren, ein eigenständiges Individuum zu werden. Die Tochter werde zum Selbstobjekt der Mutter, und zwar in dem Maße, wie sich die Mutter von ihrem Mutter-Ideal als abgelöst erlebe. Den Mangel an eigener Identität, die Leerstelle, fülle die entsubjektivierte Mutter mit dem neuen (Selbst)-Objekt Kind. Die Tradierung einer ausbleibenden Ablösung geschieht Mertens zufolge leichter entlang der weiblichen Linie, denn dem Erkennen der bewussten und unbewussten Ungleichheit werde bei Mutter und Tochter nicht durch einen (Geschlechts-)Unterschied geholfen. Die Ordnungskategorie Geschlecht stellt beide auf die eine Seite im Unterschied zum Vater oder Brüdern. Das Erleben von Gleichheit und Symbiose kann dabei zur Quelle früher archaischer Ängste werden, wobei die übermächtige Mutter, mit der das Selbst der Tochter zu verschmelzen droht, eine

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eigenständige Identität der Tochter bedroht. Gleichzeitig kann die symbiotische Illusion auch zu einer Abwehr und Unterdrückung von Aggression führen. Betrachtet man diese Ausführungen, so scheint es, als tradiere sich die Benachteilung der Mütter insbesondere an die Töchter weiter. Ein Umstand, der auch durch Studien zur transgenerativen Depressionstradierung gestützt wird. Diese Studien zeigen, dass für Mädchen von depressiven Müttern das Risiko, später selbst an einer Depression zu erkranken, höher ist als für Jungen (LeuzingerBohleber 2001, Leuzinger-Bohleber 2005a). Welche Folgen eine Depression der Mutter auf das psychische Erleben der Tochter haben kann schildert auch Leuzinger-Bohleber (2001) in ihrem Aufsatz über einen unbewussten Medeakomplex bei Frauen. Sie geht davon aus, dass der Medea-Mythos eine zentrale unbewusste Phantasie darstellt und Schwierigkeiten vieler Frauen bei der Integration ihrer Erfahrungen von Weiblichkeit deutlich macht5. Die Autorin beschreibt die Bedeutung der Medeaphantasie anhand der Erfahrung von Weiblichkeit bei sechs ihrer Patientinnen, die aufgrund von Symptomen psychogener Frigidität und Sterilität eine psychoanalytische Behandlung aufsuchen. Medea, die, nachdem sie von ihrem Liebespartner Jason betrogen wurde, aus Verzweiflung, Rachsucht und Hass ihre beiden Söhne ermordet, symbolisiert weibliche Destruktivität im Extrem. Die mythologische Medea, mehrfache Mörderin des Bruders, des Onkels, der neuen Ehefrau Jasons und der eigenen Kinder, umgibt bis heute mit einer »Aura aus Schrecken und Faszination« (Stephan 2006). Als Bild steht Medea eindrucksvoll für das Ende und die Zerstörung von Generativität. In der künstlerischen Interpretation Bernard Safrans (1994) erscheint diese Destruktivität im Gewand der depressiven »toten Mutter«:

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Forster (1998) hingegen beschreibt die Medea als eine mythische Figur, die sich gerade nicht als weibliche Figur der Depression eigne. Als Zornige und Trauernde widerstehe sie der depressiven Lebensunfähigkeit ebenso wie einer melancholischen Resignation männlicher Spielart. LeuzingerBohleber (2001) stellt dagegen einen psychodynamischen Zusammenhang her zwischen Depressionen in der mütterlichen Generation und einer »Medea«-Phantasie bei ungewollt unfruchtbaren Frauen in der Tochtergeneration.

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Abbildung 5: Bernard Safran (1964) Medea

Leuzinger-Bohleber wird durch die unbewussten Phantasien ihrer Patientinnengruppe an diese ambivalente und düstere Täterin erinnert. Die Phantasien enthielten nach ihrer Erfahrung zentrale Themen weiblicher Produktivität und Zerstörung und stünden in Zusammenhang mit infantilen sexuellen und Objektbeziehungsfantasien. Für diese Frauen bedeute sexuelle Lust und Leidenschaft das Risiko einer existentiellen Abhängigkeit von ihrem Liebespartner und ein mögliches Verlassenwerden durch diesen. Als Folge verboten sich die Frauen jeglichen Ausdruck kreativer Weiblichkeit und Produktivität, indem sie »sich und ihren Körper abtöteten« (Leuzinger-Bohleber 2001:324). Alle sechs Patientinnen schilderten Traumata in ihrer Beziehung zur Mutter in der Kindheit. Allen Patientinnen war gemeinsam, dass ihre Mütter jeweils in ihrem ersten Lebensjahr unter schweren Depressionen litten und mit Antidepressiva behandelt wurden. Diese Mütter waren nicht in der Lage, sich ihren Töchtern als »genügend gute« Mütter zu präsentieren, die hilfsbereite und verlässliche Objekte für ihre Kinder darstellten. Mit Benjamin ließe sich nun fragen, wie es um die eigene Subjektivität der Mütter bestellt war und welche Art der Unterstützung den Müttern hätte helfen können. In der Reaktion der Frauen liegt

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nicht allein ein Bild der Weitergabe depressiver Destruktivität und Anti-Generativität der Mütter an die Töchter, sondern auch die weibliche Phantasie über den mütterlich-weiblichen Körper bzw. über die phantasierte Bedrohung im eigenen weiblichen Körperinneren. So ist eine Medea-Phantasie nach Leuzinger-Bohleber in milder Form möglicherweise Teil der Psyche aller Frauen. Das Wissen um das eigene Potential zur Generativität aber auch zur Destruktivität von Generativität sei auch in stabilen weiblichen Identitäten psychisch präsent. So treffen sich in diesen Patientinnen Phantasien über den bedrohlichen Innenraum im mütterlichen Körper mit den Phantasien über den eigenen Körper. Die phantasierte Gefahr, die vom mütterlichen Körper ausgeht (Irigaray 1980, Chasseguet-Smirgel 1976), wird in den eigenen Körper eingeschrieben, in ihm eingeschlossen und bewahrt. 2.3 Frauen in der Antidepressivawerbung The notion that psychiatry has moved from blaming the mother to blaming brain is complicated by the confounding fact that the mother keeps showing up in places where psychopharmacology is introduced […]. Jonathan Metzl 2003

Das Forschungsinteresse dieser Arbeit lässt sich auch mit einem Werbeslogan des Antidepressivaherstellers »Dexedrine« aus den 50erJahren umschreiben: Die hier dargestellte, vom Psychopharmakahersteller »Dexedrine« gewählte Werbestrategie aus den 50er Jahren, verhandelt einen Diskurszusammenhang von Depression und Geschlecht, wie er im Folgenden unter der Berücksichtigung der Zuschreibungskategorien Geschlecht und Generativität untersucht werden soll. Gefragt wird insbesondere danach, wie der Depressionsdiskurs zu sozial wirkmächtigen Anforderungen und Zuschreibungen einer normierten Weiblichkeit in Beziehung steht?

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Abbildung 6: Why is this woman tired?

Dexedrine advertisement, (1956) Journal of the American Medical Association, Vol. 160, No. 10. Werbeanzeigen von Antidepressivaherstellern liefern in dieser Hinsicht wichtige Hinweise, stellen diese doch besonders auffällige Beziehungen zwischen den Sinnkomplexen Weiblichkeit, Erschöpfung und Depression her. Depression wird als weiblich markiert, während Weiblichkeit gleichzeitig in der Reproduktionssphäre des Haushalts lokalisiert wird. Weiblichkeit und Depression stehen in einem gemeinsamen Bedeutungsfeld. Die depressive Frau lehnt erschöpft an der Küchenzeile, auf der sich das unerledigte schmutzige Geschirr auftürmt. Ihre Müdigkeit, in der Werbebotschaft als Ausdruck einer zugrundeliegenden Depression

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identifiziert, führt dazu, dass sie die Hausarbeit nicht (mehr) bewältigen kann. Sie gerät in Konflikt mit der gesellschaftlich hegemonialen Geschlechterordnung – ein Konflikt, der, wie die Werbebotschaft suggeriert, durch die Einnahme des empfohlenen Antidepressivas erfolgreich behoben werden kann. Die zunächst klare Botschaft, dass Antidepressiva die reproduktiven Fähigkeiten von Frauen unterstützen, enthält latent jedoch auch eine ambivalente Frage: es bleibt unklar, ob die Frau an ihrer Reproduktionstätigkeit ermüdet und daher depressiv wird, oder ob die Depression sie daran hindert ihre »Rolle« auszuführen (vgl. Metzl 2003). Die empfohlene Therapie ist in beiden Fällen »Dexedrine«.6 Dieselbe ambivalente Botschaft findet sich auch in dem folgenden Anzeigetext der Dexedrineanzeige, der nach den Gründen für die Müdigkeit der dargestellten (Haus-)Frau fragt: »why is this woman tired? She may be tired for either of two reasons: * because she is physically overworked. If this is the case, you prescribe rest, because rest is the only cure for this kind of physical problem. * because she is mentally "done in." Many of your patients -- particularly housewives -- are crushed under a load of dull, routine duties that leave them in a state of mental and emotional fatigue. For these patients, you may find 'Dexedrine' an ideal prescription. 'Dexedrine' will give them a feeling of energy and well-being, renewing their interest in life and living. [...]« (1956, Journal of the American Medical Association, Vol. 160, No. 10, Herv. N.T.)

Die Frau könnte aus zwei Gründen ermüdet sein. Der erste Grund liegt in einer physischen Überarbeitung; gegen die körperliche Müdigkeit wird Erholung empfohlen. Die andere Ursache für die Erschöpfung, das eigentliche Thema der Werbung, ist eine psychische Müdigkeit, die dem Text zufolge besonders häufig von Hausfrauen erlebt wird. Als Grund wird eine monotone Alltagsroutine von Hausfrauen ge-

6

Das Amphetamin Dexedrine wurde 1936 für den US-Markt als Mittel gegen depressive Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Adipositas freigegeben. Heute wird es hauptsächlich zur Behandlung von ADHS eingesetzt.

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nannt. Hausarbeit hinterlasse bei vielen Frauen eine emotionale Erschöpfung. Individuelle Abhilfe verspricht die Einnahme des beworbenen Antidepressivas, das Energie und Zufriedenheit wieder herstellen soll, ohne dass sich dafür im praktischen Alltag der Familie etwas ändern müsse. Problematisch ist die Botschaft nun deshalb, weil sie einerseits die Arbeit der Hausfrau (mit-)verantwortlich macht für die depressive Erschöpfung und andererseits das Ziel nicht darin identifiziert, die (krankmachende) Routine zu thematisieren oder zu verändern, sondern darin, die »weiblichen Fertigkeiten« wiederherzustellen. Durch die explizite und unhinterfragte Verbindung von Weiblichkeit und Reproduktionssphäre wird implizit auch ein Ausschluss der Verbindung von Männlichkeit, Hausarbeit und Depression hergestellt. Die Verbindung von Depression und Weiblichkeit wird naturalisiert. Verhandelt wird hier also nicht einfach nur die »weibliche Rolle« und Empfänglichkeit für affektive Störungen, sondern darüber hinaus auch die kulturelle Geschlechterordnung und die durch diese kulturelle Ordnung hervorgebrachten symbolischen Kodierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Depressive Weiblichkeit wird dargestellt als Abweichung von einer unhinterfragten und unsichtbaren männlichen Norm. Die Werbeanzeige und der dazugehörige Text machen auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. Die depressive Frau kann ihren familiären Alltag nicht bewältigen. Sie scheitert an den reproduktiven Ansprüchen, die an sie gestellt werden und die im Bild durch die sich auftürmenden Geschirrberge dargestellt werden. In dieser Depression liegt auch eine Verweigerung, ein Nichterfüllen(-können) symbolischer weiblicher Geschlechternormen und Rollenzuschreibungen. Mit Lepenies ließe sich auch von einem Rückzugsverhalten der depressiven Frau sprechen, das »auf purer Passivität« beruht – und dieses »Rückzugsverhalten unterliegt gesellschaftlicher Verdammung« (Lepenies 1992:11). Demzufolge lautet die Frage, ob mit der Depression, sofern sie Frauen betrifft, nicht auch eine Form der Verweigerung und Abweichung expressiver weiblicher Normen vorliegt. Wäre es also denkbar, Depressionen als Strategien zu beschreiben, die sich Frauen »zunutze machen«, um dem gesellschaftlichen Druck geschlechtlicher Zuschreibungen und Erwartungen zu entgehen? Paradox formuliert geht es hierbei um die beinahe schon verharmlosende Beschreibung eines Leidensdrucks depressiver Frauen als Befreiung von gesellschaftlichen Rollenzwängen. In milder Form stimmt Depressivität zwar durchaus

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mit kulturellen Beschreibungen traditioneller Weiblichkeit überein, in einer ausgeprägten klinischen Symptomatik kippt diese Übereinstimmung jedoch, aus einer vermehrten Sorge um Andere, Passivität und Abhängigkeit, in die Selbstabsorption und Stagnation der Depressiven. In ihr liegt eine Verweigerung: die Verneinung interpersonaler Beziehungsangebote. Dass es sich bei der Werbeanzeige aus den 50er Jahren nicht nur um einen historischen und unzeitgemäßen Ausdruck von Geschlechterbildern im Depressionsdiskurs handelt, sondern um einen gegenwärtig aktuellen, illustriert eindrücklich das folgende Beispiel moderner Psychopharmakawerbung für das Antidepressivum Zoloft (2006): Abbildung 7: Zoloftwerbung 2006

Die diskursive Verflechtung von Generativität, Weiblichkeit und Depression ist zentral für eine Analyse der Psychopharmakawerbung und der Verhandlung von Antidepressiva im gesellschaftlichen und psychiatrischen Diskurs. Wenn daher im Folgenden empirische und kulturwissenschaftliche Studien zur Darstellung von Frauen in der Psychopharmakawerbung diskutiert werden, dann geschieht dies immer vor dem Hintergrund der Überlegung einer diskursiven Verbindungslinie zwischen weiblicher Depression und verweigerter Generativität.

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Die PsychologInnen Munce et al. (2004) untersuchen in einer empirisch-statistischen Studie zu Geschlechterdarstellungen in Psychopharmakawerbung Werbeanzeigen im American Journal of Psychiatry, Canadian Journal of Psychiatry und im British Journal of Psychiatry aus den Jahren 1981, 1991 und 2001. Die Ergebnisse dieser inhaltsanalytischen und statistischen Häufigkeitsauswertung der Daten zeigen, dass der Anteil von Frauen, die auf Werbeanzeigen von Psychopharmakaherstellern abgebildet sind, im Jahr 1981 zunächst etwa der Hälfte aller Abbildungen von Personen entspricht. Im Jahr 2001 nimmt der Anteil an abgebildeten Frauen sogar um bis zu 80 Prozent im American Journal und bis zu 88 Prozent im Canadian Journal zu. Die ForscherInnen betrachten die Ergebnisse noch einmal gesondert für Antidepressivawerbung. Besonders auffallend ist dabei, dass im American Journal of Psychiatry 2001 ausschließlich Frauen in der Antidepressivawerbung abgebildet werden. Die Resultate der Häufigkeitsverteilung von Frauen in der Psychopharmakawerbung in den USA und Kanada werden durch eine Untersuchung zur Darstellung von Personen in der Psychopharmakawerbung in skandinavischen Fachzeitschriften bestätigt. Lövdahl & Riska (2000) fassen zusammen, dass die Pharmaindustrie in den 1970er und 1980er Jahren zunächst von der Verschreibung von Schlafmitteln dominiert ist – »the age of sleeping pills«. Die Werbung dieser Jahre zeige noch häufig Männer, die Benzodiazepine verschrieben bekommen, um Stress auf der Arbeit besser zu bewältigen. Frauen werden 1981 besonders in Hausarbeitssituationen oder schlafend dargestellt. Wenn in den Anzeigen Paare abgebildet werden, liege der Fokus häufig auf den Frauen, die in einer stereotyp-femininen unterstützenden Rolle dargestellt würden. Mit der Zunahme an Antidepressivaverschreibungen in den 1990er Jahren durch die Entwicklung von Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) entsteht zunehmend auch in der Fachliteratur Werbung, die Depression explizit als Frauenkrankheit darstellt und so die Verbindung zwischen Depression und Weiblichkeit miterzeugt und aufrechterhält (Lövdahl & Riska 2000). Munce et al. (2004) stellen in ihrer Untersuchung fest, dass Frauen in Werbeanzeigen zu allen drei Messzeitpunkten (1981, 1991 & 2001) in Übereinstimmung mit traditionell weiblichen Geschlechternormen abgebildet werden. Frauen werden im Haus oder im Garten abgebildet, in sozialen Situationen gezeigt oder schlafend dargestellt. Männer hingegen werden vor allem in beruflich-professionellen, traditionell

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männlichen Rollen abgebildet (Munce et al. 2004). Trotz der Veränderungen von Geschlechtsrollenstereotypen in den letzen 30 Jahren werden Frauen in der Psychopharmakawerbung nach wie vor nach traditionellen Rollenschemata dargestellt, in denen sie submissiv (z.B. schlafend) oder in sexualisierter Form (schlank, attraktiv, jung) abgebildet werden (Arehart-Treichel 2004). Diese Form der Abbildung ist dabei weniger eine schlichte Repräsentation, insofern darunter eine an der Realität orientierte Darstellung des Erlebens depressiver PatientInnen verstanden wird, als vielmehr einer Darstellung, die das in ihr Dargestellte, nämlich stereotype weibliche Geschlechtsrollennormen, immer auch maßgeblich miterzeugt. Seit Prozac auf dem US-amerikanischen Markt in Erscheinung getreten ist, steigt die Rate verschriebener Antidepressivamedikationen dramatisch an (Blum & Stracuzzi 2004). Blum und Stracuzzi (2004) unternehmen eine Inhaltsanalyse von Geschlechterbeschreibungen in 83 veröffentlichten wissenschaftlichen Artikeln über Prozac und verwandten Antidepressiva in einem Zeitraum von 12 Jahren. Die AutorInnen kommen zu dem Schluss, dass Prozac in den Artikeln vordergründig zunächst durchaus geschlechtsneutral dargestellt wird. Sie identifizieren jedoch latente, geschlechtlich kodierte Einschreibungen in den Diskurs, wie z.B. die Annahme eines neurochemischen Ungleichgewichts besonders bei Frauen oder das Motiv, weibliche Körper zu »disziplinieren«, um ihre Flexibilität und Produktivität zu verbessern (Blum & Stracuzzi 2004). Die Autorinnen bezeichnen die diskursiven Praxen in Psychiatriefachzeitschriften als (unbewusste) Zuschreibungen, die auf den weiblichen Körper für eine neue Form der weiblichen »Fitness« (Anpassung) in der New Economy fokussieren. Auf diese Weise trage der psychiatrische Diskurs dazu bei, historisch spezifisch geformte weibliche Geschlechtskörper herzustellen. Im Anschluss an die Ergebnisse von Munce et al. (2004) führten Mastroianni et al. (2008) eine Untersuchung von Pharmawerbung in aktuellen medizinischen Fachzeitschriften und psychiatrischen Praxen in Brasilien durch. Auch diese AutorInnen untersuchen inhaltsanalytisch die Darstellung von Personen in Psychopharmaka-Anzeigen. Eine statistische Auswertung der Häufigkeitsverteilung in der Untersuchung ergibt: Frauen werden in 62 Prozent der Werbeanzeigen abgebildet; in Antidepressivawerbung und in Benzodiazepin-Werbung gegen Angststörungen sind Frauen sogar vier Mal so häufig präsent wie Männer. Während in der Psychopharmakawerbung allgemein ein

