Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche 9783787330478, 9783787305872

Mit diesem Band beginnt die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts die Reihe ihrer Veröffentlich

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German Pages 156 [158] Year 1980

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Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche
 9783787330478, 9783787305872

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ST U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DERT BA N D 1

ST U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 1

DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT ALS EPOCHE

Herausgegeben von Bernhard Fabian und Wilhelm Schmidt-Biggemann

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglich 1978 in der KTO Press, Nendeln, erschienenen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0587-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3047-8

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................... . .................

7

Rudo/jSühnel

Augusteischer Klassizismus: Das Zeitalter der Aufklärung in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Roger Bauer

Die Österreichische Literatur des Josephinischen Zeitalters : Eine werdende Literatur auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen ...... 25 Roland Mortier

Diversite des " Lumieres " europeennes . ............................. 39 Wi/helm Voßkamp

Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts ..................... 53 Rudolf Vierhaus

Kultur und Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert . .................. 71 Victor La nge

Ü berlegungen zur Deutschen Klassik " ............................. 87 " Gunter Mann

Wissenschaftsgeschichte und das achtzehnte Jahrhundert : Probleme der Periodisierung und Historiographie ........... ... .... 105 .

.

.

Thomas Gaehtgens

Regence - Rokoko - Klassizismus Zum Problem der Stilbegriffe in der französischen Malerei des achtzehnten Jahrhunderts ............. . .. . ... . . . . .. . ............. 127

VORWORT

Mit diesem Band beginnt die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts die Reihe i hrer Veröffentlichungen. 1975 gegründet, veranstaltete die Gesellschaft im November 1976 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel i hre erste wissenschaftliche Tagung unter dem Titel " Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche" . Die Vorträge dieser Tagung werden hier vorgelegt, vermehrt um einen Beitrag, der für die Tagung vorgesehen war, aber dort nicht als Vortrag gehalten werden konnte. Ihrer Intention nach ist die Deutsche Gesellschaft für die Erfo rschung des 18. Jahr­ hunderts ein Zusammenschluß von Wissenschaftlern aus j enen Disziplinen, die an der Erforschung der Epoche i nteressiert sind. Schon bei der ersten Tagung wurde der Versuch gemacht, die verschiedenen Disziplinen zu gemeinsamer Arbeit zu­ sammenzuführen, so daß in der Vortragsfolge der Historiker neben dem Germani­ sten, der Romanist neben dem Medizinhistoriker, der Kunsthistoriker neben dem Angli sten zu Worte kam. Mit der Wahl des Themas verfolgte der Vorstand eine bestimmte Absicht. Trotz der vielberufenen Interdisziplinarität existieren in den Geisteswissenschaften die Disziplinen häufig genug nicht miteinander, sondern immer noch in alter Weise nebenei nander. Es wäre vermessen, wenn man hoffen wollte, daß sich dieser Zustand durch die bloße Gründung einer Gesel lschaft in wünschenswerter Weise verändern ließe. Was sich eine Gesellschaft indessen zum Ziel setzen kann und was sie vielleicht auch zu erreichen vermag, ist die Schaffung eines Forums, in dem sich der Vertreter einer Disziplin nicht, oder zumindest nicht in erster Linie, an das eigene Fach als Auditorium wendet, sondern an j ene, die außerhalb des Faches seine Gesichtspunkte und seine Betrachtungsweise zur Bereicherung ihrer Arbeit zur Kenntnis nehmen möchten und sollten. Die Wahl des Themas entsprang damit nicht dem Wunsch, bereits auf der ersten wissenschaftlichen Tagung der neuen Gesellschaft das achtzehnte Jahrhundert als Ganzes abzuhandeln, sondern dem Betreben, den j eweils anderen Disziplinen dar­ zustellen, wie sich der allen gemeinsame Gegenstand aus bestimmten Perspektiven darbietet. Natürlich war es nicht möglich, alle in Frage kommenden Disziplinen zu beteiligen. Das hätte den Rahmen der Tagung gesp rengt. Was hier vorli egt, ist eine Auswahl : einige aus der Vielzahl möglicher Perspektiven. Die Vortragenden waren grundsätzlich frei in der Wahl ihres Ansatzes. Es waren ihnen weder Methoden noch Zielpunkte vorgegeben. Es war von vornherein nicht beabsichtigt, daß sich die Ausschnitte, über die die Redner berichteten, zu einer Totalschau des achtzehnten Jahrhunderts zusammenfügen sollten. Abgesehen da­ von, daß dies auch bei gegenseitiger Absprache sicher nicht hätte gel ingen können 7

es kam darauf auch primär nicht an. Worum es ging, und darüber herrschte bei den Teilnehmern der Tagung Übereinstimmung, war etwas Bescheideneres: daß jeder erfuhr, wie das Jahrhundert, das alle interessierte, sich aus einem Bli ckwinkel darbot, der nicht der eigene war und der eigene sein konnte. Es kam, mit anderen Wo rten, nicht auf die Totalschau an, sondern auf die Erweiterung des eigenen Gesichtskrei­ ses, auf das Verständnis der jeweils anderen Fragestellungen, der j eweils anderen Probleme. Es war vorauszusehen, daß das achtzehnte Jahrhundert des Medizinh istori kers an­ ders aussah als das des Anglisten. " Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche " ko nnte als Thema sicher nicht die Erwartung wecken, daß der Zeitraum, der für di e ein­ zelne Disziplin interessant i st, exakt in die chronologischen Grenzen des Jahr­ hunderts fällt. Die gemeinsam interessierende Epoche sieht für jede Disziplin anders aus, in manchen Fällen erheblich anders. Die Kunstgeschichte ist am ehesten ge­ eignet, allgemein bewußt zu machen, wie viele Phänomene, die andere Disziplinen einer früheren oder späteren Epoche zuordnen, in das achtzehnte Jahrhundert hin­ eingehören. Immer wieder war von den Vortragenden zu erfahren, daß jeder Schwierigkeiten hat, sein achtzehntes Jahrhundert gegen das voraufgegangene und gegen das folgende abzugrenzen. Die Grenzen der Epoche gaben sich auf der Tagung immer wieder zu erkennen, und ihre Randphänomene sind geeignet, immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Von den Rändern des achtzehnten Jahrhunderts her bestimmen sich in vieler Hinsicht die Bezeichnungen, mit denen wir gewisse Erscheinungen versehen, und von den Rändern der Epoche her wird gewiß auch diese oder j ene Perspektive bestimmt, die man für die Behandlung des achtzehnten Jahrhunderts wählen kann. Insofern sind alle Fragen, die sich üblicherweise aus Epocheneinteilungen ergeben, auch hier i nteressant. Gleichwohl geht es bei den hier vorgelegten Vorträgen nicht um die Formalien einer Epocheneinteilung. In ihnen tritt, und auch dies war dem Auditorium der Tagung bewußt, etwas anderes hervor: das gemeinsame Bemühen, das achtzehnte Jahrhundert nicht sozusagen von außen, vom siebzehnten und neunzehnten Jahr­ hundert her zu betrachten, sondern aus seinem Zentrum oder seinen Zentren heraus zu analysieren, mithin das zu identifizieren, was für die Epoche spezifisch ist: die Prämissen und Probleme, die Stile und Strukturen, die sie bestimmt haben. Es gibt die Auffassung, daß das achtzehnte Jahrhundert eine bloße Fortsetzu ng des siebzehnten gewesen sei, daß seine historische Funktion vor allem darin bestanden habe, die großen Ideen des siebzehnten Jahrhunderts in kleine, jedermann faßliche Gedanken zu übersetzen. Was das achtzehnte Jahrhundert besorgt habe, so lautet die These, sei im siebzehnten entstanden oder erdacht worden. Folglich lohne es sich nur, die Verteilungs- und Umsetzungsprozesse zu studieren, die sich dabei 8

vollzogen hätten. Wer diese Meinung hat, kann sie sicherlich durch Beispiele er­ härten. Vieles reicht in der Tat vom siebzehnten Jahrhundert ins achtzehnte hinein, und mancherlei setzt sich fort. Dies ist indessen nicht die Perspektive, die diese Vorträge bestimmt. Ihre Perspek­ tive, richtungweisend schon durch den ersten Beitrag des Bandes bestimmt, bringt in den Blick, daß das achtzehnte Jahrhundert eine Epoche sui generis ist - j ene Epoche, in der die Problemfelder in Erscheinung treten, die man ohne Zögern als grundlegend moderne Problemfelder betrachten darf. Es scheinen, aus dem Gesichtswinkel des Anglisten, aber nicht nur aus seinem gesehen, vor allem vier zu sein: der Kosmos (ungeachtet der Tatsache, daß Newtons Principia bereits 1 687 vorlagen), die Geschichte, die Gesellschaft und das Individuum. Für jedes dieser Probl emfelder warf das achtzehnte Jahrhundert, wenn ich recht sehe, Fragen auf, an deren Beantwortung man sich seither versucht. Es sind, und damit möchte ich auf den Charakter der Tagung zurücklenken, Problem­ felder, die den Zugriff der einzelnen Disziplin herausfordern, die sich aber l etztlich diesem Zugriff entziehen. Sie gehen in mehrfacher Hinsicht darüber hinaus, und wenn es einen Grund für die Einrichtung einer sich interdisziplinär verstehenden Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts gibt, dann den, daß ihr Gegenstand - das achtzehnte Jahrhundert - die Grenzen von Disziplinen ebenso überschreitet wie er (vielleicht zum letzten Male i n der Geschichte des europäischen Geistes) die Grenzen des Nationalen transzendiert. Es gibt, wie uns einer der folgenden Vorträge besonders bewußt macht, eine regionale und chrono­ logische Diversität des Zeitalters, zugleich aber eine Universalität, die das acht­ zente Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht zu ei ner übergreifenden Epoche der europäischen Geschichte macht. Dieses Zeitalter zu analysieren und zu verstehen, erfordert eine geistige Anstrengung, die mit Interdisziplinarität nur unvollkommen bezeichnet i st. Es ging bei dieser Tagung über das achtzehnte Jahrhundert als Epoche um große, weitreichende Perspektiven. Aber zugleich legen die Vorträge Zeugnis davon ab, daß Forschung heute Spezialfo rschung ist. In dieser Hinsicht konnte jeder der Vortragenden nur versuchen, den Part seiner Disziplin zu übernehmen. Doch zu­ gleich fordert der Gegenstand, dem sich die neue Gesellschaft widmet, die Synthese, und ich hoffe, daß die hier vorgelegten Vorträge auch als ein erster Versuch empfun­ den werden, der in diese Richtung weist. Münster, i m November 1 978

Bernhard Fabian

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RudolfSühnel Augusteischer Klassizismus: Das Zeitalter der Aufklärung in England

Im Traktat Status Europae incipiente novo saeculo schrieb Leibniz: in den Jahren, die das siebzehnte Jahrhundert abschlossen, habe eine neue Ordnung begonnen. Blicken wir heute aus der Vogelschau auf die damalige Geschichte zurück, läßt sich für diese Wende sogar ein genaues Datum bestimmen, zumindest für Eng­ land - aber da England in j enen Jahren an die Spitze der Nationen aufrückte, war das von Bedeutu ng für ganz Europa. Die beiden Könige auf dem Schachbrett der damaligen Staatenkonstellation waren lebenslänglich Antagonisten gewesen, militärisch, politisch, ideell und religiös. So waren sie Symbolfiguren, wobei der eine - König der Franzosen von Gottes Gnaden - in seiner Person die barocke Summe des auslaufenden siebzehnten Jahrhunderts verkörperte; wohingegen der andere - der vom Parlament berufene König von England - sich zeitlebens vor­ kämpferisch mit den Tendenzen des heraufkommenden achtzehnten Jahrhunderts identifizierte. Ludwig XIV, absoluter Herrscher in e inem zentrali stischen Staat, setzte sich in der Mitte seiner Laufbahn selber matt, als er 1 685 das tolerante Edikt von Nantes aufhob zugunsten einer monolithischen Orthodoxie. Der heterodoxe, merkantil­ technokratische Mittelstand wurde dezimiert, und eine halbe Million Hugenotten flohen nach England, Holland und Preußen. Was nach diesem wirtschaftlichen und i ntellektuellen Aderlaß vom 'grand siecle' übrigblieb, hieß fortan das 'ancien regime'. Es war das Ende der grandiosen Transzendierung der Zeit in der franzö­ sischen Klassik und der B eginn j ener aufklärerischen Refo rmbewegung, deren zu­ letzt bis zum Zynismus gesteigerte Kritik ein Jahrhundert später die Revolution herbeiführte. In Großbritannien bestieg im Unglücksjahr der Revokation des Edikts von Nantes der letzte Stuartkönig den Thron, Jakob II, Glaubensgenosse Ludwigs XIV und unfreiwilliges Werkzeug seiner e uropäischen Hegemonialpolitik. Jakobs II Versuch, nach französischem Muster die absolutisti sche H errschaftsform auch in England durchzusetzen - was schon seinem Vater den Kopf gekostet hatte - war doppelt unzeitgemäß: denn durch die Greuelnachrichten und Flüchtl ingsscharen aus Frank11

reich standen die Gefühlswogen von Anti-Absolutismus und Anti-Papismus auf Sturm, bei den freiheitsl i ebenden Bri ten ebenso wie bei den alarmierten Protestan­ ten in ganz Europa. So einigten sich die beiden Parteien im englischen Parlament darauf, Verhandlungen aufzunehmen mit der p rospektiven Thronfolgerin, einer Tochter Jakobs II. Mary war die Gemahlin Wilhelms von Oranien, des hero ischen Generalstatthalters von Holland, der seit einem Jahrzehnt alle Angriffe der fran­ zösischen Armee und Flotte an den Grenzen der Rep ubl ik aufgehalten hatte. Unter der Zuchtrute des tonangebenden Kalvinismus war die kleine Republik seit der Befreiung von Spanien zur wirtschaftlichen Großmacht aufgeblüht, und intellek­ tuell galt sie im siebzehnten Jahrhundert als der " Vorhof der Aufklärung". Die jahrelange Rivalität mit England im Überseehandel wurde nun durch die Personal­ union des Staatsoberhauptes beider Länder beigelegt. Ausdrücklich " i m Namen des Volkes" - "by the will ofthe people ofBritain" - wur­ de Wilhelm von Oranien auf den englischen Thron berufen. Vorher hatte er zur Absicherung der alten Bürgerfreiheiten gewisse Garantien gegeben: Mitbestim­ mung des Parlaments durch Gewaltentrennung in Legislative und Exekutive, Schutz des Privateigentum s als Freiraum individueller Selbstentfaltung, gesetzlich ver­ bürgte Redefrei heit und Abschaffung der Pressezensur, schließlich Toleranz in Glaubensfragen (unter Ausschluß der Extremisten, die als Orthodoxe auch ihrer­ seits keine Toleranz zu üben bereit waren und im Falle der kathol ischen Jakobiten subversive Verbindungen mit dem Erzfeind Frankreich unterhielten). Der Philo­ soph John Locke, der die neuen Prinzipien eines l iberalen Staates formulierte und dadurch zum theoretischen Inaugurator der Aufklärung in England wurde, befand sich an Bord desselben Schiffes, mit dem Wi l helm von Oranien am 5. Novem­ ber 1 688 den Ärmelkanal überquerte, an der Spitze einer kleinen Flotte, unbehindert durch Ludwig XIV, der gerade seine Aufmerksamkeit auf die Zerstörung der Rhein­ pfalz konzentrierte. Der Rubicon war überschritten und damit die Wende vom siebzehnten zum acht­ zehnten Jahrhundert vollzogen, nicht nur i n England, sondern i n dessen Gefolge auch in den von Wilhelm zu ei ner wehrhaften All ianz zusammengeschlossenen protestantischen Staaten Europas. Weil Jakob II abgesehen von einer Schar stuart­ treuer Jakobiten ohne Rückhalt im Lande war und widerstandslos ins Exi l gi ng, vollzog sich der Machtwechsel ohne Blutvergießen. Daher der Name 'Glorious Revolution': glorreich, weil unblutig. Charakteristischer noch ist die Bezeichnung 'Revolution Settlement' - für Klassenkampf-Ideologen eine mit Skepsis aufzuneh­ mende contradictio in adjecto, aber für pragmati sche Engländer Ausdruck einer mit Genugtuung zu registri erenden konstruktiven Leistung. Dieses 'Revolution Settlement' von 1 688/89 ist ein von John Locke philosophisch sanktionierter Gesellschaftsvertrag, ein auf typisch englische Art ausgehandelter Vergleich zwischen König und Parlament, Tories und Whigs, Landadel und City, 12

zwischen alten agrarischen und neuen merkantilen Interessen. So ausgewogen war dieser gesellschaftliche Balance-Akt, daß er 150 Jahre Bestand hatte, bis hin zur ersten Reform Bill von 1832. Selbst dann kam es nicht zum Umsturz ; die alte Vereinbarung war zwar brüchig geworden, aber sie konnte durch eine einschnei­ dende Reform des Wahlrechts wieder up-to-date gebracht werden, gefolgt von einer kontinuierlichen Reihe weiterer Korrekturen i n der zweiten, dritten und vierten Refo rm Bill von 1867, 1884, 1 9 18 (bis hin zum ' Social Contract' von 1975). Unser Thema ist der Zeitraum zwischen 1 688 und 1832, zwischen Revolution Settlement und erster Reform Bil l ; das ist in der englischen Geschichte eine in sich geschlossene Epoche mit einer stabilen hierarchischen Gesellschaftsordnung, die erstaunlich flexibel und leistungsfähig war, so daß sie die dramatischen welt­ geschichtlichen Ereignisse des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhun­ derts nicht nur intakt überstand, sondern deren Ablauf entscheidend mitbestimmte. Wie England sein eigenes Gleichgewicht i n der Innenpolitik behauptete, so betrieb es auch die Außenpolitik nach dem gleichen Grundsatz einer 'balance of powers' in ganz Europa, aktiv gegenüber den Hegemonialansprüchen Ludwigs XIV und Napoleons, passiv mit seiner Zurückhaltung gegenüber Metternichs Heiliger Allianz. Nicht nur i n der nationalen und internationalen Politik steuerte England zielstrebig einen Mittelkurs des Gleichgewichts zwischen konservativen und liberalen Kräften, sondern auch im wirtschaftlichen, im kirchlichen, im gesellschaftlichen und im intellektuellen Leben. Ich erinnere an die Begründung einer zwischen Egoismus und Allgemeinwohl ausgleichenden Nationalökonomie in Adam Smiths Wea/th of Nations. Ich erinnere an die p rekäre Gratwanderung der englischen Deisten zwischen Christentum und Atheismus. Ich erinnere daran, mit welch erasmianischer Konzilianz sich die Anglikanische Kirche zwischen Papisten und Evangelisten be­ wegte. Und ich erinnere an die rituelle Kultivierung praktischer Mitmenschlichkeit an der Nahtstelle von Aristokratie und Bourgeoisie in den Kreisen der gentry (Jane Austen). Ü berall war man daraufbedacht, von den gewachsenen Ü berlieferun­ gen jeweils genug beizubehalten, um die innere Sicherheit und die gemeinsame Plattform gegenseitiger Verständigung nicht zu gefährden; was nicht ausschloß, daß man i m Rahmen des common sense aufgeschlossen blieb fti r alles Neue, das man mit kritischer Behutsamkeit Stück ftir Stück i ntegrierte i n das elastische Gleich­ gewichtssystem einer in l ebendiger Fortentwicklung sich immer weiter differenzie­ renden großen Tradition. Was im Gefolge des Revolution Settlement die englische Mentalität im achzehn­ ten Jahrhundert von der französischen radikal unterscheidet, ist, daß die französi­ sche Aufklärung unterm Ancien Regime vorrevolutionärist, während die Aufklärung im parlamentarischen England nachrevolutionär i st. Im Gegensatz zum feudalen Aristokratismus der französischen Klassik des Grand Sieeie ist der englische 13

Klassizismus, der zeitlich mit der Auflärung zusammenfällt, eine Verbindung aristokratischer und bürgerlicher Züge. Er hat ein liberal-konservatives Gepräge. Der Pariser Anglist Lanson spricht, aus seiner französisch fixierten Persp ektive, von einem " Kompromiß-Klassizismus". Das ist richtig, wenn man diesen 'Kompro­ miß' nicht negativ versteht: im Sinne von halbherzig und prinzipienlos, sondern positiv : im Sinne e ines illusionslosen, aber konstruktiven Willens zur Herstellung eines fairen Vergleichs zwischen antagonistischen Kräften. Ehe Beispiele demonstrieren mögen, wie das i n der Praxis aussieht, werfen wir kurz einen Blick zurück auf die vorausgehenden Jahrhunderte. Hier war man schon lange bemüht gewesen, einen uralten historischen Gegensatz zu überbrücken, den von Christentum und Antike. Im Platonismus der Akademie zu Florenz war das Ziel beinah erreicht, als Pico della Mirandola seine Rede Überdie Würde des Menschen schrieb fii r einen kosmopolitischen Philosophenkongreß in Rom, auf dem die Aus­ söhnung der Ost- und Westkirche und sogar der großen Rel igionen verhandelt werden sollte. Die Idee hatte ein so weltweites Echo gefunden, daß der protegierende Papst den Plan trotz anfänglicher Zustimmung wohl aus Angst vor der eigenen Courage schließlich fallen ließ. Die kontinuitätsgläubigen Engländer haben also durchaus recht, wenn sie i m Unterschied zu den Festlandeuropäern die Aufklärungs­ parolen des achtzehnten Jahrhunderts nicht als revolutionären Durchbruch zu etwas völlig Neuern deuten sondern als Rei festadium eines langen historischen Prozesses; sie nennen ihr achtzehntes Jahrhundert " the silver age of the Renaissan­ ce". So sahen es schon die englischen Klassizisten selbst. In einer Art von kultur­ morphologischer Selbstinterp retation a Ia Oswald Sprengler setzten sie sich in Parallele zu den Augusteern i m nachrevolutionären Rom der Pax Augusta, zu den bewunderten Leitbildern Vergil und Horaz, die sich ja ihrerseits verstanden als silberner Nachglanz der goldenen Zeit der griechischen Kultur von Horn er bis Theokrit. Das diesem Schema entsprechende Goldene Zeitalter Englands war die Hochrenaissance mit Sidney, Shakespeare, Spenser, Bacon in der relativ friedlichen Schlußphase der langen Regierungszeit der Königin Elisabeth nach ihrem Doppel­ sieg über die Feinde innen und außen, Maria Stuart und Philip von Spanien ( 1 587-88). In der letzten Rede vor ihrem Tode fii h rte Eli sabeth ihre politischen Erfolge, die Prosperität des Landes und dessen kulturelle Blüte zurück auf das allzeit gute Einvernehmen zwischen Krone, Parlament und Volk. Ihre Höflinge und Diplomaten - wie Sidney und Raleigh - waren glänzende Verwirklichungen der Ideale der Renaissance nach dem Muster von Castigliones II Cortegiano, dessen poetische Quintessenz der j unge Prinz Harnlet ist - " des Hofmanns Auge, des Gelehrten Zunge,/Des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffnung,/Der Sitte Spiegel und der Bildung Muster,/Das Merkziel der Betrachter . . . " (III, 1). Der erste lebenweckende Frühlingswind aus Renaissance-Italien hatte England jedoch schon hundert Jahre vor Eli sabeth erreicht, um die Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert. In einem Brief von 1 498 erläuterte Erasmus seinen 14

Entschl uß, die Pariser Universität zu verlassen und nach Oxford zu gehen, um dort sein Griechisch zu vervollkommnen: nach Italien gehe man, um zu schauen ; nach England gehe man, um zu studieren. Das Zentrum der Studia Humaniora sei von Florenz nach Oxford verlagert ; England habe das Erbe Italiens angetreten. Sein intimster Freund seit dieser Oxforder Studienzeit wurde Thomas Morus, der wenige Jahre später von der Theorie zur Praxis hinüberwechselte, als er als Abgeordneter der mächtigen City of London ins Parlament gewählt wurde. Hier zeichnete er sich sofort durch eine ebenso brillante wie mutige Jungfernrede aus, die bewirkte, daß eine finanzielle Forderung des Königs abgelehnt wurde. Der Kronprinz, der kurz darauf als Achtzehnjähriger den Thron bestieg, hatte sich diesen kühnen Oppo­ sitionsredner gemerkt; er wählte ihn zum Freund und Berater, schließlich zum Lordkanzler, dem zweiten Mann im Staat. Zwanzig Jahre lang machte die Freund­ schaft zwischen Heinrich VIII und Moru s Westminster zu einem der glänzend­ sten Renaissancehöfe in Europa, zur Attraktion für Erasmus, Holbein, Vives, Colet, Linacre. Dann aber geschah in England dasselbe wie in den deutschen Reichsstädten und in Frankreich. Die überall aufblühende Renaissancekultur kam zwischen die Mühl­ steine von Reformation und Gegenreformation. Vergeblich versuchten Erasmus und Morus (der es mit dem Leben bezahlte), wie später auch Grotius und Leibniz, die unheilbringende Polarisierung zu verhindern. Das Equilibrium von Vernunft und Politik ließ sich nur für kurze Intervall e herstellen. Rel igionskriege - ein Kom­ plex von Gesinnungstyrannei und dynastischen Rivalitäten - verwüsteten durch zwei Jahrhunderte die Länder in Europa und der Neuen Welt. Im Pendelschlag von einem Extrem zum anderen folgte auf den Amoklauf Hei nrichs VIII in England die Bartholomäusnacht in Frankreich, auf Cromwells Regizid hier der Hugenotten­ mord dort. Dasselbe blutige Wechselspiel auch in Deutschland, Flandern, Irland, Savoyen . . . Dies ist i m kurzem Rückblick die Folie, vor deren dunklem Hintergrund die Welt im achtzehnten Jahrhundert buchstäblich sich "a u fz uklä r en begann. Das Hoch hatte sein Zentrum über England. Hier waren die Voraussetzungen günstiger als anderswo, daß aus einer dritten B lütezeit des Humanismus eine reiche Ernte nicht nur versprochen, sondern auch eingebracht werden würde. Mag die Sonne Homers für die Elisabethaner unmittelbare� und intensiver geschienen haben; in "the silver age of the Renaissance" war das Licht gedämpfter, aber dafür war der Tag auch länger. Für die Elisabethaner hatte das klassische Ideengut eine spontanere Zündkraft sowie rein imaginativ einen größeren Tiefgang; dafür aber hatte es im achtzehnten Jahrhundert eine viel größere Breitenwirkung. Diesmal wurde, zu­ mindest in England, nicht nur eine elitäre Spitzengruppe des Adels und der Intelli­ genz erfaßt, sondern ein stark erweiterter Kreis von Gebildeten aus Ari stokratie und Bürgertum. In Schottland, wo Latein sogar an den Dorfschulen obligatorisch war, ist auch der Bauernstand einzuschließen, der in England damals aufhörte, als solcher "

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zu existieren. Der expansionistische Elan der englischen Aufklärung war gekoppelt mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Handelsbürgertums, dessen frische Ko nkur­ renz auch den Adel mitriß und motivierte. Ein wichtiges Vehikel wurde den Aufklärern an die Hand gegeben durch die Presse­ freiheit, über deren Einhaltungjeweils diejenige politische Partei wachte, die gerade in der Opposition war. Am einflußreichsten unter den neuen Kommuni kations­ medien waren die vielen Moralischen Wochenschriften von Addisons Spectator über Dr. Johnsons Ra mb/er bis zu Goldsmiths Citizen of the World. Die Kunst der politischen und gesellschaftlichen Karikatur in Wort und Bild feierte Triumphe von Swift über Hogarth zu Gillray. Der Roman - noch nicht geschieden in high-brow und low-brow - stieg zur populärsten Literaturgattung auf; ich erinnere an den Welterfolg von Daniel Defoe und Samuel Richardson. Aber auch die regelmäßigen Berichte der Royal Society über Entdeckungen und Erfindungen fanden ein weit­ gestreutes Lesepublikum, ebenso wie die Rei se- und Forschungsberichte englischer Seefahrer wie James Cook. Damals begannen die Naturwissenschaften den Geistes­ wissenschaften den Rang streitig zu machen, weniger an den Universitäten als in den Experimentierwerkstätten von zahllosen Einzelgängern, von enthusiastischen a/1round Dilettanten im Sinne Goethes. Will man die naive Dynamik dieser weit ausgefächerten Aktivitäten kennen lernen, so werfe man einen Blick in einige Originalwerke j ener Zeit selbst. Ihre Sprache ist konkreter, klarer, aufschlußreicher als unsere moderne wissenschaftliche Sekundärliteratur darüber. Englische Natur­ forscher, Philosophen, Historiker, Nationalökonomen, Kulturkritiker - damals wie heute - reden eine Sprache, die dem common reader verständlich ist und so die Qui ntessenz ihrer Tätigkeit zum Allgemeingut macht. Courteoisie und Ge­ meinsinn i n England beginnt bei der Sprachkultur. Nehmen wir als Beispiel John Locke, den Vater der englischen Aufklärung. Er hatte nicht nur Philosophie studiert - Aristoteles, Bacon, Descartes, Gassendi - sondern auch Physik und Medizin. Dann war er Sekretär und Vertrauensmann eines fü hren­ den Politikers, der bei König Jakob II in Ungnade fiel und dem er nach Holland ins Exil folgte. Er erzog dessen Enkel, den nachmals berühmten Grafen Shaftes­ bury. Locke war ein weitgereister Mann von Welt, als er schließlich al s Sechzig­ jähriger seine Beobachtungen und Notizen aufzuarbeiten und seine epoche­ machenden Werke zu schreiben begann - nicht für Spezialisten, sondern fü r ge­ bildete Laien. Die Diktion dieses gentleman-philosopherhat nichts gemein mit dem, was Schopenhauer einmal nannte " die Professorenphilosophie der Philosophiepro­ fessoren". Viel näher steht Locke dem, was man in Frankreich seit den Enzyklo­ pädisten mit dem Begriff philosophe assoziiert: den welterfahrenen Weisen, der in vielen Wissenschaften zuhause ist und der sein Wi ssen in den Dienst der Aufklärung stellt - ein frei denkender Erzieher der Menschheit. Hatte im siebzehnten Jahrhundert das exuberante Bilderfeuerwerk der barocken Poesie das Mysterium des Lebens zu umschreiben versucht, so war nun die Ernüch16

terung gekommen. Die Standardsprache des achtzehnten Jahrhunderts ist eine auf ganz andere Weise genauso vollkomme!le und nie wieder erreichte klassische Prosa : es ist die Sprache der Vernunft, die in England ohne Agressivität und Arro­ ganz ist, da man sich seit dem maßvollen Locke und dem skeptischen Hume in die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens zu fügen gelernt hat. In seiner Ge­ schichte der Royal Society (1667, zweite Auflage 1702) bezeichnete Thomas Sprat als eine der Aufgaben der Akademie die rigorose Ausklammerung aller poeti schen Sprachelemente aus der wissenschaftlichen Prosa. Das Ziel sollte sein, so wie in einer mathematischen Formel, für jedes Faktum möglichst nur ein ei nziges Wort zu gebrauchen - "one thing, one word " . In einem Stil blatt verlangte Sprat von den Berichterstattern und Referenten " a close, naked, natural way of speaking ; positive expressions; clear senses; a native easiness, bringing all thi ngs as near the Mathe­ matical plainness, as they can : preferring the language of artisans, countrymen, and merchants before that ofwits and scholars. " Dieses neue Sprachvorbild ist der Schlüssel, mit dem Defoe in Robinson Crusoe 17 19 die neue Welt des bürgerlich-reali stischen Romans eröffnete. Der gleiche nüchtern-deskriptive Logbuch-Stil hilft Swift, seine 'saeva indignatio' eines ent­ täuschten Humanisten unter Kontrolle zu halten, als er Gulliver mit unbewegtem Buster-Keaton-Gesicht berichten läßt über seine Entdeckungsfahrten in immer neue Regionen omnipräsenter Unmenschlichkeit. In Swiftscher Manier wußten auch die Lyriker aus der säkularen Tendenzwende zu prosaischer Weltschau künstlerisch das Beste zu machen : durch Alexander Pope ging das achtzehnte Jahrhundert in die Weltliteratur ein als das klassische Zeitalter des Lehrgedichts und der Vers­ satire, einer genial imitierenden englischen Neuauflage von Lukrezens De rerum natura, Vergils Georgica, Horazens Episteln, Martials Epigrammen. Die große Literatur der Epoche, so kann man also sagen, ist hervorgegangen aus der schöpferischen Anverwandlung eines Sprachideals, das zuerst i n den Statuten einer Akademie artikuliert wurde - nicht einer Sprachakademie, wie es die Academie Francaise war, sondern einer naturwissenschaftlichen Akademie, der Royal Society for the Improving of Natural Knowledge. Ihr spiritueller Inaugurator war Lord Bacon gewesen. Ihr berühmtester Präsident war Isaac Newton, von 1703 bis zu seinem Tode 1727. Gemäß Gründungsstatut waren theologische Erörterungen rigoros ausgeschlossen; die überließ man den Ki rchen und Sekten. Auch politische Diskussionen waren ausgeklammert, da sie in die Kompetenz des Parlaments ge­ hörten. Ein riesiges i ntellektuelles Energiepotential wurde nun frei, buchstäblich frei, sich unvoreingenommen auf die Erforschung der Natur in allen ihren Aspekten zu konzentrieren. Die unvoreingenommene Ö ffnung für die Erscheinungen der Natur: das ist, auf eine Formel gebracht, das Hauptkennzeichen des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist eine neue, eine zweite Entdeckung der Natur, diesmal vor allem mit Hilfe des Experi­ ments, während bei der ersten Ö ffnung für die Natur in der Renaissance meist die 17

antiken Naturphilosophen und Naturforscher den Anstoß gegeben hatten. An der Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrh undert scheint es der Abstoß von der Theologie gewesen zu sein, der eine geradezu beflügel nde Wirkung hatte. Wie befreiend man die Entdeckung der Natur empfand, als Tageslicht nach einem nächtl ichen Albtraum, zeigt Popes Hymnus auf Newtons Philosophiae Naturalis Princip ia Mathematica von 1687: Nature, and Nature's Laws lay hid in Night. God said, Let Newton b efand Al l was Light! Diese Verse sind das Motto der grundlegenden Monographie von Basil Wi lley, The Eighteenth Cen tury Background: Studies on th e ldea of Na ture in the Tho ught of the Period (1940 u.ö.). Die leichte Verfügbarkeil dieses (inzwischen auch als

Penguin Paperback nachgedruckten) Standardwerkes enthebt mich der Versuchung, das Abrollen der Natur-Lawi ne durch die ganze Breite der Kultur des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Romantik resümieren zu wollen. Als pars pro toto wähle ich einen Ausschnitt, der zunächst recht abseitig zu sein scheint; aber ich hoffe zeigen zu können, wie eminent zentral und charakteristisch er für England im achtzehnten Jahrhundert ist. Es ist der Enthusiasmus der breit­ gestreuten semi-feudalen, semi-bürgerlichen Grundbesitzerklasse für Ian dscape gardening oder nature improving, für weiträumige Landschafts-Architektur, die das Gesicht der Insel von Grund auf veränderte. Dieser Juror hortensis hat ein über­ wiegend baumloses, unwirtliches Moor- und Heideland innerhalb eines Jahrhun­ derts in jene idyllische Parklandschaft verwandelt, die seitdem meist als eine Natur­ gegebenheit hingenommen wird (vor allem seit dem partiellen roll-back in den Industriegebieten der Midlands im neunzehnten Jahrhundert). Tatsächlich ist die grüne Insel, wie wir sie heute kennen, ein Vermächtni s der grünen Kunst des 18. Jahrhunderts, ihrer Parkomanie, wie sie der von den Engländern infizierte Graf Pückler-Muskau genannt hat. Diese grüne Architektur ist ein besonders lohnendes Demonstrationsobjekt, weil sie den Charakter eines Gesamtkunstwerks hat, in dem sich mehrere Tendenzen der Zeit harmonisch vereinigen. Ich will nur drei nennen: Naturandacht, Antikenkult, Freiheitspathos. Die Verbindung dieser drei Elemente kennzeichnet die britische Variante der Gar­ tenkunst, die es als solche natürlich in wechselnder Form in allen Hochkulturen gibt: in Persien, von wo unser Wort 'Paradies' stammt; in Chi na, das sich als Chinoi­ serie gerade im achtzehnten Jahrhundert geltend zu machen begann ; im maurischen Andalusien, dessen patio den mittelalterlichen Klostergarten beeinflußte. Höhe­ punkte unserer abendländischen Tradition sind die Villengärten im kaiserl ichen Rom, die das Vorbild lieferten für Renaissance-Italien, von wo die Linie weiterläuft nach Frankreich im siebzehnten Jahrhundert und nach England im achtzehnten Jahrhundert. Immer i st die sich wandelnde Gartenkunst ein treuer Spiegel des Welt­ bilds einer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Struktur. Welche Welt- und Gesell­ schafts-Konzeption findet ihren Ausdruck im englischen Naturpark? 18

1 . Die Bewegung 'zurück zur Natur' muß man sich in England weniger emotional und weniger sentimental vorstellen als i hre spätere Abzweigung auf dem Festland im Gefo lge von Rousseau. Der vorhin zitierte Chronist der Royal Society, Thomas Sprat, der im Hauptberuf anglikanischer Bischof von London war, konstatierte erstaunlich kühl, das Christentum habe seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts seinen Halt über die Menschen weitgehend verloren; viele seien nur noch nominell Christen, und persönlich suchten sie einen Ersatz anderswo. Der Bischof findet das verständlich und empfiehlt, die durch Blutvergießen diskreditierten fruchtlosen metaphysischen Streitereien aufzugeben und sich hinzuwenden zur rationalen Er­ forschung der Natur, die ja Gottes Schöpfung ist und somit implicite eine pauschal e Anerkennung des christlichen Credos voraussetzt. BischofSprats rationale Rel igion, die von lsaac Newton akzeptiert und fromm gelebt wurde, unterscheidet sich nur um Nuancen vom Deismus, der die Ordnung der Natur vergleicht einer perfekt funktionierenden Uhr, die auf einen perfekten Uhrmacher schließen läßt, auch wenn dieser völlig unbekannt ist. Auch von Locke wird cler Offenbarungsglaube als Er­ kenntnisquelle abgeschrieben und der heiße Draht zur Transzendenz gekappt; die Aufgabe des Verstandes i st die systematische Aufarbeitung des Materials, das uns durch die Sinne zugeführt wird. Dieses diskursive Denken des induktiven Empiristen John Locke ergänzt der Pla­ toniker Shaftesbury durch sein Plädoyer für eine intuitive Naturkontemplation, . die die Einheit in der Vielheit erkennen und obj ektiv als Schönheit wahrnehmen läßt. Subjektiv entspricht dem die ekstatische Freude, die sich bei einer solchen hingegebenen Schau einstellt. Shaftesburys Funke hat nicht nur in der engli schen Naturlyrik gezündet sondern auch bei den deutschen Klassikern, wie Goethes Natur­ hymnus und Schillers Lied an die Freude bekunden. Näher bei Aristoteles steht Joseph Addison, der die Erfüllung der Natur in der Kunst sieht, soweit der Künstler Maß hält und die Natur nicht forciert, sondern wie eine Hebamme nur ihre imma­ nenten Intentionen, ihre naturgesetzliehen Enteleebien vollendet. Das Ideal ist das 'klassische' einer größtmöglichen Annäherung der Natur an die Kunst und der Kunst an die Natur. Die Kunst darf als solche nie bemerkt werden, sondern sie muß zweite Natur geworden sein. Addisons Leitbild ist eine frei gewachsene, voll entfaltete Eiche in einem Naturpark, wo die behutsame Pflege des Gärtners dafür sorgt, daß jedes Gewächs sich optimal entwickeln kann. Die Identifizierung von "Natur" und " Gottes Schöpfung" impliziert ein Urmodell im Zustand der Vollkommenheit, in Relation zu demjede Wi rklichkeit nur ein Abfall sein kann, oft geradezu eine Parodie (wie Goethe einmal sagte). Aber als Utopie oder Traumbild geistert das Ideal im Kol lektivbewußtsein der Menschheit, und die Kunst hält es in ihren vollkommensten Gestaltungen lebendig: als Arkadien in Ver­ gils Eklogen, als Garten Eden in Miltons Paradise Lost, als mediterrane Idealland­ schaft bei Claude Lorrain. Das sind im achtzehnten Jahrhundert Leitbilder, an denen die Fehler der Zivilisation gemessen werden. Die immer wieder ausgegebene Parole, 19

zumindest die eigene Umwelt in Ordnung zu bringen und seinen Garten zu kulti­ vieren, mag negativ erscheinen als Flucht aus der Zivilisation, als Aussteigen aus der Geschichte ; aber sie ist positiv gemeint als tätige Rückeroberung eines Stückes heiler Welt. Alexander Pope zeigte den Weg : sowohl in der Praxis des eigenen Model lgartens in Twickenham als auch in dem programmatischen Gedicht Epist/e to Lord Burfington ( 1 73 1), dem visionären b/ue prin t eines englischen Parks, wie er sein soll, mit einem satiri schen Exkurs, was neureiche 'Angeber' daraus machen. 2. Mit der Naturandacht des achtzehnten Jahrhunderts verbindet sich eine Neuauf­

lage des Antikenkults. Die 1 7 1 9 beginnenden Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeii gaben einen Impuls, der primär anschaulicher Natur war. Kurz vorher hatte auch Shaftesbury einen neuen Ausblick eröffnet. Er schrieb eine Eulogie auf die freie Verfassung Athens, vor allem unter Perikles, die sei nen Bürgern die volle Rund-um-Entfaltung ihrer Menschlichkeit ermöglichte - zum ewigen Ruhme ihrer Wissenschaften und ihrer Künste. Wie die kanonischen Skulpturen Polyklets oder Lysipps illustrieren, die Shaftesbury in Neapel sah, transzendierten die Grie­ chen die Zufälligkeiten alles bloß Historischen und gründeten ihre klassische Kunst auf die ewigen Gesetze der Natur. Diese zeitlosen griechischen Vorbi lder imitierten die unvoreingenommen b ewundernden Römer in ihrer klassizistischen Epoche, vor allem unter Augustus. So initiierten sie den Humanismus, das Ideal einer Erziehung durch das Studium klassischer Autoren ; sie begründeten damit eine der beiden kontinuierlichsten Traditionen der abendländischen Kultur. Mit dem anderen Traditionsstrang, dem christlichen, bestand eine eminent befruch­ tende Rivalität, bis schließlich in der Renaissance eine Harmonisierung erfolgte. In der Malerei der Renaissance und des Barock ist es am augenfälligsten, wie christ­ liche Ikonographie und antike Mythologie sich ein friedliches Kopf-an Kopf-Rennen geben. Bis dann im endlosen Theologenstreit des siebzehnten Jahrhunderts eine verbindliche christliche Gottesvorstellung sich auflöst und im achtzehnten Jahr­ hundert das Feld dem Pantheon der antiken Götter überlassen bleibt. Zwar hatte der blinde Mi lton in seinem Alterswerk Paradise Regained ( 1 67 1), so wie später der al­ ternde Tolstoi, seiner lebenslangen Faszination du rch die heidnische Kunst abge­ schworen und mit zorniger Patriarchengebärde die antike Götterwelt exorzisiert. Aber aus ihrem ewigen Frühling wurde sie bald von den Künstlern des Rokoko zu­ rückgerufen, zahlreicher und berückender und unbefangener als je. Ü berall treten sie in Erscheinung, in katholischen Ländern sogar auf den Kuppelgemälden der Gotteshäuser, auf den Wandfresken bischöflicher Residenzen, in den Ni schen der Andachtskapellen. Für die vergleichsweise neo-heidni schen Engländer sind die alten Naturgötter eine präzise Antwort auf das Unbestimmte des neuen Naturgefühls. Die englischen Parks sind Freilichtkirchen, deren Ikonographie nostalgische Assoziationen an die mediterrane Kulturlandschaft erweckt, an Vergils Latium, an Claude Lorrain, Tivoli, 20

Horazens Sabinertal, die Höhle von Cumae. In Naturgrotten und nachgebil deten Tempeln wird vor allem der chthonischen Götter gedacht : der Jahreszeitgottheiten Proserpina, Ceres, Bacchus, Isis, Flora, sowie der Nymphen und Flußgötter. Unter den konventionellen Hauptgöttern domini eren Apollo als Licht- und Musengott ; seine Schwester Diana als Göttin des Wi ldes, der Fluren, der Mondnacht ; Saturn mit Sense und Stundenglas ; Merkur als Gott des völkerverbindenden Handel s. Dazu der Halbgott Herakles als Heros der 'Leistung' sowie allegorische Personi­ fikationen der Freiheit, der Freundschaft, des Friedens. In Hai nen stellte man Büsten oder Gedenktafeln auf zur Erinnerung an berühmte Menschen : Aristoteles, Epikur, immer wieder Vergil ; dazu ihre britischen Gegenstücke : Mi lton, Newton, Locke . . . Wie i n den bil denden Künsten so war die antike Mythologie die legitime Herrseherin auch in der Dichtung, vor allem in Oden und in deskriptiver Natur­ lyrik, von Popes Windsor Forest über Thomsons Seasons bis zu Collins Ode to Evening und Keats' Oden an den Herbst und auf eine griechische Vase. Im elitären englischen Bildungswesen der Zeit waren griechische und lateinische Autoren - Homer, Vergil, Horaz - nahezu die ei nzige Lektüre. Antike Skulpturen dienten als Modelle der Humanität im Anschauungsunterricht der public schools und Universitäten. Auf der obligaten Kavali ers-Tour erlebten die bildungsbeflis­ senen jungen Aristokraten und ihre Mentoren Italien mit eigenen Augen. Als Er­ innerungsstücke an die humanisti sche Pilgerfahrt nach Rom und Neapel kauften sie - wie man im Mittelalter christliche Rel iquien gesammelt hatte - antike Vasen und Skulpturen, alte Drucke und Stiche, Bilder von Claude, Poussin, Salvator Rosa. Zuhause entstanden private Antikensammlungen in Landhäusern, deren pal­ ladianischer Stil auf Vitruvius zurückging. Die Gärten und Parks um diese Vi llen herum wurden stilisiert zu klassischen Bildungslandschaften, die eine wiederherge­ stellte heile Welt verkörpern sollten, ein Leben in Arkadien in der Tradition von Horazens damals meistzitiertem Gedicht "beatus ille qui procul negotiis". 3. Ich komme zum dritten Punkt : der Gesellschaft, di e sich in diesem klassizistischen Naturpark-Ideal widerspiegelt. Die englische Gesellschaftsstruktur im achtzehnten Jahrhundert ist das Produkt der Glorious Revolution von 1 688/89, durch die sich die politische Macht verlagerte von der Krone auf das Parlament. Damit bekam auch der Garten eine andere Funktion; er wurde entpolitisiert und privatisiert. In Frankreich, wo die Revolution erst hundert Jahre später kam, war Le Notres streng geometrischer Park von Versailles die grandiose Schaubühne, wo der Monarch inmitten seines Hofstaates die rituelle Selbstdarstellung und barocke Ostentation der in ihm personifizierten Herrscherwürde zelebri erte. Solche aus öffentlichen Steuern finanzierte Repräsentation stand nur den Fürsten zu und war nur ihnen möglich. In England dagegen war das Zeitalter des Absolutismus mit Karl I auf dem Schafott und Jakob II im Exil zu Ende gegangen. Die emanzipierte, tonan­ gebende Oberschicht, die hinfort beim Regieren parlamentarisch mitbestimmte, 21

lebte (abgesehen von der 'London Season') fern von Hof und Metropole über ganz England verstreut, in ihren Wahlkreisen, auf ihren Landsitzen, auf deren Hinter­ grund Gainsborough sie porträtierte, nicht in höfischer Beflissenheit sondern im Sel bstbewußtsein des Briten als eines freien Individuums. In seiner Tour through Great Britain (1724 -26; zweite Auflage 1742) beschreibt der scharfe Beobachter Daniel Defoe die zahlreichen, prosperierenden country estates als ebensoviele Zellen von lokaler Vitalität, deren private Kunstsammlungen und Bibliotheken einen aufgeklärten Paternal ismus ausstrahlten, während die Besitzer nicht nur das Weidwerk zünftig betrieben, sondern in ihrer Funktion als Friedens­ richter auch ehrenamtliche Verwaltungsaufgaben erfüllten, vor allem aber als Farmer durch das Experimentieren mit modernen Methoden die Landwirtschaft revolutionierten. Hierbei gaben die Whigs als die Wohlhabenderen und Bewegli­ cheren den Ton an. Die Tori es rekrutierten sich aus dem alteingesessenen Landadel, derjedoch seit Cromwell s Royalistenverfolgung dezimiert und durch seine zwischen Stuarts und Hannoveranern geteilte Loyalität geschwächt war. Drei Viertel des alten Adelsbesitzes in Südengland war um 1700 übergegangen in die Hände kapitalkräftiger City-Magnaten und der mit ihnen durch Heirat lii erten Whig-Ari stokrati e : Bankiers, Juristen, Handelsherren, Nabobs, Plantagenbesitzer, aber auch Ex-Gouverneure, Ex-Generale, Ex-Admirale, die ftir die zweite Hälfte ihres Lebens ein repräsentatives Refugium " procul negotiis" suchten. Zudem war Grundbesitz das Statussymbol schlechthin. Kapitalinvestition in Land wurde vom Parlament gefördert und durch Privatisierung von Gemeindeland legalisiet. Dies ging auf Kosten des Standes der Kleinbauern, die durch solche enclosure acts sowie infolge der Ablösung der alten Heimindustrie durch das Fabriksystem ihre traditionelle Existenzgrundlage verloren, in England viel eher als anderwo. Andrerseits ermöglichte die Ü bereignung an unternehmende, kapitalkräftige Grundbesitzer die Flurbereinigung sowie eine größere Rational isierung. Während in Frankreich die Bauern noch selbstgenügsam ftir Eigenbedarf und Tausch, da­ rüberhinaus aber lustlos ftir rigorose Steuereintreiber aus der Hauptstadt produ­ zierten, begann die engl ische Landwirtschaft intensiv und extensiv betrieben zu werden nach kapitalistischen Prinzipien, mit gewinnbringenden Ü berschüssen ftir die Versorgung der rap id anwachsenden Stadtbevölkerung mit Agrarprodukten sowie der p rosperierenden Textilindustrie mit größeren Rohstoffmengen. Gewinn­ bringend wie die Erzeugnisse aus Ackerbau und Weideland war auch die systema­ ti sche Aufforstung, die fast ausschließlich der Umweltverschönerung diente; so hat man nachgerechnet, daß allein die beiden berühmtesten Landschaftsgärtner Capabi lity Brown und Humphrey Repton den Import und die Anpflanzung von etwa 40 Millionen Bäumen veranlaßten und dirigierten, darunter zahlloser neuer Arten aus Ü bersee, die im milden englischen Kl ima gut gediehen. König Georg III (1760-1820), der sich in der Landwirtschaft besser auskannte als in der Politik, 22

empfand es als Kompliment, wenn er im Volksmund " Farmer George" genannt wurde. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war ein Viertel des englischen Bodens Brach­ land, Heide oder Sumpfgebiet gewesen. Ende des Jahrhunderts war durch Drainage, Felder-Rotation, Ausdehnung von Weideland, Aufforstung, Iandscape gardening, sowie durch verbesserte Straßen die Metamorphose weiter Strecken Englands in eine ausgedehnte Parklandschaft erfolgt. Das geschah zum Entzücken der engli­ schen Landschaftsmaler von Wilson bis Constable und Turner, sowie der Natur­ dichter von Thomson und Gray bis hin zu Wordsworth. Die Romantiker bezogen ihre Inspiration nicht mehr aus Italien, sondern sie schöpften sie unmittelbar aus der Natur, d. h. aus der englischen Kulturlandschaft, die sie unbefangen als Gottes Schöpfung aus erster Hand apostrophierten. Was man leidenschaftlich träumt, das geht schließlich in Erfüllung. So auch hier. Ein uralter pastoraler Menschheitstraum wurde durch den Spieltrieb einer klassisch gebildeten Schicht p ragmatischer na­ ture improvers - Naturverbesserer - zur exklusiven Wi rklichkeit eines partiell wiedergewonnenen Paradieses, woraus dann bei Rousseau und den Romantikern unwillkürlich eine die Imagination frei setzende Seelenlandschaft wurde. Et ego in Arcadia:diese aufPoussin zurückgehende Parole - erst konkret in dem von Goethe als Motto seiner Italienreise gebrauchten Sinne, dann metaphorisch im roman­ tisch-anamnetischen Sinne Schil lers ( " Auch ich war in Arkadien geboren") - wurde für England und durch England buchstäblich das Stigma eines Jahrhunderts. Im Jahre 1794 sieht der Gartenarchitekt Repton eine Paral lele zwischen englischer Gartentheorie und politischer Verfassung, und er kommentiert das Ansehen, das beide im übrigen Europa genossen: " The simplicity and el egance of English garde­ ning have acqui red the approbation of the present century as the happy medium betwixt the wildness of nature and the stiffness of art ; in the same manner as the English constitution i s the happy medium between the liberty of savages and the restraint of despotic government. " Von Ü bersee aus machte eine Generation später Emerson ebenso nüchtern die Einschränkung : nur die Engländer verstünden, wie man mit Freiheit umgeht. " Only the English can be trusted with liberty". Wie sahen also die Menschen aus, die Mitglieder dieser dem Klassizismus verschrie­ benen, spezifisch englischen Gesellschaftsschicht, die nach einem geschäftigen Leben draußen in der Welt im Rahmen eines friedlichen Naturparks ihr Refugium fanden? Wir kennen sie aus der Portraitmalerei der Zeit und den großen Romanen. Klassische Kunst ist ja in erster Linie Gesellschaftskunst, in der Antike ebenso wie im achtzehnten Jahrhundert. Die hierarchisch strukturierte Fülle vitaler Charaktertypen aus Fieldings Tom Io nes steht ebenso p lastisch vor unseren Augen wie die l iebenswert komische Idyllik von Goldsmiths Vicar of Wakefield. Der letzte Höhepunkt klassizistischer Romankunst ist das schmale, wie Gemmen ziselierte Werk von Jane Austen. Ihre Prosa ist ein reifes Produkt der gesellschaftlichen Kul­ tur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, an dessen Anfang Alexander Pope 23

mit seinem Rokoko-Epos The Rape of the Lock ebenso graziös wie i ronisch p rälu­ diert hatte. Jane Austens Romane sind das Denkmal der englischen Gentry am Schnittpunkt von Bürgertum und Adel. Im Roman Mans.field Park wird das Credo dieser Gesellschaft explicite zusammengefaßt in folgenden fünf Kardinaltugenden: erstens Courteoisie, die selbstverständl iche Pflicht der Höflichkeit dem Mitmen­ schen gegenüber; zweitens Self-Control, Selbstbeherrschung, als die Fähigkeit, irrationale Impulse unter Kontrolle zu halten; drittens Benevolenz: über eine takt­ volle Rücksichtnahme auf den Nächsten hinaus ein aktiv-fürsorgendes Mitsein mit ihm ; viertens Dekorum, jener Instinkt für das Richtige und Angemessene, für das, was Goethe im Torquato Tasso " das Geziemende" nennt ; fünftens, klare Selbst­ erkenntnis, die illusionslos, nüchtern und maßvoll zum Sich-Einfügen in die Gren­ zen der Menschheit führt. Die Vermenschlichung des Menschen vermittels eines einfachen Kanons sozialer Tugenden: diesen Weg hatte schon Shaftesbury gewiesen. Gemäß diesem Ideal wird der eigentliche Mensch, der homo vere humanus, erst in einer zweiten Geburt wirklich geboren : als ein Produkt von Erfahrung, Zucht, Bildung, Läuterung. Solche Initiation des jungen Menschen in die Gesellschaft der Erwachsenen ist das Thema aller Romane von Jane Austen. Ein normatives Gefüge allgemein-verbindlicher Sitten ist ihre tragende Substanz, vergleichbar Adalbert Sti fters Nachsommer mit seiner Verwurzelung in der kulturgesättigten Atmosphäre des vormärzliehen Ö ster­ reich. Nach Goethe ist es charakteristisch für klassische Kunst, auf den Gesetz­ mäßigkeiten von Natur und Geschichte gegründet zu sei n ; so ergibt sich die Struktur eines Austen-Romans organisch aus der stabilen Lebensordnung der damals kultur­ tragenden Gesellschaftsschicht. Diese Kultur der Mitmenschl ichkeit hat im angel­ sächsischen Alltag bis heute überlebt - über die Schwelle der durch die rapide Industrialisierung notwendig gewordenen ersten Reform Bill von 1832 hinaus, eines wiederum parlamentarisch ausgehandelten neuen Gesellschaftsvertrages, der den Ü bergang von der konservativen semi-feudalen Agrargesellschaft zum progres­ siven semi-demokratischen Industriestaat abermals ohne Traditionsbruch ermög­ lichte, den Ü bergang von der stillen vormärzlich-statischen Parkidyllik der gentilen Welt von Jane Austen zu der turbulenten robusten darwinesken lndustriegroß­ stadtdynamik der humanitären Romane von Charles Dickens.

