Sprache und ihre Struktur: Grundbegriffe der Linguistik [2nd rev. and enl. Edition] 9783110947007, 9783484220096

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Sprache und ihre Struktur: Grundbegriffe der Linguistik [2nd rev. and enl. Edition]
 9783110947007, 9783484220096

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Übersetzer
Vorwort
I. Grundkonzepte
1. Statt einer Einleitung
2. Ein erster Blick auf die Sprache
3. Sprachliche Vielfalt
II. Die Sprachstruktur
4. Der Aufbau der Grammatik
5. Syntaktische Systeme
6. Phonologische Systeme
III Sprachverwandtschaft
7. Sprachwandel
8. Genetische Sprachverwandtschaft
9. Die Universalität des Sprachbaus
Auswahlbibliographie
Sachregister

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner und Peter von Matt

R o n a l d W. L a n g a c k e r

Sprache und ihre Struktur

2., durchgesehene und erweiterte Auflage Übersetzt von Gerd Fritz und Wolfgang Klinke

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976

Kapitel 1, 3, 4, 6 - 8 wurden von Gerd Fritz, Kapitel 2, 5, 9 und die Arbeits- und Diskussionsvorschläge von Wolfgang Klinke übersetzt. 1. Auflage 1971

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Langacker, Ronald W. Sprache und ihre Struktur. - 2., durchges. u. erw. Aufl. Tübingen : Niemeyer, 1976. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 10) Einheitssacht.: Language and its structure (dt.). ISBN 3-484-22009-0

ISBN 3-484-22009-0 Die amerikanische Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel „Language and Its Structure. Some Fundamental Linguistic Concepts". 2. Auflage 1973 © für die amerikanische Ausgabe: Harcourt Brace Jovanovich, Inc. 1967, 1968, 1973 © für die deutsche Ausgabe: Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Satz: Rothfuchs Dettenhausen Einband von Heinr. Koch Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Übersetzer Vorwort

VII IX

I Grundkonzepte

1

1. Statt einer Einleitung Warum es wichtig ist, die Sprache zu verstehen Linguistik Arbeits- und Diskussionsvorschläge

3 3 5 7

2. Ein erster Blick auf die Sprache Spracherwerb Der Ursprung der Sprache und die Gattung Mensch Laut und Bedeutung Sprachliche Teilsysteme Grammatikalität Sprache und Denken Arbeits- und Diskussionsvorschläge

9 9 13 20 25 29 34 39

3. Sprachliche Vielfalt Sprachen und Dialekte Vereinheitlichende Kräfte Arbeits- und Diskussionsvorschläge

44 44 53 56

II Die Sprachstruktur

59

4. Der Aufbau der Grammatik Einfache lexikalische Einheiten Komplexe lexikalische Einheiten Phonologische, semantische und syntaktische Repräsentation Die Bedeutung und ihre Realisierung Sprachliche und psychische Beschränkungen Arbeits-und Diskussionsvorschläge

61 61 68 74 77 87 91 V

5. Syntaktische Systeme Oberflächenstrukturen Komplexe Sätze Die Beziehung zwischen Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur Syntaktische Regeln Ableitungen Arbeits- und Diskussionsvorschläge

95 95 101 118 124 134 141

6. Phonologische Systeme Artikulatorische Phonetik Distinktive Unterschiede Phonologische Regeln Morphologie Arbeits- und Diskussionsvorschläge

145 145 156 162 173 178

III Sprachverwandtschaft

183

7. Sprachwandel Entlehnung Innerer Wandel Sprachwandel und Spracherwerb Nochmals: Dialekte Arbeits- und Diskussionsvorschläge

185 185 191 201 206 211

8. Genetische Sprachverwandtschaft Stammbäume Die komparative Methode Interpretation des Lautwandels Die indoeuropäische Sprachfamilie Arbeits- und Diskussionsvorschläge

215 215 223 236 241 245

9. Die Universalität des Sprachbaus Zum Wesen des Spracherwerbs Sprachliche Universalien Schluß Arbeits- und Diskussionsvorschläge

