Chemie der Nichtmetalle: Von Struktur und Bindung zur Anwendung [3rd rev. ed.] 9783110211283, 9783110194487

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Chemie der Nichtmetalle: Von Struktur und Bindung zur Anwendung [3rd rev. ed.]
 9783110211283, 9783110194487

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Einführung
2. Die chemische Bindung
3. Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung
4. Bindungseigenschaften
5. Wasserstoff
6. Bor
7. Kohlenstoff
8. Silicium und Germanium
9. Stickstoff
10. Phosphor und Arsen
11. Sauerstoff
12. Schwefel, Selen und Tellur
13. Die Halogene
14. Die Edelgase
Backmatter

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I

de Gruyter Lehrbuch Ralf Steudel Chemie der Nichtmetalle

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Ralf Steudel

Chemie der Nichtmetalle Von Struktur und Bindung zur Anwendung 3., vollständig neu bearbeitete Auflage unter Mitwirkung von Ingo Krossing und Yana Steudel

Walter de Gruyter · Berlin · New York

IV Professor Dr. rer. nat. Ralf Steudel Institut für Chemie Technische Universität Berlin Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Professor Dr. Ingo Krossing Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Anorganische und Analytische Chemie Albertstraße 21 79104 Freiburg Dr. Yana Steudel Institut für Chemie Technische Universität Berlin Straße des 17. Juni 135 10623 Berlin Das Buch enthält 133 Abbildungen und 57 Tabellen.

ISBN 978-3-11-019448-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Ü Gedruckt auf säuerefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

© Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Datenkonvertierung: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde. – Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. – Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen. Einbandkonzept: +malsy, Willich.

V

Vorwort Das vorliegende Buch ist ursprünglich aus Vorlesungen entstanden, die ich viele Jahre lang an der Technischen Universität Berlin gehalten habe und die auf Anregung des Verlages zu einem Lehrbuch erweitert wurden. Es wendet sich an Studierende der Chemie in allen Stufen der Ausbildung vom Vordiplom oder Bachelor bis zur Promotion. Nachdem die früheren Auflagen über mehrere Jahrzehnte an den Hochschulen und Fachhochschulen freundlich aufgenommen und darüber hinaus in mehrere Sprachen übersetzt wurden, hoffe ich, dass diese Neubearbeitung ebenso viele Leser finden möge. Die bewährte Einteilung in einen theoretischen Teil I und einen stofflichen Teil II wurde beibehalten. Der gesamte Text wurde auf den neuesten Stand gebracht. Dabei hat der neue Koautor, Prof. Dr. Ingo Krossing, frische Ideen eingebracht und an der Bearbeitung der Kapitel 2 (Bindungstheorie), 10 (Phosphor, Arsen) und 13.1 (Fluor) mitgewirkt. Alle Gleichungen, Grafiken und Abbildungen wurden neu erstellt und optimiert. An größeren Änderungen sind außerdem folgende zu erwähnen. Im allgemeinen Teil I wurde auf die bisherige Darstellung des Atombaues und der Valence-Bond-Theorie der kovalenten Bindung verzichtet. Dadurch ist das Werk etwas schlanker geworden. Da die Molekülorbital-Theorie im Bereich der Anorganischen Chemie der VB-Theorie weit überlegen ist, werden die Bindungsverhältnisse in allen Molekülen prinzipiell auf der Grundlage der MO-Theorie erklärt, was in der Lehrbuchliteratur nicht weit verbreitetet ist. Die zuvor im Kapitel „Schwefel, Selen, Tellur“ untergebrachte Behandlung der hypervalenten oder hyperkoordinierten Verbindungen wurde in das Kapitel 2 „Chemische Bindung“ vorgezogen. Ein Abschnitt über quantenchemische Rechenmethoden ist in diesem Kapitel neu hinzu gekommen. Damit sollen die mehr präparativ orientierten Leser in die Lage versetzt werden, wissenschaftliche Publikationen mit einem theoretischen Teil nach ihrer Qualität zu beurteilen. Aktualisiert wurde auch das Kapitel Bindungseigenschaften, in dem die an kovalenten Bindungen messbaren Größen erläutert werden. Im speziellen Teil II werden die nichtmetallischen Elemente und ihre wichtigsten und interessantesten Verbindungen behandelt, wobei die Reihenfolge der Kapitel der Stellung der Elemente im Periodensystem angepasst wurde. Dabei wird den heutigen Erwartungen entsprechend in viel stärkerem Umfang als zuvor auf die zahlreichen praktischen Anwendungen der entsprechenden Verbindungen und Produkte im täglichen Leben und auf ihre Bedeutung für die Industrie, die Landwirtschaft, die Medizin, den Umweltschutz und andere Bereiche hingewiesen. Die Literatur wurde bis zum Frühjahr 2008 berücksichtigt. Die zahlreichen im Text angegebenen Zitate haben den Zweck, über neuere Quellen einen Einstieg in die betreffenden Sachverhalte zu ermöglichen. Nicht immer sind dabei die zitierten Autoren diejenigen, denen der Verdienst um eine bestimmte Entdeckung zukommt, insbesondere bei den zitierten Übersichtsartikeln und Fortschrittsberichten. Um den Umfang der Fußnoten in Grenzen zu halten, wurde bei Arbeiten mit mehr als drei Autoren auf die Nennung aller Namen bis auf einen verzichtet. Nur ausnahmsweise zitiert wurden die bekannten Handbücher der Anorganischen Chemie (z.B. GMELIN) und der Chemischen Technologie (z.B. ULLMANN, WINNACKER-KÜCHLER und KIRK-OTHMER), die jedoch nach wie vor außerordentlich wichtige Quellen für verlässliche Informationen sind. Solchen Nachschlage-

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Vorwort

werken, die von Experten verfasst wurden und die auf einer kritischen Sichtung der Literatur beruhen, ist der Vorzug zu geben vor anonym publizierten Datensammlungen im Internet, die oft gravierende Fehler enthalten. Auch die jährlich erscheinenden Fortschrittsberichte der Royal Society of Chemistry zur Anorganischen Chemie (Ann. Rep. Prog. Chem., Sect. A) bieten eine gute Möglichkeit, sich über aktuelle Entwicklungen bezüglich einzelner Elemente zu informieren (www.rsc.org/annrepa). Dieses Lehrbuch hat von zahlreichen stimulierenden Diskussionen mit Studierenden, Doktoranden und Kollegen profitiert, denen ich für ihre Hinweise danke. Anregungen und Kritik der Leser sind immer willkommen. Meiner Frau Dr. Yana Steudel danke ich sehr herzlich für die aufopferungsvolle Mitarbeit bei der Erstellung der mehr als 1000 Grafiken und Abbildungen sowie dem Verlag Walter de Gruyter für die konstruktive Zusammenarbeit. Berlin-Charlottenburg, im Juli 2008

Ralf Steudel, TU Berlin

Inhalt

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Inhalt Teil I: Die chemische Bindung 1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

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Die chemische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Die Ionenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.2 Die Ionisierungsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.3 Die Elektronenaffinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.1.4 Ionengitter und Ionenradien . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1.5 Gitterenergie und Gitterenthalpie . . . . . . . . . . . . . . 16 2.1.6 Bestimmung von Gitterenergie und Gitterenthalpie . . . . . 17 2.1.7 Bedeutung der Gitterenthalpie . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.8 Polarisation von Anionen durch Kationen . . . . . . . . . . 22 2.2 Moleküle und ihre Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.1 Strukturbestimmungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.2 Die VSEPR-Methode zur Strukturermittlung . . . . . . . . 26 2.3 Molekülsymmetrie und Punktgruppensymbole . . . . . . . . . . . . . 36 2.4 Die kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.4.1 Das Molekül-Ion [H2]+ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4.2 Das Molekül H2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4.3 Homonukleare Moleküle mit s- und p-Orbitalen . . . . . . 53 2.4.4 Photoelektronenspektroskopie kleiner Moleküle . . . . . . 59 2.4.5 Heteronukleare zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . 62 2.4.6 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie D∞h . . . . . . . . . 64 2.4.7 Dreiatomige Moleküle der Symmetrie C2v . . . . . . . . . . 68 2.4.8 Vieratomige Moleküle der Symmetrie D3h . . . . . . . . . . 70 2.4.9 Vieratomige Moleküle der Symmetrie C3v . . . . . . . . . . 74 2.4.10 Fünfatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.5 Die koordinative Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.6 Hyperkoordinierte oder hypervalente Verbindungen . . . . . . . . . . 83 2.7 Quantenchemische Berechnung von Struktur und Eigenschaften von Molekülen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.7.1 Physikalische Grundlagen: ab initio-Methoden . . . . . . . 91 2.7.2 Näherungen für die Wellenfunktion/Molekülorbitale . . . . 91 2.7.3 Ab initio-Methoden: Näherungen für den HAMILTON-Operator 95 2.7.4 Ab initio-Methoden: Das Basissatz- und Korrelations-Limit 98 2.7.5 DFT-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.7.6 Ablauf einer quantenchemischen Geometrieoptimierung . . 101 2.7.7 Qualität der Geometrieoptimierung am Beispiel von P4 und S4N4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.7.8 Berechnung physikalischer Messgrößen . . . . . . . . . . . 103

VIII

Inhalt

3

Die VAN DER WAALS-Wechselwirkung 3.1 Der Dipoleffekt . . . . . . . . 3.2 Der Induktionseffekt . . . . . 3.3 Der Dispersionseffekt . . . . 3.4 VAN DER WAALS-Radien . . . 3.5 VAN DER WAALS-Moleküle . .

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Bindungseigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bindungsenthalpie und Dissoziationsenthalpie . . . . . . . . 4.2.1 Zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Mehratomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Warum ist Sauerstoff gasförmig und Schwefel fest? 4.3 Der Kernabstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Valenzkraftkonstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Zweiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Zweiatomige Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Dreiatomige Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenhänge zwischen den Bindungseigenschaften . . . . 4.6 Polarität kovalenter Bindungen und Elektronegativität . . . . 4.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Elektronegativitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Das Bindungsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Elektronendichteverteilung in Molekülen und Kristallen . . .

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Wasserstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Elementarer Wasserstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wasserstoff-Ionen H+ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Säuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die relative Stärke von Säuren und Basen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Verdünnte Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Konzentrierte und wasserfreie Säuren . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Allgemeine Eigenschaften von Wasserstoffbrücken . . . . . 5.6.3 Experimenteller Nachweis von Wasserstoffbrücken . . . . . 5.6.4 Beispiele für Wasserstoffbrückenbindungen . . . . . . . . . 5.6.5 Theorie der Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . . . . . 5.7 Wasserstoffverbindungen (Hydride) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Kovalente Hydride . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3 H2 als Komplexligand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.4 Salzartige Hydride . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.5 Metall- oder legierungsartige Hydride (Einlagerungshydride)

149 149 154 156 160 162 162 165 167 167 169 170 173 181 185 185 186 186 188 191

Teil II: Chemie der Nichtmetalle 5

IX

Inhalt

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Bor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 6.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . 6.3 Elementares Bor . . . . . . . . . . . 6.3.1 Herstellung . . . . . . . . 6.3.2 Kristallstrukturen . . . . . 6.3.3 Bindungsverhältnisse . . . 6.4 Metallboride und Borcarbid . . . . . 6.4.1 Boride . . . . . . . . . . 6.4.2 Borcarbid . . . . . . . . . 6.5 Borane und Hydroborate . . . . . . 6.5.1 Allgemeines . . . . . . . 6.5.2 Diboran . . . . . . . . . . 6.5.3 Höhere Borane . . . . . . 6.5.4 Hydroborate . . . . . . . 6.6 Organoborane . . . . . . . . . . . . 6.7 Carborane . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Halogenide des Bors . . . . . . . . 6.8.1 Trihalogenide . . . . . . . 6.8.2 Subhalogenide . . . . . . 6.9 Sauerstoffverbindungen des Bors . . 6.9.1 Allgemeines . . . . . . . 6.9.2 Bortrioxid und Borsäuren 6.9.3 Borate . . . . . . . . . . 6.10 Bor-Stickstoff-Verbindungen . . . . 6.10.1 Allgemeines . . . . . . . 6.10.2 Borazin . . . . . . . . . . 6.10.3 Bornitrid . . . . . . . . . 6.10.4 Nitridoborate . . . . . . .

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Kohlenstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . 7.3 Modifikationen des Kohlenstoffs . . . . . 7.3.1 Graphit . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Diamant . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Fullerene . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Kohlenstoff-Nanoröhren . . . . 7.3.5 Oberflächenverbindungen . . . 7.4 Ruß, Kohle und Koks . . . . . . . . . . . 7.5 Graphitverbindungen . . . . . . . . . . . 7.5.1 Kovalente Graphitverbindungen 7.5.2 Ionische Graphitverbindungen . 7.6 Halogenide des Kohlenstoffs . . . . . . . 7.7 Chalkogenide des Kohlenstoffs . . . . . . 7.7.1 Oxide . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 Sulfide, Selenide, Telluride . .

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X

Inhalt

7.8

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7.7.3 Kohlensäuren und Carbonate . . . . . . . . Nitride des Kohlenstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Hydrogencyanid und Cyanide . . . . . . . . 7.8.2 Binäre Kohlenstoff-Stickstoff-Verbindungen

Silicium und Germanium . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Silicide und Germanide . . . . . . . . . . . 8.5 Hydride von Silicium und Germanium . . . 8.5.1 Herstellung . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Reaktion der Silane . . . . . . . . 8.6 Halogenide von Silicium und Germanium . . 8.6.1 Fluoride . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Chloride . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Sonstige Si-Halogenide . . . . . . 8.7 Oxide von Silicium und Germanium . . . . . 8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate . . . . . 8.8.1 Kieselsäuren und Siloxane . . . . 8.8.2 Silicate . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.3 Germanate . . . . . . . . . . . . . 8.9 Gläser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.10 Silicium-Stickstoff-Verbindungen . . . . . . 8.11 Organosilicium-Verbindungen . . . . . . . . 8.11.1 Organosilane . . . . . . . . . . . 8.11.2 Ungesättigte Organosilicium- und -germanium-Verbindungen . . . . 8.11.3 Organosiloxane . . . . . . . . . . 8.12 Sonstige Si-Verbindungen . . . . . . . . . . 8.12.1 Siliciumcarbid . . . . . . . . . . . 8.12.2 Siliciumnitrid . . . . . . . . . . . 8.12.3 Siliciumsulfide . . . . . . . . . .

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Stickstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Elementarer Stickstoff . . . . . . . . . . . . . . 9.2 N2 als Komplexligand . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen 9.4 Hydride des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . 9.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Ammoniak NH3 . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Hydrazin N2H4 . . . . . . . . . . . . 9.4.4 Diazen (Diimin) N2H2 . . . . . . . . . 9.4.5 Hydrogenazid HN3 und Azide . . . . 9.4.6 Tetrazen(2) N4H4 . . . . . . . . . . . 9.4.7 Hydroxylamin NH2OH . . . . . . . . 9.4.8 Wasserähnliche Lösungsmittel . . . .

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XI

Inhalt

9.5 9.6

9.7

Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs . . . . . . . . 9.5.1 Halogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.2 Oxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oxide des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.2 Distickstoffoxid N2O . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.3 Stickstoffmonoxid NO und Distickstoffdioxid N2O2 9.6.4 Distickstofftrioxid N2O3 . . . . . . . . . . . . . . . 9.6.5 Stickstoffdioxid NO2 und Distickstofftetroxid N2O4 . 9.6.6 Distickstoffpentoxid N2O5 . . . . . . . . . . . . . . Sauerstoffsäuren des Stickstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7.2 Salpetersäure HNO3 oder HONO2 . . . . . . . . . . 9.7.3 Peroxosalpetersäure HNO4 bzw. HOONO2 . . . . . 9.7.4 Salpetrige Säure HNO2 bzw. HONO . . . . . . . . . 9.7.5 Peroxosalpetrige Säure HOONO . . . . . . . . . . . 9.7.6 Hyposalpetrige Säure (HON)2 . . . . . . . . . . . .

10 Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Bindungsverhältnisse in P- und As-Verbindungen . . . 10.3 Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Herstellung der Elemente . . . . . . . . . . 10.3.2 Modifikationen von Phosphor und Arsen . . 10.4 Hydride von Phosphor und Arsen . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Phosphan und Arsan . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Diphosphan(4) . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Phosphide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Organophosphane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Diphosphene und Phosphaalkine . . . . . . . . . . . . 10.8 Halogenide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . 10.8.1 Trihalogenide EX3 . . . . . . . . . . . . . . 10.8.2 Tetrahalogenide E2X4 . . . . . . . . . . . . . 10.8.3 Pentahalogenide EX5 . . . . . . . . . . . . . 10.8.4 Starke LEWIS-Säuren . . . . . . . . . . . . . 10.9 Phosphorane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.10 Oxide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . . . . 10.10.1 Phosphor(III)-oxid . . . . . . . . . . . . . . 10.10.2 Phosphor(V)-oxid . . . . . . . . . . . . . . 10.10.3 Arsenoxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.11 Sulfide des Phosphors und Arsens . . . . . . . . . . . 10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate 10.12.1 Oxosäuren mit einem P-Atom . . . . . . . . 10.12.2 Kondensierte Phosphorsäuren . . . . . . . . 10.12.3 Peroxophosphorsäuren . . . . . . . . . . . . 10.12.4 Thiophosphorsäuren . . . . . . . . . . . . . 10.12.5 Halogeno- und Amidophosphorsäuren . . . .

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336 336 339 340 340 341 341 344 345 347 348 348 348 350 351 352 352

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355 355 355 358 359 360 363 364 365 366 368 370 371 372 374 374 377 379 381 381 382 384 385 387 387 391 392 393 393

XII

Inhalt

10.12.6 Oxo- und Thiosäuren des Arsens und ihre Salze . . . . . . . 393 10.13 Phosphor(V)-nitrid und Nitridophosphate . . . . . . . . . . . . . . . . 394 10.14 Phosphazene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 11 Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Elementarer Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Molekularer Sauerstoff O2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Atomarer Sauerstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Ozon O3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Bindungsverhältnisse am Sauerstoffatom in kovalenten und ionischen Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Oxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Peroxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Superoxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Ozonide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Dioxygenylverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.6 Vergleich der Bindungsverhältnisse in den Ionen [O2]•+, [O2]• – und [O2]2– . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Hydride des Sauerstoffs und Peroxoverbindungen . . . . . . . . . . . 11.3.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.3 Wasserstoffperoxid H2O2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.4 Das Hydroxylradikal [OH]• . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Fluoride des Sauerstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Sauerstoffdifluorid OF2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Disauerstoffdifluorid O2F2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Bindungsverhältnisse in den Hydriden und Fluoriden des Sauerstoffs 12 Schwefel, Selen und Tellur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Bindungsverhältnisse und Tendenzen in der 16. Gruppe 12.3 Herstellung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Gewinnung von Schwefel . . . . . . . . . . . 12.3.2 Herstellung von Selen und Tellur . . . . . . . 12.4 Modifikationen der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . 12.4.1 Schwefel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.2 Modifikationen von Selen und Tellur . . . . . 12.5 Homoatomare Chalkogen-Kationen . . . . . . . . . . . 12.6 Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen . . . . . . . . . . 12.7 Hydride der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7.1 Hydride H2E . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7.2 Polysulfane H2Sn . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Metallchalkogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9 Diorganopolysulfane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10 Oxide der Chalkogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10.1 Dioxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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399 399 399 406 407

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411 411 414 415 416 417

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418 419 419 419 421 425 426 426 426 427 428

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431 431 432 434 434 435 436 436 443 444 447 448 448 449 451 455 455 456

XIII

Inhalt

12.10.2 Trioxide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.10.3 Niedere Schwefeloxide . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene . . . . . . . 12.11.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.2 Schweflige Säure (H2SO3) . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.3 Selenige Säure (H2SeO3) und Tellurige Säure (H2TeO3) 12.11.4 Schwefelsäure (H2SO4) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.5 Selensäure (H2SeO4) und Tellursäuren (H2TeO4 und Te(OH)6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.6 Peroxoschwefelsäuren (H2SO5, H2S2O8) . . . . . . . . 12.11.7 Halogenoschwefelsäuren (HSnO3nX) . . . . . . . . . . 12.11.8 Thioschwefelsäure (H2S2O3) und Sulfandisulfonsäuren (H2SnO6). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.9 Dithionsäure (H2S2O6) . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11.10 Dithionige Säure (H2S2O4) . . . . . . . . . . . . . . . 12.12 Halogenide und Oxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.2 Schwefelhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.3 Schwefeloxidhalogenide . . . . . . . . . . . . . . . . 12.12.4 Selen- und Tellurhalogenide . . . . . . . . . . . . . . 12.13 Schwefel-Stickstoff-Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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13 Die Halogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Elemente Fluor bis Iod . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Bindungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Fluor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.1 Herstellung von Fluor . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.2 Eigenschaften von Fluor . . . . . . . . . . . . . . 13.4.3 Herstellung von Fluoriden . . . . . . . . . . . . . 13.4.4 Verwendung fluorierter Verbindungen . . . . . . . 13.4.5 Bindungsverhältnisse in Fluoriden . . . . . . . . . 13.4.6 Stabilisierung niedriger Oxidationsstufen . . . . . 13.5 Chlor, Brom und Iod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Herstellung und Eigenschaften der Elemente . . . 13.5.2 Halogenide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.3 Polyhalogenid-Ionen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.4 Positive Halogen-Ionen . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.5 Interhalogenverbindungen . . . . . . . . . . . . . 13.5.6 Sauerstoff-Verbindungen von Chlor, Brom und Iod 13.6 Pseudohalogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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485 485 486 488 489 489 491 491 493 496 497 499 499 502 504 507 509 512 523

14 Die Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Vorkommen, Gewinnung und Verwendung 14.3 Xenonverbindungen . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Xenonfluoride . . . . . . . . .

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XIV

Inhalt

14.3.2 Reaktionen der Xenonfluoride . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Oxide und Oxosalze des Xenons . . . . . . . . . . . 14.3.4 Oxidfluoride des Xenons . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.5 Sonstige Xenon-Verbindungen . . . . . . . . . . . . 14.4 Verbindungen der übrigen Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . 14.5 Elektronegativitäten der Edelgase . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6 Bindungsverhältnisse bei Edelgasverbindungen . . . . . . . . . 14.6.1 Zweiatomige Moleküle und Ionen . . . . . . . . . . 14.6.2 Mehratomige Moleküle und Ionen . . . . . . . . . . 14.6.3 Existenz und Nichtexistenz von Edelgasverbindungen

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

Teil I: Chemische Bindung und Moleküleigenschaften

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Deutschland ist der viertgrößte Chemieproduzent der Welt – hinter den USA, Japan und China – und in Europa mit Abstand führend. Der Anteil Deutschlands an der weltweiten Chemieproduktion betrug im Jahre 2006 rund 8 %, bei einem Umsatz von mehr als 150 Milliarden Euro, erwirtschaftet von 440000 Mitarbeitern. Das ist mehr als der Anteil der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung an der Weltwirtschaft (6 %). Mehr als 40 Chemieparks gibt es in Deutschland, darunter die BASF mit dem größten Chemieareal der Welt in Ludwigshafen. Die nichtmetallischen Elemente und ihre Verbindungen bilden die Grundlage vieler klassischer und moderner industrieller Verfahren und wichtiger Anwendungen, ohne die die Menschheit nicht in dem Wohlstand leben könnte, der sich zumindest in den Industrie- und Schwellenländern entwickelt hat. Klassische Produkte sind beispielsweise die Düngemittel auf Basis von Ammoniak, die dafür sorgen, dass die meisten Menschen ausreichend zu essen haben und ohne die in den vergangenen hundert Jahren wohl mehrere Milliarden (und nicht Millionen) Menschen verhungert wären. Für die Entwicklung und Erforschung der Ammoniak-Synthese aus den Elementen wurden daher nicht weniger als drei Nobelpreise vergeben. Auch das 1880 in Deutschland eingeführte SOLVAY-Verfahren zur Sodaherstellung, das 1888 von SIEMENS erfundene und noch heute verwendete Verfahren zur O3-Herstellung im elektrischen Ozonisator, die erste technische ChloralkaliElektrolyse, die 1890 in Griesheim installiert wurde, oder das 1895 in Louisiana, USA, eingeführte FRASCH-Verfahren zur Schwefel-Gewinnung sind bis heute wichtige Prozesse. Im Jahre 1911 wurde die erste Wasserstoffperoxid-Fabrik der Welt in Kärnten errichtet, und 1915 begann die Produktion von Salpetersäure aus Ammoniak in Hoechst. 1933 wurde erstmals fast reines D2O durch fortgesetzte Elektrolyse von Wasser isoliert und damit die Voraussetzung für den späteren Bau von Kernreaktoren geschaffen. Die 1941 von ROCHOW und Mitarbeitern entwickelte Direktsynthese von Methylchlorsilanen bildet bis heute die Grundlage der Silikonchemie, die global ein Milliardengeschäft darstellt. Diesen klassischen und teilweise schon historischen Verfahren stehen zahlreiche moderne Entwicklungen gegenüber, die auf den 23 nichtmetallischen Elementen basieren. Dies kann mit einem kurzen Streifzug quer durch den entsprechenden Teil des Periodensystems leicht dokumentiert werden, denn nichtmetallische Produkte begleiten uns heute direkt oder indirekt durch jeden Tag. Wasserstoff dient heute nicht mehr nur als chemisches Reduktions- und Hydrierungsreagenz, sondern in steigendem Maße als sekundärer Energieträger für umweltfreundliche Fahrzeuge, sei es durch direkte Verbrennung in einem klassischen Motor, sei es durch Erzeugung elektrischer Energie in Brennstoffzellen. Daher sind die effiziente Erzeugung und die kostengünstige Speicherung dieses Elementes aktuelle Forschungsthemen von überragender Bedeutung. Möglicherweise wird anstelle der geplanten Wasserstoffwirtschaft aber eine Methanolwirtschaft treten, wobei das leicht zu speichernde MeOH aus CO2 und H2 herzustellen wäre.1 Andererseits fliegen Raketen, angetrieben durch die Ver1

G. A. Olah, A. Goeppert, G. K. Surya Prakash, Beyond Oil and Gas: The Methanol Economy, Wiley-VCH, Weinheim, 2006.

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1 Einführung

brennung von flüssigem Wasserstoff mit flüssigem Sauerstoff oder – im Falle von Feststoffraketen – von einer Mischung aus Ammoniumperchlorat und Aluminiumpulver, in den Weltraum und erlauben die Stationierung von Satelliten in Erdumlaufbahnen sowie den Aufbau und Betrieb der Internationalen Raumstation. Zurück zur Erde: Wasserstoffbrücken-Bindungen sind Strukturelemente, die fast das gesamte belebte und unbelebte Geschehen auf unserem Planeten beeinflussen, vom flüssigen Wasser in den Ozeanen bis zur Doppelhelix der DNA. Das Element Bor tritt uns als Bornitrid und Borcarbid in Form von Hochleistungskeramiken und als Neutronenabsorber in Kernreaktoren entgegen. Der große Neutroneneinfangquerschnitt von 10B gibt auch Anlass zu der Hoffnung, dass mit borreichen Verbindungen eine bessere Strahlentherapie von Krebsgeschwüren entwickelt werden kann. Überzüge aus Bornitrid oder Diamant auf Metallen veredeln bereits heute deren Eigenschaften und ermöglichen neue Anwendungen unter extremen Bedingungen. Hydroborate sind unverzichtbare Reduktionsmittel in der chemischen Synthese und Borane erlauben über die Hydroborierungsreaktion den Zugang zu synthetisch wertvollen Organoborverbindungen. Bleichmittel wie Perborat als Komponenten von Waschmitteln helfen seit langem, Wäsche zu reinigen. Elementarer Kohlenstoff in Form von Graphit dient als Anodenmaterial in modernen Lithium-Ionen-Batterien, die unsere Camcorder, Mobiltelefone und Notebooks mit elektrischer Energie versorgen. Diamanten werden nicht nur für Schmuckzwecke verwendet, sondern sind wegen ihrer Härte für Hochleistungsschneid- und -bohrwerkzeuge nahezu unersetzlich. Ruß wird in riesigem Umfang in der Reifen- und Druckindustrie eingesetzt, unter anderem auch in den Tonern der weit verbreiteten Laserdrucker. Carbonfasern sind im Flugzeugbau als ultraleichte und doch sehr feste Materialien geschätzt. Die Entdeckung der faszinierenden Fullerene hat für ein Fülle neuer organischer Verbindungen gesorgt, und die damit verwandten Kohlenstoff-Nanoröhren werden gegenwärtig für subtile elektronische Anwendungen intensiv erforscht (>5000 Publikationen allein in 2007!). Dem steht das Problem der globalen Erwärmung gegenüber, die auf die Absorption von infraroter Strahlung durch kleine Moleküle wie H2O, CO2, N2O und CH4 in der Atmosphäre zurückzuführen ist, und die dazu führt, dass neue Technologien der Energieerzeugung und der unterirdischen CO2-Speicherung eingeführt werden müssen. Silicium, zweithäufigstes Element in der Erdkruste und daher seit dem Altertum in Gestalt der natürlichen Silikate für Keramiken und Gläser genutzt, bildet heute in hochreiner Form die Basis für den Bau von miniaturisierten Transistoren und Schaltkreisen, ohne die die moderne Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie nicht existieren würde. Silane, erstmals 1916 von STOCK und Mitarbeitern gründlich studiert, sind zusammen mit den Chlorsilanen Vorstufen für die Herstellung des von der Mikroelektronik geforderten ultrareinen Siliciums. Mono- und polykristallines dotiertes Silicium dienen in Solarmodulen zur regenerativen und dezentralen Stromerzeugung. Silikone andererseits sind Materialien für eine unüberschaubare Zahl von Anwendungen nicht nur im Labor und in der chemischen Industrie, sondern auch im Maschinenbau, im Fahrzeugbau, im Hochbau und neuerdings sogar in der Küche in Gestalt von Backformen und allerlei anderen Utensilien, ganz abgesehen von den medizinischen Implantaten. Lichtleiter aus hochreinem Siliciumdioxid bringen uns zahlreiche Fernsehprogramme ins Haus, und moderne „hightech“ und „high-chem“ Produkte wie Fasern aus Silicaten oder Siliciumcarbid haben neuartige Verbundwerkstoffe und Wärmedämmungsmaterialien ermöglicht. Und schließlich

1 Einführung

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nutzen wir ein spezielles Lithiumaluminiumsilicat als temperaturunempfindlichen Werkstoff CERAN für die Kochfelder moderner Küchenherde. Stickstoff ist nicht nur als Inertgas im Labor und bei der Verpackung von Lebensmitteln täglich präsent, sondern in Form von Ammoniak und Salpetersäure in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Die weltweite Produktion von Ammoniak steigt seit 1950 noch stärker als die Weltbevölkerung an. Hochenergietreibstoffe wie Hydrazin und seine Derivate helfen, Raumfahrzeuge zielgenau zu fernen Planeten und Kometen zu steuern. Andererseits belasten Stickoxide aus Verbrennungsanlagen und -motoren die irdische Atmosphäre. Chemiker und Ingenieure haben aber mittlerweile kluge Lösungen zur katalytischen Entfernung von NOx aus Rauch- und Abgasen gefunden. Zu allgemeiner Überraschung selbst der Fachwelt wurde aber das kleine radikalische Molekül NO, bekannt als Zwischenprodukt der Salpetersäure-Herstellung, auch als ein Neurotransmitter im menschlichen Körper erkannt, wo es für die Regulierung von Blutdruck, Blutgerinnung und Immunsystem zuständig ist, eine Erkenntnis, die 1998 mit dem Nobelpreis für Medizin honoriert wurde und die kurz danach zur Entwicklung neuer Medikamente geführt hat. Phosphor ist das Element, das im Körper von Säugetieren in Form von Adenosintriphosphat (ATP) für die Energieversorgung der Muskeln sorgt. Ungefähr 40 kg ATP verbraucht ein ruhender Mensch an einem Tag. Dieser Wert steigt bei schwerer Arbeit bis auf 0.5 kg pro Minute! Daher spielen P-haltige Dünge- und Futtermittel in der Agrarwirtschaft und Tierproduktion eine zentrale Rolle. Auch viele unserer Nahrungsmittel und Getränke enthalten Phosphate, unter anderem auch als Rohstoff für den Knochenaufbau. Grundlage der Energielieferung von ATP ist seine exotherme Hydrolyse zum Diphosphat ADP, bei der 61.1 kJ mol–1 freigesetzt werden. Eine analoge Reaktion spielt sich bei der industriellen Herstellung thermischer Phosphorsäure aus P4O10 ab, die wiederum für die Herstellung derjenigen Phosphate gebraucht wird, die in großem Umfang als konservierende und Geschmack-verbessernde Lebensmittelzusätze verwendet werden. Daneben sind die zahllosen Stickstoff- und Phosphor-haltigen Wirkstoffe zu nennen, die der Landwirtschaft helfen, Schädlinge zu bekämpfen. Arsen und seine Verbindungen werden allgemein als Giftstoffe angesehen und in der Tat wird diese Eigenschaft medizinisch und landwirtschaftlich genutzt. Beispielsweise ist Arsenik seit dem Jahr 2000 auch in Europa zur Therapie einer speziellen Variante der Leukämie zugelassen (Handelsname Trisenox), und gewisse Organoarsenverbindungen werden zur Behandlung der Schlafkrankheit sowie im Pflanzenschutz eingesetzt. Mit der Entdeckung der heilsamen Wirkung des Salvarsans (RAs)n (n = 3–5) und des Neosalvarsans durch PAUL EHRLICH2 und Mitarbeiter wurde im Jahre 1910 die Chemotherapie begründet. Heute wird Arsen aber auch als Legierungsbestandteil in Metallen und vor allem als Komponente der Halbleiter Galliumarsenid und Indiumarsenid hoch geschätzt. Sauerstoff, häufigstes Element auf der Erdoberfläche und Lebenselixier für die Atmung von Pflanzen, Tieren und Menschen, wird in modernen Anwendungen vor allem in Form zahlreicher Peroxoverbindungen eingesetzt, allen voran H2O2, das als umweltfreundliches Oxidationsmittel in enormen Mengen produziert wird. Andererseits bewegen uns Sauerstoffradikale, die im menschlichen Körper krebserregende und AlterungsProzesse in Gang setzen und die wir daher durch Verzehr von Antioxidantien in Gestalt von Vitaminen, Schokolade und Rotwein zu zügeln versuchen. Die moderne Stahlpro2

Nobelpreis für Medizin des Jahres 1908.

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1 Einführung

duktion kann auf die oxidierende Wirkung von reinem Sauerstoff nicht verzichten, um Roheisen zu Stahl zu veredeln. Von den übrigen Chalkogenen ist der Schwefel in Gestalt der Schwefelsäure das Arbeitspferd der chemischen Industrie, wird doch diese Chemikalie in größeren Mengen produziert als jede andere Verbindung. Dabei spielt das moderne Doppelkontakt-Verfahren eine entscheidende Rolle. Der benötigte Elementarschwefel wird zum größten Teil durch Entschwefelung von Erdgas und Rohöl hergestellt, wofür ebenfalls modernste Verfahren entwickelt wurden, um die Umwelt vor schwefelhaltigen Abgasen zu bewahren. Schwefelverbindungen dienen andererseits dazu, im Rahmen einer verfeinerten Technologie der Gummivulkanisation besonders langlebige Autoreifen herzustellen. Die schon länger bekannte Natrium-Schwefel-Batterie wird gegenwärtig als fortschrittlichstes Stromspeichersystem für den Megawattbereich entwickelt. Damit lassen sich die zeitlichen Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage nach elektrischer Energie als Folge der zunehmenden Stromerzeugung aus Wetter- und Tageszeit-abhängigen Wind- und Solaranlagen ausgleichen, in Analogie zur Funktion eines Pumpspeicherwerkes. Und wenn wir in Bewunderung all dieses Fortschritts am Wochenende eine Flasche Wein genießen, werden wir daran erinnert, dass SO2 und Sulfite seit dem Altertum als Konservierungsstoffe eingesetzt werden. Selen ist zwar ein eher seltenes Element, aber für Säugetiere essentiell und wegen der allmählichen Verarmung der landwirtschaftlichen Böden ein wichtiger Bestandteil von Mineraldüngern. Mehr als 20 natürlich vorkommende und zum größten Teil essentielle Se-haltige Proteine wurden identifiziert. Daneben sind elementares Selen und bestimmte Metallselenide wie CuInSe2 als Photohalbleiter geschätzt. Das lange Zeit etwas exotische Halogen Fluor, erstmals 1886 von HENRI MOISSAN3 hergestellt, tritt uns heutzutage in Hochleistungswerkstoffen wie Teflon und Nafion, aber auch in zahlreichen pharmazeutischen Präparaten als lipophiler Substituent entgegen. Zahncremes enthalten ionische Fluoride, um der Karies entgegen zu wirken, Na3AlF6 ist der Elektrolyt bei der technischen Aluminium-Herstellung, UF6 hilft, die Uranisotope 235U und 238U zu trennen, und SF dämmt als Isoliergas in Doppelscheibenfenstern 6 den Wärmeverlust aus Wohngebäuden. Besonderes Interesse haben aber die zahlreichen neuen Verbindungen erregt, die nur unter Verwendung von elementarem Fluor hergestellt werden können, allen voran die Edelgasverbindungen, deren Strukturen und Eigenschaften die Weiterentwicklung der chemischen Bindungstheorie entscheidend beeinflusst haben. Chlor andererseits ist industriell das bei weitem wichtigste und daher völlig unverzichtbare Halogen, werden doch nahezu unendlich viele organische Verbindungen über chlorhaltige Zwischenprodukte synthetisiert. Wichtigstes Verfahren zur Chlorproduktion ist die Elektrolyse, bei der elektrische Energie in besonders effizienter Form, nämlich ohne größere Wärmeentwicklung in chemische Energie umgewandelt wird. Durch eine neue Entwicklung unter Einsatz einer Sauerstoff-Verzehrelektrode konnte die Effizienz dieses Verfahrens in jüngster Zeit noch einmal um 30 % gesteigert werden. In Form der FCKWs haben die beiden leichteren Halogene allerdings in der jüngeren Vergangenheit Furore gemacht, als ihre schädliche Auswirkung auf die stratosphärische Ozonschicht durch CRUTZEN, MOLINA und ROWLAND erkannt wurde.4 Aber menschlicher Entdecker3 4

Nobelpreis für Chemie des Jahres 1906. Nobelpreis für Chemie des Jahres 1995.

1 Einführung

7

und Erfindergeist hat nicht nur zum baldigen Herstellungsverbot dieser Substanzen geführt, sondern hat auch alternative Lösungsmittel und Treibmittel hervorgebracht, so dass langfristig mit einem Verschwinden der FCKWs aus der Stratosphäre und mit einer Stabilisierung der Ozonkonzentration gerechnet werden kann. Die Edelgase schließlich werden seit langem in Entladungslampen als Leuchtstoffe für Reklamezwecke verwendet, weiterhin als inerte Schutzgase im Labor und in der Technik, und Helium darüber hinaus als Kühlgas in Kernreaktoren und zum Auftrieb von Luftschiffen. Aber heute sind auch Hunderte von faszinierenden Edelgasverbindungen bekannt, und immer werden noch neue erfunden, wie etwa die ungewöhnlichen Kationen [Xe2]+, [Xe4]+ und [AuXe4]2+, die erst in den letzten Jahren in Form von Salzen isoliert wurden. Damit ist bewiesen, dass zumindest das Xenon weniger „edel“ ist als früher angenommen wurde, eine Erkenntnis, die längst auch für die Edelmetalle gilt, deren „Verbindungs-Zoo“ ebenfalls wächst und wächst. Die oben skizzierten Entwicklungen und Produkte werden zusammen mit vielen anderen Beispielen im stofflichen Teil II dieses Lehrbuches ausführlich beschrieben, beginnend mit dem Wasserstoff und gefolgt von den übrigen Nichtmetallen in der Reihenfolge entsprechend ihrer Stellung im Periodensystem. Die Ausbildung an Hochschulen und Fachhochschulen kann jedoch nicht nur auf praktische Anwendungen gerichtet sein. Vielmehr wird von Chemikern erwartet, den Dingen mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund zu gehen und Struktur, Eigenschaften und Reaktivität von Molekülen auf der Basis gegenwärtiger Theorien zu verstehen. Nur aus diesem Verständnis heraus ist es möglich, chemische Prozesse oder funktionelle Eigenschaften von Stoffen zu verbessern und für bestimmte Verfahren maßgeschneiderte neue Verbindungen herzustellen. Es sind diese kontinuierlichen Optimierungsprozesse, die heute in der Wirtschaft eine so große Rolle spielen, und zwar auch bei der Herstellung schon länger bekannter Stoffe. Ein tiefgreifendes Verständnis auf molekularer Grundlage zu gewinnen, heißt, sich mit den theoretischen Konzepten der Chemie zu beschäftigen. Die notwendigen Grundlagen dafür werden, soweit sie für das Verständnis der Nichtmetallchemie erforderlich sind, im Teil I dargelegt. Dabei ist es nicht immer nötig, auf quantenchemische Rechnungen von hohem Niveau zurückzugreifen. In der Chemie gibt es eine ganze Reihe empirisch gewonnener Konzepte, die den Charakter von Modellvorstellungen haben und die die enorme Fülle des Stoffes zu ordnen gestatten. Solche Modelle sind nicht unbedingt „wahr“ oder „richtig“, sondern einfach nur nützlich. Man muss sich jedoch der Grenzen der Modelle bewusst bleiben und darf von ihnen keine Erklärung der Natur erwarten. Da in der Chemie die meisten neuen Erkenntnisse immer noch durch Experimente gewonnen werden, ist das empirische Arbeiten und das Ordnen der Ergebnisse mittels Arbeitshypothesen und Modellen für den erfahrenen Chemiker ein vertrauter Vorgang, für den Neuling, der auf der Suche nach der Wahrheit ist, aber vielleicht etwas verwirrend. In diesem Sinne werden im theoretischen Teil I zunächst die modernen Vorstellungen und Erkenntnisse zur Theorie der chemischen Bindung (Kap. 2) und der VAN DER WAALS-Wechselwirkung (Kap. 3) sowie zum Thema „Eigenschaften kovalenter Bindungen in Molekülen“ (Kap. 4) dargelegt. Dadurch soll der Leser in die Lage versetzt werden, die verschiedenen Strukturen und Reaktionen von Nichtmetallverbindungen im folgenden stofflichen Teil II besser zu verstehen und einzuordnen. Lehrbücher beschäftigen sich hauptsächlich mit den bekannten Tatsachen und Theorien. Was noch nicht bekannt ist und noch der Erforschung harrt, nimmt naturgemäß weniger Raum ein, da man dabei das Reich der Spekulation betritt. Es ist aber eine bekannte

8

1 Einführung

Erfahrung, dass sich hinter jeder Antwort auf eine wissenschaftliche Frage neue Fragen auftun. In der Chemie ist bereits die große Zahl chemischer Elemente und die unübersehbare große Zahl von Kombinationen dieser Elemente eine Garantie dafür, dass den Chemikern die Forschungsthemen nicht ausgehen werden. Beispielsweise wurden früher im Gebiet anorganischer Ringverbindungen zunächst homocyclische Ringe, dann Pseudoheterocyclen mit einer alternierenden Anordnung zweier Elemente im Ring studiert. Heutzutage werden anorganische Moleküle mit drei, vier und fünf verschiedenen Elementen in einem Ring hergestellt, wobei auch noch Metalle mit Nichtmetallen kombiniert werden. Logischerweise ergeben sich beim Übergang vom Einstoffsystem über das Zweistoffsystem zu Multikomponentensystem gewaltige Möglichkeiten der Kombination und der Mischungsverhältnisse. Man kann daher sagen, dass der größte Teil der denkbaren chemischen Substanzen noch unentdeckt bzw. noch nicht synthetisiert worden ist, obwohl bereits 2·107 Verbindungen charakterisiert wurden. Dies soll an einem weiteren Beispiel erläutert werden: An der Nahtstelle zwischen organischer und anorganischer Molekülchemie ergeben sich ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten, neue Verbindungen zu konstruieren, indem man beispielsweise einzelne oder mehrere C-Atome in einem organischen Molekül durch das analoge Silicium ersetzt. Man überzeugt sich leicht, dass etwa der systematische Austausch von ein bis sechs C-Atomen im Toluolmolekül MeC6H5 verschiedene Siladerivate ergibt, deren Anzahl im oberen zweistelligen Bereich liegt! Bei einem größeren Molekül wie Cholesterin kommt man auf diese Weise leicht zu astronomischen Zahlen. Die entsprechenden Silapharmaka, das sind einfach Si-substituierte Derivate bekannter pharmazeutischer Präparate, stellen übrigens ein hochaktuelles Forschungsgebiet dar. Allgemein hat die elementorganische Chemie in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Fülle neuer und interessanter Verbindungen hervorgebracht und damit zu einer explosionsartigen Vermehrung des Wissens geführt, was zum Beispiel am ständig steigenden Umfang der relevanten Fachzeitschriften erkennbar ist. Der begrenzte Umfang eines Lehrbuches reicht nicht aus, um alle interessanten und aktuellen Informationen zu präsentieren. Daher beschränkt sich der stoffliche Teil II dieses Buches im Wesentlichen auf die Grundlagen, die mehr oder weniger jeder Chemiker wissen sollte, angereichert durch interessante neuere Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung. Die zitierte Literatur erlaubt dann eine Vertiefung und Erweiterung der Kenntnisse.

9

2

Die chemische Bindung

Die theoretische Beschreibung und Charakterisierung von chemischen Bindungen zwischen den Atomen in Molekülen und Kristallen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Chemie. Insbesondere, wenn auch noch eine möglichst anschauliche Deutung der experimentellen Beobachtungen oder der rechnerischen Ergebnisse erwartet wird, sind Vereinfachungen und Modellierungen nicht zu vermeiden. Es ist daher in der Chemie üblich, das Phänomen der Bindung auf verschiedenen Ebenen von Genauigkeit zu behandeln, je nachdem, welche Fragen man beantworten möchte. In diesem Sinne arbeitet man einerseits mit Modellvorstellungen und Idealisierungen, wendet aber andererseits die quantenchemische Theorie an, um möglichst exakte Lösungen für Einzelprobleme zu erhalten. Eine Theorie ist dann gut, wenn sie eine große Zahl von Beobachtungen auf der Grundlage eines Modells beschreibt, das nur einige wenige Parameter benötigt, und vor allem, wenn sie Voraussagen über die Ergebnisse künftiger Beobachtungen zu machen gestattet. Dennoch sollte man sich immer bewusst sein, dass eine Theorie immer nur in unserer Vorstellung existiert und keine eigene Wirklichkeit besitzt, was dann auch für die Elemente dieser Theorie gilt (z.B. für Orbitale). Da jede Theorie eine Arbeitshypothese darstellt, die nicht bewiesen werden kann, muss immer damit gerechnet werden, dass sie in der Zukunft durch eine bessere Theorie abgelöst wird. Es ist allgemein bekannt, dass BOHR’s Atomhypothese aus dem Jahre 1913, obwohl zu jener Zeit sehr nützlich und mit dem Nobelpreis gewürdigt, wenige Jahre später durch die wellenmechanische Beschreibung der Atome abgelöst wurde, die sich als überlegen herausstellte und die folglich ebenfalls zur Verleihung von Nobelpreisen geführt hat.1 Von einer Theorie der chemischen Bindung wird man mindestens verlangen müssen, dass sie Antworten auf folgende grundlegende Fragen geben kann: Warum bilden sich aus Atomen Moleküle? Warum verbinden sich Atome in bestimmten Verhältnissen und oft in mehreren Verhältnissen miteinander (z.B. NO, NO2)? Warum besitzen Moleküle und Kristalle bestimmte Strukturen? Warum reagieren Moleküle in einer ganz bestimmten Weise miteinander? Zur Beantwortung dieser und damit zusammenhängender Fragen ist es zweckmäßig, die Bindungsverhältnisse in Nichtmetallverbindungen von bestimmten Grenztypen her zu betrachten. Diese idealisierten Grenztypen sind: (a) die Ionenbindung (b) die kovalente Bindung einschließlich der koordinativen (dativen) Bindung (c) die VAN DER WAALS-Wechselwirkung.

1

Nobelpreise für Physik wurden verliehen an: NIELS BOHR (1922), LOUIS V. DE BROGLIE (1929), WERNER HEISENBERG (1932), ERWIN SCHRÖDINGER (1933), WOLFGANG PAULI (1945) und MAX BORN (1945). Nobelpreise für quantenchemische Rechungen gingen an WALTER KOHN (1998) und JOHN POPLE (1998).

10

2 Die chemische Bindung

Es muss aber schon hier darauf hingewiesen werden, dass die Bindungen in den meisten Substanzen nur durch mehrere dieser idealisierten Bindungstypen oder durch Übergänge zwischen diesen gedeutet werden können. Im Folgenden wird zunächst die theoretisch recht einfach zu beschreibende Ionenbindung in Kristallen behandelt. Dann werden Modellvorstellungen zur Geometrie von isolierten Molekülen vorgestellt. Es schließt sich die Theorie der kovalenten Bindung auf der Grundlage der MO-Theorie an. Im Kapitel 3 wird dann die VAN DER WAALS-Wechselwirkung zwischen Molekülen erklärt, und im darauf folgenden Kapitel 4 werden messbare Eigenschaften kovalenter Bindungen behandelt, die helfen können, die oben gestellten und ähnliche Fragen zu beantworten.

2.1

Die Ionenbindung

2.1.1 Einführung Eine große Zahl von Verbindungen kristallisiert in Strukturen, die aus einer periodisch regelmäßigen dreidimensionalen Anordnung von Kationen und Anionen bestehen (Ionengitter). Kationen und Anionen können atomar oder molekular, d.h. zusammengesetzt sein, wie folgende Beispiele zeigen: Li+ und H– in LiH Ca2+ und F– in CaF2 Al3+ und O2– in Al2O3

[NO]+ und [HSO4]– in [NO][HSO4] [H3O]+ und [ClO4]– in [H3O][ClO4] [NH4]+ und [BF4]– in [NH4][BF4]

Das stöchiometrische Verhältnis von Anionen und Kationen ergibt sich aus der Bedingung der elektrischen Neutralität des Kristalls. Der Strukturtyp, d.h. die Geometrie und Symmetrie des Gitters, wird im Wesentlichen durch die relative Größe der Ionen und durch das Verhältnis ihrer Ionenladungen bestimmt. Atomare Ionen entstehen aus neutralen Atomen durch Ionisierung oder Elektronenaufnahme. Die damit verbundenen Enthalpieänderungen nennt man Ionisierungsenergie Ei bzw. Elektronenaffinität Eea.

2.1.2 Die Ionisierungsenergie Ei Die Ionisierung eines neutralen gasförmigen Atoms entsprechend der Gleichung A(g.)

A+(g.) + eÇ

ŒH ° = Ei

erfordert eine Enthalpie ∆ H °, die man aus historischen Gründen als Ionisierungsenergie Ei bezeichnet.2 Diese Größe ist immer positiv, d. h. die Enthalpie muss dem System 2

In der Literatur werden für die Ionisierungsenergie oft die Symbole I und IE verwendet. Statt Ionisierungsenergie wird auch der Begriff Ionisierungspotential (IP) benutzt. In allen Fällen handelt es sich um eine Enthalpie; die besten Zahlenwerte findet man im Internet bei http://webbook.nist.gov/ (Website des US-amerikanischen National Institute of Science and Technology).

11

2.1 Die Ionenbindung

Ionisierungsenergie

(eV) 26 He 24 Ne 22 20 18 Ar 16 N 14 O 12 H P 10 S 8 B 6 Al 4 Na Li K 2 0 0 10 20

Kr

Xe

Zn

Ga

30

Cd

Rb

In

Lu

Cs

40 50 Ordnungszahl

60

70

Hg

Rn

Ti

Ra

80

90

Abb. 2.1 Die erste Ionisierungsenergie der Elemente als Funktion der Ordnungszahl (in eV).

zugeführt werden. Bei dieser Definition wird stillschweigend unterstellt, dass das am lockersten gebundene Elektron (aus dem obersten besetzten Atomorbital) abgetrennt wird. Der Wert von Ei ist stark von der Stellung des Atoms A im Periodensystem abhängig. Besonders leicht ionisierbar sind Metallatome und besonders schwer ionisierbar sind Edelgasatome. Die Ionisierungsenergien der gasförmigen Atome liegen zwischen 4 und 25 eV, das sind etwa 400 bis 2400 kJ mol–1 (1 eV = 96.49 kJ mol–1). In Abbildung 2.1 ist die (erste) Ionisierungsenergie der Elemente als Funktion der Ordnungszahl dargestellt. Die auffallend hohe Stabilität bzw. schwierige Ionisation der Edelgasatome und edelgasähnlichen Ionen ist von großer Bedeutung. Sie ist zurückzuführen auf die bei dieser Konfiguration besonders hohe effektive Kernladung Zeff, der die Valenzelektronen ausgesetzt sind. Nach den Regeln von SLATER3 erhält man für die Elemente der ersten Achterperiode folgende Zeff -Werte: Li

Be

B

Zeff:

1.30

1.95

2.60

Ei (eV):

5.4

9.3

8.3

C 3.25 11.3

N 3.90 14.5

O 4.55 13.6

F 5.20 17.4

Ne 5.85 21.6

Zwischen der Ionisierungsenergie und der Energie des Orbitals, aus dem das abgespaltene Elektron stammt, besteht ein direkter Zusammenhang. Oft werden diese beiden Energien gleichgesetzt (KOOPMANS’ Theorem), was nicht ganz korrekt ist. Beispielsweise beträgt Ei des C-Atoms 11.3 eV, während die Energie des 2p-Orbitals von Kohlenstoff zu 10.7 eV berechnet wurde. Dass beide Größen nicht gleich groß sind, liegt daran, dass sich bei der Abspaltung eines Elektrons die übrigen Elektronen umordnen, da jetzt die inter3

Siehe die 2. Auflage dieses Lehrbuches, de Gruyter, Berlin, 1998, S. 38.

12

2 Die chemische Bindung

elektronische Abstoßung kleiner und die effektive Kernladung damit größer geworden ist. Je kleiner das Atom ist, um so stärker fällt dieser Einfluss ins Gewicht. In Abbildung 2.1 fällt die relativ kleine Ionisierungsenergie von O (13.6 eV) auf, die kleiner ist als die des vorhergehenden Elementes N (14.5 eV). Das liegt daran, dass im entstehenden Ion O+ wie im N-Atom das 2p-Niveau mit drei Elektronen gleichen Spins halbbesetzt ist, was zu einer maximalen Austauschwechselwirkung führt. Ein solcher Zustand ist besonders günstig, weil jedes Elektron ein Orbital für sich hat und weil sich Elektronen gleichen Spins wegen des PAULI-Verbots gegenseitig ausweichen, also nicht das gleiche Raumsegment besetzen dürfen. Aus beiden Gründen wird unter diesen Umständen die COULOMB-Abstoßung minimiert. Wenn aber nun wie beim O-Atom ein weiteres p-Elektron eingebaut wird, muss es in ein schon halbbesetztes Orbital eintreten. Dort trifft es auf das schon im gleichen Raumsegment vorhandene Elektron, was zu Abstoßung führt. Daher ist ein solches Elektron weniger fest gebunden und die Ionisierungsenergie ist entsprechend niedriger.4 Dass die Ionisierungsenergie des Boratoms kleiner ist als die des Berylliums, liegt daran, dass das Elektron beim Bor aus dem 2p- und beim Be aus dem tiefer liegenden 2s-Niveau abgespalten wird. Die zweite Ionisierungsenergie Ei(2) eines Atoms entsprechend der Gleichung A+(g.)

A2+(g.) + eÇ

ist immer wesentlich größer als Ei(1), da jetzt ein Elektron von einem positiv geladenen Atomrumpf entfernt werden muss. Beispielsweise beträgt Ei(2) für das C-Atom 24.4 eV, obwohl das abgespaltene Elektron aus dem gleichen 2p-Niveau stammt, wie das erste Elektron. Das bedeutet, dass sich die Orbitalenergien im Ion C+ erheblich von denen im C-Atom unterscheiden, was ebenfalls mit der veränderten effektiven Kernladung erklärt werden kann.5 Ei(2) ändert sich ähnlich wie Ei(1) periodisch mit der Ordnungszahl, wobei die Maxima der Kurve jetzt bei den entsprechenden edelgasähnlichen Ionen liegen (z.B. Na+, K+, usw.). Der in Abbildung 2.1 dargestellte Kurvenverlauf erscheint also bei diesen Werten um eine Ordnungszahl nach rechts verschoben. Entsprechendes gilt für die dritte Ionisierungsenergie.

2.1.3 Die Elektronenaffinität Eea Zahlreiche Nichtmetallatome können in der Gasphase in exothermer Reaktion ein Elektron aufnehmen: B(g.) + eÇ

BÇ(g.)

njH ° = Eea

Die Elektronenaffinität Eea ist in diesem Falle definitionsgemäß positiv, obwohl es sich um eine vom System abgegebene Enthalpie handelt, die eigentlich ein negatives Vorzeichen tragen müsste.6 Die Werte von Eea liegen zwischen 0 und 3.6 eV entsprechend 0 bis 350 kJ mol–1 (Abb. 2.2). Ist Eea gleich Null oder negativ, bildet das Atom in der Gasphase 4 5 6

A. B. Blake, J. Chem. Educ. 1981, 58, 393. Die Eigenwerte εj der Einelektronen-SCHRÖDINGER-Gleichung werden Orbitalenergien genannt. In der Literatur werden für Eea auch die Abkürzungen A und EA verwendet; die besten Zahlenwerte findet man im Internet bei http://webbook.nist.gov/.

13

2.1 Die Ionenbindung

4.0

Eea (1) in eV Cl

3.6

F

Br

3.2

I

2.8 2.4

S

2.0 1.6

O C

1.2 0.8

H

0.4 0

Li B

He

Ç0.4 1

Si

P Na Al

N Be

Mg

2

3

Elektronenaffinität Eea (1) in eV At

B C 0.28 1.27 Se

Ge

Te

Po

Sb

K

Rb

Ga

In

O N 1.46 Ç0.07 (Ç8.29) (Ç8.08)

F 3.40

Ne 0

Al Si 0.46 1.38

P 0.74

S 2.08 (Ç6.11)

Cl 3.61

Ar 0

Bi

Ga Ge 0.30 1.24

As 0.80

Kr 0

Cs Pb Tl

Se Br 2.02 3.36 (Ç4.35)

Sn In 0.30 1.25

Sb 1.05

Sn

As

He 0

H 0.75

Te 1.97

I 3.06

Xe 0

Werte in Klammern: Eea(2) in eV Ca 4

5

6

Abb. 2.2 Die Elektronenaffinitäten der einzelnen Hauptgruppen in Abhängigkeit von der Periode.

kein stabiles Anion. Dies gilt z.B. für die Edelgasatome, für Stickstoff sowie für die Elemente der 2. Gruppe des Periodensystems. In Abbildung 2.2 ist gezeigt, dass sich die Elektronenaffinitäten im Periodensystem nicht so systematisch ändern wie die Ionisierungsenergien. Die Elektronenaffinität ist identisch der Ionisierungsenergie des betreffenden Anions: BÇ(g.)

B(g.) + eÇ

Ei (BÇ) = Eea(B)

Beispielsweise beträgt Eea des C-Atoms 1.27 eV, d.h. die Ionisierungsenergie des Anions C– ist mit 1.27 eV sehr viel kleiner als die des neutralen C-Atoms mit 11.3 eV. Die Anlagerung eines zweiten oder gar dritten Elektrons an ein Anion ist in jedem Falle stark endotherm, d.h. Eea(2) und Eea(3) sind immer negativ. Dies bedeutet, dass zwei- und mehrfach negativ geladene atomare Ionen nicht in freier Form existieren können. Auch aus den Werten der Elektronenaffinitäten geht hervor, dass edelgasähnliche Monoanionen besonders stabil sind. Daher weisen die Halogenatome die bei weitem größten Werte von Eea auf. Hier muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass kleine mehrfach geladene Anionen wie O2– und S2– aber auch [CO3]2–, [SO4]2– und [PO4]3– als isolierte gasförmige Ionen nicht existieren, weil sie sofort durch Abspaltung von ein bzw. zwei Elektronen in die stabileren Monoanionen übergehen würden.7 Daher können an solchen Ionen auch keine experimentellen Bestimmungen vorgenommen werden. Die entsprechenden Werte 7

R. Janoschek, Z. Anorg. Allg. Chem. 1992, 616, 101. A. I. Boldyrev, J. Simons, J. Phys. Chem. 1994, 98, 2298.

14

2 Die chemische Bindung

von Eea(2) sind daher mit Hilfe thermodynamischer Kreisprozesse errechnet worden (vgl. Lehrbücher allgemeine/physikalische Chemie). In kondensierten Phasen sind alle Anionen von Kationen oder polaren Lösungsmittelmolekülen umgeben, die stabilisierend wirken; man sagt auch, die Anionen sind gitterstabilisiert. Die wirkliche Ladung von Ionen in Lösungen und in Festkörpern ist nur in wenigen Fällen bekannt;8 sie hängt auch davon ab, welchen Volumenanteil man den einzelnen Ionen zuweist.

2.1.4 Ionengitter und Ionenradien Der Aufbau eines Ionengitters sei am Beispiel der Steinsalzstruktur erläutert.9 Durch die Beugung von Röntgenstrahlen am dreidimensionalen Gitter eines Kristalls (Einkristallstrukturanalyse) kann man die Lage der Ionen genau lokalisieren und die Kernabstände bestimmen. Im Falle von NaCl wurde dabei eine kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle gefunden. Die Elementarzelle ist die kleinste, für einen Einkristall repräsentative Einheit. Sie enthält alle Symmetrieelemente des Kristalls, der aus ihr durch periodische Reproduktion (Translation) aufgebaut werden kann. Die Ionenlagen der NaCl-Struktur sind in Abbildung 2.3 dargestellt. 0

0 0.5

0

0

0 0.5

0

1

-

0.5

0.5

+ 2 3 5 10

55.8 30

1 2 3 5 15

0

0.5 0

0

0

0.5

0.5 0

0

0.5

0.5

29.8 20 10

1

2 3 5 10

0.5

0.5 0

0.5

0.5

0 -0.2

0

0.5 0.5 -0.6 0.5

0.5 0.8. .0.3 0

0.5 0

+ -

55.8 30

0.2 .

+

+ +

-

100 pm

0.5 0.5

1 2 3 5 15

+

29.8 20 10

0.5

0.5

-

+

+

-

+

-

0.3. 0.8 . 0.5 0

-0.9

Abb. 2.3 Die Anordnung der Ionen in der NaCl-Struktur (rechts); links ist die experimentell ermittelte Elektronendichteverteilung auf der (110)-Fläche des NaCl-Kristalls gezeigt. Die größeren Chlorid-Ionen haben Maxima bei 55.8, die kleineren Natrium-Ionen bei 29.8 e – Å–3 (1 Å = 100 pm).

8 9

Vgl. zum Beispiel S. Sasaki et al., Acta Cryst. A 1980, 36, 904. In dieser Struktur kristallisieren alle Alkalimetallhalogenide mit Ausnahme von CsX (X = Cl bis I). Letztere Salze kristallisieren in der kubisch-raumzentrierten CsCl-Struktur mit der Koordinationszahl 8 für alle Ionen (jedes Ion befindet sich im Zentrum eines Würfels aus Gegenionen).

15

2.1 Die Ionenbindung

Da die Röntgenstrahlen an den Elektronen der Atome gebeugt werden, lässt sich aus einer hochauflösenden Bestimmung der Reflexintensitäten des Beugungsbildes eines Einkristalles außer den Ionenlagen auch noch die gesamte Elektronendichte-Verteilung berechnen. Für NaCl ist das Ergebnis in Abbildung 2.3 in Form eines Konturdiagramms dargestellt, und zwar für den in der Abbildung rechts gezeigten Ausschnitt aus der (110)-Fläche des Kristalls. Aus diesem Diagramm kann man Folgendes entnehmen: Die Elektronendichte ist an den Atomkernen am größten und nimmt nach außen hin zunächst sehr rasch, dann langsamer ab. Auf der Verbindungslinie von Kation und Anion gibt es einen Punkt geringster Elektronendichte mit weniger als 0.2 e– Å–3 (1 Å = 100 pm). Die Ladungsdichte an dieser Stelle ist also nahezu Null. Daher kann man diesen Punkt als Begrenzungspunkt für die beiden sich „berührenden“ Ionen entgegengesetzter Ladung betrachten. Der Ionenradius ist dann durch die Entfernung des Atomkerns von der Stelle minimaler Elektronendichte auf der Verbindungslinie Anion-Kation definiert. Integriert man die Elektronendichte in den durch diese Definition der Ionenradien abgegrenzten kugelförmigen Ionenvolumina, erhält man im Falle von NaCl 10.05 Elektronen für das Na+-Kation und 17.70 für das Cl–-Anion. Zu erwarten sind 10 bzw. 18 Elektronen. Die fehlenden 0.25 Elektronen sind in den bei der Integration nicht mit berücksichtigten Zwischenräumen der Kugelpackung zu suchen (Abb. 2.3). Das Ergebnis der Integration kann als Beweis dafür betrachtet werden, dass der Kristall aus Ionen und nicht aus Atomen besteht. Für die weitere Betrachtung nimmt man vereinfachend an, dass die Ionen kugelförmig und nicht komprimierbar (starr) sind und dass sie daher einen charakteristischen Durchmesser besitzen. Die aus den Elektronendichtekarten abgeleiteten Ionenradien (Kristallradien) sind jedoch nicht für jedes Ion konstant, sondern etwas von der jeweiligen Struktur und vor allem von der Koordinationszahl abhängig.10 Die folgenden Beispiele illustrieren die Abhängigkeit des Ionenradius von der Hauptquantenzahl der Valenzelektronen und von der Ionenladung bei gleicher Koordinationszahl 6 (Werte in pm): [He] Li+: 90

[Ne] Na+: 116 F–: 119 O2–: 126

[Ar] K+: 152 Cl–: 167 S2–: 170

[Kr] Rb+: 166 Br–: 182 Se2–: 184

[Xe] Cs+: 181 I–: 206 Te2–: 207

Allgemein beobachtet man, dass die Radien mit steigender Hauptquantenzahl der Valenzelektronen größer werden und dass sie mit zunehmender positiver Ionenladung kleiner, mit zunehmender negativer Ladung entsprechend größer werden. Ursache dafür ist die entsprechende Änderung der effektiven Kernladungszahl und der interelektronischen Abstoßungskräfte. In einer Reihe von isoelektronischen Ionen steigen daher die Radien von den Kationen zu den Anionen an, z.B.: Ca2+ < K+ < Cl– < S2– Die Vorstellung von einer reinen Ionenbindung ist eine idealisierende Vereinfachung. Am ehesten wird diesem Ideal ein Kristall entsprechen, bei dem zwei Elemente möglichst unterschiedlicher Elektronegativität eine Ionenbindung eingehen. Da die Alkalimetalle die geringsten und Fluor und Sauerstoff die höchsten Elektronegativitätswerte aufweisen 10

I. D. Brown, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 446.

16

2 Die chemische Bindung

(Kap. 4.6.2), kann man also die Fluoride und Oxide dieser Metalle als am besten geeignete Beispiele für diesen Bindungstyp ansehen.

2.1.5 Gitterenergie und Gitterenthalpie Entscheidend für das Verständnis der Stabilität und der Eigenschaften von Ionenverbindungen ist die Gitterenergie bzw. die Gitterenthalpie, für die die Symbole Uo bzw. ∆gH° gebräuchlich sind. Die Gitterenthalpie ist definiert als die Enthalpie, die bei der Vereinigung äquivalenter Mengen gasförmiger Kationen und Anionen aus unendlich großer Entfernung zu einem Einkristall von 1 mol frei wird: A+(g.) + BÇ(g.)

AB(f.)

Œ g H° < 0

∆gH° ist als vom System abgegebene Enthalpie stets negativ, wird aber meistens ohne Vorzeichen verwendet. Wenn man also beispielsweise von einer großen Gitterenthalpie spricht, so meint man einen hohen Absolutwert von ∆gH°, d.h. einen sehr stark negativen Wert. Die Gitterenergie erhält man, wenn man die Volumenänderung berücksichtigt: ∆gH° = ∆gU° + p∆V

(2.1)

In der Literatur ist es üblich, sowohl für die Gitterenergie als auch für die Gitterenthalpie bei 0 K das Symbol Uo zu verwenden (beim absoluten Nullpunkt sind beide Größen identisch). Da sich die Zahlenwerte der beiden Größen bei einfachen Ionenkristallen aber auch bei 25°C kaum unterscheiden (siehe unten), kann man selbst bei dieser Temperatur so verfahren. Wir werden hier aber für die Gitterenthalpie ∆gH° schreiben. Die Gitterenergie Uo selbst setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, die für drei Metallhalogenide in Tabelle 2.1 zusammengestellt sind. Tab. 2.1 Komponenten der Gitterenthalpie einiger Metallhalogenide (in kJ mol–1). Aufgrund der gewählten Näherungen stimmen diese Gitterenthalpien nur qualitativ mit den in Tabelle 2.2 enthaltenen aktuellen Werten überein. NaCl und AgCl kristallisieren in der NaCl-Struktur und CsI in der CsCl-Struktur. Verbindung:

NaCl

AgCl

CsI

COULOMB-Wechselwirkung: Abstoßung nach BORN: VAN DER WAALS-Anziehung: Nullpunktsenergie:

–862 +100 –13 +8

–875 +146 –121 +4

–619 +63 –46 +29

Summe:

–767

–846

–573

Den größten Beitrag leistet die elektrostatische Wechselwirkung der Ionen, d.h. die Anziehung entgegengesetzt geladener Ionen und die Abstoßung der gleichnamig geladenen Ionen (COULOMB-Wechselwirkung). Daneben ist aber auch noch die VAN DER WAALSAnziehung der Ionen zu berücksichtigen, die unabhängig von der Ladung zwischen allen Atomen wirksam ist und die im Kapitel 3 behandelt wird. Man beachte, dass diese Komponente auch kovalente Bindungsbeiträge enthält. Daher ist ihr absoluter Betrag umgekehrt proportional zur PAULING-Elektronegativitätsdifferenz ∆χP der beteiligten Atome

2.1 Die Ionenbindung

17

(∆χP = 2.3 (NaCl) > 1.9 (CsI) > 1.3 (AgCl); die VAN DER WAALS-Anziehung beträgt in kJ mol–1: –13 (NaCl) < –46 (CsI) < –121 (AgCl). Im Gleichgewichtszustand werden die Anziehungskräfte durch Abstoßungskräfte kompensiert, die auf eine gegenseitige Durchdringung der Elektronenhüllen benachbarter Ionen und auf die Abstoßung der Atomkerne zurückzuführen sind. Da die Ionen wie alle Atome keine feste Begrenzung besitzen, tritt beim Aufbau eines Kristalls, wenn sich, wie im Falle des NaCl, Kationen und Anionen bis auf einen Kernabstand von 281.4 pm nähern, eine gewisse Durchdringung und Abstoßung der äußeren Elektronenhüllen auf, die zu einer Kontraktion der Ionen führt. Dadurch wird die Gitterenergie also etwas kleiner. Der Beitrag dieser BORN-Abstoßung ist in der dritten Zeile der Tabelle 2.1 aufgeführt. Als vierte Komponente der Gitterenergie ist die Nullpunktsenergie zu berücksichtigen. Darunter versteht man die Schwingungsenergie der Ionen, die der Kristall selbst bei 0 K aufweist und die daher bei der Bildung des Kristalls aus gasförmigen Ionen nicht freigesetzt wird. Diese Schwingungsenergie kann man aus der Energie der Gitterschwingungen berechnen, die man ihrerseits dem Infrarot- oder Ramanspektrum entnimmt. Die Nullpunktsenergie vermindert die Gitterenergie nur sehr wenig.

2.1.6 Bestimmung von Gitterenergie und Gitterenthalpie Gitterenergien und -enthalpien können nicht direkt gemessen, sondern nur indirekt bestimmt werden. Theoretisch exakt lässt sich die Gitterenthalpie über einen BORN-HABERKreisprozess erhalten, sofern einige thermodynamische Daten des Systems bekannt sind. Nach dem Satz von HESS ist die Enthalpiedifferenz zwischen zwei Zuständen unabhängig vom Weg, auf dem man vom Anfangszustand zum Endzustand gelangt. Um die Gitterenthalpie z.B. von NaCl gewissermaßen experimentell zu ermitteln, kann man daher nach dem in Abbildung 2.4 gezeigten Schema einen Kreisprozess durchführen (MAX BORN und FRITZ HABER, 1919). Die einzelnen Enthalpiebeträge des Kreisprozesses sind: ∆g H° ∆f H° ∆s H° ∆r H°

Ei D° Eea

Gitterenthalpie Na+Cl– (–790 kJ mol–1). Standard-Bildungsenthalpie von kristallinem NaCl (–411 kJ mol–1). Standard-Sublimationsenthalpie von Natriummetall (+107 kJ mol–1) bzw. molekularem NaCl (+196 kJ mol–1).11 Standard-Reaktionsenthalpie der Bildung des gasförmigen NaCl-Moleküls (–556 kJ mol–1). erste Ionisierungsenergie des Na-Atoms (+496 kJ mol–1). Dissoziationsenthalpie des Cl2-Moleküls (+242 kJ mol–1). Elektronenaffinität des Cl-Atoms (–349 kJ mol–1).

Aus Abbildung 2.4 ist ersichtlich, dass die konkurrierende Bildung von molekular aufgebauten NaCl nur um etwa 34 kJ mol–1 ungünstiger ist, als die tatsächlich erfolgende Salzbildung. Dies ist auf die Polarisation der Bindung im zweiatomigen NaCl-Molekül zu-

11

Für molekulares NaCl wurde ∆sH° zu 196 kJ mol–1 abgeschätzt.

18

2 Die chemische Bindung

∆H [kJ mol −1]

Na+(g) + e-+ Cl (g)

+

Na (g) + e-+ Cl (g)

+724

+724 + Eea

+ Ei

+228 +107 0

+

-

Na (g) + Cl (g)

+375

Na(g) + Cl(g) 1 2

+ D Na(g) + +∆sub H ° Na(f) +

1 2 1 2

Cl2(g)

+∆g H °

Cl2(g)

+∆ r H ° 0 NaCl (g)

∆ f H ° = −411 Na+Cl-(f) Salz

∆ r H ° ≈ −34

NaCl (f)

+∆subH °

Molekular

−181 −377 −411 ∆H [kJ mol −1 ]

Abb. 2.4 BORN-HABER-Kreisprozess zur Ermittlung der Gitterenthalpie eines Salzes am Beispiel von Na+Cl– und konkurrierende Bildung von molekular aufgebautem NaCl.

rückzuführen, die im Abschnitt 2.1.8 beschrieben wird. Dieses einfache Beispiel soll zeigen, dass es auch für klassische Nichtmetallverbindungen, wie die Phosphorhalogenide PX5, nicht von vornherein klar ist, ob sie eine Molekülstruktur wie PX5 oder eine ionische Struktur wie [PX4]+[PX6]– ausbilden. Verstanden werden kann die experimentelle Beobachtung nur durch eine Analyse auf Basis eines geeigneten Kreisprozesses. Bei den Energiebeträgen in Abbildung 2.4 handelt es sich ausschließlich um Enthalpiewerte ∆ H°, da die Ermittlung unter konstantem Druck (bei 25°C) erfolgt. Daher liefert der BORN-HABER-Kreisprozess die Gitterenthalpie, die sich von der Gitterenergie um die Volumenarbeit p∆V unterscheidet (Glg. 2.1). Beim NaCl beträgt p∆V bei 25°C nur 5.0 kJ mol–1. Dieser Betrag liegt innerhalb der Fehlergrenze der Gitterenergien, deren Richtigkeit im Allgemeinen 2 % nicht unterschreitet. Daher kann man den zahlenmäßigen Unterschied zwischen der Gitterenergie und der Gitterenthalpie meistens vernachlässigen. Aus dem Kreisprozess in Abbildung 2.4 ergibt sich folgender Zusammenhang zwischen ∆gH° und den anderen Größen: ∆gH° = ∆fH° + Eea – 12 D – Ei – ∆sH°

(2.2)

Ein relativ akkurates und einfaches Verfahren zur Abschätzung der Gitterenergien von einfachen und komplexen Salzen bedient sich als Alternative zu den Ionenradien, die nur für sphärische Ionen gut bestimmt sind, der Ionenvolumina Vion, wie hier am Beispiel eines Salzes A+B– gezeigt werden soll: Vion (A+) =

VZelle (A+BÇ) Ç Vion (BÇ) Z

Das Zellvolumen VZelle ist das Volumen der Elementarzelle des Salzes und Z ist die Anzahl der Formeleinheiten in der Zelle. Die Summe der Ionenvolumina Vion liefert das

19

2.1 Die Ionenbindung

molekulare Volumen Vm (in nm3), das die Bestimmungsgröße für die Gitterenergie darstellt: Vm = Vion (A+) + Vion (BÇ)

Für beliebige Salze gilt: U° = | z+ || zÇ |.n.

3

î Vm

Èí

(2.3)

(2.3)

Dabei sind z+ und z– die Beträge der Ladungszahlen der Anionen und Kationen, n ist die Zahl der Ionen (2 für AB, 3 für AB2, etc.), α und β sind empirisch erhaltene Konstanten (für A+B–: α = 117.3 kJ mol–1 nm; β = 51.9 kJ mol–1; für A2+(B–)2: α = 133.5 kJ mol–1 nm; β = 60.9 kJ mol–1).12 Die nach diesen Beziehungen erhaltenen Gitterenergien stimmen mit den aus Kreisprozessen wie in Abbildung 2.4 erhaltenen Gitterenthalpien meistens bis auf einige kJ mol–1 überein. Größere Abweichungen ergeben sich, wenn, wie bei den schwereren Kupfer- und Silberhalogeniden, keine reine Ionenbindung vorliegt (vgl. das Thema Polarisation im Abschnitt 2.1.8). Aus der Gleichung 2.3 ersieht man, dass die Gitterenergie besonders groß wird, wenn die Summe der Ionenvolumina, und damit auch der Ionenradien, klein ist (z.B. LiF gegenüber CsI), oder wenn die Ionenladungen groß sind (z.B. Al2O3, vgl. Tab. 2.2). Tab. 2.2 Gitterenthalpien einiger Salze bei 25°C (in kJ mol–1)a H–

Cl–

Br–

–1049 –930 –829 –795 –759 –2978 –2651

–864 –790 –720 –695 –670 –2540 –2271

–820 –754 –691 –668 –647 –2451 –2131

–764 –705 –650 –632 –613 –2340 –2087

–2814 –2478 –2232 –2161 –2063 –3791 –3401

Al3+

–6252

–5513

–5360

–5227

–15525

Ag+

–974

–918

–905

–892

–2910

Li+ Na+ K+ Rb+ Cs+ Mg2+ Ca2+

–918 –807 –713 –684 –653 –2718 –2406

F–

I–

O2–

nach H.D.B. Jenkins, H.K. Roobottom, CRC Handbook of Chemistry and Physics, CRC Press, Boca Raton, 80. Aufl., 1999–2000, Kap. 12, S. 22.

a

2.1.7 Bedeutung der Gitterenthalpie Die Gitterenthalpie ist ein Ausdruck für die Stärke der Bindung zwischen den Ionen im Kristall. Daher lässt sich eine Reihe physikalischer und chemischer Eigenschaften von Salzen auf deren unterschiedliche Gitterenthalpien zurückführen. So nehmen mit steigen12

H. D. B. Jenkins, H. K. Roobottom, J. Passmore et al., Inorg. Chem. 1999, 38, 3609. H. D. B. Jenkins, L. Glasser, Chem. Soc. Rev. 2005, 34, 866. Analog kann mit Vm als Ordnungsgröße auch die Festkörperentropie ermittelt werden; Näheres in der zitierten Originalliteratur.

20

2 Die chemische Bindung

der Gitterenthalpie im Allgemeinen der Schmelz- und der Siedepunkt sowie die Härte zu, während die Koeffizienten der thermischen Ausdehnung und der Kompressibilität abnehmen. Für die Löslichkeit eines Salzes in einem Lösungsmittel ist die Gitterenthalpie von wesentlicher Bedeutung. In einem Lösungsmittel der Dielektrizitätskonstanten ε vermindert sich die COULOMB-Anziehung f entgegengesetzt geladener Ionen umso mehr, je größer ε ist. Für zwei einfach geladene Ionen gilt: f =

1 4™µ° µ

2 . e

(2.4)

(2.4)

d2

d: Kernabstand der Ionen

Bei der Auflösung eines Salzes muss die Gitterenthalpie durch einen energieliefernden Prozess aufgebracht werden. Dieser Prozess ist die Solvatation der Ionen des zu lösenden Stoffes. Darunter versteht man die Anziehung (Bindung) der Lösungsmittelmoleküle aufgrund ihrer Dipolmomente durch die Kationen bzw. Anionen. Auch Wasserstoffbrücken können zwischen dem Lösungsmittel und den Ionen entstehen. Die Solvatationsenthalpie ist definiert als die bei der Überführung von 1 mol gasförmiger Ionen in eine unendlich große Menge Lösungsmittel freiwerdende Enthalpie: A+(g.) + Lösungsmittel (fl.)

A+(solv.)

ŒsolvH ° χ(H) PBr3: 101.1° / PCl3: 100.3° / PF3: 97.8° wegen χ(F) > χ(Cl) > χ(Br) Weitere Beispiele finden sich in den Tabellen 2.4 bis 2.7. Bei abnehmender Elektronegativität des Zentralatoms A breiten sich nichtbindende Elektronenpaare auf dessen Oberfläche mehr aus als bindende Paare. Aus diesem Grunde werden die Valenzwinkel in der Reihe H2O > H2S > H2Se > H2Te kleiner. Sind in einem Molekül Substituenten unterschiedlicher Elektronegativität vorhanden, müssen nach dem oben Gesagten die Winkel zwischen den Bindungen zu den elektronegativeren Substituenten kleiner sein als die anderen. Sind die Substituenten jedoch sehr groß, so ist zu erwarten, dass auch die sterische Behinderung die Valenzwinkel beeinflusst. In einer trigonalen Bipyramide besetzen die elektronegativsten Substituenten immer zuerst die axialen Positionen. Das gilt beispielsweise für die Fluoratome in PCl4F und PCl3F3. Man beobachtet also bei diesen Molekülen keine stabilen Isomere mit F-Atomen in äquatorialen Positionen. In den Molekülen CH3PF4 und (CH3)2PF3 befinden sich die weniger elektronegativen Methylgruppen erwartungsgemäß in der Äquatorebene. Mehrfachbindungen Eine Mehrfachbindung besteht im Rahmen des VSEPR-Modells aus mehr als zwei Elektronen. Das Modell sieht vor, dass sich diese Elektronen in einer Domäne befinden. Beispielsweise wird die lineare Geometrie von CO2 durch die Abstoßung zweier Elektronendomänen erklärt. Wegen der größeren Elektronenzahl beanspruchen Mehrfachbindungsdomänen mehr Raum als die von Einfachbindungen. Daraus folgt, dass in Molekülen des Typs AX3Y mit einer Mehrfachbindung A=Y die Winkel X–A–X kleiner sind als die Winkel X–A=Y. In Molekülen mit Mehrfachbindungen und nichtbindenden Elektronenpaaren treten besonders starke Abweichungen von der regulären Molekülgestalt auf. Das zeigen folgende Beispiele: O

S

P F Winkel:

F

S

P F

Cl

Cl

Cl

ClPCl: 101.8°

FPF: 101.1°

F

F

O

OSF: 106.8° FSF: 92.8°

In tetraedrischen Molekülen mit mehreren Mehrfachbindungen ist der zwischen diesen liegende Winkel der größte des Moleküls: O

F S F

O

OSO: 124.0° FSF: 96.1°

O

Cl S Cl

O

OSO: 123.5° ClSCl: 100.3°

Bei trigonal-bipyramidalen Molekülen sind die Mehrfachbindungen wegen ihrer größeren Raumbeanspruchung immer in der Äquatorebene zu finden. Beispiele hierfür sind Thionyltetrafluorid SOF4 und Xenondioxiddifluorid XeO2F2. Eine Übersicht über einfache Moleküle mit ein bis zwei Mehrfachbindungen findet sich in Abbildung 2.9.

35

2.2 Moleküle und ihre Geometrie AX 2 AX 3

AX 2E

O Cl Cl

O

C

S

C

O

H

O

O

O

O

O

Cl AX 4 O

N O

O

N

O

C

+

N

Cl

O

O

S

Cl

Cl

AX 3E

O

AX 2E 2

O

S

O

Cl Cl

Cl

S

F

Cl

Cl

O

N

P

O

O

S

O

I

F F

O O

O F F

AX 5

F

S

O

F F O

AX 4E

F O

Xe

O

O

F

AX 6

F F

F

O I F

I

F

HO

F

HO

O I

OH OH

OH

Abb. 2.9 Geometrie von Molekülen mit Mehrfachbindung.

Abschließende Bemerkungen zum VSEPR-Modell Das Modell der Elektronenpaarabstoßung liefert eine rationelle Systematik der Strukturen kleiner Moleküle auf einer anschaulichen Grundlage. Zwar ist das Modell weitgehend empirisch und an den vorliegenden experimentellen Strukturdaten orientiert, es hat sich aber selbst bei der Prognose der Geometrie unbekannter Moleküle bewährt.21 Nur wenige Nichtmetallverbindungen sind bekannt, bei denen die Molekülstruktur mit dem VSEPR-

21

Zur theoretischen Begründung des Modells siehe: R. F. Bader, R. J. Gillespie, P. J. MacDougall, J. Am. Chem. Soc. 1988, 110, 7329. P. J. MacDougall et al., Can. J. Chem. 1989, 67, 1842.

36

2 Die chemische Bindung

Modell falsch vorhergesagt wird. Dazu gehören die Ionen [BrF6]–, [SeX6]2– und [TeX6]2– mit X = Cl, Br oder I. Diese Ionen sind vom Typ AX6E und sollten daher eine verzerrt oktaedrische Struktur aufweisen. Tatsächlich bilden sie aber reguläre Oktaeder, d.h. das nichtbindende Elektronenpaar ist ohne stereochemischen Einfluss. Bei einer bestimmten Größe und Anzahl von Substituenten ist ohnehin zu erwarten, dass die Molekülgeometrie von den sterischen Erfordernissen bestimmt wird. Bei den Verbindungen der Übergangsmetalle gibt es jedoch eine größere Anzahl von Ausnahmen von den Vorhersagen des VSEPR-Modells. Trotz der Erfolge und der großen Popularität der VSEPR-Methode muss kritisch angemerkt werden, dass dieses Modell nicht die wirkliche Elektronendichteverteilung in Molekülen beschreibt. Beispielsweise suggeriert das Modell, dass eine Bindung immer durch (mindestens) zwei Elektronen zustande kommt. Wie im Abschnitt 2.4 gezeigt werden wird, ergibt die Theorie der chemischen Bindung, dass in den meisten Molekülen Mehrzentrenbindungen vorliegen, wobei ein Elektronenpaar auch für die Bindungen zu zwei Substituenten verantwortlich sein kann. Beispiele hierfür sind die Moleküle XeF2 und SF6. Andererseits können Bindungen zwischen zwei Atomen auch durch nur ein sowie durch drei Elektronen vermittelt werden. Kovalente Bindungen werden also nicht immer durch Elektronenpaare begründet. Man sollte daher die Elektronendomänen des VSEPR-Modells als lokale Anhäufungen von Elektronendichte zwischen den aneinander gebundenen Atomen betrachten und nicht als Elektronenpaare. Diese Anhäufungen kommen durch die Anziehung der Elektronen durch die beiden Atomrümpfe zustande. Die VSEPR-Methode versagt auch bei einfachen Problemen, wie dem O2-Molekül, das paramagnetisch ist, weil es zwei ungepaarte Elektronen enthält, so dass die oben angegebene LEWIS-Formel nicht korrekt ist. Zwar wird die gewinkelte Struktur des Carbens CH2 richtig vorhergesagt, allerdings steht in diesem paramagnetischen Molekül mit Triplett-Grundzustand der gefundene Winkel H–C–H von 131.5° im klaren Widerspruch zur VSEPR-Erwartung (Si=C< Silen (Silaethen)

>Si=N– Silazen (Silanimin)

>Si=O Silanon (Silaketon)

–Si≡C– Silin (Silaethin)

>Si=Si< Disilen

>Si=P– Silaphosphen

>Si=S Silanthion

–Si≡Si– Disilin

Verbindungen dieser Art sind allerdings nur dann bei Normalbedingungen beständig und damit in reiner Form isolierbar, wenn die Mehrfachbindungen durch große Substituenten abgeschirmt werden, so dass eine Oligomerisierung kinetisch gehemmt wird. Zu diesem Zweck wurde eine ganze Reihe sperriger Substituenten entwickelt. Am Beispiel der Disilene sollen hier die entsprechenden thermodynamischen Verhältnisse etwas ausführlicher betrachtet werden. Die Mutterverbindung H2Si=SiH2 ist nicht in reiner Form isolierbar. Dafür sind die gleichen Gründe maßgeblich, wie sie für die zweiatomigen Moleküle S2 (Kap. 4.2.3) und P2 (Kap. 10.2) diskutiert wurden, die ebenfalls bei Raumtemperatur unbeständig sind. Die Überführung der SiSi-Doppelbindung in zwei SiSi-Einfachbindungen ist exergonisch, d.h. die GIBBS-Energie der Reaktion ist negativ. Daher würde Si2H4, wenn es intermediär eventuell entstehen sollte, sofort zu höheren cyclo-Silanen oder zu polymerem (SiH2)2n oligomerisieren: n H2Si

SiH2

(SiH2)2n

ˆG° < 0

Beim homologen Ethen H2C=CH2 ist die entsprechende Polymerisation zu dem thermodynamisch stabileren Polyethylen ebenfalls exergonisch, aber mit einer höheren Aktivierungsenergie behaftet. Sie läuft daher nur in Gegenwart eines Katalysators oder beim Erwärmen spontan ab. Die π-Bindung der Disilene ist der der Alkene weitgehend analog, jedoch ist das Überlappungsintegral bei größeren Orbitalen generell kleiner, so dass die Aufspaltung zwischen bindendem und antibindendem Molekülorbital im Falle des Siliciums geringer ist (Abb. 8.1). Daher sind solche Verbindungen reaktiver als die Alkene. Durch Bestrahlung ungesättigter Moleküle kann ein bindendes π-Elektron in das π*-MO überführt und auf diese Weise die dafür erforderliche Energie gemessen werden (HOMO-LUMO-Differenz). Bei Alkenen ist hierfür typischerweise eine Energie von 6 eV entsprechend einer Wellenlänge von 200 nm erforderlich. Im Falle der Disilene liegt die längstwellige Absorptionsbande im Bereich 390–480 nm entsprechend einer Energie von ca. 3 eV. Die Flanke dieser Bande reicht bis ins sichtbare Spektralgebiet (violett), weswegen Disilene gelb gefärbt sind. Die Doppelbindung zwischen den beiden Si-Atomen führt zu einer Rotationsbarriere von mehr als 100 kJ mol–1 für die Torsion um die SiSi-Achse (Abschnitt 8.11.2). Während einer solchen Torsion ändert sich die Energie des Moleküls in der in Abbildung 8.2 dargestellten Weise (Torsionspotential). Bei Torsionswinkeln (τ) von 90° und 270° erreicht die Energie des Moleküls ein Maximum, weil bei diesen Winkeln keine π-Bindung möglich ist: Die 3p-AOs der Si-Atome 7

V. Y. Lee, A. Sekiguchi, Organometallics 2004, 23, 2822 und Angew. Chem. 2007, 119, 6716. A. Sekiguchi, Pure Appl. Chem. 2008, im Druck.