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Roger Bauer Die Österreichische Literatur des Josephinischen Zeitalters: Eine werdende Literatur auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen

Der Titel dieses Referates nennt die Hypothese, von der es ausgeht: Die Existenz einer spezifi schen, originellen Österreichischen Literatur, die im Laufe des acht­ zehnten Jahrhunderts neue Ausdrucksformen suchen und finden muß. Mit der Formuli erung "österreichische Literatur" soll nicht mehr und nicht weniger gesagt sein, als daß sich in den habsburgischen Erb landen eine Sondervariante der deutschsprachigen Literatur entwickelte, die den Historiker zwi ngt, nach den Grün­ den ihrer Entstehung zu fragen. ,Neue' Literatur oder, präziser, 'werdende' Literatur muß es heißen, weil damals und dort eine Literatur in deutscher Sprache praktisch ex nih ilo entstand : eine Literatur, die sich auf keine lebendige lokale Tradition, auf keine autochthonen Vorbi lder stützen konnte; wenn sie sich aber - was sich immer wieder ergab - an die Modelle des protestantischen Nordens hielt, verfuhr sie dabei sehr eigenwillig: deutete um, paßte an, assimilierte, oder - wie es auf österrei­ chisch heißen muß - "nostrifizierte". Die Fakten sind wohlbekannt, und ihre Interp retation macht keine Schwierigkeiten. Wie in den anderen Teilen des deutschen Sprachgebietes, bedeutete auch in Ö ster­ reich der große - dreißigjährige - Krieg das Erlöschen der einst florierenden städtisch-bürgerlichen Kultur und Literatur. In Ö sterreich gab es aber keine Neu­ blüte, wie i n anderen deutschen Ländern. (Nicht einmal die "schlesische" Litera­ tu r - und Schlesien gehörte damals noch zur habsburgischen Wenzelskrone strahlte bis nach Wien aus). Das Begriffspaar Wortbarock-Bildbarock, mit dem man vor noch nicht allzu langer Zeit d iesen Sachverhalt umschrieb, sagt das Wesentliche aus : die ,barocke' Kultur des katholischen Südens war nur i n Ausnahmefällen eine literarische.

Der Sieg der Habsburger - auch und vor allem ein Sieg über die Stände und die Städte - war zugleich der Sieg der Gegenreformation und der einer neuen kosmo­ politischen Adelsschicht In allen Erblanden erziehen Jesuiten, Benediktiner, später Piaristen usw. in ihren Gymnasien und Universitäten Zöglinge und Studenten, die nur zum Teil Deutsche 25

sind und deutsch sprechen. Die strikte Latinisierung und somit Kosmopolitisierung des Unterrichts entspricht dieser Sprachvielfalt, mit dem Erfo lg, daß viel länger als i m p ro t e s t a n t i sc h e n Deutschland - z. T. bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein der U n terri cht l atei n i sch ist. In den zentralen Gebieten, in Böhmen, in den Österreichischen Herzogtümern und in der Residenzstadt Wien entsteht eine neue Adelsschicht, durchsetzt mit neuein­ gewanderten Spaniern, Italienern, Niederländern und bald Lothringern. (Die während des Krieges von neuen, z. T. ausländischen Adel sgeschlechtern der Krone geleisteten Dienste wurden mit der Zuweisung von konfiszierten Länderei en der ,Rebellen' belohnt). Auf der kaiserl ichen Burg wie in den Schlössern und Stadtpalais der Esterhazy, Lobkowitz, Hoyos, Bucquoy, Clary, de Ligne, und wie sie alle heißen, bedient man sich vorzugsweise des Französischen oder des Italienischen. (Wie die deutsche, werden in diesem kosmopolitischen Milieu auch die anderen Vernakular­ Sprachen, vor al len die slavischen, vernachlässigt.) Bis tief ins neunzehnte Jahr­ hundert hinein wird diese ,fremde' Oberschicht der deutschsprachigen Literatur nur ein geringes Interesse entgegenbringen, und das gilt auch für den hispani sierten, italianisierten und dann französisierten Hof. Die Folgen : Die wenigen in den Annal en der Literatur vermerkten Namen von Ö sterreichern aus jener Zeit sind solche protestantischer Exulanten, wie z. B. Wolf­ gang Helmhard von Hobberg ( 1 6 1 2- 1 688) und Johannes Beer ( 1 655-1 700), bzw. die von Meistern des eher gesprochenen als geschriebenen Wortes : des Hof- und Volks­ predigers Abraham a Santa Clara (alias Ulrich Megerlein) ( 1 644- 1 709) und des " Hans-Wurst" Joseph Anton Stranitzki ( 1 676?- 1 726). Die kaiserlichen Hofdichter sind aber, wie schon ihr Titel poeti cesarei verrät, aus­ schließlich und sozusagen dejure Italiener: von Apostolo Zeno über Pietro Meta­ stasio bis zu Giovanni Brambilla (gest. 1 803). Als Leibpoeten hielt sich Eugen von Savoyen - der " heimliche Kaiser" - eine Zeit lang einen aus Paris exilierten Franzosen : Jean-Baptiste Rousseau ( 1 670- 1 74 1 ) . D i e Literatur, d i e in d ieser höfisch-aristokratischen Umwelt gedeiht, ist eine Litera­ tur der Ostentation und der Repräsentation. Ihre Aufgabe bleibt, der kai serlichen Macht zu huldigen und den Rahmen zu verklären, in dem sie sich ,darstellt' ! Ähnliche Funktionen übernehmen auch die anderen Künste, vor allem die Archi­ tektur und die Musik. Das heißt: auch die Literatur wird zur ornamentalen Kunst, zur Ausstattungskunst Ein Beispiel hierfür: In der Ode, die Metastasie noch 1 776 der " deliziosa imperial residenza di Scönbrunn" (sie !) widmet, wird die reale Land­ schaft mit unzähligen allegorisch-mythologischen Ornam enten verziert. Sie ver­ wandelt sich so in eine stereotype Theaterdekoration, vor der die quasi-liturgi sche Verherrlichung der Kaiserin vor sich geht. 26

Es ist die Rede von " chiare fonti", von " acque limpide e ridenti", von " selve amene", die an die " bei soggiorni" des "Alcinoo" erinnern, oder an " delle Esperidi sorelle . . . le piante onuste d 'oro". Die Herrseherin aber wird zur Göttin des Ortes: Quella Dea ehe regna in queste [ sponde] E le adorna, e le riveste Di splendore e maesta, Quella Dea ch'ogni alma incanta, Quella Dea di cui si vanta A ragion la nostra eta. ' )

Im Laufe des Jahrhunderts entsteht dem noch feudalistisch strukturierten Staat der Habsburger eine neue politische Konkurrenz im Norden: Preußen und Rußland. Dieses challenge, das heißt 'Gefordertsein' verlangt Wachsamkeit und eine konse­ quente Reform des Staates, um diesen zu stärken, ihn konkurrenzfähig zu machen. Bisher bestand dieser Staat aus einem Konglomerat von Kronen und Territorien, die nur die Person des obersten Lehnsherrn zusammenhielt. Das Gebot der Stun­ de - des Jahrhunderts - verlangt eine Wandlung dieses i m Grunde noch feuda­ listischen Staates zu einem modernen, straff organisierten Einheitsstaat mit einer einheitlichen Verwaltung. Die Beamten aber, auf die sich d ieser erneu erte Staat stützen soll, werden im Geiste einer neuen, festgefügten Staatsdoktrin ausgebildet, der nachträglich der Name des konsequentesten Reformkaisers - Josephs II - gegeben wurde. (Begonnen wurde die Reform schon viel früher, und selbst die josephinische Kirchenreform geht wenigstens auf Kaunitz zurück.) Diese eben genannten Beamten stammen größtenteils aus dem städtischen Bürger­ tum (und zum Teil aus dem verarmten Kleinadel) der Erblande, das heißt aus Gegenden und einem Milieu, wo die deutsche Sprache vorherrscht. Daß Wien - nun die nicht mehr in Frage gestellte Hauptstadt des Gesamtreiches - deutschsprachig ist, hat natürlich auch seine Folgen. Das Deutsche als oberste Verwaltungssprache ist Instrument der Zentralisierung und Normierung (und wird selbst ,reformiert', normiert, u. a. durch Joseph von . Sonnenfels). Der übernationale Charakter des Reiches wird aber nicht in Frage gestellt: die Privatbriefe Maria-Theresias und Jo sephs - und selbst noch Metter­ nichs - sind französisch. Da aber im reformierten Staate der deutschen Verwal­ tungssprache bzw. der Militär- und Rechtssprache eine immer größere Bedeutung zukommt, wird das Deutsche auch in solchen Kreisen üblich, die sie aus Gründen der Herkunft oder der sozialen Konvention bi slang vermieden. In den Teilen der Monarchie allerdings mit eigener, ungebrochener administrativer Tradition, also in den Niederlanden oder der Lombardei, und sogar in Ungarn, kommt es, wenigstens damals, noch nicht zur admini strativen Germanisierung. Di ese findet vor allem 27

in den alpenländi schen Herzogtümern und im nun von Wien aus regierten Böhmen statt. Die Erneuerung bzw. Neuerfindung eines tschechischen Einheitsidioms datiert erst vom späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert. Die Konsequenz in litteris ist folgende: die Schicht der deutschsprachigen Beamten wird von nun an der lokalen deutschsprachigen Literatur sowohl die Autoren als das Publikum liefern. Daraus erklären sich wieder verschiedene Konstanten der neuen Österreichischen Literatur. Den in Literatur dilettierenden Österreichischen Beamten - fast alle Auto ren der neuen Zeit fallen u nter diese Kategorie - hat man im obl igaten Stu dium des Natur­ rechts dazu erzogen, den Forderungen der Vernunft und der damit identifizierten Staatsräson unbedingt zu gehorchen. Auch als Dichter wird der Beamte dann dazu neigen, seine Werke in den Dienst des Staates und des ihn rep räsenti erenden Fürsten zu stellen. Aus denselben Gründen wird er sich, selbst als Dichter, vor jeder Wi llkür (auch der Phantasie) und j e der Hybris des Ich hüten : der typisch Österreichischen Staatsidolatrie steht als Pendant eine nicht minder konsequente, fast masochistische Neigung zur Selbstverleugnung gegenüber. ' Am klarsten tritt diese anti subjekti­ vistische Tendenz nach der Krise der Revolutionsjahre (und als Reaktion auf diese) auf: Beethoven komponierte seine Corio/an-Ouvertüre fü r ein Drama des Dichter­ beamten Heinrich-Joseph von Collin, dessen Helden - Regulus, Coriolan, Balboa, Mäon, usw. - stoisch-republ ikanisch fühlen, denken und sich entsprechend ge­ bärden.' Regulus opfert sein Glück, sein Leben aus Bürgertugend, denn " Der Tod wird Pflicht, wenn es dem Staate frommt". Nichts kann ihn davon abbringen, vor dem Senat oder dem versammelten Vol k gegen den Frieden mit Carthago zu plädie­ ren, obwohl er sich auf diese Weise einem grauenvollen Tode ausliefert : nichts, weder der Anblick seiner verzweifelten Gatti n noch seine weinenden und bald schon vaterlosen Kinder. Auch die anderen Helden Collins, Coriolan, oder Balboa z. B. sind römisch-stoische d. h. zugleich josephinische Helden. Balboa - ein spa­ nischer Statthalter in Westindien - ergreift die Partei der versklavten Eingeborenen im Namen der Humanität. Er gelangt jedoch bald zur Einsicht, daß er di esem menschlichen Ideal nur dienen und zum Erfolg verhelfen kann, wenn er zuerst den 'positiven' Gesetzen seines Landes und seines Königs gehorcht. Dieser absolute Gehorsam und Legalismus führt Balboa dazu, bewußt und willentlich die Todes­ strafe über sich ergehen zu lassen. Äh nlich nimmt auch Coriolan den Sühnetod auf sich, da durch seine Schuld das Vaterland einst in Gefahr geriet. . . . Nicht anders handeln aber - im Pri nzip - noch Grillparzers Hel den, von Fedriko in der frühen Blanka von Kastilien bis zu Kaiser Rudolf I (in König Ottokars Glück und Ende) oder Bankban (in Ein treuer Diener seines Herren), und vielleicht sogar noch Kaiser Rudolf ll (im Bruderzwist) oder Libussa.

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Lange Zeit wurde in der Wissenschaft, und vor al lem in der generellen Publizistik, ,Josephinismus' gleichgesetzt mit Ki rchenreform, Antikurialismus und Antiklerika­ lismus. Heute neigt man dazu, den Josephinismus zu entideologisieren und zu relativieren, indem man ihn in Verbindung setzt mit dem Großen Plan der Staats­ reform und mit verwandten Tendenzen in anderen Ländern, etwa dem Galli kanis­ muß, dem Jansenismus, dem Febronianismus, usw. Auffallend bleibt aber der bedeutende Platz, den das antiklerikale und antikuriale Schrifttum in der neuen Literatur einnimmt. Zu den wichtigsten, weil wirksam sten Produkten di eser Literatur gehören z. B. die Monacho logie von lgnaz von Born ( 1 742- 1 79 1 ) ' und Virgils Aeneis travestiert ' von Alois Blumauer ( 1 755- 1 798). Born und Blumauer hatten ihre Karriere im Jesuiten­ Orden begonnen und wurden dann Beamte, der erste sogar ein sehr hochgestellter und zugleich " Meister vom Stuhl" der wichtigsten Freimaurerloge von Wien: der " Loge zur wahren Eintracht': der Mozarts und Sarastros! Auch Grillparzer wird den vom Vater ererbten j osephinischen Antiklerikalismus nie verleugnen. Aber als genauso auffallend und bemerkenswert hat - paradoxerweise - zu gelten, daß trotz Anti klerikalismus und Anti kurialismus, Freimaurertum und Illuminaten­ turn, katholi sche Denkschemata - wenn auch in ,säkularisierter' Gestalt - erhalten und weiterhin wi rksam bleiben. Dazu gehört vor allem die Vorstellung einer wohl geordneten, zum Besten erschaffenen Welt, deren Abbild der Staat ist oder zu sein hat. Am klarsten hat vielleicht der Prager Bernard Bolzano - den seine Anhänger Ö " den Philosophen sterreichs" nannten, der ein frommer Priester war, und dennoch seines Lehrstuhls in Prag enthoben wurde - diesen " Kreationismus" formuliert: " Wir tragen . . . die Lehren von der Schöpfung, von der Vorsehung, von der Voll­ kommenheit der Welt und von dem letzten Zwecke derselben . . . vor. Noch nicht genug, daß Gott alle Dinge erschaffen hat und erhält, er führt sie auch alle zu einem vorgesetzten Zwecke. Dies nennt man göttl iche Regierung" ! Und natürlich stellt man sich in einer verpflichtenden Wunschutopie die diesseitige Regierung als Abbild - als figura - jener göttl ich-absoluten vor: Die Vo rstellung einer vollkom­ menen ,Schöpfung' liefert den Ma ßstab, an dem die Gedanken und vor allem die Handlungen des Einzelnen gemessen werden. Nicht aus dem " Herzen", aus dem tiefsten Urgrund des Ich - wie es in der deutschen Klassik und im deutschen Idealismus heißen wird - entstammen die letzten Wahrheiten und Gewißheiten : Für die Ö sterreicher mußte Fichtes das " Nicht-Ich" setzende " Ich" ein Greuel sein? Die Österreichische Moral ist keine Gesinnungsethik, sondern eine Moral des objektiv richtigen Handelns, wofür das Bestehende - die Welt wie sie ist - den Maßstab liefert. Moralisch handeln heißt soviel, wie sich von seinem Ich lösen, der Welt und ihren Gesetzen gehorchen. Dieser apriorische und absolute Antisubjektivismus - er gilt sowohl für den Glau­ ben bzw. die Moral wie fü r das künstlerische Schaffen - erklärt, warum der Sturm 29

und Drang und die konsequente Romantik des Athenäum-Kreises in Wien ohne wirkliches Echo bleiben mußten, ebenso wie der Idealismus der Kant-Nachfolger Fichte, Hegel, Schelling. Kathol ische, oder wenigstens mit der katholischen Ortho­ doxie zu vereinbarende Denkschemata - Leibniz und Wolffwurden ohne weiteres anerkannt - bilden somit die Basis, von der aus Josephiner wie Joseph Schrey­ vogel und Franz Grillparzer i hren Krieg gegen den romantischen Neo-Katholizis­ mus führen werden: gegen Zacharias Werner, Friedrich Schlegel, Adam Müller zum Beispiel, in denen man nur zum " Mystizismus" und zum Aberglauben tendie­ rende Fichteaner zu sehen geneigt ist.

Wenn sich die Ö sterreichischen Autoren (manchmal verraten ihre Namen - Hasch­ ka oder Ratschky z. B. - die slavische Herkunft) der deutschen Sprache bedi enen, gliedern sie sich zwangsläufig der damals moderneren norddeutschen Literatur an. Nie aber kommt es zu ei ner Subordination oder baren Nachahmung. Bewußt und aufmerksam s ucht man nach brauchbaren, passenden Modellen und versucht, sie den lokalen Gegebenheiten und Notwendigkeiten anzupassen. Man kopiert nicht, man adaptiert. Außerdem ist dieser 'deutsche', genauer norddeutsche Einfluß kein ausschließ­ licher. Abermals wirken sich hier die Vielsprachigkeit des Reiches und der Kosmo­ politismus der Oberschicht, der hohen Beamtenschaft mit einbegriffen, aus. In der literarisch interessierten Gesellschaft bleibt die franeo-italienisch-klassische Tradition, deren l etzter großer Vertreter in Wien Metastasio gewesen war, lebendig. Aber vor allem hat das ästheti sche System, gegen das einst Bodmer und Breitinger revoltierten, d. h. der verbürgerlichte Klassizismus Gottscheds in Wien nie Wurzeln fassen können. Hier braucht man nicht Corneille zu erschlagen, um Gottsched zu treffen. Erst 1 767-68 war Joseph von Sonnenfels in seinen Briefen über die wiene­ rischeSchaubühne ' - vergeblich - für eine Theaterreform eingetreten, vergl eichbar mit der Gottscheds und der Neuberin in Leipzig eine Generation vorher.

Von allen Dichtern des Nordens war in Wien Wieland der pop ulärste. Seinen elegan­ ten, geistreichen, manchmal auch gewagten und anzüglichen Dichtungen fanden ein breites und treues Publikum (das sie z. T. nur in französischen Ü bersetzungen las). Er fand so auch Nachahmer oder - besser - Adaptatoren. Einer der begabtesten unter den Dichtern der großen josephinischen Generation (die um 1 780 zu schreiben begann) - Johann Baptist von Alxi nger' - verfaßt so zwei " Rittergedichte" - Doo lin von Mainz und Bliomberis - nach dem Modell des Oberon. 30

Motive, Lokalkolorit, Metrum und Strophenbau wurden von Wieland entlehnt. Neben ihm hatte Alxinger allerdings noch andere Vorbi lder im Sinn: die klassischen Epen der Alten, die Versromane der Italiener und die damals viel gelesenen Ritter­ romane Florians. Außerdem gab er sich Mühe - wieder ein typisch josephinischer Zug - die entlehnte Materie zu rationalisi eren (zu entdämonisieren) und i n den Dienst der neuen - josephinischen - Ideologie zu stellen. Alxinger ersetzt so Merlins Zaubereien durch physikalische und chemische Experimente, die in einem richtigen Versuchskabinet - eher Labor als Alchimistenküche - durchgeführt werden. Und an die Stelle der verzauberten Gärten, in die sich seit Ariost und Tasso die verl iebten und verzauberten Ritter verirren, setzt er eine paradiesische Land­ schaft, die Zug um Zug an das Otaheiti aus den Rei sen des Kapitäns Cook erinnert. Der Wiener Musen-Almanach •• in dem die jungen Josephiner ihre ersten Sporen verdienten, erschien ab 1 777, d. h. kaum sieben Jahre nach der ersten Nummer des Göttinger Modells. Die jungen Wiener waren aber auch in dieser Zeitschrift, oder in der Hamburger Schwesterpubli kation (diese erschien 1 776) gut vertreten. Und wie die anderen Musenalmanache enthält auch der wienerische die obligaten anakreontischen Gedichte, verspielte und melancholische Oden a Ia �opstock und Lieder in der Manier Höltys. ,

Der wienerische Almanach unterscheidet sich aber von den norddeutschen durch eine Neuerung : das politische Gedicht zum Ruhme Ö sterreichs, seiner Fürsten, oder einfach der heimatlichen Landschaft. (In einer Ode Blumauers, betitelt Die Donaufahrt, finden sich z. B. Verse wie diese: " Heil uns, Heil uns, du Mutterland,/ Daß du zu Kindern uns ernennst"). Blumauer veröffentlichte auch i m Almanach, den er eine Zeit lang selbst leitete, verschiedene seiner freimaurerischen Kantaten und Lieder, d. h. für den öffentlichen Vortrag konzipierte und geeignete Gedich­ te - ein Beleg mehr für den sehr stark rhetorischen Zug dieser D ichtung : man will überreden, überzeugen, rühren, erheben, wenn möglich auf ein breiteres Publi­ kum wirken. Daher auch die Vorli ebe fü r Gattungen, die solche Breitenwirkung erlauben: das Theater, die Epistel, die Parodie, die Pasquille, das Pamphlet, später das Feuilleton und die Glosse. 11

Die Modelle fü r eine derartig aktuelle, wirksame und sich deshalb der natürli chen Rede annähernde Dichtung entnimmt man nur zum geringen Teile der deutschen Literatur der Zeit, und dies obzwar Autoren wie Uz, Raben er und vor allem Wi eland in Wien sehr beliebt waren. Man greift weiter zurück, auf die Klassiker nämlich, schreibt Oden, Episteln, Satiren in der Art des Horaz und seiner großen Nachfahren: Bo ileau, Voltaire u nd - eine oft übersehene Tatsache - in der Art der D ichter des Augustan Age: Swift, Addison und vor allem Pope. Das josephinische Werk, das fast allein noch in den gebräuchlichen Nachschlag­ werken der Germanistik genannt wird, ist Blumauers Virgils Aeneis travestiert, eine amüsante Parodie des lateinischen Epos zu aktuellen satirischen Zwecken. Als 31

Quelle und Vorlage benutzte Blumauer neben Scarrons Virgile travesti vor allem Voltaires Pucel/e. Die antiklerikale Tendenz, die der Aeneis travestiert und der Pucel/e gemein sind, wird aber von B lumauer auf eine weit weniger aggressive, eher i ronisch-verspielte, lockere Weise vorgetragen. Dennoch ist der Wille evident, die Vol taire-Tradition auf wienerisch fortzuführen." . Weniger bekannt, aber qualitätsmäßig der Travestierten Aeneis wenigstens gleich­ wertig, i st das Heroischepische Gedicht Melchior Striegel von Joseph Franz Ratsch­ ky." (Wie Blumauer begann auch Ratschky seine Karriere als Zögling der Jesuiten; wie er wechselte er über in die josephinische Bureaukratie, in der er sich dann sogar auszeichnete, und wie Blumauer wurde er in die Affäre des Jakobinerkomplotts von 1 794 verwickelt). In dem genannten komischen Epos spottet er über die Pseudo-Revolutionäre i n Ö sterreich und sogar über die " efferveszenten" - törich­ ten, übergeschnappten - Revolutionäre in Paris. Er stellt i hnen - auf diskrete und verhüllte Weise - den wirklichen Reformgeist entgegen : den Kaiser Josephs und der ersten Revolutionäre von 1 789. Was die Form betrifft, hält sich Ratschky an das Modell eines der großen Meister der Gattung : an Alexander Pope und an dessen Dunciad. (Wir wissen auch, daß Ratschky sein Gedicht öffentlich vorgetragen hat, bevor er es drucken ließ: ein Beleg mehr für den josephinischen Hang zur gesprochenen und publikumswirksamen Dichtung). Eklektisch schöpft man also aus den verschiedensten Quellen und vor allem aus den renommiertesten. Die Vorli ebe der Josephiner gilt ausgesprochen den großen Jahrhunderten: denen von Kaiser Augustus, König Ludwig XIV, Königin Anna und sogar König Friedrich II (so Schreyvogel an einer Stelle, die noch zu inter­ p retieren sein wird). Der negative Gegenpart zu dieser allgemeinen und apriorischen B ewunderung der Klassiker aller Länder und Zeiten ist der Mißkredit der Kritiker des Tages. Man wirft ihnen vor, ihre Urteile seien willkürlich, zufällig und subj ektiv. Die Tat­ sache außerdem, daß diese Kritiker in winzigen Provinzresidenzen wirken und dort ihre Zeitschriften herausgeben, läßt sie den Wienern lächerlich erscheinen. Die Hochschätzung der Klassiker und das stete Sich-Anlehnen an ihr Modell bedeutet also zugleich, daß man sich auf diese Weise abschirmen will gegen die Kritik aus dem Norden. Ratschkys Striegeliade endet mit einer Tirade gegen diese Kritiker. Sie sind " rappel­ köpfig" geworden, d. h. genau so anmaßend, und genau so unvernünftig und lächer­ lich wie die Helden des Gedichts : junge Studenten aus dem Dorf Schöpsenheim "an Deutschlands süd-südöstl ichem Rand", die während der " Vakanz" (d. h. des Sommerschulurlaubs) in ihrem Nest Robespierre und Sai nt-Just spielen. Genauso unvernünftig, genauso " subj ektiv", d. h. der Phantasie und der Hybris des Ich verfallen, sind " die vom Widerspruchsteufel besessenen Herren Rezensenten". 32

Deswegen darfman sie einfach übergehen : " Laßt sie koaxen / Die kritischen Frösch' in Preußen und Sachsen !" Etwa zehn Jahre später befehdet Joseph Schreyvogel in seinem Sonntagsblatt erbarmungslos die B rüder Schlegel und ihre Partei, und bei dieser Gelegenheit ärgert sich auch er an der Ü berheblichkeit " unserer gebiet­ hende(n) Herren", der " Journalisten in Sachsen und Schwaben . . . " " Der " rappelköpfigen", der Willkür des Ich ausgelieferten Literatur des Nordens stellt man konsequent eine " nützliche", der Realität der Welt (und Ordnung des Staates) Rechnung tragende, ja diese Realität glorifizierende Literatur entgegen. Der Dienst am Bestehenden, am auf diese Weise legitimierten und gerechtfertigten Staate war aber seit jeher Gemeingut aller klassischen Epochen, aller ,goldenen Zeitalter der Literatur' : Horaz und Vergil verherrlichten das wiederhergestellte Rom des Augustus, Racine beendete seine Karriere als Historiograph Ludwigs XIV, und i m j o sephinischen Ö sterreich denken die Dichter, sogar noch wenn sie verzwei­ feln und verzagen, an den Kaiser, der niemals stirbt, an die Krone, dem Zeichen des Absoluten hienieden.

Die Gründung des "Nationaltheaters" durch Kaiser Joseph, anno 1 776, war die eines ,deutschen' Theaters. Die dort aufgeführten " deutschen" , literarisch an­ spruchsvollen Stücke sollen ein breiteres, d. h. nicht mehr bloß aristokratisches Publikum ansprechen. Zugleich soll - auch auf diese Weise - das Prestige der Haupt- und Residenzstadt, d. h. des Rei ches selbst gemehrt werden. Nicht zufällig ging man von den Statuten des Pariser " Theätre fran�ais" aus. Die literarischen Modelle aber, an die sich die Autoren des Burgtheaters halten, sind - abermals - ,klassische', d. h. bewährte, allgemein anerkannte : antike, fran­ zösische, englische und, daneben oder darunter, aber nie ausschließlich oder vor­ nehmlich, deutsche, d. h. norddeutsche . . . (Aus diesem Grunde kommen auch die eigentlichen Neueru ngen des Nordens nur mit Verzögeru ngen nach Wien. Manch­ mal sogar werden sie dort überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.) Noch Schreyvogel, unter dessen Leitung, d. h. zwischen 1 8 1 4 und 1 832, das Burg­ theater zur bedeutendsten deutschsprachigen Bühne wurde, bemüht sich, die wichtigsten Dramen der Weltliteratur in das Repertoire aufzunehmen. Kotzebue, den er als erfahrenen Theaterfachmann schätzt, gibt er den Auftrag, für das Haus Gozzi, Farquhar, Congreve zu bearbeiten. Er selbst adaptiert Shakespeare, Calde­ ron, paßt ihre Stücke dem aktuellen Geschmack und der geltenden Moral an, um sie auf der Bühne lebendig zu erhalten. " Und wie im Fal l e Ratschkys ist auch bei Schreyvogel die Hochschätzung der englischen Klassik - als einer " Klassik" unter vielen - bemerkenswert. '6 Bereits 1 807-8, zur Zeit seines Kampfes gegen die Schlegel und die " Neue Schule", beruft er sich auf Pope, dessen Streit mit den schlechten Kritikern der Grub Street er weiterführen möchte. August Wilhelm Schlegel aber nennt er den " Ounce" des 33

neuen Jahrhunderts (frei nach Pope's Dunciad! ) . . . Wie fü r Ratschky, hat somit auch für Schreyvogel das A ugustan Age Model lcharakter, d. h. er s i eht i n der engli ­ schen Literatur jener Zeit die letzte, aktuellste Metamorphose u n d In karnation der ewigen Kl ass i k. In einer Besp rechung der gerade erschienenen Bearbeitung des N i belungenli edes von Friedrich Hei nrich von der Hagen steckt Schreyvogel die Fronten genau ab : Auf der einen Seite stehen die Bewunderer und Parteigänger einer exklusiven "Nationalpoesie" und somit von Pri mitivismen und Irrationalismen aller Art, " der alten Schnei der- und Wi ldschützlieder, der Hans-Sachsi schen Platt heit, des Jacob­ Böhme'schen Unsinns", auf der anderen die der Tradition treuen Vereh rer der /Iias und der Odyssee. Das heißt, im " Vertilgungskri eg, den das Athenäum, die Rezensenten der Jenaer Literaturzeitung, die Herren Gö rres, v. Arn im, Ast, Bren­ tano . . . ", gegen die guten Autoren aller Zeiten unterno mmen haben, stellt sich Schreyvogel auf deren Seite. Und in diesem Zusammenhang nennt er i h re Namen, mit den Deutschen begi nnend : " Wi eland, Engel, Garve, Mendelssohn, Voß usw." Diese Zöglinge der Alten, die zugleich al s die Vertreter ei ner primär um die Moral und Glückseligkeit besorgten " Weltweisheit" anzusehen si nd, werden dann - zu ihrer Bestätigung - mit den Klassikern verglichen, den alten und den neueren, in Frankreich vor allem und in Eng land. In diesem Kontext werden folgende Namen genannt: "Racine, Moliere,Voltai re, Diderot etc., Pope, Addison, Swift, Richardson, Fielding etc., Virgil, Terenz, Cicero . . . , Euripides, Menander, Ari stoteles". Einige Zeilen weiter werden abermals Pope, Addison, Voltai re genannt und in eine Reihe gestellt mit Uz, Engel, Wieland. Bemerkenswert ist noch, daß auf der Gegenseite dieser Kanon nicht weniger entschieden abgelehnt wird. Von der Hagen spricht seinerseits von einem " aftergoldene(n) Zeitalter der Franzosen und Engländer", wofür ihn Schreyvogel natürlich rügt. Immer wieder wird auf das A ugustan Age angespielt, z. B. wenn " Hans Stolidus" der Hoffnung Ausdruck gibt, daß man auch in Wien bald einsehen wird, "wie tief die Zeiten Ludwigs XIV, der Königin Anna und des Königs Friedrich in Geschmack und Sprache unter dem Zeitalter Till Eulenspiegels und der Genoveva standen". Auffallend ist hier, daß neben dem siec/e de Louis XIVund dem A ugustan Age für Deutschland ein gleichermaßen beispielhaftes Zeitalter, dasjenige Friedrichs II, genannt wird : das Zeitalter Lessings, Wielands und Mendelssohn s. Es wird aber zugleich der Weg vorgezeichnet, den die Dichter " der Zeiten Kaiser Josephs" ge­ hen sollten. Aus dem bereits Gesagten geht hervor, daß Autoren wie Alx inger, Ratschky, Schrey­ vogel (aber man könnte noch viele andere nennen: Joseph von Sonnenfels z. B. oder die Spätlinge - josephinisch gesprochen - wie Collin oder Grillparzer) das Rezept nicht ohne Erfolg anwandten.

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In Wien - der einzigen Großstadt im deutschen Sprachbereich - kam es, nach der Verkündung einer " erweiterten Preßfreiheit" im Jahr 1 78 1 zu der berühmt­ berüchtigten "Überschwemmung von Broschüren". So die Formulierung des Zen­ sors Alois Blumauer, der noch hinzufügte : " Man schrieb itzt, von allem, und über alles, man nahm den nächsten besten Gegenstand her, goß eine bald längere, bald kürzere, bald gesalzene, bald ungesalzene Brühe darüber, und tischte ihn dem damals noch sehr heißhungrigen Publikum zur Mahlzeit auf"." Selbst nach der Rücknahme des " Kaiserlichen Handbillets", fünf Jahre später, wird die in Gang gesetzte Bewegung nicht mehr zum Stillstand kommen. D. h. die damals erfundenen, ausprobierten Ausdrucksformen leben und wirken weiter, bis zu Franz Schuselka, zu Sebastian Brunner, zu Ferdinand Kürnberger, bis zu Karl Kraus vielleicht. Auffallend und bemerkenswert in unserem Kontext ist aber, daß sogar die lockeren, offenen journalistischen Formen von " klassischen" Modellen ausgehen, und aus­ gehen wollen. In den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts - viel später also, als in Norddeutschland ähnliches praktiziert wurde - schließt sich Josefvon Sonnenfels, bei der Redaktion seines Mann ohne Vorurteil, an die Tradition der englischen ,moralischen Wochenschriften' vom Typ Tat/erund Spectatoran. Noch auffallender ist aber die Wiederaufnahme dieses Modells durch Schreyvogel, der 1 807- 1 808 sein Sonntagsblatt danach ausrichtete und sogar noch 1 8 1 3 die Publikation eines neuen Wochenblattes - Winterabende von Th. West - plante . . . nach dem ausdrücklich genannten Vorbild des Spectator, des Tat/er und des Rambler. " Um 1780-90 also, d. h. gut zehn Jahre nach den ersten Straßburger Manifesten des Sturm und Drang, hielt man sich in Wien immer noch an die von Pope, Voltaire, Addison usw. gelieferten Modelle, und dies sogar in Sparten der Literatur, wo Formen gebraucht werden - Zeitschrift, Roman, Pamphlet, Epistel, Miszelle - die den Journalismus des neunzehnten Jahrhunderts vorwegnehmen. Zugleich wirkt aber (eine Parallele zum Nachleben katholischer Denkschemata) in der Sprache die Tradition der barocken Sittenpredigt weiter: Paradoxerweise finden wir gerade in den antiklerikalen Broschüren der Zeit Relikte der Rhetorik und des schwulstigen, emphatischen Stils von einst. Auch der Gebrauch des Dialekts, in gezielten Einsprengseln, bei Blumauer und Ratschky z. B. erinnert an Abraham a Santa Clara und dessen volkstümliche Suada. In Dialekt (oder, genauer, mit dialektalen Wendungen gewürzt) sind Joseph Richters Eipeldauerbriefe. Aus der zuerst als Fortsetzungsroman - in der Art der Lettres Per_sanes - konzipierten Korrespondenz eines einfältigen Bauernsohns aus Eipeldau an seinen nicht minder einfältigen Herrn Vetter in Kagran, entstand bald eines der ersten satirischen Journale in deutscher Sprache." 35

Nur in der Großstadt Wien war damals - während der kurzen Zeitspanne der ,gemilderten' Zensur - ein solches Wuchern von neuen Ideen und Formen mög­ lich, die Entwicklungen vorwegnehmen, die im neunzehnten Jahrhundert aus dem Westen - England und Frankreich - wieder nach Deutschland zurückimportiert werden müssen. Zu bemerken ist noch, daß sich ei nige der Broschürenschreiber und Pamphletisten der achtziger Jahre, Perinet z . B., später als Textlieferanten der Vorstadtbühnen einen Namen machten. Auch in diesem Fall verbinden sich neue, moderne Einfälle und Ideen mit Ausdrucksweisen und Theatertechni ken, die aus einer früheren Epoche, der sogenannten " barocken", stammen. Aber gerade solche Kombinationen und Kontaminationen leiteten die Entwicklung ein, die dann bei Raimund und Nestroy ihren krönenden Abschluß finden sollte. Eine andere 'positive' Nachwirkung der josephini schen Literatur mag endgültig unsere Untersuchung und die vorigen Apen;:us rechtfertigen und legitimieren. Die ,neuen' volkssprachigen Literaturen in Mitteleuropa - die ungari sche, die rumäni­ sche und bis zu einem gewissen Grad sogar die tschechische - begannen (oder entstanden aufs neue) unter dem Licht der Josephinischen Aufklärung. Ü berall übersetzte man Blumauer, ahmte man Sonnenfels Mann ohne Vorurteil nach, und die fäl lige komparatistische Arbeit über das komische Epos i m Donauraum müßte von Blumauer und Ratschky, als den großen Vorbi ldern und Vermittlern, ausgehen. Vor allem aber: alle die damals entstehenden Nationalliteraturen sind - wie die Österreichische - gekennzeichnet durch das Ringen um eine eigene Klassik, als ob nur diese die nationale Wiedergeburt krönen und bestätigen könnte !

Anmerkungen 1 Pietro Metastasio, Opere (Venezia, 1 782), XII, 195 - 2 0 1 . 2 Vgl. die Ausführu ngen zu di eser Materie in folgenden Schriften d e s Verfassers : . L a Realite, Royaume de Dieu ": Etudes sur l 'originalite du theätre viennois dans Ia 1 ere moitie du 19 e siecle (Munich, 1965); Der Idealismus und seine Gegner in Österreich ( H eidelberg, 1 966). 3 Hei n rich J. v. Collin, Sämtliche Werke (Wien, 1 8 1 2 ff.), 6 Bde., Cf. das Kapitel über Collin in .La Realite, Royaume de Dieu · und unsere Studie Das stoisch-josephinische Tugendideal " , in Gri/1" parzer Forum (Wien, 1967) 43 - 5 3 ; nun auch i n : Verf. : .Laßt sie koaxen, Die kritischen Frösch ' in Preußen und Sachsen ". Zwei Jahrhunderte Literatur in Österreich (Wien, 1977) 47 - 60. 4 Joannis Physiophili, Specimen Monachologiae methodo Linnaeana tabulis tribus aeneis i/lustratum (Augustae Vindel icorum, 1 783) 5 Alois Blumauer, Virgils Aeneis travestirt (Wien 1 784 - 88), 3 Bde. Zahlreiche spätere Ausgaben. 6 Bernard Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft, ein Abdruckder Vorlesungshefte eines ehemaligen Religionslehrers an einer katholischen Universität. Von einigen seiner Schüler gesammelt und heraus­ gegeben. (Sulzbach, 1 834) III § 1 4 1 S. 252 - 253. Cf. - supra - Der Idealismus und seine Gegner . . . passim und v. a. 43 ff. 7 Cf. Bolzanos gegen Fichte gerichtete Wissenschaftslehre " : B. Bolzano, Wissenschafts/ehre, Versuch " einer ausführlichen und größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht aufderen bisherige Bearbeiter, hrsg. von mehreren seiner Freunde mit einer Vorrede des Dr. J. Ch. A. Heinroth. (Sulzbach, 1 837) 4 Bde. 8 Joseph von Sonnenfels, Briefe über die wienerische Schaubühne ( 1 767 - 69), übernommen in Gesam­ melte Schriften, Bd. V-VI ( 1 784). Neudruck der Urfassung besorgt von August Sauer, Wiener Neu­ drucke 6 (Wien, 1 883).

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9 Cf. Verf. : Les epopees de J. B. v. Alxinger" , Etudes Germaniques 6 ( 1 95 1 ), 187 IT. Deutsche Fassung " ( - Johann Baptist von Alxingers 'Rittergedichte', oder der Abschied vom 'alten, romantischen Land ') i n : .Laßt sie koaxen . . . • 3 5 - 46. Es wird dort vornehmlich auf folgende Werke verwiesen : J. B. v. Alxi nger, Doolin von Maynz. Ein Rittergedicht (Leipzig 1 787) und ders. Bliomberis. Ein Rittergedicht in zwö ({ Gesängen (Leipzig, 1791). 10 Cf. Otto Rommel, Der Wiener Musenalmanach: Eine literarische Untersuchung, Euphorion, 6. Er­ gänzungsheft (Leipzig - Wien, 1906). Der Almanach erschien von 1 777 bis 1 796; eine zweite Rei he umfaßt die Jahrgänge 1 798 - 1 800. 1 1 Ziti ert nach: Aloys Blumauer, Sämtliche Werke, 9 Bde. (Wien, 1 909) 3. Aufl., I ( - Gedichte), 29. 12 Edith Ro senstrauch-Königsberg, Freimaurerei im Josephinischen Wien .. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner(Wi en, 1975). 13 Joseph Pranz Ratschky, Melchior Striegel: Ein heroischepisches Gedicht. Für Freunde der Freyheit und Gleichheit. Neue, verbesserte Ausgabe (Leipzig, 1 799). Vgl. unser Aufsatz: Ein 'mockheroic " " poem in deutscher Sprache: Joseph Pranz Ratschkys 'Melchior Striegel' " , in Austriaca. Beiträge zur Österreichischen Literatur: Festschrift für Heinz Politzer (l'übingen, 1 975), 5 9 - 77. Nun auch in: .Laßt sie koaxen . . . ", 75 - 90. 14 Sonntagsbiatt, 1 808, I, 35 (No. 54, 10. Januar). 1 5 Zum "Hoftheatersekretär" Schreyvogel , cf. neuerdings : Heinz Kindermann, Jo sef Schreyvogel und " sein Publikum ", in: Das Burgtheater und sein Publikum, ed. Margret Dietrich (Wien, 1976), 1 85 - 333. Cf. ebenfalls .La Realite, Royaume de Dieu • . . . , 373 IT. Zu Schreyvogel s Polemik gegen die Romantik siehe ebda 76 ff. und Ver[ "Ein Beitrag zur Geschichte der 'Deutschen Dunse' " (Englisches in Jo­ seph Schreyvogel s 'Sonntagsblatt'), in Herkommen und Erneuerung. Essaysjür OskarSeidlin(Tübingen, 1976) 64 - 77. Nun auch in .Laßt sie koaxen . . . ", 9 1 - 102. 16 Zu den folgenden Ausführu ngen cf. ebenfalls unseren (unter 15) eben zitierten Aufsatz. Dort die genauen Verweise auf das - schwer zugängliche - Sonntagsblatt. 17 In Beobachtungen über Ö sterreichs Aufklärung und Literatur" ( 1 782), i n : Sämtliche Werke ( 1 809) " Bd. VIII ( Prosaische Aufsätze), 98 ff. (unser Zitat S. 99 - 1 00). Cf. Leslie Bodi, Herr Schlendrian " und die Seinen " , i n Literatur und Kritik (Wi en, 1972, 34- 48. Bodi zitiert weiterhin folgende Stelle aus Johann Pezzls Skizze von Wien ( 1 787 ff. ) : Wie ein Sturmwind aus dem Süden oft in den öden " Sandwüsten des inneren Afrika ein Heuschreckenheer emporhebt und plötzlich über eine ruhige Provinz hinschleudert, so hob das kaiserliche Handbillet über die Preßfreiheit im Jahr 1 7 8 1 aus den öden Köpfen selbstgefälliger Müßiggänger j enes bekannte unzählbare Broschürenheer empor und ließ es auf das erstaunte Wien niederregnen " . 18 Cf. oben (Anm. 1 5) Ein Beitrag zur Geschichte der 'Deutschen Dunse' " . " 19 Gut kommentierte Auszüge i n : Josef Richter, Die Eipe/dauer-Briefe 1 785 - 1 79 7 und 1 799 - 1813. In Auswahl hrsg. von Dr. Eugen von Paunel. (München, 1 9 1 7 - 1 8), 2 Bde.