248 248 256 267 269

Auswahlbibliographie

273

Sachregister

280

VI

Vorwort der Übersetzer

In der 2. Auflage dieses Buches sind vom Autor an vielen Stellen des Textes kleinere Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen worden. Grundlegend umgearbeitet ist der Abschnitt über syntaktische Systeme, in dem weitere Ergebnisse der neueren Syntax-Diskussion berücksichtigt wurden. Für den Gebrauch als Übungsbuch sind zwei Ergänzungen besonders nützlich: zum einen wurde die Auswahlbibliographie systematisch angelegt und stark erweitert; zum anderen sind zu den einzelnen Kapiteln jetzt „Arbeits- und Diskussionsvorschläge" hinzugetreten, die der Erweiterung und Vertiefung des gebotenen Stoffes dienen sollen. Der in der Übersetzung der 1. Auflage geübten Praxis folgend, wurde das sprachliche Beispielmaterial soweit wie eben möglich aufs Deutsche umgestellt. Wo allerdings sprachliche Erscheinungen diskutiert werden, die keine oder nur eine unvollkommene Entsprechung im Deutschen haben, wurden die Beispiele in der Originalsprache belassen. (In diesen Fällen bietet sich natürlich bei der Lektüre eine kontrastive Betrachtung an.) Mit dem Beispielmaterial in den neu hinzugekommenen ,,Arbeitsund Diskussionsvorschlägen" wurde entsprechend verfahren. In der Auswahlbibliographie wurden, soweit vorhanden, deutsche Übersetzungen der Originaltitel angegeben. Zusätzlich wurden einige Titel aufgenommen, die gerade fur den deutschen Leser leicht zugänglich sind. In der 1. Auflage der deutschen Ausgabe wurde — im Einvernehmen mit dem Autor — der Text an einigen Stellen geringfügig gekürzt. Diese kleineren Straffungen wurden auch in die vorliegende 2. Auflage übernommen. Im einzelnen handelt es sich im ersten Teil vor allem um die Abschnitte "A Thumbnail History of Language Study" (S. 6 — 10 der 2. Aufl. des Originals) und "Writing" (S. 59 — 66 des Originals); im dritten Teil um die Abschnitte über die nicht-indoeuropäischen Sprachfamilien (S. 230 — 235 des Originals). Es geht darin um Inhalte, die dem deutschen Leser ohnehin andernorts leicht zugänglich sind. Gerd Fritz Wolfgang Klinke VII

Vorwort

Über die lebhafte Aufnahme, die die erste Auflage von „Sprache und ihre Struktur" gefunden hat, war ich sehr erfreut. Bei der Vorbereitung der zweiten Auflage habe ich mich bemüht, notwendig gewordene Änderungen und Ergänzungen vorzunehmen, ohne den Grundcharakter des Buches zu verändern. Die augenfälligste Ergänzung stellen die Arbeits- und Diskussionsvorschläge dar, die den einzelnen Kapiteln angefügt wurden. Es sind dies nicht einfach Fragen zur Überprüfung des Textverständnisses — solche Fragen kann jeder Lehrende ohne weiteres selbst formulieren. Die Arbeits- und Diskussionsvorschläge sind vielmehr als Anreiz zu eigenen Überlegungen des Lesers gedacht; sie sollen weiterführende Lektüre und eigene Untersuchungen zur Ergänzung des dargebotenen Stoffes anregen. Ferner bieten sie Beispielmaterial fur die linguistische Analyse an. Die am Text selbst vorgenommenen Änderungen sind vergleichsweise unbedeutender Natur. Kapitel 5 wurde jedoch nahezu völlig neu geschrieben; in Kapitel 2 und Kapitel 9 wurden umfassende Änderungen vorgenommen. Teil I hat einleitenden Charakter. In Kapitel 1 wird ausgeführt, inwiefern die Sprache ein lohnender Untersuchungsgegenstand ist. Kapitel 2, in dem eine Anzahl verschiedener Aspekte berührt wird, bereitet die ausfuhrlichere Behandlnng der Sprachstruktur in Teil II vor. Kapitel 3 ist der Dialektgeographie und dem Fragenkreis Sprache und Gesellschaft gewidmet. Teil II bietet eine synchronische (nicht-historische) Untersuchung der Sprachstruktur. In Kapitel 4 werden die lexikalischen Einheiten besprochen sowie die Art und Weise, wie die Komponenten einer Sprache aufgebaut sind, um Bedeutungen und Lautfolgen einander zuzuordnen. Die Kapitel 5 und 6 sind der Syntax und der Phonologie gewidmet. Teil III beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Sprachsystemen. In Kapitel 7 werden die historischen Beziehungen zwischen früheren und späteren Stufen einer einzelnen Sprache behandelt, Kapitel 8