273

8.3 Die Elemente

E

E

(eV)

C

•Á

C

(eV)

Si

Si

•Á ¿11.3

2p•

2p•

¿8.2

3p•

3p•

• • Abb. 8.1 Energieniveaudiagramme für die π-Bindungen in Alkenen (links) und in Disilenen (rechts). Die Aufspaltung zwischen den π- und π*-Molekülorbitalen ist bei den Disilenen etwa doppelt so groß wie bei den Alkenen.

E



90°

180°

270°

360°



Abb. 8.2 Potentialkurve für die Rotation um die SiSi-Doppelbindung in Disilenen.

sind dann orthogonal zueinander und das Molekül liegt in einem Triplettzustand vor. Die Energiedifferenz zwischen den Minima und Maxima entspricht also der Aktivierungsenergie für die Rotation um die SiSi-Achse und damit für die E-Z-Isomerisierung bei unsymmetrischer Substitution. Bei den gesättigten Silanen ist die Rotationsbarriere dagegen sehr klein (5 kJ mol–1 bei Si2H6). Für Germanium gelten entsprechende Überlegungen.7 Wie bei Disilenen liegt die Barriere (∆ H° 298) für die Rotation um die Doppelbindung auch bei Digermenen R2Ge=GeR2 größenordnungsmäßig bei 1 eV (Si=Si: 1.1 eV, Ge=Ge: 0.9 eV).8

8.3

Die Elemente

Unter Standardbedingungen kristallisieren Silicium und Germanium in der kubischen Diamantstruktur mit Kernabständen von 235 pm (SiSi) bzw. 244 pm (GeGe). Nur durch Anwendung hoher Drucke gelingt es, andere Modifikationen mit noch höherer Dichte herzustellen. Eine graphitanaloge Modifikation ist weder beim Si noch beim Ge bekannt. Auch gibt es zu den Fullerenen beim Si und Ge keine analogen Strukturen. 8

S. Masamune et al., J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 9394.

274

8 Silicium und Germanium

Elementares Silicium (Schmp. 1414°C) wird industriell aus SiO2 hergestellt, und zwar durch Reduktion von gereinigtem Quarz mit Koks und Holzkohle im Elektroofen bei 1700°C (Lichtbogen- oder Carbothermisches Verfahren): SiO2 + 2 Cf.

° = 695 kJ mol¿1 (Si) ˆH2100

Sifl. + 2 CO

Diese Reaktion ist endotherm und liefert ein flüssiges Rohsilicium, das noch mit den Nebenbestandteilen des Quarzes und des Kokses verunreinigt ist. Dieses Rohsilicium (Reinheit >98 %) dient als Legierungsmaterial für Aluminium und Magnesium sowie zur Herstellung von Organosilanen, Silikonen, Siliciumnitrid und von Reinstsilicium. Die Weltjahresproduktion von Silicium übersteigt 4·106 t. Um Silicium im kleinen Maßstab herzustellen, kann man SiO2 mit Mg oder Al reduzieren; diese Reaktionen sind exotherm: 3 SiO2 + 4 Al

3 Si + 2 Al2O3

Sehr reines Silicium, wie es für die Mikroelektronik und Photovoltaik9 benötigt wird, erhält man durch thermische Zersetzung leicht flüchtiger Si-Verbindungen, die ihrerseits aus Rohsilicium gewonnen werden. Das wichtigste Verfahren nutzt Trichlorsilan als Zwischenprodukt. Dazu wird fein gemahlenes Rohsilicium im Wirbelschichtofen bei 330°C mit Chlorwasserstoff in ein Gemisch aus Chlorsilanen überführt: Sif. + 3 HCl

SiHCl3 + H2

° = ¿218 kJ mol¿1 ˆH298

Durch fraktionierte Kondensation und mehrfache Destillation wird SiHCl3 (Sdp. 32°C) von Verunreinigungen und Nebenprodukten wie BCl3, SiH2Cl2, SiCl4 und Metallchloriden (AlCl3, FeCl2) abgetrennt und dadurch hoch gereinigt. Bei der Reduktion von SiHCl3 mit H2 an einem dünnen Si-Stab, der durch Stromdurchgang auf ca. 1100°C geheizt wird, scheidet sich reinstes Si in polykristalliner, aber kompakter Form ab: SiHCl3 + 2 H2

3 Sif. + SiCl4 + 8 HCl

° = 964 kJ mol¿1 ˆH1400

Reinstes Si in Form von Granalien wird auch durch Pyrolyse von hoch gereinigtem Silan bei 600°C produziert: SiCl4

Sif. + 2 H2

° = ¿34.3 kJ mol¿1 ˆH298

Als thermischer Prozess oder in einem Mikrowellenplasma wird diese Reaktion auch dazu genutzt, Schichten von amorphem Silicium („a-Si“) auf nichtleitenden Oberflächen abzuscheiden,10 z.B. für Solarzellen und LCDs (liquid crystal displays). Das entstehende a-Si enthält noch eine gewisse Menge Wasserstoff („a-Si:H“), was erwünscht ist, um die freien Valenzen (dangling bonds) abzusättigen. Dieses Verfahren der Gasphasenabscheidung (CVD: chemical vapor deposition) gewinnt zunehmend an Bedeutung für die verschiedensten Stoffe. Dabei wird allgemein ein strömendes, reaktives Gas (manchmal ver9

10

Die Photovoltaik beschäftigt sich mit der direkten Umwandlung von Licht in elektrische Energie mit Hilfe von Halbleitermaterialien. In Deutschland betrug die installierte Leistung im Jahre 1997 ca. 45 MW und in 2007 bereits mehr als 3500 MW. Zur Herstellung von Solarsilicium und Solarzellen siehe P. Woditsch, C. Häßler, Nachr. Chem. Tech. Lab. 1995, 43, 949. Führender Hersteller von Reinstsilicium in Europa ist die WACKER-Chemie GmbH in Burghausen (Bayern); für Solarzellen ist es die Firma SIEMENS Solar. J. M. Jasinski, S. M. Gates, Acc. Chem. Res. 1991, 24, 9.

275

8.3 Die Elemente

dünnt mit einem inerten Trägergas) durch einen Reaktor geleitet, in dem sich das erwärmte Substrat befindet, auf dem der Film abgeschieden werden soll. Auch die Reaktion von SiH4 mit SiBr4 oder SiI4, die bei 450–800°C durchgeführt wird, dient dazu, polykristalline Schichten von Silicium beispielsweise auf Glas oder anderen silicatischen Oberflächen abzuscheiden: SiH4 + SiX4

2 Sif. + 4 HX

Zur Herstellung von einkristallinem Si wird das Element in einem Quarztiegel unter Argonatmosphäre bei einer Temperatur dicht oberhalb des Schmelzpunktes geschmolzen. In die Schmelze wird ein Impfkristall oberflächlich eingetaucht, an dem die weitere Kristallisation erfolgt. Der Impfkristall wird in dem Maße, wie er infolge Kühlung wächst, langsam unter Rotation aus der Schmelze gezogen, wodurch ein stabförmiger Einkristall von 30 cm Durchmesser und 2 m Länge erhalten werden kann, der 265 kg wiegt (CZOCHRALSKI-Tiegelziehverfahren).11 Nach diesem Verfahren werden etwa 95 % der Weltproduktion von SiliciumEinkristallen hergestellt, die dann zu Wafern (Siliciumscheiben) zersägt, anschließend poliert, geätzt und beschichtet werden, um sie dann für integrierte Schaltkreise zu verwenden.12 Zur Hochreinigung von polykristallinem Si und Ge (Abreicherung von Verunreinigungen auf weniger als 10–9 Atom-%) unterwirft man die Elemente dem Zonenschmelzverfahren, das darauf beruht, dass die Verunreinigungen in der Schmelze besser löslich sind als in der festen Phase. Hierbei wandert eine durch induktive Heizung erzeugte Schmelzzone durch die stabförmigen Elemente, die dadurch umkristallisiert werden, ohne dass sie mit anderen Stoffen als dem Schutzgas Argon in Berührung kommen. Will man das Silicium mit Bor oder Phosphor dotieren, um die Leitfähigkeit zu erhöhen, setzt man dem Schutzgas Spuren von B2H6 bzw. PH3 zu, die sich in der heißen Zone in die Elemente zersetzen. Silicium kristallisiert in oktaederförmigen, harten und spröden Kristallen von dunkelgrauer Farbe (Dichte 2.33 g cm–3). Si ist ein Halbleiter13 mit einer Bandlücke von 1.12 eV (108 kJ mol–1) und leitet daher den elektrischen Strom bei 25°C nur schwach; die Leitfähigkeit steigt jedoch beim Erwärmen oder bei Verunreinigung stark an. Beispielsweise bedingt eine Dotierung mit 1 ppm Bor einen Anstieg der Leitfähigkeit etwa um den Faktor 105. Die Boratome werden anstelle von Si-Atomen in die Diamantstruktur eingebaut. Da Bor gegenüber Silicium ein Elektron weniger mitbringt, sind jetzt im Valenzband nicht mehr alle Zustände mit Elektronen besetzt, woraus die erhöhte Leitfähigkeit resultiert (p-Leitung). Umgekehrt führt die Dotierung mit Phosphoratomen dazu, dass pro P-Atom ein Elektron zu viel vorhanden ist, das daher im Leitungsband untergebracht werden muss, was ebenfalls zu erhöhter Leitfähigkeit führt (n-Leitung). Mit Wasser reagiert Silicium oberflächlich nach der Gleichung Si + 2 H2O

SiO2 + 2 H2

wobei das entstehende SiO2 tiefer liegende Schichten vor der weiteren Reaktion schützt. In Laugen löst sich Silicium aber unter H2-Entwicklung vollständig auf: 11 12 13

J. Evers et al, Angew. Chem. 2003, 115, 46. G. Wenski et al., Chemie unserer Zeit 2003, 37, 198. Ein Halbleiter ist ein Material mit einer Leitfähigkeit bei 25°C im Bereich 10–9 bis 102 Ω–1 cm, wobei die Leitfähigkeit mit der Temperatur exponentiell ansteigt. Die Bandlückenenergien (Eg) bekannter Halbleiter liegen im Bereich 0.5–2.5 eV; C. E. Stanton et al., Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5063.

276

8 Silicium und Germanium

Si + 4 NaOH

Na4SiO4 + 2 H2

Gegen Säuren ist Si mit Ausnahme eines Gemisches aus HNO3 und HF beständig. An der Luft bedeckt sich Si vor allem beim mechanischen Zerkleinern mit Oberflächenoxiden,14 die seine Reaktivität stark vermindern (Passivierung). Nicht passiviertes, fein verteiltes Si ist dagegen pyrophor. Germanium wird überwiegend aus Ge-haltigen Zinkerzen (ZnS, ZnCO3) gewonnen, die beim Rösten (Verbrennen im Luftstrom) einen Flugstaub liefern, der GeO2 enthält. Das rohe Dioxid wird zunächst mit konzentrierter Salzsäure zu flüchtigem GeCl4 (Sdp. 83°C) verarbeitet, aus dem man nach fraktionierter Destillation durch anschließender Hydrolyse hochreines Dioxid herstellt, das dann zum Element reduziert wird: GeO2 + 2 H2

Gefl. + 2 H2O

Eine weitere Reinigung kann wie beim Silicium durch Zonenschmelzen erfolgen. Germanium kristallisiert in grauweißen, spröden Oktaedern (Schmp. 938°C, Sdp. 2830°C; Dichte 5.32 g cm–3). Es ist resistent gegen nicht-oxidierende Säuren, reagiert aber mit oxidierenden zu GeO2. Von geschmolzenen Alkalihydroxiden wird Ge unter Wasserstoffentwicklung zu Germanaten gelöst. Elementares Germanium ist im Gegensatz zu Glas in einem sehr weiten Bereich für infrarote Strahlung durchlässig (5000–600 cm–1), worauf seine Verwendung für Linsen und Hohlspiegel in Nachtsichtgeräten beruht, mit denen die Wärmestrahlung von Objekten und Lebewesen registriert wird (Wärmebildkameras). In der Halbleitertechnik ist Ge (Bandlücke 0.66 eV) fast vollständig von dem preiswerteren Si verdrängt worden.

8.4

Silicide und Germanide

Viele Metalle reagieren mit Silicium zu stöchiometrischen binären Verbindungen, die Silicide genannt werden und die den Boriden, Carbiden, Nitriden usw. entsprechen. Mit stark elektropositiven Metallen entstehen Silicide, in denen das Metall überwiegend ionisch an ein mehr oder weniger großes Anion gebunden ist. In Tabelle 8.3 sind einige Beispiele aufgeführt. Am bekanntesten sind Mg2Si und Ca2Si, die formal Si4–-Ionen enthalten. NaSi ist ein Salz mit tetraedrischen Anionen [Si4]4–, die mit dem P4-Molekül isoelektronisch und isostrukturell sind (Abb.8.3). Die Silicide CaSi und SrSi bestehen formal aus Ca2+- bzw. Sr2+-Ionen und planaren Zick-Zack-Ketten von [Sin]2n–, die mit Schwefelketten isoelektronisch sind. Die Anionen im CaSi2 weisen dagegen eine Schichtstruktur auf: Die gewellten Schichten bestehen aus kondensierten Si6-Ringen ähnlich denen des isoelektronischen schwarzen Phosphors bzw. des grauen Arsens (Abb. 10.2). Zwischen den Schichten sind die Ca2+-Ionen eingelagert. Viele Metalle bilden mit Silicium Legierungen variierender Zusammensetzung (z.B. Ferrosilicium, siehe 8.6.2).

14

Zur Oberflächenchemie von elementarem Silicium siehe H. N. Waltenburg, J. T. Yates, Chem. Rev. 1995, 95, 1589. Die oberflächliche Oxidation von Silicium durch O2 ist von großer Bedeutung bei der Produktion von Transistoren, bei denen das so erzeugte SiO2 als elektrisch isolierende Substanz zwischen den halbleitenden (elektronisch aktiven) Zonen dient.

277

8.4 Silicide und Germanide

Tab. 8.3 Aufbau und Symmetrie der Anionen in den binären Siliciden einiger elektropositiver Metalle Zusammensetzung

Anionen

Ca2Si

Si4–

Li7Si2

Si4– und [Si2]6– („Hanteln“)

Ba3Si4

[Si4]6– („Schmetterling“; C2v)

NaSi

[Si4]4– (Td; wie P4)

SrSi

[Sin]2n– (helicale Ketten wie Schwefel)

Li12Si17

[Si5]6– (D5h) und [Si4]12– (D3h)

CaSi2

gewellte Schichten aus [Si6]6–-Ringen

Ge 4¿

Si

Si

Si

6¿

Si

Si

Si

Si

Ge

(b)

Abb. 8.3 Strukturen der Anionen (a) [Si4

]4–

Ge Ge

Ge

Si

Ge (a)

4¿

(Td), (b)

Ge Ge

Ge

(c) [Si4]6–

(C2v) und (c)

[Ge9]4–

(C4v).

CaSi2 reagiert unter O2-Ausschluss mit Cl2 quantitativ nach folgender Gleichung: CaSi2 + Cl2

2 Sif. + CaCl2

Das dabei entstehende Silicium ist hochreaktiv. Es entzündet sich sogar unter Wasser und verbrennt dabei zu SiO2 und H2! Mit überschüssigem Cl2 reagiert es über (SiCl)n zu Chlorsilanen der Typen SinCl2n+2 (Ketten), SinCl2n (Ringe) und SinCl2n–2 (bicyclisch, z.B. Si10Cl18). Mit Methanol reagiert dieses Si bei 20–60°C heftig zu Si(OMe)4 und H2. Das ähnlich wie Graphitfluorid schichtförmig aufgebaute Siliciummonochlorid (SiCl)n, das auch aus CaSi2 und ICl erhalten werden kann, lässt sich mit SbF3 zu (SiF)n fluorieren und mit LiAlH4 zu (SiH)n hydrieren. Bei Einwirkung von Säuren entstehen aus CaSi2 oder CaSi amorphe, braune Hydride der Zusammensetzung SiH0.7–0.9; aus Ca2Si wird dagegen SiH4 entwickelt. Silicium und Germanium reagieren mit Alkalimetallen zu Legierungen, die sich in flüssigem Ammoniak zu polyatomaren Anionen auflösen. Diese Ionen gehören zur Gruppe der ZINTL-Ionen.15 Man kann diese tief gefärbten Verbindungen aus Lösungen kristallin isolieren, wenn das Kation mit einem Cryptanden wie 2,2,2-crypt komplexiert wird. Beispiele sind die Ionen [Si5]2–, [Si9]3–, [Ge4]2–, [Ge5]2–, [Ge9]2– und [Ge9]4–, die wie folgt entstehen: 15

Die zuerst von EDUARD ZINTL bearbeiteten homopolyatomaren Anionencluster werden von Hauptgruppenelementen wie Si, Ge, Sn, Pb, As, Sb, Bi gebildet. S. C. Sevov, J. M. Goicoechea, Organometallics 2006, 25, 5678.

278

8 Silicium und Germanium À

2 Na + 4 Ge + 2 crypt

[Na(crypt)]2[Ge4]2¿

6 K + 18 Ge + 6 crypt

[K(crypt)]6[Ge9]2¿[Ge9]4¿

À

Die neunatomigen Cluster bilden je nach Elektronenzahl Polyeder verschiedener Symmetrie: [Ge9]4– hat die Geometrie eines überdachten quadratischen Antiprismas von C4v-Symmetrie (Abb.8.3), während [Ge9]2– von D3h-Symmetrie ist. Alkalimetallgermanide wie M4Ge9 können auch direkt aus den Elementen durch Erhitzen unter Luftausschluss hergestellt werden. Den Ge-Clusteranionen verwandt sind die mit Liganden stabilisierten neutralen Cluster wie Ge8[N(SiMe3)2]6 und Ge8[C6H3(Ot-Bu)2]6, die aus (GeBr)n und entsprechenden Alkalimetallsalzen der Liganden synthetisiert werden. Zahlreiche weitere Verbindungen dieser Art sowie analoge heteroatomare Cluster wurden in neuerer Zeit hergestellt.16

8.5

Hydride von Silicium und Germanium

Silicium bildet eine größere Zahl von kettenförmigen Silanen der allgemeinen Formel SinH2n+2, die zwar formal den Alkanen entsprechen, die aber deutlich reaktiver sind als diese. Auch cyclische Silane SinH2n und polymere Hydride der Zusammensetzung SiH0.7–0.9 sind bekannt. Von den kettenförmigen Silanen wurden alle Glieder bis zum Si15H32 isoliert bzw. nachgewiesen. Diese Silane sind farblos und teils gasförmig (n = 1, 2), teils flüssig (n > 2). SiH4 kondensiert bei –112° und erstarrt bei –185°C. Die Si–H-Bindung der Silane ist um ca. 90 kJ mol–1 schwächer als die C–H-Bindung der Alkane. Daher sind die Aktivierungsenthalpien vergleichbarer Reaktionen beim Silicium wesentlich kleiner als beim Kohlenstoff. Bei Raumtemperatur sind die Silane beständig, jedoch nur unter Ausschluss von O2 und H2O. An der Luft tritt Selbstentzündung und Verbrennung zu SiO2 und H2O ein.17 Silane und teilsubstituierte Derivate wie Et3SiH sind daher starke Reduktionsmittel. Diese Reaktionen unterstreichen die Oxophilie des Siliciums. Die den Alkanen entsprechenden Germane GenH2n+2 sind bis zum Ge9H20 bekannt. Von diesen Hydriden des Ge(IV) sind die höheren (n > 2) ebenfalls luftempfindlich. Sie werden daher wie die Silane in evakuierten oder mit Schutzgas gefüllten Glas- oder Stahlapparaturen gehandhabt. GeH4 ist ein Gas (Sdp. –88°C), die höheren Germane sind bei 25°C flüssig oder fest. Substanzen der Zusammensetzung GeH und GeH2 sind polymer und enthalten Ge–Ge-Bindungen. Ringförmige und ungesättigte Germaniumhydride sind nicht bekannt.

16 17

A. Schnepf, Eur. J. Inorg. Chem. 2008, 1007. Bei den Alkanen ist die analoge Reaktion ebenfalls thermodynamisch möglich (∆Go < 0), jedoch ist die Aktivierungsenergie so hoch, dass es einer Zündung bedarf, bevor Kohlenwasserstoffe zu brennen beginnen.

8.5 Hydride von Silicium und Germanium

279

8.5.1 Herstellung SiH4, Si2H6 und Si3H8 werden am besten durch Hydrierung der entsprechenden Chloride (Chlorsilane) mit LiAlH4 oder LiH in Ether hergestellt: SiCl4 + LiAlH4

SiH4 + LiCl + AlCl3

Si2Cl6 + 6 LiH

Si2H6 + 6 LiCl

Ein Silangemisch (Rohsilan) entsteht bei der Zersetzung von Mg2Si mit 20 %iger Phosphorsäure bei 50–60°C:18 Mg2Si + 4 H+

SiH4 + 2 Mg2+

Das erforderliche Magnesiumsilicid erhält man in exothermer Reaktion durch Erhitzen der beiden gut vermischten Elemente unter Argon auf 650°C. In dem so hergestellten Rohsilan sind alle Silane bis zu n = 15 enthalten, wobei die Konzentrationen mit steigender Molekülmasse stark abnehmen. Eine Trennung des Gemisches ist durch fraktionierte Vakuumdestillation oder präparative Gaschromatographie möglich. Dabei zeigt sich, dass die höheren Silane (n > 3) aus Isomerengemischen verzweigter und unverzweigter Moleküle bestehen. Beispielsweise wurden n-Tetrasilan H3Si(SiH2)2SiH3 und iso-Tetrasilan (H3Si)3SiH isoliert. Derartige Isomere können mittels 1H- und 29Si-NMR-Spektroskopie identifiziert werden. Unklar ist bisher der Reaktionsmechanismus, nach dem diese Silane gebildet werden.19 50 mg-Mengen reines SiH4 erhält man beim trockenen Erhitzen von LiAlH4 mit überschüssigem SiO2 auf 170°C. In technischem Maßstab wird reines SiH4 aus SiCl4 und LiH in einer LiCl-KCl-Schmelze gewonnen. Höhere Silane kann man auch aus SiH4 durch Einwirkung stiller elektrischer Entladungen, wie sie zur Herstellung von Ozon verwendet werden, synthetisieren: SiH4

SiH2 + H2

SiH2 + SiH4

Si2H6

SiH2 + Si2H6

Si3H8

Auf diese Weise sind auch gemischte Si-Ge-Hydride präparativ zugänglich, wobei man ein SiH4-GeH4-Gemisch einsetzt. Das Zwischenprodukt Silylen SiH2 ist ein hochreaktives carbenanaloges Molekül der Symmetrie C2v, das auch bei der UV-Photolyse von Phenylsilan PhSiH3 spektroskopisch nachgewiesen wurde.20 Es entsteht weiterhin bei der Thermolyse von Methyldisilan: MeH2Si SiH3

18 19 20

MeSiH3 + SiH2

F. Fehér et al., Z. Anorg. Allg. Chem. 1985, 530, 187 und 191. Diese Reaktion (mit Salzsäure) wurde zuerst von ALFRED STOCK und Mitarbeitern (1916) durchgeführt. Bei der Protonierung von Siliciden erhält man bessere Ausbeuten, wenn man Mg2Si in flüssigem NH3 mit der Säure NH4Br zersetzt. M. J. Almond, S. L. Jenkins, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5080. J. M. Jasinski, R. Becerra, R. Walsh, Chem. Rev. 1995, 95, 1203.

280

8 Silicium und Germanium

Charakteristische Reaktionen von Silylenen sind Einschiebung in kovalente Bindungen (siehe oben, Si2H6-Bildung) und die Addition an ungesättigte Verbindungen wie Diene. Monogerman GeH4, ein farbloses luftstabiles Gas, wird am besten durch Reduktion von GeO2 mit NaBH4 in essigsaurer wässriger Lösung hergestellt. Dabei entsteht als Nebenprodukt Ge2H6. Auch die Zersetzung von Mg2Ge mit wässriger Salzsäure oder mit NH4Br in flüssigem Ammoniak führt hauptsächlich zu GeH4, neben etwas Ge2H6 und Spuren höherer Germane mit bis zu 9 Ge-Atomen. Diese lassen sich aber besser durch Zersetzung von GeH4 in einer stillen elektrischen Entladung erhalten.

8.5.2 Reaktionen der Silane Beim Erhitzen zersetzen sich die Silane in die Elemente. Auf diese Weise wird aus SiH4 bei 570–670°C hochreines Silicium industriell hergestellt. Als Zwischenprodukte treten dabei höhere Silane auf, die bei geeigneter Reaktionsführung auch isoliert werden können. Anders als die Alkane enthalten die Silane negativ polarisierten Wasserstoff und δ+ δ– folglich ein positiv geladenes Si-Atom [S i– H], was die Reaktion mit Hydroxid-Ionen begünstigt: SiH4 + 2 KOH + H2O

K2SiO3 + 4 H2

Si2H6 + 4 KOH + 2 H2O

2 K2SiO3 + 7 H2

In reinem Wasser oder leicht sauren wässrigen Lösungen tritt dagegen keine Hydrolyse ein. Auch die Bildung von Silyl-Kationen kann auf die Polarität der Si–R-Bindung zurückgeführt werden (R = Ph, MeS, i-PrS): CH2Cl2

R4Si + [Ph3C][ClO4]

[R3Si][ClO4] + Ph3CR

Mit verschiedenen Halogeniden wie HCl, BCl3 und PCl3 reagieren Silane unter Wasserstoff-Halogen-Austausch: SiH4 + HX

AlX3

3 Si2H6 + BCl3

SiH3X + H2 3 Si2H5Cl +

X = Cl, Br, I 1 2

B2H6

Die teilhalogenierten Silane eignen sich für Kondensationsreaktionen: 2 H3SiCl + H2O

(H3Si)2O + 2 HCl

3 H3SiI + 4 NH3

(H3Si)3N + 3 NH4I

4 H3SiI + 3 N2H4 3 H3SiBr + 3 KPH2

(H3Si)2N N(SiH3)2 + 2 [N2H6]I2 ¿100°C

(H3Si)3P + 2 PH3 + 3 KBr

Auf verschiedene Weise werden Salze der Silane (Silanide) hergestellt: SiH4 + K Si2H6 + KH

KSiH3 +

1 2 H2

KSiH3 + SiH4

281

8.6 Halogenide von Silicium und Germanium

Beide Reaktionen laufen bei 25°C in 1,2-Dimethoxyethan (Monoglym, H3C–O–CH2– CH2–O–CH3) ab. KSiH3 kristallisiert bei 25°C in der NaCl-Struktur. Das Anion ist wie das isoelektronische PH3 pyramidal gebaut. Mit vielen Elementhalogeniden reagiert KSiH3 unter nukleophiler Substitution: Me2AsCl + KSiH3 MeI + KSiH3 PhGeBr3 + 3 KSiH3

H3Si AsMe2 + KCl MeSiH3 + KI PhGe(SiH3)3 + 3 KBr

GeH4 und Ge2H6 reagieren ähnlich wie SiH4 und Si2H6. Beim Erhitzen zerfallen die Germane in die Elemente, wobei durch Katalyse mit Goldpartikeln Germanium auch in Form von Nanodrähten erzeugt werden kann. Von O2 wird GeH4 erst beim Erhitzen angegriffen und zu GeO2 und H2O oxidiert. Es ist sogar gegen 30 %ige Natronlauge beständig. Wie SiH4 bildet es Germylhalogenide GeH3X und Metallgermanide, z.B. KGeH3, das aus K und GeH4 in flüssigem NH3 oder in Hexamethylphosphortriamid (HMPA) gewonnen wird und dazu dient, organische Derivate herzustellen.

8.6

Halogenide von Silicium und Germanium

Die wichtigsten binären Halogenide des Siliciums sind vom Typ SinX2n+2, d.h. sie leiten sich formal von den Silanen durch Ersatz der H-Atome durch X = F, Cl, Br und I ab (Perhalogensilane). SiF4 und vor allem SiCl4 werden technisch in großem Umfang produziert. Darüber hinaus kennt man weniger gut charakterisierte, höhermolekulare Halogenide der Typen (SiX2)n und (SiX)n sowie die instabilen monomeren Subhalogenide SiF2 und SiCl2. Auch alle gemischten Halogenide des Typs SiXnY4–n sind bekannt. Wichtig sind außerdem die ternären Halogenide SiHnX4–n. Germanium bildet binäre Halogenide der Typen GeX4, Ge2X6, GeX2 und (GeX)n (X = F, Cl, Br, I) sowie verschiedene Hydridchloride GeHnX4–n.

8.6.1 Fluoride Siliciumtetrafluorid SiF4 (Tetrafluorsilan) ist ein farbloses Gas, das zwar durch Fluorierung von Si oder SiO2 hergestellt werden kann,21 das man aber bequemer wie folgt erhält: 2 CaF2 + 2 H2SO4 + SiO2

SiF4 + 2 CaSO4 + 2 H2O

Um das entstehende Wasser zu binden und die Hydrolyse von SiF4 zu vermeiden, arbeitet man mit konzentrierter Schwefelsäure. Sehr reines SiF4 kann im Labor durch Pyrolyse von Bariumhexafluorosilicat hergestellt werden: 21

Die Reaktion von F-Atomen mit Si zu SiF4 und SiF2 spielt beim Ätzen von Si-Wafern mittels einer elektrischen Entladung in einer CF4-Atmosphäre eine Rolle (Plasma-Ätzung bei 1–150 Pa); D. L. Flamm in J. Y. Corey, E. R. Corey, P. P. Gaspar (Herausg.), Silicon Chemistry, Horwood Publ., Chichester 1988, S. 391.

282

8 Silicium und Germanium

BaSiF6

300¿350°C Vakuum

BaF2 + SiF4

Großtechnisch wird SiF4 bei der Herstellung von Phosphorsäure aus Apatit als Nebenprodukt gewonnen (Kap. 10.12.1). Die Hydrolyse von SiF4, die bei Wasserüberschuss zu SiO2 und HF führt, ist eine Gleichgewichtsreaktion: SiF4 + 2 H2O

SiO2 + 4 HF

In der Gasphase erhält man bei SiF4-Überschuss als Hauptprodukt Hexafluordisiloxan F3Si–Ο–SiF3, ein farbloses Gas. Mit wenig flüssigem Wasser reagiert SiF4 dagegen nach: 3 SiF4 + 6 H2O

2 [H3O]2[SiF6] + SiO2

Das Oxoniumsalz der Hexafluorkieselsäure ist eine starke Säure, die mit Hydroxiden und Carbonaten zu entsprechenden Hexafluorosilicaten reagiert. Na2SiF6 wird mancherorts neben NaF zur Fluoridierung von Trinkwasser zwecks Karies-Prophylaxe verwandt; MgSiF6 dient als insektizides Holzschutzmittel im Hochbau. GeF4 (Sdp. –37°C) wird durch Erhitzen von BaGeF6 auf 600°C hergestellt. Dieses Salz erhält man aus BaF2, GeO2 und Flusssäure. GeF4 ist ein farbloses, an der Luft wie SiF4 stark rauchendes Gas, das mit Wasser zu GeO2 und Oxoniumhexafluorogermanat [H3O]2[GeF6] reagiert. SiF4 und GeF4 sind starke LEWIS-Säuren, die mit Donormolekülen wie Ammoniak, Aminen, Ethern, Ketonen, Aminoxiden, Dimethylsulfoxid, Schwefelwasserstoff und Acetonitril Addukte bilden, und zwar in den Molverhältnissen 1:1 und 1:2. Beispiele sind: SiF4(NH3)2 SiF4[OS(CH3)2]2 GeF4(SH2)2 GeF4(NCCH3) Zu dieser Klasse von Verbindungen gehören auch die komplexen Anionen [SiF6]2–, [GeF5]– und [GeF6]2–. Vom Silicium ist ein monomeres gasförmiges Difluorid SiF2 bekannt, dessen Synthese und Reaktionen im Kapitel Fluor behandelt werden (Kap. 13.4.6). Si2F6 kann aus Si2Cl6 durch Halogenaustausch mit ZnF2 hergestellt werden. Das Difluorid GeF2 ist ein Feststoff, der wesentlich beständiger ist als das gasförmige SiF2. Überhaupt stellt man fest, dass die Beständigkeit der Oxidationsstufe +2 in der 14. Gruppe vom Kohlenstoff zum Blei hin stark zunimmt. GeF2 bildet farblose Kristalle, in denen GeF2-Einheiten über F-Atome miteinander verbrückt sind, so dass jedes Germaniumatom vierfach koordiniert ist (pseudo-trigonal-bipyramidale Koordination). GeF2 entsteht bei der Reduktion von GeF4 mit Ge bei 150–300°C sowie aus Ge und HF bei 225°C: Gef. + GeF4

2 GeF2

Gef. + 2 HF

GeF2 + H2

8.6.2 Chloride Siliciumtetrachlorid SiCl4 ist das bei weitem wichtigste binäre Halogenid des Siliciums. Es entsteht in zahllosen Reaktionen durch Chlorierung von Si oder Si-Verbindungen. Technisch chloriert man Si-reiches Ferrosilicium, eine Fe-Si-Legierung mit einem Si-Gehalt von mehr als 90 %:

283

8.6 Halogenide von Silicium und Germanium

Fe/Si +

>400°C 7 2 Cl2

SiCl4 + FeCl3

Ferrosilicium (Fe/Si) wird durch Reduktion von Quarz mit Koks in Gegenwart von Eisenschrott oder Eisenoxiden produziert, wozu eine etwas niedrigere Temperatur erforderlich ist als für die Reduktion von Quarz allein. Fe/Si reagiert mit Chlor rascher als reines Silicium; diese Reaktion ist stark exotherm. SiCl4 ist eine farblose Flüssigkeit (Sdp. 58°C), die durch fraktionierte Destillation gereinigt wird und dann zur Herstellung von sehr reinem Si dient (über SiH4). Seine am besten untersuchte Reaktion ist die Hydrolyse, die über Zwischenprodukte zu Kieselgel und Salzsäure führt: + H2O

+ SiCl4

+ 3H2O

SiCl4 SiCl3OH Cl3Si O SiCl3 2 SiO2(aq) + 6 HCl TetraTrichlorHexachlorKieselgel chlorsilan silanol disiloxan Bei vorsichtiger Hydrolyse unter Kühlung und mit H2O-Unterschuss können die genannten Zwischenprodukte isoliert werden. Mit Alkoholen entstehen die entsprechenden Kieselsäureester Si(OR)4. SiCl4 ist eine schwächere LEWIS-Säure als SiF4. Daher existieren zwar verschiedene Addukte mit tertiären Aminen, aber ein [SiCl6]2–-Ion ist nicht bekannt. SiCl4 reagiert außer mit Wasser und Alkoholen auch mit NH3 unter HCl-Eliminierung. Beispielsweise entsteht bei –60°C in Ether Hexachlordisilazan in 40 % Ausbeute: 2 SiCl4 + 3 NH3

Cl3Si

NH

SiCl3 + 2 NH4Cl

Als Nebenprodukt lässt sich cyclo-Hexachlortrisilazan (SiCl2NH)3 isolieren. Mit GRIGNARD-Reagenzien wie RMgBr sowie mit Organolithiumverbindungen reagieren Si–ClVerbindungen zu Organosiliciumverbindungen (Abschnitt. 8.11). Si2Cl6 und höhere Chlorsilane SinX2n+2 (bis n = 6) entstehen bei der Chlorierung von CaSi2 bei 140°C (Abschnitt 8.4) und bei der elektrischen Zersetzung von SiCl4 in Gegenwart von Si (z.B. als Elektrodenmaterial). Eine interessante Synthese höherer Glieder ist die katalytische Disproportionierung der niederen Homologen in Gegenwart von Trimethylamin (Me3N) in geringer Konzentration (0.1 %): 4 Si2Cl6

Si5Cl12 + 3 SiCl4

Leitet man SiCl4-Dampf bei Temperaturen oberhalb 1000°C über Si, entsteht in einer Gleichgewichtsreaktion gasförmiges SiCl2 (Dichlorsilylen), das beim langsamen Abkühlen wieder disproportioniert: Sif. + SiCl4

2 SiCl2

Kp = 1 bar (bei 1615 K)

Beim Abschrecken auf tiefe Temperaturen polymerisiert SiCl2 zu Perchlorpolysilan (SiCl2)n von kettenförmiger Struktur. Daneben entstehen die niedermolekularen Perchlorsilane bis zum Si6Cl14. Setzt man vor dem Kondensieren BCl3, CCl4 oder PCl3 zu, schiebt sich das carbenanaloge SiCl2 in die E–Cl-Bindungen ein, wodurch Cl2B–SiCl3, Cl3C–SiCl3 bzw. Cl2P–SiCl3 entstehen.22 Germaniumtetrachlorid GeCl4 (Tetrachlorgerman) wird aus den Elementen oder aus GeO2 und konzentrierter Salzsäure hergestellt. Die farblose, an der Luft rauchende Flüssigkeit (Sdp. 83°C) wird von Wasser rasch hydrolysiert. In einer Mikrowellenentladung 22

C.-S. Liu, T.-L. Hwang, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1985, 29, 1.

284

8 Silicium und Germanium

kann man GeCl4 zu Ge2Cl6 und Cl2 umsetzen. Monomeres Dichlorgermylen GeCl2 entsteht bei der Reduktion von GeCl4 mit Ge bei Temperaturen oberhalb 680°C und bei der thermischen Zersetzung von Trichlorgerman: GeHCl3

GeCl2 + HCl

GeCl2 bildet bei 25°C farblose Kristalle, die von Wasser rasch zu Ge(OH)2 hydrolysiert werden und die an der Luft langsam zu GeO2 und GeCl4 oxidiert werden. Im festen GeCl2 und selbst im Komplex GeCl2·Dioxan liegen die Moleküle über Cl-Brücken assoziiert vor. Ein Salz mit dem Trichlorogermanat(II)-Anion [GeCl3]– erhält man aus CsCl, GeCl4 und einem Reduktionsmittel wie H3PO2.

8.6.3 Sonstige Si-Halogenide SiBr4 (Sdp. 153°C) und SiI4 (Schmp. 121°C) können aus den Elementen bei erhöhter Temperatur synthetisiert werden. Beide Verbindungen sind farblos, feuchtigkeitsempfindlich und thermisch weniger beständig als SiF4 und SiCl4. Auch alle gemischten SiHalogenide vom Typ Si(X,Y)4 sind bekannt. Die ternären Chlorsilane SiH3Cl, SiH2Cl2 und SiHCl3 erhält man auf folgende Weise: Sif. + 3 HCl

CuCl2 300°C

SiCl4 + H2 2 SiHCl3

SiHCl3 + H2 SiHCl3 + HCl

AlCl3 300°C

SiH4 + HCl

SiCl4 + SiH2Cl2 SiH3Cl + H2

Die Reaktionsprodukte werden durch fraktionierte Destillation getrennt. Trichlorsilan ist ein großtechnisches Produkt, aus dem reinstes Si hergestellt wird (Abschnitt 8.3), das aber auch zur Synthese von Organosilanen benötigt wird. Mit H2O reagiert SiHCl3 zu SiO2, HCl und H2; in einer O2-Atmosphäre verbrennt es zu SiO2, HCl und H2O. An bestimmte Alkene lagern sich die teilweise substituierten Silane unter Hydrosilylierung23 zu Organochlorsilanen an: RHC

CH2 + H

SiCl3

RH2C

CH2 SiCl3

Solche Reaktionen laufen entweder nach einem radikalischen Mechanismus ab oder werden durch Übergangsmetallkomplexe oder Basen katalysiert. Die radikalischen Reaktionen werden durch organische Peroxide gestartet. Hexachloroplatinsäure H2PtCl6·6H2O ist ein effizienter Katalysator24 für die Hydrosilylierung von cyclischen und kettenförmigen Alkenen, wofür außer SiHCl3 auch SiH2Cl2, MeSiHCl2, EtSiHCl2, Et3SiH und (EtO)3SiH eingesetzt werden. Auf diese Weise werden zahlreiche Organosiliciumverbindungen technisch hergestellt (Abschnitt 8.11.1). 23 24

C. Marschner, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1926. Man nimmt an, dass zunächst das Alken an das Metallatom koordiniert. Danach soll das Silan mit der Si–H-Bindung oxidativ an das Metallatom addieren, gefolgt von einer H-Verschiebung an das Alken und schließlich einer Eliminierung der Organo-Si-Verbindung.

285

8.7 Oxide von Silicium und Germanium

8.7

Oxide von Silicium und Germanium

Silicium und Germanium bilden mit Sauerstoff folgende binäre Verbindungen, die unter Standardbedingungen polymer sind: SiO SiO2

GeO GeO2

Die Dioxide treten in mehreren Modifikationen auf. Die Monoxide sind bei hohen Temperaturen in der Gasphase monomer, im festen Zustand dagegen polymer. Die bei weitem wichtigste Verbindung ist Siliciumdioxid, das in der Natur in zahlreichen kristallinen und amorphen Formen vorkommt und das technisch in großem Umfang hergestellt wird. Kristalline Formen sind Quarz (Bergkristall, Amethyst), Tridymit, Cristobalit und die Hochdruckformen Coesit und Stishovit. Amorph bzw. mikrokristallin und meistens wasserhaltig sind Opal (Chalzedon, Achat, Feuerstein) und das aus den Schalen von fossilen Kieselalgen (Diatomeen) bestehende Kieselgur, das an manchen Stellen der Erde in Schichten bis zu 100 m Dicke vorkommt und beispielsweise in Russland, Großbritannien, Nordafrika und Kalifornien als „Kieselerde“ abgebaut wird (siehe Abschnitt 8.8.1). Zwischen den bei Normaldruck thermodynamisch stabilen Modifikationen von SiO2 bestehen folgende temperaturabhängige Umwandlungsgleichgewichte: å-Quarz (trigonal)

575°C

ä-Quarz (hexagonal)

867°C

ä-Tridymit

1470°C

(hexagonal)

ä-Cristobalit

1713°C

Schmelze

(kubisch)

α-Tridymit und α-Cristobalit sind bei allen Temperaturen thermodynamisch instabile, in

der Praxis aber metastabile Formen. Mit Ausnahme von Stishovit enthalten alle SiO2-Modifikationen tetraedrisch koordinierte Si-Atome, die über zweifach koordinierte O-Atome zu einem dreidimensional unendlichen Raumnetz verknüpft sind. Die Si–O-Bindungen sind stark polar und sehr stabil. In der Hochdruckmodifikation Stishovit, die bei 1300°C und einem Druck von 12 GPa entsteht und in der Rutilstruktur (TiO2) kristallisiert, sind die Si-Atome oktaedrisch von O-Atomen koordiniert; die Koordinationszahl der O-Atome ist dann 3. Wegen der komplizierten dreidimensionalen Verknüpfung der Atome in den SiO2-Modifikationen sind die Phasenumwandlungen langsam, sofern es sich nicht nur um eine Änderung der Kristallsymmetrie handelt (z.B. α→β und umgekehrt). Aus diesem Grunde erhält man aus einer SiO2-Schmelze nur bei sehr langsamem Abkühlen Cristobalit. Beim rascheren Abkühlen erstarrt die Flüssigkeit dagegen glasig. Das entstehende Kieselglas (Quarzglas) ist bei 25°C metastabil und kristallisiert erst beim Tempern auf 1000°C allmählich. Kristallines und glasiges SiO2 sind gegen Säuren (außer Flusssäure) und verdünnte Laugen ziemlich beständig; beim Zusammenschmelzen mit Alkalimetallhydroxiden oder -carbonaten entstehen jedoch Metasilicate: SiO2 + 2 NaOH

Na2SiO3 + H2O

Feinteiliges und insbesondere frisch durch Hydrolyse von SiCl4 hergestelltes Kieselgel ist wesentlich reaktionsfähiger, da in solchen Präparaten noch zahlreiche Silanolgruppen (Si–OH) enthalten sind, die erst beim Lagern oder Erhitzen unter H2O-Abspaltung in die chemisch sehr beständigen Siloxangruppen (Si–O–Si) übergehen. Daher wird Kieselgel (SiO2·aq) oft auch als Kieselsäure bezeichnet. Besonders feinteiliges SiO2 wird indus-

286

8 Silicium und Germanium

triell in großem Maßstab durch Flammenhydrolyse von SiCl4 produziert, und zwar nach der Gleichung: SiCl4 + 2 H2 + O2

SiO2 + 4 HCl

In der Knallgasflamme herrschen sehr hohe Temperaturen, wodurch kugelförmige amorphe SiO2-Teilchen von etwa 10 nm Durchmesser entstehen (pyrogene Kieselsäure), die unter dem Handelsnamen Aerosil bekannt sind. Das dafür benötigte SiCl4 wird bei 900°C aus Ferrosilicium und HCl-Gas hergestellt (Hydrochlorierung): Fe/Si + 4 HCl

SiCl4 + Fe + 2 H2

HCl und H2 werden also bei diesem Prozess im Kreislauf geführt. Aerosil ist Füllstoff in weißen Silikon-Dichtungsmassen, es färbt die aus Kunststoff gefertigten Yachten weiß, und wird wegen seiner hohen Reinheit auch in Kosmetikartikeln und Tabletten eingesetzt. Daneben beeinflusst Aerosil das Fließverhalten von Farben und Lacken und dient zum Polieren von Mikrochips. Bezüglich einer durch Fällung aus wässriger Lösung hergestellten Kieselsäure siehe Abschnitt 8.8.2. Erhitzt man SiO2 mit Si im Molverhältnis 3:1 im Hochvakuum auf 1000–1300°C, entweicht gasförmiges SiO: Sif. + SiO2

2 SiO

Siliciummonoxid SiO disproportioniert beim langsamen Abkühlen wieder zu Si und SiO2. Beim Abschrecken erhält man dagegen schwarzbraunes, polymeres (SiO)n, das je nach den Versuchsbedingungen glasig oder faserförmig entsteht. Das glasige SiO bedeckt sich an der Luft mit SiO2 und ist dann gegen weitere Oxidation ziemlich beständig. Faserförmiges SiO ist pyrophor. Mit der Matrix-Technik wurde monomeres SiO zusammen mit den Heterocyclen (SiO)2 und (SiO)3 bei tiefen Temperaturen in festem Ar oder N2 isoliert. Die Dissoziationsenthalpie von SiO beträgt 715 kJ mol–1, was einer Doppelbindung entspricht. Bei seiner Polymerisation entstehen neue SiO- und SiSi-Einfachbindungen. Germaniumdioxid wird durch Hydrolyse von GeCl4 mit wässrigem NH3 hergestellt. Dabei entsteht die hexagonale Form, die in Wasser mit saurer Reaktion mäßig löslich ist und die dem β-Quarz entspricht (tetraedrisch koordinierte Ge-Atome). In Laugen löst sich GeO2 zu Germanaten. Beim Erhitzen auf 380°C wandelt sich das hexagonale GeO2 in eine tetragonale Form um, die in Wasser fast unlöslich ist und die in der Rutilstruktur kristallisiert (oktaedrische Koordination der Ge-Atome). GeO2 lässt sich durch Erhitzen mit elementarem Germanium zu monomerem GeO reduzieren. Polymeres GeO erhält man bei der Reduktion von GeO2 mit H3PO2 in salzsaurer Lösung, wobei Ge(OH)2 als Zwischenprodukt entsteht, das bei 650°C zu GeO entwässert wird. (GeO)n reagiert mit HCl bei 175°C zu GeHCl3 und H2O.

287

8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate

8.8

Oxosäuren, Silicate und Germanate

8.8.1 Kieselsäuren und Siloxane Die einfachste Oxosäure des Siliciums sollte in Analogie zu den Säuren der im Periodensystem benachbarten Nichtmetalle die Formel H4SiO4 besitzen: OH

OH HO Si OH

HO

P

O O

HO

S

O OH

HO Cl O

O O OH OH Orthokieselsäure Si(OH)4 ist aber im Gegensatz zu den drei anderen genannten Säuren nicht in reiner Form isolierbar. Bei der Hydrolyse von SiCl4 mit überschüssigem Wasser erhält man zwar bei großer Verdünnung und Einhaltung eines pH-Wertes von 3.2 primär eine Lösung von Si(OH)4. Diese sehr schwache Säure ist aber nicht beständig, sondern kondensiert spontan – auch in Gegenwart von Wasser – unter H2O-Abspaltung zu einem Gemisch von Oligo- und Polykieselsäuren: (HO)3SiOH + HOSi(OH)3

¿ H2O

(HO)3Si

O

Si(OH)3

¿ H2O

(H2SiO3)n

Da im Molekül Si(OH)4 vier OH-Gruppen vorliegen, kann die Kondensation zunächst eindimensional unter Ketten- und Ringbildung, dann zweidimensional unter Bildung von Schichten und schließlich dreidimensional erfolgen, wobei als Endprodukt das unlösliche Kieselgel entsteht: n Si(OH)4

(SiO2)n

+ 2n H2O

Die bei dieser spontanen Kondensation notwendigerweise als Zwischenprodukte auftretenden Kieselsäuren sind ebenfalls unbeständig und daher nicht isolierbar. Unter den natürlich vorkommenden Silicaten finden sich aber zahlreiche Salze dieser Säuren. Die obige Kondensationsreaktion ist umkehrbar. SiO2 löst sich in reinem Wasser ausschließlich in Form von undissoziiertem Si(OH)4. Die Sättigungskonzentration beträgt aber nur 7·10–5 mol L–1 (20°C/0.1 MPa), wenn der Bodenkörper aus Quarz besteht. Dennoch können Organismen wie Diatomeen („Kieselalgen“), Radiolarien, Schwämme und manche Pflanzen auf diese Weise Si aufnehmen und in Form von SiO2 zur mechanischen Stabilisierung ihres Körpers durch Kieselsäureskelette (SiO2·nH2O) einsetzen (Biomineralisation).25 Die Löslichkeit von amorphem, durch Fällung hergestelltem SiO2 ist mit 2·10–3 mol L–1 (bei pH ≈7) wesentlich größer als die von Quarz. Diese unterschiedliche Löslichkeit von amorphem und kristallinem SiO2 in H2O wird ausgenutzt, um große Quarzkristalle industriell herzustellen. Bei diesem als Hydrothermalsynthese26 bezeichneten Verfahren arbeitet man mit Wasser dicht unterhalb der kritischen Temperatur (374°C/22.1 MPa). Unter diesen Bedingungen ist SiO2 bei pH-Werten über 7 recht gut löslich. In einem senkrecht stehendem, geschlossenen, mit alkalischem Wasser (0.5–1.0 M NaOH oder Na2CO3) gefülltem Stahlrohr (Autoklav) befindet sich unten in der Auflö-

25 26

D. Volkmer, Chemie unserer Zeit 1999, 33, 6. R. Tacke, Angew. Chem. 1999, 111, 3197. M. Takano, Y. Takeda, O. Ohtaka, Encycl. Inorg. Chem. 1994, 3, 1372.

288

8 Silicium und Germanium

sungszone amorphes SiO2 oder Quarzpulver, das auf 340°C erhitzt wird, während die Impfkristalle in der darüber liegenden Wachstumszone auf 330°C gehalten werden. Nach 20–100 Tagen sind die Kristalle von α-Quarz auf eine Länge von einigen Dezimetern und einen Durchmesser von einigen Zentimetern angewachsen. Auf ähnliche Weise sind wahrscheinlich natürlich vorkommende Quarzkristalle entstanden. α-Quarz ist ein wichtiger Werkstoff, der optische Transparenz in einem weiten Spektralbereich (IR bis UV) mit hoher chemischer und thermischer Unempfindlichkeit vereint. Quarzkristalle werden auch wegen ihres piezoelektrischen Effektes27 verwendet. Bei der Hydrolyse von Monochlorsilan entsteht primär Silanol (Hydroxosilan), das jedoch spontan zu Disiloxan kondensiert: H3Si

Cl + H2O 2 H3Si

OH

H3Si

OH + HCl

H3Si

O

SiH3 + H2O

Mit aliphatischen Alkoholen reagieren Chlorsilane analog zu Alkoxysilanen. Vorsichtige Hydrolyse von SiHCl3 führt über das instabile Silantriol SiH(OH)3 unter Polykondensation zu Oligomeren der Zusammensetzung (HSiO1.5)2n mit n = 4–7. Diese Verbindungen, die mit Methylnitrit (MeONO) methyliert und dadurch stabilisiert werden können, besitzen käfigartige Strukturen folgender Art:28 R

Si

O

O

Si

R

O O O R Si O Si R R Si O Si R O O O O R

Si

O

Si

R

R

O Si O R Si O O R O Si O Si R O O Si R O Si R

Si

R

O Si R O O R Si O O Si O R

R R

Si

O

Si

O Si O R O R Si O R Si O O Si O R

R Si O O Si R O Si R O R Si O O O Si R O Si R O

Die Winkel an den O-Atomen sind jedoch etwas kleiner als 180°. Am einfachsten werden die Oktamere durch Hydrolyse von RSi(OEt)3 in Gegenwart von t-Bu4NF hergestellt (R z.B. Cyclopentyl, Phenyl): 8 RSi(OEt)3 + 12 H2O

R8Si8O12 + 24 EtOH

Man bezeichnet solche supramolekularen Verbindungen als Silasesquioxane oder Spherosiloxane. Ihre allgemeine Formel ist (RSiO1.5)2n. Sie können auch durch kinetisch gesteuerte Hydrolyse von Organotrichlorsilanen RSiCl3 synthetisiert sowie durch Oxidation entsprechender Polysilane (Abschnitt 8.11.1) mit meta-Chlorperbenzoesäure hergestellt werden. Die Variation der organischen Reste R erlaubt es dabei, ganz bestimmte Eigenschaften wie flüssigkristallines Verhalten oder katalytische Aktivität einzustellen. 27

28

Piezoelektrischer Effekt: Längenänderung eines Kristalls als Folge einer angelegten elektrischen Spannung; kann bei Wechselspannung zu Schwingungen führen (Schwingquarz in elektrischen Uhren). R. H. Baney et al., Chem. Rev. 1995, 95, 1409; im englischen Schrifttum wird auch der Ausdruck „silsesquioxane“ verwendet (lat. sesqui = anderthalbmal). In Analogie zu den Silikonen wird das Oktamer auch einfach als T8 bezeichnet.

289

8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate

In den Heterosilsesquioxanen sind entweder einzelne O-Atome durch RN-Gruppen oder einzelne RSi-Einheiten durch ein anderes Atom mit oder ohne einen Liganden ersetzt.

8.8.2 Silicate Silicate entstehen, wenn man SiO2 (Quarzsand) mit Oxiden, Hydroxiden oder Carbonaten der Alkali- oder Erdalkalimetalle zusammenschmilzt. Dabei werden je nach dem Mischungsverhältnis mehr oder weniger viele Siloxanbrücken gespalten und es entstehen zuerst hoch- und dann niedermolekulare Anionen: Si

O Si

+ Na2O

Na+ ¿O Si

+

Si O¿ +Na

Natrium- und Kalium-Silicate sind in Form wässriger Lösungen als Wasserglas im Handel. Sie werden aus Quarzpulver und Carbonat bei 1600°C erschmolzen: SiO2 + 2 Na2CO3

Na4SiO4 + 2 CO2

oder durch hydrothermalen Aufschluss aus Quarz und Natronlauge bei 200°C erzeugt (im Autoklav). Je nach dem Molverhältnis erhält man ein Gemisch von Ortho-, Oligo- und Metasilicaten. Nach dem Lösen in Wasser liegen infolge Hydrolyse hauptsächlich Hydrogensilicate wie MH3SiO4 und M2H2SiO4 vor; daher reagieren diese Lösungen stark alkalisch: Na4SiO4 + 3 H2O

4 Na+ + 3 [OH]¿ + [H3SiO4]¿

Hydrogensilicat-Anionen kondensieren je nach Konzentration, pH-Wert und Temperatur zu einer Vielzahl von linearen, cyclischen und käfigartigen Oligomeren, von denen 48 definierte Strukturen mit bis zu 9 Si-Atomen mittels 29Si-NMR-Spektroskopie nachgewiesen wurden.29 Beispiele sind ein prismatisches Hexamer und ein kubisches Oktamer, dessen Struktur dem auf der vorigen Seite abgebildeten kubischen Silasesquioxan entspricht (wobei R = O–). Säuert man wässrige Silicatlösungen an, entstehen zunächst die freien Kieselsäuren, die dann spontan kondensieren, so dass sich schließlich gelartiges Kieselgel (SiO2·aq) ausscheidet, das noch zahlreiche Silanolgruppen sowie viel durch H-Brückenbindungen gebundenes Wasser enthält. Derartige Produkte werden technisch als Fällungskieselsäure bezeichnet; ihr Feststoffgehalt (Glührückstand) beträgt bis zu 25 %. Kieselgel ist naturgemäß sehr hydrophil. Für manche Anwendungen ist aber ein hydrophobes Produkt erforderlich, das man durch Reaktion von Kieselgel mit Organochlorsilanen (R3SiCl oder R2SiCl2) erhält, wobei die Silanolgruppen in entsprechende Disiloxangruppen (SiOSi) überführt werden.30 Auf diese Weise wird auch die hydrophobe C18-Phase für die Hochleistungsflüssigkeitschromatographei (HPLC) hergestellt, nämlich durch Reaktion mit C18H27SiMe2Cl. Einige der in natürlichen Silicatmineralien vorkommenden niedermolekularen Anionen sind in Abbildung 8.4 dargestellt. Mehr als 1000 in der Natur vorkommende Silicate wurden charakterisiert und mehrere hundert synthetische Silicate kommen noch 29 30

C. T. G. Knight, R. J. Balec, S. D. Kinrade, Angew. Chem. 2007, 119, 8296. P. M. Price, J. H. Clark, D. J. Macquarrie, Dalton Trans. 2000, 101.

Schichtsilicate [(Si4O10)n]4n¿

[Si2O7]6¿

[Si3O9]6¿

Abb. 8.4 Anionenstrukturen verschiedener Silicate.

[SiO4]4¿

[Si4O12]8¿

Gerüstsilicate

[Si6O18]12¿

[(SiO3)n]2n¿ [(Si4O11)n]6n¿

290 8 Silicium und Germanium

8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate

291

hinzu. Außer durch Röntgenstrukturanalyse können feste Silicate auch mittels 17O- und analysiert werden. Orthosilicate (Inselsilicate) enthalten das tetraedrische Anion [SiO4]4–, das mit dem Sulfat-Ion isoelektronisch ist. Beispiele sind Olivin Mg2SiO4 und Granat Ca3Al2[SiO4]3. Natürliche Disilicate sind z.B. Thortveitit Sc2Si2O7 und Barysilit Pb3Si2O7. In den Anionen des Thortveitits liegen lineare Siloxanbrücken vor. In den verschiedenen cyclo-Silicaten sind SiO4-Tetraeder über gemeinsame O-Atome so verknüpft, dass heterocyclische Ringe mit alternierender Atomanordnung SiOSiO… entstehen, wobei die SiO-Einheiten als diskrete Ringglieder gelten. Diese Silicate der allgemeinen Formel [(SiO3)n]2n– heißen Metasilicate. Natürliche Beispiele sind α-Wollastonit Ca3[Si3O9] und Beryll Be3Al2[Si6O18]. Strukturell charakterisiert wurden aber alle Typen mit n = 3, 4, 6, 8, 9, 12 und 18. Darüber hinaus gibt es auch bicyclische und dimere Anionen. Das Disilicat-Ion ist das Anfangsglied einer Reihe von kettenförmigen Anionen, die bei sehr großer Kettenlänge ebenfalls die idealisierte Formel [(SiO3)n]2n– aufweisen (Abb. 8.4). Natürliche Silicate dieser Art sind z.B. β-Wollastonit CaSiO3 und Enstatit MgSiO3. In den Kristallen dieser Mineralien liegen parallel zueinander negativ geladene Kettenmoleküle vor, zwischen denen die Kationen eingelagert sind, wobei elektrostatische Kräfte für den Zusammenhalt des Kristalls sorgen. Da bei einer solchen Struktur die Größe und die Ladung der Kationen offensichtlich von untergeordneter Bedeutung sind, kennt man auch Metasilicate mit unterschiedlichen Kationen, z.B. Diopsid CaMg[Si2O6] und Spodumen LiAl[Si2O6]. Werden mehrere (SiO3)n-Ketten über gemeinsame O-Atome miteinander verbunden, entstehen zunächst Doppelketten- oder Band-Strukturen und schließlich zweidimensional unendliche Schichten (Phyllosilicate). Mögliche Verknüpfungen zeigt Abbildung 8.4. Zu den Bandsilicaten gehören die Amphibole, während die Tone und Glimmer den Schichtsilicaten zuzurechnen sind. Auch die verschiedenen Asbeste bestehen aus Band- oder Schichtsilicaten.31 Ein bekanntes natürliches Schichtsilicat ist der Bentonit, eine Mischung aus verschiedenen Tonmineralien mit Montmorillonit NaMgAl5[(Si4O10)3]·12H2O als Hauptbestandteil. Bentonit wird in großen Mengen abgebaut und wegen seiner großen inneren Oberfläche als Adsorptionsmittel zur Reinigung von Speiseöl, Wein und Saft sowie als Trockenmittel verwendet. Bei einer dreidimensionalen Verknüpfung von SiO4-Tetraedern über gemeinsame Ecken entstehen die Strukturen des Quarzes, Tridymits und Cristobalits. In diesen sind alle O-Atome in Siloxanbrücken gebunden; Kationen sind daher nicht vorhanden. Von diesen SiO2-Strukturen leiten sich dennoch ionische Silicate ab, nämlich die Gerüst- oder Tektosilicate, die dreidimensional unendlich ausgedehnte Anionen enthalten. Diese entstehen formal dadurch, dass man in der (SiO2)n-Struktur bis zu 50 % der Si-Atome durch das isoelektronische Ion Al– ersetzt. Aus Gründen der Elektroneutralität ist dann eine entsprechende Zahl von Kationen notwendig. Beispiele für derartige Alumosilicate sind Orthoklas (Kalifeldspat) K[AlSi3O8] und Anorthit (Kalkfeldspat) Ca[Al2Si2O8]. Die Kationen befinden sich dabei in den Hohlräumen der aus SiO4- und AlO4-Tetraedern bestehenden Struktur. Auch die Ultramarine sind Alumosilicate, deren blaue oder grüne 29Si-NMR-Spektroskopie

31

Eine sehr lesenwerte Übersicht über Strukturen, Eigenschaften und gesundheitlichen Folgen von Asbest findet man bei C. Röhr, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 64.

292

8 Silicium und Germanium c

b

a Sauerstoff

Silicium oder Aluminium

d

Sodalith-Käfig

e

Sodalith

Sodalith-Käfig

f

Linde A

Faujasit, Linde X, Linde Y

Abb. 8.5 Schematisierte Strukturen von Zeolithen verschiedener Art. (a) Zweikernige Baugruppe in Alumosilicaten (zwei eckenverknüpfte Tetraeder) (b) Sodalith-Käfig aus 24 Tetraedern (c) Sodalith-Käfig, schematisiert (d) Struktur von Sodalith (e) Struktur des Zeoliths A (beispielsweise Linde A) (f) Struktur der Zeolithe Faujasit, Linde X und Linde Y.

Färbung auf eingeschlossene Polysulfid-Radikal-Anionen ([S2• ]– und [S3• ]–) zurückzuführen ist. Die blaue Form wurde als Lapislazuli seit dem Altertum als wertvolles mineralisches Pigment und Halbedelstein verwendet. Hauptfundort ist Afghanistan. Seit nahezu 200 Jahren wird dieses Silicat jedoch auch synthetisch hergestellt. Die weite Verbreitung der Alumosilicate ist dafür verantwortlich, dass neben Silicium auch das Aluminium ein sehr häufiges Element in der Erdkruste darstellt. Al steht nach O und Si mit 8.2 % an dritter Stelle und ist damit das häufigste Metall. Alumosilicate leiten sich im Übrigen auch von den oben besprochenen Oligo- und PolysilicatAnionen ab. Eine besonders interessante und technisch wichtige Gruppe der Alumosilicate sind die Zeolithe,32 deren Strukturen durch größere Hohlräume charakterisiert sind, d.h. es handelt sich um mikroporöse kristalline Festkörper. Beim Mineral Faujasit [Na2,Ca,Mg]29[Al58Si134O384]·240 H2O beispielsweise besteht die Struktur aus korbartigen Bauelementen, wie sie in Abbildung 8.5 dargestellt sind. Derartige Gruppen sind so miteinander verbunden, dass zahlreiche Hohlräume und Kanäle entstehen. In den Hohlräumen befinden sich die Kationen und die Moleküle des in der Formel angegebenen Wassers. Ein Teil des Wassers liegt allerdings in Form von Silanolgruppen vor.33 Da die Kationen elektrostatisch gebunden und damit frei beweglich sind, können sie leicht gegen 32 33

C. D. Williams, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5831. J. Chen et al., Angew. Chem. 1995, 107, 2898.

8.8 Oxosäuren, Silicate und Germanate

293

andere ausgetauscht werden. Zeolithe eignen sich daher als Kationenaustauscher. Die Hohlräume der Faujasit-Struktur sind, wie aus Abbildung 8.5 zu erkennen ist, nur durch Fenster bestimmter Größe zugänglich. Der Innendurchmesser der Käfige beträgt 660 bzw. 1160 pm, die zugehörigen Fenster sind aber nur 250 bzw. 740 pm weit. Derartige Strukturbesonderheiten, die bei zahlreichen natürlich vorkommenden und synthetisch gewonnenen Zeolithen zu finden sind, ermöglichen die Verwendung dieser Silicate als wasserunlösliche Adsorptionsmittel und als Molekularsiebe. Entfernt man nämlich das in den Hohlräumen befindliche und über Wasserstoffbrücken gebundene Wasser durch Erhitzen des Zeoliths im Vakuum auf ca. 350°C, so hat man danach ein stark hygroskopisches Material, das sich zum Trocknen von Gasen und Lösungsmitteln eignet und das nach der Verwendung als Trockenmittel durch erneutes Erhitzen im Vakuum wieder regeneriert werden kann. Die Trocknung der Lösungsmittel beruht dabei darauf, dass H2O starke Wasserstoffbrücken-Bindungen zu den anionischen O-Atomen des Silicats bildet, wozu Ether, Ester, Kohlenwasserstoffe usw. nicht in der Lage sind, während Alkohole und Amine nicht so fest gebunden werden wie Wasser. Aus ähnlichen Gründen kann man mit Molekularsieben auch Wasserdampf aus O2, N2, Cl2 und Edelgasen entfernen. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Siebeffekt, da kleinere Moleküle durch die Poren in die inneren Käfige eintreten können, wozu größere Moleküle nicht in der Lage sind. Dieser Siebeffekt ermöglicht beispielsweise die Entfernung von O2 aus Argon und die Abtrennung von O2 aus Luft. Als Adsorptionsmittel werden Zeolithe in der Gaschromatographie eingesetzt, womit man beispielsweise die Trennung von ortho- und para-H234 sowie von H2, HD und D2 erreicht. Zeolithe werden heute überwiegend synthetisch hergestellt, beispielsweise durch Auflösen des Minerals Boehmit (AlOOH) in Natronlauge zu Natriumaluminat Na[Al(OH)4], das dann mit Wasserglas (Na2SiO3) und Natronlauge zum gelartigen Alumosilicat umgesetzt wird. Durch Behandeln mit Wasserdampf wird das Gel zur Kristallisation gebracht. Man kann die Eigenschaften der so hergestellten Zeolithe dem Verwendungszweck anpassen, indem man die Größe der Käfige und Fenster variiert.35 Der wichtigste synthetische Zeolith ist das Produkt „Linde A“ mit der idealisierten Zusammensetzung Na12[Al12Si12O48]·27 H2O, das hauptsächlich in Waschmitteln eingesetzt wird (Zeolith A, Na[AlSiO4]).36 Aber auch Faujasit wird industriell hergestellt. Voraussetzung für die Verwendung der Zeolithe als Trockenmittel ist, dass die Struktur beim Entwässern nicht zerstört wird. Zeolithe dienen weiterhin als Katalysatoren in der Petrochemie (z.B. der Si-reiche Zeolith ZSM 5). Um Zeolithe mit maßgeschneiderten Größen der Poren und Kanäle zu erhalten, setzt man bei der Synthese sperrige organische Amine als strukturdirigierende Agentien (Templatmoleküle)34 zu, die am Ende durch Erhitzen des Produktes auf 500°C in Gegenwart von Sauerstoff (Calcinieren) ausgebrannt werden. Besonders große Poren im Bereich 15–100 Å und damit eine extrem große innere Oberfläche 34

35 36

Im o-H2 sind die Kernspins der H-Atome parallel, im p-H2 antiparallel ausgerichtet. o-H2 ist um 80 J mol–1 energiereicher als p-H2. Bei 25°C besteht Wasserstoffgas aus 75 % o-H2 und 25 % p-H2; nahe 0 K liegt im Gleichgewicht nur p-H2 vor. M. E. Davis, Chem. Eur. J. 1997, 3, 1745. S. I. Zones et al., ibid. 1998, 4, 1312. Moderne Kompaktwaschmittel bestehen zu ca. 40 % aus Gerüststoffen, die „Builder“ genannt werden (z.B. Zeolith), 35 % Bleichmitteln (z.B. Perborat), 20 % Tensiden, je 1 % Enzymen und Vergrauungsinhibitoren, 0.3 % optischen Aufhellern und 2 % sonstigen Zusätzen.

294

8 Silicium und Germanium

(>1000 m2 g–1) erhält man bei Zusatz von kationischen Tensiden, die sich in Lösung zu Micellen organisieren und mit den Alumosilicat-Anionen Komplexe bilden, deren Gestalt die Struktur des schließlich entstehenden mesoporösen Produktes bestimmen.37 Eine weitere neue Entwicklung ist die Synthese von Titanosilicaten, das sind Zeolithe, in denen ein Teil der Si-Atome durch Ti ersetzt ist und die besonders für katalytische Anwendungen interessant sind.38 Ti ist dabei wie Si und Al tetraedrisch von O-Atomen koordiniert, aber im Gegensatz zu Silicium zu Redoxreaktionen befähigt.

8.8.3 Germanate In Analogie zum Silicium bildet auch Germanium keine bei Raumtemperatur beständigen Oxosäuren, wohl aber eine große Zahl von entsprechenden Salzen, nämlich Germanaten und Polygermanaten. Diese erhält man durch Lösen von GeO2 in Laugen oder durch Zusammenschmelzen von GeO2 mit Metalloxiden. Dabei entstehen je nach dem Mischungsverhältnis und den Reaktionsbedingungen Orthogermanate [GeO4]4– oder kettenförmige Metagermanate [GeO3]2– sowie verschiedene Oligogermanate mit Anionen wie [Ge2O7]6–, [Ge5O11]2–, [Ge5O12]4– und [Ge9O20]4–.

8.9

Gläser39

Wenn man Siliciumdioxid oder bestimmte Silicate schmilzt und anschließend nicht zu langsam abkühlt, erhält man im Allgemeinen nicht kristalline, sondern glasige Produkte. Derartige Silicatgläser sind von größter praktischer Bedeutung. Es soll daher hier der glasige Zustand etwas näher betrachtet und gegen den kristallinen Zustand abgegrenzt werden. Ein Glas ist ein fester Körper mit einer dichten Packung von Atomen, wobei diese zwar eine Nahordnung, aber über mehrere Atomabstände hinweg keine periodische Fernordnung wie ein Kristallgitter aufweisen. Im Falle des Kieselglases („Quarzglas“) hat man sich die Atomanordnung etwa wie in Abbildung 8.6 vorzustellen. Die Glasbildung ist immer die Folge einer verhinderten Kristallisation, d.h. das Glas befindet sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht, sondern es ist amorph und damit metastabil und energiereicher als der entsprechende Kristall. Ganz überwiegend werden Gläser durch Erstarren von Schmelzen erhalten, seltener durch Kondensation von Dämpfen oder nach dem Sol-Gel-Verfahren (siehe unten). Wenn beim Abkühlen einer Schmelze keine Kristallisation eintritt, dann muss die Umordnung der in der Schmelze vorhandenen Teilchen zur Struktur des Kristalls erschwert sein. Dies liegt bei den Silicaten an der hohen Viskosität der Schmelze, die auf die starken Si–O-Bindungen in Verbindung mit der dreidimensionalen Vernetzung zurückzuführen ist. Außerdem hat eine SiO2-Schmelze eine komplizierte Zusammensetzung mit molekularen Clustern verschie37 38 39

J. Y. Ying, C. P. Mehnert, M. S. Wong, Angew. Chem. 1999, 111, 58. R. Murugavel, H. W. Roesky, Angew. Chem. 1997, 109, 491. J.-L. Adam, J. Lucas, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3670. C. Rüssel, D. Ehrt, Chemie unserer Zeit 1998, 32, 126.

295

8.9 Gläser

(a)

(b)

Abb. 8.6 Schematisierte zweidimensionale Darstellung der Verknüpfung der SiO4-Tetraeder (a) im kristallinen und (b) im glasigen SiO2. Die Koordinationszahl der Si-Atome (schwarz) ist in beiden Fällen 4 (das vierte O-Atom liegt oberhalb bzw. unterhalb der Papierebene). Die „Ringgrößen“ (Zahl der Tetraeder) variieren im glasigen Zustand zwischen 4 und 8, verglichen mit 6 im Quarz.

dener Größe. Dies gilt besonders für Silicate mit polymeren Anionen, wobei in der Schmelze Anionen verschiedener Größe miteinander im Gleichgewicht stehen. Gläser mit einer Raumnetzstruktur kennt man aber nicht nur vom SiO2 und den Silicaten, sondern auch von anderen Oxiden wie B2O3, GeO2, P2O5, As2O5, Sb2O5, TeO2 und den Salzen dieser Oxide, sofern sie polymere Anionen enthalten (Oxidgläser). Die meisten der heute gebräuchlichen Gläser sind aber Vielkomponentensysteme, die aus 7–10 verschiedenen Oxiden erschmolzen werden. Die genannten Verbindungen werden als Netzwerkbildner bezeichnet, im Gegensatz zu den Netzwerkwandlern, das sind vor allem Alkali- und Erdalkalimetalloxide, die die dreidimensionale Vernetzung durch die Bildung von terminalen O-Atomen vermindern (siehe Abb. 8.4). Daneben gibt es die große Gruppe der Chalkogenidgläser, die ebenfalls durch polymere, auf kovalenten Bindungen beruhenden Strukturen charakterisiert sind.40 Hierzu gehören elementares Selen, die binären Verbindungen SiS2, GeSe2, As2S3 und As2Se3 sowie ternäre und quartäre Mischungen wie As12Ge33Se55, das kommerziell hergestellt wird, da es für infrarote Strahlung durchlässig ist. Diese Chalkogenidgläser, die allesamt Halbleiter mit Bandlücken zwischen 1 und 3 eV darstellen, werden im Allgemeinen durch Abkühlen einer Schmelze erzeugt. Anders als kristalline Stoffe werden Gläser beim Erhitzen nicht bei einer bestimmten Temperatur flüssig, sondern erweichen allmählich und gehen bei der Glasübergangstemperatur Tg in den zähflüssigen Zustand über. Dieser Übergang ist endotherm. Die Glasübergangstemperatur, die auch als Transformationstemperatur bezeichnet wird, ist die Temperatur, oberhalb derer ein Glas unter Krafteinwirkung fließt. Misst man die Volumenausdehnung (oder die Längenausdehnung) eines Glaskörpers als Funktion der Temperatur, ergibt sich Tg als die Temperatur, bei welcher der lineare Ausdehnungskoeffizient plötzlich ansteigt. Die Viskosität beträgt bei Tg typischerweise 1012–13 Pa s. Durch längeres 40

H. Eckert, Angew. Chem. Adv. Mat. 1989, 101, 1763. Bezüglich Metallhalogenidgläsern wie BeF2, AlF3 und ZrF4 siehe die in der voran stehenden Fußnote zitierte Literatur.

296

8 Silicium und Germanium

Erhitzen (Tempern) auf Temperaturen oberhalb von Tg können Spannungen im Glas abgebaut werden (Relaxation), jedoch besteht auch die Gefahr der beginnenden Kristallisation oder der Entmischung (Phasentrennung). Erst deutlich oberhalb der Erweichungstemperatur Ts (Viskosität ca. 106 Pa s) können Gläser durch Verformung bearbeitet werden. Kieselglas (Quarzglas) hat eine besonders hohe Glasübergangstemperatur von ca. 1200°C und erfordert Temperaturen von über 1800°C zum Glasblasen oder zur Herstellung von optischen Bauteilen wie Linsen, Prismen oder Fenstern. Durchsichtiges Kieselglas wird durch Schmelzen von reinstem Bergkristall in der Knallgasflamme oder auf elektrischem Wege erzeugt. Für Quarzgut, das nur durchscheinend ist, wird reiner Sand bei ca. 1800°C weitgehend geschmolzen, jedoch verbleiben noch Phasengrenzen und Gasblasen, die dem abgekühlten Produkt ein milchiges Aussehen geben. Glasfasern für Lichtleiter werden auf eine komplizierte Weise durch Gasphasenabscheidung von SiO2 hergestellt. Solche Fasern können Licht ohne größere Verluste über Entfernungen von mehr als 100 km weiterleiten, wenn hochreines SiO2 verwendet wird. Dieses wird durch Gasphasenoxidation von reinstem SiCl4 in einem Hochfrequenzplasma oder in einer Knallgasflamme erzeugt: SiCl4 + O2

1200¿1800°C

SiO2 + 2 Cl2

Hierzu wird beispielsweise ein Quarzglasrohr dadurch auf der Innenseite mit reinstem SiO2 beschichtet, dass man auf der einen Seite ein SiCl4/O2-Gemisch zuführt, auf der anderen Seite das Cl2 abpumpt und den Druck auf 2 kPa einstellt, während das Gasgemisch im Rohr von außen auf 1200°C erhitzt oder durch eine Mikrowellen-Gasentladung zur Reaktion gebracht wird. Die Entladungszone wird langsam an dem gesamten Rohr entlang geführt, so dass eine dicke Schicht von reinstem SiO2 entsteht, die zur Erhöhung des Brechungsindex auch noch mit Germanium dotiert werden kann, wozu man dem SiCl4 etwas GeCl4 beimischt. Danach wird das Rohr soweit erhitzt, dass es kollabiert, wonach es zum faserförmigen Lichtleiter ausgezogen werden kann. Für den Laborbetrieb geeignete Gläser sind Jenaer Geräteglas 20, Duran, Rasotherm und Pyrex, bei denen es sich um Borosilicatgläser handelt. Deren Anionen sind denen der Alumosilicate verwandt, nur dass Al weitgehend durch B ersetzt ist. Das häufig verwendete Duranglas besteht aus SiO2 (74 %), B2O3 (14 %), Al2O3 (3.5 %), Na2O (4.5 %) und BaO (3 %) nebst Spuren von K2O und CaO. Alkalisilicatgläser weisen wesentlich niedrigere Glasübergangs- und Erweichungstemperaturen als Kieselglas auf (Duran: Tg = 534°C). Andererseits sind solche Gläser hydrolytisch und thermisch etwas weniger resistent als Kieselglas. Fensterglas besteht aus SiO2 (72 %), Al2O3 (1.5 %), Na2O (14.5 %), CaO (8.5 %) und MgO (3.5 %). Technisch hergestellte Glasfasern (Glaswolle) haben eine ähnliche Zusammensetzung wie Duranglas; sie werden durch Zusammenschmelzen von Quarzsand, Soda (Na2CO3), Pottasche (K2CO3), Borax, Feldspat, Dolomit (CaCO3·MgCO3) und Altglasscherben hergestellt und hauptsächlich zur Wärmedämmung im Hausbau eingesetzt.41 Ein besonders temperaturunempfindliches Glas wird aus dem Inselsilicat LiAlSiO4 mit gewissen Zusätzen hergestellt und als CERAN für Kochfelder von Küchenherden verwendet.

41

Andere anorganische Fasern sind Steinfasern (Steinwolle), Kohle- oder Graphitfasern sowie Fasern aus Siliciumcarbid oder Al2O3.

8.9 Gläser

297

Ein neues Verfahren zur Glasherstellung eröffnen die Sol-Gel-Verfahren,42 die ohne Schmelze auskommen. Ausgangsprodukt ist ein Alkoxid wie Si(OEt)4 (Kieselsäureester), das in Ethanol gelöst und dann durch allmähliche Wasserzugabe hydrolysiert wird. Dabei werden Basen oder Säuren als Katalysatoren zugesetzt. In dem Maße, wie die OEtGruppen durch OH-Gruppen ersetzt werden, tritt spontane Polykondensation ein. Über ein transparentes Sol (Dispersion von kolloiden Teilchen) entsteht ein festes Gel von SiO2(aq), das bei 120°C zum so genannten Xerogel entwässert und dann bei 600–1200°C unter beträchtlicher Schrumpfung in ein Glas überführt werden kann. Die Glasbildung erfolgt oberhalb der Glasübergangstemperatur, aber unterhalb der Schmelztemperatur. Durch Zumischen von Alkoxiden anderer Elemente können auf diese Weise Gläser der verschiedensten Zusammensetzung erzeugt werden.43 Wird das oben beschriebene Gel unter speziellen Bedingungen so getrocknet, dass es sein Volumen behält, entsteht ein sehr lockeres Aerogel, dessen Dichte typischerweise nur 0.1 g cm–3 beträgt, so dass es auf Wasser schwimmt. Solche Gele sind außerordentlich gut wärmeisolierend und eignen sich als hochporöse Materialien unter anderem als Träger für Katalysatoren.44 Glasiges Erstarren beobachtet man auch bei zahlreichen Systemen, die in der Schmelze aus kleinen Molekülen oder Ionen bestehen. Beispielsweise erstarrt eine Schmelze von KNO3, die 30 bis 47 mol-% Ca[NO3]2 enthält, als Glas, da die unterschiedlichen Ionenladungen und Ionengrößen die Kristallisation erschweren. Ein häufiger Fall ist auch das glasige Erstarren von Verbindungen, die durch Wasserstoffbrücken assoziiert sind, wie konzentrierte Schwefel- oder Phosphorsäure, Glycerin und andere Alkohole. Hier ist es die Assoziation der Flüssigkeiten, wodurch die Moleküle nicht die zum Kristallwachstum notwendige Beweglichkeit besitzen. Allgemein gilt, dass Gläser energiereicher als die entsprechenden kristallinen Verbindungen sind, da in ihnen noch ein Teil der Schmelzenthalpie enthalten ist, die bei der Kristallisation abgegeben wird. Den Gläsern stehen die keramischen Werkstoffe Porzellan, Töpferwaren und Steingut nahe, die jedoch in der Regel einen kristallinen Anteil von wenigstens 30 % aufweisen.45 Glaskeramiken haben ebenfalls einen beträchtlichen kristallinen Anteil, der durch eine geeignete Temperaturbehandlung (Tempern) eines Glases gezielt herbeigeführt wird. Die winzigen Kristallite sind dabei in der Regel in der amorphen Glasmatrix statistisch verteilt und orientiert, so dass sich keine anisotropen Eigenschaften ergeben.39

42

43 44 45

J. D. Wright, N. A. J. M. Sommerdijk, Sol-Gel Materials, Chemistry and Applications, Gordon and Breach, Amsterdam, 2001. Themenheft Sol-Gel Chemistry and Materials, in Acc. Chem Res. 2007, 40, No. 9. D. A.Loy, K. J. Shea, Chem. Rev. 1995, 95, 1431. R. Corriu, D. Leclercq, Angew. Chem. 1996, 108, 1525. N. Hüsing, U. Schubert, Angew. Chem. 1998, 110, 23. A. C. Pierre, G. M. Pajonk, Chem. Rev. 2002, 102, 4243. Yanagida, K. Koumoto, M. Miyayama (Herausg.), The Chemistry of Ceramics, Wiley, Chichester, 1996.

298

8 Silicium und Germanium

8.10 Silicium-Stickstoff-Verbindungen Silicium bildet eine große Zahl von Verbindungen mit Si–N-Bindungen. Diese Bindungen können am einfachsten durch Kondensation von Si-Halogeniden mit Ammoniak oder Aminen errichtet werden: 3 H3Si Cl + 4 NH3

(H3Si)3N + 3 NH4Cl

Trisilylamin ist wie das analoge Trimethylamin eine farblose Flüssigkeit, aber eine viel schwächere LEWIS-Base als dieses. Mit Me2NH reagiert H3SiBr formal zu Me2NSiH3, das jedoch nicht monomer, sondern als cyclisches Pentamer vorliegt (Schmp. 3°C): Me2 N H3Si

SiH3 NMe2

Me2N

SiH3

H3Si Me2N

Si H3

NMe2

d (SiN) = 198 pm Winkel (NSiN) = 178° Winkel (SiNSi) = 110°

Formal entstehen hierbei koordinative σ-Bindungen zwischen den N-Atomen des einen Moleküls und den Si-Atomen des Nachbarmoleküls, wodurch sich die Koordinationszahl von N auf 4 und von Si auf 5 erhöht. Silylamine werden von H2O hydrolysiert. SiCl4 reagiert mit Ammoniak bei 25°C in CH2Cl2 über Zwischenstufen zu polymerem Siliciumdiimid, wenn man das primär entstehende Produktgemisch zur Vervollständigung der Reaktion und zur Abtrennung des sublimierbaren Nebenproduktes schließlich auf 600°C erhitzt: SiCl4 + 6 NH3

Si(NH)2 + 4 NH4Cl

Si(NH)2 wird technisch hergestellt, ist aber extrem hydrolyseempfindlich. Es entspricht nach dem Hydridverschiebungssatz46 formal dem ebenfalls polymeren SiO2, und so wie aus letzterem zahllose Silicate (Oxosilicate) hergestellt werden können, lassen sich aus Si(NH)2 viele Nitridosilicate gewinnen, die aus tetraedrischen SiN4-Einheiten aufgebaut sind.47 Das einfachste Anion dieser Art liegt im Ba5Si2N6 vor, das ein aus zwei kantenverknüpften Tetraedern bestehendes Anion [Si2N6]10– enthält. In stärker vernetzten Nitridosilicaten sind die SiN4-Baugruppen z.T. auch dreidimensional über gemeinsame Kanten verknüpft, z.B. im MgSiN2. Daneben existiert eine zunehmende Zahl von synthetischen Oxonitridosilicaten, die ternäre Anionen enthalten. Bezüglich Siliciumnitrid, siehe Abschnitt 8.12.2. 46 47

Dieser Satz besagt, dass die Gruppen CH2, NH und O bindungsmäßig vergleichbar, d.h. isoelektronisch und isolobal sind; ebenso die Gruppen CH3, NH2, OH und F. W. Schnick, H. Huppertz, Chem. Eur. J. 1997, 3, 249 und 679. F. Liebau, Angew. Chem. 1999, 111, 1845.

299

8.11 Organosilicium-Verbindungen

8.11 Organosilicium-Verbindungen Vom Silicium ist eine unübersehbar große Zahl von organischen Verbindungen bekannt.48 Hierzu gehören zum Beispiel die Organosilane, die Organodisilene und die Organosiloxane. Funktionalisierte Organosilane sowie Organosiloxane (Silikone) sind von enormer technischer Bedeutung. Die organische Chemie des Germaniums ist der des Siliciums weitgehend analog,49 jedoch von geringer praktischer Bedeutung.

8.11.1 Organosilane Die wichtigste Labormethode zur Errichtung von Si–C-Bindungen ist die Alkylierung oder Arylierung von Chlorsilanen wie SiCl4 mittels Li-, Zn-, Hg- oder Al-Organylen oder durch GRIGNARD-Verbindungen: SiCl4 + 4 RMgX

R4Si + 2 MgX2 + 2 MgCl2

X = Cl, Br

Aus SiHCl3 erhält man entsprechend Triorganylsilane R3SiH, z.B.: SiHCl3 + 3 i-PrLi

i-Pr3SiH + 3 LiCl

Ausgehend von Si2Cl6 kann man Me6Si2 herstellen, das mit MeLi oder MeONa zu Trimethylsilylsalzen M[Me3Si] (M = Li, Na) reagiert, woraus unsymmetrisch substituierte Organylsilane hergestellt werden können: Me6Si2 + MeLi

Me3SiLi + Me4Si

Me3SiLi + R X

Me3Si

R + LiX

X = Cl, Br

Me3SiLi + Ph3SiCl

Me3Si

SiPh3 + LiCl

Ein weiteres wichtiges Verfahren zur Synthese von Organosiliciumverbindungen ist die Hydrosilylierung (Abschnitt 8.6.3). Technisch von größter Bedeutung ist die sogenannte Direktsynthese nach dem ROCHOW-Verfahren, bei dem Alkyl- oder Arylchloride in einem Wirbelschichtofen mit pulverisiertem Silicium bei 280–330°C in Gegenwart eines Kupferoxidkatalysators umgesetzt werden. Am wichtigsten ist die (exotherme) Reaktion von CH3Cl mit Si, die zur Herstellung von Me2SiCl2 für die Produktion von Silikonen dient (Abschnitt 8.11.3): Sif. + 2 MeCl

Cu2O

Me2SiCl2

Das zugesetzte Cu2O wird während der Reaktion über CuCl in den eigentlichen Katalysator Cu3Si umgewandelt, der dann mit dem Monochlormethan reagiert. Als Nebenprodukte erhält man die anderen Vertreter der Reihe MenSiCl4–n (n = 1–4), die durch Destillation abgetrennt werden; Me2SiCl2 (Sdp. 70°C) hat von allen Produkten den höchsten Siedepunkt. 48

49

H. Sakurai, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 5159; R. West et al., ibid. 2005, 6, 3389. M. Weidenbruch, Chem. Rev. 1995, 95, 1479; E. Hengge, R. Janoschek, ibid. 1495; M. K. Steinmetz, ibid. 1527. M. B. Holl, D. R. Peck, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1650.