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leichtes Übergewicht von Frauen zu herrschen scheint, sind sie in der Werbung für Mittel gegen Depression und Angst signifikant überrepräsentiert. Bei einem Verhältnis von etwa doppelt so vielen depressiven Frauen zu depressiven Männern in der Bevölkerung stellt das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Antidepressivawerbung eine überproportionale Betonung von Weiblichkeit und Depression dar. Die AutorInnen gehen davon aus, dass solche Darstellungspraxen der Pharmaindustrie in Fachzeitschriften die Verschreibungspraxis von KlinikerInnen beeinflussen und dazu führen können, dass mehr Frauen Antidepressiva verschrieben bekommen, während Männer unterdiagnostiziert oder zu selten mit Antidepressiva behandelt werden. Wie Munce et al. (2004) stellen auch Mastroianni et al. (2008) für die Analyse von Werbeanzeigen in Brasilien fest, dass Männer seltener dargestellt werden und wenn, dann vor allem in einem beruflich, professionellem Kontext. Männer werden als produktiv und autonom, auch in finanzieller Hinsicht als unabhängig, dargestellt. Frauen werden auch hier häufiger dargestellt; vor allem in sozialen Situationen gezeigt und dabei in Haus oder Garten abgebildet, oftmals auch schlafend (Mastroianni et al. 2008). Fast alle abgebildeten Personen sind weiß (98,8 Prozent) und junge Erwachsene (72 Prozent). Auch diese Zahlen entsprechen nicht einer tatsächlichen Häufigkeitsverteilung der Depressionsstatistik oder einer repräsentativen Darstellung der brasilianischen Bevölkerung (Mastroianni et al. 2008). Sie sind vielmehr der Ausdruck einer (nicht sichtbaren und nicht thematisierbaren) Normierung von Depression als Frauen-Krankheit. Mastroianni et al. (2008) kritisieren ferner, dass Frauen vor allem in abhängigen Positionen dargestellt würden. Auch sie weisen daraufhin, dass die Frauen häufig schlafend oder in sexualisierter Form abgebildet würden. Die Frauen, auffallend häufig (40 Prozent) zwischen 20 und 40 Jahren, sind schlank, attraktiv und modisch und befinden sich in stereotyp weiblich kodierten Situationen, also etwa bei der Hausarbeit oder in der Freizeit, nie aber bei der Berufsarbeit (Mastroianni et al. 2008). Eindringlich warnen Mastroianni et al. (2008) davor, dass diese Tendenz, Frauen überrepräsentiert und in stereotyper Form darzustellen, einen Prototyp der Depression (und der Angststörungen) produziert, der dazu führe, dass KlinikerInnen in Gefahr geraten, weibliche Patientinnen vorschnell zu pathologisieren (Mastroianni et al. 2008). In ähnlicher Weise würden männliche Patienten unterdiagnostiziert und blieben daher öfter unbehandelt. Durch diese Form der Ste-

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reotypisierung würde – über die realen Häufigkeitsunterschiede hinaus – das Vorurteil gestärkt, dass depressive Störungen vor allem eine Frauenkrankheit darstellen. Weiter suggerieren die Anzeigen, dass Probleme und Schwierigkeiten von Frauen mit der Erfüllung traditionell weiblicher Rolllenanforderungen mit Antidepressiva erfolgreich behandelt werden können bzw. sogar müssen. Quantitativ orientierte Bild- und Inhaltsanalysen, wie sie in diesen Studien unternommen werden, weisen auf eine stereotyp geschlechtlich kodierte Wissensproduktion im medizinisch-psychiatrischen Diskurs hin, durch die Depression und Weiblichkeit miteinander in Verbindung gebracht und mit expressiv-weiblichen Rollennormen verknüpft werden. So finden Annahmen über Generativität, Expressivität, Weiblichkeit und Mütterlichkeit auch Eingang in einen modernen psychiatrischen Diskurs. Der Psychiater und Kulturwissenschaftler Jonathan Metzl (2003) kommt in seinem Buch »Prozac on the Couch« in einer Diskursanalyse der historischen Abbildungspraxis der Psychopharmakawerbung seit den 1950er Jahren zu vergleichbaren Ergebnissen wie die empirisch orientierten Studien (Munce et al. 2004, Mastroianni et al. 2008). Seine Interpretation der Werbunganzeigen spannt jedoch einen weitaus breiteren Deutungsrahmen auf. Metzl untersucht die Darstellung von Frauen, insbesondere die Bedeutung der Figur der Mutter, in der Psychopharmakawerbung. Dabei vertritt er die These, dass die Annahme, wonach sich die Psychiatrie von einem »blaming the mother« zu einem »blaming the brain« (Vallenstein 1998) weiterentwickelt habe, irreführend sei. Er hinterfragt den »biological turn« in der Psychiatriegeschichte der letzten 50 Jahre. Die biologisch orientierte Psychologie gehe von der falschen Prämisse aus, dass Veränderungen der Persönlichkeit eine rein neurochemische Basis hätten und dass nur eine psychoaktive Medikation das neurochemische Ungleichgewicht wiederherzustellen in der Lage sei. Mit der Vorstellung einer Korrektur psychischer Störungen allein auf neurochemischer Ebene grenze sich eine an objektiv erfassbaren, körperlichen Daten orientierte biologische Psychiatrie in ihrer Ursachenbestimmung entschieden von psychodynamischen Erklärungsmodellen ab und damit, so Metzl weiter, allem Anschein nach auch von einem der Psychoanalyse vorgeworfenem »mother blaming«. Metzl geht hingegen davon aus, dass sich hinter dem Selbstverständnis dieser wissenschaftlichen Ausrichtung eine unbewusste und von der Psychiatrie unreflektierte Wissensproduktion identifizieren läßt, die durchsetzt sei

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von geschlechtlichen Kodierungen und kulturellen Annahmen über die symbolische Ordnung der Geschlechter. Die Bedeutung der Mutter ist Metzl zufolge in der modernen Psychiatrie unübersehbar, wenn sie auch innerhalb eines psychiatrischen Diskurses, der vordergründig »objektiv« und durchgehend biologistisch Psychopharmaka verhandelt. weitgehend latent gehalten ist. Metzl argumentiert, dass die sogenannten »Wonder Drugs« unentwegt auf Geschlechterstereotype rekurrierten und dabei diskursiv ein motherblaming vollziehen, wie es umgekehrt der Psychoanalyse seit jeher von Seiten der neurowissenschaftlich orientierten Psychiatrie vorgeworfen werde. Während die Psychoanalyse aber auf dem Analysieren der Übertragungen von Seiten der Patienten und der Therapeuten beruhe und somit soziale und Umwelteinflüsse zu einem Teil der psychoanalytischen Wissensproduktion mache, und dadurch auch in der Lage ist, die impliziten unbewussten Annahmen zu reflektieren, leugne die moderne Psychiatrie jeglichen subjektiven Einfluss. Die moderne Psychiatrie begreife diese Faktoren als Störungen, die es zu vermeiden gelte und somit sei sie besonders blind für deren Wirksamkeit. Die Psychiatrie verleugnet die wichtige psychoanalytische Erkenntnis, dass die soziale Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn eine Behandlung entscheidend beeinflusst (Metzl 2003). Das Unbewusste als soziale »Störvariable«, welche die Psychoanalytiker durch die Übertragungsanalyse ins Zentrum ihrer Praxis gestellt hätten, begleitet auch Psychiatrie-PatientInnen in den Untersuchungsraum: »There is the clear possibility that the patient and I may not be talking about medications at all, at least not about those medications prescribed, bought sold or ingested. These interactions suggest that psychotropic medication are imbued with expectation, desire, gender, race, sexuality, power, […] and a host of important factors […].« (Metzl 2003:5)

Psychopharmaka können demzufolge symbolisch als eine diskursive und intersektionale Verschränkung der Kategorien Geschlecht, Race, Sexualität und Macht gelesen werden. Metzl fordert, dass die »biologische Revolution« in der Psychiatrie sozialkritisch, historisch und psychoanalytisch untersucht werden muss, um ein Narrativ der Psychiatrie analysierbar zu machen. Die moderne Psychiatrie betone zwar vordergründig einen objektiven modernen und daher weniger diskriminierenden Umgang mit Geschlecht, führe aber durch die Hintertür Hierar-

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chien wieder ein, die sie nicht reflektiere. So sind die »Wunderdrogen« auch stets Träger multipler Bedeutungen, denen immer auch kulturelle Annahmen über Geschlecht eingeschrieben sind. Die moderne Psychiatrie, so wäre also zu schlussfolgern, trägt maßgeblich zum Gender Gap der Depression bei und verleiht der Geschlechtermatrix der Depression noch zusätzlich Stabilität durch die Verleugnung und Nicht-Anerkennung sozialer und diskursiver Prozesse. Metzls Kritik geht soweit, diesem Wissenstypus der modernen Psychiatrie jede Reflexivität über das eigene »Geworden-sein« als Wissenschaft abzusprechen, was sich formelhaft in der Behauptung zusammenfassen lässt, dass eine Wissenschaft umso stärker von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst ist, je vehementer sie den Anspruch auf Objektivität der eigenen wissenschaftlichen Rede erhebt. Da Stereotype, soziale Normen und Vorurteile das Bild der Depression nachhaltig prägen, ist es für Metzl eine zentrale Frage, wer nach den kulturellen Kodierungen depressiv werden dürfe und was es für PatientInnen bedeute, depressiv zu sein. Eben aus diesem Grund analysiert er historische Darstellungen der Psychopharmakawerbung. Er identifiziert dabei ein Muster geschlechtlicher Zuschreibungen und stereotyper Darstellung von Weiblichkeit, das er zwar auf den modernen psychiatrischen Diskurs zurückführt, jedoch zugleich auch kritisch mit dem (unbewussten und abgewehrten) gesellschaftlichen Einfluss der Psychoanalyse auf Mutter- und Frauenbilder in der Psychiatriegeschichte in Verbindung bringt. Auch die von Metzl analysierte Werbung ist durchsetzt mit Symbolen weiblicher Generativität und Fruchtbarkeit. Bei der Betrachtung dieser Bilder amerikanischer Psychopharmakawerbung seit den 50er Jahren entsteht der Eindruck, dass von der depressiven Patientin eine »antinormative« Gefahr ausgeht, die schließlich mit Prozac und Co »geheilt« werden muss (Metzl 2003). Die Werbung, die besonders sensibel dafür ist, Stimmungen der Populärkultur ihrer Zeit aufzugreifen, zeichnet in PsychopharmakaAnzeigen der 1950er Jahre das Bild einer zu mächtig gewordenen Mutter, die sowohl den Haushalt als auch den Mann dominiert oder die, weil frigide geworden, das Leiden ihres Mannes verursacht. Die Mutter wird dargestellt als dominant, spielt sich als Chef auf, kastriert ihren Mann. Die vorgezeichnete Behandlung ist für alle gleich: der Mann wird geheilt, indem die Frau die empfohlenen Tabletten einnimmt. Diese Werbung zeigt Frauen mit Ehering, die Darstellung lässt nach Metzl aber offen, ob es die Ehe ist, die durch die Depression in

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Gefahr gerät oder ob die Frau durch die Ehe gefährdet ist, depressiv zu werden. Immer, so Metzl, ist es die Frau, die behandelt werden soll. Sie unterzieht sich z.B. einer Behandlung mit Miltown, einer psychoaktiven Substanz, die sie, wie es die Werbung ihr verheißt, zur besseren Ehefrau und Mutter macht und ihren »Momism« behandeln und eindämmen soll. Möglicherweise auch als Reaktion auf den Feminismus verändert sich in den 70er Jahren schließlich die Dominanz der Darstellung der verheirateten Frau. In den Fokus der Werbung rückt die »Single«-Frau. Nicht die Ehefrau braucht psychiatrische Hilfe, sondern es ist nunmehr die alleinstehende Frau, die keinen Mann für sich gewinnen kann und folglich nicht mit einem Ehering glänzen kann oder schlimmer noch: die vielleicht gar keinen will. In den 1970er Jahren adressiert die Werbung verstärkt Frauen, die aufgrund ihres Singlelebens außerhalb der heteronormativen Norm stehen. Hier würden »gefährliche feministische Monster« konstruiert, die durch Antidepressiva in dem Maße zu angepassten (Haus-)Frauen gemacht werden sollen, wie einsame Singlefrauen durch Pharmaka zu aktiven, attraktiven und heterosexuellen Geschlechtspartnerinnen werden. In den 1990er Jahren wird von der Werbung vor allem die Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Kind gezielt thematisiert. Prozac hilft den Abbildungen nach gleichermaßen gegen Probleme am Arbeitsplatz und am Herd. Angesprochen wird nun die Businessfrau, die im Anzug nach Hause zu den Kindern eilt und lächelnd bekennt: »I got my playfulness back.« (siehe Abbildung). Mit zufriedenem Lächeln und glücklichen Kindern überzeugt die »Prozac Mum« die Leserinnen der Frauenzeitschriften und der Fachliteratur, dass Antidepressiva die Beziehung zu den Kindern rettet und auch insgesamt hilft, die modernen Ansprüche von Familie und Beruf zu vereinbaren. Dank Prozac kehrt die Mutter von der Arbeit und der Depression zurück. Die Bilder der weiblichen Allmacht, die nach Ehrenberg (1998) in der Werbung der Antidepressivahersteller gezeigt werden, antworten auf kulturelle Normen, tragen aber nicht zuletzt auch dazu bei, diese Normen zu erzeugen. Die Werbung illustriert, so Metzl, was latent »mitgeschluckt« wird, wenn Prozac und Co. verhandelt werden und sie gibt vor, wer die »Prozac Nation« (Wurtzel 1994) ist, die da schlucken soll oder darf. Metzl fasst zusammen, dass die Pharmawerbung frigide, erschöpfte Hausfrauen, Singles und Lesben zu widerständigen »nonnormative subjects« macht, deren Symptome einer Prozac Kur

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unterzogen werden. Frauen, die von einem heteronormativen Weiblichkeitsideal abweichen, werden von der Werbung adressiert, ihre Widerspenstigkeit wird zum Symptom, für das die Pharmakawerbung Abhilfe verspreche. Dabei gehe es nicht darum, zu behaupten, dass Antidepressiva keine Berechtigung im Einsatz gegen Depressionen hätten oder dass sie nicht wirken. Vielmehr geht es darum die kulturellen Kodierungen zu identifizieren, mit denen Antidepressiva unbewusst aufgeladen werden. Gleichzeitig entwirft auch Metzl ein kulturwissenschaftliches, feministisches Bild von der Depression als Abweichung oder Widerspenstigkeit. Die Bedrohung, die von der depressiven Frau ausgeht, liegt in einer Verweigerung. Die Depressive kann die Ansprüche einer Gesellschaft, die Generativität zur Hauptaufgabe von Frauen macht, nicht erfüllen. Die Depressive ist nicht einsetzbar für den »Dienst am Anderen«, für ein expressives Sorge-Tragen für den Anderen. Unabhängig davon, ob ein einseitig weibliches »Sorgen« durch gesellschaftliche Arbeitsteilung, durch familiäre Sozialisation oder durch die binäre Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit notwendig hergestellt wird, zeigt die Analyse der Antidepressivawerbung, wie Generativitätsaufgaben einseitig auf Seite der Frauen positioniert und im Fall von Abweichung oder Unerfüllbarkeit der weiblichen Emotionsnormen, dort »behandelt« und »bekämpft« werden. Weiblichkeit erscheint als Produkt einer Normierung, die stetig hergestellt und verhandelt werden muss und die in extremen Ausprägungen auch sanktioniert wird. Eine ähnliche Diskussion – aber unter umgekehrten Vorzeichen – findet sich überraschenderweise auch bei Francis Fukuyama, den man bislang eher aus einem politikwissenschaftlichen Kontext kannte (Fukuyama 2002). Fukuyama, bis 2005 Berater des US-amerikanischen Presidents’ Council of Bioethics, erklärt Psychopharmaka in »Das Ende des Menschen« sogar für gefährlich, weil diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern nivellierten und so die »natürliche Ordnung« störten. Nach Fukuyama wandeln sich die Geschlechter aufgrund des Einsatzes von Psychopharmaka nach und nach in Richtung einer androgynen, mittleren Persönlichkeit, die »selbstzufrieden und sozial angepasst ist«. Prozac lasse sich als ein Werkzeug verstehen, sich »männlich« zu äußern und die eigene soziale Kompetenz zu erhöhen. Frauen, so die These von Fukuyama, nutzten Antidepressiva, um sich »männlich« aufzubessern, ihr Selbstwertgefühl zu steigern und durchsetzungsfähiger zu werden. Diese Eigenschaften gelten für Fukuyama

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innerhalb einer »natürlichen« Ordnung der Geschlechter unhinterfragt als männliche Eigenschaften, die sich Frauen unter dem Einfluss von Antidepressiva gewissermaßen unrechtmäßig aneignen. Durch eine solche Androgynisierung der Frau gerate nunmehr die gesamte Geschlechterordnung durcheinander. Wie kommt aber Fukuyama zu der Einschätzung, Psychopharmaka ein derart weitreichendes Potential zuzuschreiben, das sogar bis zu der Auflösung der bestehenden Geschlechterordnung reicht? Zunächst kritisiert Fukuyama einen störenden Einfluss der Psychopharmakabehandlungen auf die Geschlechterordnung. Er sieht es als erwiesen an, dass Frauen eher unter depressiven Symptomen leiden als Männer und dass Prozac hierfür effiziente Abhilfe verspricht. Prozac sei aufgrund der Tatsache, dass mehr Frauen als Männer unter »Niedergeschlagenheit und geringer Selbstachtung leiden«, gleichsam ein Symbol des Feminismus geworden (Fukuyama 2002:69). Beispielhaft schildert er die Geschichte von einer Frau namens Tess in Peter Kramers Bestseller »Listening to Prozac«. »Kramer erzählt von Tess, einer seiner Patientinnen: Sie war chronisch depressiv, ging immer wieder selbstzerstörerische Beziehungen zu verheirateten Männern ein und steckte an ihrem Arbeitsplatz in einer auswegslosen Situation. Nachdem sie einige Wochen lang Prozac genommen hatte, änderte sich ihre Persönlichkeit umfassend. Sie gab die masochistische Beziehung auf, ging nun Verabredungen mit anderen Männern ein, wechselte ihren Freundeskreis vollständig, zeigte am Arbeitsplatz mehr Selbstvertrauen und weniger Nachgiebigkeit. [...] Tess’ Erfolg beim Ausbruch aus einer erniedrigenden Beziehung hat sich offenbar bei Frauen wiederholt, denen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) verschrieben worden sind.« (Kramer 1993, zitiert nach Fukuyama 2002: 68f)

Während Prozac Frauen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfe, werde das ADHS Medikament Ritalin wiederum eingesetzt um Jungen und Männer mit einem Überschuss an »Männlichkeit« zu behandeln. So Fukuyama weiter: »Es zeigt sich eine bestürzende Symmetrie zwischen Prozac und Ritalin. Das erste wird vorwiegend Frauen verschrieben, die unter Depressionen leiden und denen es an Selbstwertgefühl mangelt, es verschafft ihnen mehr von den ›männlichen Überlegenheitsgefühlen‹, die mit hohen Serotoninwerten zusam-

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menhängen. Ritalin wird auf der anderen Seite vor allem an Jungen verschrieben, die in der Klasse nicht stillsitzen wollen, weil die Natur sie nicht dafür geschaffen hat, sich so zu verhalten. Alles in allem wandeln sich die beiden Geschlechter so nach und nach in Richtung auf eine androgyne, mittlere Persönlichkeit hin, die selbstzufrieden und sozial angepasst ist, und genau das ist in Amerika das ›politisch korrekte‹ Ergebnis.« (Fukuyama 2002:81).

Dass eine mittlere durch Psychopharmaka angepasste Persönlichkeit nicht im Sinne Fukuyamas ist, beschreibt er ausführlich im Kapitel »Warum wir uns Sorgen machen sollten«. Fukuyama sieht einen Zeitgeist am Werk, der Kinder zu geschlechtlichen Zwitterwesen erziehe und so die »natürliche Geschlechterordnung« beeinträchtige: »Wie in Kapitel drei festgestellt, benutzen wir bereits Psychopharmaka, um unsere Kinder zu geschlechtlichen Zwitterwesen zu machen, wir geben Prozac an verzagte Mädchen und Ritalin an überaktive Burschen. Die nächste Generation wird möglicherweise lieber supermännliche Söhne und extrem feminine Töchter haben wollen.« (Fukuyama 2002:137)

In einem Interview mit dem Wochenmagazin »Der Spiegel« präzisiert Fukuyama seine Behauptung einmal mehr, dass Zwitterwesen die »natürliche Ordnung« stören. Die Gefahr einer Androgynisierung des Menschen erscheint dabei in erster Linie als ein Verlust männlicher Größe: »Man könnte das die tragische Situation des Menschen nennen: Wie ich eingangs schon sagte, alle guten Dinge sind mit den schlechten Dingen verbunden. Es ist möglich, dass Napoleon oder Cäsar von ähnlichen Kräften angetrieben wurden wie Beethoven oder van Gogh. All diese Leute hatten außergewöhnliche Ambitionen, es waren keine normalen, gut ausbalancierten Leute. Ich glaube, dass alles, was außergewöhnlich ist im menschlichen Charakter, alles was außergewöhnlich ist in der menschlichen Geschichte, ein Ergebnis ist von Ehrgeiz, Aggression, Gefühlen, großen Sehnsüchten, dem Wunsch, etwas zu erreichen, was man noch nicht hat. Die Tabletten, über die ich gesprochen habe, würden das alles auslöschen.« (Fukuyama 2002a:122).