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R oland Mortier Diversite des " Lumieres " euro p eennes

La situation de l'historien litteraire devant le problerne de Ia periodisation est toujours particulierement delicate. D'une part, il ressent Ia necessite operatoire de regrouper des oeuvres souvent tres diverses dans un cadre aussi coherent que possible, lui-meme associe a l'hi stoire des idees et a l'evolution des formes. D 'autre part, il est sensible a Ia diversite des Oeuvres, a Ia singularite des temperaments, et il i ui repugne de leur appliquer I es procectes rectucteurs et mutilants de definitions trop restrictives, qui fonctionnent UD peu a l'instar du celebre lit Oll le bandit Procuste torturait ses victimes. Mais cet obstacle epistemologique fondamentat a Ia validite generate de toute periodisation se complique encore dans Ia täche qui m'a ete assignee aujourd'hui. Notre reunion se propose comme o bjet " Das 1 8te Jahrhundert als Epoche", et entend donc bien traiter un siecle, et non un mouvement, une ecole, ou un style, comme une entite culturelle historique relativement homogene. La difficulte d'une teile synthese, les pieges qui Ia guettent, mais aussi les arguments en sa faveur ont ete fort bien exposes dans le remarquable essai de M. Fritz Schalk " Ü ber Epoche und Historie" dans les Studien zur Periodisierung und zum Epochebegriff ', et il faut souligner le fait que l'etude de M. Schalk concerne au premier chef l'epoque des " lumieres". Le problerne se complique encore si on depasse le cadre d'une seule Iitterature pour examiner l'ensemble des cultures europeennes dans une large perspective comparatiste. S'il est deja malaise de rassemhier dans une vision globale Marivaux et Sade, Voltaire et Rousseau, Prevost et Restif, Fontenelle et Diderot, ou bien Lessing et Lichtenberg, Wi eland et Herder, quelle n'est pas la perplexite de l'hi storien s'il veut y integrer Pope et Gibbon, Feij6o et Cadalso, Genovesi et les Verri, Potocki et Radichtchev. Nous devons donc garder une conscience tres aigue du caractere fluctuant de notre obj et (le siecle des l umieres) et faire ressorti r dialectiquement les courants qui l 'unissent en meme temps que Jes formes d iverses qu'il a prises a l'interieur de chaque culture, et a fortiori dans le tabl eau d'ensemble des cultures europeennes. 39

On ne peut, sans grave dommage, assimiler lum ieres, A ufklärung, illum inismo, prosvechennya au niveau ideologique, pas plus qu'on ne peut !es situer dans Ia meme tranehe chronologique, ni dans Je meme cadre seculaire. Dans Je contexte europeen, XVIIIe siecle et lum ieres ne sont ni synonymes, ni interchangeables. Leur identification a ete, au depart, une decision de caractere volontariste plutöt que Ia constatation d'une realite objective, et eHe a considerable­ ment varie d'un pays a l'autre. Nous tenterons de voir pourquoi. J'ai expose ailleurs comment Ia conscience de vivre en un " siecle de lumieres" s'etait formee en France des Je debut du XVIIIe siecle, comment eHe s'etait fo rtifiee avec Voltaire et avec !es " encyclopedistes " et etait devenue peu a peu Ia devise et Je programme de combat du groupe dit " philosophique". En Angleterre, il est plus rare d'entendre !es contemporains parler de leur epoque comme d'un "en­ lightened age" et Kant declarera sans ambages qu'on est loin encore de vivre vrai­ ment " in einem aufgeklärten Zeitalter". Nous constatons donc d'emblee que Ia position de Ia pensee dite " eclairee" se presente en France d'une maniere singu­ l iere et qu'il serait abusif de vouloir en tirer des conclusions au niveau europeen, ou de l 'adopter comme reference normative pour juger de chaque situation natio­ nale. Inversement, o n ne peut nier que !es grandes lignes de Ia pensee et de Ia Iit­ terature du XVIIIe siecle s'organisent autour d e quelques concepts unifiants, eux-memes rattacbes a une nouveHe vision du monde. A des dates diverses, cete specificite de l 'epoque a ete ressentie par les meilleurs esprits, ffit-ce meme, dans quelques cas, pour la deplorer . On peut essayer de la cerner sous divers angles: sans pour autant l 'enfermer dans une definition trop restrictive. Le mouvement des lumieres pourrait se caracteriser comme une rationalisation du cosmos, comme un renversement du rapport traditionnel entre transcendance et i mmanence, comme une poussee de l 'esprit critique et individualiste, comme une tentative d'instaurer le bonheur (idee nouveHe, dira Saint-Just) en des termes pragmatiques par une meilleure organisation de la societe, par une plus exacte connaissance de l'homme et par un recours plus frequent aux techniques nouveHes. En l itterature, i1 favorisera la reflexion par rapport a la fi ction, la pensee critique par rapport a la poesie et a l'imagination. D 'une fa�on generale, l'accent est mis sur le concret, sur le bonheur ici bas et sur son extension a toutes les couches sociales. " Il faut rendre la philosophie popu­ laire " , s'exclame Diderot, et l'Allemand Ernesti lui fait echo a distance dans le d iscours d'ouverture de la Thomasschule de Leipzig. De meme, Diderot felicite Socrate d'avoir fait descendre l a philosophie sur terre, et Voltaire accabl e de sarcasmes la metaphysique traditionneHe. En Italie, Genovesi 40

" " formule ce qui pourrait etre, mieux encore que le Sapere aude de Kant (lequel s'applique aussi bien a Ia Renaissance qu'a I' Aufklärung) Ia vraie devise des " lumi­ eres " : Cose, non parole. " " La Iitterature fait eclater Ia notion recue de belles-lettres en s'annexant Ia reflexion juridique, sociale, anthropologique, I es techniques et l'economie. lnspiree par l'idee exaltante de Ia perfectibilite indefinie de l'homme, eile rejette ce qu'elle tient pour des dogmes ou des prejuges, pour des form es archa"iques et sclerosees de Ia pensee, de meme qu'elle rejette les tyrans (sauf s'ils s'appellent despotes eclaires) et les institutions desuetes, non adaptees a l'evolution des moeurs. Elle se fixe comme but, non plus de plaire par sa perfection formelle, mais de faire penser, d'inquieter, de changer les habitudes intellectuelles. Dans le domaine de Ia tbeorie litteraire et de Ia creation, eile ne tardera pas a favoriser l'originalite au detriment de l'imitation des grands modeles. En religion, eile stimulera dans certains cas le refus de toute tbeologie, dans d'autres eile suscitera, au contraire, Ia multiplication des tbeodicees, et presque partout eile tendra a provoquer une nouvelle relation, plus individuelle, plus sentimentale, " entre le croyant et son Dieu (qu'il s'agisse des dissenters " anglais, des pietistes allemands ou de Rousseau dans La profession de foi du Vicaire Savoyard, le seul texte de Jean-Jacques que Voltaire ait admire presque sans reserves). En somme, un changement dans Ia fonction assignee a Ia Iitterature correspond a une modification profonde dans Ia vision du monde et dans Ia conception que se fait l'homme de ses rapports avec autru i : Ia morale passe au premier plan des preoccupations et ce sera le paradoxe de Sade de renverser cette absolue priorite. II. Si nous appliquons cette grille, toute provisoire, a Ia realite ideologique et litte­ raire de l'Europe du XVIIIe siecle vue dans son ensemble, force nous est d'admettre que sa dispersion est inegale, peu homogene et que, dans certains cas, eile deborde nettement Ia Iimite qui lui est communement assignee ( 1 800, ou 1 8 1 5 , selon les auteurs). I. Dans sa dimension spatiale, le mouvement concerne d'abord, et de maniere sensible, quelques pays d'Europe occidentale, nettement avantages au plan techni­ que, economique, et meme social, dotes d'une bourgeoisie nombreuse, active et cultivee, et dont Ia Iangue beneficie d'un large retentissement. A cet egard, I' Angle­ teere et le France apparaissent comme I es nations I es plus a Ia pointe du mouvement. II. Dans son deroulement tempore/, Ia tendance appelee Aufklärung, lumieres, etc. se revele etrangement asynchrone. Le mouvement s'exerce d'Ouest en Est, et du Nord au Sud, mais il n'est ni regulier, ni synchronise. Sa progression est relati41

vement l ente, et sa penetration souvent superficielle. Ces decalages, qu'il vaudrait mieux appeler disrythmies, tiennent a Ia diversite des institutions, des traditions, des economies, a l'absence d'une bourgeoisie soli dement constituee, voire meme (p. ex. en Boheme) a celle d'un etat national. au rapport entre l 'Egl ise et I'Etat, Oll entre les villes et les campagnes. II est evident, a cet egard, que des masses encore rectuites au servage, ou des peuples entiers voues a un statut de dependance, con­ stituaient un terrain peu favorable a Ia propagation des " lumieres " . Aussi n'est-il pas surprenant qu'en Europe orientale la diffusion des " lumieres " co'incide avec l 'apparition du sentiment national (tenu en Europe occidentale pour un pbenomene essentiellement romantique ). II serait egalement abusif de voir cette diffusion comme une succession d'em­ prunts, ou l'identite de chaque culture concemee serait diminuee ou mise en dang er. L'histoire culturelle ne se lit pas en termes d e " doit et avoi r" , comme un bilan. Sans doute l 'avance des lumieres se fait-elle par reference aux modeles anglais, franr,:ais Oll allemand, mais chaque nation, chaque groupe culturel les adapte a ses besoins, les repense et les assimile. Des qualificatifs comme " le Voltaire alle­ mand " (pour Wieland) ne peuvent que nous egarer sur de fausses pistes. De m eme, l'expression " Europe franr,:aise " n'est qu'une image sectuisante, mais qui ne corres­ pond pas a Ia realite du XVIIIe siecle europeen. 111. Cette discordance dans l ' espace et dans le temps se complique encore, au sein de chaque l itterature, d'une m ultiplicite interne. C'est en France, et en France seule­ ment, que la tendance dite " eclairee " evince pratiquement I es autres. Ses tenants, de

Fantenelle a Voltaire et d e Bayle a Rousseau, ont un genie qui fait defaut a leurs adversaires. De Montesquieu a Rivarol, l'anthologie des grands textes du XVIIIe siecle franr,:ais est faite de pages qui s'inscrivent dans la problematique " eclairee" . Mais la-meme, ce triomphe se heurte a des resistances qui s'expriment SOUS des formes litteraires : Ia poesie sacree de Lefranc de Pompignan, la theosophie des " illumini stes" lyonnais et plus tard celle de Claude de Saint-Martin, qui suscite de nos jours un tres vif interet. ' La coexistence d'un courant rationnel, critique et d'un courant sentimental plus lyrique renforce encore cette diversite. Rationalisme et sentimentalisme ne se succe­ dent pas dans une sorte de relais chronologique. Bien au contraire, le XVIIIe siecle se caracterise par l eur correlation etroite, mais dialectique. Les Nuits de Young precectent l'reuvre de Gibbon et celle de Hume. En France, le D i derot sentimental des Entretiens sur le Fils Nature/ sera bien vite depasse par le neo­ classicisme du Paradoxe sur Je Comedien, et le Rousseau " romain" du Contrat socia/ est aussi authentiquement lui-meme que le Rousseau emotif des Reveries. On ne saurait donc, sans une mutilation arbitraire i nadmissible en bonne methode, ramener les " lumieres " a une simple volonte de rationaHte et de pensee critique. 42

Ce serait nier !'immense effort de reconstruction ideologique qui s'exprime dans !es reuvres de Montesquieu, de Beccaria, de Hume, de Kant, ou de Tom Paine. Le meme humanisme s'y traduit par des formes diverses, comme c'est le cas de Ia denonciation de l'esclavage, ironique sous Ia plume de Montesquieu ou de Voltaire, passionnee sous celle de Diderot, de Raynal, de Rousseau, ou de l'abbe Gregoire. La tache d'une histoire litteraire digne de ses ambitions serait, apres avoir pris Ia mesure du grand dessein central poursuivi par le siecle, de rendre j ustice a " " son extraordinaire diversite. Multiple XVIIIe siecle , selon l'heureuse formule de Pierre Chaunu.

III Si je commence ce tableau par Ia France, ce n'est point par un quelconque chau­ vinisme linguistique ou culturel. C'est pour une raison qui me semble obj ective­ ment fondamentale : en aucun autre pays, Ia pensee des lumieres n'a occupe une place aussi importante et ne s'est manifestee avec une egale vigueur. On pourrait dire qu'elle occupe Ia quasi totalite du terrain culturel, que ses adversaires me­ nent un combat derisoire d'arriere-garde et qu'elle constitue un eventail excep­ tionnellement !arge, qui va d'une sorte de p rogressisme chretien jusqu'imx formes !es plus radicales et !es plus explosives au plan social et religieux. " " La singularite Ia plus marquante des lumieres fran�aises est donc leur radicalisme d'une part, leur etonnante riebesse d'autre part. A !'inverse de ce qui se passe en Angleterre, ou en Allemagne, Ia classe intellec­ tuelle fran�aise est exclue de Ia gestion de !'Etat et se voit reduite a rever aux effets benefiques d'un despotisme eclaire, ou !es philosophes seraient !es con­ seillers des rois. En attendant cette ere faste ( dont plusieurs, parmi lesquels Diderot, se mettront a douter serieusement lors du partage de Ia Pologne), il lui faut ronger son fre i n dans l 'opposition en harcelant de critiques incessantes !es structures vi�il­

lies d'un Etat inadapte. Divises sur bien des points, !es intellectuels fran�ais se retrouvent d'accord, de Montesquieu a Marat et de Meslier a Beaumarchais, pour rejeter un systeme hybride, dont Ia machine administrative, judiciaire et fiscale fonctionne mal et dont I 'organisation sociale ne correspond pas a Ia remarquable progression economique et culturelle. Sans doute !es philosophes trouveront-ils, �a et Ia, des amis et des protecteurs au gouvernment (qu'on songe a Malesherbes ou a Turgot), mais on doit constater que d'une fa�on generale les " lumieres " , en France, se developpent en marge du " pouvoir etabli, et souvent contre lui. La philosophie fran�aise des lumieres " , depuis ses etoiles de premiere grandeur (comme Voltaire) juqu'a d'obscurs folliculaires ou des ecrivains de second ordre, se charge ainsi d'un potentiel critique exception43

nellement fort et parfois explosif, qui est a Ia mesure de son infrastructure econo­ mique, mais aussi de son impuissance a l'exprimer en actes concrets. La rancoeur d'une elite exclue de Ia gestion des affaires eclate dans l 'analyse pessirniste presentee par Diderot a Catherine II de ce qu'il app elle Ia "police" (c'est-a-dire Ia politique) fran�aise. Ce qui est vrai dans l e domaine economique et social l'est encore davantage dans celui de Ia pensee religieuse. II n'est pas de pays ou Ia polemique contre Ia religion d'Etat atteigne d 'aussi etonnantes proportions. A partir de 1 760, l 'Eglise est assaillie de toutes parts: " synagogue " du baron d'Holbach, " boutique " de Ferney, erudits des Academies, polemistes anonymes (comme l'auteur du Militaire phi/osophe) font de Geneve et d'Amsterdam les centres d'une production qui va du simple anticlericalisme a l'atbeisme le plus tranche. L'Eglise reagit avec maladresse, en s'ahritant derriere le pouvoir, en persecutant ses adversaires avec rage ou en susci­ tant des proces (Calas, La Barre, etc.) dont l'atrocite ne fait que Ia desservir. Une tendance liberale et eclairee, qui existe dans le milieu chretien, y perd une grande partie de sa crectibilite. Avant Chateaubriand, l'Eglise ne trouve que de mediocres defenseurs, et le clerge lui-meme va fournir a Ia " philosophie " quelques-uns de ses porteparole les plus ecoutes (les abbes Terrasson, Coyer, de Saint-Pierre, Raynal, etc.). A Ia fin de l'Ancien Regime se dessinent plusieurs tendances reformistes qui n'arriveront pas a term e : les idees des physiocrates et des " economistes " , les projets de cites-modeles (dont un exemple survit a Arc-et-Senans), Ia refonte de l a j ustice (Dupaty), une liberali sation des lois sur les Juifs et les protestants. La Revolution marquera l'aboutissement de ces tendances, mais en dresant une partie de Ia France contre l'autre, eile detruira l'unite du mouvement, qui concernait un public de plus en plus large et diversifie. Un exemple, parmi d'autre s : Ia " Societe des Amis des Noirs " , animee par Brissot, etait composee pour une large portion de membres i ssus de l'aristocratie. Dans cette dynamique d e l'esprit des lumieres, en France, les ecrivains ont joue un röle preponderant (Voltaire, les encyclopectistes,Rousseau).La fonction de Ia litte­ rature s'en trouva modifiee radicalement : ni Pascal, ni Racine, ni Moliere ne songeaient a modifier Ia societe fran�aise; l'ecrivain du XVIIIe siecle se veut un guide, un instituteur de Ia nation, et I 'imagerie populaire associe dans cette täche magistrale un Voltaire et un Rousseau, au-dela de leurs oppositions intellectuelles.

IV Les " lumieres " anglaises (il est malaise d'employer le terme en/ightenment, forge tardivement sur le modele allemand A ufklärung) se situent dans un contexte tres different, et presentent des caracteres assez particuliers. 44

Moins entravee qu'en France, Ia pensee s'y exprime plus aisement et y garde une tonal ite plus moderee. La bourgeoisie, mieux integree dans l'appareil d'Etat, reste aussi plus attachee aux croyances religieuses. Le XVIIIe siecle anglais est marque tout autant par une intense sensibilite religieuse, souvent puritaine, que par Ia volonte de rationalite. Les tenants de l'atheisme y sont rares, et discrets. La cri­ tique vise, Je plus souvent, !es aspects archaiques de Ia foi, comme Ia croyance abusive au miracle, et l 'exegese biblique y conduit generalement au deisme. L'accent est mis sur l'idee de sociabilite, sur !es p roblemes de morale et de com­ portement, sur Ia conscience civique. Les periodiques anglais vehiculent une nou­ velle conception de Ia vertu, mise au service du bonheur d e Ia fam ille, du groupe, ou de Ia nation, mais Sterne et Fielding attestent, parmi d'autres, Ia vitalite, Je goßt de Ia fantaisie, du non-conformisme et de l'humour d 'un peuple non encore bride par !es interdits d 'une morale etriquee. La patrie d e Hume est aussi celle de Young ; et celle qui fait de Pope une vedette litteraire cree aussi Je roman noir, !es fausses ruines et Je culte du moyen äge. L'influence conjuguee de l 'esprit prophe­ tique et d'un radicalisme critique y aboutit a l'art exalte de William Blake. Enfin, Ia science anglaise, plus que taute autre, transforme l'image du cosmos (avec New­ ton), en meme temps qu'elle bouleverse !es techniques i ndustrielles et agricoles, ce qui lui vaudra un p restige consideable et Ia reputation d 'un pays particuliere­ ment avance (voir !es Leures anglaises de Voltaire et tout Je courant anglomane). L' Angleterre constitue donc un modele economique et politique, mais sa pene­ tration i ntellectuelle et litteraire est peut-etre moins etendue et moins p rofonde que celle de Ia France, si on p rend en consideration J e marche du Iivre et !es catalogues de bibliotheques privees.

V Quant a l'All emagne, on Je sait, elle est encore loin de constituer une entite cul­ turelle, et a fortiori une realite politique, au XVIIIe siecle. Les petites p rincipautes de l 'Ouest et de Ia Rhenanie sont assez permeables a l'influence fran�aise. Jacobi, Leuchsenring, plus tard Forster et Anacharsis Clootz en sont de vivants exemples, mais dans Je cas d 'un Jacobi cette adhesion aux lumieres n'exclut pas un attache­ ment indefectible aux illuminations d e Ia foi religieuse. La situation de Ia Prusse est extremement singuliere : Frederic II entend mener une politique de despote eclai re, et il n'hesite pas ä franciser son Academie et ä ouvrir ses frontieres aux refugies de tout type (fussent-il s jesuites, apres 1 770). Mais s'il courtise Voltaire ou d'Alembert, il deteste !es encyclopedistes et s'emeut des auda­ ces de l'auteur de I' Essai sur /es Prejuges, qu'il refute tout comme il avait refute Machiavel dans sajeunesse. L'ari stocratie allemande s'ouvre ä l'influence fran�aise, jusqu'au plan des lectures (comme Je prouve l 'etonnante bibliotheque de Ia Grosze 45

Landgräfinn de Darmstadt), ou du theätre de societe, mais eette penetration n 'a pas de eonsequenees politiques Oll sociales, et elle apparait a la bourgeoisie de Iangue allemande eomme une forme de segregation. Celle-ci s'exprime par la voix des " Po­ pularphilosophen " , des periodiques, par la grande voix de Lessi ng, par eelles de Reimarus, de Nieolai et de Mendelssohn. Tout radiealisme en est exclu et l'aeeent est mis sur le bon sens, sur la vertu, sur le civisme (Bürgertum designant en alle­ mand a la fo is l 'appartenanee nationale et la bourgeoisie). Un immense effort est fait, de l 'Universite j usque dans la presse, pour eultiver la nation, et pour lui donner en meme temps la eonscienee de sa dignite. A eet egard, le Sturm und Drang ne fera qu'aeeelerer un proeessus en pleine aetion. Mais eette tendanee rational iste, eet humanisme progressiste se heurte a bien des resistanees de la part de penseurs attaehes a l'illumination mystique, et pour qui toute parole est initialement divine. De Hamann a Herder, en passant par le "Wandsbeeker Bothe " , tout un eourant resiste vigoureu sement a l'ideologie des lumieres. Un autre, qui ne se eonfond pas entierement avee ee premier, resiste a l'irruption de la eulture francaise au nom des valeurs nationales: il n'est pas neees­ sairement hostile aux lumieres (l 'exemple de Lessing en fait foi), mais il entend defendre un patrimoine qu'il tient pour menace (qu'on songe a l 'etat d'esprit du jeune Goethe a Strasbourg). Faute d'un Etat national, l'Allemagne eultive le eoneept de p eup/e et d'esprit popu­ laire; elle eherehe ses raeines dans l e passe, tout en s'insurgeant eontre des strue­ tures sociales i nj ustes dans le p resent. Le Sturm und Drang seveut ainsi, a la fois, nationaliste, populaire et eontestataire de l'ordre etabli. Kant, qui se propose d'etre le tbeoricien de l ' Aufklärung, fournit des armes a eeux qui eombattent le materialisme holbaehique et la morale de l'interet exposee par Helvetius. C'est dire eombien la position de l' Aufklärung allemande differe de eelle des lumieres francaises, et eombien l 'Allemagne du XVIIIe siecle, ou se eonjuguent rationalisme eritique, Empfindsamkeit et Vo/ksgeist, resiste aux essais de definition simple par son extraordinaire ambiguite.

VI Dans les Pays-Bas du Nord, en terre protestante, emigres, libraires et editeurs trouvaient un hävre de paix et l'edition hollandaise tendait a evineer eelle de Geneve et de Neufehätel dans la diffusion du Iivre non-orthodoxe. La qualite de la reeherehe scientifique, tant privee qu'aeademique ou universitaire, y attire de nombreux etudiants, partieulierement a Utreeht et a Leiden. La Iitterature nationale y montre moins d'audaee que eelle qui s'y imprime en Iangue francaise. Sensibilite, moralisme, didaetisme et esprit civique earaeterisent 46

une production marquee par un certain conformisme, auquel echappent quelqües femmes d'exception, telles Betj e Wolff et Agatha Deken dans leur roman Sara Burgerhardt (qui doit beaucoup a Richardson, mais aussi a Rousseau), et une aris io­ crate qui s'exprime en francais, Belle de Zuylen, l'auteur du conte impertinent et voltairien intitule Le Noble. En philosophie, le spiritualiste Hemsterhuis poursuit Ia tradition platonicienne et combat le materialisme francais. Les audaces seraient plutöt du cöte politique, ou le parti des " patriotes " s'insurge devant l'oligarchie, mais succombe ensuite devant l 'invasion p russienne, venue au secours de l'ordre etabli.

VII Les Pays-Bas du Sud, restes catholiques, sont devenues partie integrante de l 'Empire habsbourgeois. Le röle de l 'Eglise y est toujours dominant, et un timide essai d'ouverture vers une A ufklärung catholique avortera lors du conflit ouvert contre le despotisme eclaire de Joseph II. Terre d'accueil pour les refugies venus de par­ tout, cette region n'apportera ni grand penseur, ni grand ecrivain, si ce n'est p eut­ etre ce grand Seigneur cosmopolite, auteur de Iangue francaise a ses moments perdus. le p rince Charles-Joseph de Ligne, feld-marechal autrichien. L'admini s­ tration autrichienne s'efforce cependant de repandre quelques rayons de l'esprit nouveau en suscitant a Bruxelles Ia creation d'une Academie.

VIII L'analogie de situation est assez frappante avec celle qui p revaut a Vienne et dans les etats habsbourgeois. A part quelques auteurs de second ordre (comme Sonnen­ fels), Ia Iitterature y est marquee par le go fi.t baroque, et I' A ufklärung y reste un phenomime politique, associe a Ia vision centraliste et etatique de Joseph II. Dans Jes pays habsbourgeois non-allemands (Hongrie, Boheme, Slovaquie, etc.), l'esprit des lumieres se confond avec J e renouveau national, avec un retour a Ia Iangue vernaculaire et avec une affirmation de l'identite ethnique et linguistique, associee dans certains cas (ex. le jacobinisme hongrois) avec des velleites de changement politique et social . II est assez significatif de constater que Ia ou l'Aufklärung est apparue comme une politique d'autorite exercee et contrölee par le pouvoi r (Pombal au Portugal, Joseph II en Autriche-Hongrie et aux Pays-Bas, Catherine II en Russie), elle s'est coupee de Ia vie culturelle et de Ia creation estbetique, pour se confiner dans l'ordre economique et administratif. Les seules reussites veritables d'une teile poli­ tique se situent Ia ou le gouvernement encourage Ia vie de l'esprit, sans vouloir Ia regenter: Pologne de Stanislas-Auguste, p etites cours allemandes (Weimar, Gotha, Mannheim, etc.). 47

L'esprit des lumieres, qui se reclame de l'esprit de liberte (selon une formule illustre de Diderot), se refuse it mareher au pas, au rythme que voudraient lui imposer d'inquietants mecenes ou protecteurs, comme Frederic de Prusse et Catherine de Russie. II est assez significatif que ce soit dans Ia noblesse Ia plus avancee que se re­ crutent bien souvent, en Europe centrate et orientale, les representants les plus hardis du renouveau. Novicov et Radichtchev en Russie, les chefs du groupe des " jacobins " hongrois, en Espagne un novateur audacieux comme Pablo de Olavide appartiennent it Ia noblesse et aux milieux favorises, ce qui ne les empeche pas d'avoir le souci de moderniser leur pays et d'y developper it Ia foi s les conditions de vie et un climat plus liberal. Dans des pays comme ceux-ci, ou Ia bourgeoisie reste un groupe numeriquement faible, sans influence et mal organise, c'est d' en haut que vient Ia volonte de changement, et c'est aussi l'explication de son echec. On ne saurait donc appliquer tel quel, dans des conditions foncierement differentes, le scbema de Ia diffusion des lumieres qui vaut pour l 'Angleterre, pour Ia France ou pour Ia Hollande. IX La situation de l'Italie rend egalement difficile une vue globale et simple du proble­ me. Les lumieres y sont vivaces principalement dans le Nord. Dans le Milanais, les freres Verri fondent Ia revue II Caffe pour repandre I es idees nouvelles de socia­ bilite, de vertu, mais aussi d'une saine economie agraire et commerciale. Le juriste Cesare Beccaria fonde une nouvelle cri minologie, qui depasse jusqu'aux plus liberaux des philosophes fran�ais (p. ex. Diderot). Le ducbe de Parme et Ia Toscane font l 'admiration des voyageurs fran�ais pour Ia qualite et l 'efficacite de leur admini­ stration, mais Ia modernisation de l'Etat s'y fait de maniere assez autoritaire et Ia liberte d'expression n'y est guere encouragee. II s'agit, en fait, de versions locales de Ia politique menee par les Habsbourg en Autriche, voire meme d'anticipations de celle de Joseph II. Venise est en declin rapide et a perdu le röle qu'elle jouait jadis (gräce it l'Uni­ versite de Padoue) dans l'encouragement it Ia libre reflexion philosophique. On y lit beaucoup, mais Ia censure y sevit autant que dans les etats pontificaux et eile pourchasse ceux qui s'interessent de trop pres it Ia pensee heterodoxe. A cöte d'un Algarotti, ami de Voltaire et de Frederic II, vulgarisateur de Newton, Venise produit le curieux Giovanni Cataneo, dont Ia vie n'est qu'un long combat contre I es lumieres, et qui refute laborieusement Montesquieu, Voltaire, Newton, Diderot, Feij6o, et surtout sa bete noire : John Locke. Cette position est aussi celle de Gozzi, ennemi notoire du rationalisme impie, et le disciple fidele de l'esprit nouveau, moralisant et bourgeois, Carlo Goldoni, finirit par ehereher en France une seconde patrie. 48

A Naples, l'esprit des lumieres chemine secretement, mais le regime n'en tolere aucune expression publique. L'abbe Galiani, l'ami de Diderot, de Grimm, du baron d'Holbach, de Mme d'Epinay, une fois rentre it Naples, se garde bien de publier ses deroutants et machiaveliques paradoxes, tandis que Vico reste pratiquement inconnu, et que Giannone est persecute. C'est surtout dans le domaine de l 'erudition, de l 'histoire, de Ia reflexion economique et j uridique que l'Italie contribue au bilan positif des lumieres, mais eile n'y apporte aucun genie du premier ordre, pas plus d'ailleurs qu'it Ia poesie ou au theätre. II s'y maintient cependant un climat de liberalisme et de tolerance que Stendhal, le disciple des ideologues, y trouvera si attachant et si seduisant. X En Espagne, au contraire de ce qui se passe Italie, Ia participation aux lumieres·sera faible et restreinte. Le representant le plus autorise de l'esprit nouveau y estun reli­ gieux, le Benedictin Feij6o, qui mene le combat dans ses publications periodiques (les Cartas eruditas y curiosas) contre les deviations archaiques, superstieuses ou paiennes de Ia religosite espagnole. " " La p ercee des lumieres se situe tout it Ia fin du siecle et eile vise surtout it ameliorer les conditions de vie et les pratiques economiques d'un pays trop toume vers le passe. C'est l'obj ectif que se proposent Jovellanos, Cadalso, et le poete Quintana, qui chante les decouvertes comme le fait en France Andre Chenier. La distinction entre rationalisme et sentimentalisme y est fort malaisee. Cadalso est reformiste et pragmatique dans les Cartas Marruecas, pathetique et sombre dans les Noches lugubres. La tragedie de l' i/ustracion espagnole sera l'occupation fran�aise et le sursaut de nationalisme qu'elle va provoquer. Les penseurs eclaires seront honnis comme afrancesados, et seront tenus pour des traitres it l'honneur espagnol. Ce drame eclate, mieux que partout ailleurs, dans l'evolution de Goya, le plus radical des contestataires de l'ordre etabli, le rationaliste qui proclame, dans un dessin celebre, EI suNio de Ia razon produce monstruos (phrase qui pourrait etre de Voltaire), et qui crie son horreur de Ia guerre et sa fierte d'homme libre dans les Caprichos et le Cineo de Mayos.

Ce phenomene n'est pas specifiquement espagnol, d'ailleurs. La resistance it l'esprit fran�ais a ete particulierement vive en Allemagne, bien avant les guerres de Ia Revolution et de l'Empire. Les bardits de Klopstock, l'apologie de Ia resistance d'Arminius, les poemes militants et guerriers d'Ewald von Kleist, l'antirationalisme " de Hamann et du jeune Herder, Ia vague de germanite" qui soutient le Sturm und Drang, tout cela tend it souligner des valeurs specifiques qu'on ne veut pas voir se diluer dans le cosmopolitisme des classes dirigeantes. 49

Mais ces velleites memes ne sont pas foncierement etrangeres ä l'esprit des "lumieres " . Dans Ia mesure Oll il se veut civique, celui-ci est largement national et populaire. Dans Ia Iitterature flamande, l'avocat Verlooy qui plaide pour sa Iangue natale et en deplore le mepris, est aussi un disciple des philosophes francais, et qui politiquement se situe tres ä gauche, du cöte de ceux qui s'appellent les "patriotes " . On aurait tort de voir dans le nationalisme un pur produit du genie romantique, et de confondre Ia realite de l'Europe des lumieres avec un certain cosmopolitisme, qui reste le fait d'une elite privilegiee (le prince de Ligne, le comte Potocki, Belle de Zuylen, pour n'en citer que quelques figures representatives).

XI Au total, l'Europe des lumieres offre le spectacle d'une tres grande diversite et se presente comme une mosa"ique extremement complexe. II faudrait, pour etre com­ plet, ne pas s'en tenir ä Ia seule histoire litteraire et ä ses corollaires, mais y incorporer l'histoire de l'art, celle de Ia philosophie, et bien d'autres aspects marquants. A l'egard du style, par exemple, il n'y a pas un, mais des styles des " lumieres " . II y a le style de l'ironie critique, au rythme sautillant, relevant d'une esthetique du discontinu, qui est celui des contes de Voltai re, des Lettres persanes, du Compere Mathieu, et qui se retrouve chez Sterne ou chez Lichtenberg. Un second type correspond ä l'aspect le plus grave du siecle des " lumieres", ä son propos ideolo­ gique d'un univers desacralise Oll l'homme s'integrerait dans un ensemble ordonne, coherent, respectueux de ses droits et propice ä son epanouissement : le style de l' Esprit des Lois, de Beccaria, de Jefferson, du Contrat Socia/, d 'une facette de Voltaire, celui de Gibbon et de Lessing. Expression de Ia dignite humaine, il in­ spirera Ia Dec/aration ofRights, l' Ethocratiedu baron d'Holbach, Ia Diptikde Lessing et une large part de l 'eloquence revolutionnaire. Alors que le premier style correspon­ drait plutöt au rococo, celui-ci serait l'equivalent du neo-classique en architecture et en peinture, le parallele ä Kent et ä Adams, au Piranese et ä Boullee, ä Fischer von Erlach et ä Gilly. Mais l 'epoque ne s'epuise pas dans ces deux visages. Un autre courant, qui va de Locke ä Condi llac en passnt par Helvetius et par l'ecole d'Edimbourg, s'efforce de saisir l'homme dans sa complexite psychologique, comme une realite experi­ mentale fort eloignee de l'humanisme essentialiste des moralistes classiques. Cette enquete revele l'existence de pulsions affectives, rehabilite I es passions (Shaftesbury, Diderot, Vauvenargues) et va jusqu'ä redecouvrir les Iiens entre ce qu'on appelle d'une etiquette vague et commode Ia " sensibilite " avec Ia sexualite profonde. Ce courant, lui aussi, aura son style, passionnel et passionne, frenetique et violent, celui de Dorval dans les Entretiens sur Je Fils nature/, celui des Stürmer, celui de 50

Young, de Baculard d'Arnaud ou de Bernardin de St. Pierre. Et en face, il y aurait la lucidite glaciale, la rigueur geometrique d'un Laclos et d'un Benjamin Coustant. Comment saisir le XVIIIe siecle dans sa riebe substance sinon en acceptant sa foneiere diversite? Critique et sensibilite, lucidite et effusion, raison et fremissement, mesure et exasperation y voisinent et se compenetrent parfois dans une meme personne. Aussi a-t-il favorise I es formes mixtes, I es structures hybrides ou margina­ les qui concilient le dessein ideologique et Ia volonte esthetique (comme p. ex. Jacques /e Fataliste, ou le dialogue, Oll le roman epistolaire, Oll Ia comedie " " larmoyante). La simple litterarite , les preoccupations esthetiques ne sauraient l 'epuiser: il est, a l'image de ses grands hommes, un äge proteiforme. " Loin d'etre une faiblesse, cette diversite des lumieres " fait leur grandeur et leur originalite. Chacune de ces faces a sa coloration, son profil singulier, et entre elles s'institue une relation complexe, faite d'attirance, mais aussi de rejets. Reste que l'epoque, dans ses lignes dominantes, est d'accord sur quelques idees essentielles : bonheur, liberte, droits de l'homme. II faudra Ia Terreur pour remettre en question leur ineluctable Iiaison et pour obscurcir l'inderacinable confiance dans l 'homme qui en etait le support. Dans l'Europe nouvelle, dechiree et redessinee de 1 8 1 5 , ceux q u e Musset appellera "les enfants d u siecle " se trouveront confrontes a une autre problematique. Mais dans l'Europe romantique, qui est aussi l 'Europe des " nationalismes, I es echos des lumieres " se prolongeront encore longtemps dans I es pays en voie d'emancipation.

Anmerkungen

1 Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Wiesbaden, 1972 ), pp. 12-38. 2 Outre !es exemples cites par F. Schalk, je me permets de renvoyer au chapitre I, ;Lumiere' et'Lumieres', histoire d'une image et d'une idee" dans Clartes et Ombres du Sieeie des Lumieres. (Geneve, 1969 ) .

3 Vovi l'article de J. Marx, La lumiere des il/umines, dans les Cahiers de Saint-Martin, Paris, 1 976, p. 1 1 -24.

Hinweis der Redaktion : Dieser Vortrag erscheint 1977 ebenfalls in der

Romanischen Zeitschriftfür Literaturgeschichte.

51

Wilhelm Voßkamp Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts

Das seit einigen Jahren beobachtbare neue intensive Interesse sowohl an Fragen der allgemeinen Geschichte als auch an der Geschichte der Literatur richtet sich in besonderer Weise auf hermeneutische und geschichtstheoretische Probleme der reflektierenden Selbstverständigung im Dialog zwischen Gegenwart und Vergan­ genheit ' und wendet sich zugleich in verstärktem Maße Gesichtspunkten der Struk­ turierung und Fragen der Evolution von Geschichte zu ' . Theoretische und metho­ dologische Arbeiten zur Literaturgeschichte - vor allem im Kontext neuerer rezeptionsästhetischer, marxistischer und sozialgeschichtl icher Ansätze - haben vornehmlich auf die Problematik eines " historischen Obj ektivismus" (H. R Jauß) in den positivistisch orientierten Literaturgeschichten und auf die Einseitigkeit geistesgeschichtlicher Konzepte hingewiesen.' " Objektivistische" Literaturge­ schichtsschreibung verzichtet weitgehend auf die konstitutive Verknüpfung des Gegenwärtigen mit dem Vergangeneo im Sinne einer hermeneutischen Reflexion des jeweiligen Literaturgeschichtsschreibers.• Geistesgeschichtliche Verfahren verengen Literaturgeschichte zu sehr auf den Prozeß der Ideengeschichte und auf die historische Abfolge der Werke als Geschichte des " Geistes", ohne die historisch­ sozialen Bedingungen und Funktionen genauer zu berücksichtigen.' Verbunden damit ist häufig eine implizite Orientierung an den klassischen Meisterwerken der Literatur, die als Maßstab der historischen Periodisierung und wertenden Beurtei­ ung gelten� Die gegenüber den " objektivistischen" und geistesgeschichtlichen Konzepten formulierten marxistischen Positionen entbehren andererseits noch weitgehend einer differenzierten Zuordnung von literarischer Evolution und sozi­ alem Wandel, weil sie die Beziehung von Literatur und Geschichte noch durch­ gehend mit Kategorien der Widerspiegelungsästhetik zu interpretieren versuchen.' Geht man demgegenüber von einem kommunikativen Begriff der Literatur aus, bei dem sowohl die einzelnen historischen Produktions- wie Rezeptionsvorgänge berücksichtigt werden, stellt sich die Frage der Literaturgeschichtsschreibung in erster Linie als Problem der genauen Analyse und Darstellung der spezifischen Rolle, die Literatur als besonderes Moment im historischen Prozeß spielt. Literatur­ geschichtsschreibung ist dann notwendig charakterisiert durch die Berücksichti53

gung sozial- und funktionsgeschichtlicher Aspekte. Läßt sich Literatur als Teil der hi storisch-konkreten Interaktion zugleich als ein Besonderes im jeweiligen histo­ risch-sozialen Kontext einer Epoche beschreiben? Welches ist die spezifische Lei­ stung, die Literatur im Horizont der allgemeinen Geschichte erbringen oder auch verweigern kann? Von solchen Fragestellungen ausgehend, versuche ich im folgenden die mir am wichtigsten erscheinenden Gesichtspunkte einer in der Arbeit befindlichen sozial­ geschichtlich orientierten " Geschichte der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts (Aufklärung)" zu entfalten: wobei ich das besondere Augenmerk auf den Zusammenhang von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte und auf die Epochenproblematik und Periodisierungsfrage richte. Da es sich hier um die Erör­ terung theoretischer und praktischer Probleme und Aufgaben einer noch nicht abgeschlossenen Literaturgeschichte handelt, haben die folgenden Überlegungen noch weitgehend thesenhaften und hypothetischen Charakter. Es ist ein Diskus­ sionsangebot, das auf Grund seiner theoretisch-methodologischen Intention zu­ gleich auf generelle Probleme einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturge­ schichtsschreibung verweist.

1.

Zur Gegenstandsbestimmung und zum Objektbereich der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts

Die Geschichte der Literatur kann prinzipiell als Prozeß der Textentstehung und Textverarbeitung (Textproduktion und Textrezeption) im Rahmen literarischer Kommunikation verstanden werden. Der Gegenstandsbereich einer Geschichte der Literatur umfaßt deshalb die Gesamtheit des literarischen Lebens in der Abfolge jeweils unterschiedlicher historischer Stationen. ,Literarisches Leben' meint dabei sowohl die Entstehung von Literatur unter l iterarischen und außerliterarischen Bedingungen als auch alle Aktivitäten bei der Di stribution und Rezeption von Literatur. Soll Literaturgeschichte den produktions- und rezeptionsästhetischen Ansatz ins Gleichgewicht bringen, sind gleichermaßen sowohl Analysen zu den literarischen Werkstrukturen als auch zur Literaturproduktion wie -rezeption nötig, wobei letztere auch unter Gesichtspunkten ihrer Rückkoppelungsfunktion für den Prozeß der literarischen Produktion zu beachten sind. (Vgl. Wertungsvorgänge, literarische Normen- und Kanonbildung etc.) ' Dieser Ansatz einer kommunikativen Literaturgeschichte impliziert im Idealfall die genaue Rekonstruktion einzelner historischer Augenblicke als Kommunika­ tionssituation.'• Da dabei aber alle Bedingungs- und Entstehungs- wie Wirkungs­ faktoren kaum erfaßt werden können, empfiehlt es sich, daß eine Literaturgeschich­ te, die keine Sozialgeschichte der Literatur sein will, von der Literatur selbst, d. h. von den vorliegenden literarischen Werken ausgeht und von da aus nach den 54

historischen Bedingungszu sammenhäng en und sozialen Funktionen fragt. Das bedeutet nicht, daß Sozialgeschic hten lediglich als Folie verstanden wird, vor der die historische Entwicklung der Literatur nachzuzeich nen wäre ; vielmehr muß der komplexe Zusammenh ang von Literaturpro zeß und sozialgeschi chtlicher Situ­ ation j eweils präzise bestimmt werden. Motiv- und formbildend für literarische Werke und Gattungen können sowohl gattungsim manent-äs thetische als auch biographisc he, soziale wie politische Faktoren sein - entscheiden d ist die Form der l iterari schen Reflexion als mögliche Verarbeitun g von Geschichte. Versucht man, den produktions- und rezeptionshistorischen Ansatz möglichst ins Gleichgewicht zu bringen, spielen auf der Seite der Literaturproduktion für das achtzehnte Jahrhundert vor allem Fragen des " freien Schriftstellers" (von Hunold zu Klopstock) unter neuen sozialgeschichtlichen Bedingungen eine besondere Rolle. Hier liegen für die Literaturgeschichte eine Reihe von Arbeiten vor, die es erlauben, nähere Bestimmungen über den Zusammenhang von literarischem Werk und seinen Produktionsbedingungen im Blick auf die Rolle einzelner Autoren zu geben�' Bei den Fragen zur Distribution der Literatur im achtzehnten Jahrhundert ergeben sich historisch zum ersten Mal Konstellationen, die in den bisherigen literatur­ geschichtlichen Epochen in dieser Weise nicht akut gewesen sind. Deswegen muß in einer Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts vornehmlich auf sol�he Probleme der literarischen Zentren" , des literarischen Markts und Vertriebs und des Verlagswesens aufmerksam gemacht werden, denn diese Voraussetzungen l ie­ fern erst die Bedingungen für eine neue Rolle, die die Literatur spielen kann. Ohne die Möglichkeiten einer weiteren Verbreitung von Literatur ist weder die Bedeu­ tung der Lektüre noch die Funktion, die das Lesen i m Emanzipationsprozeß des achtzehntenJahrhunderts spielt, überhaupt zu klären�· Schließlich wirft der rezeptionsgeschichtliche Aspekt eine Reihe von publikumsso­ ziologischen und lesergeschichtl ichen Fragen auf. Für das Problem der Rezeption wären prinzipiell drei Stufen zu unterscheiden. 1. Jene Stufe der Rezeption beim Erscheinen des Werks, bei der Probleme der Rückkoppelung für die weitere literarische Produktion des Autors eine entschei­ dende Rolle spielen (vgl. die einzelnen Bände von Johann Gottfried Schnabels " Insel Felsenburg") ; 2. die auf das Erscheinen des Werks folgenden Rezeptionsstufen, jene historisch möglichen, aber nicht notwendigen Rezeptionsfolgen, die als Wirkungsgeschich­ te beschreibbar sind (vgl. z. B. das lange Vergessen Gottscheds und die stete Aktualität Lessings) ; schließlich 3 . die aktuelle, gegenwärtige Rezeption, die besondere hermeneutische Probleme der Auswahl und Formulierung von erkenntnisleitenden Interessen mit sich bringt (vgl. etwa die gegenwärtige Neubewertung der vorgoetheschen Lyrik). 55

Rezeptionsgeschichte bedeutet für eine Literaturgeschichte des achtzehnten Jahr­ hunderts weitgehende Berücksichtigung der Lesergeschichte. Gerade die Arbeiten von Rolf Engelsing zu den Perioden der neuzeitlichen Lesergeschichte, zu den Aktivitäten der Lesegesellschaften und zum Übergang von Formen des " intensiven" zu solchen des " extensiven" Lesens im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts haben gezeigt, welche literaturgeschichtliche und gesamtkulturelle Bedeutung der Lektüre und dem Lektüreverhalten zukommen."

2 . Zielsetzung

Ziel einer Darstellung literarischen Lebens als Literaturgeschichte sollte die Unter­ suchung der spezifischen Rolle und Funktion sein, die Literatur unter genau zu analysierenden historischen Bedingungen spielt. Literatur müßte - auf Grund ihrer prinzipiellen Differenz zur sozialgeschichtlichen Realität'• - in dieser Eigen­ schaft als gesel lschaftlich praktisches Moment beschrieben werden. Ließe sich zeigen, daß in der (ästhetischen) " Differenzqual ität'"' die eigentümliche erfah­ rungs- und gesellschaftsbildende Rolle der Literatur liegt, könnte Literaturgeschich­ te, wie es Walter Benjamin formuliert hat, " Literatur [als] ein Organon der Ge­ schichte" vergegenwärtigen. Literaturgeschichte wäre dann " nicht nur eine Diszi­ plin, sondern in ihrer Entwicklung selbst ein Moment der allgemeinen Geschichte"." Damit ließe sichj ene fatale Alternative vermeiden, die Jörn Rüsen für die Kunst- und Literaturwissenschaften insgesamt sieht : " Entweder entästhetisieren sie die Ge­ schichte und verlieren die Kunst, oder sie enthistorisieren die Kunst und verl ieren die Geschichte." .. Die Beziehung von Literatur und Geschichte wäre vielmehr in dem Sinne zu verstehen, daß " Literatur als Kunst Auskunft über wirkliche Ge­ schichte gibt, die ohne sie nicht zu gewinnen ist und ohne die wesentl iche Momente der wirklichen Geschichte unentdeckt bleiben." •• Die funktionsgeschichtliche Akzentuierung der Literaturgeschichte liegt zudem in der Konsequenz des kommunikativen Ansatzes. Die Verknüpfung von allgemeiner Geschichte und besonderer Literatur-Geschichte erscheint möglich, wenn nach der jeweiligen Funktion und Rolle der Literatur in dem ihr eigenen Verhältni s zur realen Geschichte gefragt wird. Von der spezifischen, "ästhetischen Funktion" literarischer Texte ausgehend," steht deshalb das Problem der kommunikativen und gesellschaftsbildenden Funktion der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts im Vordergrund. Literarische Texte sind nicht nur Medium sozialer Erfahrung, sondern zugleich intentionale Handlungsanleitungen im Horizont neuer Selbst­ verständigungsprozesse. Literatur, die noch weitgehend Zweckliteratur ist, bleibt ohnehin in entscheidender Weise angelegt auf Wirkung und soziale Leistung. In der deutschen Literatur des ach tzehnten Jahrhunderts zeigt sich gerade in der Diskussion und Auseinandersetzung mit diesem pragmatischen und utilitari sti­ schen Literaturpostulat die Herausbildung eines neuen Literaturbegriffs, an dessen 56

Ende die Herausbildung der Vorstellung von der relativen Autonomie der Kunst steht.

3. Zur Auswahl und Wertung Literaturgeschichte als " Organon" der al lgemeinen Geschichte bedeutet zugleich Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit desjeweil igen Literaturgeschichtsschrei­ bers ; d. h. Reflexionsnotwendigkeit auf die Historizität und Überholbarkeil des eigenen Ansatzes auch unter der Frage nach erkenntnisleitenden Interessen. " ,Geschichte' als Inbegriff des historisch Erkennbaren [ist ] kein [ . . . ] neutraler Sach­ verhalt [ . . . ] , vielmehr immer ein bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen Ver­ gangenheit und Gegenwart."" Diese (hermeneutische) Frage stellt sich konkret bei der Auswahl und Wertung literaturgeschichtl icher Fakten. Eine Geschichte der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts sollte und kann keine Vollständigkeit anstreben, sondern im Sinne einer " Strukturgeschichte" Komplexität erfassen und reduzieren� ' Maximen für diesen (notwendigen) Prozeß der Auswahl und Komplexitätsreduktion lassen sich nicht allein aus ästheti sch begründeten Werturteilen ableiten, weil diese selber in einem historischen Realzusammenhang stehen, der sie allererst mitkonstituiert. Eine Geschichte der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts muß darauf ihr beson­ deres Augenmerk richten und Fragen der Wertbildung und des literarischen Nor­ menwandeins in den Vordergrund rücken. Welche Rolle spielen hierbei die wich­ tigsten Institutionen (Schulen, Universitäten, Rezensionsorgane etc.)? Welche Bedeutung haben außerliterarische Erfahrungen für die Konstituierung eines lite­ rarischen Urteils? Wie kommen literarische Werturteile überhaupt historisch zustande? Literarische Wertungen können einerseits nicht ohne Rücksicht auf die historisch tatsächlich erfolgten Wertungen vorgenommen werden. Aufschluß darüber gibt vor allem die Wirkungsgeschichte einzelner literari scher Werke, die deshalb an exemplarischen Beispielen dargestellt werden muß, zumal sich auch der Literatur­ geschichtsschreiber selber in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang befindet und ohne ein begründetes hermeneutisches Sinnverständnis weder eine Auswahl treffen noch Werturteile fällen kann. Andererseits - das zeigt gerade die konkrete Arbeit an einer Literaturgeschichte zum achtzehnten Jahrhundert - ent­ bindet die Einbeziehung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte keineswegs von einer Entscheidung im Blick auf bestimmte Maximen bei der konkreten Auswahl und Darstellung, weil es etwa auch eine Geschichte des literarischen Vergessens gibt. Deshalb sollten drei Auswahlprinzipien gelten : Das Moment der historischen Repräsentanz, das Moment der historischen Innovation und schließlich das Moment gegenwärtiger Aktualität." 57

Werfen Fragen der hi storischen Repräsentanz oder der literarhistorischen Neu­ erungen schon erhebliche Probleme auf, verweist die Beantwortung der Frage nach der gegenwärtigen Aktualität auf außerordentl iche Schwierigkeiten . Im Blick auf das achtzehnte Jahrhundert ist es nicht damit getan, eine Aktualität zu strapazieren, die eben auch beim achtzehnten Jahrhundert weitgehend eine hi storische ist:' Andererseits zeigt gerade das achtzehnte Jahrhundert jene Momente der Moderni­ tät, die bis in die Gegenwart weiterwirken: Das Problem der literarischen Subjek­ tivität, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, die Frage der Autonomi­ sierung des Ästhetischen, die ,Entdeckung' des Lesens für ein breiteres Publikum, die Rolle der Verzeitlichung der Erfahrung im Übergang von der Raumutopie zur Zeitutopie, oder die Theorie von Aufklärung und ihre " Dialektik".

4. Zum Problem von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte Legt man einen kommunikativen Begriff von Literaturgeschichte zugrunde, stellt sich die Doppelheit von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte nicht als Alter­ native oder unüberbrückbare Dualität, sondern als ein notwendig Zusammenge­ hörendes dar. " Sozialgeschichte" wird dabei nicht als Sektorwissenschaft, sondern als umfassende Gesellschaftsgeschichte verstanden, als Geschichte der sozialen Strukturen, Abläufe und Bewegungen�· Literarische Kommunikation als soziales Teilsystem ist eingebettet in ein jeweils umgreifendes gesellschaftliches Gesamt­ system und dessen historischer Evolution, wobei Literatur in ihren Bedingungen und Wirkungen nur angemessen beschrieben werden kann als immer zugleich auch praktisches Moment im geschichtlichen Prozeß. Auf die Schwierigkeiten der Konkretisierung dieser Forderung durch eine genaue Rekonstruktion historischer Augenblicke - erinnert sei nur an Daten wie 1 680/90, 1 740, 1 760/63 oder 1780 ist bereits zuvor hingewiesen worden. Entscheidend scheint mir zu sein, daß man generell nicht von einem Abb ildverhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft ausgeht, sondern die Beziehung von Literaturgeschichte und allgemeiner Geschichte im Sinne eines Antwort-Verhältnisses versteht. Litera­ tur reagiert in sehr unterschiedlicher Weise auf die historische Realität, sie bildet die geschichtliche Wirklichkeit keineswegs nur ab, sondern zeigt eine Fülle von Reaktionsweisen auf den historischen Kontext. Insgesamt kann man auch nicht von einem kongruenten Verhältnis oder einer Kongruenz bei der Entwicklung von Literatur und allgemeiner Geschichte ausgehen, was für die Periodisierungs- und Epochenfrage außerordentlich wichtig ist. -

5.

