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German Pages 172 [176] Year 1993
Table of contents :
Geleitwort
Vorwort
Ausstellungskünstler. Zu einer Geschichte des modernen Künstlers
„...eine Art Ikonographie im Bilde.“ Joseph Beuys - Von der Kunstfigur zur Kultfigur?
Warhols Tausch der Identitäten
Andy Warhol „Mao“ - Joseph Beuys „Ausfegen“ Zwei Arbeiten aus dem Jahr 1972
Joseph Beuys. Beuys-Block Raum 7 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt: Installation eines Selbstporträts
Zum Begriff der Ästhetik im Werk von Joseph Beuys
Immer wieder unpolitisches Künstlertum?
Personenregister
Abbildungsnachweis
Kultfigur und Mythenbildung
Kultfigur und Mythenbildung Das Bild vom Künstler und sein Werk in der zeitgenössischen Kunst
Herausgegeben von Michael Groblewski und Oskar Bätschmann Mit Beiträgen von Oskar Bätschmann, Matthias Bleyl, Antje von Graevenitz Michael Groblewski, Hans-Ernst Mittig, Sigrun Paas und Hans-Werner Schmidt
Akademie Verlag
Veröffentlicht mit Unterstützung der Hessischen Kulturstiftung
Titelbild: Andy Warhol, Diamond Dust Joseph Beuys, 1980
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme: Kultfigur und Mythenbildung : das Bild vom Künstler und sein Werk in der zeitgenössischen Kunst / hrsg. von Michael Groblewski und Oskar Bätschmann. Mit Beitr. von Oskar Bätschmann . . . - Berlin : Akad.-Verl., 1993 ISBN 3-05-002368-6 NE: Groblewski, Michael [Hrsg.]; Bätschmann, Oskar
© Akademie Verlag GmbH, Berlin (1993) Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gedruckt auf säurefreiem und chlorarm gebleichtem Papier Herstellerische Betreuung: Claudia Grössl Satz: HagedornSatz, D-68519 Viernheim Druck: Colordruck, D-69181 Leimen Bindung: J. Schäffer, D-67269 Grünstadt Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Geleitwort Vorwort
VII IX
Oskar Bätschmann Ausstellungskünstler
1
Zu einer Geschichte des modernen Künstlers
Michael Groblewski „ . . . eine Art Ikonographie im Bilde."
37
Joseph Beuys - Von der Kunstfigur zur Kultfigur?
Antje von Graevenitz Warhols Tausch der Identitäten
69
Hans-Werner Schmidt Andy Warhol „Mao" - Joseph Beuys „Ausfegen"
93
Zwei Arbeiten aus dem Jahr 1972
Sigrun Paas Joseph Beuys
115
Beuys-Block Raum 7 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt: Installation eines Selbstporträts
Matthias Bleyl Zum Begriff der Ästhetik im Werk von Joseph Beuys Hans-Ernst
Mittig
Immer wieder unpolitisches Künstlertum? Personenregister
157
Abbildungsnachweis
163
149
Geleitwort
Die Beiträge, die Michael Groblewski hier vereint hat1, machen deutlich, daß der aus der kollektiven Bildfindung entlassene Künstler zu einer Form von Öffentlichkeit finden mußte, die ihn als Garant seiner selbst und indirekt des kollektiven Bewußtseins kennzeichnet. Dieser Weg ist unumkehrbar und hat heute zu einer Art babylonischer Verwirrung geführt, die allzuleicht mit Beliebtheit apostrophiert wird. Oskar Bätschmann bietet einen souveränen Einstieg in das komplexe Thema, das in der Folge die spezifische Auseinandersetzung mit den prototypischen Kultfiguren Beuys und Warhol erst eigentlich ins rechte Licht rückt. Vor allem wird deutlich, daß sich die Wirkungsgeschichte des „oberflächlichen" Warhol von jener des „tiefgründigen" Beuys kaum unterscheidet. In beiden Fällen ist sie unabsehbar. Weshalb hat Beuys Warhol besonders geschätzt? Ich denke, weil Warhol so radikal wie Beuys selbst war. Während Warhol vorbehaltlos die ökonomischen Kriterien und Prinzipien einer sich entfaltenden Konsum- und Mediengesellschaft in sein Werk - als dessen Struktur - integrierte, löste sich Beuys von der Permissivität einer solchen Entwicklung und setzte dieser die „soziale Plastik" entgegen. Dem Diktum von Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler" entsprach jenes von Warhol: „In Zukunft wird jeder Mensch für fünfzehn Minuten weltberühmt sein". Noch nie, so scheint mir, gründeten so gegensätzliche Entwürfe von vergleichbarer Intensität auf derart verschiedenen kulturellen Vorausset-
zungen. Beuys und Warhol haben die Gegensätze „Amerika - Europa" in einem Höchstmaß verkörpert. Daraus entstand zwischen den beiden Künstlern eine produktive, auf gegenseitigem Respekt beruhende Freundschaft. Beuys integrierte Warhol in seine Raumfolge im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Warhol porträtierte Beuys als einzigen Künstler nicht im Sinne seiner redundanten Gesellschaftsporträts, sondern auf der gleichen Ebene wie Marilyn, Elvis und Mao. Wie sehr Beuys Warhol schätzte, wird aus dem folgenden Gesprächsausschnitt mit Jannis Kounellis deutlich2: „Kounellis: [ . . . ] Vor fünf Jahren kam dieser schreckliche Maler Andy Warhol nach Italien. Und man hat diesen Idioten an einem Tisch, an dem auch Moravia und andere saßen, gefragt, welche italienischen Künstler er kenne. Er hat geantwortet, daß er von Italien nur die Spaghetti kenne. [ . . . ] Beuys: Das war doch Ironie. Kounellis: Nein, das war überhaupt nicht ironisch. Er sagte nur etwas sehr Beleidigendes. Er ist talentlos, ein Publizist und kein Künstler. Beuys: Ich finde dieses Urteil nicht berechtigt. Andy Warhol hat sich völlig identifiziert mit diesem Amerikanismus. Aber das bedeutet nicht Kritiklosigkeit. Für ihn ist die Methode einfach die, daß es nicht anders geht, als daß er eben wie ein Spaghetti wird. Auch innerlich will er diesen Zustand zu erreichen versuchen. Warhol hat großartige Sachen gemacht. Einmal hat er gesagt, er möchte eine Maschine sein. Damit begibt er
VIII
Geleitwort sich doch an eine Grenze, die sehr interessant ist. Eigentlich ist das eine Erkenntnistheorie. Kounellis: Der amerikanische Imperialismus erlaubt ihm, das zu sagen. Aber es ist eine politische und keine künstlerische Feststellung.
Beuys: Das sehe ich nicht so. Andy "Warhol hat im übrigen - und das verbindet mich mit ihm als einer der wenigen Künstler den Begriff der Wirtschaft in die Kunst aufgenommen." Jean-Christophe Ammann
1
2
Die Texte basieren auf Vorträgen zu dem Symposium „Kultfigur und Mythenbildung" 10. November 1989, Hessisches Landesmuseum Darmstadt. In: Ein Gespräch/Una discussione (Beuys/Kounellis/ Kiefer/Cucchi), hrsg. v. Jacqueline Burckhardt, Zürich 1986, S. 163.
Vorwort
Im Frühjahr 1989 kaufte die wenige Monate zuvor gegründete Hessische Kulturstiftung den sog. Beuys-Block, ein Werk-Ensemble, das vom Künstler selbst im Hessischen Landesmuseum Darmstadt installiert worden war. Damit rettete die Stiftung diese Originalinstallation unter Aufwendung aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel vor dem Abzug und vor einem drohenden Verkauf ins Ausland, erntete dafür in der Öffentlichkeit jedoch keineswegs große Anerkennung, sondern stieß weithin eher auf Ignoranz. Besonders angesichts des hohen Kaufpreises hagelte es, zumindest kurzfristig, sogar heftige Proteste. So teilte Joseph Beuys trotz seiner stattlichen Jüngerschar auch nach seinem Tod noch das Los vieler seiner Kollegen, denen die breite Öffentlichkeit die künstlerische Wertschätzung verweigert. Gründe dafür anzugeben und zu diskutieren oder gar Verständnis zu dokumentieren ist hier sicherlich nicht der Ort, doch bleibt zu konstatieren, daß unabhängig vom Künstler selbst auch die Kunstkritik nicht in der Lage gewesen war, diesbezüglich breite Akzeptanz herzustellen. Man könnte nun vermuten, daß das diesem Buch zugrundeliegende Darmstädter Symposion im November des Jahres 1989 zu nichts anderem dienen sollte als zur Legitimation des Kaufes und zur niveauvollen Abwehr der veröffentlichten, z.T. parteipolitisch gefärbten Kritik. Als ich jedoch unmittelbar nach dem Kauf an den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Hessischen Kulturstiftung, Staatssekretär Dr. Hermann Kleinstück, mit der Bitte um Finanzierung des
von Anfang an unter dem Titel „Kultfigur und Mythenbildung" geplanten Symposions herantrat, erfolgte die wohlwollende Zusage keineswegs automatisch. Statt dessen galt es zuerst, eine nicht nur bei Politikern verbreitete Skepsis gegenüber den Geisteswissenschaften im allgemeinen und gegenüber der Kunstgeschichte im speziellen zu überwinden, lassen sich doch weder ihr Einfluß noch ihre Bedeutung in der Gesellschaft einfach quantifizieren; gerade Zweifel über die Zuständigkeit des Faches Kunstgeschichte für das weite Feld der zeitgenössischen Kunst und Architektur waren auch hier durch Diskussion zu beseitigen. Erschwerend kam hinzu, daß das Symposion keineswegs und schon gar nicht ausschließlich bei dem in Frage stehenden Werkkomplex von Joseph Beuys ansetzte, sondern allgemein die Problematik der persönlichen und künstlerischen Selbstdarstellung des zeitgenössischen Künstlers in den Vordergrund rückte. Die in diesem Feld mal mehr und mal weniger geleisteten Zugeständnisse an den modernen Kunstmarktbetrieb sollten jedoch zugleich ergänzt beziehungsweise kontrastiert werden mit dem Anspruch der Künstler, mit ihren Werken Grundlagenforschung am Bild des Menschen zu betreiben. Die beiden Titelbegriffe „Kultfigur" und „Mythenbildung" ergänzten sich auf die gleiche Weise und schlossen nur vordergründig an die Phänomene des modernen Starkultes an. Darüber hinaus zielten sie aber auf den vor allem im Werk von Joseph Beuys vorhandenen Welterklärungsanspruch und beabsichtigten von Anfang an, ihn und sein Werk in eine breitere künst-
X
Vorwort
lerische Orientierung der Zeit einzubinden. Schließlich schien eine kunsthistorische Einbindung gerade über die in diesen beiden Begriffen anklingenden Phänomene durchaus erfolgversprechend und die Entwicklung von diesbezüglich relevanten Bewertungskriterien in greifbarere Nähe gerückt. Höher als den politischen Erfolg oder auch den allgemeinen wissenschaftlichen Erfolg des Symposions möchte ich persönlich die Evaluierung konventioneller kunsthistorischer Methoden bei der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst bewerten; einer Auseinandersetzung allerdings, der sich verständlicherweise vor allem die den Marktgesetzen unterworfenen Künstler und Galeristen am liebsten entziehen möchten, ohne jedoch auf den Einzug ins Museum zu verzichten. Die Widersprüchlichkeit im Verhalten der Künstler in der Moderne - im weitesten Sinne gilt dieser Begriff für die Zeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und reicht damit bis in die unsere bürgerliche Kultur mitbegründende Epoche der Aufklärung - zeigt sich besonders in diesem Wunsch, einerseits zur „Ehre des Museums" zu gelangen, andererseits aber die damit verbundene abgesicherte historische Legitimation, die im wörtlichen Sinne konventionelle Wertschätzung zugunsten einer offenen, lebendigen und inhaltsbezogenen Auseinandersetzung möglichst lange zu unterdrücken. Nicht zuletzt mit Hilfe einer durchdachten Selbstdarstellungsstrategie scheint das immerhin im Fall von Joseph Beuys ganz offensichtlich gelungen zu sein: Obgleich bereits durch autorisierte Installationen fest in den jeweiligen Museen verankert, ist der inhaltliche Diskurs keineswegs abgeschlossen; von einer halbwegs tragfähigen historischen Wertschätzung, einer allgemeinen Anerkennung seiner herausragenden künstlerischen Leistung kann bei ihm wie im übrigen auch bei vielen seiner Kollegen keine Rede sein.
In unserer Gesellschaft, deren öffentlicher Meinungsbildungsprozeß inzwischen gekennzeichnet ist von einer dominierenden Position der Bildmedien, spielen die Selbstdarstellungsstrategien ganz allgemein eine immer größere Rolle. Dies wurde auch bei unserer Tagung deutlich, so daß man im Gegensatz zum Themenfeld Kultfigur für den zweiten Begriff im Titel des Symposions, dem durchaus unbestrittenen Phänomen der Mythenbildung, nicht zu vergleichbar greifbaren Ergebnissen gelangte. Oskar Bätschmann, der sich auf meine Bitte hin spontan als Mitherausgeber einbrachte, und ich entwickelten daraufhin zusammen mit dem damaligen Staatssekretär Dr. Hermann Kleinstück, der damaligen Geschäftsführerin der Stiftung, Dr. Angelica Gernert, und Dr. Gerd Giesler vom Akademie Verlag ein verhältnismäßig offenes Konzept für eine wissenschaftliche Reihe, in der die auf vorgeschalteten Symposien diskutierten Themen aufgegriffen werden sollten. Auch wenn die vereinbarte Reihe nach dem politischen Wechsel 1991 in Hessen, der unvorhersehbarerweise auch die Stiftung betraf, aufgrund von Veränderungen im Stiftungskonzept, aber auch wegen der beruflichen Veränderungen der Herausgeber mittlerweile wieder aufgegeben werden mußte, folgt der vorliegende Band dem damals gefundenen Konzept. Wie im Plakat des Symposions bereits sinnfällig gemacht, fokussiert er den Teilbereich der künstlerischen Selbstdarstellung, in dem in den 60er und 70er Jahren neben Joseph Beuys vor allem Andy Warhol die Rolle des Protagonisten gespielt hatte. Gerade hier ließ sich aus der gelegentlich bereits umgesetzten, immer aber auch problematisierten Konfrontation der beiden Künstlerpersönlichkeiten eine tiefgehende Verbindung herstellen. Daß bei allen Schwierigkeiten, sowohl des wissenschaftlich verantwortlichen Umgangs mit der Materie, der Auswahl und Bearbeitung der
Vorwort Beiträge, der politisch administrativen Vertretung
museums, Dr. Wolfgang Beeh, und seiner Mitar-
als auch der Beschaffung der erforderlichen Bild-
beiterin Dr. Sigrun Paas bei der Organisation des
rechte, am Ende, wenn auch spät, das vorliegen-
Symposions möchte ich an dieser Stelle genauso-
de Buch entstanden ist, verdanken wir nicht nur
wenig unerwähnt lassen wie das offene Ohr von
allen wissenschaftlich Beteiligten - auch den Re-
Dr. Gerd Giesler seitens des Verlages, auch wenn
ferenten, deren Beiträge nicht für die Publikation
sich die geplante wissenschaftliche Reihe seiner-
ausgewählt werden konnten - , sondern auch dem
zeit durchaus nicht selbstverständlich in das Ver-
damaligen Vorstand der Hessischen
Kulturstif-
lagskonzept einfügte. All das hätte jedoch ohne
tung,
Kleinstück
den unermüdlichen Einsatz von Christa Becker
und Dr. Eugen Paravicini, die die Finanzierung
nichts gefruchtet, die neben dem Lektorat auch
des Projektes gegenüber dem Stiftungsrat vertra-
die schwierige Aufgabe der Beschaffung der Bild-
ten und durchsetzten, aber auch dem derzeitigen
rechte übernommen hatte. So verständlich und
Stiftungsvorstand Dr. Jean-Christophe Ammann
legitim ein Autorenschutz in der heutigen Form
und Staatssekretär Dr. Bernd Kummer, die mit
prinzipiell ist, so sehr werden jedoch wissen-
viel Geduld die endgültige Realisierung nicht in
schaftliche Publikationsvorhaben zur zeitgenössi-
Zweifel zogen. Die ständige bereitwillige Hilfe
schen Kunst dadurch oftmals in
Staatssekretär
Dr.
Hermann
ungeahntem
nicht nur von der damaligen Geschäftsführerin
Maße verzögert. Im vorliegenden Falle denke ich
der Stiftung, Dr. Angelica Gernert, sondern auch
jedoch, hat die Thematik nicht an Aktualität ein-
vom damaligen Direktor des Hessischen Landes-
gebüßt. Darmstadt, 1. September 1993
Michael Groblewski
Oskar
Bätschmann
Ausstellungskünstler Zu einer Geschichte des modernen Künstlers
I. Ausstellungskünstler ein Projekt Der folgende Beitrag zeigt mit einigen Bruchstücken an, daß die Arbeiten an einer Geschichte der modernen Künstlerin und des modernen Künstlers aufgenommen wurden. Ausstellungskünstler ist der Titel, unter dem dieses Projekt steht.1 Durch den Titel teilt sich der Versuch mit, an die Vorgeschichte des modernen Künstlers anzuknüpfen, die Martin Warnke 1985 unter dem Titel Hofkünstler vorgelegt hat.2 Sachlich und chronologisch scheint es gerechtfertigt zu sein, die Vorgeschichte mit einer Geschichte fortzuführen, doch hat das Unternehmen gegenüber Warnkes glänzender Analyse den Nachteil der Nachfolge und das Risiko der Prätention. Zu den weiteren Risiken zählen die gewaltigen Materialien und die immense Literatur, die für die zweihundertfünfzig Jahre einer Geschichte des modernen Künstlers zu verarbeiten sind. Redundanzen und Auslassungen werden sich - wie in allen Projekten, die auf Zusammenfassung gerichtet sind - nicht vermeiden lassen. Die Geschichte des modernen Künstlers schreiben heißt vielleicht nichts anderes als die Sozialgeschichte der modernen Kunst auf die Künstler umschreiben, wie mir Albert Boime in
der Diskussion über dieses Projekt bestätigte. Doch ich konnte ihm versichern, daß ich keineswegs plane, seinen fünf oder sechs imponierenden Bänden nachzueifern und sie in ein halbes Dutzend unter einem anderen Titel umzugießen.3 Meine Fragestellung zielt nicht auf eine Geschichte der Ausstellungen und der Institutionen des Kunstbetriebs, sie ist nicht als Untersuchung der sozialen Situation der Künstler angelegt oder als Demystifikation der Künstlermythen, und sie will nicht die Geschichte der Kunstkritik darstellen oder eine Geschichte des Publikums vorlegen - obwohl diese Geschichte ein wichtiger und noch nicht behandelter Gegenstand ist. Mehrere Aspekte sind bereits von einer großen Zahl von qualifizierten Analysen beleuchtet worden. 4 Ohne diese wäre es nicht denkbar, sich an eine derartige Geschichte zu wagen. Was mich aber interessiert, sind die Zusammenhänge zwischen der Kunstproduktion und der Kunstpräsentation, zwischen den Ausstellungen, dem aggressiven oder applaudierenden Publikum, der Verachtung und Verehrung der Künstler und den Veränderungen von Kunst und Kunstbegriff, zwischen den Künstlerinszenierungen, der Übernahme von Rollen wie die des Opfers, des Priesters, des Magiers, des Stars und Superstars und den Erfolgen oder Mißerfolgen, zwischen der Planung der Karriere, dem Schaffen und Befriedigen von
2
Oskar Bätschmann Marktbedürfnissen, dem Verhalten unter Konkurrenzdruck und dem Umgang mit den Medien. Ausstellungskünstler bietet sich für diese Untersuchung als Titel an. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die öffentliche Präsentation der Werke zum Forum für die Akzeptierung oder Verwerfung der Kunstwerke und der Künstler. Die Höfe und die Kirche traten als Auftraggeber in den Hintergrund und überließen die definierende Funktion den Ausstellungen. Vor allem in England und in Frankreich haben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ausstellungen die führende Rolle der Kunstpräsentation erreicht. Eines der frühesten Beispiele für die Abgrenzung des Ausstellungskünstlers gegenüber dem Hofkünstler gibt ein 1790 geschriebener Brief von Johann Heinrich Füssli in England. Er zitiert einen Ausspruch von Benjamin West über die Möglichkeiten des Künstlers, für den Hof oder für Ausstellungen zu arbeiten, und gleichzeitig gibt er seinen Plan von Ausstellungsbildern bekannt: „Es gibt letztlich für einen Künstler in diesem Land, sagt Mr. West, nur zwei Wege, um erfolgreich zu arbeiten: der eine ist, für den König zu malen, der andere, ein eigenes Schema herauszufinden. Den ersten hat er monopolisiert; im zweiten ist er nicht müßig: [ . . . ] In Nachahmung eines so großen Mannes habe ich beschlossen, auch selbst ein Ei zu legen, auszubrüten und aufzuschlagen, wenn ich kann. Was es ist, kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen, aber die Summe ist, eine Serie von Bildern für die Ausstellung, wie die von Boydell und Macklin." 5 Füsslis Brief bezeugt Neid wie Verachtung. Das waren Probleme, mit denen er umgehen und gegen die er sich behaupten mußte. Füssli war, auch schon vor der Milton Gallery, von der im Brief die Rede ist, ein Künstler, der für Ausstellungen arbeitete.
Die Geschichte des Ausstellungskünstlers muß in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen. Das Ausstellungsstück - exhibition picture - wurde im 18. Jahrhundert eine neue Gattung der Kunstproduktion. Ihre Aufgaben waren die Behauptung gegen die Konkurrenz, der Eingang ins Tagesgespräch und die Verschaffung von Einnahmen. Die Themenwahl der exhibition pictures hing offensichtlich mit diesen Aufgaben zusammen. Die Ausrichtung auf das Publikumsinteresse dürfte für die Themenwahl von Benjamin Wests „Death of General Wolfe" oder John Singleton Copleys Werke „Death of Chatham" und „The Death of Major Pierson" - mit denen die neue Gattung sich manifestiert - bestimmend gewesen sein. Es ist relativ einfach, dieses Problem zu klären. Die weit schwierigere Frage ist, ob die Bedingungen der Präsentation auch als Rezeptionsvorgaben in die Gestaltung der Werke eingegangen sind.6 In Frankreich wurde Jacques-Louis David zum typischen Ausstellungskünstler. Seinen ersten weltweit beachteten Auftritt hatte er 1785 mit seiner Ausstellung des „Serment des Horaces" in Rom. 7 Unendlich begabt in der Antizipation des Publikumsgeschmacks, zugleich ein Meister der Inszenierung wie der Entsprechung an die höfischen und revolutionären Erfordernisse, ein Professioneller in der Handhabung der public relation, oszillierte David zwischen den Bestimmungen des Hofkünstlers, des eigensinnigen Genies, des Staatskünstlers der Revolution und des Ausstellungskünstlers. Keiner hat vor David im gleichen Ausmaß begriffen, daß die künstlerische Tätigkeit, der Erfolg und der finanzielle Gewinn gleichermaßen von der Herausforderung der Autoritäten, der willigen Erfüllung der Erwartungen von Auftraggebern und Publikum, der spektakulären Inszenierung der Werke, der Presse und der Verbreitung der Erzeugnisse abhängig sind.8
Ausstellungskünstler
Aufschlußreich sind Davids Darlegungen über die öffentliche Präsentation von Werken in der Broschüre, die 1799 seine Ausstellung der „Sabinerinnen" begleitete. Mit der Publikation einer Broschüre folgte David dem in England bereits geübten Brauch. Sein Text beginnt mit der Rechtfertigung einer Ausstellung, für die ein Eintrittsgeld verlangt wird. Der Autor beruft sich auf die antike öffentliche Präsentation von Kunstwerken und auf die Exhibitions von Benjamin West oder Anthonis van Dyck, die beiden enorme Summen eingebracht hätten - was jedenfalls für West nicht zutraf. 9 Dann folgt ein zentraler Abschnitt über die Ausstellung mit Eintritt, den ich hier übersetze: „Gibt es eine ebenso richtige wie weise Idee wie diese, die den Künsten die Mittel verschafft, sich durch eigene Einkünfte zu erhalten und sich der noblen Unabhängigkeit zu erfreuen, die dem Genie zusteht und ohne die das Feuer, das es beseelt, bald erlöscht ist? Welches wäre, andererseits, ein würdigeres Mittel, aus der Frucht der Arbeit einen ehrenhaften Nutzen zu ziehen, als sie dem Urteil des Publikums vorzulegen, und keine andere Belohnung zu erwarten als den Empfang, den es ihr gewähren will? Wenn das Produkt mittelmäßig ist, wird das Urteil des Publikums ihm schnell Recht sprechen. Der Künstler, der weder Ruhm noch Entschädigung erntet, wird sich durch die strenge Erfahrung belehren über die Mittel, seine Fehler zu korrigieren und die Aufmerksamkeit der Zuschauer durch glücklichere Entwürfe zu fesseln."10 Es ist wichtig, daß schon der nächste Satz von den Opfern spricht, die ein Künstler, besonders ein Maler, für seine Kunst auf sich zu nehmen hat. In den folgenden Abschnitten werden die Verdienste der Künste um die Humanität, den Nationalcharakter und die Geschmacksbildung wie auch die Funktion der Ausstellung für die Bewahrung des Kulturgutes dargelegt. Das
letzte ist ein aktuelles Argument angesichts der revolutionären und napoleonischen Kunstraubzüge, deren Beute im Triumph aus den unterlegenen Ländern nach Paris geführt und zur Schau gestellt worden war. Davids Text bezeugt - wie schon aus dem zitierten Ausschnitt zu ersehen ist - eine kaum zu übertreffende Raffiniertheit. Vom Argument des ehrwürdigen Alters der Institution der Ausstellung über die Umbiegung der Gewinnsucht des Künstlers auf die Unabhängigkeit der Künste, über die Verbeugung vor dem Publikum, das zur Instanz des Urteils und der Leitung der Künstler erhoben wird, fehlt kein Mittel der Werbung, der Submission und der hochmütigen Gelahrtheit. Den Text schließt David mit der Behauptung, daß sein Unternehmen die jungen Künstler fördern wolle, indem es ihnen den Weg zu einer Einkommensquelle zeige, die sie aus dem Elend herausführen, die Künste ermutigen und die Moral zur Perfektion führen könne. David bediente sich weitgehend der Argumente, die Johann Heinrich Wilhelm Tischbein 1786 in seiner Besprechung der Ausstellung des „Schwurs der Horatier" in Rom vorgebracht hatte. 11 Nicht in den Blick kommen David die Probleme der Künstler, die sich unmittelbar an das Publikum wenden und die der Förderung wie der Leitung und Anweisung sowohl in bezug auf den Stil wie auf die Themen bedürfen. Es ist aufschlußreich, daß mit der Einrichtung regelmäßiger Ausstellungen und mit der aufklärerischen Forderung nach der Freiheit der Künste sich auch die Ratgeber der Künstler berufen: in der Jahrhundertmitte in Frankreich die Salonkritiker Lafont de Saint-Yenne und Anne Claude de Caylus, in Deutschland Johann Joachim Winckelmann und - noch vor der Jahrhundertwende Johann Wolfgang Goethe mit den Preisaufgaben in den Propyläen,12 Wie Wilhelm Schlink gezeigt hat, war der Künstlerrat, den noch Jacob Burck-
3
4
Oskar Bätschmann hardt als vornehme Aufgabe des Kunsthistorikers
lastungen durch den schon über Dreißigjährigen
begreifen konnte, ein Hilfsangebot von Gelehr-
zusammenhängen. Der Vater hatte für die Aus-
ten und Literaten. Es bestand darin, den Künst-
bildung seiner beiden Söhne zu Künstlern Anlei-
lern die Wünsche des Publikums schonend bei-
hen bei der Gemeinde aufgenommen. Die Zu-
zubringen, sie in ihrer Isolierung und ihrem
kunft des älteren wie des jüngeren war um 1781
Mangel an Orientierung zu erreichen, ihnen die
noch immer wenig gewiß. Die Republik Bern
Vermeidung von formalen und inhaltlichen Feh-
wird Jacques in Rom nach kurzer Zeit fallenlas-
lern nahezulegen und sie gleichzeitig vor unbilli-
sen, und dieser wird sich der Anfertigung von
ger Kritik in Schutz zu nehmen. 13
marktgerechten
Denis Diderot schätzte vor allem die Künstler, die außerhalb des institutionellen Rahmens arbeiteten und eine eigene Idee
verfolgten. 14
ungesicherte
Künstlers
Situation
eines
Touristenporträts
verschreiben
und den anspruchsvollen Historien und Allegorien entsagen.
Die
Wir wissen nicht, ob Jacques Sablet über die-
gegen
ses Bild hinaus reflektiert hat über die Situation
Ende des Jahrhunderts kann das außerordentliche
der Künstler. Als Kleinmeister des Touristenpor-
„Selbstporträt im Atelier mit den Eltern" (Abb. 1)
träts in Rom fand er seine Nische und sein Aus-
von Jacques Sablet von 1781 illustrieren. Sablet
kommen. Zeitgenossen wie Louis Bridel haben
piazierte seinen Vater und dessen dritte Frau in
die mangelnde Unterstützung der Künstler durch
die Bildmitte, während er sich selbst im Habit
die helvetischen Staaten beklagt. Bridel stellte in
des Reisenden, ausgestattet mit Pinsel und Palet-
einem Bericht über die Schweizer Künstler in
te, an den linken Bildrand setzte, in weiter Ent-
Rom, der 1789 verfaßt wurde, die Schweiz und
fernung von dem Bild auf der Staffelei, an dem
das antike Griechenland einander gegenüber, be-
er gearbeitet hatte. Ein Kontakt zur trauernden
hauptete die Vergleichbarkeit der politischen Ein-
Stiefmutter oder zum Vater, der seine Frau zu
richtungen und der Schönheiten der Natur und
beschwichtigen versucht, besteht nicht. An der
konfrontierte die Vernachlässigung der Künste
Wand des Ateliers hängen akademische Studien,
und der Künstler durch die Schweiz mit der
Landschaften, Skizzen zu mythologischen, histo-
einstmaligen
rischen und allegorischen Themen. Der wichtig-
Bridel kritisierte die Gleichgültigkeit einer Repu-
ste Entwurf ist rechts über dem Kopf des Vaters
blik gegenüber den Künstlern, ohne aber die
Förderung
durch
Griechenland. 16
aufgehängt. Es ist die „Allegorie auf die kunst-
feudale Unterstützung der Künste oder das höfi-
liebende Republik Bern". Sablet hatte sie sei-
sche Interesse an den Künstlern als bessere For-
ner Regierung angeboten, deren Untertan er als
men dagegenzustellen.
Waadtländer war. Bern lehnte eine Ausführung des Gemäldes ab. Sablet verfertigte es auf eigenes Risiko, bot es der bernischen Republik an und erreichte, nach langem Zögern, die Annahme des Geschenks und die Belohnung durch ein letztes Stipendium und durch eine militärische Beförderung. 15 Das „Selbstporträt im Atelier mit den Eltern" dokumentiert die ungewisse Situation des Künstlers. Die Besorgnis der Stiefmutter dürfte mit den zu erwartenden weiteren finanziellen Be-
II. Troglodyten und Nomaden 1795 veröffentlichte Friedrich Schiller in seiner Zeitschrift Die Hören
eine Reihe von Briefen
Über die ästhetische Erziehung
der Menschen, an
der er seit dem Sommer 1793 gearbeitet hatte. Im zweiten Brief stellte Schiller die Frage, ob es zu rechtfertigen sei, sich angesichts der Zeiten - vier
Ausstellungskünstler
Abb. 1. Jacques Sablet, Selbstporträt im Atelier mit den Eltern, 1781. Öl/Lwd., 70 χ 99 cm. Musee des Beaux-Arts, Lausanne.