300

8 Silicium und Germanium

Die Si–C-Bindung ist thermisch sehr stabil und auch chemisch nicht besonders reaktiv. Beispielsweise zersetzt sich Tetramethylsilan Me4Si (TMS; Sdp. 27°C) erst oberhalb von 650°C. Die mittlere Si–C-Bindungsenthalpie beträgt 318 kJ mol–1 (Tab. 4.1), aber die erste Si–C-Dissoziationsenthalpie von TMS ist mit 387 kJ mol–1 sogar noch größer. Von verdünnter Natronlauge wird TMS nicht hydrolysiert, obwohl die Reaktion zu SiO2 und CH4 thermodynamisch möglich, d.h. exergonisch ist. Eine Besonderheit peralkylierter Oligosilane (R2Si)n ist die σ-Konjugation, die zu einer starken Absorption im nahen UV führt und die auf diese Weise nachgewiesen werden kann. Dabei handelt es sich um eine teilweise Delokalisierung von Elektronendichte aus bindenden Si–C-Orbitalen in die antibindenden Orbitale benachbarter Si–Si-Bindungen, die in anti-Stellung ungefähr in der gleichen Ebene liegen: C

C +

C +

-

Si

+

Si

Si

-

Si C

Funktionalisierte Organosilane tragen entweder am Si-Atom eine funktionelle Gruppe (H, Na, OH, OMe), oder der organische Rest (R) weist eine derjenigen funktionellen Gruppen auf, die aus der Organischen Chemie bekannt sind. Tris(trimethylsilyl)silan (Me3Si)3SiH ist ein Reduktionsmittel in der organischen Synthese, das dabei in ein Silylradikal übergeht. Sind am tetraedrisch koordinierten Si-Atom vier verschiedene Gruppen gebunden, tritt wie bei den entsprechenden Kohlenstoffverbindungen Chiralität auf. Ein Beispiel dafür ist das Methylnaphthylphenylsilan (CH3)(C10H7)(C6H5)SiH, dessen Enantiomere getrennt wurden. Ein interessantes Silan ist das Tetrasulfan (EtO)3Si–(CH2)3–S4–(CH2)3–Si(OEt)3, das in großem Maßstab zur Vulkanisation von Gummi für Autoreifen verwendet wird, und zwar in Verbindung mit Kieselsäure (SiO2) als Füllstoff.50 Während die Tetrasulfangruppe mit dem organischen Polymer reagiert und kovalente S–C-Bindungen bildet, setzen sich die Ethoxygruppen mit oberflächlichen Silanol-Gruppen der Kieselsäure um, wobei EtOH und sehr starke Si–O–Si-Bindungen entstehen. Dadurch wird das Füllmaterial mit der organischen Matrix fest verbunden, was zu geringerem Abrieb beim Fahren und damit zu einer längeren Lebensdauer der Reifen führt. Aus den Organosilangruppen R2Si und RSi lassen sich große Ringe, lange Ketten und polyedrische Cluster aufbauen, und viele derartige Verbindungen wurden synthetisiert. Beispiele für Cluster sind das auf der folgenden Seite abgebildete Hexasilaprisman und Octasilakuban. Die Seitengruppen R müssen in diesen Fällen möglichst sperrig sein, um den Cluster kinetisch zu stabilisieren, z.B. durch 2,3-Diethylphenyl. Man erhält solche Verbindungen durch reduktive Enthalogenierung von RSiCl3. Bei der Enthalogenierung von R2SiCl2 beispielsweise mit flüssigem Natrium in Toluol bei 110°C entstehen Polysilylene, die jedoch besser als Organopolysilane bezeichnet werden sollten:51 n R2SiCl2 + 2n Na 50 51

(R2Si)n + 2n NaCl

U. Deschler, P. Kleinschmit, P. Panster, Angew. Chem. 1986, 98, 237. R. D. Miller, Angew. Chem. Adv. Mat. 1989, 101, 1773.

301

8.11 Organosilicium-Verbindungen

Si

R Si R Si

R Si

R

R R

Si

Si Si R

Si R Si

Si R

R

Si R

Si

Si Si R R R Bei dieser Reaktion, die nach einem Radikalkettenmechanismus abläuft, treten cyclische Oligomere als Nebenprodukte auf. Substituierte cyclo-Silane der Typen R10Si5 und R12Si6 sind in großer Zahl bekannt. Sie entsprechen den analogen cyclo-Alkanen. Organopolysilane haben ungewöhnliche Eigenschaften, die zu einer Reihe von möglichen Anwendungen führen: Sie sind lichtempfindlich (photosensitiv), ausgestattet mit aromatischen Substituenten sind sie unzersetzt schmelzbar und können daher zu Fasern versponnen werden. Beim gesteuerten Pyrolysieren und Oxidieren von (Me2Si)n-Fasern entsteht faserförmiges β-Siliciumcarbid, das ein wichtiger Werkstoff ist (Abschnitt 8.12.1). Behandelt man Methylchlorsilane mit wässriger Flusssäure, erhält man über die Zwischenstufen der Silanole52 die entsprechenden Methylfluorsilane: MeSiCl3 + 3 HF

H 2O

MeSiF3 + 3 HCl

MeSiF3 ist ein Gas, das mit wässriger KF-Lösung zu Methylpentafluorosilicat reagiert, das seinerseits gegen Hydrolyse beständig ist: MeSiF3 + 2 KF

H 2O

K2[MeSiF5]

8.11.2 Ungesättigte Organosiliciumund -germanium-Verbindungen7, 53 Silicium und Germanium bilden unter bestimmten Voraussetzungen beständige Verbindungen, die den Alkenen, Alkinen und Aromaten der Kohlenstoffchemie entsprechen. Die Grundkörper wie Disilen H2Si=SiH2 und Digermen H2Ge=GeH2 (in Analogie zum Ethen H2C=CH2) sind unter Standardbedingungen instabil bezüglich einer Oligomerisierung zu cyclischen Silanen bzw. Germanen. Durch sperrige Substituenten kann diese Reaktion jedoch kinetisch unterdrückt werden, so dass entsprechende Derivate in reiner Form isoliert werden können. Durch die großen Substituenten wird gleichzeitig die Stabilität der cyclischen Verbindungen verringert, so dass auch thermodynamisch eine Stabilisierung der ungesättigten gegenüber der gesättigten Verbindung eintreten kann. Als sperrige oder sterisch anspruchsvolle Substituenten haben sich neben t-Butyl unter anderem folgende Gruppen bewährt:

52 53

Übersicht über Organosilanole: P. D. Lickiss, Adv. Inorg. Chem. 1995, 42, 147. R. West, Polyhedron 2002, 21, 467. M. Weidenbruch, Eur. J. Inorg. Chem. 1999, 373.

302

8 Silicium und Germanium

Me

Me

Et

Me

Me

Et

Me

Mesityl Xylyl 2,6-Diethyl1-Adamantyl (Mes) (Xyl) phenyl (Ad) Daneben werden aber noch viel größere Substituenten eingesetzt, um extrem empfindliche Strukturen abzuschirmen. Organodisilene R4Si2 entstehen bei der Enthalogenierung von bestimmten Diorganyldihalogensilanen (a), bei der Photolyse von cyclo-Trisilanen, die ebenfalls durch Enthalogenierung von Diorganyldichlorsilanen mittels Lithiumnaphthalid bei –78°C zugänglich sind (b) sowie bei der Dimerisierung von Silylenen R2Si (c): (a)

2 R2SiBr2 + 4 Li

(b)

3 R2SiCl2 + 6 Li cyclo-R6Si3

(c)

2 R2Si:

¿78°C

h.—

R2Si

SiR2 + 4 LiBr

cyclo-R6Si3 + 6 LiCl R2Si

SiR2 + R2Si:

R2Si

SiR2

Die UV-Photolyse des nach (b) erzeugten Trisilans R6Si3 bei 25°C in cyclo-Hexan liefert das Disilen in nahezu quantitativer Ausbeute, da das primär entstehende Silylen sofort nach Gleichung (c) dimerisiert. Das Produkt bildet gelbe, luftempfindliche Kristalle (R = 2,6-Dimethylphenyl). Auch die UV-Photolyse acyclischer Trisilane führt zu Disilenen: h.—

Mes2Si(SiMe3)2 ¿50°C Mes2Si: + Mes3Si SiMes3 2 Mes2Si: Mes2Si SiMes2 Disilene sind generell charakterisiert durch eine planare oder fast planare Umgebung der Si=Si-Gruppe, einen wesentlich kleineren SiSi-Kernabstand als bei Silanen und durch eine beachtliche Rotationsbarierre für die Torsion um die SiSi-Bindung (Abschnitt 8.2). Auch die Wellenzahl der SiSi-Valenzschwingung ist gegenüber gesättigten Silanen um ca. 30 % erhöht. Alle diese Beobachtungen sprechen für eine SiSi-Doppelbindung, vergleichbar der CC-Bindung in Alkenen. Bei unsymmetrischer Substitution (RR´Si=SiRR´) tritt dementsprechend Z/E-Isomerie auf, wobei das (E)-Isomer in der Regel das stabilere ist, das jedoch durch Bestrahlung weitgehend in das (Z)-Isomer umgewandelt werden kann. Mittels 29Si-NMR-Spektroskopie können die beiden Isomere nebeneinander nachgewiesen werden. Aus der Temperaturabhängigkeit der spontanen (Z)→(E)-Isomerisierung wurden für verschiedene Disilene Aktivierungsenthalpien von 105–130 kJ mol–1 abgeleitet. Beim vergleichbaren Stilben (PhHC=CHPh) beträgt diese Enthalpie 179 kJ mol–1. Trotz der sterischen Abschirmung gehen Disilene mit geeigneten Reagenzien Additionsreaktionen ein. Auch mit gewissermaßen anorganischen Substituenten wie (Alkyl)3Si- wurden Disilene hergestellt. Digermene werden auf analoge Weise wie Disilene synthetisiert. Ihre Strukturen unterscheiden sich jedoch insoweit von den Alkenen und Disilenen, als die Ge-Atome nicht planar, sondern leicht pyramidal koordiniert sind.

303

8.11 Organosilicium-Verbindungen

Ein zweifach ungesättigtes Sildien liegt im Tetrasilabutadien R6Si4 vor, das besser als Tetrasil-1,3-dien zu bezeichnen ist und das wie folgt erhalten wurde (R: 2,4,6-i-Pr3C6H2): R2Si

SiR2 + 2 Li

R2Si

R2Si

SiRBr + R2Si

SiRLi

SiRLi + LiR R2Si

SiR

SiR

SiR2 + LiBr

Die Verbindung bildet rotbraune Kristalle, die bei 237°C unzersetzt schmelzen, aber außerordentlich luftempfindlich sind. Die Si4-Kette ist im Kristall nicht planar; der Torsionswinkel an der mittleren SiSi-Bindung beträgt 51°. Auch das entsprechende Tetragermabutadien ist bekannt. Weitere Beispiele für ungesättigte Si- und Ge-Verbindungen, die in reiner Form isoliert wurden, sind folgende Moleküle: R

R

R

R Si

Si

Si

Si

Si

R R cyclo-Tetrasilen

R

Me2Si

R Si

Si Si

R R

R

R Ge

SiMe2

Si R R R Octasilapentalen (R = SiMe3) R

R

R

Si

R

R R Si

Si

Si

Trisilaallen (R = SiMe3)

(R = SiMe2t-Bu) R

R

R

Ge R

Ge R

cyclo-Trigermen

Das cyclo-Tetrasilen isomerisiert photochemisch (λ > 420 nm) zum Bicyclo[1.1.0]tetrasilan, das sich aber im Dunkeln langsam wieder in die ungesättigte Verbindung umwandelt. Eine besondere präparative Herausforderung war die Synthese von Verbindungen mit einer SiSi-Dreifachbindung in Analogie zu den Alkinen. Die Stammverbindung Disilin (HSiSiH) besitzt quantenchemischen Rechnungen zufolge allerdings nicht die dem Acetylen analoge lineare Geometrie, sondern bildet ein bicyclisches Molekül mit einer SiSiEinfachbindung, die von den beiden H-Atomen überbrückt wird (Symmetrie C2v). In neuester Zeit sind aber Verbindungen mit einer echten SiSi-Dreifachbindung hergestellt worden, und zwar mit dem zentralen Strukturelement R3Si–Si≡Si–SiR3 (Tetrasil-2-in).54 Anders als bei den Alkinen betragen allerdings die Bindungswinkel an den zweifach koordinierten Si-Atomen nicht 180°, sondern ca. 137° (E-Konformation). Bei dieser Geometrie kommt es innerhalb der durch die vier Si-Atome definierten Ebene zu einer 54

M. Weidenbruch, Angew. Chem. 2005, 117, 518. A. Sekiguchi, M. Ichinohe, R. Kinjo, Bull. Chem. Soc. Japan 2006, 79, 825.

304

8 Silicium und Germanium

stabilisierenden Wechselwirkung der bindenden π-Elektronen mit dem antibindenden σ*-MO der benachbarten SiSi-Einfachbindung (Hyperkonjugation). Der zentrale SiSi-

Kernabstand von 206 pm ist deutlich kleiner als der Einfachbindungsabstand im elementaren Silicium (235 pm). Mit besonders sperrigen organischen Substituenten R wurden auch entsprechende Germaniumverbindungen R–Ge≡Ge–R (Digermine) hergestellt.55 Silabenzol C5SiH6 und Germabenzol C5GeH6 sind instabil, aber die monosubstituierten Derivate mit dem sperrigen Substituenten Tbt am Heteroatom wurden als bei 25°C beständige Verbindungen isoliert (Tbt: 2,4,6-Tris[bis(trimethylsilyl)methyl]phenyl). Alle Eigenschaften dieser Verbindungen zeigen, dass sie aromatischen Charakter haben.55 Auch entsprechende Derivate des Naphthalins und des Anthracens sind bekannt. Wegen der schwierigen Synthese und extremen Reaktivität haben ungesättigte Organosiliciumverbindungen aber bisher keine praktische Anwendung gefunden.

8.11.3 Organosiloxane56 Die chemische Resistenz der CH3Si-Gruppe und die hohe Bindungsenergie von Si– O-Bindungen sind von großer praktischer Bedeutung für die Eigenschaften und die daraus folgende Verwendung der Silikone. Das sind polymere Dimethylsiloxane folgender Art: CH3 H3C Si CH3

O O Si CH3

CH3 O Si

O

.....

CH3

Ausgangsprodukte für die Produktion von Silikonen sind verschiedene Organochlorsilane, die nach dem ROCHOW-Verfahren hergestellt werden (Abschnitt 8.11.1). Die Hydrolyse oder Methanolyse von Methylchlorsilanen führt zu entsprechenden oligomeren Produkten, die die chemisch und thermisch sehr stabilen Siloxanbrücken enthalten: n Me2SiCl2 + n H2O n Me2SiCl2 + 2n MeOH

(Me2SiO)n + 2n HCl (Me2SiO)n + 2n MeCl + n H2O

Das bei der Hydrolysereaktion entstehende HCl wird abgetrennt und mit Methanol zu MeCl umgesetzt, das erneut für das ROCHOW-Verfahren verwendet wird. Analog wird mit dem bei der Methanolyse entstehenden MeCl verfahren. Bei dieser Art von Polykondensation führt das monofunktionelle Me3SiCl zu Kettenendgruppen (M), das difunktionelle Me2SiCl2 zu Kettengliedern (D) und das trifunktionelle MeSiCl3 zu Verzweigungsstellen (T). Setzt man auch noch SiCl4 zu, entstehen zusätzlich quartäre Verzweigungsstellen (Q). Diese Gruppen können mittels 29Si-NMR-Spektroskopie nachgewiesen werden. Durch geeignete Mischung der genannten Komponenten kann man daher den mittleren Polymerisationsgrad und die dreidimensionale Struktur der späteren Polymere vorausbe55 56

N. Tokitoh et al., J. Am. Chem. Soc. 2006, 128, 1023 und Acc. Chem. Res. 2004, 37, 86. Silikone – Chemie und Technologie, Vulkan-Verlag, Essen, 1989. H.-H. Moretto, M. Schulze, G. Wagner, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem. 1993, A24, 57.

8.12 Sonstige Si-Verbindungen

305

stimmen und so dünnflüssige, ölige, fettartige, harzartige oder feste Substanzen herstellen. Bei der Kondensation entsteht zunächst ein Gemisch von cyclischen und linearen Oligomeren, das durch Erhitzen mit KOH cyclisiert wird, d.h. die linearen Polymere werden in Ringe umgewandelt, wobei hauptsächlich das Tetramer (Me2SiO)4 neben etwas Pentamer entsteht. Diese Ringe werden destillativ abgetrennt. Durch eine anionische Ringöffnungspolymerisation (ROP) der Cyclen bei ca. 140°C wird dann das eigentlich Produkt erzeugt (Katalysator: Alkalimetalloxid oder -hydroxid oder eine andere LEWISBase). Auch eine kationische ROP mit perfluorierten Sulfonsäuren oder H2SO4 als Katalysator ist möglich. Die Valenzwinkel SiOSi betragen in Organopolysiloxanen meistens 130–140°, die Kernabstände d(SiO) im Mittel 164 pm. Die mechanische Elastizität beruht auf der nahezu ungehinderten Rotation um die SiO-Bindungen. Durch Variation der organischen Substituenten und der Kettenendgruppen ergibt sich eine Vielzahl von verschiedenen Eigenschaften. Die klassischen Polydimethylsiloxane sind transparent, farblos, chemisch und thermisch sehr beständig, wasserabstoßend und nicht entflammbar. Außerdem ändert sich die Viskosität mit der Temperatur nur wenig. Verwendung finden Silikone z.B. als Wärmeübertragungsöle für hohe Temperaturen in Thermostaten und Wärmetauschern, als Kühlmittel in Transformatoren, als Hydrauliköle, als Schmier- und Isoliermaterial, für Dichtungen, Folien, Membranen, Lacke und Schläuche, weiterhin in der Kosmetik sowie in der Medizin für Implantate.57 Silikonöle haben meistens die Struktur MDnM. Silikongummi enthält außerdem einen Füllstoff (z.B. Kieselgel). Niedermolekulare (cyclische) Diorganylsiloxane haben insektizide Eigenschaften; für Säugetiere sind diese Substanzen aber ungiftig. Ein großer Vorteil der Silikone gegenüber anderen organischen Polymeren ist ihre hohe Entzündungstemperatur (450°C) und die Verbrennung zu untoxischen Stoffen wie H2O, CO2 und SiO2. Aus Organotrichlorsilanen RSiCl3 können durch Alkoholyse entsprechende Alkoxide hergestellt werden, die die Grundlage der siliciumorganischen Steinschutzstoffe darstellen. Diese Verbindungen werden zum Imprägnieren korrosionsgefährdeter poröser Sandsteine oder Kalksteine von Bauten und Denkmälern eingesetzt. Mit der Feuchtigkeit der Luft tritt Hydrolyse der Alkoxygruppen und anschließend Polykondensation zu Silasesquioxanen (Abschnitt 8.8.1) ein. Auf diese Weise werden die Poren der Steine durch eine hydrophobe Schutzschicht verschlossen.58

8.12 Sonstige Si-Verbindungen 8.12.1 Siliciumcarbid Siliciumcarbid gehört zu den wichtigsten nichtoxidischen keramischen Werkstoffen.59 Reduziert man SiO2 (z.B. reinsten Sand) mit Koks (Petrolkoks) im stöchiometrischen 57

58 59

D. R. Weyenberg in J. Y. Corey, E. R. Corey, P. P. Gaspar (Herausg.), Silicon Chemistry, Kap. 27, Ellis Horwood, Chichester, 1988. J. E. Mark, H. R. Allcock, R. West, Inorganic Polymers, Prentice Hall, Engelwood Cliffs, 1992. J. Grobe et al., Nachr. Chem. Tech. Lab. 1993, 41, 1233. G. Roewer et al., Structure&Bonding 2002, 101, 59.

306

8 Silicium und Germanium

Verhältnis 1:3 bei Temperaturen oberhalb von 2000°C im elektrischen Ofen, erhält man nicht elementares Silicium, sondern Siliciumcarbid SiC: SiO2 + 3 Cf.

SiCf. + 2 CO

° = 619 kJ mol¿1 ˆH298

Beim ACHESON-Verfahren wird ein Lichtbogen zwischen Kohleelektroden zum Aufheizen verwendet, während das ESK-Verfahren eine elektrische Widerstandsheizung benutzt.60 Das so in großem Maßstab chargenweise hergestellte technische Produkt ist meistens verunreinigt und daher grün bis schwarz gefärbt. Reines SiC, das sowohl hexagonal in der Wurtzit-Struktur (α-SiC) als auch kubisch in der Zinkblende-Struktur (β-SiC) kristallisiert,61 ist farblos und wie elementares Silicium ein Halbleiter (Bandlücke 1.9 eV). SiC ist thermisch und chemisch (z.B. gegen Säuren) außerordentlich beständig und von ähnlicher Härte wie Diamant. Als Carborund wird SiC als Schleifmittel und als Silit zur Herstellung von Heizwiderständen in elektrischen Öfen für sehr hohe Temperaturen verwendet (Silitstaböfen). Wegen seiner sehr guten Wärmeleitfähigkeit werden Wärmetauscher für sehr hohe Temperaturen aus siliciuminfiltriertem SiC gefertigt. In der Stahlindustrie dient SiC zur Erhöhung des Si-Gehaltes der Stahlschmelze (Legierung) sowie zur Desoxidation von flüssigem Gusseisen (Bildung von SiO2). Auch für feuerfeste Tiegel, Muffeln und Ofenausmauerungen eignet sich SiC. Die dafür verwendeten SiC-Ziegel (SiC-Steine) werden aus dem Pulver durch Brennen mit einem Bindemittel hergestellt. Da sich die Ziegel an der Luft mit einer SiO2-Schutzschicht überziehen, die die weitere Oxidation verhindert, ist Siliciumcarbid auch bei hohen Temperaturen oxidationsbeständig. SiC gilt, wie das im folgenden Abschnitt behandelte Si3N4, als moderne Hochleistungskeramik, die man auch in Form von Fasern herzustellen versucht, und zwar durch Pyrolyse von Vorläufermolekülen (precursors), die polymer sein müssen, damit sie sich zu Fäden verspinnen lassen.62

8.12.2 Siliciumnitrid63 Si3N4 ist ein wichtiges keramisches Material, das wegen seiner Stabilität gegenüber Oxidation, seiner Härte und Verschleißfestigkeit, seiner Bruchfestigkeit und seines kleinen thermischen Ausdehnungskoeffizienten geschätzt wird. Siliciumnitrid kristallisiert in zwei hexagonalen Modifikationen. In beiden sind die Si-Atome tetraedrisch von Stickstoff koordiniert, während die N-Atome trigonal-planar mit drei Si-Atomen verbunden sind. Die Strukturen bestehen formal aus Schichten, die in der Hochtemperaturmodifikation (β-Si3N4) in der Abfolge ABAB… und in der Tieftemperaturform (α-Si3N4) mit der Folge ABCDABCD… gestapelt sind und die durch starke kovalente Bindungen miteinander verknüpft sind. Die Hochdruckphase γ-Si3N4 kristallisiert im Spinell-Strukturtyp.

60 61

62 63

ESK-Verfahren: benannt nach dem Elektroschmelzwerk Kempten im Allgäu, das SiC produziert.

α-SiC ist die Hochtemperaturmodifikation (stabil oberhalb ca. 2100 K), β-SiC die Tieftempera-

turmodifikation, jedoch ist die gegenseitige Umwandlung kinetisch gehemmt. Das handelsübliche SiC besteht daher überwiegend aus α-SiC. M. Birot, J.-P. Pillot, J. Dunoguès, Chem. Rev. 1995, 95, 1443. H. Lange, G. Wötting, G. Winter, Angew. Chem. 1991, 103, 1606.

307

8.12 Sonstige Si-Verbindungen

Die wichtigste industrielle Synthese von Siliciumnitrid ist die direkte Nitridierung von Si-Pulver bei 1100–1400°C: 3 Sif. + 2 N2

° = ¿755 kJ mol¿1 ˆH298

Si3N4

Dabei entsteht α-Si3N4 als farbloses, elektrisch nichtleitendes Pulver. Die Bildung von β-Si3N4 findet merklich erst oberhalb 1500°C statt. Der relative Gehalt an α- und β-Form

sowie an amorphem Produkt kann außer durch Röntgenbeugung auch mittels 29Si-Festkörper-NMR-Spektroskopie ermittelt werden. Von praktischer Bedeutung ist auch die carbothermische Reduktion von SiO2 in einer strömenden N2- oder NH3-Atmosphäre: 3 SiO2 + 2 N2 + 6 Cf.

1450°C

Si3N4 + 6 CO

Des Weiteren wird pulverförmiges α-Si3N4 durch Glühen von Siliciumdiimid (Abschnitt 8.10) bei 900–1500°C gewonnen: 3 Si(NH)2

Si3N4 + 2 NH3

Si3N4 kann aber auch mittels Gasphasenabscheidung entweder als Pulver oder als Film hergestellt werden: 3 SiCl4 + 4 NH3

Si3N4 + 12 HCl

Si3N4-Pulver wird durch Sintern zu entsprechenden Werkstücken geformt, wobei sehr hohe Temperaturen und Drücke angewandt werden müssen. Man sintert z.B. bei 1800°C unter Zusatz von Bindemitteln. Verschiedene Metalloxide (MgO, Y2O3, Al2O3) werden für diesen Zweck eingesetzt. Auf diese Weise werden beispielsweise Ventile für Verbrennungsmotoren hergestellt. Die im Vergleich zu Metallen höhere thermische Belastbarkeit ermöglicht höhere Verbrennungstemperaturen und damit einen höheren Wirkungsgrad des Motors, während die geringe Dichte von 3.2 g cm–3 zu einer Gewichtsreduzierung führt.

8.12.3 Siliciumsulfide In Analogie zu den Oxiden SiO und SiO2 kennt man die Sulfide SiS und SiS2 sowie entsprechende Selenide und Telluride. SiS2 entsteht beim Erhitzen der Elemente auf 800–1400°C sowie durch Umsetzung von SiO2 mit Al2S3 bei 1100°C. Anders als SiO2, das eine Raumnetzstruktur aufweist, besteht SiS2 aus Kettenmolekülen, die verzerrt tetraedrisch koordinierte Si-Atome in spirocyclischer Verknüpfung enthalten (kantenverknüpfte [SiS4]-Tetraeder): Si

S

S

S

S

Si

Si

S Si

S Si

S S S S S S Der Aufbau aus Kettenmolekülen macht sich in einer faserigen Struktur der farblosen SiS2-Kristalle bemerkbar. SiS2 ist reaktiver als SiO2 und reagiert zum Beispiel mit Wasser zu SiO2(aq) und H2S. Erhitzt man SiS2 mit Si im Vakuum auf ca. 850°C oder leitet man CS2-Dampf bei einem Druck von 2 hPa und 1000°C über festes Si, entsteht monomeres SiS, das sich an kalten Flächen als rotes glasartiges (SiS)n niederschlägt.

308

8 Silicium und Germanium

Eine interessante Silicium-Schwefel-Verbindung ist das Silanthion F2Si=S, das bei der Reaktion von SiS mit F2 sowie bei der Pyrolyse von (F3Si)2S bei Temperaturen oberhalb 500°C neben SiF4 entsteht und das bei tiefen Temperaturen in einer Argonmatrix (im Gemisch mit anderen Produkten) ausgefroren und spektroskopisch identifiziert wurde. Der quantenchemisch berechnete SiS-Kernabstand von 191.1 pm des planaren Moleküls entspricht einer Doppelbindung.64

64

H. Bürger et al., Eur. J. Inorg. Chem. 1999, 2013.

9.1 Elementarer Stickstoff

9

309

Stickstoff

Stickstoff ist ein lebenswichtiges Element, das in Aminosäuren, Purinbasen und vielen anderen Heterocyclen die Gestalt und Funktion essentieller Bestandteile lebender Organismen bestimmt, nämlich der Proteine, der Nukleinsäuren und zahlreicher Enzyme und Hormone. Der menschliche Körper besteht zwar nur zu 3 % aus Stickstoff, damit ist N aber nach O, C und H das vierthäufigste Element in unserem Körper. Die chemische Industrie produziert daher große Mengen an N-haltigen Düngemitteln, um ein entsprechendes Nahrungsangebot für die wachsende Menschheit zu ermöglichen.1 In größeren Mengen natürlich vorkommende N-Verbindungen sind außer N2 der in Indien abgebaute Salpeter (KNO3) und der Chile-Salpeter (NaNO3), die jedoch beide für Europa praktisch keine Bedeutung mehr haben. Das Element Stickstoff 2 steht zusammen mit Phosphor, Arsen, Antimon und Bismut in der 15. Gruppe des Periodensystems (5. Hauptgruppe). Alle diese Elemente weisen in der Valenzschale 5 Elektronen auf. Die Chemie des Stickstoffs unterscheidet sich jedoch von der seiner höheren Homologen mindestens ebenso stark wie die Chemie des Sauerstoffs von der des Schwefels. Die Gründe dafür sind die gleichen wie bei diesen Elementen: Sprunghafter Anstieg des Atomradius vom N zum P und deutlich höhere Elektronegativität von N gegenüber den anderen Elementen. Das Fehlen von d-Orbitalen in der Valenzschale des N-Atoms kann dagegen nicht für die Unterschiede verantwortlich gemacht werden. Aus diesen Gründen wird die Chemie des Stickstoffs getrennt behandelt, und erst im Kapitel 10 wird auf die Elemente Phosphor und Arsen eingegangen. Natürlicher Stickstoff ist fast ein Reinelement, das zu 99.64 % aus 14N besteht, der Rest ist 15N. Letzteres wird in angereicherter Form für NMR-Spektroskopie und in der Massenspektrometrie für die Markierung von Stickstoffverbindungen genutzt.

9.1

Elementarer Stickstoff

Distickstoff N2 ist der Hauptbestandteil der Luft, in der er nach Trocknung zu 78.09 Vol.-% enthalten ist (Kap.14.2). Auch in den Ozeanen sind große Mengen N2 gelöst. Die meisten Stickstoffverbindungen werden aus Luftstickstoff hergestellt. Elementarer Stickstoff ist eines der wichtigsten Industriegase. Überhaupt sind 6 der 10 wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie Gase, nämlich N2, O2, Cl2, NH3, C2H4 und C3H6. Man gewinnt N2 in großem Umfang aus Luft, indem man gekühlte Luft kondensiert und danach fraktioniert destilliert. Auf diese Weise hergestellter Stickstoff ent1

2

Die Einführung von mineralischem Dünger in Deutschland im Jahre 1880 führte innerhalb von 10 Jahren zu einer Verdopplung der Erträge von Kartoffeln und Roggen. Heute hängen ca. 40 % der Nahrungsmittelproduktion von N-haltigen Düngemitteln ab. A. Hammerl, T. M. Klapötke, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3531 und online edition.

310

9 Stickstoff

hält noch einen Teil der Edelgase, insbesondere Argon, dessen Siedepunkt nur 10 K höher liegt als der von N2. Stickstoff mit einer Reinheit von 95 % wird in großem Umfang durch Membrantrennung aus Luft gewonnen, wobei man die stark unterschiedlichen Löslichkeiten und Diffusionsgeschwindigkeiten von N2 und Ar einerseits sowie von O2, H2O und CO2 andererseits in einem organischen Kunststoff ausnutzt.3 Chemisch reinen Stickstoff kann man im Labor durch thermische Zersetzung von reinstem Natriumazid bei 275°C herstellen: 2 NaN3

2 Na + 3 N2

Fast der gesamte aus der Luft gewonnene Stickstoff wird nach dem HABER-BOSCH-Verfahren mit Wasserstoff zu Ammoniak reduziert. Aus Ammoniak wird in großem Umfang durch katalytische Oxidation NO hergestellt (OSTWALD-Verfahren), das mit O2 zu NO2 umgesetzt wird, aus dem man dann durch Einleiten in Wasser und weitere Oxidation mit Luftsauerstoff Salpetersäure erhält: N2

H2 Fe

NH3

O2 Pt/Rh

NO

O2

NO2

H2O, O2

HNO3

Aus NH3 bzw. HNO3 werden praktisch alle anderen nichtmetallischen Stickstoffverbindungen hergestellt. Molekularer Stickstoff ist ein reaktionsträges Gas (Schmp. 63.3 K; Sdp. 77.4 K), das aus diesem Grunde bei bestimmten chemischen Synthesen und in der Lebensmittelindustrie als preiswertes Schutzgas verwendet wird, im letztgenannten Fall oft im Gemisch mit CO2, und zwar zur Verlängerung der Haltbarkeit von abgepackten Früchten, Gemüsen, Gewürzen, Käse, Saft, Bier und Milchprodukten. Zur chemischen Aktivierung benötigt das N2-Molekül im Allgemeinen hohe Temperaturen oder einen Katalysator. Dies gilt für fast alle Reaktionen, bei denen die NN-Dreifachbindung gespalten wird. Beispielsweise erfolgt die Ammoniaksynthese an einem eisenhaltigen Katalysator bei 380–550°C und bei einem Druck von 40–50 MPa. Auch die exotherme Reaktion mit elementarem Lithium zum rubinroten Nitrid Li3N ist keine Ausnahme, da die Reaktion eine Temperatur von 150–500°C erfordert. Der Grund für die Reaktionsträgheit von Stickstoff ist die extrem hohe Dissoziationsenthalpie des N2-Moleküls, das eine Dreifachbindung enthält (Kap. 2.4.3): N

N

2N

° = 942 kJ mol)1 *H298

Dadurch sind die meisten Reaktionen von N2 endotherm. Die Dissoziationsreaktion kann auch in elektrischen Entladungen realisiert werden, wobei im Plasma extrem reaktionsfähige N-Atome entstehen. Beispielsweise reagiert N2 in einem derartigen Plasma mit metallischem Natrium zu dunkelblauen Kristallen von Natriumnitrid Na3N. Ungeachtet der Reaktionsträgheit des Stickstoffmoleküls vermögen einige Mikroorganismen Luftstickstoff bei normaler Temperatur und normalem Druck zu assimilieren und über NH3 als Zwischenprodukt zum Aufbau von Aminosäuren zu verwenden. Dieser bemerkenswerte Prozess ist für das pflanzliche und tierische Leben von großer Bedeutung, da die im Erdboden vorhandenen löslichen Stickstoffverbindungen bei landwirtschaftlicher Nutzung nicht ausreichen, um den Stickstoffbedarf der Pflanzen zu decken. Vom

3

G. Maier, Angew. Chem. 1998, 110, 3128.

311

9.2 N2 als Komplexligand

chemischen Standpunkt aus gesehen ist diese enzymatische N2-Assimilation (StickstoffFixierung) bisher nur teilweise aufgeklärt. Als erster Schritt findet eine koordinative Bindung des N2-Moleküls an mehrere benachbarte Schwermetall-Ionen wie Fe und Mo statt, die Bestandteile der als Nitrogenasen4 bezeichneten Enzyme sind. Die Bruttogleichung der enzymatischen N2-Fixierung lautet: N2 + 8 e) + 16 ATP + 8 H+

2 NH3 + H2 + 16 ADP + 16 Pi

Der Energieträger Adenosintriphosphat (ATP; siehe Kap. 10) wird dabei unter Energieabgabe in das entsprechende Diphosphat (ADP) und ionisches Monophosphat (Pi) gespalten, während N2 stufenweise in einer 6-Elektronen-Reduktion bei gleichzeitiger Protonierung zu zwei Molekülen Ammoniak reduziert wird. Als Zwischenprodukte treten die komplexgebundenen Hydride Diazen (N2H2) und Hydrazin (N2H4) auf.5 Im Jahre 1965 ist es erstmals gelungen, rein anorganische Komplexe mit dem Molekül N2 als Ligand herzustellen. Diese einfachen Komplexe dienen als Modellverbindungen, um die Aktivierung von N2 durch Komplexbildung zu studieren. In den vergangenen Jahren ist dieses Gebiet intensiv erforscht worden, so dass heute Hunderte von DistickstoffKomplexen bekannt sind.

9.2

N2 als Komplexligand6

Das Stickstoffmolekül ist isoster mit dem Molekül CO und isoelektronisch mit den Ionen [NO]+ und [CN]–, von denen zahlreiche Übergangsmetallkomplexe bekannt sind: N

N

C

O

N

O

C

N

Es war daher schon aus Analogiegründen zu erwarten, dass auch N2-Komplexe stabil sein würden. Da sich die beiden Elektronen im HOMO des N2 in einem Orbital befinden, das zu einer erheblichen Elektronendichte auf den der Dreifachbindung abgewandten Seiten des Moleküls führt, sind sie für koordinative Bindungen gut geeignet (Kap. 2.4.3). Seit der Entdeckung des ersten N2-Komplexes wurden über 250 Distickstoffkomplexe hergestellt, und zwar von fast allen Übergangsmetallen einschließlich der Lanthanoide, darunter Komplexe mit einem, zwei und drei Molekülen N2 pro Zentralatom sowie mehrkernige Komplexe, in denen ein N2-Molekül an mehrere Metallatome gebunden ist. Die Koordinationsverhältnisse sind dabei wie folgt:

4

5 6

Unter Nitrogenasen versteht man eine Klasse von Enzymen, die die Reduktion von N2 zu NH3 katalysieren und die clusterartige Reaktionszentren aus Sulfid-verbrückten Eisen- und Molybdänatomen (FeMo-Cofaktor, FeMoco) enthalten, die ihrerseits an Proteine gebunden sind; siehe Y. Hu, B. Schmid, M. W. Ribbe, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3621. F. Barriere, ibid. 2005, 6, 3637. B. M. Barney et al., Dalton Trans. 2006, 2277. D. Sellmann et al., Chem Eur. J. 2004, 10, 819. M. Hidai, Y. Mizobe, Chem. Rev. 1995, 95, 1115. H.-J. Himmel, M. Reiher, Angew. Chem. 2006, 118, 6412. Y. Ohki, M. D. Fryzuk, Angew. Chem. 2007, 119, 3242. P. J. Chirik et al., Organometallics 2007, 26, 2431.

312

9 Stickstoff

M

N

N

M

I M

N

N

N

N

M

N

M N IX

N

M

M

M

V

M

N

II M

N

VI N

M N

M

N

M

M VII

III M

N

N

M

N

M

N VIII

IV

Am weitesten verbreitet ist die end-on-Koordination I bzw. II, jedoch sind in den letzten Jahren auch zahlreiche side-on-Komplexe synthetisiert worden (VIII und IX). Die Synthese der N2-Komplexe sei an einigen Beispielen erläutert: (a) Addition von N2 an einen Komplex mit oder ohne Ligandenaustausch: [Ru(H2O)(NH3)5]Cl2 + N2

[Ru(N2)(NH3)5]Cl2 + H2O

Oft wird ein Vorläuferkomplex in einer Atmosphäre von N2 reduziert. Diese Methode hat die größte Anwendungsbreite. (b) Oxidation eines Hydrazidokomplexes mit H2O2: [CpMn(CO)2(N2H4)] + 2 H2O2

)40°C Cu2+

[CpMn(CO)2(N2)] + 4 H2O

(c) Reduktion eines Metallsalzes mit Hydrazin, das dabei zu N2 oxidiert wird: 2 (NH4)2OsCl6 + 3 N2H4 + 14 NH3

100°C H 2O

2 [Os(N2)(NH3)5]Cl + 10 NH4Cl

(d) Thermolyse eines Azidokomplexes: [Ru(H2O)(NH3)5]2+

+ [N3]) )H2O

[Ru(N3)(NH3)5]+

*T ) 1/2 N2

[Ru(N2)(NH3)5]2+

(e) Azotierung eines Ammin-Komplexes mit Salpetriger Säure: [Os(N2)(NH3)5]Cl2 + HNO2

[Os(N2)2(NH3)4]Cl2 + 2 H2O

313

9.2 N2 als Komplexligand

Die Bindungsverhältnisse in den N2-Komplexen wurden durch Strukturanalysen, spektroskopische Beobachtungen (Infrarot- und Ramanspektren7) und theoretische Untersuchungen an Modellverbindungen aufgeklärt. Danach liegen in den meisten der bei Raumtemperatur isolierbaren Komplexe folgende Strukturelemente vor: M N N M N N M M N N end-on-Koordination in einkernigen Komplexen

N cis-Stellung zweier N2-liganden

N

lineare Brücke in zweikernigen Komplexen

+

+

+

+

+

+

+

In den einkernigen Komplexen entspricht die Bindung der N2-Liganden an das Metallatom weitgehend der Bindung von CO-Liganden in Carbonylkomplexen. Die Gruppe M=N=N ist praktisch linear. Anders als beim CO erfolgt jedoch die Bildung von Brücken zwischen zwei Metallatomen über eine Koordination an beiden N-Atomen eines N2-Moleküls. Die Bindung Metall-N2 besteht aus einer koordinativen σ-Bindung und einer oder zwei koordinativen π-Bindung(en): 7 N N M 4 Die σ-Bindung entsteht durch Überlappung des obersten besetzten σ-Molekülorbitals (3σg) des N2-Moleküls mit einem unbesetzten σ-Orbital des Zentralatoms (Abb. 9.1a). Durch diese Bindung wird von allen Liganden negative Ladung auf das Zentralmetall übertragen. Um diese Ladung teilweise wieder abzubauen, wird über andere Orbitale Elektronendichte auf die Liganden zurückgegeben. Dies geschieht bei den N2-Komplexen durch Überlappung besetzter d-Orbitale des Metalls, die π-Symmetrie zur σ-Bindung besitzen, mit unbesetzten π-Orbitalen des Liganden. Dafür kommen nur die beiden π*-Orbitale des N2-Moleküls in Frage (Abb. 9.1b). Eine π-Bindung kann wegen der Ro-

N2

M (a)

N2

M (b)

Abb. 9.1 Die kovalente Bindung zwischen einem Metallatom (M) und einem N2-Molekül in Distickstoff-Komplexen bei einer end-on-Koordination. (a) σ-Bindung durch Überlappung des HOMOs von N2 (3σg–λ2σg) mit einem σ-Atomorbital von M; (b) π-Bindung (Rückbindung) durch Überlappung eines besetzten d-Atomorbitals von M mit dem LUMO von N2 (1πg). 7

Die NN-Valenzschwingung von N2 ist in der Gasphase IR-inaktiv, in einseitig end-on-gebundenen N2-Liganden jedoch IR-aktiv, da durch die Bindung zum Metallatom ein Dipolmoment induziert wird. Bei beidseitiger symmetrischer end-on-Koordination ist die NN-Schwingung wieder IR-inaktiv, aber im Ramanspektrum beobachtbar, entsprechend dem Alternativverbot, das eine Folge des Inversionszentrums ist.

314

9 Stickstoff

tationssymmetrie der Gruppe M=N=N in zwei zueinander senkrechten Ebenen erfolgen, wenn genügend d-Elektronen am Metall vorhanden sind und die übrigen Liganden dies zulassen. Durch die π-Bindung(en), die man auch Rückbindung nennt, wird zwar die Metall-Ligand-Wechselwirkung verstärkt, da aber am Liganden Orbitale besetzt werden, die bezüglich der NN-Bindung antibindend sind, wird gleichzeitig die NN-Bindung geschwächt. Dies zeigt sich deutlich an den Kernabständen d(NN), die in den meisten N2-Komplexen größer sind als im freien N2-Molekül und die bis zu 155 pm betragen können (im N2: 110 pm). Entsprechend verhalten sich die Wellenzahlen der NN-Valenzschwingungen und die NN-Valenzkraftkonstanten. Die Rückbindung ist für die Stabilität der N2-Komplexe von Übergangsmetallen von entscheidender Bedeutung. Sie setzt voraus, dass das Metall in einer niedrigen Oxidationsstufe vorliegt, damit die d-Orbitale mit Elektronen besetzt sind. Oxidiert man das Metallatom, wird der N2-Ligand eliminiert. Ebenso geben einige N2-Komplexe beim Behandeln mit CO den Stickstoff ab; an dessen Stelle wird dann CO gebunden (irreversibler Ligandenaustausch). Das weist auf eine höhere Stabilität von Carbonyl-Komplexen hin und erklärt, warum bisher keine bei Raumtemperatur beständigen binären Komplexe des Typs M(N2)n erhalten wurden, die den Metallcarbonylen wie Ni(CO)4 und Fe(CO)5 entsprechen würden. Lediglich bei tiefen Temperaturen wurden solche Komplexe spektroskopisch nachgewiesen. Die thermische Beständigkeit der N2-Komplexe ist sehr unterschiedlich. Einige zersetzen sich erst bei 300°C. Die Reaktivität dieser Komplexe wird zwar intensiv erforscht, hat jedoch noch nicht zu praktischen Anwendungen geführt. Die Protonierung von koordiniertem N2 zu NH3 gelingt nur in wenigen Fällen. Jedoch wurden auf anderem Wege Komplexe mit den Liganden N2H2 und N2H4 hergestellt. Bei der enzymatischen Reduktion von N2 zu NH3 sind N2H2 und N2H4 als Zwischenprodukte anzunehmen. Spektroskopische Untersuchungen zeigen, dass auch kompakte Metalle an ihrer Oberfläche N2 binden können und es ist erwiesen, dass bei der technischen NH3-Synthese primär eine komplexe Bindung zwischen dem metallischen Eisen des Katalysators und dem molekularen N2 entsteht (Abschnitt 9.4.2).

9.3

Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen

Als erstes Element der 15. Gruppe verfügt das Stickstoffatom über fünf Valenzelektronen mit der Anordnung 2s2px1py1pz1 (4S-Grundzustand). Die Valenzschale enthält keine d-Orbitale und ab-initio-Rechnungen zeigen, dass die energetisch sehr viel höher liegenden nächsten unbesetzten Niveaus 3s und 3p für die kovalenten Bindungen in N-Verbindungen ohne Bedeutung sind. Wie alle Nichtmetalle der ersten Achterperiode strebt das N-Atom formal die Elektronenkonfiguration des Neons an. Ausgehend von der Konfiguration 2s2p3 gelingt das durch Errichtung von drei kovalenten Bindungen oder durch Bildung entsprechender Ionen, wie folgende Beispiele zeigen: kovalent: kovalent und ionisch: ionisch:

NH3, NF3, NCl3 [NH2]– im KNH2, [NH]2– im Li2NH N3– im Li3N und im Ba3N2, [N2]2– im SrN2

315

9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen

Die Koordinationszahl des N-Atoms kann in seinen Verbindungen alle Werte zwischen 1 (N2) und 8 (Li3N) annehmen. Ähnlich wie Kohlenstoff und Sauerstoff, die Nachbarn des Stickstoffs im Periodensystem, hat auch das N-Atom eine ausgeprägte Neigung, Mehrfachbindungen einzugehen. Geeignete Partner für starke π-Bindungen sind vor allem die Atome C, N, O, P und S. Folgende Beispiele illustrieren diesen Bindungstyp: R

C

N

N N

kovalente Cyanide und Cyanokomplexe

R

NR

F

kovalente Imide

N N

N

O

Nitrosyl-Ion

Distickstoff

R C

N

F

O N O

Difluorodiazen

Nitronium-Ion

SF3

Schwefelnitridtrifluorid S RN

NR

Schwefeldiimide

Außer den drei ungepaarten 2p-Elektronen kann auch noch das nichtbindende Elektronenpaar des N-Atoms zur Errichtung kovalenter Bindungen herangezogen werden.8 Dabei handelt es sich formal um koordinative Bindungen, wie sie in den Ionen [NH4]+, [NF4]+ und [N2H6]2+ sowie in folgenden Verbindungen vorliegen: F F

R B

F

R

N

O

F O

N

F

R

F

BortrifluoridTrialkylamin

Trifluoraminoxid

O

N

[Cu(NH3)4]2.

H

O Salpetersäure

KupfertetramminIon

In diesen Fällen handelt es sich um koordinative σ-Bindungen. Daneben hat das dreiwertige N-Atom auch noch die Möglichkeit zur Bildung koordinativer π-Bindungen, beispielsweise im Molekül O=NF3, das nach neueren theoretischen Untersuchungen besser mit einer Doppelbindung zum O-Atom geschrieben wird, da der Kernabstand und die Elektronendichte zwischen N und O einer solchen Bindung entsprechen.9 Verbindungen des Typs R3N (R = beliebiger Rest) sind am Zentralatom pyramidal gebaut und verhalten sich normalerweise als LEWIS-Basen. Die Wechselwirkungsenergie hängt dabei stark von den Substituenten R ab. Sie beträgt beispielsweise gegenüber der LEWIS-Säure SO3 beim NH3 82.0 kJ mol–1, beim NMe3 151.9 kJ mol–1 und beim Pyridin 25.5 kJ mol–1. Diese Energien korrelieren mit der Energiedifferenz zwischen dem Donororbital der Base und dem virtuellen Akzeptororbital (LUMO) von SO3. Auch gegenüber BCl3 und AlCl3 ist Trimethylamin eine stärkere Base als Ammoniak.

8

9

Viele Stickstoffverbindungen, anorganische und organische, eignen sich wegen der nichtbindenden Elektronen am Stickstoffatom als N-Donor-Liganden in Metallkomplexen; siehe D. A. House, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 210. I. Love, J. Phys. Chem. A 2006, 110, 10507.

316

9 Stickstoff

Die Valenzwinkel von Aminen R3N liegen im Allgemeinen in der Nähe des Tetraederwinkels (siehe Tab. 2.5). Moleküle dieser Art sind zu pyramidaler Inversion befähigt, worunter man eine intramolekulare Umlagerung versteht, die zu einer äquivalenten Konformation führt, bei der sich das N-Atom auf der anderen Seite der Ebene befindet, die durch die drei an das Stickstoffatom gebundenen Atome definiert wird. Diese Umlagerung sei am Beispiel des NH3 erläutert: N H

H

H

H

C3v

N

H

H

D3h

H

H N

H

C3v

Diese Reaktion wird durch ein symmetrisches Doppelminimumpotential beschrieben; der planare Übergangszustand ist von D3h-Symmetrie.10 Die Planarisierung ist die Fortsetzung der symmetrischen Deformationsschwingung des NH3-Moleküls. Im Falle von NH3 und den Methylaminen MexNH3–x (x = 0–3) haben die Energiebarrieren (Eb) zwischen den beiden pyramidalen Konformationen folgende Werte: 24 kJ mol–1 (NH3), 20 kJ mol–1 (MeNH2) und 31 (Me3N) kJ mol–1. Daher tritt bei Raumtemperatur sehr häufig Inversion ein. Im Falle von NH3 erfolgt die Inversion wegen eines Tunneleffektes im Prinzip selbst bei 0 K, d.h. das isolierte Molekül hat bei allen Temperaturen eine dynamische Struktur.11 Bei Ammoniakderivaten hängt die Höhe der Barriere von den Substituenten R ab. Elektronegative Substitutenten erhöhen Eb (Beispiel NF3: ca. 300 kJ mol–1). Amine mit drei verschiedenen Substituenten (R1R2R3N) sind chiral, in welchem Falle die beiden oben erwähnten Konformationen Spiegelbilder voneinander sind (Enantiomere). Eine Trennung der beiden Enantiomere ist jedoch wegen der raschen Racemisierung durch pyramidale Inversion im Allgemeinen nicht möglich. Viele formale Derivate des Ammoniaks sind am N-Atom nicht pyramidal sondern planar gebaut. Ein Beispiel hierfür ist Trisilylamin N(SiH3)3, das ein planares Gerüst NSi3 aufweist: SiH3 H3Si

N

SiH3

d(NSi) = 173.4 2 0.2 pm Winkel (SiNSi) = 119.7 2 0.1°

Zur Erklärung der ebenen Geometrie am Stickstoff nimmt man eine teilweise Delokalisierung des nichtbindenden Elektronenpaares in unbesetzte Orbitale an den Silylgruppen an (koordinative π-Bindung). Dabei könnte es sich theoretisch um die 3d-Orbitale der SiAtome handeln, aber energetisch tiefer liegen die σ*-Molekülorbitale der SiH-Bindungen. Diese können im Rahmen einer negativen Hyperkonjugation Elektronendichte aufnehmen. Die Folgen dieser koordinativen π-Bindung sind: 10

11

Auch bei PH3, AsH3, NF3 und NCl3 erfolgt die Inversion über einen trigonal-planaren Übergangszustand, nicht jedoch bei PF3, PCl3, PBr3 und den anderen Halogeniden der schwereren Pnictide. Diese Moleküle invertieren über einen T-förmigen Übergangszustand von C2v-Symmetrie (vgl. die Struktur von ClF3); P. Schwerdtfeger, P. Hunt, Adv. Mol. Struct. Res. 1999, 5, 223. Im kristallinen NH3 sind alle H-Atome durch Wasserstoffbrückenbindungen zu Nachbarmolekülen fixiert; siehe Kap. 5.6.2.

317

9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen

(a) (b) (c) (d)

Vergrößerung der Valenzwinkel am N-Atom, Verstärkung der Bindungen SiN, Verringerung der LEWIS-Basizität des N-Atoms und Schwächung der SiH-Bindungen.

π-Bindungen dieser Art sind immer dann zu erwarten, wenn dem Elektronendonor ein Akzeptor benachbart ist und die Energiedifferenz zwischen dem HOMO des Donors und dem LUMO des Akzeptors nicht zu groß ist (Kap. 2.5). Dabei muss die Delokalisierung der Stickstoffelektronen in die Akzeptororbitale nicht besonders weitgehend sein. Entscheidend ist, dass die Elektronenübertragung aus dem HOMO am N-Atom erfolgt, während ein einfacher Abzug von Elektronen durch stark elektronegative Nachbargruppen allein nicht zu einer planaren Geometrie führt. So ist zwar das Radikal-Kation [NH3]•+ planar, das Molekül NF3 aber nicht (Winkel FNF = 102.2°). Weitere Verbindungen mit π-Bindungen dieser Art sind:

SO3 H3Si

N

C

S

Winkel (SiNC) = 180°

O 3S

N

SO3

Winkel (SNS) = 120°

In den Hydrazinderivaten (H3Si)2N–N(SiH3)2, (Me3Si)2N–N(SiMe3)2 und (Cl3Si)2N– N(SiCl3)2 ist die Geometrie an den N-Atomen ebenfalls planar. Auch die sterische Abstoßung großer Substitutenten kann ein Grund für planare Geometrie am N-Atom sein. Dies ist beispielsweise bei den perfluorierten Aminen (C2F5)3N und (C3F7)3N der Fall. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass ähnliche koordinative π-Bindungen auch von O-Atomen (Kap. 11.2) und F-Atomen (Kap. 13.4.5) gebildet werden, so dass der Stickstoff darin keine Ausnahme bildet. Bei den höheren Homologen des Stickstoffs führen diese π-Bindungen nicht zu einer Planarisierung, da die Inversionsbarriere hier viel höher ist. Daher enthalten die Moleküle P(SiH3)3 und As(SiH3)3 pyramidale Gerüste PSi3 bzw. AsSi3. Die folgenden Stickstoffverbindungen zeigen, dass das N-Atom in seinen Verbindungen in allen Oxidationsstufen zwischen –3 und +5 vorkommen kann: –3

–2

–1

0

+1

+2

+3

+4

+5

NH3

N2H4

N2H2

N2

N2F2

NO

NF3

NO2

N2O5

Gemischtvalente Verbindungen mit N-Atomen in verschiedenen Oxidationsstufen sind beispielsweise das Oxid N2O3 und das Nitramid Η2Ν–NO2. Bindungsenthalpien und Bildungsenthalpien Wegen der außergewöhnlich großen Dissoziationsenthalpie des N2-Moleküls sind zur Herstellung von Stickstoffverbindungen aus den Elementen oft beträchtliche Reaktionsenthalpien erforderlich. Selbst die Oxidation mit Disauerstoff, die bei den meisten Elementen exotherm verläuft, ist hier endotherm: 1 2

N2 +

1 2

O2

NO

° = 90.3 kJ mol)1 (NO) *H298

318

9 Stickstoff

Verbindungen mit einer positiven Standard-Bildungsenthalpie heißen endotherm. Dazu gehören alle gasförmigen Stickstoffoxide, die Azide, Hydrazin, S4N4 und NCl3. Diese Verbindungen sind bei Raumtemperatur metastabil und neigen zur spontanen Zersetzung, wenn die Aktivierungsenergie der Zerfallreaktion klein ist (z.B. bei AgN3 und NCl3) oder wenn sie durch einen Katalysator herabgesetzt wird (z.B. bei N2H4 durch Cu2+-Ionen). Als ein Reaktionsprodukt entsteht bei einer solchen Zersetzung gewöhnlich N2 oder eine andere stabile, d.h. exotherme Stickstoffverbindung. Exotherme N-Verbindungen sind NH3, Li3N, NF3 und N2F4. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass bei der Reaktion zweier endothermer Stickstoffverbindungen unter Bildung von N2 ungewöhnlich viel Enthalpie frei werden muss. Solche Reaktionen sind daher zum Betrieb von Raketenmotoren geeignet. Beispielsweise wird in der Oberstufe der europäischen Rakete „Ariane“ als Brennstoff Methylhydrazin MeHN–NH2 und als Oxidationsmittel flüssiges N2O4 verwendet. Bei der Vermischung dieser Komponenten tritt eine spontane Kaltreaktion ein und nach Zündung eine Verbrennung mit roter Flamme zu drei extrem stabilen Verbindungen: 4 MeHN

NH2 + 5 N2O4

9 N2 + 4 CO2 + 12 H2O

Bei dieser Reaktion werden unter Standardbedingungen –4742 kJ mol–1 pro Formelumsatz oder –1186 kJ mol–1 pro Mol Methylhydrazin freigesetzt! Einfachbindungen zwischen zwei Stickstoffatomen wie im Hydrazin sind meistens schwach und werden daher besser als Teilbindungen bezeichnet. Das liegt unter anderem an der Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare im Strukturelement >N–N< (Kap. 4.2.2). Der gleiche Effekt tritt bei Bindungen vom Typ >N–O– auf. Als Folge dieser Bindungsschwächung sind Hydrazin N2H4 und Hydroxylamin NH2OH von geringer thermischer Stabilität und höhere Homologe dieser Verbindungen wie Triazan H2N–NH–NH2 und Hydroxylhydrazin H2N–NH–OH konnten bisher nicht in reiner Form isoliert werden. Für diese Verbindungen ist eine ähnlich geringe Stabilität zu erwarten, wie sie bei H2O3 und H2O4, den höheren Homologen des Wasserstoffperoxids, beobachtet wurde. Die geringe NN-Einfachbindungsenthalpie ist auch verantwortlich dafür, dass elementarer Stickstoff als N2 und nicht als tetraedrisches N4 (wie P4) oder als polymeres Nx in Analogie zu rotem oder schwarzem Phosphor (Px) existiert. Beständiger als N2H4 sind dessen Salze, die das Kation [N2H6]2+ enthalten. Darin ist die NN-Bindung wesentlich stabiler als im N2H4, da jetzt die Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare entfällt. Die beiden positiven Ladungen sind über die sechs H-Atome delokalisiert, da deren Elektronegativität geringer ist als die von Stickstoff. Aus dem gleichen Grunde lassen sich zwar Triazaniumsalze mit dem Kation [H2N–NH2–NH2]+ herstellen, aber Triazan N3H5 selbst ist nicht bekannt. Die am mittleren N-Atom des Kations [N3H6]+ doppelt organylsubstituierten Triazaniumsalze sind sogar ziemlich stabil. Auch durch induktive Substitutenteneffekte lassen sich NN-Einfachbindungen stabilisieren, da dabei ebenfalls positive Partialladungen erzeugt werden und damit die Elektronenpaarabstoßung vermindert wird. Ein Beispiel dafür ist das Hexakis(trifluormethyl)tetrazan R2N–NR–NR–NR2 (R = CF3), eine farblose Flüssigkeit von erheblicher thermischer Stabilität. Die N4-Kette der gasförmigen Verbindung ist helical mit einem Torsionswinkel von 95° an der mittleren NN-Bindung; die Koordination an den N-Atomen ist fast planar, was mit einer negativen Hyperkonjugation der nichtbindenden Elektronenpaare mit den σ*-MOs der CF-Bindungen erklärt werden

319

9.3 Bindungsverhältnisse in Stickstoffverbindungen

kann.12 Etwas beständiger sind längere Ketten auch manchmal dann, wenn einerseits aromatische Substituenten verwendet werden und andererseits einige Doppelbindungen vorhanden sind. So kennt man die kettenförmigen Verbindungen Triazen PhN=Ν–NMe2, Pentadiazen PhN=N–NMe–N=NPh, Hexadiazen PhN=N–NPh–NPh–N=NPh und Octatriazen PhN=N–NPh–N=N–NPh–N=NPh sowie das cyclische Phenylpentazol, dem ein fast planarer, aromatischer Fünfring zugrunde liegt:13 N Ph

N

N

N N Bei der thermischen Zersetzung von Phenylpentazol entstehen Phenylazid und N2. Stickstoffreiche hochenergetische Moleküle und Salze sind ein aktuelles Forschungsgebiet.14 Ein Beispiel ist das schon lange bekannte Natriumazotetrazolat, das durch Oxidation von 5-Aminotetrazol mit alkalischer KMnO4-Lösung bei 100°C erhalten wird und dessen Derivate mit anderen Kationen im wasserfreien Zustand extrem reib- und stoßempfindlich sind:

2

N N

N

N NH2

+ KMnO4, NaOH ) MnO2, H2O

(Na+)

2

N

NH

N N

N N

N

N N

N

Einige Stickstoffverbindungen liegen bei Raumtemperatur als stabile freie Radikale vor. Dazu gehören die Oxide NO und NO2, das Fluorid NF2 und das Dikalium-stickstoffoxidbis-sulfat (FREMY’s Salz) K2[ON(SO3)2], das bei der Reaktion von NO mit K2SO3 entsteht. Diese Verbindungen sind open-shell-Moleküle, da keine abgeschlossene Elektronenkonfiguration (closed shell) erreicht wird. Die ungepaarten Elektronen sind in der Regel delokalisiert. Alle diese Radikale stehen im Gleichgewicht mit entsprechenden Dimeren, die diamagnetisch sind und in kondensierten Phasen vor allem bei tiefen Temperaturen vorherrschen. Die aus der Temperaturabhängigkeit dieser Gleichgewichte bestimmten Dissoziationsenthalpien sind, soweit bekannt, sehr unterschiedlich und, verglichen mit normalen Einfachbindungsenthalpien, relativ klein:

12 13 14

° : 8.7 kJ mol)1 *H298

N2O2

2 NO

N2O4

2 NO2

57 kJ mol)1

N 2O 3

NO + NO2

40.5 kJ mol)1

N2F4

2 NF2

87 kJ mol)1

H. Oberhammer et al., Angew. Chem. 1995, 107, 645. Röntgenstrukturanalyse: J. D. Wallis, J. D. Dunitz, J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1983, 910. Die NN-Kernabstände liegen im Bereich 130–135 pm. J. M. Shreeve et al., Angew. Chem. 2006, 118, 3664.

320

9 Stickstoff

Die Moleküle N2O2, N2O4, N2O3 und N2F4 enthalten im Grundzustand NN-Bindungen, die wegen der Delokalisierung nichtbindender Elektronendichte der O- bzw. F-Atome in das antibindende σ*-MO der NN-Bindung relativ schwach sind (negative Hyperkonjugation). Eine Tabelle mit NO-Kernabständen findet sich im Kapitel 4.3 (Tab. 4.4).

9.4

Hydride des Stickstoffs

9.4.1 Allgemeines Vom Stickstoff sind vier flüchtige und in reiner Form herstellbare Hydride bekannt, nämlich Ammoniak NH3, Hydrazin H2N–NH2, Hydrogenazid HN3 und Tetrazen H2N–N=N–NH2. Weitere binäre N–H-Verbindungen sind die Salze Ammoniumazid [NH4]N3 und Hydraziniumazid [N2H5]N3. Darüber hinaus spielt die unbeständige Verbindung Diazen HN=NH eine Rolle als Zwischenprodukt. Ammoniak ist mit einer Weltjahresproduktion von 1.4·108 t das bei weitem wichtigste Stickstoffhydrid, das zu ca. 87 % zu Düngemitteln verarbeitet wird. Aus NH3 werden aber auch viele andere Stickstoffverbindungen hergestellt. In flüssiger Form wird NH3 als wasserähnliches Lösungsmittel (Kap. 9.4.8) und wegen seiner hohen Verdampfungsenthalpie als Kältemittel in Kühlaggregaten verwendet.

9.4.2 Ammoniak NH3 Ammoniak wird in exothermer Reaktion aus den Elementen hergestellt, wobei man durch hohe Temperaturen (400–500°C) und Verwendung eines Katalysators für eine Aktivierung des N2-Moleküls und dadurch für eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit sorgt (HABER-BOSCH-Verfahren): N2 + 3 H 2

2 NH3

° = )91.8 kJ mol)1(N2) *H298

Als Katalysator dient metallisches α-Eisen verteilt auf Al2O3 mit den Promotoren CaO und K2O, die die Standfestigkeit des Katalysators erhöhen, indem sie das Kristallwachstum der kleinen Eisenpartikel behindern.15 Wegen der Volumenabnahme (negatives Reaktionsvolumen) kann die Gleichgewichtslage durch Anwendung hoher Drucke (20–40 MPa) im Sinne der NH3-Bildung beeinflusst werden. In Abbildung 9.2 ist die NH3-Gleichgewichtskonzentration als Funktion von Druck und Temperatur dargestellt. Die Abtrennung des NH3 vom nicht umgesetzten H2-N2-Gemisch erfolgt durch Kondensation. Auf diese Weise wird NH3 technisch in riesigem Umfang aus Synthesegas und Luftstickstoff erzeugt und hauptsächlich zu Düngemitteln wie [NH4]2[SO4], [NH4][NO3] und (H2N)2CO (Harnstoff) sowie zu Salpetersäure verarbeitet. Die erste auf dem HABER15

K. H. Büchel, H.-H. Moretto, P. Woditsch, Industrielle Anorganische Chemie, 3. Auflage, WileyVCH, Weinheim, 1999.

321

9.4 Hydride des Stickstoffs Vol-%

90 80

NH3

70 1000 bar

60

600 bar

50

500 bar

40

400 bar

30

300 bar 200 bar

20

100 bar

10 0

50 bar

200

300

400

500

600

700

Temperatur (°C)

Abb. 9.2 HABER-BOSCH-Verfahren: Gleichgewichtskonzentration von NH3 im Gemisch mit H2 und N2 als Funktion von Temperatur und Druck bei einem ursprünglichen Molverhältnis H2:N2 = 3:1.

BOSCH-Verfahren basierende Ammoniak-Fabrik der Welt ging 1913 bei der BASF in Oppau in Betrieb, ab 1917 wurde auch in Leuna bei Merseburg Ammoniak hergestellt.16 Der Reaktionsmechanismus der Ammoniak-Synthese ist weitgehend aufgeklärt.17 Sowohl N2- als auch H2-Moleküle werden an der Oberfläche der Eisenkristalle erst adsorbiert, dann durch Elektronenübertragung vom Metall auf die Liganden chemisch gebunden (siehe Komplexe mit den Liganden H2 und N2: Kap. 5.7.3 und 9.2) und dabei in die Atome N und H gespalten, so dass ein gemischtes Eisenhydrid und -nitrid entsteht. Bemerkenswerterweise sind die Reaktionen von N2 und H2 mit metallischem Eisen zu Fe–Hund Fe–N-Gruppen trotz der sehr hohen Dissoziationsenthalpien exotherm! Diese chemisorbierten Atome reagieren dann miteinander über gebundene NH- und NH2-Radikale zu NH3, das schließlich desorbiert wird. Im Handel ist NH3 in verflüssigter Form in Stahlflaschen erhältlich (Sdp. –33.4°C). Im Labor kann man es auch aus Ammoniumsalzen nach NH4Cl + NaOH

NH3 + NaCl + H2O

herstellen. Schon 100 ppm NH3 in der Luft rufen Augenreizungen hervor. Beim Erhitzen zerfällt NH3 teilweise in die Elemente. In Gegenwart von Luft oder O2 wird es in der Hitze zu N2 und H2O oxidiert. Leitet man jedoch NH3-Luft-Gemische über einen netzartigen Pt/Rh-Katalysator, so findet bevorzugt folgende Reaktion statt: 2 NH3 +

16 17

5 2

O2

2 NO + 3 H2O

° = )103 kJ mol)1 *H298

FRITZ HABER erhielt den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1918, CARL BOSCH den des Jahres 1931. Für die Aufklärung der elementaren Schritte bei der heterogenen Katalyse erhielt GERHARD ERTL den Chemie-Nobelpreis des Jahres 2007(Nobelvortrag: Angew. Chem. 2008, 120, 3578).

322

9 Stickstoff

Die angegebene Enthalpie bezieht sich auf den Formelumsatz; pro Mol NO werden also nur 227 kJ mol–1 freigesetzt. Das industriell bei einer Temperatur von 800–940°C und einem Druck von 0.1–0.5 MPa in hoher Ausbeute hergestellte NO reagiert beim Abkühlen mit weiterem O2 zu NO2, aus dem man durch Einleiten in Wasser Salpetersäure gewinnt: 2 NO2 +

1 2

O2 + H2O

2 HNO3

Auf diesen Reaktionen basiert die technische Salpetersäureherstellung (OSTWALD-Verfahren), die in Deutschland großtechnisch im Jahre 1915 bei der BASF eingeführt wurde und die den Import von Chilesalpeter im Laufe der folgenden Jahre überflüssig machte. Eine weitere industrielle Synthese mit NH3 ist die Herstellung von Cyanwasserstoff, die sehr hohe Temperaturen erfordert: CH4 + NH3

HCN + 3 H2

° = 20/ kJ mol)1 *H298

Durch Umsetzung mit Natron- oder Kalilauge werden aus HCN die Cyanide KCN und NaCN hergestellt (Kap. 7.8). Alle drei Verbindungen sind extrem giftig. Ammoniak ist ein stechend riechendes Gas, das sich sehr gut und exotherm in Wasser löst. Konzentrierte Lösungen enthalten bis zu 35 Massen-% NH3. Die hohe Löslichkeit ist auf die strukturelle Verwandtschaft von H2O und NH3 und ihre Fähigkeit zur intermolekularen Bildung von Wasserstoffbrücken zurückzuführen (Kap. 5.6). Diese Lösungen enthalten das meiste NH3 physikalisch gelöst, aber solvatisiert. Die elektrische Leitfähigkeit und das basische Verhalten der Lösungen zeigen jedoch folgendes Gleichgewicht an: NH3 + H2O

[NH4]+ + [OH])

Das Gleichgewicht liegt ganz auf der linken Seite. Die Basenkonstante Kb = c(NH)·c(OH–)/c(NH3) beträgt bei 25°C nur 1.8·10–5 mol L–1. Daher ist selbst in einer 0.1 molaren NH3-Lösung bei 25°C das NH3 zu weniger als 1 % ionisiert, d.h. wässriges Ammoniak ist eine sehr schwache Base.18 Eine Verbindung NH4OH existiert nicht, jedoch wurden bei tiefen Temperaturen die kristallinen Hydrate NH3·H2O und 2NH3·H2O nachgewiesen, die durch Wasserstoffbrücken-Bindungen charakterisiert sind und die keine Ammonium-Ionen enthalten. Mit stärkeren Protonendonoren wie HCl, H2SO4 oder HNO3 reagiert NH3 praktisch quantitativ zu den entsprechenden Ammoniumsalzen, die in großer Zahl bekannt sind und die wegen der ähnlichen Kationenradien von [NH4]+ und K+ meistens ähnliche Löslichkeiten besitzen wie die entsprechenden Kaliumsalze. Die Ammoniumsalze enthalten das mit [BH4]– und CH4 isoelektronische und regulär tetaedrisch gebaute [NH4]+-Ion. Sie sind in wässriger Lösung vollständig dissoziiert, wobei die Lösung infolge Hydrolyse schwach sauer reagiert, wenn es sich um das Salz einer starken Säure handelt: [NH4]+ + H2O

NH3 + [H3O]+

pKa(NH+4) = 9.25

Das [NH4]+-Ion ist also in Wasser eine schwache Säure (pKa = 9.5). NH4Cl ist ein Nebenprodukt des SOLVAY-Prozesses zur Sodaherstellung (Kap. 7.7). Die Salze [NH4]2[SO4] und NH4NO3 werden in großem Umfang als Stickstoffdünger19 verwendet, während NH4Cl 18 19

Bezüglich starker Stickstoffbasen vgl. Kapitel 5.6.4. Ammoniumsulfat fällt in großen Mengen bei der Caprolactam-Synthese an.

323

9.4 Hydride des Stickstoffs

unter anderem als Elektrolyt in Trockenbatterien dient. Ein weiterer wichtiger StickstoffDünger ist der Harnstoff, der industriell wie folgt aus NH3 und CO2 hergestellt wird: 2 NH3 + CO2 NH4[NH2COO]

NH4[NH2COO]

° = )!!- kJ mol)1 *H298

(NH2)2CO + H2O

° = !6 kJ mol)1 *H298

Das in der ersten Stufe bei 170–190°C/13–20 MPa in schneller Reaktion aus flüssigem Ammoniak und CO2 erhaltene Ammoniumcarbamat zersetzt sich anschließend langsamer zu Harnstoff und Wasser. Harnstoff ist ein farb- und geruchloser Feststoff, der sehr gut wasserlöslich ist und der daher im Winter auch zum Enteisen von Straßen und von Landebahnen auf Flughäfen verwendet wird. Das Enzym Urease katalysiert die Hydrolyse von Harnstoff zu NH3 und CO2. Ammoniumnitrat zersetzt sich bei Erhitzen je nach Bedingungen zu H2O, N2, N2O und NO2, und diese Zersetzung kann explosionsartig erfolgen. Katastrophale Unglücke mit explodierenden Düngemittellagern haben sich in Europa ereignet (im Jahre 1921 in Ludwigshafen und 2001 in Toulouse). Im Gemisch mit 6 % Dieselöl wird NH4NO3 als preiswerter Sprengstoff (Handelsname ANFO) in Steinbrüchen eingesetzt. Die H-Atome des NH3-Moleküls können unter wasserfreien Bedingungen durch stark elektropositive Metalle ersetzt werden. So reagiert gasförmiges NH3 mit Alkalimetallen beim Erhitzen zu salzartigen Amiden: Li + NH3

400°C

LiNH2 +

1 H 2 2

Einige Amide gehen beim stärkeren Erhitzen unter NH3-Abspaltung erst in Imide, dann in Nitride über: 2 MNH2

M2NH + NH3

3 M2NH

2 M3N + NH3

Diese Salze enthalten im Falle der Alkali- und Erdalkalimetalle formal die Ionen [NH2]–, [NH]2– und N3–. Sie werden von Wasser augenblicklich zu NH3 und Metallhydroxid zersetzt (Hydrolyse). Alle Nichtmetalle mit Ausnahme einiger Edelgase sind zur Bildung kovalenter Element-Stickstoff-Bindungen befähigt, und die Zahl der entsprechenden Verbindungen ist unübersehbar groß. Die beiden wichtigsten Reaktionen zur Errichtung von kovalenten Element-Stickstoff-Bindungen sind: E X + H

N

E N

+ HX

E: B, C, Si, N, P, As, S, Se, Cl X: F, Cl (Br, I) E

OH + H

N

E

N

+ H 2O

E: B, N, P, S, Cl

Auf diese Weise werden aus Ammoniak, Amiden und Imiden viele wichtige Verbindungen hergestellt, die bei den betreffenden Elementen behandelt werden.

324

9 Stickstoff

9.4.3 Hydrazin N2H4 Hydrazin20 ist eine der wenigen Verbindungen mit einer NN-Einfachbindung. Diese Bindung hat aus den im Kapitel 4.1 erwähnten Gründen nur eine niedrige Bindungsenthalpie. Hydrazin ist deswegen eine endotherme Verbindung (Bildungsenthalpie bei 298 K: 95.4 kJ mol–1) und seine Herstellung und Handhabung setzen schonende Bedingungen voraus. In den meisten Fällen werden jedoch wässrige Lösungen mit maximal 64% N2H4 eingesetzt, so genanntes Hydrazinhydrat, das ein azeotropes Gemisch genau dieser Zusammensetzung bildet und das gefahrlos gehandhabt werden kann. In Deutschland und den USA wird Hydrazin hauptsächlich nach dem BAYER-Verfahren hergestellt, das eine Modifizierung des älteren RASCHIG-Verfahrens darstellt. Hierbei wird konzentriertes NH3(aq) mit verdünnter Hypochloritlösung und Aceton bei 35°C vermischt, wobei ein Ketazin entsteht: NH3 + NaOCl

NH2Cl + NaOH

NH2Cl + NH3 + NaOH + 2 Me2CO

Me2C

N

N

CMe2 + NaCl + 3 H2O

Anschließend werden zunächst das überschüssige Ammoniak und dann ein Aceton-Wasser-Azeotrop bei 95°C aus der Mischung abdestilliert. Danach wird das Ketazin bei 180°C mit Wasser unter Druck hydrolysiert: Me2C

N

N

CMe2 + 2 H2O

N2H4 + 2 Me2CO

Das freigesetzte Aceton destilliert ab und kehrt in den Kreislauf zurück. Die zurückbleibende N2H4-Lösung wird durch Eindampfen bis auf ca. 64 % konzentriert. Durch Destillation über festem NaOH kann ein N2H4-Gehalt von etwa 95 % erhalten werden. Wasserfreies Hydrazin stellt man durch Entwässern dieses Konzentrates mit BaO [→Ba(OH)2] oder mit Ba3N4 (Bariumpernitrid) her, das mit H2O quantitativ zu Ba(OH)2, N2H4 und N2 reagiert. Reines N2H4 ist eine farblose, ölige Flüssigkeit (Schmp. 2°; Sdp. 114°C), die an der Luft stark raucht. Beim Erhitzen oder bei Initialzündung explodiert N2H4 mit großer Gewalt, wobei N2 und NH3 entstehen. Das Molekül N2H4 ist in der Gasphase ähnlich verdrillt gebaut wie H2O2; die beiden NH2-Gruppen sind um den Torsionswinkel τ = 91° gegeneinander verdreht (gauche-Konformation; Symmetrie C2). Daher besitzt das Molekül ein Dipolmoment von 1.84 D. Der NN-Kernabstand beträgt 144.7 pm. Bei einer Torsion um die NN-Bindung muss eine Barriere von 12.8 kJ mol–1 (τ = 180°) bzw. 41.8 kJ mol–1 (τ = 0°) überwunden werden.21 Mit Wasser ist Hydrazin unbegrenzt mischbar. Sowohl N2H4 als auch seine wässrige Lösung sind stark toxisch. Die wässrige Lösung reagiert als Reduktionsmittel, als schwache Base und als Komplexbildner. Halogene werden von N2H4 zu Halogenwasserstoffen, Cu(II)-Salze zu Kupfer(I)-oxid und dann zu metallischem Kupfer, Silber- und Quecksilbersalze sofort zu den Metallen reduziert. An der Luft tritt langsame Autoxidation von N2H4 ein. Charakteristische Reaktionen sind auch die Reduktion von Selenit und Tellurit zu elementarem Se bzw. Te. In allen diesen Fällen wird N2H4 zu N2 oxidiert. 20 21

E. W. Schmidt, Hydrazine and its Derivatives, Vol. 2, Wiley, Chichester, 2001. J.-W. Son, H.-J. Lee, Y.-S. Choi, C.-J. Yoon, J. Phys. Chem. A 2006, 110, 2065.

325

9.4 Hydride des Stickstoffs

N2H4 ist eine bifunktionelle Base, von der sich zwei Reihen von Salzen mit den Kationen [N2H5]+ und [N2H6]2+ ableiten (pKb1 = 6.1; pKb2 = 15). Diese Ionen sind mit den Molekülen CH3NH2 bzw. C2H6 isoelektronisch. Die [N2H5]+-haltigen Salze lösen sich in Wasser unter einfacher Dissoziation, die [N2H6]2+-haltigen erleiden dagegen starke Hydrolyse nach [N2H6]2+ + H2O

[N2H5]+ + [H3O]+

Die wichtigsten Salze sind Hydraziniumsulfat [N2H6][SO4] und -hydrogensulfat [N2H5][HSO4]. Bereits in der ersten Protonierungsstufe ist Hydrazin in Wasser eine schwächere Base als NH3. Wie dieses bildet es aber mit bestimmten Metall-Ionen Komplexe, wobei N2H4 als zweizähniger N-Donor-Ligand fungiert, z.B. in [M(N2H4)2]Cl2 mit M = Mn, Fe, Co, Ni, Cu oder Zn. Hydrazinhydrat wird zur Korrosionsunterdrückung in Dampferzeugungsanlagen und als Reduktionsmittel verwendet. Daneben dient es zur Synthese von organischen Hydraziden, die als Insektizide, Herbizide oder Pharmaka eingesetzt werden.22 Ein typisches Hydrazinderivat im Pharmasektor ist das klassische Tuberkulose-Medikament Neoteben: O H N

C

N NH2

Wasserfreies Hydrazin und Methylhydrazin werden als Raketentreibstoffe verwendet, wobei N2O4 als Oxidationsmittel dient, beispielsweise in der 3. Stufe der europäischen Rakete Ariane 5.

9.4.4 Diazen (Diimin) N2H223 Das Molekül HN=NH ist der Grundkörper der organischen Azoverbindungen, z.B. von Azobenzol (PhN=NPh). Diimin ist äußerst instabil (endotherm) und nur in der Gasphase bei sehr kleinem Partialdruck, in Lösungen als Zwischenprodukt und in festen Matrizen bei Temperaturen unterhalb –165°C nachgewiesen worden. Auch Metallkomplexe mit dem Liganden N2H2 sind charakterisiert worden. Bei Normalbedingungen disproportioniert N2H2 zu N2H4 und N2 oder zerfällt zu N2 und H2. Von den drei planaren Isomeren H N H

H

N

N H

N

N

N

H

H trans cis iso ist die trans-Form am stabilsten, die cis-Form ist um 22 kJ mol–1 energiereicher und die iso-Form ist am instabilsten. trans-N2H2 entsteht bei der Thermolyse von Phenylsulfonylhydrazid Ph–SO2–NH–NH2 bei ca. 120°C mit anschließender Kondensation bei –196 °C. Das Derivat Methyldiazen MeNNH lässt sich dagegen in reiner Form isolieren.

22 23

Chemie unserer Zeit 2003, 37, 88–127 (3 Aufsätze). D. Sellmann, A. Hennige, Angew. Chem. 1997, 109, 270 und zitierte Literatur.

326

9 Stickstoff

Stabile Salze des Diazens sind die Diazenide oder Pernitride, z.B. SrN2 und BaN2, die das Anion [N2]2– enthalten (NN-Kernabstand im SrN2: 122.5 pm) und die aus den Elementen unter hohem Druck hergestellt werden. Dabei oxidiert der Stickstoff das Metall bzw. das Metall reduziert das N2-Molekül.24 Im Rahmen der Erforschung energiereicher Verbindungen wurde auch die heterocyclische Verbindung C4N12H4 hergestellt, die formal ein Derivat des Ammoniaks, des Hydrazins und des Diazens ist: N N N N NH2 N H2N

N

N

N

N N Die Atome C und N dieses Moleküls liegen alle in einer Ebene. Dieses 3,3’-Azobis(6-amino-1,2,4,5-tetrazin) ist thermisch bis 250°C beständig und weist eine extrem hohe endotherme Bildungsenthalpie von 862 kJ mol–1 auf.

9.4.5 Hydrogenazid HN3 und Azide Hydrogenazid ist die Stammverbindung einer größeren Zahl kovalenter und ionischer Azide. Im Gegensatz zu den basischen Hydriden NH3 und N2H4 ist HN3 in Wasser eine schwache Säure (pKa = 4.64), die als Stickstoffwasserstoffsäure bezeichnet wird. In stark sauren Medien wird HN3 andererseits zum Kation [H2NNN]+ protoniert. Natriumazid NaN3 wird industriell durch Einleiten von N2O in eine Schmelze von NaNH2 bei 190°C gewonnen: 2 NaNH2 + N2O

NaN3 + NaOH + NH3

Eine andere Möglichkeit ist die Oxidation von Amid mit geschmolzenem Nitrat im Verhältnis 3:1 bei 180°C: 3 NaNH2 + NaNO3

NaN3 + 3 NaOH + NH3

Das NaN3-NaOH-Gemisch wird durch Umkristallisieren aus Wasser getrennt. Aus NaN3 kann wässriges HN3 mittels Ionenaustausch oder durch Reaktion mit verdünnter H2SO4 und Destillation erhalten werden. Beide Verbindungen sind äußerst toxisch. Wasserfreies HN3 ist eine wasserhelle, leicht bewegliche Flüssigkeit (Schmp. –80°C, Sdp. 36°C), die außerordentlich leicht unter Explosion in die Elemente zerfällt (endotherme Bildungsenthalpie).25 Wie bei anderen kovalenten Aziden wird dabei die Bindung HN–NN in exothermer Reaktion gespalten. Das carbenanaloge Zwischenprodukt NH (Nitren) lässt sich abfangen. Die Nitrene NR mit R = H, Alkyl oder Aryl sind hochreaktiv und können sich in Element-Wasserstoff-Bindungen einschieben. Bei der Photolyse von wässrigem HN3 entsteht daher Hydroxylamin H2NOH durch Einschiebung von NH in eine OH-Bindung des H2O-Moleküls: 24 25

R. Kniep et al., Angew. Chem. 2001, 113, 565; Inorg. Chem. 2001, 40, 4866; Angew. Chem. 2002, 114, 2392. Auch andere kovalente Azide wie FN3, ClN3, BrN3 und IN3 sind explosiv. Nicht explosiv und bei 25°C beständig ist das aus HN3, HF und SbF5 erhältliche Salz [H2N3][SbF6].

327

9.4 Hydride des Stickstoffs h.8

HN3

NH + H

N2 + NH OH

H2N

OH

Wässrige Lösungen mit bis zu 20 Massen-% HN3 sind ohne Gefahr einer Explosion handhabbar. In wässrigem HN3 lösen sich Zn, Fe, Mn und Cu unter N2-Entwicklung auf, d.h. HN3 reagiert als Oxidationsmittel, das dabei zu NH3 (und N2) reduziert wird. Azide, die durch doppelte Umsetzung aus NaN3 hergestellt werden, ähneln in ihrem Aussehen und in der Löslichkeit oft den Chloriden, weswegen das Anion [N3]– als Pseudohalogenid-Ion bezeichnet wird (Kap. 13.6). Das Azid-Ion (Symmetrie D∞h) enthält im Gegensatz zum zickzack-förmigen HN3-Molekül (Symmetrie Cs) zwei gleichartige NN-Bindungen: N

N

N

N

N

N

H

N

N

N

H

d(NN) = 116 pm

d(NN) = 124 bzw. 113 pm

Winkel(NNN) = 180°

Winkel(NNN) = 171° Winkel(HNN) = 109°

Das Ion [N3]– ist mit CO2, N2O, [NO2]+ und [OCN]– isoelektronisch, weswegen die Beschreibung der Bindungsverhältnisse im CO2 (Kap. 2.4.6) sinngemäß auf das Azid-Ion übertragen werden kann. Während sich rein ionische Azide beim Erhitzen kontrolliert zu N2 und Metall zersetzen, explodieren die kovalenten Verbindungen und die Schwermetallazide oft schon auf Schlag. Bleiazid Pb(N3)2 ist ein wichtiger Initialzünder für Sprengstoffe. Eine Mischung aus NaN3, NaNO3 und Borpulver wird zum Aufblasen von Airbags in Kraftfahrzeugen verwendet. Durch elektrische Zündung entstehen aus dem NaN3 elementarer Stickstoff und Natrium, das mit dem NaNO3 zu weiterem N2 sowie Na2O reagiert; das Na2O wird letztlich als harmloses Natriumborat gebunden. Azidionen sind ausgezeichnete Liganden in Metall- und Nichtmetallkomplexen, wodurch sich extrem stickstoffreiche Moleküle und Ionen herstellen lassen. Beispiele dafür sind die Anionen [Te(N3)6]2– und [Nb(N3)7]2–. Mit großen Gegenionen wie [PPh4]+ sind die entsprechenden Salze relativ stabil. Derartige Verbindungen sind auch im Rahmen der Erforschung energiereicher Treibstoffe von Interesse, da bei der Zersetzung zu N2 sehr viel Energie freigesetzt wird. Dies gilt auch für eine Reihe anderer, ziemlich exotischer Materialien, die mehrere NN-Bindungen enthalten. Beispielweise reagiert HN3 bei tiefen Temperaturen mit [N2F][SbF6] (Kap. 9.5.1) in Gegenwart von HF zu dem Salz [N5][SbF6] mit dem spektakulären gewinkelten Kation [N5]+ (Symmetrie C2v): HN3 + [N2F][SbF6]

[N5][SbF6] + HF

N N

N

N

N

d(NN) = 110 und 130 pm; Winkel(NNN) = 111° und 168°

328

9 Stickstoff

Diese Verbindung zersetzt sich erst bei 70°C.26 Zahlreiche weitere Salze mit dem Pentastickstoff-Kation wurden durch doppelte Umsetzung hergestellt; viele davon sind allerdings bei 25°C instabil und äußerst stoßempfindlich.

9.4.6 Tetrazen(2) N2H4 Bei der Thermolyse von Bis(trimethylsilyl)diazen entsteht das Dimer Tetrakis(trimethylsilyl)tetrazen, aus dem durch Reaktion mit Trifluoressigsäure bei –78°C das nur unterhalb –30°C beständige Tetrazen(2)27 erhalten wird: (Me3Si)2N

N

N

N(SiMe3)2 + 4 CF3COOH

N4H4 + 4 CF3COOSiMe3

N4H4 bildet farblose, sublimierbare Kristalle, in denen es in der trans-Konformation vorliegt (Symmetrtie C2h): NH2 N

N

H 2N

Bei 0°C zersetzt sich N4H4 lebhaft zu N2, [NH4][N3] und [N2H5][N3].

9.4.7 Hydroxylamin NH2OH Hydroxylamin H2N–OH ist formal ein Derivat des Ammoniaks, das aber auch dem Hydrazin H2N–NH2 einerseits und dem Wasserstoffperoxid HO–OH andererseits nahe steht. Hydroxylamin wird technisch nach folgenden Verfahren hergestellt: (a) Reduktion von Nitrit mit Sulfit bei 0°C mit anschließender Hydrolyse des Hydroxylamin-disulfonates bei 100°C (modifiziertes RASCHIG-Verfahren): NH4NO2 + 2 SO2 + NH3 + H2O 2 [NH4]2[HON(SO3)2] + 4 H2O + 2 NH3

[NH4]2[HON(SO3)2] [NH3OH]2[SO4] + 3 [NH4]2[SO4]

Das Nebenprodukt Ammoniumsulfat wird als Stickstoffdünger verwendet. (b) Katalytische Hydrierung von NO in schwefelsaurem Medium bei 40–60°C mit Platin- oder Palladium-Katalysator (BASF-Verfahren): 2 NO + 3 H2 + 2 H+

Pt

2 [NH3OH]+

NH2OH ist in Wasser eine sehr schwache Base (pKb = 8.2 bei 25°C), schwächer als Ammoniak und Hydrazin. Es bildet mit Säuren HX beständige und sehr gut wasserlösliche Hydroxylammoniumsalze [NH3OH]X, aus denen es durch Reaktion mit NaOH oder Natriummethylat freigesetzt werden kann: 26 27

K. O. Christe et al., Inorg. Chem. 2001, 123, 6308. N. Wiberg, H. Bayer, H. Bachuber, Angew. Chem. 1975, 87, 202; M. Veith, G. Schlemmer, Z. Anorg. Allg. Chem. 1982, 494, 7.