Fukuyamas Psychopharmakakritik basiert auf einem darwinistischen Modell, das sich konzeptionell zu Extremzuständen in der Evolution bekennt. Depressionen und Momente menschlicher Außerordentlich-

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keit, die Fukuyama unzweideutig im Zuge eines männlich kodierten Geniediskurses formuliert, stellen dabei nur die zwei Seiten derselben Medaille dar. Es sind vor allem zwei Thesen, die im Folgenden aufgegriffen und widerlegt werden sollen: Während zum einen seine Behauptung zur Disposition steht, dass Prozac Frauen »maskulinisiere«, geht es zum anderen um die Annahme, dass psychische Störungen wie Depression oder ADHS gewissermaßen unvermeidbare »Kolleteralschäden« menschlicher (männlicher) Größe darstellen. Mit der ersten These unterwirft Fukuyama Weiblichkeit einem starren Konzept expressiver Geschlechternormen. Während die latente Botschaft der Psychopharmakawerbung darauf ausgerichtet ist, ein moderates, sozial akzeptables Maß an Weiblichkeit (wieder)-herzustellen, argumentiert er, dass eine verbreitete Einnahme von Antidepressiva eine kollektive Bewegung depressiver Frauen in Richtung Männlichkeit auslöse und diese »Vermännlichung« eine neue Form der Bedrohung darstelle. Aber sind Prozac und Co. wirklich im Begriff die Geschlechterordnung aufzulösen? Die Thesen von Metzl (2003) und die empirischen Ergebnisse der Studien, die zu Anfang dieses Kapitels dargestellt wurden, widersprechen dieser Vorstellung entschieden. Der Antidepressivadiskurs, so lautete weiter oben das Fazit, basiert nicht nur auf traditionellen Geschlechtsstereotypen, sondern trägt auch dazu bei, diese fortwährend zu bestätigen. Auch Petra Scharper-Winkel (2007) gibt zu bedenken, dass sich die von Fukuyama beschriebene erweiterte Handlungsfähigkeit von Frauen, die Antidepressiva einnehmen, nicht außerhalb, sondern innerhalb des jeweiligen Geschlechterarrangements verbessere, sich also in Richtung »einer höheren Passung in hierarchischen Verhältnissen bewegt«: »So hat Fukuyama nur zur Hälfte Recht: Beide Geschlechter wandeln sich in durchschnittliche Frauen und Männer, die einem imaginären Mittel der jeweils unterschiedlichen und wandelbaren Geschlechteranforderungen entsprechen. Über die zunehmende neuropharmakologisch erreichte soziale Anpassung sinkt die Toleranz gegenüber Abweichung. Mit der umfassenden Nutzung von Antidepressiva verschiebt sich die Grenze dessen, was als akzeptables NichtGlücklich-Sein gilt, wie auch mit der zunehmenden Diagnose von Aufmerksamkeits-hyperaktivitäts-störungen (ADHS) die Schwelle niedriger wird, was bei Jungen als abweichendes Verhalten toleriert wird. Somit tragen die neuen

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Neuro-interventionsmöglichkeiten zur Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bei.« (Scharper-Winkel 2007:103)

Diese Einschätzung stimmt mit den Befunden über den normierenden Effekt des Antidepressivawerbungsdiskurs überein (Metzl 2003, Munce et al. 2004). Ganz im Gegensatz zu Fukuyama kann der psychiatrische Diskurs über Depression und ADHS sogar dazu beitragen, das Geschlechterverhältnis zu stabilisieren und engere Toleranzgrenzen durchzusetzen. Psychopharmaka transzendieren die Geschlechterordnung eben nicht, sondern normieren vielmehr das Funktionieren der Geschlechter innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung. Dabei wird erneut deutlich, dass Depressionen in milder Form mit Weiblichkeit in Einklang stehen können, während sie in einem ausgeprägt klinischem Ausmaß als Abweichung von Weiblichkeitsnormen wirken, die behandelt werden müssen. In letzerem Sinne argumentiert auch Scharper-Winkel: »Die neoliberale Wettkampflogik mit ihrem Zwang zur Selbstoptimierung schafft entsprechend der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den gesellschaftlichen Anforderungen an ›Frauen‹ und ›Männer‹ spezifischen Optimierungsdruck, so dass sich jede und jeder als optimierungs- und damit behandlungsbedürftig erweist.« (Scharper-Winkel 2007:106)

Auch Ehrenberg (1998) geht davon aus, dass der ständige Selbstoptimierungsdruck gesellschaftlich eine neue Empfänglichkeit für Depressionen produziert. Anhand der Ergebnisse der vorangegangen Kapitel und einer Analyse der latenten Botschaften der Antidepressivawerbung ist anzunehmen, dass dieser Optimierungsdruck besonders für Frauen das Risiko von Depressionen erhöht, und dass dieser Druck, basierend auf der heterosexuellen Matrix, entlang der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der stereotypen Geschlechternormen verläuft. Die zweite These Fukuyamas, wonach es Extremzustände im Menschen sind, die nicht nur menschliche Schwächen, sondern auch eine besondere Größe ausmachen, ist keine neue Idee. Bereits seit der Antike wird dieser Zusammenhang im Rahmen eines zumeist einseitig männlich kodierten Geniediskurses in der Geschichte der Melancholie verhandelt. Die Außerordentlichkeit und Noblierung eines Napoleon, Cäsar, Beethoven oder van Gogh geht nach Fukuyama (2002) auf extreme »Kräfte« zurück – Kräfte wie sie z.B. durch ein melancholisches

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Ungleichgewicht hervorgerufen werden können. Er warnt deshalb davor, der (männlich-)menschlichen Evolution durch psychiatrische Regulierung diese »Spitzen« zu nehmen. Was an seiner Aufzählung besonders auffällt, ist, dass die extremen Kräfte vor allem männliche Kräfte sind, die nicht nur eine Pathologie, sondern auch eine Ermächtigung und Selbstüberschreitung darzustellen scheinen. Anders als die depressiven Frauen in Fukuyamas Ende des Menschen, denen es an Selbstwert und sozialer (Durchsetzungs-)Kompetenz mangelt, zeigen die männlichen Beispiele die besondere Größe des (natürlichen) männlichen Genies ab. Abgesehen von der unreflektierten hierarchischen Normierung, dass Durchsetzungsfähigkeit und Autonomie auch hier als erstrebenswerte »männliche« Entwicklungsziele gesetzt werden, fällt auf, dass es hier allein die Männer sind, die eine solche kulturelle »Spitze« verkörpern. Im folgenden Kapitel wird eine spezifische melancholische Ermächtigungsstrategie für depressive Männlichkeit diskutiert. In sowohl Verbindung als auch Abgrenzung zu Überlegungen, wonach depressive Weiblichkeit sich im Verhältnis zu einer expressiven Beziehungsnorm und zu interpersonalen Verlusten von Frauen bewegt, wird nun diskutiert, ob und wie sich männliche Melancholiker durch Depressivität und Verlust ermächtigen.

3. D EPRESSION ALS » MÄNNLICHE « E RMÄCHTIGUNGSSTRATEGIE Im vorangegangen Kapitel wurde diskutiert, inwiefern gesellschaftliche Vorstellungen und Zuständigkeiten von Generativität vor allem als Aufgabe von Frauen verhandelt werden und zu einem erhöhten Depressionsrisiko von Frauen beitragen können. In diesem Sinne erscheint Depression als eine Verweigerung von Generativität oder als Scheitern an (überhöhten oder einseitig formulierten) generativen Ansprüchen. Im Anschluss an das Kapitel B wurde auch gefragt, welche Verluste Generativität für Frauen mit sich bringt und unter welchen Bedingungen diese gesellschaftlich betrauert werden können. Dem Anschein nach erleben Mädchen und Frauen in einem höheren Maße frühe Verluste, während ihnen zugleich weniger gesellschaftliche Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen als Jungen und Männern. Frauen stehen auf der Verliererseite der symbolischen Ge-

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schlechterordnung. Andererseits liegen für Frauen depressive Störungen auch deswegen näher, weil es für sie gesellschaftlich anerkannter ist, den »Schutzraum« Krankheit aufzusuchen. Weiblichkeit kann anders als Männlichkeit als Erklärungsrahmen für Depression herangezogen werden. Depressivität steht als weiblich kodierte Störung näher an symbolischer Weiblichkeit als an symbolischer Männlichkeit und erscheint für Frauen womöglich auch deshalb zunächst naheliegender als für Männer. Psychische Krankheiten werden seit dem 19. Jahrhundert eng mit symbolischer Weiblichkeit verflochten (Honegger 1991, Radden 2000). Das Männlichkeits-Ideal eines gesunden, starken, autonomen, ungebrochenen Mannes verträgt sich hingegen kaum mit der depressiven Krankheit. Im folgenden Kapitel über »Unmännliche Männlichkeit« ist jedoch von melancholischen Männern die Rede und von der Frage, in welchem Verhältnis eine bestimmte Form von depressiver Männlichkeit zu Verlust und Generativität steht. Das Verhältnis der Depressiven zum Verlust enthält einen geschlechtlichten Subtext, der im Folgenden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Dabei wird aufgezeigt, dass Diskurse um Depression und Weiblichkeit nicht immer so eng verflochten waren, und dass es in der Geschichte der Melancholie auch eine männliche Dominanz gibt, deren Verhältnis zum melancholischen Verlust ein gänzlich anderes ist als das der weiblichen Depressiven. Für Frauen stellt Depressivität im Extremfall ein Scheitern an Generativitätsansprüchen dar. Sie ist eine Verweigerung gewissermaßen durch die Überzeichnung weiblicher Geschlechternormen. Die depressive Frau verbleibt in weiblich kodierten Zuschreibungs- oder Zumutungsräumen von Abhängigkeit, Passivität und Ohnmacht. Depressive Männlichkeit kann im Gegensatz dazu jedoch auch eine andere Bedeutung haben. Freud (1917) verweist in Trauer und Melancholie auf ein »Mehr« der Melancholie, indem er davon spricht, dass die Melancholie »etwas mehr zum Inhalt hat als die normale Trauer« (Freud 1917 GW X:444, vgl. Schiesari 1992). Dieses »Mehr« bezieht sich auf den Ambivalenzkonflikt in der Melancholie, »die in ihren Veranlassungen weit über die Trauer hinausgehen, welche in der Regel nur durch den Realverlust, den Tod des Objekts, ausgelöst wird« (Freud 1917 GW X:444). Während also die Melancholie etwas Mehr zum Inhalt hat, enthält die Trauer in ihrer Beziehung zur realen Beziehung bzw. zum realen Verlust ein Weniger. Mit Forster (1998) und Schiesari (1992)

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soll dabei nunmehr argumentiert werden, dass ein symbolisches Mehr vor allem männliche Depression und männliche Melancholie begleitet, während die weibliche Depression und Trauer ein Weniger, also Verlust und Verwundbarkeit markiert. 3.1 »Unmännliche Männlichkeit« In seinem Buch »Unmännliche Männlichkeit. Melancholie, Geschlecht, Verausgabung« beschreibt Edgar Forster (1998) komplementär zum weiblichen Problem der expressiven Geschlechternorm ein spezifisch männliches Pendant. In seiner kulturwissenschaftlichen Untersuchung diskutiert er einen männlichen Umgang mit der hegemonialen Männlichkeits-Norm, die es dem »starken« Geschlecht verbiete, »schwach« zu sein. Dabei analysiert er die Depression nicht vornehmlich als klinische Kategorie, vielmehr dient ihm der gesellschaftliche Melancholiediskurs als analytischer Ausgangspunkt von kulturellen Identitätskonstruktionen, die sowohl unmännlich als auch männlich ausfallen können. Auch wenn ein direkter Vergleich zwischen Forsters gesellschaftlichem Melancholiediskurs und den Beschreibungen der männlichen oder weiblichen Depression vor transdisziplinären Schwierigkeiten der Begriffsübersetzung steht, so formuliert seine Analyse dennoch einen männlichen Entwurf der Depression, der einen Gegenentwurf zur psychiatrischen Kategorie der abgewehrten männlichen Depression darstellt. Die unmännliche Melancholie Forsters ist keine abgewehrte und verborgene Depression, sondern eine offen zur Schau getragene Form von depressiver Männlichkeit. Diese unmännliche Melancholie ist eben nicht gleichzusetzen mit einer weiblichen Depression oder weiblich konnotierter Trauer, vielmehr scheint sie einen besonderen Teil der Erfahrung zu beschreiben, die manche Männer machen, die unter einer klinischen Depressionen leiden. Melanchlische Männlichkeit überschreitet die Grenzen symbolischer Weiblichkeit, in dem sie sich weibliche Eigenschaften melancholisch aneignet, dabei verliert sie ihre priviligierte männliche Position jedoch nicht. In seiner Analyse der diskursiven Verschränkungen zwischen Melancholie, Männlichkeit und Geschlecht beschreibt Forster den spezifischen Ausdruck eines männlichen Identitätsentwurfs, bei dem sich Melancholiker nicht zu ihrer Männlichkeit bekennen müssen und sich daher auch symbolisch weibliche Eigenschaften aneignen können.

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Gleichzeitig verlieren diese un/männlichen Melancholiker ihre Männlichkeit jedoch nicht. Vielmehr gelingt ihnen die Inszenierung einer zweifelnden, selbstkritischen Melancholie, die den Raum öffnet für eine andere Männlichkeit, zu der sie sich nicht offen bekennen müssen. Nach Forster setzen diese Männer auf Melancholie als »Kalkül im Geschlechterverhältnis«. Ohne ihre privilegierte Stellung im Geschlechterkampf aufzugeben, eignen sie sich Eigenschaften der symbolischen Weiblichkeit an. Die Melancholie stellt für die unmännlichen Männer kein Makel dar, sondern – ganz im Gegenteil – der melancholische Gestus verhilft ihnen über die Aneignung von Momenten symbolischer Weiblichkeit zu einer Aufwertung, zu einem Mehr. Christina von Braun (1985) zeigt in »Nicht-Ich« auf, dass die Hysterie auch als Verweigerungsstrategie von Frauen gegenüber patriarchalen, enteignenden Ansprüchen an ihr Ich gelesen werden kann. In einer ähnlichen strategischen Konstellation befinden sich nun Forster zufolge die depressiv anmutenden Männer, insofern sie sich durch die Melancholie symbolische Weiblichkeit aneignen. Forster weist hier dennoch auf einen wichtigen Gegensatz zur Hysterie hin: »Während die Hysterikerin Symptome hat, weiß der Melancholiker selbst nicht recht was ihm fehlt. [...] Es scheint ein typisches Merkmal der Melancholie zu sein, ihren eigenen Sinn zu vervielfältigen und ihn dabei zu subvertieren, indem sie Grenzen in Frage stellt und aufweicht: die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn, die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen dem Ich und dem anderen ... – zwischen den Geschlechtern.« (Forster 1998:42, Herv.i.O.)

So wie Fukuyama (2002) argumentiert, Antidepressiva würden Frauen männlicher machen, postuliert Forster, die Melancholie mache Männer weiblicher. Eindrücklich an diesen diskursiven Verflechtungen ist, dass die Depression so eindeutig als zur Frau gehörig akzeptiert wird und sowohl für Männer als auch für Frauen eine Bewegung in Richtung mehr Weiblichkeit darstellt. Für Frauen kann dieses Mehr den Beginn einer depressiven Krankheit darstellen, indem das, was als weibliche Toleranzgrenze gilt, überschritten wird. Männern kann diese Depression dagegen dazu dienen, eine überregulierte Männlichkeitsnorm in Richtung Weiblichkeit zu verändern, ohne das dabei eine depressive Störung im klinischen Sinne zutage treten muss.

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Forster beschreibt die männliche Melancholie als eine paradoxe Verlustgeschichte von Gewinnern. Während die Depression der Frau vor allem als interpersonaler Verlust verhandelt wird, hat der Melancholiker zwar auch verloren, dies macht ihn jedoch anders als die Frau nicht zum Verlierer in der Geschlechterordnung. Der Verlust, den der Melancholiker in das Zentrum stelle, sei einer, der mit Virtuosität und Erhabenheit erlitten werde und beschreibe eine Geschichte, aus der ein Verlierer als Gewinner hervorgehe (Forster 1998). Bei Forster wird durch die Melancholie ein »männlicher Verlierer« in die Geschichte eingeführt, der unmännlich ist, insofern er trauert, der aber nur scheinbar aus dem hegemonialen Schema patriarchaler Ordnung fällt. Verlustgeschichten, wie sie Männer (be)schreiben, sind auch deshalb die Geschichten der Gewinner, weil nur der einen Verlust beklagen kann, der vorher etwas besessen hat oder davon überzeugt ist, dass es ihm zusteht (Forster 1998). Frauengeschichten lassen sich auch daher nicht so leicht als Verlustgeschichten erzählen. Der männliche Verlierer hingegen stehe nur deshalb auf der Verliererseite, weil er am falschen Platz sei, aber die Inszenierung als Verlierer weise bereits auf seine Zugehörigkeit zum Patriarchat hin. Mit anderen Worten: Melancholie ist eine privilegierte Männlichkeit in der Krise. Nichtsdestotrotz ist diese krisenhafte Männlichkeit – zumindest in der Lesart Forsters – eine privilegierte Verlustgeschichte. Die Melancholie stellt demnach ein Modell dar, das es ermöglicht, einen extremen, ja einen Grenzfall von Männlichkeit zu konzeptualisieren. Paradox formuliert stürzt die Melancholie die Männlichkeit in eine Krise, lässt sie jedoch gleichzeitig in einer veränderten Artikulationsweise unvermindert wieder aufleben. Der melancholische Mann wird nicht weiblicher durch die melancholische Krise: »Brüchige Männlichkeit bleibt Männlichkeit« (Forster 1998:215). Die Identität bewegt sich dann also keineswegs zwischen zwei fixierten Polen: Der melancholische Mann bezieht vielmehr eine »unmögliche Geschlechtsposition« und verweist auf den männlichen Konflikt mit der hegemonialen Norm: Der Melancholiker ist weder Mann noch kann oder will er Frau sein. Nach Forster problematisiert die Melancholie des Mannes daher grundsätzlich den Geschlechterrahmen. Indem die Melancholie die Grenzen der Geschlechterkonstruktionen aufzeige, verweise sie stets auf das Unmögliche, welches den grundlegenden und unaufhebbaren Mangel bzw. Verlust beider Geschlechter bezeuge. Dieser Verlust ist in der vorliegenden Arbeit von zweierlei Art: Zum

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einen stellt er, bezogen auf die Theorie der Geschlechtsentwicklung, die Annerkennung der Grenzen und Beschränkungen dar, nur ein Geschlecht sein zu können und zum anderen verweist er auf den Verlust, der nach Freud in ideeller Form oder in Form eines realen Objektverlusts jeder Melancholie zugrunde liegt. Wie in Kapitel B dargestellt wurde, fallen diese Verlustformen im Zuge der Aneignung der Geschlechtsidentität besonders für das Mädchen in eins. Bei Forster entwickelt sich die Bedeutung des Verlustbegriffs zwischen Geschlechtlichkeit und Melancholie auch in Hinblick auf die männliche Identität: »Man könnte auch sagen, männlich-heterosexuelle Geschlechtsidentität ist nichts anderes als eine Verlustrethorik, die sich durch ein ambivalentes Verhältnis zum Gesetz auszeichnet und auf narzisstischer Grundlage beruht.« (Forster 1998:154). Er beschreibt melancholisches Leiden als eine männliche Unfähigkeit zu trauern und als die Unfähigkeit, Begrenzung anzuerkennen (vgl. von Braun 1985). Das männlich-heterosexuelle Ich umgeht in der Melancholie die bewusste Trauer um seine Begrenzungen und Verletzlichkeiten. Der männlichmelancholische Verlust ruft demnach keineswegs Trauer hervor, sondern verspricht möglicherweise sogar einen Lustgewinn. Ganz anders hingegen die Trauer der (weiblichen) Depressiven: Während die Melancholie aus den Registern der Medizin mehr und mehr verschwindet und mit ihr der Makel des Besonderen, welcher der melancholischen Krankheit anhaftet, taucht die Depression nun als bevorzugter »Ort des Weiblichen« (Forster 1998:65) auf. Wurde die Depression vielleicht sogar als Kategorie geschaffen, um Frauen von den »vergeistigten, übersensiblen« melancholischen Männern unterscheiden zu können? »Und liest sich aus diesem Grund das Krankheitsbild wie eine Männerphantasie über die – krankhafte – ›Natur des Weibes‹? Letzten Endes hat sich die – männliche – Melancholie, ›die wahnsinnige Vernunft des Unvernünftigen‹, weit von der – weiblichen – Depression abgesetzt.« (Forster 1998:65). Die psychiatrische Kategorie der Depression stellt einen Versuch dar, die Melancholie von ihren Ambivalenzen und Grenzüberschreitungen zu reinigen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Trennung der männlichen Melancholie von der weiblichen Depression in der Psychiatriegeschichte mit der Geschlechtertrennung im 19. Jahrhundert einhergeht, die überhaupt erst die Produktion der Natur der Geschlechter geschaffen habe. In der Folge dieser geschlechtlichen Naturproduktion entstehen unterschiedliche Wahrnehmungen über Wesenszüge und