IX

befaßt sich mit Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen, während Kapitel 9 den Aspekt untersucht, unter dem alle Sprachen als verwandt angesprochen werden können, nämlich ihre erstaunlich weitgehende strukturelle Ähnlichkeit. Die Zahl derer, die auf die eine oder andere Art zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben, ist mittlerweile zu groß geworden, als daß ich sie hier einzeln nennen könnte. Für vielfältige Auskünfte, flir ihre Kritik, ihren Rat, für Korrekturen, Schreib- und Editionsarbeiten, für das Erstellen des Registers und für ihre Ermutigungen sage ich ihnen allen meinen Dank. R. W. L.

X

I Grundkonzepte

1. Statt einer Einleitung

Warum es wichtig ist, die Sprache zu verstehen Sprache ist überall. Sie durchdringt unsere Gedanken, vermittelt unsere Beziehungen zu anderen und schleicht sich sogar in unsere Träume ein. Menschliches Wissen und menschliche Kultur werden zum größten Teil in sprachlicher Form gespeichert und überliefert. Die Sprache ist so allgegenwärtig, daß sie uns selbstverständlich ist, aber ohne sie wäre die menschliche Gesellschaft, wie wir sie kennen, unmöglich. Trotz ihrer Bedeutung fur das menschliche Leben kennt man die Sprache nur ungenügend. Auch unter gebildeten Leuten gibt es tau sende von falschen Vorstellungen über die Sprache, und nicht einmal Linguisten von Beruf können den Anspruch erheben, sie völlig zu verstehen. Es wäre ein absoluter Irrtum, anzunehmen, daß das Wesen der Sprache offen zu Tage liege und daß wir alles über eine Sprache wissen, weil wir sie sprechen. Andererseits gelangen aber die Linguisten und andere Forscher Schritt für Schritt zu einem besseren Verständnis dieses bemerkenswerten Werkzeugs menschlicher Kommunikation. Der Zweck dieses Buches ist es, einen wichtigen Teil dessen, was wir von der Sprache wissen, fur diejenigen zusammenzufassen, die wenig oder keine Vorbildung in Linguistik besitzen. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum es sich lohnt, sich ein angemessenes Verständnis der Sprache zu erwerben. Erstens spielt bei vielen aktuellen Problemen die Sprache eine wesentliche Rolle. Bis zu welchem Grad sind Sprachunterschiede Verständnisbarrieren? Ist eine Universalsprache praktikabel oder wünschenswert? Ist eine Rechtschreibreform notwendig? Wie soll den Kindern das Lesen beigebracht werden? Sollten sich Wörterbuchautoren dem allgemeinen Gebrauch beugen? Lohnt sich für die Regierung einer vielsprachigen Nation (wie etwa Indiens) der Versuch, allen Sprechern eine Sprache als offizielle Nationalsprache aufzuzwingen? Und wenn, welche? In welcher Altersstufe sollten in unseren Schulen Fremdsprachen gelehrt werden? In welchem Maß werden 3

