Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen: Das Urchristentum in seiner Umwelt I 9783666513565, 9783525513569, 9783647513560

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Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen: Das Urchristentum in seiner Umwelt I
 9783666513565, 9783525513569, 9783647513560

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Grundrisse zum Neuen Testament Das Neue Testament Deutsch – Ergänzungsreihe Herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr und Samuel Vollenweider

Band 1,1

Vandenhoeck & Ruprecht

Martin Ebner

Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen Das Urchristentum in seiner Umwelt I

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 38 Abbildungen, 10 Graphiken, 3 Tabellen und 2 Karten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-51356-9 ISBN 978-3-647-51356-0 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Stadt und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stadt und Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Jesusbewegung als ländliche Bewegung . . . . . . . 1.2 Die ersten christlichen Gemeinden in den Metropolen des Römischen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Koine als verbindende Sprache . . . . . . . . . . . . 1.4 Die römischen Straßen als Wegweiser . . . . . . . . . . 2. Noch mehr Religion in die Stadt tragen? . . . . . . . . . . . 2.1 Religion und Loyalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Götzenpolemik und lokaler Widerstand . . . . . . . . . 2.3 Neue Götter und ihre „Zähmung“ . . . . . . . . . . . . 3. Religion im Haus: das Pendant zur städtischen Ebene . . . . 4. Der Einfluss Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Aufoktroyierte „Religion“: der Kaiserkult . . . . . . . . . . 6. Religion in Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die neue „mittlere Ebene“ in Kult, Politik und Bildung . . . 8. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Architektur, Politik und Kultur der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die römische Stadt und das römische Standlager . . . . . . . . . . . 2. Kleine Stadtgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Von der Burgstadt zur Bürgerstadt . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Streifenstädte der Kolonisten und die soziale Frage . . . 2.1.2 Die isometrische Stadtplanung und die Gleichschaltung des öffentlichen, kultischen und privaten Raumes . . . . . . . 2.2 Die kosmologische Stadtplanung der Etrusker . . . . . . . . . . 2.3 Die pragmatische Stadtplanung der Römer . . . . . . . . . . . . 3. Stadttheorien und -visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Stadtvisionen eines römischen Architekturtheoretikers . . . 3.2 Die Stadtvisionen der Christen und die Stadtutopien der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das Modell der visionären Stadt nach Offb 21 f. . . . . . . . 3.2.2 Antike Stadtutopien und die christliche Provokation . . . . 4. Stadtkultur und -politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Amtsgebäude und Stadtpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.2 Griechische Agora und römisches Forum . . . . . . . 4.3 Theater und Volksbelustigung . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Der römische Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Spectacula im Theater . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Spectacula im Amphitheater . . . . . . . . . . . . 4.4 Gymnasion und Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Privater Wohnraum und soziale Schichtung . . . . . . . . 6. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Christliches Selbstverständnis und politische Strukturen der Stadt: Ekklesia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Absage an jüdische Rechtskonstruktionen: Politeuma . 6.3 Ein Genrebild für das Experimentierfeld der christlichen Ekklesia im Haus: Apg 18,1–11 . . . . . . . . . . . . .

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III. Kult: Tempel und Altar, Opfer und Priester . . . . . . . . . . . . 1. Die Szenerie: Tempel und Altar . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Idealplan eines Tempels . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Tempel als Wohnhaus des Gottes . . . . . . . . . . . . 1.3 Differenzierungen: Größenverhältnisse und kulturelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Opferaltar vor dem Tempel . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der heilige Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Der Tempel von Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Hausherren: der Götterhimmel und die Strukturierung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Zwölfzahl der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Göttergeographie und Weltdeutung . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die römische Version des Polytheismus . . . . . . . . . . . 3. Die Inszenierung: Opfer und Mahl . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Handlungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Opfer als Kommunikation mit den Göttern . . . . . . 3.2.1 Der Mediator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Koinonia zwischen Göttern und Menschen beim Mahl 3.3 Anlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kaiserkult: symbolische Kommunikation im Römerreich . 1. Starthilfe für Augustus im Westen . . . . . . . . . . . 1.1 Die politische Pragmatik der consecratio . . . . . . . 1.2 Die mythische Überhöhung: das Goldene Zeitalter 2. Reaktion auf die römische Invasion im Osten . . . . . 2.1 Die eigene Logik des Kaiserkults im Osten . . . . . 2.2 Konkurrenzkampf vor Rom . . . . . . . . . . . . 2.3 Auswirkungen – Formen . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3.1 Transformation des städtischen Raumes . . . . . 2.3.2 Umstellung der Uhren . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Besondere Akzente der „Ritualmixtur“ Kaiserkult 2.4 Feineinstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Haus: der pater familias, sein „Haus“ und das gemeinsame Mahl . . . 1. Der pater familias und das Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der pater familias und die absolute Macht im Haus . . . . . . 1.2 Der pater familias als Patron – und seine Klienten . . . . . . . 1.3 „Emanzipation“, die harte Hand – und das Wiederaufleben der hellenistischen Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Emanzipationsbewegungen und Gegenreaktionen . . . . 1.3.2 Das „kleine“ und das „große“ Haus, der pater familias und der pater patriae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der „dritte Weg“: die Ökonomik . . . . . . . . . . . . . 1.4 Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das gemeinsame Mahl im Haus – und das christliche Herrenmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ritualisierter Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Demonstratives Ranking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Implizite Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Essen Christen anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Vereine: soziale Netzwerke zwischen Haus und Stadt . . . . . . . . . 1. Sozialformen und -strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der freiwillige Beitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Sozialstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Sozialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Mahl und Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Sozialcode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Bestattung, Gedächtnismähler und Totenkult . . . . . . . . 1.3.4 Vereinsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Taxonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Messy taxonomy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Ein geöffneter Haushalt als Kultverein mit politischen bzw. wirtschaftlichen Andockmöglichkeiten . . . . . . . . . . . 2.1.2 Berufsvereine: topographische Basis, Religion und wirtschaftliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Religion und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Reiz der „freundlichen Übernahme“ . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die „freundlichen Übernahmen“ . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Freiwilligkeit und Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Das Vereinshaus als Spiegel der Vereinsaktivität . . . . . . . 2.3 Indikatoren für die soziologische Schichtung . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der sozialpolitische Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Unterschiedliche Vereinsideologien im Westen und im Osten 3.3 Unterschiedliche Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sich abschotten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: „Bestattungsvereine“ – ein Forschungsmärchen . . . . . . 3.3.2 Sich einklinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die eigenen politischen Interessen verfolgen . . . . . . Exkurs 2: Die jüdischen Synagogengemeinden als „alte“ Kollegien . 4. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Mysterienkulte: Partizipation am Todesgeschick der Gottheit . . . . 1. Eine Initiationsfeier in Kenchreä . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die „Metamorphosen“ des Apuleius . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Strukturen eines Mysterienkultes . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Persönliche Entscheidung und Bindung an die Gottheit . . 1.2.2 Die Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Die Vorbereitung durch Askese und Katechese . . . . . . 1.2.4 Der Mysterienalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Konzentrische Anhängerkreise . . . . . . . . . . . . . . 1.2.6 Die Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mysterienkulte als Phänomen der religio migrans . . . . . . . . . . 2.1 Von der ägyptischen Muttergöttin zur hellenistischen Mysteriengottheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Eleusis als Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Konzentrische Anhängerkreise und koordinierte Feststruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Partizipation am Geschick der Gottheit, Kultätiologie und heilige Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Mythendurchdringung und Ritenanpassung . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Dionysosmysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Attis-Mysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Mysterien zwischen Opferkult und Theater . . . . . . . . . . 3. Die staatliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Die Mithrasmysterien als besonderer Fall . . . . . . . . . . 4. Was „schauen“ Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Philosophie: Anleitung zum Glücklichsein . . . . . . . . 1. Stoa: In zwei „Städten“ daheim . . . . . . . . . . . . . 1.1 Tugend, naturgemäßes Leben und die Aufgabe der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ein alternatives Identitätskonzept . . . . . . . . . . 1.3 Die philosophische Theorie im politischen Alltag . . 2. Kyniker: Provokateure außerhalb der Stadt . . . . . . .

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Inhalt

3. Epikur: im „Garten“ daheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Epikurs „Lustlehre“ und ihre Hintergründe . . . . . . . . . 3.2 Grundversorgung und Vermeidung von Störungen: Leben im „Garten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Konstante Lehre und divergierende Interpretationen . . . . . 4. Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gnosis: Transformer in der städtischen Bildungselite . . . . . . . 5.1 Ein Beispiel: „Die Exegese über die Seele“ (NHC II/6) . . . 5.2 Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Der soteriologische Overheadmythos und seine hermeneutische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Traditionsgeschichte eines Kunstmythos . . . . . . . . 5.2.3 Protologischer Overheadmythos . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Mythenvariationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Pragmatik der Transformer . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX. Religion am Rand der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Orakel – Stätten zur Entscheidungshilfe . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Vorgang einer Orakelbefragung: Didyma und Korope als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kommunikationsstrukturen der Divination: ein Modell . . . 1.3 Das Geheimnis der Inspiration: Ätiologie und Archäologie, Inszenierung und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Feindliche Übernahme: Kultivierung und Institutionalisierung des Charismas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Streit um das Herrschaftswissen: Literarisierung und Instrumentalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Subversiver Widerstand: Intellektuelle „erobern“ die Orakel . 1.7 Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Heilkult – Stätten der Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Architektur: eine Stadt für sich . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Choreographie: eine liminale Phase . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Narration: Technik und Deutung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Inhalte und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Traditionsgeschichte und Hermeneutik . . . . . . . . . 2.3.3 Medizin, Heilkult und Orakel . . . . . . . . . . . . . 2.4 Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Magie – Techniken symbolischer Manipulation . . . . . . . . . 3.1 Phänomene und ihre Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kommunikationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ambivalente Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Und die Christen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis Stellenregister . . . . . Glossar . . . . . . . . Karten . . . . . . . .

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Inhalt

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Vorwort der Herausgeber Das vorliegende Buch von Martin Ebner ist als erster Band einer auf zwei Teile angelegten Darstellung zum Urchristentum in seiner antiken kulturellen und religiösen Umwelt konzipiert. Ausgehend von den Gegebenheiten hellenistisch-römischer Stadtkultur werden die antiken Räume rekonstruiert, in denen sich – zunächst kaum von außen wahrgenommen – die ersten Gruppen von Jesus-Anhängern zusammenfanden und in denen sie Schritt für Schritt ihre Identität auszubilden begannen. Ein zweiter in Vorbereitung befindlicher Teil von anderer Hand wird sich auf das Judentum konzentrieren. Er soll die Entstehung und Eigenart der Jesus-Bewegung in den Zusammenhang mit dem Judentum im Land Israel um die Zeitenwende stellen. Beide Bände, die durch ihren Untertitel „Das Urchristentum in seiner Umwelt“ miteinander verbunden sind, gehen von der heute selbstverständlichen Einsicht aus, dass das antike Judentum einen besonderen Bereich des mediterranen Kulturraums der Antike bildete, in dem sich auch das frühe Christentum entwickelt hat. So wie der vorliegende Band das in den Städten der östlichen Mittelmeerwelt weithin präsente antike Judentum in seine Darstellung einbezieht, wird auch der Folgeband die hellenistisch-römische Stadtkultur als konstitutives Element im Land Israel zur Zeit Jesu berücksichtigen. Mit diesen beiden Lehrbüchern präsentieren sich die „Grundrisse zum Neuen Testament“ in einem neuen Gewand und tragen zugleich der Fortentwicklung des Faches und den Erwartungen und Bedürfnissen ihres gegenwärtigen Zielpublikums – Studierende ebenso wie sonstige Interessierte – Rechnung. Im Jahr 1971 ist in dieser Reihe die „Umwelt des Neuen Testaments“ von Eduard Lohse erschienen. Auf rund 200 Seiten war es dem Autor gelungen, eine ausgezeichnete Einführung in die Geschichte des antiken Judentums, sein Glaubensverständnis und seine vielfältige religiöse Landschaft zu geben und darüber hinaus noch die hellenistisch-römische Umwelt des Urchristentums zu skizzieren. Das Werk erlebte im Jahr 2000 die 10. Auflage und erfüllt weiterhin seinen Zweck, „einen Beitrag zum Verständnis des Neuen Testaments zu leisten“ (ebd., 6). Eine „Geschichte des Urchristentums“ hatte Hans Conzelmann in derselben Reihe bereits 1969 vorgelegt (61989). Auch er stellte auf knappstem Raum mit deutlich theologischer Akzentsetzung die geschichtliche Entwicklung des frühen Christentums von den Anfängen der Jerusalemer Urgemeinde bis zum Ende des ersten Jahrhunderts dar. Wichtige Ergänzungen unter sozialgeschichtlichem Akzent bot der aus dem Amerikanischen übersetzte Band „Das soziale Umfeld des Neuen Testaments“ von John E. Stambaugh und David L. Balch (GNT 9, 1992). Komplettiert wurden diese Überblicksdarstellungen durch Textsammlungen zur Religions- und Zeitgeschichte („Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte“, hg. von Hans G. Kippenberg/Gerd A. Wewers, GNT 8, 1979; „Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament“, TNT 1, 1987, hg. von Klaus Berger und Carsten Colpe), so

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Inhalt

dass allen an „Neutestamentlicher Zeitgeschichte“ Interessierten ein Ensemble einführender Fachliteratur zur Verfügung stand und steht. Die derzeitigen Herausgeber der „Grundrisse zum Neuen Testament“ verfolgen das Ziel, die Reihe an Fortentwicklungen des Faches anzupassen. Dabei orientieren sie sich an zwei Gesichtspunkten: Zum einen sehen sie davon ab, für ganze Felder der neutestamentlichen Fachwissenschaft ähnlich knappe Gesamtdarstellungen vorzulegen, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten möglich war. Zum andern nehmen sie im Blick auf die so genannte „Neutestamentliche Zeitgeschichte“ Rücksicht auf Veränderungen im Selbstverständnis und in den Arbeitsweisen des Faches: Die wachsende Integration der neutestamentlichen Wissenschaft in die Kulturwissenschaften der Antike zieht auch einen Perspektivenwechsel für die Anlage von Darstellungen zur „Umwelt des Neuen Testaments“ und zur „Geschichte des Urchristentums“ nach sich. Die Aufgabe solcher Lehrbücher kann heute nicht mehr darin bestehen, antike Quellen und historische Befunde allein aus der neutestamentlichen bzw. frühchristlichen Perspektive zu präsentieren. Vielmehr haben sie die Quellen des antiken Judentums, der hellenistischen Kultur und der römischen Geschichte zunächst in ihren eigenen Kontexten zu erschließen. Erst so wird es möglich, auch den „Ort“ des entstehenden Christentums genauer zu bestimmen und die Texte des Neuen Testaments besser zu verstehen. Die beiden Teile zum „Urchristentum in seiner Umwelt“ in der Reihe „Grundrisse zum Neuen Testament“ realisieren diesen Paradigmenwechsel in exemplarischer Weise. Von einem „Urchristentum“ kann ja historisch betrachtet im Kontext des ersten Jahrhunderts noch ebenso wenig die Rede sein wie von einem „Neuen Testament“. Aber die hier skizzierten Umstände und Entwicklungen bildeten maßgebliche Voraussetzungen dafür, dass sich mit dem Übergang ins zweite Jahrhundert das Christentum als eigenständige Religion und das Neue Testament als seine theologische Basis herauszubilden begannen. Die im vorliegenden Band dargestellten Zusammenhänge ermöglichen deshalb ein besseres Verständnis des Urchristentums und des Neuen Testaments. Wir sind Martin Ebner zu Dank verpflichtet dafür, dass er sich bei der Erarbeitung seines Buches gern und engagiert auf unsere Vorstellungen zur Neuorientierung der Reihe eingelassen hat. Vor allem freuen wir uns aber darüber, dass er seine eigene Darstellungskonzeption, wie er sie von Anfang an im Blick hatte, so eindrucksvoll in diesem Rahmen durchführen konnte. Karl-Wilhelm Niebuhr und Samuel Vollenweider

Im März 2012

Vorwort Die Idee zur Konzeption dieser „Umwelt des Neuen Testaments“ wurde auf einer Wanderung durchs Langtauferer Tal im Sommer 2004 geboren. Der Weg zur endgültigen Umsetzung war zwar lange, aber voller Entdeckungen. Im besten Fall kamen jeweils einige Wochen der vorlesungsfreien Zeit zum Schreiben in Frage. Am Ende der Wegstrecke spreche ich allen meinen großen Dank aus, die mitgeholfen und mich unterstützt haben: den Hilfskräften am Neutestamentlichen Seminar in Münster, die unermüdlich Bücher geschleppt und Titel in die Datenbank aufgenommen haben (Christoph Paetzold, Manuel Verhufen, Michael Hölscher, Florian Strecker, Anna Janhsen, Gerrit Pischke, Simon Blumberg, Manuel Schuster); meinem ehemaligen Assistenten Markus Lau, der mit größter Gewissenhaftigkeit die Korrekturen gelesen und strengstens auf formale Einheitlichkeit geachtet hat; meiner jetzigen Assistentin Hildegard Scherer, die mit größtem Elan den Endspurt übernommen, die Bildrechte eingeholt, das Stellenregister und das Glossar erstellt hat sowie mit konstruktiven Ratschlägen zur Seite stand; meiner Münsteraner Sekretärin Angelika van Dillen, die vom ersten Buchstaben bis zur letzten Korrektur in höchster Sorgfalt das Manuskript erstellt hat; den Reihenherausgebern Samuel Vollenweider und Karl-Wilhelm Niebuhr für die Hintergrundgespräche sowie Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für seine geduldige Betreuung des Projektes und die Durchführung letzter Adaptionen kurz vor der Drucklegung. Zum Abschluss einige Hinweise für die Benutzer: Die vollständigen Literaturangaben finden sich jeweils am Ende eines Kapitels, vorangestellt sind Lesetipps. Die Abkürzungen antiker Autoren und ihrer Werke werden im Stellenregister aufgeschlüsselt, dort finden sich auch Angaben zu ihren Lebensdaten. Außerdem bietet der Anhang ein Abkürzungsverzeichnis für Inschriftencorpora, ein Glossar sowie zwei Karten. Inhaltliche Querverweise werden durch Pfeile mit anschließenden Gliederungsziffern angezeigt; sofern keine römische Ziffer für ein bestimmtes Kapitel vorangestellt ist, bezieht sich der Verweis auf das aktuelle Kapitel. Bonn, im Januar 2012

Martin Ebner

Stadt und Land

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I. Stadt und Religion 1. Stadt und Land Das Christentum ist in der Stadt groß geworden. Bis heute zollen wir diesem Sachverhalt Tribut, wenn wir, um das wertende Wort „heidnisch“ zu vermeiden, alles, was in der Antike nicht-christlich und nicht-jüdisch geprägt ist, als „pagan“ bezeichnen. Denn im Lateinischen ist mit paganus ganz einfach der Landbewohner im Gegensatz zum Städter gemeint. Auch wenn die Übertragung des Begriffs auf Nichtchristen zunächst über die Volkssprache geschah und erst durch Augustinus (354–430 n. Chr.) definitiv literaturfähig und schließlich theologisch aufgeladen wurde – nach Orosius (4./5. Jh. n. Chr.) z. B. sind die pagani die von der Gottesstadt ausgeschlossenen Fremden1 –, haftet der Sprachregelung eine sozialgeschichtlich zutreffende und relevante Erinnerung an: In den ersten Jahrhunderten konzentrieren sich christliche Gemeinden auf die Städte im Imperium Romanum; auf dem Land leben die „Heiden“. Das hat seine Gründe. Und das war nicht von Anfang an so: Die Jesusbewegung war eine Landbewegung. 1.1 Die Jesusbewegung als ländliche Bewegung Jesus selbst stammt aus einem Dorf, mit dem offensichtlich kein Staat zu machen war: „Aus Nazaret, kann da etwas Gutes kommen?“ (Joh 1,46; vgl. 7,52). Kaum 6 km Luftlinie entfernt hat Jesu Landesherr, Herodes Antipas (4 v. Chr.–39 n. Chr.), zu Beginn seiner Regierungszeit mit dem Wiederaufbau von Sepphoris begonnen und bereits 19 n. Chr. Tiberias am See Gennesaret als seine neue Residenzstadt buchstäblich aus dem Boden gestampft. Obwohl diese königlichen Großbaustellen für den Bauhandwerker Jesus (Mk 6,3: ) eine günstige Gelegenheit bieten mussten, um als Tagelöhner für längere Zeiträume Arbeit zu finden, werden die beiden Städte in der Jesusüberlieferung mit keinem Wort erwähnt. Und es hat fast den Anschein, als habe Jesus, nachdem er als Promotor der Gottesherrschaft in Galiläa aufgetreten ist, diese königlichen Verwaltungsstädte bewusst und klugerweise gemieden. Immerhin war es niemand anderes als Herodes Antipas, der dafür gesorgt hat, dass Jesu ehemaliger Lehrer, Johannes der Täufer, gewaltsam aus dem Verkehr ge-

1 Orosius, Historiae Praef 9. Die etymologische Fährte, die Orosius zu den Grenzmarken (pagi) bzw. Wegkreuzungen (compita) auf dem Land legt, soll den kundigen Leser an die Ahnenverehrung, die mit diesen Orten verbunden ist, bzw. an die dörflichen Erntedankfeste (compitalia), also an typisch heidnische Kultpraxis erinnern.

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zogen worden ist (vgl. Mk 6,17–29; Jos., Ant XVIII 116–119).2 Jesus treibt sich lieber in den kleinen Orten an der Nordseite des Sees Gennesaret herum, vor allem in Kapharnaum (Mk 1,21; 2,1; Mt 8,5; Lk 7,1).3 Einige der in den Evangelien genannten Orte wie Dalmanuta (Mk 8,10) oder Gennesaret (Mk 6,53) sind nur schwer zu identifizieren.4 Chorazin kennen wir nur aus einer rückblickenden Verfluchung, wo es gemeinsam mit Bethsaida genannt wird, ebenfalls einem Fischerort an der Nordseite des Sees, allerdings jenseits der Landesgrenze von Galiläa im Regierungsbereich des Herodessohnes Philippus gelegen, der dem Ort 30 n. Chr. Stadtrechte verliehen hat:5 „Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen im Gericht als euch“ (Lk 10,13 f.). Wenn hier Tyrus und Sidon, die großen Küstenmetropolen am Mittelmeer (vgl. Karte 1), im Gegensatz zu den galiläischen Fischerorten in derart positives Licht getaucht werden, dürfen wir uns nicht verwirren lassen: Es handelt sich um einen virtuellen Kontakt. Von der positiven Reaktion dieser seit jeher in jüdischer Tradition verteufelten Städte wird nur deshalb fiktiv erzählt, weil die Leute vor Ort an ihrem Selbstwertgefühl gekitzelt werden sollen. Auch wenn das Markusevangelium Jesus nach dem Seesturm in der Städteregion im Osten Galiläas, in der Dekapolis, näherhin im Land der Gerasener (Mk 5,1) ankommen lässt, spielt die Begegnung mit dem Besessenen, dessen Dämonen Jesus bitten, in die Schweine einfahren zu dürfen,6 fraglos außerhalb der Stadt. Und die Städter, denen die „unfrohe Nachricht“ von der Schweinevernichtungsaktion zu Ohren kommt, eilen aus der Stadt und den Dörfern herbei, aber nur, um Jesus mit sanftem Druck des Landes zu verweisen (Mk 5,15–17). Und es ist ebenfalls bezeichnend: Der einzig sicher bezeugte Aufenthalt Jesu in einer großen Stadt hat ihm den Tod gebracht. Das Markusevangelium spitzt den Befund noch zu. An jedem Abend der Pesach-Festwoche verlässt Jesus die Stadt und geht nach Bethanien (vgl. Mk 11,11.19). In der einzigen Nacht jedoch, die Jesus in der Stadt bleibt, um mit seinen Jüngern ein letztes Mahl zu feiern, wird er festgenom-

2 So Meyers (1998, 32–36); Freyne (2005, 144) hält die prinzipielle Kritik am städtischen Lebensstil für wichtiger; Schröter (2008, 263) macht kerygmatische Gründe geltend. 3 Obwohl auch Kapharnaum städtische Insula-Wohnstrukturen vorweisen kann, so fehlt doch im Unterschied zu Sepphoris und Tiberias die für eine Stadt typische „public architecture“ (f II): ein Marktplatz, öffentliche Verwaltungsgebäude, organisierte Wasserversorgung, Stadttore usw. (Richardson 2004, 55–71). Auf der anderen Seite stehen die herodianischen Verwaltungsstädte hinsichtlich Größe und Ausstattung noch einmal weit hinter Caesarea Maritima oder Tyrus zurück (Reed 2000, 62–99). Vgl. insgesamt Theissen (2004, 163–186). 4 Gennesaret kann evtl. mit Kinneret identifiziert werden: Eine im Stammesgebiet von Naftali (Jos 19,35) ehemals befestigte Stadt, knapp 10 km nördlich von Tiberias, in einer fruchtbaren Landschaft gelegen, die in römischer Zeit „Gennesar“ genannt wird. Nach Rousseau/Arav (1995, 110) handelt es sich zur Zeit Jesu um einen kleinen Weiler. 5 Zur Archäologie vgl. Kuhn (2010); gemäß Jos., Ant XVIII 28, ist die Stadt aus einem Dorf ( ) hervorgegangen. 6 In den Dämonen, die das Land partout nicht verlassen wollen (vgl. Mk 5,10), werden die Römer, die Palästina besetzt halten, erkennbar. Die zehnte Legion, die 70 n. Chr. maßgeblich an der Eroberung und Zerstörung des Jerusalemer Tempels beteiligt war, führte bezeichnenderweise einen Eber im Feldzeichen.