Jahre nach der französischen Revolution - mit der Schönheit zu beschäftigen statt mit dem „vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit". Die rhetorische Frage beantwortete Schiller mit der These, die Kunst sei selbst das Medium, durch das die Menschen sich zur wahren politischen Freiheit bilden würden. Öffentliche Kunst als kommunikative, gemeinsamkeitsstiftende Kraft verwandle die Lebensformen. Die Kunst bilde das mittlere,
versöhnende Reich zwischen dem furchtbaren Reich der Kräfte (der äußeren Natur) und dem heiligen Reich der Gesetze, und sie befreie die Menschen von allem physischen und moralischen Zwang. Durch die Kunst kommt nach Schillers Auffassung ein Bildungsprozeß in Gang, der den Widerstreit von Natur und moralischer Unterwerfung des Individuums zu beseitigen unternimmt. Die Kunst erscheint als Verkörperung der kommunikativen Vernunft und als Mittel der
5
6
Oskar Bätschmann Vereinigung der Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht.17 Für Schiller lagen die Voraussetzungen für die Formung der Schönheit neben den klimatischen und moralischen Bedingungen in der Intersubjektivität. Schönheit kann weder aus der Vereinsamung noch aus der Vermassung entstehen, sondern allein aus der Aufhebung der Extreme der Entfremdung und der Verschmelzung. Der maßgebende Abschnitt aus dem 26. Brief lautet: „Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist und die Menschheit nie in sich findet - da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst und, sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten."18 Die Vorstellung vom troglodytischen Künstler und seiner Problematik hatte eine gewisse literarische Nachwirkung. In der Erzählung Die Jesuiterkirche in G., die 1817 im ersten Teil der Nachtstücke erschien, nahm E.T.A. Hoffmann das Motiv des Künstlers in der Höhle auf.19 Der Maler Berthold hatte zuerst in Italien Landschaften in der Art des Philipp Hackert gemalt und mit einem Bild auf einer Ausstellung auch einige Bewunderung gefunden. Der junge Künstler scheint hier in Ubereinstimmung mit sich und seinem Talent zu sein und eben dadurch, wie Schiller sich ausgedrückt hätte, zu dem Geschlechte zu sprechen. Doch eben nicht zum ganzen, denn unter den Besuchern findet sich einer, der bedenklich den Kopf schüttelt über den Künstler und sein Produkt. Ein reicher, auf Malta geborener Grieche hält dem Maler vor, mit der Vedutenmalerei seine Bestimmung zu verfehlen. Er verfertige nichts als Abschriften einer ihm unverständlichen Schrift. Der heilige Zweck der Kunst sei aber, wie der Malteser behauptete,
„die Auffassung der Natur in der tiefsten Bedeutung des höhern Sinns". Er will die Flamme im Innern des Künstlers wecken und sagt als ein echter Versucher zu ihm: „Bist du eingedrungen in den tiefen Sinn der Natur, so werden selbst in deinem Innern ihre Bilder in hoher glänzender Pracht aufgehen." Diese Versuchung zur genialischen Tätigkeit durch den satanischen Kunstliebhaber leitet die Zerstörung des jungen Malers ein. Er kann nur mehr im Traum erschauen, was er malen möchte, aber keine Werke mehr hervorbringen. In diesem Zustand der künstlerischen Gelähmtheit zieht er sich in eine Grotte zurück und läßt sich von seinen phantastischen Kunstträumen martern. Hier, unter dem völligen Ausschluß der Sozietät, erscheint ihm die Vision seines Ideals. Sie ermöglicht ihm das Arbeiten. Doch sind alle seine Werke Reproduktionen des Ideals, wie vorher die Veduten Nachahmungen der Landschaften waren. Die künstlerische Produktion scheitert in dem Moment, in dem das vermeintliche Ideal sich als Prinzessin entpuppt und die Frau des Malers wird. Das anfängliche Glück hält nur wenig vor, der Künstler verfällt von neuem der Lähmung. Zuletzt entledigt sich der Maler seiner Familie. In G., wo ihn der Erzähler trifft, malt Berthold die Kirche aus und arbeitet wieder in einer Höhle. Der Erzähler wird in der Nacht zum geschwätzigen Gehilfen des Malers, der mit Fackellicht seinen Entwurf auf die Wand überträgt. Der Erzähler erweist sich durch sein Interesse an dem Künstler, der ihm durch sein absonderliches Benehmen, seine edle Gestalt, die befremdliche Kleidung und den tiefen Gram im Gesicht auffällt, und durch seine naiven Äußerungen über die Kunst als ein wackerer Biedermann. Er meint, sich über die Architekturmalerei Bertholds, für die er den Lineal zu halten hilft, abfällig äußern zu müssen und vom Künstler geniale Gedanken statt der bloßen handwerk-
Ausstellungskünstler liehen Perfektion verlangen zu dürfen. Der Maler bezeichnet das unbedachte Kunstgerede als einen Frevel. Die Rede des Erzählers wiederholt naiv, was der Malteser als dämonische Forderung dem Künstler eingegeben hatte. Berthold kann dem Gerede begegnen, wie es scheint, indem er das Malen als normale Arbeit bezeichnet, die dem Bau von Sägemühlen und Spinnmaschinen gleicht. Auch das ist eine Täuschung. Der Maler vollendete zwar noch das Altarblatt, doch danach verschwand er und ließ am Flußufer seinen Hut und seinen Stock zurück. Als troglodytischer Künstler erscheint in Balzacs berühmter Erzählung Le chef-d'oeuvre inconnu von 1831 der Maler Frenhofer.20 Der junge Nicolas Poussin erfährt Frenhofer bei einem Besuch bei Fran9ois Porbus als eine Art Teufel und Magier, dessen Verhalten wechselt zwischen vernichtender Kritik und gutmütiger Geselligkeit. Frenhofer fällt mitten in der Unterhaltung in einen Zustand der vollkommensten Abgeschlossenheit, in dem er weder etwas sieht noch hört. In der gleichen Isoliertheit arbeitet er in seinem Atelier seit zehn Jahren an einem Bild, das sein Meisterwerk werden soll. Niemand hat Zutritt zur verbarrikadierten Höhle des Ateliers. Aber Frenhofer kann in dieser abgeschlossenen Subjektivität sein Bild nicht vollenden. Er braucht, wie er in seiner Verzweiflung meint, ein Modell. Poussin leiht ihm seine Geliebte zu diesem Dienst unter der Bedingung, daß er und Porbus das Bild sehen dürfen. Frenhofer überwindet sich, die beiden Maler in sein Atelier hereinzulassen und ihnen sein Bild zu zeigen. Statt der wunderschönen, lebendigen Figur, die Frenhofer beschreibt, können die Besucher allerdings nur formlosen Nebel und ein Farbenchaos auf der Leinwand sehen. Im folgenden Gespräch kann sich Poussin nicht zurückhalten und ruft gegenüber Porbus aus, Frenhofer müsse früher oder später erkennen, daß auf seiner Leinwand
nichts zu sehen sei. Diese Demystifikation seiner selbst als Künstler und die Aufklärung über sein Werk überlebt Frenhofer nicht. In der folgenden Nacht verbrennt er alle seine Bilder und stirbt. In beiden Erzählungen löst eben jener Moment, in dem der Künstler sein Werk der Öffentlichkeit präsentiert, die Krise aus. Bei Hoffmann erfährt der junge Maler auf der Ausstellung, daß er von der Kunst nichts verstanden hat, bei Balzac muß der alte Künstler durch das Publikum in seinem Atelier erkennen, daß er einer immensen lauschung erlegen war, während die Besucher das Meisterwerk nicht zu sehen vermögen. Diesen kritischen Moment der Präsentation, in dem das Zeigen des Künstlers und das Sehen der Betrachter auseinanderbrechen, hat Paul Cezanne in einer frühen Zeichnung zu Balzacs Erzählung festgehalten (Abb. 2). Bei Hoffmann wie bei Balzac stehen die sozialen Beziehungen und die geniale künstlerische Tätigkeit einander unversöhnlich gegenüber. Der troglodytische Zustand des Künstlers produziert wahnhafte Vorstellungen, irrwitzige Träume und pygmalionische Tauschungen. Der Einbruch der Sozietät in das wahnhafte Innere des Künstlers oder in das verbarrikadierte Atelier, die kritische Bemerkung, das fremde, unverständige Auge auf dem Werk lösen die Katastrophe aus. Zugleich zeigt sich die geniale künstlerische Subjektivität als eine harte Selbsttäuschung. Deren Fatalität ist doppelt: die unsinnige Uberzeugung ist die Bedingung des Schaffens (ihr Wegfallen produziert Lähmung oder die Zerstörung des Werks) und sie ist eine Form der Entfremdung. Die Erzählungen von Hoffmann und Balzac widerstreiten Schillers Utopie einer Gemeinsamkeit von Künstler und Sozietät. 1980 hat Martin Disler in seinem Buch Bilder vom Maler (Abb. 3) in zwei Texten den Gegensatz zwischen dem troglodytischen Künstler und dem von der Sozietät instrumentalisierten Künst-
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Abb. 2. Paul Cezanne, Frenhofer zeigt sein Meisterwerk, 1867/72. Bleistift und Tinte, 10,3 χ 17 cm. Kupferstichkabinett, Basel.
ler ausgeführt. Der eine Text ist das 19. Bild, der andere findet sich bloß auf der Buchklappe.21 Das 19. Bild handelt von einem Maler, der eine Maschine ist, immer neu zusammensetzbar aus Teilen der Bevölkerung, aus Füßen, Armen, Köpfen und Herzen der Leute oder kompletten Vereinen von Landesbewohnern. Der Maler steht nicht nur unter dem Druck der Öffentlichkeit, sondern auch unter der Drohung der Farbe. Keinen Moment darf er mit dem Malen aufhören, weil sonst die Farbe für immer versiegt. Der Maler und die Farbe produzieren unaufhörlich, und bald überschwemmen Milliarden von Bildern das Land. Zwar ist das Volk begeistert,
aber der König und die Regierung fühlen sich bedroht. Fünftausend Reiter machen sich zum Maler auf, und nachdem dieser sich weigert, sich vor dem König zu verbeugen, zertrampelt das Heer in einem halben Tag alle Bilder. Diese ikonoklastische Attacke lenkt den Maler ab, und die Farbe macht die Drohung zu versiegen wahr. Der König feiert den Triumph, doch der Sieg über die Bilder verwandelt die Hauptstadt in eine Attrappe von einseitig bemalter Pappe. Das Volk trauert, der Maler flieht (die Metapher seines Todes), doch kehrt sich die Verwandlung des Volkes in den Maler um, und das Volk wird zum Maler. Und mit diesem märchenhaften Volks-
Ausstellungskünstler künstler schließt das Bild: „Der Maler hatte alle Arme, alle Beine, alle Bäuche, alle Wangen von allen an seinem Körper." Die Verwandlung des Malers, der mit den Gliedern aller malt, in das Volk als Kollektivmaler ist ein Märchenschluß, der genau auf das Documenta-Gespräch Jeder Mensch ein Künstler von Joseph Beuys von 1972 antwortet.22 Der Klappentext konfrontiert das alte und moderne Märchen mit dem zeitgenössischen Jedermannskünstler, dem Massenkünstler. Disler beschreibt den Auftritt eines Malers in einem Fußballstadion vor fünfzigtausend Zuschauern. Der Maler zieht eine Show ab, rennt mit fünf riesigen Pinseln im Stadion umher und erfüllt, in weltrekordverdächtiger Geschwindigkeit, die Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Zuschauer. Die Menge gerät im Schreien und Toben außer sich, vielleicht ist sie an einen Computer angeschlossen. Uber achtzig Fernsehstationen ermöglichen der halben Menschheit, die Supershow live mitzuerleben, Millionen von weiteren Wünschen ins Stadion zu liefern und die Spannung ins Unerträgliche zu steigern. Vielleicht ist die Geschichte hier zu Ende. Der Klappentext suggeriert im zweiten Abschnitt eine Fortsetzung, und darin wird der Maler zum Opfer. Er wird an einen Computer angeschlossen, die Augen werden ihm, der noch nicht weiß, daß er zum Tode verurteilt ist, mit einer schwarzen Binde verbunden. Dann zappelt er an den Elektroden, stolpert über die Farbfässer und bekleckert sich mit Farbe, während das Publikum den aggressiven Rausch erfährt und den gesteuerten Maler in der Arena mit neuen Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten in der ausgegossenen Farbe zu Tode hetzt. Der Maler im Stadion ist ein elektronisch gesteuertes Instrument der Masse. Schiller hätte hier seine Ansicht vom nomadischen Künstler bestätigt gefunden. Die Masse kennt bei Disler
nur Apotheose oder Vernichtung. Der Künstler wird zum gefeierten Superstar oder zum Buntscheck, den man zu Tode hetzt. Das Bild vom Maler in der Höhle, der aus Teilen der Bevölkerung sich zusammensetzt und im Namen des ganzen Geschlechtes spricht, antwortet als Märchen vom allgemeinen Künstlertum auf Schillers Utopie wie auf moderne Propaganda. Superstar oder toter Buntscheck sind die realistischen heutigen Korrekturen.
Abb. 3. Martin Disler, Bilder vom Maler, 1980. Buchumschlag.
m a r t i iv d i s l e r BILDER, VOM HALEß»
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III. Die Opfer 1854 malte Gustave Courbet eine seiner Leinwände zu einem „Selbstporträt als Verwundeter" (Abb. 4) um. Die Röntgenaufnahme des Gemäldes zeigte, daß unter dieser Darstellung das Doppelbildnis eines schlummernden Liebespaares und das Bildnis einer Frau liegen. Deshalb konnte man die Zeichnung des gleichen Motivs (Abb. 5) dem Bild des Liebespaares zuordnen, das auf etwa 1844 datiert wird.23 Für die Ubermalung der zärtlichen Gefährtin und für die Umwandlung des träumenden Liebhabers in einen tödlich Verwundeten, zehn Jahre später, gibt es eine biographische Erklärung. Courbet wurde 1854 von seiner Lebensgefährtin verlassen. Ein erst 1977 veröffentlichter Brief des Malers an Champfleury von 1854 unterrichtet über den psychischen und physischen Zustand: „Mein Geist ist zutiefst traurig, meine Seele leer, die Leber und das Herz sind von Bitterkeit zerrissen. [ . . . ] Sie wissen, daß meine Frau sich verheiratet hat, ich habe weder Frau noch Kind mehr. Es scheint, daß sie vom Elend zu diesem äußersten Schritt gezwungen wurde. So verschlingt die Gesellschaft ihre Leute. Während vierzehn Jahren waren wir zusammen gewesen."24 Diese Passage beschließt einen Brief, der die ausführliche Beschreibung des großen Atelierbildes enthält, an dem Courbet in Omans arbeitete. In diesem Bild analysierte der Maler das Verhältnis seiner Tätigkeit zur Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs. Demonstrativ hat er sich als arbeitenden Künstler in die Mitte zwischen der Gruppe der Freunde rechts und die Gesellschaft der Ausbeuter und der Ausgebeuteten links gesetzt. Der Maler, der an einem Landschaftsbild arbeitet, ist umgeben von einem weiblichen Modell, einem Knaben und einer Katze. Der Gegensatz zwischen der napoleonischen Gesellschaft und der mittleren Gruppe ist nicht zu verstehen,
wenn man in Mann, Frau und Kind nicht auch die Familie, in der künstlerischen Arbeit nicht auch die nichtentfremdete Tätigkeit und im Landschaftsbild aus dem Jura nicht auch den Widerpart zur Großstadt erkennt. Dagegen besteht die napoleonische Gesellschaft, die sich um den Wilderer Napoleon III. schart, aus den Reichen, den Armen, den Imperialisten, den Kolonisierten, kurz aus den Fressenden und den Gefressenen. Auf der rechten Seite finden sich, nach Courbets Worten, die Teilhaber, Mitarbeiter, Freunde der Welt der Kunst. Unter den Freunden sind zwei erklärte Feinde von Napoleon III. zu erkennen: Max Buchon, dem Courbet 1852 zur Flucht in die Schweiz verholfen hatte, und Pierre-Joseph Proudhon, der zwischen 1849 und 1852 inhaftiert worden war und danach mit einem Publikationsverbot belegt wurde. Courbet machte das riesige Atelierbild zum Mittelpunkt seiner Ausstellung „Du realisme", die er 1855 in Paris in einem eigenen Pavillon in der Nähe der ersten Weltausstellung von Napoleon III. veranstaltete. Die sieben Jahre Geschichte, die das Bild dem Titel zufolge allegorisch darstellen soll, spielen auf die siebenjährige Herrschaft Napoleons III. als Präsident und Kaiser an. Dem Resultat der napoleonischen Gesellschaft stellt Courbet die Familie der Kunst und die künstlerische Arbeit im Sinne Proudhons entgegen. Durch die Arbeit unterscheidet sich nach Proudhon der Mensch vom Tier, und er unterbricht den Zirkel von Fressen und Gefressenwerden. Künstlerische Tätigkeit, die alle Arten der Suche nach dem Schönen und Guten umfaßt, ist die Vollendung der Arbeit. Die Trennung zwischen Kunst und Leben oder zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern soll aufgehoben sein. In dem lakonischen Satz: „Solange wir leben, sind wir Künstler", bringt Proudhon in seiner Philosophie des Fortschritts die Idee von der Kunst als Menschlichkeit zum Ausdruck.25
Ausstellungskiinstler
Abb. 4. Gustave Courbet, Selbstporträt als Verwundeter, 1854. Öl/Lwd., 79 χ 100 cm. Musee d'Orsay, Paris. Abb. 5. Gustave Courbet, Ländliche Rast - Sieste champetre, ca. 1844. Kohlezeichnung, 16 χ 20 cm. Musee des Beaux-Arts, Besan9on.
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Abb. 6. Gustave Courbet, Die Forelle, 1872. Ol/Lwd., 55 χ 89 cm. Kunsthaus, Zürich.
Im Zusammenhang mit der Analyse der Gesellschaft ergibt sich für das Selbstbildnis als Verwundeten, daß wir darin nicht nur einen Rückfall in eine romantische Künstlervorstellung sehen können. Zwar liegt der verlassene, aus Liebesgram Verwundete vor uns, doch präsentiert sich der Künstler als Opfer eines Duells, in dem die gefräßige Gesellschaft der Gegner war. 1867 spezifizierte Courbet die Gegner. Er behauptete, die Jury der Salons von 1845 bis 1847, der offiziellen Ausstellungen, habe sein Bild abgelehnt. Das war eine doppelte Lüge, denn erstens bestand das Porträt in dieser Form zu dieser Zeit nicht und zweitens weisen die Verzeichnisse dieser Jahre keine Einsendung Courbets in diesem Format aus.26
Courbet wollte sich offensichtlich auch mit diesem Bild nachträglich als Opfer des offiziellen Kunstbetriebs darstellen. Der Zeitpunkt war gut gewählt. 1867 schickte sich Courbet an, zum zweiten Mal der Weltausstellung von Napoleon III. mit einer eigenen Veranstaltung entgegenzutreten. In seinen Rollen als Märtyrer und Meister hatten ihn die Journale durch Karikaturen bestätigt. 1856 war im Journal pour rire eine Karikatur Courbets als Heiliger Sebastian von Nadar publiziert worden. Randon umgab 1867 den Kopf Courbets mit einem Nimbus aus Pinseln und mit der Schwurformel der Zeugen vor Gericht: Die Wahrheit, die volle Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Die Karikaturen spielen satirisch mit den Bezeichnungen maitre oder maitre-
Ausstellungskünstler peintre - also Meister im religiösen Sinn oder Malermeister in der Bedeutung Betreiber einer handwerklichen Werkstatt. Der Malermeister Courbet ist als Heiliger Sebastian gespickt mit den Pfeilen der Kritik, oder er ist mit dem Pinselnimbus als Messias mystifiziert und zugleich vor Gericht geladen. Als Opfer wird er gezeigt oder als Messias gewürdigt, verhöhnt in beiden Rollen, das demonstrieren die Karikaturen zugleich.27 Die Selbstdarstellung als Opfer nahm Courbet wieder auf, nachdem er wegen der Zerstörung der Vendöme-Säule im Gefängnis SaintePelagie 1871/72 für ein halbes Jahr inhaftiert worden war. Vermutlich erst zwei oder drei Jahre nach der Gefangenschaft entstand sein „Selbstporträt in Sainte-Pelagie", das sich heute in Omans befindet, und in der gleichen Zeit interpretierte er das Bild einer kapitalen Forelle, die er im Doubs gefangen hatte, zu einem versteckten Selbstbildnis um. Bei diesem Bild (Abb. 6), das 1872 entstanden ist, nahm Courbet, als er es 1873 an Edouard Pasteur verkaufte, eine Vordatierung auf 1871 vor und setzte hinzu: in vinculis faciebat - im Gefängnis verfertigt. Damit wurde das Bild der gefangenen, an der Angelschnur hängenden Forelle nachträglich zu einem dissimulierten Selbstbildnis deklariert und die Entstehung des Bildes in das Gefängnis verlegt.28 Zielte die Beschriftung auf eine Irreführung des Käufers und der Betrachter, oder stellte sie den Versuch dar, mit der gefangenen und gequälten Kreatur ein Gleichnis des Künstlers zu suggerieren? Die Melodramatik der Angleichung des Künstlers an sein eigenes Opfer ist nicht zu übersehen. Doch stellt sich der Künstler damit auch in den Kreis der animalischen Gesellschaft, die in later und Opfer sich aufteilt nach der Zugehörigkeit zu den Fressenden oder den Gefressenen.
IV. Das aggressive Publikum Das Ausstellungspublikum hat seinen Historiographen noch nicht gefunden. Es gibt noch keine historische Untersuchung seines Verhaltens, seines Geschmacks, seiner Kleidung, seiner Motive, seines Interesses, seines Gelächters, seiner Bewunderung und seiner Aggression, wohl aber modellhafte Untersuchungen des zeitgenössischen Publikums und des Kunsturteils von Pierre Bourdieu wie auch des heimlich ausgeführten neuen Ikonoklasmus von Dario Gamboni.29 Von einer Untersuchung der Massenpsychologie ist das Kunstpublikum noch ausgespart und hat seinen Le Bon noch nicht gefunden.30. Das Publikum tritt auf in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aber es ist für die Historiographie der Kunst eine anonyme Masse im Hintergrund geblieben, trotz Daumier, der genaue wie gehässige Blicke in die Salons geworfen hat, und obwohl Charles Baudelaire es 1859 in seiner Salonbesprechung in den Blick genommen hat.31 Im Kunstbetrieb existiert es im wesentlichen nur als Zahl, obwohl die Besucherstatistik längst zum Maß des Erfolges aller Unternehmen geworden ist. Man beschäftigt sich mit der Kunstkritik und hält diese allenfalls für einen durchschnittlichen oder herausragenden Ausdruck des Publikums. Nur zersprengte Fragmente haben wir von der Konfrontation zwischen Künstlern, dem Publikum und der Kritik. Für die Analyse der Mechanismen zwischen Maler, Publikum und Kritik ist die Einsendung von Edouard Manet zum Salon von 1865 höchst aufschlußreich. Manet präsentierte zwei Bilder: die „Olympia" (Abb. 8) und „Jesus wird von den Soldaten verspottet" (Abb. 7). Im Salon waren die beiden Bilder übereinander piaziert, doch nur die „Olympia" wurde beachtet - als skandalon - , während das religiöse Bild höchstens mit einem
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Abb. 7. Edouard Manet, Jesus wird von den Soldaten verspottet, 1865. Öl/Lwd., 191,5 χ 148,3 cm. Art Institute, Chicago. Abb. 8. Edouard Manet, Olympia, 1863. Öl/Lwd., 130,5 χ 190 cm. Musee d'Orsay, Paris.
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negativen Urteil bedacht wurde. Niemand wurde von der Zusammenstellung zum Nachdenken angeregt, und selbst Emile Zola, der sich als Kunstkritiker zu profilieren suchte, erwähnte in seinem langen Aufsatz von 1867 bloß den Titel des religiösen Bildes, würdigte aber ausführlich die „Olympia" als ein Meisterwerk. 32 Es ist fast selbstverständlich, daß Manets Eingabe an den Salon von 1865 einem historischen Beispiel folgt. Der Kunstpolitiker, Schriftsteller, Künstler und Gründer der Gazette des BeauxArts, Charles Blanc, hatte im Faszikel über Tizian seiner höchst erfolgreichen Histoire des peintres de toutes les ecoles die alte Geschichte Aretinos wiederholt, Tizian habe Kaiser Karl V. von Spanien gleichzeitig eine „Venus" wie eine „Dornenkrönung Christi" überreicht, um sowohl dem frommen Gefühl wie dem sinnlichen Bedürfnis des Herrschers zu genügen. 33 Mit der gleichzeitigen Ausstellung einer modernen Venus und eines verspotteten Christus hat Manet die Befriedigung der Bedürfnisse des Herrschers durch Tizian exakt wiederholt gegenüber dem neuen Herrscher im Kunstbetrieb, dem Publikum. Charles Blanc selbst folgte mit der Illustrierung seines Heftes der Vorgabe von Aretinos Anekdote, indem er auf zwei aufeinanderfolgenden Abbildungsseiten zuerst Tizians „Danae" im Prado, dann die „Dornenkrönung" des Louvre wiedergab. Doch füllte Manet das Muster von Tizian und Blanc völlig neu aus. Von Edgar Degas scheint ein Hinweis darauf zu kommen, wie es sich verhält mit Manets „Jesus wird von den Soldaten verspottet". Zwischen 1866 und 1868 hat Degas den Freund Manet in einer Zeichnung und einer Radierung porträtiert in einer Stellung, die offensichtlich diejenige von Manets Jesus wiederholt (Abb. 9).34 Degas' Radierung dürfte eine nachträgliche Entschlüsselung von Manets Bild als einer dissimulierten Selbstdarstellung des Künstlers als verspotteter Christus sein. Wenn
Abb. 9. Edgar Degas, Edouard Manet, sitzend, um 1866-1868.
Radierung, 1. Zustand, 29,8 χ 21,8 cm. National Gallery of Canada, Ottawa.
diese Suggestion von Degas zutrifft, stellt sich die Einsendung Manets an den Salon von 1865 so dar: Manet mußte damit rechnen, daß die „Olympia" auf eine ähnliche Weise die Aggressivität des Publikums und der Kritik herausfordern würde wie zwei Jahre zuvor das Bild „Dejeuner sur l'herbe" im Salon des Refuses. Das Bild vom verspotteten Christus nimmt diese Situation des vom Publikum und der Kritik verlachten Künst-
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auf.
Die
Aggression
der
Salonbesucher
Paar. In dessen Lachen ist die soziale A g g r e s s i o n
nächste
verbündet mit der A g g r e s s i o n gegen die neuere,
Stufe waren die Karikaturen, die B e s c h i m p f u n -
das heißt die nicht durch die Kritik, durch Preise
gen in der Presse, dann folgten die tätlichen A n -
u n d Medaillen, durch A n k ä u f e u n d O r d e n o f f i -
äußerte sich zuerst als Gelächter. D i e
ziell ausgezeichnete K u n s t . I m 19. Jahrhundert
griffe auf die Werke. H o n o r e D a u m i e r veröffentlichte im
Charivari
fixierte sich die aggressive H a l t u n g des
v o m 1. Juni 1865 eine Karikatur, die sich auf den
kums
Salon, spezifischer noch, wie ich annehme, auf
Ausstellungen. M a n besuchte Ausstellungen, u m
M a n e t bezieht ( A b b . 10). Sie zeigt ein bürger-
vor Werken strittiger Künstler in Gelächter aus-
liches Paar, das v o r
in
zubrechen. A n s c h e i n e n d ist dieses Publikumsver-
Lachen ausbricht. D e r Text suggeriert die vergeb-
halten, das insgesamt eine große A u f m e r k s a m k e i t
liche
verdienen würde, erstmals im Salon v o n
Hoffnung
des
einem
religiösen
Künstlers,
das
Bild
Publikum
gegenüber
den
neueren Werken
Publiin
den
1822
k ö n n t e wenigstens wegen des religiösen T h e m a s
festgestellt w o r d e n , vor D e l a c r o i x ' „ D a n t e b a r k e " .
R e s p e k t vor der K u n s t haben. D a u m i e r weist mit
Es
ist
bekannt,
daß
Manets
„Dejeuner
sur
den Unterschieden der K l e i d u n g darauf hin, daß
l'herbe" 1863 G e g e n s t a n d einer solchen aggressi-
der Künstler sozial niedriger gestellt ist als das
ven Belustigung war. 3 5
CHOpiS VH1S All SALON ρ.11 BMIM1EH
_ Les Crftins!. 011 leur peintun talleau relijienx elllsrient la religion de Varl!
i
.iln'ont menu pas
Abb. 10. Honore Daumier, Die Idioten! . . . man malt ihnen ein religiöses Bild und sie lachen . . . sie glauben nicht einmal an die Kunst! . . . Karikatur zum Salon von 1865, in: Le Charivari, 1. Juni 1865
Ausstellungskünstler
Eine schwierige Frage ist, ob Manet Publikum und Kritik provozieren wollte. Offenbar wurde er zu Unrecht beschuldigt, durch skandalöse Bilder sich Aufmerksamkeit und Erfolg verschaffen zu wollen. Vielleicht traf dies für Courbet zu, der seine Herausforderungen des Publikums, der Kritik und der Autoritäten überlegen und präzise lancierte. Dagegen scheinen das Gelächter und die öffentlichen Angriffe immer einen ahnungslosen Manet getroffen zu haben. Eine unwirsche Antwort von Charles Baudelaire auf Manets Klagen über die Reaktionen im Salon von 1865 zeigt, daß der Dichter den Maler für empfindlich und etwas wehleidig hielt.36 Aufschlußreich ist aber, daß 1867 im Vorwort zu Manets Katalog seiner Einzelausstellung die Auseinandersetzung des Künstlers mit den Autoritäten, der Kritik und dem Publikum als Kampf beschrieben wird. Manet hatte sich im Jahr der zweiten Pariser Weltausstellung, nachdem er Schwierigkeiten mit der Jury zu erwarten hatte, nach dem Beispiel Courbets entschlossen, seine Werke in einem eigenen Pavillon zu präsentieren. In diesem Text, der wahrscheinlich von Manet selbst stammt, leugnet er jede provokative Absicht und behauptet, daß seine Werke allein wegen der Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit einen Protestcharakter erhalten hätten. Er wirbt um das Publikum, ruft es zum Schiedsrichter auf in seinem Kampf gegen den Kunstbetrieb, der mit traditionellen Auffassungen sowohl die Künstler wie das Publikum bevormundet. Manet sieht sich allein einem aktiven Gegner ausgesetzt, der über die institutionelle Macht, eingeübte Listen und einen autoritären Kunstbegriff verfügt. Der Gegner öffnet und schließt den Zugang zum Publikum und gibt zugleich vor, Diener des öffentlichen Geschmacks zu sein, während er ihn in Wirklichkeit dirigiert.37 In der Werbung um das Publikum geht Manet so weit, sich als einen demütigen, fast unterwür-
figen Künstler zu präsentieren. Er beharrt nur auf seiner Aufrichtigkeit. Niemals, versichert er, habe er provozieren wollen, nie habe er die traditionelle Kunst verachten oder eine neue Malweise durchsetzen wollen. Kein Wort fällt darüber, daß Victorine Meurent sowohl als nackte Prostituierte im „Dejeuner sur l'herbe" wie auch als „Olympia" dem Betrachter ein aggressives Angebot macht, ihn herausfordernd fixiert und ihn als Voyeur oder Klienten definiert. Im Text von 1867 wird auch der Aufsatz vom Emile Zola verleugnet, der zu Jahresbeginn unter dem Titel Une nouvelle maniere en peinture - eine neue Malweise - erschienen war. Zola gab seinem Aufsatz in der Edition als Broschüre einen zurückhaltenden Titel: Edouard Manet. £tude biographique et critique. Dieser Titel schien unverfänglich zu sein, er folgte genau der Vorgabe von Charles Clements Buch über Theodore Gericault, das soeben erschienen war.38 Zolas Studie über Manet ist gerahmt von erfundenen aggressiven Handlungen gegen den Maler. Mit einer Verfolgung des Künstlers durch Gamins, Straßenjungen, und der Drohung einer Steinigung beginnt und endet der Text. Kritiker schauen zu und rechtfertigen diese atavistische Art der Hinrichtung für einen Schänder des Tempels der Schönheit. Der Schriftsteller versucht, den Maler in Schutz zu nehmen. Im Text geschieht dies dadurch, daß Zola Manet als einen ordentlichen, verheirateten und liebenswürdigen Bürger vorstellt, der ebenso hart arbeitet wie jedermann und sich im Kreis der Familie und der Freunde erholt. Bei den erfundenen Konfrontationen des Künstlers mit der Menge protokolliert der Schriftsteller bloß, was der Maler an Verspottungen, Beschimpfungen und Bedrohungen hinnehmen muß, und er nimmt zaghaft die Rolle eines Beschützers ein, der den Beleidigern prophezeit, daß dem Künstler der Platz im Louvre schon gesichert sei. Es ist das Argument der
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Apotheose, das Zola hier gegen die Steinwürfe einsetzen will. Doch dieser zukünftige Triumph des Künstlers über seine Gegenwart ist ein schwacher Trost, wie es Adolph Menzel schon 1834 in seiner Illustrierung von Goethes Künstlers Erdenwallen klargestellt hat. 39 Strategien der Künstlerverteidigung? Zolas Schrift, Manets Katalogvorwort sind als Exempel solcher Strategien zu betrachten. Die Verteidigung negiert, was gleichzeitig von den künstlerischen Schaffensbedingungen geglaubt oder propagiert wird. Doch wird sichtbar, daß die aggressive Beziehung zwischen dem Künstler und dem Publikum zu einem Problem geworden ist. Der Künstler fühlt sich bedroht, das Publikum scheint stets zu Aggressionen bereit zu sein, zumindest zum ersten Grad, dem Gelächter. Dem Künstler ist bewußt, daß er mit seinen Werken sich selbst einem angriffslustigen Publikum aussetzt. Um 1860 war die aggressive Beziehung zwischen dem Publikum und den Künstlern, die außerhalb der offiziellen Anerkennung sich präsentierten, fest etabliert. Das Vertrauen in das Urteil der Öffentlichkeit, das David 1799 zu setzen vorgab, konnte Manet nur noch beschwören. Charles Baudelaires Theorie des Lachens von 1855 erfaßte, im Widerspruch zu früheren Ansichten, den menschlichen Charakter des Lachens in seinem Satanischen und Kontradiktorischen. Es ist zugleich das Zeichen eines unendlichen Elends - gegenüber dem absoluten Wesen - wie das Zeichen einer unendlichen Größe - gegenüber den Tieren. Baudelaire leitete das Gelächter aus dem dauernden Zusammenstoß dieser beiden Unendlichkeiten her.40 Zola hat in seiner Analyse des Publikums den Ausdruck des Elends, der Ratlosigkeit herausgestellt und ihn wiedererkannt im aggressiven H o h n der professionellen Kritiker gegenüber der nicht offiziell sanktionierten Kunst. Zola beschrieb die Regellosigkeit des Kunstbetriebs: die Kunstproduktion hat keine
verbindlichen Richtlinien, es gilt nur die vereinzelte Subjektivität, das Publikum erliegt den wechselnden Tagesschmeicheleien, und die Kritiker besitzen weder Maßstäbe noch Vernunft. Die Künstler selbst sind zur unablässigen Auseinandersetzung nach allen Seiten gezwungen und befinden sich in einem aggressiven Wettbewerb, einem täglichen Kampf um die Gunst der Massen und um Marktanteile. Jeder schnappt irgend etwas auf, sucht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den Käufern etwas anzudrehen. Zola sprach vom Kunstbetrieb im Zweiten Kaiserreich, in dem Napoleon III. mit aller Macht den Rückstand gegenüber England wettzumachen und Frankreich zur ersten industriellen und imperialen Großmacht in Europa zu machen suchte. Es scheint, daß die Kunstausstellungen wie die 1855 und 1867 in Paris organisierten Weltausstellungen die Arenen der Konfrontation der Produkte, des Kampfes um Beachtung und um Marktanteile, der Unterdrückungsversuche, der Spionage und der üblen Nachrede wie der feierlichen Auszeichnung und der Verehrung waren. Es gab für den Künstler keine Wahl: „Ausstellen ist die Lebensfrage, das sine qua non für den Künstler", steht in Manets Katalogvorwort von 1867. Damit war nicht bloß die wirtschaftliche Notwendigkeit gemeint, Kunden und Käufer für die Bilder zu finden. Vielleicht war damit zum ersten Mal klar und deutlich erkannt und ausgesprochen, daß Zeigen und Präsentieren in die Bedingungen der Herstellung von Kunst und in das Selbstverständnis der Künstler eingegangen war. Einen Künstler ohne die Möglichkeit des Ausstellens sieht Manet als Eingeschlossenen, Gefangenen, Troglodyten, dessen künstlerische Produktivität ohne Publikum versiegen muß.