Gattungsgeschichte als Gliederungsprinzip

Eine gattungsgeschichtliche Gliederung der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts bietet sich an, wenn man unter Gattungen nicht normative Form58

konstanten, sondern literarisch-soziale Konsensbildungen versteht. In literarischen Gattu ngen ist die Komplexität des gesamten literarischen Lebens auf bestimmte kommunikative Modelle reduziert, wobei die jeweiligen Dominanten (Text- und Lesererwartungskonstanten) eine entscheidende Rolle spielen. Nur aus dem Zusam­ menspiel von relativer Eigenständigkeit der literarischen Form und ihrer gleich­ zeitigen Sozialabhängigkeit und Zweckgebundenheit kann die Entstehung und Geschichte von Gattungen genauer erklärt werden. Besonders wichtig ist dabei ftir die einzelne literarische Gattung die wechselseitige Komplementarität von jeweiliger Gattungserwartung durch bestimmte Rezipienten und Werkantworten durch die Autoren:' Geht man von diesem nicht-normativen Gattungsverständnis aus, werden Entste­ hung und Wandel von Gattungen in ihrem prozessualen Charakter erkennbar. Gerade die Entstehung neuer Gattungen im achtzehnten Jahrhundert, z. B. des bürgerlichen Romans oder des bürgerlichen Trauerspiels, macht den Prozeß des Auskristallisierens und Stabilisierens l iterari scher Formen und damit den litera­ risch-sozialen Institutionencharakter von Gattungen deutlich. Außerdem läßt sich die Bildung und Modifikation von Gattungsnormen vornehmlich i m Übergang vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert als historischer Vorgang sichtbar machen. Die geschichtsphilosophische Begründung von Gattungen und Gattungstheorien im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts wird dabei selbst zu einem Pro­ blem der Literaturgeschichtsschreibung. Besonders wichtig ist das im Blick auf die in Deutschland später eine so große Rolle spielende Gattungstrias: Epik - Ly­ rik - Dramatik. Die Herausbildung und Etablierung der Gattung " Lyrik" im Kollektivsingular ermöglicht überhaupt erst die Dreiheit der dann später geschichts­ philosophisch überhöhten Gattungstrinität:' Gerade weil das achtzehnte Jahrhundert eine Reihe von neuen literarischen Gattun­ gen hervorbringt und in Deutschland eine geschichtsphilosophische Begründung der Gattungen möglich wird, ist die Untersuchung der historischen Entstehungs­ und Verfallsprozesse von Gattungen außerordentlich wichtig. Auch die Frage des Verhältnisses von literarischen und nichtliterarischen Texten kann von daher histo­ risch beantwortet werden: Unter welchen sozialen und institutionellen Bedingun­ gen wird ein Text in die Klasse literarischer Kunstwerke aufgenommen? Wie kommt es auf Grund welcher Selektionsmechanismen zu literarischen Systembildungen und deren Stabilisierung, die allein erst die Grenzziehung zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten erlaubt. In der konkreten Gliederung geht die Literaturgeschichte ganz bewußt zunächst von den nichtfiktionalen Literaturgattungen aus (etwa der Erbauungsliteratur. den Moralischen Wochenschriften, den kunstphilosophischen Essays, den Zeit­ schriften oder der Historiographie), um dann zu den fiktionalen Literaturgattungen 59

im Bereich des Dramas, der Lyrik und des Erzählens zu kommen. Diese Grup­ pierungen sind in sich von unterschiedlicher Konsistenz, weil innerhalb der nicht­ fiktionalen Literaturformen und innerhalb der " Lyrik"-Gruppe eine Reihe von sehr heterogenen Textformen vereinigt werden, während in den Dramen bzw. erzählenden Literaturgattungen eher eine Konsistenz zu beobachten ist und einzel­ ne historische Verlaufsphasen stärker hervortreten. (Vgl. etwa bei der Ablösung des Epos du rch den bürgerlichen Roman). 6. Die Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert und die europäischen Literaturen Eine Geschichte der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts kann sich nicht ausschließlich auf die deutsche Entwicklung beschränken, weil diese weit­ gehend durch Einwirkungen und Übernahmen vornehmlich aus der französischen und englischen Literatur bestimmt ist. Gerade ein gattungsgeschichtliches Konzept zeigt, in welch dominierender Weise die Geschichte einzelner Literaturformen in Deutschland Rezeptionsgeschichte darstellt. Erinnert sei hier lediglich an For­ men des Dramas oder Romans : Namen wie Marivaux, Diderot, Defoe, Richardson, Rousseau oder Sterne mögen für diese intensiven und produktiven Rezeptions­ prozesse stellvertretend genannt sein. Wird Literaturgeschichte allerdings auch als ein Organon der allgemeinen deutschen Geschichte aufgefaßt, müssen die spezi­ fischen Umformungen und Ungleichzeitigkeiten bei der Übernahme traditions­ bildender Vorbilder in Deutschland eine besondere Rolle spielen. Zeitliche Ver­ schiebungen und historische " Verspätungen" gegenüber der englischen und franzö­ sischen Entwicklung sind in Deutschland die Regel, sie dürfen aber nicht bloß abwertend interpretiert werden, weil man sonst die spezifischen sozialgeschicht­ lichen und literaturgesellschaftlichen Bedingungen unberücksichtigt ließe. Das trifft im besonderen auch zu unter Funktionsgesichtspunkten der Literatur. Die Entstehung einer spezifisch deutschen Literaturgattung wie der des Bildungsromans im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht ablösbar von der Rolle, die diese " nationale" Form der Prosaepopöe, wie Thomas Mann hervorhob, für die politische Defizitfüllung und Identitätsstiftung im sich herausbildenden deut­ schen Bildungsbürgertum spielt. 7. Die deutsche Aufklärung und das achtzehnte Jahrhundert als Epoche Formalistische Ansätze zu einer Theorie der Periodisierung und Epochenbildung, wie sie sich bei H. Teesing oder R Wellek finden:• gehen von der notwendigen Bestimmung eines Strukturzusammenhangs einer Epoche unter dem Aspekt domi­ nanter Stilmerkmale und Konventionen, Gattungen und literarisch-ästhetischer Normen aus, wobei die Aufgabe des Literarhistorikers in der Zusammenfassung dieser Elemente zu einer " sinnvollen Struktur" besteht. Teesing spricht von einem spezifischen ästhetischen Organisationsprinzip, das dann auch von der einen Kunst auf eine andere übertragen werden könne. 60

Die Grenzen dieser auf die Untersuchungen stilistischer und ästhetischer Struk­ turparallelen und -vergleiche gerichteten Epochentheorie sind bei einer Periode wie der der Aufklärung offenkundig: Weder läßt sich diese Epoche mit einem einheitlichen Stilbegriff fassen - was beim " Manierismus" oder " Barock" viel eher möglich ist - noch kommt dieser Epochenbegriff ohne eine Berücksichtigung des ideen- und sozialgeschichtlichen Kontextes aus. Die Bestimmung und Ab­ grenzung der " Aufklärung als Epoche" erfordert selbst bei der Begriffsbestimmung interdisziplinäres Vorgehen. Erleichtert wird die Epochenbestimmung im achtzehnten Jahrhundert dadurch und auch hierin zeigen sich die Unterschiede etwa zum " Barock" - daß dieses Jahrhundert selbst ein deutliches Zeit- und Selbstbewußtsein als Jahrhundert der Aufklärung, des " Lichts", der " Vernunft", ausbildec• " Kaum ein anderer ,geistes­ geschichtlicher' Epochenbegriff ist so verankert im gesellschaftlichen Bewußtsein des betreffenden Zeitalters selbst wie derj enige der Aufklärung [. . .] . Diese vorge­ nommene geschichtliche Selbstbestimmung fällt voll ins 1 8 . Jahrhundert, so daß von geringen zeitlichen Differenzen abgesehen, das 18. Jahrhundert schlechthin zum "Siede E daire" ( " Siede de Lumiere") wurde� " Untersuchungen von Roland Mor­ tier, Werner Krauss oder Fritz Schalk haben dies in aller Deutlichkeit gezeigt, und in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zum achtzehnten Jahrhundert fan­ gen Einleitungen häufig mit einem Zitat aus Immanuel Kants berühmtem Aufsatz " Was ist Aufklärung?'' an. Allerdings liefert diese i deengeschichtliche Selbstcharakterisierung des Zeitalters weder genauere Hinweise zu den nationalen und regionalen Unterschieden bzw. Ungleichzeitigkeiten, noch zum Zusammenhang von literaturgeschichtlichen und realgeschichtlichen Entwicklungen, und hier liegen die eigentlichen Schwierig­ keiten. Als Alternative zu den bloß stilistisch-ästhetischen Einteilungs- und Epochenprin­ zipien bietet sich, so scheint es, eine Zäsurierung unter historisch-politischen bzw. wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten an, wobei man dann für Europa insgesamt die Revolutionsdaten 1 688 und 1 789 findet, oder andere makrostruk­ turelle Periodisierungsvorschläge etwa für die Zeit von 1 600 bis 1800: " Vorherr­ schender Handelskapitalismus im Merkantilismus" (L. Beutin) ; " Frühkapitalismus" (W. Sombart) oder in marxistischen Arbeiten generell : " Übergang vom Feudalis­ mus zum Kapitalismus"." Bei der Situation in Deutschland stimmen alle historischen und sozial- und wirt­ schaftsgeschichtlichen Arbeiten darin überein, daß der Dreißigjährige Krieg den entscheidenden Einschnitt bedeutet und nicht die Wende im Übergang vom sieb­ zehnten zum achtzehnten Jahrhundert. Friedeich Lütge etwa datiert den " Mer­ kantili smus" auf die Zeit von 1 648- 1 800 oder Fritz Hartung den Absolutismus ab 1648:' Ernst WalterZeeden spricht beim Jahr 1 648 von " einer Art Epochengrenze";" 61

im Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Hermann Au bin und Wolfgang Zorn wird der Dreißigjährige Krieg als " allgemeine Scheide" bezeich­ net?' Das siebzehnte und frühe achtzehnte Jahrhundert stehen noch weitgehend im Zeichen der katastrophalen Folgen des Dreißigjährigen Krieges, die, wenn über­ haupt, erst im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts halbwegs überwunden werden können!' Nimmt man außerdem den oft (und zu Recht) hervorgehobenen Regional ismus in Deutschland hinzu und vergegenwärtigt sich die ebenso häufig hetonte Schwäche des deutschen Unternehmerbürgertums - statt der Privatinitia­ tive dominieren territorialstaatliche Aktivitäten'?_ zeigen sich die Schwierigkeiten bei der Epochenabgrenzung sowohl unter historisch-ökonomischen Aspekten als auch unter Gesichtspunkten einer möglichen epochalen Zuordnung von allgemei­ ner Geschichte und besonderer Literaturgeschichte. Eine unm ittelbare Kongruenz zwischen Literaturgeschichte und realer Geschichte läßt sich nur selten beobachten, und es wäre wenig sinnvoll, gerade bei den ebenso unterschiedli chen regionalen Literaturverhältnissen, Koinzidenzen oder einfache Ableitungen zu konstatieren, wo es sich um äußerst komplexe Antwort-Verhältnisse und bestimmte Reaktio nen der Literatur auf die historisch-gesell schaftliche Wi rklichkeit handelt. Da man sich aber der Notwendigkeit von Epochenabgrenzungen und -begriffen nicht entziehen kann - sie sind notwendige, soziokulturelle Verständigungsbe­ griffe"- , sollte das Problem von Kongruenz zwischen Literaturgeschichte und Realgeschichte bei der Zäsurensetzung jeweils bewußt gehalten und mitreflektiert werden. So bin ich bei der deutschen Aufklärungsliteratur der Meinung, daß man an ihrem historischen Beginn (mit Thomasius und Weise um 1 680/90) von keiner epochalen Kongruenz zwischen literarischer und historisch-ökonomischer Entwicklung sprechen kann, und daß es zwar etwa um 1 740 eine deutliche Beziehung zwischen der l iteraturgeschichtlichen und allgemeinen historischen Entwicklung gibt, daß aber von einer einschneidenden Kongruenz von Literatur-, Ideen- und Realge­ schichte im achtzehnten Jahrhundert im Sinne eines epochalen Wendepunktes lediglich in den Jahrzehnten zwischen 1760 und 1 780 (oder vielleicht erst ab 1780) gesprochen werden kann. Dies ist dann allerdings eine für die Geschichte der Neuzeit außerordentlich wichtige Zäsur, die Werner Conze und Reinhart Koselleck als " Sattelzeit" bezeichnet haben. Der Übergangscharakter dieses Zeitraumes unter ökonomischen und politischen Aspekten ist unmittelbar einleuchtend, wenn man an den Wechsel von einer vor­ wiegend agrarischen Wirtschaftsstruktur zur frühen Industrialisierung oder an den Wandel von der Ständegesellschaft zu neuen Gesellschafts- und Klassenformatio­ nen denkt. Auffallend ist zudem, daß sich auch im Bereich der Literatur und der Lite­ raturtheorie im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts Wandlungen vollzie­ hen, die ftir die künftige Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sind. Dazu gehört die Begründung eines neuen Kunst- und Literaturbegriffs, der mehr und 62

mehr von der Autonomie des Ästhetischen ausgeht ebenso wie die Ablösung der bis dahin geltenden normativen Regelpoetik durch eine geschichtsphilosophisch fundierte Gattungspoetik der Dreiheit von " Lyrik", "Epik" und " Drama". Hinzu kommt die Entstehung neuer Literaturformen, etwa des Bildungsromans, dessen Herausbildung nur im Zusammenhang bestimmter historisch-sozialer Veränderun­ gen in Deutschland um 1 760/80 genauer erklärt werden kann. Schließlich haben vor allem die Untersuchungen von Reinhart Koselleck zum Kollektivsingular " Ge­ schichte" im Unterschied zur Verwendung des Plurals " Geschichten" deutlich gemacht, daß sich während dieser Zeit zum ersten Mal spezifisch neuzeitliche Erfahrungen artikulieren: " Erst seit 1 770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren : die Geschichte an sich. Mit anderen Worten, die Geschichte wird zum Subjekt und zum Objekt ihrer selbst. Hinter diesem sprachgeschichtlichen Befund meldet sich unsere spezifisch neuzeitliche Erfahrung : die Bewegung, die Veränderbarkeit, die Beschleunigung, die offene Zukunft, die revolutionären Trends und ihre überraschende Einmaligkeit, die stets sich überholende Modernität - die Summe dieser temporalen Erfahrungen unserer Neuzeit sind in dem Kollektiv­ singular von Geschichte auf ihren Begriff gebracht worden. Erst seitdem kann man - mit Hegel - von der Arbeit der Geschichte sprechen, erst seitdem kann man Natur und Geschichte einander konfrontieren, erst seitdem kann man Ge­ schichte machen, planen, erst seitdem kann man sich dem vermeintlichen Willen der Geschichte unterwerfen." •• Hebt man den Übergangscharakter zwischen 1 760 und 1 780 in der angedeuteten Weise hervor, zeigt sich, daß sich während dieser Jahrzehnte ein Epochenwandel vollzieht, der sowohl für die allgemeine als auch für die besondere (Literatur)­ Geschichte den Charakter eines säkularen Einschnitts hat. Von da aus ergibt sich die Frage, inwieweit deshalb Periodisierungen nur von solchen radikalen, bewußt­ seins- und realgeschichtlichen Wendepunkten aus vorgenommen werden sollten, oder ob die Literaturgeschichte zugleich Periodisierungsverfahren erforderlich macht, denen kurze Zeitintervalle, etwa Geburtsdaten der Autoren oder Erschei­ nungsdaten der Werke, zugrunde liegen. M. E. kann hier nicht alternativ entschieden werden, vielmehr müßten Periodisierungen auf der Basis längerer Zeitabläufe durch solche auf Grund relativ kurzer Zeiteinheiten ergänzt werden. Damit ergeben sich jedoch für die Literaturgeschichte ähnliche Probleme wie für die allgemeine Geschichtsschreibung. Deshalb sollte die Literaturgeschichtsschrei­ bung den Vorschlag eines gestaffelten Periodisierungsverfahrens, wie es Sozial­ historiker (zuerst Fernand Braudel) vorgeschlagen haben, aufgreifen und in ver­ gleichbarer Weise Perioden kürzerer Dauer von solchen mittlerer und langer Dauer unterscheiden." Den Daten der Ereignisgeschichte (" temps court") sind Geburts­ daten und Erscheinungsjahre von literarischen Werken vergleichbar. PeriodeQJnitt­ lerer Dauer können in der Literaturgeschichte sowohl durch Schriftstellergene­ rationen als auch durch den Paradigmawechsel literarischer Programme und lite63

raturtheoretischer Normen bezeichnet sein. Epochen von langer Dauer bzw. die Ablösung langer literaturgeschichtlicher und literaturtheoretischer Phasen ließen sich an Gegenüberstellungen wie: Antike - Moderne, Heteronomie - Autonomie verdeutlichen. Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts vollzieht sich eben ein solcher Übergang, wenn man an die Herausbildung des (ästhetischen) Auto­ nomieprinzips bzw. an den Wechsel von der Theorie der Literatur zur Philosophie des Schönen denkt. Eine solche makrostrukturelle Zäsurenbildung reicht allerdings allein nicht aus, vielmehr bleibt sie, wie betont wurde, durch Untergliegerungen zu ergänzen, selbst wenn diesen keine unmittelbare Kongruenz von Literatur- und Sozialgeschichte entspricht. Bei diesen Unterteilungen kommt es j eweils darauf an, dominante bzw. signifikante literaturgeschichtliche und/oder sozialhistorische Merkmale zu be­ rücksichtigen und das Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Geschichte und besonderer Literaturgeschichte zu beachten. Signifikante Merkmale durchdringen zudem oft " nicht das Ganze" eines geschichtlichen Abschnitts, vielmehr sind sie, wie Ranke es genannt hat, "vorwaltend", nicht " total":' Für die Geschichte der deutschen Literatur der Aufklärung könnten unter solchen Gesichtspunkten vier wichtige Zäsuren voneinander abgehoben werden, wobei ich hier nur die wichtigsten Stichworte nenne: 1 . Das Paradigma der Frühaufklärung mit Thomasius und Weise (um 1680/90). Hier handelt es sich in erster Linie um einen ideen- und philosophiegeschicht­ lichen Einschnitt (vgl. die Bedeutung der Leibniz-Wolffschen Philosophie, die Historisierung des Decorum bei Thomasius oder die Theorie des Politischen und des Politicus bei Weise). Von einer historisch-ökonomischen Zäsur läßt sich nicht sprechen, wenn auch die Etablierung einer neuen Schicht bürgerlicher Funktionsträger im Zusam­ menhang des sich entwickelnden Absolutismus zu beachten bleibt. Für den Zusammenhang von Literatur und sich herausbildendem sozialen Selbstbewußt­ sein spielen der bürgerliche " Gelehrte" und politisch kluge "Weltmann" eine wichtige Rolle. 2. Ansätze zur Individualisierung - Formen der Empfindsamkeit als Aufklärung seit 1740/50. Diese Zäsur ist literaturtheoretisch und literaturgeschichtlich gekennzeichnet durch die abschließende Diskussion und allmähliche Abwendung von Gottsched im Zuge der Auseinandersetzung mit den Schweizern Bodmer und Breitinger und durch die zentrale Rolle, die Geliert für die beginnende Empfindsamkeit als einem Moment von Aufklärung spielt�' 64

Unter historisch-politischen Aspekten handelt es sich um einen Einschnitt insofern, als " mit dem fast gleichzeitigen Regierungsantritt Friedrichs II. in Berlin und Maria Theresias in Wien [ ] eine neue Phase deutscher und euro­ päischer Geschichte" beginnt�' Inwieweit dieser Beginn des " aufgeklärten Ab­ solutismus" Folgen für die Literatur hat bzw. die Literatur auf diese politische Zäsur reagiert, wäre im einzelnen zu untersuchen. (Vgl. das berühmte ,Beispiel' Lessing). Die entscheidende Frage dürfte die nach dem Verhalten des Bürger­ tums in einem historischen Augenblick sein, in dem seine Emanzipation zu einem bestimmten, aber politisch erheblich eingegrenzten Abschluß gelangt. ...

3. Tendenzen zur Autonomisierung des Ästhetischen um 1 760/80; die Doppelheit von real- und bewußtseinsgeschichtlichem EpochenwandeL Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts vollzieht sich jene epochale Wende, auf die bereits ausführlich hingewiesen wurde. Sie zeigt sich sowohl in der beginnenden Frühindustrialisierung " als auch an den Veränderungen im Rahmen gesellschaftlicher Umstrukturierungen und einem Wandel innerhalb der überlieferten Ständehierarchie. Der realgeschichtlichen Zäsur entspricht jene bewußtseinsgeschichtliche Epo­ chenwende, auf die vor allem Reinhart KoseHeck hingewiesen hat. Im literar­ historischen und -theoretischen Bereich vollziehen sich Entwicklungen, deren Konsequenzen bis in die Gegenwart reichen : Die Diskussion über die Rolle des Ästhetischen in seiner Doppelheit von Autonomie und sozialer Funktion; die geschichtsphilosophische Begründung der Gattungstrias : Lyrik - Epik Drama; das Problem der " Dialektik von Aufklärung" oder die Frage nach der Rolle des literarischen Subjekts. 4. Die Funktionalisierung des Ästhetischen in der Spätaufklärung ( 1 780/90). Hier handelt es sich in erster Linie um die Spannung zwischen " Politisierung" und "Verinnerlichung". Bei der Politisierung mag vor allem an die Jakobiner er­ innert werden, bei der Verinnerlichung an Formen der Resignation, die in ästhe­ tischen Programmen sichtbar wird. Abgekürzt ließe sich von Problemen einer vorrevolutionären und nachrevolutionären Phase sprechen. Die Revolte des In­ dividuums bzw. die Radikalisierung des Subjektproblems verweist auf Gesichts­ punkte des sogenannten " Sturm und Drang". Das Problem " Sturm und Drang" läßt sich nur im Zusammenhang mit der Frage von Aufklärung (vgl. die Rous­ seau-Rezeption) lösen : als Selbsttranszendierung und/oder " Vollendung" der Aufklärung. Erst wenn man auf eine strenge Normierung von Epochenbegriffen und historischen Einteilungen verzichtet und sie als historisch notwendige Verständigungsmittel auffaßt, können Periodisierungen und Zäsurierungen i hre Funktionen sinnvoll 65

erfüllen. Hinzu kommt, daß es bei der " narrativen Konstruktion" von "Anfangs­ und Endpunkten" von Epochen " auf spezifische Sinngesichtspunkte möglicher Zusammenhangsstiftung" durch den Geschichtsschreiber ankommt�' Die Ab­ grenzung und detaillierte Periodisierung literaturgeschichtlicher Epochen setzt jeweils eine Strukturierungsnotwendigkeit des reflektierenden Betrachters voraus, wobei der jeweilige aktuelle Wissensstand und die Standortgebundenheit des Lite­ raturgeschichtsschreibers eine entscheidende Rolle spielen. Die Offenheit der Geschichte verbürgt indes immer wieder mögliche neue Periodi­ sierungsvorschläge und literaturhistorische Konzepte. Insofern verweist die Epo­ chenproblematik immer zugleich auch auf das Problem der Geschichtsschreibung überhaupt - und was die systematisierenden Konzepte insgesamt betrifft, so läßt sich mit einem Aphorismus von Friedrich Schlegel schließen: " Es i st gleich tödlich ftir den Geist, ein System zu haben und keines zu haben. Er wird sich also wohl " entschließen müssen, beides zu verbinden. ..

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Anmerkungen

1 Vgl. dazu die Arbeiten von : K.·G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft(München,1974), 3. Aufl. ;J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik: Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft {Stuttgart-Bad Cannstatt, 1976) ;ders., A.sthetik und Geschichte: Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Ge.rel!­ schaft und Wirsenschaft {Stuttgart, 1976) ; Seminar: Geschichte und Theorie: Umrisse einer Historik, ed. H. M. Baumgartner und). Rüsen {Frankfurt/M)976), darin vor allem die Aufsätze von Reinhart Koselleck, Jörn Rüsen, Hans Michael Baumgartner, Niklas Luhmann undJ ürgen Habermas Materialien zu BenjaminsThe.ren . Ober den Begriffder Geschichte": Beiträge und Interpretationen, ed. P. Bulthaup {Frankfurt/M., 1975 ). 2 Vgl. dazu vor allem : A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte {Frankfurt/M., 1974), zuerst eng!. 1965 ; H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte: Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft {Frankfurt/M., 1972) ; M. Foucault, Archäologie des Wissens {Frankfurt/M., 1973 ), zuerst frz. 1%9 ; Geschichte Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik, V, ed. R. KoseHeck und W.-D. Stempel {München, 1973 ). Außerdem : Geschichte und Soziologie, ed. H.-U. Wehler {Köln, 1972) ; H-Ulrich Wehler, Geschichte als Historische Sozialwirsenschaft {Frankfurt/M., 1973) ; Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme,ed. P.Chr. Ludz {Opladen, 1973), Sonderheft 16 der Kölner Ztschr. f. Soziologie und Sozialpsychologie 1972 ; N. Luhmann, .Evolution und Geschichte", in : Soziologische Aufklärung (2):Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft {Opladen, 1975), pp. 150-169 ; J. Habermas, .Geschichte und Evolution", in : Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus {Frankturt/M., 1976), pp. 200-259. 3 Vgl. vor allem : H. R. Jauß, .Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft", in: Literatur­ geschichte als Provokation {Frankfurt/M., 1970 ), pp. 150 ff. ; ders., .Geschichte der Kunst und Historie", ebd., pp. 216 ff. ; und R. Weimann, .Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte", in : Literaturge­ schichte und Mythologie: Methodelogische und historische Studien {Berlin, 1974), pp. 11 ff. Zu generellen theore­ tischen und praktischen Problemen der Literaturgeschichtsschreibung vgl. :J. Söring, Literaturgeschichte und Theorie: Ein kategorialer Grundriß {Stuttgart, 1976) ; Fr. Sengle, .Aufgaben und Schwierigkeitender heutigen Literaturgeschichtsschreibung", Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 200 ( 1 964), 241-264, auch in: Methoden der deutschen Literaturwirsenschaft, ed. R. Grimm u. ). Hermand {Darmstadt, 1973 ), PP· 3 75-401 ; ders., Biedermeier-zeit: Deutsche Literatur im Spannu�gsfeld zwischen Restauration und Revolution 18151848. �d. I {Stuttg�, 1971 ), yorwort, pp. �li ff., und R. Brm'kmann, .Gedanken über einige Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung : Anläßhch der ersten beiden Bände von Friedeich Sengles 'Biedermeier­ zeit"', Euphorion, 69 ( 1975), 41-68. 4 Vgl. dazu für die Literaturgeschichtsschreibung des achtzehnten Jahrhunderts die Autorenbiographien, Werkanalysen und ideengeschichtliche Passagen verbindende Darstellung von Richard Newald in den Bänden : Vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit, 157D-1750 und Von Klopstock bis zu Goethe.r Tod, 175D-1832, I. Teil : Ende der Aufklärung und Vorbereitung der Klassik {H. de Boor und R. Newald, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. V {München, 1%7), 6. Aufl., pp. 445 ff., und Bd. VI, 1 {München, 1%7), 5. Aufl., pp. 1 f.). 5 Vgl. für das achtzehnte Jahrhundert vor allem die {noch immer wichtigen) geistes· und werkgeschicht· Iichen Darstellungen von Franz Josef Schneider, Die deutsche Dichtung _der Aufklärungszeit (Stuttgart, 1948), 2. Aufl., und Die deutsche Dichtung der Geniezeit {Stuttgart, 1952 ). Im Aufklärungsband vgl. vor allem das Ein­ leitungskapitel : .Die Aufklärung als Ideenbewegung", pp. l3-35. 6 Zu dieser Problematik vgl. F. Martini, .Von der Aufklärung zum Sturm und Drang", i n : Annalen der deutschen Literatur, ed. H. 0. Burger {Stuttgart, 1971), 2. Aufl., pp. 404 ff. {.Die großen Umrisse"), und G. Kaiser, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang {München, 1976), 2. erweiterte und vollständig über­ arbeitete Aufl., pp. ll ff.{.Einheit der Epoche ?"). 7 Auch das in den einzelnen historischen Beiträgen eine dogmatische Verengung des Widerspiegelungs­ begriffs weitgehend vermeidende Westberliner Projekts: Grundkurs 18. Jahrhundert: Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert, ed. G. Matten­ klott und K. R. Scherpe (Kronberg/Ts. , 1974), hält in der theoretischen Grundlegung daran fest, • [ . . . ) daß die Geltung und Funktion der ästhetischen valeurs literarischer Texte sich erst aus dem Gesamtzusammenhang der Widerspiegel ungstätigkeit der j eweil igen historischen Epoche und Peri­ ode ergibt, d. h. aus dem Verhältnis, i n dem die verschiedenen Formen der Widerspiegel ung zuei nan­ der im Aufbau der Kulturgesellschaft stehen, in der sie i h re Legitimationen und Beglau bigung im Interesse der bestimmten Klassen erhalten". (p. 1 1 ).

8 Der Band wird in einem Team zusammen mit Uwe-Karsten Ketelsen, Gerhard Sauder und Horst Steinmetz erarbeitet und bei Beck und Metzler erscheinen. Den genannten Mitarbeitern an der Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts danke ich herzlich für kritische Hinweise und Anregungen zu diesem Manuskript. 9 Zur Doppelheit von Werk- und Rezeptionsgeschichte vgl. F. Voditka, .Die Literaturgeschichte, ihre Probleme und Aufgaben", in: F. V., Die Struktur der literarischen Entwicklung. Hrsg. von der Forschungsgruppe für strukturale Methoden in der Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz : Mit einer einleitenden Abhandlung v.J. Striedter {München, 1976), pp. 30-86.

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10 Vgl. dazu die Konzeption des .synchronen Schnitts" bei H. R.Jauß {.Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft", These XI ) . 11 .Sozialgeschichte" wird nicht als .Sektorwissenschaft" aufgefaßt, sondern als umfassende Gesellschafts­ geschichte (vgl. dazu vor allem Punkt 4). 12 Vgl. vor allem : H.J. Haferkorn, .Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und desSchrift­ stellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800", in : Deutsches Bürgertum und Literarische Intelligenz 1 750-1800, ed. B. Lutz {Stuttgart, 1974), pp. 113-275 ; H. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800: Zur Soziologie der deutrchen Frühliberalismus {Göttingen, 1976). 13 Vgl. dazu F. Kopitzsch, .Einleitung : Die Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung als Forschungsaufgabe", in: Aufklärung, Msolutismus und Bürgertum in Deutschland: ZwölfAufsätze, ed. F. Kopitzsch {München, 1976), pp. 47 f. 14 Vgl. jetzt : H. Kiesel und P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert: Voraussetzungen und Entstehung der literarischen Markts in Deutschland (München, 1977) ; s. außerdem die dort angegebene Literatur. 15 Vgl. vor allem die Arbeiten von R. Engelsing, Analphabetentum und Lektüre: Zur Sozialgeschichte des Lesw in Deutschland zwischenfeudaler und industrieller Gesellschaft (Stuttgart, 1973) ; ders., Der Bürger als Lerer: Leser­ geschichte in Deutschland, 1500-1800 (Stuttgart, 1974). Zu den Arbc;jten von Rolf Engelsing vgl. jetzt auch die Besprechung von R. König, .Geschichte und Sozialstruktur : Uberlegungen bei Gelegenheitder Schriften von Rolf Engelsing zur Lesergeschichte", Internationales Archivfür Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2 (1977) 134-143. 16 Vgl. dazu : J . M u kai'ovsky , Kapitel aus der .Ästhetik {Frankfurt/M., 1974), 2. Aufl. ; F .Vo d i c ka , Die Struktur der literarischen Entwicklung (München, 1976) ; und I. Strohschneider-Kohrs, Literarische Struktur undgeschichtlicher Wandel: Aufrißwissenschaftsgeschichtlicher und methodologischer Probleme {München, 1971). 17 I. Strohschneider-Kohrs, Literarische Struktur undgeschichtlicher Wandel, S. 26. 18 W. Benjamin, .Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft", i n : Gesammelte Schriften, III, ed. H.Tiedemann­ Bartels (Frankfurt/M., 1972 ), p. 290. 19 .Ästhetik als Geschichtstheorie", in : ). R, .Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Ivmst, Gesellschaft und Wissenschaft {Stuttgart, 1976), p. 79. 20 Ebd. Vgl. auch p. 85 : .Geschichte läßt sich definieren als zeitlicher Vermittlungszusammenhang zwischen materiellen Bedingungsfaktoren und intentionaler Normierung sozialen Handeins und Leidens. In der so definierten Geschichte ist Literatur als Kunst das Moment, in dem dieser Zusammenhangvom Handeln­ den u n d Leidenden eigens für sich im Medium s i n n l i cher Anschau ung als ein Ganzes dargestell t w i rd, o h n e dieses Ganze zu sein".

21 Vgl. dazu vor al l em : J. M ukai'ovsky, "Ästhetische Funktion, N o rm u n d ästhetischer Wert als soziale Fakten", in: Kapitel aus der Äs thetik, p . 7 ff.; F. Vod icka, "Die Li teratu rgeschichte, i h re Pro b l eme und Aufgaben", in: Die Struktur der literarischen Entwicklung, p p . 57 ff. ; H . R. Jauß, " Rac i n es und Goethes

lphigen i e : Mit ei nem N achwort über die Partialität der rezeptio nsästhetischen Methode" i n : Rezeptionsästhetik: Theorie und Praxis, e d . R Warning (Mü nchen, 1 975), p p . 391 ff. ; ders . , "Negativi­ tät und Ident i fi kat i o n : Versuch zur Th eorie der ästhetischen Erfahrung", in: Positionen der Negativität, ed. H. Weinrich ( M ü nchen, 1975), pp. 300 ff., u n d W. Jser, "Funktionsgeschichtl iches Textmodel l der Li teratur", i n : Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung ( M ü nchen, 1976), pp. 87 ff.

22 ). Rüsen, .Kunst und Wahrheit - Zum Problem der Werturteile in der Kunstgeschichte", Beitrag zu einer Bochumer Ringvorlesung im SS 1977 und zum GRLMA-Colloquium Sozialgeschichte und Literatur der Spätmittelalters, ZiF {Bielefeld, 1977), Manuskript, S. 3. 23 Zum Begriff und zur Konzeption der .Strukturgeschichte" vgl. W. Conze, .Sozialgeschichte", in : RGG, VI {Tübingen, 1962), 3. Aull., Sp. 169-174 ; ) . Kocka, .Sozialgeschichte - Strukturgeschichte- Gesell­ schaftsgeschichte", Archivfür Sozialgeschichte, 15 {1975), 1-42. {Vgl. in diesem Aufsatz vor allem S. 19 ff.). 24 K. Wölfe! i n einem Diskussionsbeitrag z u r Rah men konzeption der geplanten Geschichte der deutschen Literatur. 25 H. R. Jauß hat im Blick auf die Litera t u r des M i ttelalters vom Problem der Doppelheit von "Alterität

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und "Modernität gesprochen.

"

26 Vgl. vor allem: J. Kocka, "Sozialgeschichte - Stru kturges c h i c hte - Gesel lschaftsgeschichte , p p . 34 fT. 27 Vgl . W. Voßkamp, "Gattungen als l iterari sch-soziale Institutionen. (Zu Pro b l emen sozial- u n d funk­ tionsgeschichtlich orientierter Gattu ngstheo rie u nd -histori e)", i n : Textsortenlehre - Gattungsge­ schichte, ed. W. Hinck (Hei del berg, 1 977), pp. 24 ff. 28 Vgl. vor allem : P. Szo n d i , Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik: Schel/ings Gattungspoetik, ed. W. Fielkau (Frankfu rt/ M . , 1 974). 29 H. P. H. TeP.� i !1g, Das Problem der Perioden in der Literaturgeschichte (Groningen, 1 949); ders . , "Perio­ disi cru ng", in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. III ( 1 966), pp. 74-80; R. Wellek,

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"Period ization in Literary H istory", i n : Dictionary of the History of ldeas, ed. Ph. P. Wi en er (New Yo rk, 1 973), I I I , 48 1 -486. Zum Epoche-Begriff u n d zur Frage der Epochen b i l d u ng in der Literatur­ gesch i chte vgl . außerdem : E. Ribbat, "Epoche als Arbei tsbegriff der Literaturgeschichte", in: Histori­

zität in Sprach- und Literaturwissenschaft: Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. I n Verbindung mit H . Fromm und K. Richter, hrsg. von W. M ü l l er-Seidel (München, 1 974), pp. 1 7 1 - 1 79 ; W. Voßkamp, " Gattu ngen und Epochen i n der Li teraturgeschichte", i n : Funkkolleg Literatur, S t u d i enbegl eitbrief 10, (Weinheim, 1977), p p . 32 ff. " 30 Vgl . H . Stuke, "Aufklärung , i n : Geschichtliche Grundbegriffe, ed. 0. Brunner u . a., (Stuttgart, 1 972), I , 244-247 ; W . Bah ner, "'Aufklärung' als Perioden begri ff d er l d eologiegeschichte: Ein ige metho dologi­ sche Überlegu ngen und Grun dsätze", i n : Renaissance, Barock, Aufklärung: Epochen- und Periodisie­ rungsfragen, ed. W. Bah ner (Kronberg/Ts . , 1 976), p p . 1 49- 1 69. " 31 W. Bahner, "'Aufklärung' als Periodenbegri ff der ldeologiegesc h i chte , p . 1 5 1 . " 3 2 Vgl . W. Zorn, "Neu ere Vo rschläge zur Epochendatierung und Epochen kennzei c h n u n g , i n : W. Z . ,

Einführung in die Wirtschafts - undSozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit: Probleme und Metho­ den ( M ü nchen, 1974), 2. Aufl . , pp. 1 1 8 f.

" 33 W. Zorn, "Neu ere Vo rschläge zur Epoch endatierung . . . , p. 1 1 9 .

34 I n B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. I I : Von der Reformation bis z u m Ende des A bsolutismus 1 6. bis 1 8. Jahrhundert, ed. H. Grundmann (Stuttgart, 1 955), 8. Aufl . , p. 200. 35 Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ed. H . Au b i n und W. Zo rn, Bd. 1: Von der Frühzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Stu ttgart, 1 97 1 ) , p. 1 0. 36 Vgl . vor allem F. -W. Hen n i ng, Das vorindustrielle Deurschlam/ 800 bis 1800 ( Paderbo rn, 1974). Bei den Literatu rgeschichten zum achtzehnten Jahrhun dert hat vor a l l em H. Hettner d i e Ko ntinuität zwi sc hen dem s iebzehnten und achtzehnten Jah r h u n dert betont und d i e Gesc h i c hte der deutschen Literatur des achtzehnten Jah rhunderts mit dem Ende des Drei ßigjäh rigen Krieges beginnen lassen. Vgl . H . Hett­ ner, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert: Erstes. ßuch: Vom wes({älischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen, / 648- / 740 (Braunschweig, 1 893), 4. Aufl . 37 W . Mager: " Der Durchbruch zu moderner Wi rtschaftsentfaltung setzte eine privatis ierte u n d rechts­ ega l i täre Gesel lschaft vorau s ; er b l ieb im Abs o l u t i s m u s anges ichts dessen Verw u rzelung i n einer " ständi sch-reg i o nalen Sozialordnung unmögl i c h . "Absoluti stische Wi rtschaft s fö rderung am Beispiel " Fra n k re i c h s und Brandenbu rg-Preu ßens , i n : Sozialwissenschaji/iche Informationenfür Unterricht und Studium 3 ( 1 974), p . 7 (Zit. F. Ko pitzsch, "Einleitung: Die Sozi algesch ichte der deutschen Aufklärung " als Forsch ungsaufgabe , p. 26). " 3 8 W. Vo ßkamp, "Gattu ngen und Epochen i n der Literaturgeschichte , p. 42 f. " 39 R. Kosel leck, "Wozu noch H i stori e? i n : Sem inar: Geschichte und Theorie: Umrisse einer Historik, ed. H . M . Baumgartner und J. Rüsen (Frankfu rt/ M . , 1 976), p. 23. " 40 Vgl . F. B raudel, " H i sto i re et Science Soc ial : La Lo ngue Du ree , Anno/es, 1 3 , ( 1 958), pp. 725-753. Deut­ " sche Ü b ersetzung: "Geschichte und Sozialwissenschaften - Die longue du ree , i n : Geschichte und Soziologie, ed. H.-U. Wehler (Kö l n , 1 972), p p . 1 89-2 1 5 ; au ßerdem : W. Vo ßkamp, "Gattu ngen und " Epochen i n der Literaturgeschichte , p . 40 f. 41 Vgl . Th. Schieder, Geschichte als Wissenschaft: Eine Einführung { M ü nchen, 1 968), 2. Aufl., p. 88. 42 G. Matten klott u n d K. R. Scherpe, Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert . . . (p. 1 3), s p rechen " vom "Begi nn einer neuen Literatu rperiode . " 43 M. B raubach, "Vom Westfäli schen Frieden b i s zur Französischen Revo l u tion , i n : B. Gebhardt, Hand­ buch der deutschen Geschichte, Bd. l l (Stuttgart, 1955), 8. Au fl . , p. 270. 44 Vgl . W. Zorn, "Sozialer Wan del i n M i tteleuropa 1 780- 1 840: Eine vergleichende landesgeschichtl iche U n tersuchung", in: Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme . . . , p . 344-356; W. Fischer, " "Das Verhältnis von Staat und Wi rtschaft i n Deutschland am Beginn der I ndustrial i s ierung , i n : Indu­ strielle Revolution : Wirtschaftliche Aspekte, ed. R. Braun, W. Fischer, H. Großkreutz, H. Vo l kman (Kö l n , 1 976), p. 287-304. Die Frage, wann die Periode des "Take-Off' für Deutschland anzusetzen ist, wird von den Wi rtschaftsh i sto rikern unterschied l i c h beantwortet. " Wenn man den Prozeß der M echa­ nisi erung als das entscheidende Merkmal der I n d u strialis ierung ansieht, ist das 1 8. Jah rhundert in " Deutschland eindeutig 'Vo rgeschichte' (vgl . W. Fischer i n der Anmerkung 5 des genannten Aufsatzes, p. 301 f. ) . 4 5 H. M . Bau mgartner, Kontinuität u n d Geschichte. Z u r Kritik u n d Metakritik der historischen Vernunji (Frankfurt/ M . , 1 972). p. 309. 46 Fr. Schlegel, Athenäums-Fragment 53. I n : Charakteristiken und Kritiken I (1 796-1801), Kritische Fried­ rich S c h l egel-Ausgabe, ed. E. Behler, B d . I I , I {Mü nchen, 1 967), p. 1 7 1 .

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RudolfVierhaus Kultur und Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert

I " Das achtzehnte Jahrhundert, an dessen Rande wir stehn, würde, auch durch keine außerordentlichen und in ihrer Art einzigen politischen Begebenheiten ausgezeich­ net, dem philosophischen Beobachter wichtig seyn, als letzt-zurückgelegter be­ trächtlicher Abschnitt der Laufbahn eines Menschengeschlechts, welches, vorzüg­ lich in Europa, seit drei Jahrhunderten wie aus einem langen Schlummer zu neuem Leben erwacht, seine herrlichen Kräfte mit unaussprechlich-regsamer Thätigkeit geübt und ausgebildet hat. Denn seit eben dieser Zeit vereinigt dasselbe die schönen Eigenthümlichkeiten seiner blühendsten Perioden in der Vorzeit mit sehr schätz­ baren neuen Charakterzügen und strebt unaufhaltsam zu dem großen Ziel der Selbst­ Veredlung und Vervollkommnung hin, an welchem es die vier wünschenwürdigsten Güter sinnlich-vernünftiger Wesen, Weisheit, Sittlichkeit, schöner Kunstgeist und Glückseligkeit, krönen sollen. " Der Verfasser dieser Zeilen unterscheidet dann zwischen der ersten und der zweiten Jahrhunderthälfte. Jene sei erfüllt gewesen " mit Begebenheiten . . . , die mehr das unendlich-kleine Interesse der Höfe und der Herrscher-Leidenschaften, als das unendlich-große der Menschheit betrafen, oder die überhaupt . . . sehr einge­ schränkt waren " . In die zweite Jahrhunderthälfte aber seien Ereignisse gefallen, " die, bald aus Fürsten-Interesse entsprungen, auf die Menschheit im allgemeinen einflossen; bald aus dem Geiste der entwickeltem Menschheit hervorgegangen, nur desto kräftiger auf diese zurückwirkten : auf die Menschheit! Denn da dieselbe, insbesondere einige Zeit voerher, mannigfaltig und vielseitig an intellectueller Bil­ dung bearbeitet worden; so schien sie nunmehr, durch jene Ereignisse gerade von der Seite, wo sie bis dahin am meisten gelähmt war, und wo doch ihr Fortschritt und ihre wahre Vervollkommnung am meisten gefördert werden konnte, von der Seite der politischen Verfassung, gewaltig ergriffen und gleichsam electrisirt, sich " mit doppelter Kraft aufihrer Laufbahn fortzuschwingen. Zwar seien die Folgen der " "allerneuesten Weltbegebenheiten noch nicht abzusehen; so zweifelhaft die aus ihnen resultierenden Vorteile für das Heil der Menschheit auch sein möchten, so habe doch " das menschliche Geschlecht nie so allgemein und so vielseitig das lebhafteste Bewußtseyn seiner Kräfte zur Verbesserung sei ner Lage, und die laute71

" sten Wünsche für die Beförderung seines höchsten Interesse, geäußert. So stelle sich denn " das achtzehnte Jahrhundert dem Beobachter der Menschheit vor ihren beiden wichtigsten Seiten dar, nämlich, als in ihrer natürlichen Entwicklung ruhig­ " fortschreitend, und als mächtig-angestoßen durch außerordentliche Ereignisse . So weit die Einleitungssätze des 1 8001 1 8 0 1 im Verlag der Kgl. Preußischen Akademi­ schen Kunst- und Buchhandlung in Berlin erschienenen Werks von David Jenisch, Geist und Charakter des achtzehn ten Jahrh underts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. Noch 1 80 1 folgte als " Nachtrag" vom gleichen Ver­ fasser eine Denkschrift auf Friedrich den Zweiten m it besonderer Hinsicht a uf seine Einwirkung in die Cultur und A ufklärung des achtzehnten Jahrhunderts. Das ganze

ein Werk, das so gewiß nur um diese Zeit und nur in Preußen geschrieben werden konnte: zwischen dem die Neutralität Norddeutschlands scheinbar sichernden Frieden von Basel 1 795 und der Katastrophe von Jena und Auerstädt 1 806, also während einer Phase, da man in Berlin zwar beunruhigt, aber doch noch im trüge­ rischen Gefühl der Sicherheit und der Befriedigung über Erreichtes auf das zurück­ gelegte Jahrhundert zurückblickte, den preußischen Staat für intakt, modern organi­ siert und - wenn er denn auf den Bahnen frider� zianischer aufgeklärter Politik weiterschreite - auch weiterhin für zeitgemäß modernisierungsfähig hielt. Ein Werk überdies aus dem Geiste der Aufklärung, hinter dem die Erfahrung der litera­ rischen Entfaltung, der pädagogi schen Bewegung und der zunehmenden Publizität in Deutschland im letzten Jahrhundertdrittel stand, nicht weniger die Erfahrung des politischen Aufstiegs Preußens, der politischen Reformen und Reformversuche in vielen deutschen Einzelstaaten und der sich verdichtenden Diskussion über politi­ sche und soziale Ordnung. Das Werk schließlich eines gebildeten Schriftstellers, der sozusagen sein eigenstes Thema behandelt, nämlich den Prozeß der Kultur. Die drei Bände des Werkes sind überschrieben: "Cultur-Charakter" des 1 8 . Jahr­ " hunderts, " Charakter-Gemählde der Nazionen und Staaten Europas und " Cultur­ " Geschichte des 18. Jahrhunderts. Band 1 und Band 3 sind gleichläufig gegli edert in die Behandlung der politischen, moralischen, äthetischen und wissenschaftlichen "Cultur". Kultur, nämlich der Fortschritt " der Selbstveredelung und Vervollkomm­ " nung der Menschen, war für Jenisch der wesentl iche Inhalt des achtzehnten Jahr­ " hunderts. " Kultur ist deshalb der Zentral- und Leitbegriff des ganzen Werkes, und er ist noch keineswegs auf den engeren Bereich des geistigen und künstlerischen Tuns der Menschen eingeschränkt, wie es später im Deutschen geschehen ist. Daß der Aufstieg dieses Begriffs ein Symptom des späten achtzehnten Jahrhunderts war, belegt der kurze Aufsatz von Moses Mendelssohn im dritten Stück des vierten Bandes der Berlinischen Monatsschrift von 1 784. " Die Worte Aufklärung, Kultur, " Bildung , so heißt es dort, "sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. Sollte dieses ein Beweis sein, daß auch die Sache bei uns noch neu sei? 72

Ich glaube nicht. " Mendelssohn mei nte, daß die Sprache, die zwischen diesen " "gleichbedeutenden Wö rtern unterscheiden zu wollen scheine, noch nicht die Zeit gehabt habe, ihre Grenzen zu definieren. Er selber erkennt in Bildung, Kultur und Aufklärung " Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern " . Im einzelnen erläutert er dann : ein Volk habe um so mehr Bil dung, je mehr sein "geselliger Zustand " durch Kunst und Fleiß mit der " Bestimmung des Menschen " in Ü bereinstimmung gebracht worden ist. Bildung aber bestehe in Kultur und Auf­ klärung. Kultur scheine mehr " auf das Praktische zu gehen " , sich also auf " Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken, Künsten und Geselligkeitsitten " zu be­ ziehen. Je mehr Fertigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit, Neigungen, Triebe und Ge­ wohnheiten in einem Volke der Bestimmung des Menschen entsprechen, desto mehr Kultur habe es - so wie einem Grundstück um so mehr " Kultur und Anbau " zugeschrieben werden, je mehr es durch den Fleiß der Menschen nützliche Dinge für den Menschen hervorbringt. Aufklärung dagegen scheine sich eher auf das Theoretische zu beziehen: auf vernünftige Erkenntnis und Fähigkeit zum vernünf­ tigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens. Das Verhältnis von Aufklärung und Kultur verdeutlicht Mendelssohn an der Spra­ che. Aufklärung erlange sie durch Wissenschaft, Kultur durch "gesellschaftlichen Umgang, Poesi e und Beredsamkeit " . Aufklärung verhalte sich zur Kultur wie Theo­ rie zur Praxis, Erkenntnis zur Sittli chkeit, Kritik zur Virtuosität. Der Mensch als Mensch bedürfe keiner Kultur, wohl der Aufklärung; der Mensch als Bürger jedoch, also als gesell schaftliches Wesen, benötige Kul tur. " Stand und Berufim bürgerlichen Leben bestimmen eines jeden Mitglieds Pfl ichten und Rechte, erfordern nach Maß­ gabe derselben andere Geschicklichkeit und Fertigkeit, andere Neigungen, Triebe, Gesel ligkeitssitten und Gewohnheiten, eine andere Kultur und Politur. Je mehr diese durch al le Stände mit ihrem Berufe, d. i. mit i hren respektiven Bestimmungen als Glieder der Gesellschaft übereinstimmen, desto mehr Kultur hat die Nation. " Neue Begriffe für schon Vorhandenes, für Bewegungen, Prozesse, die bereits seit längerem in gang sind, tauchen auf und haben dann Erfolg, wenn ältere Begriffe zu schwach oder zu ungenau geworden sind oder zu verbraucht erscheinen, um das, was gemeint ist, hinreichend zu benennen - sei es, daß es eine neue Gestalt an­ genommen oder größeres Gewicht gewonnen hat oder daß bestimmte soziale Grup­ pen, die daran i n besonderem Maße interessiert sind, es mit neuen Namen stärker ins allgemeine Bewußtsein heben und aufwerten wollen. Solche Entwicklungen und Motive lassen sich auch im Aufstieg der Begriffe "Aufklärung " , " Kultur" und " " " Bildung nachweisen. " Bildung war ein umfassender, sozial offenerer, aktiverer Begriff als " Gelehrsamkeit " ( eruditio) ; er konnte nicht nur aufintellektuelle Tätigkeit und Entfaltung, sondern auch auf die Ausbildung menschlicher Fähigkeiten, nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf die Gesellschaft, nicht nur auf Sein sondern auch auf Werden angewandt werden. " Aufklärung " meinte aktive intellek73

tuelle Tätigkeit zum Zwecke sowohl der eigenen -Erkenntnis und der Verbesserung des theoriegeleiteten Handeins als auch der Anleitung, Erziehung und Verbesserung des Denkens und Handeins anderer. Auf diesem Begriff lag der positive Akzent der Befreiung von Dunkelheit, Unwissenheit, Unselbständigkeit und der Anwen­ dung von Vernunft. Da er einen Vorläufer in dieser spezifischen Bedeutung nicht hatte, eignete er sich zum Appellations- und Signal begriff, der leicht zum Epochen­ begriff werdeo konnte: zu einem Namen, den eine tonangebende Gruppe von Män­ nern, die sich als Aufklärer oder als Aufgeklärte verstanden, ihrer Zeit gegeben ha­ ben - und sich dabei selber die Bedeutung des Trägers des Zeitgeistes beilegten. " " Kultur , ein oft noch mit C geschriebenes Fremdwort, wurde dem Lateinischen und dem Sachbereich der Agrarwirtschaft entlehnt und von dem Sinnfeld des Acker­ baus, der Bearbeitung und Wartung auf den der Pflege, der Lebensei nrichtung und Lebensgestaltung ausgedehnt, schließlich zur Bezeichnung des Gesamtpro­ zesses der materiellen und moralischen, geistigen und politischen Menschheits­ entwicklung erweitert, an der einzelne wie ganze Völker teilnehmen. Kultur war ein neuer Begriff, der in der deutschen Sprache schnellen Aufstieg , bald aber auch Verengung erfahren hat. Mendelssohn verzeichnete diese Begriffe nicht nur als Neuankömmlinge, sondern auch als Wörter der Büchersprache. Das sind sie sehr lange geblieben. Gerade des­ halb aber erscheinen sie, im Rückblick von heute, für das deutsche achtzehnte Jahrhundert in besonderem Maße kennzeichnend. Unwillkürlich erzeugen sie Vor­ stellungen, die sich in evidenter Weise auf diese Zeit beziehen. War es doch ein Jahrhundert der intellektuellen Emanzipation und der angehenden Mobilität, der Publizität und der um sich greifenden Diskussion über Staat u nd Gesellschaft, ja sozusagen der Entdeckung der Gesellschaft. Und es war ein Jahrhundert, in dem die Ordnung und Gestaltung menschlichen Daseins mehr als zuvor zum Thema der Erkenntnis und zur Aufgabe gesellschaftlichen Handeins gemacht wurde.