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Krankheiten, die Anfälligkeiten für bestimmte Krankheiten für das eine oder andere Geschlecht wahrscheinlicher machen. Forster fragt daher völlig zu Recht, ob so unterschiedliche Erfahrungen von Niedergeschlagenheit, Trauer und Verzweiflung bei den Geschlechtern durch Machtträume produziert würden, die wesentlich über Geschlechtercodes definiert sind. Depression würde als ein Krankheitsbild dann Hand in Hand gehen mit einer Kategorisierung von Geschlecht, die eine Pathologisierung des Weiblichen vorantreibt (Forster 1998). Für Männer eröffnet sich mit denselben Symptomen hingegen ein anderer Erfahrungsraum, den Forster das Feld des Melancholischen nennt, »und auf dem die Männer ihr Leiden umfunktionieren, während Frauen dieser Weg meist versperrt bleibt.« (Forster 1998:221f): »Ausgehend vom Feld des Melancholischen läßt sich die Frage gelassener und erfolgsversprechender artikulieren, warum bei Frauen wesentlich häufiger Depressionen diagnostiziert werden als bei Männern. Die Depression scheint als Krankheit die von Männern proklamierte ›Natur der Frau‹ zu bestätigen, während Melancholie die ›geistige Größe des Männlichen‹, die immer den Zug des Tragischen an sich hat, auszudrücken scheint. Ist damit die Normalität des Männlichen gerettet, die durch Erfahrung schon längst nicht mehr zu belegen ist? Es ist dann die Frage zu stellen, ob sich unsere Zivilisation als vorläufigen Endpunkt eines Abstraktionsprozesses zeigt, der die Depression zur ständigen Begleiterscheinung macht und die Melancholie als ›subversives‹ Unterfangen erscheinen lässt.« (Forster 1998:218)

Mit Honegger (1991), die weibliche Depressionen als Ergebnis einer 200-jährigen »Sonderanthropologie« betrachtet, in der die Frau als »Fremde« und »Andere« in das Feld humanwissenschaftlicher Forschung gerückt sei, geht Forster also davon aus, dass der Gender Gap der Depression letztlich gesellschaftliche Ursachen hat. Im folgenden Exkurs wird der historische Melancholiediskurs auf diese geschlechtlichen Einschreibungen in Richtung weiblicher Depressivität und männlicher Melancholie hin untersucht. Dabei wird zunächst eine Verbindung zwischen Melancholie, männlichem Genie und Wahnsinn expliziert, bevor die Herstellung der Geschlechterordnung im 19. Jahrhundert in Hinblick auf die erstmals aufretende besondere Verflechtung von Weiblichkeit und Depression in den Blick genommen wird. Während in Kapitel B nach unterschiedlichen Verlustserfahrungen von Männern und Frauen gefragt wurde, ist für dieses

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Kapitel nunmehr die Frage nach einem geschlechtsspezifischen Umgang mit Verlusten zentral. 3.2 Exkurs in die Melancholiegeschichte The Tower of Babylon never yielded such confusion of tongues as this chaos of melancholy doth variety of symptoms. Robert Burton (1621)

Ausgehend von der Überlegung, dass es eine Tradition männlicher Melancholie gibt, die anders als eine weiblich kodierte Depression mit einer Form der Ermächtigung einhergeht, soll im Folgenden signifikanten Verbindungslinien zwischen Männlichkeit, Weiblichkeit und Depression in der Geschichte der Melancholie nachgegangen werden. Anliegen dieses Exkurses ist es, einen vorläufigen Eindruck der Historizität und der gesellschaftlichen Relativität der Konstrukte Depression und Geschlecht zu vermitteln und ferner, diese Darstellung mit den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit in Beziehung zu setzen. Dabei fällt dieser Exkurs in die Melancholiegeschichte in zweierlei Weise aus der bisherigen Darstellungsstruktur: Zum einen bewegen sich die Quellen, die hier verhandelt werden, in der Geschichte des Melancholiediskurses und nicht in zeitgenössischen Diskursen über Depression, weshalb zunächst eine Begriffsbestimmung von historischer Melancholie im Verhältnis zu heutiger Depression erfolgt. Zum anderen wird in den folgenden Kapitelabschnitten eine enge Verbindung zwischen Männlichkeit, Kreativität und Melancholie verhandelt, die im aktuellen hegemonialen Depressionsdiskurs kaum noch so auffindbar ist. Anhand des kulturhistorischen Exkurses in die Melancholiegeschichte wird aber aufgezeigt, dass der Depression nicht schon immer das Stigma von Krankheit, Verlust, Stagnation, Leere, Trauer und Weiblichkeit anhaftet, sondern dass sie seit den antiken Anfängen des Melancholiediskurses stets auch mit besonderer Größe, Gabe, Genie und Männlichkeit assoziiert war. Der Melancholieforscher Robert Burton (1577–1640), der mit seinem Lebenswerk »Anatomie der Melancholie« ein Standardwerk der Melancholieforschung präsentiert, beschreibt »die Bestie Melancholie« als ein unbezähmbares, vielköpfiges Biest, das mit seiner Vielheit an

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Symptomen der Sprachverwirrung dem Turmbau zu Babel gleichkomme. Eine historisch-lineare Verbindung zwischen dem aktuellen Depressionsbegriff und dem historischen Melancholiebegriff wird in der psychiatriehistorischen Literatur kontrovers diskutiert. Dieses besondere Merkmal der Depression hat sich seit Burtons Beschreibung der Melancholie bis zur Klassifikation der Depressiven Störung nach DSM-IV jedoch erhalten, nämlich als die Auffassung, dass die Melancholie und die Depression durch eine verwirrende Vielzahl von Symptomen und individuellem Ausdruck gekennzeichnet sind. Die Vieldeutigkeit von Depression und Melancholie spiegelt sich auch im interdisziplinären Interesse, das sie stimulieren: »Das Interesse an der Melancholie ist heute lebhafter denn je«, schreibt Raymond Klibansky im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Chef d’dœvre der modernen Melancholieforschung »Saturn und Melancholie« (Klibansky, Panowsky & Saxl 1990). Auch in der zeitgenössischen Kulturszene entsteht zurzeit eine Renaissance des Interesses an der Melancholie, z.B. in der großen Ausstellung »Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst«, die 2007 in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin auf breites Medien- und Besucherinteresse stößt. Das Interesse an einem kreativen Überschuss, den die Melancholie im Geniediskurs generiert, steht dabei nur scheinbar im Widerspruch zur gleichzeitig stattfindenden Medizinalisierung der Kategorie der Depression. Im historisch kulturwissenschaftlichen Melancholiediskurs wird ein kreativer Rest verhandelt, den die klinische Depressionsforschung (mit Ausnahme der Psychoanalyse) weitgehend vernachlässigt bzw. von dem die zeitgenössische Depression und der dazugehörige Depressionsdiskurs bereits bereinigt ist. Tatsächlich lässt sich die Melancholie im modernen Sprachgebrauch nicht ohne »Rest« bestimmten. Das Wort Melancholie bezeichnet auch gegenwärtig noch höchst unterschiedliche Phänomene. Einerseits ist sie der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angst, Depression und Lebensüberdruss gekennzeichnet ist, andererseits ist sie der Ausdruck einer auch habituell entzifferbaren Charakterveranlagung, die auch in der antiken Lehre der vier Temperamente das melancholische Temperament kennzeichnet. Sie ist ein vorübergehender »normaler« Gemütszustand oder auch eine chronische, krankhafte und charakterliche Disposition zur Depression (Klibansky, Panofksy & Saxl 1990). Mit Johnsons Dictionary (1805) unterschied man bereits im 18. Jahrhundert zwischen verschiedenen Bedeutungen der Melancholie. So bezeichnete die Melancholie zum einen den Krankheitszu-

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stand, der durch ein Ungleichgewicht der schwarzen Galle (griechisch: i melas, schwarze + kholé, Galle) entsteht: hier beinhaltet der Begriff auch verschiedene medizinische Krankheiten, wie z.B. Epilepsie und Herzkrankheiten. Zum anderen steht der Begriff ab dem 18. Jahrhundert auch für den sogenannten partiellen Wahnsinn, d.h. Wahnvorstellungen, die singulär auf einen Gegenstand fixiert sind (Johnson 1805). Schließlich bezeichnet die Melancholie Charakterunterschiede im »normalen« Bereich des Erlebens. Bereits zu Johnsons Zeit gab es wiederholt Versuche, die »normalen« Zustände der Melancholie von der klinischen Krankheit zu unterscheiden, wovon sich allerdings keiner durchsetzen konnte (vgl. Radden 2000). Auch Peters »Lexikon der Psychiatrie, Psychotherapie und Medizinische Psychologie« definiert die verschiedenen Gesichter der Melancholie 1999 noch in ganz ähnlicher Weise wie Johnson etwa 200 Jahre vor ihm: »Bereits im Altertum (Hippokrates, Galen) sowohl im Sinne einer trübsinnigen Gemütsverfassung mit grüblerischer Neigung als auch im Sinne einer schwermütigen Verstimmung gebraucht. Vielfach auch einfach für jede Form psychischer Hemmung. […] Abweichend von der medizinischen Fachsprache werden in der Umgangssprache weiterhin alle Zustände mit dem Gefühl der Niedergeschlagenheit, ungeachtet ihrer Ursache, als Melancholie bezeichnet.« (Peters 1999:344)7

Die Melancholie bringt – vielleicht aufgrund ihrer polymorphen Gestalt – einen Diskurs hervor, der seit der ersten Bestimmung des Melancholiebegriffs in den Hippokratischen Schriften, disziplinenübergreifend Veröffentlichungen in den unterschiedlichsten natur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen produziert hat. Die Melancholie stellt daher in der westeuropäischen Geschichte ein zentrales kulturelles Konzept dar, das die Art und Weise, wie Menschen sich und die Welt betrachteten,

7

Anders als im allgemeinen Sprachgebrauch, wo die Melancholie heute eher eine niedergeschlagene, aber nicht krankhafte Stimmung darstellen kann, ist die Diagnose des melancholischen Subtyps in der Psychiatrie hingegen Kennzeichen einer sehr schweren Depression. Auch wenn das DSM-IV die Bezeichnung der Melancholie stark eingeengt und verändert hat, so werden die Begriffe der Melancholie und der (mittlerweile überholte aber noch geläufige) Begriff der endogenen (durch innere, biologische Ursachen ausgelösten) Depression im psychiatrischen Diskurs noch immer synonym verwandt (Peters 1999).

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beeinflusst, und das sowohl soziale als auch medizinische Normen mithervorbingt (Radden 2000). Gleichzeitig beinflussen die tief verankerten kulturellen Normen, die Jenniffer Radden anhand eines close readings der historischen und aktuellen Depressionsliteratur zu analysieren versucht, sowohl die Melancholie von damals als auch die Depression von heute. Radden verfolgt in ihrem Buch »The Nature of Melancholy« Melancholietexte von Aristoteles bis Kristeva und zeigt auf, dass die Melancholie seit ihren Anfängen einen diskursiven Knotenpunkt darstellt, an dem seit jeher ein interdisziplinärer Austausch stattfindet. Texte der Melancholiegeschichte eignen sich demnach besonders aufgrund ihrer geschichtlichen Interdisziplinarität für eine wissenschaftstheoretische Herangehensweise unter der Verwendung von Analysekategorien aus Gender- und Cultural Studies-Ansätzen (Radden 2000). Gleichzeitig kritisiert Radden, dass die klinische Depression für die Medizin und Psychologie zu einer unbedeutenden Kategorie geschrumpft ist und gegenwärtig – anders als ehemals die Melancholie – offensichtlich kein erklärendes oder wissensorganisierendes Konzept mehr darstellt. Die Geschichte der Melancholie wird heute im medizinisch/psychiatrischen Diskurs weitgehend ignoriert und das, obwohl der heutige Begriff der Depression im Vergleich zur Melancholie erst eine relativ kurze Geschichte aufweist.8 Allein die Präsenz der über die Jahrhunderte dokumentierten melancholischen Zustände wird in medizinischen Verweisen auf die Depressionsgeschichte als Beleg dafür betrachtet, dass es Depressionen immer schon gegeben habe (Radden 2000). Die Depression wird wie eine universell und objektiv beobachtbare (körperliche) Krankheit definiert, diagnostiziert und behandelt. Dabei wird so argumentiert, als habe sich die Melancholie nur in ihrer historischen Bezeichnung, nicht aber vom Inhalt her geändert. Radden (2000) kritisiert eine solche bruchlose Identifikation zwischen jahrhundertealten Beschreibungen der Melancholie mit Beschreibungen der Depression aus dem 20. Jahrhundert. Sowohl die Depression als auch die Melancholie sind – wie das Geschlecht auch – als sich stetig verändernde Konstrukte und Wissenskategorien zu begreifen, die durch kulturelle Annahmen geformt und hervorgebracht werden.9 Es ist die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit

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Bis zum letzten Abschnitt des 19. Jahrhunderts war Depression im medizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurs kein gebräuchlicher Begriff.

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Der Soziologe Wolf Lepenies (1992) geht davon aus, dass der Charakter der Melancholie es nicht erlaube, sie in einzelne Disziplinen zu zerlegen.

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der Melancholie und ihre lange Geschichte als wissenstrukturierende Kategorie, die den Melancholiebegriff für diese Arbeit besonders fruchtbar macht. Dieser soll im Folgenden in seiner Geschichtlichkeit nach Einschreibungen in die und durch die Geschlechterordnung befragt und mit aktuellen Depressionstheorien in Verbindung gebracht werden. 3.2.1 Melancholie und Geniediskurs Was den Melancholiker vom Depressiven abhebt, ist die Vorstellung, der Melancholiker sehe mit seinem ins Leere gerichteten Blick eine tiefere Wahrheit, die der Betrachter nur erahnen kann, während der Depressive vor Elend nichts als sein Elend sieht. Der Depressive ist im Diesseits eingefroren, der Melancholiker blickt ins Jenseits. Das ist es wohl, was die Faszination der Melancholie ausmacht. Judith Luig (2006)

Das Besondere am Melancholiediskurs ist jedoch nicht alleine seine lange kulturhistorische Geschichte, sondern vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit, vor allem jenes kulturelle »Mehr«, das mit der Melancholie geschichtlich einhergeht. Dieses Mehr verschwindet jedoch mit ihrer Überführung in die klinische Depressionskategorie und ist heute zunehmend in Vergessenheit geraten. Dass dieses »Mehr« von damals und dass »Weniger« von heute einen geschlechtlichen Subtext enthält, wird im Folgenden beschrieben.

Notwendigerweise erzwinge der Gegenstand Melancholie eine Disparatheit der Quellen, denn: »[...] weder Melancholie noch utopisches Denken lassen sich einer einzelnen Disziplin zuschlagen und in ihr verarbeiten.« (Lepenies 1992:8). Lepenies untersucht in »Melancholie und Gesellschaft« die Bedeutung der Melancholie und der Langweile als politische Utopie der Intellektuellen von heute, wobei auch er über das klinische Bild hinaus, das kreative Potential der Melancholie hervorhebt. Er definiert die Chance des interdisziplinären Arbeitens am Melancholiebegriff als: »FluchtChance« vor dem Dogmatismus einer Methode (Lepenies 1992:8).

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Bereits in der Antike wurde die, Aristoteles zugeschriebene, berühmte Frage gestellt, warum gerade alle außergewöhnlichen Männer Melancholiker seien: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker [...]?« (Aristoteles Problemata Physica XXX1). Diese Frage erinnert nicht zufällig an Fukuyamas zeitgenössische Mahnung, psychischen Störungen nicht durch eine gesellschaftlich verbreitete Psychopharmakatherapie die Größe zu rauben. Auch Aristoteles ist mit der Frage beschäftigt, ob melancholisches Leid und geistige Größe nicht zusammengehören. Seine Schrift beschreibt die in der Melancholieliteratur stets wiederkehrende Idee der kompensatorischen Qualität der Melancholie, die in manchen (männlichen) Fällen kreative Energie und Brillanz, intellektuelle Gabe und wahres Genie freizusetzen vermag. Die Melancholie wird als eine treibende Kraft für das Genie betrachtet; ihr Träger beweist besondere Größe, denn sein Affekt geht über das gewöhnliche Maß hinaus (Klibansky et al. 1990). Dieser Typus des Melancholikers, dem nach Aristoteles u.a. Ajax, Platon und Sokrates angehören, leidet unter einem schöpferischen Wahn, der ihm extra-normale Größe und Generativität im weiteren Sinne von Produktivität verleiht.10 Im Folgenden wird aufgezeigt, inwiefern dieser privilegierte Status der Melancholie bereits in der Antike geschlechtlich kodiert ist, und wie im historischen Diskurs vor allem Männer, nicht aber Frauen, mit diesen privilegierten Gaben ausgestattet werden. Die Einflüsse der antiken Glorifizierung der Melancholie lassen sich verfolgen bis in die Renaissance, zum italienischen Humanismus, zur englischen Literatur des 16. und 17. Jahrhundert, etwa zu Robert Burtons Meisterwerk »Anatomie der Melancholie«. Im 18. Jahrhundert ist die Verflechtung der Melancholie-Genie-Problematik besonders virulent, wenngleich ihre Bedeutung sich verschiebt. Nun ist die Melancholie nicht mehr Ursache der intellektuellen und schöpferischen Größe, sondern ihre Nebenwirkung ist ein »Spleen« der Schöpferischen (Radden 2000). Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wird die antike Idee wieder auf-

10 Aristoteles beschreibt eine Kreislogik, nach der eine besonders begabte Person melancholisch sein muss und nach der gleichzeitig die Melancholie einer Person besondere Begabung verleiht. Ficino (1482) wird später auf diese Logik zurückgreifen und postulieren, dass die Melancholie eben diese positiven Aspekte mit sich bringt. Die Melancholie markiert nicht nur Bedrohung und Krankheit, sie birgt eine privilegierte Kondition.