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V. Der ausgestellte Artist Ein merkwürdiges Phänomen ist die Umwandlung der Auffassung von einem Bild. Wir sind heute gewohnt, Antoine Watteaus Bild „Gilles" als eine melancholische, wenn nicht tragische Darstellung dieser komischen Figur zu sehen. Doch diese Tragik ist eine jüngere Entdeckung, die im Gegensatz stand zur üblichen Auffassung, es handle sich um ein belustigendes Bild. Es war Jules Michelet, der Historiker, der 1863 Watteaus Figur neu interpretierte, indem er in ihr das vor dem Publikum ausgesetzte Opfer sah. Watteaus Bild zeigt das Publikum nicht ausdrücklich, stellt aber wohl eine parade, d. h. den um Besucher werbenden Auftritt der Komödianten vor ihrem Zelt dar. Watteaus Bild rechnet mit den Passanten, die als Zuschauer für die folgende Vorstellung angeworben werden sollen. 41 Michelet verstand allerdings Gilles' Auftritt als Abschluß einer Vorstellung und sah in ihm einen Gladiator, der vor dem Publikum als Todgeweihter im Moment des Triumphs sein Leben in einem einzigen Augenblick durchlebt: „Zum letzten Triumph, erdrückt von Erfolg, von Schreien und von Blumen, zeigt sich der arme Pierrot wieder dem Publikum, demütig und mit gesenktem Kopf, und vergißt für einen Moment den Saal; mitten in der Menge träumt er (von wie vielen Dingen! das Leben wie in einem Blitzschlag), er träumt, er ist vernichtet . . . Morituri te salutant. Seid gegrüßt, Leute, ich werde gleich sterben." Stellt man Michelets Interpretation die Präsentation Manets als verlachtes Opfer an die Seite, könnte man auf eine signifikante Übereinstimmung schließen. Manet wußte, wie an seinem Bild „Jesus wird von den Soldaten verspottet" abzulesen ist, welcher Gefährdung sich der Künstler mit dem Ausstellen aussetzte. Ausdrücklich thematisiert hat Edgar Degas die Kon-
frontation von Publikum, Ausstellung der Artisten und Gefährdung in einer Reihe von Darstellungen in den siebziger Jahren. Meist bildet Degas die Artistinnen - wie Daumier vor ihm hinter dem Publikum oder dem Orchester ab. Die Artistin oder Sängerin erscheint unvermittelt über den großen Köpfen im Vordergrund, in bestürzend kleinem Maßstab, in hellem Licht oder in der Beleuchtung von unten, die gespenstisch Unterkiefer, Nasenlöcher und Augenbrauen hervorhebt. Das Muster dieser Beleuchtung hatte Hans Holbeins d . J . „Toter Christus im Grab" in Basel gegeben, den das 19. Jahrhundert sehr wohl kannte. 42 Beispiele sind „Musiciens ä l'orchestre" im Städel und „Ballet de Robert le diable" in N e w York. In anderen Bildern - wie dem Pastell „La chanson du chien" - steht die Sängerin Theresa (Emma Valadon) in Halbfigur im Vordergrund in der Bühnenbeleuchtung, die sie von unten trifft. 4 3 Am eindrücklichsten stellt Edgar Degas' Bild der Artistin La La von 1879 die Exposition als Gefährdung dar. Uber Degas' „La La im Zirkus Fernando" (Abb. 11), das 1879 in der vierten Ausstellung der Impressionisten zu sehen war, schrieb der Kritiker Armand Sylvestre: „Fräulein Lala ist eine Mulattin mit den Formen eines jungen Mannes, und sie ist unerreicht darin, sich an ihren Zähnen an die Firststange der Varietes aufzuhängen. Degas zeigt sie in dieser poetischen Tätigkeit mit ihrem gewaltsam nach hinten gedrückten Krauskopf, ihrer gebogenen Wirbelsäule und den herabhängenden, leicht gekreuzten Beinen, wie sie sich langsam dreht am Ende eines Seils im zuckenden Licht der gewölbten Decke und der lärmigen Atmosphäre der Fröhlichkeit." 44 Degas wählte für die Darstellung der in der Zirkuskuppel hängenden Artistin einen Bildausschnitt und eine Körperstellung, die fast ausschließlich nach rechts und links aufsteigende Schrägen ergab. N u r die rötlichen Säulen und ein
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Teil der eisernen Träger geben die Vertikalen an. In der Beleuchtung von unten, die Sylvestre als zuckend beschreibt, erscheint exponiert die Artistin in weißem Kleid und weißen Stiefeln. Das Seil läuft schräg durch das Bild und kehrt senkrecht zum Mund der Artistin zurück. Die Aufhängung des Seils an der Rolle wird nicht gezeigt. Die Künstlerin scheint zu schweben in der Architektur, von der keine Tektonik hervorgehoben wird. Sie scheint schwerelos zu sein, eine Flugfigur. Doch Sylvestre hebt die gewaltsame Verrenkung ihres Körpers hervor, die das Bild von Degas zeigt. Das Risiko, die lebensgefährliche Exposition, erscheint nur in dieser Gewaltsamkeit, nicht etwa durch Reaktionen des Publikums. Von diesem zeigt Degas in dieser Aussetzung der Künstlerin über dem Abgrund nichts. Ein Bild des ausgestellten Künstlers? Es ist aufschlußreich, daß Degas' Darstellungen der ausgestellten Artistinnen inmitten eines seit 1850 sich verbreitenden Topos der Künstleridentifizierung stehen, die nomadisierende Artisten, Schausteller, Clowns, Gaukler, Seiltänzer und die Uberreste der Komödianten der Commedia de Warte umfaßt. Es ist nicht der glänzende gefeierte Artist, mit dem die Künstler seit der Jahrhundertmitte sich vorwiegend beschäftigten, sondern der traurige Clown, der triste Komödiant und der fahrende Sänger.45 Komödianten, Straßensänger, Gaukler und andere Randfiguren der bürgerlichen Gesellschaft tauchten in den Zeichnungen und Bildern von Honore Daumier um 1848 und von Edouard Manet um 1860 auf.46 Doch warum? Waren es Anklagen, waren die Artisten den Künstlern ein Gleichnis für ein
Abb. 11. Edgar Degas, La La im Zirkus Fernando, 1879. Lwd., 116,8 χ 77,5 cm. National Gallery, London.
Außenseiter- oder Randdasein, waren sie ein Beispiel dafür, daß die Kunst auf das Publikum angewiesen ist? Die Reihe der Darstellungen von Gauklern, Seiltänzern, Straßensängern und Clowns ist außerordentlich lang seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie umfaßt neben Daumier und Manet die Maler Redon, Seurat, Picasso, Rouault, Klee, Beckmann und andere. Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts tauchen die Filme mit Charlie Chaplin mit der Verbindung von Vagabund und traurigem Clown auf, dessen Randexistenz durch den heruntergekommenen Frack genau bezeichnet wird. Der Zirkus am Stadtrand scheint allegorisch den O r t des Künstlers in der Gesellschaft zu beschreiben, die Artisten scheinen als traurige und verlachte Spaßmacher oder als gefährdete Unterhalter die Spiegel der Künstler zu sein. So zeigte Marcel Carne den Pierrot mit Jean-Louis Barrault 1943/45 in Les enfants du paradis. O b die Darstellungen der Artisten als allegorische Porträts der bildenden Künstler zu interpretieren sind, muß allerdings von Fall zu Fall untersucht werden. Paul Klees „Übermut" (Abb. 12) von 1939 wurde kürzlich in die Reihen der vom Künstler immer wieder aufgegriffenen Darstellungen des Balancieraktes und des Kriegsausbruchs gestellt. Doch zeigt es sich, wie schwer es fällt, die naheliegende Vermutung auf eine Allegorie der künstlerischen Existenz im letzten Viertel des Jahres 1939 zu begründen. 47 Gewiß ist der Seiltänzer, der sein Gleichgewicht in prekärer Stellung zu erhalten sucht, die Figur für eines der künstlerischen Probleme, die Klee und seine Zeitgenossen beschäftigt haben. Das Gestänge der gebogenen Linien und die Farbflächen stellen im Bild „Ubermut" ein dynamisches Gleichgewicht her. Die Gefährdung zeigen der kopfüber nach unten hängende Equilibrist und das Ausrufezeichen. Das Bild demonstriert, daß der Ausgleich von Kräften und Gewichten, d. h.
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Abb. 12. Paul Klee, Übermut, 1939. Ol, Kleisterfarben / Packpapier auf Jute, 100 χ 130 cm. Kunstmuseum, Bern.
von Linien und Flächen, möglich ist. Die Verfolgung eines harmonischen Gleichgewichts von Flächen von verschiedenem Gewicht und von Linien unterschiedlicher Richtung und Kraft, dieses Angebot an Symmetrien durch Klee, Kandinsky, Mondrian und andere ist ein außerordentliches und noch kaum analysiertes Phänomen.
VI. Der Künstler und seine Gemeinde Als Honore de Balzac an seiner Erzählung Le chef-d'oeuvre inconnu, arbeitete, schrieb er auch an einem Essay über die Künstler. Diese Schrift von 1830 ist eine Konfrontation von Künstlerkult, Kunstreligion und Künstlerelend der zurückliegenden drei Jahrzehnte und stellte ein Identifikationsmodell für die Künstler bereit, in dem Messianismus und Leiden zu Schaffensbedingungen der Kunst deklariert waren.
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Balzac erklärte Christus zum bewundernswertesten Modell des Künstlers, dessen Leben unter dem Joch der Maxime stehe, daß ein großer Mann unglücklich sein müsse: „In dieser Beziehung ist Christus das bewundernswürdigste Modell. Dieser Mann, der den Tod erleidet zum Preis des göttlichen Lichts, das er über die Erde verbreitet, und der ein Kreuz besteigt, wo er sich von einem Menschen in einen Gott verwandelt, spendet ein gewaltiges Schauspiel: es ist mehr als eine Religion, es ist ein ewiger Typus des menschlichen Ruhmes. Dante im Exil, Cervantes im Spital, Milton in einer Strohhütte, Correggio ausgelöscht vom Gewicht einer Summe von Kupfermünzen, der ignorierte Poussin, N a p o leon auf St. Helena, all dies sind Bilder des großen und göttlichen Gemäldes, das Christus am Kreuz bietet, der stirbt, um aufzuerstehen, der seine sterbliche Hülle zurückläßt, um im Himmel zu herrschen. Mensch und Gott: Mensch zuerst, Gott nachher; Mensch, für die meisten; Gott, für einige Gläubige, kaum verstanden, dann plötzlich angebetet; schließlich, zum Gott geworden nur dadurch, daß er sich mit seinem Blut getauft hat." 48 Die Reihung der propagandistisch zusammengerafften Beispiele zeigt eine gewisse Ironie. Doch scheint Balzac seinen wichtigsten Satz über den Künstler ernst zu meinen: „Un artiste est une religion" - ein Künstler ist eine Religion. Er braucht den unbedingten, den messianischen Glauben an sich selbst und den Willen, durch sein Unglück sich zum Opfer seiner Kunst zu machen und im Unglück die Bedingung seines künstlerischen Schaffens wie auch die heimliche Garantie seines Künstlertums zu sehen. Damit dieser Mythos funktioniert, braucht der Künstler eine Gemeinde und eine unverständige und feindselige Umgebung. In Manets Katalogtext von 1867 ist dies angezeigt mit dem Satz: „Ausstellen heißt Freunde und Verbündete finden für
den Kampf." Damit ist zugleich gesagt, daß durch die Ausstellung die Gemeinde gefunden und die feindselige Umgebung bestimmt wird. Mit der Verschränkung von Leitfigur und Verfolgtem, messianischem Wahn und Selbstaufopferung hat Balzac den wirksamsten Künstlermythos formuliert. Es ist vielleicht kein Zufall, daß in der gleichen Zeit Samuel Palmer ein „Selbstbildnis als Christus" gemalt hat - das erste einer Reihe, die bis heute ebensowenig wie der zugehörige Künstlermythos an Anziehungskraft verloren hat. Es ist möglich, daß für diese Art der künstlerischen Selbstdarstellung Albrecht Dürers
Abb. 13. Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, 1500. Holz, 67 χ 49 cm. Alte Pinakothek, München.
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Oskar Bätschmann Münchner „Selbstbildnis" (Abb. 13) von 1500 das Modell gab. Vielleicht nicht unabhängig vom Dürer-Kult, der 1828 kulminierte, wurde erstmals wieder nach Georg Vischers Gemälde von 1637 die Identifikation von Künstler und Christus im Selbstbildnis wiederholt. 1842 erkannte Jules Michelet auf seiner Deutschlandreise in Dürers Münchner Selbstbildnis die Christusdarstellung - offenbar war dies für den Historiker noch eine Neuheit. 49 Die Reihe der Künstlerselbstdarstellungen als Christus im 19. und 20. Jahrhundert enthält jedoch nur wenige verklärende Identifikationen, wie sie Samuel Palmer vielleicht noch vornehmen konnte. Vielmehr folgten sie Balzacs Verschränkung des Messianischen mit dem einsamen Leidenden. Als exemplarisch bekannt ist James Ensors Identifikation mit dem leidenden Christus seit etwa 1885, als die Ablehnung, die Verkennung und Verspottung seines Werkes den Höhepunkt erreichte. 1887 zeigte Ensor auf der Jahresausstellung der Künstlervereinigung Les XX sechs große Zeichnungen aus den Jahren 1885/86 unter dem Titel „Les Aureoles du Christ ou les sensibilites de la lumiere".50 Zu übersetzen wäre diese Bezeichnung etwa mit „Strahlenglorien und Ausdrucksarten des Lichts", wenn man die einzelnen Benennungen, die vom Freudigen über das Abstoßende, das Lebendige, das Traurige, das Ruhige bis zum Starken reichen, berücksichtigt. Die Gleichung des Künstlers als Christus steht unter dieser Folge der unterschiedlichen Ausdrucksarten des Lichts. Die Folge der Zeichnungen ist, wie Gert Schiff gezeigt hat, keine imitatio Christi des Atheisten Ensor, sondern eine Identifikation mit dem exemplarischen Opfer als Menschen, wie es Balzac für den Künstler schon vorbereitet hatte.51 Die Szenen umspannen die Anbetung der Hirten, die Verspottung, den Einzug in Jerusalem, die Kreuzigung, die Kreuzabnahme und enden mit
der Himmelfahrt (Abb. 14), also mit der Apotheose des Künstler-Christus. Balzac hat das Muster geliefert für diese Identifikation des Künstlers mit einem exemplarischen Schicksal eines Leidenden, der seinen Feinden unterliegt, den Tod für das Licht erleidet, von seinen Jüngern betrauert wird und in der Nachwelt über seine Feinde triumphiert. Ensor hat vielleicht in seinem Werk die obsessivste und andauernste Identifikation mit Christus betrieben. Andere Identifikationen, die von Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Edvard Munch, Max Slevogt, Marc Chagall bis zu Joseph Beuys, Hermann Nitsch, Arnulf Rainer und anderen sind dagegen punktuell. Sie treten auf als eine Möglichkeit der Selbstdarstellung der Künstler als Verfolgte, Unverstandene und Verletzte. Zugleich wird diese Identifikation wieder zum Gegenstand der Verspottung der Künstler und des Kults, der mit ihnen betrieben wird.52 Die Künstler wiederholen mit diesen Darstellungen - den Identifikationen, der Präsentierung von Reliquien des Selbst-Leidens, dem Anschlagen ans Kreuz wie Beuys in der Moor-Aktion von 1971 - die mythische Exposition als Opfer. Es ist vielleicht erhellend, an Sigmund Freuds Abhandlung Totem und Tabu zu erinnern, die 1912-1913 mit dem Untertitel „Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker" erschienen ist.53 Freud nahm eine Massenpsychose an, studierte ihre Kontinuität und führte die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst im Odipus-Komplex zusammen. Freud war auf der Suche nach Vorgängen, die in der Geschichte der Menschheit
Abb. 14. James Ensor, Christi Himmelfahrt, um 1886. Kohle und Kreide, 150 χ 100 cm. Privatbesitz, England.
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untilgbare Spuren hinterlassen haben sollten. Er knüpfte eine Verbindung zwischen einer primitiven Totenmahlzeit und der griechischen Tragödie. Er sah, daß in der Tragödie der tragische Held die Schuld des Chores bzw. seiner Brüderschar auf sich nimmt und durch seine Opferung den Chor von der Schuld befreit, die in der Auflehnung gegen die Autorität oder in ihrer Ermordung besteht. Freud kam zur Annahme einer Massenpsyche und behauptete die Tradierung des Schuldbewußtseins über Generationen hinweg. Bietet Freuds Antwort auf die Frage: Warum muß aber der Held der Tragödie leiden, und was bedeutet seine „tragische" Schuld? eine Antwort auf die Frage: Warum muß der Künstler leiden? Nimmt er, indem er sich der mythischen Figur des unschuldig Leidenden bedient, indem er sich als Verletzten darstellt, die Schuld der Gesellschaft auf sich, indem er ihr die Schuld zuspricht, von ihm nichts wissen zu wollen und die Kunst zu töten?
gleichen Jahr unter dem Titel Vom Künstler und seiner Seele.5* Hausenstein unterschied zwischen der „ekstatischen Künstlerseele" und der „naturalistischen Laienseele" und begründete auf eine nicht mehr sehr originelle Weise den Konflikt zwischen dem Künstler als dem außerordentlichen Menschen und Seher und dem Publikum, das will, daß in den Bildern die Menschen wie Menschen und die Bäume wie solche aussehen. Den Künstlern ist ein beständiges, zweifaches Martyrium zugedacht: „Der Künstler ist der Mensch, der die dem Menschen möglichen Gesichte am stärksten, am visionärsten erlebt. Eine Vision ist an sich selber schon ein Martyrium: es ist nicht leicht, das Antlitz des Erdgeistes zu ertragen. Aber für diese Vision wird der Künstler, der pathetische Künstler, dieser Heros der Menschheit, obendrein noch gestraft: denn das Publikum lacht ihn dafür aus - es hat mit den Ekstasen des künstlerischen Visionärs nichts zu tun und dafür läßt es ihn büßen." (Abb. 15 und 16).
Ich will damit nicht suggerieren, Freuds Schrift könne zu einer psychologischen Erklärung dienen. Sie ist hier zuerst ein Zeugnis, das den zahlreichen Selbstdarstellungen der Künstler als Verletzte, Verwundete, Märtyrer und Opfer an die Seite zu stellen ist. Der ganze Komplex bedarf selbstverständlich der genauen und eingehenden Analyse. Sie kann allerdings sich nicht beschränken auf die Darstellungen, sondern muß die Zusammenhänge einbeziehen zwischen den Verhaltensmustern der Künstler, den Erwartungen und den Reaktionen des Publikums, den Schaffens- und Präsentationsbedingungen und den verschiedenen Vorstellungen von der Kunst und ihren Funktionen.
Diese Konfrontation von Künstler und Publikum folgt einer verbreiteten Uberzeugung. Sie würde erst präziser, wenn sie die ikonoklastischen Akte nennen würde, mit denen das Publikum anonym die Werke mehr und mehr zu den Objekten des Martyriums machte. Sie würde auch erst genauer, wenn statt vom Künstler im pathetischen Singular von den Künstlerinnen und den Künstlern die Rede wäre.
Eine Gegenüberstellung, die in diesem Zusammenhang wichtig wird, nehme ich hier andeutungsweise vorweg. Wilhelm Hausenstein hielt 1914 in der Akademie für Jedermann in Mannheim vier Vorträge und publizierte sie im
Lu Märten hat 1914 das kleine Buch Die Künstlerin für die Reihe der Kleinen Monographien zur Frauenfrage verfaßt. Erschienen ist das Buch erst 1919, nach dem Krieg.55 Während Hausenstein sich mit der männlichen Künstlerseele beschäftigte, lenkte Lu Märten den Blick zunächst auf die wirtschaftliche Situation der Künstler, dann auf die verstärkten ökonomischen Schwierigkeiten der Künstlerinnen und auf die sozialen, mentalen und institutionellen Hindernisse, die der künstlerischen Ausbildung und
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Abb. 15. Ferdinand Hodler, Selbstbildnis, 1900. Ö l / L w d . , 41 χ 2 8 , 6 cm. Staats galerie, Stuttgart.
Tätigkeit der Frauen entgegenstehen. Die gegenwärtige Situation charakterisierte Märten als allgemeine „Ratlosigkeit der Künstler über die Kunst und ihre Aufgabe". Die Künstlerin hätte demzufolge nicht der männlichen Kunstausübung nachzueifern, sondern aus einer „anspruchsvollen Lebensbeziehung ihre Aufgabe" zu finden. Märten hielt es für denkbar, daß die Frau und Künstlerin die künstlerische Tätigkeit auf „soziales Bewußtsein und Verantwortung
Abb. 16. Paul Klee, Versunkenheit, Selbstporträt, Bildnis eines Expressionisten, 1919. Lithographie, 23,5 χ 15,8 cm. Kunstmuseum, Paul-Klee-Stiftung, Bern.
innerhalb des Kunstschaffens" richte. Mit guten Gründen hat Lu Märten - fern jeder faustischen Romantik - auf der technischen Kompetenz der weiblichen Künstler beharrt und sie mehr an die Vorstellungen von John Ruskin und William Morris anzuschließen versucht als an die Lehre von der vagierenden Subjektivität und dem genialen Irrsinn. Zu Hausensteins romantisch-faustischer Konzeption des Künstlers und seinem Schicksal als
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unglücklichem und verlachtem Seher bildet Lu Martens Entwurf der sozialen Funktion der Künstlerinnen einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Gegensatz. Sie verfolgt mit keinem Gedanken den mystizierenden Begriff des Künstlers. Ihr geht auch jede schriftstellerische Larmoyanz ab, die sich einzuschwingen sucht in die Beklagung des verständnislosen Publikums und des unverstandenen Künstlers. Ahnlich ist bei den Künstlerinnen der Hang zur Selbstdarstellung als Opfer weit geringer als bei den Künstlern. Ein Beispiel dafür wäre selbst Camille Claudel, eine Künstlerin und ein Frauenopfer eines Künstlers. 56
VII. Aufnahme von Magischem 1963 erschien das Buch von Margot und Rudolf Wittkower über die Künstler und die Melancholie unter dem Titel Born under Saturn in London. Zwei Jahre später wurde die deutsche Ubersetzung von Gisela und Georg Kauffmann publiziert. Das Buch hieß nun: Künstler - Außenseiter der Gesellschaft. Der englische Untertitel The Character and Conduct of Artists wurde weggelassen. Die Titel wissenschaftlicher Werke dienen selbstverständlich wie die anderer Publikationen gleichzeitig zur Inhaltsbezeichnung wie zur Werbung und nehmen Rücksicht auf ein durchschnittliches aktives Wissen des Zielpublikums. Der englische Verleger hatte offenbar ein größeres Vertrauen in die allgemeine Kenntnis der alten Verbindung zwischen schöpferischer Arbeit und Melancholie. Er durfte auf die gebildete Nachwirkung von Robert Burtons höchst erfolgreicher Anatomy of Melancholy von 1621 setzen. Im deutschen Sprachbereich gab es diesen Hintergrund nicht, weil Burtons Buch hier keine Wirkung entfaltet hatte, vor 1988 nicht in deutscher Ubersetzung greifbar war und die Bildung
die mythologische Kenntnis nicht mehr einschloß. Gesetzt wurde hier auf die Attraktion der Abseitsstehenden, auf das bürgerliche Interesse am Ruch des Sensationellen und Skandalösen, auf die Erinnerung an Montmartre und die Schminke der Boheme, die den Künstlern von Kunstschriftstellern und Kunsthistorikern noch immer freigebig zugeteilt wurde. Der klassische Befund für das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft lautete: Entfremdung. Zu Recht analysierte Werner Hofmann die Entfremdung der deutschen Künstler vom Publikum in der Mitte des letzten Jahrhunderts. 57 Entfremdung, wie immer man sie näher bestimmt - als Fremdbestimmung, als Nichtübereinstimmung mit sich selbst, als Depersonalisierung oder Isolierung - , ist zu einem Mythos der Künstler und des Kunstpublikums geworden. Künstler wie Gauguin haben mit Abscheu den Gedanken abgelehnt, einen öffentlichen Auftrag auszuführen, weil er ihnen nur die Wahl zwischen Selbstverrat oder Schummelei lassen würde. 58 Die fatale Wahl, die Gauguin beschrieb, war die zwischen Entfremdung vom Publikum und Entfremdung von sich selbst. Viele Künstler haben an der Entfremdung zwischen der Größe, die als „Gesellschaft" zu bezeichnen ist, als Schaffensbedingung festgehalten, und die Kunstschreiber haben die Entfremdung als Mythos fort und fort gepflegt. Das Konzept der Avant-garde, der Vorkämpfer für eine neue Sache, hatte umso mehr Erfolg, je mehr das Neue sich als siegreicher Trend für Kunstfreunde und Investoren durchsetzte. Harold Rosenberg hat 1972 versucht, mit einer kurzen und zutreffenden Bemerkung die Entfremdung als Leitbegriff für die Interpretation der Avant-garde der sechziger Jahre vom Tisch zu wischen. Die Bemerkung widerstreitet Renato Poggiolis Untersuchung The Theory of the Avant-Garde, die postum 1968 erschienen war. Während Rosenberg eine Entfremdung zwi-
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sehen dem Künstler und der Kultur der Masse zugestand zwischen 1913 und dem ersten Auftreten von Pollock, Gorky, Rothko, Newman, Gottlieb und de Kooning, bestritt er, daß diese Feindschaft seit dem Auftreten der Pop Art noch existierte: „Heute sind sowohl die Entfremdung des Künstlers wie die Gegnerschaft von öffentlicher Meinung und Kunst erfolgreich beseitigt worden." 59 Dieser Erfolg, wenn er so überhaupt stattfand, hielt nur kurze Zeit an und war begrenzt auf New York und ferner auf die Gemeinde der Pop Art. Vermutlich war diese Gemeinde identisch mit dem Jet Set der New Yorker Kunstszene am Ende der sechziger Jahre. Darüber fehlen vorläufig die Ermittlungen. Wenn diese Identifizierung zu Recht erfolgen würde, müßte die Beseitigung des Antagonismus zwischen der modernen Kunst und dem Publikum als ein höchst beschränktes gesellschaftliches Phänomen begriffen werden. Die begrenzte Ubereinstimmung zwischen den Künstlern und ihren Gemeinden gibt es überall, sowohl in den mittelhessischen Dörfern wie in den Metropolen. Und ebenso überall stellt sich die Meinung, an einer Spitze zu stehen und zu dem ausgewählten Kreis der Eingeweihten zu gehören, die sich gegenüber Unverständigen und Zurückgebliebenen absetzen, als das gemeinsame Bewußtsein her. Dafür wird gewöhnlich von der Gemeinde ein Hauptsprecher benötigt, der sowohl eine geschickte Erläuterung der Kunstobjekte liefern, das Bewußtsein der Initiation schaffen oder bestätigen und zugleich eine progressive Selbsteinschätzung fördern kann. Gewöhnlich taucht bald ein höchst fataler Mythos auf, der von „wahrer" Kunst und „wahren" Künstlern. Die Unterscheidung von „falscher" Kunst und Künstlern, die impliziert wäre, wird nicht ausdrücklich vorgenommen. Meist wird der emphatische Gebrauch von „wahr" als ausreichend betrachtet.