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men. Der weitere Verlauf ist bekannt. Am anderen Morgen verlässt er die Stadt durch ein Seitentor, beladen mit einem Holzbalken, um vor der Stadt, auf dem Golgothahügel, den Längspfahl hinaufgezogen zu werden. Keine Frage: Weder die herodianischen Städte innerhalb Galiläas noch die Großstädte, die Galiläa im Westen (an der Mittelmeerküste) und im Osten (in der Dekapolis) umgeben, gehören zum Aktionsradius Jesu. Seine Adressaten sind unter den Fischern und Bauern in den kleinen Orten am Nordufer des Sees Gennesaret zu finden. Als Wanderradikaler, der mit seiner eigenen Familie gebrochen hat, ohne Dach über dem Kopf, wird er mit all denen, die ihm in diesen Spuren gefolgt sind, schon froh gewesen sein, wenn sich ihm ab und zu eine Tür gastfreundlich geöffnet hat.7 Daran lässt sich nicht rütteln: Die Wiege der Jesusbewegung ist das ländliche Milieu in Galiläa. Das ändert sich aber schnell nach Jesu Tod. 1.2 Die ersten christlichen Gemeinden in den Metropolen des Römischen Reiches Wir kennen sie alle: die großen Städte, in denen es unmittelbar nach dem Tod Jesu kleine christliche Gemeinden gab. An erster Stelle steht Jerusalem selbst. Dort sammelt sich die Jesusgruppe erneut, aber nicht, um das Grab Jesu zu verehren (Klumbies 2004), sondern um als „heiliger Rest“ Israels (vgl. Zef 3,11–13) die Wende der Zeiten zu erwarten, sozusagen als „eschatologischer Vorposten“ (Georgi 1994, 27) – und zwar genau an dem Ort, den die jüdische Tradition dafür vorsieht: nirgends anders als in Jerusalem. Aber das entfernte und zunächst nur fiktiv in den Blick genommene Tyrus gehört bald genauso dazu (vgl. Apg 21,3 f.) wie Caesarea Maritima (vgl. Apg 21,8 f.; 10,1–48), der Sitz des römischen Statthalters in Palästina. Paulus, der wie kein anderer die Alte Welt im feurigen Missionseifer durcheilt hat, kommt in Rom, der Hauptstadt des Imperium Romanum, für die Erstmissionierung zu spät: Als er etwa 56 n. Chr. seinen berühmten Brief an die Gemeinde in Rom schreibt, haben die dortigen Hausgemeinden8 bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bei der sogenannten Judenvertreibung aus Rom unter Kaiser Claudius 49 n. Chr. waren offensichtlich vor allem diejenigen Juden betroffen, die durch ihre beschneidungsfreie Missionspraxis gerade innerhalb der etablierten jüdischen Synagogen Roms für Aufruhr gesorgt haben müssen, eben die Anhänger des gekreuzigten Jesus von Nazareth (Alvarez Cineira 1999, 187–216). Zwei dieser unfreiwilligen Exulanten trifft Paulus in Korinth: Priska und Aquila (vgl. Apg 18,1–3). Später segeln sie mit ihm nach Ephesus (Apg 18,18 f.), gründen dort wiederum eine Hausgemeinde (1Kor 16,19) und scheinen, nachdem sich die Lage unter Nero ab 64 n. Chr. normalisiert hatte, wieder nach Rom zurückgekehrt zu sein (vgl. Röm 16,3 f.).

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Dazu vgl. ausführlich Ebner (2007, 117–137). Vgl. die Grußliste in Röm 16 und die sozialgeschichtliche Auswertung durch Lampe (2001).

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Schon wenige Jahre nach dem Tod Jesu muss es in Damaskus in Syrien eine christliche Gemeinde gegeben haben. Denn diese Stadt ist mit der Berufung des Paulus verknüpft, die nur wenige Jahre nach dem Tod Jesu stattgefunden hat. Auslöser dafür war gerade die von Paulus zielstrebig durchgeführte Verfolgung derjenigen pseudo-jüdischen Zellen, die eine beschneidungsfreie Missionspraxis betrieben und damit – jedenfalls aus dem Blickwinkel eines pharisäisch gesinnten Juden – dem Herzen jüdischer Gesetzesobservanz den Todesstoß versetzten. Obwohl ausgezogen, um diesen Umtrieben der christlichen Gemeinde von Damaskus ein Ende zu bereiten, wurde Paulus – wie es Apg 9,1–19 dramatisch erzählt (zu den eigenen Aussagen des Paulus vgl. Gal 1,15–17) – selbst einer ihrer eifrigsten Mitglieder und gelehrigsten Schüler (Müller 2012), der wie kein anderer genau dieses Missionskonzept allen Widerständen zum Trotz praktiziert und mit Vehemenz theologisch begründet hat. Auch in Antiochia am Orontes müssen schon wenige Jahre nach Jesu Tod jesusgläubige Juden unter Heiden missioniert haben. Als Paulus dorthin kommt (vgl. Apg 11,19 f.25 f.; Gal 1,21; 2,11), ist das bereits gängige Praxis. Paulus verteidigt sie auf dem Apostelkonvent 48/49 n. Chr. (vgl. Gal 2,1–10). Tyrus, Antiochia, Damaskus – das sind die bestimmenden Verkehrsknotenpunkte und Handelsmetropolen im syrischen Raum, zu dem aus der Sicht der römischen Verwaltung auch Palästina gehört. Der Präfekt (ab Kaiser Claudius: Prokurator) von Palästina mit Sitz in Caesarea Maritima ist dem Legaten von Syrien, der seinen Amtssitz in Antiochia am Orontes hat, unterstellt (Eck 2007, 1–51). Für Antiochia fallen Verwaltungs- und Handelsknotenpunkt zusammen. Von hier aus führen Wege in alle Himmelsrichtungen: in die großen Städte des Zweistromlandes genauso wie nach Ägypten, in den Westen über den 25 km entfernten Hafen in Seleukia genauso wie nach Kleinasien über die syrische Pforte (vgl. Karte 1). Damaskus war zeitweise eine der freien Städte der Dekapolis (Plin., Hist Nat V 47), zur Lebenszeit des Paulus aber stand es unter der Oberhand der Nabatäer (37–54 n. Chr.). Über Damaskus lief der Arabienhandel aus dem Süden genauso wie der Seehandel von Tyrus aus dem Westen. Dass ausgerechnet diese großen Städte von den ersten christlichen Missionaren außerhalb Palästinas angepeilt wurden und nicht die Bevölkerung auf dem flachen Land, hängt vor allem mit einem Logistikproblem zusammen: mit der Sprache. 1.3 Die Koine als verbindende Sprache Einem Jesusmissionar in Syrien oder in Kleinasien ging es nicht viel anders als einem Orientreisenden heute. Mit Englisch kommt man heutzutage meistens durch. Spricht man tatsächlich türkisch oder arabisch, ist durchaus nicht sichergestellt, dass man die vielen Dialektfärbungen vor Ort im Einzelnen erkennen und verstehen kann. Im 1. Jh. n. Chr. war das nicht viel anders. Auch da gab es eine Art „Weltsprache“, mit der man sich in weiten Teilen des Römischen Reiches verständlich machen konnte: Griechisch. Das ist ein kulturelles Erbe Alexanders d. Gr. In den von ihm eroberten Gebieten, von Kleinasien über Syrien und Persien bis hin nach Ägypten,

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setzte er die ehemalige Sprache der makedonischen Hofkanzlei als gemeinsame Amtssprache durch, deswegen auch „Koine“ (= gemeinsame [Sprache]) genannt. Auch wenn Rom ab dem 2. Jh. v. Chr. Schritt für Schritt die Reiche der Nachfolger Alexanders d. Gr., der sogenannten Diadochen,9 unter seine Gewalt brachte, die Sprache der Eroberer, das Lateinische, setzte sich nicht durch. Nach wie vor blieb Griechisch in der Osthälfte des Römischen Reiches lingua franca, d. h. die offizielle Verkehrssprache der Verwaltung. In Rom selbst gab es zwei Kanzleien: ab epistulis Latinis und ab epistulis Graecis (Bleicken 1989, 160–162). Alle in den Osten gehenden Dokumente wurden in Griechisch verfasst. Das heißt aber noch lange nicht, dass jedermann im Osten tatsächlich griechisch gesprochen hat. Wir müssen ein Gefälle annehmen zwischen Stadt und Land, und innerhalb der Städte noch einmal zwischen Ober- und Unterschicht. Die Administration der Städte bediente sich des Griechischen. Und das bedeutet: Die Elite der Städte, die Ratsherren und die einflussreichen Familien, die mit Rom und seinen Magistraten verhandelten und korrespondierten, sprachen griechisch. Ansonsten gab es hunderte von Dialekten, die von der einheimischen Bevölkerung nach wie vor gesprochen und gepflegt wurden. In Ägypten sprach man koptisch, verschiedene Spielarten des Aramäischen in Syrien (Zentralaramäisch) und Palästina (Westaramäisch). Besonders ausgeprägt war die Sprachenvielfalt in Kleinasien. Keltisch wurde in Galatien gesprochen, armenisch bis nach Kappadozien, dort gab es auch eine persische Sprachinsel (Brox 2000, 372). Typisch ist diesbezüglich die lukanische Erzählung vom Aufenthalt des Paulus in der Stadt Lystra, einer römischen Kolonie in der Landschaft Lykaonien (in der Nähe des heutigen Konya in der Südtürkei). Als die Menge sieht, wie Paulus einen Gelähmten wieder in Bewegung bringt, äußert sie ihr Erstaunen auf Lykaonisch, was den Lesern allerdings sofort übersetzt wird: „Die Götter sind in Menschengestalt zu uns herabgestiegen“ (Apg 14,11). Natürlich sind weder Paulus noch sein Begleiter Barnabas dieser Sprache mächtig. Erst als ihnen Opfer dargebracht werden sollen, verstehen sie ohne Dolmetscher, was der Inhalt der für sie unverständlichen Worte gewesen sein muss: Sie werden für Götter gehalten; denn nur Göttern wird geopfert. Also: Wenn sich die christlichen Missionare, die außer ihrem eigenen Heimatdialekt vor allem griechisch sprechen, verständlich machen wollen, dann haben sie, solange sie östlich des Bosporus agieren, eigentlich nur in den großen Städten eine Chance. Und auch da, abgesehen von den jüdischen Diasporagemeinden, in denen man griechisch sprach, nur unter der gebildeten Schicht der Bevölkerung. Während die ehemaligen galiläischen Jesusjünger in dem ihnen eigentlich fremden städtischen Milieu Jerusalems ihre Hauptaufgabe darin sehen, diesen entscheidenden eschatologischen Standort zu besetzen, gibt es eine andere Gruppe, die – nach ihrer „Zerstreuung“ – die großen Städte im syrischen Raum anzielt: die sogenannten „Sieben“ (vgl. Apg 21,8). Ihre „Heimat“ sind die Diasporasynagogen in Jerusalem. Oft nach Landsmannschaften gegliedert (vgl. Apg 6,9), bilden die Diasporasynagogen

9 Die „Erben“ Alexanders: Antigoniden in Griechenland; Seleukiden in Kleinasien und Syrien; Ptolemäer, auch Lagiden (von « = Hase) genannt, in Ägypten.

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griechischsprachige Enklaven mit bestimmter Lokaltradition. Die Theodotusinschrift, in griechischer Sprache verfasst (CIJ 1404; vor 70 n. Chr.), gibt uns einen lebhaften Einblick in die Sozialstruktur und Bildungsziele dieser Gruppen: Um eine einflussreiche und finanzkräftige Stifterfamilie geschart, wird die religiöse Tradition des Judentums mitten in Jerusalem in griechischer Sprache gepflegt und tradiert. Diese Diasporasynagogen fungieren einerseits als Anlaufstelle für Pilgerinnen und Pilger aus den entsprechenden Regionen der Mittelmeerwelt und andererseits als Zentren für alle, die sich entschlossen haben, in Jerusalem zu bleiben – sei es, dass sie ihren Lebensabend dort verbringen wollen oder dass sie mit der gesamten Familie umsiedeln. Typisch ist: Im Kernland ihrer Religion bleiben sie ihrer griechischen Sozialisation treu und frischen diese Lebensader durch Kontakte mit Pilgern aus ihrer Heimat ständig auf (Ebner 2006, 23–31; Zugmann 2009). Für die Jesusmissionare aus diesem städtischen Milieu, die des Aramäischen vermutlich selbst gar nicht mächtig waren, gab es – auch innerhalb Palästinas – gar keine andere Möglichkeit, als die Städte anzusteuern, in denen man griechisch sprach. So etwa, wenn von Philippus, einem der Sieben, in Apg 8,5 erzählt wird, er sei „in die Stadt Samariens hinabgegangen“, um dort Christus zu verkündigen. Nur die Hauptstadt von Samarien kann gemeint sein. Herodes d. Gr. hatte ihr ein neues Gesicht und einen neuen Namen gegeben: Kaiser Augustus zu Ehren nannte er sie in „Sebaste“ um, umgab sie mit Mauern, schenkte ihr einen Kaisertempel und siedelte nichtjüdische Veteranen als ihm ergebenes, neues Overhead an (Jos., Ant XV 296 f.; Bell I 403; Schalit 2001, 174–183). Gemäß Apg 11,19 kamen die „Zerstreuten“ bis nach Phönizien (dort liegt Tyrus: vgl. Apg 21,3 f.), Zypern und Antiochia. Eigens wird erwähnt, dass „einige von ihnen aus Zypern stammten“ (Apg 11,20). Auch das ist nicht verwunderlich: Die Missionare steuern zuallererst ihre eigenen Heimatregionen an, mit denen sie auch in Jerusalem oft über Generationen hinweg in Verbindung geblieben sind. Von Nikolaus, ebenfalls einem Promotor aus dem Siebenerkreis (vgl. Apg 6,5), wissen wir, dass er ein Proselyt aus Antiochia war. Barnabas, der selbst nicht zu den Sieben gehörte, aber zusammen mit Paulus in Antiochia wirkte (vgl. Apg 11,22–26), war ein Levit aus Zypern (vgl. Apg 4,36). Als die Gemeinde von Antiochia ihn zusammen mit Paulus zur Mission aussendet, ist das erste Ziel die Heimat seiner Väter: die Insel Zypern – und speziell deren Hauptstadt mit dem Sitz des Prokonsuls (vgl. Apg 13,1–12). Alles Weitere haben die römischen Straßen geregelt. 1.4 Die römischen Straßen als Wegweiser Gemäß Apg 13 f. steuern Barnabas und Paulus bei der sogenannten ersten Missionsreise nach dem Auftakt in Zypern die Südküste Kleinasiens an. Vermutlich gehen sie in Attalia an Land. Von dort aus jedenfalls schiffen sie sich bei der Heimreise nach Antiochia wieder ein (Apg 14,25). Sie kommen nach Perge in Pamphylien, Antiochia in Pisidien, nach Ikonium, Lystra und Derbe – und kehren diesen Weg auch wieder zurück. Diese Route hält sich ziemlich exakt an die via Sebaste, die 6 v. Chr. unter dem Statthalter C. Cornutus Aquila angelegt wurde und als Rundweg die Hafen-

Noch mehr Religion in die Stadt tragen?

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städte Side und Attalia (über Perge) mit den Metropolen Antiochia in Pisidien bzw. Ikonium in Lykaonien verbindet.10 Die erste Missionsreise, die Paulus nach dem antiochenischen Zwischenfall im Alleingang durchführt, folgt zunächst der sogenannten Pilgerstraße. Sie führt über Tarsus und die kilikische Pforte genau in die Gegend im Herzen Kleinasiens, wo Paulus zum ersten Mal selbständig als Gemeindegründer aufgetreten ist: nach Galatien.11 Die Gemeindegründungen von Philippi und Thessaloniki in Makedonien zeigen, dass sich Paulus bereits auf der „Autobahn“ in Richtung Rom befunden hat, eben der via Egnatia, die am Bosporus beginnt und ihn über Makedonien und Illyrien an die Adria und nach deren Überquerung auf ihrer italischen Anschlussstrecke, der via Appia, geradewegs nach Rom geführt hätte12 – wenn er nicht plötzlich nach Süden abgebogen und in Korinth bzw. Ephesus Gemeinden gegründet hätte. Anlass für diesen scheinbaren Umweg dürfte die Judenvertreibung in Rom 49 n. Chr. gewesen sein. Da sich in der Antike nichts schneller verbreitet als das Gerücht (Reck 1991, 120–129), kann Paulus in der Hafenstadt ( ! ) Thessaloniki davon aus erster Hand erfahren haben, so dass er seine Reisepläne rechtzeitig ändern konnte. Notieren wir nebenbei: Mit Thessaloniki, Korinth und Ephesus hat sich Paulus nicht nur besonders große Städte für seine Erstmission ausgesucht, sondern gezielt römische Provinzhauptstädte: Philippi ist die Provinzhauptstadt von Makedonien, Korinth die von Achaia und Ephesus die von Asia. Paulus denkt in den Verwaltungsstrukturen des Römischen Reiches, dessen globales Netzwerk über die Provinzhauptstädte gesteuert wird.

2. Noch mehr Religion in die Stadt tragen? Aus der christlichen Perspektive gesehen kommt mit der Verkündigung der christlichen Missionare endlich Religion in die Stadt. Aus dem Blickwinkel der Antike jedoch stellt sich der Sachverhalt völlig anders dar: Die Städte Syriens, Kleinasiens und Griechenlands sind von Religion voll, d. h. sie sind voller Tempel und Altäre (f III). Christliche Schriftsteller sind sich dessen durchaus bewusst, z. B. Lukas, der Paulus in Athen wie einen Touristen durch die Stadt streifen, mit Juden und Gottesfürchtigen, aber auch mit epikureischen und stoischen Philosophen Gespräche führen und schließlich „in der Mitte des Areopags“13 sagen lässt: Vgl. Mitchell (2001, 70.76–78); French (1980, 715). Der Streit, ob damit die Landschaft Galatien, also das Gebiet um Ankara, oder die Provinz Galatia gemeint sei, die auch Pisidien, Lykaonien und Pamphylien umfasst habe, also genau die Gebiete der gemeinsamen Missionsreise mit Barnabas, wird schon dadurch entschärft, dass 43 n. Chr. Pamphylien mit dem mittleren und südlichen Teil von Pisidien zur neuen Provinz Lycia-Pamphylia geschlagen wird; erneute Evaluation bei Sänger (2010). 12 Dass Paulus dieses Ziel schon immer im Sinn hatte, zeigt Röm 15,23 f. 13 So wird der nordwestlich der Akropolis am Rande der Agora gelegene Areshügel (Elliger 2007, 156–160) genannt, gleichzeitig kann aber auch das gleichnamige höchste Gerichtsgremium gemeint sein, das besonders auch für kultische Fragen zuständig war. Sein Einfluss war gerade unter römischer Herrschaft wieder gewachsen. 10

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Ihr Männer von Athen, nach allem was ich sehe, müsst ihr ganz besonders fromm (  «) sein. Als ich nämlich durch eure Stadt streifte und mir eure Verehrungsstätten ganz genau anschaute, fand ich auch einen Altar, auf dem eingraviert war: Einem unbekannten Gott (ANT E) … (Apg 17,22 f.).

Die heidnischen Städte sind durchaus nicht „heidnisch“ im Sinn von unfromm. Ganz im Gegenteil. Dieses Kompliment, das Lukas seinem Paulus in den Mund legt, muss ernst genommen werden.14 Mit dem Altar „für einen unbekannten Gott“ hat es folgende Bewandtnis: Inschriftlich und literarisch bezeugt sind Altäre „für unbekannte Götter“ (Plural!), speziell auch für die Umgebung Athens. In seiner „Beschreibung Griechenlands“, dem Baedeker der Antike, hält Pausanias fest: „Auf dem Weg von Phaleron nach Athen finden sich ‚Altäre sogenannter unbekannter Götter‘“ (I 1,4). Sinn dieser Altäre war eine religiöse Vorsichtsmaßnahme: Auf keinen Fall sollte irgendeine Gottheit, selbst wenn man sie nicht mit Namen kannte, von der Verehrung der Stadt ausgeschlossen sein und deshalb ihren Zorn an den Menschen auslassen können. Lukas hat die übliche Formulierung dieser Weiheinschriften vermutlich absichtlich in den Singular gesetzt, um Paulus einen Anknüpfungspunkt für seine monotheistische Predigt zu geben (Weiser 1985, 467 f.; anders Rowe 2011). Nicht anders als in Athen wird es Paulus in Korinth gegangen sein. Wenn wir erneut der Beschreibung des Pausanias folgen, kann man nur staunen, was sich da alles an religiösen Spuren finden lässt (vgl. Abb. 1):15 Geht man nach Korinth hinauf, trifft man am Wege verschiedene Denkmäler, und am Tor ist Diogenes aus Sinope begraben, den die Griechen den „Hund“ nennen. Vor der Stadt liegt ein Zypressenhain namens Kraneion; dort ist ein heiliger Bezirk des Bellerophontes und ein Tempel der Aphrodite Melainis und das Grab der Laïs … Von Sehenswürdigkeiten in der Stadt gibt es einmal die noch vorhandenen alten Reste, die meisten sind aber in der späteren Blütezeit gebaut worden. Auf der Agora – denn dort sind die meisten Heiligtümer – eine Artemis mit Beinamen „die Ephesische“ und Holzbilder des Dionysos … Mitten auf der Agora steht eine bronzene Athena, und an ihrer Basis sind Bilder der Musen angebracht. Über der Agora steht ein Tempel der Octavia, der Schwester des Augustus, der nach Caesar, dem Gründer des jetzigen Korinth, in Rom regierte … Geht man von der Agora die Straße nach Lechäon hinaus, sieht man Propyläen und darauf vergoldete Wagen, von denen der eine Phaëton, den Sohn des Helios, der andere Helios selber trägt … Geht man die gerade Straße nach Lechaion weiter, ist dort ein bronzener Hermes … Geht man vom Markt einen anderen Weg, den nach Sikyon, kann man rechts vom Weg einen Tempel mit Bronzebild des Apollon sehen, und etwas weiter liegt der sogenannte Brunnen der Glauke … Daneben liegt das Grabmal der Kinder der Medea … Von diesem Grabmal nicht fern steht das Heiligtum der Athena Chalinitis … Diese ihre Kultstatue ist ein Holzbild mit Gesicht, Händen und Füßen aus Marmor … Das Heiligtum der Athena Chalinitis liegt beim Theater, und in der Nähe steht ein nacktes Holzbild des Herakles … Über dem Thea-

14 Gerade weil der Zorn des Paulus über die Götzenbilder in der Stadt (V. 16) im Erzähltext nicht verschwiegen wird. 15 Das System der Begehung ist folgendes: Pausanias nähert sich von der Peripherie, von Kenchreä im Osten, dem Zentrum und geht dann den Ausfallstraßen entlang in Richtung Lechaion, Sikyon und Akrokorinth wieder nach außen.

Noch mehr Religion in die Stadt tragen?

Abb. 1: Die Stadt Korinth (nach Murphy-O’Connor 1990, 20).

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Stadt und Religion

ter befindet sich das Heiligtum des kapitolinischen Zeus … Nicht weit von diesem Theater liegt das alte Gymnasion … An diesem Gymnasion sind auch Göttertempel, einer des Zeus und einer des Asklepios. Von den Statuen sind die des Asklepios und der Hygieia aus Marmor, die des Zeus aus Bronze … Am Aufstieg nach Akrokorinth … befinden sich Heiligtümer der Isis, von denen sie die eine Pelagia („die des Meeres“), die andere die ägyptische nennen, und zwei andere des Sarapis, von denen das eine „in Kanobos“ heißt. Nach ihnen sind dem Helios Altäre gebaut und ist da ein Heiligtum der Ananke und Bia („Notwendigkeit und Zwang“) … Darüber ist ein Tempel und Thron der Göttermutter, sie selbst und der Thron aus Marmor. Im Tempel der Moiren sowie der Demeter und Kore sind Kultbilder, die man verborgen hält … Oben auf Akrokorinth befindet sich ein Tempel der Aphrodite und folgende Statuen: sie selbst in Waffen und Helios und Eros mit Bogen … (II 2,4–5,1).