II Der Wandel vom regional-ständisch strukturierten Herrschaftsverband zum zentra­ listischen Staat, von der bäuerlich-aristokratischen Agrargesellschaft zur bürgerlich­ kapitalistischen Industriegesellschaft, von traditioneller und christlich gebundener zu säkularer und pluralistischer Kultur - kurz gesagt : der Übergang zur sog. ,modernen Welt' hat sich in Europa mit erheblichem zeitlichen Gefälle von Westen und Nordwesten nach Osten und Südosten vollzogen, überdies in den einzelnen Ländern und Regionen unterschiedlichen Tiefgang erreicht. Deshalb sind alle gene­ rellen Aussagen über den Entwicklungsstand oder die Stufe der Modernisierung Europas mehr oder weniger unrichtig. Alles hängt davon ab, von welcher Zeit, welchem geschichtlichen Raum und welchem Sektor des geschichtlichen Lebens gesprochen werden soll ; überdies müssen j eweils besondere historische Konstel74

lationen berücksichtigt werden. So geriet nach der politischen Stabili�ierung und kulturellen Entfaltung zur Zeit Elisabeths I England im beginnenden siebzehnten Jahrhundert in den Strudel seines " century of revolution " hinein; gleichzeitig überrundete es auf der See Spanien und die Niederlande, um im achtzehnten Jahrhundert zur dominierenden See- und Kolonialmacht und zum diplomatisch ausschlaggebenden Faktor in Europa, zum Entwicklungsland neuer politischer Ideen, zum Vorbild für public spirit und zum Vorreiter von Aufklärung, Empfind­ samkeit, wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Entwicklung zu wer­ den. Frankreich, im siebzehnten Jahrhundert zur vorherrschenden Militär- und Kul­ turmacht Europas aufgestiegen, die für die Entfaltung zentralisierter Staatsgewalt das Bei spiel abgab, erfuhr im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts eine sich allmäh­ lich steigernde Funktionskrise von Staat und Gesellschaft, blieb aber noch lange politisch mächtig und gab noch länger in Stil und Geschmack auf dem Kontinent den Ton an. Die Handel smacht der Niederlande, die das siebzehnte Jahrhundert als das "goldene " ihrer Wirtschaft und Kultur erlebte, trat im achtzehnten ebenso zurück wie Schweden. Deutschland, im sechzehnten Jahrhundert ein Land starker Entfaltung religiös-geistiger Energien und einer blühenden Stadtkultur, erlebte im siebzehnten durch den Dreißigjährigen Krieg und die ihm folgende wirtschaftliche Stagnation einen Rückfall, der demographisch und ökonomisch erst zu Beginn des zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts wieder aufgeholt war. Andere Fol­ gen waren weniger manifest, wogen aber ebenso schwer und haben, z. T. unter­ schwellig, lange nachgewirkt : die Verkrustung und Enge des politischen Lebens in Kleinstaaten, in unselbständiger, oft auch ärmer gewordenen Städten, der Aufstieg der landesherrlichen Gewalt, die einerseits beträchtliche Aktivitäten im Landes­ ausbau entfaltete, andererseits weitreichende soziale Disziplinierung der Unter­ tanen erreichte und ihre politische Bewußtseinsentwicklung behinderte. Neben solchen Unterschieden gab es andere zwischen Agrar- und Gewerbegebieten, Stadt und Land, zwischen Gebieten unterschiedlicher Sozialverfassung, Rechtsord­ nung und Konfession. Bei näherer Betrachtung wird eine extreme Vielfalt j eweils besonderer Ausprägungen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens unterhalb der nationalen Ebene erkennbar. Regionale soziokulturelle Gestaltungen treten in den Blick, deren komplexe i nnere Struktur es zu analysieren gilt - eine Arbeit, die erheblich tiefer eindringen kann, als es im Hinblick auf die Großgruppen der Nationen möglich ist. Ihr notwendiges Gegengewicht findet sie in dem Aufweis übergreifender europäischer sozialer und kultureller Strukturen. Denn das ältere Europa ist zugl eich regional differenzierter und übernational einheitlicher gewe­ sen als das moderne. Die reichhaltige horizontale Differenziertheil der Europeon oder Western civilization ist ein Tatbestand, auf den j ede historische Beschäftigung mit dem achtzehnten Jahrhundert trifft. Ein anderer ist die temporale Differenzierung, also der soziale 75

und ku lturelle Wandel, der sich in ihm vollzogen hat. Welch ein Abstand zwischen Ludwig XIV, dem Modellfürsten des barocken Absolutismus, und Napoleon I, dem militärischen Parvenue, der sich um 1 800 eben anschickt, als Erbe von Monarchie und Revolution ein plebiszitärer Herrscher zu werden; zwischen dem Wiener Hof unter Karl VI und Joseph II; zwischen den Söldnerheeren des spanischen Erbfolge­ kriegs und dem Volksheer der /evee en masse! Welch ein Unterschied zwischen Gottesgnadentum und Volkssouveränität, Bossuet und Rousseau, Leibniz und Kant ! Welche Veränderungen durch eine Bevölkerungszunahme von 1 1 0 - 1 20 Mil­ lionen Menschen in Europa i m Jahre 1 700 und 1 80 - 1 90 Mil lionen im Jahre 1 800, durch zunehmende gewerbliche Produktion, wachsenden Warenverkehr und sich verdichtende Kapitalverflechtung, durch Binnen- und Auswanderungen, durch das Anwachsen der Buchproduktion, die Entfaltung des Zeitungs-, Zeitschriften- und Rezensionswesens, durch eine sich formierende öffentliche Meinung ! Welch ein Wandel durch die Sensibilisierung breiterer Bevölkerungsschichten für Fragen der sozialen Ordnung, für die Rechte des Individuums, die Grenzen der Staatsgewalt, die Möglichkeiten und Aufgaben der Erziehung, schließlich auch durch die Suche und die Erprobung von neuen, Ständegrenzen übergreifenden Formen der Verge­ sellschaftung und die Ausbildung eines Consensus " bürgerlicher" Welt- und Le­ bensanschauungen unter den Gebildeten, den Lesenden und Schreibenden ! Aller­ dings: di ese Veränderungen vollzogen sich im Rahmen einer sozialen und politi­ schen Welt, in der absolute Monarchie, höfische Kultur und feudale Grundherr­ schaft in großen Teilen Europas noch ungebrochen existierten, der Adel sozial dominierte, Besitzrechte und Einfluß der Ki rche auf Erziehung und Lebensführung der Menschen noch weithin wirksam blieben, überlieferte Moralstandards und Verhaltensweisen der überwiegenden Mehrheit der in gewohnten sozialen Bindun­ gen lebenden Menschen noch immer als verbindlich galten. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von Noch und Schon, das zu allen Zeiten anzutreffen i st, schei nt für das achtzehnte Jahrhundert in besonders starkem Maße signifikant zu sein und ihm in dezidiertem Sinne eine Zwischenstellung zwischen Alteuropa und moderner Welt zuzuweisen. Gehört es jenem in vieler Hinsicht noch an, wenn man es von der Vergangenheit her be­ trachtet, so erscheint es i m Rückblick von der Gegenwart her als Vorbereitung und Eingang der modernen Welt. Veränderungen, die zu ihr geführt haben, Tendenzen, die sie bestimmen, lassen sich bereits im achtzehnten Jahrhundert erkennen. Jede historische Rekonstruktion muß von dem elementaren Sachverhalt dieser Doppel­ gesichtigkeit des achtzehnten Jahrhunderts, seiner Offenheit nach beiden Seiten ausgehen; sie muß sich hüten, es ftir so modern zu halten, wie viele seiner Wort­ führer behauptet haben, und ftir so traditionsbestimmt anzusehen, wie viele seiner tatsächlichen Zustände annehmen lassen können. Kein Zweifel, daß die ökonomischen und sozialen Strukturen in Europa während 76

fast des ganzen achtzehnten Jahrhunderts weitgehend stabil blieben, in vieler Hin­ sicht stabiler al s in dem unruhigen, von Preisrevolutionen, Kriegen und Bevöl ke­ rungskatastrophen geschüttelten siebzehnten Jahrhundert. Die Gesellschaft funk­ tionierte überwiegend in traditionellen Bahnen, und die kleinen Minderheiten, die die ständische Gliederung kritisierten, wollten diese im einzelnen v erbessern, glaubte n j edoch zumeist nicht, daß sie wesentlich verändert werden könne. Durch­ greifende Modernisierung war noch lange für die allermeisten Menschen eine ab­ surde Vo rstellung. Zudem wies das bestehende soziale Gefüge Stabilität genug auf, um weitergehenden Veränderungsforderungen noch lange zu widerstehen oder sie zu kanalisieren. Auch die Staatswirtschaftspolitik des Merkantilismus, die Bekämp­ fung der politischen Macht des Adels wie die Förderung bürgerlicher Schichten durch die absolute Monarchie haben die ständische Struktur der Gesellschaft nicht verändert, den Feudalismus und das Zunftwesen nicht beseitigt. Der Aufstieg des Absoluti smus in Konti nentaleuropa ist ebenso von der Garantie des sozialen Status der Privilegien begleitet worden wie die Beseitigung des Stuart-Absolutismus in England. Und trotz der admini strativen und in Ansätzen auch bewußtseinsmäßigen Integri erung der sozialen Gruppen in den Untertanen- und Staatsbürgerverband durch die Monarchie des aufgeklärten Absolutismus wer die komplexe Differen­ ziertheit der ständisch und regional geprägten Gesellschaft noch längst nicht tat­ sächlich verschwunden. Ganz überwiegend standen die Menschen in der Lebens­ und Vorstellungswelt einer Agrargesellschaft; die Bebauung und Nutzung des Bo­ dens war für die meisten die Voraussetzung ihres materiellen Lebens; Landbesitz blieb auch im achtzehnten Jahrhundert die angesehenste Grundlage sozialer Exi­ stenz, zumal dieser Besitz durchweg mit politischen Rechten verknüpft war, also Herrschaftsstatus verlieh. In allen Ländern besaß der Adel persönliche und standes­ spezifische Vorzüge und Vorrechte ; der Großteil der bäuerlichen Bevölkerung war, bei aller Unterschiedlichkeit der Rechtsstellung, abhängig und leistungspflichtig ; Land und Stadt waren, wenngleich in vielfältigsten wirtschaftlichen Beziehungen stehend, nach Rechtsstellung, Lebensweise und kulturellem Status beträchtl ich von­ einander unterschieden. In den größeren Städten gab es mehr soziale Mobil ität, aber auch in ihnen hatten sich alte und neue oligarchische Gruppen nach oben abgeschichtet, übten Kontrolle aus und behinderten Veränderungen. Die Kräfte, die im Besitz standen, oder auch solche, die den Weg in die Kreise der Privilegierten fanden, lehnten tieferreichenden Wandel durchweg ab; und die Monarchen und Re­ gierungen in ökonomisch und sozial rückständigen Staaten, die im Sinne eines auf­ geklärten Absolutismus Veränderung bewirken wollten, stießen mehr oder weniger schnell an die Grenzen i hrer Mittel wie ihres eigenen Modernisierungswillens, der das System des Absolutismus selber nicht infrage stellte. Und aufsteigende - oder aufsti egswill ige - mittlere Schichten in der Gesellschaft waren in der Regel nicht potent genug und nicht willens, sich politisch an die Macht zu drängen. Es mußten andere Entwicklungen eintreten, ehe wirklicher sozialer Wandel möglich wurde oder sich Verhältnisse entwickelten, unter denen er in gang kommen konnte. 77

Der Weg dahin, der sich im späten 1 8..Jahrhundert in einigen Fällen zum Umbruch, zu demokratischen Revolutionen gesteigert hat, ist nicht derjenige ei ner langfristi­ gen, sich beschleunigenden und unvermeidbaren Eskalation gewesen, die man zum Inhalt des Jahrhunderts erklären könnte. Vielmehr haben sich ungefähr seit der Mitte des Jahrhunderts ältere Widersprüche innerhalb des sozialen Lebens in Europa verschärft; sie wurden als solche verspürt und besti mmten zunehmend das Denken und Handeln der Menschen. Das Ancien Regime geriet in eine Krise, die in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark, mit zeitlichen Verzögerungen, aus unterschiedlichen Bedingungskonstellationen und mit unte rschiedlichem Ausgang in Erscheinung trat. Die Standesunterschiede, die vorher schon gelegentl ich über­ griffen und partiell gemildert worden waren, wurden in den letzten Jahrzehnten von den Privilegierten wieder deutlicher betont und durch die tatsächliche ökono­ mische Entwicklung wie durch die Aufklärung verstärkt ins Bewußtsein gehoben, zugleich in ihrer Berechtigung bestritten. Die systembedingten Hindernisse ftir die wirtschaftliche Entfaltung, soziale Mobilität und politische Teilhabe ökonomisch und intellektuell potenter Gruppen wurden schärfer empfunden, aber nun auch in ihrer Legitimität infrage gestellt. Und die erfolglosen Versuche der Regierung in Frankreich zur Reform der Staatsfinanzen wie die ausbleibende Parlaments- und Wahlrechtsreform in England, die überstürzten Reformmaßnahmen des aufgeklär­ ten Absolutismus in den habsburgischen Ländern zur Zeit Josephs II wie das Ver­ ebben der Reformpolitik in Preußen gegen Ende der Regierungszeit Friederichs II und ihr Ende nach seinem Tode haben das Krisenpotential vermehrt.

Die Frage, was aus systemimmanenten Widersprüchen eine Systemkrise hat werden lassen - oder noch vorsichtiger und allgemeiner gesprochen : was aus den noch ganz überwiegend traditionell geprägten Verhältni ssen des frühen achtzehnten Jahr­ hunderts zu den strukturellen Veränderungen geftihrt hat, die in seinem letzten Drittel einsetzten, kann angesichts der Komplexität dieses Prozesses nicht in weni­ gen Worten beantwortet werden. Eine prima causa läßt sich nicht ausmachen, eben­ sowenig der genaue Zeitpunkt, in dem die Steuerungskapazitäten der bestehenden politischen und sozialen Systeme sich als unzulängl ich erwiesen, der revolutionäre Weg zur Errichtung neuer Systeme oder der evolutionäre Weg zur Gewinnung neuer Kapazitäten frei wurden. Wohl aber muß auf Grund der Ereignisse neuerer Forschungen gesagt werden, daß eine Erklärung dieser Krise allein aus ökonomi­ schen oder sozialen oder politischen Ursachen, ohne die Berücksichtigung tief­ reichender und umfassender Veränderungen in den Vorstellungen der Menschen und in ihrem Verhalten nicht möglich ist. Mehr noch: es wird hier die These vertreten, daß der Wandel, der sich im achtzehnten Jahrhundert in Europa (ein­ schließlich Nordamerikas) vollzogen hat, im wesentlichen ein kultureller Wandel gewesen ist. Er vor allem hat die Krise bewirkt, aus der jener Veränderungsschub hervorgegangen ist, den man die Ausbildung der modernen Welt genannt hat. 78

III Diese These läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn ein Kulturbegriff zugrundegelegt wird, der den Kulturprozeß untrennbar in den Sozialprozeß eingelassen begreift. Kultur ist nicht bloß die Summe intellektueller und künstlericher Werke, sondern auch das menschliche Handeln nach Wert- und Zielvorstellungen, wobei diese Vorstellungen nicht immer bewußt oder gar reflektiert sein müssen, sondern in Gewohnheiten, tradierten Verhaltensmustern und typischen Rollen eingebunden sein können. Kulturen sind spezifische Ausformungen allgemeinen menschlichen Tuns, das stets eine ökologische Gestaltung des Lebens, eine Institutionalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen verwirklicht, eine Ritualisierung und Darstel­ lung numinoser Erlebnisse vornimmt, eine Stilisierung, Sinngebung und Ordung des Handeins nach Vorstellungen darüber erstrebt, wie das Leben sein soll. Kulturen sind also Symbolwelten, die die natürliche Umwelt und die soziale Welt der Men­ schen nicht überformen, sondern deuten und gestalten. Die Bedeutung der fundamentalen sozialen und kulturellen Strukturiertheit menschlichen Tuns für die Erklärung des politischen Verhaltens oder der Entwick­ lung von Rechtsnormen und Verfassungsfo rmen, von Kunst und Dichtung wird heute verstärkt erkannt. Die Ergebnisse kultur- und sozialanthropologischer For­ schung finden zunehmende Beachtung in den Geistes- und Sozialwissenschaften; denn auch diese treffen bei ihrer Arbeit auf Sachverhalte, deren Erfassung und Erklärung die Berücksichtigung sozial- und kulturanthropologischer Erkenntnisse erforderlich macht. Den sich damit ergebenden theoretischen und methodologi­ schen Problemen soll hier nicht nachgegangen, vielmehr auf einige Entwicklungs­ tendenzen des achtzehnten Jahrhunderts und auf einige Fragen ihrer Analyse auf­ merksam gemacht werden. David Jenisch meinte festeilen zu können, daß sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts eine Veränderung in der Ursachen- und Wi rkungsstruktur des ge­ schichtlichen Geschehens vollzogen habe. Seien es vorher partikulare Interessen der Herrschenden gewesen, um die sich alles gedreht habe, so in der zweiten Jahrhun­ derthälfte Menschheitsinteressen. Nie habe das menschliche Geschlecht ein so deutliches Bewußtsein von seiner Fähigkeit gehabt, seine Lage zu verbessern, also den weiteren Weg der Geschichte bewußt zu gestalten, und nie zuvor habe es so deutlich danach verlangt. Es sei bereits dazu übergegangen, die Vervollkommnung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens voranzubringen. Und die von Men­ delssohn als neu verzeichneten Begriffe "Aufklärung" , " Kultur" und " Bildung " waren Leit- und Schlagworte dieses soziokulturellen Prozesses, der eben mit diesen Begriffen und ihrer Resonanz in das Stadium höherer Bewußtheit gerückt wurde. Hinter ihnen erkannte Mendelssohn das "gesellige Leben " , nämlich Wirkungen der Bemühungen der Menschen, " ihren geselligen Zustand zu verbessern " . 79

Wo immer man zufaßt, man trifft im achtzehnten Jahrhundert auf die in seinem Verlaufwachsende Überzeugung, ökonomische, soziale und politische Verhältni sse nicht nur erhalten oder hier und dort wieder einbal ancieren zu müssen, sondern sie wesentl ich verbessern zu können und zu sollen - und auch auf die Bereitschaft, dies durch vernünftiges, theoriegeleitetes Hande l n zu tun. Diese Überzeugung tauchte nicht plötzlich auf. Das Verständnis der " bürgerlichen Gesellschaft " und des Staates als Zweckverbände zur Ermöglichung guten Lebens, der Gesetzgebung, Administration und Erziehung als Mittel praktischer sozialer Gestaltung ist bereits im sechzehnten und si ebzehnten Jahrhundert entwickelt worden, und auch ent­ scheidende Durchbrüche des wissenschaftlichen Denkens zu methodisch gesicher­ ten, nicht mehr autoritätsverbürgten Erkenntni ssen waren bereits vorher geschehen. Die Aufnahme jedoch solcher Erkenntnisse in ein breiteres Bewußtsein und ihre nicht mehr nur partikulare Umsetzung in soziale Praxis erfolgte, abgesehen von England, wo dies früher geschehen ist, erst im achtzehnten Jahrhundert. Dieses ist vornehmlich charakterisiert durch Verbreitung von Erkenntni ssen, durch ihre Übertragung von einem Erkenntnisbereich auf andere und auf d i e soziale Praxis, durch die Ausbildung von Denkhaltungen, neuen Argumentationsweisen und Legi­ timationsanforderungen und durch das steigende Selbstvertrauen von Menschen, die zugleich kritisch und verändernd, nämlich refo rmierend tätig werden wollen. Als die hauptsächlichen Komponenten dieser intellektuellen Entwicklung lassen sich Rationalismus und Utilitarismus, Empiri smus und Sensualismus bezeichnen. Überlieferte Autoritäten, Verhaltensmuster und Normen wurden kritisch infrage gestellt, ihre Übereinstimmung mit der Vernunft geprüft und ihre H istorizität nach­ gewiesen. In alledem gewann das Individuum, das sich in Absehung von den kon­ kreten sozialen Verhältnissen mit der Menschheit auf dem Wege ihrer Bestimmung zur Vervollkommnung identifizierte und mit den gleichstrebenden Mitgliedern der sich ausbildenden Aufklärungsgesellschaft konsentierte, ein zunehmendes Be­ wußtsein intellektueller Befreiung und Selbständigkeit. Paral lel dazu vollzog sich die Befreiung des Gefü hls von tradierten Empfindungsmustern ; wie das Recht auf eigenes Denken wurde das Recht auf eigenes Empfinden und dessen Ausdruck gefordert und zumindest partiell auch gewonnen. In diesem vielsträhnig verlaufenden Prozeß sind ältere soziale Kontrollen und Steuermechanismen nicht einfach verschwunden, wohl aber zunehmend als unglaubwürdig und anachronistisch empfunden, gelegentlich auch schon unter­ laufen und außer Kraft gesetzt worden. Das geschah mit dem strengen Konfessiona­ lismus und der Zensurp raxis, aber auch mit rhetorischen Regeln und Geltungs­ definitionen, sozialen Verhaltensmustern und Ständegrenzen, Privilegien und Mo­ nopolansprüchen. Es entfaltete sich eine öffentlich geführte Diskussion unter den Gebildeten, in die zunehmend Themen hineingezogen wurden, die vorher dafür nicht frei standen; sie fand statt in literarischen und geselligen Formen, die sich erst entwickelten, mit den Mitteln einer Sprache, die dabei an Ausdrucksmöglich80

keiten gewann (und an strengem Maß verlor), und in einem Prozeß, der ebenso durch Popularisierung wie durch Verwissenschaftlichung und durch Ersetzung vorheriger ständespezifischer Sprachebenen durch bildungsspezifische gekennzeichnet war. Entsprechend wandelten sich Geschmack, Moral und Frömmigkeit; der Gegensatz zwischen Gebildeten und Ungebildeten wurde, zumal in Deutschland, kulturell zunehmend wichtiger als Unterschiede der Geburt, wenn diese auch keineswegs verschwanden. Dieser Vorgang spiegelt sich sowohl in der 'Verbü rgerlichung' von Stil und Geschmack in manchen Kreisen der Aristokratie und selbst an den Höfen als auch in der Elitisierung des Selbstverständnisses der 'Gebildeten' - einer Grup­ pe, die weit über den Kreis der älteren 'Gelehrtenzunft' hi nausreichte und die alten Ständegrenzen übergriff. Politi sche Entwicklungen haben die mit dem Namen 'Aufklärung' zu eng gekenn­ zeichnete soziokulturelle Bewegung gefördert, und umgekehrt hat diese die poli­ tischen Verhältni sse in Bewegung gesetzt. Dabei mußte sich zeigen, wie weit die politischen Systeme veränderungsfähig bzw. in der Lage waren, schon eingetretenen und noch intendierten Wandel zu lenken. Denn nicht gewaltsamer revolutionärer Umsturz drohte ihnen, sondern Funktionsunfähigkeit, Ansehensverlust, Desinte­ gration, Verdrängung bisheriger Führungsschichten. Eigentlich alle Kritiker glaub­ ten an Fortschritt durch Reformen, durch das Hineinwachsen aufstrebender Grup­ pen in die c/asses dirigeantes; sie erwarteten den Wandel von Institutionen als Folge veränderter Vorstellungen und Einsichten und auch als Konsequenz sich ver­ lagernder Vermögens-, Leistungs- und Kompetenzverhältnisse. Erst die Reaktion der Regierungen und der Privilegierten, also das bewußte Bemühen, Wandel auf­ zuhalten, exklusive Rechte und Besitzstände zu verteidigen und notwendige Re­ formen zu verhindern, haben Situationen entstehen lassen, in denen Revolution auch nur dann erfolgte, wenn ein hinreichendes revolutionäres Potential sich ange­ sammelt hatte und die alten Gewalten sich als handlungsunfähig erwiesen. Wo das eine oder das andere oder beides nicht der Fall war, ist Revolution ausgeblieben.

IV Kultureller Wandel allein bewirkt keine politische Revolution, aber er kann ökono­ mische und soziale Widersprüchlichkeit und politische Krise bewußt machen und damit den Wünschen, dem Wollen und Handeln der Menschen eine Richtung geben, die zu wirklichen Refo rmen oder Revolutionen führt. Der kulturelle Wandel mehr Motor als Folge des sozialen Wandels - ist, um es noch einmal zu sagen, der entscheidende Vorgang im achtzehnten Jahrhundert gewesen. Er hat Kräfte nach der politischen Führung greifen lassen, die dazu nicht durch Herkunft, Privileg, Macht legitimiert waren, sondern sich durch Kenntnisse, Leistung und Leistungs­ willen und eine Idee, eine konkrete Utopie, dazu berechtigt glaubten. Er hat die Gesel lschaft und den Staat als Institutionen zur Erreichung menschheitlicher 81

Zwecke im Bewußtsein einer wachsenden Zahl von Menschen verankert und prak­ ti sche verfassungspolitische Konsequenzen dieser Auffassung bewirkt. Die Über­ zeugung, daß das Individuum mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sei, ihm die Entfaltung seiner Möglichkeiten zustehe, ja zur Pflicht gemacht sei, soweit dies mit dem Recht anderer Menschen und dem Wohl der Gesell schaft verei nbar ist, griff um sich. Dabei erhielt Erziehung eine entscheidende soziale Bedeutung zugesprochen; Literatur und Kunst, Bildung und Wi ssenschaft wurden als Ausdruck der Entwicklung der Völker und Nationen, als ihre Beiträge zur Entwicklung der Menschheit verstanden. In der " Kultivierung " des individuellen Lebens, des Lebens in j edem Stande und Beruf, des Lebens der Nation, wurde ein allgemeiner, nicht mehr christlicher, sonde rn das Christentum in sich aufbebender allgemeiner Zweck der Menschheitsentwicklung formuli ert, in dessen Dienst die gesamte Einrichtung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens stehen müsse. Es ist eine der Aufgaben der Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, die Umset­ zung von Ideen, Konzeptionen und Interp retationen in die Praxis, die Auswirkungen des kulturellen Wandels auf die soziale und politi sche Real ität zu untersuchen. Sie sind keineswegs nur in den expliziten Selbstaussagen der Handelnden faßbar, auch nicht nur in Gesetzen, Verordnungen und Verfassungstexten ; vielmehr gilt es, sie auf allen Ebenen der Politisierung des Bewußtseins der Menschen, in ihrer Sensibilisierung für Fragen des moralisch-gesellschaftlichen Lebens aufzuspüren und dazu Zeitschriften und Predigten, pädagogisches Schrifttum aller Art, hohe und triviale Literatur etc. neu zu lesen. Es gilt zu sehen, wie die Menschen, durchaus noch im Kontext überlieferter Lebensformen und auf verschiedenen Ebenen der Entwicklung gleichzeitig existierend, Vorstellungen aufnehmen, die ihre gesamte Denkhaltung verändern und sie für Anschauungen ansp rechbar machen, die sie vorher nicht kannten oder ablehnten oder nicht verstanden, weil sie zu weit von ihrem Erfahrungsbereich und Bildungshorizont abgelegen hatten. Auf der anderen Seite müssen auch die spezifischen Probleme der aufgeklärten Bildung gesehen werden : ihre Abstraktheit und das Nichtgelingen ihrer Vermittlung. Das aber konnte die Menschen mit der Realität kollidieren lassen, radikalisierungsanfällig oder frustrationsbedroht machen, allerdings auch die Neigung zum Rückzug in eine Innerlichkeit wecken, in der sich auf hoher Ebene sublime Spiri tualisierung mit machtpolitischem Zynismus verbinden kann. In der Tat hat der kulturelle Wandel, dem die moderne Welt so unendlich viel ver­ dankt, auch Gefahren mit sich gebracht. Am deutlichsten lassen sie sich an der deutschen Entwicklung aufzeigen. Nicht erst unter dem Eindruck der Französischen Revolution wurde von Deutschen behauptet, daß Deutschland am wenigsten für politische Revolutionen, am meisten aber zu einer Revolution im Geiste disponiert sei ; andere waren überzeugt, Deutschland benötige eine Revolution wie in Frank­ reich nicht, weil aufgeklärte Regierungen bereits Reformen eingeleitet hätten und deshalb nicht so diskred itiert seien wie die Regierungen in anderen Ländern, und 82

weil der Prozeß der Aufklärung durch Erziehung sich auf gutem Wege befinde. Die allermeisten Gebildeten vertrauten auf die Reformierbarkeit der sozialen und politischen Verhältnisse und auf die Befähigung der Deutschen für diesen Weg, auf dem sie den Rückstand gegenüber den großen westlichen Nationen nicht nur aufholen, sondern sie sogar übertreffen könnten wie dies in der Literatur und Philo­ sophie bereits geschehen sei. Eben diese Entwickl ung, the literary revival, wie Bru­ ford sie genannt hat, und die pädagogische Bewegung haben bei den Gebi ldeten nicht ohne kompensatorisches Bedürfnis und nicht ohne gewaltige Überschät­ zung - die Überzeugung entstehen lassen, die soziale und politische Reform werde die notwendige Folge des kulturellen Wandels sein und nur so Bestand haben kön­ nen. Anders und überspitzt gesagt: nach einer Kulturrevolution sei soziale und politische Reform eine sekundäre, wenn auch möglicherweise erst längerfristig wirksam werdende Erscheinung. Durch neue Ideen und Leitvorstellungen werde ein intellektueller, moralischer und ästheti scher Lernp rozeß der gesamten Bevölkerung in gang gebracht, aus dem erneuerte, anders denkende Menschen auf seiten der Regierenden wie der Regi erten hervorgehen würden, damit auch eine weit höhere Garantie für eine bessere Gesellschaft gegeben sei als durch einen schlagartigen und gewaltsamen Umbruch. Das waren gewiß Erwartungen von bürgerlichen Gebildeten ohne die Erfahru ng der Macht, ohne das Interesse der Verteidigung überlieferter Besitzstände, aber auch ohne die Intention des Umsturzes einer Gesellschaft, in der sie gerade die Erfahrung des Ansehensaufstiegs der Gebildeten und der wachsenden Anerkennung der Bil­ dung als soziale und professionelle Qualifizierung gemacht hatten. Denn die deut­ schen Gebildeten waren meist keine frei schwebenden Intellektuellen oder Salon­ philosophen, sondern Beamte, Pfarrer, Lehrer, Juristen, Professoren - Männer, die glaubten, daß sie in i hren Ämtern und Berufen, und das heißt: durch Admini­ stration, Aufklärung und Erziehung das Werk der allgemeinen Reform betreiben könnten - ihr eigenes Werk, an dem sie unmittelbar interessiert waren und auch selber zu profitieren hofften. Sie wollten p raktisch wirken, und in dieser wo hlge­ meinten Absicht schlossen sie Bevormundung und staatlichen Zwang nicht aus. Sie folgten einer Utopie, die die Macht zum Instrument der Kultur machen wollte. Es hat sich dann gezeigt, daß die erzogene und 'gebildete' Gesellschaft nicht not­ wendig zur freien Gesellschaft wird. Diese Lehre zu begrei fen hat allerdings lange Zeit gebraucht. Noch die neuhumanistische Bildungsreform hat ganz und gar von der Ideologie gelebt, daß eine Staats- und Gesellschaftsreform nur in der Reform des Erziehungswesens ihr Zentrum und die Gewähr i hres durchgreifenden Erfolgs finde.

V " " Kultur und Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert - unter diesem Thema könnte sehr viel mehr gesagt werden, als hier möglich i st, und auch sehr viel anderes. 83

Abschließend sei nur noch ei nmal daran erinnert, daß sowohl 'die Gesellschaft' als auch 'die Kultur' selber Themen der hier betrachteten Zeit, Gegenstände ihres Nachdenkens und Interesses gewesen sind. Daß sie dazu gemacht wurden, geschah im Gegensatz zu den dominierenden Mächten der Kirche, der Ari stokratie und der Monarchie. Mit Recht kann man die zunehmende Aufmerksamkeit für den Pro­ zeß der Gesellschaft und der Kultur 'bürgerlich' nenne. Bürgerlich nicht so sehr im Hinblick auf ihre soziale Trägerschaft, denn es partizipierten daran durchaus auch Adel ige wie umgekehrt das Selbstverständnis vieler Gebil deter sie scharf von den unteren und großen Teilen der Mittelschichten abhob. 'Bürgerlich' meint ein Den­ ken, das sich auf eine Gesellschaft rechtlich gleichgestellter Bürger bezog, und eine Welt- und Lebensanschauung, die sich von der altständi schen prinzipiell unter­ schied. Gewi ß hat sie sich nur zögernd und auf vielen Bahnen durchgesetzt; sie ist nie ohne die Gefahr der Vulgarisierung, der moralisierenden Enge, der selbst­ bestätigenden Genügsam keit geblieben; aber sie hat doch mit der Formulierung des Leitbildes und Typ us des 'Bürgers' Entscheidendes geleistet : gegenüber dem 'Herrn' war der 'Bürger' der neue, der allgemeinere, der erste menschheitlich ge­ meinte Sozialtypus - und er ist es bis heute gebl ieben. Dieser Bürger, der zunächst Mensch und als solcher in der Lage ist, andere Menschen nicht nur in ihrer gesell­ schaftlichen Funktion, sondern als Menschen ernst zu nehmen, der Patriot ist und als solcher am Gemeinwesen Anteil nimmt, der sich für Fragen des öffentl ichen Wohls interessiert und dabei zugleich seinen eigenen Interessen folgt, weil er von der Übereinstimmung der vernünftig erkannten Interessen des ei nzelnen Bürgers mit den Interessen der Gesell schaft und der Menschheit überzeugt ist, der ohne Enge und Hochmut national und zugleich kosmopoliti sch empfindet - dieser Bürger ist Träger und Produkt einer bürgerlichen Kultur, die bei allem Mangel an Rand­ schärfe sich bis heute als ungemein prägend erzeigt hat. Sie unterscheidet sich deutlich von der höfisch-aristokratischen Kultur, ebenso aber auch von einer kleinbürgerlichen. Man darf sie nicht nur von ausformulierten moralischen, Iei stungs- und erfolgsorientierten Verhaltensanweisungen und von literarisch oder ikonographisch vermittelten Mustersituation her verstehen, sondern muß auch die ihr eigentümlichen Sozialisierungsweisen, Verhaltenstypen, Identifi­ zierungsbedürfnisse etc. berücksichtigen. Wichtig ist dabei, daß die bürgerl iche Kultur sich im Blick auf die höfi sch-ari stokratische und in Unterscheidung von ihr ausgeformt hat. Und in demselben Maße, wie die Kirche mit der monarchi sch­ aristokratischen und feudalen Welt verbunden gewesen ist, hat bürgerliche Kultur sich auch mit der Institution der Kirche auseinandersetzen müssen, ohne jedoch notwendig mit ihr zu brechen. Eine Analyse der bürgerlichen Kultur erscheint deshalb so wichtig, weil zwar der kul­ turelle Wandel, der im Mittelpunkt des Geschehens des achtzehnten Jahrhunderts stand, nicht mit Übergang von der aristokratisch-höfischen zur bürgerlichen Kul­ tur identisch war, wohl aber durch die Ausbildung einer bürgerlichen Vorstellungs84

und Verhaltensweise, also eines Consensus von Anschauungen und eines Musters von Handlungsweisen, soziale Spannungen aufgetreten sind, die unumkehrbar den Wandel zur modernen Welt vorangetrieben haben. David Jenisch hat di esen kulturellen Wandel gesehen. Vor allem, daß die Entwicklung der " Menschheit " zum Inhalt der Zeit geworden, also eine nicht mehr ständische Konzeption der gesellschaftlichen Entwicklung (in deren Zentrum der 'Bürger' als nicht stände­ oder klassenspezifischer Typus stand) zur Wi rkung gekommen war. Um 1 700 wäre es wohl nicht möglich gewesen, von dem Stand der Kultur der ganzen Na­ tion, unter Einschluß aller ihrer Gruppen, zu sprechen; hundert Jahre später war es möglich.

Anmerkungen I Dav i d Jenisch, Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet (Berl in 1 800), I, 3f. 2 Ebd. p . 4 f. 3 Ebd. p. 6. 4 Moses Mendelssohn, " Über die Frage: Was hei ßt aufklären? 193 f.

5 Ebd. p. 195 f.

"

"

Berlinische Monatsschrift 4 ( 1 784)

"

6 Vgl . d i e Artikel " Aufklärung (von Horst Stuke) u n d " B i l d ung (von Rudolf Vierhaus) in Geschicht­ liche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland ( I 972) I , 243 342, und 508 - 5 5 1 . 7 Zu r Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts i s t auffolgende al lgemei ne Darstel l u ngen hinzuweisen: Roland Mousnier et Ernest Labro usse, Le XV/1/e siede: Revolution intellectuelle, technique et poli­ tique, 1 7/ 5 - /8/5 (Pari s, 1 953); Stuart And rews, Eighteenth Century Europe: The /680s to /8/5 (London, 1965); M . S . And erson, Eighteenth-Century Europe, /9/3 - 1 789 (Oxfo rd , 1 966); Leonard Kri eger, Kings and Phi/osophers, /689 - 1 789 (London, 1 790); Franeo Ve n t u r i , Europe des lum ieres: Recherehes sur le /Be siec/e (Paris et La Haye, 1 9 7 1 ) . 8 A u s d e r F ü l l e sozial- u n d w irtschaftsgeschichtl icher Literatur, d i e a l l erdi ngs n u r selten Eu ropa als Ganzes zum Gegenstand hat, seien h i er genannt: E l i n o r C. Barber, The Bourgeoisie in 18th Century France (Princeto n, 1 955); Geo rge Rude, The Crowd in History, / 730 - /884 (New Yo rk), 1 964) ; Albert Goodwin (ed.), The European Nobility in the Eighteenth Century (New York, 1 967); David S . Landes, The Unbound Prometheus: Techno/ogica/ Change and Jndustria/ Deve/opment in Western Europe from I 750 to the Present (Cambridge, 1 969) ; Rudo l f Vierhaus (ed.), Der Adel vor der Revolution. Zur sozialen und politischen Funktion des Adels im vorrevolutionären Europa (Kleine Van denhoeck­ Rei he, 340 - 42, Göttingen, 1 9 7 1 ) ; ders. (ed.), Eigentum und Verfassung: Zur Eigentumsdiskussion im ausgehenden 1 8. Jahrhundert (Veröffentl ichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 37), (Götti ngen, 1 972). 9 Zum " aufgeklärten Abso l u tismus

"

sei hier zusätzlich z u r b ekannten Literatu r auf fo lgen de Titel " verwiesen: Rudolf Vierhaus, Art. " Absolutismus i n Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft (Frei b u rg, 1 966), B d . I ; John A Gagl iardo, Enlightened Despotism (London, 1 967) ; Kar! Otmar Frh r. von Aretin (ed.), Der A ufgeklärte Absolutism us, Neue Wissenschaftl iche B i b l iothek, 67 ( Köln, 1974); Leonard Krieger, An Essay on the Theory of Enlightened Despotism (Chicago u n d London,

1 975).

85

10 Fü r die hier angesprochenen Zusamm enhänge ist auf folgende Werke h i nzuweisen : Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (München, 1953); Jü rgen Habermas, Strukturwandel der Öfle ntlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Neuwied, 1 962) ; Herber! Marcuse, Kultur und Gesellschaft, Edition S u h rkamp, 1 0 1 u n d 1 3 5 , (Frankfu rt/ M . , 1 965) 2 Bde. ; Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Ein e Theorie der Wissenssoziologie, Conditio humana ( 1 966, dt. Frankfurt/M, 1 969); Norbert El ias, Über den Pro::eß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenefische Untersuchungen. ( 1 936; 2. Aufl. Bern, 1 969; Taschenbuchfassung. Franku rt, 1 976); ders . , Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königsrums und der höfischen Aristokratie, Soziologische Texte, 54 (Neuwied, 1 969) ; Robert Mandrou, De Ia culture populaire aux 1 7e et 18e siecles (Paris, 1 975), zweite Auflage. "

1 1 Gerhard Schulz, " Die Entstehung der b ü rgerl ichen Gesel lschaft , i n Schulz, Das Zeitalter der Gesell­ " schaft (Mü nchen, 1 969), pp. 1 3 - 1 1 1 ; vgl . Manfried Riede!, Artikel " B ü rger, S taatsbürger, B ü rgertum , in der oben (Anm. 6) genan nten Enzyklopädi e, pp. 672 - 72 5 ; Jürgen Schlumbohm, Freiheit: Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitworts (ca. 1 760 bis ca. 1800) (Düsseldorf, 1 975). 12 Zur Aufklärung: Ernst Cas si rer, Die Philosophie der Aufklärung (Tü b i ngen, 1932); Paul Hazard, Die Herrschaft der Vern unft: Das europäische Denken im 18. Jahrhundert (dt. Ham b u rg, 1 949); Gerhard Funke (ed . ), Die Aufklärung (Stuttgart, 1963 ) ; Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation (New Yo rk, 1 966, 1 969) 2 vols. ; Lucien Goldmann, Der christliche Bürger in der Aufklärung, Sozio­ logi s c h e Essays , 24 (Neuwied, 1 968); Wi l l i Oelmü l l er, Die unbefriedigte A ufklärung: Beiträge zu einer Th eorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegei ( Frankfu rt/ M . , 1969) ; Herber! Dieckmann, Diderot und die Aufklärung: Aufsätze zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart, 1972); Horst M ö l l er, AuJklärung in Preußen : Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Berlin, 1 974); Werner Schneiders. Die wahre A ufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen A ufklärung (Fre i b u rg und M ü nchen, 1 974). 1 3 Es kann hi ngew iesen werden auf: Robert R. Palmer, The Age of Democrarie Revolution: A Politica/ History of Europe and America, 1 760 - /800 (Princeton, 1 959, 1 964) 2 vols. ; Jean Egret, La pre-revo­ lution franraise, 1 787- 1 788 (Paris, 1962); Rudolf Vierhaus, " Po l i ti sches Bewußtsein in Deutschland vor 1 789" Der Staat, 6 ( 1 967) 1 75 - 196; Albert Saboul, La civilisation er / 'ancien regime (Paris, 1 970). "

14 Dazu u . a. : Rud o l f Vi erhaus, " Aufklärung und Freimaurerei i n Deu tschland i n Festschrift für Rein­ hard Wirtram zum 70. Geburtstag (Götti ngen, 1 973) pp. 23 - 4 1 ; Frank l i n Kop i tzsch (ed.), A ufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, Nymp henburger Texte z u r Wi ssenschaft, 24 ( M ü n chen, 1 976). 1 5 W. H . Brufo rd, Germany in the Eighteenth Century: The Social Background of the Literary Revival (Cambri dge, 1 935). 1 6 Daz u : Rolf Enge1 si ng, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Kri tische Studien z u r Gesc h ichtswissenschaft, 4 (Götti ngen, 1973); ders. , Der Bürger als Leser: Lesergeschichte in Deutschland, 1500 - 1800 (Stuttgart, 1 974); Hans Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800: Zur Sozio­ logie des deutschen Frühliberalismus: Mit einem Vorwort und einer ergänzenden Bibliographie hg. von Ulrich Herrmann, Kri tische Studien zur Gesch i c htswissenschaft, 19 (Götti ngen, 1 976). 17 Anregend s i n d : Helmut Kön ig, Zur Geschichte der Nationa lerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Monumenta Paedagogica, I (Berl in, 1 960) ; Wi lhelm Ro essl er, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschlan d (Stuttgart, 1 96 1 ) ; Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft: Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1 787- 181 7, Industrielle Welt, 15 (Stuttgart, 1 974) ; Ach i m Leschinsky u n d Peter Martin Roeder, Schule im historischen Prozeß: Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung, Veröffentlichung des Max-Planck-Instituts für B i l d ungsforschung ( S t u t tgart, 1 976). 18 Daz u : Fritz Brüggemann, " Der Kam pf um die b ü rgerl iche Welt- und Lebensanschauung i n der deut­ " schen Literatu r des 1 8. Jahrhunderts , Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 3 ( 1 925) 94 - 1 2 7 ; Bern hard Groethuysen, Die Entsteh ung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich ( H a l l e, J 92q, 1 930) 2 Bde. ; W. H . Bruford, Kultur und Gesellehaft im klassischen Weimar, 1 775 - 1806 (Götti ngen, 1 966) ; Gerhard Sauder, " ,Verhältnismäßige Aufklä­ " rung' : Zur b ü rgerl ichen I d eologie am Ende des 1 8. Jah r h u n d erts , Jahrbuch der Jean-Paui-Gesell­ schaft, 9 ( 1 974), 1 02 - 1 26. 19 Vgl . Helmut M ö l l er, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert: Verhalten und Gruppenkultur, Schri ften z u r Vo l ksfo rschu ng, 3 (Berl in, 1969) .

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Viaor Lange Überlegungen zur " Deutschen Klassik"

I. Die erstaunl iche Verwirklichung philosophischer, sozialer und literarischer En­ ergien, die am Ende des 1 8 . Jahrhunderts den deutschen Schriftsteller dem Haupt­ strom der europäischen modernen Gesinnung eingliederte, war das Ergebnis einer Vielfalt von geschichtlichen Impulsen, die Summe von politischen, intellektuellen und ästhetischen Erfahrungen, die jener Zeit ihre unvergl eichlich faszinierenden Züge verleihen. Als gesell schaftliche Einheit waren die deutschen Territorien sehr viel heterogener und provinzieller, als das vergleichsweise in England oder Frank­ reich der Fall war: wirtschaftlich zurückgeblieben, feudal in ihrer Machtstruktur und nur zögernd zur Emanzipation einer selbstbewußten Mittelklasse bereit, durch eine kaum überschaubare Fülle regionaler Lebensformen und Zugehörigkeiten aufgeteilt und ohne die Vorzüge eines zentralisierten kulturellen Lebens. Als eine Gemeinschaft von Sprache und von - disparaten - religiösen Bekenntnissen, nicht aber von gesellschaftlicher oder politi scher Solidarität, wurde Deutschland innerhalb weniger Jahrzehnte gezwungen, seine Potenzen abzuschätzen, seine peri­ phere europäische Rolle aufzugeben und ein philosophisches und literarisches Idiom von unverkennbarer Eigenart zu schaffen. Aus paradox ineinander ver­ schränkten Motiven, aus einer Mi schung von Impotenz und Vision, von Hem­ mungen und Aggression, ja aus dem historischen Zwang zur Umschreibung und zur Verschlüsselung entwickelten die klarsichtigsten deutschen Schriftsteller jene Spra­ che der Modernität, die das europäische Denken und Verhalten bis weit ins 19. Jahrhundert bestimmen sollte. Die folgenden Ausfl.ihrungen bieten die Ü bersetzung eines Vortrages, mit dem der Präsident der amerikanischen " Gesellschaft zum Studium des 18. Jahrhunderts " sich an Vertreter nicht in erster Linie der Germani stik, sondern der verschiedensten literari schen und hi storischen Disziplinen wandte. Kulturhistoriker haben oft genug die Züge dieses Vo rganges beschrieben, an dessen Ende ein Corpus von nahezu unvermittelt originellen Werken steht, fl.ir das sich die nahel iegende, aber durchaus fragwürdige Kategorie einer deutschen " Klassik " nicht etwa schon i m kritischen Vokabular der Zeitgenossen selbst, immerhin aber dem der nachfolgenden Generation einbürgerte. Motiviert durch jene unablässig pro87

klamierte Tendenz des Jahrhunderts zur Definition und Synthese, wurde in Deutschland seit den Bemühungen Herders und Goethes um eine Abgrenzung der ebenso spezifisch wie leidenschaftlich empfundenen Modernität gegenüber jener Kette von bloßen Modifi kationen fragloser Orthodoxie, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Folge von alles verändernden Ereignissen deutl ich, ja, es l ieß sich eine geradezu revolutionäre Logik der Emanzipation vom Vergangenen erkennen. Angefangen mit dem Einbruch Preußens in das bestehende Konsortium der euro­ päischen Hauptmächte bis zur Niederlage Napoleons war die Epoche als eine Kette von Leistungen politischer und ästhetischer Art verstehbar, die nicht mehr nur als vereinzelte und zufällige Ereignisse, sondern nun in ihrer historischen Konsequenz zu begreifen waren. Ein in diesem Sinne organisch oder unitarisch konzipiertes Modell der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts galt j edenfalls noch bis vor kurzem als nahezu selbst­ verständlich. Die Dynamik der Geschichte schien die " Bewegungs " -Phasen von ei ner französisch orientierten europäischen Aufklärung zu den sukzessiven Emanzi­ pationsphänomenen des deutschen Geistes und der deutschen Literaturgeschichte, zur Empfindsamkeit, dem Sturm und Drang, der Klassikzu rechtfertigen und die Zu­ ordnung rel igiöser, philosophischer, gesellschaftlich-politischer und ästhetischer Impulse innerhalb deutscher Erlebnisformen nahezulegen. Die neuere Forschung hat dieses schematische Konzept in wesentl ichen Zügen in Frage gestellt und korrigiert. Die Topographie der " klassischen " Zeit ist nicht leicht eindeutig zu umschreiben. Sie schließt notwendigerweise die überragenden Figuren der deutschen Aufklä­ rung, Lessing, Mendelssohn, Herder ein, das kaum abschätzbar einflußreiche Werk Wi nckelmanns, das philologische Ingenium Hamanns, das eigentümlich aus M ilton und nationaler Utopie, aus Pathos und Gelehrsamkeit, aus Politik und Ästhetik gemischte Werk Klopstocks, vor allem aber Hölderli n, den zu seiner Zeit kaum sichtbaren aber zweifellos bedeutendsten lyrischen Dichter des Jahrhunderts. Im engeren und eigentlich folgenreichen Sinne sind es Schil ler und Goethe, die etwa seit der Mitte der achtziger Jahre, d. h. seit Goethes entschiedener Abwendung von den unbefriedigenden gesel lschaftlichen und politischen Ansprüchen des klei­ nen Wei marer Hofes und seinem bewußten Versuch, die höfische Lebensfo rm und ihre formalisti sche Antikenverehrung durch das unmittelbare Erleben Italiens in Frage zu stellen, bis zu Schillers Tod im Jahre 1 805 die produktivsten und zugleich kritischsten Gestalten der Zeit sind. Diese zwei strategi sch unerhört bewußten Schriftsteller schaffen in einem kleinen Kreis von kaum kongenialen Mitarbeitern nicht so sehr ein ästhetisch originelles oder konsequentes Werk als eine Summe von Reflexionen zur zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Wi rklich­ keit, eine systematisch unterbaute Kritik des geistigen und politischen Verhaltens ihrer weiteren Umwelt gegenüber den Herausforderungen der Französischen Revolution. 88

Diese ebenso anspruchsvollen wie weithin mit Unmut als klassizistische Nostalgie rezipierten und immer deutlicher polemischen Schriften, die im höfischen und ge­ lehrten Umkreis von Weimar und Jena entstanden, sind aus der damals noch nicht veröffentlichten Korrespondenz zwischen den zwei Hauptbeteiligten und glei ch­ gesinnten Freunden als Niederschlag der Sorge um eine allzu impulsive Ü bertra­ gung französischer revolutionärer Tendenzen auf ein grundsätzlich anderes deut­ sches gesellschaftliches System zu verstehen. Ausländi schen, vor allem konser­ vativen Beobachtern wie etwa der Madame de Stael, schienen die Spannungen, die zwischen Goethe und Schiller einerseits und Herder und Jean Paul andererseits bestanden, nahezu belanglos gegenüber den von ihr lebhaft empfundenen und regi­ strierten idealistisch-nationalen Energien, die, wie sie meinte, von Weimar aus­ gehend, aufklärerische und christliche, konservative und liberale, feudale und bür­ gerliche Züge zu einer modern-deutschen Innerl ichkeit verschmolzen. Madame de Stael war bekanntlich von Napoleon des Landes verwiesen worden und suchte verständlicherweise outre Rhin anti-revolutionäre Verbündete. Ihr Bericht, De / 'AI/emagne, der in Frankreich erst 1 8 1 3 , zehn Jahre nach ihren Reisen und Beob­ achtungen in Deutschland erscheinen konnte, sollte durch eine gezielte Beto nung der transzendenten Züge der deutschen Szene die materialistischen Grundge­ danken widerlegen, von denen die französischen Revolutionäre so bedenklich aus­ gegangen waren. Nur durch den Takt und die historische Kompetenz August Wilhelm Schlegels, ihres literarischen Beraters, wurde das Schlimmste an Torheit und Willkür verhütet ; seinem Einfluß war es immerhin zu verdanken, daß das " " klassische Weimar und die deutschen christlichen Dichter und Denker zwanzig Jahre später in Frankreich als die Initiatorenjener modernen " romantischen " Sensi­ bilität begrüßt wurden. Madame de Staels Sicht war undifferenziert genug. In ihrem Katalog wurde zwi­ schen Turbulenz und Obj ektivierung, zwischen der Stimme des Sturm und Drang und dem urbanen Ton Wielands, zwischen Lessingscher Skepsis und der Subj ek­ tivität nonkonformistischen Glaubens nicht wesentlich unterschieden; gerade in der Vielfalt der Haltungen und Formen behauptete sich j ener zwar undeutlich definierte, aber eminent eindrucksvolle integre Humanismus, den sie in Weimar zu finden glaubte. Ein so elegant harmonisierender Blick mußte die Zeitgenossen in England und Frankreich faszinieren; er bestimmte freilich auch weitgehend die deutsche Ge­ schichtsschreibung der Folgezeit: ein Phänomen von außerordentlicher Vielfalt, dem von Dichtern, Dramatikern, Essayisten und Philosophen mit ei nzigartiger Leidenschaft Gestalt verliehen wurde, legte bis i n unsere Zeit den Eindruck - oder die Illusion - nicht nur gedanklicher, sondern stilistischer Homogenität und Konti­ nuität nahe. Aber diese unitarische Sicht konnte nicht lange unwidersprochen bleiben: ihre ideologischen Voraussetzungen sind und waren unverkennbar. Von Heine bis Lukacs und Werner Krauss ist der monolithische Zusammenhang der 89

klassischen Zeit mit Recht immer wieder angezweifelt, ihre heterogene Wi der­ sprüchlichkeit aufgedeckt und die Begründung ihrer philosophischen Impulse differenziert worden. Im Folgenden sollen einige Hauptz üge dieses Prozesses historischer und begrifflicher Neuorientierung skizziert werden.