1925 haben Carl Einstein und Paul Westheim in ihrem Europa-Almanach einen kurzen Text von Amedee Ozenfant über die gegenwärtige Kunstkrise aufgenommen. Ozenfant nannte als hauptsächliches geheimes Übel die Ungewißheit der Künstler selbst über den Zweck der Kunst und eine gewisse Zurückhaltung, sich ernst aufzufassen. Als Ursachen betrachtete Ozenfant die Entfremdung zwischen Publikum und Künstler und den übermächtigen, fast religiösen Glauben an die Wissenschaft. Eine Passage beleuchtet den Bruch zwischen Publikum und Künstlern und ordnet den „wahren" Künstlern eine kleine Gemeinde, den „falschen" die Rolle der Publikumslieblinge zu: „Das Publikum will nur noch eine behagliche Kunst, das heißt, eine amüsante leichte Kost als Kunst. Der Künstler ist nach und nach in die Reihe der Spaßmacher gelangt. Die allermeisten Künstler geben sich mit diesem Klappsitz an ihrem ehemaligen Thron zufrieden, die wahren Künstler ziehen sich nun in ihren Elfenbeinturm und ihre Laboratorien zurück und wenden sich nur noch einigen seltenen Amateuren und Forschern zu. In das Herz der Künstler selbst hat sich wegen dieses Bruches und anderer Ursachen wegen ein Zweifel über den wirklichen Nutzen des Künstlerwerkes geschlichen." 60 Zur Überwindung der Krise und dieser fatalen Alternative schlug Ozenfant vor, durch die Erforschung der universellen und dauerhaften Grundlagen der Kunst die künstlerische Tätigkeit auf das einzige wahre Ziel zu bringen, „den höheren Bedürfnissen unseres Geistes zu genügen". Diese Idee, die Kunst neu zu gründen auf objektiven Grundlagen, durch die systematische Erforschung der Grammatik, durch die Bestimmung der Elemente und der Kompositionsgesetze, tauchte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder auf. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wurde sie erneut aktualisiert
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Oskar Bätschmann durch die Vereinigung De Stijl, durch das Bauhaus in Weimar und Dessau und durch Ozenfant und Le Corbusier in Paris, wie auch durch die Konkrete Kunst der dreißiger und vierziger Jahre. Diese Versuche führten auch eine Demystifikation des Künstlers mit sich, insofern sie die künstlerische Arbeit als eine normale Form der Arbeit betrachteten. In bezug darauf ist keiner der Versuche erfolgreich gewesen, und alle sind gegenüber dem Verlangen nach Mystifikation des Künstlers und seiner Produkte den Kunstinstitutionen und dem Publikum und dem größten Mystifikator, dem Geld, gescheitert, genauso wie Duchamps Ready-Mades dem Kunstbegriff erlegen sind, als dessen Antithese sie gemeint waren - um hier das bekannteste Muster für diese Verwandlung einmal mehr anzuführen. Die Suche nach universellen und gültigen Grundlagen der Kunst stellte die Annahme, daß die Kunst vom Künstler ausgehe, nicht in Frage. Duchamps Ready-Mades hätten lehren können, daß die Verwandlung von Objekten in Kunstwerke nicht mehr im Kompetenzbereich des Künstlers liegt. Kunst wird heute nicht vom Künstler allein geschaffen, sondern durch eine kollektive Aktion. Beteiligt sind die Künstler, die eine Art von Vorschlagsrecht besitzen oder beanspruchen, die Gemeinden und ihre apologetischen Wortführer, die privaten und öffentlichen Institutionen der Präsentation und die Institutionen der Rezeption. Es gibt keine Regeln für die Produktion von Kunst, keine Anforderungen an die Künstler und keine Regeln für die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst. Obwohl es dies alles nicht gibt, funktioniert die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst durchaus. Diese Unterscheidung ist keineswegs von vornherein auf den Künstler fixiert, wie es Kurt Schwitters gemäß seines verachtungsvoll hingespuckten Satzes von 1925 haben wollte, daß
nämlich alles, was ein Künstler spucke, Kunst sei.61 Die Ausgrenzung von Kunst aus einer Undefinierten Masse von Dingen ist ein langer Prozeß einer Transformation, an dem zahlreiche Personen und Institutionen beteiligt sind. Am Anfang steht jeweils die individuelle Tat, ein vorgefundenes oder verfertigtes Ding zur Verwandlung in Kunst vorzuschlagen. Dieser Vorschlag wird vielleicht aufgenommen, er wird bestritten oder bekämpft, fallengelassen oder verteidigt und durchgesetzt. Die verschiedenen möglichen Positionen werden von den Gemeinden, den Wortführern, den Konkurrenten, dem Kunsthandel, den Medien, den Museen und der Kunstgeschichte eingenommen, und die Einnahme von Funktionen der Beschleunigung oder Verhinderung ist keineswegs von Anforderungen an die Objekte bestimmt. Mißlingt die Transformation, fällt das Objekt in den Müll - wie Duchamps erster „Flaschentrockner", der 1916 von der Schwester Suzanne beim Aufräumen des Ateliers fortgeworfen wurde62 gelingt er, wird aus dem Objekt ein Kunstwerk und aus dem Initiator ein Künstler. Nach dieser Transformation sind die Objekte, wie gewöhnlich sie auch waren, sakrosankt. Sie werden mit der Forderung nach eingehendem Betrachten ausgestattet, werden mit Verboten umgeben (man darf sie nicht berühren, nicht verändern, nicht wegwerfen, nicht zerstören, man darf nicht ohne Vorsichtsmaßnahmen schlecht von ihnen sprechen, man darf sie nicht reproduzieren oder kopieren), und sie werden durch eine Reihe von Maßnahmen geschützt (durch Vitrinen, Alarmanlagen, Wärter und Versicherungspolicen). Sie sind auch der Verfügung des Urhebers weitgehend entzogen, ein Künstler darf ein Werk im Museum nicht verändern, wenn es ihm nicht mehr gefällt. Wenn ein Künstler wie Daniel Spoerri vor seinen Fallenbildern (Abb. 17) im
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Abb. 17. Daniel Spoerri, Tableau piege chez Tinguely, 1960. Verschiedene Materialien auf Holzplatte, 80 χ 120 χ 17 cm. Städtisches Museum, Mönchengladbach.
Museum behauptet, daß sie „eigentlich Schrott" seien, zeigt sich in einem Augenblick der volle Transformationsvorgang. Der Wert, der den Objekten beigemessen wird, entspricht weder dem Materialwert - selbst nicht bei der rich art noch einem durch die künstlerische Arbeit erbrachten Mehrwert. Der Wert - wenn es dafür überhaupt einen Maßstab gibt - ist ein Ausdruck der Konkurrenz des Begehrens nach dem Besitz dieser Objekte und ein Ausdruck des Kurswertes des Künstlers. Möglicherweise muß diese Transformation als ein moderner magischer Vorgang beschrieben werden. Es scheint gewisse Ubereinstimmungen zu geben zwischen ihm und der Verwandlung
von Artefakten oder von „nicht-gemachten" Bildern in wundertätige und machtvolle Ikonen. Das Zeitalter des magisch wirkenden Bildes ging, nach Hans Beltings großer Untersuchung, mit dem Beginn der Renaissance zu Ende und wurde abgelöst von der Ära der Kunst. Vielleicht müssen wir, seit dem Beginn dieses Jahrhunderts, einen weiteren Wandel erkennen, nämlich das Ende des Zeitalters der Kunst und die erneute Beschwörung von Mächten durch die Artefakte, die durch einen kollektiven Vorgang transformiert werden. Daß das Resultat dieser Verwandlung immer noch „Kunstwerk" heißt und diese Transformation wesentlich in den Institutionen der Kunstpräsentation vollzogen wird, sollte
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nicht eine unüberwindbare Verwirrung schaffen. 63 Es liegt auf der Hand, daß diese These einer eingehenden Ausarbeitung und Differenzierung bedarf. Der Ubergang von der Ära des Bildes zum Zeitalter der Kunst vollzog sich nicht mit einem Schritt, ebensowenig der Ubergang
vom Zeitalter der Kunst in eine neue Phase, die wir noch nicht einmal mit einer Benennung versehen können. Es wird ebenso schwierig sein, den zweiten Ubergang aufzuzeigen wie den ersten zu analysieren.
Anmerkungen 1 Dank einer Einladung des Getty Center for Art History and the Humanities als Scholar des akademischen Jahres 1990/91 konnte ich das Projekt entwickeln und die ersten Forschungen unternehmen. Mein Dank geht an den Direktor des Center, Prof. Kurt W. Forster, und den Leiter des Scholar Program, Dr. Herbert H. Hymans. - Einige Probleme konnte ich Prof. Francis Haskell und Prof. Albert Boime vorlegen. Ich danke beiden für Anregungen, vor allem aber für die Ermunterung. 2 Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. 3 Vgl. die ersten beiden bis jetzt erschienenen Bände der Social History of Modern Art von Albert Boime, Art in an Age of Revolution 1750-1800, Chicago/ London 1987, und Art in the Age of Napoleonism, Chicago/London 1990. 4 Ernst Kris u. Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934; die zweite deutsche Ausgabe, erweitert um das Vorwort, das E . H . Gombrich für die englische Ausgabe verfaßt hat, erschien 1980 in Frankfurt/M. Georg Friedrich Koch, Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967; Jon Whiteley, Exhibitions of Contemporary Painting in London and Paris 1760-1860, in: Francis Haskell (Hrsg.), Saloni, Gallerie, Musei (Atti del X X I V congresso internazionale di storia dell'arte, Bologna 1979), Bologna 1981, S. 69-87; Elizabeth Gilmore Holt (Hrsg.), The Triumph of Art for the Public. The Emerging Role of Exhibitions and Critics, Washington 1980; Elizabeth Gilmore Holt (Hrsg.), The Art of all Nations 1850-1873. The Emerging Role of Exhibitions and Critics, Princeton N . J . 1982; Elizabeth Gilmore Holt (Hrsg.), The Expanding World of Art 1874-1902. Universal Exhibitions and State-Sponsored Fine Arts Exhibitions, Bd. 1, New Haven/London 1988; Thomas E. Crow, Painters and
Public Life in Eighteenth-Century Paris, New Haven/London 1985; Ekkehard Mai, Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens, München/Berlin 1986. 5 John Knowles, The Life and Writings of Henry Fuseli, Bd. I, London 1831, S. 174-175: „,There are', says Mr. West, ,but two ways of working successfully, that is, lastingly, in this country, for an artist the one is, to paint for the King; the other, to meditate a scheme of your own'. The first he has monopolized; in the second he is not idle: [ . . . ] In imitation of so great a man, I am determined to lay, to hatch, and crack an egg for myself too, if I can. What it shall be, I am not yet ready to tell with certainty; but the sum of it is, a series of pictures for exhibition, such as Boydell's and Macklin's." Der Brief ist an William Roscoe gerichtet, es geht um Füsslis Milton Gallery; vgl. David Irwin, Fuseli's Milton Gallery: Unpublished Letters, in: The Burlington Magazine 101, 1969, S. 436-440. 6 Vgl. zu dieser Fragestellung Wolfgang Kemp, Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1983; und die Sammlung von Aufsätzen: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, hrsg. v. Wolfgang Kemp, Köln 1985. 7 Der aufschlußreichste Bericht über die Ausstellung des „Serment des Horaces" 1785 in Rom von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein wurde im Februar 1786 im Teutschen Merkur, S. 169-185, publiziert, vgl. Holt 1980 (Anm. 4), S. 16-24; Jacques-Louis David 1748-1825. Katalog der Ausstellung im Louvre 1989/ 90, Paris 1989, Nrn. 67-72, S. 162-171. 8 Jacques-Louis David 1748-1825 (Anm. 7); vgl. meinen Aufsatz: Jacques-Louis David's Paintings in the Salon of 1789, in: La brecia antica. Mito e simbolo per l'eta della grande rivoluzione, hrsg. v. Ph. Boutry u.a., Mailand 1990, S. 225-237.
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9 Whiteley (Anm. 4), S. 74. 10 Jacques-Louis David, Le tableau des Sabines, expose publiquement au Palais National des Sciences et des Arts, Paris, Απ VIII [1799], S. 2 - 3 : „N'est-ce pas une idee aussi juste que sage que celle qui procure aux arts les moyens d'exister par eux-memes, de se soutenir par leurs propres ressources, et de jouir de la noble independence qui convient au genie, et sans laquelle le feu qui l'anime est bientot eteint? Dun autre cote, quel moyen plus digne de tirer un parti honorable du fruit de son travail que de soumettre au jugement du public, et de n'attendre de recompense que de l'accueil qu'il veut bien lui faire? Si la production est mediocre, le jugement du public en aura bientöt fait justice. L'auteur, ne recueillant ni gloire ni indemnite, s'instruira, par une severe experience, des moyens de reparer ses fautes, et de captiver l'attention des spectateurs par de plus heureuses conceptions." 11 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Briefe aus Rom, in: Der Teutsche Merkur, Februar 1786, S. 169-185; vgl. Holt 1980 (Anm. 4), S. 16-24. 12 [La Font de Saint-Yenne], Sentimens sur quelques ouvrages de Peinture, Sculpture et Gravüre, s.l. 1754, Nachdruck Genf 1970; Anne Claude de Caylus, Nouveaux Sujets de Peinture et Sculpture, Paris 1755; Johann Joachim Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunst, s.l. [Friedrichstadt] 1755, vgl. Winckelmann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hrsg. v. Walther Rehm, Berlin 1968, S. 27-59; Walter Scheidig, Goethes Preisaufgaben für Bildende Künstler 1799-1805 (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 57), Weimar 1958. 13 Zum Phänomen und zur erstmaligen Umschreibung des „Künstlerrats" vgl. Wilhelm Schlink, Jacob Burckhardts Künstlerrat, in: Stadel-Jahrbuch, N.F. 11, 1987, S. 269-270. 14 Meyer Schapiro, Diderot on the Artist and Society, in: Diderot Studies, Bd. 5, hrsg. v. O. Fellows, Genf 1964. 15 Les Freres Sablet. Katalog der Ausstellungen in Nantes, Lausanne und Rom, bearb. von Anne Van de Sandt, 1985, Nr. 5-7, S. 46-49; Oskar Bätschmann, Malerei der Neuzeit (Ars Helvetica, Bd. VI), Disentis 1989, S. 113-116. 16 Louis Bridel, Lettre sur les Artistes suisses maintenant a Rome (1789), in: Le Conservateur Suisse ou Recueil Complet des etrennes helvetiques, Bd. 2, Lausanne 1813, S. 342-453. 17 Friedrich Schiller, Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, 1. Teil, hrsg. v. Benno Wiese, Weimar
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1962, S. 304-412. - Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 59-64. Schiller (Anm. 17), S. 398-404. E.T. A. Hoffmann, Die Jesuiterkirche in G., in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Carl Georg von Maassen, Bd. 3, München/Leipzig 19081928, S. 104-135. Honore de Balzac, Le chef-d'oeuvre inconnu, in: Ders., La Come die humaine (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 10: Etudes philosophiques, hrsg. v. Pierre-Georges Castex, Paris 1979, S. 413-438. Martin Disler, Bilder vom Maler (1980), Dudweiler 21981, S. 133-138 und Klappentext. Clara Bodenmann-Ritter, Joseph Beuys. Jeder Mensch ist ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5/1972, Frankfurt/M. 1975, 31991. Gustave Courbet (1819-1877). Katalog der Ausstellung im Grand Palais Paris 1977/78, Paris 1977, Kat. Nr. 35, S. 122-124. Gustave Courbet (1819-1877) (Anm. 23), S. 246247: „J'ai l'esprit fort triste, l"ame tres vide, le foie et le coeur devores d'amertume. [ . . . ] Vous savez que ma femme est mariee, je n'ai plus ni femme ni enfant. II parait que la misere l'a force ä cette extremite. C'est ainsi que la societe avale son monde. Ii y avait 14 ans que nous etions ensemble." Vgl. Klaus Herding (Hrsg.), Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt/M. 1978, 2 1984, S. 23-26. Pierre-Joseph Proudhon, Du principe de l'art et de sa destination sociale, Paris 1865, Nachdruck Farnborough 1971, dt.: Von den Grundlagen und der sozialen Bestimmung der Kunst, übers, u. eingeh v. Klaus Herding, Berlin 1988; Pierre-Joseph Proudhon, Systeme des contradictions economiques ou Philosophie de la misere, Paris 1846; Pierre-Joseph Proudhon, Philosophie du progres, Brüssel 1853. Vgl. unter der zahlreichen Literatur zu Courbets Atelierbild vor allem Helene Toussaint in Gustave Courbet (1819-1877) (Anm. 23), S. 241-272, und James Henry Rubin, Realism and Social Vision in Courbet & Proudhon, Princeton 1980. Gustave Courbet (1819-1877) (Anm. 23), S. 122-124. Charles Leger (Hrsg.), Courbet selon les caricatures et les images, Paris 1920. Emil Maurer, Courbet: „Die Forelle". Bemerkungen zu einem Bild im Kunsthaus Zürich, in: E. Maurer, Im Bann der Bilder. Essays zur italienischen und französischen Malerei des 15.-19. Jahrhunderts, Zürich 1992, S. 132-140. Pierre Bourdieu u. Alain Darbel, L'amour de l'art. Les musees d'art europeens et leur public, Paris 1969; Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du
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jugement, Paris 1979; dt.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982; Dario Gamboni, Un iconoclasme moderne. Theorie et pratiques contemporaines du vandalisme artistique, Zürich/Lausanne 1983. Gustave Le Bon, Psychologie des foules, Paris 1895. Charles Baudelaire, Salon de 1859, in: Revue Franqaise, 1859, und in: Curiosites esthetiques. L'Art romantique et autres oeuvres critiques, Paris 1962, S. 305-396. Emile Zola, Une nouvelle maniere en peinture. Edouard Manet, in: Revue du XIXe siecle, 1. Januar 1867, vgl. Emile Zola, Salons, Hrsg. v. F. W.J. Jemmings u. R.J. Niess, Genf/Paris 1959, S. 83-103; vgl. die deutsche Ausgabe: Emile Zola, Schriften zur Kunst. Die Salons von 1866 bis 1896, übers, v. U. Aumüller, Frankfurt/M. 1988, S. 47-75. Manet 1832-1883. Katalog der Ausstellung in Paris, Grand Palais, 1983, Paris 1983, Nr. 64, 87, S. 174189, S. 226-229. - Charles Blanc, Histoire des peintres de toutes les ecoles. Ecole venitienne: Titien Vecelli, Paris [o.J.], S. 11-15; Theodore Reff, Manet and Blanc's ,Histoire des Peintres', in: The Burlington Magazine 112, 1970, S. 456-458. Degas. Katalog der Ausstellungen in Paris, Ottawa und New York 1988/89, Paris 1988, Nr. 72, 73,' S. 128-129. Manet 1832-1883 (Anm. 33), Nr. 62, S. 165-173. Hans Graber (Hrsg.), Edouard Manet nach eigenen und fremden Zeugnissen, Basel 1941, S. 98-99. Edouard Manet, Catalogue des Tableaux de M. Edouard Manet exposes Avenue de l'Alma en 1867, Paris 1867, Nachdruck in: Modern Art in Paris. Exhibitions of Impressionist Art I, hrsg. v. Theodore Reff, New York/London 1981; vgl. Graber (Anm. 36), S. 109-111, und Alan Krell, Manet, Zola and the „Motifs d'une exposition particuliere", 1867, in: Gazette des Beaux-Arts 124, 1982, S. 109-115. - Das Argument der Aufrichtigkeit und ihres Mißverständnisses stammt aus: Theophile Thore [W. Bürger], Les musees de la Hollande, Paris 1858-1860, Bd. 2, S. XIV. Vgl. ausführlicher: Oskar Bätschmann, Edouard Manet: Der Tod des Maximilian, Frankfurt/M. 1993. Die Revue du XIXe siecle nannte in einer redaktionellen Vorbemerkung Zolas Aufsatz „une etude hardie", eine gewagte Studie. Die Bedeutung der Änderung des Titels für den Druck als Broschüre ist nicht im Zusammenhang mit Manets Katalogvorwort gesehen worden. Zu den Nachweisen vgl. oben Anm. 37. - Charles Clement, Gericault, etude biographique et critique, Paris 1867. Adolph Menzel, Künstlers Erdenwallen, Berlin 1834, vgl. Werner Hofmann, D'une alienation ä l'autre. L'artiste allemand et son public au XIXe siecle, in:
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d'une somme en cuivre, le Poussin ignore, Napoleon ä Sainte-Helene, sont des images du grand et divin tableau que presente le Christ sur la croix, mourant pour renaitre, laissant sa depouille mortelle pour regner dans les cieux. Homme et Dieu: homme d'abord, Dieu apres; homme, pour le plus grand nombre; Dieu, pour quelques fideles; peu compris, puis tout ä coup adore; enfin, ne devenant Dieu que quand il s'est baptise dans son sang" (S. 357). Philippe Junod, (Auto)portrait de l'artiste en Christ Das (Selbst)portrait des Künstlers als Christus, in: Erika Billeter (Hrsg.), Das Selbstportrait im Zeitalter der Photographie. Maler und Photographen im Dialog mit sich selbst. Katalog der Ausstellungen in Lausanne, Stuttgart, Berlin 1985, Bern 1985, S. 59-79; Eduard Hüttinger, Künstlerhaus und Künstlerkult, in: Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, hrsg. v. E. Hüttinger, Zürich 1985, S. 9-48. James Ensor. Katalog der Ausstellungen in Zürich und Antwerpen 1983, Zürich 1983, S. 134-153 (Gisele Ollinger-Zinque). Gert Schiff, Der Christus von Ostende: James Ensor, in: Bildfälle. Adolf Max Vogt zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Beat Wyss, Zürich/München 1990, S. 12-20, übersetzt den Titel so: Die Strahlenglorien Christi oder Arten, Licht zu empfinden. Vgl. Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt/M./ New York 1986. Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Uebereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker [1913], in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M. 1974, S. 287-444. Wilhelm Hausenstein, Vom Künstler und seiner Seele. Vier Vorträge gehalten in der Akademie für Jedermann in Mannheim, Heidelberg 1914. Lu Märten, Die Künstlerin (Kleine Monographien zur Frauenfrage, Bd. 2), München 1919; neue Ausgabe: Lu Märten, Die Künstlerin. Texte zur Ästhetik und Kultur der Frau, hrsg. v. Chryssoula Kambas, Darmstadt/Neuwied 1990; zur Stellung von Lu Märten innerhalb der weitgehend bornierten deutschen Diskussion um die künstlerische Begabung der Frauen vgl. Ruth Nobs-Greter, Die Künstlerin und ihr Werk in der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung (Diss. Universität Zürich 1984), Zürich 1984; Beatrix Geisel, Von der namenlosen Genialität der Frau, in: Kunstforum, Bd. 106, März/April 1990, S. 138-141, zuvor publiziert in: Ines Linder, Sigrid Schade, Silke Wenk u. Gabriele Werner (Hrsg.), Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 187-197. Klaus Theweleit, Buch der Könige, Bd. 1: Orpheus (und) Eurydike, Basel/Frankfurt/M. 1988. - Das Bild
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des Künstlers. Selbstdarstellungen. Katalog der Ausstellung in der Kunsthalle Hamburg 1978, hrsg. v. Siegmar Holsten, Hamburg 1978, eignet sich wenig zum Vergleich, da nur ein einziges Selbstbildnis einer Künstlerin aufgenommen ist. Hofmann (Anm. 39). Paul Gauguin, Lettres ä sa femme et a ses amis, hrsg. v. Maurice Malingue, Paris 1946; Paul Gauguin, Lettres ä Daniel de Monfreid, hrsg. v. Mme Joly-Segalen, Paris 1950. Harold Rosenberg, D.M. Z. Vanguardism, in: ders., The De-Definition of Art, New York 1972, S. 217218: „Yet art today, especially in America, has ceased to be responsive to the dialectic of the alienation of the artist and the counterblows of a hostile mass culture. [ . . . ] Today, both the alienation of the artist and the antagonism of public opinion to art have been successfully liquidated." - Vgl. die Untersuchung von Bradford R. Collins, Life Magazine and the Abstract Expressionists, 1948-1951: Α Historiographie Study of a Late Bohemian Enterprise, in: The Art Bulletin 73, 1991, S. 283-308. Amedee Ozenfant, Kunst, Wissenschaft und die Gesellschaft von morgen, in: Carl Einstein u. Paul Westheim (Hrsg.), Europa Almanack, Potsdam 1925, Nachdruck Leipzig/Weimar 1984, S. 192-205. - Vgl. Charles-Edouard Jeanneret-Gris u. Amedee Ozenfant, Apres le Cubisme, Paris 1918; Reprint: Turin 1975, und: L'Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920-1925. Katalog der Ausstellungen in Zürich, Berlin und Straßburg, hrsg. v. Stanislaus von Moos, Zürich 1987. Hans Arp u. El Lissitzky, Kunstismen 1914-1924, Erlenbach 1925. Vgl. Thomas Lersch, Der Taufschein der Anti-Kunst: Wilhelm Pinder schüttelt den Flaschentrockner (26. Juli 1914), in: Kunstchronik 42, 1989, S. 691-703. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; vgl. für die Ähnlichkeit der Vorgänge meine Besprechung von Beltings Buch: Ära des Bildes. Hans Beltings „Bild und Kult", in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 202, 1./2. Sept. 1990, S. 65-66. - Ich verdanke die Präzisierungen gegenüber der ersten, sehr fragmentarischen Darlegung den Einwänden von Marcel Baumgartner, ,Uber die Möglichkeit der Produktion von Bildern im Zeichen der Kunst', in: Leopold Schropp. Arbeiten zum Thema Maske und Haus. Katalog der Ausstellung in Schaffhausen, Museum zu Allerheiligen, 1991, S. 3-10. - Vgl. auch Werner Hofmann, Magisches in der modernen Kunst - Grenzen und Entgrenzungen [1972], in: ders., Gegenstimmen. Aufsätze zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1979, S. 62-81.
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. . eine Art Ikonographie im Bilde."1 Joseph Beuys - Von der Kunstfigur zur Kultfigur?
Joseph Beuys, zum Zeitpunkt der Entstehung seines Bildes „La rivoluzione siamo Noi" (Abb. 1) in den Jahren 1971/72 2 immerhin bereits 50 Jahre alt, marschiert entschlossen auf uns zu. Das rechte Bein, weit vorgesetzt, macht einen großen Schritt; gerade hat der Absatz des Stiefels auf dem unregelmäßigen Pflaster aufgesetzt. Mit dem unmittelbar zu erwartenden Abrollen des Fußes scheint er im nächsten Augenblick aus dem Bild herauszutreten. Alles drängt eindeutig, wenn auch nicht übertrieben, nach vorn: der linke Arm mit der beinahe zur Faust geschlossenen Hand schwingt gerade so weit vor, daß die Manschette des Hemdes ein wenig hochrutscht und den Blick auf die Armbanduhr freigibt; der leicht in der Hüfte abgeknickte Oberkörper unterstreicht die Bewegung genauso wie der aufgereckte Kopf mit dem den Betrachter frontal und zugleich unbestimmt durchdringenden Blick. Die rechte Hand hält die an der Hüfte hängende Umhängetasche fest, so als enthalte sie etwas Wichtiges. Hinter Beuys erblickt man eine geschlossene, von seitlichen Steinbänken gerahmte Tür; die Vegetation an der Hauswand und auch der Plattenweg, auf dem er ausschreitet, bezeichnen den ihn umgebenden Raum klar und unmißverständlich als Außenraum. Mit geradezu Brechtscher Klarheit hat Beuys seine Aussage „La rivoluzione siamo Noi" ins
Bild gesetzt: sie erscheint neben Stempel und Signatur unten rechts als Bildtitel. Der daraus entstehende Bild-Wort-Zusammenhang charakterisiert die Arbeit im Grunde als Emblem. Wirklichkeit und Sinnbild - Photographie und Emblem - sind so auf unvergleichliche Weise ins Bild gebracht. Die Botschaft des Bildes ist daher in dieser vorderen Sinnschicht für jedermann leicht zu verstehen: Beuys ist aus dem Inneren des Hauses herausgetreten ins Freie, d. h. in die Öffentlichkeit; die Tür hinter ihm ist geschlossen, der Weg führt nicht mehr zurück; jetzt kommt er auf uns, die jeweiligen Betrachter zu, und zwar als eine Art Kurier mit der unten schriftlich fixierten Botschaft; deren großgeschriebenes „Noi" unterstreicht ihren Aufforderungscharakter nicht nur zur Umsetzung, sondern auch einfach zur Weiterverbreitung oder, anders gesagt, vielleicht zur Umsetzung durch Weiterverbreitung. Es überrascht insofern nicht, sondern erscheint geradezu konsequent, daß diese zunächst als Ausstellungsplakat konzipierte und genutzte, dann als großformatiger Siebdruck publizierte Arbeit schließlich auch als preiswertes Poster und sogar als Postkarte in der Edition Staeck Verbreitung findet.3 Werk und Reproduktion stehen im Zusammenhang mit dem politischen Engagement Joseph Beuys' für „Direkte Demo-
„...eine Art Ikonographie im Bilde." kratie" im gesamtgesellschaftlichen Rahmen wie auch konkret an der Hochschule, das schließlich in den verschiedenen Gründungsetappen der „Freien Internationalen Universität (FIU)" mündet, Aktivitäten, mit denen er auf seine Entlassung als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf im Oktober 1972 reagierte.4 Der Zusammenhang erschließt sich vollends dadurch, daß er unter diesem Titel am 21. April des gleichen Jahres eine öffentliche Diskussion mit Renato Guttuso führte; sie fand im Centro d'Informazione Alternative im Palazzo Taverna in Rom vor großem Publikum statt. 5 In „La rivoluzione siamo Noi", gewissermaßen einer zum Bild geronnenen Darstellung seiner gleichnamigen politischen Aktivitäten, tritt uns in voller Lebensgröße und unverkennbar Joseph Beuys entgegen. Man identifiziert ihn sofort. Der hohe Wiedererkennungswert des klassischen Selbstbildnisses resultiert jedoch primär nicht aus der Herausarbeitung seiner charakteristischen Physiognomie, sondern vor allem aus der Tatsache, daß er die für ihn typische Kleidung trägt: die Jeans, die in dreiviertelhohen, weichen und knautschigen Schaftstiefeln stecken, die kurze Weste mit mehreren Taschen über dem weißen Hemd mit geöffnetem Kragen und last but not least der Filzhut. Diese Kleidung ist kein Kostüm, keine Verkleidung, auch keine künstlerische Maske und ist damit von vornherein nicht ephemer; sie dient zunächst lediglich der Bezeichnung und erreicht insofern als Teil seiner personalen und künstlerischen Identität auch beim weniger in die Kunstszene integrierten Publikum die schnelle und zweifelsfreie Identifi-
Abb.l. Joseph Beuys, La rivoluzione siamo Noi, 1972. Lichtdruck auf Polyesterfolie. Edition Staeck, Heidelberg.
kation der dargestellten Person. Joseph Beuys trug sie nahezu durchgängig; es waren zwar nicht immer dieselben, jedoch eindeutig gleichartige Kleidungsstücke, und er trug sie nicht nur bei seinen öffentlichen Auftritten, sondern auch im privaten Bereich;6 sie waren offenbar wie eine zweite Haut für ihn und bildeten einen unverzichtbaren Teil seiner Erscheinung. So entstand das bekannte charakteristische Erscheinungsbild. Bald hatte es sich derart verabsolutiert, daß die am 23. Januar 1975 in der FAZ veröffentlichte Aufnahme des Künstlers in Badehose und mit glattrasiertem Schädel - für das amerikanische Fernsehen zeichnete er gerade mit dem Messer Zeichnungen in den Sand eines nicht näher bezeichneten abgelegenen Strandes am Indischen Ozean - beim Betrachter das unangenehme Gefühl hinterläßt, etwas geradezu Verbotenes, ja Unschickliches gesehen zu haben. 7 Das beschriebene, oft und im übrigen auch im ironischen Kommentar dieser Bildunterschrift als Kostüm mißverstandene Erscheinungsbild von Joseph Beuys8 provoziert, wie ich meine, in der spezifischen Zusammenstellung der einzelnen, für sich jeweils keineswegs ungewöhnlichen Kleidungsstücke einen Erklärungsbedarf. Die wissenschaftliche Sekundärliteratur wie auch die übrige an Masse dominierende exegetische oder gelegentlich gar hagiographisch anmutende Literatur zu Beuys, ohnehin in dieser Hinsicht zumeist lediglich am Hut und nur ausnahmsweise auch an der Weste interessiert, gab sich bisher mit der gezielt verbreiteten biographischen Erklärung zufrieden: derzufolge mußte Beuys nach schwerer, körperlich und geistig als kathartisch zu verstehender Krankheit und Depression zu Ende der 50er Jahre aus gesundheitlichen Gründen einen Hut tragen; 9 zu gleicher Zeit beginnt er, die selbstgeschneiderten Westen zu tragen, die sich formal angeblich an gleichartige Kleidungsstücke der Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg
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Michael Groblewski anlehnen und damit auf den im Winter 1943 abgestürzten Stukaflieger Beuys und seine wundersame, mythisch verklärte Rettung durch Krimtataren verweisen. Auf diese Weise wird eine Analogie zwischen der Rettung damals und der Genesung um 1960 suggeriert.10 Jeans und Stiefel dagegen sind offensichtlich als Massenprodukt der Bekleidungsindustrie zu verstehen und werden nicht weiter hinter fragt.11 Dabei hatte Joseph Beuys im Siern-Interview vom 30. April 1981 mit Birgit Lahann sein äußeres Erscheinungsbild selbst als eine Art Ikonographie bezeichnet, aber zugleich abschwächend ein sukzessives Entstehen suggeriert und das Augenmerk auf den obligaten Hasenschwanz an der Weste gerichtet.12 Die Verwendung des dem Kunsthistoriker vor allem auch methodisch vertrauten Begriffes Ikonographie verweist zunächst auf den innerhalb der Disziplin bekanntesten Bereich der sakralen Ikonographie. Man sollte den Begriff in unserem Fragezusammenhang jedoch nicht allzu eng auslegen, sondern die mit dem ursprünglichen Begriff „Iconologia" verbundene Abstraktion bzw. Verallgemeinerung miteinbeziehen. Insofern greifen Biographie und Werk auf der einen Seite und künstlerische Intention und Lehre andererseits im Erscheinungsbild des Künstlers Joseph Beuys eng ineinander, zumal wenn man es als bewußte Selbstdarstellung versteht. Nach eigener Aussage trägt Joseph Beuys seit etwa 1960 einen Hut und seit 1963 das bekannte, jeweils - ein Hut hält ca. 2Vi Jahre - in London erstandene Modell, Marke Stetson.13 Beide Daten lassen sich zwar als ungenau nachweisen,14 treffen aber im wesentlichen den richtigen Zeitraum und verweisen damit auf den Beginn seiner „Fluxus-Aktivitäten". Hier treffen wir den 1961 gerade an die Düsseldorfer Kunstakademie berufenen Beuys zusammen mit Nam June Paik in der unter diesem Namen bekannten, wohl weitgehend auf Initia-
tive von George Maciunas gegründeten Gruppe; 15 Maciunas „war gerade bei der amerikanischen Armee, um organisatorische Fragen, Programmgestaltungen und die Möglichkeit von Tourneen zu besprechen".16 Obgleich im Programm der ersten Veranstaltung mit Namen und einem Bild mit Hut angekündigt, nahm Beuys „aus irgendwelchen Gründen" an den Wiesbadener FluxusHappenings im Jahre 1962 nicht teil.17 Sicher war das nicht nur ein Zufall, wie seine differenzierenden Aussagen zu Fluxus belegen. Dennoch läßt sich nicht von der Hand weisen, daß wenn schon nicht Anlaß und Idee, so doch zumindest die weitere Klärung des neuen, durchaus amerikanisierenden Outfit in mehrfacher Hinsicht im Zusammenhang der Planung dieser Wiesbadener Aktivitäten stehen. Für die Amerikaner in der Gruppe wie auch für die, die als College-Absolventen oder Studenten im Rhein-Main-Raum und vor allem auf der Air Base stationiert waren und einen großen Teil des Publikums stellten, hätten Stetson und (Flieger-)Weste eine hohe Signifikanz gehabt, ebenso wie Jeans und Stiefel.18 In diesem Aufzug hätte sich Joseph Beuys jedoch von den Wiesbadener Gruppenmitgliedern deutlich unterschieden, stärker noch als von seinen Mitakteuren bei den darauffolgenden Fluxus-Veranstaltungen; sie trugen zumeist den bürgerlichen Anzug mit Krawatte, um in neodadaistischer bzw. neofuturistischer Weise das shocking des Publikums über ihr destruktives Agieren zu verschärfen.19 Beuys rezipiert dagegen, offenbar bewußt, eine andere Eigenart der historischen Vorgänger, eine Eigenart, die nicht an die Dauer der jeweiligen künstlerischen Veranstaltung gebunden war; die Futuristen liebten es, auch auf der Straße, im täglichen Leben Aufsehen zu erregen, und trugen unter dem gepflegten Anzug, gleichsam als Schicht zwischen der äußeren unangreifbaren bürgerlichen Fassade und dem im Innersten anarchischen Selbst, grellbun-
„...eine Art Ikonographie
im Bilde."