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gegriffen, das Leiden der Melancholie wird z.B. bei Keats (1904) mit Größe identifiziert, ambivalent idealisiert als dunkel und schmerzhaft zugleich und dennoch als wertvoll, ja sogar als lustvoll. Auch die europäische Romantik glorifiziert die Melancholie und den melancholischen Mann, der ihr zum Opfer fällt, während die psychiatrische Literatur derselben Epoche das erste Mal die zyklische Natur der mentalen Störungen beschreibt und sich auch dort die Depression und Verzweiflung der Melancholie erstmals in Verbindung mit gehobener Stimmung und kreativer Energie der Manie zeigt (Pinel 1806, Kraeplin 1883, vgl. Radden 2000). Die Annahme, dass alle Formen der psychischen Störungen essentiell zyklischer Natur sind, hat sich jedoch nicht gehalten, wenngleich Kategorien wie die bipolaren affektiven Störungen weiter im psychiatrischen Klassifikationssystem des DSM IV vorhanden sind. Die Vorstellung, dass mit dem Leiden der Depression besondere Größe oder eine besondere Begabung einhergeht, scheint heute – abgesehen von bestimmten Künstlerbiographien oder psychoanalytischen Theorien zum Zusammenhang von Kreativität und Depression (vgl. Hau 2005) – weitgehend verloren. Abbildung 8: Albrecht Dürer (1514). Melencolia I

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Als berühmtestes Kunstwerk über den Genius des Melancholikers gilt wohl Albrecht Dürers Meisterstich »Melencolia 1« (1514, Abb. S.200), der von Klibansky et al. (1990) als ein vom italienischen Humanismus inspiriertes Porträt der künstlerischen Melancholie bzw. der Melancholie des Künstlers interpretiert wird. Dass es sich bei der Personifizierung der Melancholie um einen Engel in Gestalt einer Frau handelt, bedeutet nicht, dass hier der Frau melancholisches Genie zugebilligt wird; der Engel stellt lediglich eine Allegorie auf das melancholische Genie dar. 1532, nur wenige Jahre nach Dürer, stellt Lucas Cranach der Ältere die Melancholie als eine verführerische, weibliche geflügelte Frau dar, die den Betrachter hexengleich in ihren Bann zieht und zur Melancholie verführt. Abbildung 9: Lucas Cranach der Ältere (1532). Melancholie

Yves Hersant beschreibt sie als »eine betörende Frau in Rot« (Hersant 2006:110). Im Vergleich zu dieser verführerischen Engelfrauenfigur Cranachs erscheint der Engel bei Dürer geschlechtslos. Betrachtet man Cranachs melancholisches Hintergrundszenario (die Wolke hinter dem Putto auf der Schaukel), zu dem seine Frauenfigur die BetrachterIn einzuladen scheint, wird man Hersant zufolge unvermittelt von der sinnlichen Melancholie in eine Welt der Hexen versetzt. Hier handelt es sich nicht um eine Allegorie auf die Kreativität des melancholischen Künstlers, sondern um die Bedrohung durch die melancholische Versuchung als unerwünschtes Werk des Teufels. Cranachs Darstel-

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lung erinnert an mittelalterliche Melancholieauffassungen, in denen vor allem Frauen als empfänglich für eine melancholische Verführung durch den Teufel galten und deren »Krankheit« mit dem »Malleus Maleficarum« (Sprenger & Institoris 1487) als Hexerei und dämonischer Einfluss identifiziert wird. Auf dem Einband seines Buches »Experiences of Depression« (2004) zeigt der Depressionsforscher Blatt Dürers Melancholia I. In diesem Bild erkennt der Autor die von ihm beschriebenen zwei Dimensionen depressiven Erlebens wieder: introjektive und anaklitische Depression. In Blatts kurzer »Cover Art« Beschreibung, die sich an Panofskys Bildanalyse anlehnt, findet sich eine spannende Verflechtung des Melancholie-Genie-Diskurses mit Blatts Theorie der zwei Depressionsdimensionen:

»Panofsky (1945, p. 171) views Melancholia I as a ›spiritual self-portrait‹ of a Renaissance artist (whose mother had died a few months before he completed this engraving) inspired ›by celestial influences and eternal ideas‹, but deeply suffering from awareness of ›his human frailty and intellectual finiteness‹, This reflective, ruminative, self-critical depression can be contrasted with the observations of other distinguished art historians (e.g. Klibansky, Panofsky, & Saxl, 1994) who suggest that a more simple depression is also symbolized in Melancholie I by the sadness of the tired, sleeping, emacated greyhound. Thus Dürer, in 1514, depicted the two types of depressive experiences discussed in this Book – ruminative self-criticism and feelings of depletion and loneliness.« (Blatt 2004: Einband)

Die introjektive Depression verweist hier auf ein »Mehr«, sie wird der »einfachen Depression« gegenübergestellt, die mit Trauer und Einsamkeit einhergeht. Während Dürers Engel eine Allegorie auf introjektive Depression darstellt, verkörpert der trauernde Hund einen anaklitischen Depressionstyp: anlehnungsbedürftig, schlicht in seiner Trauer und ohne das Beiwerk intellektueller Größe oder künstlerischer Gabe. Wie weiter oben ausführlich dargestellt wurde, ist eine anaklitische Depression mehrfach mit weiblichen Geschlechtercodes assoziiert. So bestehen mit Weiblichkeit verknüpfte Verbindungen zwischen einer anaklitischen Depression und Beziehung, Abhängigkeit und interpersonale Ausrichtung sowie einer hierarchischen Einordnung als frühe Störung der Mutterbeziehung. Tatsächlich scheinen Frauen in empirischen Untersuchungen empfänglicher für anaklitische Depressionen als Männer (Blatt 2004).

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Die introjektive Depression ist hingegen vielfach männlich kodiert, sie entsteht in Verbindung mit zu strenger Selbstkritik und kann ausgelöst werden durch ein Scheitern an selbstgesetzten Zielen; sie ist eine selbstkritische Depression des (Miss)erfolgs und ist assoziiert mit einer unerbittlichen Über-Ich-Bildung, die wiederum bereits bei Freud mit dem Mann bzw. mit Männlichkeit assoziiert ist). Auch wenn empirische Studien von heute belegen, dass nicht nur Männer, sondern ebenso häufig auch Frauen unter introjektiven Depressionen leiden, so wird diese Depressionsform nach wie vor in erster Linie männlich kodiert. Diese geschlechtlichen Einschreibungen korrespondieren nun mit historischen geschlechtlichen Bildern und Vorstellungen über ein männliches melancholisches Genie und über weibliche einfache Trauer. In Blatts Interpretation von Dürers Melencolia I findet sich nicht nur eine historische Verbindung zwischen 1514 und heute, auf die der Autor hier verweist, sondern vor allem eine implizite historische Weiterführung problematischer historischer Geschlechtercodes, in der eine männlich kodierte Depression anknüpfen kann an »kulturelles Kapital«, auf das eine frühe anaklitische Depressionsform aufgrund ihrer »Vorsprachlichkeit« und mangelnden »Symbolisierungsfähigkeit« (vgl. Engel vs. Hund) nicht zugreifen kann. Männliche Depression hat scheinbar »etwas mehr zum Inhalt« als weibliche Depression; sie schließt – anders als die weibliche Depression – an eine männliche Melancholietradition seit Aristoteles an (Schiesari 1992). Während die männliche Tradition voller kreativer, künstlerischer (Symbolisierungs-)Möglichkeiten erscheint, wirkt die weibliche Form, vergleichbar der Trauer eines anhänglichen Hundes, leer (depleted), primitiv und einfach (simple). Während in Blatts (2004) Interpretation der Engel bzw. Künstler über die »Endlichkeit der Welt« verzweifelt ist, verzweifelt der abhängige Hund nur an dem weltlichen Verlust seiner Bezugsperson. 3.2.2 Melancholie und Trägheit Während der Geniediskurs der Melancholie Größe verleiht, wird sie ab dem Mittelalter gleichzeitig auch als Accedia im Sinne eines Lasters oder Symptom der Müßigkeit verhandelt. Auch Robert Burton sieht als Ursache der Melancholie vor allem die Untätigkeit. In der zeitgenössischen Diskussion greift insbesondere Lepenies’ (1992) gesellschaftliche Melancholie-Analyse diese berühmt gewordene Verbindung von Melancholie und Langeweile auf. Melancholie stelle eine bürgerliche

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Form der Langweile dar. In seinem Vorwort finden sich zudem auch Verweise auf die Aristotelische Problematik. Die Melancholie »gehöre«, so Lepenies, der klagenden Klasse, den Intellektuellen, die »[...] stets vor sich hinbrüten und die an allem zweifeln, die der Reflexion Verfallenen, die sich aus der Welt zurückziehen und auf ihr eigenes Ich zurückfallen.« (Lepenies 1992:XVIII) Sie sind »mutig in ihrer Trauer« (Lepenies 1992:XIX) und entsprechend sind es auch für Lepenies die Besten und Tapfersten, die sich Melancholiker nennen dürfen. Aus ihrer Klage entstehe ein utopisches Denken, das eine bessere Welt entwerfe und so die Melancholie vertreiben soll. Lepenies entwirft – im Sinne Forsters »unmännlicher Männlichkeit« – die Utopie einer altmodischen intellektuellen MelancholieKultur, die gesellschaftlichen Wandel möglich machen soll und die Melancholie als Chance betrachtet. Auch Forster fühlt sich in seinem Melancholiebegriff an die Utopie der bürgerlichen Intellektuellen erinnert, die in »riesigen Bibliotheken die [...] Welten des Unmöglichen eröffnet« (Forster 1998:67). Bei Lepenies und Forster ist die Melancholie eine UnTat, ein »nahezu überstürztes (Nicht) Handeln« (Forster 1998:67). Die Vorstellung, Melancholie mit Untätigkeit und Rückzug aus dem weltlichen Leben in Verbindung bringt, ist im Mittelalter unter dem Begriff der Accedia ein viel beschriebener Topos. In der mittelalterlichen Accedia-Literatur lassen sich dabei zwei Auffassungen von Melancholie identifizieren. Die Accedia gilt als Todsünde und wird insbesondere für die ohnehin schon von der Welt zurückgezogenen Mönchen gefährlich. Die gleiche Accedia nobliert jedoch auch den Mönch, der aufgrund besonderer Größe imstande ist, der Accedia zu trotzen. Dort, wo die Melancholie als Rückzug, Untätigkeit und mit Handlungsunfähigkeit in Verbindung gebracht wird, liegt es nahe, Tätigkeit, Aktivität und Arbeit als Gegenmittel zu verschreiben. Bereits Burton glaubte z.B. (auch seine eigene) Melancholie ließe sich durch Arbeit heilen. Auch Benjamin Rush empfiehlt 1812 Arbeit oder Geschäftigkeit aller Art als Heilmittel für die Melancholie, denn der Mensch sei von aktiver Natur: »man was made to be active.«11 Interessanterweise entsteht etwa zur gleichen Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eine parallele Bewegung, die nicht Arbeit und Be-

11 Auch das Heilmittel gegen die melancholische »green sickness« von Samuel Smiles (1859) ist: »action, work, and bodily occupation of any sort.« (Smiles 1859, zitiert nach Radden 2000).

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schäftigung sondern Ruhe als Heilmittel der Melancholie empfiehlt. Die sogenannte »rest cure« nach Kraeplin wird bemerkenswerter Weise insbesondere Frauen der Mittel- und Oberschicht empfohlen. Denn: Arbeit sei primär für den Mann etwas Wertvolles, für die Frau könne sie dagegen schädlich sein. Eine solche »Kur« beschreibt die amerikanische Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman (1913), die wiederholt unter sogenannten melancholischen Nervenzusammenbrüchen litt, aufgrund derer sie einen Arzt aufsuchte, der ihr absolute Ruhe und große Mengen an Essen als Heilmittel verordnete. Die Patientin solle ihr Leben so häuslich wie möglich einrichten, nicht länger als zwei Stunden am Tag intellektuell tätig sein und vor allem: nie wieder schreiben. Die dennoch berühmt gewordene Autorin beschreibt, dass sie sich, nachdem sie diesem Rat für drei Monate gefolgt sei, nur noch schlechter gefühlt habe und schließlich beschlossen habe, den Rat des Spezialisten zu missachten. Im Sinne Burtons – nicht aber im Sinne Kraeplins – beschreibt sie, wie sie durch die wiederaufgenommene Arbeit, Freude und Kraft zurückerlangt habe. Die »Therapie« von Gilmans Depression illustriert, wie psychische Störungen im Allgemeinen und Depressionen im Besonderen gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu Frauenkrankheiten gemacht wurden (Radden 2000). Radden beschreibt, wie mit dem Entstehen der modernen wissenschaftlichen Methoden in den Disziplinen der Medizin und der Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert eine Trennung einhergeht zwischen Subjektivität und Wertvorstellungen und dem, was traditionell als objektiv erfassbare und messbare Objekte wissenschaftlichen Studiums galt. Die Vernunft wurde als Mittel betrachtet, eine objektive wertfreie Realität zu erfassen. Die Vernunft stand somit in Opposition zu Gefühl und Leidenschaft, die als Kräfte außerhalb der menschlichen Kontrolle dem rationalen Verstehen nicht zugänglich galten. Später kommen zu diesen beiden Polen geschlechtliche Verbindungen hinzu: Vernunft wird nun symbolisch durch Männlichkeit repräsentiert, während Leidenschaft und Gefühl durch das Andere, das Weibliche verkörpert wird. Vernunft wird assoziiert mit dem Öffentlichen, Leidenschaft mit dem Häuslichen, Privaten. Radden (2000) zitiert z.B. Thomas Laycock, einen Professor für Medizin in Edinburgh, der 1840 in einem Buch über Nervenkrankheiten, den Gemütszustand von Frauen mit dem von Kindern vergleicht, während fast zur gleichen Zeit Robert Brudnell Carter (1853), eine Autori-

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tät in der Erforschung der Hysterie, von der natürlichen Gestalt spricht, die dafür sorge, das Frauen dort »fühlen«, wo Männer »denken«. Auf diese Vorstellungen lässt sich auch die heutige DSM-IV Unterteilung der psychischen Störungen zurückführen, die Störungen des Affekts separat von anderen Störungen klassifiziert (Radden 2000). Gleichzeitig lassen sich diese Verbindungen auch zu den psychologischen Beschreibungen von Geschlechtsrollenstereotypen bei Parsons und Bales 1955 verfolgen, nach denen Frauen für den expressiven emotionalen Rahmen bzw. das Fühlen und Männer für den äußeren objektiven instrumentellen Rahmen der Geschlechterordnung bzw. für Handeln und Denken zuständig sind. Wie in Kapitel B ausführlich diskutiert wurde, lassen sich auch in der Psychoanalyse Theorielinien finden, in denen Weiblichkeit mit Passivität und Abhängigkeit assoziiert wird, während Männlichkeit mit Aktivität, Trieb und Autonomie zusammengebracht wird. Auffallend ist, dass die zunehmende Pathologisierung und Medizinialisierung der Depression und ihre eindeutige Zuweisung in die Bereiche der Psychiatrie und Medizin, mit einer »Entsubjektivierung« der Krankheit einhergehen. Während die Melancholie lange als höchst subjektive und individuelle Disposition galt, wird sie zunehmend zu einer anhand von objektiven Symptomen und Verhalten beobachtbaren, klassifizierbaren Krankheit. Das Bild des kreativen, intellektuellen Melancholikers, der als Künstler und Literat hoch gehandelt wird, verwandelt sich in das einer kranken Frau, die über Symptome klagt, die aber nicht an der Welt, sondern an einer behandelbaren Krankheit leidet. Die Stimme der Melancholie verstummt. 3.2.3 »Männliche« und »weibliche« Melancholiegeschichte Melancholia is not a blessed curse; it is just a curse [...]. Juliana Schiesari (1992)

Im historischen Depressionsdiskurs lässt sich eine weibliche Trauer und Depression von der männlichen Melancholie abgrenzen. In zeitgenössischen Debatten um die Einführung einer Extrakategorie der »männlichen Depression« werden diese Vorstellungen oftmals implizit aktualisiert. Bezeichnenderweise finden sich bei Vertretern, die für die

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Beachtung einer »Männerdepression« plädieren, sonst eher selten zu findende Verweise auf die Melancholiegeschichte. So verweisen in »Männer-Depression: Ein vernachlässigtes Thema – ein therapeutisches Problem« Wolfersdorf et al. (2006) darauf, dass die MännerDepression in der Literatur zu wenig beachtet wird, und sie greifen – allerdings ohne ihre historischen Verweise in der weiteren Diskussion theoretisch einzubetten – auf eine Melancholie-Literatur zurück, um das in der Depressionsforschung vernachlässigte männliche Geschlecht in den Blick zu nehmen. Interessanterweise wenden die Autoren sich dabei einer Theoretikerin zu, die in den Kulturwissenschaften als ausgewiesene Theoretikerin einer weiblichen Depression betrachtet wird. Wolfersdorf et al. (2006) zitieren in ihrem psychiatrischen Überblicksaufsatz über das aktuelle Problem der Männerdepression aus dem Werk der mittelalterlichen Nonne Hildegard von Bingen, die bereits in ihren bekannten Schriften aus dem 12. Jahrhundert depressive Männer von depressiven Frauen unterscheidet. Es ist bemerkenswert, dass, wenn männliche Depression verhandelt wird, eine kontinuierliche Linie zur Melancholieforschung zu bestehen scheint, an die angeknüpft werden kann, wohingegen eine solche Verbindung im Fall der weiblichen Depression nicht zu existieren scheint. In diesem Beispiel zitieren die Autoren die folgenden mittelalterlichen Quellen: »Nach Hildegard von Bingen haben »melancholische Männer »eine düstere Gesichtsfarbe auch sind ihre Augen ziemlich feurig und denen der Vipern ähnlich. Sie haben harte und starke Gefäße, die schwarzes oder dickes Blut in sich enthalten, ... hartes Fleisch und grobe Knochen, die nur wenig Mark enthalten.« (Wolfersdorf et al. 2006:1).

Die Autoren weisen zudem darauf hin, dass depressive Frauen bei Hildegard von Bingen sogar als noch beklagenswerter geschildert würden: »Sie haben mageres Fleisch, dicke Gefäße und mäßig starke Knochen. Ihr Blut ist mehr schleimig wie blutig, ihre Gesichtsfarbe ist wie mit einem blaugrauen und schwarzen Ton gemischt. Solche Frauen sind windig und unstet in ihren Gedanken, auch übler Laune, wenn sie durch eine Beschwerde dahinsiechen. Sie haben ein widerstandsfähiges Naturell und leiden deshalb manchmal an Schwermut. [...].« (Hildegard von Bingen zitiert nach Wolfersdorf et al. 2006:1)

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Wolfersdorfer et al. führen Hildegard an, um zu zeigen, dass bereits im 12. Jahrhundert eine männliche von einer weiblichen Depression abgegrenzt wurde, verzichten aber darauf, weitere Bedeutungen dieses Diskurses oder den Kontext, in dem der Text aus dem Mittelalter verfasst ist, in den Blick zu nehmen. Nach einer kurzen Einführung in statistische Unterschiede in den Depressionszahlen verweisen die Autoren darauf, dass die Thematik depressiver Frauen sich im Gegensatz zur männlichen »in ihrem engen Verpflichtungsfeld von Familie, Partnerschaft, Kindern« bewegt, während sich die Thematik depressiver Männer »sozusagen egozentrisch um die eigene Person dreht« (Wolfersdorf et al. 2006:2). Der Verweis auf Hildegard von Bingens Depressionstheorie bleibt hier unverständlich und entkontextualisiert. Wird Hildegards Text jedoch in seinem Entstehungskontext einer kulturhistorischen Analyse unterzogen, finden sich wichtige Bezüge zu Depression und Geschlecht, die über eine einfache historische Differenzierung männlicher und weiblicher Depressionen hinausgehen und die hier exemplarisch als eine andere Verhandlung männlicher und weiblicher Depression dargestellt werden. Hildegard von Bingen (1098-1179) gilt als eine der ersten Frauen, die überhaupt medizinische Texte veröffentlichte. Ihr Text stellt dabei einen bemerkenswerten historischen Bruch mit dem Genie- und Accediadiskurs ihrer Zeit dar: Juliana Schiesari (1992) hat sich mit der wohl berühmtesten weiblichen Autorin des Mittelalters ausführlich auseinandergesetzt und die geschlechtlichen Implikationen ihrer Melancholietheorie untersucht. Anders als Wolfersdorf et al. (2006) argumentieren Schiesari und Radden (2000) gegen den Eindruck, wonach Frauen bei Hildegard von Bingens Melancholiebestimmung schlechter beurteilt würden als Männer. Vielmehr würden melancholische Frauen hier in einer anachronistischen Art und Weise als Subjekte eingeführt, die medizinischer Versorgung bedürften und auch verdienten. Frauen, die für die Melancholie empfänglich seien, empfiehlt Hildegard einen zölibaten Lebensstil, mit dem sie trotz der Melancholie ein glückliches Leben führen könnten. Die Melancholie der Frau werde von ihr primär als sexuelle Störung konzipiert, die sich auch in Unregelmäßigkeiten des menstruellen Zyklus ausdrücke und in einer geringeren Fruchtbarkeit zeige. Nach Schiesari bricht Hildegard mit der männlichen Tradition der Melancholieliteratur ihrer Zeit, in dem sie einerseits der männlichen

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Melancholie die Besonderheiten und das kreative Potential eines gesegneten Fluchs radikal abspreche und in dem sie anderseits eine eigene Kategorie von melancholischen Frauen einführe, die sie in empathischer Weise diskutiere und zu heilen versuche. Schiesari betont, wie sehr ihr Text von dem Kanon der Melancholieliteratur abweicht. Zum einen, weil sie Frauen als eigenständige Kategorie und nicht als Abweichung denkt, und zum anderen, weil sie der männlichen Melancholie die Größe und den Überschuss an Bedeutung nimmt. Hildegard von Bingen ist nicht nur die erste Frau, die in der medizinischen Literatur ihrer Zeit einen Beitrag leistet, sondern sie ist auch die erste, die die Melancholie in Zusammenhang mit der Geschlechterdifferenz thematisiert. So findet sich bei ihr eine in der Melancholiegeschichte einzigartige Betrachtung einer geschlechtsspezifischen Verursachung von Depression. Weibliche Depressionen gelten nicht als bloße Abweichung von einer als elitär konzipierten männlichen Melancholie, sondern als Kategorie mit eigenem Erkenntniswert (Schiesari 1992). Die Melancholie ist bei Hildegard ein notwendiger Teil der menschlichen Existenz. Sie ist ein unausweichliches Resultat des Sündenfalls.12 Ihre Darstellung, die vom biblischen Scriptum entscheidend abweicht, vermeidet jede für ihre Zeit übliche Schuldattribution der Ursachen für die Melancholie an die Frauen (Schiesari 1992). Damit widerspreche Hildegard auch der mittelalterlichen Theorie, in der Frauen als Verursacherinnen der Melancholie betrachtet werden.13 Schiesari beschreibt