II. Die grundsätzliche Veränderung unserer kritischen Perspektive geg e nüber der deut­ schen Literatur in der zweiten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts hat zunächst jene ftir die frühere Literaturgeschichtsschreibung axiomatische Spannung zwischen ratio­ nalistischen und spekulativen Tendenzen relativiert und damit den fatalen Topos von der " Ü berwindung " des Rationalismus durch den Irrationalismus, von dem seit Dilthey ausgegangen wurde, entkräftet. Es ist immer wieder behauptet worden, daß der Ansatz, der zu einer eigenständigen deutschen Literatur und Philosophie ftihrte, in der Tradition neuplatonischen Denkens seit der Renaissance und in den metaphysischen Projektionen von Platin bis Leibniz zu suchen sei. Gerade diese Tradition, so meinten noch H istoriker wir Korff oder Günther Müller, habe im Deutschland der vorrevolutionären Generation - oft genug im Rahmen einer theo­ logischen Syntax - das programmatische Vokabular im Kampf gegen die materiali­ stisch-sensualistischen Philosopheme der Franzosen und Engländer geliefert. Eine Äußerung i n Goethes " Dichtung und Wahrheit " galt auf langehin als /ocus c/assicus dieser Vorstellung : Goethe erinnert sich im dritten Teil dieses Werkes seiner j ugendlichen Begeisterung ftir Paracelsus und Boehme und ftigt hinzu, es sei damals, d. h. in den späten sechziger Jahren, ihm und seinen Freunden unmöglich gewesen, Holbach, Lamettrie oder Helvetius zu lesen, ohne durch deren kühlen Empirismus erschreckt zu werden. " Es kam uns so grau, so cimmerisch, so toten­ hart vor . . daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten " . Wie manche andere Stelle der großen Konfession ist auch diese vorschnell verallgemeinert wor­ den. Erst Ernst Cassirer revidierte sie, indem er darauf bestand,wie stark das Inter­ esse gerade der wichtigsten Anreger des Sturm und Drang, Hamanns und H erders, an den französischen Materialisten, an Condillac und Lamettrie, aber auch an den englischen Empirikern Hume, Locke und Hartley war. Werner Krauss ist der Hin­ weis auf die Wi rkung der englischen Deisten, vor allem Tolands und Tindals, und grundsätzlich der phi/osophesauf das vorrevolutionäre Denken der deutschen Theo­ retiker, Romanschriftsteller und politischen Publizisten zu verdanken. Erst neuer­ dings i st nachgewiesen worden, daß durchaus populäre Schriftsteller (etwa J. C. Wezel) ftir ihre sati rische Darstellung des zeitgenössischen deutschen Lebens sich auf die psychologischen und gesellschaftlichen Theorien von Helvetius oder Montesquieu und auf die pathologischen und neurologischen Analysen Bonnets oder Tissots stützten. Gerade in den novellistischen Schilderungen des zeitgenös­ sischen deutschen Lebens galt es ja, die metaphysischen Proj ektionen von Leibniz 90

oder Wolff durch skeptische Aufforderungen im Geiste von Voltaires Candide zum Ertragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit j enseits aller illusionistischen Philoso­ phie oder theologischen Spekulationen zu entwerten. Die erstaunliche Produktion populärer Romane im letzten Viertel des Jahrhunderts ist weitgehend ein Aufarbei­ ten jener Flut von engli schen und französischen Romanen, deren Haltung distan­ zierter Sensibilität und emotioneller Energie, deren konkretes und kritisches Auf­ zeichnen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, - die bisher i n der deutschen religiö­ sen und moral ischen Literatur kaum so konsequent zu finden waren - plausible und attraktive Modelle der Selbstdarstellung boten. Die Sympathien von Schrift­ stellern wie Nicolai, Musäus, Hippe!, Thümmel oder Wieland mit derpragmati schen und sensualistischen Haltung ihrer englischen Anreger ist nicht zu verkennen. Wir dü rfen weiterhin nicht übersehen, daß der antimetaphysische Impuls im Roman und der Lyrik der vorklassischen oder klassischen deutschen Literatur durch spezi­ fisch soziologische Untersuchungen der literarischen und subliterarischen Produk­ tion bestätigt worden ist. Erst durch die Ü berprüfung der soziologischen Realitäten des l iterarischen Lebens ist unsere Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte Formen des Geschmackes, des Glaubens und des Handeins gelenkt worden. Die Sozialgeschichte des Buches, die wir endlich ernst zu nehmen bereit sind, hat interes­ sante Aufschlüsse über die wirtschaftliche und soziale Lage von Schriftstellern, Mäzenen und Verlegern ergeben, höchst aufschlußreich gerade i n einer bis zum Ende des Jahrhunderts so unterentwickelten Gesellschaft wie der deutschen. Erst jetzt ist es möglich, die Beziehungen zwischen den Produktionsmechanismen, dem Apparat der Verbreitung und der Rezeption deutscher und ausländi scher Literatur, einigermaßen genau zu beschreiben, die Strategie der Rezensionsverteilung, das In­ einander von ästhetischen und gesellschaftlichen Impulsen der Kritik und die markt­ bestimmte Forderung gewisser Formen und Gattungen zu durchschauen. Es ist jedenfalls offensichtlich, daß die Frage nach der Funktion der Literatur zuverlässi­ gere Schlüsse auf die Vielfalt der Te ndenz e n , d . h. auf die Heterogenität der deutschen Literatur zuläßt, als das im Rahmen einer historischen Betrachtungs­ weise möglich (oder wünschenswert) war, die von der philosophischen Haltung einiger weithin sichtbarer Schriftsteller ausging. Empi ri sche Forschung hat nicht zuletzt zur genaueren Bestimmung der Rolle bei­ getragen, die die Vertreter eines rationalen Humanismus unter den Freimaurern, den Illuminati oder den Rosenkreuzlern für die kohärente Meinungsbildung von an sich disparaten gesellschaftlichen Gruppen spielten. Die zumeist rituell mehr oder minder gebundenen, deshalb politisch suspekten Organisationen mit ausgesprochen kosmopoliti scher und antispekulativer Tendenz trugen i n den deutschen Ländern entscheidend zur Entwicklung einer effektiven l iberalen Gesinnungsgemeinschaft bei, in der sich feudale wie bürgerliche Vertreter in progressiver Diskussion zu91

sammenfanden. Nicht nur Friedrich der Große, Lessing, Lenz, Wi eland, Goethe, Herder, Fichte, Haydn und Mozart, sondern zahllose weniger bedeutende, aber im Stillen wirksame Gestalten gehörten diesen einflußreichen Verbänden an. Ich betone die Bedeutung der empiri schen Forschung für die neuerdings evident gewordene Vtelschichtigkeit der " klassischen " Epoche, weil nicht zuletzt gerade sie zu einer vorurteilslosen Abschätzung des Einflusses der wichtigsten ausländi schen Theoretiker auf das literarische Leben geführt hat. Roland Mortier, z. B. hat mit bewundernswerter Detailkenntni s den sozialen und literarischen Kontext von Dide­ rots Wirkung auf die deutschen Schriftsteller vor und nach der Revolution rekon­ struiert. Diderots philosophische Essays, die deutsch zuerst 1 774 vorlagen, wurden weithin beachtet und bestimmten, z. T. durch die Vermittlung Lessi ngs, die Entste­ hung deutscher Theorien der dramati schen und erzählerischen Literatur. Als 1798 die umfassende fünfbändige deutsche Ausgabe von Diderots Werken und schließlich 1 805 Goethes Ü bersetzung von " Rameaus Neffe " erschien, boten diese Schriften den wichtigen Anlaß zur Ü berprüfung des Anteils der französischen Intellektuellen an der Revolution. Diderot war es j edenfalls, der, nachdrücklicher als irgendein anderer französischer Schriftsteller, durch seine Betonung des Zusammenhanges von Reflexion und politischem Handeln j ene starken, wenn auch lokalen jakobi­ nischen Sympathien unter den engagierten deutschen Publizisten legitimierte. Der Beitrag Rousseaus zur allmählichen Konsolidierung des zeitgenössischen deutschen Selbstbewußtseins ist eigentümlicherweise bisher noch kaum zureichend unter­ sucht worden. Wir wissen, wie leidenschaftlich er von der Sturm-und-Drang-Genera­ tion gelesen wurde: Herders Werk wird vom Anfang bis zum Ende von Rousseau gestützt. Wir wissen, wie wesentlich Rousseaus Denken gerade für Kant war und wie weit Fichtes zunächst radikal-spekulativer Subjektivismus davon geprägt wurde. Es ist aber immer noch nicht recht deutlich, welche Wi rkung Rousseaus politische Schriften auf die deutsche Haltung gegenüber der Revolution ausübten. Gewiß geht es aufRousseausche Gedankengänge zurück, wenn so unterschiedliche Vo rstel­ lungen von der Funktion der Dichtung, wie sie von Schiller und Hölderlin behauptet wurden, davon ausgingen, daß eine Erneuerung der Gesel lschaft nicht durch di rektes politisches Handeln oder, im Sinne Diderots, durch die revolutionäre Anwendung naturwissenschaftlicher oder technologischer Einsichten erzielt werden könne. Allein ein im Bewußtsein der Modernität wiederhergestellter Zustand der " Un­ schuld " und der immer wieder beschworene Wille zur Tugend boten Aussicht, die deutsche Zersplitteru ng im sozialen wie i m geistigen Gefüge zu überwinden. Ge­ dankengänge Rousseaus waren es zweifellos, die 1 794 Schillers programmatischen Versuch " Über die ästhetische Erziehung des Menschen " rechtfertigten, j enes Pro­ gramm, das, im vollen Bewußtsein der Unzulänglichkeit der Gegenwart, in radikalen Begriffen eine nicht-aktivistische, ja anti-revolutionäre Utopie skizzierte, in der Herren und Diener im Moment der äußersten kulturellen Krise gleichermaßen auf ihr " natürliches " , ihr authentisches Selbst verwiesen werden. 92

Rousseausche Thesen, so viel scheint sicher, g�wannen an Legitimität nicht zuletzt dadurch, daß sie in den starken Strom pietisi:i's chen Sektierertums eingegliedert wurden. In dieser Bewegung eines anti-orthodoxen Protestantismus trafen zwei Formen der subj ektiven Bemühung um verstärkte Teilnahme am sozialen Prozeß zusammen - beide übrigens motiviert sowohl von feudalen als bürgerlichen In­ teressen. Die eine rechtfertigte die Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in religiösen Begriffen: beeinflußt von Jeremy Taylor, Richard Baxter und Bunyan, formulierte diese mehr aktivistische Richtung ein streng puritanisches Arbeitsethos und zielte in straff organisierten Schulen und Gemeinschaften in Deutschland und der Diaspora (etwa Pensylvania oder Georgia), auf die Wiedergeburt des Menschen, den homo novus. Die andere, für die Struktur der deutschen Klassik wohl wichtigere Form pietistischen Denkens war im entgegengesetzten Sinne innerweltlich und my­ stisch in ihrer Grundüberzeugung, und dualistisch insofern, als der Christ die Leiden dieser Welt auf sich nehmen und in elementarem Glauben die Zeit der g roßen Wende erwarten sollte. Diese mehr introspektive Haltung wurde vor allem von zwei ungewöhnlich produktiven und wirksamen schwäbischen Theologien, Oet­ tinger und Bengel, gefo rdert, deren hermeneutische Arbeiten im Geiste der philo­ sophia sacra, einer Mischung aus böhmischer Mystik, naturphilosophischer Speku­ lation und swedenborgischem Vertrauen auf die " neue Kirche " , ihrejungen Schüler, Schiller, Hegel, Schelling und Hölderlin weitgehend beeinflußten. Ihre Wirkung auf Hölderlins Dichtersprache ist offensichtlich; erst neuerdings hat man erkannt, wie folgenreich sich ihr Hinweis auf das " alte Gesetz " in Württemberg und anderen protestantischen Staaten für die mehr oder weniger offene Kampfansage gegen absolutistische Machtansprüche auswirkte. Nahezu alle deutschen Schriftsteller, die sich im Jahrzehnt vor dem Ausbruch der Revolution um eine Än derung der politischen und sozialen Verhältnisse bemüh­ ten, sympathisierten mit pietistischem Gedankengut. Zweifellos ist auf pietistische Erfahrung auch die Flut von " Wiedergeburtsschriften " zurückzuführen - j ene oft erschütternden Zeugnisse exemplarischen christlichen Ringens um inneren Frieden, die in der Nachfolge ähnlicher englischer Autobiographien zunächst zu den populären Erzählungen pesönlicher Erleuchtung und geistlichen Trostes, schließlich zu umfassenden und schonungslosen psychologischen Romanen hin­ führten. III. Zu lebhaften und oft parteilich motivierten Diskussionen hat vor allem die Frage nach ·dem Verhältnis der deutschen philosophischen und religiösen Strömungen zum politischen Denken und Handeln während der letzten Jahrzehnte des Jahr­ hunderts geführt. Von allen pro-revolutionären literarischen Manifestationen der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftl ichen Ordnung schien die Protestbewegung des 93

sogenannten Sturm und Drang bei aller Un deutlichkeil ihrer intellektuellen und ästheti schen Ü berzeugungen, in den sechziger und siebziger Jahren ein beträcht­ liches Maß an i nnerem Zusammenhange und polemischer Stoßkraft aufzuweisen. Die Gesinnungsbekenntnisse der Sturm-und-Drang-Dichter bieten zweifellos cha­ rakteristische Zeugnisse der Unruhe und des mehr instinktiven als differenzierten Widerstandes; von einer i rgendwie kohärenten Bewegung kann aber kaum die Rede sein. Weder nach Herkunft noch nach Bildungsho rizont läßt sich in strengem kri­ tischem Sinn unter den ähnl ich gesti mmten Schriftstell ern ein grundsätzliches Zielbewußtsein erkennen. Die philosophischen, literarischen und kulturpolitischen Erfahrungen der Generation stellen gewiß thematisch und formal einen gemein­ samen Nenner her: der Rousseausche Kulturpessimismus, populistische Sym­ pathien, die Apotheose nationaler Mythen, der hi storische Relativismus, den Her­ der von Montesquieu übernahm, die laute Proklamation des " Enthusiasmus " und des radikalisierten Geniebegriffes, die Formulierung aller dieser Energien in einer dynam isierten dichterischen Sprache, einer eher dithyram bischen als durchdach­ ten ästheti schen Theorie, die vermeintlich naive Lektüre Homers und Pindars alles das sind Signaturen einer Absicht, die gesellschaftliche Unzulänglichkeit durch impulsive Angriffe auf die höfische Rokoko-Kultur nicht so sehr zu artiku­ l ieren, als pathetisch zu demonstrieren. Die neuere Forschung hat in diesen Äußerungen des Wi derstandes gegen eine in Routine entwertete Tradition eher die grundsätzliche Kontinuität aufklärerischer Prämissen nachweisen und i hren oft behaupteten vorromantisch-subj ektiven Cha­ rakter widerlegen können. Sowohl Lukacs als auch mehr formal interessierte Kritiker der Poetik und Rhetorik des Sturm und Drang haben gerade die prinzipiell konser­ vative und unhistorische Gesinnung hinter der vielfach beschworenen Dokumen­ tation vergangener Größe und gegenwärtiger Unmenschlichkeit aufgezeigt. Fern von j eder systematischen Dramaturgie lag es den Sturm-und-Drang-Schrift­ stellern vor allem daran, die exzeptionelle Figur in ihrer mythi schen Größe als heroisches Gegenbild den paralysierenden sozialen Mechanismen der Zeit entge­ genzustellen. Es bestand nur gelegentlich - etwa bei Lenz - Interesse an jener subtilen psychologischen Analyse, mit der Lessi ng oder Goethe die schematisierte Spannung zwischen einem prometheischen Helden und der unzureichenden Ge­ genwart zu differenzieren suchten. Die Literaturtheorie F. M . Kii ngers, H . L. Wag­ ners, F. Müllers oder auch J. M. R Lenz' hat kaum originelle Züge, ja, es ist nicht überraschend, daß das frühe Werk des j ungen Schiller, der in seinen " Räubern " das anklagende Pathos der Gruppe am konsequentesten vertrat, aus Erfahrungs­ und Denkimpulsen einer weit zurückgreifenden barocken Tradition abgeleitet wer­ den muß. Fast zehn Jahre jünger als Goethe ha�te Schiller zum Abschluß seiner Schulzeit einen eigentümlichen Di skurs über die Beziehung der animalischen zur geistigen Natur des Menschen verfaßt: ein Zeugni s für sein Interesse an pathologischen 94

Zuständen und der pietistischen Grundstimmung seiner Erziehung. Dieser Dualis­ mus, der die Voraussetzung für Schillers gesamtes Werk als Historiker, Dramatiker und Kulturkritiker bleiben sollte, ist in seinem Frühwerk unverkennbar. Die Räuber, sein erstes Stück, wurden begonnen, als er noch auf der Schule war, veröffentlicht trotz allerlei offizieller Bedenken, und schließlich 1 78 1 aufgeführt als erste Dar­ bietung der Karnevalszeit Thema ist die melodramatische Begegnung zweier Brüder, der eine krankhaft böse, der andere in Rousseauscher Verachtung ftir eine Gesellschaft, in der Korruption durch die Macht der Konvention gedeckt wird, zum Leben unter Banditen und outcasts getrieben. Dieses fast Brechtische Konzept wurde das Modell für eine von Schiller i mmer wieder geleistete moralische Anstren­ gung, durch die mit überwältigendem rhetorischem Elan die Spannung zwischen einer inhärent destruktiven Natur und den verfügbaren kulturellen und intellek­ tuellen Energien der geistigen Existenz überbrückt werden sollte. In der älteren Kritik wurden Die Räuber und das darauffolgende Drama Kabale und Liebe als Herausforderungen der obsoleten despotischen Ordnung durch ihre un­ schuldigen Opfer verstanden; zutreffender erscheint uns heute eine Interpretation, nach der sich in Schillers Denken der Konflikt zwischen einem defizienten mensch­ lichen Wesen und dessen immanenter Hoffnung auf eine Ü berwindung dieses Zustandes nur durch lyrischen Utopismus oder die Behauptung mythischer Größe lösen läßt. In Schillers frühen Stücken und poetischen Versuchen wird diese Problematik immer wieder apostrophiert; aber erst als Historiker gelang ihm die manichäische Deutung der Weltgeschichte als Gerichtshof, vor dem die Großen wie die Unbe­ deutenden sich entweder dem letzten Urteil unterwerfen müssen, oder auf Gnade hoffen durften. Die Französische Revolution mußte in dieser Sicht als die große " " Krise einer Zeit verstanden werden, deren moralische, nicht etwa nur soziale oder wirtschaftliche Züge, in ihrer ganzen Negativität zu begreifen waren - eine Vorstellung übrigens, die Schiller mit den beredten Apologeten der Revolution in Amerika und Frankreich, mit Thomas Paine oder dem Abbe Reynal teilte. Für ihn war es evident, daß die Revolution in erster Linie die Möglichkeit bieten müsse, in Freiheit jenen Zustand der Unschuld zu behaupten und wiederherzustellen, in dem lähmende Klassenunterschiede nicht mehr bestehen. Es war eine durchaus sinnvolle Anerkennung Schillerscher Intentionen, seiner Apotheose der Freiheit in einer weltbürgerlichen Gesel lschaft, wenn ihn 1 792 die Französische National­ versammlung (als 'Je sieur gille, publiciste allemand') zusammen mit Klopstock, Campe und Pestalozzi, George Washi ngton und dessen Adjutanten Kosciuszko zum Ehrenbürger der Rep ublik machte. Begeisterung für die Ansätze der Revolution wurden bekanntlich von der Mehrzahl der deutschen Intellektuellen und Schriftsteller geteilt: Kant und Herder waren ihre einsichtigsten Fürsprecher. Im Entwurf seiner Humanitätsbriefe sprach Herder 95

ausdrücklich in rel igiösen Begriffen - vom wichtigsten Ereignis der europäischen Geschichte seit der Einführung des Christentums und der Reformation. Er stand damals noch nicht in Beziehung zu den Mitgliedern der jakobinischen Gruppen, die sich an verschiedenen Orten des Rheinlandes bildeten. Die Tätigkeit dieser wich­ tigen Träger revolutionärer Gesi nnung ist in letzter Zeit umfangreich und zuverläs­ sig belegt worden . Von ihnen gi ngen kompromißlose Veröffentlichungen z. T. ephemerer, aber unmittelbar anregender Art aus, in denen aristokratische Mißwirt­ schaft belegt und zum gemeinsamen Handeln des mittl eren Bürgertums aufgerufen wurde. Dieses jakobini sche Element im deutschen Erleben und Schrifttum der Zeit mag früher übersehen, heute gelegentl ich überschätzt worden sei n ; es ist von gewisser Bedeutung für Hölderlins Werk, unverkennbar i n einem so einflußreichen Schrift­ steller wie Georg Forster und sicherlich ein entscheidender Impuls für die Jugend­ schriften der Brüder Schlegel . Andererseits kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Fortgang der Revolution und die Feldzüge von 1792 und 1793 die deutschen Vertreter eines politisch realisierbaren Glaubens an Freiheit, Gleichheit und Humanität, an Ü berbrückung der Klassengegensätze und an die Aussicht auf neue Formen sozialen Lebens zu einer Än derung der Taktik und zu dem Entschluß zwingen mußten, die verfügbaren, aber verdeckten rel igiösen und spekulativen Impulse zu säkularisieren und zu aktivieren. Die durchaus auf der Hand l iegende Furcht vor radikalen und fanatischen Forderungen nach Refo rm, vor abstrakten und p raxisfernen Angriffen auf die b estehende Ord nung ließ in Weimar, einem an sich reformbereiten Herzogtum, die Gedanken eines gegenrevolutionären Kulturpro­ grammes aufkommen, für das sich in erster Linie Schiller, mit weniger Konsequenz auch Goethe, während des entscheidenden napoleonischen Jahrzehnts systemati sch einsetzte.

IV. In der Zeit der politischen Umwälzungen hatte sich in Weimar an der höfischen Struktur nichts geändert ; nach wie vor war das gemeinsam verfolgte Ziel eine verfassungsmäßig sanktionierte Regierungsform. Goethe, längst die überragende Figur des deutschen literari schen Lebens, teilte als einer der einflußreichsten Beamten des Hofes nur mit betonter Zurückhaltung die an den Herzog und seine Berater herangetragenen liberalisierenden Vorstellungen. Er hatte längst den zwei­ felhaften Ruhm überlebt, im Werther nicht so sehr die Defizienz einer bestimmten Klassenordnung, als ein Mißbehagen gegenüber der Konvention überhaupt aufge­ zeigt zu haben. In den achtziger Jahren hatte er die Ansätze zu einem Roman, Wi/helm Meisters theatralische Sendung, und ein Tasso-Drama skizziert, in d enen der Konflikt, den er i n sich selbst erfahren hatte, zwischen dem Anspruch ei ner apolitischen Subj ektivität und deren Unterordnung unter ein selbstbewußtes abso96

lutistisches System wenigstens einen wichtigen thematischen Asp ekt bot. Er hatte Weimar 1786 abrupt verlassen, war nach zwei reichen Jahren in Italien mit dem Gefühl einer neu bestätigten i nneren Verpfli chtung zurückgekommen, nicht so sehr gegenüber politischen (oder auch dichterischen) Forderungen, sondern gegenüber der Aufgabe, eine naturwissenschaftliche oder immerhin naturphilosophische Grundlage zu schaffen, aus der sich menschliche und gesellschaftliche Ord nungs­ kategorien und Verhaltensformen ergeben sollten. Als er Schiller i n den frühen neunziger Jahren begegnete, waren es nicht i n erster Linie ästhetische als vielmehr kulturpolitische Fragen, die sie beide beschäftigten. So skeptisch er auch aus der Ferne Schillers einigermaßen abstrakte Denkweise beurteilt hatte, so spontan war j etzt seine Zustimmung zu Schillers Bemühen, die leidenschaftlich empfundene gesellschaftliche Krise begrifflich zu konkretisieren, die die Revolution zwar aufgedeckt hatte, die aber, j edenfalls für die Entwickl ung einer zukünftigen deutschen Gesellschaft zureichende philosophische Analysen und, über die bloße Beschreibung hinaus, ein exemplarisches anthropologisches und soziologisches Konzept verlangte. Goethe und Schiller waren sich einig i n der Ü berzeugung, daß die französische Erhebung historisch verfrüht stattgefunden habe, und daß in Deutschland der durchaus wünschenswerten Veränderung des Verhältnisses von Adel und Bürgertum, von Besitz und Macht ein g rundsätzlicher individueller und kollektiver Rei feprozeß vorangehen müsse. Schillers spekulativer Intensität schienen für dieses Bildungsprojekt Literatur und Theater die geeigneten Instrumente; Goethe, weniger streng in seinem philosophi schen Habitus, plante beweglicher und empi ri scher. Urban und konziliant von Natur,war er j etzt eher ge­ neigt, Skepsis und Zustimmung i n der Schwebe zu halten. Beide teilten die Bewun­ derung für gewisse Aspekte antiker Lebensformen : für beide war Winckelmann das große Vorbild gewesen, beide schätzten die Arbeiten d eutscher und englischer Philologen. Jetzt nun galt es, die Substanz des klassischen Erbes nicht einem höfischen Kreis, sondern der bürgerlichen Mittelklasse, die über kurz oder lang die politische Verantwortung würde teilen müssen, zu vermitteln. Das zu entwer­ fende " klassische " Programm konnte sich nicht etwa auf die traditionelle normative Kunst- und Verhaltenslehre stützen, sondern mußte von den philosophischen, ge­ sellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erfahrungen ausgehen, in denen sich das spezifisch moderne Bewußtsein konstituierte. Schon vor ihrer Zusammenarbeit an einer Reihe von kurzlebigen Zeitschriften und am Weimarischen Theater hatte Schiller 1 793 in einer Reihe von p rogram­ matischen " Briefen " an einen seiner Gönner seine Gedanken zu Kants Kritik der Urteilskraft entwickelt. Anknüpfend an die Schlußparagraphen des Kantschen Werkes, hatte er die Ü berzeugung ausgesprochen, daß allein die Artikulierung der ästhetischen Sensibilität zur politischen Rei fe und der Verwirklichung einer neuen Gesellschaft führen könne. Er lehnte jetzt die Revolution ab und ließ keinen Zwei fel an seiner Abneigung gegenüber den jakobinischen Sympathisanten. Die 97

" Ä " sthetischen Briefe sind unvergleichlich reich an kritischen Einsichten; sie bieten nicht nur eine moderne Poetik, sondern eine umfassende Analyse der zeitgenös­ sischen Kultur. Die hervorragend kommentierte englische Ü bertragung von E. M. Wilkinson und L. Willoughby läßt keinen Zweifel an der zentralen Bedeutung dieses Werkes für ein zureichendes Verständnis der deutschen Klassik. Goethe schien der Essay in seiner strengen Gedankenführung nicht recht kongenial und in seinem abstrakten Begriffsschema eher unsympathisch. Seine eigene Denk­ weise war von j eher pragmati sch gewesen; seine unmittelbaren ministeriellen Ver­ pflichtungen verlangten jedenfalls konkrete Kategorien. Wenn es galt, zu systemati­ sieren, dann konnten einsichtige Verallgemeinerungen über das menschliche Ver­ halten nur aus seinen naturphilosophischen Bemühungen abgeleitet werden. Trotz­ dem war er bereit, gemeinsam mit Schiller nicht nur die Anhänger der Revolution, sondern g rundsätzlich alle Äußerungsformen eines modernen spekulativen Den­ kens anzugreifen, die des Berliner Rationalismus ebenso wie die jenes christlichen Spiritualismus, der i n verschiedenen Teilen Deutschlands spürbar wurde. Die Themen, die in den zwei klassizistischen Zeitschriften, in Schillers " Horen " und Goethes " Propyläen ·: z. T. auf Grund des vorherigen brieflichen Gedanken­ austausches und lebhafter persönlicher Diskussionen behandelt wurden, berührten politische Fragen nur indirekt; wichtiger und prinzipieller waren die Versuche, in systematischer Folge kritische Modelle des literarischen Urteilens zu entwickeln und damit die Funktion von Kunst und Literatur in einem Moment revolutionärer Verunsicherung aller sozialen und intellektuellen Voraussetzungen zu klären. For­ male Maßstäbe allein konnten die Literatur als Institution rechtfertigen ; vordring­ liche Absicht war es deshalb, eine geschichtliche Theorie der poetischen Ko nven­ tionen zu schaffen. Denn nur durch Konventionen konnte, nicht anders als in der Theologie oder der Rechtspraxis, eine wünschenswerte institutionel le Kontinuität gesichert werden. In d iesem Sinne bedeuteten die zentralen Reflexionen über litera­ rische Gattungen weit mehr als ein bloßes Interesse an technischen Problemen; es sollte vielmehr nachgewiesen werden, daß ein poetologisches System sich nicht so sehr aus geoffenbarten Wahrheiten als aus modernen anthropologischen Prämissen ableiten lasse. Epische, lyrische und dramatische Gattungsbegriffe müssen als "Na­ turformen " verstanden werden, die gewissen menschlich-dichterischen Haltungen entsprachen und als Gesten der Sensibilität projiziert werden. Kein Zweifel, daß es hier nicht um die Aufstellung normativer Gesetze, sondern wesentlich um Fra­ gen der öffentlichen Wirksamkeit von Kunst und Literatur ging. Geltung und Nutzen d er Gattungsdiskussion wurden in einer Reihe von entspre­ chend entworfenen und konstruierten Werken konkret demonstriert; denn gerade der Erfüllung konsequent durchdachter und in modernen Begriffen gerechtfertigter Konventionen mußte eine zureichende Analyse der eigenen historischen Situation vorangehen. In Wilhelm Meister, dem intendierten Prototyp eines zeitnahen Romans, 98

konnte deshalb das Fortschreiten der epischen Handlung nicht in vordergründig aktuellen Ereignissen vollzogen werden, sondern nur durch ein einigermaßen künst­ liches System utopischer Alternativen, denen gegenüber die rezeptive und offene Person Wilhelms soziale Einsichten gewinnt, die die wünschenswerte Verbindung von adeligen und bürgerlichen Qualitäten als j edenfalls vorstellbare Fiktion recht­ fertigen. Abgesehen von einer Fülle essayistischer Studien, beschäftigten zwei historische Gestalten den Dramatiker Schiller: Wal lenstein und Maria Stuart. Als 1 7 9 1 die Arbeit an Wallenstein begann, sympathisierte er noch stark mit der Französischen Revolution: der große Feldherr war konzipiert als revolutionäre Figur, die als Gegner derj esuitischen Machtpolitik die Integrität in Freiheit verkörperte. Maria Stuartsoll­ te in ähnlichen Gedankengängen das Intrigenspiel des katholischen Feudalismus gegen den aufgeklärten Staat der Elisabeth behandeln. W. Harich hat gezeigt, daß in den neun Jahren des Nachdenkens über diese Stoffe sich Schillers Sicht grundsätz­ l ich veränderte : i n beiden Entwürfen verschoben formali sti sche Erwägungen das Schwergewicht von einer Apotheose der Freiheit zu einer Schicksalstragödie, in der fragwürdige Charaktere durch Konstellationen zu Fall gebracht wurden, die weder historisch noch moralisch bedeutsam sind. Form als zwingende Demonstration des Willens zur geistigen Verfügung über die zufällige Wirklichkeit - dies war die eine Stütze der kulturphilosophischen Strategie Schillers ; die andere war eine Ge­ schichtstheorie, die, ausgehend von frühen theologischen Studien, an der i mmer wieder erwiesenen Hybris des Menschen gegenüber einem erbarmungslosen Ge­ schick festhielt Vor dem letzten Urteil konnten nur die höchsten ethischen und i ntellektuellen Bemühungen des Menschen Gehör finden. Die drei Kritiken Kants schienen Schiller in modernen philosophischen Kategorien diese fast barocke Einschätzung der menschlichen Bewährung großartig zu bestätigen. Es gehört zu den " revisionistischen " Einsichten der neueren Klassik-Forschung, daß der Widerspruch gegenüber den esoterischen und in mancher Hinsicht ahistori­ schen Thesen Goethes und Schillers zunächst in Weimar selbst laut wurde. Herders Theologie und Geschichtstheorie ließen sich mit den klassizistischen Forde rungen nicht vereinbaren : denn was dort als fragwürdige und in ihrer Zufälligkeit zu übetwindende historische Episode galt, war ftir Herder Ausdruck einer unendlich vielfältigen Potenz der Geschichte und jedenfalls Anlaß, die menschliche Bereit­ schaft zu individuellem Gestalten der jeweiligen Situation immer wieder zu beweisen. Während Goethe und Schiller kollektives und politisches Handeln als verfrüht und zunächst aussichtslos ablehnten, sah Herder gerade in dieser Form der histo­ rischen Teilnahme die Möglichkeit, den Fortschritt des Selbstbewußtseins, und die Verwirklichung des nationalen Beitrages zur übergreifenden Geschichte der Menschheit zu fördern. Daß der Gegensatz zwischen Herder und Goethe und 99

Schiller kaum zu überbrücken war, geht aus einem Brief Schillers (4. November 1 795) hervor, in d em er die Ablehnung eines Herdersehen Beitrages zu den Horen rechtfe rtigt. Herder, so meinte Schiller, sei wohl der Ü berzeugung, es müsse der Schriftsteller die konkrete Wirklichkeit der Zeit reflektieren ; aber gerade diese These sei falsch : " Es läßt sich " , schreibt er, " wie ich denke, beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, rel igiöses, wissenschaftl iches Leben und Wi rken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. Diese Ü bermacht der Prosa in dem Ganzen unseres Zustandes ist, meines Dünkens, so groß und so entschi eden, daß der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, notwendig davon ange­ steckt und also zugrunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poeti schen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstaU jener Koalition, die ihm gefährl ich sein würde, auf die strengste Separa­ tion sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, daß er seine eigene Welt formiere und durch die griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, das ihm die Wirklichkeit nur beschmutzen würde. " Einen so konsequenten Ästhetizismus mußte Herder als kalt und unmenschlich empfinden. Nicht wenige Zeitgenossen waren auf seiner Seite, unter ihnen Jean Paul, dessen Titan die quasi-aristokratischen Prätentionen des Wilhelm Meister ein­ deutig in Frage stellte. Jean Pauls Romane wurden schon damals als Meisterwerke detai lli erterund ironischer Darstellung des bürgerlichen Verhaltens gegenüber einer bedenklich manieristischen höfischen Umwelt verstanden, kompromißloser und einsichtiger als die Vorstellungen von zeitgenössi schem Leben, die die Strategie Goethes und Schillers zu rechtfertigen schienen. Wohl i rrte Jean Paul, wie auch Herder selbst, wenn er auf der Realitätsblindheit der Klassik betand. Trotz ihrer Ablehnung der Folgen der Revolution waren Goethe und Schiller durchaus bereit, die politi sche Bedeutung des Bürgertums für eine progressive Entwicklung der deutschen Gesel lschaft anzuerkennen ; allerdings einer Art des bürgerlichen Den­ kens, die im Sinne der Girondisten frei von wirtschaftlicher Ausbeutung die poli­ tische Rolle der aufgeklärten und an Macht beträchtl ich reduzierten Aristokratie übernehmen sollte. V. Während Schiller nach 1 794 nahezu konsequent auf einem formalistischen Ästheti­ zismus als Vorbedingung künftiger politi scher Rei fe bestand, hielt Goethe während des klassischen Jahrzehnts, etwa der Jahre des directoire, am Vorrang naturwissen­ schaftlicher vor ästhetischen Ordnungsprinzipien fest. Beschäftigung mit der mo­ dernen Naturwissenschaft war offensichtlich auch da, wo sie seinen eigenen Ü ber­ zeugungen nicht entsp rach, die wirkungsvollste Voraussetzung nicht nur für j ede individuelle Bildung, sondern für die Entwicklung moderner sozialer Institutionen. Der naturwissenschaftliche Verkehr mußte übergreifende gesellschaftl i che Formen 1 00

schaffen, die kosmopolitisch nicht nur in einem esoterischen Sinn waren, sondern zu konkreten politischen Konsequenzen führen würden. Er war überzeugt davon, daß der moderne Wissenschaftsbetrieb mit seinen übernationalen Kommunikations­ prozessen die Universalistischen Tendenzen des vergangenen Jahrhunderts, die Konzentration auf rel igiöse und metap hysi sche Spekulationen durch neue, zeit­ gemäße Denkkonzepte ablösen müsse. Gerade hier liegen die entscheideneo An­ sätze für das Verständnis von Goethes kulturpoliti schen Bemühungen um die Jahr­ hundertwende. Im Rückblick auf seine eigene Entwicklung begriff er die vorläufige Rolle j ener frühen proto-wissenschaftl ichen Interessen, die sich aus pieti stischen Impulsen herleiten l ießen: die Sturm-und-Drang-Metaphorik einer Naturp hilo­ sophie, die sich im genialen Nachfühlen kaum begreifbarer Phänomene erfüllte, hatte ihn für kurze Zeit fasziniert. Aber selbst in diesen anfänglichen Gedanken­ gängen war er weit davon entfernt gewesen, einem Erkenntnismodell etwa von der Art des vielgelesenen englischen Dichters Cowper zuzustimmen, der in Newton den " " sagacious reader of the works of God erkennen wollte, oder gar der Formel von James Thomson, der in Newton den Geist begriff, den " God to mortals lent to trace her (i.e. nature's) boundless works " . Sein unerb ittlicher, bis zur Absurdität behaupteter Widerstand gegenüber Newton muß symbolisch als Spiegelung zwei er prinzipieller Positionen verstanden werden, die unter dem Druck revolutionärer Erfahrungen gerade zu einer Zeit energisch verteidigt wurden, für die die Frage nach dem Verhältni s von Naturwissenschaft und Sozialpolitik im Zentrum der Diskussion stand. Goethe konnte nur schließen, daß, insofern die Newtonsehe Physik nicht auf empirischen, sondern auf mathe­ mati schen Prämissen beruhte, der Sinn seiner eigenen Praxis. konkreten Beobach­ tens und Reflektierens aufgehoben sei. Ü ber diesen - irrtümlichen - Schluß hi naus aber glaubte er Anlaß zu der prinzi­ piellen Befürchtung zu haben, daß ein Newtonsches Wissenschaftsverfahren in sei­ ner abstrakten Tendenz die Forschung von j eder moral ischen Verantwo rtlichkeit gegenüber ihren Resultaten und Folgen befreien müsse. Er sah mit tiefstem Unbe­ hagen voraus, daß im Vollzug N ewtonscher Theorie eine Diskussion über Farben von blinden Physikern geführt werden könne. Seine eigene Farbenlehre beruhte weitgehend auf p hysiologischen Beobachtungen und der Wi chtigkeit des Sehens für j ede Art naturwissenschaftlichen Vorgehens. Die Farbenlehre ist eine Morpho­ logie des Sehens und des relativierenden Verhaltens im Akt der Erfahrung. Sie ist in keinem Sinne zu verwechseln mit einer physikalischen Optik, wie sie Newton fol­ genreich begründete. Gerade von einem ineinandergreifenden Prozeß von spezi­ fischer Beobachtung und ihrer Artikulation im Reflektieren ging nicht nur Goethes naturwissenschaftliche sondern vor allem seine poetologische Praxis aus. Immer i ntensiver b eschäftigte er sich um die Jahrhundertwende und in den folgen­ den Jahren der politischen und geistigen Unruhe mit der Geschichte der Natur101

Wissenschaften, die zweifellos den Schluß zuließ, daß wissenschaftliches Forschen nicht nur zuverlässigere sondern auch zeitgemäßere Urteilsformen des Denkens bot, als alle religiösen oder politischen Spekulationen. Aus der Beschäftigung mit der Wissenschaftsgeschichte ergaben sich für ihn überraschend anregende anthropo­ logische Kategorien; darüber hinaus aber entstand ein Horizont von Stabilität und Progressivität, der weit über die unmittelbaren Forschungsergebnisse hinausging. Als ein Ordnungssystem übertraf das wissenschaftliche Vorgehen j edenfalls alle angebotenen politischen Theorien. Der zentrale Begriff der morp hologischen Evo­ lution ermöglichte ihm deskriptive und instrumentale Modelle von so eminent folgenreichem Nutzen für seine anthropologischen, soziologischen und dichte­ rischen Interessen, daß der enorme Aufwand an Zeit und Energie, den er seinen naturwi ssenschaftlichen Studien widmete, durchaus sinnvoll schien. Auch in die­ sem Begriff war für ihn die Konti nuität der vorhergegangenen Forschungen pro­ duktiv und zwingend enthalten. Die Wissenschaftsgeschichte rechtfertigte wenigstens einen vorsichtigen Glauben an den Fortschritt. Politische Geschichte war wenig mehr als eine bedenkenswerte aber willkürliche Konstruktion. Die Geschichte wissenschaftlicher Einsichten da­ gegen kann nur verstanden werden als eindrucksvolle Kette von Versuchen und Irrtüm ern, von unablässigem Bemühen, dauerndem Ü berprüfen, Verwerfen und Ve rwenden. Seine eigene kenntnisreiche und abwägende Darstellung der Beiträge zur Geschichte der Farbenlehre bestätigte seine nüchtern optimistische Sicht. Ge­ rade di eser historische Ü berblick hätte als Gegenargument gegen Schillers abstrakt eschatologische Deutung der Geschichte gelten können.

VI .

Jede angemessene Abschätzung von Goethes Anteil an der " klassischen Epoche " der deutschen Literatur muß von der Tatsache seiner Bereitwill igkeit ausgehen, jenen späteren H egeischen Satz anzuerkennen, nach dem die Zeit der Dichtkunst vorüber sei - einer Art von Dichtung jedenfal ls, die sich allein aus subj ektiven Impulsen, ohne ein Wissen um die Ein sichten der zeitgenössi schen Naturwissen­ schaften glaubte rechtfertigen zu können. Er hoffte - im Sinne der Aufklärung daß die Naturwissenschaften auf Grund ihrer notwendigerweise kosmopolitischen und übernationalen Kommunikationsformen über kurz oder lang eine Institution darstellen müßten, die - ähnlich wie die Weltliteratur - den Forderungen der modernen Welt entsprachen. Die auf das transzendierende Selbst der Romantiker bezogene Erkenntnisweise war, wie er später i n einer Notiz über " forcierte Talente" andeuten sollte, weiter von einem Verständnis der zeitgenössischen und der kom­ menden, der " veloziferischen " , Realität entfernt, als die Hypothesen der Biologen, Physiologen und Mineralogen, die sich jedenfalls über die zivilisatorischen Folgen i hrer Arbeit im Klaren waren. Durch die Entschlossenheit, sich nicht aufspekulative 1 02

Denkformen irgendwelcher Art einzulassen, hatte sich Goethes Beitrag zum Wei­ marer Programm von Anfang an von j enem kategorischen ästhetischen Ideali smus unterschieden, der die Schillersehe Kulturtheorie bestimmte. Gewiß war es Schillers radikaler Utopismus, der die politischen Freiheitsbewegungen des 19. Jahr­ hunderts tragen und adeln sollte. Zunächst aber wurde Preussen bei Jena besiegt; wenige Jahre später hatte sich die politische Konstellation entscheidend verändert. Ein patriotischer und kultureller Nationalismus, geprägt von feudalkonservativen und christlichen Ü berzeugungen, ließ das klassische Konzept im besten Fall e als mutiges und alles in allem abwegiges Experiment erscheinen. Unser heutiger Blick auf die kurze aber glanzvolle Phase der europäischen Ge­ schichte hat ihre vermeintliche Einheit differenziert, ihre divergenten Elemente bestimmt und sie als eine der Möglichkeiten begriffen, in d enen sich die zeitgenös­ sische Erfahrung zu verwirklichen suchte. Wir verstehen die " deutsche Klassik" als einen verhältnismäßig i solierten Augenblick von singulärer schöpferischer Dyna­ mik, in dem nahezu alle intellektuellen Alternativen des vergangeneo Jahrhunderts unter dem Druck revolutionärer Ungeduld noch einmal durchdacht werden. Das bedeutende Geflecht von Theorien und Proklamationen, von Bekenntnissen und Spielformen kann und darf aber den eminenten Kanon von Werken höchster dichterischer Intensität und Disziplin nicht verdecken. Dieser Kanon gibt zugleich Zeugnis von einer historischen Strategie, mit der eine seit langem politisch und des­ halb kulturell gehemmte Gesellschaft das Wagnis modernen bürgerlichen Denkens und Handeins vorbereitet, und die innerhalb dieses Zukunftshorizontes die Rolle von Kunst und Literatur in einer Stunde zu sichern sucht, in der die subj ektiven Energien sich von der Wi rklichkeit zu emanzipieren d rohten.

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Gunter Mann Wissenschaftsgeschichte und das achtzehnte Jahrhundert: Probleme der Periodisierung und Historiographie.