als ein vordergründiger Konventionsbruch und reicht qualitativ über den provokativen Modegag der Futuristen weit hinaus.22 Als letztlich doch eigener Entwurf und in vielen Variationen selbst hergestellt, mal in Grün, mal in Weiß, mal in Beige, mal mit sechs Taschen,
mal mit
acht
Taschen etc., vermeidet sie zugleich den Anschein allzu konkreter Erinnerung; vielmehr ist sie als allgemeines Zeichen seiner künstlerischen und biographischen Standortbestimmung zu verstehen und konterkariert deshalb auch keineswegs seine spätere politische Parteinahme für die Grünen und die Friedensbewegung. 23 Beuys deklariert sich mit seiner Weste als Kämpfer und Akteur, als Aktionskünstler, allerdings immer für etwas, nie jedoch gegen etwas.24 So distanziert er sich schon im Ansatz nicht nur von seinen Fluxus-Kollegen, sondern auch insgesamt von den Neo-Dadaisten, den Neo-Futuristen und Dekonstruktivisten. 25 In einer dritten, tieferen Sinnschicht schließAbb. 2. Fortunate» Depero, Filippo Tommaso Marinetti und Francesco Cangiullo mit den Westen von Depero.
lich, und diese Exegese läßt sich durchaus als legitim und von Beuys intendiert nachweisen, verweist sie auf die Spannung der Person des Künstlers zwischen Gott und Mensch, zwischen Fliegen und dem Sich-Einbuddeln wie die Feld-
te, selbstgeschneiderte Westen, die als Stilbruch
hasen. Beide Motive sind in einem konstanten,
in der Kleidung zugleich den Bruch mit der
wenn auch variierten Zeichensystem durch die
gesellschaftlichen
demonstrierten
Definition als Fliegerweste mit vielen Taschen
Konvention
Die grundsätzlich kämpferische Ein-
und Hasenschwänzchen bzw. anderen Hasentei-
stellung, die nicht nur bei ihren künstlerischen
len, die an ihr befestigt sind oder aus einer der
Aktivitäten zum Tragen kam, unterstrichen sie
Taschen hervorlugen, definiert. 26
(Abb.
durch
2). 20
heutzutage
unreflektiert
erscheinendes
Diese Weste nun trägt Joseph Beuys, außer in
Herausheben der eigenen militärischen Vergan-
den ersten Jahren 1962 bis 1964, 27 immer über
genheit. Wohl von jedem Futuristen findet sich,
einem blütenweißen Hemd mit langen Ärmeln -
sorgsam ausgewählt, ein strahlendes Bild als Sol-
im Zusammenhang seiner Selbstdarstellung be-
Weltkrieges.21
deutet die Betonung des Weiß zunächst nicht
Diese Vorbilder fließen in der spezifischen
mehr und nicht weniger als die allgemeinen Asso-
Umsetzung in Form der Beuysschen Weste mit
ziationen Unschuld, Licht, Erkenntnis, Wahrheit
der eigenen biographischen Vergangenheit zusam-
etc., die sich bei dieser Farbe einstellen; darüber
men; auf diese Weise bedeutet die Weste mehr
hinaus funktioniert das weiße Hemd aber auch
dat an einer der Fronten des Ersten
41
42
Michael Groblewski wie eine weiße Wand, ζ. B. im Museum, als Trägerfolie für das Bild - dessen lässig geöffneter Kragen den langen Hals voll zur Wirkung kommen läßt. Wie eine Stele trägt er den markanten Kopf mit den eindrucksvollen, tiefliegenden Augen und dem Hut. Der klassische Stetson, der Filzhut, ein Hut, wie er millionenfach existiert, wurde mehr als alle anderen Kleidungsstücke zum Erkennungszeichen des Künstlers. Fragte schon der Kommentator unseres Strandbildes „Wer erkennt schon Joseph Beuys ohne H u t . . ,?" 28 , so finden sich derartige Bemerkungen über die Signifikanz dieses Kleidungsstückes zuhauf in der Presse. Ich zitiere nur einige wenige Uber Schriften: „Beuys ging der Hut hoch" kommentierte Rosemary Callmann den Rausschmiß im doppelten Wortsinn am 20. Oktober 1972 in der Zeit·, „Mit Rose, Rhethorik und Filzhut" überschreibt Lil Picard ihren Bericht über Joseph Beuys in Amerika vom 25. Januar 1974 in der Welt] „Jetzt auch noch der Doktorhut" ruft Willi Bongard am 4. Juni 1976 in der Zeit aus und stellt kritisch die Person des Künstlers seinem Werk gegenüber, und die Berliner Zeitung kündigt die große Retrospektive im Gropiusbau am 20. Februar 1988 mit der Schlagzeile an: „Hüte dich vor dem Hut". Es bedurfte keineswegs erst der Arbeiten Andy Warhols, um das Image festzulegen: Joseph Beuys war schon längst vorher „Der Mann mit dem Hut"; Warhols erste Porträts entstanden erst 1980,29 obgleich schon am 25. Januar 1973 Peter Hans Göpfert im Darmstädter Echo gefragt hatte: „Wann malt Andy endlich Beuys?"30 Es wäre sicher reizvoll, einmal die Geschichte der Kopfbedeckungen bei den Selbstdarstellungen der Künstler der Neuzeit zu verfolgen, vom kunstvollen Turban beim supponierten Selbstbildnis van Eycks über die deutschen Kappen der Nazarener, den Strohhut van Goghs und die
Zylinder der Futuristen, doch dürfte es schwerfallen, eine vergleichbar konstante Identifikation mit einem Hut wie bei Beuys aufzuweisen. Zunächst und ganz vordergründig bietet eine Kopfbedeckung Schutz vor Witterungseinflüssen, in spezifisch gestalteter Form war sie jedoch auch immer schon, und eben nicht nur bei Frauen, einerseits Kopfschmuck und andererseits Zeichen für die gesellschaftliche Stellung des Trägers. Ja er konnte herrscherliche Repräsentativfunktionen übernehmen, wie uns aus Wilhelm Teil geläufig ist. In diesem Sinne versteht sich auch der Hut bei Beuys in mehrfacher Hinsicht: Bei erklärter und unbestrittener Schutzfunktion31 veranschaulicht er nicht zuletzt auch die bürgerliche Stellung und die gesellschaftliche Potenz des Künstlers Beuys: er ist kein Bohemien, sondern Akademieprofessor mit Frau und zwei Kindern;32 darüber hinaus demonstriert der Hut auch ein Stück „Lebensart", denn er stammt nicht aus dem Kaufhaus nebenan, sondern aus London. Es ist dieser subtile Vortrag von Luxus,33 der aus dem bürgerlichen Allerweltshut ein elegantes und besonderes, fast einmaliges Stück macht,34 und so entsteht eine lebendige Spannung zwischen dem Objekt und seiner Bedeutung, eine Spannung zwischen den Bedeutungsebenen, wie wir sie ähnlich bereits bei der Weste konstatieren konnten. Vergleichbares ließe sich auch zwischen Hut und Weste wie insgesamt zwischen den Kleidungsstücken aufweisen, ja es gilt sogar für seine Fortbewegungsmittel: wenn er nicht zu Fuß ging, benutzte Beuys einerseits ein Fahrrad, andererseits aber auch einen Bentley. Äußerst signifikant ist da die Einschätzung durch Volkesstimme, die die beabsichtigten Brüche in der Selbstdarstellung angesichts des in der Düsseldorfer Altstadt vor dem Büro der „Organisation für Direkte Demokratie" durch Volksabstimmung parkenden Bentleys folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Was ist das denn fürn
„...eine Art Ikonographie im Bilde."
Auto, der Bentlai?", fragt eine Passantin. „Dat is
1971 eine dieser von Beuys keineswegs humor-
der Büss, dat is der, der immer de Terror mekt",
voll hingenommenen Vorfälle als ausgesprochen
sagt eine andere; und Rainer Lynen, ein alter
brenzlig: Die Gruppe Yiup 37 , d. h. Hans Henin,
Freund des Künstlers, verwundert sich:
„Dat
Robert Hartmann und Hans Rogalla, nahmen
hebbich ja bei de Josef nie verdächtigt, hoffent-
ihm zum wiederholten Mal und diesmal vor lau-
lich schillert der Josef so weiter." 35
fender Fernsehkamera während eines Interviews
Aber zurück zum Hut! Er hält nicht nur
den grauen Hut - für sie offenbar ein Macht-
seinen Kopf warm und wäre als modischer Gag
symbol - vom Kopf. „Der [Beuys] blieb still
sicher mißverstanden, sondern vielmehr noch als
sitzen. Alles dauerte quälend und endlos lange.
die Weste ist er für Joseph Beuys ein bedeutungs-
Dann kamen die drei Yiups der Reihe nach und
voller Teil seiner selbst. 36 Einige seiner Schüler,
setzten ihm drei Narrenkappen übereinander auf
die bemerkten, wie wichtig er diesen Hut nahm,
den Kopf. Beuys blickte am Ende leidend und
dieses gleichwohl nicht verstanden, machten sich
wie
des öfteren einen Spaß daraus, ihm hinterrücks
Aktion offensichtlich als Verletzung,
den Hut vom Kopf zu nehmen und zu verstek-
vergleichbar der Verletzung während der bekann-
ken. Gislind Nabakowski, eine Schülerin, schil-
ten Aachener Aktion am 20. Juli 1964. Später
dert in ihren Erinnerungen an die Jahre 1966 bis
durfte ein Kameramann in der Berliner Retro-
ein
Märtyrer." 38
Beuys
empfindet
diese
durchaus
spektive nicht zu nahe an den auf dem Flügel Abb.3. Jörg Immendorff, Mona Schwana, 1965. Slg. van der Grinten, Kranenburg.
liegenden Hut heran, damit dieser ja nicht berührt oder gar von der Stelle gerückt würde. 39 Der Hut repräsentiert in plastischer Qualität den abwesenden Künstler. Die
gewollte,
signethafte
Verbindung
von
Kopf und Hut verdichtet sich auch in den ζ. T. ironischen Arbeiten seiner Schüler wie dem 1965 entstandenen Bild „Mona Schwana" (Abb. 3) von Jörg Immendorff, das Beuys sofort für 250 D M kaufte, um es aus dem Verkehr zu ziehen, 40 oder auch dem im gleichen Jahr entstandenen Gemälde des gleichen Künstlers, betitelt „Fruchtmann", das Beuys inmitten eines Berges roter Erdbeeren zeigt;41 schließlich bildet sie bereits zu dieser Zeit die Grundlage für die Ikone Warhols, die dieses lebendige und wandelnde Selbstbildnis als dauerhafte Erscheinung nicht zuletzt durch die Verwendung von Diamantstaub gleichsam für ewig festschreibt (Abb. 4). 42 Joseph Beuys war allein schon mit seinem Hut ein absoluter Star mit unverwechselbarem Image geworden. Doch damit nicht genug: aufgrund der Materialsymbolik ist der Filz-Hut für Beuys zusätz-
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Michael
Groblewski
Abb. 4. Andy Warhol, Diamond Dust Joseph Beuys, 1980 Siebdruck und Diamantstaub auf Acryl auf Leinwand. Slg. Francesco Pellizzi.
...eine Art Ikonographie im Bilde."
Abb. 5. Nam June Paik, Humphrey Bogart, 1987.
lieh ein Machtsymbol; er schützt die Freiheit der Gedanken und speichert die Energie für den im Kopf entstehenden kreativen Prozeß; 43 er behütet sie als Grundlage der Sozialen Plastik und beinhaltet gleichsam das göttliche Sendezentrum. 44 Angesichts der Normalität dieses Hutes wirkt das auf den ersten Blick überinterpretiert, ist es doch nur im Zusammenhang der künstlerischen Theorie von Joseph Beuys sinnvoll. Dagegen gibt es in einer derartigen ikonischen Verbindung von Kopf und Stetson ein Vorbild im HollywoodFilm der 50er Jahre, nämlich Humphrey Bogart. Nam June Paik, eng vertraut mit Beuys, zeigt in seiner Hommage gerade diesen Kopf (Abb. 5)45 und enttarnt damit einen versteckten Bezugspunkt für die Selbststilisierung des Künstlers: es
ist die Kultfigur der amerikanischen Filmindustrie, die seit dem Beginn der 60er Jahre auch die europäische Szene beherrschte. Sicher sollte man den Vergleich nicht zu weit treiben, dennoch liegt die Stärke der Kunstfigur Bogart gerade auch in ihren Brüchen. Wie bei Beuys kontrastiert ein eher häßliches, vom Leben gezeichnetes Gesicht mit der klassischen Eleganz des Hutes. Ist nun auch die Beuyssche Jeans am Ende nur eine Nachahmung der zeitgenössischen amerikanischen Idole? Man denke etwa an Elvis Presley, wie er von Andy Warhol verewigt wurde (Abb. 6),46 oder noch pointierter gesagt, ist es ganz einfach Amerikanismus? „I like America and America likes me", das ist nicht nur der Titel seiner Aktion in der Galerie Rene Block in New
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46
Michael
Groblewski York 1974, sondern er beteuert es auch in Gesprächen und Diskussionen, 47 und so gehört er in diesen Beinkleidern 1974 in New York zu seinen jeansgekleideten Beuys-Boys, die in der Diskussion zu seinen Füßen saßen.48 Beinkleider hatten jedoch schon immer auch politischen Aussagecharakter: wie die sansculotte in der französischen Revolution, so bedeutete in den 60er Jahren das Tragen der Jeans Bruch mit dem bürgerlichen Establishment, Verzicht auf die Darstellung gesellschaftlichen Ranges, statt dessen Betonung jugendlicher und kraftvoller Aktivität. Die Mode bezieht sich auf die Western-Tradition, und damit auf den bis zu einem gewissen Grade anarchischen, weil in der Einsamkeit der weiten Natur autonomen Pioniergeist, einen Pioniergeist, der zugleich die Keimzelle der amerikanischen Demokratie darstellt.
Abb. 6. Andy Warhol, Single Elvis, 1963. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand. Ungarische National-Galerie Budapest, Leihgabe d. Slg. Ludwig, Aachen.
Auch diesen Aspekt der künstlerischen Selbstdarstellung hatte ein feinfühliger Kritiker bereits am 7. Juni 1972 in seinem Bericht über den oben erwähnten Auftritt des Fluxus-Philosophen in Rom auf die denkbar knappste Formel gebracht, indem er vom „Cow-Beuys als Prophet" sprach.49 Eigentlich fehlen nur noch die Stiefel! Aber Joseph Beuys ist nicht Elvis, er adaptiert nicht einfach ein gewähltes, vorgefundenes Image und perfektioniert es pedantisch bis ins Detail, sondern bevorzugt wiederum einen sanften Bruch: In „La rivoluzione siamo Noi" trägt er keine wie auch immer gearteten Reitstiefel, und für Assoziationen mit militärischen Stiefeln findet sich ebenfalls kein Anlaß; es sind aber auch nicht mehr die ein wenig dandyhaften Stiefeletten, die er vormals, vor allem in den frühen 60er Jahren, bevorzugte. Statt dessen trägt er warme, weiche Fellstiefel - offenbar auch ohne daß es die Witterung erfordert - , wie wir sie zwar bei nomadisierenden Naturvölkern antreffen könnten, wie sie aber auch zur damaligen Zeit, d. h. zu Beginn der 70er Jahre, vor allem bei Studenten und jun-
...eine Art Ikonographie
im Bilde."
Abb. 7. Gustave Courbet, La rencontre, 1854. Musee Fabre, Montpellier.
gen Intellektuellen durchaus Mode waren. Da es sich also gewissermaßen um Allerweltsstiefel handelt, fallen sie der nicht analysierenden Betrachtung kaum auf. Im Zusammenhang einer bewußten Selbstdarstellung, der Herstellung und Kodifizierung einer Ikonographie bezwecken sie jedoch einerseits wie die Jeans eine Einbindung in die junge Generation und erinnern andererseits autobiographisch an seine, weithin bekannte, wundersame Errettung nach dem Absturz seiner J U 87 durch die Hilfe und Pflege der KrimTataren. Nicht zuletzt auf diesem Umweg verweisen diese Stiefel im Kontext der Gesamtgestaltung über die Biographie hinaus ganz allgemein auf den dezidierten Bezug zur Natur. Es braucht hier nicht ausgeführt zu werden, welch entscheidende Rolle die Natur, die natürlichen Materialien in der Philosophie, der Kunsttheorie und im Werk des Joseph Beuys spielen. Hinreichend sind die entsprechenden eigenen, teils
mehrfach wiederholten Aussagen durch eine Reihe wissenschaftlicher Studien hinterlegt worden, die vor allem sein Verhältnis zu Rudolf Steiner, zu Goethe und zu den Romantikern untersuchen.50 Viel wichtiger erscheint mir allerdings an dieser Stelle hervorzuheben, ohne die esoterische Komponente seines Denkens und Schaffens wegdiskutieren zu wollen, daß in seinem Bekenntnis zur Natur gerade auch ein Bekenntnis zum Realismus steckt. Daher ist es m. E. allzu einseitig, wollte man Beuys ζ. B. aufgrund seiner Stiefel nur romantisch im Bezug auf Wagner und Parsifal als Wanderer durch die Welt zum Gral und damit zur Erlösung verstehen.51 Er ist zugleich auch der Künstler, den man zum Realismus Courbets in Beziehung setzen könnte. Wie Courbet, „ein Prediger und Menschheitsbeglücker auf seine Art", (Abb. 7)52 greift auch er zum Wanderstab, ζ. B. um die Kluft zwischen Ostmensch und Westmensch zu überbrücken (Abb. 8).53
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Michael
Groblewski
Abb. 8. Joseph Beuys, Eurasia, 1966/ 67. Aktion. Photo: H. R. Strey.
In der hier gebotenen Kürze ergibt sich so über die typische Bekleidung von Joseph Beuys ein subtil zusammenfließendes und zugleich facettenreiches Selbstporträt: Beuys, der nomadisierende Hirte, der anarchische Cowboy, der unschuldige Kämpfer und freie Flieger, aber schließlich vielleicht doch auch der gepflegte Dandy. Es ist faszinierend, wie die in dieser Kleidung vorliegenden Stilbrüche durch sanfte Ubergänge verschleiert werden, ja miteinander versöhnt werden zu einer charakteristischen, stimmigen Gesamterscheinung.
Und was ist mit dem Filzanzug, könnte man nun fragen? Hätte nicht er die eigentliche, künstlerische Kleidung von Joseph Beuys sein sollen? Immerhin zog er ihn sich einmal auch selbst an,54 jedoch vollständig anders als die betrachteten Kleidungsstücke war der 1970 kreierte Filzanzug von Anfang an ein Multiple,55 ein Objekt, und geriet nie auch nur ansatzweise zur Figuration (Abb. 9). Der Kasten mit den Schnittmustern (Abb. 10)56 gibt einen späten Hinweis auf das diesbezügliche Vorbild, den Anzug Tatlins (Abb. II). 5 7 Dieser hatte als Protagonist der russischen Avantgarde für die futuristische Gesellschaft einen praktikablen und funktionalen Anzug entworfen, den er ebenfalls selbst vorführte.58 Tatlins Herrenanzugsmodell blieb im weitesten Sinne Teil eines Bildes und umschrieb als solches genauso wie der Filzanzug bei Beuys den propagierten Lebensstil der entwickelten Gesellschaft.59 Ging es der russischen Avantgarde um Demokratisierung über Kollektivierung und steht daher bei Tatlin die Formfrage im Vordergrund, so ist bei Beuys vor allem das Material von Interesse, der Filz, der über die Erzeugung von Energie und Speicherung von Wärme Leben und Kreativität des Individuums ermöglicht.60 Funktionalität spielt eben, obgleich wie erwähnt gelegentlich als Legitimation angeführt, auch bei der persönlichen Beuysschen Kleidung keine primäre Rolle und einer Verallgemeinerung verschließt sie sich, wie wir gesehen haben, erst recht. Kleidung hat auch bei ihm Bildcharakter und ist wie bei den angeführten Beispielen in der klassischen Avantgarde immer auch Teil der Selbstdarstellung, Teil der Kultivierung der eige-
Abb.9. Joseph Beuys vor seinem Filzanzug im August 1980. Photo: Winfried Göllner, Düsseldorf.
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Michael
Groblewski
Abb. 10. Joseph Beuys, Osiris, 1970 / 79. Städt. Museum Abteiberg Mönchengladbach. Photo: Jochen Littkemann.
Abb. 11. Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, Neue Lebensweise, 1923/24. Fotomontage.
nen Person. So erscheint es, zumal unter dem Blickwinkel seines unbestrittenen Bezugs zu den Futuristen im Zusammenhang seines Einstiegs in die neodadaistische Fluxus-Bewegung, keineswegs von vornherein als abwegig, einen weiteren Verständnisversuch der Ikonographie Joseph Beuys' unter dem Stichwort „Dandyismus" zu wagen. Joseph Beuys ein Dandy? Mit unserer heutigen Vorstellung von einem Dandy als eine Art Playboy stecken wir dabei in einer Sackgasse und müssen die Frage ohne Umschweife mit
Nein beantworten. Dandyismus ist aber ein wichtiges, durchaus signifikantes Phänomen der klassischen bürgerlichen Gesellschaft und läßt sich zurückführen auf George Bryan Brummeil.61 War der Großvater noch Pastetenbäcker, so gelang es seinem Vater nicht nur, ein beachtliches Vermögen zu erwerben, sondern, ausgezeichnet als Esquire von Berkshire, sogar in den Adel aufzusteigen. Der 1778 geborene George Bryan bekam alle nur erdenklichen Startchancen, unter denen der Besuch der Colleges von Eton und Oxford und der Eintritt in das vom Prinzen von
...eine Art Ikonographie im Bilde."
Η Ο Β bl Ν BblT
O H Κ· Α Ε Λ Α Ε Τ H3HCKAMM* HOßÖM ΦΟΡΜΝ ROBCEAHEBHOfl MOPMAAb-QÄ£)KAW
51
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Michael
Groblewski
Wales selbst befehligte Husarenregiment vor allem auch deswegen hervorzuheben sind, weil sie ihm Zugang zu den Kreisen des Hochadels beinahe wie selbstverständlich verschafften. Nachdem er ein ansehnliches Vermögen geerbt hatte und sich der Sorge um die Sicherung seiner Existenz enthoben sah, quittierte er den Dienst, der ihn ansonsten in die Provinz verschlagen hätte, und widmete sich vollständig dem Kult seiner Person; er stilisierte sein gepflegtes, avantgardistisches modebewußtes Außeres und erregte mit seinem Stil soviel Aufsehen und Anerkennung, daß er nunmehr auch offiziell Zugang zum Hochadel erhielt und diesen sogar ungestraft ironisieren durfte. „Brummells Stilprinzip hieß Ökonomie." Anstelle „pompöser Kostümierung" „brachte" er in seiner Kleidung „die unauffällige, wie selbstverständlich, aber unverwechselbare persönliche Distinktion zur Darstellung".62 Kennzeichnend für seinen Lebensstil ist weniger die Masse der Liebschaften als die Vermeidung gefühlsmäßiger Bindung. Ein Dandy bleibt immer ein charakteristischer Einzelgänger. Ungeachtet des tragischen Endes dieses Urbilds, geriet sein Lebensmodell gewissermaßen zum Muster des exzentrischen Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft bis zum heutigen Tag, und zwar gerade auch desjenigen Künstlers, der trotz seiner kritischen oder gar oppositionellen Position Erfolg hat und zu erheblichen finanziellen Mitteln kommt, die seine existenzielle Unabhängigkeit garantieren. Prototypen dieses Künstlertums, das sich selbstverständlich in allen Sparten der Kunst aufweisen läßt, sind Edouard Manet, aber gewissermaßen auch John Ruskin, Richard Wagner, Charles Baudelaire, die Futuristen, aber auch Gabriele D'Annunzio, Marcel Duchamp, Pablo Picasso und Salvador Dali, um nur einige zu nennen, aber -wohl auch Joseph Beuys. Sie alle bildeten eine unverkennbare Manier nicht nur in ihren Werken, sondern auch in ihrem per-
sönlichen Auftreten, ihrem persönlichen Erscheinungsbild aus, die sie unverwechselbar machte. Es ist eben dieses strukturelle Muster in der Selbststilisierung, das sich zunehmend gerade auch die darstellenden Künstler, die Schauspieler und last but not least auch die Politiker zu eigen machten: Demonstration der Unabhängigkeit gehört genauso dazu wie die der selbstbewußten Einnahme der Führungsposition. Kleidungsstücke und nicht zuletzt Kopfbedeckungen übernehmen dabei oft die Funktion der Veranschaulichung dieser Qualitäten und prägen ein unverwechselbares Erscheinungsbild. Ich verweise nur auf die Lotsenmütze Helmut Schmidts oder auch die Generalskappe Charles de Gaulies und jüngst auf den Cowboy-Hut Ronald Reagans, der damit das von seinen Filmrollen geprägte Image als Westernheld in seine Rolle als Präsident integrierte. Das sind weder vereinzelte Beispiele noch Zufälle, sondern vorläufige Endpunkte in einem kontinuierlich sich verstärkenden Trend. Dabei ist es weniger abhängig vom politischen System einer Gesellschaft, sondern vom Grad ihrer medialen Durchsetzung, inwieweit Politiker und Künstlerpersönlichkeiten der ersten Reihe weniger durch ihre Aussagen, Entscheidungen und Werke als durch die Verbreitung ihres Erscheinungsbildes immer mehr zu Kunstfiguren geraten. Das Image scheint zunehmend wichtiger und an die Stelle des Leumunds getreten zu sein; schon der Begriff betont die Dominanz der bildlichen Darstellung über die Berichterstattung, verweist auf die Bedeutung der Auslösung und Führung der Imagination. So verstanden ist die Existenz eines Image die Voraussetzung für die Herstellung eines Idols, ist die Kunstfigur die unverzichtbare Basis der Kultfigur. In der Regel ist zudem die private, individuelle Persönlichkeit nicht identisch mit der Kunstfigur, und aufgrund dieser Zwiespältigkeit
...eine Art Ikonographie kommt es oft genug zu einem Leidensdruck, der tragisch endet wie bei Marilyn Monroe oder Elvis Presley, James Dean etc. Diese Kunstfiguren, was sind sie anderes als klassische Manierismen, Verwechslungen der Individualität mit dem hergestellten Erscheinungsbild? In diesem Sinne wurden die Kunstfiguren der Künstler Andy Warhol und Joseph Beuys verschiedentlich mit literarischen Kunstfiguren des Fin de siecle verglichen; gerade über die in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele des Dorian Gray einerseits und des Zarathustra andererseits erklären sie sich aber damit auch als jüngste Emanation des beschriebenen Dandyismus. Auch wenn es zunächst nahezuliegen scheint, geben diese Feststellungen doch keinen Anlaß, denjenigen beizupflichten, die daraufhin gegen Beuys den Vorwurf der künstlerischen und philosophischen Scharlatanerie erheben.63 Er wäre nur dann berechtigt, wenn Beuys sich in bezug auf sein Künstlertum auf die Nachahmung von Vorbildern oder auf die Ausbildung einer möglichst unverwechselbaren Manier beschränkt hätte. Joseph Beuys versucht jedoch im Goetheschen Sinne, die höchste Stufe der Kunst, Stil, zu erreichen.64 Er will nicht nur Markenzeichen und Aktionist sein, sondern versteht sich als göttlicher, d. h. als kreativer Sender. Das ist nicht nur wortwörtlich durch die bereits erwähnte Episode belegt, nach der er einmal seine Schüler als Empfänger degradierte,65 und resultiert auch nicht allein aus seinen diesbezüglichen Aussagen im Zusammenhang der wiederholten Darlegung seiner oft genug ironisch belächelten Philosophie, daß jeder Mensch potentiell ein Künstler sei,66 sondern wird vor allem dadurch offenbar, daß er die Plastik gegenüber der Malerei eindeutig höher bewertet.67 Dabei sind Plastik und Malerei nicht einfach als künstlerische Gattungsbezeichnungen zu verstehen - es geht ihm ja ohnehin um die Aufsprengung konventioneller
im Bilde."
Kunstgrenzen - , sondern eher als Qualitätsstufen des Kunstwerks. Der Rang des vom Künstler erstellten Bildwerks liegt im Grad seiner plastischen Qualität, d. h. im Grad seiner Verwirklichung. Von daher hat die künstlerische Aktion selbstverständlich die höchste plastische Qualität und umgekehrt auch den größten Wirkungsgrad.68 Es ist also schlüssig, wenn eingangs der Anlaß für die Entstehung seines äußeren Erscheinungsbildes im Einstieg des Künstlers und Kunstprofessors Joseph Beuys in die neodadaistische Fluxus-Bewegung gesehen wurde. Fluxus wollte nicht nur mit dem klassischen Mittel der Avantgarde, der Verfremdung bekannter Konventionen, alte Gewohnheiten aufbrechen, sondern verstand die Kunst allgemein, von der Musik und vom Theater ausgehend, zuvorderst als den einmaligen künstlerischen Prozeß und nicht als das Endergebnis, als Werk. Für Beuys bedeutete dieser zunächst zögerliche und von Anfang an in bestimmter Hinsicht auch distanzierte Einstieg immerhin den Beginn seiner Karriere als Aktionskünstler. Allerdings schloß er mit dem rituellen und symbolischen Verständnis seiner Aktionen direkt an den weitaus bekannteren, weil provozierenden Wiener Aktionismus an.69 Hier wie dort bleiben von den Aktionen nur Relikte mit plastischem bzw. malerischem Werkcharakter übrig. Die eigentliche Legitimation des Aktionismus, die Kunst im Prozeß zu sehen, kann jedoch nur gleichzeitig miterlebt werden, setzt also auf dem Weg der Interaktion Prozesse frei, die dann allerdings auch jenseits der eigentlichen Aktion Folge tragen können. Als Surrogat und als Erinnerung dokumentiert die Photographie in Form von Standbildern wie beim Film Höhepunkte bzw. Schlüsselszenen des Ereignisses.70 Beuys hat die Photographien von seinen Aktionen zwar nicht als eigenständige Bilder anerkannt und signiert,
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Groblewski
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Abb. 12. Joseph Beuys, Der Botschafter, 1970-1981. 12 überschriebene Photos.
...eine Art Ikonographie im Bilde"
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Michael Groblewski
Abb. 13. Günter Brus, Zerreißprobe, 1970. Aktion. Photo: K. Eschen.