Sprecher aus Minoritäten oder aus der Unterschicht durch ihre Sprache am sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg gehindert? Wir können hier keine Antworten auf diese außerordentlich schwierigen Fragen bereitstellen, aber wer eine gültige Antwort auf diese Fragen sucht, sollte sich nicht ohne ein Mindestmaß an Verständnis der Sprache auf den Weg machen. Zweitens sind Erkenntnisse über die Sprache von ungeheurer geistiger Bedeutung und sind direkt oder indirekt relevant für andere Disziplinen. Es spielt eine große Rolle für unser Menschenbild, zu wissen, ob die Sprache etwas Angelerntes oder etwas weitgehend Angeborenes ist. Anders gesagt: Die Sprache könnte einer der Testfälle sein, an denen sich der alte Streit zwischen Rationalisten und Empiristen entscheiden ließe. Die Rationalisten behaupten, daß die Menschen schon mit angeborenen Ideen zur Welt kommen und daß ein großer Teil der psychischen Organisation schon im Organismus angelegt ist. Dagegen behaupten die Empiristen, daß der Mensch psychologisch gesprochen als tabula rasa zur Welt kommt und daß die psychische Organisation fast völlig durch die Erfahrung bestimmt ist und nicht vererbt wird. Sowohl Rationalisten als auch Empiristen haben sich der Sprache zugewandt, um darin Beweise fur ihre jeweiligen Ansichten über diese wichtige Frage zu finden. Dieses Gebiet werden wir in Kapitel 9 ausfuhrlicher behandeln. Auch die Philosophen interessieren sich für die Sprache, und zwar als Instrument der philosophischen Analyse. Eignen sich natürliche Sprachen als Mittel philosophischer Untersuchung und Theorie? Kann man philosophische Irrtümer auf den falschen Gebrauch der Sprache zurückführen? Welche Beziehung besteht zwischen Sprache und Logik? Die Sprache ist auch für die Psychologie in verschiedener Hinsicht relevant. Man kann sogar die Untersuchung der Sprache als ein Teilgebiet der Psychologie ansehen, da die Sprache ja weitgehend ein geistiges Phänomen ist. Jede adäquate Theorie der menschlichen Psyche muß Aussagen über den Denkvorgang machen; dabei ist die Sprache von entscheidender Bedeutung, weil ein großer Teil unserer Gedanken sprachliche Form annimmt. Die Beziehung zwischen Sprache und Begriffsbüdung ist von großem Interesse für die Psychologen, weü es für viele, ja die meisten unserer Begriffe in irgendeiner Form sprachliche Etiketten gibt. Die Sprache ist auch ein wichtiger Prüfstein für Theorien über den psychischen Aufbau des Menschen. Sprachen sind hochgradig strukturiert, und wir sind in der Lage, ihre Strukturen recht detailliert zu identifizieren und zu beschreiben. Deshalb muß jede Theorie über den psychischen Aufbau den Strukturen Rechnung tragen, die wir als charakteristisch für menschliche Sprachen erkannt haben. 4

Die Konzepte und Techniken der linguistischen Analyse haben bis zu einem gewissen Grad auch die anderen Sozialwissenschaften beeinflußt, das gilt vor allem für die Anthropologie. Da die Strukturierung der Sprache klarer zu Tage tritt als dies bei anderen sozialen Phänomenen der Fall ist, ζ. B. bei Glaubenssystemen oder Geflechten sozialer Organisation, können Sozialwissenschaftler, die sich für diese anderen Bereiche interessieren, in Arbeiten zur Analyse der Sprache wertvolle Hinweise finden. D r i t t e n s ist eine Einführung in das Wesen der Sprache für denjenigen von Bedeutung, der sich für die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der Ergebnisse linguistischer Forschung interessiert. Grundeinsichten über die Sprache sind zweifellos für jeden wertvoll, der eine Sprache lernt oder lehrt (selbst die Muttersprache des Lernenden oder Lehrenden). Eine genaue maschinelle Übersetzung, wenn sie überhaupt erreicht werden kann, läßt sich kaum programmieren, wenn der Programmierer nicht ein recht eingehendes Verständnis der Sprache besitzt. Anthropologen müssen die Sprache eines Volkes kennen, um seine Kultur mit Erfolg erforschen zu können. Missionsarbeit in unzivilisierten Gegenden setzt einige praktische und theoretische Kenntnisse über Sprache voraus. Die Sprache der Eingeborenen muß schnell und gut gelernt werden, und man benötigt ein beträchtliches Wissen über die Sprache, um ein passendes Schriftsystem für die Eingeborenensprache zu entwerfen und zu lehren. V i e r t e n s ist ein klares und kritisches Verständnis der Sprache schon deshalb wertvoll, weü nur der als gebildet gelten kann, der eine klare Vorstellung von dem Instrument hat, mit dem ihm der größte Teü seiner Ausbildung übermittelt wird. Da die Sprache praktisch alle menschlichen Verhältnisse durchdringt und für viele von entscheidender Bedeutung ist, kann man das Verständnis der Sprache kaum als nebensächlich auffassen. Eine andere Rechtfertigung benötigt eine Einführung in die Sprache eigentlich nicht. Wer sich selbst kennen und verstehen will, muß bis zu einem gewissen Grad die Eigenart des Sprachsystems kennen, das eine so wichtige Rolle in seinem geistigen und sozialen Leben spielt.