" " Wissenschaftsgeschichte , dieses Wort wird viel seitig und vieldeutig gebraucht. Mißverständnisse sind oft in seinem Kielwasser. Was der eine damit meint, hat der andere nicht i m Sinn. Eine Begriffs- und Inhaltsgeschichte läßt sich hier nicht entwickeln. Zur Klärung und zum Exemplifizieren dessen, was ich meine, nur dies: In den Maximen und Reflexionen Goethes heißt es: " Die Geschichte der Wi ssen­ schaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen. " ' Das Nebeneinander der Wissensbereiche, das, was dem Men­ schen darin bekannt geworden, wie er sich dabei und dam it benommen hat, sucht Goethe zu erfahren. Auf Naturwissen vor allem fällt sein Augenmerk. " Die Kultur des Wi ssens durch inneren Trieb um der Sache selbst willen, das reine Interesse am Gegenstand " sind ihm " das Vorzüglichste und Nutzbarste " .' Leopold Ranke unterbreitete 1 858 der Historischen Kommission der Bayerischen · Akademie der Wi ssenschaften in München den Plan einer " Geschichte der Wi ssen­ schaften in Deutschland " . Es sollte dabei ein " Bild von der Tätigkeit des deutschen Geistes " entworfen werden, ein " nationales Werk " , " nicht als Handbuch ftir den Fachmann " , sondern zum " Gemeingut ftir alle Klassen der gebildeten Welt in Deutschland " , " eine im höheren Sinne . . . populäre Darstellung " .' . Rudolf Eisler, der Philosoph ( 1 873 - 1 926), veröffentlichte 1 906 eine Gesch ichte der Wissenschaften, einen Beitrag zur Kulturgeschichte " als Vorbereitung ftir das Studium von Spezial­ werken und einer umfassenden allgemeinen Wissenschaftsgeschichte " .• Übersicht­ lich stellte er nebeneinander, was ihm als Grundgegebenheiten der einzelnen Wis­ senschaften von der Astronomie bis zur Theologie in natur- und geisteswissenschaft­ lichen Distrikten propädeutisch und gültig erschien. George Sarton, der Belgier, der seit 1 9 1 4 in Ameri ka als Wi ssenschaftshistoriker, als Mitglied der Carnegie-Institution in Washington u. a. arbeitete, brachte von 1927 - 1 947 seine dickleib ige, ftinfteilige lntroduction to the History ofScienceheraus, eine Weltgeschichte der Naturwissenschaften und Medizin, aber auch rechtl icher, soziologischer, philosophischer Gegebenheiten, verstanden vor allem aus ihren geistesgeschichtlichen und kulturellen Bezügen. ' Im Grunde, wenn der Ausdruck ohne seine zeitgenössische Fracht mit einschränkender Vorsicht gelten darf, eine spezielle, modifizierte Strukturgeschichte im Bereich einer sich gegenseitig durch­ dringenden Geschichte der Wissenschaften. Mit ausgedehnter, tiefer Gelehrsamkeit 1 05

und Weltkenntnis hat Sarton ein beispielhaftes Werk geliefert. Das isolierte N eben­ einander der Wissenschaften wird hier am ehesten und deutl ichsten gelö st, ein Näherrücken, dann auch Ineinandergreifen der Daten und Prozesse wird sichtbar, wenngleich mächtige Materialanhäufungen mit sich bedrängenden und schieben­ den Schollenstücken eines breiten Faktenmeeres die Oberfläche wesentl ich bestim­ men und die bewegenden ursächlichen Unterströme noch nicht deutl ich genug beobachtet werden können. In den ftinfziger Jahren wird dann unter der Leitung von Rene Taton, Paris, eine französische Histoire generate des sciences in drei Bänden herausgebracht.' Sie ver­ folgt ähnliche Ziele wie jene lntroduction. Die Darstellung wird breiter, fließender, lesbarer, wenn sie auch nicht entscheidend tiefer über das Fachlich- Naturwissen­ schaftliche vor allem hinausgeht. 1954 veröffentlicht Desmond John Bemal seine Science in History. ' Keine " Ge­ schichte der Wi ssenschaft " will dieses Werk sein, vielmehr zeigen, wie die Wi ssen­ schaft - bei näherem Hinsehen sind vorwiegend die Naturwissenschaften, aber nicht nur diese a.l lein, in ihren Komplexen gemeint - entweder über die ökono­ mischen Veränderungen oder vermittelt durch die Vorstell ungen der Herrschenden oder der nach der Herrschaft strebenden Klassen entscheid ende Einflüsse ausübt. Bemal, Physiker, Kristallograph, überzeugter Marxist dabei, stülpt mit viel Scharf­ sinn, aber auch ungeschultem historischem Verstand seine Gedankenschablonen über die Geschichte. Das sind nur einige Beispiele und unterschiedliche Positionen von vielen, die zu demonstrieren wären, die als Geschichte der Wissenschaften, als Wissenschafts­ geschichte, als Wi ssenschaft in der Geschichte bis in die 50er Jahre hervortreten. Genügte die Zeit, ließen sich etliche funkelnde, aber auch schillernde Perlen dieser Art an langer Schnur zu einer bunten Kette aufreihen. Wissenschaftsgeschichte, meist History of Science, als allgemeine Naturwissen­ schaftsgeschichte, in den letzten Jahrzehnten vor allem sich vielfach erweiternd, versucht aber auch andere Wege zu gehen, Namen wie Hans Blumenberg, die Staroberger Gruppe mit Carl Friedrich von Weizsäcker, mit Böhme, van den Daele, Krohn, dann aber auch Michel Foucault, Thomas S. Kuhn, Kar! Eduard Rothschuh, Namen, die zugleich für etliche andere stehen, geben Fingerzeige und Markierungen in divergierenden Richtungen. Theorie der Wissenschaften, Philosophie der Wis­ senschaften, Wissenschaftswissenschaft stoßen d rängender als zuvor in historische Arbeitskreise hinein. Von Naturwissenschaftlern wird dabei streckenweise ein­ seitig historisiert und theoretisiert, das Umgekehrte gilt zugleich. Wenn ich Wissenschaftsgeschichte sage, meine ich zunächst ganz einfach das Mit­ einander und das Ineinander fachhistorischer Disziplinen, der Medizingeschichte, der exakten und der beschreibenden Naturwissenschaften etwa, herausgelöst aus 1 06

i hrer zunftgebundenen Isolierung, Wechselwirkungen mit den übrigen historischen Distrikten, Sozial- und Geisteswissenschaften beobachtend, die in Faktisches, Theo­ retisches, Philosophisches, wo es möglich und nötig ist, zugleich einzudringen wagt. Das ist vorerst und mit Absicht ganz allgemein formuliert. Wenn ich etwas zum achtzehnten Jahrhundert, zur Wissenschaftsgeschichte, sagen soll, muß ich von der Fachhistorie ausgehen, von der Medizingeschichte in meinem Fall, von vorwiegend narrativ-umschriebenen Darstellungen, die ihre Systematik und Perio­ disierung aus i hren Materialien entwickeln. Differenzierungen, komplexe Betrachtungen, Ausweitungen in vertikalen und hori­ zontalen Richtungen treten auch hier hervor. Sie legen Fundamente, erarbeiten Grundlegendes, das Basismaterial gleichsam. Fachgeschichte solcherart öffnet streckenweise zaghaft die Tore zum breiten wissenschaftshistorischen Feld, legt hier und da isolierende Umzäunungen nieder. Ü bergänge zeichnen sich ab. Fachgeschichte

Der bedeutende Vorgänger Carl von Linnes in Frankreich, ein Spezialist der Klassi­ fizierung, war Joseph Pitton de Tournefo rt ( 1 656 - 1 708). Botaniker, Professor und Direktor am königlichen Pflanzengarten unter anderem. Seine Zeitgenossen ver­ standen sein Werk noch nicht. Er glaubte an die Möglichkeit einer natürlichen Klassifikation, daran, daß der menschliche Geist in der Natur eine wirklich beste­ hende Klasseneinteilung wiederfinden könne. ' Bernard Le Bovier Fontenelle ( 1 657 - 1 757), dem philosophischen Schriftsteller und Aufklärer indes, oder auch Rene-Antoine Ferchault de Reaumur, dem Physiker, der auch grundlegende Beiträge zur Zoologie schrieb, ist Klassifizieren nur ein gängiges Mittel, das Studium der Natur zu vereinfachen als Methode der Gedächtnishilfe, eine menschliche Erfindung, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.' Diese Meinung war in Frankreich während des achtzehnten Jahrhunderts verbreitet. Sie macht verständlich, daß Linnes systematisierendes Werk dort nur zögernd akzeptiert wurde. Wir markieren mit diesen Hinweisen zwei gegensätzl iche Möglichkeiten, Materia­ l ien, Prozesse, Zeugnisse und Gestalten eines lebendigen Geschehens zu gruppieren und zugängl ich zu machen. Wer einen Blick in die Systematik medizinisch-natur­ wissenschaftshistorischer Darstellungen wirft, begegnet ähnl ich grob gegensätz­ lichen Auffassungen und ihren Durchmischungen, vor allem deshalb, weil hier j unge Wissenschaften am Werk sind, die ihre Materialien noch nicht gänzlich durch­ drungen haben, die zunächst einmal Ü bersicht im eigenen Distrikt brauchen, ehe sie sich den Feinstrukturen und Wirkkräften zuzuneigen vermögen. Mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erfüllt sich die Pionierzeit der Medi­ zingeschichte. Die Großen jener Epoche, Männer wie Theodor Puschmann, Karl 1 07

Sud hoff, Julius Leopold Page!, um nur diese zu nennen, waren aus der ärztl ichen Praxis gekommen. Ihre histori sche Arbeit bewältigten sie neben anstrengend-ärzt­ licher Tätigkeit. Ihr Denken, ihre Methodik, ihre Interpretationen wurden davo n ent­ scheidend bestimmt. Der historisierende Arzt, noch nicht geschichtsspezifisch aus­ gebildet, beherrschte das Terrain. Bloße Fachgeschi chte, nach besonderen ärzt­ lichen Materialien und Denkweisen erarbeitet, bi etet unsere Literatur lange Zeit. Bescheidene Ausnahmen sind zu registrieren. Dem Medizi nstudenten und seiner Lehre war sie adäquat und ei ngängig. Wer unsere systematischen Darste l l u ngen, Lehr- und Handbücher vor al lem, durch mustert, sieht, wie j ene Maßstäbe entschei­ dend auch Hilfen zur Gliederung und Durchdri ngung des Stoffes li efern. Jüngste Darstellungen noch beharren darauf oder kehren in vermeintlich neuer Weise dah in zurück. Die Stufenleiter di eser Erscheinungen ist vi elsprossig. Um mich verständ­ lich zu machen, weise ich nur auf einzelne Beispiele hin: 1 90 1 begann das erste und eigentliche Handbuch der Geschichte der Medizin, von Th. Puschmann in Wien begründet, von Neuburger und Page! herausgegeben, zu erscheinen.'• Bis zum Mittelalter suchte man eine i n sich gegliederte Gesamtmed i zi n zu beschreiben. Ü ber- und rückgreifende Fachgeschichten, nebeneinandergestellt, der Anato mie, der Physiologie, der Pharmakologie etwa, unterschiedlich präsentiert, detaillieren die Neuzeit. Das achtzehnte Jahrhundert steckt dabei in Einzelschubladen. In sach­ liche Sonderfächer zerteilt, muß es stückweise betrachtet werden. Mit der Sache sind die Autoren vert raut, mit den notwendigen Methoden nicht. Sie sehen und berichten unmittelbar und isoliert über Faktisches, über Oberflächenerscheinun­ gen, ohne nach ihrem Eingebundensein und den m itwirkenden Kräften in Breite und Ti efe zu fragen. Die amerikani sche lntro duction to the History of Medicine von Fielding Hudson Garrison, einem Militärarzt, geschrieben, zuerst 1 9 1 3 erschienen, dann noch mehr­ fach aufgelegt, bri ngt für das achtzehnte Jahrhundert eine ganz und gar personale Geschichte." Der Autor beschreibt aneinandergereiht Leistungen einzelner Ärzte. Nur spärlich ei ngestreut sind Beschreibungen von Sachkrei sen, der Elektrop hysio­ logie etwa, der medizini schen Lexikographie, der Rechtsmedizin. Erst mit einer abschließenden knappen Betrachtung wird versucht, Klammern zu setzen und funktionelle Zusammenhänge deutlich zu machen: " Cultural and social aspects of eighteenth century medicine " , i st dieses Kapitel überschrieben. Karl Sudhoff legt 1 922 ein Kurzes Handbuch der Geschich te der Medizin als dritte und vierte umgearbeitete Auflage ei nes älteren Werkes vor in, wie er schreibt, " strenger hi storischer Gliederung " ." Die Heilkunde will er " in i hren Stufen und Schichtungen darweisen und die bestehenden Zusammenhänge hervortreten lassen. Den Blüte­ wie den Verfallzeiten soll mit gleicher Unpartei l ichkeit ihr Recht werden, indem versucht wird, jede aus sich selbst heraus zu verstehen und dadurch ihr besonderes Leben in seiner Eigenart zu enthüllen " ." Sudhaffs Bearbeitung bringt historische Arbeitsmethodik und allgemeingeschichtliches Denken über das bloß Ärztlich1 08

Isolierte hinaus vorsichtig andeutend zur Geltung. Vor Etikettierungssucht in Wer­ tung und Darstellung, so gibt er an, habe ihn seine " biologische Auffassung der Dinge der Vergangenheit . . . bewahrt " ." Er beschreibt große Zeitabschnitte über Jahrhunderte hi nweg. Das Mittelalter und die ersten Jahrhunderte der Neuzeit sind zusammengefaßt : " Grundlegung und Au fb au einer neuen Beobachtungsmedizin auf den Trümmern antiker Ü berlieferung " , schreibt er darüber. Großperioden sind es, die er zu umreißen versucht, um danach und darin Sonderabschnitte zu themati­ sieren. Für das achtzehnte Jahrhundert erscheinen Kapitel wie: " Thomas Sydenham, Herman Boerhaave, Friedrich Hoffmann und die praktische Medizin; die biolo­ gische Wendung : Stahl, Haller; van Swieten und die ältere Wiener Schule . . . ; die Begründung der pathologischen Anatomie durch Morgagni . . . " Bedeutende Ärzte bringen ergobiographische Kristallisationskerne ein fürumschriebene medizini sche Darstellungskreise innerhalb des achtzehnten Jahrhunderts. Theodor Meyer-Steineg führt in seiner illustrierten Geschichte der Medizin, zuerst 1 920, ähnliche Gliederungen ein. " In das Nebeneinander der Darstellungen über Personen, Schulen, medizini sche Bewegungen wird eine ärztliche Standesge­ schichte des achtzehnten Jahrhunderts vorsichtig eingeschoben. 1 963 erschien in Paris von Maurice Bariety und Charles Coury die Histoire de Ia mMicine. " Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert behandeln sie gemeinsam unter der Ü berschrift " Les siecles de raison " . Entscheidende philosophische Impulse versuchen sie zu fassen und in ihren Einwirkungen auf die medizinischen Sachbe­ reiche, die Entwicklung einer rationellen Gesundheitspflege etwa, zu beschreiben. Stärkere Verallgemeinerungen und hi storische Ausweitungen über die fachbe­ zogene Arbeit hinaus werden mitunter gewagt. Ihre Notwendigkeit wird erkannt, der Vollzug indes gelingt nur punktuell. In chronologisch-synoptischen Anhängen werden dem Leser daneben Fakten der allgemeinen Geschichte, der Kunst, der Lite­ ratur, der Philosophie, der medizinischen Detailwissenschaften vergleichend vorge­ führt. In seiner Kurzen Geschichte der Medizin, 1 959 zuerst erschienen, dann in weiteren Auflagen, schreibt Erwin H. Ackerknecht ein geschlossenes Kapitel über " Die Medi­ zin des 18. Jahrhunderts " . " Entgegen seinen übrigen Publikationen ist diese Dar­ stellung merkwürdig einseitig. Philosophie der Aufklärung ist ihm eine durchgehend bewegende pauschale Kraft, die besondere Leistungen in der Medizin, vor allem in der Prophylaxe anstößt. Insgesamt werden aber die Fakten i n herkömmlicher Lehr­ buchmanier zumeist nebeneinander gestellt, ohne sie in ihren Wirkungsmechanis­ men zu verbinden. Daß bei all dem angewandte Wissenschaften in den Vorder­ grund rücken, ist kein Zufall. Charles Lichtenthaeler, der Schweizer Medizinhistoriker, der i n Harnburg und Lau­ sanne l ehrt, brachte 1 974 eine zweibändige Geschichte der Medizin heraus ... Ihr Untertitel verheißt: " Die Reihenfolge ihrer Epochen-Bilder und die treibenden 1 09

Kräfte ihrer Entwicklung " . Ein Lehrbuch ftir Studenten, Historiker und geschicht­ lich Interessierte will das Werk sein. Von einer Oberflächenbeschreibung wird ver­ sucht abzugehen. Lang hingezogene, kontinuierliche Bewegungen müht sich der Autor zu fassen. Erhebl ich und eigenwillig weicht er von bisherigen Periodisierungs­ versuchen ab ; Gliederungselemente mac ht er geltend, die andere bisher nicht ins Blickfeld rückten. Manchen Zeitbereichen gesteht er Sonderzüge zu, die aber nicht hinreichen, eigenständige Gruppierungen zu umzirkeln. So ist ihm die Zeit von 1 500 bis 1 800 eine große Periode, die vor allem von naturwissenschaftlich-medizinischen Renaissanceideen bestimmt wird. Quellflüsse sieht er darin zu Strömen und Strö­ mungen zusammenfließen. Von einer Galenistenströmung spricht er, von Systema­ tiker-, Eklektiker- und schließlich von Philantropikerströmungen u. a. Nebenein­ ander durchziehen sie drei Jahrhunderte, das Wesen der Medizin in dieser Zeit bestimmend. Er gesteht den Naturwissenschaften, der Philosophie, der Theologie, der Mystik und Soziologie besondere Einflüsse zu, die freilich nicht so weit reichen, um Abgliederungen und Eigenständigkeilen zu rechtfertigen. Dreh- und Angel­ punkt ist ihm die Renaissancebewegung ; sie leitet die erste Großperiode der Neuzeit ein. Die zweite beginnt dann nach ihm mit dem neunzehnten Jahr­ hundert. Diese Gegenüberstellungen sollen nicht ermüden; allein grobe Darstellungsbei­ spiele ftir medizin- und naturwissenschaftshistorische Darstellungen des achtzehn­ ten Jahrhunderts wollte ich präsentieren. Hier läßt sich nur die Oberfläche verein­ zelt und in großen Zügen zeigen. Die Detailarbeit folgt noch breit solchen Grund­ mustern. Sie sucht Fachwerk dieser Art mit Mörtel zu füllen. Man glaubt an die immanenten, natürlichen Sach- und Gliederungsgesetze und sucht ihnen zu folgen. Rudolf Vierhaus hat recht, wenn er sagt : " Die Geschichten einzelner Disziplinen (beziehungsweise von Teildisziplinen) . . . und die Geschichte von Entdeckungen und Entdeckern, von Methoden und Verfahren und von Wissenschaftsinstitutionen, sind gewiß auch in Zukunft nötig und vielleicht nützlich ; sie geben aber nur bedingt Antwort auf die Frage nach der Geschichte der Wi ssenschaft als einer Fo rm des Denkens und Handelns, die heute unser soziales und kulturelles Leben be­ herrscht . . . Zu sehr sind sie . . . noch von dem Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts geprägt, wonach Wissenschaft in sich werthaft, im Menschen als vernünftigem Wesen angelegt und durch Fortschritt gekennzeichnet ist. So haften vielen älteren und auch gegenwärtigen wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten nicht selten eine gewisse Naivität und eine Begrenztheit des Sachverständnisses an; die Problematisierung des Gegenstandes und die theoretische Begründung von Frage­ stellung und Methode läßt oft zu wünschen übrig. " " Diese Aussage trifft Tatbe­ stände. Allein statt Begrenztheilen des Sachverständnisses würde ich eher einge­ zwängtes Geschichtsverständis sehen. Freilich darf nicht vergessen werden, daß j unge Wissenschaften, die sich erst vorsichtig in der Methode stabilisieren und ihre Sachfundamente noch festigen müssen, am Werke sind. Man mag mitunter etwas 1 10

herablassend auf solche Art der Arbeit sehen. Daß diese Materialerschließung, noch lange nicht hinreichend für überhöhende und überbrückende wissenschaftshistori­ sche und -theoreti sche Arbeit, nötig i st und grundlegend bleibt, wird deutlich, wenn man zeitgenössische TheoretisiereT in ihrer Substanz und Fundierung überprüft. Was den einen fehlt, haben die anderen nicht und umgekehrt. Es wäre Zeit, sich in der Mitte zu treffen. Wie sagt doch wiederum Goeth e: " Gehalt ohne Methode führt zur Schwärmere i ; Methode ohne Gehalt zum leeren Klügeln ; Stoff ohne Form zum beschwerlichen Wi ssen, Form ohne Stoff zu einem hohlen Wähnen. " '•

Kulturgeschichtliche Periodisierungsversuche Barock-Medizin

Jacques Roger, der französische Wissenschaftshistoriker, schrieb 1960: " Die Natur­ wissenschaft kann sich . . . nicht auf einen isolierten Sektor beschränken. Das natur­ wissenschaftliche Denken bewegt sich im Geist des Wissenschaftlers, ebenso wie im Geist der Gesellschaft, in einem größeren Rahmen und ist nicht nur Tei l eines Ganzen . . . Die Naturwissenschaft einer Epoche trägt dazu bei, den allgemeinen Geist dieser Epoche zu formen und umgekehrt übt die geistige Welt einer Zeit einen Einfluß aus auf das naturwissenchaftliche Denken. Ich glaube, daß dieses Spiel der wechselseitigen Einflüsse zu jeder Zeit bestanden hat und auch heute noch 21 besteht. " Wer die allgemeine und medizinisch-naturwissenschaftliche Historiographie ver­ gleicht, entdeckt rasch erhebliche Phasenverschiebungen. Auf Gründe dafür habe ich hingewiesen. Die kulturhistorische Bewegung, schon weit im neunzehnten Jahrhundert in Gang gekommen, gewinnt in der Medizingeschichte erst nach dem Ersten Weltkrieg deutlich Geltung. Paul Diepgen, der Mediziner und H istoriker zugleich, dann Henry Ernest Sigerist, i n gleicher Weise ausgebildet, dazu Orienta­ list und Altphilologe, bestimmen das Bild und den Ausbildungbereich einer neuen Generation von Wissenschaftshistorikern. Ihr Begriff einer " Kulturgeschichte " , ei­ ner soziokulturellen Betrachtung schließlich, war weit gefaßt. Geistesgeschichte, Philosophie, Theologie, allgemeine Geschichte, Sozial- und Wi rtschaftsgeschichte, kurzum die realen und geistigen Lebensäußerungen und Umstände des Menschen schlossen sie in i �re Betrachtungen ein. Ein großes Unternehmen war es, das da in den zwanziger und dreißiger Jahren begonnen wurde. Fachgeschichte brach man stellenweise auf, manche Zäune fielen. Etliche der Absichten, die von anderen Standorten aus französische Strukturhistoriker hegen, werden hier schon stellen­ weise verwirklicht. Paul Diepgen hat in vielen seiner Arbeiten demonstriert, wie medizinisch-natur­ wissenschaftliches Denken und ärztliches Handeln unter den Bedingungen einer 111

Zeit sich zu formen vermögen. Der Niederschlag und die zusammenfassende Dar­ stellung dieser Art finden sich in seinen jüngeren Lehr- und Handbüchern. 1 949 bis 1 955 erschienen drei Bände seiner Geschichte der Medizin. " In der Perio­ disierung, der vielschichtigen und vielseitigen Faktenpräsentation und Interpreta­ tion unterscheiden sie sich wesentlich von vorausgehenden und daneben einher­ laufenden Darstellungen. Seinen Stoff gruppiert er in neuer Weise. " Heilkunde im Zeitalter des Barock " , von ungefähr 1 600 bis 1 740, unseren Zeitraum über einige Jahrzehnte treffend, grenzt er ab, eine Großperiode, die Begriffe der Kunst und Kulturgeschichte vor allem aufnimmt, weite Klammern setzend. Teilversuche dieser Art waren vorausgegangen. Sigerist hat zur Gründungsfeier der Universität Leipzig am 7 . Juli 1 928 zum ersten Mal den partiellen Ein- und Übergriff dieser Art ge­ wagt in einer Rede über " William Harveys Stellung in der europäischen Geistes­ geschichte. " " Harvey, der Engländer, der die entscheidenden Experimente über den Blutkreislauf anlegte, half, die statisch-morphologische Anatomie zu einer Anatomia animata, zur Physiologie, hinüberzuführen. Sigerist knüpfte hier an, um die Ausbreitung funktio­ nellen Denkens zu verfolgen. Ich muß einige seiner Sätze zitieren, um Stichwörter für seinen Transformationsversuch zu geben. Von der barocken Kunst geht er aus, von Wölflins Begriffspaaren und Analysen, die zeigen sollen, wie der Barockkünstler alles in Bewegung auflöst, seine Darstellung tiefenhart wird, wie man die geschlos­ sene Form sprengt, Einheit in Vielheit verwandelt, Umrisse verwischt, in Licht und Schatten taucht. " Es sind " , sagt Sigerist, " zwei ganz verschiedene Betrachtungs­ weisen der Natur, zwei ganz verschiedene Weltanschauungen, die aus d iesen Kunst­ werken sprechen. Auf der einen Seite ist es das Vollkommene, das Vollendete, das Begrenzte, das Faßbare, das der Mensch sieht und das ihn zur Darstellung reizt, auf der anderen Seite das Bewegte, das Werdende, das Unbegrenzte. Nicht am Sein, am Geschehen nimmt der Mensch des Barock Interesse. Der Barock ist unendlich mehr als ein Stil der bildenden Kunst, er ist Ausdruck einer Weltanschauungs­ form, die sich in jener Zeit auf allen Gebieten des Geistes nachweisen läßt, in der Literatur, in der Musik, in der Mode, im Staat, in der allgemeinen Lebenshaltung, aber auch in der Wissenschaft. " " Wie man heute auch zu diesen Einschätzungen des Jahres 1928 stehen mag, entscheidend wird, wie Ideen solcher Art als zeit­ charakterisierende und -wirkende Gedanken aufgenommen und dann auch in die Medizin hinübergewandelt werden. Sigerist meint, der Arzt des siebzehnten und der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sei nicht am Körper in seiner Begrenzt­ heit, sondern an der unbegrenzten Bewegung des Körpers und seiner Teile interes­ siert. " Er s ieht" , schreibt er, " nicht den Muskel, sondern die Kontraktion des Mus­ kels und ihre Wi rkung. " " Sie wird Gegenstand der Physiologie. Harvey ist ihm der Gelehrte, in dem sich die Weltanschauung des Barock verkörpert. Sigerist detailliert solche Gedanken und Beispiele weiter, um fundamentale Elemente zu fassen, in denen sich barocke Medizin und Naturwissenschaft darstellen. 1 12

" Das ganze 1 7 . und ein großer Teil des 1 8 . Jahrhunderts standen in der Medizin unter der Herrschaft des funktionellen Gedankens " , so gibt Sigerist an, und : " Man kann unbedenklich von einer Barockmedizin reden. Der anatomische Gedanke steht vollkommen im Hintergrund, die führenden Ärzteschulen, die Iatrophysiker und die Iatrochemiker" werden von der Beobachtung des Dynamischen und dem Denken dieser Art beherrscht. 26 Natürlich hat man späterhin Einwände gegen solche Zuordnungen und Reduzierun­ gen erhoben oder doch durch Differenzierungen die allzu starken Generalisierun­ gen, die ich wiederum nur in Stichworten angeben konnte, gedämpft. Sigerists Schüler, wie etwa Thadeusz Bilikiewicz, versuchen, wenn auch nicht immer über­ zeugend, in anderen Bereichen wie in der Embryologie," dann späterhin in den Verbindungen zwischen Musik und Medizin barocke Elemente zu fassen. Ein barockes Lebensgefühl, der barocke Mensch, die von den Kulturhisto ri kern beschrieben wurden, führen hin zu zeitgenössischen Lebensfo rmen, in denen sich etwa Hygiene und Diätetik als gegenstrebig wiederfinden. In der medizini schen Historiographie siedelt sich der Barockbegriff streckenweise an.'• 28

Die Skurrilität, die Verspieltheit, auch die Dynamik dieses Barockmenschen werden an Sondererscheinungen der Anatomie demonstriert, die biologischen Liebhabe­ reien vorgezeigt, die Augenergötzungen, die seltsam konfigurierten Schaustellun­ gen von Obj ekten aus dem Naturreich, der Lustgarten, auch die mechanischen Spiele.•• Im Hang zum Kuriosen, Seltsamen und Seltenen grenzen sich besondere Erscheinungsformen ab. Mit naiver Neugier sucht man Abweichungen vom Durch­ schnittlichen, vom Normalen, Alltäglichen. Die Journale der Akademien sind gefüllt mit minutiösen Berichten über Mißbildungen aller Art. Auch bei der Darstellung von krankhaften Erscheinungen am Lebenden und Toten spielt Kuriöses ent­ scheidend mit. Nicht das Typische sucht man, die Rarität vielmehr. Freilich hatte tiefer d ringender Forschergeist dabei seine besonderen Absichten. Nicht nur das Abnorme an sich, sondern das Baugesetz des Natürlichen auf dem Weg über das Abnorme wurden gesucht, das ist das Entscheidende. Daß dies ein Umweg war, ein Holzweg, mußte sich zeigen, als man ihn abgeschritten hatte. In den morphologischen Distrikten senkt sich die mathematisch-mechanistische Einstellung der Naturwissenschaftler und Philosophen in dem beginnenden acht­ zehnten Jahrhundert immer deutlicher ins Konkrete nieder, was metaphysisch ab­ strakt war in der allgemeinen Erkenntnis, wird j etzt unmetaphysisch und dinglich zu fassen versucht. In der Welt der Natur, das scheint immer sichtbarer zu werden, herrschen Gesetz und Ordnung, Maß und Zahl. " Sie zu fassen, wird drängend die Aufgabe. Anatomie b �ginnt sich auch als deskriptive Gestaltlehre um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als exakte Wissenschaft mit besonders proj izierten maßgerechten, vergleichbaren Darstellungen speziell geschulter Künstler zu emp­ fehlen. In Holland überwinden diese, auch im Naturwissenschaftlich-Medizini1 13

sehen ausgebildet, wie Gerard de Lairesse, in den anatomischen Werken, wie etwa der "Anatomia humani corporis " Bidloos ( 1 685), die herkömmlichen Darstellungen mit künstlich bis zur Groteske übersteigertem Leben. Man wendet sich natura­ listischer Wiedergabe zu. Das geschah so meisterhaft, daß der Betrachter nicht nur zu sehen, sondern auch mit tastender Hand zu fühlen vermeint: das Glitschige der Leber oder das Weichzerfließende der Hirnmasse. Nicht Darstellungen des Bauchsitus sind es oder der Handsehnen oder der Beckenknochen an sich, wie unsere anatomischen Atlanten sie zeigen, sondern anatomi sche Einzelheiten eines ganz be­ stimmten Leichnams in einer ganz bestimmten Phase der Präparation, so instruktiv wie möglich ausgebreitet und fixiert. Abbildungen dieser Art, die selbst die Fliege auf der Leiche wiedergeben, so hat es Walter Artelt beschrieben, sind erwachsen aus der Sonderentwicklung der niederländischen Malerei des siebzehnten und begin­ nenden achtzehnten Jahrhunderts innerhalb der Barockkunst Sie entstammen dem­ selben Geist, der das Stilleben, die Nature morte, zu einer kennzeichnenden Aus­ drucksform holländischer Kunst gemacht hat. In William Cowpers, des Engländers, Myotomia rejormata, zuerst 1 694, dann in verfeinerten und verbesserten Ausgaben ein ganzes Stück in das achtzehnte Jahrhundert hinein erschienen, leben die Muskel­ und Knochenmänner noch in vehementer Bewegung. Ü berbetont wülstig ist ihre Muskelzeichnung, ganz und gar barock die Darstellung des Figurenwerkes, schwungvoll übertreibend, wiewohl um didaktische Darstellung bemüht. Die Naturalienkabinette werden bis ins achtzehnte Jahrhundert dem Publikum und dem Gelehrten zugleich geöffnet. Frederi k Ruysch, der holländi sche Anatom, der 173 1 in Amsterdam starb, dort Anatom und Lehrer der Chi rurgengilde war, zahlreiche Entdeckungen der Gefäßanatomie vorzuzeigen hatte, beherrschte vor­ züglich die verschiedenartigsten Präparationstechniken. Er arbeitete mit erstarren­ den Wachsmassen, die teils konservierend, tei ls füllend, zur Herstellung von Dauer­ präparaten der Blutgefäße di enten. Seine kuriösen Sammlungen wurden viel be­ staunt. Naturdinge, anatomische menschliche und tierische Objekte führte er in sonderlichen Gruppierungen dem Publikum vor. 1 7 1 7 erwarb Peter der Große eine der Sammlungen und brachte sie mit einem Schiff nach Petersburg. Dort wird sie noch heute in der Akademie der Wi ssenschaften gezeigt. Auch der König von Polen erwarb eine Sammlung Ruyschs. " 1 952 veröffentlichte Walter Artelt einen Beitrag über " Barocke Wissenschaft in Ü ber­ see " . " Er zeigt, wie Naturae curiosi, Naturneugierige, nicht nur unter Gelehrten, son­ dern auch im breiten Publikum zu finden waren. Sie bestaunten das Fremdartige und Absonderliche, das mit überseeischen Schiffen den Weg nach Europa fand, exotische Pflanzen in den Botanischen Gärten, richteten selber prächtige Haus­ gärten ein, hielten sich Pflanzenbücher zur " sonderbaren Lust und Ergötzung" . Damen suchten Unterhaltung bei mi kroskopi schen Vergnügungen, zerlegten Käfer und Blumen, um sich an den Formen zu erfreuen. D i chtung und Kunst, Kunsthand1 14

werk und Gartengestaltung des achtzehnten Jahrhunderts stehen noch ein ganzes Stück weit unter diesen Eindrücken. Diepgen und seine Schüler haben in den medizinhistorischen, systematischen Dar­ stellungen den Kulturkreis- und kulturhistorischen Epochenbegriff eingefü hrt. Von einer Medizin der Barockzeit wird hier gesprochen, dann auch der Aufklärung, der Goethezeit, von einer Periode des Mesmerismus im achtzehnten Jahrhundert usw. Diepgen gliedert die barocke Periode von 1 600 bis 1 740/50. Darin und daneben sieht er die definitive Ü berwindung mittelalterl ichen Denkens, den allgemeinen Durchbruch induktiv naturwissenschaftl icher Methodik, die beherrschen de Stel­ lung von Physik und Chemie, das Ü berwiegen mechani stischer Auffasssungen." Die Problematik solcher Gliederungsversuche wird bald deutlich. Eingehend ver­ sucht man, auf jene Weise philosophische, techni sche, gei steswissenschaftliche, theologische Gedanken für die Durchdringung und das Verständnis der andrängen­ den Materialien zu verarbeiten. Vieles bleibt nur voran- oder nebeneinandergestellt, undurchdrungen etikettiert ohne sachlich und funktionel l Zuordnungen und Ein­ sichten zu erreichen. Die Epochenbezeichnung " Barocke Medizin " überwö lbt hier Ereignisse und Fakten, die sich nicht subsumieren lassen. Unter diesem Firmen­ schild verbirgt sich daher wohl oder übel über weite Strecken alte Fachgeschichte. Auch Elemente, die Sigerist einführte, das Element der Bewegung, der Quantität ließen sich nur für bestimmte Bezi rke geltend machen. Von der Fachgeschichte aus allein, das ist das Fazit, die Tore zur Kultur- und allge­ meinen Geschichte zu öffnen und diese gar zur gänzlichen Ü berordnung zu benut­ zent, hat Probleme, die nicht einfach und gar nicht generalisierend zu lösen sind. Medizin der A ufklärung

Was in der Periodisierung und Abtrennung einer barocken Medizin und Natur­ wissenschaft nur in Ansätzen und streckenweise mit wechselndem Erfolg gelingen konnte, vollzog sich eindeutiger und geschlossener bei der Sonderung einer " Medi­ zin der Aufklärung " , vor allem deshalb, weil man sich mit Beschränkungen zufrieden gab. Ob es eine eigenständige Periode unter solcher Aufschrift gäbe, war zunächst die zaghafte Frage, die ebenso zaghaft, dann doch immer entschiedener versucht wurde zu beantworten. Unsere medizinhistorischen Darstellungen steuern noch unsicher daran vorbei. Erwin H. Ackerknecht schrieb 1 959: " Die positive Rolle der Aufklärung in der Medizin ist erstaunlich wenig bekannt " . In einem Aufsatz trägt er Belege ihrer Wi rkungen zusammen. Er überschreibt ihn: " Medizin und Aufklärung " . " Damit ist ein Gegenüber gemeint. Das tatsächliche Füreinander, das Ineinander entscheidend konstituierender Elemente sieht er noch nicht deutl ich genug. Paul Diepgen hat zu solcher Abgrenzung einen Anlauf genommen. In seiner medizin1 15

" historischen " Ü bersichtstabelle ", die zuletzt 1 960 erschien, klassifiziert er: "Zeit­ alter starken Einflusses der Philosophie auf die Medizin, etwa 1 740 bis 1 830 " ; und in seinem großen Lehr- und Handbuch, dem zweiten Band von 1 95 1 , erscheint die Abgrenzung : "Heilkunde im Zeichen der Aufklä rung " . Auch Hei nrich Schipper­ ges, der Heidelberger Medizinhistoriker, zögert und schränkt ein auf: "Arzt und " Wohlfahrt : Hei lkunde im Zeichen der Aufklärung ." Di rekt auf eine Medizin der Aufklärung zu ziel en, wie das mit einigen Arbeiten in den sechziger und siebziger Jahren geschah, auf etwas eigenständig Gewordenes, Durchd rungenes und Geform­ tes, auf gemeinsame Merkmale und Gruppierungen, dies brachte Erfolg. Daß dabei vertikale Gliederungen und Untersuchungen nicht mehr genügten, wurde deutlich. Wenig sinnvoll war es obendrein, absolute Oberbegriffe, wenn sie nicht ganz unbe­ stimmt und blaß werden sollten, zu suchen für vielfach durchm ischte Formationen einer Zeit. Horizontale Schichten vielmehr und Sedimente wurden beobachtet und vorsichtig voneinander gelöst, auch ihre Verwerfungen, Verlappungen, ihre Leitfossilien bestimmt. Ein Periodenbereich solcherart sollte und mußte sich über­ schneiden; er konnte und durfte nicht mehr in naiver Manier fugendicht an den nächsten geleimt werden. Problem- und miteinander verschnürte, freigelegte Sach­ bündel wurden untersucht. Ihnen galt jetzt allein die Firmierung. Die Totalkenn­ zeichnung trat zurück." Definitionen und Materialien zur Geschichte der Aufklärung, ein vielfältiges Quel­ lenmaterial aus nichtmedizinischen Bereichen wurden bei j ener Arbeit sorgsam durchleuchtet und aufihre wissenschaftshistorische Trag- und Zuordnungsfähigkeit geprüft. Im Detail läßt sich die breite Aufarbeitung nicht wiederholen. Entschei­ dend, um nur ein Wirkungselement in stichwortartiger Verkürzung anzudeuten, wurde dabei dies : Natur war Vernunft, sie lieferte die Maßstäbe für ein neu zu ord­ nendes Dasei n, fti r eine neu zu formierende Gesellschaft. Natur war aber auch Zei­ chen und Abb ild der Vo llkommenheit. Das Leben, die Verrichtungen und die Hand­ lungen des ei nzelnen wurden an Maßstäben dieser Natur gemessen, um es harmoni­ scher, gesünder zu machen. Eine neue Medizin, die von solcher Wertung Maßstäbe erhielt zur physi schen und psychischen Lebenslehre, zu einer persönlichen Erzie­ hungslehre zugleich, in ihrer Potenzierung zur Famili en-, Gemeinschafts- und Staatslehre weitergebildet, formierte sich. Sie öffnete sich, trat aus ihren esoterischen Kreisen hervor, ließ sich herab und wendete sich jenen Gegenständen zu, die man vordem nicht fü r wert hielt sonderlich zu beachten : dem Leben der Ki nder, den Pflichten der Familienväter, dem Dasein der Zuchthäusler, den Geisteskranken, den Soldaten, dem Bergmann und Landwirt. Nicht bl utleer, nicht abstrakt war diese Arbeit; in allem wurde das Konkrete gesucht. Nichts ist zur Erörterung zu schade, ob es um das Stillen des Säugl ings geht, um seine Ernährung, den Bei schlaf, um die Keuschheit, um die rechte Ü bung des Körpers, um die Entwicklung moralischer Grundsätze: In allem wird, wie Christian Wolffes formul ierte, der " Wink der Natur" gesucht, das Maß des Natürlichen i m menschlichen Dasein ftir das gesunde und 1 16

kranke Leben. Auf solche Weise, vom Elementaren aus, das in die verschied enen Lebenssphären hineingesteigert wird, sucht Philosophie auch zur praktisch weg­ weisenden Weltweisheit zu werden. Wie Wolff das natürliche Gesetz des einzelnen suchte, suchte er das der Fam ilie, des Staates und schließlich des Göttl ichen. Wer gegen das Gesetz der Natur, der Vernunft verstößt, wird unglücklich. Niemand ist selbstherrlich, jeder steht unter di esem Gesetz, man muß es beachten. Das ganze wird geprägt durch den Ausgleich und die Entsprechungen zwischen Persön­ lichkeit und Gemeinschaft, zwischen Welt und Gott. Gesetzlichkeit in der Natur zu finden, zu beobachten, mit ihr Lebensnormen, das wird ein entscheid endes Bemühen. Hier ist ein Pri nzip, ein Beispiel, das die Gesundheitspflege, indivi duelle und auch staatl iche, die p raktische Heil kunde insgesamt, wesentl ich mitbestimmt und auf eine neue Weise konstituiert. Von da aus lassen sich nicht nur eine Problem­ oder Ideengeschichte ableiten, auch das Tatsächliche i n weiten Kreisen des acht­ zehnten Jahrhunderts bestimmen und umgrenzen bis in ganz handfeste Sachver­ halte und Zustandsbilder hinein. Im Detail läßt sich dies weitläufig zeigen. Die Verbi ndung zu anderen Di strikten, zur Theologie, zur Physikotheologie vor allem, zur Staats-, Rechts- und Erzi ehungslehre, um nur die wichtigsten zu nennen, sind leicht z u ziehen. Neue Einheiten und Ganzheiten, als Teilbereiche die Medizin und Naturwi ssenschafte n j etzt ei nschließend, treten zwanglos hervor. Die Physikotheologen - um auch diesen wissenschaftshi storischen Hinweis zu geben - entdecken Gottes Schöpferkraft nicht nur im Bau des Weltalls, in dem Lauf seiner Gestirne, in den vielfliltigen Erscheinungsformen i hrer Umwelt; das Mikro­ skop, das Seziermesser des Anatomen, das suchende Auge des Naturkundigen, sie stoßen allenthalben auf unbegreifbar Greifbares in harmonischer Ordnung. Die Pflanzenatlanten mit ihren prächtigen Illustrationen, die Tierbücher, die das Leben eines Frosches bis in alle Detai ls verfolgen, sie zeugen davon. Naturobjekte, Minera­ lien, Pflanze, Ti er und Mensch, sie alle sind Geschöpfe, in denen Gottes ordnend­ gestaltender Geist und seine Vernunft hervortreten. Sie alle, auch die scheinbar Unschei nbaren, " auch der geringste Wurm " - das Mikroskop hat geholfen, es zu enthüllen - sind so wunderbar, daß Ü ber- und Unterordnungen zurücktreten müs­ sen. Sie demonstrieren göttliche Wi rkkraft und Größe in allen Stücken. Wie Goethe in seiner Metamorphosenlehre, in der Vielgestaltigkeit der Pflanzenwelt Urbilder sah, Baupläne, Baugesetze, so sah man das vor Augen, was i n die Dinge gel egt war. Neue Bindungen und Zuo rdnungen zum Göttl ichen, zum Wesen der Natur und ihrer Geschöpfe ließen sich gewinnen. Viel müßte an dieser Stelle über Rousseau gesagt werden. Genügen muß wieder ein Stichwort : Natur an sich ist gut. Natur im Leben des Menschen, des Volkes ist wieder herzustellen, denn in ihnen und mit ihnen wurde sie entstellt. Die überfeinerten Lebensformen der barocken Welt hatten den Menschen verdorben, vom natür­ lichen, vom vernünftigen Dasein weggeführt Die reine Menschennatur, nicht die ursprünglich-p rimitive, wie vielfach mißdeutet wurde, wieder in die natürliche Ord1 17

nung ei nzubringen, wird Ziel. Für unsere medizinhistorischen Blickwinkel bleibt wichtig, daß unter solchen Umständen eine rationelle Gesundheitserziehung, eine individuelle und auch eine staatliche wichtige M ittel werden. Im allgemeinen als auch wiederum i m ganz Konkreten und Einfachen macht man sich Gedanken, bei Rousseau, den Anatomen und Gesundheitspflegern etwa abzulesen in i hrem Kampf gegen die Schnürbrüste, gegen die unsinnig gespreizte Kleidung, gegen die Pe­ rücken, gegen das enggeschnürte Wickelkind. All enthalben wird unverstellte, unbe­ hinderte Natur gesucht und versucht, sie wieder herzustellen, ihr Bewegungsraum zu schaffen. Ich muß abbrechen, um nicht über exemplarischen Treffwörtern einen b reiten Themenkatalog der Medizin der Aufklärung zu entfächern. Die b ruchstückartigen Hinweise müssen genügen. Eines freilich wollte ich dabei verdeutlichen: Hier ist in bestimmten Vorstellungskreisen ein wesentliches Thema, ein Ord nungsgedanke der Zeit, eine Zentralidee angeklungen, die sich i n verschiedenen Schichthöhen wei­ ter verfolgen lassen bis in ihre Detailwirkungen hinein. Damit kann sie auch die Grundlage eines Periodisierungsbereiches, Grundlage für einen bestimmten wissen­ schaftshistorischen Arbeitskreis werden. Dabei wurde nicht der Anspruch erhoben, Generalnenner und Totalbenennung für einen großen Zeitabschnitt des achtzehn­ ten Jahrhunderts zu finden: Man beschränkte sich auf bestimmte, in sich verbun­ dene Erscheinungen und Gedanken in deutlicher Wechselwirkung. Wo sie komplexe Formationen konstituierten, wird ein Teilbereich in bestimmten Zeitschichten des achtzehnten Jahrhunderts als Medizin der Aufklärung beschrieben und benannt, ohne damit zugleich die ganze Zeit von etwa 1 740 bis 1 830, in der diese Prozesse ungefähr ablaufen, insgesamt zu kennzeichnen. Was sich an diesen kulturhistorischen Beispielen erläutern l ieß, wäre auch für das achtzehnte Jahrhundert mit den gebotenen Veränderungen, aber doch grundsätz­ lichen Übereinstimmungen, bei den U mzirkelungen einer Medizin der Goethezeit," bei den Beschreibungen des Mesmerismus mit seinen geistesgeschichtlichen Impul­ sen vorzuführen, auch der Abtrennung einer Periode der Medizin unter dem Ein­ fluß der französischen Revolution, schließlich, um noch ei nmal etwas zurückzu­ greifen, bestimmter wissenschaftshistorischer Konstituierungen unter dem barok­ ken und aufgeklärten Absolutismus. All diese sind keine Gesamtepochen mehr, sondern sich überschneidende und überdeckende Teilbereiche i nnerhalb des acht­ zehnten Jahrhunderts. Detailarbeiten

Ich habe bisher versucht, einige Grundtendenzen unserer Fach- und übergreifenden Wissenschaftsgeschichte vorzuführen. Im wesentlichen ging es um Strukturie­ rungen von Gesamtdarstellungen, für das achtzehnte Jahrhundert im besonderen. Etwas muß dabei noch über die zugeordnete Detailarbeit gesagt werden. Kürzlich 1 18

haben wir zweierlei ver�ucht: Einmal wurden mit herkömmlichen Bibliographien Arbeiten zur Geschichte der Medizin und der beschreibenden Naturwissenschaften des achtzehnten Jahrhund erts erfaßt, die 1975 bis August 1 976 erschienen. Die gleiche Literatur für den gleichen Zeitraum wurde daneben über zwei große maschi­ nelle lnfo rmationssysteme, DIMDI in Köln, eine Dependance des amerikanischen MEDLARS-Systems, und die Biomedizinische Datenbank der Farbwerke Hoechst abgefragt. Bestätigt wurde dabei, daß konventionelle und Computer-Recherchen nebeneinander zu betreiben sind. Die Auswertungsbereiche sind in unserem Falle verschieden. Die wissenschaftshistorischen Bibliographien sichten vor allem fach­ historische Zeitschriften und Bücher, die beiden Informationsi nstitute dagegen vorwiegend aktuelle medizinische und naturwissenschaftliche Zeitschriften. Ver­ schiedenartig ist deshalb auch die Materialpräsentation. Wer indes versucht, das Angebot zu analysieren, trifft aufunerwartete Gemeinsamkeiten der Arbeitsspezifi­ tät. Pure, eng umgrenzte Fach- und Personengeschichte taucht vorwiegend auf. Nur ganz am Rande stößt man auf übergreifende kultur- und wissenschaftshistorische Publikationen. DIMDI lieferte auf unsere Anfrage 450 Aufsatztitel, die Höchster Datenbank, die vornehmlich, aber nicht nur, Magnetbandmaterial der Excerpta Medica Foundation, Amsterdam, übernimmt, wartete mit 57 Titeln auf, die zumeist durch Referate erläutert wurden. Die Arbeiten aus fachhistorischen Journalen und die Angaben über eigenständige Publikationen entsprachen i n den Proportionen und den Spezifitäten der ersten Gruppe: von 335 ermittelten Arbeiten waren die fachbegrenzten und biographischen weitaus in der Ü berzahl, kultur- und wissen­ schaftshistorische blieben vereinzelt. Ü berdies ließ sich in der Quantität ein erheb­ liches Gefälle von West nach Ost beobachten. Das heißt also : All das, was ich an Ö ffnungstendenzen bisher vorführte, gilt nur in bestimmten Bezirken unserer Fach­ geschichte. Man steckt hier noch - das ließe sich vielfältig zeigen - tief in den eigenen abgeschlossenen Steinbrüchen. Kontaktflächen und das Bedürfnis nach An­ näherung zu historischen Nachbarn sind noch weithin spärlich entwickelt. Glück­ licherweise wird aber von da aus die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichte i n ihrer neuen Farbigkeit und Form und auch Vielfalt nicht allein bestimmt. Entscheidende Impulse kommen von anderer Seite : Wissenschaftsforschung

" " In relativ kurzer Zeit ist die Wi ssenschaftsforschung , so schrieb Wolf Lepenies, "zu ei ner hochintegrativen Disziplin geworden, in ihr qualifizieren sich Wissen­ schaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie nicht länger mehr wechselseitig als Hilfsdisziplinen ab, sondern entleihen Kernbestandteile ihrer Programmatik vonei nander. " " Die Neigung über monodisziplinäre Arbeit hin­ auszugehen, sich multidisziplinär zu orientieren tritt hervor in vielen historischen Disziplinen. Meine kulturhistorischen Hinweise deuteten auf vereinzelt übergrei­ fende Arbeit. Die hi storische Wissenschaftsforschung, in der man sich von verschie1 19

denen Seiten aus trifft, geht dabei etliche Schritte weiter. Diszipli nkomplexe ver­ sucht sie zu rekonstruieren. Leitend war dabei die Einsicht, daß die Kontinuität einer Fachrichtung noch keinen ei ndeutigen Rückschluß auf kognitive oder institu­ tionel le Identitäten zuläßt. Solcherart - Lepeni es gibt dieses Beispiel an - schrieb Fran�ois Jacob ( 1 970) keine Geschichte der Biologie, sondern eine Logik des Leben­ digen mit dem Untertitel " Eine Geschichte der Vererbung " , weil er einsah, daß Problemlagen eine stabilere Identität aufweisen als Disziplinen.•� Natürlich ändern sich auch j ene, bestimmte Kernp robleme aber bleiben über längere Zeiträume ver­ gleichbar, während es wenig Sinn hat, die " Biologie " B utTons mit derjenigen Darwins oder gar molekularer Bezirke zu vergleichen. Damit soll nicht eine Geschichte der Probleme die bloße Fachgeschichte ablösen. Michel Foucault hat nachzuweisen versucht, daß die Sprachwissenschaft, die Biologie und Ö konomie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts mehr miteinander gemeinsam hatten als j ene Anschau­ ungen ButTons und Darwins oder die Ö konomie Ricardos und die von Kar! Marx.42 Auf eine Geschichte der Disziplinkomplexe und Problem schichten will man zu­ steuern. In seinen Untersuchungen über " Normal ität und Anormalität " , •• über Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwis­ senschaften im neunzehnten Jahrhundert, über Verzeitlichung und Enthistori­ sierung, die helfen sollen, die Epochenschwelle der Neuzeit zu besti mmen, in seiner Monographie über Das Ende der Naturgeschichte," einer Untersuchung über den " Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wi ssenschaften des 1 8 . und 19. Jahrhunderts " , die den Ü bergang vom naturhistorischen zum entwicklungs­ geschichtlichen Denken zeigen, werden Beispiele für diese Forschungsauffassung geliefert. Eine Theorie der Disziplinbeziehungen soll daneben aufgebaut werden, um zu hel­ fen, durchlaufende Kategorien zu finden, um Problemfelder i n unterschiedlichen Fächern und in vergleichbarer Form abzustecken. Verei nzelt haben sich dabei Medizinhistoriker, auch für das achtzehnte Jahrhundert, zu Wort gemeldet, die diese Art von Arbeit aufnehmen wollen. Erst kürzlich schrieb Dietrich von Engelhardt im Medizinhistorischen Jou rn a l über die " Bedingungen des Wi ssenschaftsprogresses im Bewußtsein der Naturforscher des 18. Jahrhunderts " ." Eine reflektierende Wi ssen­ schaftsgeschichte, so erläutert er, als Ergänzung zur rekonstruktiven Rückwendung, als Teil einer historischen Wissenschaftsgeschichte will er damit stärken helfen. " Wissenschaftsgeschichte "

I n einer Denkschrift,'• d i e von d e r Gruppe u m Kar! Eduard Rothschuh und Richard Toellner in Münster ausging, wurde vor einiger Zeit beschrieben, dabei auf das Beispiel der Angelsachsen hindeutend, wie moderne Wissenschaftsgeschichte auch Philosophy of Science aufnimmt und sich weiter zu einer Science on Science erhöht. Tragfähige Wi ssenschaftstheorien sucht man einzugliedern. Wie es um diese Diffe­ renzierungen und ihre Zuordnungen heute auch stehen mag : Sie weiten die Arbeits1 20

felder und die Erforschung der Wirklichkeitsbereiche. In j ener Denkschrift heißt es dann: " Nicht nur die Aufgabe, die die Wi ssenschaftsgeschichte bei der Selbstreflek­ tion der Wissenschaft wahrzunehmen hat, macht ihre breit und tief angelegte Erfor­ schung vordri nglich, vordringlich ist auch speziell in Deutschland die Korrektur des allgemeinen Geschichtsbildes. Der Wissenschaftshistoriker macht immer die Erfahrung, daß wesentliche Bedingungen und Erscheinungen unserer heutigen Welt, die aus der Geschichte der Erfahrungswissenschaften resultieren und nur von ihrem Ursprung her verstanden werden können, von der allgemeinen Geschichts­ wissenschaft aus Mangel an Kenntnis und I nteresse gar nicht wahrgenommen und daher auch nicht dargestellt werden. So fehlen wichtige Tatbestände der Wi ssen­ schaftsgeschichte und ihrer Folgen völlig im Geschichtsbewußtsein der Deut­ schen . . . So zeigt sich, daß gerade i n Deutschland die Vertreter der Sprach- und Informationstheorie, der Kybernetik, Strukturanalyse, Systemtheorie und allge­ meinen Wissenschaftstheorie zur Zusammenarbeit mit Historikern weder fähig noch willens sind. In einem Land, das so entscheidend das Entstehen und die Ent­ wicklung moderner Erfahrungswissenschaft beeinflußt hat, ist dieser Zustand be­ schämend " . " Ich zitiere diese Sätze nur, ohne sie zu kommentieren. Sie sollen in Kürze deutlich machen, wie auch Fachhi storiker, die in die allgemeine Geschichte und Wissenschaftsgeschichte hineinstreben, mit Hindernissen zu kämpfen haben. Von Rothschuh und etl ichen Kollegen gleicher Denkungsart ist eine " Gesell schaft ftir Wi ssenschaftsgeschichte " gegründet worden, die auch eine eigene Forschungs­ institution aufzubauen sucht, um mehr Stoßkraft und Aufmerksamkeit zu erhalten. Strukturgeschichte

Heinrich A Winkler, der Freiburger Historiker, wies kürzlich daraufhin, daß etliche Bereiche der Wirklichkeit i n der Analyse der Historiker vernachlässigt werden." Die angelsächsische und französische Geschichtswissenschaft, . den Niederungen des Alltags ohnehin stärker zugewandt als die deutsche " , schrieb e r, " hatten sich schon früh den Anregungen der systematischen Sozialwissenschaften geöffnet. " Er weist dann auf die französische Historikergruppe der Annales und ihre Struktur­ geschichte ", die auch in Deutschland viel beachtet wird. Für uns und gegenüber den deutschen Historikern erscheint es mir wichtig, daß man dort nicht nur Wirtschafts­ und Sozialgeschichte verstärkt i n die allgemeine Geschichtswissenschaft einzufüh­ ren versucht, sondern eine universale historische Synthese anstrebt, in der man die Interdependenzen von Wi rtschaft und Gesellschaft, von Landschaft und Kli ma, Na­ turwissenschaft, Medizin eingeschlossen, und Technik, bildender Kunst und Litera­ tur sichtbar zu machen wünscht. Die " structures " , die " forces de longue duree " die lang dauernden wirtschaftlichen und sozial en Gebilde und Prozesse, auch die gei­ stigen Kräfte, Rel igionen, Philosophien, Wissenschaften und Technik werden ins Blickfeld gerückt. Eine " histoire quantitative " beginnt dabei eine Rolle zu spielen. Insgesamt die geschichtliche Entwicklung aller Lebensbereiche, Lebensbedingun121

gen und Lebensäußerungen der Menschheit zu erforschen und darzustellen, ist das große Ziel. Alle Wissenschaften vom Menschen in einem " gemeinsamen Markt" , so hat es Fernand Braudei formuliert, in einer " science humaine " , einer allgemeinen Wissenschaft vom Menschen zusammenzuführen, erscheint wesentlich. " Für mich ist die Geschichte " , so sagt dieser französische H istoriker, " die Summe aller mög­ lichen Geschichten ( = historische Fachrichtungen), eine Sammlung von Methoden und Fragestellungen, von gestern, von heute, von morgen. Der einz ige Irrtum wäre es nach meiner Ansicht, eine dieser Geschichten unter Ausschluß der anderen auszuwählen. " '" Sie werden verstehen, daß einige der deutschen Fach- und Wi ssen­ schaftshistoriker mit besonderer Aufmerksamkeit die Arbeit dieser Historikergrup­ pe verfolgen. " Das Wi rklichkeitsdefizit der trad itionellen Historie ist in der Tat unübersehbar" , so stellte wiederum Winkler fest, " es fragt sich, ob der vielbeklagte Mangel an öffentlichem Geschichtsbewußtsein hier nicht eine seiner Ursachen hat. " " Ich meine, die Franzosen zeigten uns einen gangbaren Weg, wie jenes Defi­ zit besser als bisher zu überwinden und das öffentliche Interesse zu mehren sei. Die Historiker, wo sie auch herkommen, wo sie sich auch bewegen, sind auf Zu­ sammenwirken angewiesen, wenn sie das Notwendige dieser Tage tun wollen. In der aktuellen Naturwissenschaft, in der Medizin vor allem, ist Teamwork längst eine Selbstverständlichkeit. Warum sollte sie nicht dort möglich sein, wo Fach- und Wissenschaftsgeschichte sich zu den übrigen historischen Di strikten öffnen, oder wo eine strukturelle, universale, übergreifende " science humaine " heranwachsen soll. Die Kräfte derjenigen, die in wissenschaftshistorischen Arealen dies wollen, sind noch geteilt und schwach. Hilfe von außen, die sich heute vielfach zeigt, ist nötig. Einzelbeispiele, die aber zumeist noch Einzelleistungen übergreifender Darstellun­ gen sind, lassen sich in der Bundesrepublik etliche vorführen. Ich brauche nur Fritz Wagner zu nennen und sein neues Buch über lsaac Newton im Zwielicht zwischen Mythos und Forschung, Studien zur Epoche der Aufklärung, oder den Wissenschaftssoziologen Wolf Lepenies mit seiner schon genannten Monographie über Das Ende der Na turgeschichte oder den Sozialwissenschaftler Artbur E. Imhof und sein gemeinsames Werk mit dem norwegischen Medizinhistoriker Larsen über Sozialgeschich te und Medizin und ihre Probleme der quantifizierenden Quellenbear­ beitung. Das sind nur drei Beispiele von Arbeiten, dazu noch vorwiegend zum acht­ zehnten Jahrhundert, die zeigen, wie die neue Wegrichtung auch bei uns laufen kann. Ich habe zu Anfang aus den Maximen und Reflexionen zitiert, ich muß am Ende daraus noch ei nmal Sätze aufnehmen, Sätze des ausgehenden achtzehnten Jahr­ hunderts, die auch unsere Gegenwart bestimmen : " Wenn ein Wissen re if ist, Wissenschaft zu werden, . . . muß notwendig eine Krise entstehen, denn es wird die Differenz offenbar zwischen denen, die das Einzelne trennen und getrennt darstellen, und solchen, die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und ei nfügen möchten. Wie nun aber die wissenschaft­ liche, ideelle, umgreifendere Behandlung sich mehr und mehr Freunde, Gönner 1 22

und Mitarbeiter wirbt, so bleibt auf der höheren Stufe jene Trennung zwar nicht so entschieden, aber doch genugsam merklich. Diejenigen, welche ich die Universalisten nennen möchte, sind überzeugt und stel­ len sich vor: daß alles überall, obgleich mit unendlichen Abweichungen und Mannig­ faltigkeiten, vorhanden und vielleicht auch zu finden sei ; die andern, die ich Singu­ laristen benennen will, gestehen den Hauptpunkt im allgemeinen zu, ja sie beobach­ ten, bestimmen und lehren hiernach, aber immer wollen sie Ausnahmen finden da, wo der ganze Typus nicht ausgesprochen ist, und darin haben sie recht. Ihr Fehler aber ist nur, daß sie die Grundgestalt verkennen, wo sie sich verhüllt, und leugnen, wenn sie sich verbirgt. Da nun beide Vorstellungsweisen ursprüngl ich sind und sich einander ewig gegenüberstehen werden, ohne sich zu vereinigen oder aufzuheben, so hüte man sich ja vor aller Kontrovers und stelle seine Überzeugung klar und " nackt hin. " Was Goethe hier sagt und für seine Naturwissenschaft, seine Morphologie münzt, dürfen wir ruhig in unsere Bereiche hinübertragen. Singularisten und Universalisten allein zu unterscheiden, mag für die Arbeit und die Kennzeichnung der Situation der Wi ssenschaftsgeschichte, für das achtzehnte Jahrhundert und seine Perioden im besonderen, die Geschichtswissenschaft überhaupt, eine recht grobe Schemati­ si erung sein, sie weist dennoch auf ein wesentliches Gegenüber hin, mit dem wir zu rechnen haben. Daß beide sich heute treffen sollten, trotz der grundsätzlichen und gänzlicJ:len Skepsis unseres Zitates, um das eine zum anderen zu bringen, um Probleme und Sachen zu bündeln, hier für eine b reitere Basis der Interpretation, dort für eine tiefere zu wirken, um wirklichkeitsvollere Darstellung zu erreichen, er­ scheint vielen in unserer Zeit möglich und notwendig. Ich meine, die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts sei die rechte Ge­ meinschaft, auch dies für ihre Zeit voranzubringen. Anmerkungen 1 Johann Wolfgang von Goethe, "Maximen u n d Reflexionen", i n : Werke, 4. Aufl. , Bd. 12 (Hamburg, 1 960) p. 4 1 8. 2 Ebenda, p. 423. 3 August Hirsch, Geschichte der Mediänischen Wissenschaften in Deutschland. Auf Veranlassung S r. M aj estät des Königs von Bayern h rsg. d u rch die Historische Kommission bei der Kgl. Akademie der Wi ssenschaften (Mü nchen und Leipzig, 1 893) pp. V, VI, VII . 4 Rudolf Eisl er, Geschichte der Wissenschaften (Leipzig, 1 906). Vgl . Vorwo rt.