12 In Bingens Erzählung des Sündenfalls beißt Adam, vom Satan verführt, in den Apfel der Erkenntnis, wobei das Licht seiner Kerze (Seele) ausgelöscht wird und die Melancholie Einzug erhält. Bemerkenswert ist an dieser Darstellung des Sündenfalls, neben der Erkenntnis, das der Widerstand gegen die Schwermut auch einen Widerstand gegen die Sünde darstelle, die völlige Abwesenheit Evas in der Erzählung (Radden 2000). Anders als in anderen mittelalterlichen Darstellungen ist diese Darstellung des Sündenfalls nicht auf Eva als Verführende konzentriert, die Adam mit sich ins Verderben stößt (Radden 2000). 13 Auch in ihrer Beschreibung des christlichen Märtyrers, der sich der Melancholie widersetzen muss, zeigt sich ein Unterschied zu anderen mittelalterlichen Darstellungen. Dieser Märtyrer bezahlt den Preis der Melancholie nicht für ein immortales Phanteon der Helden, Philosophen und Künstler. Von Bingen spricht dem Melancholiker das Leiden selbst als etwas ab, das ermächtigt, vielmehr begreift sie es als schlichte Prüfung, die bewältigt

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die Depressionstheorie der Heiligen Hildegard als eine »demokratische« Ausnahme von einem »männlichen« historischen Melancholiediskurs, in dem eine Hierarchie zwischen männlicher Melancholie und weiblicher depressiver Trauer vorherrscht, und in der die Melancholie für Männer nicht aber für Frauen »etwas mehr« zum Inhalt habe. Schiesari führt in diesem Kontext die Bedeutung der Kategorie des Verlusts wieder ein: Es gebe eine geschlechtliche Matrix, die Frauen und Männern jeweils einen anderen Umgang mit Trauer ermögliche bzw. aufdränge. Hierbei würden Frauen entsubjektiviert und sprachlos gemacht, während die männlichen Gewinner sich noch im Verlust zu ermächtigen wüssten. Im historischen Diskurs identifiziert sie eine Tendenz, die Melancholie der Frau zu naturalisieren, wobei diese nicht kreativ und ermächtigend wirke, sondern depressiv und statisch: »Womens’ loss, the loss that is women is delegitimated in comparison to men’s melancholic display of loss, as themselves the sign of loss, or lack, women can have no agential relationship to it.« (Schiesari 1992: 157). So lassen die großen Melancholiker der Geschichte von Ficino, Tasso, Rousseau, Nerval bis zu Walter Benjamin – eine bemerkenswerte Abwesenheit von Frauen erkennen, die natürlich nicht darauf verweist, dass es keine unglücklichen Frauen in der Geschichte gegeben hätte, sondern darauf, dass ihr Verlust und ihre Verwundbarkeit in einer patriarchalen Kultur keine Bedeutung erlangen konnten (Schiesari 1992). In der Folge würden Männer als melancholisch bezeichnet – inklusive der melancholischen Privilegien – und Frauen »nur« als depressiv. Der »Homo melancholicus« werde zwar als »verrückt« be-

werden muss: »Yet nothing seems to emblematize the ruses of male melancholia as a discursive practice better than the figure of the martyr, whose woeful suffering is merely the price to be paid for entrance into the immortal pantheon of heroes, philosophers and artists. But in Hildegard’s revisionist scene, the martyr’s suffering is not the call of something higher but the call to struggle for something better. Suffering is not something to withstand of passively »enjoy« but something to alleviate and overcome. Melancholia is not a blessed curse; it is just a curse, one that we must all work to overturn. Not to work against this affliction would be to indulge in a narcissism that can only separate human beings from each other in vicious rivalry. Such is the crucial lesson, both clinical and cultural, to be learned from the too quickly forgotten text of this medieval nun.«(Schiesari 1992:159).

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trachtet, aber der Fluch, der ihn belege, werde auch als ein »blessed lack« oder als ein heiliger Fluch verstanden, dessen Nähe zur Wahrheit dem Melancholiker kulturelle und literarische Legitimität sichere. Die männlichen Opfer der melancholischen Krankheit konnten, trotz der bedrohlichen Aspekte der Melancholie, an den Geniediskurs anknüpfen: »Even in distress the masculine ego is thereby preserved and even affirmed through literary and cultural production« (Schiesari 1992:8). Die Melancholie repräsentiert eine spezifische Form männlicher Kreativität, ein heroisches Leiden, ein »lack that is blessed.« (Schiesari 1992:8). Ein männlich-melancholisches Leiden priviligiere den homo melancholicus in Literatur, Philosophie und den Künsten, während trauernde Frauen geschichtlich in ritualisierten Trauerritualen nicht über intellektuelles oder künstlerisches »Kapital« verfügten. Dabei erscheint die Melancholie seit jeher von der depressiven Störung hierarchisch unterschieden.14 Wie Forster (1998) geht Schiesari (1992) von einer melancholischen Ermächtigung des Mannes aus: wo die Frau trauere, sei der Mann melancholisch. Der männliche Verlust werde in ein melancholisches »Mehr« konvertiert und nur der melancholische Ausdruck des Verlustes erinnere noch, da er der Trauer ähnlich sei, an den gesellschaftlich und kulturell niedriger bewerteten Aspekt der weiblichen Trauer. Die Melancholie legitimiert einen »männlichen« Ausdruck des Leids, ohne die hierarchische Beziehung und Positionierung von männlichen und weiblichen Subjekten in Frage zu stellen oder anzugreifen. Die weibliche Trauer werde zum profanen Leid der gewöhnlichen Frau, zur medizinischen Kategorie der Depression und wiege weniger schwer als der männliche Schmerz. Hier finden sich Parallelen zum heutigen Depressionsdiskurs. Der große Melancholiker von gestern ist männlich, die leidende Depressive von heute weiblich. Während Melancholie romantisch in der Vergangenheit positioniert wird, ist die Depression im Heute präsent (Schiesari 1992). Die zeitge-

14 Petra Strasser (2003) argumentiert in ihrem Aufsatz über die Begriffe Trauer und Melancholie, dass der moderne Begriff der Trauerarbeit als etwas Abzuschließendes und Finales, das der Durchsetzung des Realitätsprinzip diene, den kulturtheoretischen und kulturkritischen Moment, der in der Melancholie stecke, aufgebe. Der prozesshafte Vorgang der Trauer (und Melancholie) werde verleugnet und somit auch die Neufindung der Selbsteinschätzung und Subjekthaftigkeit, die dem melancholischen Prozess zugrunde liege.

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nössische klinische Depression ist eine Form von Melancholie, die diskursiv vom ehemals romantisiertem Potential bereinigt ist und die den depressiven Männern und Frauen von heute wohl kaum mehr einen privilegierten Status verspricht. Passend zu diesen kulturwissenschaftlichen Überlegungen vertritt die Psychoanalytikerin Petra Strasser (2003) die These, dass auch Freud (1917) in »Trauer und Melancholie«, anknüpfend an einen romantischen historischen Melancholiediskurs, auch einen kulturkritischen Aspekt im Blick hatte, der erst durch die zunehmende Medizinalisierung der Kategorie Depression in den Hintergrund getreten ist.15 Strasser geht davon aus, dass die Melancholie sich auf das Ich zentriert, die Trauer sich hingegen auf die verlorenen Objekte richtet. Während Melancholie zur Selbstabsorption führe und das Unsymbolisierbare markiere (z.B. ausgedrückt im Bild der »offenen Wunde« oder »Krypta«), markiere Trauer eine Verwundbarkeit und einen bewussten Verlust in der Beziehung des Subjektes zur (Um-)Welt und zu seinen Objekten. »Trauer erkennt Verlust und Verwundbarkeit an« (Strasser 2003:49). Betrachtet man die These von Strasser (2003) unter der Frage geschlechtlicher Einschreibungen in diesen Diskurs, so lassen sich weitere Assoziationen hinzufügen. Während die Melancholie mit einem »männlichen« Subjekt/Ich assoziiert ist, steht die Trauer und die Depressivität in Verbindung mit einem »weiblichen« Objekt. Mit dem Verlust der Trauer geht keine kulturelle Ermächtigung, kein kulturelles Kapitel einher, während der Melancholiker scheinbar an einen Legitimationsdiskurs anknüpfen kann, der zu Ermächtigung und zu einem »Mehr« führt. Die Depressive von heute kann kaum an einen Ermächtigungs-Diskurs anknüpfen. Gleichzeitig fällt eine Verbindung zwischen der Vorstellung eines »männlich« kodierten Diskurses, der Ver-

15 Auch Schiesari (1992) geht davon aus, dass Freud an diese Tradition anknüpft. Sie arbeitet geschlechtliche Kodierungen in Freuds Text heraus, nach denen bei Freud (1917) ein Double Bind am Werk ist: »Silence is a womens glory. This is not equally the glory of man« (Schiesari 1992:109). So betone Freud, dass die gute, verlässliche Ehefrau eher melancholisch werde, als die Frau, über die es nichts Gutes zu sagen gäbe. Die gute Frau aber werde implizit als eine Frau dargestellt, über die es gar nichts zu sagen gebe, für ihre Verluste gibt es keine Repräsentation: »The good wife is the one of whom there is nothing at all to say« (Schiesari 1992:109).

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lust und Verwundbarkeit leugnet und einer von von Braun (1985) postulierten »männlichen« Funktion der Sprache im abendländlichen Denken auf, die anders als die »weibliche« Funktion der Sprache, Unvollkommenheit und Verwundbarkeit leugnet.

4. D EPRESSION UND G ESCHLECHT : K ULTURWISSENSCHAFTLICHE K ONZEPTUALISIERUNGEN Nicht nur in den Häufigkeitsverteilungen der Statistik, sondern auch in der kulturellen Imagination erscheint die moderne Depression als weiblich. Zu einem »gendering« der klinischen und subklinischen Kategorien der Depression, wie sie heute bekannt sind, kommt es erstens aufgrund einer Trennung der Krankheiten des Affektes von anderen psychischen Krankheitskategorien und zweitens aufgrund einer allgemeinen diskursiven Verflechtung von Affekt und Emotionalität mit Feminität im 19. Jahrhundert (Radden 2000). Blickt man in die Vergangenheit der Depression, dann war dem, wie hier gezeigt wurde, nicht immer so. Im frühen Mittelalter bis hin zum 18. Jahrhundert wurde viel mehr angenommen, dass Frauen weniger empfänglich für die Melancholie seien – wenngleich innerhalb eines kanonischen Melancholiediskurses immer wieder auch betont wurde, dass Männer zwar öfter zur Melancholie neigten, aber Frauen gemäß ihrer »Natur« durch die Krankheit ungleich schlimmer getroffen würden (Radden 2009, Schiesari 1992). Avicenna z.B. betrachtet die Melancholie als Krankheit, die häufiger bei Männern vorkommt, die aber in ihrer weiblichen Form bei Frauen schwerer verläuft, während Burton die Melancholie der Frau (z.B. bei Mägden, Nonnen oder Witwen) als ein Problem ungezähmten weiblichen »Feuers« betrachtet, das nicht von einem Mann domestiziert wird (Schiesari 1992). Die allegorische Vorstellung der Dame Melancholie oder Dame Tristesse steht dabei nur in einem scheinbaren Widerspruch zur Verbindung von Männlichkeit und Melancholie. Denn diese Figuren stellen trotz aller Weiblichkeit zumeist lediglich eine Allegorie auf das Feminine im Mann oder eine Metapher männlichen Leidens dar (Klibansky et al. 1990, Forster 1998). Wahrscheinlich ist, dass sich eine spezifische Verbindung von Depression und Weiblichkeit gleichzeitig mit der zunehmenden Einen-

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gung der Melancholie auf die medizinisch-psychiatrische Literatur und auf das Symptomcluster der Depression entwickelt (Radden 2000). Die zeitgleiche Entwicklung der Assoziation psychische Krankheit und Feminität trägt außerdem dazu bei, dass aus der fiktiven Dame Melancholie eine reale depressive Frau wird, so dass in der Folge Frauen und nicht Männer Depressivität »verkörpern«. Radden zieht verschiedene historische Quellen für diese Feststellung heran: Kraeplin (1883) beispielsweise formuliert eine auffällige Verbindung von Depression mit Weiblichkeit. Er stellt in seiner psychiatrischen Praxis fest, dass 70 Prozent seiner PatientInnen weiblich sind und begründet seine Beobachtung damit, dass Frauen unter größerer emotionaler Erregbarkeit leiden. Lunbeck (1994) wiederum weist auf die Verbindung von Depression und Weiblichkeit bei männlichen Patienten hin. In Fallbesprechungen einer Bostoner Psychiatrie zu Kraeplins Zeit findet er die Betonung von effeminierten, unmännlichen Eigenschaften bei manischdepressiven männlichen Patienten. Im medizinischen Diskurs werden Frauen im 19. Jahrhundert immer öfter als die »natürlichen« Opfer psychischer Probleme betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt entsteht auch erstmals ein psychiatrischer Diskurs um den weiblichen reproduktiven Zyklus. Demzufolge werden Frauen »verrückt« zu Zeiten von Schwangerschaft, nach der Entbindung und zum Zeitpunkt der ersten Periode und der Menopause. Diese Überzeugungen lassen sich bis zu den medizinischen Kategorien und gesellschaftlichen Begriffen von z.B. PMS oder Baby Blues bzw. der postpartalen Depression verfolgen. Nach Radden (1992) lässt es sich im Nachhinein schwer trennen, ob Frauen in der Psychiatriegeschichte schon immer spezifisch für Depression als empfänglicher galten oder ob die vermehrten Diagnosen der Depression bei Frauen ein Resultat der allgemeinen Verknüpfung der Kategorien von Weiblichkeit und psychischer Störung darstellen. Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen auch als empfänglicher für Hysterie und Neurasthenie galten, deren Definition und diagnostische Spezifität in Abgrenzung zur Depression im Nachhinein schwierig bleibt (Radden 1992, von Braun 1985). Was die Konzeptualisierungen von Depression und Geschlecht gemeinsam haben – sei es in psychoanalytischen Weiblichkeits- und Mütterlichkeitsdiskursen, in der Psychopharmakawerbung, in der Kategoriefindung einer männlichen Depression oder im historischen Geniediskurs – ist eine auf binären Geschlechtsvorstellungen aufbauende

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dichotome Hierarchisierung männlicher Melancholie und weiblicher Depression. Während die klinische, medizinalisierte Depression mit Merkmalen und Phantasien über Weiblichkeit einhergeht, ist ein romantisiertes Melancholieideal mit Kreativität, Utopie und Männlichkeit assoziiert. Diese vergeschlechtlichten Diskursstränge lassen sich bereits in der Antike auffinden und in den heutigen Depressionsdiskurs weiterverfolgen, sowohl in Modellen von Differenz und Gleichheit in psychoanalytischen Geschlechtertheorien (Kapitel B) als auch im Rahmen eines psychologischen Geschlechtsrollen- und Depressionsdiskurs (Kapitel A).

D Diskussion & Ausblick Eine interdisziplinäre Konzeptualisierung von Depression und Geschlecht

1. D AS G ESCHLECHT

DER

D EPRESSION

Ich glaube, wir haben alle Geister in uns, und es ist besser, wenn sie reden, als wenn sie es nicht tun. Siri Hustvedt. (2008). Das Leiden eines Amerikaners

Sowohl die Geschichte der Depression und der Melancholie als auch die Geschichte der Wissenschaften ist durchsetzt mit geschlechtlichen Bedeutungen, die das Wissen über Gesundheit, Krankheit sowie über Normen und ihre Abweichungen maßgeblich mitstrukturieren. Geschlechtliche Kodierungen finden sich im gesellschaftlichen als auch im individuellen Wissen über Depressionen, und sie schreiben sich sowohl in die Psyche als auch in die Körper ein. Als Transfermedien wirken dabei das kulturelle und gesellschaftliche Umfeld sowie die Familie oder auch die therapeutische Behandlungspraxis, in denen Wissen über Depression und Geschlecht zur Verfügung gestellt wird. Viele der geschlechtlichen Zuschreibungen und symbolischen Anrufungen an Weiblichkeit und Männlichkeit werden dabei nicht explizit verhandelt; sie bilden einen Subtext, bestehend aus »rätselhaften Botschaften« (Laplanche 1988). Diese Botschaften sind nicht nur deswegen rätselhaft, weil sie ihren Empfänger überraschen, überfordern oder im Laplan’schen Sinne »überwältigen«; sie sind auch rätselhaft, weil sie unbewusste oder zumindest nicht explizit gewusste Botschaften

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darstellen, deren Inhalte für die Sender selbst Rätsel darstellen. Sie transportieren Wissen – Laplanche spricht von der »Immission« der Botschaft – in das Unbewusste und prägen es mit. In diesen Botschaften werden Assoziationen und Verknüpfungen hergestellt, die etwa Weiblichkeit und Depression einseitig miteinander verbinden, Männlichkeit und Depression jedoch voneinander distanzieren. Sie sind rätselhaft, weil die Transferprozesse, durch die gesellschaftliches Wissen, kulturelle Symbole und wissenschaftliches, klinisches Wissen interagieren, kaum sichtbar werden. Durch eine interdisziplinäre, historische Betrachtung kann jedoch der Versuch unternommen werden, diese diskursiven Verflechtungen sichtbar zu machen. Eine solche interdisziplinäre Betrachtung wurde in dieser Arbeit aus psychologischer, psychoanalytischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive unternommen. Erörtert wurde, wie Einschreibungsprozesse jeweils interagieren, welches Wissen über Geschlecht und Depression historisch Bedeutung erlangt und welches Wissen revidiert oder vergessen wird, welche Faktoren Frauen jeweils für Depressionen verletzlicher machen als Männer, und wie diese unterschiedlichen Ebenen der Fragestellung miteinander zusammenhängen. Verknüpfungen zwischen Depression und Geschlecht konnten so auf allen Ebenen der Fragestellung identifiziert werden. Die Transferprozesse, durch die diese Verknüpfungen in psychische Störungen oder in Häufigkeitsunterschieden im Depressionsrisiko von Frauen und Männern übersetzt werden, sind jedoch weniger leicht zu untersuchen und darzustellen. Das vorliegende Buch stellt dar, dass Psyche, Kultur, Körper und Wissen miteinander interagieren, und dass sich in ihrem Zusammenspiel das Wissen über Geschlecht und Depression und die Bedingungen für eine »weibliche« und »männliche« Depression verändern. Sie spannen einen Bedeutungsraum auf, der symbolische Weiblichkeit und depressive Symptome miteinander verwebt. Ein solcher Bedeutungsraum findet sich für alle hier untersuchten Wissensfelder: 1. in der empirischen psychologischen Forschung und Klinik, 2. in der psychoanalytischen Theorie und Praxis und 3. in einer kulturhistorischen Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung der Depression und in der (Kultur-)Geschichte der Melancholie. In der Arbeit wurde gezeigt, welche Ergebnisse zum Zusammenhang von Depression und Geschlecht durch den jeweiligen disziplinären Zugriff sichtbar werden und welcher jeweils spezifische Geschlechtsbegriff diesem disziplinären Zugriff zugrunde liegt. Gezeigt

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wurde auch, wie sich diese disziplinären Wissensfelder ergänzen und wie die Beachtung der einen Disziplin die Erkenntnisse der anderen relativierten kann bzw. in einem neuen Zusammenhang erscheinen lässt. So werden spezifische Konstruktionen von Geschlecht und Depression sichtbar, die in einem disziplinären Zugriff alleine nicht in den Blick genommen werden können. Es wurde argumentiert, dass der Einbezug einer geschlechtertheoretischen Fragestellung die Dekonstruktion von Differenz und die Frage nach der Herstellung von Differenz überhaupt erst erlaubt. In dieser Perspektive werden implizite geschlechtliche Einschreibungsprozesse in den Depressionsdiskurs sichtbar. Eine solche Perspektive zeigt, wie im Depressionsdiskurs Wissen über Geschlecht verhandelt wird bzw. wie über die Kategorie Geschlecht der Depressionsdiskurs strukturiert wird. Diese Prozesse werden in der psychologischen Geschlechterforschung (Kapitel A) oder in psychoanalytischen Geschlechtertheorien (Kapitel B) kaum diskutiert und bleiben zumeist unmarkiert und unsichtbar. Inwiefern psychologische und psychoanalytische Theorien eine binäre Konstruktion von Geschlecht vornehmen bzw. inwiefern sie ein dichotomes Wissen über Geschlecht übernehmen, wird erst durch die Erweiterung der Perspektive der Fragestellung sichtbar. Relevant ist nicht nur, welche geschlechtsspezifischen Risikofaktoren mit der Geschlechterdifferenz einhergehen, sondern auch, wie die Differenzen hergestellt werden und wie sie in als depressiv diagnostizierten Personen wirken. Eine Herstellung von Differenz, die jenseits einer binären Gegenüberstellung von sozialem und körperlichem Geschlecht liegt, wird jedoch nur dann sichtbar, wenn Geschlechtlichkeit selbst als historische Wissenskategorie und als intergenerationaler Konstruktionsprozess verstanden wird, in dem Körper und Psyche zusammen geformt werden. So zeigt sich, dass dem Depressionsdiskurs ein geschlechtlicher Subtext zugrunde liegt, in dem Frauen eher expressiv und beziehungsorientiert sind und sich als Mädchen aufgrund der wahrgenommenen Geschlechtsgleichheit mit ihren Müttern identifizieren oder von diesen identifiziert werden. Dieser Subtext ist alles andere als eine theoretisch abstrakte Konstruktion. Vielmehr zeigt er eine Realität und Materialität von Mädchen und Frauen auf, die im Gegensatz zu Jungen und Männern bereits in der Aneignung ihrer Geschlechtsidentität mit anderen – früheren – Verlusten umgehen lernen müssen. So tradieren sich Verluste von Müttern besonders an ihre Töchter weiter, ohne dass gesellschaftliche Rituale zur Verfügung stünden, die diesen ersten Verlust

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sichtbar machen oder verarbeiten helfen. Mädchen und Jungen werden auf unterschiedlichen Seiten einer symbolischen Geschlechterordnung positioniert, die einen entsprechend unterschiedlichen Zugang zur Symbolisierbarkeit erlebter Verluste mitbestimmt: »In other words, once women and men have entered into the symbolic, a symbolic understood as dominated by a masculine cultural ideal, men and women find themselves in utterly different relations to the representation of loss.« (Schiesari 1992: 31).