Will Paulus da noch mehr Religion in die Stadt bringen? Kommt es auf einen Gott mehr oder weniger überhaupt an? Oder sind neue religiöse Ideen vielleicht besonders attraktiv? Die Sache ist noch verwickelter – und hat vor allem mit rechtlichen und politischen Fragen zu tun. 2.1 Religion und Loyalität Auf der einen Seite sind die Städte voll von Religion. Auf der anderen Seite ist nicht jede Form von Frömmigkeit erwünscht. Beide Seiten sind zu beleuchten. Auch unter römischer Herrschaft hatten die Städte in der Mittelmeerwelt weitgehende Autonomie in Sachen Religion. Dazu gehört die Besetzung der Priesterstellen, die Finanzierung der Kulte, die Verfügungen über Zutrittsbedingungen der Heiligtümer und den Festtagskalender der Stadt (Frateantonio 2003, 25 f.). Dieses Selbstverfügungsrecht hat aber zur Folge, dass der Zuschnitt des „Götterhimmels“ von Stadt zu Stadt verschieden ist. Jede Stadt hat noch einmal ihre besonderen Stadtgottheiten. Das können bekannte Gottheiten aus dem griechischen Götterpantheon sein. Aber durch Epitheta wie „Stadtbeschützerin“ ( ψ«) bzw. „Anführer“ ($  «) werden sie für die jeweilige Stadt als besondere Schutzgottheiten in Anspruch genommen. In entsprechenden Mythen spiegeln sich Lokalkolorit und Stadtgeschichte (f III/2.2). Loyalität gegenüber der Stadt wird durch die Teilnahme am offiziellen Kult demonstriert. Wer nicht teilnimmt, macht sich verdächtig, weil er seinen Beitrag zum Gemeinwohl verweigert. Denn der Schutz der Stadt durch die Stadtgottheiten ist nur dann gewährleistet, wenn die entsprechende öffentliche Verehrung sichergestellt ist. Nachdem antike Städte aufgrund ihrer Größe „face to face societies“ waren, fällt die fehlende Präsenz bei Festen, deren Hauptbestandteile Prozessionen sowie Opferhandlungen mit anschließendem Festschmaus sind, unangenehm auf und kann als Verweigerung der Stadtgemeinschaft gegenüber interpretiert werden.16 Auch wenn sich keine Gesetze zur Verpflichtung am städtischen Kult

16 Vgl. nur den Vorwurf, den Tacitus gegenüber den Juden erhebt, weil sie sich durch ihre Lebensgewohnheiten von anderen abgrenzen (Hist V 5,1): feindlicher Hass gegenüber allen anderen (adversus omnes alios hostile odium).

Noch mehr Religion in die Stadt tragen?

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nachweisen lassen (Krauter 2004), funktioniert die „social control“ (Frateantonio 2003, 33 f.). Stereotyp kommt sie z. B. in Anfragen an Juden zum Ausdruck, die zwar in den griechischen Städten Kleinasiens oder Ägyptens leben, z. T. sogar die Bürgerrechte der Stadt anstreben, aber am Stadtkult natürlich nicht teilnehmen wollen und können. So müssen sich die Juden in Alexandrien die Frage gefallen lassen: „Wie können sie Bürger sein, verehren aber nicht die gleichen Götter wie die (einheimischen) Alexandriner?“ (Jos., Ap II 65).17 Walter Burkert (1995, 202) bringt das Phänomen auf die knappe Formel: „Citizenship meant   ¹.“18 Ob christliche Missionare mit ihrer Verkündigung in einer Stadt willkommen sind, entscheidet sich also weniger daran, wie überzeugend und enthusiastisch sie predigen, sondern vielmehr daran, ob sie den Stadtkult akzeptieren und zur Teilnahme daran animieren. 2.2 Götzenpolemik und lokaler Widerstand Die Predigt des einen und einzigen Gottes ist in einer polytheistischen Umgebung prinzipiell kein Problem. Auch die pagane Antike kennt die sogenannte θ« !"«-Formel. Was wir auf biblisch-jüdischem Hintergrund mit „ein einziger Gott“ übersetzen würden, wird in der paganen Antike lediglich als Hervorhebung eines bestimmten Gottes verstanden, also im Sinn von: ein besonders mächtiger Gott. In dieser Funktion wird die Formel als Akklamation eingesetzt.19 Vielleicht würde ein antiker Mensch einfach nur müde lächeln, wenn er einen fremden Prediger allen Ernstes behaupten hörte, es gebe nur einen einzigen Gott. Denn für antike Menschen ist Monotheismus in diesem Sinn eine geradezu defizitäre Form von Religion, weil er die vielen unterschiedlichen Bereiche des Lebens nicht differenziert genug erfassen kann (Assmann 1998, 73–82). Nein, zum Problem wird die monotheistische Predigt erst dann, wenn sie mit Götzenpolemik verbunden ist und die „handgemachten Götter“ als Trugbilder entlarven will.20 Einen entsprechenden Vorfall erzählt Lukas in seiner Apostelgeschichte für Ephesus (Apg 19,21–40). In Ephesus wird Artemis als Stadt- und Schutzgöttin verehrt. Ihr berühmtes Standbild mit den vielen Brüsten als Symbol für unermessliche Fruchtbarkeit21 steht in ihrem noch viel berühmteren Tempel, dem Artemision. Die Silberschmiede von Ephesus, so erzählt es Lukas, haben sich ganz darauf verlegt, dieses als 17 Vgl. auch Jos., Ant XII 126; zu dieser entscheidenden Fragestellung vgl. Baltrusch (2002, 49–52); Frateantonio (2003, 33–36); vgl. auch den Rat zum Zwang an der Kultbeteiligung bei Dio C. LII 36,1; wer an der Stadtprozession in Oinoanda/Lykien nicht teilnimmt, soll bestraft und bekannt gemacht werden (SEG XXXVIII 1462,83–85; f II/2.2); jegliche „Kompulsivität“, also die Verpflichtung zur Kultteilnahme, will dagegen Krauter (2004) bestreiten. 18 Gemeinschaft an „heiligen Dingen“, d. h. Gemeinschaft, die sich in der Praxis des Kults realisiert (vgl. 1Kor 10,16). 19 Vgl. die grundlegende Studie von Peterson (2004); vgl. Chaniotis (2009, 200–209). 20 Vgl. die biblische Tradition bei Jes 40,19 f.; 44,9–20; 46,6; Weish 13,10; vgl. Klauck (2003). 21 Vermutlich handelt es sich um stilisierte Stierhoden, die bei der Opferung jeweils über die Statue der Göttin gehängt wurden; vgl. Fleischer (1973, 304).

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Stadt und Religion

Weltwunder verehrte Bauwerk im Kleinformat für Pilger herzustellen. Und sie sind natürlich nicht gerade erfreut, wenn da ein Großsprecher plötzlich über die handgemachten Götter herzieht. Aber lassen wir Lukas selbst erzählen: 24Ein

Silberschmied namens Demetrius, der silberne Artemistempel herstellte und den Künstlern viel zu verdienen gab, 25rief diese und die damit beschäftigten Arbeiter zusammen und sagte: Männer, ihr wisst, dass wir unseren Wohlstand diesem Gewerbe verdanken. 26Nun seht und hört ihr, dass dieser Paulus nicht nur in Ephesus, sondern fast in ganz Asien viel Volk verführt und aufgehetzt hat mit seiner Behauptung, was mit Händen gemacht ist, seien keine Götter. 27So kommt nicht nur unser Geschäft in Verruf, sondern auch dem Heiligtum der großen Göttin Artemis droht Gefahr, nichts mehr zu gelten, ja sie selbst wird ihre Hoheit verlieren, die von ganz Asien und vom ganzen Erdkreis verehrt wird. 28Als sie das hörten, wurden sie wütend und schrien: Groß ist die Artemis der Epheser.22 Die ganze Stadt geriet in Verwirrung; alles stürmte ins Theater, und sie schleppten mit sich die Mazedonier Gaius und Aristarch, Reisegefährten des Paulus (Apg 19,24–29).

Ganz unabhängig davon, dass Lukas die Verquickung von religiösen und ökonomischen Interessen hier aufdecken und bloßstellen will (Schinkel 2006), und zwar im Gegensatz zu seiner christlichen Gruppe, für die ein Armuts- und Gütergemeinschaftsideal angezielt ist, wird hier sehr schön sichtbar, wie wenig die theologisch in sich schlüssige Argumentation des Paulus interessiert und überzeugt. Was wirklich gehört wird und was schließlich eine ganze Stadt zur Empörung anstacheln kann, ist der Angriff auf den heiligsten Punkt im Lokalkolorit, eben die Artemis der Epheser. Wer in den Städten des Römerreiches den einen Gott verkündet und gleichzeitig im Dienst des Monotheismus Götzenpolemik betreibt, spielt mit dem Feuer. Er greift den Lokalstolz an und in wirtschaftliche Regelkreise ein. Er reißt bestimmten Produktionssparten ihre theologische Berechtigung aus der Hand. Das bleibt nicht ungestraft. 2.3 Neue Götter und ihre „Zähmung“ Ob jemand neue Götter in einer Stadt heimisch machen kann, hängt vor allem davon ab, ob sie sich „zähmen“ lassen, d. h. ob sich ihre Verehrung in die ortsüblichen Kulttraditionen einbinden lässt. Dionysius von Halikarnass, der ab 30 v. Chr. als Rhetoriklehrer und Historiker in Rom lebt, sagt den Römern voller Bewunderung – und gleichzeitig im Sinn einer Idealisierung der Vorgehensweise – nach: Am meisten wunderte ich mich darüber, dass die Stadt der Römer, trotz vieler dort lebender Fremder, die ihre vaterländischen Götter nach heimischer Sitte verehren, dennoch keine fremden Gewohnheiten, wie schon viele andere Städte, öffentlich nachahmte, sondern, wenn jemals aufgrund von Orakeln bestimmte religiöse Gebräuche eingeführt wurden, sie (sc. die Stadt der Römer) diese nach ihren eigenen Sitten feiert … (II 19,3).

22 Hier liegt die genannte θ« !"«-Akklamation vor. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, vermeidet Lukas jedoch im Griechischen diese Formel und schreibt stattdessen die Paraphrase: M π 5A« #Eφ („Groß ist die Artemis der Epheser“).

Religion im Haus: das Pendant zur städtischen Ebene

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Alle religiösen Gebräuche, die partout eigenständig bleiben wollen und sich gegenüber den ortsüblichen Gewohnheiten sperren, sind – insbesondere Römern – verdächtig. Dio Cassius (150–235 n. Chr.), hoher Staatsbeamter in Rom und ebenfalls Historiker, lässt in seiner „Römischen Geschichte“ den berühmten Kunstförderer Maecenas seinem Kaiser Augustus den Rat geben, diejenigen Personen, die „unsere Religion durch fremde Riten entstellen wollen“, streng zu bestrafen. Der Grund dafür: „… weil derartige Menschen, indem sie irgendwelche neue Gottheiten anstelle der alten einführen, viele dazu veranlassen, fremde Lebensformen anzunehmen; und daraus entstehen dann Verschwörungen, Parteien und Cliquen ('() …“ (LII 36,1 f.; vgl. Cic., Leg II 25 f.). Immer also lauert für römisches Empfinden hinter unkontrollierbarer, den Gegebenheiten nicht angepasster Kultausübung subversive, religiös verbrämte Verschwörung. Mit diesen Gegebenheiten haben auch die christlichen Missionare zu kämpfen – in den Städten des Römischen Reiches, die schon seit alters voller Religion sind.

3. Religion im Haus: das Pendant zur städtischen Ebene Nicht nur die Stadt in ihrem äußeren Erscheinungsbild ist von Religion voll, auch in den kleinsten Interaktionseinheiten einer Stadt, in den Häusern (f V), wird Religion praktiziert. Es finden sich dort die gleichen Phänomene, wie sie für die Tempel typisch sind: Altäre, Opfer, Priester. Der Priester im Haus ist der Hausvater (pater familias). Als Hausvorstand entscheidet er nicht nur die anstehenden ökonomischen Fragen und spricht, wenn es sein muss, Recht, sondern fungiert auch als Hauspriester. Beim gemeinsamen Festmahl hat er den Vorsitz und stimmt – nach dem Essen – den Hymnus auf die Götter an, wobei er eine Trankspende vergießt. Vor dem Hausaltar, meistens im Eingangsbereich des Hauses platziert, bringt er Weihrauchopfer dar. Was für die Stadt die Stadtgötter (Artemis für Ephesus, Athene für Athen usw.), sind auf der Hausebene die Laren, die verstorbenen Vorfahren des Hauses, deren Bilder und Büsten im „Haustempel“, dem lararium, meistens als Wandnische gestaltet, verehrt werden (Fröhlich 1991). In beiden Fällen geht es um die religiöse Vergewisserung der eigenen Identität: Wo kommen wir her, wo liegen unsere Wurzeln, wer sind die „guten Geister“, die uns beschützen? Auch im Bereich des Rechts zeigen sich parallele Strukturen zwischen Stadt und Haus. Die Hausväter repräsentieren ihre Hausgemeinschaft im höchsten Entscheidungsgremium der Stadt, der Volksversammlung () ). Seit klassischer Zeit sind „ordentliche Mitglieder“ die männlichen freien Bürger einer Stadt ab dem Alter von ca. 18 Jahren. In regelmäßigen Abständen treffen sie sich, gewöhnlich im Theater, um anstehende Probleme zu beraten bzw. über vorbereitete Beschlussvorlagen abzustimmen (f II/4.1). Typisch für die Parallelstrukturen ist, dass der Hausvater als Repräsentant des „Hauses“ auch für diejenigen Mitglieder mitentscheidet, die nicht im Status eines Freien sind, also die Sklaven, die ganz selbstverständlich zu einem antiken Haushalt gehören, und diejenigen, die zwar den Status von Freien, aber wegen ihres Geschlechts keinen Sitz in der Bürgerversammlung haben: die Frauen. Genauso entscheidet die Ekklesia als Repräsentationsorgan der Verwaltungseinheit

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„Stadt“ (" «/municipium) über alle Menschen, die im Siedlungsgebiet ($*/oppidum) der jeweiligen „Stadt“ wohnen, aber nicht über einen Hausvater unmittelbar vertreten sind: die einheimischen Freien ohne Bürgerrecht (Paröken) und die Fremden mit Wohnrecht (Metöken). Nach athenischen Gepflogenheiten mussten Letztere bei der (routinemäßigen) Registrierung einen Vollbürger als Rechtsvertreter (   «) vorweisen. Im römischen Milieu war es klug, sich auch als freier Bürger einem einflussreichen patronus zu unterstellen, um in Rechtsstreitfällen einen mächtigen Fürsprecher zu haben. Die von Aristoteles scharfsinnig beobachtete Zuordnung von „Haus“ und „Stadt“ ist auch für die römische Zeit prägend geblieben.23

4. Der Einfluss Roms Mit der Expansion Roms in den Osten des Mittelmeerraums wurde über die ehemals freien griechischen Städte ein neues Overhead gelegt, das sowohl die rechtlichen Kompetenzen als auch die religiösen Strukturen im wahrsten Sinne des Wortes „verschoben“ hat. Dass sich Philipp V. von Makedonien mit Hannibal im Kampf gegen Rom verbündet, liefert den militärischen Vorwand, um in Griechenland ab 215 v. Chr. Kriegshandlungen einzuleiten. Das ist der erste Schritt eines kontinuierlichen Eroberungswegs, auf dem zunächst Griechenland, dann Kleinasien (ab 196 v. Chr.), Syrien, Ägypten – und schließlich auch Palästina unter die Herrschaft Roms gebracht werden.24 Lediglich die Parther trotzen beharrlich einer Unterwerfung. Um ein derartiges Riesenreich unter dauerhafter Kontrolle zu behalten, bedienen sich die Römer eines klugen Schachzugs: Sie nutzen die vorhandenen Verwaltungsstrukturen der meist kleinen Königreiche oder freien Stadtstaaten als Substrukturen innerhalb neuer, von Rom geschaffener Großeinheiten: der Provinzen (vgl. Karte 2). An ihrer Spitze steht (in Vertretung des Kaisers) ein Statthalter. Er ist für die Kriminalgerichtsbarkeit, für die Außenpolitik und den Einzug der Steuern zuständig. Unterstützt wird er von einem verhältnismäßig kleinen Verwaltungsapparat, der vor allem aus einem Quaestor (für die Finanzverwaltung zuständig) und einigen Sekretären (scribae) besteht (f IV/2.1). Nicht zu vergessen das Heer, das sozusagen als Drohkulisse im Hintergrund stets für Ruhe und Ordnung sorgt. Über die ehemals partikular orientierten, selbständigen politischen Einheiten wird ein global ausgerichtetes, von Rom aus gesteuertes Netzwerk gelegt. Lokale Zentren dieses Netzwerks sind die von Rom etablierten Provinzhauptstädte. Dazu greift man teils auf alte Königsstädte zurück, aber nicht immer. Teils gründet man neue Städte oder stattet bis dahin eher unbedeutende Städte als neue Zentren aus. Dazu siedelt man ganz bewusst römische Kriegsveteranen an, um so neue römische Kulturinseln im fremden 23 Vgl. Pol I 3 (1253b 2 f.): » +  ( " « ), . (jede Stadt nämlich setzt sich zusammen aus Häusern). 24 Dabei zeigt Rom großes diplomatisches Geschick: Es stößt in Krisenregionen vor, lässt sich bereitwillig als „Beschützer“ einer der Kontrahenten in die Konflikte hineinziehen und gewinnt damit unmittelbaren Einfluss vor Ort. In Kleinasien ist es z. B. das Königreich Pergamon, das sich ab 201 v. Chr. gegen die Annexionsbestrebungen Philipps V. von Makedonien und des Seleukiden Antiochus III. immer wieder an Rom um Hilfe wendet (Schwertheim 2005, 82–96).

Aufoktroyierte „Religion“: der Kaiserkult

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Abb. 2: Das Stadtzentrum von Korinth (nach Wiseman 1979, Fig. 12).

Gebiet zu schaffen. Auf diese Weise entledigen sich die Römer der alten Eliten und bauen in den von ihnen ausgewählten Zentren neue militär- und wirtschaftsorientierte Eliten auf. Das war auch der Fall bei der Errichtung der Provinz Achaia im Jahr 27 v. Chr. Nicht die alte Kulturhauptstadt Athen wählen die Römer als neue Provinzhauptstadt, sondern die an zwei Häfen gelegene Handelsstadt Korinth. Wie handgreiflich das Overhead Rom in der neuen Provinzhauptstadt in Erscheinung tritt und welche Auswirkungen es auf die Religion in der Stadt hat, kann man erneut am Stadtplan Korinths, den wir bereits bei der Besichtigung mit Pausanias vor Augen hatten, studieren, diesmal typischerweise am Stadtzentrum (vgl. Abb. 2), also an dem Rechteck, das auf dem großen Übersichtsplan (vgl. Abb. 1) bisher ausgespart worden ist.

5. Aufoktroyierte „Religion“: der Kaiserkult Korinth ist eine junge, besser: verjüngte Stadt, als Paulus etwa 50 n. Chr. dorthin kommt. Das alte Korinth, Zentrum des letzten Widerstandes gegen das Vordringen Roms in Griechenland, wurde nämlich 146 v. Chr. von einem römischen Heer unter Lucius Mummius zerstört. Erst knapp 100 Jahre später, 44 v. Chr., wurde die Stadt als römische Bürgerkolonie Colonia Laus Iulia Corinthus von Julius Caesar neu gegründet, d. h. mit römischen Veteranen und Freigelassenen neu besiedelt. Im Jahr 27

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v. Chr. wurde es Sitz des Statthalters der neu eingerichteten Provinz Achaia. Die neue Stadt entstand innerhalb der alten Stadtgrenzen. Neue Strukturen haben die Römer im Zentrum gelegt, sichtbar an der Gestaltung des Forums (vgl. Abb. 2), also des gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und religiösen Zentrums einer Stadt (f II). Der Marktplatz der alten Stadt, die Agora, wie man in Griechenland das Stadtzentrum nennt, lag vermutlich ein ganzes Stück nördlicher.25 Die Römer haben ihr Forum dort angelegt, wo in der alten Stadt (und für den Besucher bis heute) das optische Zentrum lag: unmittelbar südlich anschließend an den archaischen Haupttempel der Stadt, heute als Apollon-Tempel (1) bekannt. Allerdings wurde sein ursprünglicher Zugang über eine große Freitreppe vom Süden her einfach „stillgelegt“. An dieser Stelle entstand eine große Säulenhalle, die sogenannte Nordwest-Stoa (2). Parallel zur Süd-Stoa (3) flankiert sie den offenen Platz des römischen Forums. Die Schmalseiten bilden zwei nach außen gelegte Gebäudekomplexe, die zugleich eine symbolische Achse darstellen: die Basilika Julia im Osten (4) und der Kaisertempel (E)26 im Westen. Eine Basilika ist ursprünglich eine in sich geschlossene Säulenhalle, die sowohl vor Regen als auch allzu starker Sonnenbestrahlung schützt und vor allem als Markthalle genutzt wird. In römischer Zeit fungieren Basiliken auch als Gerichtshallen (f II/4.2). In Korinth sitzt also dort der römische Statthalter – in Stellvertretung des Kaisers – zu Gericht. Das ist der eine Endpunkt der Achse. Der andere ist der Kaisertempel. Gewidmet ist er Oktavia, der Schwester des Augustus sowie der Gens Iulia, der mächtigen Ahnfamilie, in die Augustus per Adoption durch Gaius Iulius Caesar implantiert wurde. Eine monumentale Freitreppe führte zur erhöhten Plattform hinauf, auf der der Kaisertempel stand, ebenfalls flankiert von Säulenhallen. Zu seinen Füßen waren verschiedene Tempel der olympischen Götter platziert, die sozusagen wie Seitenaltäre den Hochaltar säumten; darunter ein Tempel für Aphrodite (F), die als Venus Genetrix Mutter des römischen Volkes – und damit auch der neu angesiedelten Veteranen und ihrer Familien in Korinth war; sowie ein Tempel für Apollon (G), wobei erwähnenswert ist, dass Augustus Apollon als seinen göttlichen Urahn reklamiert hat. Damit ergibt sich ein klares Bildprogramm. Die olympischen Götter weisen den Weg zu ihrem wahren Statthalter auf Erden: dem römischen Kaiser, der sich und sein Volk von den Göttern geführt weiß. Im Kult präsent, optisch hervorgehoben durch den architektonischen „Höhepunkt“ des Kaisertempels, wird seine Macht durch die Rechtsprechung des jeweiligen Provinzgouverneurs in der Basilika konkret. Im Kaiserkult (f IV) zeigt Rom seine politische Vorherrschaft symbolisch über die Religion. Religion und Recht bilden die aufeinander zugeordneten Eckpunkte der neuen Machtachse.27

25 Vermutlich nördlich des archaischen Tempels bzw. nördlich der Peirene-Quelle. Vgl. DeMaris (2002, 80 f.). 26 Vgl. Bookidis (2005, 155–157); direkt auf dieser Achse haben die Augustalen (f VI) eine Kaiserstatue (5) errichten lassen, deren Basis samt Inschrift noch erhalten sind (Laird 2010). 27 In seiner normativ angelegten Architekturtheorie schreibt Vitruv bezüglich des Forums vor, dass gegenüber der Basilika der Jupitertempel erbaut werden soll (V 1 f.; I 7). An die Stelle des Jupitertempels rückt gemäß dieser Vorgabe in Korinth der Kaisertempel.

Aufoktroyierte „Religion“: der Kaiserkult

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Um dieses architektonische Szenario aufzubauen, wurden vermutlich kleine Tempel ehemaliger Lokalgottheiten und Heroen von Korinth einfach ausradiert. Sie lebten nur noch in kleinen Statuen bzw. Ersatztempeln in der Peripherie fort. Anstelle der Lokalgottheiten zogen mit Rom im Zeichen der Globalisierung die olympischen Götter ein. Vermutlich war auch der archaische Haupttempel, in dem zu Pausanias’ Zeiten ein Kultbild des Apollon zu sehen war (II 3,6), ursprünglich einer Lokalgottheit gewidmet (DeMaris 2002, 77). Archäologische Analysen haben ergeben, dass nicht nur sein Hauptzugangsweg stillgelegt, sondern auch seine Orientierung verändert worden ist: Wie für alle Tempel üblich, lag sein ursprünglicher Eingang auf der Ostseite, so dass die Morgensonne das Götterbild im Innern des Tempels bescheinen konnte. Die römischen Bauherren haben den Tempel nach Westen hin, also in Richtung Rom, „geöffnet“ und von dieser Seite den einzigen Zugangsweg erschlossen. Die Stadt, die von den Römern im Zentrum neu gestaltet wurde, war also keineswegs eine Ruinenstadt – und sie war auch weder verlassen noch menschenleer, als die Römer Korinth ihren Stempel aufdrückten. Sowohl numismatische als auch archäologische Befunde belegen eine kontinuierliche Besiedlung samt wirtschaftlicher Aktivität auch nach der „Zerstörung“ der Stadt durch die Römer.28 Cicero (106–43 v. Chr.) wird auf die Ruinen in der Stadt, die er „in seiner Jugend“ besucht hat, erst dann aufmerksam, als er für den angeblichen Kummer in der Physiognomie der Einwohner nach einer Erklärung sucht (Tusc III 22,53). Außer den neu angesiedelten römischen Veteranen und Freigelassenen lebt in Korinth – noch immer – die einheimische griechische Bevölkerung, die auch nach der „Zerstörung“ in der Stadt geblieben war. Die Neugründung, die vor allem im Zentrum der Stadt den Machtfaktor Rom architektonisch im Forum und symbolisch im Kaisertempel zum Ausdruck bringt, stellt daher einen Bruch mit der Tradition bzw. eine machtpolitische Überfremdung der Lokalstrukturen dar. Diese aufoktroyierte Religion, die mit neuen Herrschaftsstrukturen einhergeht, führt allerdings zu Gegenbewegungen und Abwehrstrategien. Beides lässt sich am zitierten Pausaniastext beobachten. Die Abwehrstrategie besteht darin, dass Pausanias seine Perspektive auf die Stadt selbst wählt. Er beschreibt die Stadt sozusagen gegen den Strich, d. h. gegen die Intention der römischen Herrschaftsarchitektur. Das zielgerichtete römische architektonische Arrangement, das aufgrund der archäologischen Befunde in die Augen sticht, erwähnt er nur en passant.29 Stehen dagegen Heiligtümer, Statuen, Altäre, ja auch nur unscheinbare Holzbilder mit dem griechischen Lokalkolorit in Verbindung, so werden sie en detail beschrieben und mit Hingabe ihre Gründungslegende erzählt. Was Rom zum Höhepunkt der Stadtarchitektur macht, wird von Pausanias 28 Vgl. DeMaris (2002, 83); Bookidis (2005, 148 f.) nimmt eine Reokkupation allerdings erst nach einer Interimszeit von 40–50 Jahren an. Auffälliger archäologischer Befund: Die Süd-Stoa z. B. scheint die „Zerstörung“ ziemlich gut überlebt zu haben. Vgl. auch Willis (1991). 29 Z. B. den Kaisertempel und seine Positionierung „über der Agora“ (II 3,2). Typisch ist der exegetische Streit der Altphilologen hinsichtlich dieser Stelle: Die einen meinen, Pausanias werde missverstanden und identifizieren den genannten Tempel als Kapitol. Andere halten die Pausaniasangabe für im Wesentlichen korrekt, assoziieren aber einen Kaisertempel. Genau diese Ambiguität scheint Pausanias bezweckt zu haben. Er spricht vom Kaisertempel, der durch numismatische und inschriftliche Belege klar bezeugt ist, nur in Andeutungen.