329

9.4 Hydride des Stickstoffs

[NH3OH]X + CH3ONa

NH2OH + CH3OH + NaX

Reines Hydroxylamin bildet farblose, hygroskopische Kristalle (Schmp. 32°C), die sich schon bei Raumtemperatur langsam zersetzen; oberhalb 100°C verläuft die Reaktion zu NH3, N2 und H2O explosionsartig. Hydroxylamin kommt als 50 %ige wässrige Lösung in den Handel; bei hoher Reinheit ist die Lösung bei 25°C bis zu 1 Jahr lang haltbar, erleidet aber langsame Autoxidation. Verwendung findet wässriges Hydroxylamin in der pharmazeutischen Industrie und zur Reinigung der Oberflächen von Siliciumwafern. Hydroxylamin ist ein Reduktionsmittel, z.B. gegenüber Cu2+, [Hg2]2+ und Ag+, wobei es zu N2 oxidiert wird. Mit anderen Oxidationsmitteln können aber auch N2O, NO, [NO2]– oder [NO3]– entstehen. Nur von sehr starken Reduktionsmitteln (Sn2+, V2+, Cr2+) wird NH2OH zu NH3 reduziert. Hauptverwendung für [NH3OH]+-Salze ist die Synthese von Caprolactam durch Oximierung von Cyclohexanon und anschließende BECKMANN-Umlagerung in Gegenwart von rauchender Schwefelsäure: O O + NH2OH

) H2O

NOH

H2SO4

NH Caprolactam

Aus Caprolactam wird durch Zugabe von wenig Wasser (Ringöffnung) und anschließende Polykondensation der entstandenen Capronsäure das kettenförmige 6-Polyamid (Handelsnamen: Perlon, Nylon) hergestellt.

9.4.8 Wasserähnliche Lösungsmittel Unter wasserähnlichen Lösungsmitteln versteht man solche Flüssigkeiten, die ähnlich wie Wasser eine gute Löslichkeit für viele anorganische und polare organische Verbindungen aufweisen und die darüber hinaus durch einen breiten Flüssigkeitsbereich und möglichst geringe Viskosität auch in praktischer Hinsicht als Lösungsmittel geeignet sind. Zu dieser Gruppe gehören folgende Verbindungen im wasserfreien und flüssigen Zustand: (a) Protonenhaltige Lösungsmittel: NH3, HF, H2SO4, HSO3F, CH3COOH, HCl, HCN (b) Protonenfreie Lösungsmittel: SO2, N2O4, BrF3, SeOCl2, POCl3, NOCl, COCl2 sowie bestimmte Halogenide von As, Sb, Bi und Hg Diese Verbindungen weisen im reinen Zustand oft nur eine geringe elektrische Leitfähigkeit auf. Demgegenüber sind die Lösungen verschiedener Substanzen in diesen Flüssigkeiten wesentlich besser leitend. Das beweist die Anwesenheit von Ionen, weswegen man auch von ionisierenden Lösungsmitteln spricht und zwar auch dann, wenn das reine Lösungsmittel wie im Falle des flüssigen SO2 keine Eigendissoziation aufweist. Wegen der häufigen Bildung von Ionen können viele Reaktionen in wasserähnlichen Systemen durch konduktometrische oder potentiometrische Messungen verfolgt werden.

330

9 Stickstoff

Im Folgenden wird als wichtigstes und repräsentatives Beispiel nur das flüssige Ammoniak eingehend behandelt. Ammoniak schmilzt bei –77.7°C (Tripelpunkt) und siedet bei –33.4°C. Löslichkeiten in flüssigem Ammoniak Die Löslichkeit einer Ionenverbindung in einem beliebigen Lösungsmittel ist abhängig vom Verhältnis der Gitterenthalpie zur Summe der Solvatationsenthalpien der Ionen (Kap. 2.1.7). Die Solvatation hängt stark von der Dielektrizitätskonstante (ε) des Lösungsmittels ab, die sich bei Wasser (78.3) und flüssigem Ammoniak (16.9) beträchtlich unterscheiden (beide Werte bei 25°C). Daher sind zwischen der Löslichkeit in Wasser einerseits und in Ammoniak andererseits erhebliche Unterschiede möglich. Beispielsweise nehmen die Löslichkeiten der Kaliumhalogenide in NH3 mit steigender Anionengröße, also in der Reihe KF – KCl – KBr – KI zu. Dies entspricht den Verhältnissen in Wasser. Andererseits ändern sich die Löslichkeiten der Silberhalogenide in Ammoniak in der folgenden Weise: AgF < AgCl < AgBr < AgI, also gerade umgekehrt wie in Wasser. Bei 25°C lösen sich in 100 mL flüssigem NH3 ca. 207 g AgI! Diese hohe Löslichkeit ist auf die hohe Solvatationsenthalpie des Kations Ag+ zurückzuführen, da sich in NH3 der Amminkomplex [Ag(NH3)2]+ bildet. Die besonderen Löslichkeitsverhältnisse im Ammonosystem ermöglichen zum Beispiel folgende doppelte Umsetzung: 2 AgCl + Ba(NO3)2

NH3 H 2O

2 AgNO3 + BaCl2

In dieser Gleichgewichtsreaktion ist BaCl2 die in NH3 am schwersten lösliche Komponente. Es fällt daher aus der Lösung aus. Infolgedessen läuft die Reaktion in NH3 von links nach rechts ab, während sie in H2O wegen der Schwerlöslichkeit des AgCl gerade umgekehrt erfolgt. Salze mehrwertiger Anionen wie Sulfate, Sulfite, Carbonate, Phosphate, Oxide und Sulfide sind in flüssigem NH3 schwer- oder unlöslich. Eigendissoziation von flüssigem Ammoniak Flüssiges Ammoniak ist selbst beim Siedepunkt nur in sehr geringem Umfang dissoziiert: 2 NH3

[NH4]+ + [NH2])

c (NH +4 ) . c (NH 2 ) = 10)29 ()33°C) )

Das Ionenprodukt ist noch kleiner als das von Ethanol (ca. 10–20)! Dessen ungeachtet sind aber alle Stoffe, die die Konzentration der Ammonium-Ionen in flüssigem Ammoniak erhöhen, Säuren. Das sind beispielsweise alle löslichen [NH4]+-Salze, von denen die mit den Anionen I–, [CN]–, [SCN]–, [NO3]–, [NO2]–, [N3]– und [BF4]– besonders gut löslich sind. Diese Verbindungen entsprechen den Oxoniumsalzen im Aquosystem. Die sauren Lösungen der Ammoniumsalze haben die Eigenschaft, unedle Metalle wie Mg oder Al unter Wasserstoffentwicklung aufzulösen: Mg + 2 [NH4]+

Mg2+ + 2 NH3 + H2

Ähnlich wie wässrige Säuren zersetzen sie Magnesiumsilicid unter Silanentwicklung: Als Basen verhalten sich in Ammoniak solche Stoffe, die die Konzentration der Amid-

331

9.4 Hydride des Stickstoffs

Mg2Si + 4 [NH4]+

2 Mg2+ + 4 NH3 + SiH4

Ionen erhöhen. Dafür kommen vor allem KNH2 und Ba[NH2]2 in Frage, da NaNH2 unlöslich ist und LiNH2 und Ca[NH2]2 nur eine geringe Löslichkeit aufweisen. Diese ionischen Amide entsprechen den Hydroxiden im Aquosystem. Zwischen Säuren und Basen sind Neutralisationsreaktionen möglich, die ebenso wie in Wasser mit Farbindikatoren oder elektrometrisch verfolgt werden können. Beispielsweise entsteht bei der Titration der starken Base KNH2 mit einer NH4Cl-Lösung das schwer lösliche Salz KCl: [NH4]+ + Cl) + K+ + [NH2])

KCl + 2 NH3

Der Äquivalenzpunkt dieser Reaktion ist daher durch ein Leitfähigkeitsminimum ausgezeichnet. Ammonolyse-Reaktionen Sehr viele Nichtmetallhalogenide reagieren mit trockenem Ammoniak unter Kondensation. Dies gilt auch für flüssiges Ammoniak. Zum Beispiel reagiert BCl3 bei Temperaturen unterhalb 0°C nach BCl3 + 6 NH3

B(NH2)3 + 3 NH4Cl

Bortriamid ist im Ammonosystem eine schwache, d.h. kaum dissoziierte Base. Es ist das Analogon zur Orthoborsäure B(OH)3 im Aquosystem, die durch Hydrolyse von BCl3 entsteht. Schwefel (S8) reagiert mit flüssigem NH3 unter geeigneten Bedingungen in präparativ verwertbarer Weise zu Heptaschwefelimid: S8 + NH3

S7NH + H2S

Solvatisierte Elektronen in flüssigem Ammoniak28 Die bemerkenswerteste Erscheinung in flüssigem Ammoniak ist zweifellos die Tatsache, dass sich bestimmte Metalle in trockenem NH3 zu blauen, bei höheren Konzentrationen bronzefarbenen Lösungen auflösen. Hierzu gehören vor allem die Alkali- und Erdalkalimetalle, deren Löslichkeit gut (Li, Na, K, Ca) bis sehr gut (Cs) ist. Bei –50°C lösen sich zwischen 0.19 und 0.43 mol Alkalimetall pro Mol NH3. Beim Eindampfen der Lösungen erhält man die Alkalimetalle unverändert zurück, während die Erdalkalimetalle als Hexaammoniakate auskristallisieren, z.B. Ca(NH3)6. Außer durch Lösen der Metalle entstehen die blauen Lösungen auch bei der Elektrolyse ammoniakalischer Metallsalzlösungen, und zwar entwickelt sich die blaue Farbe an der Kathode. Die Metall-Lösungen besitzen eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften, die näherungsweise von dem gelösten Metall unabhängig sind. Sowohl die blauen als auch die bronzefarbenen Lösungen weisen eine sehr gute elektrische Leitfähigkeit auf und die Ladungsträger haben eine sehr hohe Beweglichkeit, d.h. es müssen in den Lösungen Ionen oder Elektronen oder beides vorhanden sein. Die Leitfähigkeit der konzentrierten Lösungen entspricht der von reinen Metallen wie Natrium oder Quecksilber. Magnetische Suszeptibilitätsmessungen haben ergeben, dass die blauen Lösungen paramagne28

J. L. Dye, Progr. Inorg. Chem. 1984, 32, 327; P. P. Edwards, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1982, 25, 135.

332

9 Stickstoff

tisch sind; die Suszeptibilität entspricht einem ungepaarten Elektron pro Metallatom. Bei steigender Konzentration fällt die Suszeptibilität ab, bis Diamagnetismus (und zugleich ein Leitfähigkeitsminimum) erreicht wird, um bei weiter steigender Konzentration wieder in Paramagnetismus überzugehen. Zur Erklärung dieser und der weiter unten aufgeführten experimentellen Befunde nimmt man eine reversible Dissoziation der Metallatome an: M + x NH3

+ + e) Mam am

Diese Reaktion wird durch die geringe Gitterenthalpie und die geringe Ionisierungsenergie der Alkalimetalle einerseits und durch die hohe Solvatationsenthalpie der Kationen andererseits gefördert. Für die gemeinsamen Eigenschaften der blauen Metall-Lösungen werden die solvatisierten Elektronen (em) verantwortlich gemacht. Mit steigender Konzentration kommt es jedoch zu einer antiferromagnetischen Wechselwirkung benachbarter Elektronen (Bipolaronen, [e2]2–), wodurch sich deren Spins antiparallel einstellen (Spinquantenzahlen je zur Hälfte + 12 und – 12), was zu Diamagnetismus führt. Außerdem bilden sich solvatisierte Metall-Anionen (Alkalid-Ionen), die ebenfalls diamagnetisch sind: ) Mam + eam

)

Mam

Durch diese Reaktion verringert sich auch die elektrische Leitfähigkeit. Während also die verdünnten Lösungen die Eigenschaften von Elektrolytlösungen aufweisen, ähneln die konzentrierten Lösungen den flüssigen Metallen. Informationen über die Struktur der solvatisierten Elektronen erhält man aus Messungen der Dichte und des Absorptionsspektrums der Lösungen. Die Dichte von NH3 beträgt beim Siedepunkt 0.68 g cm–3; die Dichte der Lösungen ist dagegen wesentlich geringer. Zum Beispiel findet man für eine bei 19°C gesättigte Li-Lösung nur 0.477 g cm–3; das ist die geringste Dichte aller bei dieser Temperatur bekannten Flüssigkeiten! Da sich die Metall-Kationen in den Lösungen normal verhalten, muss die Dichteabnahme, d.h. die Volumenvergrößerung, auf die Elektronen zurückgeführt werden. Aus genauen Dichtemessungen wurde der Raumbedarf der gelösten Elektronen zu 94 mL mol–1 ermittelt. Das ist ein wesentlich größerer Wert, als er für beispielsweise für das große Iodid-Ion in Ammoniak bestimmt wurde. Dieser bemerkenswerte Befund wird so gedeutet, dass sich infolge der COULOMB-Abstoßung zwischen den gelösten Elektronen und den Valenzelektronen der NH3-Moleküle Hohlräume bilden, in denen die solvatisierten Elektronen eingefangen sind. Die innere Oberfläche der Hohlräume wird dabei von den (partiell positiv geladenen) Wasserstoffatomen gebildet. Der Radius der Hohlräume lässt sich aus der Dichte der Metall-Lösungen sowie aus den Absorptionsspektren (Abb.9.3) zu 300–340 pm abschätzen. Das Absorptionsspektrum z.B. von Kalium in flüssigem NH3 besteht aus einer einzelnen breiten Bande bei 1580 nm, deren langwellige Flanke bis ins sichtbare Gebiet reicht und dadurch die blaue Farbe bedingt. Die Idee von Hohlräumen in der flüssigen Phase wird gestützt durch die Strukturen der Elektride, in denen sich die Elektronen offenbar in Hohlräumen der Kristallstruktur befinden (siehe unten). Die konzentrierten Metall-Lösungen weisen ein sehr hohes Reflexionsvermögen und daher metallischen Glanz auf. Sie entstehen aus den verdünnten Lösungen durch Konzentrierung oder durch Abkühlung, wobei im letztgenannten Fall eine Entmischung in eine konzentrierte, spezifisch leichtere Phase (!) und eine verdünnte aber schwerere blaue Lösung eintritt.

333

Extinktionskoeffizient (L mol)1 cm)1)

9.4 Hydride des Stickstoffs NH3 bei -30°C 40.103

,max = 1580 nm

30

20 H2O bei +25°C 10 0

,max = 720 nm

5 000

10 000

15 000

20 000 Wellenzahl (cm)1)

Abb. 9.3 Absorptionsspektren solvatisierter Elektronen in flüssigem Ammoniak (links) und in Wasser (rechts).

Solvatisierte Elektronen und Alkalid-Ionen sind auch in Form kristalliner Verbindungen isoliert worden, die bei tiefen Temperaturen beständig sind.29 Beispielsweise reagiert metallisches Natrium mit einer Lösung des Cryptanden 2,2,2-crypt30 in EtNH2 zu goldgelben Kristallen von [Na(2,2,2-crypt)]+Na–, in denen das komplexe Kation wegen seiner Größe wenig polarisierend wirkt und dadurch die Bildung von Natrid-Ionen (Na–) ermöglicht. NMR-Spektren solcher auch mit K, Rb und Cs bekannter Verbindungen ergeben getrennte Signale für die Ionen M+ und M–! Wird Cs-Metall bei einer Temperatur unterhalb von –40°C in einer Lösung eines Kronenethers wie [18]Krone-6 in Dimethylether aufgelöst, erhält man beim Einengen das Salz [Cs(Krone-6)2]+e–, dessen Kristallstruktur sowie optische und magnetische Eigenschaften dahingehend interpretiert wurden, dass sich die Elektronen ähnlich wie im flüssigem Ammoniak in Hohlräumen mit einem Durchmesser von ca. 240 pm befinden. Verbindungen mit Elektronen als Anionen heißen Elektride (in Analogie zu den Halogeniden).31 Damit Alkalide und Elektride beständig sind, müssen die komplexen Kationen möglichst groß und in jedem Fall nicht reduzierbar sein. Es ist besonders bemerkenswert, dass die Kristallstrukturen von [Cs(Krone-6)2]+Na– und [Cs(Krone-6)2]+e– sehr ähnlich sind. Dort wo sich in der ersten Struktur die Anionen befinden, sind in der zweiten Struktur Hohlräume vorhanden, die offenbar mit den als Anionen fungierenden Elektronen besetzt sind. Die Kationenstrukturen beider Verbindungen sind praktisch identisch! Bei Raumtemperatur beständig sind Natride, wenn statt des Kronenethers ein Stickstoffbasierter Cryptand wie aza222 verwendet wird.29

29 30 31

J. L. Dye et al., J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 10666 und zitierte Literatur. Der Cryptand 2,2,2-crypt (oder C222) ist N(CH2CH2OCH2CH2OCH2CH2)3N; der Kronenether [18]Krone-6 besteht aus einem 18-gliedrigen Ring aus sechs Einheiten –CH2–CH2–O–. Übersichten: J. L. Dye, Inorg. Chem. 1997, 36, 3816 und J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 7329.

334

9 Stickstoff

Reaktionen der Elektronen in flüssigem Ammoniak Die wichtigste Reaktion der solvatisierten Elektronen em ist die sogenannte Amid-Reaktion, d.h. die Zersetzung der Metall-Ammoniak-Lösungen unter Bildung von Metallamid: [NH2]) +

) NH3 + eam

1 2

c (NH )2 ) . p H2 ) ) c (e am 1/2

H2

Kc =

Diese Reaktion ist kinetisch gehemmt, d.h. die Metall-Lösungen sind metastabil. Beim längeren Stehen oder bei Zugabe eines Katalysators (Ni, Fe3O4, Pt) zersetzen sie sich aber spontan unter Entfärbung und Wasserstoffentwicklung. Die Amidreaktion ist reversibel, d.h. eine KNH2-Lösung reagiert mit Wasserstoff unter – Druck (10 MPa) teilweise zu eam und NH3, was an der auftretenden Blaufärbung qualitativ erkannt und quantitativ verfolgt werden kann. Durch Variation von Druck und Temperatur wurden auf diese Weise die Gleichgewichtskonstante Kc = 5·105 kPa1/2 (25°C) und die –1 Reaktionsenthalpie ∆ r H° 298 = –67 kJ mol ermittelt. Solvatisierte Elektronen sind sehr starke Reduktionsmittel, die die meisten Nichtmetalle je nach den stöchiometrischen Verhältnissen zu monoatomaren oder polyatomaren Anionen reduzieren32 (Tab. 9.1). Durch Verdampfen des Lösungsmittels NH3 können die entsprechenden Salze oft in reiner Form oder als Ammoniakate isoliert werden. Auch in der organischen Synthese werden Alkalimetall-Lösungen in Ammoniak als Reduktionsmittel eingesetzt, wobei die Reduktionswirkung auch durch die Metallid-Ionen hervorgerufen wird (BIRCH-Reduktion). Tab. 9.1 Reaktionen von Nichtmetallen mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak Nichtmetall

Metall

Reaktionsprodukte

P

Li–Cs

M3P, M3P7, M3P11

As

Cs

Cs3As7

O2

Li

Li2O, Li2O2. LiO2

Na

Na2O, Na2O2

K

KO2, K2O2

Rb

Rb2O2, RbO2

O3

Li

LiO3· 4 NH3

S8

K

K2S, K2S2, K2S4, K2Sx

Se

K

K2Se, K2Se2, K2Se3, K2Se4

Te

K

K2Te, K2Te2

32

Die polyatomaren Anionen der Gruppen 14 und 15 werden auch als ZINTL-Ionen bezeichnet; siehe S. M. Kauzlarich, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 9, 6006. J. D. Corbett, Chem. Rev. 1985, 85, 383.

335

9.4 Hydride des Stickstoffs

Solvatisierte Elektronen in Wasser Solvatisierte Elektronen lassen sich auch in Wasser, in Eis und in vielen anderen Medien erzeugen und nachweisen. In flüssigem Wasser reagieren solvatisierte Elektronen jedoch wesentlich schneller mit dem Lösungsmittel als in Ammoniak, und zwar zu HydroxidIonen und Wasserstoffatomen: [OH]) + H

) + H O eaq 2

Die Halbwertszeit dieser Reaktion beträgt nur 0.8·10–3 s. Daraus ergibt sich, dass Elektronen in Wasser nur etwa 1 ms lang beobachtbar sind. Daher erfordern entsprechende Experimente einen großen messtechnischen Aufwand. Hydratisierte Elektronen entstehen bei der α-, β- oder γ-Bestrahlung von Wasser nach der Gleichung ) [H2O]+ + eaq

H2O

oder durch photochemische Ionisierung von gelösten Anionen wie Iodid oder Hexacyanoferrat(III): )

Iaq

h.8

) I + eaq

Wegen der dabei erforderlichen sehr hohen Strahlungsintensität arbeitet man im Allgemeinen im Pulsbetrieb (Pulsradiolyse), und zwar entweder mit Strahlen schneller Elektronen oder mit einem gepulsten Laser bei einer Wellenlänge von 218 nm. Hydratisierte Elektronen treten aber auch bei chemischen Reaktionen als Zwischenprodukte auf. Solche Reaktionen sind beispielsweise die Umsetzung von H-Atomen mit alkalischen Lösungen nach H + [OH])

) H2O + eaq

oder die Zersetzung von Natriumamalgam in Wasser: Na(Hg)

H 2O

+ + e) Naaq aq

– In diesen Fällen lassen sich die hydratisierten Elektronen eaq mittels N2O nachweisen, das in charakteristischer Weise zu N2 reduziert wird:

) N2O + eaq + H2O

N2 + 2 [OH])

Das Absorptionsspektrum der Elektronen in Wasser unterscheidet sich von dem der blauen Metall-NH3-Lösungen vor allem in der Lage des Absorptionsmaximums (720 nm, Abb. 9.3). Die Anregungsenergie für den optischen Übergang beträgt hier etwa 167 kJ mol–1 gegenüber 84 kJ mol–1 in NH3. Mit steigender Temperatur verschiebt sich das Maximum weiter in den infraroten Bereich (1200 nm bei 300°C). Aus ESR-Spektren eingefrorener wässriger Lösungen wurde der kleinste Abstand zwischen dem solvatisierten Elektron und den benachbarten H-Atomen der Wassermoleküle zu 210 pm bestimmt. Das Elektron befindet sich formal in einem kugelförmigen Orbital, das aus den antibindenden MOs der benachbarten OH-Bindungen gebildet wird. Daher werden diese Bindungen geschwächt, was sich an der OH-Valenzschwingung ablesen lässt, die zu kleineren Wellenzahlen verschoben ist. Der effektive Ionenradius hydratisierter Elektronen, die wahrscheinlich von sechs Wassermolekülen umgeben sind, beträgt 250–300 pm. Die Solvatationsenergie des Elektrons ist kleiner als die der Halogenionen.

336

9 Stickstoff

Das Redoxpotential der hydratisierten Elektronen gegen die Normalwasserstoffelektrode beträgt –2.87 V. Daher sind diese Teilchen sehr starke Reduktionsmittel, die nahezu alle anorganischen Verbindungen mit Ausnahme der Alkali- und Erdalkalimetall-Ionen und der Halogenid-Ionen reduzieren. Einige Beispiele sind in Tabelle 9.2 aufgeführt. Man kann zwischen einfacher Elektronenanlagerung und dissoziativem Elektroneneinfang unterscheiden. Alle diese Reaktionen verlaufen extrem schnell. Beispielsweise liegen die – Geschwindigkeitskonstanten für die bimolekularen Reaktionen von eaq mit O2, CO2 oder 10 –1 –1 N2O in der Größenordnung von 10 L · mol s . Daher vermindern schon Spuren dieser – – Stoffe die Lebensdauer des eaq beträchtlich. In stark saurer Lösung wird eaq protoniert, was zu H-Atomen führt, die auf diese Weise in Lösung erzeugt und studiert werden können. Tab. 9.2 Reaktionen hydratisierter Elektronen mit verschiedenen einfachen Verbindungen Ausgangsprodukt

primäres Reaktionsprodukt

Folgeprodukte

H

H–

H2 + [OH]–

CO2

[CO2]–

[C2O4]2–

[N2O]–

N2 + O–

N2O [NH4

]+

NH4

NH3 + H

[NO3]–

[NO3]2–

NO2

Cu2+

Cu+

Cu+

Zn2+

Zn+

[MnO4]–

9.5

Zn + Zn2+

[MnO4

]2–

[MnO4]2–

Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs

9.5.1 Halogenide Alle Halogenide des Stickstoffs lassen sich formal von den Hydriden durch Substitution von H durch X (X = F, Cl, Br, I) ableiten: X X

N

N

X

X

Stickstofftrihalogenide

X

X

N

N X

N

N X

N

N

X

X

Distickstofftetrahalogenide (trans und gauche)

Distickstoffdihalogenide (cis und trans)

Halogenazide

Im Falle der NH3-Derivate sind auch teilhalogenierte Verbindungen bekannt (Halogenamine NH2X und Dihalogenamine NHX2). Weiterhin gibt es auch gemischte Halogenide. Die Beständigkeit nimmt mit zunehmender Atommasse des Halogens ab, so dass nur mit

9.5 Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs

337

Fluor alle Verbindungstypen33 bekannt sind. Verbindungen mit Ν–Cl-, Ν–Br- und Ν–I-Bindungen sind thermodynamisch instabil (endotherm) und in vielen Fällen schon bei 25°C labil. Praktische Bedeutung haben nur NF3 und NH2Cl. Die Trihalogenide NX3 erhält man durch vollständige Halogenierung von NH3 oder [NH4]+-Verbindungen mit elementarem Halogen: NH3 + 3 X2

NX3 + 3 HX

NF3 entsteht als farbloses Gas (Sdp. –129°C) bei der Reaktion von NH3 mit verdünntem Fluor in Gegenwart von Kupfer sowie bei der Elektrofluorierung von Harnstoff oder NH4F in flüssigem Hydrogenfluorid an einer Nickelanode (Kap. 13.4.3). NF3 ist bei Raumtemperatur reaktionsträge und im Gegensatz zu NH3 eine sehr schwache LEWISBase, so dass es nur mit extrem starken LEWIS-Säuren koordinative Bindungen eingeht. Das liegt an dem induktiven Effekt der drei Fluoratome, die zu einer positiven Partialladung auf dem N-Atom führen (Kap. 4.6.3). Bei höheren Temperaturen (>200°C) ist NF3 wegen einsetzender Dissoziation in NF2-Radikale und Fluoratome sehr reaktiv und ein starkes Oxidationsmittel. NF3 wird daher in großem Umfang in der Halbleiterindustrie zur Reinigung der Reaktoren für die chemische Gasphasenabscheidung (chemical vapor deposition, CVD), zum trockenen Ätzen von Siliciumwafern sowie bei der Herstellung von LCDs verwendet (liquid crystal displays).34 Derivate des NF3 sind die Tetrafluorammoniumsalze [NF4][BF4] und [NF4][SbF6], deren tetraedrisches Kation Stickstoff der Oxidationsstufe +5 enthält. Diese und analoge Salze werden aus den entsprechenden Komponenten durch Photolyse bei tiefen Temperaturen oder in einer Gasentladung hergestellt:35 NF3 + F2 + BF3

[NF4][BF4]

Mit O2 reagiert NF3 in einer Glimmentladung zu Stickstoffoxidtrifluorid ONF3, einem farblosen, sehr toxischen Gas (Sdp. –85°C), das mit dem Ion [NF4]+ isoelektronisch ist und das in guter Ausbeute aus NOF und F2 durch UV-Bestrahlung hergestellt werden kann. Ein in Analogie zum wohlbekannten PF5 denkbares Fluorid NF5 existiert dagegen nicht, was auf die geringe Größe des N-Atoms zurückzuführen ist, die zu einer starken Annäherung der fünf F-Atome führen würde. Daher liegt das Gleichgewicht NF5 ; NF3 + F2 auf der Seite der Dissoziationsprodukte. Die D3h-Struktur von NF5 entspricht aber dennoch einem lokalen Minimum auf der Potentialfläche. Stickstofftrichlorid ist im Gegensatz zu NF3, das eine negative Bildungsenthalpie aufweist, eine extrem endotherme Verbindung. NCl3 entsteht beim Einleiten von Cl2 in eine saure, wässrige NH4Cl-Lösung. Reines Stickstofftrichlorid ist ein gelbes, hochexplosives Öl, das sich in organischen Lösungsmitteln löst und wegen seiner Gefährlichkeit nur wenig untersucht wurde. Es reagiert mit Wasser langsam zu NH3 und HOCl. Chloriert man NH3 in der Gasphase mit einem Unterschuss an Halogen (verdünnt mit N2), erhält man Chloramin, das in reinem Zustand zur spontanen Zersetzung neigt: 2 NH3 + Cl2 3 NH2Cl 33 34 35

NH2Cl + NH4Cl N2 + NH4Cl + 2 HCl

H. J. Emeléus, J. M. Shreeve, R. D. Verma, Adv. Inorg. Chem. 1989, 33, 139. A. Tasaka, J. Fluorine Chem. 2007, 128, 296. K. O. Christe et al., Inorg. Chem. 2006, 45, 7981.

338

9 Stickstoff

Analog lässt sich Bromamin herstellen. NH2Cl löst sich gut in Wasser und Diethylether. Es ist ein wichtiges Zwischenprodukt bei der Synthese von Hydrazinderivaten und anderen Stickstoffverbindungen. Beispielsweise reagiert es mit Dimethylamin zu dem als Raketentreibstoff eingesetzten Dimethylhydrazin: 2 Me2NH + NH2Cl

Me2NNH2 + [Me2NH2]Cl

Das Tribromid NBr3 entsteht bei der Einwirkung von Brom auf saure Ammoniumsalzlösungen. Bei der Reaktion von Iod mit konzentrierter wässriger Ammoniaklösung erhält man NI3·NH3 als schwarzen, ebenso wie NBr3 hochexplosiven Festkörper. Von den Halogeniden des Typs N2X4, die sich vom Hydrazin ableiten, kennt man nur das Tetrafluorhydrazin, ein farbloses Gas, das bei der Reduktion von NF3 mit Kupfer bei 375°C oder mit Quecksilberdampf in einer Glimmentladung entsteht: 2 NF3 + M

N2F4 + MFx

M: Cu, As, Sb, Bi, Hg

N2F4 (Sdp. –73°C) ist eine exotherme Verbindung. Die Atomverknüpfung entspricht der des Hydrazins, wobei jedoch in der Gasphase bei 25°C die trans- und gauche-Konformere miteinander im Gleichgewicht stehen. Beim trans-Isomer sind die NF2-Gruppen um 180° gegeneinander verdreht, wodurch ein Inversionszentrum entsteht (Symmetrie C2h). Bei dem um ca. 1 kJ mol–1 weniger stabilen gauche-Isomer beträgt die Verdrillung nur 67°.36 Im Gegensatz zum NF3 ist N2F4 schon bei 25°C außerordentlich reaktionsfähig und ein starkes Fluorierungsmittel. Das liegt an der außergewöhnlich niedrigen Dissoziationsenthalpie der NN-Bindung, die dazu führt, dass N2F4 unter vermindertem Druck mit dem Radikal NF2 im Gleichgewicht steht:

&

N 2F 4

° = 87 kJ mol)1(N2F4) *H298

2 NF2

Bei Normaldruck ist die Dissoziation bei erhöhter Temperatur nachweisbar. Mit vielen Reaktionspartnern reagiert N2F4 daher zu NF2-haltigen Verbindungen, z.B. mit Cl2 bei UV-Bestrahlung zu NClF2, mit S2F10 zu F2N–SF5 und mit NO zu F2N–NO. Das tiefblaue Stickstoffdifluorid-Radikal ist mit dem Ozonid-Ion isoelektronisch und wie dieses gewinkelt gebaut. Distickstoffdifluorid N2F2 (Difluordiazen) kann aus Difluoramin wie folgt hergestellt werden: 193 K

NHF2 + KF KF.HNF2

293 K

KF.HNF2 1 2 N2F2

+ KHF2

NHF2 seinerseits wird am besten durch Fluorierung von Harnstoff und anschließende saure Hydrolyse gewonnen: F2 / N 2

(H2N)2CO H O / 0°C H2NCONF2 2

H2SO4 90°C

HNF2

Difluordiazen bildet planare Moleküle, von denen die cis- oder (Z)-Form um 13 kJ mol–1 stabiler ist als die trans- oder (E)-Form. Das Gleichgewicht zwischen beiden stellt sich jedoch erst bei höheren Temperaturen rasch ein, weswegen man das Gemisch bei Raumtemperatur oder darunter durch Hochvakuumdestillation oder Gaschromatographie in 36

J. R. Durig, Z. Shen, J. Phys. Chem. A 1997, 101, 5010.

339

9.5 Halogenide und Oxidhalogenide des Stickstoffs

die Komponenten trennen kann. N2F2 ist gegen O2 und H2O beständig, es zersetzt sich bei 300°C in die Elemente. cis-N2F2 reagiert mit AsF5 bei 25°C zu dem Salz [N2F][AsF6], welches das lineare, mit CO2, N2O und [NO2]+ isoelektronische Kation [N2F]+ enthält.37 Halogenazide entstehen bei der Reaktion von Halogenen mit Aziden: F2 + HN3

FN3 + HF H 2O

Cl2 + NaN3

Et2O 0°C

I2 + AgN3

ClN3 + NaCl IN3 + AgI

Fluorazid ist ein gelbgrünes Gas, das sich schon bei 25°C langsam zu N2F2 und N2 zersetzt. Die übrigen drei Halogenazide sind explosive, im reinen unverdünnten Zustand extrem gefährliche Verbindungen.1

9.5.2 Oxidhalogenide des Stickstoffs Zwei Reihen von Oxidhalogeniden mit Stickstoff-Halogen-Bindungen sind bekannt: O N

O

X

O

X Nitrosylhalogenide (X = F, Cl, Br)

N

Nitrylhalogenide (X = F, Cl, Br)

Bei den Nitrosylhalogeniden handelt es sich um die Säurehalogenide der Salpetrigen Säure HONO, wobei die OH-Gruppe durch ein Halogenatom ersetzt wurde. Entsprechend leiten sich die Nitrylhalogenide formal von der Salpetersäure HONO2 ab. Ersetzt man in der Salpetersäure nur das Wasserstoffatom durch ein Halogenatom, erhält man Halogennitrate XONO2 (X = Cl, Br, I; Kap. 13.5.6) bzw. Pernitrylfluorid FONO2.38 Zu den Oxidhalogeniden des Stickstoffs sind weiterhin auch die schon erwähnten Verbindungen NOF3 und ONNF2 zu rechnen, zu denen es bei den übrigen Halogenen keine Analogien gibt. Auch die Verbindung ONOF ist bekannt. Nitrosylhalogenide entstehen bei der Reaktion von NO mit dem entsprechenden Halogen: X2 + 2 NO

2 XNO

Während FNO beständig ist, dissoziieren ClNO und vor allem BrNO schon bei 25°C teilweise in die Ausgangsprodukte und INO ist bei dieser Temperatur vollkommen unbeständig. Alle drei Verbindungen sind starke Oxidationsmittel. FNO (Sdp. –60°C) ist farblos, ClNO (Sdp. –5°C) ist orangegelb und BrNO (Sdp. 24°C) ist rot gefärbt. Alle drei Moleküle sind gewinkelt und von Cs-Symmetrie. Nitrosylchlorid entsteht auch bei der Reak37 38

K. O. Christe et al., J. Am. Chem. Soc. 1991, 113, 3795. Zur Struktur von kristallinem ClNO, ClNO2 und ClONO2 siehe A. Obermeyer, H. Borrmann, A. Simon, J. Am. Chem. Soc. 1995, 117, 7887.

340

9 Stickstoff

tion von HCl-Gas mit N2O3 in Gegenwart von P4O10, bei der Einwirkung von Salzsäure auf NaNO2 und bei der Reaktion der konzentrierten Säuren HCl und HNO3; diese Mischung ist als Königswasser bekannt. Als Derivate der Salpetrigen Säure hydrolysieren die Nitrosylhalogenide primär zu HNO2 und HX, sekundär entstehen durch Disproportionierung von HNO2 auch HNO3 und NO: XNO + H2O

HNO2 + HX

3 HNO2

HNO3 + 2 NO + H2O

Mit bestimmten Metallhalogeniden (LEWIS-Säuren) reagiert ClNO zu Nitrosyl-Salzen wie [NO][SbCl6] und [NO]2[PtCl6], die auch als Nitrosonium-Salze bezeichnet werden. Die beiden Nitrylhalogenide FNO2 und ClNO2 sind farblose Gase, die aus planaren Molekülen der Symmetrie C2v bestehen. Die Bindungsverhältnisse ähneln denen in der Salpetersäure. FNO2 (Sdp. –72°C) kann durch Fluorierung von NO2 oder durch Halogenaustausch aus ClNO2 hergestellt werden: NO2 + CoF3

300°C

FNO2 + CoF2

2 NO2 + F2

25°C

2 FNO2

ClNO2 + HF

25°C

FNO2 + HCl

Nitrylchlorid (Sdp. –15°C) erhält man durch Oxidation von ClNO mit Cl2O, N2O5 oder O3, durch Chlorierung von N2O5 mit PCl5, oder am besten durch Reaktion von wasserfreier Salpetersäure mit Chloroschwefelsäure: HNO3 + HSO3Cl

ClNO2

+ H2SO4

ClNO2 ist giftig und korrosiv; es zersetzt sich bei 100°C zu Cl2 und NO2. Bei der alkalischen Hydrolyse entstehen Nitrit und Hypochlorit. Die beiden isomeren Bromide BrNO2 und BrONO sind bei 25°C unbeständig.

9.6

Oxide des Stickstoffs

9.6.1 Allgemeines Stickstoffoxide sind von enormer Bedeutung, beispielsweise als Zwischenprodukte bei der Herstellung von Salpetersäure, bei der Luftverunreinigung durch Verbrennungsgase, in Zusammenhang mit der Abnahme des stratosphärischen Ozons (Kap. 11.1.3), im globalen Stickstoffkreislauf und bei der Regulierung von Körperfunktionen bei Säugetieren und Menschen. Die in Tabelle 9.3 aufgeführten Stickstoffoxide sind in reiner Form bekannt; mehrere dieser Oxide existieren in Form verschiedener Isomere unterschiedlicher Konnektivität. Als Gase sind alle Stickstoffoxide endotherme Verbindungen, die beim Erhitzen in die Elemente zerfallen. Sie enthalten NO- und teilweise auch NN-Bindungen. NO und NO2 sind Radikale (open-shell-Moleküle).

341

9.6 Oxide des Stickstoffs

Tab. 9.3 Oxide des Stickstoffs, die in reiner Form isoliert wurden Oxidationsstufe des Stickstoffs:

+1

+2

+3

+4

+5

N2O

NO

N2O3

NO2

N2O5

N2O2

N2O4

9.6.2 Distickstoffoxid N2O N2O ist ein farbloses, reaktionsträges Gas (Sdp. –89°C), das im Labor und in der Industrie durch Zersetzung von Ammoniumnitrat hergestellt wird: NH4NO3

180)250°C

N2O + 2 H2O

Diese Reaktion wird durch Chlorid-Ionen katalysiert. Bei Temperaturen oberhalb 300°C kann die Reaktion einen explosionsartigen Verlauf nehmen. Daher wird beim technischen Verfahren eine 80–85 %ige wässrige Lösung von NH4NO3 in eine 260°C heiße Schmelze von NaNO3/KNO3 eingeleitet. Eine andere Labormethode ist die Kondensation von Amidoschwefelsäure mit konzentrierter Salpetersäure bei 50–80°C: H3N)SO3 + HNO3

N2O + [H3O][HSO4]

Das Molekül N2O ist linear (Symmetrie C∞v). Die Kernabstände dNN = 112.9 und dNO = 118.8 pm entsprechen etwa der Strukturformel N≡N=O. Distickstoffoxid ist mit CO2 isoster und mit den Ionen [NO2]+ und [N3]– isoelektronisch. N2O löst sich in Wasser nur in sehr wenig und ohne jede Reaktion. Eingeatmet zeigt es einen angenehmen Geruch und eine betäubende Wirkung. Es kommt daher als Lachgas in Stahlflaschen für Narkosezwecke in den Handel. Weiterhin wird es als Treibgas in Sprühdosen verwendet (z.B. für Schlagsahne). N2O entsteht biogen bei der Reduktion von Nitraten durch Mikroorganismen im Erdboden und gelangt dadurch in die Atmosphäre, wo es wegen seiner langen Verweildauer als Treibhausgas wirkt (Kap. 4.4.3).

9.6.3 Stickstoffmonoxid NO und Distickstoffdioxid N2O2 Das Monoxid NO („Stickoxid“) wird industriell in riesigem Umfang durch katalytische Oxidation von NH3 hergestellt und hauptsächlich zu Salpetersäure verarbeitet (Kap. 9.4.2). Ein weitaus kleinerer Teil dient zur Herstellung von Hydroxylamin (Kap. 9.4.7). Im Labor erhält man es am besten in KIPP’s Gasentwickler aus Natriumnitrit und 3-molarer Schwefelsäure: 3 NaNO2 + 3 H2SO4

2 NO + HNO3 + H2O + 3 NaHSO4

Primär entsteht dabei die unbeständige Salpetrige Säure, die zu NO und HNO3 disproportioniert. Auch durch Reduktion von Nitriten mit Iodid-Ionen oder mit Eisen(II)-Ionen erhält man relativ reines NO.

342

9 Stickstoff

NO ist ein farbloses, giftiges Gas, das im Gegensatz zu N2O ziemlich reaktionsfreudig ist (Sdp. –152°C, Schmp. –164°C). Das NO-Molekül weist eine ungerade Elektronenzahl auf, daher ist Stickstoffmonoxid wie O2 paramagnetisch. Das Dimerisierungsgleichgewicht 2 NO

° = )8.7 kJ mol)1 *H298

N2O2

liegt bei Raumtemperatur weitgehend auf der linken Seite. Erst im flüssigen und vor allem im festen Zustand ist Stickstoff(II)-oxid vollständig dimerisiert. Distickstoffdioxid ist ebenfalls farblos und besteht in allen Phasen aus planaren Molekülen von cis-N2O2 (Symmetrie C2v):39 N O

N O

d(NN) = 227.7 pm d(NO) = 115.5 pm Winkel(ONN) = 97.9°

Die Bindung im Molekül NO wird nach der MO-Theorie mit Hilfe des im Kapitel 2.4.3 für N2 angegebenen Schemas verständlich. Bei 11 Valenzelektronen ist das π*-Niveau mit einem Elektron besetzt (SOMO, singly occupied molecular orbital). Für die sehr schwache NN-Bindung im N2O2 wird eine π*-π*-Bindung nach folgendem Schema verantwortlich gemacht: +N

O+

N+ +O

Das π*-Elektron von NO wird relativ leicht abgegeben, weswegen dieses Molekül als Reduktionsmittel reagieren kann. Es wird dabei zum Nitrosyl-Kation [NO]+ oxidiert, das mit dem N2-Molekül isoelektronisch ist. Mit O2 reagiert NO in einer exothermen Gleichgewichtsreaktion zu NO2 bzw. N2O4. Lange Zeit glaubte man, dass diese Reaktion über N2O2 als Zwischenprodukt führt: N 2O 2 + O 2

N 2O 4

2 NO2

Bei sehr geringen NO-Konzentrationen, z.B. in Luft, findet dann keine oder nur sehr langsame Oxidation statt, was tatsächlich beobachtet wurde, da das postulierte vorgelagerte Gleichgewicht 2 NO ; N2O2 bei geringem Partialdruck von NO praktisch ganz auf der Seite des monomeren NO liegt und die Reaktion daher fast zum Stillstand kommt. Nach neueren theoretischen Arbeiten ist der tatsächliche Mechanismus aber so, dass zuerst NO und O2 einen radikalischen Komplex ONOO bilden, der anschließend mit weiterem NO zu dem peroxidischen N2O4-Isomer ONOONO reagiert, das sich dann durch Homolyse der OO-Bindung zu 2NO2 zersetzt oder zum Grundzustand von N2O4 isomerisiert.40 Das wahre vorgelagerte Gleichgewicht ist also die reversible Reaktion NO + O2 ; ONOO. Eine derartige mehrstufige Reaktion ist durch eine negative Aktivierungsenergie ausgezeichnet, d.h. die Reaktion wird mit steigender Temperatur langsamer, da 39

40

S. G. Kukolich, J. Am. Chem. Soc. 1982, 104, 4715. In der Gasphase wurde die Struktur von cis-N2O2 durch Mikrowellenspektroskopie bestimmt, was voraussetzt, dass das Molekül ein Dipolmoment aufweist. Dagegen besitzt trans-N2O2 kein Dipolmoment. L. F. Olson et al., J. Am. Chem. Soc. 2002, 124, 9469.

343

9.6 Oxide des Stickstoffs

das schwach exotherme vorgelagerte Gleichgewicht dann mehr und mehr auf die linke Seite verschoben wird. Unter hohem Druck zersetzt sich NO bei 30–50°C langsam nach: 3 NO

N2O + NO2

Mit den Halogenen F2, Cl2 und Br2 reagiert NO zu den entsprechenden Nitrosylhalogeniden XNO. Diese reagieren mit LEWIS-Säuren wie BF3 und SbCl5 zu den Nitrosylsalzen [NO][BF4] bzw. [NO][SbCl6]. Da das N-Atom im Nitrosyl-Kation [NO]+ die Oxidationsstufe + 3 aufweist, kommt man auch von N2O3 ausgehend leicht zu entsprechenden Verbindungen. So entsteht Nitrosylhydrogensulfat (Bleikammerkristalle) aus N2O3 und konzentrierter Schwefelsäure: N2O3 + 3 H2SO4

2 [NO][HSO4] + [H3O][HSO4]

Andere [NO]+-Salze sind [NO][ClO4], [NO]2[PtCl6] und [NO][AsF6]. Die gegenüber NO stärkere Bindung im Kation [NO]+ erkennt man an den Kernabständen d und den Valenzkraftkonstanten fr , wie folgende Übersicht zeigt: NO (gasf.): d = 115.1 pm fr = 15.9 N cm–1

[NO]+ (gasf.): d = 106.3 pm fr = 24.8 N cm–1

Alle Nitrosylsalze reagieren mit Wasser zu Nitrit-Ionen bzw. Salpetriger Säure: [NO]+ + 2 H2O

HNO2 + [H3O]+

NO kann in Übergangsmetallkomplexen ähnlich wie CO, [CN]– und N2 als π-Säure-Ligand fungieren. So kennt man beispielsweise die tetraedrischen Nitrosylkomplexe [Cr(NO)4] und [Co(CO)3NO] sowie das oktaedrische Anion [Fe(CN)5NO]–. Die Bindungsverhältnisse zwischen NO und dem Zentralmetall entsprechen denen beim Liganden N2 (Abschnitt 9.2), nur dass NO ein 3-Elektronen-Ligand ist, der formal zunächst ein Elektron an das Zentralatom abgibt und dann als [NO]+ analog wie CO und N2 gebunden wird. Die drei genannten Komplexe erfüllen daher alle die Edelgasregel (18 Valenzelektronen am Zentralatom). NO kann aber auch als verbrückender Ligand fungieren. Stickstoffmonoxid entsteht in großem Umfang in Verbrennungsanlagen (Kraftwerke, Heizanlagen, Müllverbrennung) und in Verbrennungsmotoren von Kraftfahrzeugen, Flugzeugen, Schiffen und Diesel-Lokomotiven nach folgender Gleichung: N2 + O 2

2 NO

° = 180.6 kJ mol)1(N2) *H298

NO gelangt auf diese Weise direkt oder nach Oxidation zu NO2 in die Luft. Diese Reaktion erfordert in beiden Richtungen sehr hohe Temperaturen oder einen Katalysator, da eine bimolekulare Reaktion mit einem Vierzentren-Übergangszustand symmetrieverboten ist. Tatsächlich verläuft die unkatalysierte Reaktion über O-Atome (thermisches NO).41 Auf ähnliche Weise entstehen NO und NO2 in der Luft bei Gewittern, die ca. 7·106 t N pro Jahr als NOx binden, das letztlich als HNO3 mit dem Regen ausgewaschen wird und dadurch als natürlicher Stickstoffdünger fungiert. 41

Daneben entsteht NO bei Verbrennungsprozessen aus den im Brennstoff enthaltenen Stickstoffverbindungen (Brennstoff-NO). Von allen fossilen Brennstoffen enthält nur Erdgas keine Stickstoffverbindungen.

344

9 Stickstoff

Zur Entstickung der Abgase von Kraftfahrzeugen mit Benzinmotor werden diese im Auspuffrohr mit Katalysatoren ausgerüstet, die die Reduktion von NO und NO2 durch CO und Kohlenwasserstoffe beschleunigen. Gleichzeitig werden dabei unverbrannte Kohlenwasserstoffe und CO zu CO2 und H2O oxidiert. Der Katalysator besteht aus einem Keramikträger mit einem Überzug aus Al2O3, auf dem ca. 2 g Platinmetalle (Pt, Rh oder Pd) aufgebracht werden. In modernen Kraftwerken wird NO durch katalytische Reduktion mit einer genau dosierten Menge NH3 nach der Gleichung 4 NO + 4 NH3 + O2

350°C

4 N2 + 6 H2 O

aus dem Abgas entfernt (DeNOx-Verfahren).42 Der dafür benutzte Katalysator besteht gewöhnlich aus V2O5 und WO3 auf einem TiO2-Träger Ein ähnliches Verfahren dient zur Entstickung der Abgase von Dieselmotoren in Lastkraftwagen, indem eine Harnstofflösung in das heiße Abgas eingespritzt wird. Stickstoffmonoxid ist in der Biomedizin eines der am intensivsten untersuchten Moleküle,43 denn spurenweise kommt NO im Körper verschiedener Tiere sowie von Menschen vor, wo es als Botenstoff (Neurotransmitter) fungiert und an der Regulierung von Blutdruck, Blutgerinnung und Immunsystem beteiligt ist. Für diese Entdeckung wurde 1998 der Nobelpreis für Medizin und Physiologie vergeben. Die Biosynthese von NO erfolgt in einer komplexen 5-Elektronen-Reaktion durch enzymatische Oxidation und De-iminierung der stickstoffreichen Aminosäure Arginin zu Citrullin und NO (=NH → =N–OH → =O + NO).44 Nach Erfüllung seiner Funktion wird NO zu Nitrit und Nitrat oxidiert und ausgeschieden. Wegen der geringen physiologischen NO-Konzentrationen ist diese Oxidation langsam; im menschlichen Blut beträgt die Lebensdauer von NO ca. 2 ms. Bestimmte organische NO-Verbindungen wie Nitroglycerin sowie die N-heterocyclischen Wirkstoffe in den kommerziellen Potenzmitteln Viagra und Cialis setzen unter physiologischen Bedingungen NO frei und dienen daher zur Behandlung entsprechender Erkrankungen.

9.6.4 Distickstofftrioxid N2O3 N2O3 ist das Anhydrid der Salpetrigen Säure. Es wird durch Sättigen von flüssigem N2O4 mit gasförmigem NO bei –80°C erhalten: NO + NO2

N2O3

° = ) 40.5 kJ mol)1 *H298

In der Gasphase ist N2O3 weitgehend, aber nicht vollständig in NO und NO2 dissoziiert. Die Moleküle N2O3 sind in allen Phasen planar und enthalten wie N2O2 und N2O4 eine schwache, durch einen sehr großen Kernabstand charakterisierte NN-Bindung:45

42 43 44 45

Auch andere Entstickungsverfahren sind bekannt; siehe H.-G. Schäfer, F. N. Riedel, ChemikerZtg. 1989, 113, 65. A. Daiber, V. Ullrich, Chemie unserer Zeit 2002, 36, 366. S. Pfeiffer, B. Mayer, B. Hemmens, Angew. Chem. 1999, 111, 1824. J. Horakh, H. Borrmann, A. Simon, Chem. Eur. J. 1995, 1, 389.

345

9.6 Oxide des Stickstoffs

O d(NN) = 189 pm ()160°C)

N

N O

O

Flüssiges N2O3 ist tiefblau und erstarrt bei –100°C zu blauen Kristallen. Auch in organischen Lösungsmitteln löst es sich mit blauer Farbe. Im Gegensatz zu NO und NO2 ist N2O3 diamagnetisch. Mit Laugen reagiert N2O3 zu Nitrit-Ionen, mit Wasser entsprechend zu HNO2: N2O3 + 2 [OH])

2 [NO2]) + H2O

Auch ein äquimolares Gemisch von NO und NO2 verhält sich dabei wie N2O3. Mit starken Säuren entstehen unter Wasserabspaltung Nitrosylsalze, z.B. [NO][ClO4], und mit Alkoholen erhält man Ester der Salpetrigen Säure, z.B. Ethylnitrit C2H5ONO.

9.6.5 Stickstoffdioxid NO2 und Distickstofftetroxid N2O4 Das Dioxid NO2 ist ein großtechnisches Zwischenprodukt der Salpetersäureproduktion. Im Labor stellt man es durch Vermischen stöchiometrischer Mengen von NO und O2 oder durch thermische Zersetzung von trockenen Schwermetallnitraten im O2-Strom her: Pb(NO3)2

400°C

PbO + 2 NO2 +

1 2 O2

NO2 ist ein braunes, paramagnetisches Gas, das je nach Druck und Temperatur das farblose, diamagnetische Dimer N2O4 in verschiedenen Konzentrationen enthält: 2 NO2

N2O4

° = )57 kJ mol)1(N2O4) *H298

Die Lage dieses Gleichgewichtes kann durch Messung des Volumens (Druckes), der magnetischen Suszeptibilität oder der Lichtabsorption bestimmt werden. Gasförmiges Stickstoff(IV)-oxid ist bei 100°C/0.1 MPa zu etwa 90 % dissoziiert (Kp = 6.50 bar–1 bei 298 K). Auch die Flüssigkeit ist in der Nähe des Siedepunktes (21°C) noch durch NO2 braun gefärbt. Mit sinkender Temperatur hellt sich die Farbe jedoch auf und bei –11°C erhält man farblose Kristalle von N2O4. Stickstoffdioxid ist ein giftiges und äußerst korrosives Gas, das oberhalb von 150°C zu NO und O2 zerfällt; bei 800°C ist der Zerfall vollständig. NO2 kann relativ leicht zum Nitrit-Anion [NO2]– reduziert und zum Nitronium-Kation [NO2]+ oxidiert werden, und es ist sehr aufschlussreich, die Eigenschaften dieser drei Teilchen miteinander zu vergleichen:

&

O N O Winkel: fr(NO):

O

N

180°

134°

17.2

10.4

O

O

N

O

115° 7.7 N cm)1

Die Bindung im Nitrit-Ion ähnelt der im isoelektronischen Ozonmolekül. Danach bildet das N-Atom zwei σ-Bindungen zu den O-Atomen. Diesen überlagert sich eine 3-Zentren4-Elektronen-π-Bindung. Die elektronische Struktur des NO2-Moleküls ist weitgehend

346

9 Stickstoff

analog. Das ungepaarte Elektron befindet sich nach ESR-spektroskopischen Messungen in einem σ-Orbital am N-Atom. Die Abstoßung zwischen den nichtbindenden Elektronen ist geringer als beim [NO2]–, was zu einer Bindungsverstärkung führt, die sich in der größeren Valenzkraftkonstanten fr zeigt. Die drei auf der Molekülebene senkrecht stehenden p-Orbitale der drei Atome, die zusammen vier Elektronen enthalten, bilden wie beim O3 eine 3-Zentren-4-Elektronen-π-Bindung (je ein bindendes und nichtbindendes Elektronenpaar). Beim [NO2]+ liegen ähnliche Bindungsverhältnisse wie beim CO2 vor (Kap. 2.4.6). N2O4 besteht in der Gasphase aus planaren Molekülen der Symmetrie D2h: O

O N

O

d(NN) = 175.6 pm

N O

Die ungewöhnlich lange NN-Bindung korreliert mit einer niedrigen Dissoziationsenergie von 54 kJ mol–1. Die Partialladungen auf den N-Atomen betragen ca. +0.46 elektrostatische Einheiten. Schwingungsspektroskopisch wurden auch weniger stabile N2O4-Isomere nachgewiesen, die sich bei tiefen Temperaturen fixieren lassen, nämlich ein Molekül mit senkrecht zueinander stehenden NO2-Gruppen sowie ein Cs-symmetrisches Isomer mit der Atomverknüpfung ONONO2, das ca. 44 kJ mol–1 energiereicher als der Grundzustand ist. In flüssigem IF5 löst sich N2O4 als salzartiges Nitrosylnitrat [NO][NO3], das beim Abkühlen zusammen mit 1 mol IF5 pro Formeleinheit auskristallisiert. Bei der Hydrolyse von NO2 bzw. N2O4 entstehen Nitrit und Nitrat: N2O4 + 2 [OH])

[NO2]) + [NO3]) + H2O

N2O4 ist danach das gemischte Anhydrid der Salpetrigen Säure und der Salpetersäure. In wasserfreien Säuren wie HNO3 und H2SO4 dissoziiert N2O4 zu [NO]+ und [NO3]–. Dagegen ist es im reinen flüssigen Zustand selbst kaum dissoziiert, wie die geringe elektrische Leitfähigkeit zeigt. NO2 und N2O4 sind starke Oxidationsmittel, die auch relativ edle Metalle wie Kupfer in Nitrate überführen. Auf diese Weise können Metallnitrate in wasserfreier Form hergestellt werden. N2O4 wird als Oxidationsmittel in Raketenmotoren eingesetzt (zur Oxidation von N2H4, MeHNNH2 bzw. Me2NNH2). NO2 gelangt als Folge von Verbrennungsprozessen zusammen mit NO in die Atmosphäre, wo beide eine Verweildauer von 6–48 h haben und letztlich als Salpetersäure ausgewaschen werden (saurer Regen). Bei Sonnenbestrahlung wird NO2 aber auch in NO und elektronisch angeregte Sauerstoffatome O(1D) gespalten. Als Folgeprodukt bildet sich dann in bodennahen Schichten giftiges Ozon [O2 + O(1D) → O3]. Da das NO anschließend von O2 wieder zu NO2 oxidiert wird, können aus einem NO2-Molekül in Bodennähe bis zu 10 O3-Moleküle gebildet werden. Aus O3 und NO2 entsteht auch das instabile Radikal [NO3]•, das ebenfalls am Stickstoffkreislauf in der Troposphäre beteiligt ist. Eine weitere wichtige Nitroverbindung in der Atmosphäre ist das Peroxoacetylnitrat (PAN), das durch Addition von NO2 an Acetylradikale [CH3CO]•• entsteht: MeC(O)OONO2.46

46

G. Lammel, P. Wiesen, Nachr. Chem. Tech. Lab. 1996, 44, 477.

347

9.6 Oxide des Stickstoffs

9.6.6 Distickstoffpentoxid N2O5 N2O5 ist das Anhydrid der Salpetersäure und kann aus dieser durch vorsichtiges Entwässern mit P2O5 erhalten werden: 2 HNO3 + P2O5

0°C

N2O5 +

2 n (HPO3)n

Auch durch Oxidation von N2O4 mit O3 sowie durch anodische Oxidation von HNO3 in Gegenwart von N2O4 wird N2O5 hergestellt. Es bildet farblose, sublimierbare Kristalle, die sich bei Raumtemperatur langsam zu NO2 und O2 zersetzen und die mit Wasser heftig zu HNO3 reagieren. Im gasförmigen Zustand besteht N2O5 aus Molekülen folgender Geometrie (Symmetrie C2): O

O N

O

O

d(NO) = 118.8 pm (terminal) d(NO) = 149.8 pm (Brücke) Winkel (NON) = 111.8°

N O

Die beiden NO3-Einheiten sind planar, aber um 133° gegeneinander verdreht. Beim Erwärmen des Gases erfolgt teilweise Dissoziation zu NO2 und instabilem NO3. In Lösungsmitteln wie CCl4 und CHCl3 löst sich N2O5 ebenfalls molekular. Im festen Zustand besteht dieses Oxid dagegen aus Ionen, d.h. es liegt als Nitroniumnitrat [NO2]+[NO3]– vor. Salze mit dem Kation [NO2]+ entstehen auch, wenn man N2O5 in starken anorganischen Säuren löst: N2O5 + HClO4

[NO2][ClO4] + HNO3

N2O5 + HSO3F

[NO2][SO3F] + HNO3

Auch aus anderen Stickstoff(V)-Verbindungen lassen sich Nitroniumsalze gewinnen, z.B.: HNO3 + 2 SO3

[NO2][HS2O7]

ClNO2 + SbCl5

[NO2][SbCl6]

Alle diese Verbindungen sind farblose Salze, die von Wasser zersetzt werden. Das Kation [NO2]+ ist auch in der so genannten Nitriersäure, einem Gemisch aus den wasserfreien Säuren HNO3 (98 %ig) und H2SO4, enthalten, mit der aromatische Kohlenwasserstoffe in großem Umfang in exothermer Reaktion in Nitroverbindungen überführt werden: [NO2]+ + Aryl H

Aryl NO2 + H+

[NO2]+ entsteht dabei durch Protonierung von HONO2 am O-Atom der OH-Gruppe und anschließende Wasserabspaltung. Auch N2O5 selbst, gelöst in CH2Cl2 oder HNO3, eignet sich zur Nitrierung von Aromaten bei Raumtemperatur.

348

9.7

9 Stickstoff

Sauerstoffsäuren des Stickstoffs

9.7.1 Allgemeines Die beiden wichtigsten Oxosäuren des Stickstoffs sind die Salpetersäure HNO3 und die Salpetrige Säure HNO2. Darüber hinaus sind folgende Oxosäuren bekannt: Hyposalpetrige Säure HON–NOH, Peroxosalpetrige Säure HOONO und Peroxosalpetersäure HOONO2 (Tab. 9.4). Die beiden letztgenannten Verbindungen sind nur in wässrigen Lösungen (als Anionen) für einige Zeit beständig. Peroxonitrit [Ο=Ν–O–O]– ist aber von großer physiologischer Bedeutung.44 Orthosalpetersäure H3NO4 ist unbekannt, jedoch existieren stabile Orthonitrate mit dem tetraedrischen Anion [NO4]3–. Die Säurestärke der oben genannten Oxosäuren nimmt mit sinkender Oxidationsstufe des Stickstoffs stark ab. Tab. 9.4 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs. Die eingeklammerten Verbindungen wurden nicht in reiner Form isoliert. Oxidationsstufe des Stickstoffs:

+1

+3

+5

HONNOH

(HONO)

HONO2

(HOONO)

HOONO2

9.7.2 Salpetersäure HNO3 oder HONO2 Salpetersäure und ihre Salze, die Nitrate, sind von großer Bedeutung für die Produktion von Düngemitteln (z.B. Ammoniumnitrat), Sprengstoffen und anderen organischen Nitroverbindungen. Ein natürliches Vorkommen von Nitrat ist der Chilesalpeter (NaNO3), dessen Bedeutung allerdings immer mehr abnimmt. Wässrige Salpetersäure wird großtechnisch durch Absorption von NO2 bzw. N2O4 aus der katalytischen NH3-Oxidation unter Druck in Wasser hergestellt: N2O4 + H2O 3 HNO2

HNO3 + HNO2 HNO3 + 2 NO + H2O

Das bei der Disproportionierung von HNO2 entstehende NO wird in den Kreislauf zurückgeführt und erneut zu NO2 oxidiert. Die wässrige Säure kann durch Eindampfen bis auf einen Gehalt von 68 Massen-% HNO3 konzentriert werden. Diese als konzentrierte Salpetersäure bezeichnete Lösung (Molverhältnis HNO3:H2O = 1:1.65) siedet bei 122°C als azeotropes Gemisch.47 Ein derartiges Gemisch kann daher nur durch Vakuumdestillation in Gegenwart von konzentrierter Schwefelsäure als wasserentziehendes Mittel weiter entwässert werden. Bei einem technischen Verfahren wird konzentrierte Salpetersäure mit N2O4 und O2 unter Druck zu nahezu wasserfreiem NHO3 (98–99 %) umgesetzt. Im Labor erhält man wasserfreie Salpetersäure durch Reaktion von KNO3 mit konzentrierter 47

Bei konstanter Temperatur siedendes und daher durch Destillation nicht trennbares Gemisch, es sei denn, man destilliert bei einem anderen Druck.

349

9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs

Schwefelsäure und anschließender Vakuumdestillation des reinen HNO3 (Sdp. 84°C/1013 hPa). Konzentrierte Salpetersäure, die überschüssiges NO2 enthält und dann braun gefärbt ist, heißt rauchende Salpetersäure. Beim Destillieren unter Normaldruck und beim Stehen im Licht zersetzt sich HNO3 teilweise unter Braunfärbung wieder zu NO2, O2 und H2O: 2 HNO3

2 NO2 +

1 2 O2

+ H2O

Daher wird HNO3 in braunen Flaschen aufbewahrt. Wasserfreie Salpetersäure ist eine farblose Flüssigkeit, die teilweise in [NO2]+, [NO3]– und H2O dissoziiert ist und daher eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit aufweist: [H3O]+ + [NO2]+ + 2 [NO3])

3 HNO3

Dieses Gleichgewicht stellt sich sehr schnell ein, was man daran erkennen kann, dass im 15N-NMR-Spektrum nur 1 Signal zu beobachten ist. Das Nitrat-Ion ist trigonal-planar gebaut (Symmetrie D3h), und das Salpetersäuremolekül ist in der Gasphase ein planares Molekül der Symmetrie Cs (Winkel HON = 102°): O O

N

O

O O

O

N

O

HO

N

O O

HO

N

O

Dem σ-Bindungsgerüst überlagert sich im Nitrat-Ion eine delokalisierte π-Bindung, die als 4-Zentren-6-Elektronen-Bindung anzusehen ist und durch Überlappung der vier senkrecht auf der Molekülebene stehenden 2p-Orbitale zustande kommt (symbolisiert durch die gestrichelten Linien; vgl. das isoelektronische Molekül BF3 im Kap. 2.4.8). Alle drei NO-Kernabstände sind daher gleich. Die Valenzkraftkonstante von 8.0 N cm–1 entspricht einer Mehrfachbindung. Im HNO3-Molekül ist die π-Bindung dagegen nur über die Nitrogruppe delokalisiert, und die OH-Gruppe ist über eine einfache σ-Bindung an das N-Atom gebunden. Dies geht aus den unterschiedlichen NO-Kernabständen hervor, die 121 pm (2x) und 141 pm betragen. Der Winkel ONO in der Nitrogruppe beträgt 130°. Wasserfreie Salpetersäure ist ein starkes Oxidationsmittel, und die wässrige Lösung ist eine starke Säure. Die konzentrierte Säure löst Kupfer und Quecksilber, nicht aber Gold oder Platin48 und wird dabei je nach Konzentration zu NO2 (konz. Säure) oder NO (verd. Säure) reduziert: [NO3]) + 4 H+ + 3 e)

NO + 2 H2O

[NO3]) + 2 H+ + e)

NO2 + H2O

Andererseits werden einige unedle Metalle (Al, Fe, Cr) in reinem Zustand von konzentrierter Salpetersäure nicht gelöst, da sich auf ihnen eine dünne, aber dichte und fest haftende Oxidschicht bildet, die den weiteren Angriff der Säure verhindert. Diesen Vorgang nennt man Passivierung. 48

Gold und die Platinmetalle werden von Königswasser gelöst, einer 3:1-Mischung aus konz. HCl und konz. HNO3, die Cl2, NOCl und Chlorid-Ionen in hoher Konzentration enthält, wodurch die entstehenden Metallkationen komplex gebunden werden (als [AuCl4]– bzw. [PtCl6]2–). Dadurch verringert sich der edle Charakter dieser Metalle entsprechend NERNST’s Gleichung.

350

9 Stickstoff

Eine konzentrierte Salpetersäure der Zusammensetzung H2O·HNO3 erstarrt bei –38°C zu Kristallen von Oxoniumnitrat [H3O][NO3]. Durch Umsetzung von HNO3 mit NH3 und mit Metallhydroxiden oder -carbonaten lassen sich die entsprechenden Nitrate herstellen, die in Wasser alle leicht löslich sind. Alkalimetallnitrate zersetzen sich beim Erhitzen zu Nitriten, während Schwermetallnitrate bei der Thermolyse NO2 und Metalloxid liefern: KNO3 Cu(NO3)2

KNO2 +

1 2

O2

CuO + 2 NO2 +

1 2

O2

Nitrate sind daher vor allem bei höheren Temperaturen starke Oxidationsmittel. Von nascierendem Wasserstoff 49 wird das Nitrat-Ion schon bei Raumtemperatur bis zum NH3 reduziert. Schmilzt man NaNO3 mit Na2O bei 300°C zusammen, erhält man farbloses Natriumorthonitrat Na3NO4, das ein tetraedrisches, mit CF4 isoelektronisches Anion enthält. Die entsprechende Säure H3NO4 ist jedoch nicht bekannt. Gegenüber Übergangsmetall-Ionen kann das Nitrat-Ion als meistens zweizähniger Komplexligand fungieren. Beispielsweise enthalten die wasserfreien Nitrate des Ti4+, Co3+ und Cu2+ koordinativ (und nicht ionisch) gebundene Nitratogruppen. Diese Nitrate sind daher schon bei mäßig erhöhter Temperatur unzersetzt flüchtig. Konzentrierte 50–70 %ige wässrige Salpetersäure wird zur Herstellung von Stickstoffdüngemitteln wie Ammoniumnitrat und zum Aufschluss von Rohphosphat (Ca3[PO4]2) verwendet, das dabei in wasserlösliches Hydrogenphosphat überführt wird. Die wasserfreie Säure findet Verwendung zur Nitrierung organischer Verbindungen.

9.7.3 Peroxosalpetersäure HNO4 bzw. HOONO2 Die in reiner Form nicht bekannte Peroxosalpetersäure entsteht bei der Reaktion von konzentriertem Wasserstoffperoxid mit wässriger Salpetersäure oder mit dem Salz [NO2][BF4], jeweils bei Temperaturen unterhalb von 0°C: HOOH + [NO2][BF4] HOOH + HONO2

HOONO2 + HBF4 HOONO2 + H2O

Die Verbindung HOONO2 wird aber auch in der oberen Atmosphäre aus den Radikalen HO2 und NO2 in einer reversiblen Reaktion gebildet. Das freie Molekül HOONO2 besteht aus einer planaren OONO2-Einheit und einer ungefähr senkrecht dazu stehenden OHGruppe. Da sowohl die Ο–O- als auch die Ν–O-Einfachbindung homolytisch leicht zu spalten sind, erklärt sich die hohe Reaktivität von HNO4. In saurer Lösung beträgt die Halbwertszeit ca. 30 min, in alkalischer Lösung tritt rasch Zersetzung zu Nitrit und O2 ein. Salze sind daher nicht bekannt. Wässriges HNO4 ist ein starkes Oxidationsmittel, das Chlorid-Ionen zu Cl2 oxidiert.50

49 50

Beispielsweise aus der Reaktion von Zink mit Salzsäure. E. H. Appelman, D. J. Gosztola, Inorg. Chem. 1995, 34, 787. A. R. Ravishankara et al., J. Phys. Chem. A 2005, 109, 586.

351

9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs

9.7.4 Salpetrige Säure HNO2 bzw. HONO Salpetrige Säure, auch Salpetrigsäure genannt, ist instabil und daher nicht in reinem Zustand herstellbar, sondern nur in der Gasphase und in verdünnter Lösung einige Zeit haltbar. Dagegen sind die Nitrite beständige Salze, die auf folgende Weise hergestellt werden: NO + NO2 + 2 NaOH

2 NaNO2 + H2O *T

NaNO3 + Fe

NaNO2 + FeO

Natriumnitrit wird in der Lebensmittelindustrie zur Bekämpfung von Chlostridium-Bakterien auf Fleisch verwendet, durch deren Toxine Lebensmittelvergiftungen (Botulismus) ausgelöst werden. Durch doppelte Umsetzung erhält man aus NaNO2 leicht Ba[NO2]2, das mit Schwefelsäure unter Ausfällung von BaSO4 zu einer reinen, verdünnten HNO2Lösung umgesetzt werden kann. Diese wässrige Lösung disproportioniert langsam, schneller beim Erwärmen nach: [H3O]+ + [NO3]) + 2 NO

3 HNO3

In der Gasphase zerfällt HNO2 dagegen in einer endothermen Gleichgewichtsreaktion teilweise nach: 2 HNO2

NO2 + NO + H2O

Salpetrige Säure besteht in der Gasphase aus planaren Molekülen von cis- und trans-HNO2: O O H

N

O

N

H

O trans cis Das trans-Isomer ist um 2 kJ mol–1 stabiler als die cis-Form. Die Isomerisierung durch Rotation um die zentrale Bindung erfordert eine Aktivierungsenthalpie von 45 kJ mol–1. Wässriges HNO2 (pKa = 3.35 bei 18°C) ist nur wenig stärker als Essigsäure und reagiert sowohl als Reduktionsmittel (gegenüber Permanganat [MnO4]–), als auch als Oxidationsmittel (gegenüber I– und Fe2+). Die Nitrite der Alkalimetalle und des Ammonium-, Barium- und Thallium-Ions enthalten ein ionisch gebundenes Nitrit-Ion. Von ihm leiten sich formal auch die organischen Nitroverbindungen R–NO2 und die Ester der Salpetrigen Säure R–O–NO ab. Das NitritIon kann aber gegenüber Metall-Ionen (M) auch als Komplexligand fungieren, und zwar als Nitrogruppe Μ–NO2 und als Nitritogruppe Μ–ONO. Derartige kovalente Strukturen findet man auch in den Übergangsmetallnitriten. Einer der bekanntesten Nitrokomplexe ist das Natriumhexanitrocobaltat Na3[Co(NO2)6]. Mit H2O2 reagiert NaNO2 zu gelbem Peroxonitrit [ONOO]–, einem sehr starken Oxidationsmittel, das in alkalischer Lösung einigermaßen beständig ist, aber allmählich zum Nitrat isomerisiert und daher nicht in reiner Form isoliert werden kann.51 Siehe auch Abschnitt 9.7.5. 51

S. Goldstein, G. Czapski, Inorg. Chem. 1995, 34, 4041; J. R. Leis, M. E. Pena, A. Ríos, J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1993, 1298.

352

9 Stickstoff

Wässriges HNO2 reagiert mit überschüssigem H2O2 bei 0°C zu Peroxosalpetersäure HOONO2, die in maximal 1.5-molarer Konzentration erhalten wurde und die sich bei 22°C in saurer Lösung mit einer Halbwertszeit von 30 min zersetzt (Abschnitt 9.7.3). In alkalischer Lösung erfolgt rasche Zersetzung zu Nitrit und O2. Wie zu erwarten, ist HOONO2 ein sehr starkes Oxidationsmittel.52

9.7.5 Peroxosalpetrige Säure HOONO Stickstoffmonoxid und Tetramethylammoniumsuperoxid reagieren in flüssigem Ammoniak zum entsprechenden Peroxonitrit, das als gelbes, mikrokristallines und hygroskopisches Pulver isoliert wurde: [Me4N][O2] + NO

[Me4N][OONO]

Diese Reaktion ist von großer Bedeutung, da es einerseits Hinweise gibt, dass im Säugetierorganismus die bei der Sauerstoffatmung entstehenden Superoxid-Anionen in ähnlicher Weise mit NO zu toxischem Peroxonitrit reagieren,53 und da andererseits Peroxosalpetrige Säure als Reaktionsprodukt von OH-Radikalen mit NO2 in der Stratosphäre vermutet wird. In der Gasphase sind die Moleküle HOONO planar und von cis-cis-Konformation, wahrscheinlich als Folge einer intramolekularen O....H-Wasserstoffbrückenbindung. Die wässrige Säure HOONO ist schwach (pKa = 6.5+0.1) und unter physiologischen Bedingungen (pH = 7.4) nur ca. 1s lang beständig, wobei durch Homolyse der OO-Bindung und Rekombination der beiden Radikale das Isomer Salpetersäure HONO2 entsteht. In stark alkalischer Lösung zersetzt sich das Peroxonitrit-Anion dagegen in bimolekularer Reaktion zu Nitrit und O2. Die Gleichgewichtskonstante der Reaktion HOONO + H2O

7.5·10–4

HONO + H2O2

L–1

wurde zu mol bestimmt. Das oben erwähnte Salz [Me4N][OONO] enthält ein planares Anion von cis-Konformation. Dieses Salz ist im trockenen Zustand bei Raumtemperatur haltbar; beim Erhitzen isomerisiert es bei ca. 110°C ohne Gewichtsverlust in exothermer Reaktion zum Nitrat. Umgekehrt können Nitrat-Ionen durch UV-Bestrahlung (200 nm, π-π*-Anregung) zur Isomerisierung zum Peroxonitrit veranlasst werden. Peroxonitrite sind starke 2-Elektronen-Oxidationsmittel.

9.7.6 Hyposalpetrige Säure (HON)2 Die Säure (HON)2 ist sowohl in reinem Zustand als auch in Form von Salzen, den Hyponitriten, bekannt. Reduziert man NaNO2 in wässriger Lösung bei 0°C mit Natriumamalgam, erhält man eine Na2N2O2-Lösung, aus der mit AgNO3 das gelbe, schwer lösliche Ag2N2O2 gefällt werden kann: 52 53

E. H. Appelman, D. J. Gosztola, Inorg. Chem. 1995, 34, 787; Z. Chen, T. P. Hamilton, J. Phys. Chem. 1996, 100, 15731. A. Daiber, V. Ullrich, Chemie unserer Zeit 2002, 36, 366.

353

9.7 Sauerstoffsäuren des Stickstoffs

2 NaNO3 + 8 Na + 4 H2O

trans-Na2N2O2 + 8 NaOH

Beim Eintragen des Silbersalzes in etherische HCl-Lösung entsteht die freie Säure, die beim Einengen der filtrierten Lösung in farblosen, explosiven Blättchen auskristallisiert. (HON)2 ist eine sehr schwache Säure (pK1 = 7.2), die sich langsam und irreversibel schon in der Kälte nach folgender Gleichung zersetzt: (HON)2

N2O + H 2 O

Die so dargestellte Säure enthält die O-Atome in trans-Stellung, was auch für das Anion des oben beschriebene Na-Salzes gilt: OH N

O

N

HO trans-(NOH)2

N

N

O trans-[N2O2]2)

N O

N O

cis-[N2O2]2)

Eine Rotation um die NN-Bindung ist wie bei anderen Derivaten des Diazens nur durch Überwindung einer relativ hohen Barriere möglich. Die dafür erforderliche Aktivierungsenthalpie steht bei Raumtemperatur nicht zur Verfügung, so dass auf diese Weise keine Isomerisierung stattfinden kann. Statt dessen kann aber eine Inversion am N-Atom erfolgen, wofür die Barriere niedriger ist. Mit Stickstoffbasen reagiert (HON)2 zu den entsprechenden trans-Hyponitriten, von denen mehrere strukturell charakterisiert wurden.54 Farbloses cis-Na2N2O2 entsteht bei der Reaktion von NO mit Na in flüssigem Ammoniak bei –50°C als amorphes Pulver sowie bei der Reaktion von Na2O mit N2O bei 360°C in kristalliner Form.55 Mit Wasser reagiert die Verbindung zu N2O und NaOH.

54 55

D. S. Bohle et al., Inorg. Chem. 1999, 38, 2716. C. Feldmann, M. Jansen, Z. Anorg. Allg. Chem. 1997, 623, 1803.

354

10.1 Allgemeines

10

355

Phosphor und Arsen

10.1 Allgemeines In der 15. Gruppe des Periodensystems beobachtet man ähnlich wie in den beiden Nachbargruppen von oben nach unten den Übergang von einem rein nichtmetallischen Element (N) über Elemente mit nichtmetallischen und metallischen Modifikationen (P, As) zu rein metallischen Elementen (Sb, Bi). Im vorliegenden Kapitel werden nur die unter Normalbedingungen eindeutig nichtmetallischen Elemente Phosphor1 und Arsen2 behandelt, wobei jedoch die Chemie des Arsens nur knapp umrissen wird, da viele As-Verbindungen den entsprechenden Phosphorverbindungen ähneln. Phosphor wird daher als repräsentatives Element ausführlicher besprochen, auch weil P-Verbindungen in der Industrie und der Physiologie eine äußerst wichtige Rolle spielen. Oft werden die Elemente der 15. Gruppe zusammen als Pnictide bezeichnet.

10.2 Bindungsverhältnisse in Pund As-Verbindungen Die Valenzelektronenkonfiguration des Phosphoratoms im Grundzustand ist 3s23px1 py1 pz1. Mit den drei halbbesetzten Orbitalen kann das P-Atom drei kovalente Bindungen eingehen oder formal ein dreifach negativ geladenes Ion P3– bilden.3 Zwischen diesen beiden Extremen sind Zwischenstufen möglich, wie folgende Beispiele zeigen: drei kovalente Bindungen: PH3, PCl3, PMe3, P4 kovalente und ionische Bindungen: [PH2]– und Na+ in Na[PH2] ionische Bindung: P3– und Na+ in Na3P Analoge Verbindungen sind vom Arsen bekannt. Sie alle weisen am Zentralatom formal ein Elektronenoktett auf. Gemäß den Regeln des VSEPR-Modells sind Phosphane PX3 und Arsane AsX3 ausnahmslos trigonal-pyramidal gebaut, wobei die Valenzwinkel normalerweise im Bereich 90–102° liegen (Tab. 2.5). Dies wird verständlich, wenn man die drei kovalenten σ-Bindungen unter Verwendung der drei p-Orbitale des Zentralatoms konstruiert. Die Valenzwinkel α sollten danach nahe bei 90° liegen, was beim PH3 (93.5°) auch näherungsweise zutrifft. Beim PF3 (α = 97.7°) liegen dagegen keine reinen Einfachbindungen vor. Vielmehr kommt es wegen der Elektronegativitätsdifferenz zwischen P 1

2 3

D. E. C. Corbridge, Phosphorus – An Outline of its Chemistry, Biochemistry and Technology, 5. Aufl., Elsevier, Amsterdam, 1995. M. E. Schlesinger, Chem. Rev. 2002, 102, 4267 (Thermodynamik). P. F. Kelly, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4308. New Aspects of Phosphorus Chemistry I–V, Top. Curr. Chem., Vols. 220, 223, 229, 232 und 250 (2000–2005). M.-A. Munoz-Hernández, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 1, 268. Zur Existenz von kleinen, mehrfach geladenen Anionen vgl. Kap. 2.1.3.

356

10 Phosphor und Arsen

und F zu einer hohen positiven Partialladung am P-Atom und dadurch zu einer koordinativen π-Bindung (Hyperkonjugation) zwischen den formal nichtbindenden 2pπ-Orbitalen der Fluoratome und den tiefsten unbesetzten Molekülorbitalen am P-Atom. Diese weisen am P-Atom hauptsächlich 3p-Charakter auf, sind von e-Symmetrie und bezüglich der PFBindungen schwach antibindend (Kap. 2.4.9). Als Folge dieser Wechselwirkung haben die PF-Bindungen einen gewissen Mehrfachbindungscharakter, was unter anderem die hohe Bindungsenthalpie erklärt (490 kJ mol–1).4 Der relativ große Valenzwinkel ist die Folge der gleichnamigen Ladung der Substituenten, die sich daher gegenseitig abstoßen. Aufgrund des steigenden Platzbedarfs der schwereren Halogenatome nehmen die Winkel in der Reihe PF3 – PCl3 – PBr3 – PI3 zu (Tab. 2.5). In Verbindungen vom Typ PX3 bzw. AsX3 (X = einwertige Gruppe) kann das am Zentralatom vorhandene nichtbindende Elektronenpaar für eine weitere σ-Bindung aktiviert werden, wobei es sich formal um eine koordinative Bindung handelt. Beispielsweise entsteht durch Protonierung von EH3 das Kation [EH4]+. Solche Kationen sind tetraedrisch gebaut. Ihre kovalenten Bindungen sind aber alle gleich und entsprechen denen im CH4 (Kap. 2.4.10; Valenzwinkel 109.5°). Beispiele für derartige Phosphonium- und Arsonium-Kationen sind (R: organischer Rest): [PH4]+ [PCl4]+ [R4P]+ [AsH4]+ [AsCl4]+ [R4As]+ Die LEWIS-Basizität der Pnictide in Verbindungen vom Typ EX3 nimmt allerdings mit zunehmendem Atomradius stark ab. Dies erkennt man an folgenden Werten der Protonenaffinität in der Gasphase (kJ mol–1): NH3: 854 PH3: 785 AsH3: 748 NMe3: 949 PMe3: 959 AsMe3: 897 Koordinative Bindungen liegen auch in den zahlreichen Übergangsmetall-Komplexen vor, die Liganden des Typs EX3 wie zum Beispiel PF3 oder Ph3P enthalten. Dabei ist das Molekül EX3 nicht nur ein σ-Donor sondern auch ein π-Akzeptor, da auch hierbei die beiden untersten unbesetzten Molekülorbitale am P-Atom Elektronen vom Metallatom übernehmen können. Diese Orbitale sind keine d-Orbitale, sondern haben am P-Atom im Wesentlichen 3p-Charakter. Der entscheidende Unterschied zwischen der Chemie des Stickstoffs einerseits und der von Phosphor und Arsen andererseits ergibt sich aus den viel größeren Atomradien der schwereren Pnictide (Tab. 4.3) sowie aus ihren geringeren Elektronegativitäten (Tab. 4.8). Der größere Radius erlaubt höhere Koordinationszahlen und damit die Bildung hyperkoordinierter Verbindungen (Kap. 2.6). Beispiele dafür sind die folgenden trigonal-bipyramidalen Moleküle PF5

PCl5

Ph5P

AsF5

Me5As

sowie die Ionen: [PF6]– [PCl4]– [PCl6]– [AsF6]– [AsCl6]– Die Bindungsverhältnisse in diesen Ionen entsprechen denen in den isoelektronischen Schwefelverbindungen SF4 und SF6. In allen Fällen hyperkoordinierter Verbindungen 4

A. E. Reed, P. von R. Schleyer, J. Am. Chem. Soc. 1987, 109, 7362.

357

10.2 Bindungsverhältnisse in P- und As-Verbindungen

können die σ-Bindungen als Mehrzentrenbindungen beschrieben werden, ohne dass d-Orbitale des Zentralatoms in Anspruch genommen werden müssen. Beim PF5 beispielsweise resultieren aus der σ-Wechselwirkung der vier Valenzorbitale des P-Atoms mit den 2p-Orbitalen der fünf F-Atome vier bindende, ein nichtbindendes und vier antibindende Molekülorbitale.5 Die 10 Valenzelektronen besetzen die untersten fünf Zustände, wodurch sich eine stabile, abgeschlossene Elektronenkonfiguration ergibt (vier bindende und ein nichtbindendes Paar). Das nichtbindende Elektronenpaar ist über die fünf F-Atome delokalisiert, so dass am P-Atom nur 8 bindende Elektronen vorhanden sind und die Oktettregel nicht verletzt wird.6 Da die äquatorialen Bindungen seitens des P-Atoms von den Atomorbitalen 3s, 3px und 3py gebildet werden, die axialen Bindungen aber von den Orbitalen 3s und 3pz, sind die äquatorialen Bindungen etwas stärker als die axialen. Beispielsweise betragen die PF-Kernabstände beim PF5 äquatorial 153 und axial 158 pm. Zu bestimmten Atomen können Phosphor und Arsen außer σ- auch noch π-Bindungen ausbilden. Die wichtigsten weil stärksten π-Bindungen sind vom (pπ–pπ)-Typ. Für π-Bindungen zum Phosphor geeignete Partneratome sind vor allem die leichteren Nichtmetalle B, C, N und O, aber auch P, S und As. Dabei sind zwei Typen von π-Wechselwirkungen strikt zu unterscheiden: (a) Ist das betrachtete P-Atom dreiwertig, wie in den Phosphaalkenen R–P=CR2, den Phosphazenen R–P=N–R oder den Diphosphenen R–P=P–R, kommt die π-Bindung wie bei entsprechenden Diazenen R–N=N–R durch Überlappung zweier pπ-Orbitale zustande. Diese Situation kann als klassische π-Bindung bezeichnet werden. Analoges gilt für die Phosphaalkine R–C≡P, die eine Dreifachbindung enthalten, die der in Nitrilen R–C≡N und in Molekülen wie N2 und P2 ähnelt. Um eine klassische π-Bindung handelt es sich auch beim Phosphabenzol, einem planaren Molekül, das dem Pyridin entspricht und in dem ein aromatisches System unter Einschluss des 3pπ-Orbitals des P-Atoms vorliegt:

Benzol

N

P

Pyridin

Phosphabenzol

(b) Ist das betrachtete P-Atom fünfwertig, wie in den Phosphanoxiden R3P=O oder den Phosphoryliden R3P=CH2, handelt es sich um π-Wechselwirkungen zwischen den pπ-Orbitalen an den Substituentatomen mit unbesetzten Molekülorbitalen am P-Atom (Hyperkonjugation). Im Falle von Ph3PO beispielsweise ist der PO-Kernabstand mit 149 pm viel kleiner als bei den Brückenbindungen im P4O10 (160 pm). Da jedoch die Valenzorbitale 3s und 3pxpypz des P-Atoms für die Errichtung der σ-Bindungen verwandt wurden und die 3d-Orbitale energe5

6

T. A. Albright, J. K. Burdett, M.-H. Whangbo, Orbital Interactions in Chemistry, Wiley, New York, 1985. Die d-Orbitale spielen in diesen Verbindungen in erster Linie eine Rolle als Polarisationsfunktionen. Ihre Elektronen-Population ist sehr klein; siehe D. L. Cooper et al., J. Am. Chem. Soc. 1994, 116, 4414. Im Falle von Fluorliganden muss man allerdings zusätzlich mit einer π-Rückbindung von nichtbindenden F-Elektronen in σ*-MOs des Zentralatoms rechnen.