5 Geo rge Sarton, lntroduction to the History ofScience. Vols. 1 - 3 (Baltimore) 1 927 - 1947). 6 Histoire generale des sciences, ed. Rene Taton, Tomes 1 - 3, (Paris, 1 957 - 1 96 1). 7 John Desmond Bernal, Science in History, (London, 1 954). Dtsch. Übers. von Ludwig Bol l : Die Wissen­ schaft in der Geschichte ( Darmstadt, 1961). Ich habe d i e dtsche. Ausgabe des Rowohlt-Verlages (Rein bek-Hamb u rg, 1 970) benutzt. 8 Jacques Roger, .ButTons Begriff von Natur und Naturgeschichte", Sitzu ngsberi chte der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften z u Marburg, 82 ( 1 960), Heft 2, pp. 63 - 73 (hier: p. 69) .

9 Ebenda, p. 69.

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10 Handbuch der Geschichte der Medizin, h rsg. von Max N e u b u rger und J u l i u s Page!, Bd. I - 3 (Jena, 1901 - 1 905).

I I Fiel d i ng H. Garri son, Jntroduction to the History of Medicine, 4. Aufl. (Philadelphia und London, 1 929). 1 2 Karl Sud hoff, Kurzes Handbuch der Geschichte der Medizin, 3 . und 4. Aufl. von J. L. Pagel s Einführung in die Geschichte der Medizin ( 1 898) (Berlin, 1 922). 1 3 Eben da, pp. III - V (hier: p. III). 1 4 Ebenda, p. III. 1 5 Theodor Meyer-Steincg und Kar! Sudhoff, Geschichte der Medizin im Überblick mit Abbildungen (Jena, 1 920). 1 6 Maurice Bari ety et Charles Coury, Histoire de Ia Medecine (Paris, 1 963). 17 Erwin H. Ackerknecht, Kurze Geschichte der Medizin (Stuttgart, 1 959) p . 1 03 - 1 1 5 . 1 8 Charles Lichtenthael er, Geschichte der Medizin: Die Reihenfolge ihrer Epochen-Bilder und die treibenden Kräjie ihrer Entwicklung, Bd. I - 2 (Köln-Löven ich, 1974). 19 Rud o l f Vierhaus, " Geschichte der Wissenschaft: zentraler Gegenstand auch der Geschichtswissen­ " schaft? Wirtschaft und Wissenschaft 1 975, Heft 3, pp. 22 - 26, (hier: p. 22). " 20 Johann Wolfgang von Goethe, " Maximen u n d Reflexionen , Werke, 4. Aufl . , Bd. 1 2 (Hamburg, 1 960) p. 425. 21 Jacques Roger, "Die wissenschaftliche Einstellung der französischen Natu rfo rscher i n der ersten Hälfte " des 18. Jahrhunderts, Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissen­ schaften zu Marburg, 82 ( 1 960), Heft 2, pp. 39 - 5 1 (hier: p. 39). 22 Paul Diepgen, Geschichte der Medizin : Die historische Entwicklung der Heilkunde und des ärztlichen Lebens, Bd. 1 - 2, 2 (Berlin, 1 949 - 1955). " 23 Henry Emest Sigerist, "Wil liam Harvey's Stellung i n der e u ropäischen Geistesgeschichte, A rchiv für Kulturgeschichte, 1 9 ( 1 929), 1 58 - 1 68. 24 Ebenda, p. 1 66. 25 Ebenda, p . 1 66. 26 Ebenda, p. 167. 27 Tadeusz Bilikiewicz, Die Embryologie im Zeitalter des Barock und des Rokoko, Arbeiten des Instituts fü r Geschichte der Medizin der Universität Leipzig, Band 2 ( Leipzig, 1932). " 28 Wilhelm Katner, " Musik u n d Medizin im Zeitalter des Barock, Wissenschaftliche Zeitschrift der Kari-Marx-Universität Leipzig ( 1952 - 53), Heft 7 - 8, 477 - 508. 29 Vgl . etwa: Edith Heischkei-Artelt, "The Concept of Baroque Medicine i n the Development o f M ed i cal " Historiography, Actes du dixieme congres international d 'Histoire des Sciences, lthaca, 26. 8. -2. 9. 1 962 (Paris, 1964), pp. 9 1 3 - 9 1 6 ; Heinrich Buess, Physiologie und Pathologie in Basel zur Zeit des Barocks Gesnerus, 1 4 ( 1 957), 1 4 - 28 ; G unter Mann, " Gesu ndheitswesen und Hygiene in der Zeit des Übergangs " von der Renaissance zum Barock, Medizinhistorisches Journal, 2 ( 1 967), 1 07 - 123. 30 Vgl. u. a. : Waller Artel!, "Bemerkungen zum Stil der anatomischen Abbi l d u ngen des 16. und " 1 7 . Jahrhunderts. Actas del XV Congreso internacional de Histoira de Ia Medicina, Madrid-Aicaliz 22-29 de septiembre, 1956 (Madrid, 1958), I, 393 - 396; Gunter Mann, " Medizinisch-naturwissenschaft­ " liche B u c h i l lustration im 1 8 . Jahrhundert in Deutschland, Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Be­ forderung der gesamten Naturwissenschaften in Marburg, 86 ( 1 964), Heft 1 - 2, p p . 3 - 48.

31 Ebenda, p. 4 f. 32 Gunter Mann, "Anatomische Sam m l u ng Frederik Ruyschs ( 1 638 - 1 73 I )", Sudhaffs Archiv, 45 ( 1 961 ),

1 76 - 1 78. 33 Waller Artel!, "Barocke Wissenschaft i n Übersee,

"

Universitas, 7 ( 1 952), 5 5 - 64.

34 Vgl. Paul Diepgen, " Die Heilkunde i m Zeitaiter des Barock, ca. 1 600 bis 1 740, " in: P. Diepgen, Geschichte der Medizin (Berlin, 1 949) I, 280 - 329. 35 Erwin H. Ackerknecht, "Medizin und Aufklärung, ( 1 959), pp. 2 0 - 22 (hier: p. 20).

"

Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 89

36 Paul Di epgen und Heinz Goerke, Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin, 7. Aufl. (Berlin, Göttingen, Hei delberg, 1 960). 37 Heinrich Schipperges, Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte (Stuttgart, 1 970), pp. 247 - 263.

1 24

" 38 Vgl. u. a. : Gunter Mann, "Medizin der Aufkläru ng: Begriff und Abgrenzung, Medizinhistorisches " Journal I ( 1 %6), 63 - 74; ders., "Medizin der Aufklärung, Marburger Universitätsbund: Jahrbuch " ( 1 966 - 67), 32 1 - 332; Wolfgang Philipp, "Die Physikotheologie, i n : Das Zeitalter der Aufklärung, h rsg. von Wolfgang Philipp (Bremen, 1965) pp. LVII I - LXIX (Klassiker des Protestantismus, h rsg. von Chr. M . Schröder, Bd. 7); Lydia Kunze, .Die physische Erziehung der Kinder": Populäre Schriften zur Gesundheitserziehung in der Medizin der Aufklärung, Med. Diss. Marburg 1 97 1 ; Friedrich-Wil helm Schwartz, Idee und Konzeption der frühen territorialstaatlichen Gesundheitspflege in Deutschland " (.Medizinische Polizei ) in der ärztlichen und staatswissenschaftliehen Fachliteratur des 16. - 1 8. Jahr­ hunderts, Med. Diss. Frankfu rt/M. 1 973; Erdmuth Dreißigacker, Populärmedizinische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zur hygienischen Volksaujklärung, Med. Diss. Marburg 1 970 u. a. 39 Vgl. etwa Edith Heischkel, "Die Medizin der Goethezeit," Ciba-Zeitschrift, Wehr, 7 ( 1 956), 2653 - 266 1 . 40 Wolf Lepenies, Probleme einer historischen Wissenschaftsforschung ( M S . ), BI. l . 4 1 Ebenda, B I . 4 42 Eben da, BI. 4 f. 43 Wol f Lepenies, " N ormalität und Ano rmalität: Wechselwirkungen zwischen den Wi ssenschaften vom " Leben und den Sozialwissenschaften i m 19. Jahrhundert, Kötner Zeitschriftfür Soziologie und Sozial­ psychologie, 26 ( 1 974), 492 - 506. 44 WolfLepenies, Das Endeder Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissen­ schaften des /8. und 19. Jahrhunderts ( M ünchen, Wien, 1 976). 45 Dietrich von Engelhardt, "Die Bedingu ngen des Wissenschaftsprogresses im Bewußtsein der Natur­ forscher des 18. Jahrhunderts, Medizinhistorisches Journa/, 1 0 ( 1 975), 1 - 27. 46 An onym : Denkschrift zur Erinnerung eines Instituts für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschafts­

forschung, o. J. (um 1970) Mschr. vervie/f. 47 Eben da, BI. 3 f. 48 Heinrich A Wi nkler, "Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte: Ortsbestimmung einer Wissen­ " schaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 9. 1 976, Nr. 2 1 2, p . 23. " 49 Vgl. dazu u. a. Karl Erich Born, "Der Strukturbegriff i n der Geschichtswissenschaft, in: Herbert von Einem, Karl Erich B o rn, Fritz Schalk und Wolfgang P. Schmidt, Der Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften (Mainz, 1 973), 1 7 -30 ( - Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaft­ liehen Klasse, Jg. 1 973, Nr. 2); Karl Erich Born, "Neue Wege der Wissenschafts- und Sozialgeschichte " in Frankreich: Die Historikergrup p e der »Annales«, Saeculum, 1 5 ( 1 964), 298 - 309; J. Schmidt,

Der historiographische Ansatz Fernand Braudels und die gegenwärtige Krise der Geschichtswissenschaft,

" Phi I. Diss. München 1 97 1 ; Fernand B raudel, "Histoire et sciences sociales: Ia longue duree, Annales, 13 ( 1 958), 725 - 753. " 50 Zit. nach K. E. Born, "Neue Wege der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Frankreich, a.a.O., pp. 308 f. 5 1 Hei n rich A Wi n kler, a.a.O.

" 52 Johann Wolfgang von Goethe, "Maximen und Reflexionen , Werke, 4. Aufl . , Bd. 1 2 (Hamburg, 1 960) p. 420.

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Thomas Gaehtgens Regence - Rokoko

-

Klassizismus

Zum Problem der Stilbegriffe in der französischen Malerei des achtzehnten Jahr­ hunderts.

I Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche zu begreifen, im Sinne eines in sich geschlossenen Zeitraumes, abgrenzbar von dem voraufgegangenen und dem fol­ genden Jahrhundert, scheint fü r die kunstgeschichtliche Forschung kein sehr fruchtbarer Gedanke mehr zu sein. Wenn dennoch von Fachgelehrten, meist aber aus dem an der Kunst interessierten Publikum, sowohl in Handbüchern als auch in den für eine größere Ö ffentlichkeit bestimmten Bildbänden mit verallgemein­ ernden Texten die Einheit des Jahrhunderts beschworen wird, so bleibt die Argu­ mentation, wenn sie überhaupt vorliegt, an der Oberfläche. Gerade die französische Kunst des achtzehnten Jahrhunderts gilt als Paradebeispiel für eine von historischen Fakten abhängige Entwicklung, die vom Tode Ludwigs XIV. im Jahre 1 7 1 5 bis zur Revolution im Jahre 1 789 e ine scheinbar abgeschlossene _ Einheit bildet. Regence, Rokoko, Klassizismus sind Stilbegriffe, die als Phasen dieser zusammengehörenden Epoche gesehen werden. Der historische Hintergrund wurde dabei keineswegs außer Acht gelassen. Viel­ mehr ließ sich gerade die Herauslösung und Befreiung vom Grand Sieeie und seinen Normen bis zur Besitznahme der politischen Macht durch das sich zu eigenem Handeln herausbildende Bürgertum mit der Ausprägung der künstleri­ schen Formensprache verknüpfen. Steht noch am Anfang des Jahrhunderts das Staatsporträt des Sonnenkönigs von Hyacinthe Rigaud ( 1 659- 1 743) (Abb. 1), so kennzeichnet das Ende Jacques-Louis Davids ( 1 748- 1 825) " Brutus", in dem die Revolution den Vater heroisierte, der den Tod seiner in eine royalistische Ver­ schwörung verwickelten Söhne befahl . Steht der absolutistische, mit allen Attri­ buten seiner Machtfülle ausgestattete Herrscher am Anfang des Jahrhunderts, so charakterisiert das Gemälde Davids, der die Zurückstellung der Familienbindung zu Gu nsten der Interessen des Staates zum Ausdruck brachte, das Ende einer scheinbar kontinuierlichen Entwicklung innerhalb einer Epoche. 127

Dazwischen liegt, gleichsam die innere Logik des Entwicklungsprozesses der ex­ tremen Gegensätze von Anfang und Ende bestätigend, der Verfall der Sitten nach dem Ü bergang der Regence in das Rokoko, veranschaulicht durch Fran�ois Baueher ( 1 703-70) (Abb. 1 0- 1 1 ) , und der Rückgewi nn von Anstand und Moral, gefordert im Werk von Jean-Baptiste Greuze ( 1 725- 1 805), der das Genrebild zur " morali­ schen Institution" zu erhöhen suchte (Abb . l 3 , 1 5 - 1 6), was ursprüngl ich nur dem Historiengemälde nach den strengen Regeln der Academie Royale des Beaux-Arts vorbe halten war. Die Sicht des achtzehnten Jahrhunderts als Epoche, unterteilt in Regence, Ro koko, und Klassizismus, hat von vornherein den Entwicklungsprozeß in den Vorder­ grund gestellt. Dabei standen vor allem formal-malerische Fragen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Der " historische Querschnitt", bei dem das Kunstwerk aus seiner Umgebung heraus, parallel zu den gleichzeitig aktuellen Fragen in anderen Lebensbereichen, seine Erläuterung und Interpretation erfahren hätte, wurde als Methode nur selten angewandt. Auch wurden durch d i e Ko nzentration auf die Untersuchung malerischer Probleme, i konographische und inhaltliche Fragen noch zu wenig berücksichtigt� Ferner sind über die künstlerische Entwicklung einzelner Maler hi nausgehende Fragestellungen, wie die nach dem Wandel der gesell schaft­ lichen Stellung des Künstlers, des Auftraggebers, des Publikums oder der Beziehun­ gen von Staat und Kunst und deren Einfluß auf die Bil dgestaltung, noch kaum behandelt worden .' Dabei i st die Quellenlage für das achtzehnte Jahrhundert durch die ungeheure literarische Produktion sehr viel günstiger zu beurteilen, als dies i n anderen Jahr­ hunderten der Fall ist. Sucht man die eben aufgezählten Themen zu behandeln, so finden sich im achtzehnten Jahrhundert Bereiche, die zwischen den Disziplinen zu liegen schei nen. Die zeitgenössische Kunstkritik etwa vermag genaue Einsich­ ten in die Rezeptionsgeschichte der bildenden Kunst des Jahrhunderts zu vermit­ teln. Seit der grundlegenden Arbeit von A Dresdner aus dem Jahre 1 9 1 5 ist jedoch zu dieser Fragestellung nur wenig erschienen.' Wie sehr Untersuchungen der angedeuteten Art das Bild von Regence, Rokoko und Klassizismus präzisieren werden, wie sie sogar die gewohnten Vorstellungen dieser Entwicklungsphasen verändern können, ist noch gar nicht abzusehen. Regence, Rokoko und Klassizismus haben schon von ihrer Bezeichnung her unter­ schiedliche Bezugspunkte. Während mit Regence ein historisch genau fixierbarer Zeitraum, der der Regentschaft des Herzogs von Orleans zwischen 1 7 1 5-23 bezeich­ net wird, wobei in der Kunstgeschichte in diese Stilphase die letzten Jahre der Regierung Ludwigs XIV. noch hinzugenommen werden, sind Rokoko und Klassi­ zismus Stil begriffe, die erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts auf das ver­ gangene angewandt wurden. Die französische Kunstgeschichtsschreibung hat 1 28

konsequenter nach Herrschern unterteilt, während sich in Deutschland und im angelsächsischen Bereich das "Louis XVI"·nicht durchsetzten.' Mit den Stilbegriffen Regence, Rokoko, Klassizismus als i nhaltlich determinierten Phasen zu arbeiten, war in der Tat nur so lange sinnvoll, als versucht wurde, einen bestimmten künstlerischen Entwicklungsprozeß in groben Zügen in den Griff zu bekommen. Eine erste Sichtung des Materials, wie es die Brüder Edmond und Ju les de Goncourt i n der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unter­ nahmen, bedeutete den Beginn dieser Arbeit.' Im Handbuch der Kunstwissenschaft von E. Hildebrandt aus dem Jahre 1 9 1 6 wird noch in " Louis XIV'', " Regence", " Rokoko", " Louis XVI " und endlich "Empire" unterteilt. Der Autor fUgt aber er­ läuternd hinzu: " Die Benennung der Kunststile nach den Namen der französichen Herrscher ist längst als ein nicht sehr glücklicher Notbehelfzur h istorischen Orien­ tierung erkannt worden."• In der im Jahre 1973 erschienenen jüngsten zusammen­ fassenden Darstellung der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich, in der vorzüglichen Reihe der " Pelican History of Art", konnten sich nicht einmal die beiden Autoren auf einheitliche Epochenunterteilungen einigen. Während W. Graf Kainein für die Architektur von " Regence", "Louis XV", die "Wende zum Neoklassizismus" und endlich, für das Ende des Jahrhunderts, von "zwischen Klassizismus und Romantik" spricht, entgeht M. Levey, der Bearbeiter der Malerei und Plastik, allen Schwierigkeiten. Seine Aufteilung des achtzehnten Jahrhunderts als Epoche lautet : " Early Years", " Middle Years'� " Late Years".' II Es könnte nun dies alles als ein Streit um Worte abgetan werden, der ja ftir jedes Jahrhundert, ftir jede Epoche ausgefochten worden ist oder immer noch ausge­ fochten wird.' Für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts ist jedoch die Periodisierung mit Hilfe der Stilbegriffe nicht unwesentlich geblieben. Mit ihnen wurden von vornherein bestimmte Maßstäbe gesetzt, Kriterien erarbeitet, die einen Zeitabschnitt angeblich charakterisieren. ' Die Zugehörigkeit zu einer Stilperiode und die Verkörperung ihrer Merkmale zu konstatieren, konnte bei solcher Ziel­ setzung einzige Aufgabe der Untersuchung sein. Ein Künstler, der nicht i n das Schema paßte, geriet schnell in Vergessenheit. Hierfür gibt es unzählige Beispiele. Für j edermann ist Antoine Watteau ( 1 684- 1 7 2 1 ) der Maler der Regence. Sein Werk verkörpert auf deutliche Weise d i e Loslösung, ja die Befreiung von den strengen Regeln der Academie des siebzehnten Jahrhun­ derts. Seine " Fetes galantes" oder " Fetes champetres" (Abb. 2) waren in die Hierar­ chie der Bildgattungen, Historienmalerei, Porträt, Landschaft, Genre und Stilleben, nicht einzuordnen. Die Academie machte daher ftir ihn eine Ausnahme. Das Thema seines Probebildes wurde ihm im Jahre 1 7 1 2 freigestellt. Nach langer Diskussion wurde er 1 7 1 7 endlich als "Maitre des ietes galantes" aufgenommen.'• 1 29

Watteaus Gemälde scheinen eine nicht realitätsbezogene Traumwelt wiederzu­ geben, ein Arkadien, das allein das Theater zu bieten vermochte. Zu der Sonder­ stellung seiner Bildthemen trat die an Rubens, den Venezianern und der nieder­ ländischen Genremalerei geschulte pastose Malweise, durch die er von der Lokalfarbigkeit der Poussin-Nachfolge abwich. Wir wollen hier nicht der Frage nachgehen, wie Watteaus Gemälde im einzelnen zu deuten sind. Dies ist ein schwieriges, sicher nicht ohne die Kenntnis der Literatur, vor allem der Theatergeschichte, der Zeit lösbares Problem." Wichtig scheint in unserem Zusammenhang, die Frage zu stellen, ob Watteau wirklich in dieser Ausschließlichkeit der charakteristische Exponent seiner Epoche war. Seit dem neunzehnten Jahrhundert wird die Vorstellung von diesem Zeitraum weitgehend aus der, im übrigen gar nicht zu bestreitenden, besonderen künstlerischen Quali­ tät seines Werkes abgeleitet. " Der Begriff " Regence" mag in der Malerei durch Watteau, der allerdings nur fl.ir wenige Freunde und Sammler malte, veranschaulicht werden. Doch ist unser Bild des Zeitraumes zu einseitig von der Vorstellung der Befreiung geprägt, die durch das Einpacken des Bildnisses von Louis XIV im " Ladenschild von Gersaint" (Abb. 3) ihren symbolischen Ausdruck gefunden hat:' Es ist nicht der Umstand, daß Watteaus Gemälde zeitlich nur begrenzt in den Abschnitt der Regence passen, historische Daten lassen sich nicht unmittelbar auf künstlerische Entwicklungs­ prozesse übertragen, die ihn nicht als den allein diesen Zeitraum kennzeichnenden Künstler erscheinen lassen. Vielmehr ist die Tatsache entscheidend, daß sein Werk viel zu vereinzelt dasteht. Neben dem Künstler der " Regence" waren eine große Anzahl offiziell anerkannter, heute aber vergessener Maler tätig, die sich nur schwer in den durch Watteau geprägten Begriff einordnen lassen. Das spätere Kunsturteil, angefl.ihrt von den Brüdern de Goncourt, hat ihn zum Repräsentanten einer ganzen Epoche gemacht, obwohl er womöglich nur der Exponent einer Aus­ drucksform eines viel reicheren und differenzierter zu betrachtenden Zeitraumes war. Die Aussage von P. Marcel, " entre Le Brun et Boucher il existe . . . un temps de transition", wird heute in Frage gestellt werden müssen?• In jedem Fall trifft sie nur fl.ir einen Teil des Kunstbetriebes zu. Keineswegs ist richtig, daß mit dem beginnenden achJzehnten Jahrhundert, mit dem Rückzug des Adels von Versailles nach Paris, mit dem angeblichen Desin teresse fl.ir die Kunst des unter dem Ein­ fluß der Madame de Maintenon frömmelnden Louis XIV und aufgrund wirtschaft­ licher Schwierigkeiten nach den spanischen Erbfolgekriegen, in Paris ein freizügiges, von der Etikette befreites Lebens begonnen hätte, das die mythologischen Szenen nur so herausgefordert habe. Vielmehr stand bereits die Ausstattung des Grand Trianon in Versailles, das, dem Charakter des Gartenpalais als " Maison de plaisance" entsprechend, in einem anderen " modus" als die repräsentative Dekoration des Schlosses gehalten war, am Anfang der Entwicklung. Die mythologischen Szenen 130

der Gemälde des " Grand Trianon", die seit den 1 680er Jahren entstanden, müssen von Themen und Formensprache her gesehen als Beginn einer Entwicklung gese­ hen werden, die über Fran�ois Lemoine ( 1 688-1 737) zu Jean-Fran�ois de Troy ( 1 679- 1752), Charles-Joseph Natoire ( 1700-1777) und Boucher führte." Das Jahr 1700 bedeutet insofern keinen Einschnitt. Für diesen Zusammenhang ist ein Künstler wie Henri de Favanne ( 1 668-1752) ein kennzeichnendes Beispiel. Wenn er heute nur wenigen Kennern der französichen Malerei bekannt ist, so war er zu seinen Lebzeiten zweifellos anerkannter als Watteau. Im Jahre 1 704 in die Academie aufgenommen, wurde er aufgrund seines hohen Ansehens sogar deren Direktor." Seine Gemälde passen keineswegs in das oberflächliche Bild, das wir uns bisher von der Epoche machten. Ein Vergleich seines wahrscheinlich um 1 725 entstandenen Bildes mit der Darstellung " Coriolan verläßt seine Familie" (Abb. 4) mit Werken Poussins bezeugt in Bildaufbau und Gebärdensprache die ungebrochene Geltung des Formenkanons des siebzehnten Jahrhunderts. Favannes Gemälde ist ebenfalls ein Werk der Regence, setzt sich allerdings entscheidend von der Ausdrucksweise Watteaus ab. Henri de Favannes Werke sind zweifellos für andere Auftraggeber entstanden, die die durchgängige Tradition mythologischer Historienmalerei, wie sie von Poussin im Grand Sieeie ausgebildet wurde, schätzten und förderten. Auch in der religiösen Malerei des frühen achtzehnten Jahrhunderts, die noch weitgehend unerforscht i st, läßt sich eine enge Bindung an das vorhergehende Jahrhundert feststellen. Die Vorstellung von Regence und Rokoko als Zeiträumen, in denen sich die befreienden Tendenzen allein in frivolen und erotischen Szenen, wenn auch zunächst in mythologischem Gewand, darstellen, ließ die Annahme einer religiösen Malerei kaum zu. Vor allem durch die Arbeit von A Schnapper über den Historienmaler Jean Jouvenet ( 1 644- 1 7 17) können wir jetzt einen ersten Einblick in die Aufgaben eines Malers nehmen, der um die Jahrhundertwende für den Klerus, den Hof, aber auch für private Auftraggeber, tätig war. Für die Kirche Saint-Martin-des-Champs in Paris führte er in den Jahren 1 706-8 mehrere großformatige Gemälde, wie die "Vertreibung der Wechser aus dem Tempel" (Abb. 5), oder für die Jesuiten in Pontoise die " Beweinung Christi" (Abb. 8) aus. Sein Neffe Jean Restout ( 1 692- 1 768) (Abb. 7), Pierre Subleyras ( 1 699- 1749) (Abb. 6), Pierre-Jacques Cazes ( 1 676- 1754), Nicolas Bertin ( 1 667?-1 736), Sebastian II Le Clerc (1 676- 1 763), Carle Vanloo ( 1 705-1 765), Pierre-Charles Tremolieres ( 1 703-39) und viele andere, die alle der Academie als Professoren angehörten, gewährleisteten eine Kontinuität akademischer Ausbildung über die Jahrhundertwende hinweg, bis zu Joseph-Marie Vien ( 1 7 16-1 809) in den vierziger Jahren. (Abb. 9):' A Schnapper hat daher auch folgerichtig von einer notwendigen Revision unserer Epochenvorstellung und Periodisierung gesprochen : " Reduire la peinture fran�aise de ce temps a une transition laborieuse entre l'art classique de Poussin et de Le

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Brun d'une part, Ia peinture rococo, celle de Boucher, d'autre part, c'est commettre un premier contre-sens: Ia peinture du XVIIIe siecle fran�ais ne saurait etre limitee a celle qu'aimaient les Goncourt, un art d'une virtuosite extreme mais galant, de "petit goßt", aux idees courtes, qui ne tend qu'au plaisir superficiel. Si imperieuse qu'ait ete Ia mode qui reduisait Ia peinture a Ia representation des amours des dieux au-dessus des portes des salons, eile ne put detruire Ia peinture plus serieuse, Ia peinture religieuse en particulier." .. Der Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war wohl weniger ein entscheidender entwicklungsgeschichtlicher Einschnitt, als bisher angenommen wurde. Allein ein seit dem späten neunzehnten Jahrhundert verbreitetes Kunsturteil hat unser Bild des Epochenwandels so geprägt. Wie wird es nun differenzierter darzustellen sein? Wohl nur, indem zunächst in großer Breite die malerische Produktion der Zeit erforscht wird. Dann dürften allein genaue Untersuchungen über den Kunstbetrieb in der ersten Hälfte des Jahr­ hunderts, sowie die Frage nach der Rezeption durch die verschiedenen gesellschaft­ lichen Schichten Aufschluß über die Rolle der bildenden Kunst in diesem Zeit­ raum ermöglichen. III Auch über die Malerei der Mitte und der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind wir kaum besser unterrichtet. Hier fehlen sogar die Künstlerbiographien mit Werk­ katalogen der großen Meister. Der letzte, sehr unvollständige Werkkatalog von David stammt aus dem Jahre 1 880, von Greuze gibt es bisher garkeinen." Über die meisten Künstler dieses Zeitraumes sind noch keine Biographien geschrieben, ihr Werk i st noch nicht erfaßt worden. Wiederum waren es Stilbegriffe, Rokoko und Klassizismus (oder Neoklassizis­ mus),'• die das Leitbild der Epoche bestimmten. Zu wenig ist demgegenüber das vorhandene Material unvoreingenommen untersucht worden. Das vereinfachte Bild des Zeitraums sieht den Klassizismus als eine die frivolen Themen des Rokoko ablösende Kunstrichtung, die sich wieder an den Idealen des Grand Sieeie aus­ richtete. Danach wurde das formale Vorbild der Antike im Sinne von Poussin und Le Brun übernommen. Neue Themen und genauere Rekonstruktionen der antiken Kultur konnten durch die antiquarische Gelehrsamkeit und Wissensver­ mittlung von A-C.-P. de Caylus und J. J. Winckelmann nach den Entdeckungen von Pompeji und Herkulaneum entstehen." Von einer "Überwindung" der Themen des Rokoko durch den Klassizismus wird heute mit größerer Zurückhaltung gesprochen werden müssen. J.-M. Viens " Jeune grecque sortant du bain" (Abb. 12) überträgt ja in Wahrheit nur das erotisch-mytho­ logische Sujet von Bouchers " Diana im Bad" (Abb 1 0) in einen klassizistischen De132

kor. Viens " Venus und Mars" von 1 767 führt die Tradition der mythologischen Liebeszenen Fran�ois Lemoines in der antikischen Form ensprache fort:' Mario Praz prägte für diesen Zusammenhang den treffenden Ausdruck: " Erotique fri­ gidaire." " Als Madame Dubarry im Jahre 177 1 ihren von dem Architekten Claude-Nicolas Ledoux ( 1 736-1 806) errichteten Pavillon in Louveciennes ausschmücken ließ, be­ auftragte sie Honore Fragonard ( 1 732-1 806), vier großformatige Szenen zu malen. Der Maler schuf eine Folge von vier Liebesszenen mit Figuren im zeitgenössischen Kostüm, die zu seinen schönsten Gemälden gehören. Obwohl sie bereits in dem Gartenpalast aufgehängt waren, fanden sie nicht die Gunst der Besitzerin, und die Dubarry ließ sie durch vier andere von Vien ersetzen. Im Thema unterscheidet sich der Zyklus von Vien kaum, aber er ist in einem anderen Modus gemalt, eben dem antikischen, dem klassizistischen, den Fragonard, der Mode entsprechend, hätte wählen sollen. " Auch der ehemalige Revolutionär David hat, wie seine Schüler Jean-Auguste-Domi­ nique Iogres ( 1 780- 1 867) und Anne-Louis Girodet-Trioson ( 1767- 1 824), in seinem Gemälde " Paris und Helena" aus dem Jahre 1788 und später 1 8 1 7 mit " Amor und Psyche" sowie 1 824 mit " Mars von Venus entwaffnet" die Tradition erotischer Liebesszenen fortgesetzt?' Bei Fragonard und Vien handelte es sich nicht etwa um Künstler, die verschiedenen Generationen angehörten. Im Gegenteil, der jün­ gere Fragonard wählte nicht die moderne, klassizistische Ausdrucksweise. Die Wahlmöglichkeit von Stilformen wird j edoch durch einen für einen Zeitraum fest­ gelegten Epochenbegriff, wie dem des Klassizismus, verdeckt. Ein anderes Beispiel. Im Salon von 1 767 standen zwei großformatige religiöse Gemälde, die für die Kirche Saint-Roch in Paris bestimmt waren, im Mittelpunkt des Interesses, J.-M. Viens " Predigt des Hl. Dionysius" und Gabriel Fran�ois Doyens ( 1 726- 1 806) " Pestwunder".'• Über beide Gemälde gab es positive Äußerungen in der Kunstkritik, obwohl nur Viens Komposition in seinem strengen Bildaufbau an die Tradition klassizistischer Historiengemälde Poussins erinnerte. Doyen wählte vielmehr, im Gegensatz zu Vien, in seiner bewegten Komposition Gemälde von Rubens zum Vorbild. Poussinismus und Ruhenismus waren, wie auch um die Wende von 1 700, nebeneinander möglich. Unter Klassizismus als Stilbegriff für die Malerei der zweiten Jahrhunderthälfte müssen also sehr verschiedenartige ma­ lerische Möglichkeiten zusammengefaßt werden.

IV Dabei ist der Begriff Klassizismus, selbst im engeren Sinne, bisher keineswegs ausreichend definiert. Erst in jüngerer Zeit wurden neben den formalen Kennzei­ chen des Klassizismus auch stärker inhaltliche, die Wahl und die Bedeutung der 133

Themen betreffende Fragestellungen in Untersuchungen miteinbezogen. Davids Historiengemälde, die als Höhepunkt der Epoche bezeichnet werden müssen, der " Schwur der Horatier" und der "Brutus", verkörpern bestimmte moralische Tugen­ den, die die Revolution in ihrem Sinne interpretierte. Doch ist bis heute die Frage nicht klar beantwortet, ob die Revolution und die sie vorbereitenden Kräfte die Triebfeder der Entwicklung zu diesem Höhepunkt hin waren, oder ob nicht doch ein sich seiner Tradition bewußtwerdendes, sich erneuerndes Königtum seit der Mitte des Jahrhunderts die Reform einleitete. Hierbei spielt der Anteil der Könige selbst eine geringere Rolle als der ihrer Minister. Der Klassizismus des " Brutus" (Abb. 2 1 ) ist die Sprachform, mit deren Hilfe die Loslösung vom Feudalismus zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gleichzeitig ist sie aber auch Wiederaufnahme, Rückerinnerung, Anknüpfen an eine große royalistische Vergangenheit. David, der als Freund Robespierres, aktives Mitglied des Comite de siirete generale, sowie als Vorsitzender des Comite de l'instruction publique für den Tod des Königs stimmte, bediente sich in seinen zur Belehrung des Volkes bestimmten Gemälden einer " Sprachform", die ihre ähnlichsten Vor­ stufen im siebzehnten Jahrhundert fand. Aus den " Exempla virtutis" der griechi­ schen und römischen Kaisergeschichte waren solche der römischen Republik ge­ worden." Die Diskrepanz ist nicht so leicht mit dem Hinweis aufzulösen, daß sich das Bür­ gertum der Formsprache der Aristokratie bemächtigt habe. Man wird wohl genauer nach den Gründen für diese Anpassung suchen müssen. Es wurde viel zu wenig beachtet, daß der Klassizismus eine Reaktion war, die aus der Aristokratie selbst erwuchs und durch das Königtum gefördert wurde. Als im Jahre 1 747 die Kritik des Salons von 1 746 von Lafont de Saint-Yenne mit dem Titel " L'Ombre du Grand Colbert" erschien, war der Zeitpunkt gekommen, in dem gefordert wurde, von staatlicher Seite müsse der Kunst eine neue Richtung gegeben werden." Lafont de Saint-Yenne nahm in seiner Schrift die heftige Kritik Diderots an Boucher vorweg, der als Vertreter der Unmoral dargestellt wurde. Er forderte die staatlichen Institutionen auf, die Historienmalerei, die allein auf die Sitten der Menschen Einfluß nehmen könne, zu unterstützen. Homer, Vergil, Tasso, Mitton sollten die literarischen Vorlagen liefern. Das Alte und Neue Testament, vor allem die Bücher der Propheten, seien zur Wiederbelebung der religiösen Malerei zu Rate zu ziehen. Lafont handelte um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur aus sittlich­ moralischen Gründen, sondern er sah nicht zuletzt das Prestige und Ansehen sei­ nes Landes in Gefahr. Allein wenn die Kunst im Sinne einer Wiederbelebung auf die Prinzipien des Akademismus eingeschworen werde, habe sie die Chance, Frankreich wieder zur " Rivalin Italiens" zu machen, wie es unter Ludwig XIV der Fall gewesen sei. 134

Mit dem neuen "Surintendant des Bätiments du Roi", de Tournehem, der seit 1 745 die Kunstpolitik in neue Bahnen lenkte, vor allem aber unter seinem Nach­ folger seit 1 752, dem Marquis de Marigny, wurde diesen Forderungen entsprochen. Mit der Gründung der Ecole Royale des Eleves Proteges im Jahre 1 748 sicherte man die Ausbildung der Historienmaler zu kultivierten und gebildeten Menschen, die mit der antiken und modernen Literatur und Geschichtsschreibung vertraut waren�· Dementsprechend wurden die Preise für die vom Staat in Auftrag gege­ benen Historiengemälde erhöht, die der Porträts gesenkt. Auch die malerische Ausbildung erfuhr eine Neuordnung. Das Reglement, nach dem die Schüler der Academie des Beaux-Arts in Kursen das Zeichnen nach den alten Meistern, nach der antiken Skulptur und nach dem lebenden Modell zu absolvieren hatte, wurde streng eingehalten. Als künstlerischen Vorbildern, denen nachzustreben war, wandte man sich den Malern der italienischen Renaissance, sowie vor allem Poussin und Lebrun, als den Begründern der akademischen Lehre, zu. Die Initiative ging somit von staatlicher Seite aus, die traditionellen Normen der Kunstpolitik wieder herzustellen. David wuchs unter der Leitung von Vien in diesem kunstpolitischen Prozeß auf. Aus diesem Grunde wohl hatte er für eine Kunst, die mit größerer Sicherheit die Probleme des bürgerlichen Standes zum Ausdruck gebracht hätte, kein Verständnis. Der sozialen Wirklichkeit und der wachsenden Selbstsicherheit des dritten Standes wurden die Gemälde von Greuze, der in den Revolutionsjahren jedoch nicht zu Ehren kam, eher gerecht. Es ist aufschlußreich, daß die klassizistische Kunstpolitik auch von den "Aufklä­ rern" unterstützt wurde. Diderot etwa hat Greuze, der sich als Genremaler an die höhere Bildgattung heranwagte, scharf kritisiert. Bis zum Jahre 1 768 war Greuze von dem Schriftsteller als Genremaler gefeiert worden, er hatte ihm sogar in sei­ nem Genre den Rang eines Historienmalers zuerkannt." In seiner Salonbesprech­ ung von 1 763 schreibt er über ihn: "C'est vraiment h\ mon homme que ce Greuze . . . D'abord le genre me pla'it; c'est Ia peinture morale . . . Ne devons-nous pas etre satisfait de le voir concourir enfin avec Ia poesie dramatique a nous toucher, a nous instruire, a nous corriger et a nous inviter a Ia vertu? Courage, mon ami Greuze, fais de Ia morale en peinture, et fais-en toujours comme cela ! " Umso erstaunlicher ist es, daß Diderot den Maler scharf angriff, als dieser versuchte, sich aus der niederen Gattung in die höhere vorzuwagen. Im Salon von 1 769 stellte Greuze sein Bild "Septimius Severus und Caracalla" (Abb. 1 4) aus, mit dem er als Historienmaler in die Academie aufgenommen zu werden gehoffi hatte. Dide­ rots Vorwurf lautete, er habe es nicht verstanden, die für die Historienmalerei notwendige Idealisierung zu vermitteln. Er habe nichts anderes getan, als ein Genrebild in ein Historienbild zu übertragen: "Le Septime Severe est ignoble de caractere, il a Ia peau noire et basanee d'un for�at; son action est equivoque. II est mal dessine, il a le poignet casse. La distance du cou au sternum est demesuree, on ne sait ou va ni a quoi appartient le genou de Ia cuisse droite qui fait relever 135

Ia couverture. Le Caracalla est plus ignoble encore que son pere, c'est un vil et bas coquin; l'artiste n'a pas eu l 'art d'allier Ia mechancete avec Ia noblesse . . . Le plus habile homme du monde est un ignorant lorsqu'il tente une chose qu'il n'a jamais faite. Greuze est sorti de son genre : imitateur scrupuleux de Ia nature, il n'a pas su s'elever a Ia sorte d'exageration qu'exige Ia peinture historique. Son Caracalla irait a merveille dans une scene champetre et domestique . . . '"' Das Gemälde wurde von den Professoren der Academie als Historienbild abgelehnt. Greuze war tief verletzt und hat sich aus dem akademischen Betrieb flir immer zurückgezogen. In dieser flir Greuze so bitteren Kritik steht nicht ein Streit um die klassizistische Formensprache im Mittelpunkt. Obwohl Greuze den Kopf des Caracalla nach einer antiken Büste und den Körper nach dem sogenannte n Antinuos bildete, was Diderot keineswegs verschweigt, fand er kein Lob. Daß er sich im Bildhintergrund und bei einigen antikischen Accessoirs von Viens, nach einem antiken Fresko entstandenen, berühmten Gemälde der " Marchande des amours" von 1 763 inspi­ rieren ließ, wurde ihm nicht positiv angerechnet." Diderot war das Gemälde von Greuze zu " realistisch". Es fehlte ihm die flir die Bildgattung der Historienmalerei angemessene Idealisierung. Die detaillierte Natur­ schilderung war flir ihn die Ausdrucksweise des Genrebildes im Sinne seiner Unterscheidung : " il fallait appeler peintres de genre, les imitateurs de Ia nature brute et morte ; peintre d'histoire, I es imitateurs de Ia nature sensible et vivante." " Greuze hatte j edoch ein Genrebild nur in einen anderen Modus übertragen, flir ein klassizistisches Historienbild war das nicht ausreichend. V

Die Bestimmung des Klassizismus als des flir die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gültigen Stilbegri ffs stößt auf große Schwierigkeiten. Intensive Be­ schäftigung mit der Epoche und ihrer Kunstproduktion läßt eher eine Vielfalt von Stilmöglichkeiten sichtbar werden. R Rosenblum hat daher folgerichtig von einem " Gewebe von Stilen" gesprochen: " In terms of quantity alone, in fact, there is enough Rubenism and Rococo survival, or revival, in classical history painting of the late eighteenth century to warrant considerabl e modification ofprevailing ideas about the hegemony of Neoclassic style at the time.'"' Die zweite Hälfte des Jahr­ hunderts ist kaum als künstlerische Einheit unter dem Oberbegriff Klassizismus zu fassen. Mit den Stichworten " Historismus'"• und " romantischer Klassizismus" wird zudem die enge Bindung der Kunst des achtzehnten an die des neunzehnten Jahrhunderts betont. Die Aussage S. Giedions aus dem Jahre 1 922, allerdings auf die Architektur bezogen, " Klassizismus ist kein Stil. Klassizismus ist eine Färbung", gewinnt immer mehr an Gewicht." Welche Perspektiven gibt es nun, die aus der Sprachverwirrung heraushelfen können? 136

Hierzu ist zunächst zu sagen, daß die Unsicherheit der Begriffsbestimmungen erst aus einem Mehr an Wissen über die Kunst der Zeit erwuchs. R Rosenblurn hat wohl durch sein Buch Transformations in Late Eighteenth Century Art in jüngster Zeit arn meisten zu neuen Einsichten in die Malerei des Zeitraumes beigetragen. Für ihn liegt das Charakteristische der Malerei nicht in der Nachahmung antiki­ scher Formen, sondern in der Beschäftigung der Menschen mit neuen Themen, für die allerdings die griechisch-römische Welt einen breiten Motivschatz bot. Die Antike konnte dabei ganz · · erschiedenartige Anregungen vermitteln. Liebes­ themen, erotische Sujets, pathet sehe Gefühle, enzyklopädisches Wi ssen, heroische Taten, Horror, heldenhafter M1 1t oder staatsmännische Klugheit waren gleicher­ rnaßen als Themen aus diesem I ereich zu gewinnen. Daneben aber wurden Künst­ ler auch von Milton, Dante, Tas ;o, vor allem den zeitgenössischen Autoren, sowie geschichtlichen Ereignissen aus dem Mittelalter und der Neuzeit inspiri ert. Es erscheint daher sinnvoll, sti rker als das bisher geschehen i st, auch über die Landesgrenzen hinweg, die Bildt herneo und ihrejeweilige Ausdrucksform zu unter­ suchen, als nach einem gerneir: sarnen, einen stilgeschichtlichen Oberbegriff be­ stätigenden.Formenkanon zu fo ·sehen. Die Konzentration auf die Werke weniger, künstlerisch anerkannter Maler sollte zugunsten der Interpretation der Themen und ihre Gebundenheit in ihrer : �eit zurückstehen. Der Wandel der Ausdrucksmögt chkeiten in Bezug auf ein für den Zeitraum offen­ bar charakteristisches Thema, k� nn nur an einem Beispiel vorgeführt werden. Der Tod, bzw. das Sterben, ist ein auft tllend häufig dargestellter Bildgegenstand. Poussin hatte im siebzehnten Jahrhunder : bereits mehrfach Kornpositionen gemalt, in deren Mittelpunkt das Totenbett stand In den beiden Zyklen der " Sakramente" für Cas­ siano del Pozzo und Chantelou finden sich solche Szenen. " Für das achtzehnte Jahrhundert spielte aber sicherli ::h der "Tod des Germanicus" von 1628 eine ent­ scheidende Rolle. Gavin Harnil :on ( 1 723- 1 798) inspirierte die Kornposition um 1 768 zu seinem Gemälde mit dt :r Darstellung der "Andrornache, die Hektor be­ weint"... In der Komposition, dif noch viel von dem barocken Pathos des Vorbildes beibehält, gleichzeitig aber erne Jtes Antikenstudium verrät, wurde das römisch­ historische Thema in ein griechi� eh-literarisches Suj et verwandelt. Eine "Transponierung" nahm au :h Greuze vor, der es auf theatralisch-moralische Weise in eine häusliche Szene ül •ertrug (Abb. 1 6) . Eine weitere Umformung voll­ zog sich bei Nicolas-Guy Brenet ( 1 728- 1 792), der im Jahre 1777 den mittelalter­ lichen Connetable Du Guesclin � uf dem Totenbett, geehrt selbst von seinen Fein­ den, darstellte (Abb. 1 8), ein Bei ;piel für die patriotische Erinnerung an die eige­ ne mittelalterliche Geschichte, d: e bereits in den siebziger Jahren des achtzehnten und nicht erst im neunzehnten Ja hrhundert begann.•• Der "Tod der Alcestis" von Jean-Fra osois-Pierre Peyron ( 1 744 - 1 8 14) aus dem Jahre 1 785, der "Tod der Frau des Darius" von Jean-Jacques Lagrenee (1739 - 1 82 1 ) 137

aus demselben Jahr entstammen der griechischen oder römischen Antike." Pierre Delacours ( 1 745- 1 8 1 4) "Achilles mit der Leiche Hektors an der des Patroklus" (Abb. 19) entspricht in einem ganz anderen Kulturbereich aber in demselben Bild­ typus Lagrenees " Hinduopfer".