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in seiner Beschreibung eingeebnet. Was in römischen Augen dagegen peripher ist oder in die Peripherie weichen muss, wird in der Darstellung des Pausanias zentral. Er lässt seine (griechischen) Leser ihre eigene Vergangenheit wieder entdecken. Er erklärt Vergessenes und rekonstruiert damit griechische Identität. Kurz: Pausanias erzählt „griechische Vergangenheit gegen die römischen ‚Realitäten‘ der Gegenwart“30. Aktive Gegenbewegungen lassen sich unter den Realien erkennen, die Pausanias geflissentlich zusammenstellt. Denn darunter finden sich auch Phänomene, die gerade nicht im Lokalkolorit aufgehen, sondern – wie die römischen Machtstrukturen – selbst eine globale Vernetzung zeigen, also über die Stadt Korinth und ihre spezifische Verwurzelung in der griechischen Vergangenheit hinausweisen: diverse Mysterienkulte, der Asklepioskult und die Philosophie. Auch sie sind in der Peripherie lokalisiert, doch bilden sie sozusagen eine subversive Gegenvernetzung, ein „Undergrid“ zum römischen „Overhead“. Schauen wir uns das, ausgehend vom Bericht des Pausanias, genauer an.

6. Religion in Interessengruppen Es ist auffällig, wie viele Mysterienkulte Pausanias für Korinth anzuführen weiß. Seine Angaben werden durch archäologische Befunde und weitere literarische Zeugnisse bestätigt. Er selbst nennt einen Mysterienkult der Großen Mutter und kommt auf zwei Isis- und Sarapisheiligtümer zu sprechen, die auf dem Weg hinauf nach Akrokorinth liegen. Dort lokalisiert er auch einen Tempel der eleusinischen Gottheiten Demeter und Kore, wobei er ausdrücklich festhält, dass man ihre Kultbilder nicht öffentlich zeigen würde (II 4,7). Im elften Buch seiner Metamorphosen erzählt Apuleius von einer Isisprozession von Korinth zum östlichen Hafen Kenchreä. Dort findet die Einweihung des aus einem Esel in einen Menschen wieder zurückverwandelten Romanhelden statt. Archäologische Grabungen haben das Demeter- und Persephone-Mysterienheiligtum zutage gefördert. Für Isis und Sarapis haben die Ausgräber eine Weiheinschrift gefunden.31 Im Areal, in dem die Isthmischen Spiele in der Nähe Korinths abgehalten wurden, hat man Lampen eines eigentümlichen Typs gefunden, von denen man annimmt, dass sie Mysterienfeiern zuzuordnen sind. Das würde glänzend zu einer Bemerkung bei Plutarch passen, der von Veranstaltungen bei den Isthmischen Spielen schreibt, dass sie nachts stattgefunden hätten und eher einer Einweihungsfeier als einem normalen Fest glichen (Thes 25,4). Die Häufigkeit von Mysterienkulten in Korinth ist bezeichnend. Mysterienkulte sind, wie der Name ( /Geheimnis) sagt, Geheimkulte (f VII). Sie stehen im Kontrast zum öffentlichen Kult der Stadt, aber auch des Hauses, wo es einen zur Stadt analogen, aber keinesfalls geheimen Kult gibt. Mysterienfeiern finden gewöhn-

30 Auffarth (1997, 220). Leider ist diese religionspolitisch und kulturwissenschaftlich höchst wirksame Leistung des Pausanias an konkreten Texten noch kaum aufgewiesen. 31 Vgl. die Ausgrabungsbände: Corinth XVIII/1–5 bzw. VIII/3 57 (50 n. Chr.); Økland (2010).

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lich nachts statt. Nur Eingeweihte sind zugelassen. Nur ihnen werden die Kultbilder gezeigt bzw. nur sie dürfen die Symbole sehen, die für das Schicksal der jeweiligen Mysteriengottheit stehen. Und auch nur diejenigen, die im Zuge der Einweihung katechetisch über die Hintergründe der Mysterien aufgeklärt worden sind, können verstehen, was sie sehen. Generell besteht, was dieses Geheimwissen angeht, Arkandisziplin. Im Gegensatz zum Stadtkult ist die Teilnahme am Mysterienkult an Voraussetzungen geknüpft. In einem Aufnahmeritus wird die Zugehörigkeit bestätigt. Gleichzeitig verpflichten sich die Eingeweihten zu bestimmten Praktiken, sei es das ganze Jahr über oder wenigstens zur Festzeit. Damit entsteht eine Kleingruppe mit einem eigenen kultischen Zentrum und eigenem religiösen Wissen innerhalb der Stadt, die zugleich über ihr Geheimwissen mit anderen Gruppen des gleichen Mysterienkults in anderen Städten global vernetzt ist. So sagt der in Kenchreä in die Isismysterien eingeweihte Lucius, als er ins Isisheiligtum nach Rom kommt: „… fremd im Tempel, aber heimisch im Glauben“ (fani quidem advena, religionis autem indigena: Apul., Met XI 26,3). Das Asklepiosheiligtum in Korinth hat nichts Geheimes zu verbergen. Aber wie die Mysterienheiligtümer liegt es in der Peripherie, abgesondert am nördlichen Stadtrand, und hat seinerseits eine eigene Klientel, für die gerade typisch ist, dass ihr Einzugsbereich weit über die Stadt hinaus reicht: die Kranken, bei denen ärztliche Hilfe versagt, und die eingebildeten Kranken, denen kein Arzt helfen kann. Priester mit rudimentärem ärztlichem Fachwissen erstellen für sie eine persönliche Therapie mit Diätvorschriften. Im Unterschied zu den städtischen Kulten, wo die Götter je nach Lokalkolorit unterschiedliche Akzentsetzungen zeigen, erscheinen Asklepios und sein Kult überall gleich: in Korinth genauso wie im nicht weit entfernten Epidauros, in Pergamon genauso wie auf der Insel Kos. Gerade deshalb stehen die irdischen Diener des Asklepios, also seine Priester, im ständigen Konkurrenzkampf um die Klienten, die sie mit je besseren Erfolgsbilanzen anzulocken versuchen. Was die Menschen, die in den Asklepieien für längere Zeit den von religiösen Riten und therapeutischen Maßnahmen strukturierten Tagesrhythmus miteinander verbringen, zusammenschließt, ist die Hoffnung auf Genesung. Es handelt sich um eine räumlich und zeitlich begrenzte Lebensgemeinschaft mit Gleichgesinnten.32 Auch wenn sie die Stadt wieder verlassen, verbindet sie die gemeinsame Verehrung des Asklepios (f IX/2). Mysterienkulte und Heilkulte erscheinen als willkommene Möglichkeiten, um dem politischen wie religiösen Außendruck, wie er durch die römische Überfremdung über die griechischen Städte hereinbricht, ausweichen zu können bzw. innerhalb der erzwungen globalisierten, d. h. romanisierten Welt eigene kleine Welten zu bauen – und trotzdem durch gemeinsames Wissen bzw. durch einen gemeinsamen Glauben quer über das Römische Reich mit anderen vernetzt zu sein.

32 Im Blick auf den dauerkranken Rhetor Aelius Aristides, der viele Jahre seines Lebens im Asklepieion von Pergamon verbracht hat, spricht Klein (1981, 79) davon, dass er dort eine „esoterische Lebensgemeinschaft mit Gleichgesinnten“ gefunden habe.

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Schließlich wird eine weitere, typische Abwehrstrategie in Korinth sichtbar: Pausanias erwähnt an pointierter Stelle seiner Beschreibung das Grabmal des Diogenes: „… und am Tor ist Diogenes aus Sinope begraben, den die Griechen den ‚Hund‘ nennen“ (II 2,4).33 Diese Reminiszenz ist durchaus nicht pittoresk. Diogenes ist der Ahnherr der Kyniker, einer philosophischen Richtung, die in der Kaiserzeit ihr Revival erlebt. Signum speziell des kaiserzeitlichen Kynismus ist ein ausgesprochen herrschaftskritischer Zug.34 Dieser Drive hat auch die Vertreter der stoischen Philosophie erfasst, die allerdings weniger auf die unmittelbare Provokation (Kyniker) als auf die philosophische Konzeption setzen: Der ideale Stoiker ist Herr seiner selbst und zugleich Kosmopolit. Die Schule Epikurs, neben und mit der Stoa einflussreichste philosophische Richtung im 1. Jh., propagiert dagegen den Rückzug in das private Glück. Offensiven bzw. defensiven Umgang mit der römischen Machtpolitik könnte man diese Strategien nennen. Dass sie hier unter „Religion“ fallen, hat vor allem mit der Typisierung von Religion zu tun, wie sie im Modell der sogenannten theologia tripertita etwa ab dem 1. Jh. v. Chr. vorliegt.35 Danach werden drei Formen von Religion unterschieden: das genus civile ( "), womit der öffentlich praktizierte Stadt- bzw. Staatskult gemeint ist; das genus fabulare (!"), die Theologie der Dichter, wie sie in den Mythen zur Sprache kommt und ursprünglich in den Theatern in Szene gesetzt wurde. Und schließlich das genus naturale (φ"), die Theologie, wie sie von der Philosophie betrieben wird. Insbesondere die naturphilosophische Interpretation des griechisch-römischen Götterhimmels gab den Gebildeten eine Deutungsfolie an die Hand, die es ihnen ermöglichte, hinter den vielen Götternamen die eine göttliche Kraft und hinter dem Kult eine symbolische Verehrung des letzten Geheimnisses der Welt zu sehen – und sich daran zu beteiligen. In der Kaiserzeit bieten die unterschiedlichen Philosophien spezielle Denk-, Deutebzw. Verhaltensmuster an, um dem Machtanspruch des Römischen Reiches intellektuell reflektiert zu begegnen (f VIII). Mysterien-, Heilkulte und Philosophie haben im Blick auf die römische Expansionspolitik eines gemeinsam: Geographisch gesehen stellen sie eine Gegeneroberung dar, die zeitlich sogar im Vorteil ist. Als Rom beginnt, sich vom Westen aus nach Osten auszubreiten und Volk für Volk zu unterwerfen, sind Mysterien- und Heilkulte sowie Philosophie aus dem Osten schon längst Richtung Westen vorgedrungen und unterlaufen die römische Kultur. Generell sind Römer gegenüber allem, was aus dem Osten eingeführt wird, skeptisch – und können sich doch nicht dagegen wehren. So etwa im Fall des Gottes Asklepios. Als 292 v. Chr. in Rom eine große Seuche

33 Der kaiserzeitliche Kyniker Demetrios, mit dem Seneca befreundet war, wird zumindest literarisch mehrfach mit Korinth in Verbindung gebracht, nämlich von Lukian (Indoct 19) und Philostrat (Vit Ap IV 25); vgl. Billerbeck (1979, 51–53). 34 Nicht wenige der Kyniker haben ihre offen geäußerte Kritik am Kaiser mit Verbannung bzw. mit ihrem eigenen Leben bezahlt. 35 Locus classicus ist das Varro-Zitat bei Augustinus, CivD VI 5: Tria genera theologiae … esse, id est rationis, quae de diis explicatur, eorumque unum mythicon appellari, alterum physicon, tertium civile … Mythicon appellant, quo maxime utuntur poetae; physicon, quo philosophi; civile, quo populi. Vgl. Essbach (2008); Klauck (2007); Rüpke (1999, 14–19); Lehmann (1997, 193–225); Dihle (1996).

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herrscht, raten die sibyllinischen Bücher, sozusagen das prophetische Nachschlagewerk in Rom (f IX/1.5), den Heilgott Asklepios aus Epidauros in Griechenland in Form einer heiligen Schlange nach Rom zu bringen. Nicht anders ging es mit der Großen Mutter (205 v. Chr.). Auch in diesem Fall bewirkte die Prophezeiung der sibyllinischen Bücher, Hannibal werde italischen Boden erst endgültig verlassen, wenn die kleinasiatische Muttergöttin Kybele aus Pessinus (in Galatien) nach Rom gebracht würde, eine Initialzündung: Man fragte bei König Attalos von Pergamon an, die Göttin, die in Gestalt eines schwarzen Meteorits in dessen Gebiet „residierte“, nach Rom einholen zu dürfen. Auch die Philosophie in ihren unterschiedlichen Schattierungen ist ein unfreiwilliger Bildungsimport aus dem Osten. Zunächst waren es die griechischen Hauslehrer, oft im Stand von Sklaven, die – selbst aus Griechenland kommend – den „besseren Söhnen“ Roms griechische Philosophie beibrachten. Bis ins 2. Jh. n. Chr. hinein bleibt – auch in Rom – das Griechische die Sprache der Philosophie. Epiktet (50–135 n. Chr.), ein in Rom zum philosophischen Lehrer ausgebildeter Sklave, hält seine Vorlesungen durchweg in Griechisch. Alles, was von seinem Lehrer Musonius, auch „römischer Sokrates“ genannt, erhalten geblieben ist, ist ebenfalls in Griechisch zu lesen. Cicero war der erste, der versucht hat, griechische Philosophie ins Lateinische zu übersetzen. Er hat mit entsprechend massiven Vorbehalten zu kämpfen. Im Proömium seines Traktats „Vom Wesen der Götter“ schreibt er: Und nun bereue ich mein Beginnen um so weniger, als ich mit Leichtigkeit sehe, wie vieler Männer Eifer ich damit entfacht habe, diese Probleme nicht nur kennen zu lernen, sondern auch schriftlich zu behandeln. Denn eine ganze Reihe hatte zwar griechischen Sprachunterricht genommen, sie konnten aber ihre Landsleute an ihren erlernten Kenntnissen nicht teilhaben lassen, weil sie glaubten, das von den Griechen empfangene Gut könne in lateinischer Sprache nicht wiedergegeben werden; in diesem Punkte haben wir es meiner Meinung nach aber soweit gebracht, dass uns die Griechen nicht einmal mehr in ihrer reichen Terminologie übertreffen (Nat Deor I 8).

Griechische Philosophie in römischen Häusern und römische Magistrate in griechischen Städten, östliche Gottheiten in Rom und der Kaiserkult in den Städten des Ostens – damit lassen sich die strukturellen Veränderungen plakativ markieren, die abschließend in ein Gesamtbild eingetragen werden sollen, das zugleich den Aufriss für die folgenden Kapitel darstellt.

7. Die neue „mittlere Ebene“ in Kult, Politik und Bildung Die alte Zuordnung von Stadt und Haus wird durch die politische Vormachtstellung Roms um eine „globale Ebene“ überhöht. Das wiederum evoziert die Ausbildung einer neuen, „mittleren Ebene“, die – wie Stadt und Haus – auf drei Pfeilern ruht: auf Kult, Politik und Bildung. Die prominente politische Institution auf Stadtebene ist die Ekklesia, und zwar in ihrer ursprünglichen Funktion als Entscheidungsorgan. Auf der Hausebene übernimmt diese Funktion der pater familias. Im Haus verfügt er seine Entscheidungen. Als Repräsentant des Hauses berät er in der Ekklesia und

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stimmt ab. Tempelkult und Hauskult sind ursprünglich analog. Den Stadtheroen bzw. Schutzgottheiten auf Stadtebene entsprechen die Laren auf der Hausebene. Die Säule Bildung führt auf Stadtebene zur Institution des Gymnasions. Es ist prinzipiell nur für Söhne von freien Bürgern geöffnet. Hier werden also die zukünftigen Entscheidungsträger der Stadt rekrutiert (f II/4.4).36

Die Veränderungen, die dadurch ausgelöst werden, dass Rom in den griechischen Osten vordringt, lassen sich mit drei Stichworten kennzeichnen: (1) Politische Entmachtung: Die ehemals autarken und voneinander unabhängigen Städte (gleiches gilt für die selbständigen Königreiche) verlieren ihre Entscheidungsfreiheit, jedenfalls hinsichtlich ihrer außenpolitischen Kompetenz. Damit haben die Volksversammlungen ihre Funktion verloren. Auf Stadtebene werden entweder römische Magistrate eingesetzt oder einheimische Aristokraten, die bereit sind, mit Rom einvernehmlich zusammenzuarbeiten. Entscheidend für Rom ist die überregionale Provinzverwaltung, der ein von Rom eingesetzter Statthalter vorsteht. Die einzig etablierte überregionale Zusammenkunft verschiedener Städteabordnungen, das sogenannte Koinon, auf dem die Städte miteinander kooperierten bzw. Bündnisse eingingen, wird von Rom zur zentralen Kommunikationsinstanz umfunktioniert (Edelmann-Singer 2011). Der „Provinziallandtag“ trifft sich unter Vorsitz des neu eingerichteten Amts eines Kaiserpriesters ($*« = Hoherpriester). Es geht nicht um Beratung, sondern um Absegnung römischer Beschlüsse. Insgesamt dient die Veranstaltung der Loyalitätsbezeugung gegenüber dem Kaiser, symbolisch zum Ausdruck gebracht im Kaiserkult. (2) Religiöse Entmachtung: Wie am Beispiel Korinths zu sehen war, bekommt der Kaisertempel in der Architektur der Stadt eine dominierende Stellung. Anstelle der Lokalgottheiten ziehen die olympischen Götter ein. Was in Korinth auf die gestaltende Hand Roms selbst zurückgeht, kann in an36 Dabei wird „Bildung“ () verstanden im Sinn von Erziehung durch die griechische Polis als Staats- und Lebensform (Kloft 2010, 49). Die schulische Ausbildung der Kinder, die zunächst die basalen Kulturpraktiken wie Schreiben und Lesen vermittelt, sodann die Kenntnis der klassischen Traditionen Griechenlands, also der Epen Homers, die Bibel Griechenlands (Sandnes 2009, 40–58), und der bekanntesten Dramen, kurz: der Elementarunterricht (Sänger 2005), kann zwar im Areal eines Gymnasions stattfinden, hat aber mit der Institution Gymnasion nichts zu tun. Er muss von den Eltern über Privatlehrer organisiert werden, Stiftungen für kostenlosen städtischen Unterricht sind ganz selten (Scholz 2007, 107).

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deren Städten, etwa in Pergamon oder Caesarea Maritima, von der Stadt bzw. von der Hand des jeweiligen Landesherrn im Sinn einer Anbiederung an Rom initiiert werden. (3) Ausbildungsentmachtung: Die Gymnasien, ehemals zur Rekrutierung der städtischen Elite gedacht, werden zu Thermen (f II/4.4). Sich dort zu treffen ist ein gesellschaftliches Ereignis. Zwar mögen noch Privatlehrer ihre Dienste dort anbieten; die körperliche Ertüchtigung, sofern sie überhaupt noch stattfindet, dient eher den Fitnessbestrebungen der „Saunabesucher“. Die Komponente „städtisches Sozialtraining“ haben die Gymnasien verloren. Die zukünftige römische Elite wird im Heer rekrutiert. Wer dort einsteigen will, muss in einer der vielen Auxiliartruppen, die auch Nicht-Römern offen standen, seinen Aufstieg versuchen. So viel ist gewiss: Nach 25 Dienstjahren erhält er das römische Bürgerrecht und darf sich als Veteran in einer der Kolonien ansiedeln (Bleicken 1994, 42–44). Die Leerstellen, die sich durch die römischen Entmachtungen auf der städtischen Ebene ergaben, wurden zum Teil dadurch kompensiert, dass sich eine neue „mittlere Ebene“ entwickelt hat. Für die politische Säule sind an erster Stelle die Vereine zu nennen (f VI). Für sie ist unter der Römerherrschaft eine neue Blütezeit gekommen.37 In den Vereinen werden politische Entscheidungsmechanismen praktiziert, die auf der offiziellen Stadtebene nicht mehr erlaubt sind. Der Verein wird zur Ekklesia im Kleinen. Hier herrscht prinzipielle Gleichheit aller, Wahl der Beamten, wenn nicht sogar Rotation der Ämter, Rechenschaftspflicht der Amtsträger sowie gemeinsamer Beschluss aller wichtigen Entscheidungen. Der Verein wird damit zu einer Rückzugs-Spielwiese für die verloren gegangene politische Selbständigkeit der Stadt. Allerdings haben die Vereine auch typische Kennzeichen des Hauses bzw. des städtischen Kultes an sich gezogen. Anlass der Vereinstreffen sind durchweg gemeinsame Symposien. An ihrem Beginn steht gewöhnlich als Kultakt ein Opfer. Normalerweise gruppieren sich Vereine um eine Gottheit, sei es eine Lokalgottheit der jeweiligen Stadt oder eine Gottheit, die mit der speziellen Zielsetzung des Vereins zu tun hat, etwa Dionysos. Für die Säule Kult sind auf der mittleren Ebene die Mysterien- bzw. Heilkulte zu nennen, es wären aber auch Orakel bzw. die Magie anzuführen (f IX). Für alle diese Bereiche ist typisch, dass sie sich nicht – wie der Stadtkult – auf kultische Regularien beschränken, sondern Lebensberatung im kultischen Rahmen durchführen. Im Fall der Mysterien- und Heilkulte gehören die Mitglieder in unterschiedlicher persönlicher Nähe und zeitlicher Dauer der Gruppierung an, im Fall der Orakel bzw. der Magie handelt es sich um eine individuelle Kurzzeitberatung. Was die Säule Bildung angeht, ist auf der mittleren Ebene die Philosophie in ihren unterschiedlichen Richtungen zu nennen. Auch hier geht es um Lebensberatung, in diesem Fall allerdings unter Aufarbeitung der Bildungstraditionen, formal durch Vorträge bzw. Rundbriefe. Anders als in den ehemaligen Gymnasien ist nicht die Rekrutierung des städtischen Elite-Nachwuchses das Ziel, sondern es geht um die Entscheidung für eine bestimmte persönliche Formierung angesichts der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine freiwillige Anhän-

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Die erste Blütezeit war am Anfang des Hellenismus, also unter dem Vordringen der Diadochen.