358

10 Phosphor und Arsen

tisch viel zu hoch liegen, erfolgt die π-Wechselwirkung der beiden 2p-AOs des terminalen O-Atoms mit den beiden tiefstliegenden, antibindenden σ*-MOs am Phosphor. Diese zweifach entarteten MOs weisen hauptsächlich 3p-Charakter auf. Es kommen daher zwei π-Bindungen zustande, deren Auswirkung auf die PO-Bindung annähernd mit folgenden Grenzstrukturen beschrieben werden kann:7 R3P O

R3P O

Da diese koordinativen π-Bindungen jedoch viel schwächer sind als die σ-Bindungen, kann ein eindeutiger „Bindungsgrad“ nicht angegeben werden. In analoger Weise sind die π-Bindungen zu den terminalen O-Atomen in den Phosphat-Ionen und den Phosphoroxiden sowie zu den terminalen S-Atomen in den Thiophosphat-Ionen und den Phosphorsulfiden zu beschreiben. In all diesen Fällen haben ab-initio-MO-Rechnungen ergeben, dass die 3d-AOs des Phosphors nicht beteiligt sind. Auch in den Phosphazenen des fünfwertigen Phosphors liegen keine klassischen π-Bindungen vor. Zusammenfassend kann man sagen, dass das P-Atom zu unterschiedlichsten Bindungsverhältnissen befähigt ist, was eine außerordentliche Vielfalt von Verbindungen zur Folge hat. Die Koordinationszahlen am P-Atom variieren dabei zwischen 1 und 6; bei weitem am häufigsten sind jedoch Verbindungen mit den Koordinationszahlen 3 und 4. Die formalen Oxidationsstufen variieren zwischen –3 und +5. Beispiele dafür sind folgende Verbindungen: –3

–2

–1

0

+1

+2

+3

+4

+5

PH3

P2H4

LiP

P4

H3PO2

P2F4

P4O6

H4P2O6 P4O10

Für Arsenverbindungen gilt Entsprechendes. Die wahrscheinlich wichtigste Untersuchungsmethode für Phosphorverbindungen ist die 31P-NMR-Spektroskopie. Bei einzelnen Verbindungen werden die verschiedenen Anwendungen dieser Methode erläutert.

10.3 Phosphor und Arsen Phosphor und Arsen sind Reinelemente, von denen nur jeweils ein stabiles Isotop bekannt ist, nämlich 31P mit dem Kernspin I = 12 und 75As mit I = 32. Von den 16 radioaktiven Phosphorisotopen ist 32P das bei weitem wichtigste; es wird durch Neutronenbestrahlung aus 32S(n,p) bzw. 31P(n,γ) hergestellt und zerfällt als β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 14.28 d.

7

D. G. Gilheany, Chem. Rev. 1994, 94, 1339.

10.3 Phosphor und Arsen

10.3.1

359

Herstellung der Elemente

Phosphor findet sich als sehr reaktionsfähiges und insbesondere sehr oxophiles Element in der Erdkruste nahezu ausschließlich in Form von Orthophosphaten, von denen die Apatite am wichtigsten sind, nämlich Fluorapatit Ca5[(PO4)3F], Chlorapatit Ca5[(PO4)3Cl] und Hydroxylapatit Ca5[(PO4)3(OH)]. Daneben gibt es riesige Lagerstätten von amorphem Phosphorit, dessen Zusammensetzung etwa der des Fluorapatits entspricht. Im Jahre 2000 wurden 133·106 t Phosphat abgebaut. Die Knochen von Wirbeltieren bestehen zu ca. 23 % aus Mineralien, wovon 87 % Ca5[(PO4)3(OH)] und 12 % CaCO3 sind. In der Erdkruste ist Phosphor das elfthäufigste Element. Elementarer Phosphor wird aus Phosphorit durch Reduktion mit Koks freigesetzt, wobei Quarz zugesetzt werden muss, um eine flüssige Schlacke aus Calciumsilicat und -fluorid oder -fluorosilicat zu bilden, die aus dem Ofen abfließt: 2 Ca5(PO4)3F + 15 C + 9 SiO2

3 P2 + 15 CO + 9 CaSiO3 + CaF2

Die für diese Reduktion erforderliche sehr hohe Temperatur von 1400–1500°C wird in einem elektrischen Lichtbogenofen erreicht.8 Bei dieser Temperatur besteht der zusammen mit dem Kohlenmonoxid aus dem Ofen entweichende Phosphordampf überwiegend aus P2-Molekülen.9 Beim Abkühlen des von Staub befreiten Gasgemisches wird der Phosphor in einem Turm durch Einsprühen von Wasser kondensiert, wobei P2 zu P4 dimerisiert, das als flüssiger weißer Phosphor (Schmp. 44°C, Sdp. 280°C) gewonnen wird (Jahresproduktion weltweit ca. 1.0·106 t). Aus weißem Phosphor werden alle anderen Phosphormodifikationen hergestellt. Etwa 85 % des weißen Phosphors dienen zur Herstellung sehr reiner thermischer Phosphorsäure, der Rest wird zu rotem Phosphor, zu Phosphorsulfiden, -chloriden, und -oxidchloriden sowie zu Organophosphorverbindungen verarbeitet. Arsen kommt in der Natur vor allem in Form von Sulfiden und Arseniden vor. Wichtige Mineralien sind besonders der rote Realgar As4S4 und das gelbe Auripigment As2S3, die beide schon in der Antike verwendet wurden und die beim Rösten in flüchtigen Arsenik As2O3 übergehen. Arsenopyrit FeAsS ist ein Begleiter von Eisenerzen. Wegen der weiten Verbreitung von Metallarseniden werden Arsenerze nicht bergmännisch gewonnen; vielmehr fällt das Element als Nebenprodukt der Kupfer-, Zinn-, Zink-, Silber- und Goldgewinnung an. Das beim Rösten der Erze erhaltene technische Arsentrioxid As2O3 wird entweder sublimiert oder mit HCl zu AsCl3 umgesetzt, das fraktioniert destilliert und als Dampf (Sdp. 130°C) bei ca. 620°C mit H2 zu metallischem grauem Arsen reduziert wird. Hochreines, durch Sublimation gereinigtes Arsen wird zur Herstellung des Halbleiters Galliumarsenid GaAs verwendet, der zur Produktion von Hochleistungschips für Mobiltelefone, Satelliten und Verkehrsleitsysteme dient. 8

9

Ein moderner Ofen hat einen Durchmesser von 12 m und produziert 4 t P4 pro Stunde. Um 1 t P4 zu erzeugen, braucht man ca. 8 t Phosphorit, 2.8 t Quarzkies SiO2, 1.25 t Koks, 0.05 t Elektrodenmasse und 13 MWh Energie. Als Nebenprodukte entstehen 7.7 t Schlacke, 0.15 t Ferrophosphor (Fe2P) und 2500 m3 Abgas mit 85 % CO-Gehalt. Im Phosphorit vorhandenes Fluorid findet sich in der Schlacke als CaF2 oder Ca4[Si2O7F2]. Das Gleichgewicht P4 ; 2 P2 (∆ H°298 = 229.1und ∆G°298 = 182.2 kJ mol–1) liegt bei Temperaturen oberhalb 1200°C auf der rechten Seite, ähnlich wie das Gleichgewicht S8 ; 4 S2; siehe Kap. 4.2.3. Bei 800°C ist 1 % des P4 in P2 dissoziiert.

360

10 Phosphor und Arsen

Während der menschliche Körper weniger als 0.3 ppm As enthält, liegt die Konzentration bei manchen Meerestieren im Bereich 3–30 ppm.

10.3.2

Modifikationen von Phosphor und Arsen

Weißer Phosphor ist eine bei Raumtemperatur wachsweiche, farblose bis schwach gelbliche Masse, die den elektrischen Strom nicht leitet und die in allen Phasen aus tetraedrischen P4-Molekülen besteht.10 Diese Form des Phosphors ist giftig, außerordentlich reaktionsfähig und in fein verteilter Form an der Luft selbstentzündlich. P4 löst sich in organischen Lösungsmitteln, besonders gut in CS2, nicht dagegen in Wasser, weshalb man P4 unter H2O aufbewahrt. Die Bindung im P4-Molekül wurde bereits diskutiert (Kap. 2.4.9). Erhitzt man weißen Phosphor auf 180–350°C, möglichst in Gegenwart von katalytischen Mengen Iod, wandelt er sich in exothermer Reaktion in polymeren, amorphen, roten Phosphor um,11 der beim weiteren Erhitzen auf 450–550°C unter Farbvertiefung kristallisiert und dann als violetter oder Hittorf’s Phosphor bezeichnet wird. Durch geeignete Wahl der Reaktionsbedingungen wurde eine faserige Modifikation des Phosphors hergestellt, die strukturell Hittorf’s Phosphor eng verwandt ist.12 Alle diese Modifikationen sind spezifisch dichter sowie wesentlich reaktionsträger als weißer Phosphor und daher ungiftig, außerdem in CS2 unlöslich und dadurch sowie durch den wesentlich höheren Schmelzpunkt von ca. 610°C als polymer ausgewiesen. Bei diesem „Schmelzpunkt“ handelt es sich in Wirklichkeit um eine Zersetzungstemperatur, da ein polymeres Netzwerk nur unter Depolymerisation schmelzen und verdampfen kann; dabei entstehen bei Normaldruck P4-Moleküle. Bei Temperaturen oberhalb 800°C dissoziiert P4 reversibel in zwei P2-Moleküle. Die Bindungsverhältnisse von P2 entsprechen denen von N2. Erhitzt man weißen oder roten Phosphor unter hohem Druck (1.2 GPa bei 200°C), wandelt er sich in orthorhombischen schwarzen Phosphor um, der die bei Raumtemperatur und Normaldruck thermodynamisch stabile Form darstellt. Diese Reaktion kann in einer Hochenergiekugelmühle durchgeführt werden, in der die fallenden Stahlkugeln beim Auftreffen auf den roten Phosphor lokal sowohl die notwendige hohe Temperatur als auch den erforderlichen Druck erzeugen. Größere Kristalle von Pschwarz erhält man beim Erhitzen von Prot in einer evakuierten Ampulle auf 600°C in Gegenwart von Au, Sn und SnI4.13 Schwarzer Phosphor kristallisiert je nach (steigendem) Druck orthorhombisch (halbleitend), rhomboedrisch (halbmetallisch) oder kubisch (metallisch). Die Dichte dieser Materialien übertrifft noch die des violetten Phosphors; die kubische Form ist ein Tieftemperatur-Supraleiter. Schwarzer Phosphor ist unlöslich und reaktionsträge. Bei Temperaturen oberhalb von 550°C wandelt er sich in violetten Phosphor um, der dann bis zum Schmelzpunkt (610°C) die stabile Form ist. 10 11

12 13

A. Simon, H. Borrmann, J. Horakh, Chem. Ber. 1997, 130, 1235; H. Okudera, R. E. Dinnebier, A. Simon, Z. Kristallogr. 2005, 220, 259. Technisch wird roter Phosphor in großen Kugelmühlen bei langsam von 270° auf 350°C steigender Temperatur erzeugt, anschließend zur Entfernung von P4-Resten mit heißer Natronlauge gewaschen, unter N2 getrocknet und gegebenenfalls durch Zusatz von Mg(OH)2 oder Al(OH)3 gegen Autoxidation stabilisiert. M. Ruck et al., Angew. Chem. 2005, 117, 7788. S. Lange, P. Schmidt, T. Nilges, Inorg. Chem. 2007, 46, 4028.

361

10.3 Phosphor und Arsen

Strukturen der P- und As-Modifikationen Für den roten Phosphor wird eine Struktur angenommen, die aus helicalen Ketten von P2und P10-Einheiten besteht,14 ähnlich der Struktur von (CuI)3P12 (Abb. 10.1a).15 Derartige Phosphor-Nanoröhren wurden aus den CuI-Addukten (CuI)3P12 und (CuI)8P12 durch Extraktion des CuI mittels wässriger KCN-Lösung hergestellt.16 (a) Strukturmodell für roten Phosphor

P2

P2

P10

P10

P2

(b)

P8

P2

P9

P2

P8

P2

P9

P2

Ausschnitt aus der Struktur von Hittorf’schen bzw. faserigen Phosphor

Abb. 10.1 (a) Für den roten Phosphor postulierte Struktur; (b) Zentrales Strukturelement von Hittorf’s Phosphor und von faserigem Phosphor.

Die Kristallstruktur von Hittorf’s Phosphors ist kompliziert und besteht aus tubulären Strängen von miteinander vernetzten P2-, P8- und P9-Einheiten, die mit benachbarten, senkrecht verlaufenden Strängen zu Doppelschichten verknüpft sind (Abb. 10.1b). Das Strukturprinzip des faserigen Phosphors ist dem von Hittorf’s Phosphors analog, nur erfolgt die Verknüpfung der aus P2-, P8- und P9-Einheiten aufgebauten Stränge an der Spitze der P9-Einheiten parallel zum ersten Strang. Dagegen ist der zweite Strang in Hittorf’s Phospor gegen den ersten um 90° verdreht angeordnet. In beiden Modifikationen liegen ausschließlich dreifach koordinierte P-Atome vor, die über Einfachbindungen der Länge 217–230 pm miteinander verknüpft sind. Die Kristalle des orthorhombischen schwarzen Phosphors bestehen aus parallel übereinander liegenden Doppelschichten aus P-Atomen in sechsgliedrigen Ringen in Sesselkonformation. In den Schichten sind die Ringe axial verknüpft (Abb. 10.2 rechts). Dieses Strukturprinzip führt zu einer starken Wellung der Schichten. Hingegen ist die Verknüpfung der P6-Ringe im rhomboedrischen Phosphor und die der As6-Ringe im isostrukturellen grauen Arsen äquatorial (Abb. 10.2 links). 14 15 16

H. Hartl, Angew. Chem. 1995, 107, 2857; S. Böcker, M. Häser, Z. Anorg. Allg. Chem. 1995, 621, 258. M. H. Möller, W. J. Jeitschko, J. Solid State Chem. 1986, 65, 178. A. Pfitzner, E. Freudenthaler, Angew. Chem. 1995, 107, 1784. A. Pfitzner et al., Angew. Chem. 2004, 116, 4324.

362

10 Phosphor und Arsen

Pschwarz, rhomboedrisch / Asgrau

Pschwarz, orthorhombisch

Abb. 10.2 Struktur des des orthorhombischen schwarzen Phosphors (rechts) und des rhomboedrischen Phosphors bzw. grauen Arsens (links).

In den beiden Hälften der Doppelschicht bilden die P-Atome Zick-Zack-Ketten mit Valenzwinkeln von 97° und Einfachbindungen von 222 pm Länge. Jedes P-Atom der Kette ist außerdem mit einem Atom in der anderen Hälfte der Doppelschicht verbunden (Kernabstand 224 pm, Winkel 102°), so dass ein System von kondensierten Sechsringen entsteht. Bemerkenswerterweise ist der kleinste Abstand zweier nicht direkt verbundener Atome einer Doppelschicht (d’) mit 331 pm wesentlich kleiner als der VAN DER WAALSAbstand von 380 pm. Dies zeigt das Vorliegen von schwachen koordinativen Bindungen an. Das Verhältnis d’/d beträgt 1.49 und entspricht etwa dem im grauen Selen (Tab. 12.3), das ebenfalls Halbleitereigenschaften aufweist. Der kleinste Kernabstand zwischen den Doppelschichten des schwarzen Phosphors ist mit 359 pm auch noch deutlich geringer als der VAN DER WAALS-Abstand. Dennoch sind die Bindungen zwischen den Doppelschichten schwach und bedingen eine ähnlich gute Spaltbarkeit der Kristalle parallel zu den Schichten wie beim Graphit. Die Dichte der Phosphormodifikationen steigt vom weißen (1.82 g cm–3) über den roten (~2.16), den violetten (2.35), den orthorhombischen (2.69) und den rhomboedrischen (3.56) bis zum kubischen Phosphor (3.88 g cm–3) stetig an. Roter Phosphor wird als Brandschutzmittel, zur Herstellung von Streichholz-Köpfen und Streichholz-Reibflächen sowie für Feuerwerkskörper verwandt. Vom Arsen sind drei kristalline Modifikation bekannt, die den analogen Phosphormodifikationen sehr ähnlich sind. Die thermodynamisch stabile Form ist das rhomboedrische graue Arsen, das den elektrischen Strom leitet und metallisch glänzende Kristalle bildet (Dichte 5.78 g cm–3). Diese bestehen aus gewellten Schichten von As-Atomen, die in den Schichten zu Sechsringen verbunden sind (Abb. 10.2 links). Jedes Atom hat in seiner Schicht drei nächste Nachbarn im Abstand von 252 pm und in der benachbarten Schicht drei übernächste Nachbarn im Abstand von 312 pm. Diese sekundären Kontakte sind in Abbildung 10.2 (links) mit unterbrochenen Bindungen für drei dunkel eingefärbte Atome der nächsten Schicht eingezeichnet. Die lokale Koordination der As-Atome ist daher 3+3 und verzerrt oktaedrisch. Der VAN DER WAALS-Abstand beträgt hier 400 pm. Beim Erhitzen sublimiert graues Arsen bei etwa 610°C, ohne vorher zu schmelzen. Dabei findet ähnlich wie beim roten und schwarzen Phosphor eine Depolymerisation statt; der Dampf besteht aus tetraedrischen As4-Molekülen (d = 244 pm). Leitet man diesen Dampf in eiskaltes CS2 ein, erhält man eine Lösung von As4, aus der beim Einengen und

363

10.4 Hydride von Phosphor und Arsen

Abkühlen gelbes Arsen, bestehend aus As4-Molekülen, auskristallisiert. Diese Modifikation entspricht dem weißen Phosphor und ist ein Nichtleiter. Bei Raumtemperatur wandelt sich gelbes Arsen, vor allem im Licht, schnell in graues Arsen um. In gasförmigen Gemischen von P4 und As4 wurden bei Temperaturen um 1000°C auch die gemischten Tetraedermoleküle AsP3, As2P2 und As3P spektroskopisch nachgewiesen. Metallisches Arsen wird in geringer Konzentration als Legierungsbestandteil zur Erhöhung der Härte von Blei, Bronze und Kupferlegierungen sowie zur Herstellung bestimmter Gläser verwendet.

10.4 Hydride von Phosphor und Arsen Die wichtigsten Hydride des Phosphors und Arsens sind: PH3 Phosphan (Phosphin)

H2P–PH2 Diphosphan

AsH3 Arsan (Arsin)

Während vom Arsen nur zwei weitere Hydride bekannt sind, nämlich das nur unterhalb –100°C beständige Diarsan As2H4, das bei der Zersetzung von AsH3 in einer Glimmentladung entsteht, und das bei der sauren Hydrolyse einer Mg-P-As-Legierung spurenweise entstehende Triarsan As3H5, kennt man vom Phosphor eine große Zahl weiterer Hydride. Wie im Kapitel 4.2 gezeigt wurde, ist die mittlere Bindungsenthalpie der P–P-Einfachbindung wesentlich größer als die der N–N- oder der As–As-Bindung. Phosphoratome zeigen daher wie S- und Si-Atome eine ausgeprägte Neigung zur Bildung von Ketten und Ringen, was man in vergleichbarem Umfang weder beim Stickstoff noch beim Arsen beobachtet. Ketten, Ringe und Cluster liegen auch den höheren Hydriden des Phosphors zugrunde.17 In reiner Form isoliert wurden aber bisher außer PH3 und P2H4 nur noch P3H5, P5H5 und P7H3, die folgende Strukturen aufweisen:

H2P

H P

Kette

PH2

H P

HP HP

PH PH

Ring

P HP PH P

P

PH P

Käfig

PH3, P2H4 und P3H5 sind die Anfangsglieder der homologen Reihe der kettenförmigen Phosphane mit der allgemeinen Formel PnHn+2. Dagegen ist P5H5 ein Vertreter der monocyclischen Phosphane mit der allgemeinen Formel PnHn, während P7H3 ein typisches polycyclisches Phosphan ist. Neben diesen Verbindungen wurden zahlreiche phosphorreichere Hydride NMR-spektroskopisch identifiziert. Diese Phosphane sind unbeständig und können nicht formelrein gewonnen, sondern nur angereichert werden. Es sind jedoch 17

M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623.

364

10 Phosphor und Arsen

sehr viele organylsubstituierte Derivate (Organophosphane) sowie Salze (Polyphosphide) dieser Verbindungen in reiner Form bekannt; diese werden in den Abschnitten 10.5 und 10.6 behandelt.

10.4.1

Phosphan und Arsan

PH3 ist ein farbloses, äußerst giftiges Gas (Sdp. –88°C) von charakteristischem Geruch, das im Labor am besten durch Hydrolyse von Calciumphosphid hergestellt wird: Ca3P2 + 6 H2O

2 PH3 + 3 Ca(OH)2

Als Nebenprodukt entsteht dabei Diphosphan, das durch fraktionierte Kondensation und Destillation abgetrennt werden kann. Bei der technischen PH3-Synthese wird weißer Phosphor in heißer Natronlauge disproportioniert: P4 + 3 NaOH + 3 H2O

PH3 + 3 NaH2PO2

Das als Nebenprodukt entstehende Phosphinat (früher: Hypophosphit) dient als technisches Reduktionsmittel. Die Reaktion kann jedoch in alkoholischem Medium so geführt werden, dass Phosphonat entsteht, wodurch sich die PH3-Ausbeute verdoppelt: P4 + 4 NaOH + 2 H2O

2 PH3 + 2 Na2HPO3

AsH3 (Sdp. –62°C) ist ebenfalls ein giftiges Gas, das bei der Hydrierung von Arsenverbindungen entsteht: AsCl3 + 3 LiAlH4

AsH3 + 3 LiCl + 3 AlH3

[HAsO4]2¾ + [BH4]¾ + 2 H+

AsH3 + [B(OH)4]¾

Auch bei der Einwirkung von naszierendem Wasserstoff (aus Zink und verdünnter Schwefelsäure) auf wasserlösliche Arsenverbindungen entsteht AsH3, was man zum Nachweis von Arsen ausnutzt (MARSH’s Probe). PH3 und AsH3 sind oxidationsempfindlich und verbrennen an der Luft zu H3PO4 bzw. As2O3 und H2O. Beim Erhitzen zersetzt sich PH3 teilweise, AsH3 vollständig in die Elemente. Beide Hydride weisen positive Bildungsenthalpien auf (∆f H° 298(PH3): +5.5 kJ mol–1; AsH3: + 66.4 kJ mol–1). Die Moleküle PH3 und AsH3 sind wie NH3 trigonal-pyramidal gebaut, wobei die Valenzwinkel in der Reihe vom NH3 zum SbH3 stark abnehmen: NH3: 107.3° PH3: 93.8° AsH3: 91.8° SbH3: 91.7° Das nichtbindende Elektronenpaar befindet sich beim PH3 und AsH3 nicht mehr wie beim NH3 in einem stark gerichteten Orbital, sondern in einem schon fast reinen s-Orbital. Dementsprechend nimmt die LEWIS-Basizität dieser Hydride vom NH3 zum AsH3 stark ab. Auch ist die Barriere der pyramidalen Inversion (Kap. 9.3) sehr viel höher als bei NH3 und den Aminen (NH3: 24, PH3: 156 kJ mol–1). Daher kann man chirale substituierte Phosphane18 und Arsane bei 25°C in die Enantiomere trennen. Bei der Protonierung der Hydride PH3 bzw. AsH3 entstehen die tetraedrischen Phosphonium- und Arsonium-Ionen [PH4]+ und [AsH4]+. Salze mit diesen Kationen disso18

K. M. Pietrusiewicz, M. Zablocka, Chem. Rev. 1994, 94, 1375.

365

10.4 Hydride von Phosphor und Arsen

ziieren viel leichter in PH3 bzw. AsH3 und die entsprechende Säure, als das bei den analogen Ammoniumsalzen der Fall ist. [PH4]I, das unter wasserfreien Bedingungen aus PH3 und HI entsteht, sublimiert unter Dissoziation bei 80°C, [PH4]Cl bereits bei –28°C. In wässriger Lösung hydrolysiert [PH4]I zu PH3, [H3O]+ und I–. Daher kann man aus [PH4]I und einer Lauge reines PH3 herstellen: [PH4]I + KOH

PH3 + KI + H2O

[AsH4]Br und [AsH4]I bilden sich, wenn man AsH3 und HBr bzw. HI bei –160°C miteinander kondensiert. Bei Raumtemperatur sind unsubstituierte Arsoniumsalze nicht beständig. Leitet man PH3 in eine Lösung von Natrium in flüssigem Ammoniak ein, erhält man farblose Kristalle des Salzes NaPH2: PH3 + Na

NH3(fl.)

NaPH2 +

1 2

H2

Analog reagiert AsH3. Derivate des Natriumdihydrogenphosphids sind die organylsubstituierten Verbindungen LiPR2 und KPR2, die aus R2PCl und dem entsprechenden Alkalimetall zugänglich sind und die für Synthesen außerordentlich wertvoll sind. Sie eignen sich zur Errichtung von P–P-Bindungen: P Cl + M P

P P

+ MCl

Industriell wird PH3 zum Einbau von Spuren von Phosphor in Halbleiter-Silicium (Dotierung) sowie zur Hydrophosphorylierung von Formaldehyd in salzsaurer Lösung verwandt: PH3 + 4 HCHO + HCl

[P(CH2OH)4]Cl

Das Phosphoniumchlorid wird für die flammhemmende Ausrüstung von Cellulosetextilien (Baumwolle) und Kunststoffen eingesetzt.

10.4.2

Diphosphan(4)19

P2H4, das Analogon des Hydrazins N2H4, entsteht als Nebenprodukt bei der Zersetzung von technischem Ca3P2 mit Wasser bei 0°C, da das aus Calcium und überschüssigem Phosphor hergestellte Phosphid außer P3–-Ionen auch P–P-Bindungen enthält, nämlich in Form von Ca2P2: Ca2P2 + 4 H2O

P2H4 + 2 Ca(OH)2

Ca2P2 enthält hantelförmige Anionen [P2]4–, die mit dem Disulfid-Anion [S2]2– isoelektronisch sind. P2H4 kann wegen seiner geringeren Flüchtigkeit durch Destillation vom PH3 abgetrennt und als farblose Flüssigkeit isoliert werden. Auch die Zersetzung von PH3 in einer elektrischen Entladung liefert P2H4 (und H2). Gasförmiges P2H4 besteht wie das analoge N2H4 aus Molekülen in der gauche-Konformation mit dPP = 222 pm. P2H4 ist an der Luft selbstentzündlich und zersetzt sich im Licht sowie oberhalb –30°C langsam unter Disproportionierung zu PH3 und wasserstoffärmeren Hydriden, von denen Triphos19

M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623 und 1994, 94, 1273. Die Verbindungsnamen geben die Zahl der P-Atome und – in Klammern – die Zahl der H-Atome an.

366

10 Phosphor und Arsen

phan P3H5 rein isoliert und die höheren Homologen P4H6 bis P9H11 spektroskopisch (MS, NMR) nachgewiesen werden konnten: 2 P 2H 4

PH3 + P3H5

Ein Gemisch aus P3H5 und P4H6 zersetzt sich oberhalb –20°C wie folgt: P3H5 + P4H6

cyclo-P5H5 + 2 PH3

Pentaphosphan(5) ist das thermisch und thermodynamisch beständigste cyclo-Polyphosphan. Das tricyclische P7H3, dessen Struktur weiter oben gezeigt wurde, erhält man auf folgendem Wege: Li3P7 + 3 Me3SiCl (Me3Si)3P7 + 3 MeOH

10.5

(Me3Si)3P7 + 3 LiCl ¾40°C

P7H3 + 3 Me3SiOMe

Phosphide20

Phosphor bildet mit fast allen Elementen binäre Verbindungen, wobei in vielen Fällen mehrere stöchiometrische Verhältnisse möglich sind. Daher gibt es eine sehr große Zahl binärer Phosphide und Polyphosphide. Repräsentative Beispiele sind die folgenden aus Lithium hergestellten und strukturell charakterisierten Phasen: Li3P

LiP

Li3P7

Li3P8.33

LiP5

(P3–)

1

([P7]3–)

([P7]3–)([P11]3–)

3



(P–)

∞([P5

LiP7 ]–)

1

∞([P7

LiP15 ]–)

1

∞([P15]–)

Die Natur der jeweiligen Anionen ist unter den Bruttoformeln angegeben: Die Strukturen reichen vom monoatomaren über polycyclische käfigartige Anionen bis zu ein-, zweiund dreidimensional unendlichen Verknüpfungen, symbolisiert durch ∞x , wobei x die Dimensionalität der Verknüpfung angibt. Bei ∞1 [P7]– handelt es sich also um eine eindimensional unendliche Verknüpfung von P7-Käfigen, wobei jeder Käfig einfach negativ geladen ist. Die häufig beobachteten Käfig-Ionen [P7]3– und [P11]3– sind wie folgt gebaut:

[P7]3¾ [P11]3¾ 20

R. Pöttgen, W. Hönle, H. G. v. Schnering, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4255 und Chem. Rev. 1988, 88, 243.

367

10.5 Phosphide

Die meisten dieser Verbindungen sind elektronenpräzise und die zweifach koordinierten P-Atome tragen formal die negativen Ladungen. Daneben sind auch delokalisierte molekulare Polyphosphid-Anionen mit ausschließlich zweifach koordinierten P-Atomen bekannt (siehe unten). Viele Metallphosphide werden durch vorsichtiges Erhitzen von Phosphor mit den entsprechenden Elementen unter Luftausschluss hergestellt, z.B. Na3P, Ca3P2, CaP und Li3P7. Geeignet ist auch die Reduktion von Phosphor mit Alkali- oder Erdalkalimetallen in flüssigem Ammoniak (Kap. 9.4.8). Wird roter Phosphor in Dimethylformamid mit KPH2 abgebaut, entstehen KP5 und K2HP7, die getrennt werden können. Das nur in Lösung erhältliche KP5 enthält das cyclische Anion [P5]–. Das Anion [P5]– ist nur ein Beispiel von vielen nichtmetallischen Anionen und Kationen, denen planare Ringe aus vier bis zehn Atomen zugrunde liegen und deren Bindungen daher in σ- und π-Bindungen separiert werden können. Andere Vertreter dieser Substanzklasse sind beispielsweise [P4]2–, [S4]2+, [P6]4– und [S5N5]+. Zählt man die bei diesen Spezies vorhanden Valenzelektronen in den π-Orbitalen zusammen, erhält man die magischen Zahlen 4n+2 der HÜCKEL-MO-Theorie, nämlich 6, 10 oder 14, bei denen wegen der weitgehenden Delokalisierung der π-Elektronen besonders stabile Teilchen entstehen. Das quadratisch-planare [P4]2– liegt im Salz Cs2P4·2NH3 vor21 und das hexagonal-planare [P6]4– im K4P6:22

P P



P P



¾

P P

P

6• P

P

P P

P 10• P

P P



P

P

P

P P Ti P

P

P



P

P

[(P5)2Ti]2¾

Auch die mit [P4]2– valenz-isoelektronischen Kationen [E4]2+ (E = S, Se, Te) sind 6π-Elektronen-HÜCKEL-Aromaten (Kap. 12.5). Die π-MOs der vier- und fünfgliedrigen Ringsysteme sind in Abbildung 10.3 dargestellt. Der aromatische Charakter von [P4]2–, [P5]– und [P6]4– zeigt sich auch in ihrer Fähigkeit als Liganden für Übergangsmetalle zu dienen.23 Ein besonders schönes Beispiel für einen Cyclopentadienyl-analogen Komplex ist das oben abgebildete Sandwich-artige [(η5-P5)2Ti]2–.24 Neben den ionischen Phosphiden gibt es auch kovalente (BP, SiP) und metallartige Phosphide (z.B. Ferrophosphor Fe2P). Dementsprechend reicht die elektrische Leitfähigkeit der Phosphide vom Nichtleiter über Halbleiter und metallische Leiter bis zum Tieftemperatur-Supraleiter. Aus rotem Phosphor und dem entsprechenden Metallpulver hergestelltes AlP und Zn3P2 dienen in der Schädlingsbekämpfung als PH3-Quelle. Aus den hochreinen Elementen gewonnenes Galliumphosphid GaP wird zur Herstel21 22 23 24

F. Kraus, J. C. Aschenbrenner, N. Korber, Angew. Chem. 2003, 115, 4162. H. P. Abicht, W. Hönle, H. G. V. Schnering, Z. Anorg. Allg. Chem. 1984, 519, 7. Komplexe mit Pn- und Asn-Liganden: O. J. Scherer, Acc. Chem. Res. 1999, 32, 751. M. Peruzzini, L. Gonsalvia, A. Romerosa, Chem. Soc. Rev. 2005, 34, 1038. E. Urnezius et al., Science 2002, 295, 832.

368

10 Phosphor und Arsen

E

E [P5]-(D5h)

2-

[P4] (D4h)

•

• n.b. •

• •

Abb. 10.3 Die π-Molekülorbitale der HÜCKEL-Aromaten [P4]2– und [P5]–. Die zu [P4]2– analogen MOs gelten adaptiert auch für die Ionen [E4]2+ (E = S, Se, Te).

lung grünes Licht emittierender Leuchtdioden verwendet. Das analoge Galliumarsenid GaAs ist ein wichtiges Halbleitermaterial, das aus den Elementen unter H2-Atmosphäre erschmolzen und durch Züchtung von Einkristallen nach den Methoden von BRIDGMAN oder CZOCHRALSKI gereinigt wird (Schmp. 1240°C; Zinkblende-Struktur).25 Die Bandlücke von 1.42 eV kann durch Legieren mit Al in das sichtbare Gebiet verschoben werden, wodurch sich Legierungen der Zusammensetzung AlnGa1–nAs für Leuchtdioden und Laser eignen.

10.6 Organophosphane26 Formal können in den zahlreichen Hydriden des Phosphors die H-Atome durch Alkyl, Aryl (R) oder Silylgruppen (SiR3) ersetzt werden, weswegen eine große Zahl von Derivaten existiert.27 Diese entsprechen den acyclischen, monocyclischen oder polycyclischen Phosphanen. Die wichtigsten Vertreter sind die Spezies PR3 und die Monocyclen (PR)n mit n = 3–6. Die PR3-Synthese erfolgt zweckmäßigerweise aus PCl3 und metallorganischen Verbindungen RM (M = Li, MgX). Dabei werden die Chloratome stufenweise durch R substituiert. Beispielsweise ist Triphenylphosphan aus PCl3 und Phenylmagnesiumbromid oder Phenyllithium zugänglich. Organylsubstituierte Phosphane und Arsane sind stärkere LEWIS-Basen als die zugrunde liegenden Hydride. Daher reagiert Ph3P mit Phenyliodid zum salzartigen Tetraphenylphosphoniumiodid:

25 26

27

J. F. Janik, Powder Techn. 2005, 152, 118. R. Engel, J. I. Cohen, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4355. K. B. Dillon, F. Mathey, J. F. Nixon, Phosphorus – The Carbon Copy: From Organophosphorus to Phospha-organic Chemistry,Wiley, 1998. Organylderivate: M. Baudler, K. Glinka, Chem. Rev. 1993, 93, 1623. Silylderivate: G. Fritz, P. Scheer, Chem Rev. 2000, 100, 3341.

369

10.6 Organophosphane

PCl3 + 3 PhLi

¾3LiCl

Ph3P

+PhI

[Ph4P]I

Entsprechendes gilt für Ph3As, das aus AsCl3 hergestellt wird. Organophosphane und -arsane dienen als Liganden in Übergangsmetallkomplexen, wobei Größe (Kegelwinkel) und Donoreigenschaften (HOMO-Energie) durch Variation von R gewissermaßen durchstimmbar sind.28 Vor allem zweizähnige Diphosphanliganden wie R2P–(CH2)n–PR2 werden wegen des Chelateffektes häufig verwendet, wobei für R = Ph folgende Abkürzungen gebräuchlich sind: dppm (n = 1), dppe (n = 2) und dppp (n = 3). Entsprechende Metallkomplexe sind als industrielle Katalysatoren von allergrößter Bedeutung. Durch Oxidation bzw. Reaktion mit Schwefel entstehen aus Phosphanen die entsprechenden Phosphanoxide R3P=O bzw. -sulfide R3P=S. In der Reihe der cyclischen Phosphane RnPn kennt man unter anderem die Phenylverbindungen Ph3P3, Ph4P4, Ph5P5 und Ph6P6, denen folgende Strukturen zugrunde liegen:

P P

P

P

P

P

P

P P

P P

P

P P

P

P

P P

Nur der P3-Ring ist planar, alle anderen Ringe sind gefaltet. Je nach Substituent ist eine dieser Ringgrößen am beständigsten; kleine Ringe werden durch große Substituenten stabilisiert. Folgende Synthesewege eröffnen den Zugang zu cyclo-Phosphanen: 2 n

RPH2 + Cl2PR RPX2 + 2 M

1 n

(RP)n + 2 HCl

(RP)n + 2 MX

P4 + 2 RMgBr + 2 RBr

4 n

M: Li, Na, Mg; X: Cl, Br

(RP)n + 2 MgBr2

Allen monocyclischen Phosphanen und den ionischen Polyphosphiden liegen Ringe der Größen 3–6 zugrunde. Aus den Polyphosphiden können durch Alkylierung mit MeBr die entsprechenden Organopolyphosphane erhalten werden: 3 MeBr + Li3P7

Me3P7 + 3 LiBr

Auch entsprechende cyclo-Arsane (RAs)n sowie kettenförmige Verbindungen mit AsAsEinfachbindungen sind bekannt, z.B. As2I4, Me4As2, As4S3, (CF3As)4, (MeAs)5 und (PhAs)6.29

28 29

P-Donor-Liganden: A. Schier, H. Schmidbaur, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4101. Kegelwinkel: K. A. Bunten et al., Coord. Chem. Rev. 2002, 233–234, 41. I. Haiduc, D. B. Sowerby, The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vol. 2, Academic Press, London, 1987. F. Kober, Chemikerzeitung 1981, 105, 199.

370

10 Phosphor und Arsen

10.7 Diphosphene und Phosphaalkine Diphosphene sind die den organischen Diazenen entsprechenden Phosphorderivate: R R

N

N

(E)-Diazen

R

P

P

R

(E)-Diphosphen

R

P

P

R

(Z)-Diphosphen

In beiden Verbindungstypen liegen planare Gerüste CNNC bzw. CPPC vor, so dass cis- und trans- bzw. (Z)- und (E)-Isomere existieren. (Z) für „zusammen“ und (E) für „entgegen“ beziehen sich auf die Positionen der Reste R. Unter Standardbedingungen beständige Diphosphene wurden erst erhalten, als man gelernt hatte, die Dimerisierung zu cyclo-Tetraphosphanen durch sperrige Substituenten zu unterdrücken. Die Synthese gelingt aus Organyldichlorphosphanen durch Enthalogenierung mittels Magnesium: tBu

2 RPCl2 + 2 Mg

(E)-RP PR + 2 MgCl2

R:

tBu tBu

"Supermesityl"

Bei dieser Synthese wird das (E)-Isomer erhalten, das luftstabil ist. Der durch Röntgenstrukturanalyse ermittelte PP-Kernabstand von 203 pm ist deutlich kleiner als der im schwarzen Phosphor (222 pm), so dass man zusätzlich zur σ-Bindung eine (p-p)π-Bindung ähnlich der in Alkenen und Diazenen annimmt. Die Isomerisierung zum (Z)-Isomer gelingt durch Laser-Bestrahlung. Hierbei wird ein π-Elektron aus dem HOMO in das LUMO(π*) angehoben, wodurch die Rotationsbarriere der PP-Bindung praktisch aufgehoben wird. Bei der Modellverbindung HP=PH beträgt die Rotationsbarriere 132 kJ mol–1.30 Zahlreiche analoge Verbindungen R–E=E–R mit P=P-, P=As-, P=Sb- und As=As-Mehrfachbindungen wurden hergestellt.31 Auch molekulare Verbindungen mit Sb=Sb- und Bi=Bi-Doppelbindung sind bekannt.32 E=E-Doppelbindungen des Typs R–E=E–R sind im Unterschied zu den Disilenen und ihren schwereren Homologen bemerkenswert „klassisch“.33 Weitere klassische Doppelbindungen am P-Atom sind in Form der Phosphorylverbindungen wie Cl–P=O34 und der verwandten Phosphazene des dreiwertigen Phosphors (–P=N–) bekannt, sowie bei den Phosphaalkenen (–P=CP OH + H2O

>P O ¾ + [H3O]+

Daneben enthalten alle Oxosäuren terminale O-Atome und gelegentlich auch P–H-Gruppen. Als Beispiele seien die drei wichtigsten Monophosphorsäuren genannt: OH O

P

OH

OH OH

OH Orthophosphorsäure H3PO4

O

P

O

H

H

H

OH Phosphonsäure H3PO3

P

Phosphinsäure H3PO2

Im Gegensatz zur PO–H-Bindung reagiert die P–H-Bindung mit Wasser nicht zu Oxonium-Ionen, d.h. die an das P-Atom gebundenen H-Atome können in Wasser nicht titriert werden. H3PO3 ist daher in Wasser eine zweiprotonige und H3PO2 eine einprotonige Säure, was man auch durch folgende Schreibweise zum Ausdruck bringt: H2[HPO3] für Phosphonsäure und H[H2PO2] für Phosphinsäure. 56

J. Clade, F. Frick, M. Jansen, Adv. Inorg. Chem. 1994, 41, 327.

388

10 Phosphor und Arsen

Die Gruppen P–OH, P=O und P–H und damit die genannten Säuren können auf folgende Weise hergestellt werden: (a) Protonierung von Anionen, z.B.: Ca3(PO4)2 + 3 H2SO4

2 H3PO4 + 3 CaSO4

(b) Hydrolyse von Halogeniden: POCl3 + 3 H2O

H3PO4 + 3 HCl

PCl3 + 3 H2O

H3PO3 + 3 HCl

(c) Hydrolyse von Phosphoroxiden: P4O10 + 6 H2O

4 H3PO4

P 4 O6 + 6 H 2 O

4 H3PO3

Ist am P-Atom wie beim PCl3 oder P4O6 ein nichtbindendes Elektronenpaar vorhanden, isomerisiert die bei der Hydrolyse entstehende Gruppe P–OH wie folgt: >P OH

H >P O

Daher erhält man aus PCl3 nicht die Phosphorigsäure P(OH)3, sondern Phosphonsäure HPO(OH)2. Die Gruppe P–H entsteht auch bei der Disproportionierung von weißem Phosphor in wässrig-alkalischer Lösung nach dem Schema: >P P< + H2O

[OH]¾

z. B.: P4 + 3 [OH]¾ + 3 H2O

H >P H + O P< PH3 + 3 [H2PO2]¾

Diese Reaktion entspricht der Disproportionierung von Cl2 zu HCl und HOCl und von S8 zu H2S und Thiosulfat in alkalischer Lösung. In allen drei Fällen findet ein nukleophiler Abbau der Element–Element-Bindungen durch die Hydroxid-Ionen statt. Orthophosphorsäure H3PO4 und Orthophosphate Phosphorsäure, die bei weitem wichtigste Phosphorverbindung, wird in riesigen Mengen produziert, die von allen anorganischen Mineralsäuren nur noch von der Schwefelsäure übertroffen werden. H3PO4 wird technisch aus natürlich vorkommendem Fluorapatit bzw. Phosphorit Ca5[(PO4)3F] hergestellt. Das Phosphat wird entweder mit verdünnter Schwefelsäure aufgeschlossen (Gewinnung von Aufschlussphosphorsäure oder Nassphosphorsäure) oder mit Koks zu weißem Phosphor reduziert, der mit überschüssiger Luft zu P4O10 verbrannt wird, bei dessen vollständiger Hydrolyse dann H3PO4 entsteht (thermische Phosphorsäure; siehe Abschnitt 10.10). Thermische Phosphorsäure hat Lebensmittelqualität und wird daher in der Getränkeindustrie als Säuerungsmittel für Limonaden sowie für weitere Lebensmittel eingesetzt. Bei weitem am wichtigsten ist allerdings die Nassphosphorsäure, die wie folgt produziert wird:

389

10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate

Ca5(PO4)3F + 5 H2SO4 + 2 H2O

3 H3PO4 + 5 (CaSO4.2 H2O)

+ HF

Das Nebenprodukt Gips wird abfiltriert. Beim Eindampfen der zunächst verdünnt anfallenden Säure reagiert HF teilweise mit dem im Mineral enthaltenen SiO2 zu SiF4, das zusammen mit HF entweicht und zu verschiedenen Fluorverbindungen weiterverarbeitet wird. Man erhält auf diese Weise 85–90 %ige wässrige H3PO4-Lösungen. Wasserfreies H3PO4 kann durch Eindampfen der wässrigen Lösung im Vakuum bei 80°C erhalten werden und bildet farblose Kristalle (Schmp. 42°C), bestehend aus H3PO4-Molekülen, die durch Wasserstoffbrücken zu Schichten verbunden sind. Auch in wässriger Lösung ist Phosphorsäure durch H-Brücken vernetzt. Daher sind konzentrierte H3PO4-Lösungen sirupartig viskos. H3PO4 ist in Wasser eine dreiprotonige mittelstarke Säure (Tab. 5.5). Von ihr leiten sich Salze mit den Formeln M[H2PO4] (Dihydrogenphosphate), M2[HPO4] (Hydrogenphosphate) und M3[PO4] (Orthophosphate) ab. Bei physiologischen pH-Werten liegt Phosphat als [HPO4]2– vor. Orthophosphate sind von fast allen metallischen Elementen bekannt. Sie enthalten das tetraedrische Ion [PO4]3–, dessen Elektronenstruktur der der isoelektronischen Anionen [SiO4]4–, [SO4]2– und [ClO4]– entspricht (Kap. 2.6). Das technisch wichtigste Phosphat ist Ca[H2PO4]2, das im Gegensatz zum Calciumorthophosphat wasserlöslich ist und daher unter dem Handelsnamen „Superphosphat“ als Düngemittel und für die Tierernährung eingesetzt wird. Man erzeugt Superphosphat durch Aufschluss von Apatit oder Phosphorit mit H2SO4 analog der oben erwähnten Herstellung von H3PO4, jedoch mit einem Molverhältnis von Phosphorit zu Säure von 2:7. Der entstehende Gips verbleibt im Produkt. Setzt man für den Aufschluss jedoch H3PO4 ein, erhält man ein Gips-freies Produkt (Tripelphosphat), d.h. ein Düngemittel mit besonders hohem P-Gehalt. Wird für den Aufschluss Salpetersäure verwendet, entsteht ein kombinierter P-N-Dünger. Auch [NH4]2[HPO4], hergestellt aus NH3 und H3PO4, ist ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln. Ein wichtiger Prozess ist die Fällung von Orthophosphat aus Brauchwasser, um die Eutrophierung von Gewässern zu verhindern. Dafür werden Eisen(III)-salze verwendet, die das bei einem pH-Wert von 6.0 besonders schwer lösliche FePO4 ergeben, das abfiltriert und in der Landwirtschaft als Phosphordünger verwendet wird. Ester der Orthophosphorsäure werden außer durch Reaktion von P4O10 mit Alkoholen oder Phenolen auch durch Kondensation von Alkoholen mit POCl3 und eventuell nachfolgender Hydrolyse hergestellt: Cl O P Cl Cl

+ ROH ¾ HCl

OR O

P

Cl Cl

+ 2 H2O ¾ 2 HCl

+ ROH ¾ HCl

OR O P

OR Cl + H2O ¾ HCl

OR

OR O P

OH OH

O P

OR OH

+ ROH ¾ HCl

OR O

P

OR OR

390

10 Phosphor und Arsen

Phosphorsäureester spielen bei biologischen Prozessen eine bedeutende Rolle, beispielsweise Adenosintriphosphat ATP als Energiespeicher: NH2

ATP = Adenosintriphosphat

¾O

P

HO

O

P ¾O

N

O

O

O

O

P ¾O

O

O H

OH HO

Triphosphat

N

N N

H

Ribose

Adenin

Die Nukleinsäuren DNA und RNA sind Diester der Phosphorsäure. Phosphonsäure H3PO3 H3PO3 wird durch vorsichtige Hydrolyse von PCl3 mit konzentrierter Salzsäure hergestellt und kann durch Eindampfen der Lösung kristallin erhalten werden (Schmp. 70°C). Industriell wird PCl3 bei 190°C mit Dampf hydrolysiert. Die Kristallstruktur ist durch starke intermolekulare OH···O-Wasserstoffbrücken gekennzeichnet. H3PO3 ist in Wasser sehr leicht löslich und dissoziiert in zwei Stufen, so dass Hydrogenphosphite MH[HPO3] und Phosphite M2[HPO3] existieren. H3PO3 und seine Ionen sind wie alle Verbindungen mit PH-Bindungen oder mit Phosphor in der Oxidationsstufe +3 starke Reduktionsmittel. Beim Erhitzen disproportioniert die Säure nach 4 H3PO3

PH3 + 3 H3PO4

Diese Reaktion ist zur Herstellung von Phosphan geeignet. Phosphinsäure H3PO2 Weißer Phosphor disproportioniert in warmer Ba[OH]2-Lösung gemäß der Gleichung: 2 P4 + 3 Ba(OH)2 + 6 H2O

3 Ba[H2PO2]2 + 2 PH3

Aus dem Bariumphosphinat kann die Säure mit H2SO4 oder durch Kationenaustausch freigesetzt werden. H3PO2 ist durch Eindampfen der wässrigen Lösung kristallin isoliert worden (Schmp. 26°C). Phosphinsäure ist eine mittelstarke, einprotonige Säure und ein starkes Reduktionsmittel. Sie disproportioniert im wasserfreien Zustand bei 140°C zu PH3 und H3PO3, das sich dann seinerseits zu PH3 und H3PO4 zersetzt. Diese Disproportionierungen entsprechen denen der Chlor- und Brom-Sauerstoffsäuren bzw. ihrer Salze. Natriumphosphinat Na[H2PO2], früher als Hypophosphit bezeichnet, wird in der Galvanotechnik als Reduktionsmittel eingesetzt.

391

10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate

10.12.2 Kondensierte Phosphorsäuren Kondensierte Phosphorsäuren und Phosphate57 enthalten das Strukturelement P–O–P, das bei Kondensationsreaktionen entsteht: P OH + HO P P OH + Cl P

P O P + H2O P O P + HCl

Die kondensierten Phosphate entsprechen den Polysulfaten (S–O–S) und den Polysilicaten (Si–O–Si). Wie bei diesen kann die Kondensation zu ketten- oder ringförmigen Strukturen führen. Im Folgenden werden nur kondensierte Phosphor(V)-säuren betrachtet. Der Grundkörper ist die Diphosphorsäure H4P2O7, die beim Erhitzen von H3PO4 auf Temperaturen über 200°C sowie bei der Kondensation von H3PO4 mit POCl3 entsteht: HO 2 H3PO4

¾ H2O

OH

HO P

O

P OH

180°C ¾ HCl

5 3

H3PO4 +

1 3

POCl3

O O Diphosphate erhält man durch thermische Wasserabspaltung von Hydrogenphosphaten: 2 M2HPO4

M 4 P 2O 7 + H 2 O

Höher kondensierte Phosphate werden beim Entwässern von Gemischen aus Hydrogenphosphat und Dihydrogenphosphat oder von reinen Dihydrogenphosphaten gebildet: 2 Na2HPO4 + NaH2PO4

Na5P3O10 + 2 H2O

n NaH2PO4

NanPnO3n + n H2O

Dabei entstehen aus den [HPO4]2–-Ionen einbindige Endgruppen und aus den [H2PO4]–Ionen zweibindige Kettenglieder. Wird bei der Kondensation auch noch H3PO4 zugesetzt, können außerdem dreibindige Verzweigungseinheiten entstehen: O

O O P

O

O Endgruppe (I)

O

P

O O

O P

O

O

O

Kettenglied (II)

Verzweigung (III)

Enthält ein kondensiertes Phosphat die Gruppen I und II, besteht es also aus kettenförmigen Anionen, nennt man es ein Polyphosphat, z.B. Natriumtriphosphat Na5[P3O10]. Die allgemeine Formel der Polyphosphate ist Mn+2[PnO3n+1] (M = einwertiges Metall-Ion). Bestehen die Anionen dagegen nur aus den Kettengliedern II, was bedeutet, dass sie ringförmig gebaut sind, liegt ein Metaphosphat vor, z.B. Na3[P3O9]. Die allgemeine Formel der Metaphosphate ist Mn[PnO3n]. Enthalten die Anionen eines kondensierten Phosphates unter anderem die Verzweigungsgruppe III, so spricht man von einem Ultraphosphat. Die 57

J. P. Attfield, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4240.

392

10 Phosphor und Arsen

Baugruppen I–III können durch ihre unterschiedlichen chemischen Verschiebungen im 31P-Kernresonanzspektrum nachgewiesen werden. Die POP-Brücken werden von Wasser zu POH-Gruppen hydrolysiert, weswegen kondensierte Phosphate(V) in wässiger Lösung langsam bis zur Orthophosphorsäure abgebaut werden. Bei vorsichtiger Hydrolyse kann man aber Zwischenprodukte isolieren. So erhält man bei der Hydrolyse von P4O10 mit Eiswasser in über 70 %iger Ausbeute die cyclische Tetrametaphosphorsäure H4P4O12 (Abschnitt 10.10.2), deren Na-Salz isoliert wurde. Metaphosphate sind die Salze der polymeren Säuren (HPO3)n, wobei n Werte von 3 an aufwärts annehmen kann. Das oben bereits erwähnte Natriumtrimetaphosphat Na3[P3O9] enthält das cyclische, sesselförmige Anion [P3O9]3–, das mit dem trimeren Schwefeltrioxidmolekül S3O9 isoelektronisch ist: O O O

P O

O

P O

O P

O

O Die Valenzwinkel an den Brücken-O-Atomen, die je zwei PO4-Tetraedern gemeinsam angehören, betragen im [P3O9]3– etwa 127°. Sie können in Polyphosphaten allgemein Werte zwischen 120° und 180° annehmen. Niedermolekulare Polyphosphate wurden früher in großem Umfang als Wasserenthärter verwendet, da die Anionen mit Metall-Ionen wie Ca2+ und Mg2+ lösliche Chelatkomplexe bilden. Inzwischen wurden die Polyphosphate in Waschmitteln weitgehend durch Zeolithe ersetzt. Polyphosphate werden auch zwecks Konservierung in der Lebensmitteltechnologie (Zusatz zu Fleisch, kondensierter Milch und Schmelzkäse), in der Leder-, Textil- und Papierindustrie sowie als Bestandteil von Zahnpasten eingesetzt.

10.12.3 Peroxophosphorsäuren Ersetzt man in der Orthophosphorsäure formal eine oder zwei OH-Gruppen durch OOHGruppen, erhält man Monoperoxophosphorsäure H3PO5 bzw. Diperoxophosphorsäure H3PO6. Beide Verbindungen können durch Perhydrolyse von P4O10, d.h. durch Reaktion mit H2O2/H2O-Gemischen, hergestellt werden: P OH + H2O2

¾20°C

P OOH + HO P

Peroxodiphosphate mit dem Anion [P2O8]4– entstehen in Analogie zur Synthese der Peroxodisulfate [S2O8]2– auch bei der anodischen Oxidation von Phosphat-Ionen: 2 [PO4]3¾

[P2O8]4¾ + 2 e¾

Das als K4[P2O8] isolierbare Anion enthält eine P–O–O–P-Brücke.

393

10.12 Oxosäuren von Phosphor und Arsen und deren Derivate

10.12.4 Thiophosphorsäuren Ersetzt man in den Oxosäuren des Phosphors die O-Atome formal durch Schwefelatome, gelangt man zu den Thiosäuren. Während die freien Thiosäuren unbeständig sind, kann man Salze mit entsprechenden Anionen in reiner Form isolieren: O O

P

O O

O

S

P

S S

S

O

P

S S

S

S

P

S

S

Dithiophosphat Trithiophosphat Tetrathiophosphat Monothiophosphat Alle vier Ionen können durch alkalische Hydrolyse bzw. Thiolyse von P4S10 hergestellt werden:

P4S10 + 6 Na2S

¾ H2O

P4S10 + 12 NaOH

4 Na3[PS4] 2 Na3[PO2S2] + 2 Na3[POS3] + 6 H2O

Auch kondensierte Thiophosphate sind bekannt. Beispielsweise reagiert P4S10 mit flüssigem Ammoniak zu [NH4]3[P3S9], einem cyclo-Nonathiotriphosphat.

10.12.5 Halogeno- und Amidophosphorsäuren Weitere Derivate der Phosphorsäuren leiten sich von diesen dadurch ab, dass man formal eine oder mehrere OH-Gruppen durch andere einwertige Reste wie F, Cl, Br, NH2, CN oder N3 ersetzt. Schließlich sei erwähnt, dass auch mehrere Phosphorsäuren mit PP-Bindungen (niedere Phosphorsäuren) bekannt sind.

10.12.6 Oxo- und Thiosäuren des Arsens und ihre Salze Wichtige Verbindungen dieser Gruppe sind die Arsenite M[AsO2] bzw. M3[AsO3] (Salze der unbeständigen Arsonsäure H3AsO3) Arsenate M[H2AsO4], M2[HAsO4] und M3[AsO4] (Salze der Arsensäure H3AsO4) Thioarsenite M3[AsS3] (Salze der Trithioarsonsäure) Thioarsenate M3[AsS4] (Salze der Tetrathioarsensäure) Als einzige beständige Säure dieser Salze kann die Arsensäure als Hydrat H3AsO4·H2O hergestellt werden, und zwar durch Oxidation von As2O3 mit konzentrierter Salpetersäure und Eindampfen der Lösung unterhalb 30°C. Diese Säure ist ungefähr so stark wie Phosphorsäure (Tab. 5.5) und ein mäßig starkes Oxidationsmittel. Dagegen ist die sehr schwache Arsonsäure H3AsO3 (pKa = 9.2) nur als wässrige Lösung von As2O3 bekannt, in der die Verbindung als As(OH)3 vorliegt. Von ihr leiten sich die Orthoarsenite wie Ag3[AsO3] und die polymeren Metaarsenite M[AsO2] ab, z.B. K[AsO2].

394

10 Phosphor und Arsen

Thioarsenite und -arsenate erhält man durch Auflösen von As2S3 bzw. As2S5 in wässrigen Sulfidlösungen, z.B. in Na2S-Lösung. Die freien Säuren dieser Salze, die man aus diesen mit HCl herstellen kann, zersetzen sich schon bei tiefen Temperaturen zu H2S und dem entsprechende Arsensulfid. Auch zahlreiche Seleno- und Telluroarsenite sind bekannt.58

10.13 Phosphor(V)-nitrid und Nitridophosphate Bei der Ammonolyse von PCl5 oder (PCl2N)3 bei 780°C entsteht ein farbloses Gemisch aus α- und β-P3N5: 3 PCl5 + 5 NH4Cl

P3N5 + 20 HCl

Phasenrein entsteht P3N5 bei der Pyrolyse von [P(NH2)4]I: 3 [P(NH2)4]I

825°C

â-P3N5 + 3 NH4I + 4 NH3

α-P3N5 ist ein in gängigen Lösungsmitteln sowie heißen Säuren und Laugen unlösliches beigefarbenes Pulver. Die Struktur von α-P3N5 besteht aus eckenverknüpften PN4-Tetraedern. Bei hohem Druck (11 GPa) und hoher Temperatur (1500°C) kann α-P3N5 in γ-P3N5

umgewandelt werden, das aus PN4-Tetraedern und quadratischen PN5-Pyramiden aufgebaut ist.59 Mit Li3N, zugänglich aus den Elementen, reagiert P3N5 je nach Mischungsverhältnis und Temperatur zu verschiedenen salzartigen Nitridophosphaten wie Li7[PN4], Li12[P3N9] und Li10[P4N10], deren Anionen aus (eckenverknüpften) PN4-Tetraedern bestehen; [P4N10]10– hat eine dem isoelektronischen P4O10 ensprechende Struktur (Symmetrie Td). Weitere Nitridophosphate wie M[P4N7] mit M = Na–Cs, M3[P6N11] mit M = K–Cs und M[P2N4] mit M = Ca, Sr wurden durch Umsetzung der jeweiligen Metallazide mit P3N5 hergestellt.60

10.14 Phosphazene Als Phosphazene bezeichnet man Verbindungen, die das Strukturelement P=N– enthalten. Wegen ihrer vielfältigen kommerziellen Anwendungen sind sie die wichtigsten und interessantesten Phosphor-Stickstoff-Verbindungen. Die meisten Phosphazene sind oligomer, und man trifft zweckmäßig folgende Einteilung: 58 59 60

A. Fromm, W. S. Sheldrick, Z. Anorg. Allg. Chem. 2008, 634, 225. Telluroarsenite: B. Eisenmann, H. Schäfer, Z. Anorg. Allg. Chem. 1979, 456, 87. S. Horstmann, E. Irran, W. Schnick, Angew. Chem. 1997, 109, 1938. W. Schnick et al., Angew. Chem. 2001, 113, 2713 und Chem. Eur. J. 2002, 8, 3530. K. Landskron, E. Irran, W. Schnick, Chem Eur. J. 1999, 5, 2548. K. Landskron, W. Schnick, J. Solid State Chem. 2001, 156, 390. K. Landskron, S. Schmid, W. Schnick, Z. Anorg. Allg. Chem. 2001, 627, 2469.

395

10.14 Phosphazene

cyclo-Phosphazene

kettenförmige Phosphazene

Cl N

Cl n = 3, 4, 5...

P

N

R

Cl n

n = 1, 2, 3...

P

R'

R: z. B. Cl R': z. B. PCl4

Cl n

Verbindungen dieser Art entstehen bei der komplexen Reaktion von PCl5 mit NH4Cl, die bei 120°C im Autoklaven oder bei 135°C bei Normaldruck in Tetrachlorethan oder Dichlorbenzol durchgeführt wird. Die Bildung cyclischer Phosphazene beruht auf folgender Bruttoreaktion: n PCl5 + n NH4Cl

[PCl2

N ]n + 4n HCl

Für die einzelnen Schritte dieser auch industriell durchgeführten Kondensation wird folgender Mechanismus angenommen, der durch die Isolierung von Zwischenprodukten gestützt wird. Die in runde Klammern gesetzten Verbindungen sind hypothetisch: NH4Cl + PCl5

[NH4][PCl6]

¾3 HCl

(HN PCl3) + 2 PCl5

[Cl3P N PCl3][PCl6] Schmp. 310¾315°C (Zers.) + NH4Cl

[Cl3P N PCl2 N PCl3][PCl6] Schmp. 228°C + NH4Cl

¾3 HCl ¾ PCl5

(HN PCl2 N PCl2 N PCl3)

¾HCl

+ 2 PCl5 ¾HCl

Cl Cl P

(HN PCl2 N PCl3)

N

N Cl P Cl

¾ HCl ¾ PCl5

P N

Cl Schmp. 114°C Cl

Hexachlor-cyclo-triphosphazatrien (PCl2N)3, eine farblose kristalline Verbindung, ist das Hauptprodukt dieser Reaktion. Daneben entstehen mit abnehmender Ausbeute die Homologen (PCl2N)n mit n = 4–7, die durch Destillation im Vakuum getrennt werden können. Sie sind Ausgangsprodukte für eine große Zahl von Derivaten, die unter Erhaltung der Ringes durch nukleophile Substitution hergestellt werden. Beispielsweise können die ClAtome ganz oder teilweise durch F, Br, Alkyl, Aryl, O-Alkyl, NH2, N3 und andere Gruppen ersetzt werden. Geeignete Reaktionen sind die Umsetzung mit GRIGNARD-Reagenzien (Alkylierung), mit Alkoholaten, Ammoniak, Aminen, Thiolaten und mit KSO2F (Halogenaustausch). Auch FRIEDEL-CRAFTS-Reaktionen sind möglich. Um die Bromderivate herzustellen, geht man von PBr3/Br2 aus. Die teilweise oder ganz organylsubstituierten Verbindungen sind auch zugänglich, indem man NH4Cl mit RPCl4 oder R2PCl3 umsetzt.

396

10 Phosphor und Arsen

(NPCl2)3 Sessel-(NPCl2)4

gewelltes (NPF2)4

Abb. 10.6 Molekülstrukturen der cyclischen Phosphazene (PNCl2)3, sesselförmiges (NPCl2)4 und (NPF2)4.

Von verschiedenen cyclischen Phosphazenen wurden die Kristall- und Molekülstrukturen bestimmt (Abb. 10.6), so dass es möglich ist, die Bindungsverhältnisse zu diskutieren. Der Sechsring des (PCl2N)3 ist planar; die sechs Valenzwinkel im Ring betragen 120° (Symmetrie D3h). Alle Kernabstände d(PN) sind gleich groß (158 pm), und wesentlich kleiner als die Summe der Einfachbindungsradien (177 pm). Auch die Valenzkraftkonstante f(PN) zeigt das Vorliegen von Mehrfachbindungen an. (PCl2N)4 kristallisiert je nach Temperatur als sessel- oder wannenförmiger Ring (Symmetrie C2h bzw. S4) und auch der Ring des (PF2N)4 ist nicht planar. Anders als im Benzol liegt beim (PCl2N)2 trotz der hohen Symmetrie kein aromatisches π-Elektronensystem vor. Die UV-Spektren der cyclischen Dichlorphosphazene und andere Eigenschaften können am besten mit Dreizentrenbindungen erklärt werden, die sich jeweils über eine Gruppe PNP erstrecken und die sich den stark polaren PN-σ-Bindungen überlagern. Wenn die dreizählige Drehachse (C3) des Ringes als z-Achse des Koordinatensystems angesehen wird, können π-Bindungen durch eine teilweise Delokalisierung der nichtbindenden Elektronen in den pz-Orbitalen der negativ geladenen N-Atome in die unbesetzten Orbitale an den benachbarten positiv geladenen P-Atomen entstehen. Energetisch passende Akzeptor-Orbitale geeigneter Symmetrie sind in erster Linie die σ*-MOs der PCl-Bindungen (Hyperkonjugation).61 Diese Verhältnisse sind denen im Sulfat-Ion völlig analog (Kap. 2.6). Daher können die cyclischen Phosphazene wie die cyclischen Metasilicate und das cyclische S3O9 als Systeme von eckenverknüpften Tetraedern aufgefasst werden. Dieses Modell erklärt zahlreiche experimentelle Befunde, beispielsweise die identischen Kernabstände im (PCl2N)3, die Stabilität des Ringes und die chemischen Ähnlichkeiten von (PCl2N)3 und (PCl2N)4, da die Zahl der PN-Einheiten beliebig zunehmen kann, ohne dass es zu wesentlichen Eigenschaftsänderungen kommen muss, wie es bei einem 61

A. B. Chaplin, J. A. Harrison, P. J. Dyson, Inorg. Chem. 2005, 44, 8407.

10.14 Phosphazene

397

aromatischen System der Fall wäre. Dass größere Ringe nicht mehr planar sind, ist mit dem Dreizentrenmodell ebenfalls vereinbar. Bei unsymmetrischer Substitution einiger Cl-Atome im (PCl2N)3 ändern sich die Valenzwinkel und die Kernabstände im Ring und der Ring wird uneben. Bei den gemischt substituierten Derivaten gibt es zahlreiche Isomeriemöglichkeiten, und zwar kann der Ring verschiedene Konformationen annehmen (Sessel- oder Wannenform), die Position der Substituenten kann variieren (Stellungsisomerie) und gleichartige Substituenten können sich auf der gleichen oder auf verschiedenen Seiten des Ringes befinden. Die cyclischen Phosphazene sind die historisch ältesten Beispiele für anorganische Heterocyclen. Ähnliche Ringsysteme werden von allen Nichtmetallen mit Ausnahme der Edelgase gebildet. Besonders häufig sind dabei die Heterocyclen, die zwei Elemente in alternierender Anordnung enthalten (Pseudoheterocyclen). Neben den einfachen Ringen gibt es auch kondensierte und spirocyclische Ringsysteme anorganischer Natur.62 Wird (PCl2N)3 längere Zeit auf 250°C erhitzt, entsteht ein kautschukartiges Polymer der gleichen Zusammensetzung, das in allen Lösungsmitteln unlöslich ist und daher offenbar aus vernetzten Ketten besteht. Von Wasser wird die Substanz hydrolysiert. Erhitzt man kürzere Zeit auf 230–250°C, entsteht ein kettenförmiges Polymer (PCl2N)n mit n = 10000–15000, das in organischen Lösungsmitteln löslich ist und an dem daher nukleophile Substitutionsreaktionen durchgeführt werden können, beispielsweise mit LiR, RMgX, RNH2, R2NH oder RONa (R = organischer Rest). Dabei werden die ClAtome schrittweise ersetzt, was man mittels 31P-NMR-Spektroskopie verfolgen kann. Dadurch ist es möglich, nacheinander verschiedene Substituenten einzuführen. Die Polymerisation von (PCl2N)3 erfolgt wahrscheinlich nach einem ionischen Mechanismus durch Heterolyse einer P–Cl-Bindung und nukleophilen Angriff des Phosphoniumzentrums auf das N-Atom eines benachbarten Moleküls (ringöffnende Polymerisation, ROP). Die Polyphosphazene bilden die größte Gruppe anorganischer Polymere.63 Sie weisen hochwertige physikalische und chemische Eigenschaften auf und werden daher für viele Anwendungen in Betracht gezogen. Beispielsweise kann man mit R = –OAr einen Hitzeund Schall-isolierenden Schaumstoff herstellen, mit R = –OCH2CF3 lassen sich unbrennbare Fasern erzeugen und mit R1 = –OCH2CF3 und R2 = –OCH2(CF2)nCHF2 entstehen Kohlenwasserstoff-beständige Materialien, die sich für Benzinleitungen, Dichtungen und O-Ringe eignen. Durch weitere Variation der Substituenten kann man entweder wasserlösliche oder wasserabweisende, hydrolysierende oder nicht hydrolysierende Polymere erzeugen, für die es viele potentielle Anwendungen gibt.64 Das kettenförmige (PN)nGrundgerüst der Polyphosphazene weist eine cis-trans-planare Konformation auf (Tor62

63 64

R. Steudel (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Ring Systems, Elsevier, Amsterdam, 1992. H. W. Roesky (Herausg.), Rings, Clusters and Polymers of Main Group and Transition Elements, Elsevier, Amsterdam, 1989. I. Haiduc, D. B. Sowerby (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vols. 1 und 2, Academic Press, London, 1987. I. Haiduc, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4329. Übersicht über anorganische Polymere: I. Manners, Angew. Chem. 1996, 108, 1713. H. R. Allcock, Chemistry and Applications of Polyphosphazenes, Wiley, Hoboken, N. J., 2003. J. E. Mark, H. R. Allcock, R.West, Inorganic Polymers, Prentice Hall, Englewood Cliffs, 1992. M. Gleria, R. De Jaeger (Herausg.), Phosphazenes: A Worldwide Insight, Nova Sci. Publ., Hauuauge, N. Y., 2004. P. H. R. Allcock, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 7, 4586.

398

10 Phosphor und Arsen

sionswinkel abwechselnd 0 und 180°). Es zeichnet sich durch hohe mechanische Flexibilität (niedrige Glasübergangstemperatur), thermische Stabilität, Oxidationsbeständigkeit und optische Transparenz oberhalb 220 nm aus, d.h. es unterscheidet sich vorteilhaft von vielen organischen Polymeren. In gewissem Umfang ist es dem isoelektronischen (SiO)n-Gerüst der Polysiloxane (Silikone) ähnlich. Die sehr starken PN- bzw. SiO-Bindungen sind für die hohe thermische Belastbarkeit solcher Polymere verantwortlich.

399

11.1 Elementarer Sauerstoff

11

Sauerstoff

Sauerstoff 1 ist das häufigste Element an der Erdoberfläche: Es hat an der Erdkruste einen Massenanteil von 47.4 %. Sauerstoff findet sich in Form von O2 in der Luft sowie gebunden im Wasser der Ozeane, Flüsse, Seen und der Atmosphäre sowie in Mineralien wie Oxiden und Oxosalzen (Borate, Carbonate, Silicate, Phosphate, Sulfate). Sauerstoff ist außerdem zusammen mit H, C, N, S und P primärer Baustein aller lebenden Zellen. Es ist damit das bei weitem wichtigste Element. Natürlicher Sauerstoff ist ein Gemisch aus drei stabilen Isotopen mit folgenden Massenanteilen: 16O (99.76 %), 17O (0.05 %) und 18O (0.20 %). Das Isotop 18O wird bei der Untersuchung von Reaktionsmechanismen zum Markieren sauerstoffhaltiger Verbindungen eingesetzt. Es wird aus H218O erhalten, das man durch fraktionierte Destillation von natürlichem Wasser herstellt. Das Isotop 17O mit einem Kernspin von 52 eignet sich für NMR-spektroskopische Untersuchungen.

11.1

Elementarer Sauerstoff

11.1.1

Molekularer Sauerstoff O2

Disauerstoff (O2) wird großtechnisch durch fraktionierte Destillation verflüssigter Luft hergestellt. Trockene Luft besteht aus 20.95 Vol-% (23.16 Massen-%) O2, 78.08 Vol-% N2, 0.93 % Edelgasen (hauptsächlich Argon; Kap. 14) und 0.038 % CO2.2 Diese Komponenten können aufgrund ihrer verschiedenen Siedepunkte durch fraktionierte Kondensation und anschließende fraktionierte Destillation getrennt werden. Da dieser Prozess aber einen erheblichen Energieaufwand erfordert, verwenden Großverbraucher auch Molekularsiebe (Zeolithe; Kap. 8.8.2) zur Zerlegung der Luft in ihre Bestandteile, und zwar ohne vorherige Verflüssigung. In großem Umfang wird Sauerstoff in der Stahlindustrie eingesetzt, um den Kohlenstoffgehalt des Roheisens (ca. 4 %) auf die für Stahl typischen Werte von 0.5–1.5 % abzusenken (Verbrennung des Kohlenstoffs mit der Sauerstofflanze). Für die Produktion von 1 t Stahl werden ca. 100 kg O2 benötigt. Größte Hersteller von Industriegasen in der EU sind die Linde AG und Air Liquide. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist eine Folge der Photosynthese, die vor ca. 0.5·109 Jahren im Rahmen der Evolution biologischer Systeme begann und die eine photochemische Oxidation von Wasser darstellt, katalysiert durch das manganhaltige Enzym Wasseroxidase: 2 H2O 1 2

h.
8)

Für die unterschiedliche Stabilität der verschiedenen Sn-Ringe müssen in erster Linie Abweichungen vom idealen Valenzwinkel und vom idealen Diederwinkel verantwortlich gemacht werden. Thermodynamisch gesehen sind die Nicht-S8-Ringe allerdings nur wenig instabiler als S8. Die mittleren SS-Bindungsenthalpien von S6 und S7 sind nur um ca. 4 kJ mol–1 oder 1.5 % kleiner als die von S8; bei den größeren Ringen ist die Differenz noch geringer. Die leichte Umwandlung in S8 ist auf die niedrige Dissoziationsenthalpie der ersten SS-Bindung in solchen Molekülen zurückzuführen. Im Kapitel 4.2.3 wird erklärt, warum elementarer Schwefel als S8 fest und nicht wie Sauerstoff als S2 gasförmig ist. Moleküle mit homocyclischen Ringen sind in der anorganischen Chemie weit verbreitet und von fast allen Nichtmetallen der Gruppen 13.–16. bekannt (B, C, Si, Ge, N, P, As, S, Se, Te), wobei mindestens 3, meistens aber 4–8 gleiche Atome miteinander verbunden sind.13

12 13

R. Steudel, S. Passlack-Stephan, G. Holdt, Z. Anorg. Allg. Chem. 1984, 517, 7. I. Haiduc, D. B. Sowerby (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles, Vols. I und II, Academic Press, London, 1987; R. Steudel (Herausg.), The Chemistry of Inorganic Ring Systems, Elsevier, Amsterdam, 1992; C. E. Housecroft, Clusterverbindungen von Hauptgruppenelementen, VCH, Weinheim, 1996. I. Haiduc, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 4, 2028.

443

12.4 Modifikationen der Chalkogene

12.4.2

Modifikationen von Selen und Tellur

Die thermodynamisch stabilen Modifikationen dieser Elemente sind polymer. Die Strukturen des kristallinen, grauen, hexagonalen Selens (Schmp. 221°C) und des metallischen hexagonalen Tellurs (Schmp. 450°C) sind sich sehr ähnlich. Beide bestehen aus langen helicalen Ketten mit einer dreizähligen Symmetrie (Abb. 12.6). Alle Atome sind verzerrt oktaedrisch koordiniert, da jedes Atom außer den zwei nächsten Nachbarn in der Kette noch vier übernächste Nachbarn in drei anderen Ketten hat (Koordinationszahl 2+4), und zwar in einem Abstand, der wesentlich kleiner ist als der VAN DER WAALS-Abstand. Erst beim Polonium wird eine regulär oktaedrische Koordination erreicht (Tab. 8.3).

~

~

~

~

~

~

~

Abb. 12.6 Ausschnitt aus der Kristallstruktur von hexagonalem Selen (gilt analog für hexagonales Tellur). Links: Die Kettenmoleküle bilden eine Helix; diese liegen in der Struktur parallel zueinander. Rechts: Blick in Richtung der hexagonalen Achse der Elementarzelle. Für ein ausgewähltes Atom ist die verzerrt oktaedrische 2+4-Koordination durch gestrichelte Linien angedeutet. Die Helices eines Kristalls haben alle den gleichen Drehsinn (Kernabstände in Tab. 12.3). Tab. 12.3 Kernabstände zwischen nächsten Nachbarn (d) und zwischen den übernächsten Nachbarn (d’) in den thermodynamisch stabilen Modifikationen von Selen, Tellur und Polonium d (pm)

d’ (pm)

d’/d

Se (hexagonal)

237.4

342.6

1.44

Te (hexagonal)

283.5

349.4

1.23

Po (kubisch)

335.9

335.9

1.00

Während die elektrische Leitfähigkeit von grauem Selen beim Bestrahlen mit sichtbarem Licht stark zunimmt, bleibt die von metallischem Tellur (Bandlücke 0.33 eV) fast unverändert. Die Leitfähigkeit ist in beiden Fällen stark anisotrop und beide Elemente sind p-Typ-Halbleiter. Selen und Tellur bilden miteinander eine lückenlose Mischkristallreihe. Mit der Zunahme der Koordinationszahl steigt die elektrische Leitfähigkeit an, da mehr und mehr Orbitale überlappen, was schließlich beim Polonium zu der charakteristischen Bandstruktur von Metallen führt. In Übereinstimmung damit findet man beim Schwefel, Selen und Tellur eine starke Leitfähigkeitszunahme, wenn man diese Elemente unter hohen Druck setzt und damit das Verhältnis d’/d verkleinert und die mittlere Koordinations-

444

12 Schwefel, Selen und Tellur

zahl erhöht. Nur vom Selen14 sind bei Normalbedingungen noch weitere Modifikationen isoliert worden, beim Tellur kennt man aber mehrere Hochdruckmodifikationen. Beim Abschrecken einer Schmelze von Se erhält man schwarzes, glasiges Selen. Amorphes Selen wird als Photohalbleiter in der Röntgendiagnostik eingesetzt. Fällt man Selen aus Selenit-Lösungen ([SeO3]2–) durch Reduktion mit SO2, erhält man rotes, amorphes Selen, das dem polymeren Schwefel entspricht und wahrscheinlich aus einem Gemisch von langen Ketten und sehr großen Ringen besteht. Diese Form geht beim Kochen mit CS2 unter Depolymerisation in Lösung. Die Lösung enthält die Homocyclen Se6, Se7 und als Hauptbestandteil Se8, die im dynamischen Gleichgewicht miteinander stehen. Aus der Lösung kristallisieren beim Eindampfen rote Kristalle von α-Se8 und dunklere Prismen von β-Se8 (beide monoklin) zusammen mit Kristallen von Se6 und Se7 aus. Se7 wird aber besser aus [Cp2TiSe5] und Se2Cl2 in CS2 hergestellt: [Cp2TiSe5]

+ Se2Cl2

Se7 + [Cp2TiCl2]

Diese metastabilen, aus Ringen bestehenden oder amorphen Se-Modifikationen wandeln sich beim Erhitzen auf 130°C in graues Selen um. Auch gemischte S-Se-Ringe wurden in großer Zahl hergestellt, z.B. S7Se, 1,2-S6Se2 und 1,2,3-Se3S5.15 Die Gasphase über geschmolzenem Selen oder Tellur enthält ähnlich wie beim Schwefel alle Moleküle von E2 bis E6, aber kaum E7 und E8. Sesselförmige Te6-Moleküle wurden, eingebettet in einer Matrix von Silberiodid, in Form der kristallinen Phase [(AgI)2Te6] isoliert.

12.5

Homoatomare Chalkogen-Kationen16

In enger chemischer und struktureller Beziehung zum elementaren Schwefel, Selen und Tellur stehen folgende Ionen, die in Form thermisch beständiger Salze isoliert und strukturell charakterisiert wurden: [S4]2+ [Se4]2+ [Te4]2+

[S8]2+ [Se8]2+ [Te6]2+

[S19]2+ [Se10]2+ [Te6]4+

[Se17]2+ [Te7]2+

[Te8]2+

[Te8]4+

Auch polymere Kationen sowie gemischte Spezies aus den Elementen S/Se, S/Te und Se/Te sind bekannt. Die oben aufgeführten, oftmals tief gefärbten Kationen entstehen bei der Oxidation der betreffenden Chalkogene mit starken Oxidationsmitteln wie SO3, AsF5, WCl6, S2O6F2 oder anderen Reagenzien, wobei man mit einem sehr schwach nukleophilen Lösungsmittel (HF, SO2, HSO3F, H2SO4) oder mit einer Salzschmelze arbeiten muss. Das Molverhältnis Chalkogen/Oxidationsmittel bestimmt dabei die Art des Reaktionsproduktes, wie folgende Beispiele zeigen: 14 15 16

R. Steudel, E.-M. Strauss, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1984, 28, 135; R. Steudel et al., Angew. Chem. 1986, 98, 81. R. S. Laitinen, P. Pekonen, Coord. Chem. Rev. 1994, 130, 1. J. Beck, Coord. Chem. Rev. 1997, 163, 55. I. Krossing, Handbook of Chalcogen Chemistry, Chapt. 7.1, Royal Society of Chemistry, London, 2006.

445

12.5 Homoatomare Chalkogen-Kationen

2 [S4]2+ + 4 [SO3F]È

S8 + 2 S2O6F2

[S8]2+ + 2 [SO3F]È

S8 + S2O6F2 17 Sef. + 2 WCl6

350°C

[Se17]2+ + 2 [WCl6]È [Te4]2+ + 2 [WCl6]È

4 Tef. + 2 WCl6

2 [Te8]2+ + 2 [ReCl6]2È

15 Tef. + TeCl4 + 2 ReCl4

Die Ionen [Se8]2+ (flaschengrün) bzw. [Te4]2+ (karminrot) entstehen auch, wenn man elementares Selen bzw. Tellur mit konzentrierter Schwefelsäure kocht, was man seit langem zum qualitativen Nachweis dieser Chalkogene ausnutzt. Diese Oxidation wird durch Zusatz von etwas Peroxodisulfat oder SO3 erleichtert, so dass man dann auf das Erhitzen verzichten kann. In rauchender Schwefelsäure lösen sich daher die Chalkogene mit charakteristischen Farben (Schwefel tiefblau, Selen flaschengrün, Tellur karminrot). Mit Hydraziniumsulfat [N2H6][SO4] können die positiven Ionen wieder zum Element reduziert werden: Sef.

[S2O8]2È

grau

[Se8]2+

grün

[S2O8]2È N 2 H4

2[Se4]2+

gelb

[S2O8]2È N 2 H4

8 SeO2

farblos Von Wasser werden alle diese Ionen unter Disproportionierung zu dem elementaren Chalkogen und dem entsprechenden Dioxid zersetzt, z.B.: 2 [Se4]2+ + 6 H2O

7 Sef. + SeO2 + 4 [H3O]+

Verschiedene Polychalkogensalze wurden kristallin in reiner Form hergestellt, unter anderem mit den Anionen [AsF6]–, [SO3F]–, [HS2O7]–, [Sb2F11]–, [AlCl4]– und [WCl6]–. Wahrscheinlich sind auch die seit langem bekannten festen Verbindungen „S2O3“ (blau), „SeSO3“ (gelb) und „TeSO3“ (rot), die bei 25°C aus dem Chalkogen und flüssigem SO3 entstehen, solche Salze mit Polysulfat-Anionen (TeSO3: [Te4][S4O13]). In der älteren Literatur wurden diese Substanzen fälschlicherweise als Oxide beschrieben. Die spektroskopischen, magnetischen und chemischen Eigenschaften der Polychalkogen-Kationen zeigen, dass ihnen generell cyclische Strukturen zugrunde liegen. Kristallstrukturanalysen verschiedener Salze haben folgende repräsentative Kationenstrukturen ergeben: Te

Te

Se

2+

Se Te

Te

Se

Se Se

2+

Se Se Se

Die Ionen [S4]2+ (farblos), [Se4]2+ (gelb) und [Te4]2+ (rot) sind quadratisch gebaut (Symmetrie D4h). Sie stellen anorganische HÜCKEL-Aromaten dar. Die Bindungen in diesen Homocyclen können wie folgt verstanden werden. Die σ-Bindungen entsprechen denen im H2O bzw. H2S (Kap. 2.4.7), d.h. das s- und zwei p-Orbitale des Chalkogens werden unter Beteiligung von vier Elektronen benutzt, um zwei kovalente Bindungen zu errichten. Da-

446

12 Schwefel, Selen und Tellur

mit verbleiben zwei Elektronen im pπ-Orbital. Die π-Atomorbitale der vier Ringatome ergeben bei der Linearkombination die in Abbildung 12.7 dargestellten Molekülorbitale. Bei einem Neutralmolekül E4 wären diese π-Orbitale mit 8 Elektronen besetzt; wegen der zweifach positiven Ladung sind es aber hier nur 6, was der HÜCKEL-Regel entspricht.17 Wie man sieht, befinden sich zwei Elektronen in einem bindenden 4-Zentren-MO und stabilisieren die für Chalkogene ungewöhnliche planare Struktur. Die Kernabstände in den quadratischen Kationen sind dementsprechend deutlich kleiner als bei den entsprechenden Einfachbindungen.

˜uÊ :

˜g:

˜u:

E

+

S S S S2+

˜Êu

+

+

+

+

˜g

3p˜

+

+

+

+

+

(a)

˜u

(b)

Abb. 12.7 Die π-Bindung im quadratischen Tetraschwefel-Kation [S4]2+. (a) Linearkombination der vier 3pπ-Atomorbitale zu vier Molekülorbitalen (Projektion der Atomorbitale in die Molekülebene). (b) Energieniveaudiagramm der Atom- und Molekülorbitale. Die sechs π-Elektronen sind gleichmäßig über alle vier Atome delokalisiert.

Die bicyclischen Kationen [S8]2+, [Se8]2+ und [Te8]2+ weisen eine endo-exo-Konformation auf (Symmetrie Cs), die beispielsweise beim [Se8]2+ dazu führt, dass im 77Se-NMR-Spektrum fünf Linien beobachtet werden. Alle drei Ionen enthalten eine schwache transannulare Brückenbindung von größerem Kernabstand als er zwischen den unmittelbar benachbarten zweibindigen Atomen in den beiden Fünfringen gefunden wird. Zwei Atome pro Ring sind also dreibindig, was verständlich wird, wenn man bedenkt, dass ein positiv geladenes Chalkogenatom E+ einem Pnictidatom entspricht (S+ ist mit P isoelektronisch), das in seinen Element-Modifikationen dreibindig ist. Im Salz [Te8][WCl6]2 ist das bicyclische Kation allerdings von geringerer Symmetrie. [Te7]2+ und [Se10]2+ sind ebenfalls bicyclisch gebaut, [Te6]2+ hat die Gestalt eines Bootes, [Te6]4+ bildet ein trigonales Prisma und [Te8]4+ einen Würfel, bei dem allerdings zwei gegenüberliegende Kanten fehlen. Die großen Ionen [Se17]2+ und [S19]2+ bestehen jeweils aus zwei siebengliedrigen Homocyclen, die durch drei bzw. fünf Chalkogenatome verbunden sind. 17

Nach ERICH HÜCKEL ist ein planares Ringmolekül aus gleichartigen Atomen ein Aromat, wenn 4n+2 Elektronen in den π-Orbitalen vorhanden sind (n = 0, 1, 2 …).

447

12.6 Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen

12.6

Kettenaufbau- und -abbau-Reaktionen

Die Bildung von Ketten und Ringen ist für die Chalkogene Schwefel, Selen und Tellur besonders charakteristisch. Die meisten derartigen Verbindungen sind vom Schwefel bekannt, weswegen hier einige Synthesemöglichkeiten für SS-Bindungen zusammengestellt werden sollen: (a) Kondensation von einem Hydrid mit einem kovalenten Halogenid: S H + Cl S

S S

+ HCl

(b) Reaktion von einem Metallsulfid (oder Polysulfid) mit einem Halogenid: SÈ M+ + Cl S S S (c) Oxidation von Hydriden, z.B. mit Iod: S H + I2 + H S

+ MCl

S S

+ 2 HI

(d) Kondensation von einem Hydrid mit einem kovalenten Hydroxid (Oxosäure): S H + HO S

S S

+ H2O

(e) Aufschwefeln von kovalenten oder ionischen Sulfiden mit S8 beim Erwärmen: x S8 + R S 2 R

R Sn R

n = 3, 4, ...; R = H, Cl, Organyl oder Metall

Ein Abbau von Verbindungen mit wenigstens zwei benachbarten SS-Bindungen unter Eliminierung von S-Atomen aus der Kette oder dem Ring kann außer durch starkes Erhitzen auch auf chemischem Wege erreicht werden. Eine Reihe nukleophiler Moleküle und Ionen reagiert mit S8 und anderen Polyschwefelverbindungen schon bei 20–80°C unter Entschwefelung. So erhält man beispielsweise aus S8 und 8 mol Triphenylphosphan die äquivalente Menge Phosphansulfid R3PS, mit Cyanid-Ionen entsteht Thiocyanat ([SCN]–), mit ionischen Sulfiden oder Hydrogensulfiden entsprechende Polysulfide ([Sn]2–) und mit Hydrogensulfit ([SO3H]–) wird Thiosulfat ([S2O3]2–) gebildet. Analog reagiert Hydrogensulfit mit elementarem Selen zu Selenosulfat [SeSO3]2–. Diese Reaktionen laufen stufenweise und nach einem SN2-Mechanismus ab.18 Zum Beispiel führt der nukleophile Angriff von Cyanid-Ionen auf den S8-Ring zunächst zur Ringöffnung: S8 + [CN]È

[NC S S S S S S S S]È

Die Ringöffnung ist im Allgemeinen der geschwindigkeitsbestimmende, d.h. langsamste Schritt. Das Primärprodukt wird rasch weiter abgebaut, wobei einerseits [SCN]– entsteht; daneben treten aber [S7CN]–, dann [S6CN]–, usw. als Zwischenprodukte auf, bis schließlich nach S8 + 8 [CN]È

8 [SCN]È

alle SS-Bindungen gespalten sind. Durch photometrische Bestimmung der [SCN]–-Ionen mit Fe3+ als rotes [Fe(SCN)3] kann man die Menge des S8 bestimmen. 18

SN2: Nukleophile (N) Substitution (S) 2. Ordnung.

448

12 Schwefel, Selen und Tellur

Analog zu S8 reagieren andere Verbindungen mit mehreren benachbarten SS-Bindungen, z.B. Organylpolysulfane: R S S S R + [CN]È

R S S R + [SCN]È

Daher sind die meisten Verbindungen mit Schwefelketten empfindlich gegen nukleophile Reagenzien wie Laugen, Sulfit, Cyanid, NH3, H2S und Amine.