Linguistik Die Linguistik ist die Wissenschaft von der menschlichen Sprache. Ein Linguist, der sich für eine bestimmte Sprache interessiert, versucht, sie in ihre Teüe zu zerlegen, genau wie ein Mechaniker, der vielleicht aus rei5

ner Neugierde einen ihm noch unbekannten Motor auseinandernimmt. Ein Mechaniker, der einen Motor auseinandergenommen hat, wird ihn wahrscheinlich wieder zusammenbauen; da ein Linguist die Sprache nur im übertragenen Sinne „auseinandernimmt", ist seine nächste Aufgabe nicht das Zusammenbauen, sondern die Beschreibung. Eine linguistische Beschreibung einer Sprache bezeichnet man als die Gramm atik dieser Sprache. Eine Grammatik ist demnach eine Menge von Aussagen, die angeben, wie eine Sprache funktioniert. Dazu gehört ζ. B. eine Beschreibung der Prinzipien, nach denen Wörter zu grammatischen Sätzen zusammengefugt werden. Die linguistische Beschreibung von Sprachen wird oftmals ohne die Absicht praktischer Anwendung in Angriff genommen. Die deskriptive Linguistik ist insofern der theoretischen Naturwissenschaft verwandt. Ein Physiker wird oft einen Aspekt der Außenwelt untersuchen, der ihn interessiert, ohne daß er dabei die geringste Absicht hat, die Ergebnisse seiner Forschungen praktisch anzuwenden; er untersucht das Phänomen, weil es ihn fasziniert, weil er das Wissen der Menschen erweitern möchte. Entsprechend interessieren sich die Linguisten für einen bestimmten Aspekt der psychischen Welt, nämlich für das geistige Phänomen, das wir Sprache nennen. Der Wunsch, über dieses Phänomen mehr zu wissen, ist Rechtfertigung genug für seine Erforschung. Die deskriptive Linguistik beschäftigt sich mit der Sprache zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Die historische Linguistik ist die Wissenschaft von der Geschichte der Sprache. Sprachgeschichtler untersuchen die Veränderungen, denen eine Sprache im Verlauf der Zeit unterliegt (alle lebendigen Sprachen sind davon, oft kaum spürbar, betroffen); dabei versuchen sie, frühere Sprachstufen zu erschließen, für die es keine schriftliche Überlieferung gibt, und die Veränderungen zu bestimmen, die im Lauf der Geschichte eingetreten sind. Andere Zweige der Linguistik sind: die anthropologische Linguistik, die Erforschung der Sprache als ein Teil der Erforschung einer bestimmten Kultur; Psycholinguistik, die Wissenschaft von Spracherwerb und sprachlichem Verhalten sowie den dafür verantwortlichen psychischen Mechanismen; Soziolinguistik, die Wissenschaft von der Wirkungsweise der Sprache innerhalb der Gesellschaft; Phonetik, die Analyse von Sprachlauten im Hinblick auf ihre Artikulation, ihre akustischen Eigenschaften und ihre Aufnahme; schließlich die angewandte Linguistik, der Versuch, die Erkenntnisse der linguistischen Forschung praktisch anzuwenden, vor allem im Bereich des Sprachunterrichts.