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gerschaft, die bei den Stoikern stärker auf den philosophischen Lehrer hin, bei den Epikureern stärker auf die Gemeinschaft untereinander ausgerichtet ist. Wie für die Mysterien- und Heilkulte, Orakel und Magie ist auch für die Philosophen die geographische oder zumindest geistige „Randlage“ kennzeichnend – und zwar im Blick auf das globale Zentrum Rom: 89 n. Chr. werden die Philosophen aus Rom ausgewiesen. Epiktet zieht sich daraufhin nach Nikopolis auf die andere Seite der Adria zurück und bildet dort sozusagen ein Außenzentrum für die Söhne reicher und mächtiger römischer Aristokraten. Athen bleibt nach wie vor das kulturelle Zentrum der Alten Welt – eine Art ideelles Pendant zur Militär- und Rechtszentrale Rom. Nach wie vor fungiert das Haus als Basisinstitution. Oft ist es der natürliche Ausgangspunkt für einen Verein, einen Mysterienkult oder einen philosophischen Zirkel. Auf die mittlere Ebene ist die jeweilige Gruppierung dann zu heben, wenn sie sich nicht mehr in einem Haus, sondern in einem eigenen Lokal, im Fall des Vereines: einer  , trifft. Allerdings bleibt die überregionale Ebene, also die Globalisierungstendenz Roms, eine ständige Versuchung. Auf der städtischen Verwaltungsebene winken all denjenigen, die bereit sind, entgegenkommend mit Rom zusammenzuarbeiten, Aufstiegschancen und Ehrungen. Sie werden mit wichtigen Posten betraut und können, sozusagen als Honorierung dieser Zusammenarbeit, mit dem römischen Bürgerrecht ausgezeichnet werden. Das gilt zunächst für Einzelne aus der städtischen Oberschicht, kann aber auch größeren Gruppen zugute kommen und dann auf die ganze Stadt abfärben: Wird eine Stadt in den Status einer „latinischen Stadt“ erhoben, erhalten alle ehemaligen Beamten, ab Kaiser Hadrian sogar alle Ratsherren das römische Bürgerrecht. Diese Vertrauensprämie ist mit handfesten Vorteilen verbunden, die den römischen Bürger aus der Masse der von Rom Unterworfenen (peregrini/Fremde bzw. provinciales/Provinziale) herausheben.38 Er genießt Steuerfreiheit, präziser: Er muss weder Kopf- noch Bodensteuer zahlen, die all jenen auferlegt wird, die nach der Eroberung ihres Landes – so die römische Rechtskonstruktion – als Pächter auf jetzt römischem Areal einen entsprechenden Tribut an Rom zu leisten haben.39 Auch strafrechtlich waren römische Bürger deutlich besser gestellt: Kapitalprozesse gegen Bürger durften nur in Rom durchgeführt werden. Kein Provinzstatthalter hatte das Recht, einen römischen Bürger zum Tod zu verurteilen, nur ein kaiserliches Gericht. Davon macht Paulus nach Apg 28,19 Gebrauch (Bleicken 1989, 314 f.).40

Vgl. dazu die Überlegungen in Mt 17,24–27. Vgl. dazu das Diktum von Cicero: „Unsere Steuereinnahmen und Provinzen sind gleichsam die Landgüter des römischen Volkes“ (Verr II 7). 40 Dass die gesamte Bürgerschaft mit dem römischen Bürgerrecht ausgezeichnet und damit in den Rang einer „römischen Stadt“, eines municipiums erhoben wird, bleibt auf den Westen des Reiches beschränkt. Der höchste Status war der einer „Kolonie“ (vgl. Korinth), der mit der Neuansiedlung von römischen Bürgern verbunden ist, im 2. Jh. aber auch titular verliehen werden kann, z. B. für Antiochia am Orontes, der Provinzhauptstadt von Syrien. 38 39

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Auch der „kleine Mann“ kann von der „Übermacht“ Roms profitieren. Ganz unabhängig davon, ob er freier Bürger einer Stadt ist oder nicht, steht ihm die Möglichkeit offen, ins römische Heer einzutreten und dort – an den starren Strukturen der städtischen Welt vorbei – sein Glück zu versuchen. Sollten die einheimischen Gerichtsinstanzen, die Rom für innerstädtische Angelegenheiten toleriert, unangenehme Urteile fällen, hat zumindest der freie Bürger Appellationsmöglichkeit an den Provinzstatthalter oder sogar an den Kaiser selbst (Meeks 1993, 30). Auch die Vereine stehen vor der Entscheidung, ob sie mit Verehrung ihrer „alten“ Gottheiten dem Lokalpatriotismus huldigen oder sich mit einem Opfer für den Kaiser in die überregionalen Strukturen einklinken. Im Blick auf den Handel brachte das allergrößte Vorteile. Denn die großen Wirtschaftsaufträge, die zur Sicherstellung der Verpflegung Roms nötig waren, hat der Kaiser selbst in Auftrag gegeben. Kurz: Das Vordringen Roms in den Osten bringt Bewegung in die Städte. Die einen träumen von global vernetzter Zukunft und bisher nicht denkbaren Aufstiegschancen im römischen System, die anderen ziehen sich in kleine Zirkel zurück, in denen die verloren gegangene städtische Autarkie in engen Grenzen praktiziert werden kann oder es möglich ist, auf lokaler Ebene eine neue Heimat zu finden – und sich „in der Lehre“ bzw. „im Glauben“ mit anderen Gruppen in anderen Städten global vernetzt zu wissen.

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8. Und die Christen? Wenn die ersten Christen in den Städten des Römischen Reiches Fuß fassen wollten, dann mussten sie sich in die skizzierte Gemengelage buchstäblich einschreiben. Die Stadt bildet den Referenzrahmen, innerhalb dessen Christen ihre eigenen Identitätsstrukturen auszubilden hatten. Zwei Ebenen lassen sich unterscheiden: die Sozialdimension, sie betrifft das Verhalten; und die Sachdimension, sie betrifft die Versprachlichung der wesentlichen Inhalte, die das Christentum ausmachen. (1) Sozialdimension: Die Alltagswirklichkeit der antiken Städte fordert zu vielen Entscheidungen heraus: Wie verhalten sich Christen gegenüber dem städtischen Kult? Gehen sie z. B. in Ephesus bei der monatlichen Prozession mit, bei der die Stadt ihre griechische Identität mit ihrer Stadtgottheit Artemis gegenüber der römischen Vorherrschaft zur Schau stellt?41 Oder: Wie verhält sich ein Christ, sei es ein Großhändler oder ein einfacher Handwerker, wenn in seinem Verein das Götteropfer dargebracht oder gar dem Kaiser geopfert wird? Soll er sich verweigern, gar protestieren, oder einfach teilnehmen und sich dabei denken: Ist doch alles Humbug! Es gibt nur einen einzigen Gott (vgl. 1Kor 8,4)! Beide Alternativen werden von Christen vertreten, oft innerhalb der gleichen Gemeinde. Das Buch der Offenbarung ist ein besonders unerbittliches Zeugnis dieses Streits um das „richtige“ Verhalten, der unter Christen geführt wird. Christen haben sich offensichtlich mit unterschiedlichen Verhaltensweisen in den Alltag der Städte eingeklinkt – und ihre Option als christlich verteidigt. (2) Sachdimension: Christen haben keine neue religiöse Sondersprache entwickelt, sondern zunächst bei den Begriffen und Vorstellungen angeknüpft, die ihnen aus der Welt ihres Alltags bekannt waren. Auch in diesem Fall bildet die „Stadt in Bewegung“ einen wichtigen Referenzrahmen, innerhalb dessen Christen versuchen müssen, sich als eigenständige Gruppe zu entwerfen und vor anderen zu präsentieren. Christentum entsteht im Austausch mit den religiösen, politischen und kulturellen Vorgaben der griechisch-römischen Antike. Dadurch, dass vorhandene Ausdrucksformen adaptiert und akzentuiert werden, entsteht eigene Profilierung.42 Umgekehrt gilt: Wie Christen sich verhalten und was Christen über sich selbst und ihre Überzeugungen äußern, wird – das ist unumgänglich – in den Städten der römischen Welt zunächst innerhalb dieses Referenzrahmens verstanden und rezipiert. Diesem Referenzrahmen, der sowohl den Horizont für die Evaluierung christlichen Verhaltens als auch für das Verstehen der christlichen Botschaft in ihren unterschiedlichen Optionen bildet, wollen wir gemäß dem vorgestellten Raster in den folgenden Kapiteln im Einzelnen nachgehen.

Vgl. IvEph 27; und dazu Rogers 1991. Insofern ist der Behauptung von Auffarth (2003, 23) nur bedingt zuzustimmen: „Die Frage nach dem Proprium des Christentums wird weder der Inkulturation des antiken Christentums gerecht noch dem Christentum in der modernen Welt.“ 41

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Literatur

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Architektur, Politik und Kultur der Stadt

II. Architektur, Politik und Kultur der Stadt In der römischen Kaiserzeit benötigt man weder eine Landkarte, um eine bestimmte Stadt zu finden, noch einen Stadtplan, um sich innerhalb der Stadt orientieren zu können, egal ob sie im Osten oder im Westen des Imperium Romanum liegt. Denn die Städte der Römerzeit sind – im Prinzip – überall gleich angelegt. Um den Weg in eine Stadt zu finden, braucht man nur den großen römischen Straßen zu folgen, die das gesamte Reich durchziehen. An ihnen sind die Städte wie Perlen an einer Kette aufgereiht. Meilensteine, in (mehr oder weniger) regelmäßigen Abständen von je 1000 Doppelschritten (milia passuum = 1481 m) gesetzt, geben Auskunft über den Erbauer – ab der Kaiserzeit wird gewöhnlich der jeweilige Kaiser als Erstinstanz genannt – und den Ausgangspunkt der Straße (caput viae). Innerhalb Italiens ist das immer Rom, in den Provinzen meistens die Provinzhauptstadt (Kolb 2004; Eck 2007, 75–79). Lange bevor man in eine Stadt kommt, sind in der Landschaft Signale der Besiedlung zu erkennen. An erster Stelle sind die Aquädukte zu nennen, eine ausgesprochene Spezialität der römischen Architektur. Mit Hilfe dieser „Wasserbrücken“ gelang es, Quellwasser in Wasserleitungen unabhängig von der jeweiligen Geländeformation auf dem kürzesten Weg in die entsprechende Stadt zu führen.1 Kommt man näher an die Stadt heran, tauchen Nekropolen auf (Hesberg/Zanker 1987). Innerhalb des Stadtgebiets wurden nur ganz bedeutende Persönlichkeiten, etwa Könige oder als Heroen verehrte Mitbürger, bestattet. Bei der Auswahl der Nekropolen suchte man ganz bewusst die Nähe zu verkehrsreichen Straßen, um auch den Toten die als ehrenvoll empfundene Aufmerksamkeit zu verschaffen (vgl. Cic., Att XII 19). Aufwändige Grabbauten säumten oft links und rechts die Einfallstraßen und wandten sich mit ihren Reliefs und Grabepigrammen unmittelbar an die Vorübergehenden (Kolb/ Fugmann 2008). Fremden sollte schon beim Hineingehen in die Stadt vor Augen geführt werden, welche berühmten Familien hier das Sagen haben und welchen Persönlichkeiten die Stadt ihre heutige Pracht verdankt. Hat man schließlich auf einer derartigen Gräberstraße eines der Stadttore erreicht,2 braucht man nur, egal aus welcher Richtung man gekommen ist, dieser 1 Für die ausgeklügelte Wasserversorgung in Pergamon vgl. Radt (1999, 147–158). Um den Wasserdruck zu erreichen, der notwendig war, um diese „Stadt auf dem Berg“ zu versorgen, leitete man das Wasser aus 40 bzw. 45 km Entfernung in die Stadt. Zur Überwindung langer Strecken oder Talsenken nutzte man in hellenistischer Zeit Druckwasserleitungen; in römischer Zeit wurden imposante Aquädukte gebaut. In die Stadt Karthago hinein führte ein 132 km langer Aquädukt. 2 Gerade in den ersten beiden Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit wurden die Befestigungsanlagen stark vernachlässigt bzw. als Steinbruch benutzt. Rom selbst war in der Kaiserzeit eine offene Stadt. Erst die Bedrohung durch die Germaneneinfälle führte unter Kaiser Aurelian (270–275 n. Chr.) zum Bau einer riesigen Mauer. Ob eine Stadt in der Kaiserzeit also Türme und Mauern hat, hängt damit zusammen, ob ihre Befestigung aus früheren Zeiten noch erhalten geblieben ist.

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Abb. 3: Der Stadtplan von Timgad (nach Owens 1991, 135).

Straße zu folgen, bis sie auf eine andere breite Straße trifft – und schon steht man im Zentrum der Stadt: auf der Agora bzw. dem Forum, so die griechische bzw. römische Bezeichnung des „Marktplatzes“ (f 4.4). Dort finden sich auch die wichtigsten Tempel und die entscheidenden städtischen Verwaltungsgebäude. Dieses Zentrum liegt im Achsenkreuz der beiden Hauptstraßen. Alle weiteren, kleineren Straßen sind parallel dazu angeordnet, so dass ein quadratisches Straßengitter entsteht. Geradezu idealtypisch ist das der Fall für Thamugadi/Timgad in Nordafrika (Abb. 3), gilt aber prinzipiell genauso für Damaskus in Syrien3 oder Caesarea Maritima, der von Herodes d. Gr. erbauten Hafenstadt an der Westküste Palästinas. Sogar das tausendjährige Jerusalem wurde von den Römern mit einem axialen Grundmuster durchzogen. Auf der Karte von Madeba (2. Hälfte des 6. Jh.) ist eine der beiden Hauptstraßen – auf beiden Seiten von Kolonnaden gesäumt – ganz deutlich erkennbar. An der Stelle des Forums ist die Eingangshalle der von Konstantin erbauten Grabeskirche zu sehen. Moderne Autoren haben sich angewöhnt, in leicht abfälligem Tonfall über diese Uniformität zu reden: „Kein Mensch, der plötzlich vom Himmel, sagen wir, auf die Straße von Damaskus gefallen wäre, hätte sagen können, ob er nicht etwa in Philadelphia oder Bostra oder Antiochia sei. Das Stadtbild von Lambaesis, Sufetula, Uco3 Gemäß Apg 9,11 wird Paulus bei seiner Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus in die Straße geschickt, „die man die Gerade nennt“, also offensichtlich in eine der beiden Achsenstraßen der Stadt.

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bis usw. muß genauso monoton gewesen sein, wie heute das von Denver oder Winnipeg“. Oder kurz und prägnant gesagt: „Wer eine Stadt gesehen hatte, hatte alle gesehen“.4 Ganz anders urteilen antike Autoren, jedenfalls wenn sie vor dem Kaiser sprechen. So etwa der aus Smyrna in Kleinasien/Ionien stammende Redner Aelius Aristides in seiner sogenannten Romrede, die er im Frühjahr des Jahres 143 vor Kaiser Hadrian und dessen Gefolge gehalten hat. Aristides gerät geradezu ins Schwärmen, wenn er an die römischen Städte denkt. Die Großreiche zuvor, sagt er ein wenig überschwänglich, hätten gewissermaßen nur über „nackte Volkskörper“ geherrscht, die Römer aber hätten dagegen die beherrschte Welt mit Städten geschmückt und damit Kultur gebracht: Wann gab es denn eine solche Zahl von Städten auf dem Festland und am Meer, oder wann wurden sie so vollkommen ausgestattet? Wer konnte in der Vergangenheit so reisen, dass er die Städte nach Tagen zählte, ja manchmal am gleichen Tag zwei oder drei durcheilte wie Stadtviertel? … Daher könnte man sagen, jene seien gleichsam Könige über leeres Land und Kastelle gewesen. Ihr allein dagegen Herrscher über Städte. Nun blühen alle Griechenstädte unter euch auf, und die Weihgeschenke in ihnen … Vollgefüllt sind die Küsten, die Regionen am Meer und im Binnenland mit Städten, die ihr gegründet habt oder die unter euch und von euch gefördert wurden. Ionien, einst viel umkämpft, jetzt frei von Besatzungen und Satrapen, steht allen als Vorbild der Schönheit vor Augen … Und jeder andere Streit ist den Städten fremd geworden, nur der eine Ehrgeiz beherrscht sie alle, jeweils als schönste und einladendste zu erscheinen. Alles ist voll von Gymnasien, Brunnenhäusern, Propyläen, Tempeln, Kunsthandwerk und Bildungsstätten. Mit einem treffenden Vergleich kann man sagen, der seit Anbeginn leidende Erdkreis sei gesundet. Der Strom der Vergünstigungen, der von euch an die Städte fließt, hört niemals auf … Rauchsignale und Feuerzeichen von Freund und Feind sind verschwunden, als hätte ein Hauch sie ausgelöscht … an ihre Stelle sind getreten die Anmut von Schauspielen aller Art und Wettkampfveranstaltungen in unbegrenzter Zahl … Deshalb verdienen nur diejenigen Mitleid, die außerhalb eurer Herrschaft stehen – wenn es irgendwo noch welche gibt –, weil sie von solchen Vorteilen ausgeschlossen sind … (26,93–99).

1. Die römische Stadt und das römische Standlager Die römischen Städte ähneln deswegen wie ein Ei dem anderen, weil sie nach dem Vorbild der römischen Legionslager (castra) strukturiert sind. Der Idealplan eines solchen römischen Militärlagers wird durch den griechischen Feldherrn und Geschichtsschreiber Polybius (Mitte 2. Jh. v. Chr.) ausführlich beschrieben (VI 27–31). Diverse Ausgrabungen haben trotz aller Variationen im Einzelnen, die vor allem mit der konkreten Geländeformation vor Ort zusammenhängen, bestätigt, dass bestimmte Grundvorstellungen bei der Anlage eines Lagers leitend sind: Über das etwa quadratisch angelegte, von Grenzwällen umgebene Lager sind zwei Achsen gelegt, die als Hauptstraßen fungieren. Nach außen führen sie zu den vier Toren, in ihrem Schnittpunkt innerhalb des Lagers treffen sie auf die sogenannte principia, das 4 Vgl. Kahrstedt (1926, 62) bzw. Bleicken (1994, 32). Auf die Variabilität verweist zu Recht Kolb (2005, 204 f.).

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Die römische Stadt und das römische Standlager

1 principia 2 praetorium 3 centuriae 4 valetudinarium 5 horrea 6 stabulae 7 via praetoria 8 via principalis 9 via quintana 10 via decumana Abb. 4: Plan eines römischen Militärlagers (Kastell Künzing/Niederbayern) (nach Martin 1994, 128).

administrative und religiöse Zentrum des Lagers. Es bestand aus einem zur Straßenseite hin offenen Hof, oft von einem Säulenumgang umgeben; dahinter lagen verschiedene Räume: das Fahnenheiligtum (aedes signorum), in dem die Feldzeichen aufbewahrt wurden, das Waffenlager und verschiedene Verwaltungsräume. In nächster Nähe zur principia befand sich das Wohnhaus des Kommandeurs (praetorium) sowie weitere Häuser für die Offiziere. Ein Krankenhaus (valetudinarium) sowie Getreidespeicher (horreae) konnten sich anschließen. Der Rest des Lagers gliederte sich in Mannschaftsbaracken (centuriae), die in strenger Regelmäßigkeit der axialen Grundstruktur eingepasst waren (Abb. 4). Schaut man sich nun den Stadtplan von Timgad in Nordafrika an (Abb. 3), ist die strukturelle Parallelität zum Aufbau eines römischen Militärlagers mehr als verblüffend. Erneut sticht die axiale Grundstruktur in die Augen. Allerdings führen die beiden Hauptstraßen an ihrem Schnittpunkt nicht zur principia, sondern zum Forum, also zum Marktplatz der Stadt. Anstelle der Waffenlager finden sich dort eine Reihe von Geschäften, anstelle des Fahnenheiligtums ein kleiner Tempel, anstelle der Wohnhäuser von Kommandanten und Offizieren die curia/Rathaus und anstelle der

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centuriae/Soldatenbaracken Wohneinheiten für die Bevölkerung, die insulae genannt werden. Es musste also nur die Funktion der vorgegebenen Architekturelemente verändert werden, um eine Soldatenstadt, in der ungefähr 5000 Männer untergebracht waren, sofern es sich um den Standort einer gesamten Legion handelte, in eine Zivilistenstadt zu transformieren. Timgad hatte etwa 10 000–15 000 Einwohner und wurde 100 n. Chr. von Kaiser Trajan als Colonia Marciana Traiana Thamugadi als „Ruhesitz“ für Veteranen der dritten Legion gegründet. Damit ist einer der wesentlichen Gründe für die Parallelität zwischen römischen Lagern und römischen Städten in der Kaiserzeit genannt: Gerade diejenigen römischen Städte, die in ihrem Grundriss dem Plan eines Militärlagers eins zu eins entsprechen, sind von vornherein als Veteranenstädte konzipiert.5 Sie reduplizieren das Wohnmuster aus der aktiven Militärzeit. Viele dieser Veteranenstädte werden, wie Timgad, im Grundriss eines Lagers neu gebaut. Andere entstehen aus einem ehemaligen Standlager, das dann als Zivilistenstadt weiterverwendet wird (so Köln). Oder es werden Zivilsiedlungen (vici), die im Schutz eines römischen Militärlagers entstanden sind, sekundär zur Stadt ausgebaut (so Xanten). Auch von den Römern zerstörte Städte, wie etwa Karthago oder Korinth, können als Basis für die Neugründung einer Veteranenstadt dienen (f I/5).6 Je nach Vorgaben des Geländes und dem bestehenden Bebauungsplan bzw. dessen Überresten kann der Idealtyp der Lagerstadt mit unterschiedlicher Stringenz realisiert werden. Wurden während der römischen Republik Stadtgründungen außerhalb Italiens aus herrschaftspolitischen Gründen verhindert, so wurde diese Siedlungspolitik ab Caesar vehement betrieben (Bleicken 1994, 17.38). Damit konnte ein Doppelziel erreicht werden. Einerseits wurden die Veteranen für ihren Militärdienst durch Grund und Boden sowie Kapital für den Hausbau entschädigt. Andererseits konnte auf diese Weise ein Netz mit eindeutig römisch geprägten Zentren über das gesamte Reichsgebiet gelegt werden. Der römische Architekturstempel zeigt sich am Achsenkreuz der Hauptstraßen, in deren Zentrum das Forum situiert ist. Im Lager werden diese beiden Achsenstraßen funktional benannt: Die Hauptstraße, die an der Front der principia vorbeiführt, heißt via principalis, die andere, die pfeilgerade auf die principia zuführt, via praetoria. Für die Straßen der Stadt werden Bezeichnungen übernommen, die ursprünglich aus der Kosmologie stammen: decumanus für die Ost-West-Achse und cardo für die Nord-Süd-Achse. In der konkreten Stadtplanung wird die Ausrichtung allerdings den jeweiligen topographischen Gegebenheiten angepasst. Gemäß dem römischen Ordnungssystem wird die Hauptstraße einer Stadt, die gewöhnlich zugleich in der Linie der Hauptverkehrsader zu den nächsten großen Städten liegt und aufs Forum stößt, decumanus maximus genannt (15–30 m breit), die andere Achsenstraße, die am Forum vorbeiführt, cardo maximus (7–8 m breit). Alle weiteren Straßen (etwa 2,50 m breit) im Abstand von 60–70 m werden nüchtern arithmetisch durchgezählt, also: erste/zweite usw. links oder rechts vom decumanus bzw. erste/zweite usw. oberhalb bzw. unterhalb des cardo.

Dazu gehören Augusta Praetoria (Aosta), Camulodunum (Colchester), Xanten und Timgad. Für die hellenistische Zeit unterscheidet Mileta (2009, 82–87) folgende Typen: Indigenen-Polis (politische Umstrukturierung), Militärsiedler-Polis (Umgründung von Militärkolonien) und Retorten-Polis (völlige Neugründung). 5 6

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2. Kleine Stadtgeschichte Das ausgeklügelte System der römischen Stadt speist sich aus vielen Quellen. Schon im chaldäischen Babylon werden die beiden nahezu quadratisch angelegten Stadtteile rechts und links des Euphrats durch die rechtwinklig verlaufenden Hauptstraßen gegliedert. Aber innerhalb der einzelnen Wohnviertel herrscht eine agglutinierende Bauweise, d. h. die Hauskomplexe bestimmen die Straßenführung und nicht umgekehrt. Die griechischen Städte Kleinasiens dagegen weisen streng und völlig gleichförmig gegliederte Häuserreihen auf (insulae), lassen aber die auffällig herausgehobenen, axial verlaufenden Hauptstraßen vermissen. Weitere Analogien ließen sich aufzählen. Ob tatsächlich eine Beeinflussung vorliegt, und auf welchen Wegen sie geschehen sein kann, ist in der Forschung nach wie vor äußerst umstritten und auch schwierig nachweisbar. Ziel dieser Darstellung ist, einzelne typische Elemente des Städtebaus in ihrem Entstehungskontext zu skizzieren und auf diesem Wege die ursprüngliche Motivation bzw. Funktion zu beleuchten und eine evtl. unterschiedliche Intention bei der Übernahme in die römische Konzeption herauszuarbeiten.7 2.1 Von der Burgstadt zur Bürgerstadt Ein erster entscheidender Shift in der abendländischen Städtebauentwicklung ist der Weg von der Burgstadt zur Bürgerstadt. Tiryns und Mykene auf der Pelopones in Griechenland sind Burgstädte. Die „Stadt“ ist der Wohnraum des Aristrokraten, der die Gegend beherrscht und dem sie gehört. Sein Palast, seine Vorratskammern und Verwaltungsgebäude werden von einer Mauer umschlossen. Dieser Komplex bildet die „Akropolis“, eben die Burgstadt, die meistens auch auf einer strategisch klug gewählten Anhöhe liegt. Dass es um diese Burgstadt herum auch eine „Unterstadt“ mit vielen kleinen Häusern gibt, wird oft überhaupt nicht wahrgenommen – sofern in diesem Bereich überhaupt Ausgrabungen stattgefunden haben, die uns die Wohnkultur der einfachen Leute vor Augen führen. Ein grundsätzlich anderes Stadtbild tritt uns ab dem späten 8. Jh. v. Chr. entgegen: ohne einen Palast im Zentrum der Bebauung wie in Tiryns oder Mykene und auch ohne optisch hervorgehobene Tempelstadt wie etwa in Athen, wo alle entscheidenden Tempel der Stadt auf der Akropolis liegen.8 Typisch für diese neuen Städte ist die gleichmäßige Bebauung in einem rechtwinklig angelegten Straßenraster. Die einzelnen Wohninseln bestehen aus langen Streifen (strigae), in denen jeweils zwei Reihen von Häusern sozusagen mit dem Rücken aneinander liegen und Zugang auf die zum Teil schmalen Durchgangsstraßen (  ) haben. Mehrere ausgesprochen breite Straßen (9–22 m:  () gliedern die Wohnbezirke und separieren sie zu-

7 Im Folgenden greife ich auf Kompendien zurück (Kolb 1984; Stambaugh 1988; Owens 1991; Mertens 2006) und dokumentiere nur Einzelfragen. 8 Auch in Babylon liegen der Palast des Herrschers und die Tempelburg (Zikkurat) im Zentrum der Stadt.