2. D ISKUSSION

UND

R ESÜMEE

DER

K APITEL

Während eine psychologische Fragestellung Geschlecht und Depression vornehmlich »von außen« betrachtet, versucht eine psychoanalytische Fragestellung, die Kategorien Geschlecht und Depression stärker »von innen« heraus zu verstehen. Aus psychologischer Perspektive wurden in Kapitel A vor allem quantitative empirische Studien vorgestellt, die einen Ist-Zustand (z.B. ein Persönlichkeitsmerkmal Trait, oder kontextabhängig einen äußeren Belastungsfaktor) erfassen. Aus psychoanalytischer Perspektive wurde in Kapitel B dagegen eine genetische, dynamische Perspektive auf Depression und Geschlecht eingenommen. Die psychoanalytische Perspektive erlaubt einen präziseren, empathischeren Zugriff, in dem ein genaueres und individuelleres Verstehen möglich wird bzw. im Hegelschen Sinne »das Allgemeine im Besonderen« sichtbar wird. Sie kann jedoch auch wieder rückgebunden werden an eine äußere Realität in der soziale und ökonomische Faktoren mit inneren Faktoren interagieren. Im dritten Kapitel wurde schließlich die Kategorien Geschlecht und Depression aus einer kulturwissenschaftlichen Blickrichtung untersucht. Dort wurde die kulturelle Bedeutung von Geschlecht und Depression für Männer und Frauen unter der Perspektive geschlechtlich unterschiedlicher Strategien betrachtet und ihre historische Einbettung und Veränderlichkeit herausgearbeitet. Im Folgenden werden nun abschließend noch einmal die zentralen Argumente der drei Kapitel dargestellt und miteinander in Verbindung gebracht. 2.1 »Weibliche« und »männliche« Depression Im Kapitel A wurden geschlechtsspezifische Risikofaktoren der Depression von Frauen identifiziert, die mit gesellschaftlichen Emotions-

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normen und Vorstellungen symbolischer Weiblichkeit korrelieren. Eine interpersonale Beziehungsorientierung, das Verrichten von Care Work, bzw. das »Sorge-Tragen« in der Familie und Erfahrungen von Gewalt und Armut stehen besonders mit der Entstehung von Depressionen bei Frauen in Verbindung. Diese Risikofaktoren führen zum einen zu höheren Depressionsraten von Frauen und zum anderen begünstigen sie eine Unterdiagnose der Depression bei Männern. Den rollentheoretischen Untersuchungen zufolge weisen Männer eine erschwerte Identifikation mit Gefühlen der Schwäche, Abhängigkeit und Hilflosigkeit auf, die dazu führt, dass Männer psychische Krankheit bei sich und Anderen weniger wahrnehmen und benennen und auch weniger dazu bereit sind, aus diesem Grund Hilfe aufzusuchen. Auch von Seiten der KlinikerInnen existiert eine Tendenz, Frauen zu überdiagnostizieren und Männer zu unterdiagnostizieren. Gesundheitspolitische Interventionen wie die »Real-Man-Real-Depression«Kampagne oder die Diskussion um eine spezifische DSM-Kategorie der Männerdepression versuchen, die Depression vom »Stigma« der Weiblichkeit zu bereinigen und einem Bias in der Unterdiagnose männlicher Depressionen entgegen zu wirken. Identifiziert wird hier eine »covert depression«, die sich auf den ersten Blick eben nicht durch klassische »weibliche« Symptome wie Passivität, Trauer, Klagsamkeit und Hilflosigkeit auszeichnet, sondern die vor allem durch externalisierende Symptome wie Aggressivität, Alkoholkonsum und Impulsdurchbrüche auffällig wird. Die Frage ist jedoch, ob eine solche Männer-Depression sich nur in ihrer Form von der klassischen Depression unterscheidet oder ob es hier einen kategorialen Unterschied zur Frauendepression gibt. Festzuhalten ist, dass die kulturellen Geschlechtercodes und Emotionsnormen sich auswirken: auf den Ausdruck, den eine Depression bei Frauen und Männern annimmt sowie auf die Art und Weise, wie Depressionen von KlinikerInnen und WissenschaftlerInnen wahrgenommen oder eben auch nicht wahrgenommen werden. In Kapitel A wurde somit argumentiert, dass Frauen tatsächlich öfter an Depressionen erkranken als Männer, weil sie aufgrund einer häufigeren interpersonalen Ausrichtung einem höheren Stress- und Depressionsrisiko ausgesetzt sind. Gleichzeitig aber werden Depressionen bei Männern unterdiagnostiziert, weil Männer Depressivität mit vielfach anderen als mit den klassischen DSM-IV Symptomen ausdrücken.

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Unabhängig davon, ob von einem realen Überhang depressiver Störungen von Frauen ausgegangen wird oder ob die These einer erheblichen Unterdiagnose von Männern befürwortet wird, zeigt sich eine Binarität in der Depression, die sich in der binären psychologischen Konzeptualisierung der Geschlechterrollen spiegelt. Dass sich binäre Vorstellungen und Normen über Geschlechtlichkeit auf den Ausdruck, die Diagnose und die Entstehung von Depressionen auswirken, wurde in diesem Kapitel deutlich. Kritisiert wurde, dass die Frage, wie sich binäre Geschlechtercodes in die Körper und die Psyche der Depressiven einschreiben und wie diese Differenz individuell hergestellt wird, in den empirischen psychologischen Untersuchungen zu wenig gestellt wird. 2.2 Geschlecht, Verlust und Depression In Kapitel B wurde zunächst anhand psychoanalytischer Depressionstheorien untersucht, dass Männer und Frauen auch psychodynamisch und inhaltlich unterschiedliche Risiken für Depressionen aufweisen. Dabei wurde anhand von Freuds Aufsatz »Trauer und Melancholie« die Bedeutung von verinnerlichten Verlusten besonders hervorgehoben (Freud 1917). In Freuds Modell der Melancholie wird erstmals die Bedeutung der Objektverinnerlichung beschrieben. In dieser Arbeit wurde die Objektverinnerlichung sowohl auf die Frage nach der Entstehung von Depressivität als auch auf die Frage nach der Entstehung von Geschlechtlichkeit angewendet. So wurde herausgearbeitet, dass die Vorstellung eines verinnerlichten verlorenen Objekts ein zentrales Modell für das Verständnis von Geschlecht und Depression darstellt. Im Anschluss an Freud hat insbesondere Blatt die Vorstellung geschlechtlich differenzierter und entwicklungspsychologisch spezifischer Verluste auf zwei unterschiedliche Depressionstypen angewendet. Die von ihm identifizierten Dimensionen depressiven Erlebens lassen sich nach Geschlechtshäufigkeiten trennen und sind in eine Depression mit frühen Verlusten in der (Geschlechts-)Entwicklung und in eine Depression mit späteren Verlusten in der (Geschlechts-)Entwicklung unterschieden. Während Frauen häufiger anaklitisch depressiv werden und demnach öfter als Männer unter einer »Depression in Beziehung« leiden, scheinen Männer vor allem von der introjektiven Depression betroffen, die ein Scheitern an selbstgesetzten Zielen darstellt. Wie die Untersuchungen von Blatt jedoch auch zeigen, weisen Frauen

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ein ebenso hohes Risiko wie Männer für diese selbstkritische, introjektive Depressionsform auf (Blatt 2004). Frauen erleben Depressionen, parallel zur gesellschaftlichen Doppelbelastung, sowohl in einer abhängigen als auch in einer selbstkritischen Dimension. Männer fühlen sich vor allem für den Bereich der gesellschaftlichen Produktion zuständig, sie erkranken mit höherer Wahrscheinlichkeit an Konflikten, die mit diesem Bereich einhergehen. Frauen hingegen fühlen sich im Sinne einer inneren doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 2003) sowohl für die Produktion als auch für die Reproduktion zuständig – und dieser Umstand spiegelt sich in dem doppelten Depressionsrisiko wieder. Das doppelte Risiko lässt sich jedoch nicht nur soziologisch mit einer doppelten Diskriminierung von Frauen beschreiben, sondern auch mit einer unterschiedlichen Entwicklung von Mädchen und Jungen in der Familie und mit spezifisch weiblichen und männlichen Prozessen der Geschlechtsaneignung. Bezüglich dieser Fragestellung wurde stärker nach der Herstellung von Differenz und nach der Aneignung von Geschlechtlichkeit gefragt als im empirisch orientierten Psychologiekapitel. Es wurden psychodynamische Modelle vorgestellt, die für Mädchen eine andere Entwicklung mit früheren Verlusten beschreiben als für Jungen, die in Zusammenhang mit ihrer Geschlechtsaneignung spätere Verluste erleben. Mädchen verlieren, anders als Jungen, die erste Liebe zu ihrem gleichgeschlechtlichen Liebesobjekt der Mutter früher. Zwar verlieren sowohl Jungen als auch Mädchen die Liebe zum ersten gleichgeschlechtlichen Liebesobjekt, bei den Mädchen ist dies jedoch die gleichgeschlechtliche Liebe zur primären Bezugsperson der Mutter, die sie früher verlieren, als bei Jungen, die aufgrund eines ödipalen späteren Tabus das Begehren nach dem Vater aufgeben. Verschiedene analytische Theorien (vgl. Kristeva 1987, Irigaray 1980, Quindeau 2004, Jay 2007) gehen dabei von einer besonderen melancholischen Entwicklung des Mädchens aus, die es anders als den Jungen vielleicht für spätere Depressionen besonders verletzlich macht. Hinzu kommt, dass die Beziehung zwischen Mutter und Tochter möglicherweise öfter als ambivalent und konflikthaft erlebt wird, weil kein Geschlechtsunterschied das Mädchen von der Mutter trennt und weil die kulturelleren Ideale und Vorstellungen über Mutterschaft es der Mutter besonders schwer machen, ein eigenes »Wünschen und Wollen« durchzusetzen oder zu identifizieren, was sie von ihrem Kind abgrenzen könnte.

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In Kapitel B wurde gezeigt, dass diese frühen Verluste von Mädchen weniger symbolisierbar, weniger der Sprache zugänglich sind, da sie vor einer bereits vollzogenen Subjekt-Objekt Trennung liegen. Sie können aufgrund der fehlenden Symbolisierung weniger einer bewussten Trauerarbeit zugänglich gemacht werden, da sie unbetrauerbare Verluste darstellen, die folglich nicht anders als melancholisch verarbeitet werden können. Wie Butler zeigt, erleben sowohl Jungen als auch Mädchen einen Verlust des gleichgeschlechtlichen Elternteils, das Mädchen aber eben früher als der Junge. Das Mädchen erlebt einen doppelten Verlust, den des ersten homoerotischen Liebesobjekts und den der heterosexuellen Identifizierung zu einem früheren Zeitpunkt als der Junge, der mit dem Verlust des homosexuellen Liebesobjekts auch in den meisten Fällen eben nicht das Begehren nach seinem ersten primären Liebesobjekt verliert. In einer Gesellschaft, in der es vor allem die Mütter sind, die »muttern« (Chodorow 1978) erlebt der heterosexuelle Junge den Verlust des homoerotischen Begehrens zum Vater auf der Ebene der Über-Ich Entwicklung also weitaus später, während sein präödipales Begehren anders als das des Mädchens weniger tabuisiert ist. Seine späteren Verluste, die mit der Phase der Über-Ich Bildung einhergehen, können hingegen in einem überaus strengen und strafenden Über-Ich resultieren und machen Jungen vermutlich auch daher stärker für die introjektive Depression verletzlich und schützen ihn zugleich vor einer anaklitischen Entwicklung. Die psychologische Theorie der »Männer-« und »Frauen-Depression« (Möller-Leimkühler 2006) ist durchaus mit psychodynamischen Konzeptualisierungen von zwei Depressionstypen vereinbar, die zwei unterschiedliche Formen charakterisieren, mit Verlusten umzugehen. Zentral ist dabei, dass Frauen öfter frühere Verluste erleben, die melancholisch verarbeitet werden und die sie für eine spätere Depression empfänglicher machen. Wie in Kapitel A ist hier also folgende Zusammenfassung denkbar: Es gibt geschlechtsspezifische Depressionsformen und einen geschlechtsspezifischen Ausdruck von Depressionen sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Es erscheint als wahrscheinlich, dass Frauen aufgrund der Dynamik in der Familie ein höheres Risiko für Depressionen aufweisen, da sie aufgrund der Gleichheit mit dem primären Liebesobjekt eine frühere Prädispositionierung für Depressionen erfahren als Männer. Dass dieses erhöhte Risiko nicht allein über familiäre inner-psychische Prozesse, sondern auch kulturell vermittelt und verstärkt wird, wurde ebenso diskutiert. So zeigt sich

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die Verbindung zwischen der Depression und dem psychodynamischen Risiko des doppelten Verlustes, auch als eine gesellschaftliche Verknüpfung einer doppelten Vergesellschaftung von Frauen. Aus psychoanalytischer Sicht wurde gezeigt, wie eine interpersonale Rollenorientierung von Frauen und eine instrumentelle Orientierung von Männern mit den Identifikationsprozessen von Müttern und Töchtern sowie Vätern und Söhnen zusammenhängen. Diese sind dabei jedoch mit Laplanche nicht nur wie bei Chodorow als eine Identifizierung mit z.B. der Mutter zu denken, sondern vor allem als ein identifiziert werden durch die Mutter bzw. als eine geschlechtliche Anrufung durch die Kultur. Die Herstellung von Geschlechtlichkeit und Geschlechtsrollenorientierung bei Mädchen und Jungen wird als eine rätselhafte Botschaft gedacht, die hauptsächlich unbewusst von dem erwachsenen Umfeld des Kindes in es hinein gebracht wird und die dort den Prozess der Identifizierung überhaupt erst anstößt. Im Sinne Maihofers wäre dies das erste Konstitutionsmoment der Geschlechtlichkeit, das zunächst weitgehend unabhängig von biologischer Gleichheit oder Ungleichheit gedacht werden kann. Im folgenden Modell ist noch einmal dargestellt, wie im psychoanalytischen Kapitel Binarität, im Sinne von Differenz und Gleichheit, mit der Depressionsentstehung in Verbindung gebracht wird: Abbildung 10: Psychodynamisches Modell von Geschlecht und Depression

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Für »Bezogenheit/Weiblichkeit« finden sich die diskutierten Assoziationen: eine Verbindung zwischen dem frühen Pol der Abhängigkeit vom Objekt und Oralität zur frühen (symbiotischen – präödipalen) Mutterbeziehung, die für das Mädchen aufgrund der wahrgenommenen »Gleichheit« mit dem »ersten Liebesobjekt« der Mutter, oftmals stärkere Ausprägungen auf der Bezogenheitsdimension nach sich zieht. Die Dimension der Bezogenheit ist wiederum assoziiert mit anaklitischer Depression, die durch Verluste in Beziehungen ausgelöst wird. Für »Selbstkritik/Männlichkeit« finden sich männlich kodierte Verbindungen zu Autonomie und Instrumentalität, zur in der Entwicklung des Kindes später stattfindenden Über-Ich Entwicklung und zur symbolischen Bedeutung des Vaters für die Individuation des Kindes; für Jungen ist diese Entwicklung gekennzeichnet durch eine wahrgenommene Differenz zum ersten Liebesobjekt, der Mutter. Eine starke Ausprägung auf der Dimension Selbstkritik ist wiederum assoziiert mit einer introjektiven Depression, z.B. in Folge eines Scheiterns an einem zentralen Ziel (Selbstwertverlust). Die eingezeichnete Verbindungslinie zwischen den beiden Dimensionen markiert die Annahme einer doppelten Verletzlichkeit von Frauen für beide Depressionstypen und die Überlegung, ob eine erworbene Bruchstelle bzw. Fixierung im Bereich dieser Entwicklung nicht auch ein größeres Risiko für eine schwierige Entwicklung der späteren Prozesse darstellt.1

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In diesem Zusammenhang ließe sich weiter überlegen, ob der dritte Faktor der im DEQ erhoben wird – die Dimension »Selbstwirksamkeit« – den positiven Aspekten (Mplus) des Geschlechtsrollenkonzeptes der Instrumentalität, »Agency« entspricht, während »Selbstkritik« besonders die negativen sozial unerwünschten Aspekte (Mminus) betont. Um diese Überlegung zu überprüfen bräuchte es eine faktorenanalytische oder varianzanalytische Betrachtung des DEQ und GEPAQ in einer größeren Stichprobe gesunder und depressiver Personen. Eine solche Überprüfung des Zusammenhangs zwischen den inhaltlichen Dimensionen des DEQ und des GEPAQ war in dieser Arbeit ursprünglich angedacht, wurde aber aufgrund von Schwierigkeiten bei der Erhebung großer klinischer Stichproben wieder verworfen. Auf diesem Wege ließe sich jedoch auch der Frage weiter nachgehen, warum Frauen ein höheres Risiko für anaklitische Depressionen aufweisen als Männer, aber ein ebenso hohes Risiko für introjektive Depressionen zeigen. Gemäß den Annahmen dieses Kapitels ließe sich vermuten, dass Feminität, unabhängig vom »biologischen Geschlecht«,

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Festzuhalten ist, dass die psychodynamische Aneignung der Geschlechtsidentität nicht außerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs stattfindet, sondern vielmehr auch das Abbild einer gesellschaftlichen Struktur darstellt, in der Mütter »muttern« und Väter den Zugang zur Sprache und die Verortung in der Kultur symbolisieren. Wie die Ausführungen in Kapitel A zeigen, erlebt das Mädchen nicht nur innerhalb der Familiendynamik frühere – unbetrauerbare – Verluste, sondern es wird auch gesellschaftlich in eine Geschlechterordnung hineinsozialisiert, in der es nach wie vor stärkeren gesellschaftlichen Ein- und Beschränkungen ausgesetzt ist als der Junge. Kapitel B knüpft somit an die binären Linien der geschlechtsspezifischen Risikofaktoren aus Kapitel A an, erweitert die Perspektive jedoch um innerpsychische Faktoren und um eine weniger binäre, dichotom organisierte Fragestellung nach der Herstellung von Geschlecht und nach den ersten Konstitutionsmomenten heterosexueller Geschlechtsidentität. 2.3 »Männliche« Melancholie und »weibliche« Depression Auch in Kapitel C wurden zwei »vergeschlechtlichte« Linien identifiziert, die mit einer männlichen und einer weiblichen Depression korrelieren. Zum einen wurde diskutiert, dass die Depression für Frauen ein Scheitern an weiblichen Generativitätsnormen bedeutet bzw. ähnlich der Hysterie (vgl. von Braun 1985) eine Verweigerung durch »Überzeichnung« darstellt. Eine milde Depression oder milde Züge von Depressivität überschreiten bei Frauen nicht die Toleranzgrenzen symbolischer Weiblichkeit. Eine klinische Depression entsteht zwar konform mit Weiblichkeitsvorstellungen in einer Beziehung, sie repräsentiert aber auch eine (narzisstische) Verweigerung von Emotionsnormen wie Kontakt, Beziehung und Fürsorge. Bereits Freud (1917) hat beschrieben, dass depressive Personen libidinöse Objektbesetzungen in Form einer narzisstischen Identifizierung in ihr Ich hinein verlagern. Dort bleibt die Libido an das nun verinnerlichte Objekt gebunden und kann

hoch mit Werten in der anaklitischen Dimension korreliert, während Instrumentalität in positiver Ausprägung (Mplus) hoch mit Selbstwirksamkeit korreliert und in negativer Ausprägung (Mminus), ebenso wie hohe Feminität (Fplus und Fminus) mit erhöhter Selbstkritik. Eine solche Überprüfung wäre für zukünftige Forschungsschritte durchaus interessant.