Abb. 14. Joseph Beuys, Photo von der Aktion am 20. Juli 1964, TH Aachen. Photo: H. Riebesehl.
obgleich er ab einem gewissen Zeitpunkt nahezu alles signiert, was ihm unter die Finger kommt, 71 doch läßt er das dokumentarische Photographieren nicht nur zu, sondern wünscht es offensichtlich. Er genießt es, sich zusammen mit prominenten Politikern ablichten zu lassen, und inkorporiert nach Einbindung in einen neuen künstlerischen Kontext wie im Fall von „Der Botschafter" (Abb. 12)72 auch diese Photos in sein (Euvre. Er posiert nicht nur in seinen Aktionen, sondern auch in den Diskussionen und sogar beim Aufbau seiner musealen Installationen. Nichts
scheint er dem Zufall zu überlassen; ein durchdachter Wirkungszusammenhang entsteht sowohl in den Aktionen als auch in den musealen Werken. Das ist im Gegensatz zu den Happenings, deren ephemerer Charakter intendiert ist, genauso wie im Orgien-Mysterien-Theater Hermann Nitschs und vielleicht noch stärker in den Aktionen von Günter Brus nachzuvollziehen. Motivische Ähnlichkeiten liegen nicht auf der Hand und eine strukturelle Vergleichbarkeit ist auch nicht zu unterstellen, wenn sich Brus in der Aktion „Zerreißprobe" (Abb. 13)73 mit der Ra-
„...eine Art Ikonographie im Bilde."
sierklinge den Oberschenkel aufschneidet, das ausfließende Blut zusammen mit eigenem Urin auffängt, trinkt und erbricht - ein klassisches Motiv der künstlerischen Selbstverstümmelung 74 - und der geschlagene Künstler Beuys, aus der Nase blutend, ein Kruzifix abwehrend hochhält (Abb. 14).75 In mehrfacher Hinsicht deutlich unterschieden im Detail demonstrieren jedoch beide Aktionen, wie schmerzhaft und gefährlich konsequenter Realismus in der Kunst ist. Dem drastischen, blut- und exkrementetriefenden Spektakel der Wiener Aktionen stellt Beuys zwar eine wesentlich ästhetisierte Kunst gegenüber, seine Aktionen haben gewissermaßen prinzipiell ein positives Vorzeichen, doch konvergieren sie in der klassischen Frage der Kunst der 60er und 70er Jahre, in der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben. 76 In der Aktionsmalerei finden sich die entsprechenden Antworten bzw. Problemlösungsversuche bei George Mathieu und bei Yves Klein, aber auch bei Arnulf Rainer, in der Plastik bei den sog. Hyperrealisten bzw. radikalen Realisten, in einem verfremdeten menschlichen Abbild bei George Segal oder im extremen, auf Verblüffung abzielenden Naturalismus bei Duane Hanson. Die eigentliche Vorstufe zur Beuysschen Umsetzung läßt sich vielleicht bei John DAndrea aufweisen, der sich, allerdings nackt, selbst in sein Werk als Figur einbringt. Indem er sein Modell künsderisch zum Leben erweckt, wird er selbst zum Kunstwerk. Eine weniger bekannte Parallele ist Colette, die ihre Arbeiten nicht nur als Autobiographie bezeich-
Abb. 15. Günter Brus, Wiener Spaziergang, 1965. Aktion. Photo: L. Hoffenreich. Abb. 16. Andy Warhol, Invisible Sculpture, 1985. Photo: Patrick McMullan.
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Michael Groblew ski net, sondern auch sich selbst als die singende Puppe Olympia herrichten läßt.77 Günter Brus bemalt sich selbst, teilt sich symbolisch mit der Axt und spaziert als gipserne Statue durch die Wiener Straßen (Abb. 15).78 Andy Warhol läßt sich ebenfalls auf einem Spaziergang durch die verschmutzten Straßen New Yorks photographieren, er posiert auf einem Sofa in seiner Factory, ist Akteur in seinen Filmen.79 1985 schließlich stellt er sich neben einen Skulpturensockel, zu dem das Schildchen sagt „Die unsichtbare Plastik" (Abb. 16), läßt sich so einmal photographieren und geht wieder. Und Joseph Beuys? Er zelebriert in seinen Aktionen statuarische Motive und bleibt doch mit wenigen Ausnahmen er selbst, wie er leibt und lebt. Mal verhüllt, mal offenbar, stellt er
sich der animalischen Natur in seiner Aktion „Coyote", gerinnt sein Sitzen ebenso zum plastischen Motiv wie die statuarische Pose in „Celtic" (Abb. 17).80 Das Kauern interessiert ihn genauso wie das Fliegen. Mensch und Kunst, Person und plastisches Werk sind in ihm formal wie inhaltlich kongruent. So entschlüsselt sich das Bild „Kunst = Kapital" (vgl. S. 105, Abb. 13) oder in einer anderen Version „Das Ende der modernen Kunst ist erst ihr Anfang", in dem er sich unter die Stoßzähne des Mammut-Skeletts im Darmstädter Landesmuseum stellt, auf eine neue Weise. Er als Kunst überdauert die durch die Urviecher repräsentierte Natur, seine künstlerische Kreativität sichert ihm das Leben, auch über den natürlichen Tod hinaus. Er wirft den Schatten. Auf diese Weise existiert er nicht nur gedanklich,
Abb. 17. Joseph Beuys, Celtic, 1970. Aktion. Photo: Ute Klophaus, Wuppertal.
Abb. 18. Joseph Beuys in seiner „Werkstatt", 1982. Photo: Barbara Klemm, Frankfurt a. M. (F.A.Z.)
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Abb. 19. Gustave Courbet, Interieur de mon atelier, allegorie reelle determinant une phase de sept annees de ma vie artistique, 1855. Musee d'Orsay, Paris.
sondern, zumindest zeitweise, realiter in seinem Werk. Nirgends wird das anschaulicher als in seiner für die Ausstellung „Zeitgeist" 1982 in Berlin installierten Werkstatt. Während des Aufbaus ist Beuys in dieser seiner Werkstatt plastisch lebendig vorhanden; die Photos dokumentieren das (Abb. 18).81 Sollte er eines Tages nicht mehr leben, so bleiben nicht nur die Relikte seiner Aktionen samt deren erinnernde Dokumentationen und nicht nur seine musealen Installationen, sondern auch das Relikt der eigenen Figuration, der Kunstfigur Joseph Beuys in Gestalt seines Hutes. Dieser authentische Hut repräsentiert das kreative Zentrum, das er zeitweise behütet hat.
Anders als Courbet in seinem Atelier (Abb. 19), ist Beuys in seiner Werkstatt allein. Kunst und Leben sind in seiner Figur tatsächlich eins geworden, und zwar auf eine stille, aber um so eindringlichere Art. Ist es da verwunderlich, daß Arno Breker in einer photographischen Arbeit von Gottfried Heinwein Hammer und Meißel aus der Hand gelegt hat und uns resigniert das Bild von Joseph Beuys als unerreichbares Modell vorhält (Abb. 20)? Die Basis für die Aufstellung der Kultfigur Joseph Beuys hat Joseph Beuys nicht nur mit dem Entwurf und der Ausarbeitung der eigenen Figuration, nicht nur mit der Festlegung einer
...eine Art Ikonographie im Bilde."
Abb. 20. Gottfried Heinwein, Arno Breker holding a picture of Joseph Beuys, 1988. Photo.
Leben und Werk gleichsetzenden Biographie, 82 sondern vor allem auch durch die Auffassung seines Künstlertums als Schöpfer und Vermittler von Wahrheiten selbst gelegt. Der Aufsockelung hat er sich zeit seines Lebens verweigert, das hätte ihn seinem Wirkungszusammenhang entzogen. Die diesbezüglichen Anstrengungen seiner Jünger und Exegeten, aber auch seiner Galeristen sind groß und, wie man am Marktwert erkennen kann, durchaus erfolgreich. Es bleibt zu hoffen,
daß sie nicht den Gipsabguß, nicht das erstorbene Abbild anstelle der lebendigen Figuration des Künstlers zum Denkmal verkommen lassen. Die Kunstfigur Joseph Beuys kann nur durch die Rezipienten zur Kultfigur gemacht werden. Sie ist es nicht bereits durch die autorisierte Festlegung einer Ikonographie. Plastisch, d. h. lebendig wirksam kann sie jedoch nur im Werk, d. h. „im Bilde" 83 werden.
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Anmerkungen 1 Die Formulierung geht auf Joseph Beuys selbst zurück; er äußerte sie im Gespräch mit Birgit Lahann, publ. im Stern vom 30.4.1981, S. 77-82 und 250-253, hier S. 253. 2 Das Bild erschien zuerst als Plakat für seine Ausstellung „The cycle of his work" in der Modern Art Agency in Neapel im November 1971, vgl. Joseph Beuys - Multiplizierte Kunst. Werkverzeichnis, hrsg. ν. Jörg Schellmann u. Bernd Klüser, München 1974, Nr. 47; für das zugrundeliegende Photo zeichnet Giancarlo Pancaldi verantwortlich. 3 Der Siebdruck auf Polyester-Folie hat das Format 191 χ 102 cm; die Postkarte, ebenfalls noch im Jahre 1972 gedruckt, hat die Maße 14,5 χ 10 cm. Vgl. Schellmann/Klüser (Anm. 2), Nr. 47; 48. 4 Die Erfahrungen des akademischen Lehrbetriebs scheinen Auslösefunktionen gehabt zu haben für den Schritt vom individuellen Protest und dem Sich-Versagen zur öffentlichen Parteinahme. Als Beginn ließe sich die Gründung der Deutschen Studentenpartei am 22. Juni 1967 festmachen, eine Aktion, die Beuys ein gutes Jahr später durch Umbenennung in FluxusZone-West in sein künstlerisches CEuvre integriert; es folgt am 2. März 1970 die Gründung der Organisation der Nichtwähler, Freie Informationsstelle, die er ebenfalls ein gutes Jahr später durch Gründung der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung künstlerisch und politisch aktiviert. Das Projekt einer Freien Hochschule datiert zwar schon vom 1. November 1971, führt aber erst am 27. April 1973 zunächst zur Gründung eines Fördervereins, dann 1974 zusammen mit Heinrich Boll zu einer Hochschul-Gründung in Düsseldorf und schließlich zur Einrichtung der Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung e. V. auf der documenta 6 in Kassel. Vgl. Götz Adriani, Winfried Konnertz und Karin Thomas, Joseph Beuys - Leben und Werk, Köln 31986, S. 179-182, 210f., 235-238, 260-269, 280-283, 313-322, 323 f., 339-343; Heiner Stachelhaus, Joseph Beuys, Düsseldorf 1987, S. 135-157. 5 Vgl. den Bericht „Cow-Beuys als Prophet - Der Auftritt des Fluxus-Philosophen in Rom", in: FAZ, 7. 6.1972. 6 Vgl. z.B. das Photo im Stern, Nr. 19, 30.4.1981, S. 78/79, oder ebd., 8.11.1970, S. 98; das Photo in der FAZ vom 29.6.1970 zeigt ihn auf der Gartenparty des Bundeskanzlers neben Außenminister Scheel: „Der Malerprofessor Joseph Beuys aus Düsseldorf . . . trug Krempenhut, der die Stirn verdeckte, weiße Weste mit weißen Röschen auf derselben und
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Blue Jeans" (ebd. aus dem Artikel von Walter Henkels „Mit Kaugummi und Popcorn beim Kanzler"). Vgl. FAZ, 23.1.1975, S. 17. Die Photographie entstand 1975 auf einer Reise mit dem Düsseldorfer Werbephotographen Charles Wilp nach Kenia. Das auslösende Moment für die Irritation des Betrachters liegt allerdings sicher im speziellen Verhältnis der beiden dargestellten Personen zueinander: der Kameramann kniet vor dem aufrecht und ruhig stehenden Beuys; um sie herum sind lediglich das Meer und der weite, menschenleere Sandstrand; in jeder Hinsicht stellt das Photo ein Eindringen in die Intimsphäre der abgebildeten Personen dar. „ . . . also wer erkennt Josef Beuys schon ohne Hut, ohne seine schlackernden Mäntel? Der Künstler Beuys, der hier von so unerwarteter Seite zu sehen ist, hatte freilich auch hier das passende Kostüm." Es ist nicht das einzige Mißverständnis, dem der Kommentator in seinem kurzen Text erliegt: auch der Hinweis, es könnte sich „ . . . um eine Paraphrase zu den Badestrand-Auftritten des starkbrüstigen, nackten Picasso . . . " handeln, greift zu kurz. Stachelhaus (Anm. 4), S. 216, führt die Ursache für die Empfindlichkeit am Kopf letztlich auf die schweren Kriegsverletzungen zurück; aber auch er bemerkt, daß die Wahl des Hutes anstelle der zunächst getragenen Baumwollmützen in einen völlig anderen Entscheidungsbereich gehört. Stachelhaus (Anm. 4), S. 215 f. gibt unter Berufung auf Eva Beuys eine viel banalere Erklärung: „Und als sie eines Tages in einem Düsseldorfer Fischereigeschäft eine Anglerweste sah, fand sie, daß ein solch originelles und zugleich praktisches Kleidungsstück gut zu ihr selbst passen würde, und trug sie stolz nach Hause. So kam Beuys zu der für ihn typischen Uniform. Denn als er die Jacke sah, war ihm sofort klar, daß sie für ihn wie geschaffen war. Eva Beuys nähte ihm fortan alle seine Anglerwesten selbst und sorgte dafür, daß in einer der Taschen immer auch ein buntes Seidentaschentuch steckte." Auch für die Jeans soll nach Stachelhaus (Anm. 4), S. 215 Eva Beuys verantwortlich sein. Somit erklärte sich die, wenngleich sukzessive Entstehung seines durch die Kleidung charakterisierten Erscheinungsbildes vor allem durch die Einflußnahme seiner Frau, was immerhin mit der Chronologie übereinstimmt, da er sie bekanntlich 1958 auf einem Karnevalsfest kennengelernt hatte. Nicht nur wegen der eigenen Aussagen, sondern auch durch das Werk ist die Bedeutung des Hasen und der Identifikation Beuys' mit diesem Tier unbe-
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stritten. Dennoch erscheint mir der Stellenwert des Hasenschwänzchens an bzw. in einer der Taschen der Weste für das Erscheinungsbild des Künstlers eher gering; oft genug ist es gar nicht sichtbar. „STERN: Wissen Sie, den wievielten Hut Sie heute tragen? BEUYS: Das könnte ich ungefähr rekonstruieren. Seit 1960 trage ich einen Hut. Und seit 1963 diesen Typ von Hut. Und so ein Hut hält nicht länger als zweieinhalb Jahre", vgl. Stern, 30.4.1981, S. 253. Vgl. z.B. die Photos von F. Getlinger von Joseph Beuys in seinem Atelier im Alten Kurhaus in Kleve, 1958, und Joseph Beuys mit Lise und Hanns Lamers, ca. 1959, sowie das von F. Maywald auch im Klever Atelier, ca. 1958; alle abgebildet in: Joseph Beuys, Skulpturen und Objekte, Bd. 1 des Kat. der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin 1988, S. 49 (Abb. 22) und 92 (Abb. 37 und 38). Vgl. darüber hinaus die Aufnahmen von Joseph Beuys mit Heinz Sielmann und Kameramann Georg Schimanski in Bergenhusen 1959 und die mit dem Galeristen Alfred Schmela in Düsseldorf 1962, beide abgebildet bei Stachelhaus (Anm. 4), Abb. IV und V. Vgl. Adriani/Konnertz/Thomas (Anm. 4), S. 89. Vgl. Adriani/Konnertz/Thomas (Anm. 4), S. 89. Zu den engen Kontakten vor allem George Maciunas zur amerikanischen Armee vgl. u. a. Jackson Mac Low, Wie George Maciunas die New Yorker Avantgarde kennenlernte und möglicherweise erfand, was man später FLUXUS nannte, in: 1962 Wiesbadener Fluxus 1982 - Eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen, Berlin 1983, S. 110-125, hier S. 115. Vgl. Adriani/Konnertz/Thomas (Anm.4), S. 89f. Insgesamt 14 Konzerte wurden im Zusammenhang des „Fluxus - Internationale Festspiele Neuester Musik", vom 1. bis 23. September im Hörsaal des Städtischen Museums Wiesbaden, aufgeführt. Nach Dick Higgins, In einem Minensuchboot um die Welt oder Einige Bemerkungen zu FLUXUS, in: 1962 Wiesbadener Fluxus 1982 (Anm. 16), S. 126-135, hier S. 127, provozierten die Konzerte einen Riesenskandal: „In der Folge wurde im Herbst 1962 Fluxus zu FLUXUS und für die Presse hießen wir seitdem die ,Fluxus-Leute'." Es ist eben nicht allein der Hut, der die Signifikanz schafft, das resultiert erst durch die allerdings durchaus legitime Verkürzung in der breiten öffentlichen Rezeption. Später kommen noch ζ. B. die Hosenträger dazu (etwa seit Beginn der 70er Jahre), die jedoch nicht wie auch andere Kleidungsstücke zu einem integralen Bestandteil des Erscheinungsbildes werden. Vgl. die Photos von H. Rekort von den Wiesbadener Konzerten, abgebildet in: 1962 Wiesbadener Fluxus 1982 (Anm. 16), S. 10 und 11; aber auch beim Düs-
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seldorfer Festum Fluxorum Fluxus am 2. und 3. Februar 1963 fällt Beuys aus dem Rahmen, da er als einziger keinen Anzug und gleichzeitig einen Hut trägt (Abb. ebd., S. 18). Vgl. ζ. B. eine Aufnahme aus den frühen 20er Jahren (o.J.) von Fortunato Depero, Filippo Tommaso Marinetti und Francesco Cangiullo, abgebildet im Kat. d. Ausst. Futurismo & Futurismi in Venedig 1986, S. 466. Auch in dieser Hinsicht stellen sich die Futuristen in die Tradition der Künstler und Literaten des Fin de Siecle. Vgl. im Kat. Futurismo & Futurismi (Anm. 20), ζ. B. S. 428 (Umberto Boccioni an der Front 1916), S. 442 (Carlo Carrä als Soldat in Ferrara 1916), S. 564 (Antonio Sant'Elia an der Front o.J.), ebd. auch als Gruppe (Marinetti, Sant'Elia, Russolo, Boccioni und Sironi), S. 575 (Marinetti und Mario Sironi an der Front o.J.). Zwiespältig bleibt ihr Verhältnis zum Krieg (F. T. Marinetti Futurista, Guerra sola igiene del mondo, Mailand 1915) sowie zum Faschismus; vgl. in Futurismo & Futurismi (Anm. 20) das Stichwort „Ideology", S. 488-492. Neben den Westen von Fortunato Depero sind vor allem die Kleidungsstücke und Möbel von Giacomo Balla hervorzuheben. Die oben bereits erwähnte Herleitung der Weste vom Typ der Anglerweste gibt nur vordergründig ein Gegenargument, sagt sie doch nichts über die Rezeption von Beuys selbst aus. Er hebt auch in seinen Äußerungen, soweit ich sehe, an keiner Stelle darauf ab. Entscheidend ist aber, daß sie im Zusammenhang des Erscheinungsbildes keinen Sinn ergäbe. Als nur ein signifikantes Beispiel sei auf das Plakat für den Boxkampf für Direkte Demokratie durch Völksabstimmung am 8.10.1972 im Zusammenhang der documenta 5 verwiesen; vgl. Schellmann/Klüser (Anm. 2); zusätzlich erschien eine Ankündigungskarte in der Edition Staeck. Vgl. dazu auch seine Äußerungen vor allem gegen den Neo-Dadaismus: „Da ich tiefere Dimensionen und weitere Dimensionen ansprechen wollte, verstand ich nie, warum sich ein Großteil der Fluxusleute, die sich auch Neodadaisten nannten, auf Dada beriefen und diesen Begriff sehr äußerlich als schockierendes Element benutzten." Vgl. in Adriani/Konnertz/Thomas (Anm. 4), S. 92-102, hier S. 102. Zur Rolle und Bedeutung des Hasen für Person und Werk von Joseph Beuys gibt es nicht nur viele authentische Äußerungen und Sekundärliteratur (vgl. auch Dieter Koepplin, The secret block for a secret person in Ireland, Kat. d. Ausst. Berlin 1988, Bd. 2 (Anm. 14), bes. S. l l f f . ) , was hier jedoch nicht detailliert besprochen werden muß. Wichtig erscheint
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mir jedoch, daß nicht nur eine Übereinstimmung in der Chronologie vorliegt - die Hasen spielen in seinen Aktionen seit 1963 eine größere Rolle sondern auch in diesem Zusammenhang auf das Überleben nach dem Absturz auf der Krim verwiesen wird. Joseph Beuys scheint sich der Weste als dauerhaftem Bestandteil seines Erscheinungsbildes in diesen ersten Jahren nicht ganz sicher gewesen zu sein; an ihre Stelle tritt gelegentlich auch ein Hemd mit beidseitigen Brusttaschen; in dieser Form finden wir seine Kleidungsstücke am Garderobenhaken als Beitrag zur „Demonstration für den kapitalistischen Realismus" der Ausstellung im Möbelhaus Berges, Düsseldorf 1963. Vgl. Anm. 7 und 8. Es handelt sich um zwei Siebdrucke mit dem Titel „Diamond Dust Joseph Beuys", in denen sich das Porträt auf den Kopf mit Hut in Frontalansicht beschränkt; es entspricht damit dem von Beuys autorisierten Porträt, das als Titelbild des Spiegel vom 5.11.1979 erschien. Erst 1986 entsteht die „Camouflage Joseph Beuys", dem eine „Camouflage Self-Portrait" aus demselben Jahr entspricht. In seiner Besprechung der Berliner Ausstellung „Realität-Realismus-Realität" begründet Göpfert seine auffordernde Frage folgendermaßen: „Insofern wäre es auch durchaus denkbar, daß Andy Warhol jetzt ein Bild malte, auf dem Joseph Beuys, wie seinerzeit die Witwe Jackie oder Marilyn Monroe, in serieller Reihung erschiene: auch er hat sich durch spezifisches Design, Hut und Weste, zum Markenartikel stilisiert." Vgl. Anm. 9. So zeigt er sich demonstrativ und ironisierend zugleich in seinem Raum auf der documenta 4 in Kassel 1968; vgl. die Aufnahme von R. Lebeck im Katalog der Berliner Ausstellung 1988, Bd. 2 (Anm. 14), S. 100, Abb. 54. Vgl. auch Stachelhaus (Anm. 4), S. 216 f. Ahnliches könnte man im übrigen auch für seinen Fellmantel konstatieren, der vor allem in den 70er Jahren sein Erscheinungsbild ergänzt; er trägt ihn bei den unter freiem Himmel stattfindenden Aktionen und soweit ich sehe immer vorn geöffnet, gehört aber in dieser Phase zu seiner Selbstdarstellung als Schamane bzw. als Wanderer und bleibt daher bezüglich der Ikonographie letztlich doch marginal. Außer auf seine Kleidung ist auch auf seine Autos hinzuweisen, vorzugsweise amerikanische Luxus-Limousinen (Cadillac, Lincoln Continental, Bentley), an denen er angeblich die plastischen Qualitäten schätzte. Die Peinlichkeit dieses Luxus neutralisiert er einerseits durch die Tatsache, daß es sich durchweg um alte, (sichtbar) gebrauchte Automobile handelte, andererseits durch gesuchte Kontrastwirkungen.
34 Die (abgelegten) Stücke verarbeitet er in der Regel zu Objekten, wenn sie ihm nicht vorher gestohlen wurden. „STERN: Wie viele sind Ihnen schon gestohlen worden? BEUYS: Zwei. STERN: Vom Kopf weg? BEUYS: Na ja, so von hinten und dann weg. STERN: Sie verkaufen den alten, wenn Sie einen neuen kaufen? BEUYS: Ja, aber nur, wenn er eine bestimmte Funktion hat, wenn er entweder umgearbeitet wird oder in einer Aktion eine ganz bestimmte Bedeutung hat. Es gibt so ein Objekt mit einem Flügel, wo ein Hut drauf liegt." {Stern, 30.4.1981, S. 253.) 35 Vgl. Karl Schmitz, Ich bin autonom - Joseph Beuys auf dem Weg vom Filz zur Politik, in: FAZ, 22.1.1972. 36 „Für Eva Beuys war der Filzhut ein so realistisches Stück Beuys, daß sie ihn gar nicht mehr wahrnahm." (Stachelhaus, Anm. 4, S. 216.) 37 Dieser Name ist eine Verballhornung von Jupp, der verkürzten Rufform des Vornamens von Joseph Beuys. 38 Vgl. Gislind Nabakowski, Erinnerungen an die Jahre 1966-1971 mit und um Joseph Beuys, in: Brennpunkt Düsseldorf, Joseph Beuys Die Akademie Der allgemeine Aufbruch 1962 - 1987, Kat. d. gleichnamigen Ausstellung vom 24. Mai bis 6. September 1987 im Kunstmuseum Düsseldorf, S. 101-107, hier S. 105. Selbstverständlich alludiert diese Aktion auf die Verspottung Christi und gehört damit in die Reihe der Aktionen, die einen ζ. T. dezidierten Bezug zur Passion Christi suchen. Vgl. zu dieser Thematik in jüngster Zeit Friedhelm Mennekes, Beuys zu Christus - Eine Position im Gespräch, Stuttgart 1989; Karin von Maur, Joseph Beuys' und der Christusimpuls, in: Katalog der Berliner Ausstellung 1988, Bd. 2 (Anm. 14), S. 45-56; Franz Xaver Kaufmann, Homo Religiosus, ebd., S. 57-68. 39 Vgl. das Photo im Tagesspiegel vom 21.2.1988. Die BZ machte am 20.2.1988 auf mit der Überschrift: „Hüte dich vor dem Hut!" 40 Sammlung van der Grinten, Kranenburg. Vgl. Nabakowski (Anm. 38), S. 103; im Stern vom 30.4.1981, S. 253 findet sich sogar eine noch deutlichere Anspielung auf die „Mona Lisa" in Form einer Collage des Originals mit dem Beuysschen Filzhut auf dem Kopf. 41 Galerie Werner, Köln. Vgl. Kat. Brennpunkt Düsseldorf (Anm. 38), S. 201. 42 Vgl. Anm. 29. 43 Vgl. dazu u. a. Wilhelm Bojescul, Zum Kunstbegriff des Joseph Beuys, Essen 1985, S. 109f.; Hiltrud Oman, Die Kunst auf dem Weg zum Leben - Beuys, Weinheim/Berlin 1988, S. 72ff., hier bes. S. 85-87; Die unsichtbare Skulptur, hrsg. v. d. FIU Kassel,
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Stuttgart 1989, darin vor allem Frank Meyer, Sichtbare Skulptur - Unsichtbare Skulptur. Der Energieplan von Joseph Beuys, S. 91-104 und 131. Beuys suchte den Vergleich mit Gott und wußte um die Problematik der daraus folgenden, kaum vermeidbaren Jüngerschaft; sein wenn nicht ablehnendes, so doch zumindest ambivalentes Verhältnis dazu war allgemein bekannt, und so empfand es Gislind Nabakowski als überraschend, daß er sich dann doch „einfach als Gott und ,Sender'" erklärte und seine Schüler in der Akademie als „Empfänger" klassifizierte (Kat. Brennpunkt Düsseldorf, Anm. 38, S. 105). Vgl. Kat. Brennpunkt Düsseldorf (Anm. 38), Abb. auf S. 172 f. Die Arbeiten „Triple Elvis", „Single Elvis" und „Elvis I und II" entstanden in den Jahren 1962, 1963 und 1964. Mit dem Titel seiner Aktion zielt er auf das ursprüngliche Verhältnis der Ureinwohner Amerikas zur Natur ab, das durch den Einbruch der europäischen Zivilisation verschüttet worden war; zugleich ist er jedoch auch ein Bekenntnis: allgemeinpolitisch bezieht er Stellung gegen den undifferenzierten AntiAmerikanismus seiner Zeit in Europa und künstlerisch steht er zu den amerikanischen Impulsen für die Entstehung sowohl seiner Aktions-Kunst als auch seiner spezifischen Künstlerpersönlichkeit. Die bei dieser Formulierung mitschwingende Assoziation mit einem plakativen, pressewirksamen Ausspruch eines Politikers war sicher intendiert; jedenfalls unterstützte er die mit dem Auftreten des Künstlers in Amerika verbundene Verkaufsstrategie, zu der natürlich auch die Rose gehörte: „Ohne die Rose tun wir's nicht, da können wir gar nicht mehr denken." Vgl. Laszlo Glozer, Beuys in New York - Das Guggenheim-Museum zeigt sein Werk in 24 Stationen, in: SZ, 3.11.1979, der den Erfolg von Beuys in Amerika kritisch hinterfragt; und jüngst: Joseph Beuys in America - Writings by and interviews with the artist, compiled by Carin Kuomi, New York 1991.
48 Sein Erscheinungsbild, vor allem auch die Jeans, wird nunmehr in der kritischen Presse als ShowTaktik erkannt, die die Identifikation mit der auf sie zielenden Jeans-Generation zu erreichen suchte. „Der 53jährige Pionier der ,Aktion Kunst', der Selbstdarsteller kam ganz für sich allein nach USA, . . . in seinem zerknautschten Filzhut, der grünen Weste und in Blue jeans. Seine Absicht war zu reden, . . . vor allem mit Studenten und Künstlern in freier kostenloser Aussprache." „Beuys ist ein Showman ersten Kalibers. Nichts ist unbewußt. Sein Image ist perfekt. Niemals ohne den grauen Filzhut, um den Legenden schweben." „Die jeansgekleideten Beuys-
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Boys saßen zu den Füßen des Meisters . . . " „Er zitierte den guten alten Präsidenten Lincoln: , Government of the people, by the people, for the people.'" Und das Publikum bestand „hauptsächlich aus der Jeans-Generation" (Lil Picard, in: Die Welt, 25.1.1974). „Seine Uniform trägt Beuys mit der lässigen Eleganz, mit der Brecht seine Litewka trug. Zum obligaten Filzhut ein grauer, knöchellanger Mantel mit Fuchspelzfutter, der den Künstler wie einen Magnaten aus den slawischen Steppen wirken läßt. Als es zu warm wird, fliegt der Mantel aufs Klavier und Beuys erscheint in dem Kostüm, das auch hierzulande keinen mehr überrascht: Blue jeans und apfelgrüne Weste mit blinkendem Reißverschluß im Rücken" (Sabina Lietzmann, Der Apostel im Ring - Joseph Beuys in New York, in: FAZ, 18.1.1974). 49 Vgl. Anm. 5. 50 Vgl. dazu grundlegend Theodora Vischer, Beuys und die Romantik, Köln 1983, aber auch Oman (Anm. 43). 51 Antje von Graevenitz führt in ihrem fundierten Beitrag „Erlösungskunst oder Befreiungspolitik: Wagner und Beuys" (in: Unsere Wagner: Joseph Beuys - Heiner Müller - Karlheinz Stockhausen - Hans Jürgen Syherherg, Essays, hrsg. v. Gabriele Förg, Frankfurt a.M. 1984, S. 11-49 und 191-193) gerade auch „La rivoluzione siamo Noi" als Beispiel für den Wanderer Beuys an (S. 40). Zwei daran anschließende Äußerungen des Künstlers von 1969 und 1982 belegen sein reflektiertes Verhältnis zu Wagner und Nietzsche: „Wir befinden uns in einer nomadischen Kultur, der Geist muß ohne feste Weltanschauung auskommen", und: „Mit Nietzsches Nomaden kann ich mich voll identifizieren. Es war ein Mißverständnis, daß er den Parsifal als ein Gegenbild zum Zarathustra sah. . . . Er fand den Erlösungsgedanken im Parsifal sentimental, weil er ihm ein altes, reaktionäres System widerzuspiegeln schien, in dem der Mensch auf eine religiöse Autorität von außen angewiesen ist. Aber das ist ja gar nicht die Idee im Parsifal. Er fügt sich keineswegs sklavisch in die geistigen Wahrheiten als ein Suchender ein und findet schließlich die Lösung für das, was Nietzsche selbst gesucht hat, als ein Ubermensch, ein neuer Mensch mit einem höheren Bewußtsein. Und daraus wird wieder ein neuer Mensch . . . Im Wanderer steckt einer, der seine Entwicklung nicht beendet: Das ist mit dem Gral gemeint" (zit. nach v. Graevenitz, ebd., S. 40). Während es A. v. Graevenitz um die kunstgeschichtliche Analyse des Verhältnisses von Beuys zu Wagner geht, reagiert die amerikanische Kunstkritik im Anschluß an die Ausstellung im Guggenheim Museum 1979 eher verschreckt und ablehnend auf dieses Element
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im Werk und in der Selbstdarstellung des Künstlers. Vgl. z.B. Nike Hale, The Wagnerian Chorus of Joseph Beuys At The Guggenheim, in: Art/World, 17.11. und 15.12.1979, vor allem aber dann nach dem Tod von Beuys in regelrecht vernichtender Weise Benjamin H. D. Buchloh, Die Götzendämmerung, in: Brennpunkt Düsseldorf (Anm. 38), S. 60-77. Auch Heiner Bastian nimmt das Motiv des Wanderers, allerdings eher in hagiographischer Absicht, für Joseph Beuys in Anspruch; vgl. seine „Wanderer zwischen Welten" überschriebene Einleitung zum 2. Bd. des Berliner Kat. von 1988 (Anm. 14), S. 9-13. Vgl. Werner Hofmann, Das Irdische Paradies Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München 1974 (1960), S. 136, der zugleich die Topik des Motivs in der künstlerischen Selbstdarstellung vor allem des späten 19. Jahrhunderts aufweist. Zur Interpretation des diesem Gedankengang zugrundeliegenden Gemäldes „La rencontre" aus dem Jahre 1854 (Musee Fabre, Montpellier) vgl. Linda Nochlin, Gustave Courbet's Meeting: Α Portrait of the Artist as a Wandering Jew, in: The Art Bulletin, 1967, S. 209ff. Vor allem in seinen „Eurasia"-Aktionen in Kopenhagen und Berlin im Oktober 1966 thematisiert Beuys diese Thematik, die in dieser Formulierung auf Rudolf Steiner zurückgeht. Vgl. Adriani/Konnertz/Thomas (Anm. 4), S. 161-168, hier S. 168. Stachelhaus (Anm. 4), S. 216, berichtet, daß er ihn bei der Beerdigung seines Galeristen Alfred Schmela anstelle von Jeans und Weste trug. Vgl. Schellmann/Klüser (Anm. 2), Nr. 25. Osiris, 1970/79, Kat. Nr. 73 der Berliner Retrospektive 1988. Er geht auf das Engagement Tatlins im GINChUK 1923-1925 für das Entwerfen von Kleidermodellen zurück. Vgl. Larissa Alexejewna Shadowa, Tatlin, der Künstler der materiellen Kultur, in: dies., Tatlin, Weingarten 1987 (Budapest 1984), S. 88-100 und 157-168, hier S. 98-100. „Wir müssen hier auch unbedingt die prinzipielle Bedeutung der Tatsache betonen, daß Tatlin die Kleider sozusagen ,für sich selbst' entwarf. Er überwachte persönlich die Anfertigung der Jacken-, Mantel- und Anzugsmodelle in der Werkstatt des Petroodeshda (ab 1924 Leningradodeshda - Trust Leningrad-Bekleidung'), probierte sie an und führte sie auch selbst vor" (Shadowa, Anm. 57, S. 100). Kat. Nr. VII, 2 und VII, 9, Abb. 245 und 246 geben auch die Abbildung der Schnittmuster des Anzugs. Die in Anm. 58 erwähnte Abb. 246 gibt die „Fotomontage ,Neue Lebensweise', eine Veranschaulichung des Arbeitsprogramms, das die Abteilung Materielle Kultur zum Thema Kleidung neuen Typs erfüllte" (Shadowa, Anm. 57).