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Abb. 5: Wohngebiet und öffentlicher Raum in Poseidonia/Paestum (Unteritalien) (Mertens 2008, 21).

gleich vom öffentlichen Raum: Tempel und Versammlungsplätze liegen gewöhnlich als Block zwischen den Wohngebieten oder in der Peripherie (vgl. Abb. 5). Bei all diesen Städten handelt es sich im Gegensatz zu den gewachsenen Städten des griechischen Mutterlandes9 um geplante Städte, die als Kolonien von Siedlern aus dem Mutterland gegründet wurden. Hinter dem neuen Stadtbild steckt nicht einfach Pragmatik, sondern ein bestimmtes Programm. Bei der Gründung wurde Siedlungsund Ackerland unter den Kolonisten in gleich große Parzellen aufgeteilt (Mertens 2008, 15 f.). Sowohl die Stadtanlage als auch die Bewässerungsgräben, die zwischen den Ackeranteilen verlaufen, tragen den Stempel einer bewusst vorgenommenen Landvermessung. Im unteritalischen Metapont verlaufen die Ackerstreifen teils parallel zu den Wohnstreifen (Hoepfner/Schwandner 1994, 1.7–9; Mertens 2006, 332 f.). Die Analogie zu orientalischen, im orthogonalen Muster angelegten Städten, die immer wieder als Vorbilder für diese griechischen Koloniestädte hingestellt werden, liegt in der Planung. Das Besondere der griechischen Koloniestädte ist die damit verbundene Landaufteilung. Soweit wir Kenntnisse darüber haben, sind die orientalischen Schachbrettstädte geradezu als Ka-

9 Allmähliches Zusammenwachsen mehrerer Dörfer (Synoikismus) um ein gemeinsam, gewöhnlich exponiert gelegenes Heiligtum samt einer Fluchtburg (ummauerte Akropolis).

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sernensiedlungen für Bedienstete des jeweiligen Königs gedacht: Kahun in Ägypten (Beginn 2. Jahrtausend) für Tempelbedienstete, die assyrische Stadt Dur-Sharukkim (883–853 v. Chr.) ist ein Militärlager, Zernaki Tepe (um 700 v. Chr.), eine rätselhafte Stadt in Urartu, blieb unbewohnt (Kolb 1984, 32.38–44).

2.1.1 Die Streifenstädte der Kolonisten und die soziale Frage Mit der orthogonalen Stadtplanung in den sogenannten Streifenstädten versuchten die Siedler ein gesellschaftliches Problem zu lösen, um das in den Mutterstädten Griechenlands hartnäckig gerungen worden ist und das der eigentliche Motor für die Kolonisationsbewegung gewesen zu sein scheint: das Problem der Landaufteilung bzw. der Land- und Besitzkonzentration in den Händen weniger Aristokraten. Nicht Landnot war Auslöser für die Kolonisation, sondern die ungerechte Landverteilung (Eder 1999). Die Burgstädte Mykene, Tiryns u. a. gründeten ihren Reichtum vor allem auf den Handel in geradezu internationalen Beziehungen. Eine größere urbane Zivilisation in ihrem Umkreis ist nicht festzustellen. Nach ihrem Niedergang entstanden etwa im 8. Jh. v. Chr. in Griechenland tatsächlich die ersten größeren Siedlungen – und zwar durch den Zusammenschluss einzelner Dörfer (Synoikismus), die von reichen Großgrundbesitzern beherrscht wurden (Kolb 1984, 62–70). Damit begann auf Seiten der Aristokraten der Kampf um die alleinige Vorherrschaft einer einzigen Familie (Tyrannis), was wiederum ökonomischen Druck auf die abhängigen Bauern erzeugte. Sozialer Abstieg und Verschuldung waren die Folge. Die Kolonisationsbewegung, die gleichzeitig ( ! ) mit der Entstehung der ersten Städte im Mutterland einsetzt, stellt mit ihrem Konzept der gleichmäßigen Landaufteilung eine radikale Alternativlösung zu den Konzepten dar, die im Mutterland entwickelt wurden, um den sozialen Frieden zu sichern. Wir kennen diese Reformversuche insbesondere aus der Geschichte Athens. Der berühmte Gesetzgeber Solon (640–560 v. Chr.) wurde in der großen sozialen und wirtschaftlichen Krise (594/93 v. Chr.) zum Schiedsmann mit besonderer Vollmacht gewählt. Er setzte eine Schuldentilgung und die Beseitigung der Schuldknechtschaft durch.10 Nicht gelungen ist Solon die Neuverteilung des Bodens. Und die Reformen Solons waren leider auch nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Knapp zwei Menschenalter später hat Kleisthenes 508/07 v. Chr. (Humphreys 2008; Anderson 2007) eine territoriale Neugliederung Attikas vorgenommen, die vor allem ein Ziel verfolgte: die Entmachtung der bestehenden, aus Familien- und Standesinteressen hervorgegangenen Gruppen. Auch Kleisthenes konnte nicht einfach Grund und Boden neu verteilen. Aber er hat versucht, die Macht der Großgrundbesitzer bei der politischen Entscheidungsfindung zu brechen. Dazu teilte er die Bezirke Attikas, die Vertreter in den Rat nach Athen zu schicken hatten, so ein, dass einflussreiche Schichten mit weniger einflussreichen jeweils eine gemeinsame Gruppe zu bilden hatten. Diese Strukturen sind maßgebliche Voraussetzungen für das, was später „Demokratie“ genannt wurde, zu Zeiten des Kleisthenes jedoch unter dem Begriff „Isonomie“ (Gleichrechtlichkeit) gefasst wurde. In dieser Entwicklungslinie betrachtet geht es der antiken Demokratiebewegung aber nicht nur um gleiche politische Rechte für alle, sondern vielmehr darum, auf der Basis dieser „Gleich-

10 Inwieweit er tatsächlich die Abgabenpflicht der sogenannten Hektemoroi (= Landpächter) beseitigt hat, ist unsicher. Mit der Annullierung aller öffentlichen und privaten Schulden verschwanden allerdings die Hypothekensteine von den Feldern. Das ist wohl mit der Bemerkung gemeint, Solon habe sich gerühmt, die Grenzsteine, die die schwarze Erde zur Sklavin gemacht hätten, beseitigt zu haben (Aristot., Ath Pol 12,4). Zu Solon vgl. Owens (2010); Ruschenbusch (2010).

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rechtlichkeit“ den inneren sozialen Frieden einer Stadt zu sichern. Genau das blieb im Mutterland immer schwierig, weil es nicht möglich war, die Besitzverhältnisse prinzipiell neu zu ordnen.11

Die Kolonisten erscheinen in diesem sozialen Spannungsfeld mit den athenischen Gesetzgebern Solon und Kleisthenes dadurch verwandt, dass sie die soziale Ungerechtigkeit nicht einfach hinnehmen; sie unterscheiden sich aber von ihnen dadurch, dass sie nicht für die Umstrukturierung der alten Städte kämpfen, sondern bewusst einen Neuanfang setzen. Dadurch entziehen sie ihren Mutterstädten natürlich wichtiges Potential gerade in der Phase der sozialen Krise. Kein Wunder, dass sie für ihren Abzug aus den alten Städten die Legitimation des Orakels von Delphi benötigen, was ihnen zugleich auch Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber der alten Stadt gewährleistet.12 Ein erstes Ergebnis dieses Neuaufbruchs der Kolonisten sind die sogenannten Streifenstädte, die ab dem 8. Jh. v. Chr. in den Küstenregionen der Ägäis und Unteritaliens auftauchen. Dass sich die Kolonisten dabei nicht einfach an ein vorgegebenes Muster gehalten haben, zeigt sich schon einfach daran, dass es einer gewissen Experimentierphase bedurfte, bis das einheitliche orthogonale Stadtraster entstanden ist (Kolb 1984, 104–111). Das entscheidende „Muster“ war durch das Ziel einer einheitlichen Landlosvergabe ( / «) vorgegeben.13 2.1.2 Die isometrische Stadtplanung und die Gleichschaltung des öffentlichen, kultischen und privaten Raumes Eine deutliche Weiterentwicklung der orthogonalen Stadtbauarchitektur lässt sich an den städtischen Neugründungen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. erkennen, z. B. am Plan von Milet, wie es nach der Zerstörung durch die Perser (494 v. Chr.) neu aufgebaut wurde – wobei der Bereich des höchsten Hügels, der Urzelle des alten Milet, also ihrer „Akropolis“, vom Bebauungsplan der neuen Stadt ausgespart blieb (ab 479 v. Chr.). Auffällig ist, dass bei der insgesamt rechtwinklig strukturierten Stadtanlage die Wohninseln kleiner geworden sind und geradezu quadratische Formen

11 Nach Aristoteles ist die Gleichheit des Grundbesitzes aller Bürger bei Neugründungen leichter durchführbar als in schon bestehenden Staaten: Pol II 6 (1266a 40–1266b 5). 12 Auch Herodot, der als Grund für die Kolonisation gewöhnlich auf die Überbevölkerung verweist (IV 150–167), gibt immer wieder Durchblicke auf diese sozialen Spannungen; z. B. VI 35,3: Miltiades aus Athen lässt sich zur Stadtgründung auf der Chalkidike deswegen überreden, weil er über die Herrschaft des Peisistratos in Athen verärgert ist. 13 So programmatisch: Hoepfner/Schwandner (1994); Boyd/ Jameson (1991); kritisch zu dieser Verbindung von politischer (.  ) und sozialer Gleichheitsidee (.  ), also zwischen Demokratie und Besitzgleichheit, z. B. Schubert (1996, 13–42); Hennig (1989). Unstrittig sind jedoch die Auseinandersetzungen um gerechte Landverteilung im Sinn gleicher Startbedingungen und gleicher Beteiligung an den Ressourcen; literarisch einschlägig: Plut., Dion 37,5 (Besitzgleichheit als Vorbedingung für Freiheit, Armut bedeutet für die Besitzlosen Versklavung); Diod. S. XII 11,1 f. (Neugründung der Kolonie Thurioi wegen ungerechter Besitzverteilung). Ob der ab Mitte des 5. Jh. belegbare Slogan )λ 9 / 19 λ ² ) /volle Gleichberechtigung (ICret IV 78,2 f.; Thuc. I 27,1) auch Fragen der Besitzverteilung einschloss, ist nicht eindeutig zu erheben.

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Abb. 6: Der Stadtplan von Milet (von Graeve 2006, 257).

annehmen (Abb. 6).14 Sie fungieren als Module, die sich in einem Rasterkonzept flexibel kombinieren lassen. Dadurch ergeben sich zwei Veränderungen: Die vorgegebene Geländeformation kann für den Siedlungsraum optimal ausgenutzt werden, so dass in Milet „Stadtviertel“ aufgrund des natürlichen Raumes entstehen. Und: Tempel, öffentliche Gebäude und Platzanlagen werden über das Rasterprinzip als Großmodule in das Wohngebiet integriert.15 Auch in diesen klassischen Städten gibt es Haupt- und Nebenstraßen, aber sie werden in ihren Dimensionen einander immer mehr angenähert,16 so dass sich einerseits der Eindruck der Isometrie verstärkt, andererseits sich ein besserer Verkehrsfluss durch alle Straßen der Stadt ergibt (Mertens 2008, 25). Diese geometrische Stadtkonzeption mit den quadratischen Basismodulen, wie sie in Milet offensichtlich zum ersten Mal auftritt, hat sich in der Folgezeit durchgesetzt, im unmittelbar benachbarten Priene (353/2 v. Chr.) genauso wie im unteritali-

14 Am Plan von Milet ist diese Entwicklung noch sichtbar: Die ältere Südstadt, vermutlich vor dem Persereinfall konzipiert, zeigt nach neuesten geophysikalischen Untersuchungen noch stärker streifenartige Wohnparzellen (Weber 2007, 355–359). 15 Um diese Einpassung zu erreichen, wurde in Milet der archaische Athenertempel bei der Neukonzeption der Stadt nach Süden ausgerichtet (Weber 2007, 358). 16 Milet: 9 m bzw. 4 m; Priene: 7/5 m bzw. 4 m; Naxos 5,25 m bzw. 4,4 m.

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schen Thurioi (445/4 v. Chr.), in Kassope in Nordwestgriechenland (um 350 v. Chr.) genauso wie in Rhodos (407 v. Chr.) auf der gleichnamigen Insel. Traditionellerweise wird die Idee dieses Stadtmusters mit der Figur des Hippodamos von Milet in Verbindung gebracht. Dass er tatsächlich für den Plan seiner Heimatstadt verantwortlich ist, mag Legende sein. Von Aristoteles jedoch wissen wir, dass Hippodamos entsprechend seiner Idee von der „Einteilung der Städte“ ("  «) auch den Piräus, die Hafenstadt von Athen, geplant habe (Cursaru 2009; Gill 2006). Der archäologische Befund zeigt uns ein dem Stadtplan von Milet analoges Muster. Gemäß Aristoteles hat Hippodamos einen Verfassungsentwurf vorgelegt, in dem interessanterweise auch die Landaufteilung mitberücksichtigt wird.17 Architektur und Sozialstruktur der Stadt hängen zusammen. Dass dagegen Hippodamos auch gleich große und grundrissidentische „Typenhäuser“ entworfen habe, die einerseits für alle einen höheren Wohnkomfort bedeuteten, andererseits aber die Gleichheit betonten (Hoepfner 1989), lässt sich aufgrund der spärlichen Überreste kaum schlüssig nachweisen.

Wie die Anlage des Piräus zeigt, hat die Stadtbaukonzeption, wie sie in den Kolonien entwickelt wurde, Jahrhunderte später rückwirkend auch das Mutterland befruchtet. Alexander d. Gr. hat die „hippodamische Stadt“ in der gesamten von ihm unterworfenen Welt promulgiert. 350 Städte hat er nach diesem Muster gegründet. Im Blick auf die typisch römische Stadt, von der wir ausgegangen sind, fehlen dem hippodamischen System noch zwei Elemente: die beiden klar erkennbaren Hauptstraßen und der axiale Grundriss der Gesamtstadt. Der typisch „römische“ Akzent der sich kreuzenden Hauptstraßen ist vermutlich von den Etruskern übernommen. Kulturell den Römern weit überlegen, geraten sie ab dem 5. Jh. v. Chr. unter deren politische Kontrolle. 2.2 Die kosmologische Stadtplanung der Etrusker Kennzeichen etruskischer Städte, wie sie in der heutigen Toskana, dem Stammgebiet der Etrusker, ausgegraben wurden, sind: orthogonal angelegte Hauptstraßen und „himmlische“ Orientierung in exakter Ost-West-Achse. Das ist auch dann der Fall, wenn die von außen an die Stadt heranführenden Straßen eigentlich eine andere Hauptrichtung vorgeben, wie etwa im Fall von Bononia, dem heutigen Bologna.18 In der Forschung wird diese strenge Ost-West-Orientierung mit den kosmologischen Spekulationen der Etrusker in Verbindung gebracht: Wie der Himmel zur Lokalisierung der Wohngebiete und Zuständigkeitsbereiche der Götter durch ein Himmelskreuz gegliedert wird, so auch die Stadt. Die Koordinaten sind durch den Sonnenlauf vorgegeben: die Ost-West-Achse liegt in der Visierlinie des Sonnenwegs; die NordSüd-Achse teilt die Welt in eine Sonnaufgangs- und eine Sonnenuntergangshälfte.

17 Pol II 8 (1267b 22–37): Hippodamos unterscheidet drei Gruppen: Handwerker, Bauern und Kämpfer bzw. Waffentragende. Das Land wird ebenfalls in drei Teile untergliedert: in ein Geheiligtes (Erträge fließen in den öffentlichen Kult), in ein Gemeinsames (Erträge für die Krieger), und Privates (für die Bauern). 18 Die via aemilia biegt in einem Winkel von etwa 45 Grad in die Stadt ein und verlässt sie mit einem ähnlichen Knick. Die Stadt selbst, in strenger Ost-West-Orientierung gebaut, unterbricht die Vorgaben der Straßenführung.

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Während für die Himmelskuppel radiale Unterteilungen vorgesehen sind, werden auf der Erde die orthogonalen Grundachsen vervielfältigt, so dass rechtwinklige Wohngebiete entstehen (Prayon 2010, 67 f.85; Maggiani 1998). Am besten dokumentiert ist der Stadtplan von Marzabotto, einer Ende des 6. Jh. v. Chr. gegründeten Stadt südwestlich von Bologna (Bentz/ Reusser 2008). Langgezogene rechteckige Wohneinheiten unterschiedlicher Größe wurden in einem streng orthogonal angelegten Straßennetz durch breite Hauptstraßen (drei Ost-West-Achsen und eine Nord-Süd-Achse) in insgesamt acht Regionen gegliedert. Tempel und öffentliche Plätze lagen vermutlich am Rand. Zentral war die himmlische Orientierung: An den Schnittpunkten vor allem der Hauptstraßen wurden Flusskiesel mit nach oben gerichteter Spitze (cippi) gefunden, einer von ihnen mit dem Himmelskreuz markiert. Nachdem diese Steinmale in die Erde vergraben worden sind, hatten sie offensichtlich sakrale Bedeutung und standen vielleicht sogar mit einem Gründungsritus in Verbindung (Sassatelle/Govi 2010). Das kulturelle Gedächtnis Roms hat die Erinnerung daran bewahrt und – insbesondere in der kaiserzeitlichen Literatur – auf die Gründung Roms und der ersten Städte Latiums zurückprojiziert:19 Gemäß dem ritus Etruscus wird durch Eingeweideschau ermittelt, ob der Ort für die Stadt günstig ist. Dann zieht der Stadtgründer mit einem Pflug, der von einem weißen Stier und einer weißen Kuh gezogen wird, die spätere Grenzfurche der Stadt, das sogenannte pomerium. An den Stellen der späteren Tore wird der Pflug aufgehoben. 2.3 Die pragmatische Stadtplanung der Römer In der Architektur der römischen Stadt treffen die unterschiedlichen Elemente antiker Stadtplanung zusammen, werden aber einem neuen pragmatischen Ziel unterstellt, das sich als zentral steuerbares Ordnungsprinzip umschreiben lässt: (1) Wie griechische und vor allem etruskische Städte sind auch die römischen durch Haupt- und Nebenstraßen gegliedert, aber die Hauptstraßen werden auf zwei sich kreuzende reduziert. Dadurch entsteht ein Achsenkreuz. Allerdings ist es nicht – wie in etruskischen Städten – am Sonnenlauf orientiert, sondern richtet sich nach dem Straßenverlauf bzw. nach den örtlichen Gegebenheiten. Das Achsenkreuz ist nicht Spiegelbild der himmlischen Ordnung, sondern bildet den Ausgangspunkt für den Lageplan. Die Straßen links und rechts der Hauptachsen werden durchnummeriert und auf diese Weise eindeutig identifizierbar gemacht. (2) Wie in griechischen Städten ist der Marktplatz in das Wohngebiet integriert, bildet aber in Analogie zur principia des Militärlagers das architektonische und organisatorische Zentrum im Schnittpunkt der Hauptstraßen. Kaisertempel und Gerichtshalle zeigen die Ausrichtung nach Rom (f I/5). Der soziale Brennpunkt der Stadt wird zur Symbolisierung der Zentralmacht instrumentalisiert. (3) Obwohl zumindest in der literarischen Rückprojektion auch in römischen Städten das pomerium/Stadtgrenze gemäß dem ritus Etruscus gezogen

19

Vgl. die Textsammlung bei Lorenz (1987, 13–18).

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wird,20 steht nicht der apotropäische Abwehrcharakter im Vordergrund, sondern eine juristische bzw. politische Interpretation: Das pomerium bildet die Grenzlinie zwischen Stadt (urbs) und dem umliegenden Territorium (ager) einerseits sowie zwischen städtisch-ziviler (imperium domi) und militärischer Gewalt (imperium militiae) andererseits. Das militärische Mandat für römische Beamte endete an dieser Stadtgrenze; die Liktoren, die sie begleiteten, mussten ihre Beile in die Rutenbündel stecken; umgekehrt galt die Kompetenz der Volkstribunen nur innerhalb des pomeriums. (4) Insbesondere in den Provinzen lässt sich noch eine taktische Akzentsetzung bemerken, die man umschreiben könnte mit: „von der Höhe in die Tiefe“. Iberische, keltische, germanische und illyrische Höhensiedlungen wurden ganz bewusst aufgelöst und die Siedlungszentren in die Ebenen, meist mit Anbindung an wichtige Verkehrsknotenpunkte, verlegt. Damit ergab sich einerseits eine bessere Infrastrukturanbindung, andererseits – nicht zu vergessen – eine bessere militärische Kontrolle. Am Ende war der Segen des Städtebringens, über den der Redner Aristides ins Schwärmen geriet, eine Taktik, um die Untertanen gezielt zu verweichlichen. So jedenfalls sieht es Tacitus in seiner Schrift De Agricola (100 n. Chr.) mit Blick auf Britannien: Damit die verstreut wohnenden, rauen und deshalb leichtfertig zum Krieg neigenden Menschen sich durch zivilisatorische Annehmlichkeiten an Ruhe und Muße gewöhnen, ermunterte er (sc. der Statthalter Cn. Julius Agricola) sie persönlich und bot ihnen öffentliche Unterstützung dafür an, dass sie Tempel, öffentliche Plätze und Steinhäuser errichteten, und er lobte die Willigen und tadelte scharf die Säumigen, so trat der Wettbewerb um Ehre anstelle des Zwangs … Bald kam unsere Kleidung zu Ehren, und häufig sah man die Toga. Allmählich ergab man sich der Verweichlichung und den Verführungen der Zivilisation, man baute Kolonnaden, Bäder und gab elegante Gastmähler. Und das nannten die Unkundigen kultivierte Lebensweise, während es doch ein Teil ihrer Knechtschaft war (Agr 21).

3. Stadttheorien und -visionen 3.1 Die Stadtvisionen eines römischen Architekturtheoretikers In Rom ist man keineswegs ausschließlich auf taktisches Globalisierungsdenken ausgerichtet. Das klassische Gegenbeispiel liefert das Architekturhandbuch des römischen Militäringenieurs und Architekturtheoretikers Vitruv, das Mitte der 30er Jahre des 1. Jh. v. Chr. entstanden sein dürfte (Lagopoulos 2008; König 2009). Was die Stadtplanung angeht, steht für ihn die Selbstverteidigung der Stadt und die Gesundheit ihrer Einwohner an erster Stelle. Das erste betrifft die strategisch geschickte Anlage der Stadtmauern samt ihrer Türme, die auf sicheren Fundamenten stehen müssen, wenn sie einem Angriff von außen standhalten sollen (I 5). Das andere betrifft neben der Auswahl eines gesunden Platzes (I 4) – dieser ökologische Gesichtspunkt

20 Für Capua gibt es einen epigraphischen Beleg: „Auf Befehl des Imperators Caesar, wo der Pflug gezogen wurde“ (CIL X 3825). Zu den apotropäischen Riten vgl. Kunst (2006, 12).

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steht in der Tradition der griechischen Klassik21 – speziell die Beachtung der Windrichtungen. Nach Vitruv ist das orthogonale Straßenmuster so auszurichten, dass es quer zu den Hauptwindrichtungen steht und damit automatisch Schutz bietet. Bei Vitruv liest sich das so: Nach Anlage der Ringmauer folgt innerhalb der Stadtmauer die Einteilung des Baugeländes und die Ausrichtung der Haupt- und Nebenstraßen nach den Himmelsrichtungen. Diese aber werden richtig ausgerichtet werden, wenn aus den Nebenstraßen auf kluge Weise die Winde ausgeschlossen werden. Wenn diese (Winde) kalt sind, tun sie weh, wenn sie warm sind, lassen sie kränkeln, wenn sie feucht sind, schaden sie (der Gesundheit). Daher scheint man diesen Fehler vermeiden und abwenden zu müssen, damit nicht geschieht, was in vielen Städten einzutreten pflegt. Zum Beispiel ist auf der Insel Lesbos die Stadt Mytilene prächtig und geschmackvoll gebaut, aber nicht klug angelegt. Wenn in dieser Stadt der Südwind weht, erkranken die Menschen, weht der Nordwestwind, dann husten sie, weht der Nordwind, werden sie wieder gesund, aber in den Neben- und Hauptstraßen können sie wegen der strengen Kälte nicht stehen bleiben (I 6,1).