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nicht frei werden für neue libidinöse Verknüpfungen im Außen. Dies bedeutet nicht, dass Frauen absichtlich depressiv würden, um ihrem Schicksal als Frauen zu entgehen. Die Depression stellt vielmehr ein Scheitern an traditionellen Weiblichkeitsnormen dar, das für Frauen aber auch eine Rückzugsmöglichkeit oder einen gesellschaftlich legitimierten Schutzraum darstellen kann. Das paradoxe Phänomen, dass die Depression in der melancholischen Identifizierung einerseits die Beziehung zum Objekt schützt, in dem sie es in das Ich hineinverlagert und dort aufrechterhält, aber auch gleichzeitig jegliche libidinöse Energie von den realen Beziehungen im Außen abzieht, findet eine Entsprechung in dieser Form der weiblichen Verweigerung. Die weibliche Depression entsteht in Beziehung und stellt gleichzeitig die Verweigerung von Beziehung dar. Das folgende Modell illustriert noch einmal die konzeptuelle Ähnlichkeit zwischen Weiblichkeit und Depressivität, wie sie in der Arbeit diskutiert wurde. Dabei verläuft die zunehmende Depressivität parallel einer Linie zunehmender Weiblichkeit, wobei eine ausgeprägte Depressivität jedoch nicht mehr den Weiblichkeitsnormen entspricht, sondern eine Verweigerung von Weiblichkeitsnormen darstellt: Abbildung 11: Modell der Parallelität von Geschlechternormen und Depression

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Ein solches Modell des gemeinsamen Bedeutungsraumes zwischen Depression und Geschlecht, in dem eine milde Depression den Merkmalen symbolischer Weiblichkeit entspricht, während eine klinische mittlere bis schwere Depression ein Scheitern an Weiblichkeitsnormen darstellt, wurde auch für die Darstellung von Antidepressivawerbung in Fachzeitschriften festgestellt. Die Antidepressivawerbung bedient seit den 1950er Jahren stereotype Vorstellungen über Weiblichkeit und Generativität, in dem sie – trotz sich wandelnder Vorstellungen von Weiblichkeit – Frauen in den Anzeigen in einem anderen Kontext darstellt als Männer. Frauen werden nach wie vor besonders im Bereich der Reproduktion verortet oder im Zwiespalt der doppelten Belastung zwischen Reproduktion und Karriere, während Männer vor allem im instrumentellen Bereich der Produktion und Erwerbsarbeit dargestellt werden. Wie es Scharper-Winkel (2007) im Hinblick auf Fukuyamas Beitrag zum Psychopharmakadiskurs diskutiert hat, transzendieren Psychopharmaka wie Prozac oder Ritalin nicht die Geschlechtergrenzen, vielmehr verhelfen sie Frauen und Männern dazu, sich innerhalb der eng umfassten neoliberalen Toleranzgrenzen von symbolischer Weiblichkeit und symbolischer Männlichkeit erfolgreich zu bewegen. Der Diskurs um Antidepressiva, der ein Spezialgebiet des Depressionsdiskurses darstellt, rekurriert explizit auf traditionelle Geschlechternormen und bestärkt sie. Dabei bringt er eben die Normierungen hervor, die Weiblichkeit und Depression in eins fallen lassen, während Männlichkeit in Abgrenzung zur Depression gefasst wird. Für einen bestimmten Ausdruck depressiver Männlichkeit wurde die Depression als Form der Ermächtigungsstrategie diskutiert. Durch eine melancholische Männlichkeit lassen sich die starren Grenzen symbolischer Männlichkeit umgehen. »Weibliche« Emotionen können ausgedrückt und dargestellt werden, ohne dass eine männliche Position verlassen werden muss. Traditionelle Männlichkeit gerät heute zunehmend in eine Krise. Männliche Melancholie stellt eine Möglichkeit dar, diese krisenhafte Männlichkeit auszudrücken ohne auf ihre Privilegien zu verzichten (vgl. Forster 1998). Gleichzeitig zeigen Untersuchungen aus Kapitel A jedoch, dass viele Männer klinische Depressionssymptome durchaus als ein Stigma erleben. Wie psychologische Studien zu Geschlechtsrollenorientierung und Depression nahelegen, verunsichert eine Depression besonders die Geschlechtsidentität und die Normorientierung von Männern (vgl. Berger 2007). Forsters These einer unmännlich-männlichen Ermächtigung entspricht demnach we-

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niger einer klinischen Symptomatik, als vielmehr einer kulturgeschichtlichen Tradition der Melancholie. Auch in der Kulturgeschichte der Depression findet sich eine binäre Struktur, die zwar nicht ungebrochen, doch aber historisch nachvollziehbar für Männer und Frauen einen anderen MelancholieDiskurs bereitstellt. Während für melancholische Männer die Melancholie ein gewisses »Mehr« bereithält, das im Geniediskurs mit Kreativität, besonderer Gabe und intellektueller Größe gleichgesetzt wird, enthält die (profane, ritualisierte) Trauer der depressiven Frau in der Geschichte keinen Namen und keinen Zugang zur Kultur. Dass ausgerechnet die Theorie Hildegard von Bingens eine Ausnahme von der Erzählung melancholisch männlicher Größe darstellt, mag auch am Geschlecht der Autorin liegen. Schließlich ist von Bingen bis zum Mittelalter und lange danach die einzig berühmte »weibliche Stimme« im Kanon der Melancholieliteratur (vgl. Schiesari 1992). In Kapitel C wird die Bedeutung des Verlustes für Geschlecht und Melancholie erneut sichtbar. Auch in der Melancholiegeschichte erscheint der männliche Verlust als symbolisierbar, während der weibliche unsymbolisierbar bleibt. Der männliche Verlust kann dargestellt und symbolisiert werden. Ein Zugang zu Sprache ist ihm möglich, der weibliche wird dagegen verkörpert durch trauernde Frauen; er ist kein Sonderzustand, sondern Normalität; er ist nicht symbolisierbar, sondern wird psycho-somatisch inkorporiert. Depressivität schreibt sich in weibliche Körper ein. Zum einen zeigt diese aus der Kulturgeschichte der Melancholie entwickelte These (vgl. Schiesari 1992), dass Männer und Frauen historisch einen anderen Zugang zu Kultur hatten bzw. im Falle des weiblichen Verlustes eben nicht haben. Anschließend an die Überlegungen in Kapitel B ließe sich fragen, ob eine weibliche Unmöglichkeit, Verlust zu symbolisieren, nicht mit der Form der weiblichen Geschlechtsaneignung zusammenfällt, in der vor allem die Mädchen frühere und unbetrauerbare Verluste erleben. Daran schließt auch die Frage an, inwiefern der fehlende Zugang zu einer Sprache und einer Politik des Verlustes von Frauen gesellschaftlich und historisch bedingt ist und inwieweit er – etwa durch ein psychoanalytisches Verstehen – veränderbar ist. Abschließend wurde überlegt, ob die Depression von heute vom kreativen Überschuss der Melancholie bereinigt ist und ob nicht auch damit erstmals die Karriere der Depression als Frauenkrankheit beginnt. Die Depressive von heute erfährt wohl kaum eine Ermächtigung

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und einen kulturellen Zugang über ihre Krankheit, vielmehr ist der Depression selbst die Sinnhaftigkeit und die Utopie abhanden gekommen, die mit der Melancholie noch eng verflochten war. Die Depression als behandelbare Krankheit wiederum wird durch den weiblichen Körper verkörpert. Während die weibliche Engelfigur bei Dürer noch eine symbolische – körper- und geschlechtslose – Allegorie auf das melancholische männliche Genie darstellt, wird die Depression heute von realen Frauen verkörpert. Aus geschlechtstheoretischer Perspektive zeigt sich, dass die binären Codes sich in die Depressiven und in die depressive Krankheit einschreiben, dass sie dabei jedoch nicht universell und homogen sind, sondern dass sie historisch ihr Gewand und ihr Geschlecht wechseln können. Ähnlich wie aus ehemaligen Männerberufen Frauenberufe werden können, z.B. in der Wandlung vom Sekretär zur Sekretärin, so können auch Krankheiten ihr Geschlecht wechseln: Aus der männlichen Melancholie von früher wird die weibliche Depressive von heute. Mit dem Geschlechterwechsel geht – parallel zur finanziellen und gesellschaftlichen Entwertung der männlichen Berufe, wenn sie in weibliche übergehen – eine Umwertung und Entwertung der Depression einher. Verloren gegangen ist dabei wohl nicht nur das »Mehr«, das die Melancholie beinhalten kann, sondern auch die Bedeutung alltäglicher Trauerrituale, die traditionell oftmals von Frauen durchgeführt wurden. Ob der Verlust der männlichen Bedeutung der Melancholie mit einem gleichzeitigen Verlust von weiblichen Trauerritualen im Alltag einhergeht, ist demnach eine weiterführende Forschungsfrage. Jedenfalls scheint es so, als existiere in der zeitgenössischen Gesellschaft sowohl wenig anerkannter Raum für die Trauer als auch für die Kreativität.

3. F AZIT UND AUSBLICK : E INE GESCHLECHTS - SENSITIVE T HEORIE DER D EPRESSION Doppelt so viele Frauen wie Männer werden gegenwärtig depressiv, auch wenn Männer in den Statistiken zunehmend aufschließen. Der Prototyp der Depression ist jedoch nach wie vor die Frau – Frauen verkörpern das depressive Geschlecht. Das Geschlecht der Depression erscheint weiblich. Die drei Kapitel dieser Arbeit enthalten Hinweise

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auf einen gemeinsam konstruierten Bedeutungsraum von Depression und symbolischer Weiblichkeit, der sowohl auf gesellschaftlicher, historischer wie auch auf individueller Ebene seine Entsprechung findet. Sichtbar wurde, dass dieser Raum gesellschaftlich und individuell hergestellt und immer wieder neu produziert wird, dass er kulturell und historisch aber auch mit durchaus wandelbaren Bedeutungen versehen wird. Eine Gemeinsamkeit zwischen der Geschlechtsidentität und der Depression scheint vor allem darin zu bestehen, dass beide unter dem »Primat des Anderen« (vgl. Quindeau 2008) entstehen. Die Geschlechtlichkeit – d.h. die Geschlechtsidentität und der wahrgenommene Geschlechtskörper werden in der Beziehung zu den frühen Bezugspersonen vermittelt. Die psychosexuelle Entwicklung entsteht in der psychischen wie körperlichen Interaktion mit den primären Bezugspersonen. Konstitutiv für die psychische Entwicklung des Kindes ist dabei nach Laplanche vor allem das enigmatische Unbewusste des Erwachsenen. Die Sexualität und Geschlechtlichkeit des Kindes konstituiert sich über die unbewusste Kommunikation der Sexualität des Anderen, die das Kind noch nicht begreift. Aber auch die Depression entsteht nach Freud in einer (ambivalenten) Beziehung. Ob eine Person für spätere Depressionen gefährdet ist, hängt von vielen sogenannten bio-psycho-sozialen Faktoren ab – aber in den hier diskutierten psychoanalytischen Theorien entsteht das Depressionsrisiko stets in Beziehung zur Interaktion mit den wichtigen Objekten der ersten Lebensjahre. Das psychoanalytische Modell zeigt dabei, dass biologische, psychische und soziale Faktoren nicht unabhängig oder nebeneinander bestehen, sondern dass sie sich gegenseitig konstituieren, und immer in der Interaktion – unter dem »Primat des Anderen« hervorgebracht werden (vgl. Quindeau 2008). Eine klinisch bedeutsame Irritation in diesen frühen Beziehungen hat – in Abhängigkeit vom lebensgeschichtlichen Zeitpunkt der Irritation – Folgen für den Inhalt und Ausdruck einer späteren Depression. Hier zeigt sich eine Interaktion mit der Geschlechtsentwicklung von Jungen und Mädchen, in der Mädchen früher »verlieren« als Jungen und in der Mädchen mit dem primären Objekt Mutter aufgrund der wahrgenommenen Geschlechtsgleichheit von Anfang an eine ambivalente und melancholisch eingefärbte Beziehung aufweisen. In Hinblick auf die theoretische Auseinandersetzung dieser Arbeit lässt sich schlussfolgern, dass der Zusammenhang von Depression und Geschlecht über

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einen (unbetrauerbaren) Verlust von Beziehung vermittelt wird, der mit der Aneignung der Geschlechtsidentität von Junge und Mädchen unterschiedlich beginnt. Wie das Primat des Anderen wiederum mit gesellschaftlichen Bedeutungsräumen interagiert, in denen Depression und Weiblichkeit weiter miteinander verknüpft werden, ist weiter zu untersuchen. Wie die Transferprozesse zwischen einem individuellen Unbewussten und gesellschaftlicher Wissensproduktion verlaufen, ist dabei eine weitere spannende Forschungsfrage. Letztlich zeigt sich in dieser Arbeit, wie schwer es ist, die Depression als eine kategorische Einheit zu bestimmen. Einfach lässt sich ein Geschlecht der Depression jedenfalls nicht bestimmen. Offen bleibt die Frage, ob von einem Geschlecht der Depression gesprochen werden kann, oder in Hinblick auf eine spezifische Männer- und Frauendepression nicht eher – entlang den dichotomen Geschlechternormen – von zwei Geschlechtern der Depression gesprochen werden muss. In dieser Arbeit wurden viele Geschlechter der Depression identifiziert: eine weibliche Depression und eine männliche (Kapitel A und B) sowie eine un-männliche männliche Melancholie (Kapitel C), die weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich ist. Das Anliegen dieser Arbeit war es, zu zeigen, dass Depression und Weiblichkeit zwar miteinander korrelieren, dass dieser Zusammenhang jedoch mehrfach überdeterminiert ist und auf vielen Ebenen hergestellt wird. Der Bedeutungsraum Geschlecht und Depression ist dabei nichts Äußerliches, dem Menschen »von Außen« zugemutetes, sondern er entsteht sowohl gesellschaftlich wie auch psychodynamisch und somatisch »von Innen« heraus, vor allem aber entsteht er in Interaktion mit dem (individuellen und gesellschaftlichen) Anderen. Zusammenhänge lassen sich dabei nicht nur für Weiblichkeit und Depression, sondern auch für Männlichkeit und Depression herstellen; und dies sowohl auf der Ebene geschlechtsspezifischer Risikofaktoren als auch auf der Ebene der Herstellung von Geschlechtlichkeit selbst. Diskutiert wurde nicht nur der spezifische geschlechtliche Zusammenhang zwischen Depression und Geschlecht, sondern auch sein Herstellungsprozess. Dabei ist – wie das Geschlecht – keine Depression wie die andere. Die Wissenskategorie Geschlecht strukturiert nicht nur gesellschaftliches und wissenschaftliches Wissen über Depression, sie schreibt sich auch ein in die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern. Sie existiert nicht nur auf einer theoretischen Ebene, sondern

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wird durch die Geschlechter verkörpert. Eine interdisziplinäre Perspektive auf den Zusammenhang von Geschlecht und Depression bietet sich daher an. Die Arbeit hat demnach zwei Fragestellungen verfolgt: Erstens die Frage des Ein- und Ausschluss sowie der Einschreibungen geschlechtlicher Kategorien in die Produktion disziplinären Wissens über Depressionen und zweitens, die Frage nach der Übersetzung des geschlechtlichen Subtextes in die als Männer und Frauen sozialisierten Wissenskörper. Besonders die Frage der Vermittlung zwischen Wissen und Körper, zwischen gesellschaftlicher Bedeutung und individueller Psyche bzw. individueller depressiver Störung, kann hier nur aus dem historischen Zusammenhang heraus verstanden werden. In Bezug auf die zweite Fragestellung zur Vermittlung oder den Transferprozessen wäre eine hermeneutische oder Diskursanalyse von Interviews mit depressiven Frauen und Männern aufschlussreich. Für zukünftige Forschungsprojekte stellt sich die Frage, ob und wie die hier herausgearbeiteten diskursiven Bedeutungsräume und psychodynamischen Konzeptualisierungen von depressiven PatientInnen selbst explizit oder implizit thematisiert werden. Auch eine ExpertInnenbefragung von TherapeutInnen, die mit depressiven PatientInnen arbeiten, wäre hier denkbar. Welche Konzepte und Vorstellungen über Depression und Geschlecht haben die klinischen ExpertInnen und (wie) vermitteln sie dieses Wissen in ihrer therapeutischen Praxis? Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass geschlechtliche Codes das Wissen über Depressionen mitstrukturieren und dass sich dieses Wissen in vielfältiger Ausprägung auf die Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie depressiver Störungen auswirkt. Durch einen historischen, interdisziplinären Blick sowohl auf die geschlechtlichen Differenzen als auch auf die Herstellung eben jener Differenzen wird ein Verständnis der Konstruktions-, Transfer-, und Einschreibungsprozesse von Geschlecht und Depression als Wissenskategorien möglich. Die Depression entsteht innerhalb einer symbolischen Geschlechterordnung, die Männern und Frauen unterschiedliche Positionen gegenüber der Depression zuweist. Eine klinische Depression stört die Geschlechterordnung. Sie ist sowohl ein Ausdruck als auch eine Störung von geschlechtlichen Normen. Das Wissen um ein Geschlecht der Depression und um geschlechtliche Strategien, die mit »weiblicher« und »männlicher« Depression einhergehen, ist daher für eine geschlechter- und differenzsensitive Depressionstheorie sehr bedeutsam. Die Depression und die Geschlechtsaneignung sind in einem ge-

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sellschaftlichen Raum situiert, in dem die enge Verknüpfung von Depression und Weiblichkeit einer androzentristischen Normierung folgt. Eine Anschlussfrage ist, wie psychisches Leid in einer Gesellschaft strukturiert wäre, die Geschlecht anders (oder nicht) hierarchisiert. Wie sich die inter- und transdisziplinären Faktoren und die historischen Prozesse, die ihnen zugrunde liegen, in ein klinisches Depressionskonzept oder gar in eine therapeutische Praxis übersetzen lassen, bleibt offen. Verluste von Frauen und Verluste von Männern erhalten gesellschaftlich und psychodynamisch eine unterschiedliche Bedeutung, in dem männliche Verluste symbolisierbar und ermächtigend sein können, während weibliche Verluste sprachlos und passiv im weiblichen Körper verleiblicht bleiben und weniger gesellschaftliche Wahrnehmung oder Anerkennung erhalten. Mit Green könnte man sagen, dass die unbetrauerten, unsymbolisierten Verluste »kannibalistisch konserviert« werden, oder mit Torok und Abraham ließen sie sich als Krypten in der Psyche betrachten. Eine psychodynamische Betrachtung der Depression kann sowohl in einer klinischen als auch in einer gesellschaftlichen Perspektive an diesem Punkt ansetzen, um diese frühen archaischen körpernahen Phantasien über Weiblichkeit für Männer und Frauen symbolisierbar zu machen und ihnen einen Zugang zur Sprache und Kultur ermöglichen.

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Gender Studies Ingrid Biermann Von Differenz zu Gleichheit Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert 2009, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1224-0

Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.) Feministische Mädchenarbeit weiterdenken Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1383-4

Cordula Dittmer Gender Trouble in der Bundeswehr Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen 2009, 286 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1298-1

Ute Luise Fischer Anerkennung, Integration und Geschlecht Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1207-3

Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.) Emotionen in Geschlechterverhältnissen Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel

Doris Leibetseder Queere Tracks Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik 2010, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1193-9

Gerlinde Mauerer (Hg.) Frauengesundheit in Theorie und Praxis Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften 2010, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1461-9

Hanna Meissner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx 2010, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0

Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten 2010, 438 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2

Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung 2010, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9

2009, 184 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1210-3

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