60 Vgl. jüngst Birgit Ahne, Zur Wertung des Materials (I), in: Joseph Beuys - Der erweiterte Kunstbegriff, Darmstadt 1989, S. 19-27. „Mit dem ,Filzanzug' will Beuys das Individuum umhüllen, es isolieren, ihm helfen, seine geistige Wärme zu bewahren und sein Selbstbewußtsein - die Basis der Freiheit - zu erhalten" (ebd., S. 25). 61 Vgl. Oda Schaefer, Der Dandy, München 1964 und E. Carassus, Le mythe du dandy, Paris 1971; S. Neumeister, Der Dichter als Dandy. Kafka, Baudelaire, Thomas Bernhard, München 1973, sieht den Dandyismus als modernes Künstlerschicksal überhaupt, wobei das Dandytum von der Boheme (Helmut Kreuzer, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968) genauso abzugrenzen ist wie gegen den Snobismus (E. Carassus, Le snobisme et les lettres frangaises de Paul Bourget α Marcel Proust 1884-1914, Paris 1966). Insofern lassen sich dandyhafte Züge nach Lord Byron, der das Dandytum auch als Protesthaltung gegenüber dem angepaßten Bürgertum verstand, sogar bei jemandem wie Georg Büchner aufweisen (Rafael Gutierrez Girardot, Georg Büchner entre el Dandyisme y la Revolucion, in: Cruz y Rayam, Bogota 1967/3); auch Albert Camus (Hommes revolte, 1951, S. 72) sieht den Dandy in einer prinzipiellen Oppositionsrolle. Zu Brummeil selbst vgl. Captain Jesse, The Life of George Brummeil, Esq., commonly called Beau Brummell, London 1893 (1844). Vgl. zusammenfassend und auch für das Folgende: Hans Hinterhäuser, Der Aufstand der Dandys, in: Fin de Siecle, München 1977, S. 77-106. 62 Vgl. Hinterhäuser (Anm. 61), S. 77. 63 Vgl. vor allem Buchloe (Anm. 51); ähnlich titelt der Spiegel, Nr. 45 vom 5.11.1979: „Künstler Beuys - Der Größte - Weltruhm für einen Scharlatan" (S. 268-270). 64 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, 1789: „Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruhet, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen." 65 Vgl. Anm. 44. 66 Ohne im einzelnen auf die umfangreiche Sekundärliteratur zu diesem Thema eingehen zu können, sei wenigstens auf Oman (Anm. 43), S. 69ff. und auf Johannes Stüttgen, Das Kraftfeld Plastik, in: ders., Zeitstau, Stuttgart 1988, S. 39-63 verwiesen. 67 Selbstverständlich geht es ihm damit nicht um die Neuaufnahme des klassischen Florentiner ParagoneStreites, der erstmals dezidiert durch Leonardo for-
„...eine Art Ikonographie im Bilde." mulierten Frage nach der Rangordnung von Malerei und Plastik untereinander, sondern um das Unbehagen des modernen Künstlers am traditionellen Rahmen der Bilder, am traditionell beschränkten Format der Kunstwerke - Bedingungen, die sie für die Musealisierung im negativen Sinne vorbereiten. 68 Die positiven und erläuternden Ausführungen zur sozialen Plastik sind Legion; seltener äußert er sich kritisch zur Malerei; im Gespräch mit Knut Fischer und Walter Smerling 1985 greift er das Stichwort, daß keine Künstler, da sie ja malen, bei den Grünen zu finden seien, auf: „Deshalb kriegen die auch keine Bilder zurecht, weil die dauernd malen. Ich kann doch heute einfach nicht wieder die Leinwand aufspannen und sie bemalen, ohne diesen ganzen Zusammenhang zu haben. So kommt doch kein Bild zustande. Das ist doch ganz unmöglich. Ja, sicher kommen da Bilder zustande - wie wir sie eh und je hatten. Und die Leute, die bequem sind, sagen: ,Gott sei Dank - haben wir wieder Bilder, die kaufen wir und hängen sie an den Nagel. Dann brauchen wir nicht mehr über die komplizierten Aktionen nachzudenken. Uber diese Wahnsinnssysteme von dieser armen Kunst, die ja immer Ideenkunst war. Jetzt, jetzt haben wir gar keine Probleme mehr. Wir kaufen ein Bild und hängen es an die Wand.' . . . Die Bilder, die Maler heute oftmals produzieren, sind deswegen so schlecht, weil sie sich in einer Zeit egoistisch bewegen, die längst etwas anderes von ihnen fordern würde. D.h., die Bilder sind deswegen so schlecht, weil sie die eigentliche Farblichkeit in der neu entstandenen Disziplin der Kunst gar nicht sehen, d.h., wie die Kunst sich selbst entwickelt, aus ihrem modernen Feld wie dem anthropologischen Feld - weil sie das überhaupt nicht beachten." (Vgl. Joseph Bettys im Gespräch mit Knut Fischer und Walter Smerling, Köln 1989, S. 29.) 69 Vgl. zuletzt vor allem die beiden umfangreichen Bände zum Wiener Aktionismus. Bd. 1: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus - Wien 1960-1965, hrsg. v. Museum Fridericianum Kassel, Kunstmuseum Winterthur u. Scottish National Gallery of Modern Art Edinburgh, Klagenfurt 1988; Bd. 2: Wiener Aktionismus 1960-1971 - Der zertrümmerte Spiegel, hrsg. v. Hubert Klocker in Zusammenarbeit mit Graphische Sammlung Albertina Wien u. Museum Ludwig Köln, Klagenfurt 1989. 70 Veit Loers, Als die Bilder laufen lernten, in: Wiener Aktionismus, Bd. 1 (Anm. 69), S. 11-25, bezeichnet die Dokumentationsphotos als „Stillegung der Aktion zum Bild" (S. 21). 71 Viele Photos tauchen jedoch nach einer u. U. auch nur geringfügigen Veränderung als Objekt bzw. als Multiple im Werk wieder auf.
72 Es handelt sich dabei um 12 überschriebene Originalphotographien 1970-1981, abgebildet im Katalog der Ausstellung: Joseph Beuys - Α Private Collection, A l l Artforum München vom 22.2.-29.4.1990, S. llOf. 73 Diese letzte Aktion von Günter Brus fand im Sommer 1971 im Aktionsraum 1 in München statt. 74 Vgl. die hervorragende Dokumentation dieser Aktion von Hubert Klocker in: Wiener Aktionismus, Bd. 2 (Anm. 69), nicht nur durch die Aktionsphotos (S. 61-64), sondern auch durch die ergänzende Abbildung der Partitur (S. 126-132). „Die Zerreißprobe ist in ihrer dichten, dramaturgisch präzisen Durchführung die wohl extremste Aktion von Brus. Eine Weiterführung der Selbstverstümmelungsthematik war nach dieser Arbeit nicht mehr möglich und auch für ihn selbst nicht mehr notwendig" (S. 143). 75 Das dramatisch leicht verwackelte Photo von Heinrich Riebesehl entstand während des „»Festival der neuen Kunst' - Actions /Agit-Pop/ De-Collage/ Happening / Events / Antiart / LAutrisme / Art Total / Refluxus" am 20. Juli 1964 in der TH Aachen (abgebildet u.a. auch bei Adriani/Konnertz/Thomas, Anm. 4, S. 128). Es erscheint gerade auch im Zusammenhang mit dem Interview „Krawall in Aachen", in: Kunst. Magazin für moderne Malerei-Grafik-Plastik, H. 4/5, Mainz Okt.-Dez. 1964, S. 95-97, insofern interessant, als der Zwischenfall als im Grunde intendierter Teil der Aktion erklärt wird. 76 Vgl. die Dokumentation von Jürgen Schilling, Aktionskunst - Identität von Kunst und Leben?, Luzern/Frankfurt a. M. 1978. 77 Vgl. Edith Almhofer, Performance Art - Die Kunst zu leben, Wien/Köln/Graz 1986; darin vor allem: Die Transformation der Mythologisierung des Selbst. Colettes Autobiographie als Gesamtkunstwerk, S. 99-123 und 149 f. Bereits 1979 betitelte Colette eine Aktion in New York (unter dem Eindruck des Weltstars Beuys im Guggenheim-Museum?) „I am a work of art"; „The making of Olympia" führte sie 1981 in Münster auf. In dieser Performance wird nach E. Almhofer „das mythische Verständnis vom Künstler als neuen Prometheus, der seinen Imaginationen nicht nur Gestalt, sondern noch, wenn auch nur künstliches Leben verleihen kann und deren Faszination selbst sein Erzeuger zu erliegen droht", thematisiert (S. 122 f.). 78 Die betreffenden Aktionen „Selbstbemalung", „Selbstverstümmelung" und „Wiener Spaziergang" fanden in den Jahren 1964/65 statt und wurden z.T. sogar filmisch dokumentiert. Bemerkenswert erscheint, daß auch bei Brus der biographische Topos einer (künstlerischen) Depression auftaucht, bevor er zum Aktionskünstler wird. Von den Wiener Aktionisten
Michael
Groblewski
dürfte Brus die größte geistige Verwandtschaft mit Beuys besitzen. 79 Was die Strategie der die Medien berücksichtigenden Selbstdarstellung angeht, so sind die beiden Künstler Andy Warhol und Joseph Beuys gewissermaßen Parallelfälle. Vgl. die reich bebilderte Biographie, zusammengestellt von Marjorie Frankel Nathanson, im Kat. der Andy Warhol-Retrospektive, hrsg. von Kynaston McShine, München 1989 (New York 1989), S. 399-417. 80 Besonders aufschlußreich ist die Studie zur statuarischen Pose in „Celtic" von Jürgen Kramer, Betrachtungen über die doppelköpfige Schlange. Neun-undEwig als winterliche Paradiesvögel in menschenleeren Gegenden, in: Similia similibus. Joseph Beuys zum 60. Geburtstag, Köln 1981, S. 234-279, der sie ikonographisch bis auf den Grabstein von Niederdollendorf zurückführt. 81 Vgl. u. a. das Photo von Barbara Klemm, abgebildet im Bd. 1 des Kat. d. Berliner Ausst. 1988 (Anm. 14), S. 109, Abb. 71.
82 Vgl. dazu den beziehungsreichen Titel „Tractatus logico-biographicus" des einleitenden Beitrages von Johannes Stüttgen in: Similia similibus (Anm. 80), S. 9-20. Die Autobiographie sowie die Steuerung einer Biographie sind im übrigen keineswegs ein Einzelfall in der Geschichte des neuzeitlichen Künstlertums; sie finden sich nicht nur bei Michelangelo und Benvenuto Cellini, sondern durchaus auch bei den zeitgenössischen Künstlern. Neben Beuys dürfte ein charakteristisches Beispiel Alfred Hrdlicka darstellen. 83 Vgl. Anm. 1. Leider erst kurz vor der Drucklegung fand ich die „Kurzfassung eines Vortrages" von Franz-Joachim Verspohl (in: Kritische Berichte 14, 1986, Heft 4, S. 77-87), eine Publikation, die auch sonst in den neueren Veröffentlichungen zu Beuys offenbar nicht berücksichtigt worden ist; ich werde die darin vorgetragenen Thesen an anderer Stelle eingehend diskutieren.
Antje von Graevenitz
Warhols Tausch der Identitäten
Duane Michals' Fotoportrait von 1958 (Abb. 1) zeigt Andy Warhol mit beiden Händen vor dem Gesicht. 1 Wollte er es dem Fotografen nicht preisgeben? Oder war es Michals, der ihn um diese Pose bat, und war es Warhol, der der Bitte stattgab? In beiden Fällen würde es sich um ein Statement handeln mit den folgenden Möglichkeiten: 1. Warhol wollte sich absichtlich nicht zeigen, 2. es war Michals' Absicht, Warhols Verweigerung abzulichten. Jedes wäre für sich möglich und beides zusammen auch: Warum sollten nicht beide das gleiche Statement machen wol-
Abb. 1. Andy Warhol. Photo von Duane Michals, 1958.
len? Michals würde dann Warhols Weigerung vorführen, die dieser nicht so sehr, was sein Gesicht betraf, aber was seine Bereitwilligkeit zu persönlichen Erklärungen und theoretischen Statements anging, ohnehin meistens zeigte. 1967 war seine Antwort auf die Frage: „Do you think Pop Art is?" „No." „What?" „No." „Do you think Pop Art is . . . " „No . . . I don't." 2 Dieser Dialog ist inzwischen sprichwörtlich geworden. Nun soll hier die Weigerung, Pop Art zu definieren, sicher nicht verwechselt werden mit der Weigerung, sein Gesicht zu zeigen und öffentlich
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Antje von Graevenitz individuell zu erscheinen. Doch hat diese Strategie im Zusammenhang mit anderen Aussprüchen Methode: ein Fernsehfilm von Kim Evans über Warhol von 19863 zeigt ein Fragment eines Interviews aus dem Jahr 1966, in dem Warhol zu Beginn klipp und klar die Regel stellt: Nicht er würde auf Fragen antworten, sondern das solle der Interviewer selbst tun. Sein Bild müsse schon der andere von ihm entwerfen. Der wehrte sich zwar, aber vergeblich. Auf die Frage des erstgenannten, deutschen Journalisten aus dem Gespräch im Jahre 1967: „Are you drawing for yourself to express your individuality more fully or because you are so well paid?" erfindet Warhol die Antwort: „Uhhh . . . well, Gerard does all my paintings."4 Gemeint ist Gerard Malanga, der Warhol assistierte, aber sicher nicht seine Bilder malte. Mag auch die Lüge der gerechte Lohn für die dumm-dreiste Frage sein, so liegt diese Antwort doch wohl auch auf einer Linie mit einer kunstfertig vertretenen Attitüde der Verweigerung von Individualität. Warhol will die anderen zwingen, nur das in ihm zu sehen, was sie sowieso schon in ihm zu sehen meinen. Der deutsche Fragesteller versuchte es 1967 noch einmal: „Would you describe any direction. I mean I could. It bores me to tears, but I could describe the direction." Andys Antwort ist: „No." Der andere: „You would not?" Andy: „You tell me." Sein Bild und das des Spiegelbildes des jeweiligen Fragestellers sollen sich übereinanderschieben, mögen sich auch die Konturen nicht ganz decken. Auf diese Weise entsteht das Rätselbild, das nachhaltig fasziniert, wenn auch die Verfügbarkeit der Identität verwirrend wirkt. Der Fragesteller als Stellvertreter aller Warholinteressenten wird sich betrogen fühlen, als sei er in eine Falle geraten. Da Warhol sich in den alltäglichen Ritualen des Kunstjournalismus auf die selbstgewählte Strategie eingeschworen hatte, nur das Klischee, das sich andere von ihm ma-
chen, zu unterstützen, ist es wohl gerechtfertigt, diese künstliche Strategie mit dem Konzept seines Werkes zu vergleichen. Wie geht er dort mit den Aspekten Identität, Nicht-Identität um?5 Und was bedeutet dieses Wort? Der Begriff Identität spielt in der Philosophie und in der Psychologie eine entscheidende Rolle,6 darüber hinaus in der Psychoanalyse, die sich mit der Identitätskrise beschäftigt und also davon ausgeht, daß zumindest ursprünglich eine Identität vorhanden war, die es erneut zu festigen gilt.7 Wer das mit sich Identische ausmachen konnte, glaubte zugleich das Sein erklären zu können. Identität und Sein sind eine Einheit, so meinte schon Parmenides, einer der Vorsokratiker, ca. 500 Jahre vor Christi. Etwas, das mit sich identisch ist, stimmt mit sich selbst überein; ist „stimmig", sagt man auch in der Umgangssprache. Wenn man also Dinge miteinander vergleichen will, muß man erst die Identität dieser beiden feststellen. Ähnlichkeiten und Unterschiede fallen dann umso stärker auf. Das einander Gleiche ist also sicher nicht das Identische. Gleichheit und Identität schließen einander aus. Martin Heidegger, der im Jahre 1957 in der Stadthalle in Freiburg einen Vortrag über den „Satz der Identität" hielt,8 sagte zu dem Thema gleich zu Beginn: „Der Satz der Identiät lautet nach einer geläufigen Formel Α = Α." Bald widerrief er aber diese Formel, da sie ja nur eine Gleichheit ausdrücke, und ersetzte sie durch den Satz: „A ist A, jedes Α ist dasselbe." Jedes sei selber ihm selbst dasselbe, und er fuhr in seiner bekannten Diktion fort: „Jedes Selber ist ihm selbst dasselbe. Jedes Selber ist dasselbe für ihn selbst und mit ihm selbst. Mit ihm selbst ist jedes Α dasselbe." Damit hoffte Heidegger, ein Gesetz des Seins ausgesprochen zu haben. Aber, so fuhr er fort, wenn man den Satz „A ist A" nennen würde, dann handele es sich keinesfalls um eine Tautologie (in dem Sinne von: Schnee ist
Warhols Tausch der Identitäten weiß). Vielmehr habe Parmenides damit gemeint, daß Dasselbe einerseits ein Sein und andererseits ein Denken sein könne, so wörtlich die Ubersetzung aus dem griechischen Urtext: „Das nämlich Selbe ist Denken sowohl als Sein . . . Denken und Sein gehören in dasselbe." Heidegger, der nun Parmenides' Satz nachsann, gab nicht sofort ein Beispiel, aber man könnte es hier versuchen mit dem Satz: „ein Baum ist eine Pflanze, ein Baum ist ein Begriff." Wenig später führte Heidegger dann noch ein Beispiel ein: er kommt auf die Technik zu sprechen: sie sei Ausdruck des Denkens und gehöre deshalb nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Sein. Mit anderen Worten: Auch ein Bild, oder zeitgemäßer ausgedrückt: eine Repräsentation, die sich der Mensch in seiner Vorstellung von etwas macht, gehört nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Sein. Insofern wäre ein Bild, eine Repräsentation, immer mit dem Sein identisch. Das wäre dann aber für jedes Bild oder, spezieller, für jedes Kunstwerk gültig, und dieser Satz kann wegen seiner Allgemeingültigkeit nicht, oder jedenfalls noch nicht, den speziellen Fall von Warhol klären. Gemeint ist aber in jedem Falle, daß Bild und Realität nicht einander gleichen müssen, obwohl sie aufeinander bezogen sind. Identisch sind sie einander aber wohl als Teilhaber am Sein, denn beide gehören zum und ins Sein. Damit wäre zunächst nur die Basisbedingung der Identität Kunst geklärt. Bei Warhol ist jedoch Identität auch ein inhaltlicher Aspekt seiner Kunst, der in allerlei Gewändern zu Tage tritt: 1. 2. 3. 4. 5.
Do it yourself, Mutter Warhola, Basquiat, A Kopie, Werbung Die leere Hülle, Silver Clouds Beliebige Portraits, 13 Most Wanted Men Austausch der Farben
1. Do it yourself, Mutter Warhola, Basquiat, A Warhols „Do it yourself'-Bilder der frühen sechziger Jahre gaben vor, der Betrachter könne am Werk partizipieren und der Künstler habe sich teilweise aus seiner Rolle des kreativen Genies verabschiedet. Wie in den Zeichenblöcken, die auch im Supermarkt erworben werden können, ist mit wenigen Konturen und Farben ein Bild vorgegeben, das Kinder oder Erwachsene nur noch mit Farben ausfüllen müssen, um ζ. B. eine fertige Landschaft zu erhalten. Aber aufgepaßt: Warhols Werke aus dem Jahre 1962 sind Fallen: Sie sollen nicht wirklich zu Ende geführt werden, denn es handelt sich ja jeweils nur um ein Bild der „Do it yourself"-Bilder, um eine Kopie der Reproduktion im Malblock, die aus der Reproduktion keine (reine) Wiederholung, sondern wiederum ein einmaliges Bild macht, erstarrt zur Erinnerung an die Möglichkeiten echter „Do it yourself"-Bilder. Ein ready-made ist diese Kopie also nicht, sie ist nicht identisch mit der Vorlage, denn ihr Zweck ist ein anderer. Bei Warhol ist das Mitmachen (Partizipation, wie sie die happening-Bewegung auf ihre Fahnen schrieb) eine Farce, allerdings nicht immer in seinem Werk: Schon seine Mutter Julia Warhola schrieb auf seinen Wunsch eigentümlich steife und kratzig geformte Texte in seine Zeichnungen, die er selbst signierte. Manchmal zeichnete sie auch, ζ. B. eine Serie von Katzen, die er als seine Produkte herausgab. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete er wiederum für kurze Zeit mit einem anderen Künstler zusammen, diesmal mit dem Graffiti-Maler Basquiat. Aber auch sonst machte es ihm nichts aus, in der „Factory" Produkte unter seinem Namen herauszubringen: die Filme „Flesh" und „Trash" z.B., die Paul Morissey gedreht hatte. Der unsichtbare Künstler am Werk und der sich ständig zurückziehende
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Antje von Graevenitz Künstler waren Spannungsfelder seiner Arbeit, die er ständig konzeptuell aufrechterhielt. Früh erkannte er dabei die Möglichkeiten der Medien, die Wirklichkeit zu registrieren, so wie sie sich vorgab. Sobald er von 1964 an eine Filmkamera besaß, richtete er sie auf das sich zur Schau stellende Völkchen aus dem „Velvet Underground", das sich in seiner „Factory" tummelte. Regie im engeren Sinne führte nicht er, sondern später Paul Morissey. Ein Script vorab gab es nicht, allenfalls ein Konzept für die filmische Strategie. Gleiches geschah mit Kassettenrekordern, die Gespräche seiner Protagonisten registrierten. Man fühlt beim Lesen der Resultate in dem Buch A, A Novel by Andy Warhol von 1968,9 daß keinerlei redaktioneller Eingriff oder gar Zensur geübt wurde und daß gerade deshalb genußvoll das ausgesprochen wurde, was man sonst vielleicht verschwiegen hätte. Die flüchtige, verschwenderische, ziellose Nichtigkeit allen Gebrabbels, das Zeittöten mit intimsten Aussagen wirken lachhaft und grotesk und deshalb menschlich und tödlich zugleich. Ein Autor der „ready-made-Gespräche" ist nicht auszumachen. Alles Produzierte ist anonym, und Warhol ist nur Herausgeber dieser Registration in der Form eines Romans. Einzig in seinen Filmen kommen Menschen mit Namen vor, doch oft sind es Pseudo-Stars, die mit Nonchalance echte Stars imitieren und ironischerweise dadurch auch Stars werden, wie z.B. Ingrid Superstar.
2. Kopie, Werbung Das Spannungsfeld seiner Rolle als Künstler und Nicht-Künstler ergab sich schon aus seiner Akademie-Zeit. Es war das Verdienst Rainer Crones, hier die Quelle entdeckt zu haben.10 Crone sprach mit Warhols Lehrer, Robert Lepper, einem Bauhaus-Anhänger, bei dem sich Warhol
1947 bis 1949 in das Fach „Pictorial Design" (Malerische Gestaltung) einschrieb. Lepper gab der Klasse den Auftrag, aus ihrer sozialen Umgebung Themen zu wählen, etwa „1. shelter (in which man spends at least one third of his time)" - Warhol malte daraufhin ein Wohnzimmer, „2. exchange of goods and services" und in diesem Bereich, wie Crone zitiert, „the most significant single object in the social flux", denn, so erzählte Prof. Lepper, er wollte den Studenten dazu animieren, „to sharpen the student's capacity to observe and analyse meaningful social patterns as valuable data for the creative artists".11 Es ist also offensichtlich, daß Warhol diesen Auftrag, den wichtigsten, signifikanten Gegenstand aus dem sozialen Umfeld darzustellen, bald als seinen eigenen Auftrag verinnerlichte: Um Geld zu verdienen, nahm er am social flux sowieso teil und zeichnete Annoncen für Schuhe,12 die 1955 zu dem Offsetlitho „Auf der Suche nach dem verlorenen Schuh" (Abb. 2) führten: 4 x 4 Schuhe, ein jeder im eigenen Feld eine Schuh-Persönlichkeit, aber im Verein mit 15 anderen nur ein Gleicher unter Gleichartigen. Das Thema war gestellt und damit auch die Gestaltung: Die Werbung hatte im Motiv und in der Kompositionsform die Führung übernommen, und Warhol lieferte sich ihr absichtlich aus, denn Werbung als solche war ja im Sinne seines Lehrers ein „subject" aus dem social flux, ganz gleich, welches Motiv sie präsentierte. Werbung hatte zudem weitere Aufgaben, die Warhol beibehielt: sie mußte das Produkt in das Gedächtnis einhämmern, doppelt hält besser oder, wie Warhol selbst sagte: „Thirty are better than one", und sie mußte das Produkt faszinierend vorzeigen, „glamorous". Mit Gold und anderem Glitzerzeug brauchte nicht gespart zu werden. Die Werbung als Gegenstand des social flux, als massiver Verdoppelungseffekt und als Faszinationswert, war gleichermaßen Bildsprache der Umwelt und dennoch ihr
Warhols Tausch der
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Abb. 2. Α La Recherche du Shoe Perdue, 1955. Offsetlithographie, Aquarell und Tinte auf Papier, Deckblatt 66 χ 50,8 cm, 16 Bl. (von 17). Nachlaß Andy Warhol.
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Warhols Tausch der realer Teil. Warhol übernahm sie in dieser doppelten Eigenschaft in die Kunst und schuf so die Metasprache einer Metasprache, wie die Linguisten sagen. Aber auch hierbei gab er der Werbung im Verein mit der Tradition der bildenden Kunst eine verfremdete Identität. Einerseits zollte er dem Motiv der Coca-Cola-Flasche (Abb. 3) im Jahre 1960 aus der Werbung den Respekt, den man früher einem anderen banalen Gegenstand im traditionellen Stilleben gegeben hatte. Einerseits wurde die Flasche sozusagen als Portrait ihrer selbst zum Einzelhelden des Kunstwerkes, andererseits unterwarf er seinen Bildhelden der Gleichmacherei ähnlicher Elemente /Bildmotive gleicher Größe und Anordnung in dem zwei Jahre später entstandenen Bild „210 Coca-Cola Botties" (Abb. 4). Manche sind halb entleert, so wie man sie übrigens nie auf dem Warenreck eines Supermarktes antreffen würde (wohl aber im traditionellen Stilleben). Dieses Werbebild ist also eigentlich ein Anti-Werbebild, und doch
Abb. 5. Anzeige für I. Miller in The New York Times, 1956.
handelt das Bild offensichtlich vom Konsum des Getränkes, ein Grund, weshalb sich die Werbung solchen Spott später auch erlaubte. Die Anordnung der Bildelemente, ihre Gleichheit und Variation, ist im Katalog der Kölner Ausstellung von 1989/90 zu Recht mit den abstrakten Tendenzen in Warhols Zeit verglichen worden, ζ. B. mit den farbigen Quadraten von Ellsworth Kelly, der schon zu Beginn der fünfziger Jahre mit diesem Repertoire unhierarchischer Strukturen gearbeitet hatte.13 Kein Bildelement hat hier über ein anderes das Sagen. Alle zusammen bilden ein Bildfeld, in dem jedes Bildelement für sich selbst und im Verein mit den anderen seinen Platz hat. Interessanterweise greift der Katalog-Autor Benjamin H. D. Buchloh auf eine Anzeige zurück, die Warhol für I. Millers Schuhe für die New York Times (Abb. 5) erdachte und in der er solche abstrakten Tendenzen noch gleichmacherischer im Sinne Frank Stellas vorangetrieben hatte.14 Sicherlich ein Beispiel dafür,
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Abb. 6. Turquoise Marilyn, 1962. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 101,6 χ 101,6 cm. Slg. Stefan T. Ellis.
Warhols Tausch der wie gut Warhol über die künstlerischen Mittel seiner Zeit Bescheid wußte. Sein Studienfreund, der Maler Philip Pearlstein, hat erzählt, daß er mit Warhol zweimal im Jahr von Pittsburgh nach New York fuhr, um dort das Museum of Modern Art zu besuchen.15 Warhol interessierte sich also für die Kunstgeschichte. Die Austauschbarkeit und Gleichmacherei der Bildelemente war damals allgemein eine tradierte Bauhaus-Methode, die selbstverständlich gerade von abstrakten Malern fortgesetzt wurde, aber mit Warhol auch bei den Figurativen Eingang fand, dort aber - im Verein mit Werbemethoden - Neues bedeutete. Wie auch der Bauhausmaler Josef Albers zu Warhols Zeit ständig gleichgeartete Quadrate verschiedener Farben austauschte, um deren Interaktion, die Wirkung der einzelnen Farben auf die jeweils angrenzende, zu „untersuchen" - es war Warhols Lehrer Robert Lepper, der den Schülern von Albers erzählte16 - , so begann nun auch Warhol, an Hand seiner Motive mit reinen Farben zu operieren, die er in krassen Konturen aneinandergrenzen ließ: Orange, gelb, rosa und türkisgrün trafen hart aufeinander. Die Arbeitsweise des Werbegrafikers mischte sich mit der des Künstlers, der unter anderem von den Methoden der abstrakten Kunst gelernt hatte. Die Motive jedoch waren austauschbar und blieben, merkwürdigerweise - wichtig für den Werbeeffekt - „glamorous" genug, selbst noch als Fragment, reduziert auf das wichtigste Zeichen, wie das Serienbild von Marilyns Lippen (Abb. 6) von 1962 zeigt. Mit den berühmten Campbell's Suppendosen (Abb. 7) und Dollarscheinen geschah dasselbe. Einerseits wurden sie 1962 in heroischer Stillebenpose geehrt, andererseits jedes für sich und alle miteinander zum Gruppenbild zusammengestellt. Erst 1964 hat der sehr viel ältere Jasper Johns seine Bronzeplastik zweier Bierdosen folgen lassen, die sicherlich für die Bildhauerei auch
Identitäten
Abb. 7. Big Torn Campbell's Soup Can (Black Bean), 1962. Acryl auf Leinwand, 182,9 χ 137 cm. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.
eine radikal neue Würdigung eines Alltagsgegenstandes bedeuteten. Warhol allerdings portraitierte nicht Alltagsgegenstände, sondern die Werbung, die Alltagssprache über Alltagsgegenstände. Die Identität der Werbung erfuhr in der bildenden Kunst eine doppelte Verfremdung vom Gegenstand, wie auch die Kunst ihrerseits eine Verfremdung von ihrem Kunst-Sein durch die Ähnlichkeit mit der Werbung mitmachte. Dieses Zwitterwesen zu sein, war die neue Qualität, ihre Eigenheit sozusagen. Ihre undeutliche, doppelte Identität war gerade ihre Identität.