Minutiös beschreibt Vitruv sodann den Vorgang, wie mit Hilfe eines Gnomon22 auf einer glatten Marmorscheibe die Grundlinien für die zu errichtende Stadt gezogen werden müssen (I 6,6–8). Das schematisierte Ergebnis sieht folgendermaßen aus:

Abb. 7: Die Anlage der Stadt unter Berücksichtigung der Windrichtungen (nach Fensterbusch 1991, Abb. 1). 21 Vgl. Aristot., Pol VII 11 (1330a 38–41): „Und da haben denn nun die gegen Osten und nach den vom Sonnenaufgang her wehenden Winde zu abfallenden Städten die gesündeste Lage und demnächst die unter dem Nordwind, denn diese haben gelindere Winter.“ 22 Apparatur zum Ausloten rechtwinkliger Linien; angeblich Anfang des 6. Jh. v. Chr. vom vorsokratischen Philosophen Anaximander aus Milet erfunden; den Römern wurde sie über die Vermittlung der Etrusker (cruma) als groma bekannt.

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Leider sind die Vorschläge Vitruvs ökologische Spekulation geblieben. Anders als seine Ausführungen zu bautechnischen, astronomischen und mechanischen Sachverhalten haben seine Ideen zur Stadtplanung samt seinen architekturtheoretischen Erwägungen keinen Nachhall gefunden, weder in der Baupraxis noch in der theoretischen Reflexion der Antike.23 3.2 Die Stadtvisionen der Christen und die Stadtutopien der Antike Auch Christen haben Stadtvisionen. Anders als Vitruv betonen christliche Schriften allerdings den Unterschied zwischen der visionären Stadt und dem, was irdisch vorfindlich ist. Das vermindert keineswegs deren Realitätsgehalt, sondern unterstreicht vielmehr die Funktion der Vision als kritischer Opposition. „Wir haben hier keine Stadt, die bleibt“, heißt es in Hebr 13,14, „sondern wir suchen die künftige“. Die Christen des Hebräerbriefs stellen sich damit ganz in die Linie Abrahams, der gemäß Hebr 11,9 f. sogar nach der Ankunft im verheißenen Land in Zelten wohnen blieb, weil er die Stadt erwartete, „die Fundamente hat und deren Architekt und Baumeister Gott“ ist.24 3.2.1 Das Modell der visionären Stadt nach Offb 21 f. Am Ende der Offenbarung des Johannes dürfen wir zusammen mit dem Seher das Modell einer solchen visionären Stadt schauen: das himmlische Jerusalem (vgl. Gal 4,26; Hebr 12,22), das auf die Erde hernieder steigt. 9Und

es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen mit den sieben letzten Plagen getragen hatten. Und er redete mit mir und sagte: Komm, ich werde dir die Braut zeigen, die Frau des Lammes. 10Und er führte mich im Geist hinauf auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, die aus dem Himmel von Gott her herabkam, 11mit der Herrlichkeit Gottes. Ihr Lichtglanz ähnlich kostbarstem Edelstein, wie einem kristallklaren Jaspis. 12Sie hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und auf den Toren zwölf Engel. Und Namen sind darauf geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. 13Vom Osten her drei Tore und vom Norden her drei Tore und vom Süden her drei Tore und vom Westen her drei Tore. 14Und die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; und auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. 15Und der mit mir redete, hatte einen Messstab, ein goldenes Rohr, um die Stadt, ihre Tore und ihre Mauer zu vermessen. 16Und die Stadt war viereckig angelegt, ihre Länge so groß wie ihre Breite. Und er maß die Stadt mit dem Rohr auf 12 000 Stadien; ihre Länge und ihre Breite und ihre Höhe sind gleich. 17Und er maß ihre Mauer: 144 Ellen nach Menschenmaß, was (das Maß des) Engels ist. 18Und die Mauer ist in Jaspis gefasst, und die Stadt ist reines Gold, ähnlich reinem Glas. 19Und die Grundsteine der Mauer sind mit jeglichem Edelstein geschmückt: der erste Grundstein ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalkedon, der vierte ein Smaragd, 20der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sardion, der siebte ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte

Erst in der Frührenaissance wurde Vitruv literarisch wieder entdeckt. Vgl. die Entgegensetzung von irdischer und himmlischer Stadt in Herm 50,1–6 (= Sim I); dort allerdings mit einer caritativ sozialen Auswertung (50,7–11). 23 24

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Abb. 8: Der Stadtplan des himmlischen Jerusalem nach Offb 21 f. (C. van Dillen).

ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. 21Und die zwölf Tore (sind) zwölf Perlen; jedes der Tore war eine einzige Perle. Das Straßennetz der Stadt war reines Gold, wie klares Glas. 22Und einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn Gott, der Herr, der Allherrscher, ist ihr Tempel, und das Lamm. 23Und die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, damit sie ihr scheinen. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 24Und einhergehen werden die Völker in ihrem Licht, und die Könige der Erde bringen ihre Pracht in die Stadt. 25Und ihre Tore werden bei Tag nicht geschlossen – Nacht wird dort nicht mehr sein. 26Und man wird die Pracht und die Kostbarkeit der Völker in die Stadt bringen. 27Aber nichts Unreines wird hineinkommen, keiner, der Greuel verübt und Lüge. Nur die, die im Lebensbuch des Lammes eingeschrieben sind. 22,1Und er zeigte mir einen Fluss von Lebenswasser, klar wie Kristall; ausgehend vom Thron Gottes und des Lammes. 2In der Mitte der Straße und zu beiden Seiten des Flusses: Gehölz des Lebens; zwölffach trägt es Frucht, Monat um Monat gibt es seine Frucht; und die Blätter des Gehölzes zur Heilung der Völker. 3Und nichts Verfluchtes wird mehr sein. Und der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt sein, und seine Sklaven werden ihm dienen. 4Und sie werden sein Angesicht schauen, und sein Name auf ihrer Stirn. 5Und Nacht wird nicht mehr sein, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht einer Sonne. Denn Gott, der Herr, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit (Offb 21,9–22,5).

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Prinzipiell ist auch diese Stadt nach dem Grundmuster einer römischen Stadt angelegt (vgl. V. 12–14). Sie hat einen quadratischen Stadtplan, allerdings so perfekt, wie er in der Realität gewöhnlich nur annähernd erreicht wird,25 aber der antiken Idealvorstellung entspricht. Herodot behauptet den quadratischen Grundriss für Babylon (I 178), Diodorus Siculus für Ninive (I 3). Roma quadrata ist das Ideal-Modell für römische Kolonien (Tac., Ann XII 24; Plut., Rom 11; vgl. Sim 1996, 103.137). Auch das himmlische Jerusalem hat Mauern und Tore, von denen aus das typische Achsenkreuz über die Stadt gelegt wird, allerdings nicht vier, sondern gleich zwölf. Diese Einteilung knüpft nicht an das römische Militärlager mit seinen vier Toren an, sondern an die jüdische Tradition der zwölf Stämme Israels. Im Modell einer antiken Stadt gedacht, geht von jedem Tor eine Hauptstraße aus, so dass die drei mal drei Hauptstraßen die Stadt in einem isometrisch-orthogonalen Muster durchziehen und sie in insgesamt 16 Viertel gliedern. Die in 21,21 und 22,2 genannte Hauptstraße ( () könnte kollektiv für dieses groß angelegte Hauptstraßennetz stehen.26 Alle Bewohner haben einen (fast gleich) nahen Zugang zu einer der vielen Hauptstraßen, aber ein Kommandozentrum gibt es nicht. Aufgrund der für die Stadt typischen Architekturkomponenten Mauer, Tore und Hauptstraßen kann sich jeder antike Leser den Stadtplan des himmlischen Jerusalem sofort vorstellen. Die alltägliche Erfahrungsbasis wird abgerufen. Was jedoch die Größenverhältnisse (V. 15–17) und die Baumaterialien (V. 18–21) angeht, steigert sich unser Text ins Phantastische. Für die annähernd quadratisch angelegte römische Musterstadt Timgad in Nordafrika werden 1100 × 1200 Fuß (etwa 355 m) Seitenlänge angegeben, für das himmlische Jerusalem dagegen 12 000 Stadien (etwa 2200 km) veranschlagt. Nach der treffenden Formulierung eines Auslegers ist das „enough to fill the entire Mediterranean basin and most surrounding lands claimed by Rome“ (Kraybill 1996, 211). Anders gesagt: Die von den Christen erwartete und die den Christen geschenkte Stadt Gottes ist größer als das von den Römern beanspruchte Imperium Romanum. Damit nicht genug. Das geradezu Surreale an der Beschreibung des himmlischen Jerusalems besteht darin, dass das Maß von 12 000 Stadien auch die Höhe der Stadt betrifft. Wir haben also eine Kubusstadt vor uns, die 2200 km in den Himmel reicht. Damit können auch modernste Wolkenkratzer unserer Zeit nicht konkurrieren.27

Das „quadratische“ Timgad misst 1100 × 1200 Fuß (Kunst 2006, 19). Vgl. den unmittelbar folgenden generischen Singular „Gehölz“ für „Bäume“. Dahinter steht hebräisches Sprachempfinden; vgl. Aune (1998, 1166). 27 In seiner Romrede nutzt Aelius Aristides alle Berechnungs- und Vorstellungstricks, um die Fläche Roms zu vergrößern und seine Höhenmaße zu strecken. Im Blick auf die mehrstöckigen Mietskasernen schreibt er, Rom breite sich nicht nur über die Oberfläche der Erde aus, sondern rage „ganz und gar ohne Beispiel unermesslich in den Himmel … Wenn einer Rom reinlich auseinandernehmen und die jetzt übereinander gebauten ‚Städte‘ auf die Erde stellen und nebeneinander aufreihen wollte, dann, glaube ich, würde alles, was jetzt von Italien noch dazwischen liegt, davon ganz ausgefüllt und es entstünde eine einzige zusammenhängende Stadt, die bis zum ionischen Meer hin reichen würde“ (§ 8). Für die jüdische Literatur ist auf Sib V 250–252.420–427 zu verweisen, wonach sich die Gottesstadt „bis nach Joppe“ erstreckt und „bis zu den finsteren Wolken“ erhebt bzw. ihr „Turm von unendlichem Ausmaß“ die Wolken berührt. 25 26

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Schließlich stellt das himmlische Jerusalem alles in den Schatten, was die Baumaterialien betrifft. Normalerweise baut man mit Ziegeln, Lehm, Stein, Holz und Mörtel.28 Augustus wird vom Kaiserbiographen Sueton gerühmt, Rom pro maiestate imperii in Marmor gekleidet zu haben (Aug 16). Eine Marmorstadt ist das Ideal einer Königsstadt. Konkret betrifft das natürlich nur die Repräsentationsbauten. Im himmlischen Jerusalem dagegen sind die Mauern aus Jaspis, die Tore aus unvorstellbar großen Perlen, die Grundsteine aus erlesenen Edelsteinen,29 die Innenstadt aus reinstem Gold. Der Leser der Offenbarung wird an die „Hure Babylon“ erinnert, die genau mit diesen kostbaren Materialien geschmückt ist: mit Gold, Edelsteinen und Perlen (17,4). Und er wird erinnert an die Großhändler, die über den Untergang „Babylons“ (Deckname für Rom) weinen, weil sie ihren Handelspartner verlieren. Bezeichnenderweise werden an erster Stelle des langen Güterkatalogs Gold, Silber, Edelstein und Perlen genannt (18,12). Die Kostbarkeiten, die in Offb 17 exemplarisch für die Prunkentfaltung am kaiserlichen Hof und in den führenden Gesellschaftsschichten der Metropole („Hure Babylon“) stehen und mit deren Handel nach Offb 18 die Großkaufleute zu ihrem Reichtum kommen, sind in der neuen Stadt Jerusalem sozialisiert und buchstäblich allen „zugänglich“ gemacht: Alle laufen auf einem Straßennetz aus purem Gold (21,21), alle wohnen in Mauern aus Edelstein und Toren aus Perlen. Ähnlich verhält es sich mit den in der Antike geschätzten Obstbäumen, die normalerweise in von Mauern umzäunten und mit einem Bewässerungssystem ausgestatteten Gärten der Reichen gedeihen (f 5). In Jerusalem wachsen sie mitten in der Stadt, wie im Schlaraffenland denen zum Greifen nahe, die auf purem Gold laufen.30 Zwölfmal im Jahr tragen die Bäume Früchte; kein Wunder, wenn sie an einem Fluss wachsen, der Lebenswasser führt, klar wie Kristall. Auch das steht im Kontrast zur Alltagserfahrung, wenn man z.B. daran denkt, was Plinius d. J. von Amastris, einer von ihm als elegant bezeichneten Stadt, schreibt: sie habe „eine sehr schöne, lange Promenade (platea), doch auf der einen Seite wird sie in ihrer ganzen Länge von etwas begleitet, was sich Fluss nennt, in Wirklichkeit aber eine scheußliche Kloake ist, abstoßend durch ihren unappetitlichen Anblick und verpestend durch ihren ekelhaften Gestank“ (Ep X 98). An allem, was man sich hinsichtlich der Ausstattung einer Stadt in der Antike vorstellen kann, bietet das himmlische Jerusalem Superlative. Es herrschen dort geradezu paradiesische Zustände. Offensichtlich ganz bewusst werden utopische Traditionen der Antike aufgegriffen. 3.2.2 Antike Stadtutopien und die christliche Provokation Die Stadtbeschreibung ist ein Element der antiken Utopien, die das glückliche Leben beschreiben. Dabei werden Traditionen der Paradiesvorstellung (elysische Gefilde, Insel der Seligen), vom Goldenen Zeitalter und Elemente aus Reisebeschreibungen von sagenhaften Völkern und Orten (Hyperboreer, Garten des Alkinoos) wahl28 Vitruv empfiehlt, das Ortsübliche zu nehmen: Quadersteine, Basalt, Bruchstein oder Ziegel. Nicht überall könne man, wie in Babylon, Stadtmauern aus flüssigem Erdpech und Ziegeln bauen (I 5,8)! 29 Zu den Farben der Edelsteine (s. Abb. 8) vgl. Plin., Hist Nat XXXVII; sowie Zwickel (2010). 30 Das Szenario ist vermutlich folgendermaßen gedacht: Eine Allee von Obstbäumen säumt den Strom, der wiederum in der Mitte der Hauptstraße fließt (Roloff 2001, 207 f.).

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weise miteinander verbunden (Aune 1998, 1191–1194). Im Blick auf Offb 21 f. ist besonders erhellend die Beschreibung der Stadt auf den Inseln der Seligen, wie sie Lukian in seinen „Wahren Geschichten“ liefert: Die Stadt ist ganz aus Gold, und die sie umgebende Mauer besteht aus Smaragden. Sieben Tore gibt es, die alle aus einem einzigen Stück Zimt verfertigt sind. Das Fundament der Stadt und die Erde innerhalb der Mauer sind aus Elfenbein. Die Tempel aller Götter sind aus Beryll errichtet und gewaltige monolithische Altäre aus Amethyst befinden sich darin. Auf ihnen opfern sie Hekatomben. Rings um die Stadt fließt ein Strom aus schönstem Balsam, der 100 königliche Ellen breit und so tief ist, dass man mühelos schwimmen kann. Als Bäder dienen große gläserne Häuser, die mit Zimt beheizt werden. In den Becken befindet sich anstelle von Wasser warmer Tau (Ver Hist II 11).

Die visionäre Stadtbeschreibung des himmlischen Jerusalem partizipiert besonders hinsichtlich der Materialien an diesem hellenistischen Traditionsstrang. Allerdings werden durch den Rückbezug auf die Beschreibung der „Hure Babylon“ und das Klagelied der Großhändler (Offb 17 f.) zugleich antike Sozialutopien („allen gehört alles“; vgl. Apg 4,32–35) aufgegriffen und über die Stadtarchitektur sozusagen strukturell verankert: Aus den edlen Materialien, die die „Hure Babylon“ schmücken und durch deren Handel die Großkaufleute reich werden, ist das himmlische Jerusalem erbaut. Daran partizipieren alle. In der jüdischen Tradition hat die Paradiesstadt einen Namen: Jerusalem. Gott selbst, so die eschatologische Erwartung Israels, wird sie in der Endzeit mit den kostbarsten Materialien ausstatten, angefangen bei den Fundamenten über die Straßen, Mauern, Türme, bis hin zu den Zinnen (vgl. Jes 54,11 f.; Tob 13,17).31 Die Tempelvision Ez 40–48,32 die in Qumran aufgegriffen und weitergesponnen wird, wie die verschiedenen Fragmente zum „Neuen Jerusalem“ zeigen,33 entwickelt präzise Vorstellungen hinsichtlich der einzelnen Architekturelemente und ihrer Größenverhältnisse. Die Stadt ist streng quadratisch angelegt (Ez 48,16). Sie hat zwölf Tore, die gleichmäßig auf die vier Himmelsrichtungen verteilt sind und die Namen der zwölf Stämme Israels tragen (vgl. Ez 48,30–34; 4Q554 Frgm 1). Beträgt die Seitenlänge der Stadt gemäß dem Entwurf Ezechiels 4500 Ellen (ca. 2,3 km), so kommt das himmlische Jerusalem in den Schriften Qumrans bereits auf 22 Stadien Seitenlänge (etwa 4 km), reicht damit aber an den Superlativ von 12 000 Stadien, die gemäß Offb 21 f. für das neue Jerusalem vorgesehen sind, noch lange nicht heran. Auffälliges Merkmal der jüdischen Stadtvisionen ist der Raum und die Bedeutung, die der Tempel einnimmt, sowohl hinsichtlich seiner Architektur als auch der kultischen Aktivitäten. Im Entwurf Ezechiels ist die Stadt dem Tempel eindeutig untergeordnet. In der Gesamtbeschreibung spielt sie eine marginale Rolle (Ez 45,6; 48,15–19.30–35). Das

31 In Tob 13,17 werden genau sieben Materialien genannt: Saphir, Smaragd, Edelstein, Gold, Beryll, Rubin und Ofir. 32 Zu den Realien der Tempelvision des Ezechiel vgl. Busink (1980, 701–775). 33 Es handelt sich um folgende Texte: 1Q32; 2Q24; 4Q454 f.; 5Q15; 11Q18 (= DJD XIII, 305–355). Eine Rekonstruktion der Textfolge bietet Beyer (1994, 95–104); vgl. Maier (1997, 316–339); sowie die Auswertung von Chyutin (1994); ders. (1997); Schiffman (2011); speziell zu den Fragmenten aus 4Q vgl. DiTommaso (2005); ders. (2012); zur Traditionsgeschichte insgesamt Karrer (2005, 252–257).

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Abb. 9: Der Stadtplan des neuen Jerusalem in den Qumran-Visionen (nach Chyutin 1994, 83).

ganze Interesse ist auf den Tempel, seine Bauten, deren Maße und Funktionen konzentriert. Großes Gewicht wird auch, wie wir es bei der Neugründung der Kolonistenstädte beobachtet haben (f 2.1.1), auf die Raumverteilung gelegt. 4/5 des Areals entfallen auf den Tempel samt dem Wohnland für seine Bediensteten – und nur 1/5 ist für die Stadt und ihre Bewohner vorgesehen. Stadt und Tempel sind räumlich getrennt. Zwischen Stadt und Tempel liegen zunächst die Städte der Leviten, sodann das Wohn- und Weideland der Priester – und in dessen Mitte der Tempel (Ez 45,1–8). In den Qumran-Visionen vom neuen Jerusalem ist der Tempel in die Stadt integriert.34 Allerdings wird nicht weniger als ein Drittel des gesamten Areals der Stadt für den Tempel reserviert. Vom isometrischen Straßenmuster, das die Stadt in 12 Viertel unterteilt,35 ist er streng getrennt (vgl. Abb. 9). In der Stadtvision von Offb 21 f. ist überhaupt kein Tempel vorgesehen. Ausdrücklich heißt es: „Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt“ (Offb 21,22). Das stellt nicht nur einen Bruch mit ganz selbstverständlichen Vorstellungen paganer Stadtplanung und Stadtvision dar, sondern bildet vor allem einen scharfen Kontrast zu jüdischen Visionen von der Paradiesstadt Jerusalem, in denen die Stellung des Tempels das hervorstechende Merkmal ausmacht. Allerdings: Genau besehen hat das neue Jerusa34 Diese Tendenz deutet sich bereits im Anhang zur Ezechielvision Ez 48,30–35 an, wo die Tore der Stadt beschrieben werden und als Name der Stadt genannt wird: „Hier ist der Herr“ (V. 35). Das steht nämlich eigentlich im Widerspruch zu der Trennung von Tempel und Stadt. 35 Innerhalb dieser Viertel scheint ein egalitärer Wohnplan vorzuliegen (Chyutin 1994, 87–94).

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lem nach Offb 21 f. zwar keinen Tempel, aber es ist selbst ein Tempel.36 Besser gesagt: Die Stadt ist ein Superlativtempel. Denn mit ihrer architektonischen Gestaltung als Kubus verkörpert sie das kultische Zentrum des Jerusalemer Tempels: das Allerheiligste. Dieses hat nämlich – genau wie die Stadt nach Offb 21 f. – Kubusform (1Kön 6,20; 2Chr 3,8; vgl. Ez 41,4). Gemäß der christlichen Stadtvision besteht das neue Jerusalem aus nichts anderem als aus dem Allerheiligsten, allerdings als Lebensraum für die Bewohner der Stadt. Werden nun bei der Beschreibung des himmlischen Jerusalem in Offb 21 f. über hellenistische Traditionen antike Sozialutopien mit der Stadtarchitektur verbunden, so wird über jüdische Traditionen vom Idealtempel der Endzeit der Kult sozialisiert. Nach jüdischer Tradition darf allein der Hohepriester einmal im Jahr, nämlich am Versöhnungstag, das Allerheiligste betreten, um es zu entsühnen. Gemäß der Vision vom himmlischen Jerusalem in Offb 21 f. bewegen sich alle, die zu dieser Stadt Zutritt bekommen, ständig im Raum des Allerheiligsten. Entsprechend sind auch alle Stadtbewohner Priester Gottes bzw. Christi (Offb 20,6). Gott selbst ist in der Stadt ohne Abgrenzung heiliger Bezirke für alle gegenwärtig (vgl. Offb 21,22). Getrennte Wohnbezirke für Priester und Leviten sind hinfällig. Gemäß Ex 28,17–20 (= 39,10–13) sind auf der Lostasche des Hohenpriesters zwölf Edelsteine angebracht, die die Namen der zwölf Stämme Israels tragen (Zwickel 2002). Jedesmal, wenn der Hohepriester den Tempel betritt, sollen die Edelsteine Gott an die zwölf Stämme Israels erinnern (Ex 28,29; Sir 45,11). Im himmlischen Jerusalem fungieren die zwölf Edelsteine als Grundsteine der Stadtmauern (vgl. Offb 21,19 f.).37 Man könnte auch sagen: Das himmlische Jerusalem nach Offb 21 f. ist eine Stadt ohne Kultzentrum, aber Gottes und priesterlicher Menschen voll (Böcher 2002). Zur Sozial- und Kultutopie tritt in Offb 21f. auch noch die Politikutopie. Sie besteht darin, dass für die Verfassung des himmlischen Jerusalem eine paradoxe Mischung aus Monarchie und Demokratie vorgesehen ist: Der Thron Gottes und des Lammes steht in der Stadt. Seine „Sklaven“ ( 3

) „dienen“ ( *) ihm (Offb 22,3). Diese „Sklaven“ sind aber gleichzeitig diejenigen, die in alle Ewigkeit „herrschen“ werden (Offb 22,5).38 Statt in eine Bürgerliste, in die man aufgrund der Abstammung eingetragen wird und damit Sitz in der Ekklesia sowie vollen Zugang zu Wahlen und Ämtern hat (f 4.1), sind die Namen derjenigen, die sich der Herrschaft Gottes und des Lammes unterstellen und dann selbst „herrschen“, in das Lebensbuch des Lammes eingeschrieben (Offb 21,27). Alle „Bürger“ der Stadt sind damit „Herrscher“, aber 36 Interessant ist, dass der Terminus, der in Offb 21,18 als Charakterisierung der Mauern der Stadt steht () «), in Inschriften aus Smyrna und Tralles, also im unmittelbaren kulturellen Umfeld der Offenbarung, die Einfriedung eines Tempelbezirks bezeichnet (Giesen 1997, 467). 37 Der Fluss, der Lebenswasser führt (Offb 22,1 f.), weist die gleichen Merkmale auf, wie der Fluss in der Tempelvision Ezechiels (Ez 47,1–12): An beiden Ufern das Flusses wachsen viele Bäume; sie tragen monatlich Frucht; wohin der Fluss kommt, bringt er Heilung. Bezeichnend für Offb 21 f. ist, dass der Fluss nicht wie in Ez 47,1.12 aus dem Tempel entspringt, sondern aus dem Thron Gottes (Offb 22,1), und auch nicht nach draußen fließt, um das dürre und kranke Land zu tränken bzw. zu heilen, sondern durch die Stadt, die als Allerheiligstes zugleich den ganzen Raum der bewohnten Welt umfasst. Nicht der Tempel ist Quelle des Lebens, sondern Gott; Heilung wird nicht nach „draußen“ gebracht, sondern geschieht „drinnen“. 38 Vgl. zu dieser Vorstellung auch Offb 3,21; 5,10; 20,6.