12.7

Hydride der Chalkogene

Die Elemente S, Se und Te bilden flüchtige Hydride des Typs H2E, die kovalente Bindungen enthalten. Darüber hinaus sind nur noch vom Schwefel höhere Hydride in reiner Form bekannt (Sulfane). Außer diesen binären Hydriden kennt man aber noch eine sehr große Zahl organischer und anorganischer Derivate mit z.T. sehr langen Schwefelketten als zentralem Strukturelement, nämlich die ionischen Polysulfide, die Dihalogensulfane, die Diorganylsulfane, die Polythionate und andere.

12.7.1

Hydride H2E (E = S, Se, Te)

Die Hydride H2S, H2Se und H2Te sind farblose, sehr giftige und widerlich riechende Gase. Diese Verbindungen können mit unterschiedlicher Ausbeute auf folgende Weise hergestellt werden: (a) Aus den Elementen durch Gleichgewichtseinstellung beim Erhitzen an Stücken von Bimsstein: 600°C

H2 + S(g.) H2 + Se(g.)

350-400°C

H2S H2Se

Um H2Te (Sdp. –4°C) aus den Elementen zu erhalten, elektrolysiert man eine halbkonzentrierte Schwefelsäure bei –70°C zwischen einer Te-Kathode und einer Pt-Anode. (b) Aus Metallchalkogeniden durch Protonierung der Chalkogenid-Ionen: NaHS + H3PO4

H2O

Al2S3 + 6 H2O Al2Se3 + 6 HCl

H2O

H2S + NaH2PO4 3 H2S + 2 Al(OH)3

analog: D2S, H2Se

3 H2Se + 2 AlCl3

analog: H2Te

H2Se und H2Te werden von Luftsauerstoff rasch zu H2O und Se bzw. Te oxidiert (Autoxidation), weswegen ihre Herstellung unter O2-Ausschluss erfolgen muss. Die Hydride H2O und H2S sind exotherme, H2Se und H2Te dagegen endotherme Verbindungen. Die wässrigen Lösungen von H2S, H2Se und H2Te reagieren schwach sauer. Die Säurestärke nimmt in der angegebenen Reihenfolge zu, wie die folgenden Werte der Dissoziationskonstanten Ka (bei 25°C) zeigen:

449

12.7 Hydride der Chalkogene

H2S H2E [HE]È

H2Se

H2Te 2.3.10È3

H+ + [HE]È

K1: 1.0.10È«

1.9.10È4

H+ + E²È

K2: 1.0.10È14

8.8.10È16

1.6.10È11

Als Ursache dieses überraschenden Ganges der Dissoziationskonstanten ist ähnlich wie bei den Halogenwasserstoffen die Abnahme der mittleren HE-Bindungsenergie vom Schwefel zum Tellur hin anzusehen. Die extrem kleine und in ihrem Zahlenwert noch etwas unsichere zweite Dissoziationskonstante von H2S bedeutet, dass das Sulfid-Ion S2– in wässriger Lösung bei pH-Werten kleiner als 12 praktisch nicht vorhanden ist. Dennoch kann man bestimmte Metallsulfide wie CuS, HgS und Ag2S sogar aus stark saurer Lösung der Metall-Ionen mit H2S fällen. Bei dieser Reaktion reagiert wahrscheinlich das Metall-Ion, z.B. [Cu(H2O)6]2+, mit dem Hydrogensulfid-Ion [HS]– zu einem Komplex wie [Cu(SH)(H2O)5]+, der dann intermolekular kondensiert und über mehrere Zwischenstufen unlösliches Kupfersulfid bildet. Wegen der kleinen Werte von K1 und vor allem von K2 der binären Chalkogenhydride unterliegen alle ionischen Metallchalkogenide MHE und M2E in Wasser, sofern sie löslich sind, einer starken Hydrolyse, was man zur Herstellung der Hydride ausnutzten kann, indem man wenig Wasser zu dem festen Barium- oder Aluminium-Salz tropft. Nur die Metallsulfide mit sehr kleinem Löslichkeitsprodukt können mit wässrigen Lösungen koexistieren; der lösliche Anteil ist jedoch auch in diesen Fällen weitgehend hydrolysiert. Die Löslichkeit der Sulfide, Selenide und Telluride ist verständlicherweise stark pH-abhängig. Aus den oben genannten Gründen kann man Metallchalkogenide aus wässrigen Lösungen nur dann in reiner Form isolieren, wenn sie sehr schwer löslich sind. Die hydrolyseempfindlichen Sulfide, Selenide und Telluride der Alkali- und Erdalkalimetalle sowie des Aluminiums stellt man daher auf trockenem Wege oder in einem Lösungsmittel geringer Protonendonorstärke her (C2H5OH oder flüssiges NH3). Die Hydride H2E (E = S, Se, Te) sind ziemlich reaktionsfreudig. Sie sind einerseits schwache Reduktionsmittel, andererseits geeignet für Kondensationsreaktionen mit den Halogendien von Bor, Silicium, Germanium, Phosphor, Schwefel und Selen. Beispielsweise erhält man aus H2Se und S7Cl2 die heterocyclische Verbindung S7Se: H2Se + S7Cl2

S7Se + 2 HCl

Weitere Reaktionen vor allem des Schwefelwasserstoffs werden an anderer Stelle behandelt. Wichtige organische Derivate von H2S und H2Se sind die Aminosäuren Cystein HS– CH2–CH(NH2)–COOH und Selenocystein HSe–CH2–CH(NH2)–COOH, die in zahllosen Proteinen und Enzymen vorkommen und die für die Redoxbalance in Säugetierorganismen wichtig sind.

12.7.2

Polysulfane H2Sn (n > 1)

Schwefelwasserstoff löst sich in flüssigem Schwefel teilweise unter Aufschwefelung entsprechend folgendem Gleichgewicht: H2S + Sn(fl.)

H2Sn+1

450

12 Schwefel, Selen und Tellur

Die Löslichkeit von H2S beträgt zwischen 200° und 400°C etwa 0.2 g/100 g S8. Bei höheren und tieferen Temperaturen ist sie niedriger. Die dabei entstehenden Sulfane H2Sn sind kettenförmige, den linearen Alkanen CnH2n+2 und Phosphanen PnHn+2 entsprechende Verbindungen.19 Sie können durch ihre 1H-NMR-Spektren identifiziert werden. Die chemische Verschiebung der Protonen ist bei den ersten 35 Gliedern der Reihe H2Sn ausreichend verschieden, um diese Verbindungen nebeneinander nachzuweisen.20 Die hypothetische Reaktion von H2S mit kristallinem S8 ist bei 25°C schwach endotherm (∆ H° 298 > 0) und endergonisch (∆G° 298 > 0). Die Polysulfane H2Sn sind daher unter Standardbedingungen thermodynamisch instabil in Bezug auf eine Zersetzung zu gasförmigem H2S und α-S8. Diese Zersetzung wird schon durch Spuren von NH3 oder Hydroxiden sowie durch Quarzpulver katalysiert. Aus der dabei entwickelten H2S-Menge kann man die Zusammensetzung des Sulfans ermitteln. Zur Herstellung definierter Polysulfane eignen sich zwei Methoden: (a) Eine Natriumpolysulfidlösung (Na2Sn) wird bei –10°C in Salzsäure gegeben, wobei sich ein Sulfangemisch H2Sn als gelbes, schweres Öl absetzt. Dieses als „Rohöl“ oder „Rohsulfan“ bezeichnete Gemisch kann durch Crackdestillation, bei der die höheren Sulfane absichtlich zersetzt werden, in H2S2, H2S3 und S8 zerlegt werden. Die Isolierung der höheren Glieder (bis n = 6) ist teils durch Hochvakuumdestillation, teils durch selektive Extraktion von Rohsulfan möglich. (b) Durch Kondensation von Sulfanen (n = 1, 2) mit Chlorsulfanen (n = 1–4) erhält man bei –50°C nach folgenden Reaktionen höhere Sulfane mit bis zu acht S-Atomen: 2 H2S + SCl2

H2S3 + 2 HCl

2 H2S + S2Cl2

H2S4 + 2 HCl

2 H2S2 + SCl2

H2S5 + 2 HCl

Dabei wird jeweils das Sulfan in großem Überschuss eingesetzt, um die unerwünschte Bildung längerer Ketten zu unterdrücken. Das Gemisch aus unverbrauchtem Ausgangssulfan und Reaktionsprodukten wird dann durch Vakuumdestillation getrennt. Die Sulfane sind Flüssigkeiten, die mit zunehmender Molmasse immer stärker gelb gefärbt, immer öliger und schwefelähnlicher und auch immer schwerer flüchtig werden. Die höheren Glieder (n > 6) können wegen ihrer ähnlichen physikalischen Eigenschaften und wegen ihrer thermischen Empfindlichkeit nicht mehr voneinander oder von S8 getrennt werden. Die Struktur des gasförmigen Moleküls H2S2 entspricht der von H2O2, jedoch ist der Torsionswinkel mit 90° deutlich kleiner. Gasförmiges H2S3 existiert wie das Pentasulfid-Ion in einer cis- und einer trans-Form, die miteinander im Gleichgewicht stehen. Die Rotationsbarriere an der SS-Bindung beträgt ca. 26 kJ mol–1 (trans-Barriere). Die Polysulfane eignen sich für Kondensationsreaktionen. Aus ihnen konnten z.B. neue Schwefelhomocyclen und ein neues Schwefeloxid hergestellt werden: Bei der Re-

19 20

R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 99. Die entsprechenden Selenverbindungen sind unbeständig, jedoch wurden mittels NMR-Spektroskopie zahlreiche substituierte Selane R2Sen sowie gemischte S/Se-Ketten in Thiaselanen nachgewiesen: H. Eggert, O. Nielsen, L. Henriksen, J. Am. Chem. Soc. 1986, 108, 1725; M. Pridöhl, R. Steudel, F. Baumgart, Polyhedron 1993, 21, 2577; J. Hahn, R. Klünsch, Angew. Chem. 1994, 106, 1824.

451

12.8 Metallchalkogenide

aktion von Rohsulfan mit Thionylchlorid nach dem Verdünnungsprinzip erhält man bei –40°C in CS2/Me2O cyclo-Octaschwefeloxid: H S7

Cl S

+ H

O

Cl

S S S

S

O

S

S S S

+ 2 HCl

S8O kristallisiert aus CS2 in intensiv gelben Nadeln, die sich bei 78°C spontan, langsam auch schon bei Raumtemperatur zu SO2 und polymerem Schwefel zersetzen. Der S8-Ring weist eine Kronenform auf wie der Ring des orthorhombischen α-Schwefels.

12.8

Metallchalkogenide

Metallchalkogenide sind die Salze der Hydride H2En (E = S, Se, Te; n = 1, 2, …). Die Vielfalt der Metallsulfide, -selenide und -telluride ist außerordentlich groß, da praktisch alle Metalle mit den schweren Chalkogenen Verbindungen bilden. Diese können binär oder ternär (z.B. Kupferkies CuFeS2) oder noch komplizierter zusammengesetzt sein. Oft existieren in einem bestimmten System Metall/Chalkogen mehrere Phasen. Viele Metallchalkogenide, vor allem Sulfide, sind als Mineralien bekannt und als Metallerze geschätzt (Zinkblende ZnS, Bleiglanz PbS, Argentit Ag2S, Grauspießglanz Sb2S3). Das Mineral Pyrit (Eisen(II)-disulfid, FeS2) wird dagegen nur wegen seines Schwefelgehaltes abgebaut.21 Viele Schwermetallselenide und -telluride sind Halbleiter. Beispielsweise werden CuInSe2 und CdTe für die Solarstromerzeugung genutzt, während CdxHg1–xTe mit x = 0–1 in optoelektronischen Bauteilen für den infraroten Spektralbereich, z.B. für Nachtsichtgeräte, verwendet wird. Zwischen den Strukturen und chemischen Eigenschaften der Oxide eines Metalls einerseits und denen der Sulfide, Selenide und Telluride andererseits bestehen im Allgemeinen nur geringe Ähnlichkeiten. Das liegt an der geringeren Elektronegativität und höheren Polarisierbarkeit der schwereren Chalkogenatome. Vor allem aber ist die Fähigkeit zur Bildung homoatomarer Ketten und Ringe seitens der schwereren Chalkogene für drastische Unterschiede zu den Oxiden verantwortlich. Bekannte Beispiele sind die Verbindungen [Cp2TiS5] und [NH4]2[Pt(S5)3], die heterocyclische MS5-Ringe enthalten (Metallacyclen). In der Pt-Verbindung sind drei η2-Pentasulfid-Liganden an ein gemeinsames Metallatom (M) gebunden, das dadurch oktaedrisch koordiniert ist.22 Im Folgenden werden nur die ionischen Chalkogenide und Polychalkogenide der Alkalimetalle behandelt.23 Die Chalkogenverbindungen der Nichtmetalle werden bei den betreffenden Elementen besprochen. 21 22

23

Pyrit [Eisen(II)-disulfid] hat wahrscheinlich in der Frühphase der biologischen Evolution auf der Erde eine entscheidende Rolle gespielt; siehe G. Wächtershäuser, Microbiol. Rev. 1988, 52, 452. Mit den S-Donor-Liganden H2S, [HS]–, S2–, [RS]– und [Sn]2– wurden zahlreiche Metallkomplexe hergestellt: S. R. Collinson, M. Schröder, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 8, 4811. N. Takeda, N. Tokotoh, R. Okazaki, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 153. Bezüglich der Chalkogenide anderer Metalle siehe M. G. Kanatzidis, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 2, 825 und W. S. Sheldrick, Handb. Chalcogen Chem. 2007, 543.

452

12 Schwefel, Selen und Tellur

Chalkogenide der Alkalimetalle Sättigt man Natron- oder Kalilauge mit H2S, erhält man eine Hydrogensulfidlösung, aus der nach Zugabe der äquivalenten Menge Lauge beim Abkühlen die wasserhaltigen Sulfide auskristallisieren: NaOH + H2S

NaSH + H2O

NaSH + NaOH

Na2S + H2O

Auf diese Weise werden Na2S·9H2O und K2S·5H2O technisch hergestellt. Diese farblosen Salze, die von Luftsauerstoff langsam unter Gelbfärbung zu Polysulfiden und Thiosulfat oxidiert werden, können nur unter teilweiser Zersetzung entwässert werden. Die wasserfreien Chalkogenide stellt man daher auf anderem Wege her. Technisch wird Na2S durch Reduktion von Na2SO4 mit einer aschearmen Kohle wie Anthrazit bei 700–1100°C erhalten: Na2SO4 + Cf.

Na2S + 4 CO

Na2S wird hauptsächlich in der Gerberei als Enthaarungsmittel für Tierhäute und außerdem für die Synthese von Schwefelfarbstoffen verwandt. Im Labor erhält man Na2S und K2S am besten durch Reduktion von Schwefel mit der äquivalenten Menge Alkalimetall, gelöst in flüssigem NH3: NH3

16 K + S8

8 K 2S

Das eigentliche Reduktionsmittel sind dabei die solvatisierten Elektronen (Kap. 9.4.8). Da ionische Sulfide in NH3 unlöslich sind, ist die Ausbeute quantitativ. Analog werden Na2Se, Na2Te, K2Se und K2Te hergestellt. Diese farblosen Salze kristallisieren in der Antifluoritstruktur, d.h. in der Struktur von CaF2 sind die Kationenplätze durch die Chalkogenid-Ionen und die Anionenplätze durch die Metall-Kationen besetzt. Durch Erhitzen der Na- oder K-Chalkogenide mit weiterem Chalkogen unter Luftausschluss, z.B. in einer Ampulle, auf 500–600°C kann man Polychalkogenide24 gewinnen: Na2S +

1 8

S8

K 2S +

3 8

S8

500°C 500°C

Na2S2 K 2 S4

Auf diese Weise erhält man Na2S2 (hellgelb), K2S2–6 (gelb bis rot), Na2Se2 (grau) und Na2Te2 (grauschwarz, metallisch glänzend). Wässrige Lösungen der Polysulfide entstehen beim Erhitzen von Sulfidlösungen mit Schwefel: [HS]È + S8 [S9]2È + [HS]È

[S9]2È + H+ 2 [S5]2È + H+

In der Lösung liegen jedoch Gleichgewichtsgemische von Polysulfid-Ionen mit bis zu 6 Atomen vor:

24

2 [S5]2È

[S4]2È + [S6]2È

2 [S4]2È

[S3]2È + [S5]2È

R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 127.

12.8 Metallchalkogenide

453

Stöchiometrisch zusammengesetzte Polychalkogenide der Alkalimetalle kann man auch in flüssigem Ammoniak herstellen, indem man die Elemente im entsprechenden Molverhältnis einsetzt. Auch die Reaktion von Carbonat mit dem Chalkogen in Methanol führt manchmal zum Ziel, z.B. bei der Synthese von Cs4Se16 bei 160°C/1.3 MPa (siehe unten). Die Reaktion von Natrium mit Schwefel zu einem Polysulfidgemisch läuft auch bei der Entladung eines Natrium-Schwefel-Akkumulators ab. Die Elektroden dieses bei ca. 300°C betriebenen Akkus bestehen einerseits aus flüssigem Natrium und andererseits aus flüssigem Schwefel, der durch Beimischen von Graphitpulver elektrisch leitend gemacht wird. Die Elektroden sind durch ein Diaphragma aus Natriumpolyaluminat („β-Aluminiumoxid“) getrennt, das bei der Betriebstemperatur ein guter Natrium-Ionenleiter ist. Bei der Entladung des Akkus wird Na zu Na+ oxidiert, das durch das Diaphragma in den Anodenraum wandert, wo S8 zu [S4]2– reduziert wird, so dass schließlich flüssiges Na2S4 (Schmp. 275°C) vorliegt. Bei der Aufladung des Akkus spielen sich die umgekehrten Reaktionen ab. Die Betriebsspannung beträgt maximal 2.08 V; die Energiedichte von 790 W h kg–1 ist um den Faktor 5 günstiger als beim Bleiakku und die Lebensdauer von 15 Jahren (6500 Zyklen bei einem Entladegrad von 65 %) macht diese Natrium-Schwefel-Batterie, wie sie oft genannt wird, zu dem zur Zeit fortschrittlichsten Stromspeichersystem, um beispielsweise regenerativ oder nachts erzeugte elektrische Energie für Zeiten hohen Bedarfs am Tage zu speichern. Entsprechende, in Japan errichtete Anlagen, in denen 100–200 zylindrische Zellen in einem beheizbaren Modul zusammengeschaltet werden, erreichen bei 10–20 Modulen mit Gehäuse ein Gewicht von bis zu 100 t. Na-S-Batterien sind emissionsfrei und von den Materialien her im Gegensatz zum Bleiakku ausgesprochen umweltfreundlich. Strukturen der Polychalkogenid-Anionen Die Polysulfide der Alkali- und Erdalkalimetalle enthalten isolierte Anionen [Sn]2–, die mit entsprechenden Dichlorsulfanen Sn–2Cl2 isoelektronisch sind und die Ketten verschiedener Konformation bilden. Während Na2S2 wie Na2O2 hantelförmige Anionen enthält, ist das Trisulfid-Ion gewinkelt. Das Tetrasulfid-Ion hat eine gauche-Konformation wie H2O2 und H2S2, d.h. es ist chiral, und in den Kristallen von Na2S4 und K2S4 sind die beiden Enantiomere im Verhältnis 1:1 enthalten (Torsionswinkel + oder –). Beim Pentasulfid-Ion sind an den beiden zentralen SS-Bindungen die Torsionswinkelkombinationen + + (oder – –) sowie + – (identisch mit – +) möglich, d.h. es gibt drei Isomere (davon zwei optische Isomere). Man nennt die Vorzeichenfolge der Torsionswinkel das Motiv des Moleküls oder Ions. Im Na2S5 liegt das Rotamer mit dem Motiv + – (Symmetrie Cs) vor, während K2S5, Rb2S5 und Cs2S5 helicale Anionen mit den Motiven + + und – – (Symmetrie C2) im Verhältnis 1:1 enthalten. Theoretisch gibt es bei n Torsionsachsen 2n Torsionswinkelkombinationen. Beim Hexasulfid-Ion sind es also bereits 8; davon sind allerdings vier paarweise identisch, so dass nur 6 Hexasulfid-Isomere existieren. In Abbildung 12.8 sind die durch Röntgenbeugung ermittelten Strukturen der genannten Anionen in den Salzen Na2S4, Na2S5 und Cs2S6 gezeigt. In den Alkalimetallpolyseleniden ähneln die Strukturen der Anionen in der Regel denen der analogen Polysulfid-Ionen. Lediglich bei den besonders selenreichen Phasen kommt es zu Besonderheiten, indem entweder neue Strukturen wie das bicyclische Anion [Se11]2– auftreten (Abb. 12.9a) oder zusätzlich zu den Anionen noch isolierte Selenhomocyclen (z.B. Se6 und Se7) in der Struktur vorhanden sind. Das vierfach koordinierte SeAtom von [Se11]2– liegt in der Ebene seiner nächsten Nachbarn; sein Bindungszustand entspricht dem des Iods im Anion [ICl4]–.

454

12 Schwefel, Selen und Tellur

Cs2S6

Na2S5

Na2S4

Abb. 12.8 Strukturen der Polysulfid-Anionen in den Salzen Na2S4, Na2S5 und Cs2S6. Die Symmetrie dieser Anionen ist: [S4]2– und [S6]2–: C2; [S5]2–:Cs.

(a)

(b)

Abb. 12.9 Strukturen der Anionen in den Salzen Cs2Se11 (a) und Cs2Te5 (b). Das monomere Anion [Se11]2– ist spirocyclisch gebaut. Die Anionen der Zusammensetzung [Te5]2– sind dagegen polymer. Charakteristisch sind die planar-quadratische Koordination einiger Atome und die Ausbildung sesselförmiger 6-Ringe.

Alkalimetallpolytelluride25 zeigen nur noch wenige Ähnlichkeiten mit den Polysulfiden entsprechender Zusammensetzung, da das Telluratom noch stärker als Selen dazu neigt, durch zusätzliche dative Bindungen eine höhere Koordinationszahl anzunehmen (np2→nσ*-Bindungen). Ursache ist die vom Schwefel zum Tellur abnehmende HOMOLUMO-Energiedifferenz. Während [Te2]2–, [Te3]2– und [Te4]2– strukturell den entsprechenden Polysulfiden ähneln, kommt es bei den Te-reicheren Anionen in der Regel zu cyclischen oder unendlich ausgedehnten Strukturen mit zweifach und vierfach (quadratisch) koordinierten Atomen (Abb. 12.9b). In den Kristallen von Cs3Te22 wurden durch Röntgenstrukturanalyse neben polymeren [Te6]3–-Ionen auch noch neutrale, kronenförmige Te8-Moleküle gefunden, die als reine Verbindung unbekannt sind. Andererseits enthält Cs2Te13 kettenförmige [Te13]2–-Ionen der Symmetrie Cs. Welches Produkt bei einer Synthese entsteht, hängt von der Stöchiometrie, von den Reaktionsbedingungen und vor allem von der Art und Größe des Kations ab. In gemischten Polychalkogen-Anionen bevorzugt Tellur gegenüber Selen und Schwefel die Positionen mit der höheren Koordinationszahl. In Lösung wurden die Polychalkogenid-Ionen spektroskopisch mittels UV-Vis, Raman, NMR (77Se, 123Te, 125Te), ESR und Elektrospray-MS charakterisiert. Damit wurden auch die in solchen Lösungen spurenweise vorhandenen Radikal-Anionen [S3]• – und 25

M. G. Kanatzidis, Angew. Chem. 1995, 107, 2281.

455

12.10 Oxide der Chalkogene

[Se2]• – identifiziert, die mit den entsprechenden Dimeren [S6]2– bzw. [Se4]2– im Gleichgewicht stehen. [S3]• – ist die farbgebende Komponente im blauen Halbedelstein Lapis lazuli (Kap.8.8.2).

12.9

Diorganopolysulfane R2Sn

Ersetzt man in den Hydriden H2Sn den Wasserstoff formal durch aliphatische oder aromatische Gruppen, erhält man Diorganopolysulfane R–Sn–R, die in der Literatur auch als organische Polysulfide bezeichnet werden. Diese Derivate sind thermisch wesentlich beständiger als die entsprechenden Hydride und daher sind sie von größerer Bedeutung.26 Organopolysulfane R–Sn–R mit bis zu 13 Schwefelatomen wurden in reiner Form hergestellt und noch längere Ketten wurden in Gemischen nachgewiesen. Auch ringförmige Vertreter sind in großer Zahl bekannt. Eine gezielte Synthese ist durch Verwendung von Schwefeltransfer-Reagenzien möglich, wozu sich verschiedene Metallpolychalkogenide eignen: 2 R S Cl + [Cp2TiS5]

SCl SCl

R S7 R + [Cp2TiCl2]

S S + [Cp2TiS5]

S S

S S S

+ [Cp2TiCl2]

Beim Erwärmen bis zum Schmelzpunkt gehen die meisten schwefelreichen Organopolysulfane in Gemische von Homologen über, die sich beim längeren Erhitzen zu S8 und den stabileren Disulfanen R2S2 zersetzen: R2Sn 2 R2Sn

R2SnÈ8 + S8 R2SnÈx + R2Sn+x

Systeme dieser Art spielen bei der Vulkanisation von Gummi mit Schwefel eine Rolle. Organische Polysulfide wurden auch aus zahlreichen Organismen isoliert, z.B. aus Algen, Seescheiden, Zwiebeln, Knoblauch und Pilzen.26

12.10 Oxide der Chalkogene Die drei Chalkogene S, Se und Te sind leicht zu oxidieren, unter anderem durch Verbrennung an der Luft.27 Die wichtigsten Oxide sind die Dioxide und die Trioxide, die teils monomer, teils polymer sind: 26 27

R.Steudel, Chem. Rev. 2002, 102, 3905 und Encycl. Inorg. Chem. 2007, online edition. Die leichte Oxidierbarkeit von Schwefel wird seit langem im Schießpulver (Schwarzpulver) genutzt, einer Mischung aus 75 % KNO3, 13 % Holzkohle und 12 % Schwefel. Bei der explosionsartigen Reaktion entstehen hauptsächlich CO2, N2, K2SO4 und K2CO3.

456

12 Schwefel, Selen und Tellur

SO2

SeO2

TeO2

SO3

SeO3

TeO3

Daneben sind von allen drei Elementen gasförmige Monoxide bekannt, die jedoch nur bei hohen Temperaturen im dynamischen Gleichgewicht mit ihren Zersetzungsprodukten (Dioxid und Chalkogen) sowie in elektrischen Entladungen auftreten und die nicht in reiner Form isolierbar sind, sondern nur mit Hilfe der Matrix-Technik bei sehr tiefen Temperaturen stabilisiert werden können. Vom Schwefel wurden jedoch folgende weitere Oxide in reinem Zustand isoliert: S2O

S6O

S6O2

S7O

S7O2

S8O

S9O

S10O

Diese Verbindungen werden als niedere Schwefeloxide bezeichnet, da der Schwefel in ihnen eine niedrigere Oxidationsstufe als im SO2 besitzt. Darüber hinaus kennt man beim Schwefel polymere Oxide mit sehr hohem Schwefelgehalt (Polyschwefeloxide) und auch solche mit sehr hohem Sauerstoffgehalt (Peroxide). Polymer sind auch die gemischtvalenten Selen- und Telluroxide Se2O5, Te4O9 und Te2O5, die Chalkogenatome in den Oxidationsstufen +4 und +6 enthalten. Daneben existieren zahlreiche ternäre Chalkogenoxide.28

12.10.1 Dioxide Schwefeldioxid wird in riesigem Umfang durch Verbrennen von Schwefel, durch Rösten sulfidischer Erze im Wirbelschichtofen (vor allem von Pyrit, FeS2, und Kupferkies, CuFeS2), durch Reduktion von CaSO4 in Gegenwart von SiO2, sowie durch thermische Zersetzung von FeSO4 und von technischer Abfall-Schwefelsäure hergestellt und fast ausschließlich zu H2SO4 verarbeitet. SO2-haltige Gase entstehen auch bei der Verbrennung von Kohle, Heizöl, Dieselöl und Benzin, die stets geringe Mengen bis einige Prozent Schwefel in Form von Verbindungen29 enthalten. Auf diese Weise gelangt zusätzliches SO2 in die Luft,30 sofern nicht eine Rauchgasentschwefelung durchgeführt wird. Die beiden wichtigsten Verfahren hierfür sind: (a) das Gips-Verfahren, d.h. die Rauchgaswäsche mit einer wässrigen Suspension von Ca[OH]2 oder CaCO3, wobei folgende Reaktionen ablaufen: Ca[OH]2 + SO2 +

1 2

O2

CaSO4 + H2O

CaCO3 + SO2 +

1 2

O2

CaSO4 + CO2

In zahlreichen Kohlekraftwerken wird auf diese Weise Gips (CaSO4·2H2O) erzeugt, der in der Bauindustrie eingesetzt wird. Bei der Oxidation des SO2 spielen die im Kalk enthaltenen Spuren von Eisen- und Mangan-Ionen eine katalytische Rolle. 28 29

30

M. S. Wickleder, Handb. Chalcogen Chem. 2007, 344. In Rohöl und seinen Derivaten ist Schwefel in Form von organischen Sulfiden (R2S, Thioether), Disulfanen (RSSR) und Thiolen (RSH) enthalten, wozu auch Thiophenringe gehören. Kohle enthält darüber hinaus auch anorganischen Schwefel, z.B. Pyrit: W. L. Orr, C. M. White (Herausg.), Geochemistry of Sulfur in Fossile Fuels, ACS Symp. Ser. Nr.429, Washington, 1990. Bezüglich anthropogener SOx- und NOx-Emissionen und verwandter Probleme, siehe C. Brandt, R. van Eldik, Chem. Rev. 1995, 95, 119.

457

12.10 Oxide der Chalkogene

(b) das WELLMAN-LORD-Verfahren, bei dem das Rauchgas mit einer wässrigen Na2SO3-Lösung gewaschen wird: Na2SO3 + SO2 + H2O

2 NaHSO3

Diese Reaktion ist reversibel; das SO2 wird anschließend aus der Lösung durch Erhitzen gewonnen und mit H2S nach dem CLAUS-Verfahren zu Elementarschwefel reduziert oder anderweitig weiterverarbeitet. Die moderne Rauchgasentschwefelung hat dazu geführt, dass das Phänomen des sauren Regens in Mitteleuropa weitgehend gebannt wurde, wodurch allerdings auf den intensiv landwirtschaftlich genutzten Böden Mittel- und Nordeuropas ein Schwefeldefizit entstanden ist, das durch Düngemittel mit einem erhöhten Schwefelgehalt ausgeglichen werden muss. Aus natürlichen Quellen (insbesondere den Ozeanen) gelangen jedoch ebenfalls enorme Mengen Schwefel in die Atmosphäre, und zwar als Dimethylsulfid Me2S (DMS, ca. 4·107 t/a). DMS wird im Meer vom Phytoplankton (schwebende Mikroorganismen) gebildet und in der Luft unter anderem zu SO2 und Methansulfonsäure MeSO3H oxidiert. Diese starke Säure ist neben H2SO4 und HNO3 ein wesentlicher Bestandteil des sauren Regens. SO2 ist ein farbloses, giftiges und korrosives Gas (Schmp. –75.5°, Sdp. –10°C). Es besteht in allen Aggregatzuständen aus isolierten Molekülen. Diese haben in der Gasphase folgende Eigenschaften: O

S

d (SO) = 143 pm, Winkel 119° O

fr = 10 N cmÈ1, ¯ = 1.63 D

Die Bindungen im SO2 sind denen im SO3 sehr ähnlich. Die Kernabstände und Valenzkraftkonstanten stimmen fast überein (Kap. 2.6). SO2 ist in Wasser ein schwaches Reduktionsmittel. Es reduziert Selenite zu elementarem Selen und Tellurite zu Tellur; Chlorite werden in ClO2 überführt. SO2 geht bei diesen Reaktionen in H2SO4 über. Mit F2 und Cl2 reagiert SO2 zu den entsprechenden Sulfurylhalogeniden SO2X2. Beim Behandeln mit bestimmten Metall- oder Nichtmetallchloriden entsteht in einer Sauerstoff-Halogen-Austauschreaktion Thionylchlorid: PCl5 + SO2 COCl2 + SO2

POCl3 + SOCl2 CO2 + SOCl2

Gegenüber LEWIS-Säuren und -Basen verhält sich SO2 teils als Donor, teils als Acceptor. Einerseits bildet es mit tertiären Aminen kristalline Komplexe des Typs Me3N→SO2, andererseits kann es auch als Ligand in Metallkomplexe eintreten, z.B. im Eisencarbonyl [Fe2(CO)8SO2]. Flüssiges Schwefeldioxid ist ein gutes Lösungsmittel für viele organische und anorganische Verbindungen und in gewissem Sinne wasserähnlich, obwohl es entgegen älteren Literaturangaben selbst nicht dissoziiert ist. Es eignet sich als Reaktionsmedium für Redox- und Komplexbildungsreaktionen sowie vor allem für zahlreiche doppelte Umsetzungen, wobei die Übertragung von O2–-Ionen eine besondere Rolle spielt. Ein Beispiel dafür ist die Neutralisation von Sulfiten mit Thionylchlorid: SOCl2 + M2SO3

2 MCl + 2 SO2

458

12 Schwefel, Selen und Tellur

Diese Reaktion verläuft über die Ionen [SOCl]+ und [SO3]2–: SOCl2

[SOCl]+ + ClÈ

M2SO3

2 M+ + [SO3]2È

[SOCl]+ + [SO3]2È

2 SO2 + ClÈ

Selendioxid und Tellurdioxid entstehen beim Verbrennen von Se bzw. Te an der Luft bzw. im O2-Strom sowie bei der Oxidation dieser Elemente mit konzentrierter Salpetersäure, wenn man anschließend eindampft und den Rückstand auf 300°C (SeO2) bzw. 400°C (TeO2) erhitzt. SeO2 bildet farblose, in Wasser, Benzol und Eisessig lösliche Kristalle, die bei 315°C sublimieren. In der Gasphase besteht SeO2 wie SO2 aus isolierten Molekülen (Symmetrie C2v, dSeO = 174 pm, Winkel 101°). Im kristallinen Zustand liegt dagegen ein kettenförmiges Polymer aus eckenverknüpften SeO3-Pyramiden vor:

O

O

O

O

Se

Se

Se

O

O

d(SeO) = 178 pm (in der Kette) d(SeO) = 173 pm (Seleninylgruppen)

Die Kernabstände zeigen, dass alle SeO-Bindungen in dieser Struktur Mehrfachbindungen sind; der Einfachbindungsabstand beträgt 183 pm. SeO2 löst sich in Wasser zu Seleniger Säure H2SeO3 bzw. H2Se(OH)6, die durch Eindampfen der Lösung im Vakuum in Form farbloser Kristalle von H2SeO3 erhalten werden kann; diese Kristalle verwittern an der Luft zu SeO2. SeO2 kann leicht zu Se reduziert werden; es ist daher ein mäßig starkes Oxidationsmittel, das in dieser Funktion vor allem in der organischen Chemie verwendet wird. Mit HCl reagiert SeO2 zu einer Additionsverbindung SeO2·2HCl, die von konzentrierter Schwefelsäure zu SeOCl2 dehydratisiert wird. Auf diesem Wege wird Seleninylchlorid hergestellt: SeO2.2 HCl + H2SO4

SeOCl2 + [H3O][HSO4]

Das farblose α-TeO2 (Schmp. 733°C), das man bei der Verbrennung von Te in O2, bei der Oxidation von Te mit konzentrierter Salpetersäure sowie bei der thermischen Zersetzung von Te(OH)6 erhält, kristallisiert in einer tetragonalen Struktur, wobei jedes Te-Atom pseudo-trigonal-bipyramidal (Typ AX4E) von vier O-Atomen umgeben ist, wodurch zwei etwas verschiedene TeO-Kernabstände resultieren (äquatorial 190 und axial 208 pm). Gelbes orthorhombisches β-TeO2 kommt als Mineral Tellurit vor und bildet ein Schichtgitter. α-TeO2 ist in Wasser sehr wenig, in SeOCl2 besser löslich. In Salzsäure löst es sich zu [TeCl6]2–-Ionen, in Natronlauge zu Telluriten [Oxotellurate(IV)]. TeO2 kann auch mit Kohle, Al oder Zn zu metallischem Tellur reduziert werden.

12.10.2 Trioxide Schwefeltrioxid wird industriell in großem Umfang durch katalytische Oxidation von SO2 mit Luftsauerstoff nach dem Kontaktverfahren hergestellt: SO2 +

1 2

O2

SO3

° = Ȩ«Æ® kJ molÈ1; K p (700K) = 240 barÈ0.5 Š H700

459

12.10 Oxide der Chalkogene

Da dieses Gleichgewicht einerseits bei Raumtemperatur eingefroren ist, andererseits aber bei hohen Temperaturen wegen der negativen Reaktionsenthalpie auf der linken Seite liegt, verwendet man Katalysatoren zur Beschleunigung der Gleichgewichtseinstellung bei mittleren Temperaturen. Beim modernen Doppelkontaktverfahren wird in einer ersten Stufe bei höherer Temperatur (600°C; hohe Reaktionsgeschwindigkeit) und in den folgenden Stufen bei niedrigerer Temperatur (420°C; hohe Ausbeute) gearbeitet. Wenn das bis zur vorletzten Stufe entstandene SO3 zwischen den beiden letzten Kontakten durch Auswaschen mit konzentrierter Schwefelsäure entfernt wird, erreicht man insgesamt einen SO2-Umsatz von über 99.5 %. Im Allgemeinen besteht der Katalysator aus V2O5 auf SiO2 oder einem Silicat als Träger und dotiert mit K2SO4 als Aktivator. Am Katalysator spielen sich formal folgende Reaktionen ab: SO2 + 2 V5+ + O2È 2 V4+ +

1 2

O2

SO2 + V2O5

SO3 + 2 V4+ 2 V5+ + O2È SO3 + V2O4

Das SO3 wird aus dem Reaktionsgemisch mit H2SO4 ausgewaschen, wobei sich Polyschwefelsäuren bilden, die anschließend mit H2O zu H2SO4 hydrolysiert werden: (n È1) SO3 + H2SO4

H2SnO3n+1

+ (n È1) H2O

n H2SO4

Polyschwefelsäuren sind als Oleum oder rauchende Schwefelsäure im Handel. Aus ihnen kann man in einfacher Weise durch Destillation reines SO3 herstellen. Modifikationen von SO3 Gasförmiges Schwefeltrioxid besteht aus den Molekülen SO3 und S3O9, die miteinander in einem druck- und temperaturabhängigen Gleichgewicht stehen: 3 SO3

S3O9

Š H ° = È126 kJ molÈ1 (S3O9) °

Das Molekül SO3 ist trigonal-planar gebaut (Symmetrie D3h), mit einem SO-Abstand von 141.7 pm. Bei 44.5°C/1013 hPa kondensiert gasförmiges Schwefeltrioxid zu einer farblosen, leicht beweglichen Flüssigkeit, die überwiegend aus S3O9-Molekülen neben wenig SO3 besteht. Die Flüssigkeit erstarrt bei 17°C zu eisartigen Kristallen von rhombischem γ-SO3, die nur noch aus S3O9-Molekülen bestehen. Dieses trimere SO3 bildet einen sesselförmigen S3O3-Heterocyclus mit sechs exoständigen O-Atomen: O O

O S O

O S

O O S O O

d(SO) = 163 pm Winkel (OSO) = 99° Winkel(SOS) = 121° d(SO) = 137 pm (axial) d(SO) = 143 pm (equat.)

im Ring außerhalb des Ringes

Der Ring kann als ein System von drei verzerrten SO4-Tetraedern aufgefasst werden, die über gemeinsame Ecken verknüpft sind. Ähnliche Strukturen liegen auch den beiden anderen kristallinen SO3-Modifikationen zugrunde. Bei Temperaturen unterhalb etwa 30°C, vor allem aber unterhalb 20°C, polymerisiert S3O9 in Gegenwart von Spuren von

460

12 Schwefel, Selen und Tellur

H2O allmählich zu monoklinem β-SO3, das aus einem Gemisch kettenförmiger Moleküle besteht und das eigentlich eine Polyschwefelsäure darstellt, da die Kettenenden höchstwahrscheinlich OH-Gruppen aufweisen: O HO

(S

O)n

H

d(S O) = 161 pm, d (S O) = 141 pm

O β-SO3 schmilzt bei 32–45°C unter Depolymerisation zu einem Gemisch von SO3 und S3O9. Um das handelsübliche, flüssige Schwefeltrioxid vor dieser Polymerisation zu schützen, wird es mit geringen Mengen von Stabilisatoren versetzt. Die thermodynamisch stabile SO3-Modifikation, das asbestartige α-SO3, entsteht beim Kondensieren von gasförmigem SO3 auf gekühlten Flächen (–80°C), wenn man anschließend auf 25°C erwärmt und mehrere Stunden lang mit Röntgenstrahlen bestrahlt. Die Struktur von α-SO3 ist nicht bekannt, wird aber ähnlich der des β-SO3 sein. Die Depolymerisationstemperatur von etwa 62°C zeigt einen höheren Polymerisationsgrad an.

Reaktionen von Schwefeltrioxid Schwefeltrioxid ist ungewöhnlich reaktionsfähig. Es verhält sich dabei teils als Oxidationsmittel, teils als LEWIS-Säure, selten auch als LEWIS-Base. SO3 oxidiert S8 bei gelindem Erwärmen zu SO2, ebenso SCl2 zu SOCl2 und SO2Cl2, sowie PCl3 zu POCl3. Weißer Phosphor (P4) verbrennt in SO3 zu P4O10, und auch HI, H2S und PH3 werden bei 25°C oxidiert. Mit vielen LEWIS-Basen bildet SO3 teils stabile Donor-Akzeptor-Komplexe, teilweise werden aber erst durch intramolekulare Umlagerungen stabile Produkte erhalten. So erhält man mit Pyridin kristallines Pyridin-1-Schwefeltrioxid (C5H5N→SO3). Mit H2O entsteht über eine ähnliche primäre LEWIS-Säure-Base-Wechselwirkung durch Umlagerung des Adduktes schließlich H2SO4, wobei ein zweites H2O-Molekül beteiligt ist (sechsgliedriger Ring als Zwischenprodukt):31 O

O H2O + SO3

H

O

S

H

O

O

HO

S

O

OH

Analog reagiert SO3 mit HCl zu Chloroschwefelsäure HSO3Cl. Mit NH3 entsteht das Ammoniumsalz der Amidoschwefelsäure. Bei dieser Reaktion schiebt sich SO3 formal als Gruppe –O–SO2– in eine der NH-Bindungen ein. Aus diesem Ammoniumsalz kann die so genannte Amidoschwefelsäure (Sulfaminsäure) durch Umsetzung mit 60 %iger Salpetersäure freigesetzt werden, wobei das Anion protoniert wird: 2 NH3 + SO3

[NH4][SO3NH2]

+ HNO3

H3NÈSO3 + [NH4][NO3]

Amidoschwefelsäure existiert also nicht in der diesem Namen entsprechenden Struktur „H2NSO3H“, sondern nur als tautomeres Zwitterion mit einer kovalenten S–N-Bindung. Es handelt sich bei dieser Säure demnach nicht um eine Hydroxoverbindung, sondern um eine NH-acide Substanz. 31

R. Steudel, Angew. Chem. 1995, 107, 1433.

461

12.10 Oxide der Chalkogene

Mit Salzen anorganischer Säuren reagiert SO3 teils unter Addition an das Anion, KF + n SO3

KSnO3 nF

Na2SO4 + (n È1) SO3

Na2SnO3 n+1

teils unter Verdrängung des Anhydrids: K2SeO4 + n SO3

K2SnO3 n+1 + SeO3

2 KClO4 + 3 SO3

K2S3O10 + Cl2O7 K2S3O10 + CO2

K2CO3 + 3 SO3

Selentrioxid und Tellurtrioxid Selentrioxid wird in der oben beschriebenen Weise aus K2SeO4 und flüssigem SO3 hergestellt. Es bildet farblose, hygroskopische Kristalle (Schmp. 118°C), die aus achtgliedrigen Ringmolekülen Se4O12 bestehen. In der Gasphase steht dieses Tetramer mit monomerem SeO3 im Gleichgewicht; oberhalb 160°C tritt allerdings Zersetzung zu Se2O5 und O2 ein. Monomeres SeO3 ist von D3h-Symmetrie (dSeO = 169 pm). Selentrioxid ist ein noch stärkeres Oxidationsmittel als SO3; es reagiert außerdem wie SO3 als LEWIS-Säure, manchmal aber auch als LEWIS-Base. Tellurtrioxid entsteht beim Entwässern von Orthotellursäure bei 300–320°C: TeO3 + 3 H2O

Te(OH)6

Je nach Reaktionsbedingungen erhält man α-TeO3 oder β-TeO3.32 Während α-TeO3 mit Wasser teilweise wieder zu Te(OH)6 reagiert, ist β-TeO3 in Wasser, konzentrierter Salzsäure und konzentrierter Kalilauge unlöslich. TeO3 ist ein starkes Oxidationsmittel, das sich oberhalb von 400°C zu Te2O5 und O2 zersetzt; alle drei Oxide sind polymer.

12.10.3 Niedere Schwefeloxide33 Das wichtigste dieser Oxide ist das Dischwefeloxid S2O, das zusammen mit SO2 und Spuren von SO3 bei der Verbrennung von elementarem Schwefel in reinem Sauerstoff unter stark vermindertem Druck entsteht. In reiner Form erhält man es beim Überleiten von Thionylchlorid-Dampf über gepulvertes Silbersulfid bei 160°C und 10–50 Pa: OSCl2 + Ag2S

S2O + 2 AgCl

Das Molekül S2O ist wie alle Glieder der Reihe O3 – SO2 – S2O – S3 gewinkelt und hat im Grundzustand eine dem SO2 entsprechende Struktur:

S

32 33

S

O

S

S

O

Winkel (SSO) = 118.0° d(SO) = 145.7 pm d(SS) = 188.7 pm

M. A. K. Ahmed, H. Fjellvag, A. Kjekshus, J. Chem. Soc. Dalton Trans. 2000, 4542. R. Steudel, Top. Curr. Chem. 2003, 231, 203.

462

12 Schwefel, Selen und Tellur

S2O ist nur in der Gasphase bei Partialdrucken unter 1 hPa einige Tage haltbar. Bei höheren Drucken und beim Kondensieren mit flüssigem N2 und anschließendem Aufwärmen auf 25°C disproportioniert S2O zunächst nach 2 S2O

SO2 + S3

und polymerisiert zusammen mit dem S3 und unter weiterer Disproportionierung in einer Radikalkettenreaktion nach folgendem Prinzip zu Polyschwefeloxiden SxO (x > 3) und SO2: S

S +S

S +S

O

O

O

S +S

S

S

S

S

S

S

S

S

S S

+ SO2

O

Diese Polyschwefeloxide sind in organischen Lösungsmitteln unlöslich. Sie entsprechen dem polymeren Schwefel. Bei 100°C zersetzen sie sich endgültig zu SO2 und S8. Ähnliche Oxide, aber mit ringförmiger Struktur, erhält man bei der Oxidation von Schwefelhomocyclen mit Trifluorperessigsäure CF3C(O)OOH: Sn + CF3CO3H

SnO + CF3CO2H

n = 6 È 10

Diese oben bereits erwähnten homocyclischen Schwefeloxide S6O bis S10O sind gelb bis orange gefärbt und kristallin; sie zersetzen sich bei 20°C unterschiedlich schnell zu SO2 und elementarem Schwefel.

12.11

Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene

12.11.1 Allgemeines Vom Schwefel ist eine große Zahl von Sauerstoffsäuren bekannt, angefangen bei kleinen und hoch reaktiven Molekülen wie HOSOH, HOSSOH und H2SO2 über die Schweflige Säure H2SO3 bis zur Schwefelsäure und den Peroxoschwefelsäuren (Tab. 12.4). Viele dieser Schwefelsäuren sind von außerordentlicher Bedeutung, und zwar sowohl bei technischen Prozessen, als auch für den geobiologischen Schwefelkreislauf in der Natur und letztlich auch für die Chemie der Atmosphäre und damit für den Umweltschutz (Luftreinhaltung, saurer Regen). Tab. 12.4 Formeln der einfachsten Schwefel-Sauerstoff-Säuren mit den Oxidationsstufen des Schwefels von ±0 bis +6. Bei den sauerstoffärmeren Säuren sind mehrere Tautomere möglich, die unterschiedliche Namen tragen. ±0

+1

+2

+3

+4

+5

+6

H2SO

H2S2O2

H2SO2

H2S2O4

H2SO3

H2S2O6

H2SO4 H2SO5 H2S2O7 H2S2O8

463

12.11 Oxo-, Thio- und Halogeno-Säuren der Chalkogene

Ersetzt man in diesen Säuren ein oder mehrere O-Atome durch Schwefel, gelangt man zu Thiosäuren, z.B. Thioschwefelsäure O HO

O

S

OH

O Schwefelsäure

HS

S

OH

O

Thioschwefelsäure und Thioschweflige Säure H2S2O2 (siehe Tab. 12.4). Bei Substitution einer OH-Gruppe in einer Oxosäure durch ein Halogenatom erhält man eine Halogenosäure: O HO

S

Cl

HO

S

F

O

O

Chloroschwefelsäure

Fluoroschweflige Säure

Die wichtigsten Säuren des Selens und Tellurs sind Selenige Säure H2SeO3, Selensäure H2SeO4, die polymere Tellursäure H2TeO4 und die monomere Orthotellursäure Te(OH)6. Verglichen mit den Oxosäuren des Schwefels sind die Se- und Te-Säuren von deutlich geringerer Bedeutung. Nicht alle Chalkogensäuren, von denen Salze oder organische Derivate (Ester) bekannt sind, lassen sich in reiner Form isolieren. Manche der im Folgenden besprochenen Säuren sind nur in Form ihrer Anionen oder nur in wässriger Lösung bekannt. Dies gilt für alle Säuren des Schwefels mit Oxidationsstufen 1 aufweisen. Künstlich hergestellte, radioaktive Halogen1

Eine gut zu lesende Einführung liefert das Buch: P. Kirsch, Modern Fluoroorganic Chemistry, Wiley-VCH, Weinheim, 2004. Siehe auch G.-V. Röschenthaler, Nachr. Chemie 2005, 53, 743.

486

13 Die Halogene

isotope werden zur Aufklärung von Reaktionsmechanismen und Austauschreaktionen sowie in der medizinischen Diagnostik eingesetzt.

13.2

Die Elemente Fluor bis Iod

Halogen-Moleküle Aufgrund ihrer Valenzelektronenkonfiguration s2px2py2pz1 bilden die elementaren Halogene in allen Aggregatzuständen zweiatomige Moleküle. Diese ordnen sich bei genügend tiefen Temperaturen zu Molekülgittern, deren Gitterenthalpie auf die sehr schwachen VAN DER WAALS-Kräfte zwischen den Molekülen zurückzuführen ist. Daraus erklären sich die z.T. sehr niedrigen Schmelz- und Siedetemperaturen. Fluor und Chlor sind gelbgrüne Gase, Brom ist eine rotbraune Flüssigkeit und Iod bildet glänzende, grauschwarze Kristalle, die beim Erwärmen sublimieren. Der starke Anstieg der Schmelz- und Siedetemperaturen vom Fluor zum Iod hat mehrere Gründe. Da die Halogenmoleküle kein Dipolmoment besitzen, sind die VAN DER WAALS-Kräfte ausschließlich auf den Dispersionseffekt zurückzuführen, der seinerseits wesentlich von der Polarisierbarkeit der Atome abhängt (Kap. 3.3). Da die Polarisierbarkeit aber mit dem Atomradius stark ansteigt, nimmt die intermolekulare Wechselwirkung vom Fluor zum Iod entsprechend zu. Darüber hinaus sind aber noch andere Kräfte wirksam. Cl2, Br2 und I2 kristallisieren in Schichtstrukturen. Die Moleküle einer Schicht liegen in einer Ebene. Die Schichten sind derart übereinander gestapelt, dass die Moleküle jeder Schicht über bzw. unter den Lücken liegen, die sich zwischen den Molekülen der benachbarten Schicht befinden. Zwischen den Schichten wirken nur VAN DER WAALSKräfte, wie man aus den relativ großen Kernabständen entnehmen kann (beim I2: 425–433 pm). Diese schwachen Kräfte machen sich in einer ausgeprägten Spaltbarkeit der Kristalle parallel zu den Schichtebenen bemerkbar. Innerhalb der Schichten werden jedoch intermolekulare Kernabstände beobachtet, die wesentlich kleiner als die VAN DER WAALS-Abstände sind, so dass man dort schwache kovalente Teilbindungen annehmen kann. Dieser Effekt nimmt vom Cl2 zum I2 hin stark zu. Die kleinsten Abstände zwischen den Molekülen einer Schicht betragen beispielsweise beim Iod 349 pm (Einfachbindungsabstand in gasförmigen Iod: 267 pm, VAN DER WAALS-Abstand: 440 pm). Bei diesem Kernabstand muss man bereits mit einer beträchtlichen Orbitalüberlappung rechnen. Offensichtlich liegen im kristallinen Iod intermolekulare Mehrzentrenbindungen vor, die sich jeweils über eine ganze Schicht erstrecken und die mit einer Elektronendelokalisierung verbunden sind, auf die man die schon an Metalle erinnernden physikalischen Eigenschaften des Iods zurückführen kann: Die Kristalle sind von dunkler Farbe, aber glänzend, und die schwache elektrische Leitfähigkeit ist in den Schichtebenen 3400mal größer als senkrecht zu den Schichten. Kristallines Iod ist also ein zweidimensionaler Halbleiter. Diese Mehrzentrenbindungen kommen durch die teilweise Delokalisierung von nichtbindenden Elektronen aus den besetzten π*-MOs eines Moleküls in die unbesetzten σ*-MOs der Nachbarmoleküle zustande; strukturell zeigt sich dies in der Aufweitung der kovalenten Ι–I-Bindung von 267 pm im gasförmigen Iod auf 272 pm im Kristall. Der folgende Ausschnitt aus einer Schicht der bei 4 K bestimmten I2-Struktur soll die Möglichkeiten der Orbitalüberlappung zwischen den Molekülen verdeutlichen, die ein planares Netzwerk bilden:

487

13.2 Die Elemente Fluor bis Iod

~

271.7

395.6

348.8

348.8

348.8 348.8

395.6

~

Eine detaillierte Darstellung derartiger Mehrzentrenbindungen, die in der Halogenchemie eine große Rolle spielen, wird bei den Polyhalogeniden gegeben (Abschnitt 13.5.3). Halogen-Atome Alle zweiatomigen Halogenmoleküle dissoziieren bei hohen Temperaturen in Atome. Der thermische Dissoziationsgrad ist außer von Druck und Temperatur auch von der Dissoziationsenthalpie (Tab. 13.1) abhängig. Diese ändert sich vom F2 zum I2 nicht gleichsinnig, sondern erreicht beim Cl2 ein Maximum. Der relativ kleine Wert beim F2 ist auf die Abstoßung der nichtbindenden Elektronenpaare an beiden Atomen und auf den kleinen Atomradius zurückzuführen, der zu einer hohen Elektronendichte führt (Kap. 4.2.2). Daher ist der thermische Dissoziationsgrad α unter gleichen Bedingungen beim F2 größer als bei den anderen Halogenen. Bei 1000 K und 0.1 MPa beträgt α beim F2 ca. 4 %, beim Cl2 0.03 %, beim Br2 0.2 % und beim I2 ca. 3 %. Auch durch Bestrahlung sowie durch Einwirkung einer Mikrowellenentladung können die Halogenmoleküle dissoziiert werden. Reaktionsfähigkeit Fluor ist das reaktionsfreudigste Element überhaupt. Es reagiert bei Raumtemperatur oder bei höheren Temperaturen außer mit O2 und den leichteren Edelgasen mit allen anderen Elementen sowie mit sehr vielen anorganischen und den meisten organischen Verbindungen. Oft verlaufen diese Reaktionen äußerst heftig, teilweise explosionsartig. Chlor, Brom und Iod sind wesentlich weniger reaktiv. Die extreme Reaktionsfähigkeit von elementarem Fluor ist einerseits auf die geringere Dissoziationsenthalpie des F2-Moleküls zurückzuführen, andererseits sind die Bindungen zwischen einem Element E und Fluor meistens sehr viel stärker als bei den anderen Halogenen, wodurch entsprechende Reaktionen stark exotherm sind, was dann durch Temperaturerhöhung reaktionsbeschleunigend wirkt. Zur Illustration seien die mittleren Bindungsenthalpien der CX-Bindungen in den Kohlenstofftetrahalogeniden CX4 angeführt, darunter in Klammern der typische Bereich der mittleren C–X-Bindungsenthalpien in verschiedenen Bindungssituationen (kJ mol–1): F3C–F 485 (460 … 535)

Cl3C–Cl 327 (300 … 360)

Br3C–Br 285 (260 … 330)

I3C–I 213 (200 … 260)

488

13 Die Halogene

13.3

Bindungsverhältnisse

Halogenid-Ionen Alle Halogene bilden negative Halogenid-Ionen X–, die den salzartigen Halogeniden zugrunde liegen, denen die Halogene ihren Namen verdanken (Halogen = Salzbildner). Die Elektronenaffinität, d.h. die bei der Anlagerung eines Elektrons an das gasförmige Atom freigesetzte Enthalpie ist bei den Halogenen größer als bei allen anderen Elementen (Kap. 2.1.3). Die Tendenz eines Halogenmoleküls, in wässriger Lösung nach X2 + 2 eÄ

2 XÄ

(1)

in das entsprechende Halogenid-Ion überzugehen, nimmt dagegen vom F2 zum I2 sehr stark ab. Das obige Gleichgewicht liegt um so mehr auf der rechten Seite, je elektronegativer das Halogen ist, d.h. die GIBBS-Energie ∆G°(1) nimmt vom F2 zum I2 stark ab. Das zeigt sich an den zugehörigen Reduktionspotentialen E°, die folgendermaßen definiert sind: E° =

n

ċG° n .F

Zahl der Elektronen (hier: 2)

F Faraday-Konstante (96 487 C molÄ1)

Diese E°-Werte betragen unter Standardbedingungen: F2

Cl2

Br2

I2

At2

+2.89

+1.36

+1.08

+0.62

+0.2 Volt

Ursächlich für diesen Gang sind einerseits die unterschiedlichen Hydratationsenthalpien der Anionen sowie andererseits die Dissoziationsenthalpien der Moleküle (Tab. 13.1) und die Elektronenaffinitäten der Atome (Abb. 2.2). Wegen dieser thermodynamischen Verhältnisse verdrängt jedes Halogen seine höheren Homologen aus ihren salzartigen Halogeniden. Aus dem gleichen Grunde nimmt die Stärke der Halogenwasserstoffe als Reduktionsmittel vom HF zum HI hin zu. Während HF bzw. F– nur elektrochemisch zu F2 oxidiert werden können, genügen schon relativ schwache Oxidationsmittel, um HI oder Iodide zu I2 zu oxidieren. Kovalente Verbindungen In den kovalenten Verbindungen der einwertigen Halogene treten diese in den Oxidationsstufen –1, 0 und +1 auf. Beispiele dafür sind die Verbindungen Cl2, ClF, BrF und ICl. Die Oxidationsstufe des Fluoratoms ist jedoch in allen Verbindungen (außer F2) –1, da Fluor wegen seiner hohen Elektronegativität in einer Bindung stets der negativ polarisierte Partner ist. Das einfach kovalent gebundene Fluoratom kann als LEWIS-Base noch zusätzlich koordinative Bindungen eingehen und damit die Koordinationszahl 2 erreichen. Dieser Fall liegt in den durch Wasserstoffbrücken gebundenen Fluorverbindungen und in zahlreichen Fluoriden vor, in denen F-Atome eine Brückenfunktion ausüben. Das Beispiel der fluoridverbrückten Anionen [F5E–F–EF5]– (E = As, Sb) illustriert diesen Bindungstyp: Hierbei ist die Geometrie am zentralen Fluoratom gewinkelt (C2v):

489

13.4 Fluor

Verbindungen mit höher koordinierten Fluoratomen sind auch bekannt, beispielsweise MgF2, das in der Rutilstruktur mit KZ(F) = 3 kristallisiert. Wegen der sehr hohen Ionisierungsenergie des Fluoratoms sind Verbindungen mit Fluorkationen F+ oder mit positiv polarisierten F-Atomen nicht herstellbar. Diesen Bindungszustand kennt man jedoch bei den übrigen Halogenen, deren Ionisierungsenergien mit steigendem Atomradius stark abnehmen. Dabei muss der jeweilige Bindungspartner eine höhere Elektronegativität aufweisen als das Halogenatom X. Dies ist der Fall bei den Bindungen X–F und X–O, weswegen Fluor und Sauerstoff am ehesten zur Bildung von Verbindungen mit positiv polarisierten Cl-, Br- oder I-Atomen geeignet sind. Außer den oben schon genannten Interhalogenverbindungen gehören auch Bromnitrat BrONO2, Chlorhydroxid ClOH und Iodtrisfluorosulfat I(SO3F)3 zu dieser Stoffklasse. Die isolierten Kationen F+, Cl+, Br+ und I+ sind so starke LEWIS-Säuren, d.h. so elektrophil, dass sie in kondensierten Phasen nicht für sich existieren können, sondern nur in koordinierter Form, z.B. in den folgenden Salzen, in denen die Pyridinliganden (C5H5N) Elektronendichte auf die Halogenatome übertragen: [F(py)]F

[Cl(py)2][NO3]

[Br(py)2][NO3]

[I(py)2][NO3]

Bei den schwereren Halogenen Cl, Br und I sind wesentlich höhere Koordinationszahlen als beim Fluor möglich. Geeignete Bindungspartner sind vor allem F und O, zum Teil auch noch Cl. Mit diesen Partnern erreichen Chlor und Brom maximal die Koordinationszahl 6 wie in [ClF6]+ und Iod sogar die Koordinationszahl 8, z.B. im Anion [IF8]–. Diese und analoge Halogenverbindungen gehören zur Klasse der hypervalenten oder hyperkoordinierten Verbindungen, deren Bindungen nach der MO-Theorie als Mehrzentrenbindungen beschrieben werden können (Kap. 2.6). Aus den oben angestellten Überlegungen geht hervor, dass das Element Fluor in der Gruppe der Halogene eine ähnliche Sonderstellung einnimmt wie der Sauerstoff in der Gruppe der Chalkogene. Daher wird anschließend zunächst das Fluor behandelt und die übrigen Halogene werden dann zusammenhängend besprochen.

13.4

Fluor2

13.4.1

Herstellung von Fluor

Fluor findet sich in der Natur hauptsächlich in Form der kristallinen Minerale Flussspat CaF2, Kryolith Na3[AlF6] und Fluorapatit Ca5[(PO4)3F].3 Das Mineral Phosphorit hat die 2 3

D. D. DesMarteau et al., Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1561. Ca5[(PO4)3F] ist auch ein Bestandteil der Zähne, und Zahncremes enthalten ionische Aminfluoride, um Karies zu unterdrücken.

490

13 Die Halogene

gleiche Zusammensetzung wie Fluorapatit, ist aber amorph. Die natürliche Häufigkeit von Fluor in der Erdkruste beträgt nur 0.065 %; sie ist damit aber immer noch größer als die von Chlor. Elementares Fluor und die meisten Fluoride werden aus Fluorwasserstoff HF hergestellt. Zur technischen Produktion von HF wird wasserfreier Flussspat in einem Drehrohrofen bei 200–350°C mit 100 %iger Schwefelsäure umgesetzt: CaF2 + H2SO4

2 HF + CaSO4

Diese Reaktion ist mit +59 kJ mol–1 endotherm und muss daher bei erhöhter Temperatur durchgeführt werden. Das gasförmige HF-Rohprodukt wird mit H2SO4 gewaschen und durch fraktionierte Kondensation und anschließende Destillation gereinigt. Erhebliche Mengen HF und SiF4 werden auch bei der Aufarbeitung von Phosphorit zu Phosphorsäure gewonnen (Kap. 10.12) und unter anderem zu AlF3 bzw. Na3AlF6 für die Aluminiumherstellung durch Schmelzflusselektrolyse verarbeitet. Flüssiges HF (Schmp. –84°C, Sdp. 20°C) ist ein ausgezeichnetes polares Lösungsmittel für organische und anorganische Verbindungen, allerdings werden viele Metalle, Glas und andere Materialien durch HF korrodiert. Manche Kunststoffe, insbesondere fluorierte organische Polymere (Teflon, KEL-F, Teflon-PFA; siehe unten) sind aber inert gegenüber HF. Rostfreier Stahl kann bei normalen und leicht erhöhten Temperaturen verwendet werden, während sich bei höheren Temperaturen Kupfer, Nickel und die Cu-Ni-Legierung Monel bewährt haben. Auf der Haut erzeugt HF schwere und nur langsam heilende Wunden. Elementares Fluor kann wegen seines hohen Standardpotentials nur durch anodische Oxidation von Fluorid-Ionen hergestellt werden,4 und zwar nur mit Elektrolyten, die keine anderen Anionen (z.B. [OH]–) enthalten. Wasserfreies HF ist selbst nur schwach in Ionen dissoziiert: 3 HF

[H2F]+ + [HF2]Ä

c (H2F+) .c (HF2Ä ) Ž 10Ä10

Daher verwendet man für die Elektrolyse Schmelzen der Zusammensetzung KF·xHF, wobei x zwischen 2 und 13 variiert. Die Schmelzpunkte dieser Elektrolyten liegen je nach HF-Gehalt zwischen –100° und +72°C. Einem hohen HF-Gehalt entspricht ein niedriger Schmelzpunkt. Die Elektrolysetemperatur liegt beispielsweise bei 60°C. In den Elektrolyten liegen die Fluorid-Ionen stark solvatisiert als [HnFn+1]– bzw. [F–·nHF] vor. Die Elektrolysezellen und die Kathoden werden aus Stahl gefertigt, die Anoden bestehen aus graphitfreiem Kohlenstoff. Durch Einleiten von HF in den Elektrolyten hält man dessen Zusammensetzung während der Elektrolyse ungefähr konstant. Das bei einer Badspannung von ca. 10 V entwickelte F2, das mit HF und gegebenenfalls mit CF4 verunreinigt ist, wird anschließend durch Tiefkühlung auf –140°C gereinigt, wobei die Verunreinigungen kondensieren. An der Kathode entwickelt sich Wasserstoff. Je 40 % des so erzeugten elementaren Fluors werden zur Herstellung von SF6 und UF6 verwandt, der Rest zur Synthese von Verbindungen wie ClF3, C3F8 und Fluorgraphit (Kap. 7.5.1). Führender Hersteller von Fluor und F-haltigen Verbindungen in Deutschland ist die Solvay Fluor GmbH. F2 ist in Stahlflaschen im Handel.

4

Bei der thermischen Zersetzung bestimmter Fluorverbindungen wie K2[NiF6] oder MnF4 entsteht ebenfalls F2, jedoch ist dies keine technische Methode zur Herstellung von Fluor.

491

13.4 Fluor

13.4.2

Eigenschaften von Fluor

F2 und HF sind stark ätzende Chemikalien, die auf der Haut schwierig heilende Wunden verursachen. F2 kann noch in sehr kleinen Konzentrationen von etwa 0.01 ppm am Geruch erkannt werden, der dem eines Gemisches aus O3 und Cl2 ähnelt. Fluor und einige kovalente Fluoride wie S2F10 und PF3 sind extrem giftig. Da Fluor mit fast allen Elementen reagiert und sehr viele anorganische und organische Verbindungen angreift, sind nur wenige Materialien zum Bau von Apparaturen geeignet, in denen mit F2 experimentiert werden soll. Resistent gegen F2 sind bei 25°C einige Metalle und Legierungen, die sich in einer F2-Atmosphäre rasch mit einem Film von Metallfluorid überziehen, der dicht ist und fest haftet und so den weiteren Angriff von F2 verhindert (Passivierung). Zu diesen Metallen gehören Cu, Ni, Stahl, Messing (Cu-Zn-Legierung), Bronze (Cu-Sn-Legierung) und Monel. Nur in Sonderfällen kann man mit Glas- oder Keramikbauteilen arbeiten (mit N2 verdünntes Fluorgas), da SiO2 zu gasförmigen SiF4 fluoriert wird, sobald auch nur Spuren von HF vorhanden sind: SiO2 + 4 HF H 2O + F 2

SiF4 + 2 H2O 2 HF +

1 2

O2

Neben metallischen Werkstoffen spielen auch noch Polytetrafluorethylen (PTFE, Teflon) sowie ein Perfluoralkoxy-Copolymer (PFA) eine Rolle, vor allem für Dichtungen, Kühlfallen und flexible Rohrleitungen. Zur Beseitigung kleiner Mengen F2 leitet man das Gas über CaCl2, Al2O3 oder in 30 %ige Kalilauge: 2 Al2O3 + 6 F2 2 KOH + F2

4 AlF3 + 3 O2 2 KF + H2O +

O2

Mit Wasser reagiert F2 zu HOF, das mit Acetonitril ein Addukt CH3CN·HOF bildet. Diese Mischung ist ein sehr guter Sauerstoffüberträger für organische Oxidationen.5

13.4.3

Herstellung von Fluoriden

Alle Fluoride werden letztlich aus HF hergestellt, sei es auf dem Umweg über elementares Fluor, sei es durch direkte Umsetzung mit Hydrogenfluorid oder Flusssäure (HFaq). Hydrogenfluorid, das in allen Phasen stark assoziiert ist, ist ein wasserähnliches Lösungsmittel. Von ihm leiten sich Salze mit den Anionen F–, [HF2]–, [H2F3]– und [H3F4]– ab. Durch thermische Zersetzung von K[HF2] kann man im Labor reines HF herstellen. Fluoridionen-Akzeptoren wie SbF5 verhalten sich in HF als Ansolvosäuren: 2 HF + SbF5

[H2F]+ + [SbF6]Ä

Lösliche, ionische Fluoride reagieren in HF dagegen als Basen. In Wasser ist HF nur eine schwache Säure (Kap. 5.5), aber die Lösung ist stark ätzend und greift Glas unter Fluorierung an, so dass man Flusssäure in Gefäßen aus Polyethylen, Platin oder Blei aufbewahrt und handhabt. 5

S. Rozen, M. Carmeli, J. Am. Chem. Soc. 2003, 125, 8118.

492

13 Die Halogene

Zur Herstellung kovalenter und ionischer Fluoride dienen folgende Verfahren: (a) Reaktion von HF oder HF(aq) mit einem Oxid, Hydroxid oder Carbonat; geeignet zur Herstellung von KF, K[HF2], [NH4]F, [NH4][HF2], BaF2, AlF3, Na3[AlF6], BF3, K[BF4], SiF4. (b) Halogenaustausch mittels HF, NaF oder KF (besonders geeignet für die Halogenide der Gruppen 14–16 des Periodensystems): PCl3 + 3 HF

50°C

SbCl5 + 5 HF

PF3 + 3 HCl SbF5 + 5 HCl

150°C

SPCl3 + 3 HF Sulfolan SPF3 + 3 HCl

(c) Direktfluorierung mit F2 (hierbei werden normalerweise die höchsten Oxidationsstufen erreicht): 1 8

S8 + 3 F 2

SF6

I2 + 5 F2

2 IF5

U 3O 8 + 9 F 2 AgCl + F2

3 UF6 + 4 O2 AgF2 +

1 2

Cl2

Viele Elemente und Verbindungen setzen sich mit F2 unter spontaner Entzündung und starker Wärmeentwicklung um. So reagieren festes F2 und flüssiges H2 selbst bei 20 K noch heftig miteinander! Daher wurden mit F2 einerseits und Verbindungen wie H2, B2H6, N2H4, C2H5OH, Li, LiH und BeH2 andererseits versuchsweise Raketenmotoren betrieben, wobei Verbrennungstemperaturen von 4000–5600 K erreicht wurden. (d) Fluorierung mit metallischen oder nichtmetallischen Fluorierungsmitteln wie AgF, AgF2, CoF3, MnF3, ZnF2, ClF3, BrF3, IF5, AsF5, SbF3, SF4, K[SO2F]: 3 PCl5 + 5 AsF3 OPCl3 + ZnF2 3 COCl2 + 2 SbF3

25°C 40°C 130°C

3 PF5 + 5 AsCl3 OPClF2 + ZnCl2 3 COF2 + 2 SbCl3

(e) Die Elektrofluorierung stellt ein besonders elegantes Verfahren der Fluorierung dar. Dabei löst man das Ausgangsprodukt in wasserfreiem HF. Falls die Lösung keine ausreichende Leitfähigkeit aufweist, wird noch etwas KF zugesetzt. Dann wird bei 20°C oder tieferen Temperaturen unter Verwendung sehr großer Elektroden elektrolysiert; die Anode besteht normalerweise aus Ni. Die Badspannung (5–6 Volt) wird so gewählt, dass noch keine F2-Entwicklung eintritt. Dennoch werden unter diesen Bedingungen die verschiedensten Verbindungen anodisch fluoriert, selbst Alkylgruppen. Die Reaktionsbedingungen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Ausbeute der Produkte. Das Verfahren wird hauptsächlich zur Herstellung organischer Fluorverbindungen verwandt:

493

13.4 Fluor

CS2

CF3SF5

(n-C4H9)3N

C8H17SO2F

(n-C4F9)3N

CH3SO2F

C4H8SO2 Sulfolan

CF3SO2F

C8F17SO2F C4F9SO2F

Sulfolan ist der Trivialname für das ringförmige Tetrahydrothiophensulfon. Da Hydrogenfluorid ein sehr gutes Lösungsmittel für anorganische und organische Verbindungen ist, wird die Methode der Elektrofluorierung breit angewandt.

13.4.4

Verwendung fluorierter Verbindungen

Fluorierte Kohlenwasserstoffe: Lange Zeit wurde das aus Flussspat gewonnene Hydrogenfluorid hauptsächlich für die Produktion von C-Cl-F-Verbindungen verwandt.6 Im Wesentlichen handelte es sich dabei um folgende Derivate von Methan und Ethan: CCl3F CCl2F2

CHCl2F CHClF2

CCl2F–CCl2F CClF2–CClF2

CCl2F–CClF2 CClF2–CF3

Diese Verbindungen sind farblos und ungiftig. Sie werden aus entsprechenden C-Cl- bzw. C-Cl-H-Verbindungen durch teilweisen Halogenaustausch mittels HF in Gegenwart von SbF5 als Katalysator hergestellt und zeichnen sich durch niedrige Siedepunkte, hohe chemische Resistenz, Unbrennbarkeit und gute Lösungsmitteleigenschaften aus. Daher fanden Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe Verwendung als Kühlmittel in Kälteanlagen, als Lösungsmittel, als Treibmittel in Sprühdosen sowie bei der Schaumstoffherstellung. Im Labor eignen sie sich als Badflüssigkeiten für Kältebäder und als Lösungsmittel für aggressive Stoffe wie SO3. Wegen des schädlichen Einflusses dieser Verbindungen auf die stratosphärische Ozonschicht (Kap. 11.1.3) wurde die Produktion der nur aus C, Cl und F bestehenden Verbindungen in den meisten Ländern eingeschränkt oder ganz eingestellt (Montreal-Protokoll). Solche Verbindungen aber, die noch Wasserstoff enthalten, sind weniger schädlich, da sie bereits in der Troposphäre rasch abgebaut werden und somit nicht in die Stratosphäre gelangen. Als Ersatzstoffe kommen CH2F–CF3, CHCl2–CF3, CH3–CCl2F und CHClF2 in Frage.7 Fluorierte Polymere: Chlordifluormethan dient auch zur Herstellung von Polytetrafluorethylen (PTFE): CHCl3 + 2 HF n CHClF2

6 7

Kat. 750°C ÄHCl

CHClF2 + 2 HCl F2C=CF2 + F2C=CF CF3

FCKW: Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe. Zur Entsorgung von FCKWs werden die Verbindungen mit H2 und O2 verbrannt, wobei HCl, HF, Cl2 und CO2 entstehen (Incineration). P. Zurer, Chem. Eng. News 1989, July 24, S. 4 und October 9, S. 7. A. Heaton, S. Hodgson, T. Overton, R. Powell, „The challenges to develop CFC (chlorofluorocarbon) replacements: A problem based learning case study in green chemistry,“ Chem. Educ. Res. Pract. 2006, 7, 280.

494

13 Die Halogene

Aus Tetrafluorethen C2F4 erhält man durch radikalische Polymerisation bei 20–100°C und vermindertem Druck den Werkstoff Polytetrafluorethylen (–CF2–CF2–)n, abgekürzt PTFE (Warenzeichen: Hostaflon TF, Teflon). Die Polymerisation ist stark exotherm. PTFE ist chemisch außerordentlich widerstandsfähig und im Temperaturbereich –270° bis +260°C verwendbar. Es ist nicht brennbar, physiologisch inert und wird nur bei höherer Temperatur bzw. hohem Druck von F2, ClF3 und anderen starken Fluorierungsmitteln sowie von geschmolzenen Alkalimetallen angegriffen.8 Ähnlich resistente Materialien sind Polychlortrifluorethylen (–CF2–CFCl–)n, abgekürzt PCTFE (Warenzeichen: Hostaflon C2, KEL-F), sowie Viton (–CHF–CF2–CF2–)n und Teflon FEP (–CF2–CF2–CF(CF3)–)n. PCTFE ist je nach Polymerisationsgrad als Öl, Fett, Wachs oder festes Material erhältlich und beispielsweise als hochresistentes Hahnfett und Dichtungsmaterial verwendbar. Fluorverbindungen zur Energiespeicherung und -erzeugung: Lithium-Ionen-Batterien (Akkumulatoren) enthalten meistens Elektrolyten aus LiPF6 in einem Lösungsmittel wie Ethylencarbonat, Propylencarbonat oder Dimethylcarbonat. Um die Oxidationsbeständigkeit zu erhöhen und die Entflammbarkeit zu reduzieren, werden neuerdings fluorierte Carbonate verwendet, beispielsweise Monofluorethylencarbonat. Auch das protonenleitende Polymer Nafion, ein sulfoniertes und fluoriertes Polymer, das als Membran in Brennstoffzellen verwendet wird, ist ein hochfluoriertes Material, das über einen der oben beschriebenen Fluorierungswege hergestellt wird: CF2 CF2

CF2 x

CF O

x = 5Ä13.5; z = 1Ä3 y

CF2

O CF

z

CF2

CF2 SO3H

CF3

Fluorierte Verbindungen in der Halbleiterindustrie: Die Gase NF3, CF4, C2F6 und SF6 dienen in der Elektronikindustrie zum Plasmaätzen von Silicium. Durch Einwirkung einer Mikrowellenentladung auf diese Gase werden Fluoratome erzeugt, die elementares Silicium als SF4 abtragen. Auf analoge Weise werden auch Kraftstoffbehälter von Automobilen, die heutzutage aus organischen Polymeren bestehen, oberflächlich fluoriert, wodurch die Dichtigkeit und die chemische Resistenz erhöht werden. Das klassische Ätzverfahren bei der Herstellung integrierter Schaltungen auf Siliciumwafern beruht dagegen auf der Einwirkung von Flusssäure. Dabei wird die Si-Oberfläche interessanterweise mit H-Atomen belegt. In neuerer Zeit wird allerdings auch das Gas ClF3 zum Ätzen verwendet. Flüssigkristalle: Alle flüssigkristallinen Farbstoffe, die in Active-Matrix-Displays moderner TFT-Bildschirme (thin film transistor) eingesetzt werden, sind fluoriert. Man macht dabei von den großen Dipolmomenten von CF- und SF-Bindungen Gebrauch, wodurch ein sehr zuverlässiges Schalten ermöglicht wird. Beispiele für solche superfluorierten Materialien sind: 8

Gefäße aus PTFE werden daher zur Herstellung hochreiner Chemikalien für die Elektronik sowie in der Spurenanalytik (ppb-Analytik) eingesetzt, wo kleinste Verunreinigungen ausgeschlossen werden müssen.

495

13.4 Fluor

R

X

R

F

X: SF5 oder OCF3

F Die Verwendung der stark polaren und hydrolysestabilen SF5-Gruppe, die durch Fluorierung des entsprechenden Disulfans RSSR mit einem F2-N2-Gemisch (1:9) hergestellt wird, verbessert die Materialeigenschaften. Der verstärkende Effekt der SF5-Gruppe zeigt sich bei einem Vergleich des Dipolmomentes von PhCF3 (2.6 D) mit dem von PhSF5 (3.4 D). Fluorierte Pharma- und Agro-Wirkstoffe:9 Warum sind fluorierte Verbindungen als Pharmazeutika interessant? Fluor und Wasserstoff besitzen ähnliche VAN DER WAALS-Radien (135 gegenüber 120 pm), aber im Gegensatz zu H zeigt F einen starken induktiven Effekt. Durch eine metabolische Stabilisierung, d.h. verlangsamten Abbau im Körper, verbessert sich die Bioverfügbarkeit. Außerdem erhöht der Ersatz von CH- durch CFbzw. von CH3- durch CF3-Gruppen die Lipophilie. Dies führt häufig zu völlig veränderter Reaktivität, die als orthogonale Reaktivität von H und F bezeichnet wird. Aus diesen Gründen führt der selektive Ersatz von H durch F regelmäßig zu Wirkstoffen, die bis zu 1000mal aktiver als die Stammverbindungen sind. Beispiele hierfür sind das Cytostatikum Fluoruracil, der Entzündungshemmer Paramethason und der Anti-Malaria-Wirkstoff Mefloquin: O Me

HO Me

Me

H H

OH

CF3

OH HO

N H

O

N F Paramethason

F

HN

H

CF3 O

CF3 Mefloquin

F3C

O

N H

5-Fluoruracil

O F Sevofluran Cl

F F

F O

F

F

Isofluran

Auch die Narkosemittel Sevofluran, Isofluran und Halothan (CF3–CHClBr) sind hier zu nennen. Die narkotisierende Wirkung von Anästhetika ist um so stärker, je größer die Lipidlöslichkeit im Verhältnis zur Wasserlöslichkeit ist. Daher sind die genannten Stoffe dem auch immer noch eingesetzten Lachgas und den früher verwendeten Narkotika Diethylether und Chloroform weit überlegen.

9

V. Gouverneur et al., Chem. Soc. Rev. 2008, 37, 320.

496

13 Die Halogene

13.4.5

Bindungsverhältnisse in Fluoriden

Einzelne Nichtmetallfluoride werden bei den betreffenden Elementen behandelt. Hier sollen nur einige allgemeine und vergleichende Betrachtungen angestellt werden, die für molekulare Fluoride insgesamt gelten. In mancher Beziehung steht das Fluor dem Sauerstoff näher als den übrigen Halogenen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei einem Vergleich der Elektronegativitäten χ, die für die Bindungsenthalpien von wesentlicher Bedeutung sind: χ (ALLRED-ROCHOW): χ (PAULING):

F

O

Cl

Br

4.10 3.98

3.50 3.44

2.83 3.16

2.74 2.96

I 2.21 2.66

Dieser Unterschied folgt aus den Werten von χAR deutlicher als aus denen von χP . Auch die Kovalenz- und Ionenradien von O und F sind ähnlicher als die von Fluor und seinen schwereren Gruppenhomologen:

r (pm):

F

O

Cl

F–

O2–

Cl–

54

73

99

136

140

181

Daraus ergeben sich gewisse Analogien zwischen der Kristallchemie von Fluoriden10 einerseits und Oxiden andererseits. Auch die Fähigkeit des Fluors, analog zum Sauerstoff die verschiedensten Elemente zu den höchsten Oxidationsstufen zu oxidieren, zeigt diese Ähnlichkeit. Entsprechende Verbindungen sind beispielsweise AgF2, K2[NiF6] und SF6. Andererseits gibt es Elemente, die nicht als binäre Fluoride, sondern nur als Oxidfluoride (oder als Oxide bzw. Oxoanionen) die höchste Oxidationsstufe erreichen, z.B. NOF3, ClO2F3 und XeO3F2; die theoretisch denkbaren Moleküle NF5, ClF7 und XeF8 sind allerdings bisher unbekannt. Die mit dem Substituenten Fluor erreichbaren Koordinationszahlen sind meistens höher als die bei den übrigen Halogenen realisierbaren. So gibt es zu den folgenden Fluoriden [NF4]+ SF6 XeF6 [PF6]– IF7 ReF7 [SbF7]2– [TeF8]2– [XeF8]2– nicht die analogen Chloride, Bromide oder Iodide. Dafür dürften neben den meist deutlich höheren Bindungsenthalpien der Fluoride auch sterische Gründe maßgeblich sein. Trotz seiner hohen Elektronegativität bildet Fluor mit allen Nichtmetallen molekulare und nicht etwa salzartige Fluoride. Selbstverständlich sind aber die Bindungen in diesen Fluoriden fast alle stark polar. Wegen ihrer großen Anziehungskraft für Bindungselektronen üben Fluoratome in kovalenten Bindungen einen starken induktiven Effekt aus. Das zeigt sich an folgenden Beispielen: (a) Im SOF2 ist die SO-Bindung wesentlich kürzer als in jeder anderen Thionylverbindung. Entsprechendes gilt bei den Sulfuryl-, Seleninyl-, Selenyl- und Phosphorylverbindungen. 10

W. Massa, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 3, 1535.

497

13.4 Fluor

(b) (CF3)3N ist eine wesentlich schwächere LEWIS-Base als (CH3)3N. Die Gruppenelektronegativität der CF3-Gruppe beträgt etwa 3.5, die der CH3-Gruppe etwa 2.4. (c) CF3COOH ist eine wesentlich stärkere Säure als CH3COOH. (d) NF3 ist viel weniger basisch als NH3 und bildet daher nur noch mit extrem starken LEWIS-Säuren Ammoniumverbindungen wie [NF4]+.

13.4.6 Stabilisierung niedriger Oxidationsstufen Von verschiedenen Nichtmetallen sind relativ beständige subvalente Verbindungen bekannt, in denen das Nichtmetall in einer ungewöhnlich niedrigen Oxidationsstufe vorliegt. Solche Subverbindungen werden bevorzugt mit Fluor und mit Sauerstoff gebildet, während sie mit anderen Partnern wesentlich unbeständiger sind. Das bekannteste Suboxid ist das Kohlenmonoxid CO. Es ist zwar bezüglich eines Zerfalls in CO2 und Graphit thermodynamisch instabil, aber infolge der hohen Aktivierungsenthalpie und -entropie dieser Disproportionierung ist CO bei Raumtemperatur metastabil, d.h. beständig. In ähnlicher Weise ist die Beständigkeit aller anderen subvalenten Verbindungen kinetisch und nicht thermodynamisch bedingt. Mit CO isoster ist das Bormonofluorid BF, das durch Reduktion von BF3 mit kristallinem Bor in einer Gleichgewichtsreaktion hergestellt wird: BF3(g.) + 2 B(f.)

2000°C 1 hPa

3 BF(g.)

+BF3

F2B BF2 + F2B BF BF2

BF reagiert anschließend mit BF3 unter Einschiebung in eine B–F-Bindung zu B2F4 und mit diesem zu B3F5. Letzteres ist nicht beständig, sondern disproportioniert zu B2F4 und B(BF2)3, das zu B8F12 dimerisiert. Dieses Molekül enthält ein interessantes B8-Gerüst:

Mit CO reagiert B(BF2)3 zu (F2B)3BCO und mit PF3 zum kristallinen (F2B)3BPF3. Derartige Reaktionen werden so ausgeführt, dass man dem BF/BF3-Gemisch hinter der heißen Zone den Reaktionspartner zusetzt und das Gemisch sofort mit flüssigem Stickstoff kondensiert. Im Gegensatz zu CO (dCO = 113 pm) liegt dem Molekül BF (dBF = 126 pm) annähernd eine Einfachbindung zugrunde. Dies ergibt sich sowohl aus dem Kernabstand als auch aus der Valenzkraftkonstanten. Das nichtbindende Elektronenpaar und die unbesetzten p-Orbitale am Boratom verleihen dem Molekül carbenanaloge Eigenschaften, d.h. es reagiert bevorzugt in Additions- und Einschiebungsreaktionen unter Errichtung zweier neuer Einfachbindungen. Fehlen geeignete Reaktionspartner, disproportioniert BF bei

498

13 Die Halogene

hohen Temperaturen und in Gegenwart von festem Bor rasch zu Bor und BF3, bei tiefen Temperaturen tritt Polymerisation ein. Carbenanaloge Verbindungen sind auch die beiden Fluoride CF2 und SiF2, die beide etwas beständiger als BF sind. Difluorcarben entsteht bei folgenden Thermolyse- bzw. Photolysereaktionen:11 ‹T

‹T

CF2N2 ÄN 2

ÄPF5

CF3PF4

CF2 h .š ÄBr2

‹T

CHClF2 ÄHCl

CBr2F2

Die Halbwertszeit der Dimerisierung von CF2 zu C2F4 beträgt bei den geringen Drucken, unter denen die Pyrolyseraktionen ausgeführt werden, etwa 1 s. C2F4 reagiert sofort mit weiterem CF2 zu cyclo-C3F6, cyclo-C4F8 und zu polymerem (CF2)n. Wahrscheinlich tritt CF2 auch bei der Synthese von C2F4 und bei der thermischen Depolymerisation von Polytetrafluorethylen als Zwischenprodukt auf (vgl. Abschnitt 13.4.4). Die Moleküle CF2 (α = 105°) und SiF2 (α = 100°) sind gewinkelt und diamagnetisch und enthalten normale Einfachbindungen: d(E-F) = 130(C) und 160(Si) pm. Difluorsilylen SiF2, das in der Gasphase eine Halbwertszeit von etwa 150 s aufweist (25°C; 20 Pa), entsteht in hoher Ausbeute bei der Reduktion von SiF4 mit festem Silicium und bei der thermischen Disproportionierung von Hexafluordisilan Si2F6:12 1 2

SiF4(g.) +

1 2

Si(f.)

1150°C 20 Pa

SiF2(g.)

700°C ÄSiF4

Si2F6(g.)

Beim Fehlen anderer Reaktionspartner reagiert SiF2 einerseits mit dem stets vorhandenen SiF4 zu perfluorierten Polysilanen SinF2n+2 (n = 1–14), andererseits bildet es diradikalische, kettenförmige Polymere (SiF2)n, die man auch bei Abfangreaktionen als Baugruppen findet. Mit BF3 reagiert SiF2 ähnlich wie mit SiF4, nämlich zu F2B–(SiF2)n–F (n = 1–3: farblose Flüssigkeiten). Aus Hexafluorbenzol und SiF2 entstehen C6F5SiF3 und C6F4(SiF3)2. Zahlreiche weitere Reaktionen mit ungesättigten organischen Verbindungen wurden untersucht. Diese Beispiele zeigen die Bedeutung der Subverbindungen als Zwischenprodukte und für präparative Zwecke. Andere überraschend beständige Subfluoride von Nichtmetallen sind [NF2]• und [O2F]•, die als freie Radikale mit ihren Dimeren N2F4 bzw. O4F2 im temperatur- und druckabhängigen Gleichgewicht stehen.