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3. Die leere Hülle, Silver Clouds Warhols Bildgegenstand war also nicht auf das Objekt, sondern auf Erscheinung und Begriff des Objektes gerichtet. Symptomatisch dafür waren auch seine Brillo Boxes von 1964. Als (Bild-)Inhalt - wenn es denn je einen gab (wahrscheinlich „soappads") stellten sie nur eine Hülle zur Schau. Alles war nichts anderes als Oberfläche, der Inhalt des Kunstwerkes war ganz darauf ausgerichtet, obwohl er nun auch auf eine ebenso triviale wie tiefsinnige Weise deutlich machte, daß es einerseits nichts anderes als Oberfläche zu sehen gab und dieses andererseits womöglich gleichzeitig auf eine sinnbildliche Weise: War nicht das Leben in einer amerikanischen Großstadt nur noch auf Verpackung und Werbung gerichtet? War nicht die Verpackung schon das ganze Leben? In einem Werk von Marcel Broodthaers aus dem Jahre 1974 wird dieser Tatbestand nochmals aufs Korn genommen.17 Der kleine leere Koffer
trägt als Aufschrift seine Bedeutung zur Schau: „Sculpture". Doch Broodthaers, der als Belgier dem Surrealismus nahestand, spielte auch auf den enigmatischen Inhalt an. Was könnte wohl im Koffer verborgen sein, das ich als Betrachter mit mir herumtragen möchte? Und wäre dieser Inhalt zugleich der Bildinhalt, die Bedeutung der Skulptur? Warhols Werk dagegen ist absichtlich weniger rätselhaft: sein Bildinhalt ist die Erscheinung der Oberfläche, die Verpackung einer Sache und zugleich ihre Werbung. Das Bildthema ist die „Leere", die darum, weil sie als Bildthema der Kunst fungiert, selbst keinesfalls leer ist, wie übrigens auch Warhols „Silver Clouds" (Abb. 8) von 1966 nicht, die im Jahre 1966 in der Galerie Leo Castelli herumflogen. Sie waren leer, wenn auch mit Helium gefüllt und nicht leer an Bedeutung. Damals erkannten die Besucher, daß sie sich selbst auf vielfältige und verzerrte Weise in Warhols Werk spiegelten, und sie entdeckten, daß es möglicherweise auch in seinem anderen Werk so wäre.18
Abb. 8. Silver Clouds, 1966. Installation Leo Castelli Gallery, New York.
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Abb. 9. Portrait of an American Lady, 1977. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 101,5 χ 101,5 cm. Nachlaß Andy Warhol.
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Abb. 10. Thirteen Most Wanted Men, 1964. Fassadengestaltung New York State Pavillon, Weltausstellung New York 1964, Tafeln jeweils 122 χ 122 cm, zus. 610 χ 610 cm.
4. Beliebige Portraits, 13 Most Wanted Men „Und alle, alle kamen", um sich nicht nur in seinem Werk zu spiegeln, sondern auch von ihm verewigen zu lassen, wissend, daß ein Siebdruck oder gar ein Acrylbild von Warhol sie zum Star avancieren würde, ganz im Sinne seiner ersten Star-Bilder, darunter nicht nur Jacky Kennedy und Marilyn Monroe, sondern auch Muhamed Ali (1977) und Liz Taylor (1963). Die Tatsache, daß ein Wink des jeweiligen Kunsthändlers und ein entsprechendes Polaroidfoto genügten, weist
auf dreierlei: auf Austauschbarkeit - jeder konnte ein Star der Gesellschaft werden - und darauf, daß der Zauberer Warhol ihn dazu machte. Schließlich auf die Tatsache, daß Warhol auch hier wieder nach einem Abbild, und nicht nach der Natur arbeitete. Er gab ein Abbild ihrer Oberfläche, ihrer gesellschaftlichen Maske, ohne Leib, zumeist ohne Hände, so „glamorous" wie möglich (Abb. 9). Jeder wäre gern „most wanted" geworden, wenn nicht paradoxalerweise gerade dieser Begriff doppeldeutig wäre. Marcel Duchamp hatte
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änderte er Duchamps Konzept. Er mußte es nochmals ändern: Die Organisatoren der Messe stellten überrascht fest, daß die meisten Portraits Köpfe italienischer Mafiosi betrafen. Die Nation der Italiener durfte keineswegs beleidigt werden, und so übermalte Warhol diese Stars silbergrau (Abb. 11). Sie waren noch anwesend, jedermann wußte es, nur waren sie wieder, wie gehabt, in den Untergrund getaucht. Im selben Jahr machte Warhol, vielleicht im Zusammenhang mit dieser Arbeit, sein eigenes Portrait in Paßfotomanier als eine Art Mr. Jedermann. Er „ist" es selbst, und doch scheint ihn das Massenmedium zu entpersonalisieren.
5. Austausch der Farben
Abb. 11. Thirteen Most Wanted Men, mit Aluminiumfarbe überstrichen.
diesen Umstand 1923 spitzbübisch für ein Werk ausgenutzt und sein zweifaches Portrait im Stile der Verbrecher auf eine Suchannonce gesetzt.19 Warum nicht den Kriminellen mit seinem Bild vertauschen, ist doch ein Künstlerportrait naturgemäß etwas, was sich die Gesellschaft wünscht? Warhol erweiterte diese Idee zu einem Arrangement der „Thirteen Most Wanted Men" (Abb. 10), die er 1964 als gesellschaftliche Stars besonderer Art an die Außenwand des Pavillons des Staates New York für die Weltausstellung anbringen ließ. 20 Er tat es ohne eigenes Konterfei, darin
Dieser Zwiespalt zwischen Personalisierung und Depersonalisierung ist in anderen Fällen eine Folge der Farben. Warhol trug sie wie überreiche Schminke auf, die Konturen und Farbflächen decken einander nicht. Absichtlich wird das Tontrennungsverfahren des Siebdrucks als Methode der Zusammenstellung flächiger Fragmente aufgedeckt. Im Ergebnis zeigt sich Marilyn nur als eine Maske aus farbigen Versatzstücken. Henri Matisse und Fernand Leger waren die ersten, die zu Beginn des Jahrhunderts Konturen und Farben voneinander schieden. Sicherlich war Warhol von ihren Werken beeindruckt, als er mit Philip Pearlstein das New Yorker Museum besuchte, 21 wo er beispielsweise im Solomon R. Guggenheim-Museum Legers Bild „Die Landpartie" (1954) sehen konnte, ein typisches Werk der Scheidung von Farbe und Kontur. Es ist durch Rainer Crone außerdem verbürgt, daß Warhol sich von Matisse-Zeichnungen anregen ließ, wie man auf Blättern aus den Jahren 1956 bis 1958 erkennen kann. 22 Allerdings benutzte Warhol die Eigenständigkeit der Farbflächen auf seinen Bil-
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Abb. 12. Before and After, 1960. Acryl auf Leinwand, 137,2 χ 177,8 cm. Nachlaß Andy Warhol.
dern und Siebdrucken nicht nur, um abstrakte Werte zu betonen, sondern als Sinnträger: Farbe liegt auf der Haut des Bildes wie Schminke auf. Make-up gibt dem Gesicht Glamour, aber erhebt deshalb auch die faktischen Züge zum reinen Imago. Zum Thema „beauty" äußerte sich Warhol in seinem lesenswerten Buch The Philosophy of Andy Warhol, From A to Β and Back again (1975)23 viele Male, wie es sich für einen Künstler gehört, der zur Theorie der Schönheit ein besonderes Verhältnis hat. „What makes a painting beautiful is the way the paint's put on, but I don't understand how women put on makeup. It
get's on your lips, and it's so heavy. Lipstick and makeup and powder and shadow creams. And jewelry. It's all so heavy", überlegte er,24 dennoch trug auch er eine weiße Perücke, da er zur Glatze neigte, und half seinem pustelgepeinigten Gesicht und den Pigmentstörungen der Haut gern mit etwas heller Schminke nach. Eine chirurgische Maßnahme hatte seine rötliche Nase leider nicht verbessern können. Darüber war er sehr enttäuscht. Zwar wußte er genau: „I've never met a person I couldn't call a beauty. Every person has beauty at some point in their lifetime. Usually in different degrees."25 Die Amerikaner streben dennoch besessen nach „beauty", und er fuhr in
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Abb. 13. Camouflage Self-Portrait, 1986. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 208,3 χ 208,3 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 14. Self-Port rait, 1967. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 182,9 χ 182,9 cm. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München.
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seinem Buch fort: „Even beauties can be unattractive. If you catch a beauty in the wrong light at the right time, forget it. I believe in low light and trick mirrors. I believe in plastic surgery." Schon im Jahre 1960 gab sein Bild „Before and After" (Abb. 12) dazu die Marschroute an. Das gesellschaftliche Imago, die Maske, war sein Thema, nicht der konkrete Gegenstand oder die konkrete Person aus dem social flux. Farbe half ihm, diese Camouflage ins Bild zu übertragen. War sie bei Marilyn und Liz noch in dieser Eigenschaft wirksam, so enthüllte er die camouflierende Eigenschaft der Farbverhüllung nun ein
Abb. 15. Big Electric Chair, 1967. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 137 χ 185,4 cm. Moderne Museet, Stockholm.
Jahr vor seinem Tode überdeutlich: er entmaskierte die Eigenschaft der Maske bereits im Titel „Camouflage Self-Portrait" von 1986 (Abb. 13). Wiederum war die Farbe nicht im abstrakten Sinne definiert, sondern auch als eine Anspielung auf die Lichtschlieren, wie sie in Discos, die er gern besuchte, gleichmacherisch und camouflierend auf alle Besucher verteilt werden. Die projizierten Lichtschlieren decken sich in keinster Weise mit den Konturen des Gesichtes. Diese Vergnügungsschminke verdeckt einen ängstlichen Warhol, dessen Haare wild in die Luft stehen. Tanzt er oder zeigt er sich als Narr? Möglich
Warhols Tausch der wäre es, daß sich Warhol, der sich zu Beginn noch in der Pose des nachdenklichen, intellektuellen Kreateurs darstellte, der das Gesicht in die Finger stützt („Selbstportrait", 1967) (Abb. 14), nun im Jahre 1986 - kurz vor dem ungeahnten Ende seines Lebens - in der anderen traditionellen Maske des Narren zeigt, so wie ihn die Gesellschaft gern sehen wollte. Der Titel verrät wiederum den Wunsch nach Camouflage der Person Warhol. Für diese These spräche das Foto eines anderen: Willig ließ er sich für ein Foto von seinem Hoffotografen Christopher Makos in Düsseldorf die Nase eines Clowns aufsetzen, als er einem echten Clown vorgestellt wurde.26 Wenn also an dieser Stelle noch einmal die Bedeutung des make-ups und der Maske als Sinnbild des social flux betont wird, muß man sich fragen, ob es denn auch für den Bereich der Desaster gilt: über seinen „Big Electric Chair" (Abb. 15) von 1967 meinte Warhol ohnehin, die Leute würden das Bild schon kaufen, wenn nur die Farbe zu ihrer Einrichtung passe - ein Ausspruch, der auf den Wert der Farbschminke selbst für das Grauenvollste verweist. In einem anderen Werk gibt er den gesellschaftlichen Umgang mit dem Grauen wieder: In dem Bild „Ambulance Disaster" (Abb. 16) von 1963 ist auf der unteren Bildreportage das Gesicht des Unfalltoten verdeckt worden, eine Camouflage für das Antlitz des Todes. Es ist, als habe Warhol noch einmal das ästhetische Gesetz der Klassik zitieren wollen, wie es Gotthold Ephraim Lessing in seinem Lao&oo«-Aufsatz aufgestellt hatte27: Das ästhetische Gesetz verbietet eine Darstellung des Klimax von Grauen und Freude, nur das Davor oder Danach ist als Bild überhaupt erträglich, weil es noch der Vorstellung genügend Raum gibt. Warhol entschied sich im Falle des „Ambulance Disaster" für beide Bilder, oben für den Klimax des Grauens und unten für den gesellschaftlichen Umgang damit, denn nicht der Klimax, sondern
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Abb. 16. Ambulance Disaster, 1963. Siebdruck auf Leinwand, 302,9 χ 203,2 cm. Dia Art Foundation, New York.
Faszination und Maskierung, das Gesicht des social flux also, ist sein Thema. Auch deshalb heißt ein weiteres Bild von ihm ebenfalls aus dem Jahr 1963 „Bellevue" (Abb. 17), hier „Bellevue II". Fürwahr eine schöne Aussicht auf eine Selbstmörderin, die anscheinend aus dem Fenster sprang und über die sich nun Krankenpfleger beugen, während ein Polizist aufpaßt! Nur ein Polizist? Scheinen es nicht am Ende der Serie, die aussieht wie Andrucke eines Presse-
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Abb. 17. Bellevue II, 1963. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 208,5 χ 208,5 cm. Stedelijk Museum, Amsterdam.
fotos, stets mehr Polizisten, Helfer und Selbstmörder zu werden? „Bellevue" gibt am Ende Aussicht auf ein großes Chaos. Das Desaster scheint nun nicht mehr ein Selbstmord zu sein, sondern ein großes Disaster zweiter Art, verursacht durch den Unfall der Druckmaschine. Der Titel „Bellevue" ist zynisch gewählt: Wer sich von Unfallfotos faszinieren läßt, und wer gehört nicht dazu, kommt durch das zweite Desaster noch voller auf seine Kosten. Auch hierbei scheint sich das gedruckte Bild vom Bildgegen-
stand zu lösen und durch die Verselbständigung der Bildmittel, das buchstäbliche Durchbrennen der Vorlage, neuen Sinn in das Bild zu bringen. Daraus läßt sich eine gewagte These aufstellen: die Schminke-Bilder, Masken-Portraits etc. gehören zu den Disaster-Serien wie die beiden Seiten einer Münze. Nimmt man Warhols Seufzer in seinem Buch The Philosophy of Andy Warhol ernst, so ist es ein Unglück, daß jedermann unbedingt schön sein will und sich dabei selbst verleugnet - in seinen Worten: „This one's
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problem is HE WANTS TO BE A BEAUTY."28 Ist nicht dieses Problem ebenfalls ein Desaster? Das gesellschaftliche Image ist der Leichnam der Person. Umgekehrt wird nicht etwa ein Desaster „beautiful", und Warhol erklärt denn auch kategorisch: „Some people, even intelligent people, say that violence can be beautiful. I can't understand that, because beautiful is some moments, and for me those moments are never violent."29 Warhol setzt sich damit nicht nur von der Schönheit des Grauens ab, er sagt damit gleichzeitig, nur bestimmte Augenblicke fände er schön - und nicht etwa das Make-up, die glamoureuse Maske, die er Herrn und Frau Jedermann gibt. Deshalb war das Portrait des typischen Amerikaners Watson Powell (Abb. 18) von 1964 bereits ein wichtiges Statement: Warhol gab den Amerikanern das Desaster ihres entleerten Images.
Abb. 18. The American Man - Watson Powell, 1964. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 32 Tafeln, jeweils 40,6 χ 40,6 cm, zus. 326,4 χ 163,8 cm. Slg. American Republic Insurance Company, Des Moines.
Er wurde selbst ein Teil dieses Images, Teil dieses Mythos von puren Figuren wie Superman, Greta Garbo, Uncle Sam, Mickey Mouse, Batman und Elsa Maxwell, aber nur als bloße Oberfläche, als Schatten (Abb. 19). Sein Profil ist auf dem Original von 1981 besser zu sehen, ähnlich wie auf einem seiner Selbstportraits aus dem selben Jahr. Da entstand nun der merkwürdige Fall, daß einer, der Mythen erzählt, in diesem Fall darstellt, nun selbst mit dazugehört und auch dieses wiederum darstellt. Diese doppelte Identität hebt den Tatbestand Warhol als Mythos auf und erhebt ihn zur Groteske, allerdings anders bizarr als die übrigen Gestalten auf diesem Bild, die nur bloße Figur wurden. Doch der Transfer vom Ich zur Figur wird von Warhol mit vitaler Farbe gesteigert. Die Energie des zum Klischee verkümmerten Bildgegenstandes ist in frische Farben übergegangen. Dadurch erhielt der Hauch des Tödlichen Aufschub, und die Melancholie, die Make-up und
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Abb. 19. Myths, 1981. Siebdruck auf Acryl auf Leinwand, 254 χ 254 cm. Slg. Noreen und Jack A. Rounick.
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Disaster verbreiten, tritt dem Betrachter im fröhlichen Festgewand entgegen. Dieser Umstand verhindert, daß man Warhols Werk zum Simulacrum stempeln kann. Ein Simulacrum - dieser kritische Begriff der Postmoderne, wie er vor allem von dem französischen Denker Jean Baudrillard verstanden wird ist nur noch der Abklatsch von einer Sprache, hier Bildsprache, die sich früher einmal auf ein Original bezog. Ein Simulacrum spiegelt noch einen ursprünglichen Sinn vor, den es aber längst verloren hat. Tatsächlich leitet Warhol seine Bilder von der Werbung oder den Reportagen der Massenmedien ab, also von Wahrheiten aus zweiter Hand. Baudrillard hält für solche Ableitungen den physikalischen Begriff der Entropie bereit und spricht über eine sich ständig kopierende und simulierende Gesellschaft, von einem Wärmeverlust an Kultur. Für den Leser oder Betrachter ergebe sich, Baudrillard zufolge, die Schwierigkeit, zwischen Realität und der Simulation nicht mehr unterscheiden zu können. Die vorgespiegelte Welt auf dem Bildschirm wird als wahres Geschehen genossen, weil es sinnlicher und erregender erscheint als reale Ereignisse. Ähnlich hatte der amerikanische Literaturtheoretiker Ihab Hassan 1978 generell für die Postmoderne den „Verlust" von „Ich" und „Tiefe" festgestellt: „Die Postmoderne entleert das traditionelle Ich, spiegelt Selbstauslöschung vor - eine scheinbare Flachheit ohne die innen / außen Dimension - oder aber sie täuscht dessen Gegenteil vor, Selbstvervielfältigung, Selbstbespiegelung des Ich." Und Hassan zog den Schluß: „Das Ich löst sich auf in eine Oberfläche stilistischer Gesten, es verweigert, entzieht sich jeglicher Interpretation." 30 Wohlgemerkt ist hier von einem „Ich" in Äußerungen der Kultur die Rede, nicht vom realen Ich. Es muß aus dem bisher Gesagten nur als folgerichtig erscheinen, daß Warhol zum Kronzeu-
gen herangezogen wird. In der Tat ruft Jean Baudrillard ihn dazu auf, als er die verschiedenen Facetten der Simulation erklärt. 31 Dafür sei zum einen typisch „das Zerlegen des Realen in seine Einzelheiten", zum anderen eine „kritische MetaSprache" und zum dritten „die eigentlich serielle Form (Andy Warhol). In ihr", erklärt Baudrillard, „ist nicht nur die syntagmatische, sondern auch die paradigmatische Dimension beseitigt, denn es gibt keine Flexion der Formen mehr, nicht einmal eine immanente Reflexion, sondern nur noch ein Nebeneinander des Gleichen - Flexion und Reflexion gleich null." 32 Hat Baudrillard recht, sind Warhols Bilder bloße Simulacra ohne irgendeinen Mehrwert an sinnbildlicher Bedeutung, wirklich ohne Reflexion? Warhol zeigt die Dialektik zwischen der Nicht-Identität, zwischen dem entleerten Substrat auf der einen Seite und der vitalen Farbe auf der anderen, und gerade diese Spaltung bleibt eine sinnliche Erfahrung, sie gibt noch immer Lustgewinn. Der Ausschluß des Individuellen wird durch die freche Heiterkeit der sinnlichen Erscheinung wettgemacht. „Man liebt das Schöne nicht", schrieb Christoph Wolff, „weil es Wirklichkeit, sondern weil es Schein ist" - und: „In der Welt des Scheins zeigt sich eine sonst nicht bekannte Freiheit, werden Möglichkeiten sichtbar, die anders nicht in Erscheinung treten." 33 Sie treten beispielsweise durch den Gebrauch vitaler Farben in Erscheinung. Wenn Warhol auch kein Umgreifen des Bildgegenstandes in der Wahrnehmung und Vorstellung ermöglicht, so bringt er doch die NichtIdentität des Bildgegenstandes mit sich selbst auf den Begriff. Von daher läßt sich Warhol gerade nicht zum Apostel des Simulacrums zitieren, sondern zu einem Künstler, der wie alle bedeutsamen seiner Kollegen die Fähigkeit besaß, seine Wahrheit mitzuteilen: die Identität des Make-ups und der vital-farbigen Maske - eine Unwahrheit
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aus dem social flux, die sich mit der Wahrheit versöhnt, da sie eine Wiedererkennung ermöglicht und deshalb zur Identität des Seins gehört. Mögen auch die Maske und das Thema Identität im Werk des weit jüngeren Künstlers der amerikanischen Westküste, Bruce Nauman, einen anderen Stellenwert besitzen als bei Warhol, so fällt doch auf, daß auch Nauman immer wieder auf dieses Thema zurückkommt. Bereits im Jahre 1969 trat er in einem performancehaft aufgenommenen 16-mm-Film im ganzen 44 Minuten lang auf und schmierte sich erst ein weißes make-up auf das Gesicht und den nackten Oberkörper, dann abwechselnd rosa, grüne und schwarze Schminke („Art Make-Up"). Dieses Verbergen hinter der Farbe geschah hierbei aus dem Wunsch heraus, innerhalb eines Aktes der body art, für die die Metamorphose des Körpers typisch war, die eigenen Reaktionen zu erforschen. Sehr viel später, in einem Gespräch mit Coosje van Brüggen, das in den Jahren 1985 und 1986 stattfand, sagte Nauman: „Make-up ist nicht
notwendigerweise anonym, aber irgendwie halt verzerrt; etwas, hinter dem man sich verstecken kann. Es gibt nichts wirklich preis, enthüllt auch nichts." 34 In seinen Gedichten deutet Nauman den Gebrauch der Maske weitgehend psychologisch. Eines dieser Poesien aus der Gruppe „The Consummate Mask of Rock nr. 3" mit dem Titel Consummation / Consumnation / Task (wobei das Μ von „mask" sich verschoben hatte) teilt mit: „Desire covers mask / need for human companionship mask desire / mask diminishes need for companionship / need companionship diminishes cover / desire consumes human companionship / cover lacks desire."35 Auch Nauman schreibt über den social flux und gibt der Farbe die Bedeutung eines Schutzschildes, der Kontakte verhindert und Identität verbirgt, und andererseits den Wert eines Signals für ersehnte Kontaktfreudigkeit. Dieses Dilemma deutete Warhol nicht psychologisch, er stellt es fest, zeigt es, damit man es entdecken kann.
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Anmerkungen 1 Kat. Andy Warhol. Retrospektive, hrsg. v. Kynaston McShine, Museum Ludwig, Köln 1989/90, S. 20, Abb. 16. 2 Andy Warhol's Index (Book), New York 1967 (Interview in der Ballon Farm). 3 Kim Evans, Andy Warhol. Selbstportrait. Ein amerikanischer Traum, 1967, hrsg. als Videoband, Köln 1986. 4 Andy Warhol's Index (Book) (Anm. 2). 5 Er wollte seine Individualität sogar zugunsten einer Maschine aufgeben. Siehe G. R. Swendson, What is Pop Art - Answers from Painters part 1: Jim Dine, Robert Indiana, Roy Lichtenstein, Andy Warhol, in: Art News, New York, Vol. 1, 62, nr. 7, 1963, S. 26/27. 6 Vgl. Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, New York 1920, und Erik H. Erikson, Identity, Youth and Crisis, 1968. 7 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 1916/17, in: Gesammelte Werke, Bd. II, London 1940. 8 Martin Heidegger, Der Satz von der Identität. Vortrag zur 500 Jahrfeier der Universität Freiburg im Breisgau. Aufgenommen in der Stadthalle Freiburg am 27. Juni 1957, Schallplatte von Günther Neske NV 133 UpM. 9 Andy Warhol, A. A Novel by A.W., New York 1968. 10 Rainer Crone, Das bildnerische Werk Andy Warhol's, Berlin 1976. 11 Ebd., S. 97. 12 Vgl. Rainer Crone, Andy Warhol, das zeichnerische Werk 1942-1975, Württ. Kunstverein Stuttgart 1976. 13 Benjamin H. D. Buchloh, Andy Warhols eindimensionale Kunst: 1956-1966, in: Kat. Andy Warhol, Retrospektive (Anm. 1), S. 37-58. 14 Ebd., Abb. 9, S. 42. 15 Crone (Anm. 12), S. 77, 98, 101. 16 Crone (Anm. 10), S. 90, 95. 17 Vgl. Kat. Sonsbeek 86. Internationale Beeldententoonstelling, Bd. 2, Utrecht 1986, S. 294.
18 Zitat von Barbara Rose: „In Andy Warhols Aluminiumfolie sind wir alle gespiegelt worden", in: Faltblatt Andy Warhol Fotografien. Museum Ludwig, Studienraum der graphischen Sammlung, Text von Reinhold Mißelbeck, Köln 1980. 19 Nochmals für ein Poster für das Pasadena Art Museum 1963 mit der Unterschrift Rrose Selavy. 20 Crone (Anm. 10), S. 102, 130 und Faltblatt Andy Warhol. The Thirteen Most Wanted Men, Galerie Sonnabend, Dossier nr. '2357, New York 1963. 21 Crone (Anm. 12), S. 77, 98, 101. 22 Ebd. 23 Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol. (From A to Β and back again). New York/London 1975, Kap. 4 über „beauty". 24 Ebd., S. 67. 25 Ebd., S. 63. 26 Christopher Makos, Warhol. Ein persönliches Photoalbum, (London 1988), Wien 1989, S. 83. 27 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Gekürzte Fassung, in: ders., Werke in einem Band, Hamburg/Berlin 1958, S. 447-589. 28 Warhol (Anm. 23), S. 80. 29 Ebd., S. 70. 30 Ihab Hassan, Postmoderne heute (Vortrag von 1979), in: Wolfgang Welsch, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 50. 31 Jean Baudrillard, Die Simulation, in: Welsch (Anm. 30), S. 157/158. 32 Ebd., S. 158. 33 Christoph Wolff, Mimesis und der Schein des Schönen, in: Dietmar Kemper/Christoph Wolff (Hrsg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 520. 34 Coosje van Brüggen, Bruce Nauman, Basel 1989, S. 196. 35 Brüggen (Anm. 34), engl. Ausg. New York, S. 215.
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Andy Warhol „Mao" - Joseph Beuys „Ausfegen" Zwei Arbeiten aus dem Jahr 1972
I. Das Bild der Künstler. Möglichkeiten eines Vergleichs Anläßlich des Ausstellungsaustausches „BiNATIONALE. Deutsche Kunst der späten 80er Jahre/The BiNATIONAL. American Art of the late 80's"1 fand 1989 in Boston ein Symposium statt, das das Erbe von Joseph Beuys und Andy Warhol in der zeitgenössischen deutschen und amerikanischen Kunst zum Thema hatte. Obwohl Werke von Beuys und Warhol in den Ausstellungen nicht vertreten waren, wurde beiden Künstlern durch die Fragestellung eine Präsenz zuerkannt. Die Ausstellungen wie auch das Symposium vermittelten durch Titel und Ankündigung jeweils ein Bild nationaler Repräsentanz. Man suchte kulturelle Identität in den Werken bildender Kunst im Rahmen eines auf Internationalisierung ausgerichteten Kunsttransfers mit all seinen musealen und vor allem marktstrategischen Formen. Uber die Frage des Erbes von Beuys und Warhol und die dabei zuerkannte nationale Signifikanz hinaus stellt man fest, daß die Werke beider Künstler in den öffentlichen Sammlungen an den zentralen Orten zur Präsentation kommen und sie dabei in nachbarschaftliche Beziehung gesetzt werden (ζ. B. Museum Abteiberg Mön-
chengladbach). In der Diskussion um das zukünftige Sammlermuseum für moderne Kunst in Stuttgart scheint beiden Künsdern die Funktion von Eckpfeilern bei der Einrichtung zuzukommen. Läßt sich diese zur Exposition gebrachte Nähe aus einer möglichen Verwandtschaft der Werke erklären, steht dahinter eine aufklärerische Vermittlungsabsicht, die, von grundsätzlicher Unterschiedlichkeit ausgehend, vergleichende Betrachtungen ermöglichen will, oder ist es die alle anderen Künstler übertreffende Prominenz, die dem Werk von Beuys und Warhol in Gemeinschaft die zentralen Ausstellungsplätze einräumt? Das Werk beider Künstler wird nicht nur in Fachpublikationen, sondern auch in einer breiten Medienöffentlichkeit diskutiert. Warhol gilt unter der Darstellungsstrategie journalistischer Stilisierung als „Dorian Gray of American Pop Art", während Beuys zum „Zarathustra europäischer Kunst" erkoren wird. Zu ihrer ersten Begegnung im Mai 1979 in Düsseldorf konnte man auch lesen, daß diese sich zugetragen habe wie das Treffen der beiden Päpste in Avignon2 (Abb. 1). Eine solche Form der Kunst- und Künstlerbeschreibung nährt den Mythos. Die Folge der verklärenden Aussagen ließe sich fortsetzen. Die Kunstkritik zeichnet sich gerade bei Beuys und Warhol durch immer wiederkehrende Erläuterungen, das Bemühen der bekannten Zitate und
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Abb. 1. Erstes Zusammentreffen von Warhol und Beuys. Galerie Denise Rene / Hans Mayer, Düsseldorf, 18. Mai 1979. Photo: Gordian Heindrichs.
einen Kanon bestätigender Wertungen aus. Diese Selbstreferentialität der Kritik bestimmt hier längst vor der Selbstreferentialität der Kunst das Gepräge der Aussage. Doch gerade bei Beuys und Warhol basiert die Reflexion über das Werk auf einer Art von konzertierter Aktion zwischen Künstler und Kritiker. Beuys und Warhol haben wie kein anderer Künstler das Interview als Forum der Erklärung und Darstellung genutzt. Sich mit Beuys und Warhol auseinanderzusetzen, heißt in einem besonderen Maße die zu Topoi geronnenen Aussagen der Kunstkritik zu reflektieren, die nicht selten die Werke selbst verstellen.
Obwohl Beuys (geb. 1921) und Warhol (geb. 1928) annähernd Altersgenossen waren, scheint eine mögliche generationsspezifische Klammer bei einer vergleichenden Betrachtung angesichts der sehr unterschiedlichen künstlerischen Entwicklungen wenig ergiebig. Betrachtet man das Werk der 50er und 60er Jahre beider Künstler, stehen bei Beuys die Ausarbeitung einer Materialikonographie, das Zeichenrepertoire im großen Komplex der Aquarelle oder auch die Frage nach dem Einfluß des bildhauerischen Werkes des Lehrers Ewald Matare im Vordergrund. Bei Warhol hingegen gilt das Interesse vornehmlich seiner gebrauchsgraphischen Praxis, seiner An-
Andy Warhol „Mao" - Joseph Beuys „Ausfegen " lehnung beim Informel - um eben dem angewandten Bereich zu entkommen - und schließlich den Perpetuierungen und Monumentalisierungen des Trivialgutes und der Populärikonen. Diese Etappen und Positionen aufeinander beziehen zu wollen würde nur die Frage nach dem Sinn des Vergleichs aufkommen lassen. Inspiriert durch die Fluxus-Bewegung, suchte Beuys seit Anfang der 60er Jahre die Öffentlichkeit durch Bühnenauftritte und Aktionen. Für Warhol war seit 1963 die „Factory" das Zentrum der künstlerischen Arbeit. Dieses Atelier, das schon wegen seiner Bezeichnung als „Factory" an ein Konzentrat von Produktionsmitteln und mechanischen Arbeitsabläufen denken läßt, wurde zum privaten Ort gesellschaftlicher Ereignisse. Während Beuys' Aktionen noch von traditionellen avantgardistischen Vorstellungen bestimmt wurden - von der Verbindung verschiedener künstlerischer Artikulationsformen, der Publikumsansprache durch die Uberwindung des Bühnenraumes - , war für Warhols Arbeit das subkulturelle Repertoire der Beat-Generation von großer Bedeutung. Nachdem Beuys so am Projekt der Entgrenzung der Künste gearbeitet und Warhol die Tradition der Ent-auratisierung belebt hatte, mußten doch beide erkennen, daß erst die politische Dimension des Aufbegehrens in der Protestbewegung um 1968 neue Formen teilhabender Öffentlichkeit vor allem in der jungen Generation schuf. Der spektakuläre Aufbruch in den 60er Jahren geschah an den wissenschaftlichen Hochschulen: Berkeley, Berlin und Paris. Der Protest gegen den Krieg in Vietnam war die treibende und verbindende Kraft der internationalen Protestbewegung.
Abb. 2. Titelblatt Der Spiegel, 24. Juni 1968, Nr. 26.
II. Politische Öffentlichkeit, symbolische Praxis, die Formation der Bilder Durch die Politisierung aller Lebensbereiche entstand eine Kultur des Aufbegehrens, die sich in neuen Formen der Organisation, einer spezifischen politischen Sprache, Gesten, Ritualen und Selbstinszenierungen im Sinne einer symbolischen Praxis artikulierte. Die Porträts revolutionärer Leitbilder wurden dabei zu einer zentralen Darstellungsform von Identifikation und Projektion (Abb. 2). Die für die Protestbewegung wichtige Darstellungsform der politischen Identifikation fand ihren deutlichsten Ausdruck in der
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