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ohne dass es noch von ihnen „Beherrschte“ gäbe. Alle haben die Würde von Herrschern, aber die Herrschaft als Aktion ist ad absurdum geführt. Die „Herrschaft“ der „Sklaven“ Gottes besteht in der Verehrung Gottes ( *).39 Mit dem realen Kult, wie er in den Tempeln der Städte stattfindet, befasst sich Kapitel III, mit der realen Stadtpolitik der nächste Abschnitt.

4. Stadtkultur und -politik Rechtlich ist eine Stadt durch die klare Grenzziehung zu ihren Nachbarn definiert, politisch wird sie durch die Teilnahme am überregionalen Städteverbund ( "/ *

«) erkennbar, kulturell bestimmend jedoch sind architektonische Merkmale (Mileta 2009, 70–82). Hören wir die klassisch gewordene Definition von Pausanias (X 4,1): Von Chaironeia sind es 20 Stadien nach Panopeus, einer phokischen Stadt, sofern man einen solchen Ort eine Stadt (" «) nennen darf, der weder Amtsgebäude ($() noch ein Gymnasion (   ), noch ein Theater (! ), noch einen Marktplatz ($  ) besitzt, nicht einmal Wasser, das in einen Brunnen ( ) fließt, sondern wo man in Behausungen etwa wie den Hütten in den Bergen an einer Schlucht wohnt, und doch haben auch sie ihre Landesgrenzen (Ρ «) gegen die Nachbarn und schicken ebenfalls Vertreter in die phokische Versammlung (*

«).

Schauen wir uns die genannten Gebäudetypen40 der Reihe nach sowohl im Blick auf ihre Funktionen im Leben der Stadt an als auch im Blick auf die Veränderungen, die durch das Vordringen Roms in den Osten zu beobachten sind. 4.1 Amtsgebäude und Stadtpolitik In jeder Stadt bis heute leicht erkennbar ist das Bouleuterion, das gewöhnlich im unmittelbaren Einzugsbereich der Agora liegt. Es handelt sich um ein überdachtes Theater im Kleinformat41 und dient als Tagungsstätte für die Boule (6  /curia), 39 Die antiken Theoretiker halten eine „gemischte“ Verfassung für besonders stabil, z. B. Plat., Leg III 693DE; Aristot., Pol II 6 (1265b 27 f.). Gemeint ist damit allerdings, dass sich die Verfassungsstrukturen gegenseitig durchdringen, so dass die möglichen Extreme des jeweiligen Modells vermieden werden können. Im Blick auf die Mischung von Monarchie und Demokratie schreibt Plato: „Sobald wir nun bei beiden ein gewisses Mittelmaß antrafen, der Herrschergewalt ("7) bei den einen, der Freiheit bei den anderen, da sahen wir, dass dann bei beiden ein besonders gutes Gedeihen einsetzte; sobald aber beide bis zum Äußersten gingen, die einen in der Sklaverei (  ), die anderen im Entgegengesetzten, da brachte das weder diesen noch jenen einen Gewinn“ (Leg III 701E). Die „Vermischung“ in Offb 21,3.5 ist anders gedacht. Die Extremmodelle bleiben in Kraft und überlappen sich. Dadurch wird sowohl die „Sklaverei“ als auch die „Herrschaft“ außer Kraft gesetzt: Die „Sklaven“ Gottes „herrschen“, indem sie Gott verehren. Zur Rezeption der Idee von der gemischten Verfassung vgl. Cic., Resp I 29/45.35/54.45 f./69 f.; Ael. Arist. 26,26.60; Sim (1996, 132–136). 40 Philo, Op Mund 17, nennt zusätzlich Tempel, Straßen und Mauern; als Bewohner Alexandrias natürlich auch Häfen und Werften; Amtsgebäude werden als Prytaneien (f 4.1) präzisiert. 41 Dabei können die Sitzreihen rund (vgl. Milet) oder auch rechteckig (vgl. Priene) angeordnet sein.

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Architektur, Politik und Kultur der Stadt

Abb. 10: Prytaneion (links) und Bouleuterion (rechts) in Priene (nach Rumscheid 1998, 48.53).

den Rat der Stadt (Balty 1991; Ders. 2005). Schwerer identifizierbar, aber ebenso leicht auffindbar, weil meistens in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bouleuterion platziert, ist das Prytaneion, das Amtsgebäude des Prytanen («/Herrscher), der als „Bürgermeister“ der Stadt fungiert. Er wird gewöhnlich für ein Jahr gewählt. Durch Nennung seines Namens wird in offiziellen Dokumenten das Jahr bestimmt (eponymes Amt). Es handelt sich also um das politisch agierende Repräsentationsamt der Stadt. Entsprechend repräsentativ ist das Amtsgebäude ausgestattet. Es weist die typischen Elemente eines Privathauses auf (f V), ist aber auf den öffentlichen Gebrauch ausgerichtet, eben ein echtes „Stadthaus“. Anstelle der Schlafräume finden sich diverse Amtsräume. Im Prytaneion ist der Standort des Stadtherdes, häufig mit stets brennender Flamme, es gibt ein Peristyl und einen großen Speiseraum, der analog zum Triklinium des Privathauses ringsherum mit Liegen ausgestattet ist, manchmal mit einem Mosaikfußboden in der Mitte. Hier ist das oberste Verwaltungszentrum der Stadt lokalisiert, hier finden die offiziellen Empfänge statt und werden verdiente Bürger (manchmal durch lebenslange Speisung) geehrt. Neben dem Rat und dem Bürgermeisteramt ist als drittes politisches Organ der Stadt die Volksversammlung zu nennen, meistens kurz einfach „das Volk“ (/ «) oder von der Funktion her „Ekklesia“ () ) genannt: die (von einem Herold aus den Häusern) herausgerufene (Versammlung). Das ist das eigentliche Basisorgan der griechischen Demokratie. Nach einer klassischen Definition von Herodot (III 80,6) ist sie durch drei Elemente gekennzeichnet: Gleichheit aller vor dem Gesetz (.  ), Rechenschaftspflicht der Beamten (8!) sowie Beschlussfassung durch die Vollversammlung ( /! «). Allerdings haben in der Ekklesia keineswegs alle Einwohner der Stadt Sitz und Stimme. Die Mitgliedschaft ist durch Gender, Stand und Recht eingegrenzt. Nur Männer, nur freie Männer, nur freie Männer mit Bürgerrecht42 haben Zugang. Kurz und knapp: Ν« + " « („Männer nämlich 42 In Athen musste man in die Bürgerliste (f 4.4) eingetragen sein. „Aufgrund des Bürgerrechtsgesetzes von 451/50 mußte jeder Athener, der in diese Liste eingeschrieben werden wollte, nachweisen, daß sowohl

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sind die Stadt“: Thuc. VII 77,7). Versammlungsort dieses großen Gremiums war ursprünglich ein großer freier Platz in der Stadt43 oder der Marktplatz. In der Kaiserzeit diente gewöhnlich das Theater als Versammlungsort der Ekklesia (vgl. Apg 19,29–40). Die Zuordnung der drei Gremien sieht folgendermaßen aus: Der Rat bereitet die Beschlüsse vor, die der Volksversammlung zur Abstimmung vorgelegt und schließlich von den Prytanen ausgeführt werden. Letztere werden deshalb oft auch als „Volksarbeiter“ (   ) bzw. als „Vorsteher“ (Ν «) bezeichnet. In uns vertrauten Begriffen würden wir von der Exekutive sprechen. Die Legislative ist prinzipiell die Volksversammlung. Der Rat steht zwischen beiden. Ein judikatives Kontrollorgan, also unser Verfassungsgericht, kennt die griechisch-römische Antike nicht. Je nach Stadt und Zeit sind die Gewichte verschieden gelagert. In der athenischen Demokratie liegt wirklich alle politische Entscheidungsgewalt in Händen der Volksversammlung. In der römischen Zeit dagegen werden die Volksversammlungen entmachtet und alle Entscheidungen auf oberster Ebene getroffen. Die athenische Demokratie.44 In Athen schickte jede der zehn Phylen/Stadtviertel fünfzig Delegierte (per Losentscheid) für ein Jahr in den sogenannten Rat der Fünfhundert, der täglich Sitzungen hatte. Je 35/36 Tage des Jahres fungierte die Abordnung einer je anderen Phyle als Prytanie, wobei jeden Tag ein anderer den Vorsitz führte ()  «) und Tag und Nacht zur Verfügung stehen musste. Die eigentliche Volksversammlung (Quorum: 6000 Bürger) wurde vierzigmal im Jahr einberufen. Und keineswegs wurden hier vorbereitete Voten nur abgenickt. Jeder Bürger hatte nicht nur Rederecht, sondern konnte auch selbständig Anträge einbringen, die dann von den jeweiligen Leitern (neun durch Los bestimmte Vorsitzende aus der jeweiligen Prytanie samt dem Tagesvorsitzenden) der Volksversammlung vorgelegt, diskutiert und schließlich abgestimmt wurden. Typisch ist die Einleitung der auf Stein festgehaltenen Beschlüsse (;φ): Es beschlossen ()" ) Rat (6  ) und Volk (/ «), unter der Prytanie der Phyle X, Y war Sekretär, Z führte den Vorsitz …45 (vgl. Apg 15,22). Der Normalfall in einer griechischen Stadt – auch vor der Hegemonie Roms – sah anders aus. Die entscheidende Machtbefugnis und Entscheidungskompetenz hatte der Rat, der bezeichnenderweise oft auch Gerusie46 (  ) genannt wird, was dem römischen Senat/Ältestenrat entspricht. Entscheidendes Kriterium der Mitgliedschaft ist aber nicht das Alter, sondern vielmehr der Einfluss, die Stellung und die finanzielle Stärke des jeweiligen Kandidaten. Die Mitglieder werden gewöhnlich auch nicht gewählt, sondern durch Kooptation bestimmt. Das normalerweise 80–100 Mann starke Gremium sucht sich selbst jeweils passende weitere

sein Vater als auch seine Mutter Athener sind bzw. waren. Der Kreis der Bürger war damit für die Zukunft genau bestimmt und eingegrenzt. Seit die jungen Athener als Epheben vom 18. bis zum 20. Lebensjahr einen aktiven Wehrdienst von zwei Jahren ableisten mußten und sie in dieser Zeit meist in den Grenzfestungen lagen, konnten sie faktisch nicht an der Volksversammlung teilnehmen und wurden daher auch erst nach ihrer Dienstzeit in die Liste der zur Volksversammlung Berechtigten eingetragen“ (Bleicken 1995, 190). 43 In Athen der Pnyx genannte Hügel, der durch seine geographische Beschaffenheit eine natürliche Tribüne bildete. Zur Archäologie der ersten Versammlungsplätze und -bauten vgl. Hoepfner (1993, 86–91). 44 Vgl. Bleicken (1995); Pabst (2010); Kloft (2010); narrativ: Stein-Hölkeskamp (2010); zur Entwicklung: Hasskamp (2005). 45 Vgl. die Sammlung und Auswertung von Polisbeschlüssen bei Rhodes/ Lewis (1997). 46 Besonders häufig in kaiserzeitlichen Inschriften aus Thrakien und Kleinasien sowie aus dem Ägäisraum.

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Mitglieder aus und ergänzt sich so selbst.47 Die Mitglieder eines so konzipierten Rates blieben auf Lebenszeit im Amt und bildeten die Aristokratie der Stadt. In diesem Gremium wurden die wesentlichen Entscheidungen nicht nur vorbereitet, sondern auch gefällt – und der jeweiligen Volksversammlung lediglich zu einer pro forma-Abstimmung vorgelegt. Durchgeführt wurden die Beschlüsse von den entsprechenden Repräsentationsorganen (Archonten, Prytane), die vom Rat jeweils für ein Jahr gewählt wurden. Die Mitgliedschaft im Rat war eine unentgeltliche Ehrenstellung. Umgekehrt waren die Ratsmitglieder wie Exekutivbeamte zur „Liturgie“ (   /munera) für die Stadt verpflichtet, d. h. es wurden finanzielle Leistungen für die städtischen Belange erwartet.48 Rom konnte an diese aristokratischen Strukturen bestens anknüpfen. Allerdings wurde nun das ganze Entscheidungsgewicht auf das jeweilige Exekutivorgan gelegt. Der „Rat“49 übernahm die Rolle der Volksversammlung, durfte also den Beschlüssen zunicken, die Volksversammlung wiederum wurde ins Theater gelockt, aber nicht um über die Angelegenheiten der Stadt zu beraten bzw. abzustimmen, sondern zur Volksbelustigung (f 4.3). Je nach örtlichen Gegebenheiten wurden die Beschlüsse der Volksversammlung im Theater lediglich mitgeteilt. Die entsprechende Einleitungsfloskel für einen Ratsbeschluss in Ephesus lautet: In der Prytanie des Tib. Cl. Antipater Iulianus im Monat Poseidon. Beschluss des kaisertreuen Rates. Worüber Tib. Cl. Iulianus, Sohn des Tiberius Claudius Alexander, aus der Tribus Quirina, ein Patriot und kaisertreu, ehrbar und fromm, Schreiber des Volkes zum zweiten Mal, und die kaisertreuen Strategen der Stadt referiert haben … (IvEph 27: 104 n. Chr.). Für römisch voll durchorganisierte Städte, also für Municipien und Kolonien (f I/7), ist der Ausbau des eigentlichen Exekutivorgans und – nach stadtrömischem Vorbild – die kollegiale Besetzung der Exekutiv-Ämter (magistratus/Ν) mit Amtsantritt jeweils am 1. Januar typisch. An der Spitze der Stadt stehen die duoviri iure dicando ( ). In ihren Händen liegt die oberste Leitung der Stadt. Sie stehen den Wahlen der Beamten vor, präsidieren dem Stadtrat und sind für die Gerichtsbarkeit zuständig (vgl. Apg 16,20). Ihnen stehen zwei Aedile und zwei Quaestoren zur Seite. Den Aedilen ist die Innenpolitik der Stadt anvertraut. Dazu gehören die Sorge für kulturelle Belange (Spiele, Bäder) genauso wie die Aufsicht über die Erhaltung und Reinigung der Straßen. Zugleich sind sie oberste Polizeibehörde der Stadt und führen die Kontrolle über Maße und Gewichte durch.50 Die Quaestoren beaufsichtigen das Finanzwesen. Das ursprüngliche Repräsentations- und Ausführungsorgan des Prytanen ist in römischer Zeit zum zentralen, in sich ausdifferenzierten Regierungsorgan geworden. Was in der griechischen Terminologie typischerweise oft unspezifisch unter „Archonten“ (Ν «) firmiert, wird unter römischem Einfluss spezifiziert. Anstatt Beschlüsse durchzuführen, die auf dem Weg eines größeren oder kleineren Meinungsbildungsprozesses gefasst wurden, ge47 In der Frühzeit Spartas soll die Wahl der Mitglieder der Gerusie durch die Lautstärke der Zurufe bestimmt worden sein. Entsprechend hieß die Volksversammlung auch „Apella“. Darin bestand auch ihre Haupttätigkeit, was die Reaktion auf die von der Gerusie vorgelegten Beschlüsse angeht: $

7. Dabei war die Gerusie keineswegs an die „Appelle“ der Volksversammlung gehalten, sondern konnte „schiefe“ (d. h. ablehnende) Entscheidungen annullieren. 48 In Athen wurden reiche Bürger wahlweise, aber der Reihe nach zur Liturgie veranschlagt. 49 In einer römischen Stadt, also einem Municipium oder einer Kolonie, bestand der analog zu stadtrömischen Verhältnissen senatus (später curia) genannte Rat aus einem 100köpfigen Gremium, dessen Mitglieder sich decuriones nannten. Ein Mindestvermögen von 100 000 Sesterzen war vorausgesetzt. In den Rat kam man entweder durch Kooptation oder durch Auswahl durch die duoviri. Ehemalige Amtsträger waren automatisch im Rat. 50 Mit den „Beamten“ (Ν «) in Apg 16,19 könnten derartige Aedile gemeint sein, die hier in ihrer Polizeifunktion angegangen werden, den Fall dann aber an die duoviri der Stadt (V. 20:  ) weiterleiten.

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ben die „Magistrate“ unter römischer Ägide in ihrem Kompetenzbereich selbst den Ton an – und Beschlüsse nach unten weiter, wobei die Einflussnahme und der Druck Roms bei der jeweiligen Beschlussfassung nicht zu gering anzusetzen ist. Für die Städte im griechischen Osten ist es bezeichnend, dass sich typisch römische Verwaltungsstrukturen mit den überkommenen griechischen überlappen (Millar 1993), z. B. in Ephesus, wo offensichtlich neben den duoviri, den „Strategen der Stadt“, denen die Leitung der Exekutive obliegt, noch immer ein Prytane amtiert, der in dieser Struktur sicher nur noch Repräsentationspflichten wahrnimmt – und in offiziellen Dokumenten durch die Nennung seines Namens das Jahr bezeichnet (vgl. das Zitat aus IvEph 27). Das Ausmaß der Übernahme der differenzierten römischen Magistrats-Strukturen kann als Gradmesser für die gelungene Implantation römischer Herrschaftsstrukturen genommen werden. Für Israel ist eine Gerusie als Gremium zum ersten Mal unter Antiochus III. (223–187 v. Chr.) bezeugt. In neutestamentlicher Zeit nennt sich dieses Gremium Synhedrium ( ). Die Mitglieder werden nicht gewählt, sondern rekrutieren sich aus den aristokratischen Priesterfamilien, vor allem der Sadduzäer aus Jerusalem. Als Exekutivorgan fungiert der Hohepriester, der allerdings nach jüdischer Tradition nicht für ein Jahr gewählt wird, sondern lebenslänglich im Amt bleibt, wobei dieses Amt zugleich an eine bestimmte Familie genealogisch gebunden ist. In römischer Zeit jedoch wird das Amt der Kontrolle des jeweiligen römischen Statthalters unterstellt, der missliebige Hohepriester nach Belieben absetzen bzw. gefügige über lange Zeit im Amt lassen kann (VanderKam 2004). Die knapp 20jährige Amtszeit des aus dem Neuen Testament bekannten Hohenpriesters Kajafas (26–36 n. Chr.) steht neben der knapp einjährigen mehrerer seiner Vorgänger (Jos., Ant XVIII 34).

Zur Übersicht seien die Termini für die jeweiligen Organe in griechischer und lateinischer Bezeichnung sowie ihre Funktion und Zuordnung zu den typischen Versammlungsbauten in einem Schema dargestellt: Prytanie

Prytaneion

«, Ν,   * 

duoviri

Kaiserzeit

⎞ ⎢ ⎢ ⎢⎢ ⎢⎢ ⎬ ⎢ ⎢ ⎢ ⎢



aediles quaestores

magistratus

Exekutive

Rat

6  ,   , curia 6  ,  «, decuriones

Bouleuterion

Legislative Volksversammlung / «, ) 

athenische Demokratie

Stadtbevölkerung

( (/cives und )  3«/incolae)

Theater

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Als konträre Varianten hinsichtlich des Entscheidungsprozesses stehen sich die klassische Demokratie nach athenischem Modell und die Verfassung der römischen Städte gegenüber. Im einen Fall ist die Ekklesia der Souverän, im anderen Fall der nach Kompetenzen gegliederte und nach Machtbefugnis gestufte Magistrat. Im Normalfall der Städte des griechischen Ostens ist der Rat für die wesentlichen Entscheidungen verantwortlich. Der Einfluss Roms bzw. die Anpassung an die römische Herrschaft wird an der Übernahme der Magistratsstrukturen erkennbar. 4.2 Griechische Agora und römisches Forum War das Prytaneion so etwas wie ein „Stadthaus“ (mit Stadtherd und Triklinium), so übernimmt die Agora/das Forum die Funktion eines „Stadthofes“: ein großer freier Platz im Zentrum der Stadt, umsäumt von Säulenhallen oder anderen Gebäuden. Hier pulsiert das Leben. Hier stehen die wichtigsten Tempel und die entscheidenden administrativen Gebäude (Prytaneion, Bouleuterion). Hinter den Säulenhallen sind Ladenreihen platziert bzw. die Büros von Handelsorganisationen. Hier findet der Warenaustausch zwischen Land und Stadt statt. Hier präsentiert sich die Stadt in ihrer Geschichte und mit ihren bedeutenden Persönlichkeiten, denn die Agora ist bevorzugter Ort für die Aufstellung von Ehrenstatuen und Ehreninschriften. Damit wird die Agora zu einer „Art steinerne Manifestation der Lokalgeschichte“.51. Schon in klassischer Zeit lässt sich – ganz entsprechend einer Empfehlung von Aristoteles52 – die Ausdifferenzierung mehrerer Marktplätze nach unterschiedlichen Bereichen feststellen. In vielen Städten entsteht ein eigener Lebensmittelmarkt, so in Priene. In römischer Zeit wird dafür ein eigener Gebäudetyp entwickelt: das macellum (vgl. 1Kor 10,25). Von seiner architektonischen Struktur her handelt es sich um einen von Säulenhallen umgebenen Innenhof. Das Warenangebot war elitär: Fleisch, Fisch, Geflügel, Wild, besonders teures Gemüse oder auch Obst. „Hier konnte man alles bekommen, was man benötigte, wenn man eine standesgemäße Einladung, ein anspruchsvolles Gastmahl veranstalten wollte. Und wenn man selbst nicht das Personal hatte, das all die Köstlichkeiten, die man hier erwerben konnte, auch sachgerecht zuzubereiten verstand, dann konnte man hier sich auch noch gleich einen Koch für die Zubereitung des Festmahls mieten“ (Koch 1999, 198 f.). Das lateinische Äquivalent für Agora ist Forum. Darin zeigt sich ein Wandel in der Wahrnehmung und der Funktion des „Stadthofes“: Im griechischen Verständnis von Agora war hier der Ort, an dem sich die Polis versammelt ($ /versammeln). Architektonisch ist ein von Säulenhallen umgebener Platz typisch (Hoepfner/ Lehmann 2006). Das Forum ist der Ort, an dem Rom Recht spricht. Tempel und Basiliken säumen den Platz (Kenzler 2007). Eine Basilika ist eine umbaute Doppelsäulenhalle, die gewöhnlich in drei unterschiedlich hohe „Schiffe“ gegliedert ist. Insbesondere in den Wintermonaten bietet sie Schutz vor Regen und Kälte. Ar-

51 52

C. Höcker, Art. Forum I. Archäologisch-urbanistisch, in: DNP IV (1998) 602–613, hier: 604. Pol VII 12 (1331a 30–1331b 13).

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chetypen sind die ältesten Basiliken auf dem Forum Romanum (Freyberger 2009, 71–78; Kissel 2004, 290–308). Von der Funktion her dienen Basiliken vor allem als Orte für Gerichtsverhandlungen.53 Das Tribunal (6//rostra), also das erhöhte Podium, auf dem der entsprechende römische Magistrat, der Praetor (in Rom) oder der Statthalter (in den Provinzen) gewöhnlich auf der sella curulis, einem mit Elfenbeineinlagen verzierten hölzernen Klappstuhl, zu Gericht sitzt, befindet sich an einem der Kopfenden der Halle. Mit der Expansion der römischen Herrschaft wird der Gebäudetyp in den Osten exportiert, wie etwa an der Neukonzeption des Forums in Korinth zu sehen war (f I/5). In der Kaiserzeit wurde insbesondere in Britannien und Gallien ein Typ mit einer Apsis an jeder Schmalseite beliebt. Im Osten wurde dieser Typ verändert aufgegriffen: mit dem Eingang an einer Schmalseite und der Gesamtorientierung auf die Apsis hin. Einen lebhaften Eindruck von einer Gerichtsszene in Rom vermittelt die Schilderung des jüngeren Plinius, der selbst als Staranwalt aufgetreten ist. Sie findet in der Basilika Julia statt. Hier tagte das Centumviralgericht, ein Gerichtshof, vor dem Erbschafts- und Eigentumsprozesse verhandelt wurden, wenn sie für eine Verhandlung vor einem Einzelrichter zu heikel oder zu bedeutend waren: Zu Gericht saßen 180 Richter – so viel nämlich kommen zusammen, wenn alle vier Kammern tagen –, beide Seiten hatten eine ungeheure Anzahl Anwälte aufgeboten und zahlreiche Bänke gefüllt, und außerdem umgab eine Corona ringsumstehender Zuschauer das riesige Richterkollegium in vielfachem Kreis. Außerdem war das Tribunal voll (sc. mit Amtspersonen), und auch von den Emporen im Oberstock der Basilika streckten hier die Frauen, dort die Männer die Köpfe vor und bemühten sich zu hören, was nicht ganz leicht war, oder, was bequem möglich war, zu sehen. Riesige Spannung bei Vätern und Töchtern und besonders bei den Stiefmüttern … (Ep VI 33,3 f.).

4.3 Theater und Volksbelustigung Die Theater der Städte sind (bis heute) schon von weitem erkennbar und meistens gut erhalten. Drei Bauelemente sind bestimmend: (1) der Zuschauerraum (! 54/cavea), eine nach oben ansteigende Rotunde mit Sitzreihen, wofür man ursprünglich natürliche Hanglagen genutzt haben dürfte. (2) Die Orchestra (von