11 12

D. L. S. Brahms, W. P. Dailey, Chem. Rev. 1996, 96, 1585. C.-S. Liu, T.-L. Wang, Adv. Inorg. Chem. Radiochem. 1985, 29, 1.

499

13.5 Chlor, Brom und Iod

13.5

Chlor, Brom und Iod13

13.5.1

Herstellung und Eigenschaften der Elemente

Chlor Das Element Chlor kommt in der Natur wegen seiner hohen Reaktionsfähigkeit nur in gebundener Form vor, und zwar hauptsächlich in Chloriden des Natriums, Kaliums und Magnesiums, aber auch in vielen organischen Verbindungen.14 Für die Chlorproduktion ist NaCl die bei weitem wichtigste Ausgangsverbindung; es findet sich im Meerwasser, in einigen salzhaltigen Binnenseen und in Lagerstätten, die durch Austrocknung derartiger Gewässer entstanden sind (Steinsalz). Deutschland und Österreich verfügen über ausgedehnte Salzlagerstätten, aus denen NaCl, KCl und MgCl2 gewonnen werden; führender deutscher Anbieter ist die K+S AG (Kali und Salz). In einigen warmen Ländern wird NaCl immer noch durch Eindunsten von Meerwasser in flachen Teichen (Salinen) gewonnen. Im Meerwasser sind die Halogene F, Cl, Br und I etwa im Verhältnis 0.7 : 1000 : 35 : 0.03 vorhanden. Die natürliche Häufigkeit von Cl in der Erdkruste beträgt 0.013 %. Elementares Chlor ist einer der wichtigsten Grundstoffe der chemischen Industrie, der zur Herstellung zahlreicher Produkte wie Arzneimittel, Dünge- und Pflanzenschutzmittel, Kunststoffe (z.B. PVC), Textilfasern, Farben und neue Werkstoffe gebraucht wird. Chlor wird daher in riesigen Mengen durch Elektrolyse von gesättigten wässrigen NaClLösungen sowie von Salzsäure gewonnen. In Europa ist Deutschland der bei weitem größte Chlorproduzent. Bei der NaCl-Elektrolyse läuft folgende Umsetzung ab: 2 NaCl + 2 H2O

Energie

2 NaOH + H2 + Cl2

Die entscheidende Reaktion ist die anodische Oxidation der Chlorid-Ionen. Die Kathodenreaktion hängt von der Art des Verfahrens ab. Es gibt drei Varianten dieses als Chloralkali-Elektrolyse bezeichneten Prozesses. Beim Amalgamverfahren wird flüssiges Quecksilber als Kathodenmaterial verwandt, an dem wegen einer sehr großen Überspannung nicht Wasserstoff-Ionen, sondern Natrium-Ionen entladen werden, so dass ein verdünntes, flüssiges Natriumamalgam entsteht, das kontinuierlich aus der mit einem schwach geneigten Boden ausgestatteten Elektrolysezelle abfließt. Anschließend fließt das Amalgam in einem Amalgamzersetzer durch ein Bett von Graphitpartikeln, während im Gegenstrom Wasser einströmt. Katalysiert durch den Graphit wird das Amalgam zu Natronlauge und Wasserstoff hydrolysiert, wobei das Quecksilber freigesetzt wird und in den Kreislauf zurückkehrt: 2 Na + 2 H2O

2 NaOH + H2

Die bis zu 200 Anoden der trogförmigen Elektrolysezelle bestehen aus Titan; die Betriebsspannung beträgt ca. 4.5 V. Beim Diaphragmaverfahren sowie beim Membranverfahren sind Anoden- und Kathodenraum der Elektrolysezelle durch eine Wand getrennt, um eine Vermischung und Reaktion der Produkte zu verhindern. Während das aus einem mineralischen oder PVC-Ge13 14

J.-P. Lang, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 2, 866. In der Natur kommen ca. 3500 Verbindungen von Chlor, Brom und Iod vor, aber nur 12 von Fluor.

500

13 Die Halogene

flecht bestehende und mit einem fluororganischen Harz beschichtete Diaphragma eine Durchmischung des Elektrolyten mechanisch verhindert, für Ionen aber durchlässig ist, stellt die aus einem Kationen-Ionenaustauscher gefertigte Membran eine Sperre für alle Teilchen außer Na+ dar. Damit die Membran nicht von heißem Chlor und Natronlauge zerstört wird, verwendet man ein PTFE-Copolymer, das durch geeignete funktionelle Gruppen zum Ionenaustausch befähigt ist (z.B. Nafion, Abschnitt 13.4.4). An der Kathode läuft folgende Reaktion ab: 2 H2O + 2 eÄ

H2 + 2 [OH]Ä

Bei der Chloralkali-Elektrolyse entstehen auf 1 t Cl2 neben Wasserstoff auch noch 1.1 t NaOH. Im Jahre 1997 wurden in Westeuropa etwa 64 % des Chlors nach dem Amalgamverfahren, 24 % nach dem Diaphragmaverfahren, 11 % nach dem Membranverfahren und der Rest nach anderen Verfahren (z.B. Schmelzflusselektrolyse von NaCl zur Na-Herstellung) gewonnen. Da das Membranverfahren 30 % weniger elektrische Energie erfordert (2.5 MWh/t Cl2) und umweltfreundlich ist, werden neue Anlagen nach diesem Prinzip errichtet und die europäischen Hersteller haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020 alle Amalgam-Anlagen auf das Membranverfahren umzurüsten. In Deutschland wurden im Jahre 2006 ca. 4.5·106 t Cl2 produziert, davon 1.3·106 t nach dem Amalgamverfahren. Bei der Chlorierung organischer Verbindungen fallen große Mengen Salzsäure an, die bei der BAYER AG elektrolytisch nach dem Membranverfahren wieder zu Chlor verarbeitet wird. Dabei wird eine Sauerstoff-Verzehrkathode eingesetzt, wodurch eine niedrigere Zersetzungsspannung erreicht und ca. 30 % der elektrischen Energie gegenüber dem Membranverfahren eingespart wird (1.8 MWh/t Cl2). Die Bruttoreaktion ist in diesem Fall: 4 HCl + O2

2 Cl2 + 2 H2O

Im Labor entnimmt man Cl2 einer Stahlflasche oder stellt es durch Oxidation von Chlorid-Ionen mit starken Oxidationsmitteln in saurer Lösung her, beispielsweise durch Reaktion von konzentrierter Salzsäure mit Braunstein (MnO2) oder mit KMnO4: 4 HCl + MnO2

Cl2 + MnCl2 + 2 H2O

Chlor ist bei Raumtemperatur ein gelbgrünes, erstickend riechendes und sehr giftiges Gas, das die Schleimhäute stark angreift (Sdp. –34°C). Gasförmiges Cl2 ist schwerer als Luft und kondensiert unter Druck leicht zu einer grüngelben Flüssigkeit (Dampfdruck bei 20°C: 65 kPa). Es reagiert mit fast allen Metallen, beim Erwärmen oft unter Feuererscheinung, z.B. mit Alkali- und Erdalkalimetallen, mit Cu, Fe, As, Sb und Bi. Von den Nichtmetallen reagiert H2 nach Zündung in einer Kettenreaktion explosionsartig (Chlorknallgas, Kap. 5.1). Ebenso verbinden sich viele Wasserstoffverbindungen lebhaft mit Chlor: C2H2 + Cl2

2 C(f.) + 2 HCl

NH3 + 3 Cl2

NCl3 + 3 HCl

In Wasser ist Cl2 nur mäßig löslich (6 g L–1 bei 25°C); in der Lösung stellt sich folgendes konzentrationsabhängiges Gleichgewicht ein: Cl2 + H2O

HOCl + HCl

Chlor wird zur Synthese zahlreicher anorganischer und vor allem organischer Verbindungen eingesetzt, die aber oft nur Zwischenprodukte für die Herstellung von Substanzen

501

13.5 Chlor, Brom und Iod

sind, die selbst chlorfrei sind, aber anders nicht ökonomisch gewonnen werden können.15 In der Industrie wird etwa ein Drittel des erzeugten Chlors im Kreislauf geführt. Beispiele für die Verwendung von elementarem Chlor sind die Synthese von Chlorkohlenwasserstoffen, die Herstellung von vielen Metall- und Nichtmetallchloriden wie Phosgen COCl2 (aus CO und Cl2), PCl3, SCl2, S2Cl2 und FeCl3 aus den Elementen sowie SiCl4 und TiCl4 aus den Dioxiden durch Reaktion mit Koks und Cl2. Hinzu kommt die Gewinnung von so genannter Natronbleichlauge (NaClO) aus Natronlauge und Cl2. Die Desinfektion (Entkeimung) von Trink- und Badewasser und das Bleichen von Zellstoff und Papier mit Chlor verlieren an Bedeutung, da hierfür mehr und mehr Wasserstoffperoxid oder Ozon eingesetzt werden (siehe diese). Brom Wie alle Halogene kommt auch Brom16 in der Natur nur in gebundener Form vor, und zwar vergesellschaftet mit Chlor in analogen Verbindungen. Aus den Bromiden, die einerseits im Meerwasser enthalten sind und die andererseits bei der Gewinnung von Kalisalzen (KCl) angereichert werden, wird das Brom durch Einleiten von Cl2 in die schwach angesäuerte wässrige Lösung freigesetzt und durch einen Luftstrom ausgetrieben: 2 BrÄ + Cl2

Br2 + 2 ClÄ

Es kann anschließend mit konz. H2SO4 getrocknet und durch Destillation gereinigt werden. Besonders salzhaltig ist das Wasser im Toten Meer, aus dem mehr als die Hälfte des weltweit gehandelten Broms stammen. Im Labor stellt man Br2 aus KBr durch Oxidation in saurem Medium, z.B. mit MnO2 und H2SO4 her. Brom ist bei Raumtemperatur flüssig und tief rotbraun gefärbt. Es ist in Wasser weniger gut löslich als Cl2, mit vielen unpolaren Lösungsmitteln (z.B. CCl4) ist es aber unbegrenzt mischbar. Die Reaktionsfähigkeit von Br2 ist geringer als die von Cl2, im Allgemeinen reagieren aber beide Elemente analog. Brom wird zur Synthese von organischen Pflanzenschutzmitteln sowie von Flammschutzmitteln benötigt; als Bromid dient es zur Herstellung von AgBr, das die lichtempfindliche Substanz in vielen photographischen Filmen darstellt; bei bestimmten hochwertigen Filmen wird jedoch AgI verwendet. Seit Einführung der Digitalfotografie ist der Bedarf an derartigen Filmen allerdings stark gesunken. Iod Iod findet man in der Natur sowohl in Iodiden und Iodaten als auch in Form von organischen Verbindungen. Bei der Verbrennung von Tang, der die Fähigkeit zur Anreicherung von Iod besitzt, erhält man in der Asche Iodide. Auf diese „biogene“ Weise ist wahrscheinlich auch der hohe Iodidgehalt einiger fossiler Solen zu erklären, die in mehreren Ländern (Japan, USA, u.a.) unterirdisch gefunden werden. Das sind hochkonzentrierte, durch Eindunsten früherer Gewässer entstandene Salzlösungen, aus denen das Iod durch Einleiten von Cl2 und Ausblasen mit Luft – ähnlich wie beim Brom beschrieben – gewonnen wird: 2 IÄ + Cl2 15 16

I2 + 2 ClÄ

V. Hopp, Chemiker-Ztg. 1991, 115, 341. D. Price, B. Iddon, B. J. Wakefield (Herausg.), Bromine Compounds, Elsevier, Amsterdam, 1988.

502

13 Die Halogene

Chile ist der größte Produzent von Iod und Iodiden. Der in Chile vorkommende Chilesalpeter (NaNO3) enthält Iod in Form von Ca[IO3]2, das bei der Aufarbeitung des Salpeters durch Umlösen in den Mutterlaugen als NaIO3 anfällt. Aus diesem werden durch Reduktion mit SO2 oder Na2SO3 elementares Iod oder Iodide hergestellt, die auch nach Europa exportiert werden. Andererseits werden in Japan große Mengen Iod aus den bei der Erdgasförderung anfallenden Salzlaugen gewonnen. Iodide lassen sich elektrolytisch oder auch schon durch relativ schwache Oxidationsmittel zu I2 oxidieren. Elementares Iod bildet schwarzgraue, glänzende, schuppige Kristalle, die leicht sublimieren und auf diese Weise gereinigt werden können. Der Dampf und gewisse Iod-Lösungen (in CCl4, CHCl3, CS2) sind violett. In anderen Lösungsmitteln wie H2O, Ether oder Dioxan löst sich Iod mit brauner Farbe, in aromatischen Kohlenwasserstoffen dagegen mit roter Farbe. Diese Farbunterschiede sind auf intermolekulare Wechselwirkungen zurückzuführen. Während die violette Farbe dem freien I2-Molekül zukommt, sind die braunen und roten Färbungen durch Charge-Transfer-Komplexe verursacht, die durch einen teilweisen Elektronenübergang von den Lösungsmittelmolekülen (Donoren) auf die I2-Moleküle (Akzeptoren) zustande kommen. Solche CT-Komplexe, die auch vom Br2 und Cl2 bekannt sind, zeichnen sich meistens durch eine intensive Absorption von sichtbarem Licht aus. Mit Triphenylphosphan bildet I2 ein gelbes 1:1-Addukt, das eine lineare P–I–I-Einheit enthält und daher als Donor-Akzeptor-Komplex aufzufassen ist (teilweise Delokalisierung der nichtbindenden 3s-Elektronen des Phosphors in das σ*-LUMO von I2, daher dII = 316 pm).17 Die Ladungsübertragung kann so weit gehen, dass es zur Spaltung der I–I-Bindung kommt. Beispielsweise liegt das analoge tBu3P·I2 als Salz [tBu3PI]+I– vor, und die Verbindung py·I2 ist als Salz [I(py)2]+[I3]– zu formulieren (py = Pyridin). Ein bekannter CT-Komplex des Iods ist die blaue Einlagerungsverbindung von [I5]–-Ionen in den zentralen Hohlraum in der spiraligen Struktur von Amylose, die ein Bestandteil der Stärke ist. Dieser Iod-Stärke-Komplex (λmax ≈ 600 nm) wird zum analytischen Nachweis von Iod verwendet (Polyiodid-Ionen werden im Abschnitt 13.5.3 erläutert).

13.5.2

Halogenide

Fast alle Elemente bilden Halogenide, d.h. binäre Element-Halogen-Verbindungen, in denen das Halogen der elektronegativere Partner ist. Die binären Verbindungen können in Ionengittern kristallisieren (KCl, AlF3), polymere Strukturen bilden (Graphitfluorid) oder in relativ kleinen Molekülen existieren (SCl2, PF5). Neben den binären Halogeniden sind aber auch kompliziertere Verbindungen in großer Zahl bekannt, z.B. Oxidhalogenide (SOF4), Hydroxidhalogenide (HSO3Cl), komplexe Anionen wie [SiF6]2– und Kationen wie [PCl4]+. Die Fluoride des Wasserstoffs und einiger Nichtmetalle wurden bereits im Abschnitt 13.4 behandelt. Weitere Fluoride und die Chloride, Bromide und Iodide der meisten Nichtmetalle werden bei den betreffenden Elementen beschrieben. Hier sollen nur die Halogenwasserstoffe HCl, HBr und HI und in den Abschnitten 13.5.3 bis 13.5.5 die Verbindungen der Halogene untereinander behandelt werden. 17

C. A. McAuliffe et al., J. Chem. Soc. Chem. Commun. 1991, 1163.

503

13.5 Chlor, Brom und Iod

Wasserstoffhalogenide HCl, HBr und HI Die Wasserstoffverbindungen der Halogene können aus den Elementen synthetisiert werden. Da die GIBBS-Energie ∆G° der Reaktion H2 + X 2

2 HX

X = Halogen

vom Fluor zum Iod stark zunimmt,18 liegt das Gleichgewicht um so weniger auf der rechten Seite, je schwerer das Halogen ist. Während Fluor und Chlor in einer Wasserstoffatmosphäre quantitativ zu HX verbrennen, kann man HBr nur dann in guter Ausbeute aus den Elementen herstellen, wenn man die Reaktionstemperatur auf 150–300°C hält, wobei dann zur Reaktionsbeschleunigung ein Katalysator erforderlich ist (Aktivkohle oder Platin). In gleicher Weise verfährt man im Falle des Hydrogeniodids, dessen GIBBS-Bildungsenergie aus den gasförmigen Elementen nur noch mit –5 kJ mol–1(HI) exotherm ist, weswegen sich HI bereits beim gelinden Erwärmen teilweise in die Elemente zersetzt. Die homogene Gasphasenreaktion der HX-Bildung erfolgt in allen vier Fällen nach einem Radikalkettenmechanismus (Kap. 5.1). Hydrogenchlorid (Sdp. –84°C) wird technisch durch Protonierung von Chlorid-Ionen hergestellt, wozu die Reaktion von KCl mit konzentrierter Schwefelsäure dient, die beim Erwärmen zu HCl und K2SO4 führt. HCl entsteht außerdem in großen Mengen bei den technisch wichtigen Chlorierungen organischer Verbindungen19 nach: C H + Cl2

C Cl + HCl

Auf diese Weise werden aus Methan die Derivate CH3Cl, CH2Cl2, CHCl3 und CCl4 sowie aus Benzol Chlorbenzol C6H5Cl hergestellt. HCl entsteht weiterhin bei der Synthese von Isocyanaten, die in großem Umfang zu Polyurethanen verarbeitet werden: C NH2 + COCl2

C N C O + 2 HCl

Der Chlorwasserstoff wird durch Absorption in H2O aus den Reaktionsgasen entfernt und kommt entweder als konzentrierte (30–32 Massen-%) oder rauchende Salzsäure (38 %) in den Handel oder wird elektrolytisch nach dem Membranverfahren wieder zu Cl2 verarbeitet. Bei einem HCl-Gehalt von 20.2 % bildet Salzsäure ein azeotropes Gemisch vom Sdp. 110°C.20 Auch HBr lässt sich aus KBr und einer starken, nichtflüchtigen Mineralsäure herstellen, wenn man eine nichtoxidierende Säure wie H3PO4 verwendet. Bequemer ist jedoch die Hydrolyse eines Nichtmetallbromids wie PBr3: PBr3 + 3 H2O

3 HBr

+ H3PO3

In analoger Weise lässt sich Iodwasserstoff aus PI3 herstellen. Alle Halogenwasserstoffe sind unter Standardbedingungen (25°C/1013 hPa) farblose Gase, die sich relativ leicht verflüssigen lassen. Im festen Zustand bilden sie Molekülgit18 19 20

–1 ∆fG° 298 beträgt –273 (HF), –92 (HCl), –36 (HBr) und +26 (HI) kJ mol , bezogen auf die Halogene

in den Standardzuständen. Vinylchlorid (und damit Polyvinylchlorid PVC) wird aus Ethylen, O2 und HCl hergestellt. Ein azeotropes Gemisch siedet bei konstanter Temperatur, kann also nicht durch fraktionierte Destillation getrennt werden, es sei denn, man ändert den Druck.

504

13 Die Halogene

ter. HF ist infolge starker Wasserstoffbrückenbindungen in allen Phasen stark assoziiert (Kap. 5.6.4). Bei den übrigen Verbindungen liegt nur im flüssigen Zustand eine stärkere Dipolassoziation vor. Die Dipolmomente nehmen vom HF (1.9 D) zum HI (0.4 D) stark ab. Mit wenig Wasser reagieren alle Wasserstoffhalogenide zu verschiedenen, nur bei tiefen Temperaturen beständigen Oxoniumsalzen (Kap. 5.6.4). In Wasser sind HF, HCl, HBr und HI sehr gut löslich. Die Säurestärke der Lösungen nimmt vom HF zum HI stark zu (Tab. 5.4). Während der Dissoziationsgrad einer Säure im Allgemeinen mit steigender Konzentration abnimmt, beobachtet man bei der Flusssäure genau das Gegenteil. Das liegt daran, dass das Gleichgewicht HF + H2O

[H3O]+ + FÄ

wegen der Komplexierung von F–-Ionen durch HF unter Bildung von [HF2]–, [H2F3]–, [H3F4]– und [H4F5]– mit steigendem HF-Gehalt nach rechts verschoben wird. Die Salze [H3O]F, [H3O][HF2] und [H3O][H3F4] wurden in reiner Form isoliert. Obwohl im Allgemeinen angenommen wird, dass verdünnte Salzsäure vollständig dissoziiert ist, liegt bereits bei einem molaren Verhältnis HCl : H2O von 0.28 : 1 ein Teil der Anionen als [HCl2]– vor. Eine bei 20°C gesättigte wässrige HCl-Lösung hat eine Konzentration von 40.4 Massen-%.21 Wegen der Bildung starker Wasserstoffbrücken löst sich HCl auch in Alkoholen und in Diethylether sehr gut. Eine charakteristische Eigenschaft von HBr und HI und ihrer Anionen Br– und I– ist ihre leichte Oxidierbarkeit zu Br2 bzw. I2, die sich aus den Werten der Redoxpotentiale ergibt. HI wird schon durch Luftsauerstoff oxidiert, so dass sich saure, wässrige Iodidlösungen an der Luft allmählich braun färben (Autoxidation unter Bildung von [I3]–).

13.5.3

Polyhalogenid-Ionen

Elementares Iod löst sich in wässriger Kaliumiodidlösung wesentlich besser als in reinem Wasser. Ursache dafür ist eine Komplexbildung zwischen I2-Molekülen und Iodid-Ionen entsprechend folgendem Gleichgewicht: IÄ + I 2

[I3]Ä

Kc =

c(I3Ä) c (IÄ ) .c (I2)

Die Reaktionsenthalpie beträgt in Wasser nur –17 kJ mol–1. Aus der dunkelbraunen Lösung kristallisiert beim Einengen oder Abkühlen das schwarze Salz K[I3]·H2O aus. Wasserfreie Triiodide erhält man bei Verwendung größerer Kationen: RbI3, CsI3 und [Co(NH3)6][I3]3 wurden kristallin isoliert. Bei den leichteren Homologen des Iods ist die Tendenz zur Bildung von Polyhalogeniden weniger ausgeprägt. Es sind jedoch einige kristalline Trichloride und Tribromide bekannt, z.B. [Me4N][Cl3] und [NH4][Br3]. Darüber hinaus wurde eine größere Zahl gemischter Polyhalogenid-Ionen hergestellt, die zwei oder drei verschiedene Halogene einschließlich Fluor enthalten können. Als Beispiele seien [ICl2]–, [I2Br]–, [IBrF]– und 21

Der Magensaft von Menschen und höheren Tieren enthält HCl in einer Konzentration von 0.1–0.5 % (pH-Wert 2.3 bis 0.9).

505

13.5 Chlor, Brom und Iod

[BrCl2]– genannt. Derartige Anionen entstehen aus einem Halogenid-Ion (oder einem entsprechenden X–-Donor) und einem Halogenmolekül oder einer Interhalogenverbindung: KI + Cl2

K[ICl2]

PCl5 + ICl

[PCl4][ICl2]

Große einwertige Kationen sind zur Isolierung solcher Salze besonders gut geeignet; die Gründe dafür wurden im Kapitel 2.1.7 beschrieben. Die oben definierte Gleichgewichtskonstante Kc hat in Wasser bei 25°C für die verschiedenen Trihalogenid-Ionen folgende Werte: [I3]–: 725; [ICl2]–: 167; [Br3]–: 18; [Cl3]–: 0.01.22 Die Triiodide sind also weitaus am beständigsten. Dies gilt auch für die wasserfreien Salze, die beim Erhitzen entsprechend obigem Gleichgewicht dissoziieren. Beim CsI3 erreicht der I2-Gleichgewichtsdampfdruck erst bei 250°C den Wert 0.1 MPa. Alle Trihalogenid-Ionen sind, soweit bekannt, linear oder fast linear gebaut (Valenzwinkel 170–180°). In Lösung sind die Ionen [I3]–, [Br3]– und [ICl2]– zentrosymmetrisch (Symmetrie D∞h), d. h. beide Kernabstände sind gleich groß. Im kristallinen Zustand kommt es jedoch infolge einer asymmetrischen Wechselwirkung mit den umgebenden Kationen oft zu einer Symmetrieerniedrigung. So betragen im Anion von [NH4][I3] die beiden I–I-Kernabstände 279 und 311 pm (Symmetrie C∞v). In den gemischten Ionen bildet jeweils das Halogen mit der geringsten Elektronegativität das Zentralatom. Vor einer Diskussion der Bindungsverhältnisse ist es zweckmäßig, die Bindungseigenschaften der Trihalogenid-Ionen mit denen der Halogenmoleküle zu vergleichen. Sowohl eine Betrachtung der Kernabstände als auch der Valenzkraftkonstanten zeigt, dass die Bindungen in diesen Ionen schwächer sind als in den Molekülen X2 (Tab. 13.2). Tab. 13.2 Valenzkraftkonstanten einiger Trihalogenid-Ionen und der entsprechenden Halogenmoleküle (fr in N cm–1; nach W. Gabes, R. Elst, J. Mol. Struct. 1974, 21, 1). Br2: 2.46 [Br3]–:

0.94

BrCl: 2.67 [BrCl2

]–:

1.08

I2: 1.72 [I3]–:

0.70

ICl: 2.38 [ICl2

]–:

1.06

IBr: 2.07 [IBr2]–: 0.94

Die MO-Theorie ermöglicht eine elegante Interpretation der experimentellen Befunde.23 Wenn man die z-Achse in die Molekülachse legt, überlappen im linearen Ion [I3]– die drei 5pz-Orbitale der Iodatome. Die Wechselwirkung dieser drei Orbitale führt ähnlich wie im Fall des linearen [HF2]–-Ions zu drei σ-Molekülorbitalen, von denen je eines bindend, nichtbindend und antibindend ist (Abb. 13.1).

22

23

Das Trifluorid-Anion wurde IR- und Raman-spektroskopisch bei tiefen Temperaturen nachgewiesen, als gasförmiges KF, RbF oder CsF zusammen mit F2 und überschüssigem Argon bei 15 K kondensiert wurde; [F3]– ist valenz-isoelektronisch mit KrF2. Die aus kristallinem CsF und Br2 bei 20°C entstehende Verbindung CsF·Br2 ist dagegen kein Trihalogenid, sondern enthält die Brommoleküle eingelagert in eine tetragonale CsF-Struktur: T. Drews, R. Marx, K. Seppelt, Chem. Eur. J. 1996, 2, 1303. G. A. Landrum, N. Goldberg, R. Hoffmann, J. Chem. Soc. Dalton Trans. 1997, 3605.

506

13 Die Halogene E I

‘Æu :

+

I



+

+

‘uÆ

z

‘g:

+

‘u:

+

+

+

‘g

5pz

z

‘u

+

z

(b)

(a)

Abb. 13.1 Die 3-Zentren-4-Elektronen-Bindung im linearen Triiodid-Anion [I3]–. (a) Linearkombinationen der drei σ-Atomorbitale vom 5p-Typ, die vereinfacht dargestellt wurden (ohne innere Knotenflächen). (b) Energieniveaudiagramm für die drei σ-Molekülorbitale. Während das bindenden Elektronenpaar über alle drei Atome delokalisiert ist, ist die nichtbindende Elektronendichte an den terminalen Atomen lokalisiert.

Die drei Molekülorbitale sind mit vier Valenzelektronen besetzt. Da nur zwei davon bindende Elektronen sind, ergibt sich eine relativ schwache kovalente Bindung. Der Valenzwinkel von 180° ist die Folge einer solchen 3-Zentren-4-Elektronen-σ-Bindung, da die Überlappung bei einer Winkelverkleinerung geringer werden würde.24 Die negative Ionenladung befindet sich zum größten Teil auf den terminalen Atomen. Elementares Iod hat eine starke Neigung zur Ausbildung von Mehrzentrenbindungen. Dies zeigt sich nicht nur an der Struktur des kristallinen Iods selbst (siehe oben), sondern auch an der Existenz zahlreicher Polyiodid-Anionen wie [I5]–, [I7]–, [I9]–, [I8]2–, [I10]2–, [I11]–, [I12]2–, [I13]3–, [I16]2– und [I29]2–, die alle in Form definierter Salze isoliert wurden und die als Addukte von I2-Molekülen an die Anionen I– bzw. [I3]– aufgefasst werden können.25 Das Ion [I5]– hat im Salz [Me4N][I5] die Symmetrie C2v: I

d' I d I

I

I

I

[I5]Ä (C2v)

24

25

ì = 80°

I

I

ë = 177°

I

d' = 317 pm d = 281 pm

I

ì

I

I

ë

I

[I8]2Ä

Auch die π-Orbitale der drei Atome überlappen und spalten energetisch in bindende, nichtbindende und antibindende MOs auf. Da aber alle π-MOs mit Elektronenpaaren besetzt sind, tragen sie nicht zur Bindung bei. P. H. Svensson, L. Kloo, Chem. Rev. 2003, 103, 1649.

507

13.5 Chlor, Brom und Iod

Dieses Ion ist annähernd planar und besteht gewissermaßen aus einem zentralen IodidIon, das mittels zweier 5p-Orbitale zwei I2-Moleküle gebunden hat. Entsprechend werden in den Ionen [I7]– und [I9]– Kernabstände beobachtet, die die Anlagerung von zwei bzw. drei Molekülen I2 an ein Ion [I3]– erkennen lassen. Die Anionen sind dann noch weiter durch schwache Mehrzentrenbindungen miteinander verknüpft. Das diamagnetische Salz Cs2I8 enthält das Z-förmige Anion [I8]2– (siehe oben). Dieses besteht aus zwei unsymmetrischen [I3]–-Ionen und einem zentralen I2-Molekül. Zu den Polyiodid-Ionen mit mehr als fünf Atomen kennt man beim Brom und Chlor keine Analoga, und auch bei den Pentahalogeniden existiert nur das Bromid [Br5]– und kein entsprechendes Chlorid. Allerdings gibt es das Ion [Br10]2–, bestehend aus zwei Br2-Molekülen und zwei [Br3]–-Anionen.

13.5.4

Positive Halogen-Ionen13, 26

Positive Element-Ionen wurden bereits bei den Chalkogenen vorgestellt, beispielsweise [O2]+, [S8]2+ und [Se4]2+. Sie bilden sich umso leichter, je weniger elektronegativ das betreffende Element ist. Dennoch bedarf es auch bei den schwereren Nichtmetallen meistens starker Oxidationsmittel, um das Element zu einem positiven Ion zu oxidieren. Wegen des stark elektrophilen Charakters solcher Ionen können diese nur in Gegenwart wenig nukleophiler Anionen bzw. entsprechender Lösungsmittel hergestellt werden; in Wasser tritt sofort Disproportionierung ein. Von den Halogenen ist zu erwarten, dass sich I2 am leichtesten zu einem positiven Ion oxidieren lässt. In der Tat zeigt bereits geschmolzenes Iod eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit, die auf folgende Eigendissoziation zurückgeführt wird: 3 I2

[I3]+ + [I3]Ä

Das Ion [I3]+ und analoge Halogen-Kationen des Chlors und des Broms können durch Oxidation der Elemente, durch Komproportionierung der Elemente mit entsprechenden Interhalogenverbindungen oder durch spezielle Reaktionen hergestellt werden. Beispiele sind folgende, allerdings nur bei tiefen Temperaturen stabile Salze: Cl2 + ClF + AsF5

Ä 78°

2 Cl2 + IrF6

[Cl3][AsF6] gelbe Kristalle [Cl4][IrF6]

blaue Kristalle

[Cl2 ist bisher nur in der Gasphase nachgewiesen worden. [Cl3]+ist mit SCl2 isoelektronisch (Symmetrie C2v) und [Cl4]+ bildet ein Rechteck (D2h) als Folge einer π*-π*-Wechselwirkung zwischen den Komponenten Cl2 und [Cl2]+ (siehe unten). Thermisch stabiler sind Salze mit den Kationen [Br2]+ und [Br3]+, die durch Oxidation von Br2 mittels Peroxodisulfurylfluorid bzw. BrF5 erhalten werden: (a) Br2 + S2O6F2 2 BrSO3F gefolgt von: ]+

Br2 + 2 BrSO3F + 10 SbF5 (b) 7 Br2 + BrF5 + 5 AsF5 26

2 [Br2][Sb3F16] + Sb2F9SO3F 5 [Br3][AsF6]

N. Burford, J. Passmore, J. S. P. Sanders in From Atoms to Polymers (J. F. Liebmann, A. Greenberg, Herausg.), VCH, Weinheim, 1989, S. 53.

508

13 Die Halogene

Das Bromoniumsalz [Br2][Sb3F16] bildet rote paramagnetische Kristalle (Schmp. 86°C), während [Br3][AsF6] braun und diamagnetisch ist. Dieses Salz reagiert mit Br2 reversibel zu [Br5][AsF6];27 das planare Kation [Br5]+ hat wie [I5]+ eine Struktur von C2h-Symmetrie: 227

251 pm 97°

Seitens des Iods wurden die Ionen [I2]+, [I3]+, [I5]+, [I4]2+ und [I15]3+ sowie verschiedene gemischte Kationen wie [I2Cl]+, [I2Br]+, [I3Cl2]+ und [I3Br2]+ in Salzen isoliert. Das hellblaue, paramagnetische [I2]+, das früher fälschlich als I+ angesehen wurde, entsteht beim Lösen von I2 in rauchender Schwefelsäure (65 % SO3 in H2SO4), wobei SO3 als Oxidationsmittel wirkt, das dabei zu SO2 reduziert wird. Bei Verwendung reiner Schwefelsäure als Lösungsmittel kann man I2 auch mit S2O6F2 zu [I2]+ oxidieren. Beim Abkühlen der Lösungen dimerisiert [I2]+ zum roten, diamagnetischen [I4]2+. Löst man I2 in Oleum, das nur 25 % SO3 enthält, oder oxidiert man eine I2-H2SO4-Mischung mit Iodsäure HIO3, entsteht das braune Ion [I3]+, das mit weiterem I2 zum ebenfalls braunen [I5]+ reagiert. Alle Polyiodid-Ionen können auch durch Oxidation von I2 mit AsF5 oder SbF5 in flüssigem SO2 hergestellt werden: 2 I2 + 5 SbF5

2 [I2][Sb2F11] + SbF3

3 I2 + 3 AsF5

2 [I3][AsF6] + AsF3

2 I2 + 4 SbF5

[I4][SbF6][Sb3F14]

Mit überschüssigem Iod reagiert [I3]+ zu [I5]+, dessen Struktur der von [Br5]+ analog ist. Das kettenförmige Kation [I15]3+ besteht aus drei locker gebundenen [I5]+-Einheiten mit einem Inversionszentrum im zentralen Atom: 267

268

292 290

290 pm

342 i

270

Die kovalente Bindung in den Kationen [Cl2]+, [Br2]+ und [I2]+ ist erwartungsgemäß stärker als in den entsprechenden Halogenmolekülen. Das zeigt sich sowohl an der Verringerung der Kernabstände als auch am Anstieg der Kraftkonstanten (Tab. 13.3). Tab. 13.3 Harmonische Kraftkonstanten und Kernabstände von Cl2, [Cl2]+, Br2, [Br2]+, I2 und [I2]+ 35Cl 2

[35Cl2]+

79Br 2

[79Br2]+

127I 2

[127I2]+

fr (N cm–1)

3.23

4.40

2.46

3.29

1.72

2.15

d (pm)

199

189

228

215

267

Diese Bindungsverstärkung kann mit den bekannten MO-Diagrammen der Halogenmoleküle erklärt werden (Kap. 2.4.3). Die obersten besetzten Niveaus sind die antibindenden π*-Orbitale. Bei der Oxidation von X2 zu [X2]+ wird also ein antibindendes Elektron ent27

H. Hartl, J. Nowicki, R. Minkwitz, Angew. Chem. 1991, 103, 311.

509

13.5 Chlor, Brom und Iod

-

-

+

+

+

-

+

fernt. Das entstehende Radikal-Kation neigt nur im Falle von [I2]+ zur Dimerisierung und auch hier nur bei tiefen Temperaturen. Das Dimer ist in der Verbindung [I4][SbF6][Sb2F14] planar und rechteckig (Symmetrie D2h), woraus man auf eine Bindung zwischen den beiden [I2]+-Einheiten durch die einfach besetzten, in der Molekülebene liegenden π*-MOs schließen kann:

Die Kationen des Typs [X3]+ sind gewinkelt gebaut (Symmetrie C2v).28 [Cl3]+ ist mit SCl2 isoelektronisch. Das Ion [Cl2F]+ hat die Symmetrie Cs mit der Atomverknüpfung (Konnektivität) ClClF. Die analogen Kationen [ClF2]+, [BrF2]+ und [ICl2]+ werden im Abschnitt 13.5.5 behandelt. Das planare Ion [I5]+ kann formal als Komplex aus einem zentralen Iodonium-Ion I+ und zwei I2-Liganden angesehen werden, d.h. als koordiniertes Iod-Kation I+. Dieses Ion existiert auch in einer andersartig koordinierten Form, nämlich als [I(Pyridin)2]+. Salze mit diesem Kation entstehen durch Disproportionierung von I2: I2 + 2 py + AgNO3

CHCl3

[I(Py)2]NO3 + AgI

Dieses Iodsalz, das aus der Lösung mit Petrolether gefällt werden kann, löst sich außer in CHCl3 auch in Aceton zu elektrisch gut leitenden Lösungen, bei deren Elektrolyse an der Kathode Iod abgeschieden wird! Analoge, wenn auch weniger stabile Komplexe wurden auch vom Chlor und Brom hergestellt.

13.5.5

Interhalogenverbindungen

Als Interhalogenverbindungen bezeichnet man Verbindungen des Typs XYn, wobei X und Y verschiedene Halogenatome sind und n eine ungerade Zahl zwischen eins und sieben ist. Neben diesen binären Verbindungen sind auch einige ternäre Beispiele bekannt. Die einfachsten Vertreter dieser Klasse sind die Verbindungen XY, die den elementaren Halogenen X2 und Y2 entsprechen: ClF

BrF

BrCl

IF

ICl

IBr

farbloses Gas

hellrotes Gas

rotbraunes Gas

braun, fest Zers. > 0°C

rote Kristalle

schwarze Kristalle

Diese und alle anderen Interhalogenverbindungen können direkt aus den Elementen synthetisiert werden, wobei es von der Wahl der Reaktionsbedingungen (Temperatur, Reaktionszeit, Lösungsmittel oder nicht, Mischungsverhältnis) abhängt, welche Verbindung 28

K. O. Christe, R. Bau, D. Zhao, Z. Anorg. Allg. Chem. 1991, 593, 46; J. Li, S. Irle, W. H. E. Schwarz, Inorg. Chem. 1996, 35, 100.

510

13 Die Halogene

überwiegend entsteht. Durch Sublimation oder fraktionierte Destillation bzw. Kondensation werden die Reaktionsgemische getrennt. Mit überschüssigem Halogen Y2 gelangt man zu Verbindungen der Typen XY3, XY5 und XY7: 1 2 X2

1

+ 2 Y2

XY

+ Y2

XY3

+ Y2

+ Y2

XY5

XY7

Folgende Verbindungen wurden hergestellt: ClF3 BrF3 IF3 I2Cl6 ClF5 BrF5 IF5 IF7 farbloses gelb, gelb, fest gelbe farbloses farblos, farblos, farbloses Gas flüssig (Zers.> –30°) Kristalle Gas flüssig flüssig Gas Mit Ausnahme des dimeren Iodtrichlorids handelt es sich also ausschließlich um Fluoride von Chlor, Brom und Iod. Es existieren weder Fluorhalogenide FYn, noch Bromide oder Iodide der Art XBrn und XIn. Das zeigt, dass im Fall n > 1 nur Fluor und in einem Fall auch noch Chlor als Substituenten geeignet sind und dass nur Cl, Br und I als Zentralatome in Frage kommen. Die Trihalogenide XY3 sind T-förmig gebaut (Symmetrie C2v), die Pentahalogenide haben die Geometrie quadratischer Pyramiden (C4v) und IF7 bildet eine etwas verzerrte pentagonale Bipyramide. Diese Strukturen entsprechen den Vorhersagen nach dem Modell der Elektronenpaarabstoßung (Kap. 2.2.2). Sie beziehen sich allerdings nur auf die gasförmigen Verbindungen. In kondensierten Phasen beobachtet man öfters Assoziation über brückenbildende Halogenatome. Beispielsweise sind ClF3, BrF3 und ICl3 im festen und flüssigen Zustand dimer. Das Molekül I2Cl6 ist planar und hat folgende zentrosymmetrische Geometrie: Cl

Cl

ë I ì

I Cl

Cl

d (I Cl) = 240 pm d' (I Cl) = 270 pm

ì = 94° ë = 84°

Cl

Cl

Ein Derivat des Iodtrichlorids ist das Phenylioddichlorid C6H5ICl2, das aus Phenyliodid und Chlor hergestellt wird und das gelbe, nadelförmige Kristalle bildet. Alle Halogenfluoride sind sehr reaktionsfreudig, vor allem bei höheren Oxidationsstufen der Zentralatome. ClF3 und BrF3 werden in technischem Maßstab aus den Elementen hergestellt und als starke Fluorierungsmittel vor allem auch in der organischen Synthese eingesetzt.29 Verschiedene Interhalogenverbindungen wie ICl, I2Cl6, BrF3 und IF5 weisen im flüssigen Zustand eine beträchtliche elektrische Leitfähigkeit auf (BrF3: 8.0·103 Ω–1 cm–1), die auf eine Eigendissoziation zurückgeführt wird. Berücksichtigt man die Assoziation der Moleküle in kondensierten Phasen, so erfordert die Dissoziation nur eine geringe Verschiebung eines brückenbildenden Halogenatoms: F

F Br

F

29

F

Br

Br F

F

F

F

S. Rozen, Acc. Chem. Res. 2005, 38, 803.

F

+

F Br

F

F

511

13.5 Chlor, Brom und Iod

Die Annahme derartiger Dissoziationsgleichgewichte, die an das Verhalten anderer Lösungsmittel wie H2O, NH3, HF oder H2SO4 erinnert, wird dadurch gestützt, dass die betreffenden komplexen Halogen-Ionen in Form salzartiger Verbindungen isoliert wurden. Die Kationen erhält man durch Reaktion mit starken LEWIS-Säuren, die dabei als Halogenid-Ionen-Akzeptoren fungieren: BrF3 + SbF5

[BrF2][SbF6]

IF5 + SO3

[IF4][SO3F]

ICl3 + AlCl3

[ICl2][AlCl4]

IF7 + AsF5

[IF6][AsF6]

Die Anionen entstehen entsprechend durch Reaktion mit einem ionischen Halogenid: NaF + BrF3

Na[BrF4]

KF + IF5

KF + ICl3

K[ICl3F]

[Me4N]F + IF7

K[IF6] [Me4N][IF8]

Außerdem lassen sich Halogenid-Ionen und komplexe Halogenid-Ionen direkt weiter halogenieren: KCl + 2 F2 ]Ä

[ICl2

+ Cl2

K[ClF4] [ICl4]Ä

Der überwiegend ionische Aufbau dieser Verbindungen ergibt sich einerseits aus Strukturanalysen, andererseits aus der Tatsache, dass sich ein Salz wie [BrF2][SbF6] in flüssigem BrF3 zu einer elektrisch sehr gut leitenden Lösung auflöst. Das Ion [BrF2]+ verhält sich in der Lösung als Säure, die mit der Base [BrF4]– neutralisiert werden kann. Neutralisationsanaloge Reaktionen dieser Art lassen sich am besten konduktometrisch verfolgen, wobei der Endpunkt einer Reaktion wie [BrF2][SbF6] + Ag[BrF4]

Ag[SbF6] + 2 BrF3

durch ein Leitfähigkeitsminimum zu erkennen ist. Entsprechendes gilt für die anderen ionogenen Lösungsmittel. Die Strukturen der Ionen [XYn–1]+ und [XYn+1]– entsprechen meistens, jedoch nicht immer den Erwartungen nach dem VSEPR-Modell (Kap. 2.2.2), wie folgende Beispiele zeigen: [BrF2]+ gewinkelt (C2v)

[BrF4]– quadratisch (D4h)

[IF4]+ ψ-trigonalbipyramidal

[IF6]+ oktaedrisch (Oh)

[IF6]– verzerrt oktaedrisch

[IF2]– ist mit XeF2 isoelektronisch und wie dieses linear gebaut. [IF6]– ist mit XeF6 isoelektronisch und beide bilden verzerrte Oktaeder; dagegen stellt [BrF6]– ein reguläres Oktaeder dar. Die Tendenz der schweren Halogenatome, möglichst hohe Koordinationszahlen zu erreichen, die sich in der Bildung der Halogenfluoride und vor allem in deren Assoziation in kondensierten Phasen äußert, ist auch daran zu erkennen, dass in Salzen wie [BrF2][SbF6] oder [ClF2][AsF6] Fluorbrücken zwischen den Kationen und den Anionen vorliegen. Beispielsweise ist die LEWIS-Säure [BrF2]+ im erstgenannten Salz durch zwei schwache koordinative Bindungen mit zwei F-Atomen der oktaedrischen Anionen verbunden:

512

13 Die Halogene

F Sb

F F

F

F F

Sb

F Br

F

F

d (Br F) = 169 pm d' (Br F) = 229 pm Winkel (FBrF) = 93.5° (im Kation)

F

F

F F F Die vier F-Atome um das Bromatom liegen mit diesem in einer Ebene. Die Kernabstände d(Br····F) sind wesentlich kleiner als der VAN DER WAALS-Abstand von 325 pm. Diese Kation-Anion-Wechselwirkung ist teils ionischer, teils kovalenter Natur. Sie führt zu einer einseitigen Verzerrung der SbF6-Oktaeder.

13.5.6

Sauerstoff-Verbindungen von Chlor, Brom und Iod

Zu dieser Gruppe von Verbindungen gehören die Oxide, die Oxosäuren und ihre Salze, die Säurehalogenide, die Nitrate, Fluorosulfate und Perchlorate von Chlor, Brom und Iod sowie Reagenzien wie das Iodosobenzol Ph–I=O, das in der Organischen Chemie als Oxidationsmittel eingesetzt wird. Oxide Von Chlor, Brom und Iod sind zusammen mehr als 25 Oxide bekannt,30 jedoch wurden nur 11 in reiner Form hergestellt. Die wichtigsten Verbindungen sind in Tabelle 13.4 zusammengestellt. Es handelt sich um Verbindungen mit den Halogenen in positiven Oxidationsstufen, da der Sauerstoff in jedem Fall das elektronegativere Element ist. Die binären Fluor-Sauerstoff-Verbindungen OF2 und O2F2 sind dagegen Sauerstoff-Fluoride und keine Halogenoxide. Sie wurden daher bereits beim Sauerstoff behandelt (Kap. 11.4). Tab. 13.4 Wichtige Oxide der Halogene, geordnet nach steigendem Sauerstoffgehalt. In reiner Form bei 25°C hergestellte Verbindungen sind fett gedruckt. Chlor

Brom

Cl2O: Cl–O–Cl

Br2O: Br–O–Br

Iod

Cl2O2: Cl–O–O–Cl und Cl–ClO2 Br2O3: Br–O–BrO2 ClO2: O=Cl=O

BrO2: O=Br=O

Cl2O4: Cl–O–ClO3

I2O4: ([IO2]+[IO2]–)n I4O9: Br2O5: O2Br–O–BrO2

Cl2O6: [ClO2]+[ClO4]– und O2Cl–O–ClO3

I2O5: O2I–O–IO2 I4O12: (IO3)4

Cl2O7: O3Cl–O–ClO3

30

M. Jansen, T. Kraft, Chem. Ber. 1997, 130, 307. H. S. P. Müller, E. A. Cohen, J. Phys. Chem. A 1997, 101, 3049. H. Oberhammer et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 8339.

513

13.5 Chlor, Brom und Iod

Mit Ausnahme von I2O5 sind alle Halogenoxide endotherme Verbindungen. Sie sind fast alle sehr reaktionsfreudig und stellen starke Oxidationsmittel dar. Beim Erwärmen zerfallen sie alle in die Elemente, die Chloroxide unter Explosion. Ihre Handhabung und Untersuchung ist daher schwierig, und die praktische Bedeutung ist entsprechend begrenzt. Das für die Technik wichtigste Oxid ist ClO2, das in großem Umfang zur Wasserentkeimung eingesetzt wird. Andere Chloroxide spielen beim Ozonabbau in der Stratosphäre eine fatale Rolle (Kap. 11.1.3). Chloroxide Dichloroxid Cl2O entsteht in Form eines gelbroten Gases bei der Reaktion von Cl2 mit HgO: 2 Cl2 + 2 HgO

Cl2O + HgO.HgCl2

Hierzu leitet man Chlor, verdünnt mit Luft, bei 20°C über trockenes Quecksilber(II)-oxid. Cl2O wird bei 2°C flüssig; es explodiert beim Erwärmen oder bei Kontakt mit oxidierbaren Substanzen. Mit flüssigem Wasser reagiert Cl2O in einer Gleichgewichtsreaktion zu Hypochloriger Säure, so dass es deren Anhydrid darstellt: Cl2O + H2O

2 HOCl

Das Molekül Cl2O ist wie H2O gewinkelt (Symmetrie C2v). Chlordioxid ClO2 ist das bei weitem wichtigste Chloroxid. Es ist ein gelbes Gas (Sdp. 10°C), das nach verschiedenen Verfahren aus Chloraten hergestellt wird. Im Labor lässt man konzentrierte Schwefelsäure bei 0°C auf KClO3 einwirken: 3 KClO3 + 3 H2SO4 3 HClO3

3 HClO3 + 3 KHSO4 2 ClO 2 + [H 3O][ClO 4]

Bei der technischen Synthese wird NaClO3 in schwefelsaurer Lösung mit SO2 reduziert: 2 NaClO3 + SO2 + H2SO4

2 ClO2 + 2 NaHSO4

ClO2 ist äußerst explosiv und zerfällt schon beim gelinden Erwärmen, bei Berührung mit oxidierbaren Substanzen oder sogar ohne erkennbaren Anlass in exothermer Reaktion in die Elemente. Bei starker Verdünnung mit CO2, N2 oder Luft sowie nach Adduktbildung mit Pyridin zu C5H5N·ClO2 kann ClO2 aber sicher gehandhabt werden. Dieses Oxid löst sich mäßig gut in Wasser. In dieser Form wird es in großem Umfang zur oxidativen Desinfektion und Reinigung von Trinkwasser eingesetzt.31 Eine weitere wichtige Anwendung ist das Bleichen der Pulpe bei der Papierherstellung, wofür früher elementares Chlor verwendet wurde. In alkalischer Lösung disproportioniert ClO2 zu Chlorit und Chlorat: 2 ClO2 + 2 [OH]Ä

[ClO2]Ä + [ClO3]Ä + H2O

Das Molekül ClO2 ist gewinkelt und enthält ein ungepaartes Elektron. Der Valenzwinkel beträgt in der Gasphase 117.4°; Grenzstruktur (a):

31

Zur Erzeugung einer verdünnten wässrigen ClO2-Lösung wird in Wasserwerken eine NaClO2-Lösung entweder mit Cl2 zu ClO2 reduziert oder mit verdünnter Salzsäure vermischt (Disproportionierung von HClO2).

514

13 Die Halogene

O

(a)

O

O

271

O

Cl 147 O

14 8

O

Cl

Cl

(b)

[ClO2] ist isoelektronisch mit dem Radikalanion [SO2]• –, zeigt aber im Gegensatz zu diesem bei Raumtemperatur keine Tendenz zur Dimerisierung.32 Im festen Zustand (bei –150°C) ist ClO2 aber dimer und diamagnetisch; siehe obige Struktur (b), Abstände in pm, Symmetrie Ci. Oxidiert man ClO2 bei 0°C mit Ozon, erhält man Dichlorhexoxid Cl2O6: •

2 ClO2 + 2 O3

Cl2O6 + 2 O2

Ein anderer Zugang zum Cl2O6 besteht in folgender Reaktion: ClO2F + HClO4

Cl2O6 + HF

Cl2O6 ist bei 20°C eine tiefrote Flüssigkeit, die bei 3°C erstarrt. Unterhalb von –30°C kann Cl2O6 unzersetzt aufbewahrt werden. In der Gasphase und als Flüssigkeit besteht Cl2O6 aus unsymmetrischen Molekülen O2Cl–O–ClO3 mit Chlor in den Oxidationsstufen +5 und +7. Im festen Zustand liegt die Verbindung dagegen als Chlorylperchlorat [ClO2]+[ClO4]– vor. Dementsprechend reagiert Cl2O6 mit Wasser zu Chlorat- und Perchlorat-Ionen, ist also das gemischte Anhydrid von Chlorsäure mit Perchlorsäure: Cl2O6 + 3 H2O

2 [H3O]+ + [ClO3]Ä + [ClO4]Ä

Das beständigste Chloroxid ist das Dichlorheptoxid Cl2O7, das mit dem Disulfat-Ion [S2O7]2– isoelektronisch und diesem analog gebaut ist (zwei eckenverknüpfte ClO4-Tetraeder). Cl2O7 entsteht bei der vorsichtigen Entwässerung von Perchlorsäure mit P2O5 bei Temperaturen zwischen –70° und 0°C: 2 HClO4 + P2O5

Cl2O7 + 2 HPO3

Das Oxid wird als farblose Flüssigkeit (Schmp. –92°C) von der polymeren Metaphosphorsäure HPO3 im Vakuum abdestilliert. Mit Wasser reagiert Cl2O7 unter Rückbildung von HClO4. Zu den Chloroxiden gehört auch das Chlorperchlorat ClClO4 (Cl2O4), das als blassgelbe Flüssigkeit (Sdp. 45°C) erhalten wird, wenn man Chlorfluorosulfat bei –45°C auf Perchlorate einwirken lässt: ClSO3F + CsClO4

ClClO4 + CsSO3F

Cl2O4 ist ein gemischtvalentes Chloroxid mit der Atomverknüpfung Cl–O–ClO3; mit HCl reagiert die Verbindung zu Cl2 und HClO4. Bromoxide Drei Bromoxide wurden in reiner Form hergestellt und durch Strukturanalysen charakterisiert.33 Weniger beständige Verbindungen wie BrO und BrBrO sind möglicherweise am Ozonabbau in der Stratosphäre beteiligt. 32 33

Andere relativ beständige freie Radikale mit 19 Valenzelektronen sind das Ozonid-Ion [O3]• – (siehe Ozon) sowie [NF2]• (siehe N2F4). K. Seppelt, Acc. Chem. Res. 1997, 30, 111.

515

13.5 Chlor, Brom und Iod

Dibromoxid Br2O entsteht zwar bei der Reaktion von Br2 mit HgO (in Analogie zu Cl2O), es wird aber am besten durch Hydrolyse von BrOTeF5 gewonnen: 2 BrOTeF5 + H2O

Br2O + 2 HOTeF5

Br2O ist ein gelbes Gas, das beim Abkühlen zu gelben, in dicker Schicht braunen Kristallen kondensiert. Die Molekülsymmetrie ist C2v (Valenzwinkel in der Gasphase: 112°, im Kristall 114°). Durch Reaktion von Br2 mit O3 in inerten Lösungsmitteln wie CCl3F erhält man bei –55°C ein Gemisch aus Br2O3 und Br2O5, das sich durch Extraktion mit CH2Cl2 und EtCN und Umkristallisieren in die reinen Komponenten zerlegen lässt. Das orange-gelbe Br2O3, das sich oberhalb –40°C zersetzt, ist formal ein Brombromat BrOBrO2, enthält also Brom in den Oxidationsstufen +1 und +5. Die Molekülsymmetrie ist C1. Das farblose, nur unterhalb –20°C beständige Br2O5 weist eine dem I2O5 analoge Atomverknüpfung auf (siehe unten). Iodoxide Die wichtigste binäre I–O-Verbindung ist das Diiodpentoxid I2O5, das Anhydrid der Iodsäure, das aus dieser durch thermisches Entwässern bei etwa 250°C hergestellt wird: 2 HIO3

I2O5 + H2O

I2O5 ist ein farbloses, kristallines Pulver, das erst oberhalb von 300°C in die Elemente zerfällt. Die Kristalle bestehen aus I2O5-Molekülen, die miteinander durch schwache koordinative Bindungen in Wechselwirkung stehen. O I O

O

O I

O

d (IO) = 193 pm (am Brücken-O-Atom) d' (IO) = 179 pm (endständig) Winkel (IOI) an der Brücke: 139°

I2O5 reagiert mit Wasser zu Iodsäure. Mit CO bildet es bei 170°C quantitativ I2 und CO2, was zur iodometrischen CO-Bestimmung ausgenutzt wird. Entwässern von H5IO6 mit konz. H2SO4 führt zum gelben tetrameren Iodtrioxid I4O12, das je zwei Iodatome mit den Koordinationszahlen 3 und 6 und den Oxidationsstufen +5 und +7 enthält. I2O4 ist ebenfalls ein gemischtvalentes Oxid und besteht formal aus den Ionen [IO2]+ und [IO2]–. Oxosäuren der Halogene Die vom Chlor, Brom und Iod bekannten Sauerstoffsäuren sind in Tabelle 13.5 aufgeführt. Nur wenige dieser Verbindungen wurden in reiner, wasserfreier Form hergestellt, nämlich Perchlorsäure HClO4, Iodsäure HIO3, Metaperiodsäure HIO4 und Orthoperiodsäure H5IO6. Die übrigen Oxosäuren sind nur in wässriger Lösung oder in der Gasphase bekannt. Von allen Säuren existieren aber entsprechende Salze in reiner Form. Die Summenformeln in Tabelle 13.5 geben nicht die Molekülstrukturen wieder. Der Wasserstoff ist stets in Form von OH-Gruppen gebunden. Die Atomverknüpfung und die Nomenklatur sind daher folgendermaßen: HOCl Hypochlorige Säure, HOClO Chlorige Säure, HOClO2 Chlorsäure, HOClO3 Perchlorsäure. Die Bezeichnung der Brom- und Iod-Sauerstoffsäuren erfolgt analog.

516

13 Die Halogene

Tab. 13.5 Einkernige Oxosäuren der Halogene (in reiner, wasserfreier Form bekannte Verbindungen sind fett gedruckt). Alle Verbindungen enthalten den Wasserstoff an Sauerstoff gebunden. Oxidationsstufe

Cl

Br

I

+1

HClO

HBrO

HIO

+3

HClO2

HBrO2

+5

HClO3

HBrO3

HIO3

+7

HClO4

HBrO4

HIO4, H5IO6

Mehrkernige Säuren, die bei anderen Nichtmetallen weit verbreitet sind, kennt man beim Chlor und Brom nicht. Vom Iod gibt es jedoch Salze mit den Anionen [I3O8]–, [I2O9]4–, [I2O10]6– und [I3O14]7–, die I(V) bzw. I(VII) enthalten. Chlor-Sauerstoff-Säuren Hypochlorige Säure HOCl: Das Molekül HOCl (Chlorhydroxid) entsteht bei der Reaktion von Cl2 mit gasförmigem oder flüssigem Wasser: Cl2 + H2O

HOCl + HCl

In flüssigem Wasser liegt das Gleichgewicht ganz auf der linken Seite, da HOCl die Cl–Ionen des vollständig dissoziierten Hydrogenchlorids zu Cl2 oxidiert. Erst wenn man die Chlorid-Ionen z.B. mit suspendiertem HgO als unlösliches HgO·HgCl2 abfängt, kann man relativ konzentrierte HOCl-Lösungen erhalten, die sich allerdings schon bei 0°C langsam zu Salzsäure und O2 zersetzen. Aus den konzentrierten Lösungen lässt sich mit CCl4 das Dichloroxid als Anhydrid der Hypochlorigen Säure ausschütteln, das mit HOCl im Gleichgewicht steht. Die Lösungen enthalten also nebeneinander Cl2, HOCl und Cl2O, weswegen ihre gelbe Farbe nicht ohne weiteres dem HOCl zugeschrieben werden kann. HOCl ist in Wasser eine sehr schwache Säure (pKa = 7.50), aber ein starkes Oxidationsmittel. Das Molekül HOCl ist gewinkelt (Valenzwinkel in der Gasphase: 102°). Durch Einleiten von Chlor in stark alkalische Lösungen bei Temperaturen unter 35°C erhält man Bleichlauge, die Chlorid und Hypochlorit enthält: Cl2 + 2 NaOH

NaOCl + NaCl + H2O

° = Ä104 kJ molÄ1 ‹H298

Chlorige Säure HClO2: Die sehr unbeständige Säure HClO234 entsteht bei der reversiblen Disproportionierung von ClO2 in Wasser. Beständiger als die freie Säure sind die Salze, die technisch hergestellt und als Bleichmittel für Textilien verwendet werden. Natriumchlorit entsteht beim Einleiten von ClO2 in eine Na2O2- bzw. NaOH/H2O2-Lösung: 2 ClO2 + H2O2 + 2 NaOH

34

2 NaClO2 + O2 + 2 H2O

Nach ab-initio-Rechnungen ist das stabilste Isomer der Zusammensetzung HClO2 das Peroxid HOOCl, gefolgt von HOClO; beide Moleküle sind nicht planar (Torsionswinkel 80±6°): J. S. Francisco et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 5644.

517

13.5 Chlor, Brom und Iod

Hierbei fungiert H2O2 als Reduktionsmittel! NaClO2 kann außerdem durch Reduktion von NaClO3 mit Oxalsäure hergestellt werden. In wässriger Lösung wirkt NaClO2 stark oxidierend. Im wasserfreien Zustand bildet es mit oxidierbaren Stoffen explosive Gemische. Das Anion [ClO2]– hat die Molekülsymmetrie C2v. Strukturell ähnelt es dem isoelektronischen Kation [ClF2]+. Chlorsäure HClO3: Chlorsäure kann wegen ihrer Zersetzlichkeit nur in wässriger Lösung hergestellt werden, und zwar bis zu einem Gehalt von 40 %. Man erhält solche Lösungen nach der Gleichung: Ba(ClO3)2 + H2SO4(aq)

2 HClO3(aq) + BaSO4

Die Salze der Chlorsäure heißen Chlorate; sie werden ausschließlich durch Disproportionierung von Hypochloriten beim Erwärmen in wässriger Lösung gewonnen: 3 [ClO]Ä

[ClO3]Ä + 2 ClÄ

Wahrscheinlich wird dabei das Anion [ClO]– durch die freie Säure HOCl oxidiert. In der Praxis elektrolysiert man eine heiße NaCl-Lösung (50–90°C), wobei auf eine Trennung von Kathoden- und Anodenraum verzichtet wird, so dass das anodisch entwickelte Chlor mit der kathodisch entstehenden Natronlauge reagiert: Cl2 + [OH]Ä

[ClO]Ä + ClÄ + H+

6 [ClO]Ä + 3 H2O

2 [ClO3]Ä + 4 ClÄ + 6 H+ +

3 2 O2

+ 6 eÄ

Wässrige Chlorsäure und feste Chlorate sind sehr starke Oxidationsmittel. KClO3 wird in großen Mengen zur Herstellung von Zündhölzern, Feuerwerkskörpern und Sprengstoffen gebraucht. Das Chlorat-Anion [ClO3]– ist mit dem Sulfit-Ion isoelektronisch. Beide sind trigonalpyramidal gebaut (Symmetrie C3v); die freie Säure HClO3 ist von Cs-Symmetrie:

HO

Cl O

O

O

Cl O

O

Perchlorsäure HClO4: Perchlorsäure ist die beständigste Chlorsauerstoffsäure; sie kann als farblose Flüssigkeit aus einem Gemisch von KClO4 und H2SO4 im Vakuum abdestilliert werden: KClO4 + H2SO4

HClO4 + KHSO4

Wasserfreies HClO4 zersetzt sich beim Erwärmen manchmal unter Explosion. Auch mit brennbaren Substanzen tritt Explosion ein. Daher müssen beim Experimentieren mit HClO4 entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. In wässriger Lösung ist HClO4 dagegen stabil und eine sehr starke Säure und daher bei genügender Verdünnung vollständig dissoziiert (Tab. 5.5). Perchlorate werden durch anodische Oxidation von Chloraten und damit letztlich aus Chlor hergestellt: 1 2 Cl2

+ 4 H2O

[ClO4]Ä + 8 H+ + 7 eÄ

518

13 Die Halogene

Aus NaClO4 und NH4Cl erhält man in Wasser das schwer lösliche Salz [NH4][ClO4], das der wichtigste Treibstoff für Feststoffraketen ist; es zerfällt beim Abbrennen in stark exothermer Reaktion zu den gasförmigen Produkten N2, Cl2 und H2O.35 Die beiden Booster der Ariane 5-Rakete enthalten je 240 t eines Gemisches aus [NH4][ClO4] (68 %), Al-Pulver (18 %) und Polybutadien (14 %), das beim Start innerhalb von 140 s abbrennt! Auch durch thermische Disproportionierung bestimmter Chlorate wie KClO3 entstehen Perchlorate: 4 KClO3

3 KClO4 + KCl

Bei zu starkem Erhitzen zerfällt KClO4 allerdings zu KCl und O2. Das tetraedrische Perchlorat-Ion ist mit den Ionen [SO4]2–, [PO4]3– und [SiO4]4– isoelektronisch; das Molekül HClO4 hat in der Gasphase folgende Struktur: OH

O

Cl O

O

Cl O

O

O

O

In der Reihe der Chlorsauerstoffsäuren und ihrer Anionen nimmt die ClO-Bindungsstärke mit der Oxidationsstufe des Cl-Atoms zu. Dies zeigt sich deutlich an den Werten der Valenzkraftkonstanten fr (in N cm–1): [ClO]–: 3.3

[ClO2]–: 4.2

[ClO3]–: 5.6

[ClO4]–: 7.2

Als Folge davon beobachtet man die zahlreichen Disproportionierungsreaktionen, bei denen aus sauerstoffarmen Ionen einerseits Chlorid-Ionen und andererseits sauerstoffreichere Anionen entstehen. HClO4 und [ClO4]– sind erwartungsgemäß am stabilsten. Analoge Verhältnisse findet man – mit Ausnahmen – auch bei anderen Nichtmetallen (bei S, Se, Br, I). In der Reihe der Chlorsauerstoffsäuren nehmen die Dissoziationskonstanten in wässriger Lösung (Ka) mit der Oxidationsstufe des Zentralatoms stark zu. Auch dafür ist die vom [ClO]– zum [ClO4]– zunehmende Bindungsenthalpie in den Anionen verantwortlich. Mit steigendem π-Bindungsgrad wird die negative Ladung an den O-Atomen immer geringer und damit die heterolytische Spaltung der OH-Bindung nach O H + H2O

O Ä + [H3O]+

aus elektrostatischen Gründen immer günstiger. Entsprechend ist der Anstieg der ersten Dissoziationskonstanten in der Reihe H4SiO4 < H3PO4 < H2SO4 < HClO4 zu erklären (Tab. 5.5).

35

R. J. Seltzer, Chem. Engg. News, 1988, August 8, p. 7.

519

13.5 Chlor, Brom und Iod

Brom-Sauerstoff-Säuren Vom Brom sind vier Sauerstoffsäuren bekannt, die den entsprechenden Chlorverbindungen ähneln. Alle vier Säuren sind aber nur als wässrige Lösung herstellbar. Dagegen kann man ihre Salze in reinem Zustand isolieren. Hypobromite, Bromite und Bromate entstehen je nach Temperatur bei der Disproportionierung von Brom in alkalischer Lösung: Br2 + 2 [OH]Ä

[BrO]Ä + BrÄ + H2O

2 [BrO]Ä

[BrO2]Ä + BrÄ

[BrO]Ä + [BrO2]Ä

[BrO 3] Ä + Br Ä

Perbromate können dagegen nicht durch Disproportionierung erhalten werden, weswegen ihre Existenz lange bezweifelt wurde. Perbromat-Ionen entstehen durch Oxidation von Bromat-Ionen mit sehr starken Oxidationsmitteln wie F2 oder XeF2 sowie durch anodische Oxidation in wässriger Lösung: [BrO3]Ä + F2 + 2 [OH]Ä

[BrO4]Ä + 2 FÄ + H2O

[BrO3]Ä + XeF2 + H2O

[BrO4]Ä + Xe + 2 HF

Aus diesen Lösungen kann man nach Zugabe von RbF das Salz RbBrO4 auskristallisieren, aus dem sich durch Ionenaustausch wässrige Perbromsäure herstellen lässt. Die Anionen [BrO]–, [BrO2]–, [BrO3]– und [BrO4]– wurden u.a. durch 17O- und 81Br-NMRSpektroskopie charakterisiert; die Br–O-Kernabstände nehmen mit steigender Oxidationsstufe ab.36 Iod-Sauerstoff-Säuren Löst man elementares Iod in Natronlauge, erhält man zwar zunächst Hypoiodit-Ionen [IO]–; diese gehen jedoch allmählich unter erneuter Disproportionierung in Iodat- und Iodid-Ionen über: I2 + 2 NaOH 3 NaIO

NaIO + NaI + H2O NaIO3 + 2 NaI

Noch unbeständiger als die Hypoiodite ist die Säure HOI, die bei der Reaktion von wässriger Iodlösung mit HgO intermediär entsteht. HIO2 und Iodite sind unbekannt. Iodsäure HIO3 wird durch Oxidation von I2 mittels HNO3, Cl2, H2O2 oder HClO3 in wässriger Lösung hergestellt und kann in Form farbloser Kristalle isoliert werden. HIO3 ist ein starkes Oxidationsmittel. Durch Entwässern von HIO3 erhält man I2O5. Die Iodate der Formel MIO3 enthalten das pyramidale Ion [IO3]–. In einigen Salzen der Zusammensetzung MIO3·HIO3 und MIO3·2HIO3 sind Iodsäure-Moleküle über O–H····O-Wasserstoffbrücken an die Iodat-Ionen gebunden. Solche sauren Salze sind beispielsweise auch von der Salpetersäure bekannt, so etwa NaNO3·HNO3. Natriumiodat NaIO3 wird spurenweise dem Kochsalz zugesetzt, um einem Iodmangel bei der menschlichen Ernährung vorzubeugen; der Tagesbedarf liegt aber nur bei ca. 0.1 mg Iod. Wird NaIO3 in 7 M HNO3 gelöst und bei 60°C eingedampft, entstehen Kristalle von NaI3O8, dessen kettenförmiges Anion von C2v-Symmetrie ist. 36

W. Levason et al., J. Chem. Soc. Dalton Trans. 1990, 349.

520

13 Die Halogene

Bei der Oxidation von I2 oder Iodaten mit sehr starken Oxidationsmitteln wie NaOCl (Cl2 in Natronlauge) entstehen Periodate: [IO3]Ä + [ClO]Ä

[OH]Ä 100°C

[IO4]Ä + ClÄ

Industriell wird Iodat auch anodisch zu Periodat oxidiert. Aus der wässrigen Lösung erhält man beim Abkühlen das Salz Na3H2IO6, das sich von der Orthoperiodsäure bzw. Hexaoxoiod(VII)-säure H5IO6 ableitet, die man durch Behandeln des Bariumsalzes mit konzentrierter Salpetersäure gewinnt. Erst beim Umkristallisieren des Natriumsalzes aus verdünnter Salpetersäure entsteht NaIO4. Periodate sind sehr starke Oxidationsmittel, die beispielsweise Mn2+-Ionen zu Permanganat oxidieren und die auch in der Organischen Chemie häufig eingesetzt werden. In der Orthoperiodsäure H5IO6 und bei den in Salzen nachgewiesenen Ionen [H4IO6]–, [H3IO6]2–, [H2IO6]3– und [IO6]5– ist das Zentralatom oktaedrisch koordiniert. Das Iodatom verhält sich damit ähnlich wie seine Nachbarn im Periodensystem, von denen analoge Verbindungen bekannt sind, zu denen es bei den leichteren Homologen keine Analogien gibt. Beim Erhitzen auf 130°C zersetzt sich H5IO6 zu I2O5, H2O und O2. Durch vorsichtiges Entwässern von H5IO6 mittels H2S2O7 bei 50°C erhält man Metaperiodsäure HIO4, die im kristallinen Zustand aus eindimensional unendlichen Ketten von cis-kantenverknüpften IO6-Oktaedern besteht. Jede der polymeren Ketten ist außerdem über H-Brücken mit vier benachbarten Ketten verknüpft.37 Säurehalogenide Von den Halogensauerstoffsäuren leiten sich verschiedene Säurehalogenide ab, die formal dadurch entstehen, dass die OH-Gruppe einer Säure durch ein Halogenatom ersetzt wird. Da dieses Halogenatom elektronegativer als der Rest des Moleküls sein muss, kommen dafür nur Fluor und Chlor in Frage. Die wichtigsten Verbindungen sind die Halogenylfluoride FXO2 (X = Cl, Br, I) und ClClO2, die Perhalogenylfluoride FXO3 sowie das Iodoxidpentafluorid IOF5, das formal ein Derivat der Orthoperiodsäure IO(OH)5 ist. Das einzige nicht von einer Säure ableitbare Oxidhalogenid ist das ClOF3, das formal aus ClF5 durch Substitution von 2 F durch O entsteht. Halogenylfluoride FClO2, FBrO2, FIO2: Diese Verbindungen sind Derivate der Säuren HClO3, HBrO3 und HIO3. Sie besitzen die Molekülsymmetrie Cs: F

X O

O

F

X O

O

X = Cl, Br, I

FClO2 entsteht als farbloses Gas bei der Fluorierung von ClO2 mit elementarem Fluor oder besser mit einem Fluorierungsmittel: ClO2 + AgF2 (CoF3, BrF3) 37

25°C

T. Kraft, M. Jansen, Angew. Chem. 1997, 109, 1842.

FClO2 + AgF

521

13.5 Chlor, Brom und Iod

Die charakteristischen Reaktionen des Chlorylfluorids sind die Hydrolyse FClO2 + H2O

HClO3 + HF

und die Bildung von Chlorylsalzen: FClO2 + AsF5 2 FClO2 + SnF4

[ClO2][AsF6] [ClO2]2[SnF6]

Diese Salze bestehen aus isolierten Ionen, die sich schwingungsspektroskopisch nachweisen lassen. Das Chloryl-Kation ist mit dem SO2-Molekül isoelektronisch und gewinkelt gebaut. Gegenüber Fluorid-Ionen verhält sich FClO2 als LEWIS-Säure. So entsteht aus KF und FClO2 das Difluorochlorat K[ClO2F2], das auch aus KClO3 und HF durch Austausch eines O-Atoms gegen zwei F-Atome erhältlich ist. Bromylfluorid wird durch Fluorierung von BrO2 mittels BrF5 in Form farbloser Kristalle (Schmp. –9°C) hergestellt. Iodylfluorid bildet ebenfalls farblose Kristalle; es entsteht beim Lösen von I2O5 in wasserfreiem Hydrogenfluorid: I2O5 + HF

FIO2 + HIO3

Chloroxidtrifluorid ClOF3 entsteht als farblose Flüssigkeit bei der Reaktion von F2 mit Cl2O, NaClO2 oder ClNO3. Das Molekül ClOF3 ist trigonal-bipyramidal gebaut. Mit BF3, AsF5 und SbF5 reagiert ClOF3 zu Salzen mit dem pyramidalen Kation ClOF. Perhalogenylfluoride FClO3, FBrO3, FIO3: Die Fluoride FXO3 sind Derivate der Perhalogensäuren HOXO3, in denen die OH-Gruppe durch Fluor ersetzt wurde. FClO3 ist isoelektronisch mit dem Perchlorat-Ion und verzerrt tetraedrisch gebaut (Symmetrie C3v). Es entsteht bei der Fluorierung von KClO3 mit F2 KClO3 + F2

FClO3 + KF

und bei der Reaktion von KClO4 mit Fluoroschwefelsäure bei 50–85°C: KClO4 + HSO3F

FClO3 + KHSO4

Perchlorylfluorid ist ein farbloses Gas (Sdp. –47°), das gegen Hydrolyse ähnlich resistent ist wie SF6. Dies liegt an einer starken kinetischen Hemmung des nukleophilen Angriffs, so dass beispielsweise mit konzentrierter Natronlauge erst bei 200–300°C Reaktion erfolgt, obwohl das folgende Gleichgewicht thermodynamisch gesehen ganz auf der rechten Seite liegt: FClO3 + 2 [OH]Ä

FÄ + [ClO4]Ä + H2O

FClO3 reagiert mit Fluorid-Ionen-Akzeptoren nicht zu Perchlorylsalzen. Perbromylfluorid, das aus KBrO4 und SbF5 in flüssigem HF hergestellt wird, reagiert schon bei 25°C mit Laugen zu Perbromat und Fluorid. Periodylfluorid entsteht bei der Fluorierung von Periodaten mittels F2 in HF: [IO4]Ä + F2

FIO3 + FÄ +

1 2

O2

Von den verschiedenen Iod(VII)-säuren leiten sich auch die Fluoride IO2F3, HOIOF4 und IOF5 ab, die ein zentrales Iodatom der Koordinationszahlen 5 oder 6 enthalten. IOF5, das

522

13 Die Halogene

bei der Einwirkung von IF7 auf POF3 bei 20°C als farblose Flüssigkeit entsteht, besteht aus oktaedrischen Molekülen der Symmetrie C4v. Halogenderivate von Oxosäuren der Nichtmetalle Da die Halogene Cl, Br und I in der Oxidationsstufe +1 auftreten können, kann man in bestimmten Oxosäuren anderer Nichtmetalle den Wasserstoff formal durch ein derartiges Halogenatom ersetzen. So entsteht Chlornitrat Cl–O–NO2 durch Substitution von H in der Salpetersäure durch Cl. Brom und Iod sind sogar in der Lage, mehrere H-Atome gleichzeitig zu substituieren, wobei das Halogen dann in der Oxidationsstufe +3 vorliegt, z.B. im Iodnitrat I(NO3)3, im Iodphosphat IPO4 und in dem in der Organischen Chemie häufig verwendeten Oxidationsmittel Phenyliod-bis(trifluoracetat) PhI(O2CCF3)2. Diese und analoge Verbindungen enthalten positiv polarisierte Halogenatome, die dabei immer an O-Atome gebunden sind. Diese Bindungen sind überwiegend kovalent, aber stark polar. Als Oxosäuren kommen HNO3, H3PO4, H2SO4, HSO3F, HBrO3, HClO4 und CH3COOH in Frage. An einigen Beispielen sollen die Eigenschaften derartiger Verbindungen erläutert werden. Acetat: Iodbenzol geht bei Chlorierung mit Cl2 in PhICl2 über, aus dem durch alkalische Hydrolyse Iodosobenzol PhIO erhalten wird. Umkristallisieren von PhICl2 oder PhIO aus Eisessig liefert das Oxidations-Reagenz PhI(O2CCH3)2, das mit CF3COOH zu PhI(O2CCF3)2 reagiert. Nitrate: Chlornitrat entsteht als blassgelbe Flüssigkeit bzw. farbloses Gas (Schmp. –107°C, Sdp. 18°C) durch Reaktion von Dichloroxid mit Distickstoffpentoxid bei –20°C: Cl2O + N2O5

Ä20°C

ClONO2

ClONO2 ist das gemischte Anhydrid der Säuren HOCl und HNO3. Es unterscheidet sich vom Nitrosylchlorid ClNO und vom Nitrylchlorid ClNO2 durch die Cl–O-Bindung. Bei der alkalischen Hydrolyse entstehen erwartungsgemäß [ClO]– und [NO3]–: ClONO2 + 2 [OH]Ä

[ClO]Ä + [NO3]Ä + H2O

Das positiv polarisierte Cl-Atom von ClONO2 reagiert mit negativ geladenen Cl-Atomen zu Cl2. Auf diese Weise lassen sich andere Halogennitrate herstellen: BrCl + ClONO2 ICl3 + 3 ClONO2

BrONO2 + Cl2 I(ONO2)3 + 3 Cl2

Analog reagieren ICl, HCl, TiCl4 und CrO2Cl2. Alle Halogennitrat-Moleküle sind planar gebaut (Symmetrie Cs). Ihre thermische Stabilität nimmt vom Fluor zum Iod hin ab. Chlornitrat entsteht auch in der Stratosphäre, und zwar durch Kombination der Radikale ClO und NO2. Zusammen mit HCl zählt ClONO2 zu den häufigsten Chlorverbindungen in der oberen Atmosphäre (siehe Kap. 11.1.3). Fluorosulfate: Chlorfluorosulfat ClOSO2F ist eine gelbe Flüssigkeit, die in nahezu quantitativer Ausbeute aus ClF und SO3 bei 25°C entsteht: ClF + SO3

ClOSO2F

523

13.6 Pseudohalogene

Iodtrisfluorosulfat I(OSO2F)3 ist eine feste gelbe Substanz, die bei der Oxidation von I2 mit Peroxodisulfurylfluorid gebildet wird. Die Struktur ist polymer. Mit H2O reagiert I(OSO2F)3 zu IO(OSO2F) und HSO3F. Lässt man I(OSO2F)3 in flüssigem Disulfurylfluorid auf KSO3F einwirken, erhält man ein komplexes Tetrakisfluorosulfatoiodat(III): K[SO3F] + I(OSO2F)3

S 2O5 F 2

K[I(OSO2F)4]

Die farblosen Kristalle dieses Salzes, das auch aus KICl4 und S2O6F2 entsteht, enthalten quadratisch-planar koordinierte Iodatome, wie sie auch im Anion [ICl4]– vorliegen. Die analoge Bromverbindung ist aus KBrO3 und S2O6F2 unter O2-Abspaltung zugänglich. Vom Brom kennt man auch ein Bisfluorosulfatobromat(I), das wie folgt entsteht: CsBr + S2O6F2

Br2

Cs[Br(OSO2F)2]

Perchlorate: Fluorperchlorat FOClO3 entsteht beim Einleiten von verdünntem F2 in 78 %ige Perchlorsäure; es wird durch Erwärmen der Mischung gasförmig erhalten und durch fraktionierte Kondensation gereinigt: F2 + HOClO3

HF + FOClO3

ClOSO2F reagiert mit CsClO4 zu Chlorperchlorat ClOClO3 (siehe Chloroxide). Aus Br2 und ClOClO3 erhält man bei –45°C Bromperchlorat: Br2 + 2 ClOClO3

Cl2 + 2 BrOClO3

BrOClO3 ist eine rote Flüssigkeit, die sich oberhalb –20°C zersetzt. Die gasförmigen Moleküle FOClO3, ClOClO3 und BrOClO3 haben wie die Stammverbindung HOClO3 die Symmetrie Cs.38

13.6

Pseudohalogene

Eine Reihe einwertiger Atomgruppen zeigt in ihrem chemischen Verhalten so starke Ähnlichkeiten mit den Halogenen, dass man sie als Pseudohalogene bezeichnet.39 Hierzu zählen vor allem die Gruppen: –CN Cyanid

–N3 Azid

–OCN Cyanat

–CNO Isocyanat

–SCN Thiocyanat

Diese Gruppen X bilden Wasserstoffverbindungen HX, die in Wasser die Ionen [H3O]+ und X– liefern und damit den Hydrogenhalogeniden ähneln. Von diesen Säuren leiten sich Salze MX ab. Die Silbersalze AgX sind wie AgI in Wasser schwer löslich. Die Ionen X– können wie I– bereits durch schwache Oxidationsmittel oxidiert werden. In einigen Fällen erhält man auf diese Weise freie Pseudohalogene wie Dicyan (CN)2 oder so genanntes Dirhodan (SCN)2, das jedoch besser als Dicyanodisulfan S2(CN)2 bezeichnet wird. Zwi38 39

H. Oberhammer et al., J. Phys. Chem. 1994, 98, 8339. H. Brand, A. Schulz, A. Villinger, Z. Anorg. Allg. Chem. 2007, 633, 22.

524

13 Die Halogene

schen den Halogenen und den Pseudohalogenen existieren auch gemischte Verbindungen wie Chlorcyan ClCN und Fluorazid FN3. Die genannten Pseudohalogene können die Halogene in kovalenten, ionischen und komplexen Verbindungen ersetzen. Beispiele sind die Verbindungs-Paare PCl3 / P(CN)3 und [AgCl2]– / [Ag(CN)2]–. Hinsichtlich ihrer Elektronegativität stehen die Pseudohalogene dem Iod nahe. In neuerer Zeit wurden jedoch auch komplexere Gruppen und Ionen synthetisiert, die ebenfalls als Pseudohalogene angesehen werden.39 Dazu gehören beispielsweise die planaren Methanid-Gruppen –C(CN)3, –C(CN)2NO und –C(CN)2NO2.

14.1 Allgemeines

14

Die Edelgase

14.1

Allgemeines

525

Die Elemente He, Ne, Ar, Kr, Xe und Rn, die in der 18. Gruppe (8. Hauptgruppe) des Periodensystems stehen, unterscheiden sich von den übrigen Nichtmetallen durch ihre Reaktionsträgheit, die auf die besondere Elektronenkonfiguration der Edelgasatome zurückzuführen ist und die zu dem Namen Edelgase geführt hat. Nachdem aber in neuerer Zeit einige Hundert Edelgasverbindungen hergestellt wurden,1 ist dieser historische Name zumindest für das Element Xenon nicht mehr ganz passend. Außer Helium, dessen Valenzschale mit zwei Elektronen vollständig gefüllt ist, besitzen alle Edelgase die Valenzelektronenkonfiguration s2p6, d.h. Oktetts ohne ungepaarte Elektronen. Die besondere Stabilität dieser Konfiguration zeigt sich in den Ionisierungsenergien, die größer sind als die aller Elemente der jeweils gleichen Periode (Abb. 2.1). Die effektiven Kernladungszahlen Zeff sind ebenfalls größer als die der anderen Elemente der betreffenden Periode. Daher sind die Edelgasatome kleiner als die Atome der im Periodensystem links neben ihnen stehenden Nichtmetalle. Die Elektronenaffinitäten der Edelgase sind Null, d.h. diese Elemente zeigen keine Tendenz zur Bildung negativer Ionen. Die Edelgase sind daher als einzige Elemente unter Standardbedingungen atomar. Die Wechselwirkung von Edelgasatomen untereinander ist auf VAN DER WAALS-Kräfte beschränkt und die niedrigen Siedepunkte (Tab. 3.2) sind auf die geringe Wechselwirkungsenergie zurückzuführen. Edelgasatome sind isoelektronisch mit entsprechenden Halogenid-Ionen. Zwischen diesen Ionen ähnlicher Elektronenkonfiguration und dem betreffenden Edelgas, z.B. F– verglichen mit Ne, bestehen aber nur geringe chemische Ähnlichkeiten. Beispielsweise reagiert Ne nicht wie F– mit starken LEWIS-Säuren (z.B. BF3) zu stabilen Komplexen und es wird in wässriger Lösung nicht wie die analogen Anionen protoniert. Von den schwereren Edelgasen Kr und Xe sind jedoch in neuerer Zeit Koordinationsverbindungen spektroskopisch nachgewiesen worden, in denen diese Atome ähnlich wie Halogenid-Ionen als Liganden an ein Metallatom gebunden sind, z.B. KrCuF und KrAgF. In reiner Form isolierbare Komplexe dieser Art kennt man aber nur vom Xenon, beispielsweise das planar-quadratische Kation [AuXe4]2+ im Salz [AuXe4][Sb2F11]2, in dem ein Edelgas der Oxidationsstufe ±0 koordinativ an ein Edelmetall der Oxidationsstufe +2 gebunden ist!2 Wenn n die Hauptquantenzahl der Valenzelektronen bedeutet, dann ist das unterste unbesetzte Atomorbital der Edelgase das s-Orbital der Schale n+1. Die Promotionsenergien für ein np-Elektron auf das (n+1)s-Niveau haben folgende Werte (in eV): Ne: 16.6 Ar: 11.5 Kr: 9.9 Xe: 8.3 Rn: 6.8

1

2

W. Grochala, Chem. Soc. Rev. 2007, 36, 1533 (sehr lesenswerter Aufsatz mit Ausblick auf die Zukunft). D. A. Atwood, B. Zemva, Encycl. Inorg. Chem. 2005, 6, 3651. J. H. Holloway, E. G. Hope, Adv. Inorg. Chem. 1998, 46, 51. K. Seppelt, Z. Anorg. Allg. Chem. 2003, 629, 2427.

526

14 Die Edelgase

Diese Energien sind viel größer als die Bindungsenergien von kovalenten Bindungen (1–5 eV), weswegen eine Promotion von Valenzelektronen bei der Bildung von edelgashaltigen Molekülen ausgeschlossen werden kann. Statt dessen werden von Edelgasatomen kovalente Bindungen in neutralen Molekülen ausschließlich als Mehrzentrenbindungen gebildet, die nicht an das Vorhandensein ungepaarter Elektronen gebunden sind. In gasförmigen Ionen wie [He2]+, [HeF]+, [ArF]+ oder [Ar2]+, die spektroskopisch nachgewiesen wurden, sowie in den Kationen [Xe2]+ und [AuXe4]2+ liegen dagegen Zweizentrenbindungen mit 2 bzw. 3 Elektronen vor. Ausführlicher wird im Abschnitt 14.6 auf die Bindungsverhältnisse eingegangen. Bisher wurden nur von Kr, Xe und Rn bei Raumtemperatur isolierbare Verbindungen erhalten. Einzige bekannte Argonverbindung ist HArF, das bei tiefen Temperaturen nachgewiesen wurde. Während vom Krypton nur einige wenige Verbindungen hergestellt werden konnten, die noch dazu bei 25°C thermodynamisch instabil sind, kennt man vom Xenon weit über 100 Verbindungen in reiner Form. Die ersten binären Xenonverbindungen wurden im Jahre 1962 synthetisiert. Beim Radon behindert dessen Radioaktivität die experimentellen Untersuchungen so sehr, dass nur qualitative Angaben über seine Verbindungen vorliegen. Die Chemie der Edelgase ist daher weitgehend identisch mit der Chemie des Xenons.

14.2

Vorkommen, Gewinnung und Verwendung

Alle Edelgase sind in der Luft vorhanden, die im trockenen Zustand neben 78.08 Vol.-% N2, 20.95 % O2 und 0.038 % CO2 noch 0.935 % Edelgase enthält. Dieser Anteil besteht fast ganz aus Argon, wie die folgenden Zahlen zeigen (Vol.-%): He: Ne: Ar: Kr: Xe: Rn:

0.0005 (5.24 ppm) 0.0018 (18.18 ppm) 0.9337 0.0001 (1.14 ppm) 8·10–6(0.087 ppm) 6·10–18

Alle sechs Elemente stellen Isotopengemische dar. Besonders wichtige Isotope sind 4He (99.9999 %), 3He (0.0001 %, Kernspin I = 12 ), 20Ne (90.5 %), 40Ar (99.6 %) und 129Xe (26.4 %, I = 12 ). Die technische Gewinnung der Edelgase basiert auf der fraktionierten Destillation bzw. Kondensation von Luft. Helium wird darüber hinaus aus bestimmten amerikanischen Erdgasen gewonnen, die einige Prozent davon enthalten. Die Weltjahresproduktion von He beträgt ca. 5000 t. Helium ist weiterhin als radioaktives Zerfallsprodukt ein Bestandteil gewisser Mineralien (Uranerze und Monazit), aus denen es durch Pulverisieren und Erhitzen in kleinem Umfang isoliert werden kann. Das Helium des Erdgases stammt ebenfalls aus dem radioaktiven α-Zerfall schwerer Nuklide, vor allem von Thorium und Uran. Das Isotop 3He entsteht beim β-Zerfall von Tritium (Kap. 5.1). Zur Gewinnung von Radon lässt man eine Radiumsalzlösung einige Zeit lang in einem verschlossenen Gefäß stehen und pumpt dann das entwickelte Radon ab. Die Halbwertszeit des stabilsten Ra-

14.3 Xenonverbindungen

527

donisotops 222Rn beträgt 8.3 d. Radon-haltige Mineralwässer mit einer Aktivität von bis zu 180000 Bq L–1 treten an verschieden Stellen in Deutschland an der Erdoberfläche aus, z.B. in der Region Erzgebirge-Vogtland-Fichtelgebirge (Oberschlema, Bad Brambach, Bad Steben) sowie an den Rändern des Oberrheingrabens (Heidelberg, Bad Kreuznach, Bad Münster am Stein). Dieses Radon stammt aus unterirdischen Uran-haltigen Mineralien, die stets Radium als Teil der Zerfallsreihe von 238U enthalten. Die leichteren Edelgase He, Ne und Ar kommen in Stahlflaschen in den Handel. He wird als Füllgas für Ballone und Luftschiffe verwendet, im Labor dient es als Trägergas bei der Gaschromatographie. Flüssiges Helium ist ein wichtiges Kühlmittel (Sdp. 4.2 K), unter anderem für die supraleitenden Magneten moderner Kernresonanz-Spektrometer. Ne dient als Füllgas für elektrische Entladungsröhren (Lichtreklame) und Ar wird als Schutzgas beim Schweißen und für gasgefüllte Glühlampen verwendet. Im Labor wird reinstes Ar ebenfalls als als Schutzgas für die Handhabung sehr reaktionsfähiger Substanzen in einer Trockenbox (glove box) benötigt. Krypton und Xenon werden auch als Füllgase für Speziallampen gebraucht. Xe dient darüber hinaus als Narkosegas.

14.3

Xenonverbindungen

Xenon geht nur mit solchen nichtmetallischen Atomen oder Atomgruppen starke Bindungen ein, die eine ausreichende Elektronegativität besitzen. Das sind nach den bisherigen Erfahrungen nur Fluor, Sauerstoff, Stickstoff und Chlor sowie solche Kohlenstoffatome, die durch besonders elektronegative Substituenten positiv geladen und damit ebenfalls stark elektronegativ geworden sind, beispielsweise in der Gruppe –C6F5. Wenn bereits ein F-Atom am Xenon vorhanden ist, können aber auch andere Atome gebunden werden. Die thermodynamisch beständigsten Edelgasverbindungen sind die Xenonfluoride und einige von diesen abgeleitete Fluoroxenate. Die binären Fluoride haben eine negative Bildungsenthalpie und können direkt aus den Elementen hergestellt werden. Xenon-Sauerstoff-Verbindungen sind dagegen thermodynamisch instabil (endotherm) und daher mehr oder weniger zersetzlich, teilweise sogar explosiv (z.B. Xenonoxide). Fast alle in kristalliner Form bekannte Verbindungen mit Xenon in einer positiven Oxidationsstufe werden aus den Fluoriden hergestellt. XeF2 ist die einzige im Handel erhältliche Edelgasverbindung; es wird auch als Oxidations- und Fluorierungsmittel eingesetzt. Gegenüber Metallatomen in positiven Oxidationsstufen kann Xenon als LEWIS-Base und Ligand reagieren. Zu dieser neuen und interessanten Gruppe von Verbindungen gehören beispielsweise die Kationen [AuXe4]2+, [HgXe]2+ und [F3AsAuXe]+, die mit den Gegenionen [SbF6]– bzw. [Sb2F11]– in kristalliner Form isoliert wurden.2

528

14.3.1

14 Die Edelgase

Xenonfluoride

Xenon reagiert bei geeigneter Aktivierung durch Erhitzen, Bestrahlen oder in einer elektrischen Entladung mit elementarem Fluor zu den Fluoriden XeF2, XeF4 bzw. XeF6.3 Deren Synthese erfolgt über folgende Gleichgewichtsreaktionen: Xe + F2

XeF2

‹Ho° = Ä97.5 kJ molÄ1

XeF2 + F2

XeF4

‹Ho° = Ī¿.3 kJ molÄ1

XeF4 + F2

XeF6

‹Ho° = Ä56.1 kJ molÄ1

Je größer die Fluorkonzentration im Reaktionsgemisch ist, um so mehr steigt die Ausbeute an höheren Fluoriden an. Kleine Mengen XeF2 gewinnt man durch Sonnenbestrahlung eines Gemisches von Xe und F2 im Molverhältnis 1:2. Bei größeren Ansätzen (bis 1 kg) bestrahlt man mit einer UV-Lampe und setzt 1 % HF als Katalysator zu. XeF6 wird durch Erhitzen eines Xe/F2-Gemisches (1:5) auf 120°C in Gegenwart von NiF2 als Katalysator hergestellt, wobei eine heterogene Reaktion abläuft. Analog erhält man XeF4 durch Erhitzen eines Xe/F2-Gemisches (1:5) bei einem Druck von 0.6 MPa auf 300°C in einem Nickelgefäß. Versuche, XeF8 herzustellen, hatten bisher keinen Erfolg, obwohl Xenon in einigen Sauerstoff-Verbindungen die Oxidationsstufe +8 erreicht. Einige Eigenschaften der Xenonfluoride sind in Tabelle 14.1 zusammengestellt. Alle drei Verbindungen bilden bei Raumtemperatur farblose Kristalle, die im Vakuum sublimieren und die im Falle von XeF2 und XeF4 aus isolierten Molekülen aufgebaut sind. Die linearen XeF2-Moleküle (D∞h) liegen in der tetragonalen Kristallstruktur parallel zueinander, wobei die Xe-Atome eine raumzentrierte Anordnung einnehmen. Dadurch ist jedes Xenonatom außer von zwei nächsten noch von acht übernächsten Fluoratomen (im Abstand 342 pm) koordiniert (Abb. 3.1 im Kap. 3). Xenontetrafluorid besteht aus planarquadratischen Molekülen der Symmetrie D4h und kristallisiert in einer monoklinen Struktur. XeF6 kristallisiert je nach Temperatur in sechs verschiedenen Modifikationen, die aus tetrameren bzw. hexameren cyclischen Molekülen mit unsymmetrischen F-Brücken zwischen XeF5-Einheiten bestehen. Bei Raumtemperatur stabil ist eine kubische Phase, die aus tetrameren und hexameren Einheiten besteht. Eine ähnliche Assoziation wurde beim flüssigen SbF5 gefunden (Kap. 10.8.3). In der Gasphase ist XeF6 ein fluktuierendes Molekül, das zwischen zwei verschiedenen Strukturen sehr ähnlicher Energie und von C3vbzw. Oh-Symmetrie hin und her schwingt.4 Tab. 14.1 Eigenschaften der Xenonfluoride Tripelpunkt (°C) mittl. Bindungsenthalpie (kJ mol–1) XeF-Kernabstand (pm) Dichte (g cm–1) 3 4

XeF2

XeF4

XeF6

129 126 200 4.32

117 122 195 4.04

49 116 189 3.73

Xe kann auch mit Gemischen aus AgF2 und AsF5 oder BF3 in wasserfreiem HF zu XeF2 oxidiert werden; N. Bartlett et al., J. Am. Chem. Soc. 1990, 112, 4846. D. A. Dixon et al., J. Am. Chem. Soc. 2005, 127, 8627.

529

14.3 Xenonverbindungen

XeF2 und XeF4 sind dagegen in allen Phasen monomer. Die experimentell mittels IR- und Ramanspektren oder durch Elektronenbeugung und Röntgenstrukturanalyse ermittelten Molekülstrukturen entsprechen den Erwartungen nach dem Modell der Elektronenpaarabstoßung (Kap. 2.2.2).

14.3.2

Reaktionen der Xenonfluoride

Die drei Xenonfluoride sind bei 25°C beständig; sie zersetzen sich jedoch beim Erhitzen in die Elemente. XeF2 löst sich in Wasser (ca. 25 g L–1 bei 0°C). Diese Lösung zersetzt sich nur langsam, und zwar zu HF, Xe und O2. Dagegen kann XeF4 nur in sorgfältig getrockneten Glas- oder Quarzgefäßen (besser in KEL-F-, Ni- oder Monelbehältern5) aufbewahrt werden. XeF6 reagiert mit Glas und Quarz zu XeOF4 und O2. Die Xenonfluoride sind naturgemäß sehr starke Oxidations- und Fluorierungsmittel, wobei die Reaktionsfähigkeit mit der Oxidationsstufe des Xenons ansteigt. Bei Redoxreaktionen geht das Xenon im Allgemeinen sofort in die Oxidationsstufe ± 0 über. XeF2 ist aber kinetisch relativ stabil. Mit bestimmten Hydroxoverbindungen reagieren die Xenonfluoride unter Kondensation nach dem Schema: Xe F + H

O

Xe O

+ HF

Auf diese Weise gelingt die Synthese einer größeren Zahl von Verbindungen mit Xe– O-Bindungen. Diese Reaktionen werden in den Abschnitten 14.3.3 bis 14.3.5 behandelt. Des Weiteren sind XeF2, XeF4 und XeF6 unter geeigneten Bedingungen zum Austausch von Fluorid-Ionen befähigt, wobei sie teils als F–-Donoren, teils als F–-Akzeptoren reagieren. Auf diese Weise erhält man in Analogie zum entsprechenden Verhalten der Interhalogenverbindungen Salze mit [XeFn]-Kationen oder -Anionen. Redoxreaktionen XeF2 und XeF4 reagieren mit H2 bei 300–400°C, XeF6 schon bei 25°C, zu HF und Xe: XeF2 + H2

Xe + 2 HF

Beim Schütteln mit Quecksilber erhält man quantitativ Xe und HgF2 bzw. Hg2F2. Diese beiden Reaktionen dienen zur Analyse der Xenonfluoride (Bestimmung von Xe durch Wägung und von F– durch Titration). Wässrige Iodidlösung wird von allen Xenonfluoriden zu I2 oxidiert. Die Reaktionsfähigkeit gegenüber oxidierbaren Stoffen nimmt vom XeF2 zum XeF6 stark zu. Daher finden sich nur für XeF2 viele Flüssigkeiten, in denen es sich molekular und ohne Reaktion löst (HF, SO2, CH3NO2, CH3CN, CCl4, Dioxan). XeF4 und XeF6 lösen sich gut in flüssigem HF. Fluorid-Ionen-Austauschreaktionen Xenondifluorid verhält sich gegenüber starken LEWIS-Säuren als F–-Donor. Beispielsweise reagiert es mit den Pentafluoriden des As, Sb, Bi, Ru, Ir und Pt je nach dem Mischungsverhältnis zu folgenden Verbindungen: 5

KEL-F ist ein Handelsname für Poly(fluortrichlorethylen); Monel ist eine Cu-Ni-Legierung.

530

14 Die Edelgase

XeF2 + MF5

2:1

[Xe2F3][MF6]

1:1

[XeF][MF6]

1:2

[XeF][M2F11]

Diese früher als Addukte aufgefassten Verbindungen, die meistens gefärbt sind und Schmelzpunkte zwischen 50° und 150°C aufweisen, haben Strukturanalysen und Schwingungsspektren zufolge eine überwiegend ionische Struktur. Die Verbindungen des ersten Typs enthalten das planare, V-förmige Kation [Xe2F3]+, das im Hexafluoroarsenat folgende Geometrie aufweist: Xe

+

F

d (Xe F) = 190 pm, Winkel (XeFXe) = 151°

Xe F

F

d (Xe F) = 214 pm, Winkel (FXeF) = 178°

Die Salze des dritten Typs enthalten zweikernige Anionenkomplexe mit Fluorbrücken ähnlich denen im flüssigen SbF5. Im [XeF][Sb2F11] wurde folgende Atomanordnung gefunden: F F

Sb F

Xe F

Sb

d (Xe F) = 184 pm F F

d (Xe F) = 235 pm Winkel (XeFSb) = 147°

F

F Der relativ geringe Abstand des Kations [XeF]+ zu einem Fluoratom des Anions ist als kovalente Teilbindung zu deuten, d.h. die Wechselwirkung zwischen dem Kation und dem Anion ist teils ionisch, teils kovalent. Entsprechendes ist für die Salze des Typs [XeF][MF6] anzunehmen, da [XeF]+ eine sehr starke LEWIS-Säure ist. Analoge Derivate des XeF4 sind die Salze [XeF3][SbF6] und [XeF3][Sb2F11]. [XeF][Sb2F11] reagiert in Gegenwart der magischen Säure HF/SbF5 (Kap. 5.5.2) mit Xenon zu [Xe2]+[Sb4F21]–, das einer Röntgenstrukturanalyse zufolge eine schwache Xe– Xe-Bindung der Länge 309 pm enthält; das Anion besteht aus vier eckenverknüpften SbF6-Oktaedern:6 [XeF]+ + 3 Xe + H+

2 [Xe2]+ + HF

Die Bindungsverhältnisse in diesen Xenonium-Kationen werden im Abschnitt 14.6 diskutiert. Xenonhexafluorid kann Fluorid-Ionen sowohl abgeben wie auch aufnehmen. Es ist ein stärkerer F–-Donor als die beiden anderen Xenonfluoride. Mit AsF5, SbF5 und PtF5 reagiert XeF6 zu Salzen des Typs [XeF5][MF6]. In der Arsenverbindung liegen [XeF5]+-Kationen mit einer ungefähr quadratisch-pyramidalen Anordnung der F-Atome vor. Die Kat6

T. Drews, K. Seppelt, Angew. Chem. 1997, 109, 264.

531

14.3 Xenonverbindungen

ionen sind über drei unsymmetrische Fluorbrücken mit zwei oktaedrischen [AsF6]–Anionen verknüpft, so dass das Xenonatom von einem nichtbindenden Elektronenpaar und 5 nächsten sowie 3 übernächsten F-Atomen umgeben ist. Mit AuF5 reagiert XeF6 im Verhältnis 1:2 zum Salz [Xe2F11][AuF6], dessen Kation die Konnektivität [F5Xe– F–XeF5]+ aufweist. Ähnlich hohe Koordinationszahlen wie in den [XeF5]+-Salzen treten auch in den Fluoroxenaten auf, die bei der Reaktion von XeF6 mit Alkalimetallfluoriden (außer LiF) entstehen. So erhält man aus CsF und flüssigem XeF6 bei 50°C das gelbe Salz Cs[XeF7], das sich bei höherer Temperatur (50–280°C) zu Cs2[XeF8] und XeF6 zersetzt: CsF + XeF6

50°C

CsXeF7

>>50°C ÄXeF6

Cs2XeF8

400°C

CsF, Xe, F2

Das Oktafluoroxenat(VI), das ebenfalls gelb gefärbt ist, stellt eine der thermisch stabilsten Edelgasverbindungen dar; das Anion hat die Geometrie eines quadratischen Antiprismas. Das Anion von Cs[XeF7] bildet ein überdachtes Oktaeder. Neben den oben beschriebenen salzartigen Verbindungen kennt man auch eine Reihe stöchiometrischer Mischkristalle wie XeF2·IF5, XeF2·XeF4 und XeF2·XeOF4, welche die nahezu ungestörten Moleküle nebeneinander enthalten. Weiterhin reagiert XeF2 als LEWIS-Base und damit als Ligand in Metallkomplexen. Ein Beispiel ist das Salz [Ba(XeF2)5][AsF6]2.

14.3.3

Oxide und Oxosalze des Xenons

XeF2 löst sich in Wasser bei 0°C molekular und ohne sichtbare Reaktion, aber mit gelber Farbe. Erst nach einiger Zeit, schneller beim Erwärmen oder beim Versetzen mit Laugen tritt Hydrolyse ein, die jedoch nicht zu XeO, sondern zu einer Oxidation des Sauerstoffatoms im Wassermolekül führt: XeF2 + H2O

Xe + 2 HF +

1 2

O2

XeF4 reagiert mit Wasser bei 20°C sofort, wobei in einer unübersichtlichen Reaktion Xe, O2, HF und Xenontrioxid XeO3 entstehen. XeO3, das am besten durch vorsichtige Hydrolyse von XeF6 mit überschüssigem H2O bei 20°C und in Gegenwart von MgO zum Abfangen der Flusssäure hergestellt wird, kann durch Eindampfen aus der wässrigen Lösung in Form farbloser, äußerst explosiver Kristalle erhalten werden. XeO3 ist hygroskopisch und ein starkes Oxidationsmittel. In Wasser löst es sich überwiegend molekular; die Lösung ist beständig, wirkt äußerst stark oxidierend und reagiert schwach sauer, entsprechend folgendem Gleichgewicht: 2 H2O + XeO3

[H3O]+ + [HXeO4]Ä

Danach ist XeO3 kein Protonenakzeptor, sondern wie SO3 eine LEWIS-Säure. Salze der hypothetischen Säure H2XeO4 können durch Vermischen von XeO3- und NaOH-Lösungen im Molverhältnis 1:1 gefolgt von Einfrieren bei tiefen Temperaturen und Entfernen des überschüssigen Wassers durch Sublimation im Vakuum erhalten werden (Gefriertrocknung). Auf diese Weise wurden NaHXeO4·1.5H2O und CsHXeO4·1.5H2O hergestellt (farblose Kristalle).

532

14 Die Edelgase

Macht man XeO3-Lösungen stark alkalisch oder löst man XeO3 oder XeF6 gleich in starken Laugen, tritt Disproportionierung des Xe(VI) zu Xe(0) und Xe(VIII) ein: 2 [HXeO4]Ä + 4 Na+ + 2 [OH]Ä

Na4XeO6 + Xe + O2 + 2 H2O

Außer auf diese Weise können Perxenate wie Na4XeO6·nH2O (n = 0, 2, 6, 8) und Ba2XeO6 auch durch Ozonisierung einer XeO3-Lösung unter Zusatz des entsprechenden Metallhydroxids erhalten werden. Im Gegensatz zu den Xenaten(VI) sind die Perxenate thermisch außerordentlich stabil. Das Natriumsalz ist farblos und enthält nahezu oktaedrische [XeO6]4–-Ionen. Beim Lösen in Wasser erfolgt starke Hydrolyse gemäß der Gleichung: [XeO6]4Ä + H2O

[HXeO6]3Ä + [OH]Ä

Eine Perxenonsäure ist nicht bekannt. Versetzt man Ba2XeO6 mit konzentrierter Schwefelsäure, entweicht gasförmiges XeO4: Ba2XeO6 + 4 H2SO4

2 BaSO4 + XeO4 + 2 [H3O][HSO4]

XeO4 (Schmp. –36°C) ist bei –196°C gelb und selbst bei –40°C noch explosiv. Es zersetzt sich oberhalb von 0°C zu den Elementen, und zwar oftmals unter Explosion. Beide Xenonoxide sind stark endotherme Verbindungen. XeO4 besteht in der Gasphase aus Molekülen der Symmetrie Td (isoelektronisch mit [IO4]–). XeO3 ist wenig flüchtig und bildet ein Molekülgitter, in dem etwas verzerrte trigonal-pyramidale XeO3-Einheiten vorliegen, die über O-Atome unter Bildung schwacher koordinativer Xe–O-Bindungen verknüpft sind. Die Kernabstände (XeO3: 176 pm, XeO4: 174 pm) entsprechen folgenden Strukturformeln:

O

Xe O

O O

O

Xe2 O

O

Die starke Neigung von XeO3 zur Erhöhung der Koordinationszahl am Xenonatom kommt auch in der Reaktion mit F–-Ionen zum Ausdruck: MF + XeO3

H2O 0°C

MXeO3F

M: K, Rb, Cs

Die Fluoroxenate(VI), die aus der Lösung rein isoliert werden können, enthalten polymere, kettenförmige Anionen, die aus XeO3-Pyramiden bestehen, welche über F-Brücken verknüpft sind.

14.3.4

Oxidfluoride des Xenons

Ersetzt man im XeF4 oder XeF6 zwei F-Atome durch ein O-Atom, gelangt man formal zu Oxidfluoriden. Fast alle theoretisch denkbaren Oxidfluoride von Xe(IV), Xe(VI) und Xe(VIII) sind bekannt. XeF6 reagiert mit wenig Wasser und mit bestimmten Oxiden schrittweise zu XeOF4, XeO2F2 und XeO3F2:

533

14.3 Xenonverbindungen

2 XeF6 + SiO2 XeF6 + H2O

50°C 20°C

2 XeOF4 + SiF4 XeOF4 + 2 HF

XeOF4 (Schmp. –46°C) ist eine farblose Flüssigkeit, die aus Molekülen der Symmetrie C4v besteht (quadratisch-pyramidal), bei deren vollständiger Hydrolyse XeO3 erhalten wird. XeOF4 zersetzt sich erst bei 300°C. Die übrigen Oxidfluoride entstehen in O/F-Austauschreaktionen aus XeF6 und XeO3 bzw. XeO4: XeF6 + 2 XeO3

25°C

3 XeO2F2

XeF6 + XeO4

XeO3F2 + XeOF4

XeF6 + XeO3F2

XeO2F4 + XeOF4

XeO2F4 wurde spektroskopisch identifiziert. Das Schwingungsspektrum von XeO3F2 (Schmp. –54°C) ist mit einer D3h-Symmetrie des Moleküls vereinbar. XeO2F2 (Schmp. 31°C) ist von C2v-Symmetrie.

14.3.5

Sonstige Xenon-Verbindungen

Ähnlich wie mit Wasser reagieren die Xenonfluoride auch mit anderen Hydroxoverbindungen (EOH) unter HF-Abspaltung. Während mit Alkoholen Verpuffung oder gar Explosion erfolgt, sind verschiedene Sauerstoffsäuren für gezielte Kondensationsreaktionen geeignet:7 XeF2 + HO E

Ä pF

F Xe O E

Å ˆnp Ä pF

E O Xe O E

Fluoroschwefelsäure HSO3F und Pentafluoroorthotellursäure HOTeF58 reagieren mit XeF2 nach diesem Schema zu folgenden Verbindungen: XeF(OSO2F) farbl. Kristalle Schmp. 37°C

Xe(OSO2F)2 gelb Schmp. 44°C

XeF(OTeF5) gelb, flüssig

Xe(OTeF5)2 farbl. Kristalle Schmp. 36°C

Die Triebkraft dieser Reaktionen ist die stark exotherme Bildungsenthalpie des Hydrogenfluorids. Während die beiden Tellurverbindungen bis 130°C beständig sind, zersetzen sich die Fluorosulfate schon bei 25° langsam zu Xe und S2O6F2 (und gegebenenfalls XeF2). Die Kristalle von XeF(SO3F) bestehen einer Röntgenstrukturanalyse zufolge aus folgenden Molekülen:

7 8

K. Seppelt, Acc. Chem. Res. 1979, 12, 211; D. Lentz, K. Seppelt, Angew. Chem. 1979, 91, 68; L. Turowsky, K. Seppelt, Z. Anorg. Allg. Chem. 1992, 609, 153. HOTeF5 wird nach Te(OH)6 + 5 HSO3F → HOTeF5 + 5 H2SO4 hergestellt; es ist eine sehr stabile Verbindung und in Wasser eine starke Säure.

534

14 Die Edelgase

O O Xe

S

F O

d (Xe F) = 194 pm, Winkel (XeOS) = 124° d (Xe O) = 216 pm, Winkel (FXeO) = 177°

F Die Xe–O-Bindung ist überwiegend kovalent und nicht ionischer Natur. Die übrigen Verbindungen sind analog gebaut. Xe(OTeF5)2 enthält ein planares TeOXeOTe-Gerüst mit den TeF5-Substituenten in trans-Stellung. Mit XeF4 und XeF6 reagiert HSO3F bei tiefen Temperaturen ähnlich wie mit XeF2. Im ersten Falle wurde XeF2(SO3F)2 als gelbgrüne Flüssigkeit isoliert, die sich bei 25°C langsam zu Xe, XeF4 und S2O6F2 zersetzt. Aus XeF6 entsteht XeF4(SO3F)2, das ebenfalls flüssig ist und bei Raumtemperatur in XeF4 und S2O6F2 übergeht. Stabiler sind auch hier die Pentafluorooxotellurate. Das farblose Xe(OTeF5)4 und das rotviolette Xe(OTeF5)6 entstehen bei der Reaktion von XeF4 bzw. XeF6 mit B(OTeF5)3, das seinerseits aus HOTeF5 und BCl3 gewonnen wird. In Analogie zum XeF4 ist die zentrale XeO4-Gruppe in Xe(OTeF5)4 planar gebaut. Mit HN(OSO2F)2 reagiert XeF2 bei 0°C zu HF und F–Xe–N(OSO2F)2, das eine lineare FXeN-Gruppe enthält, wobei die Kernabstände XeF (197 pm) und XeN (220 pm) stark verschieden sind. Wird XeF2 bei –50°C in Dichlormethan mit B(C6F5)3 umgesetzt, kommt es zu einem Aryltransfer vom Bor zum Xenon und man erhält das Salz [C6F5Xe]+[(C6F5)2BF2]–, eine farblose, nur bei Temperaturen unterhalb –30°C beständige Verbindung mit einer Xe– C-Bindung, die mit AsF5 zu [C6F5Xe]+[AsF6]– reagiert. Dieses Arylxenonium-Salz (Schmp. 102°C), das auch aus XeF2, (C6F5)3B und AsF5 in wasserfreiem HF hergestellt werden kann, ist bis 125°C beständig. Ein Neutralmolekül mit Xe–C-Bindung erhält man wie folgt:9 [C6F5Xe][AsF6] + Cs(OOCC6F5)

H2O 25°C

C6F5 Xe

OC(O)C6F5 + CsAsF6

Die Xenonverbindung fällt aus der wässrigen Lösung aus; sie zersetzt sich bei 85°C in stark exothermer Reaktion zu Xe und C6F5C(O)OC6F5. Die zentrale Gruppe C–Xe–O ist linear gebaut (dXeC = 212 pm, dXeO = 237 pm). Andere, aber weniger stabile Verbindungen mit einer Xe–C-Bindung sind C6F5XeF, C6F5XeCl, (C6F5)2Xe und [C6F5XeF2][BF4].9 Zur Charakterisierung derartiger Verbindungen eignet sich besonders die 129Xe-NMR-Spektroskopie.10 In Abbildung 14.1 sind die chemischen Verschiebungen einiger Xe-Verbindungen schematisch dargestellt. Man erkennt, dass elementares Xe am stärksten abgeschirmt ist und dass eine Abhängigkeit zwischen Resonanzfrequenz und Oxidationsstufe des Xenonatoms existiert. Als Bezugssubstanz wird flüssiges XeOF4 bei 24°C verwandt.

9 10

H. J. Frohn, V. V. Bardin, Organometallics 2001, 37, 4750. D. Raftery, Ann. Rep. NMR Spectrosc. 2006, 57, 205. M. Gerken, G. J. Schrobilgen, Coord. Chem. Rev. 2000, 197, 335.

535

14.4 Verbindungen der übrigen Edelgase [XeO6]4Ä

+2000

+1000

XeF4 XeOF4

[XeF]+

XeF2

0

-1000

-2000

Xe

-3000

-4000

-5000

129Xe-NMR-Spektrum.

Abb. 14.1 Chemische Verschiebung einfacher Xenonverbindungen im Die Entschirmung nimmt mit steigender Oxidationsstufe zu, wobei jedoch Unregelmäßigkeiten auftreten.

14.4

Verbindungen der übrigen Edelgase

Argon: Bei der UV-Bestrahlung von HF in einer Argonmatrix bei 7.5 K mit anschließendem Tempern bei 18 K entsteht spurenweise das spektroskopisch nachgewiesene Molekül HArF, das nach quantenchemischen Rechnungen linear gebaut ist. Der exotherme Zerfall in die Ausgangsprodukte HF + Ar ist einer quantenchemischen Rechnung zufolge mit der Überwindung einer Aktivierungsbarriere von ca. 96 kJ mol–1 verbunden. Krypton: Vom Krypton existieren nur Verbindungen der Oxidationsstufen 0 und +2.11 Die einzige binäre Kryptonverbindung, die in reiner Form gewonnen wurde, ist das Difluorid KrF2. Es wird durch UV-Bestrahlung einer flüssigen Mischung von Kr und F2 im Molverhältnis 4:1 bei –196°C hergestellt. KrF2 kann durch Sublimation unterhalb –10°C gereinigt werden, bei höheren Temperaturen zerfällt es in die Elemente. KrF2 bildet farblose Kristalle (je eine Hoch- und Tieftemperaturmodifikation), die aus linearen Molekülen der Symmetrie D∞h bestehen und die sich in Hydrogenfluorid lösen. Die Verbindung ist im Gegensatz zu den Xenonfluoriden endotherm und daher schon oberhalb –20°C zersetzlich, seine chemische Reaktivität ist aber analog zu der von XeF2. Die mittlere Kr– F-Bindungsenthalpie beträgt nur 48 kJ mol–1 und die Bildungsenthalpie wurde kalorimetrisch zu +60 kJ mol–1 ermittelt. Aus dem Kernabstand d(KrF) = 189 pm lässt sich der Kovalenzradius des Kryptonatoms zu 125 pm abschätzen. Mit Hg reagiert KrF2 zu HgF2 und Kr, mit Wasser oder verdünnter Natronlauge sofort zu O2, Kr und HF bzw. NaF. Mit starken LEWIS-Säuren wie AsF5, SbF5, BiF5 und AuF5 bildet KrF2 Salze mit den Kationen [KrF]+ und [Kr2F3]+. Beispielsweise reagiert SbF5 bei –20°C mit KrF2 zu farblosen Kristallen von [KrF+][Sb2F1], die sich beim Schmelzpunkt von ca. 50°C zu Kr, F2 und SbF5 zersetzen. Krypton-Sauerstoff-Bindungen liegen im ziemlich instabilen Kr(OTeF5)2 vor. Wahrscheinlich sind alle Kryptonverbindungen endotherm. Radon: Untersuchungen zur Chemie des Radons sind wegen dessen α-Strahlung und der kleinen Halbwertszeit schwierig. Reine Verbindungen konnten bisher nicht isoliert werden, jedoch reagiert Rn spontan mit ClF, ClF3 und anderen Halogenfluoriden bei 25°C zu RnF2. Andere Halogenide oder Oxide wurden bisher nicht nachgewiesen.

11

G. J. Schrobilgen et al., Inorg. Chem. 2001, 40, 300, und Coord. Chem. Rev. 2002, 233–234, 1.

536

14.5

14 Die Edelgase

Elektronegativitäten der Edelgase

Für Xenon und Krypton kann man Elektronegativitäten (χ) nach der Methode von ALLRED und ROCHOW (Kap. 4.6.2) berechnen, wenn man die effektive Kernladungszahl Zeff der Valenzelektronen nach den Regeln von SLATER ermittelt: é = 3.59 . 103 .

Zeff

+ 0.744 r2 Für ein 5p-Elektron des Xenons ergibt sich Zeff = 8.25. Den gleichen Wert erhält man für ein 4p-Elektron des Kryptons. Die Einfachbindungs-Kovalenzradien (r1) von Xe und Kr lassen sich wie folgt ermitteln. Im gasförmigen XeF2 beträgt der XeF-Kernabstand 200 pm, im KrF2 ist d(KrF) = 189 pm. Subtrahiert man von diesen Werten den Radius des Fluoratoms (54 pm12), erhält man für zweiwertiges Krypton bzw. Xenon:

r1 (Kr): 135 pm r1 (Xe): 146 pm

r1 (Br): 114 pm r1 (I): 133 pm

Diese Radien sind erwartungsgemäß etwas größer als die der benachbarten Halogenatome, da letztere von Substanzen mit Zweizentrenbindungen abgeleitet wurden. Für Xenon (IV) erhält man analog 140 pm und für Xenon (VI) 135 pm. Damit ergeben sich für Krypton und Xenon folgende χAR-Werte: Kr(II): 2.4

Xe(II): 2.1

Xe(IV): 2.3

Xe(VI): 2.4

Die Elektronegativitäten von Krypton(II) und Xenon(II) sind nach dieser Rechnung also etwas kleiner als die der benachbarten Halogene Brom (2.7) und Iod (2.2). Als Ursache muss man den zu großen Kovalenzradius der Edelgasatome vermuten, der von Verbindungen mit Dreizentrenbindungen abgeleitet wurde. Andererseits lassen sich die Elektronegativitäten nach der Methode von ALLEN direkt aus den Ionisierungsenergien der isolierten Atome berechnen (Kap. 4.6.2). Danach erhält man für die Edelgase folgende χspec-Werte: Ne: 4.8

Ar: 3.2

Kr: 3.0

Xe: 2.6

Diesen Werten ist der Vorzug zu geben, da sie den Erwartungen entsprechen, denen zufolge die Edelgase etwas elektronegativer als die im Periodensystem benachbarten Halogenatome sein sollten.

12

R. J. Gillespie, E. A. Robinson, Inorg. Chem. 1992, 31, 1960.

14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen

14.6

537

Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen

Für eine Analyse der Bindungsverhältnisse teilt man die Edelgasverbindungen zweckmäßig in die zweiatomigen und die mehratomigen Vertreter ein.

14.6.1

Zweiatomige Moleküle und Ionen

Wie im Kapitel 3.3 gezeigt wurde, existieren die zweiatomigen Neutralmoleküle He2, Ne2, Ar2, Kr2 und Xe2 nur als VAN DER WAALS-Moleküle mit sehr kleinen Bindungsenthalpien bei gleichzeitig sehr großen Kernabständen verglichen mit entsprechenden kovalenten Bindungen. Bei den zweiatomigen Kationen ist die Situation aber vollkommen anders. Das erste jemals beobachtete Molekül mit einer kovalenten Bindung zu einem Edelgasatom war das Kation [HHe]+, das im Jahre 1925 massenspektrometrisch entdeckt wurde. Es entspricht dem isoelektronischen Molekül H2 und weist wie dieses eine normale 2-Elektronen-σ-Bindung auf. Die Bindung im [HHe]+ ist allerdings polar, da die 1s-Orbitalenergien von H (–13.6 eV) und He (–24.6 eV) sehr stark differieren. Darüber hinaus wurden auch alle homoatomaren und heteronuklearen zweiatomigen Edelgas-Kationen vom [He2]+ bis zum [Xe2]+ und vom [HeNe]+ bis zum [KrXe]+ in der Gasphase nachgewiesen. Deren Bindungen sind als 3-Elektronen-σ-Bindungen zu verstehen (Kap. 2.4.3). Die Dissoziationsenthalpien (Do) der homoatomaren Kationen nehmen erwartungsgemäß mit steigender Atomgröße ab.13 Für das im Abschnitt 14.3.5 erwähnte, jedoch gasförmige Ion [Xe2]+ wurde Do zu 99 kJ mol–1 ermittelt. Die Dissoziationsenthalpien der Edelgashydrid-Ionen [HE]+ sind identisch mit den Protonenaffinitäten der neutralen Edelgasatome, die folgende Werte aufweisen (kJ mol–1): He: 193 Ne: 218 Ar: 402 Kr: 444 Xe: 559 Dieser Gang der Werte entspricht der vom He zum Xe stark zunehmenden Polarisierbarkeit α der Edelgasatome E (Kap. 3.3). Salze mit den Kationen [HE]+ wurden bisher nicht isoliert, jedoch kennt man die Kationen [XeF]+, [XeCl]+ und [Xe2]+ in Form von Salzen, z.B. [XeF][SO3F] und [XeCl][Sb2F11]. Diese Kationen enthalten kovalente 2-Elektronenσ-Bindungen.

14.6.2

Mehratomige Moleküle und Ionen

Diese Verbindungen können am besten auf der Basis der MO-Theorie verstanden werden, wobei Mehrzentrenbindungen angenommen werden. Die MO-Beschreibung des XeF2-Moleküls ähnelt der des isoelektronischen TriiodidIons [I3]–, das ebenfalls linear gebaut ist. Beschränkt man sich auf eine σ-Wechselwirkung zwischen dem Zentralatom und zwei Ligandatomen, so kommen aus energetischen Gründen nur die Orbitale 5s und 5pz des Zentralatoms und je ein 2pz-Orbital der beiden 13

G. Frenking, D. Cremer, Structure Bonding (Berlin) 1991, 73, 17.

538

14 Die Edelgase

E

Xe

F

‘Æu:

+

+

Xe

(eV)

F

‘uÆ

+

+

‘Æg:

5pz

+

‘Æg

z Ä17.4

‘g:

F

z Ä12.1

‘u:

F

+

+

2pz

‘u

+

z

+

+

+

z

Ä27

5s

(a)

‘g (b)

Abb. 14.2 Die kovalente Bindung im Xenondifluorid. (a) Linearkombinationen für die vier σ-Molekülorbitale. (b) Schematisches Energieniveaudiagramm für die σ-Molekülorbitale (das 2s-AO von Fluor liegt bei –46.4 eV und kann daher vernachlässigt werden).

Fluoratome in Betracht. Sowohl das 5s- als auch das 5pz-Orbital des Xenons überlappen mit den zwei 2pz-Orbitalen der beiden Fluoratome und es resultieren zwei bindende und zwei antibindende Molekülorbitale (Abb. 14.2). Bei 8 Valenzelektronen in den Ausgangsorbitalen werden die beiden bindenden (σg und σu) und das unterste antibindende MO (σ) besetzt. Netto resultiert also eine 3-Zentren-σ-Bindung und die Stabilisierung des Moleküls ist im Wesentlichen auf die Absenkung der 5pz-Elektronen des Xenons auf das σu-Niveau zurückzuführen. Auf diese Weise können auch die Bindungen im XeF4 und im XeF6 behandelt werden, wenn man die anderen 5p-Orbitale des Xenonatoms zur Bindung von je zwei F-Atomen heranzieht. So entstehen das quadratische XeF4 und ein oktaedrisches Molekül XeF6. Dass das Molekül XeF6 nicht oktaedrisch, sondern C3v-symmetrisch gebaut ist, liegt an mehreren miteinander konkurrierenden Faktoren,14 die hier nicht auseinander gesetzt werden können. Nach ab-initio-MO-Rechnungen beträgt die Energiedifferenz zwischen der Oh- und der C3v-Struktur aber nur 10 kJ mol–1. Auf die oktaedrische Geometrie kann auch das für das analoge SF6-Molekül abgeleitete MO-Diagramm sinngemäß angewandt werden (Abb. 2.39 im Kap. 2). 14

M. Kaupp et al., J. Am. Chem. Soc. 1996, 118, 11939.

14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen

539

Die erhebliche Elektronegativitätsdifferenz zwischen Xenon und Fluor führt dazu, dass die Bindungen in den Xenonfluoriden stark polar sind und dass das Zentralatom positiv geladen ist. Diese vom XeF2 zum XeF6 zunehmende positive Ladung kann mittels Photoelektronen-Spektroskopie nachgewiesen werden. Dazu ionisiert man die gasförmigen Verbindungen mittels Röntgenstrahlen und misst die Energien, die zur Abspaltung von Elektronen aus inneren, an der Bindung nicht direkt beteiligten Orbitalen erforderlich sind (ESCA-Methode: electron spectroscopy for chemical analysis). Diese Energien haben für jedes Element im neutralen Zustand charakteristische Werte. Je größer die positive Ladung auf dem betreffenden Atom in einem Molekül ist, um so größer ist auch die Ionisierungsenergie Ei (Abb. 14.3). Umgekehrt führt eine negative Partialladung zu einer Verringerung der Ionisierungsenergie, z.B. bei den Fluoratomen. Beim Xenon wird im vorliegenden Fall ein Elektron aus dem entarteten 3d-Niveau entfernt, wodurch es beim entstehenden Kation zu einer Aufspaltung in zwei Energieniveaus kommt (3d5/2 und 3d3/2).15 XeF6: XeF4: XeF2: 1s

F2: Xe:

670

3d5/2

675 680 685

3d3/2

690 695 700

Ei

Abb. 14.3 Schematische Darstellung der Ionisierungsenergien von Xenon und Fluor im elementaren Zustand und in den Xenonfluoriden, gemessen mittels ESCA. Die Balken entsprechen beim Fluor einer Ionisierung aus dem 1s-Niveau und beim Xenon aus dem 3d-Niveau. Zunehmende Ionisierungsenergie zeigt eine zunehmende positive Ladung auf dem betreffenden Atom an und umgekehrt.

Die große positive Ladung auf dem Zentralatom von XeF6 hat zur Folge, dass die scheinbar nichtbindenden Elektronen in den 2pπ-Orbitalen der Fluoratome vom Xe angezogen und teilweise in Orbitale delokalisiert werden, die überwiegend am Zentralatom lokalisiert sind. Das sind einerseits die unbesetzten 5d-Orbitale von Xe und andererseits die antibindenden σ*-MOs derjenigen XeF-Bindungen, die ungefähr senkrecht zur betrachteten XeF-Bindung stehen. Diesen letztgenannten Effekt nennt man negative Hyperkonjugation. Durch diese zwei Typen von Rückbindung werden die Ladungen auf den beteiligten Atomen wieder etwas verringert; zugleich wird die Bindungsenergie etwas erhöht. Verglichen mit den σ-Bindungen sind diese schwachen π-Bindungen jedoch von untergeordneter Bedeutung. 15

N. Bartlett et al., J. Am. Chem. Soc. 1974, 96, 1989; G. M. Bancroft et al., ibid. 1991, 113, 9125.

540

14 Die Edelgase

Die Bindungen in den Oxiden XeO3 und XeO4 entsprechen denen in valenz-isoelektronischen Oxoanionen wie [ClO3]– und [ClO4]–. Auch bei diesen Molekülen und Ionen sind die σ-Bindungen wesentlich wichtiger als die π-Bindungen (Kap. 2).

14.6.3

Existenz und Nichtexistenz von Edelgasverbindungen

Hier stellt sich nun die Frage, warum in Analogie zum XeF2 nicht auch die Verbindungen H2Xe, XeCl2, XeBr2 oder Me2Xe als bei 25°C haltbare Verbindungen hergestellt werden können. Die Moleküle H2Xe, HXeCl und XeCl2 wurden zwar bei tiefen Temperaturen in Edelgasmatrizen spektroskopisch nachgewiesen,16 jedoch sind solche Verbindungen bei Normalbedingungen instabil. Während die Reaktion Xe + E E E Xe E für E = F exotherm ist, ist die Bildung von H2Xe und XeCl2 aus den Elementen stark endotherm. Dies liegt hauptsächlich an den viel größeren Dissoziationsenthalpien (D98) von H2 (436 kJ mol–1) und Cl2 (244 kJ mol–1) verglichen mit der von F2 (158 kJ mol–1). Darüber hinaus zeigen die bisher isolierten Edelgasverbindungen, dass die Substituenten E sehr elektronegativ sein müssen, damit es zu beständigen, in reiner Form isolierbaren Verbindungen kommt. Alle in den voran stehenden Abschnitten diskutierten Verbindungen von Kr, Xe und Rn weisen Substituenten auf, deren Elektronegativität größer ist als 3 und damit größer als die des zentralen Edelgasatoms. Dies gilt für –F und =O ebenso wie für die Gruppen –OTeF5, –OSO2F, –N(OSO2F)2 und –C6F5, bei denen der induktive Effekt der vielen F- und O-Atome dafür sorgt, dass die Gruppenelektronegativität deutlich größer als 3 wird. Die Atome H, Br, I und die Gruppen CH3 und C6H5 sind dagegen nicht elektronegativ genug, um in reiner Form isolierbare Verbindungen des Xenons zu ermöglichen. Ist die Elektronegativität von E zu gering, liegen die obersten besetzten Valenzorbitale des Substituenten höher als die des Edelgases (Abb. 14.2) und damit wird die Stabilisierung der Elektronen des Zentralatoms deutlich geringer. Das schließt nicht aus, dass Einzelmoleküle mit derartigen Substituenten hergestellt und in der Gasphase oder in festen inerten Matrizen nachgewiesen werden können (z.B. HXeF). Es ist also strikt zwischen der Stabilität des Einzelmoleküls und der Stabilität einer Verbindung, d.h. eines Kollektivs von Molekülen zu unterscheiden. Dass die Oxide des Xenons endotherm sind, obwohl die Elektronegativität von Sauerstoff 3.4 beträgt, liegt ebenfalls an der hohen Dissoziationsenthalpie des O2-Moleküls (498 kJ mol–1), wodurch die Reaktion Xe + 2 O2

XeO4

endotherm wird. Warum gibt es nun in Analogie zu XeF2 und KrF2 nicht auch Fluoride des Argons, Neons und Heliums? Auch diese Frage kann mit dem Argument der Elektronegativität und unter Verwendung eines MO-Diagramms wie in Abbildung 14.4 beantwortet werden. 16

XeH2: M. Pettersson, J. Lundell, M. Räsänen, J. Chem. Phys. 1995, 103, 205; N. Runeberg, M. Seth, P. Pyykkö, Chem. Phys. Lett. 1995, 246, 239. HXeCl, HXeBr, HXeI, HKrCl: M. Pettersson, J. Lundell, M. Räsänen, J. Chem. Phys. 1995, 102, 6423. HXeSH und HXeOH: M. Petterson et al., J. Am. Chem. Soc. 1999, 121, 11904, und Inorg. Chem. 1998, 37, 4884.

541

14.6 Bindungsverhältnisse in Edelgasverbindungen

In diesen Fällen sind die potentiellen Zentralatome zu elektronegativ, d.h. ihre obersten besetzten Valenzorbitale liegen zu tief verglichen mit den HOMOs der Substituenten, so dass die Stabilisierung der Elektronen des Edelgases wiederum zu gering ausfällt, um die Abstoßung der Atomkerne zu überwinden. Es liegt auf der Hand, dass in Zukunft am ehesten vom Ar neutrale Verbindungen synthetisiert werden dürften. Bis dahin sind die Clathrate (Kap. 5.6.4) die einzigen in reiner Form isolierbaren „Verbindungen“ der leichteren Edelgase. Ne

F

F

E

(eV)

‘uÆ:

+

+

‘uÆ

Ne

+

z Ä17.4

‘g:

+

‘u:

+

‘g

F

F 2pz

+

z

+

Ä21.6

+

2pz

‘u

z

(a)

(b)

Abb. 14.4 Theoretische Bindungsverhältnisse für das hypothetische Molekül NeF2. (a) Linearkombination der drei Atomorbitale (b) Energieniveaudiagramm für die σ-Molekülorbitale. Die besetzten 2s-Atomorbitale von Ne und F liegen energetisch zu tief für eine Wechselwirkung mit den 2p-AOs; sie sind praktisch als Rumpforbitale zu betrachten. Ihre Wechselwirkung miteinander führt zu drei doppelt besetzten MOs, die nicht zur Bindung beitragen. Daher wurden sie nicht eingezeichnet.

542

Sachregister

543

Sachregister Verbindungsklassen lassen sich auch über das ausführliche Inhaltsverzeichnis finden. A ab initio-Rechnungen 91 Abschirmung der Kernladung 11 Achat 285 ACHESON-Verfahren zur Graphitherstellung 240 Acidität, der Halogenwasserstoffe 163 –, der Oxosäuren 164 –, der Supersäuren 166 –, von LEWIS-Säuren 196, 215 Aciditätsfunktion 165 Acidiumsalze 156, 160 Acrylglas 264 Adamantylrest 302 Adenosintriphosphat (ATP) 311, 337, 400, 402 Addukte 81,197, 208, 270, 282, 460 Aerogel 297 Aerosil 286 Air Liquide 399 Ätzen von Silicium 281, 337, 494 Airbag 327 AIM (atoms in molecules) 41 Aktivkohle 250 Alkalide 332 Alkane 149, 150, 235 Alkene 214, 284 allgemeine Gaskonstante 116 allotrope Modifikationen, siehe Modifikationen Alternativverbot in der Schwingungsspektroskopie 38, 313 Alumosilicate 291 Amalgam-Verfahren 499 Amborit 231 Ameisensäure für die CO-Herstellung 257 Amethyst 285 Amide 323 Amidoschwefelsäure 460 Amid-Reaktion 334 Amine 180, 315, 317 Aminoborane 226 Ammoniak 74, 316, 320

–, festes 179 –, flüssiges 159, 330 Ammoniakate 331 Ammonium-Ion 322 Ammonolyse 331 Ammonosystem 159, 330 Amphibole 291 ANDRUSSOW-Verfahren zur HCN-Herstellung 264 Anhydrit 431 ANFO (Sprengstoff) 323 Anionenaustauscher 420 Anodeneffekt 252 anodische Oxidation 263, 469, 490, 400 anomerer Effekt 428 Anorthit 291 Ansolvobasen 160 Ansolvosäuren 157, 222 Anthrachinon-Verfahren zur H2O2-Herstellung 421 Anthrazit 251 antibindende Orbitale 46, 53 Antioxidantien 402, 425 Apatit 359 apicale Substitutenten 213 Aquakomplexe 241 äquatoriale Substituenten 32, 33, 356, 361 Aquosystem 156 Argentit 451 Argon 310 –, physikalische Eigenschaften 109, 110 Argon-Dimer 112 Argon-Verbindungen 526, 535 Ariane-Rakete 318, 518 aromatische Systeme 213, 215, 221, 236, 238, 319, 367, 445 ARRHENIUS, S. 156 Arsan 363 Arsen 5, 359 –, elementares 356 -halogenide 371 -hydride 363

544 Arsen -isotope 358 -modifikationen 362 -oxide 381, 384 -Sauerstoffsäuren 384, 387, 393 -sulfide 385, 387 Arsenik 359, 384 Arsenopyrit 359 Arsonsäure 384 Arsorane 380 Asbest 291 Assoziation 510 Astat 485 Atmung 258, 265, 402 Atomladungen 133, 539 ATP, siehe Adenosintriphosphat Aufenthaltswahrscheinlichkeit, siehe Elektronendichte Aufschlussphosphorsäure 388 Aufschwefelung 447, 449 Auripigment 359 Austauschwechselwirkung 12 AVOGADRO’s Konstante (NA) 115 axiale Substituenten 33, 357, 361 Azafullerene 246 azeotropes Gemisch 348 Azide 310, 326 B Bandlücke von Halbleitern 243, 245, 275, 368, 443 Barysilit 291 Basen 160, 322, 325, 328 Basenstärke 162, 322 BASF 3, 321, 322, 328, 471 Basisfunktion 91 Basissatz 92 Basizitäten einfacher Moleküle 161 BAYER AG 212, 500 BAYER-Verfahren zur Hydrazinherstellung 324 Bentonit 291 Benzin 258 Benzol 236 Bergkristall 285 Beryll 291 Bildungsenhalpie, atomare 116 bindende Molekülorbitale 46, 53 Bindung, dative 79

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Bindung, chemische 9, 113 Bindung, ionische 10 Bindung, koordinative 79 Bindung, kovalente 41 Bindung, polare 118 Bindungseigenschaften 113 Bindungsenergie 114 –, im [H2]+ 46 –, im H2 49 Bindungsenthalpie 114, 487 –, Tabelle 121 Bindungsenthalpie, mittlere 117 Bindungsgrad 52, 113 Bindungsisomerie 374 Bindungsmoment 140 Bindungsordnung 52, 113 Bindungspolarität 133 Biogas 233 Biomineralisation 287 Bipolaronen 332 BIRCH-Reduktion 334 Bisulfit 465 Blausäure 264 Bleichmittel 225, 501, 513, 516 Bleiglanz 431 Bleikammerkristalle 343 BMA-Verfahren zur HCN-Herstellung 264 Boehmit 293 BOHR, N. 9 Bor 4, 195 –, elementares 199 -carbid 205 -halogenide 197, 217 -hydride 206 -nitrid 229 -oxid 199, 221, 223 -oxosäuren 221 -silicid 206 -Stickstoff-Verbindungen 226 -subhalogenide 219, 497 -sulfide 226 Boranat-Ion 207 Boratabenzol-Anion 215 Borane 206, 209 Borate 224 Borax 195, 205, 224 Borazin 227 Borazol, siehe Borazin Borazon 231

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Boride 204 BORN, M. 9 BORN-Abstoßung in Salzen 16 BORN-HABER-Kreisprozess 17 BORN-OPPENHEIMER-Näherung 43 Boronsäure 224 Borosilicatglas 296 Borosilicat-Verfahren 212 Boroxin-Ring 219, 222, 225 Borsäure 222 BOSCH, C. 321 BOUDOUARD-Gleichgewicht 257 Braunkohle 251 Brillanten 242 BROGLIE, L. V. DE 9 Brom 485 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 -oxide 512 -Sauerstoffsäuren 515, 519 BRØNSTEDT, J. N. 160 Bronze 491 C Calcinieren 293 Caprolactam 150, 329 Carbanionen 235 Carben-analoge Verbindungen 268, 283, 497, 498 Carbenium-Ionen 235, 256, 262 Carbide 235 Carboanhydrase 261 Carbonados 242 Carbonate 261 carbon black, siehe Ruß Carbonfasern 240 Carbonylkomplexe 235, 248, 257 Carborane 215 Carborund 306 Caroat 424, 469 CAS-Rechnungen 400 CCS-Verfahren (carbon capture) 256 CERAN 5, 296 Cermet 205 Chalkogene 431 Chalkogenide 451 Chalkogenidgläser 295 Chalkogen-Kationen 417, 444

545 Chalzedon 285 Charge-Transfer-Komplexe 502 chemical vapor deposition, siehe CVD Chemisorption 248, 321 Chilesalpeter 309, 322, 502 Chiralität 245, 248, 256, 300, 316, 423 Chlor 485 -Alkali-Elektrolyse 6, 499 –, atomares 410, 487 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 -knallgas 154 -nitrat 522 -oxide 512 -peroxid 410 -Sauerstoffsäuren 515, 519 Chlorierungsmittel 376 Chloroschwefelsäure 469 Chlortriphos 386 Chlorylsalze 521 cis-trans-Isomerie 351, 353, 370 Clathrat-Hydrate 178 CLAUS-Verfahren zur Gasentschwefelung 434 closed-shell-Konfiguration 319 Cluster 75, 176, 202, 220, 278, 363 CNT (carbon nanotubes) 247 Coesit 285 Colemanit 195 COULOMB-Abstoßung 27, 332 COULOMB’s Gesetz 20, 138 COULOMB-Loch 95 COULOMB-Wechselwirkung in Salzen 16 Cristobalit 285 Cryptanden 180, 333 Crystex 439 CsCl-Struktur 14 CT-Komplexe, siehe charge-transfer-Komplexe CVD (chemical vapor deposition) 200, 204, 229, 243, 274, 296, 307 Cyanide 264, 322 Cyanwasserstoff 264, 322, 326 Cycloaddition von Ozon 381 –, von Singulett-Sauerstoff 402 Cyclopentadienid-Anion 217, 236 Cycloreversion 402 Cystein 449 CZOCHRALSKI-Tiegelziehverfahren 275

546 D dative Bindung 19 DEBYE, P. 105 Deformationsdichte 144 Deformationskraftkonstante 129 Deformationsschwingung 129, 316 DEGUSSA, siehe EVONIK Delokalisierung von Elektronen 42, 236, 367, 482, 486 Deuterium 151, 190 Deuterolyse 153 Diamant 241, 248 –, anorganischer 231 -struktur 242 -synthese 241 Diaphragma-Verfahren der Chlor-Alkali-Elektrolyse 499 Diatomeen 287 Diazene 311, 325,338 Diazenide 326 Diboran 197, 208 Diboren 198 Diboronsäure 222 Dichtedifferenz 144 Dichtefunktional-Rechnungen 99 Dicyan 264 Diedersymmetrie 40 Diederwinkel 422 Dielektrizitätskonstante von Lösungsmitteln 20 Difluorcarben 498 Difluorsilylen 498 DFT, siehe Dichtefunktional Digermene 301 Digermine 304 Diglyme 207 Diimin 325 Dikmethylsulfid (DMS) 457 Diopsid 291 Dioxygenyl-Kation 417 Diphosphan 363, 365 Diphosphate 391 Diphosphene 370 Dipoleffekt 105 Dipolmoment 105, 140 –, atomares 108, 142 –, homöopolares 142 –, Tabelle 106 –, von Ionenpaaren 24

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Direktsynthese von Me2SiCl2 299 Disauerstoff-Komplexe 402 Dischwefelsäure 466 Disilene 272, 301 Disiline 272, 303 Disiloxan 269, 283, 288, 413 Dispersionseffekt 108 Disproportionierung 220, 283, 364, 388, 390, 517, 519 Dissoziationsenthalpie 115 Dissoziationsgrad von Halogenen 487 Dissoziationskonstanten 162, 448, 449, 465 Distickstoff-Komplexe 311 Disulfit-Ion 464 Dithionige Säure 471 Dithionsäure 471 Diwasserstoff-Bindung 199 Diwasserstoff-Komplexe 186 DOBSON-Einheit 411 Donor-Akzeptor-Komplexe, siehe Addukte Doppelbindungen 90, 113, 118, 131, 370 Doppelkontakt-Verfahren zur SO3-Herstellung 459 Doppelminimum-Potential 182, 316 doppelte Umsetzung 330 d-Orbitalbeteiligung 83, 86, 87 Dotierung von Halbleitern 243, 275, 365 Drehachse von Molekülen 37, 201 Drehspiegelachse 37 Dreielektronen-Bindung 51 Dreifachbindung 113, 118, 131, 303 Dreizentrenbindung 65, 169, 396, 480, 506 Dublett-Zustand 60, 246 Düngemittel 320, 323, 389 Duranglas 296 E Edelgase 525 –, Kristallstruktur 110 –, physikalische Eigenschaften 110 Edelgasdimere 112 Edelgaskonfiguration 26 Edelgasverbindungen 525 effektive Kernladung 11, 46 Einelektronenbindung 48 Einfachbindung 113, 118 Einkristallstrukturanalyse 25

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Einlagerungshydride 191 Einlagerungsverbindungen 255, 502 Eis 174 –, Kristallstruktur 174 -Modifikationen 174 Elektride 332 Elektrofluorierung 337, 492 Elektrolyse-Verfahren 150, 490, 499, 517 Elektronen, solvatisierte 331 Elektronegativität 128, 134 – nach ALLEN 139 – nach ALLRED und ROCHOW 136 – nach PAULING 135 –, spektroskopische 139 Elektronegativitätsausgleich 141 Elektronenakzeptor 79 Elektronenaffinität 12 Elektronenbeugung zur Strukturbestimmung 25 Elektronendichte 144 –, in [H2]+ 45 –, in Ionenpaaren 23 –, in NaCl 15 Elektronendichtedifferenz 144 Elektronendomäne 27, 34 Elektronendonor 79 Elektronengas 240 Elektronenkorrelation 51, 95 Elektronenpaar 26 Elektronenpaarabstoßung 28 Elektronenspin 48 Elektronenspinresonanz (ESR) 438 Elektrophile, siehe LEWIS-Säuren Elementarzelle 14 Enantiomere 316 enantiotrope Modifikationen 436 endergonisch 121 endohedrale Komplexe 246 Energie, kinetische 44, 47 –, potentielle 44, 47, 49 –, thermische 116 Energieniveaudiagramme, siehe MO-Diagramme end-on-Koordination 312 Enstatit 291 entartete Orbitale 40, 56, 78 entartete Punktgruppe 40 Enthärtung von Wasser 420 Entkeimung von Wasser 408, 420, 513

547 Entropie 122 Entstickung von Abgasen 344 Erdgas 233, 434 Erdöl (Rohöl) 434, 456 ERTL, G. 321 Erwärmungspotential von Gasen 130 ESCA (Spektroskopie) 133, 539 ESK-Verfahren zur Siliciumcarbid-Herstellung 306 ESR, siehe Elektronenspinresonanz EVONIK 250, 264 exergonisch 122 F Fällungskieselsäure 289 FARADAY-Konstante 488 Faujasit 292 FCKW 130, 410, 493 Feldspat 291 Fensterglas 296 FENTON-Reaktion 422 FERMI-Loch 95 FERMI-Niveau 240, 243 Ferrosilicium 282, 286 Fetthärtung 150 Feuerstein 285 FISCHER-TROPSCH-Synthese 258 Flammenhydrolyse 286 Fluor 6, 485 –, elementares 490 -isotope 485 –, Reaktivität 487 Fluorapatit 359 Fluorchlorkohlenwasserstoffe, siehe FCKW Fluoride 491 Fluoridierung von Trinkwasser 282 Fluorid-Ionen-Affinität (FIA) 376 Fluorid-Ionen-Akzeptoren 375, 530 fluorierte Kohlenwasserstoffe Fluorierungsmittel 328, 338, 427, 465, 469, 474, 478, 492, 510, 529 Fluorocarbonat 262 Fluoroschwefelsäure 469 Fluorosulfit 465 Flusssäure 164, 490 Flussspat 490 Formalladungen 80, 228 FRASCH-Verfahren zur Schwefel-Gewinnung 434

548 freie Elektronenpaare 26 freie Radikale 243, 319, 338, 425, 438, 472, 514 FREMY’s Salz 319 Fullerene 244 Fulleride 246 Furnaceruß-Verfahren 250 Fusionsreaktor 190 G Galliumarsenid 359, 368 Gasentladung 153, 210, 215, 220, 255, 279, 296, 310, 338, 406, 408 Gashydrate 178 Gaskonstante (R) 116 Gasphasenabscheidung, siehe CVD Gastmolekül 179 gauche-Konformation 324 GAUSS-Funktion 92 gemischtvalente Verbindungen 383, 384, 456, 468, 514 Geometrie von Molekülen 25, 30 gerade 53 Germabenzol 304 Germanate 294 Germane 278 Germanide 276 Germanium 267 –, elementares 273 -halogenide 281 -hydride 278 -isotope 267 -oxide 285 Germylene 268, 284 Gerüstsilicate 291 Gewitter 343 GIBBS-Energie 121, 163, 488 Gitterenergie 16 Gitterenthalpie 16 –, Tabelle 19 Gläser 294 Glasfasern 296 Glaskeramik 297 Glaskohlenstoff 240 Glasübergangstemperatur 295 Glaswolle 296 Gleichgewichtskernabstand 115 Glimmer 291 Graphen 239

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Graphit 239, 249, 251 –, anorganischer 231 Graphitoxid 249 Graphitverbindungen 251 Granat 291 Grauspießglanz 451 Grenzstrukturen 239, 263 GRIMM’s Hydridverschiebungssatz 161, 298 Gruppenelektronegativität 140, 540 Gruppenschwingungen 128 GTO 92 H HABER, F. 17 HABER-BOSCH-Verfahren zur AmmoniakHerstellung 310, 320 Halbleiter 200, 204, 243, 245, 248, 275, 295, 306, 368, 435, 443, 451, 486 Halogen-Austauschreaktionen 21, 282, 477, 492 Halogene 6, 485 –, physikalische Eigenschaften 485 Halogen-Azide 336 Halogen-Kationen 507 Halogenid-Ionen 13–15, 488, 502 Halogenwasserstoffe 503 HAMILTON-Operator 91 HAMMETT-Aciditätsfunktion 165 Harnstoff 229, 323 harmonischer Oszillator 126 harmonische Schwingungen 126 Härte von Atomen 109 harte Säuren und Basen 81 hartes Wasser 420 Hartree (Energieeinheit) 45 HARTREE-FOCK-Rechnungen 91, 96 Hauptsatz, zweiter, der Thermodynamik 21, 121, 163 HDE (Hochdruckextraktion) 258 HDS-Verfahren zur Rohöl-Entschwefelung 434 HEISENBERG, W. 9 HEISENBERG’s Unbestimmtheitsrelation 115 HEITLER, W. H. 41 Helium 525 –, Molekül-Ion 51, 116 –, physikalische Eigenschaften 110 Helium-3 246, 526 Herbizide 325

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Heteroborane 213, 215 Heterocyclen 222, 226, 227, 238, 381, 382, 459, 483 Heterofullerene 246 Hexafluorkieselsäure 282 Hexamethyltellur 479 Hinbindung 405 HITTORF ’s Phosphor 360 HMPA (Lösungsmittel) 374 Hochdruckmodifikationen von Elementen 112, 147 Hochtemperaturwerkstoffe 205 Holz 251 HOMO 56 Homolyse von Bindungen 123 homonukleare Moleküle 53, 120 Homocyclen 363, 367, 369, 437, 442, 444 HOOKE’s Gesetz 126 HOPG 240 Hostaflon 494 HPLC 289, 438 HÜCKEL, E. 400 HÜCKEL-Aromaten 73, 236, 367 HÜCKEL-Regel 446 HUND, F. 41 Hybridorbitale 59 Hydrate 157 Hydrationsenthalpien 20 hydratisierte Elektronen 335 Hydrazin 311, 318, 324, 338 Hydride 163, 185, 188 Hydrid-Ion 154, 186, 188 Hydridverschiebungssatz 161, 298 Hydrierungsmittel 189, 212, 258 Hydroborate 207, 211 Hydroborierung 214 Hydrodesulfurierung 434 Hydrogenasen 149 Hydrogenazid 326 Hydrogenchlorid 503 Hydrogencyanid 264, 322 Hydrogenfluorid 173, 490 –, dimeres 183 Hydrolysen 198, 271, 283, 325, 449 Hydronium-Ionen 154 Hydroperoxide 402 hydrophober Effekt 178 Hydrophosphorylierung 365 Hydrosilylierung 284

549 Hydrothermalsynthese 287 Hydroxid-Ion 220 Hydroxylamin 328 Hydroxylradikal 352, 410, 425 Hyperkonjugation 304, 316, 318, 356, 396, 428, 442, 476 hyperkoordinierte Verbindungen 83, 86, 479 Hyperoxide 415 hypervalente Verbindungen 83 Hypochlorige Säure 516 Hypodiborsäure 220 Hypofluorige Säure 427 Hyposalpetrige Säure 352 I Ikosaeder 39, 201 Imide 323 Iminoborane 227 Impfkristall 275 Induktionseffekt 107 induktiver Effekt 128, 140, 318, 377, 496, 540 Insektizide 386 Inselsilicate 291 Interhalogenverbindungen 509 Inversion, pyramidale 316, 364 Inversionszentrum 37 Iod 485 –, elementares 499 -isotope 485 -Kationen 507 –, Kristallstruktur 487 -oxide 512 -Sauerstoffsäuren 515 -Stärke-Komplex 502 Iodierung von Kochsalz 519 Iodometrie 470 Iodosobenzol 522 Ionenaustausch 420, 519 Ionenbindung 10 Ionenbindungsanteil 141 Ionengitter 10, 14 Ionen-Kovalenz-Resonanzenergie 135 Ionenpaar 22, 23 Ionenprodukt, von H2O 155 –, von NH3 159, 330 Ionenradien 14, 15 ionische Flüssigkeiten 20 Ionisierungsenergie 10 Ionisierungspotential 10

550 IPR (isolated pentagon rule) 245 isoelektronisch 63, 311, 327 Isomerisierung, von Carboranen 216 –, von Disilenen 302 Isosterie 63, 81, 228, 257, 311 Isotope 130, 151, 195, 233, 267 Isotopenaustausch 52, 152 Isotopeneffekt 152 Isotopomere 129, 151 ITER (Fusionsreaktor) 190 IUPAC 113 K Käfigverbindungen 179 Kalifeldspat 291 Kalkfeldspat 291 Kalkstein 233 Kalottenmodelle 111 Karat 242 Katalase 424 Katalyse 149, 150, 258, 299, 310, 320, 344, 421, 459 –, Ammoniaksynthese 319 –, OSTWALD-Verfahren zur NO-Herstellung 310 –, SO2-Oxidation 459 Kationenaustauscher 293, 420 KEL-F 494 Keramik 231 Kernabstand 116, 123 –, Tabellen 32, 33, 123, 125, 132 Kernit 195 Kernfusion 190 Kernladungszahl, effektive 11, 46 Kernreaktor 151, 152, 205 Kernresonanz, magnetische 153, 195, 213, 246, 289, 375, 378, 431 Kettenabbau-Reaktionen 447 Kettenaufbau-Reaktionen 447 Kettenreaktion 52, 153 Kieselalgen 287 Kieselerde 285 Kieselgel 283, 285, 287, 289 Kieselglas 285, 294 Kieselgur 285 Kieselsäuren 285, 287 Kieselsäureester 283, 297 Klimawandel 130 Knallgas 154

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Knochen (Zusammensetzung) 359 Knotenflächen von Orbitalen 46 Königswasser 340, 349 Kohle 249 Kohlefasern 240 Kohlenhydrate 400 Kohlensäuren 261 Kohlenstoff 233 –, elementarer 238 -halogenide 255 -isotope 233 -nanoröhren 246 -nitride 264 -oxide 256 -selenide 259 -sulfide 259 -telluride 260 -uhr 234 Kohlenwasserstoffe 258 Kohlevergasung 150 Koks 251 KOHN, W. 9 Komplexbildung mit Metallhalogeniden 22 Komproportionierung 507 Kondensationsreaktionen 223, 391, 447, 450 kondensierte Borate 224 kondensierte Phosphate 391 Konfigurationswechselwirkung 97 Kontaktverfahren zur SO3-Herstellung 458 Konturliniendiagramme der Elektronendichte 14, 23, 46, 57, 70 KOOPMAN’s Theorem 11, 59 Koordinationszahlen von Nichtmetallen 169, 186, 198, 234, 271, 315, 358, 412, 432, 489, 496 koordinative Bindungen 79, 196, 226, 298, 313, 356, 377, 405, 413 korrespondierende Säure 162 kovalente Bindungen 41 Kovalenzradien 111, 123 Kraftkonstanten, siehe Valenzkraftkonstanten Krebstherapie 205 Kreisprozesse, thermodynamische 17, 22, 163 Kristallradien 15 Kristallwasser 224 Kronenether 333 Kryolith 490

551

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Krypton 525 –, physikalische Eigenschaften 110 -Verbindungen 525, 535 Kupferglanz 431 Kupferkies 451 L Lachgas 341 Ladungskapazität 143, 197 Ladungsumverteilung in Molekülen 144 Lapislazuli 292 LAWESSON’s Reagenz 386 LCAO-Näherung 43 legierungsartige Hydride 190 LEWIS, G. N. 26, 81 LEWIS-Basen 81, 315, 356, 368 LEWIS-Säuren 81, 269, 282, 376, 377, 460 LH2 151 Lichtleiter 296 Linde AG 399 Linde A-Zeolith 292 Linearkombination von Atomorbitalen 43, 64, 237, 409 LIPSCOMB, W. N. 210 Lithium-Ionen-Batterie 252, 254 lokale Symmetrie von Molekülen 40 LONDON, F. W. 41 Löslichkeit von Salzen 20 Lösungsenthalpie 21 Lösungsentropie 21 Lösungsmittel, wasserähnliche 156, 329 Lösungsmitteleffekte 103 LOWRY, T. M. 160 Luft (Zusammensetzung) 399, 456, 526 LUMO 76 M Malathion 386 Malonsäure 259 MARSH’s Probe auf Arsen 364 Massenwirkungsgesetz 162 Matrix-Isolierung 23, 286, 308 Mehrfachbindung 89, 114, 236, 433 Mehrzentrenbindungen 83, 198, 202, 486, 506 Membran-Verfahren der Chlor-AlkaliElektrolyse 499 Mesitylrest 302 Mesomerie 114

Messing 491 Metallacarbaborane 217 Metallacyclen 286, 451 metallartige Hydride 190 Metallchalkogenide 451 Metallhydride 191 metallische Leitfähigkeit 147, 240, 246, 432 Metalloide 139 Metallselenide 451 Metallsulfide 451 Metaphosphate 391 Metasilicate 291 Metatellursäure 468 Methan 149, 257, 258, 260, 264, 322 –, Bindung in 77 -hydrat 179 –, Photoelektronenspektrum von 79 –, Vorkommen 233 Methanolsynthese 150 Mikrowellenspektroskopie 25 Mineralwässer, Rn-haltig 527 Mischungskoeffizient 44 mittlere Bindungsenthalpie 117, 119 Modellvorstellungen in der Chemie 7, 9 MO-Diagramme 48, 50, 55, 57, 62, 66, 67, 69, 72, 76, 78, 85, 89, 203, 505, 538, 541 Modifikationen von Elementen 147, 200, 238, 360, 436, 443 molekulare Erkennung 180 Molekularsiebe 293 Molekülgeometrie 25 Molekül-Ionen, homoatomare 42, 51, 56 Molekülorbitale 44, 91 Molekülsymmetrie 36 Møller-Plesset(MP)-Rechnungen 95 Monel (Legierung) 490 monotrope Modifikationen 200, 436, 439 Montmorillonit 291 MO-Theorie 41 MULLIKEN, R. S. 41, 400 MWNT (carbon nanotubes) 247 N n-Leitung 275 NaCl-Struktur 14 Nafion 494 Nanoröhren 231, 246 Narkosemittel 341, 495, 527 Nassphosphorsäure 388

552 Natrid-Ionen 333 Natrium-Schwefel-Akkumulator 453 negative Hyperkonjugation 316, 318, 320, 539 Neon 525 –, physikalische Eigenschaften 110 Neoteben 325 Neutralpunkt 155 Neutronenabsorber 205 Neutronentherapie 205 nichtbindende Elektronenpaare 26, 32 nichtexistierende Edelgasverbindungen 540 nichtoxidische Keramik 231, 305 Nichtmetalle, Definition 147 niedere Schwefeloxide 456, 461 Nitrate 350 Nitren 326 Nitride 323 Nitridierung von Silicium 307 Nitridoborate 231 Nitridophosphate 394 Nitridosilicate 298 Nitriersäure 167 Nitrierung von Aromaten 219, 347 Nitrite 351 Nitrogenasen 311 Nitronium-Ion 167, 219, 315, 345, 347 Nitrosylhalogenide 339 Nitrosyl-Ion 315, 340, 343 Nitrylhalogenide 339 NMR-Spektroskopie, siehe Kernresonanz Nobelpreise 5, 6, 9, 105, 152, 210, 235, 244, 321, 344, 410, 483 Normierungsfaktor 44 Nukleophile, siehe LEWIS-Basen nukleophiler Angriff 271, 388, 408, 447 nukleophile Substitution 281, 395, 447 Nullpunktsenergie 115 –, von Kristallen 17 –, von Molekülen 115, 130 Nylon 329 O Oberflächenverbindungen 248 Oktaeder 39 Oktett-Konfiguration 27 OLAH, G. A. 235 Oleum 459, 466 Oligomere von H2O 176, 184

Sachregister

Olivin 291 Opal 285 open-shell-Konfiguration 319 Orbital 42 Orbitalenergie 12, 45, 49, 55, 93, 139 Orbitalkontraktion 46, 50 Organoborane 214 Organofluorverbindungen 485, 493 Organophosphane 368 Organopolysulfane 455 Organosilane 299 Organosiloxane 304 Organotellurverbindungen 479 Orthoborsäure 222 orthogonale Orbitale 53 Orthokieselsäure 287 Orthoklas 291 Orthonitrate 350 Orthophosphate 388 Orthophosphorsäure 359, 387 Orthoselenate 467 Orthosilicate 291 Orthotellursäure 468 ortho-Wasserstoff 293 OSTWALD-Verfahren zur NO-Herstellung 310, 322 Oxidationsmittel 254, 327, 337, 339, 346, 349, 407, 408, 414, 423, 424, 460, 477, 491, 522 Oxidationsstufen 317, 341, 358, 432, 462, 473, 516 oxidative Addition 186, 374, 475 Oxide 411 Oxidgläser 295 Oxone 424, 469 Oxonium-Ionen 154, 157 Oxoniumsalze 157 Oxoliquit (Sprengstoff) 400 Oxophilie 278, 386 Oxosynthese von Alkoholen aus CO 150 Ozon 346, 407 Ozonide 382, 402, 416 Ozonloch 410 Ozonschicht 409 P π-Bindungen 53, 196, 228, 236, 272, 313, 315, 349, 370, 413, 446, 482 π*-π*-Bindungen 342, 400, 417, 507

Sachregister

p-Leitung 242, 275, 443 Packungseffekte in Kristallen 26 PAH 250 PAN 346 Parathion 386 Partialladungen 80, 141, 228 para-Wasserstoff 293 Passivierung 276, 349, 491 PAULI, W. 9 PAULING, L. 41, 134 PAULI-Prinzip 12, 27, 95 PAULI-Verbot, siehe PAULI-Prinzip Pentazolring 319 Perchlorsäure 354, 517 Perlon 329 Pernitride 326 Peroxide 225, 414, 421 Peroxoborat 225, 424 Peroxocarbonate 265 Peroxophosphorsäuren 392 Peroxosalpetersäure 350, 352 Peroxosalpetrige Säure 352 Peroxoschwefelsäuren 468 Perxenate 532 PES 101 Phasendiagramme 175, 241, 436 Phosphaalkene 370 Phosphaalkine 371 Phosphabenzol 357 Phosphane 363 Phosphanide 373 Phosphazene 394 Phosphide 366 Phosphinate 390 Phosphinsäure 387, 390 Phosphite 390 Phosphol 371 Phosphonsäure 381, 387, 390 Phosphor 5, 75, 355 –, elementarer 359 -halogenide 371 -hydride 363 -isotope 358 -modifikationen 361 -nitrid 394 -oxide 381 -oxidhalogenide 128, 373 -säuren 359, 387 -säureester 383, 389

553 -sulfide 373, 385 -ylide 357 Phosphorane 379 Phosphorigsäure 388 Phosphorit 388 Photoelektronen-Spektroskopie 59, 141, 539 Photohalbleiter 443 Photosynthese 259, 399 Photovoltaik 274 pH-Wert 155 Phyllosilikate 291 piezoelektrischer Effekt 288 pK-Wert 162 PLANCK’s Konstante (h) 115 Pnictide 355 polare Lösungsmittel 20 Polarisation von Anionen 22 Polarisation von Orbitalen 47, 94 Polarisierbarkeit 109 Polarität kovalenter Bindungen 118, 133, 140, 143 Polarisationsfunktion 47, 94 Polonium 431, 443 Polyamid (Nylon, Perlon) 329 Polyanionen 223 Polyborate 222 Polychalkogenide 451 Polyeder 39, 213 Polyethylen 236, 272 Polyhalogenid-Ionen 504 Polyine 265 Polyiodide 504, 506 Polykondensation 304 Polymerisation 236, 272, 304, 305, 397, 494 Polymerschwefel 439 Polyphosphate 391 Polyphosphorsäuren 382, 390 Polyschwefeloxide 462 Polyschwefelsäuren 459, 466 Polyselenide 452 Polysilylene 300 Polysulfane 449 Polysulfate 467 Polysulfide 452 Polytelluride 452 Polythionsäuren 470 Polytetrafluorethylen, siehe PTFE POPLE, J. 9 Potentialkurven 114, 131, 182, 273

554 Promolekül 144 Promotionsenergie 243 Proton 154 Protonenakzeptor 161 Protonenaffinitäten 183, 356, 537 Protonendonor 156, 161 Protonendonorstärke 165 Protonenleitfähigkeit 156 Protonensäuren 157 Protonenschwämme 180 Pseudohalogene 523 Pseudoheterocyclen 8, 219, 230, 397 Pseudorotation 270, 374, 381, 474 Pseudosubstituenten 30 PTFE (Polytetrafluorethylen) 493 Pulsradiolyse 335 Punktgruppen von Molekülen 36 Punktgruppensymbole 39 Punktsymmetrie 37 pyramidale Inversion 316, 364 Pyridin 315, 460, 509 Pyrit 431, 451 pyrogene Kieselsäure 286 Pyrolysen 200, 240, 248, 274 Pyrosulfit 465 Q Quadrupolmoment 107 quantenchemische Rechnungen 90 Quarz 285, 413 Quarzglas 285, 294–296 Quarzgut 296 R Racemisierung 316 Radikal-Anionen 415, 416, 454, 472 Radikal-Kationen 417, 509, 526, 530, 537 Radon 525 -Verbindungen 526 Ramanspektren 313 RASCHIG-Verfahren zur Hydrazin-Herstellung 324 rauchende Schwefelsäure 459, 466 Rauchgasentschwefelung 456 Reaktionsentropie 122 Realgar 359 Reduktionsmittel 189, 201, 209, 212, 254, 257, 278, 300, 324, 329, 334, 390, 457, 471 Reduktionspotential von Halogeniden 488

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reduktive Eliminierung 186, 374 Reinelemente 358, 483 Resonanz zwischen Grenzstrukturen 114 Resonanzenergie 135 Resonanzintegral 49 Ringöffnung 123, 305, 447, 476 ROCHOW-Synthese zur Me2SiCl2-Herstellung 299 Rohsulfan 450 Röntgenstrukturanalyse 25 ROP 305 Rückbindung 313, 405 Ruß 249 Rußöl 250 S

σ-Konjugation 300 σ-Orbitale 46, 53

Salpeter 309 Salpetersäure 310, 322, 348 Salpetrige Säure 351 salzartige Hydride 188 Salze, in Wasser 177 Salzsäure 164, 503, 504 Salzschmelzen als Lösungsmittel 279 Sandwich-Komplexe 217 Sassolin 221 Sauergas 233, 434 Sauerstoff 5, 399 –, atomarer 406 -fluoride 417, 426 -hydride 419 -isotope 399 –, Molekülgröße 121, 400, 407 –, Singulett-Form 400 Sauerstoffsäuren in Wasser 164 Säureanhydride 223, 257, 259, 346, 381, 515 Säurehalogenide 219, 258, 339 Säurekonstante 162 Säuren 156 –, wasserfreie 159 saure Salze 174 saurer Regen 346, 457 Säurestärke 162 SCF-Methode 101 Schichtsilicate 29 Schießpulver 455 SCHLESINGER-Verfahren 212 Schrägbeziehung 195

Sachregister

SCHRÖDINGER, E. 9 SCHRÖDINGER-Gleichung 44, 91 Schwarzpulver 455 Schwefel 6, 431 –, dampf 122, 439 –, elementarer 121, 434 -dioxid 130, 456 -halogenide 472, 476 -hexafluorid 85, 473 -hydride 448 -kationen 444 -isotope 431 -oxide 451, 455 -oxidhalogenide 21, 472, 477 -säuren 462, 466 -schmelze 438 -Stickstoff-Verbindungen 480 -trioxid 89, 459 -wasserstoff 434, 448 Schweflige Säure 462 Schwerspat 431 Schwingungsfrequenzen von Molekülen 115, 126, 172 Schwingungsspektroskopie 126 selbstkonsistentes Feld (SCF) 101 Selen 431 –, elementares 435, 443 –, rotes 444 -halogenide 472, 478 -hydride 448 -isotope 431 -Kationen 444 -ocarbonat 263 -oxide 455, 458, 461 -säure 467 -wasserstoff 448 Selenide 451 Selenige Säure 465 Selenocystein 449 side-on-Koordination 187, 312, 405 SIEMENS-Ozonisator 408 SIEMENS SOLAR 274 Silabenzol 238, 302 Silane 278 Silanide 280 Silanole 288 Silasesquioxane 289 Silazane 283 Silicate 289

555 Silicide 276 Silicium 267 –, Ätzen von 281 –, elementares 273 -carbid 305 -halogenide 277, 280, 281 -hydride 278 -isotope 267 -nitrid 306 -oxide 285 -oxosäuren 285, 287 -Stickstoff-Verbindungen 298, 306 -sulfide 307 Silit 306 Silikone 304 Siloxane 287, 304 Silylamine 298 Silylene 268, 279, 283, 302, 498 Singulett-Disauerstoff 400–402 Singulett-Zustand 56, 406 SLATER-Funktionen 92 SLATER-Regeln 11 Soda 262 Sodalith 292 Sol-Gel-Verfahren 297 Solvatation von Ionen 20, 154, 177 Solvatationsenthalpie 20 solvatisierte Elektronen 331 SOLVAY-Verfahren zur Sodaherstellung 262 Solvobasen 160 Solvosäuren 157 Sommersmog 411 SOMO 342 spektroskopische Elektronegativität 139 Spherosiloxane 288 Spiegelebene bei Molekülen 37 Spin von Elektronen 48 Spinerhaltungssatz 401 Spinmultiplizität 406 spinverbotene Reaktion 401 Spodumen 291 Steam-Reforming-Verfahren 149 Steinsalz-Struktur 14 Steinschutzstoffe 305 sterische Wechselwirkung 36, 197 Stickstoff 5, 309 –, elementarer 309 -Fixierung 311 -halogenide 336

556 Stickstoff -hydride 320 -isotope 309 -oxide 319, 340 -oxidhalogenide 339 -sauerstoffsäuren 348 -wasserstoffsäure 326 Stishovit 285 STO 92 STOCK, A. 209 Stoßpartner 153 Strahlentherapie von Tumoren 205 Stratosphäre 409 Strukturbestimmung von Molekülen 25 Strukturbildung in Wasser 177 Strukturwasser 224 Substituentenaustausch 214, 219 subvalente Verbindungen 217, 497 Süd-Chemie AG 150 Sulfaminsäure 460 Sulfane 449 Sulfandisulfonsäuren 470 Sulfanoxide 465 Sulfat-Ion, Bindung 89 Sulfide 451 Sulfit-Ion 464 Sulfolan 493 Sulfonat-Ion 464 Sulfonierung 469 Sulfurylhalogenide 477 Supermesityl-Rest 370 Superoxide 415 Superoxid-Dismutase 416 Superphosphat 389 Supersäuren 159, 166 Supraleitung 147, 204, 246, 254, 360, 433, 483 supramolekulare Komplexe 180 supramolekulare Verbindungen 288 SWNT (nanotubes) 247 Symmetrieelemente 37 Symmetrieoperationen 36 symmetrieverbotene Reaktionen 52, 343 Symmetriezentrum 37 Synthesegas (Syngas) 150 T Tautomerie 464 Teflon 494

Sachregister

Teilbindungen 481, 486, 530 Tektosilicate 291 Tellur 431 –, elementares 435 -halogenide 472, 478 -hydride 448 -isotope 431 -Kationen 444 -oxide 455, 458, 461 -oxosäuren 461, 465, 467 -wasserstoff 448 Tellurige Säure 465 Tellurit 458 Tellurite 466 Template 293 Termsymbole 50, 406 Tetraeder 39 Tetrafluorborsäure 218 Tetrahedrane 220 Tetramethylsilan, siehe TMS Tetrathionat 470 Tetrazan 318 Tetrazen 319, 328 thermische Phosphorsäure 388 Thioarsenate 393 Thioborate 226 Thiocarbonate 260, 263 Thiocyanate 260 Thiolyse 393 Thionylhalogenide 21, 477 Thiophosphorsäuren 385, 392 Thioschwefelsäure 463, 470 Thiosulfat-Ion 447, 465, 470 Thortveitit 291 Tinkal 224 Titanosilicate 294 TMS (Tetramethylsilan) 173, 300 Tone 291 Torsionspotential 220, 272, 324, 423 totalsymmetrisch 69 Transformationstemperatur 295 Treibhauseffekt 130 Treibhausgase 130, 341 Triazan 318 Tridymit 285 Trinkwasser-Aufbereitung 408 Tripelphosphat 389 Triplett-Zustand 56, 406 Trisulfanoxid 465

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Sachregister

Tritium 151, 190 Trockeneis 258 Trockenmittel für Gase und Lösungsmittel 189, 293, 383 Troposphäre 410, 425 Tunneleffekt bei NH3 316 Turmalin 225 U überkritische Lösungsmittel 176, 420 Überlappung von Orbitalen 43, 53, 54 Überlappungsintegral 44, 53 Ultramarine 291 Ultraphosphate 391 Umrechnungsfaktoren für Energie 45, 101 Umwelt-Verschmutzung 346 Unschärferelation 115 UPS (Spektroskopie) 60 Urease 323 V Valenzbindungs-Theorie 41 Valenzkraftkonstanten 115, 126, 131, 409, 505, 508, 518 Valenzschwingung 115 Valenzwinkel von Molekülen (Tab.) 31–34, 269 VAN DER WAALS, J. 105 VAN DER WAALS-Moleküle 112 VAN DER WAALS-Radien 110 VAN DER WAALS-Wechselwirkung 105 –, in Salzen 16 VB-Theorie 41 verbotene Zone von Halbleitern 243 Verbundwerkstoffe 200, 241, 248 verzweigte Wasserstoffbrücken-Bindungen 169, 177 Vinylchlorid 503 virtuelle Orbitale 48 Viskose 260 Viton 494 vorgelagertes Gleichgewicht 342 VSEPR-Methode zur Strukturermittlung 26 Vulkanisation von Gummi 300 W WACKER CHEMIE 230, 274 Wafer 275 Waschmittel 293, 421

Wasser 176, 419 -Aufbereitung 408, 419 –, Phasendiagramm 175 –, schweres 152 –, überkritisches 176 wasserähnliche Lösungsmittel 156, 329, 457 Wasserdampf 177 wasserfreie Schwefelsäure als Lösungsmittel 159, 165, 166 Wassergas 150 Wasserglas 289 Wasserhärte 420 Wasseroxidase 399 Wasserstoff 3, 149 –, atomarer 153 -isotope 151, 293 –, ortho- 293 –, para- 293 –, physikalische Eigenschaften 152 –, Verwendung 150 Wasserstoffbrücken-Bindung 155, 158, 167, 222 –, allgemeine Eigenschaften 169 –, Nachweis von 170 –, Theorie der 182 Wasserstoffhalogenide 163, 503 Wasserstoff-Ionen 154, 156 Wasserstoff-Komplexe 186 Wasserstoffperoxid 421 Wasserstoffspeicher 191, 227 Wasserstofftechnologie 151 Wechselwirkungskraftkonstante 129 weiche Atome 109 weiche Säuren und Basen 81 Wellenfunktion 91 Wellenzahl 127 WELLMANN-LORD-Verfahren zur Rauchgasentschwefelung 457 Wollastonit 291 X Xenon 7, 525 –, Elektronegativität 536 –, physikalische Eigenschaften 110 -difluorid, Kristallstruktur 107 -fluoride 528 -hydride 540 -isotope 526 -NMR-Spektroskopie 526, 535

558 Xenon -oxide 531 -oxidfluoride 532 -oxosalze 531 -Verbindungen 527 Xerogel 297 XPS (Spektroskopie) 60, 133, 539 Xylylrest 302 Y Ylide 357 Ypsilon-Aromatizität 73 Z Zähligkeit von Drehachsen 37 Z/E-Isomerie 302, 338, 370

Sachregister

Zeolithe 292 Zeppeline 153 ZINTL-Ionen 277, 334 Zinkblende 431 Zinnober 431 Zonenschmelzen 275 ZPE (zero point energy) 130 ZUNDEL-Komplex 154 Zustandsdichte 240, 243 zweiatomige Gruppen, Valenzschwingung von 128 zweiter Hauptsatz der Thermodynamik, siehe Hauptsatz zweite Ionisierungsenergie 12 Zweizentrenorbitale 42 Zwitterion 460