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Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Dieses Buch orientiert sich im wesentlichen an einer modernen linguistischen Forschungsrichtung, die unter dem Namen „Generative Grammatik" bekanntgeworden ist, und deren theoretische Annahmen sich z.T. grundlegend von denen der sogenannten „traditionellen Grammatik" unterscheiden. Die Methoden der traditionellen Grammatik und ihr Verhältnis zu moderner grammatischer Forschung werden ausführlich diskutiert in F. Palmer, Grammatik und Grammatiktheorie. Eine umfassende Darstellung moderner Grammatiktheorien gibt auch G. Heibig, Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Genaue bibliographische Angaben zu diesen beiden Büchern und weitere Titel zur Geschichte der Linguistik finden Sie in der Auswahlbibliographie am Ende dieses Buches. Dort sind auch Titel zu den im Text genannten linguistischen Subdisziplinen (wie anthropologische Linguistik, Psycholinguistik, usw.) verzeichnet, mit denen wir uns in diesem Buch nicht eingehender beschäftigen können. 2. Untersuchen Sie, wenn Sie das vorliegende Buch durchgearbeitet haben, ein „traditionelles" grammatisches Werk, ζ. B. Walter Jung, Grammatik der deutschen Sprache. 5. Aufl. Leipzig: Bibliographisches Institut 1973; Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Der Große Duden, Band 4. 2. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 1966 (oder: 1. Aufl. 1959); Wilhelm K. Jude/Rainer F. Schönhaar, Deutsche Grammatik. 15., neu gefaßte Aufl. Braunschweig: Westermann 1975; R. W. Zandvoort (with the assistance of J. A. van Ek), A Handbook of English Grammar. 6th ed. London: Longman 1972. Vergleichen und kontrastieren Sie die Auffassung von Grammatik, die in diesen Büchern vertreten wird, mit der im vorliegenden Buch, besonders in Kap. 5 beschriebenen! Folgende Fragen sollten Sie dabei erörtern: Sind die Ziele der beiden Ansätze gleich oder ähnlich? Wie ist das sprachliche Material geartet, auf das sie sich stützen? Wie unterscheiden sie sich hinsichtlich der Explizitheit und Vollständigkeit der Beschreibung? Gibt es in der traditionellen Grammatik Entsprechungen fur die in Kap. 5 diskutierten syntaktischen Regeln, und wenn ja, welches sind diese Entsprechungen? Was sagen traditionelle Grammatiken zur Konstituentenstruktur und zu zugrundeliegenden Repräsentationen? 3. Lesen Sie nach Durcharbeiten des vorliegenden Buches die Ausführungen zu mehreren ausgewählten Stichwörtern in einem größeren Wörterbuch der deutschen Sprache (ζ. Β. H. Paul, Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet v. W. Betz. 7., durchges. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1976; G. Wahrig, Hrsg., Deutsches Wörterbuch. 2. Aufl. Gütersloh: Bertelsmann 1975; R. Klappenbach/W. Steinitz, Hrsg., Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin (DDR): Akademie Verlag 1964 ff). Welcher Art sind die dort gegebenen sprachlichen Informationen? Welchen Grundsätzen folgt das Wörterbuch in der Anordnung von verschiedenen Bedeutungen einzelner lexikalischer Einheiten, um die Beziehungen zwischen ihnen deutlich zu machen? Inwieweit haben Begriffe wie „Morphem" und andere in Kap. 4 diskutierte lexikalische Begriffe in die Darstellung Ein-

7

gang gefunden? Wie fallen die im Wörterbucheintrag gegeben syntaktischen und phonologischen Informationen aus im Vergleich mit den Vorstellungen von der syntaktischen und phonologischen Repräsentation lexikalischer Einheiten, wie sie in Teil II diskutiert werden? 4. In ihrer strengsten Ausprägung fordert die Doktrin des Behaviorismus (einer psychologischen Richtung, die über lange Jahre hinweg besonders die amerikanische Linguistik maßgeblich beeinflußte), daß der Sprachforscher sein Interesse rigoros beschränkt auf die Reize ("stimuli"), die auf den menschlichen Organismus einwirken, und auf die offen zutage tretenden, beobachtbaren sprachlichen Reaktionen ("responses"), die der Organismus aussendet. Insbesondere werden intuitive Urteile von Muttersprachen-Sprechern ("native speakers") sowie Rückgriffe auf die Introspektion streng abgelehnt. Überlegen Sie, ob es angemessen oder notwendig ist, solche Einschränkungen zu machen! Auf welche Weise würde sich genaueste Beachtung dieser einschränkenden Forderungen auf die Untersuchung der Sprache auswirken? Richtet sich die traditionelle Grammatik nach diesen Forderungen? (Diese Thematik wird ausfuhrlich diskutiert in B. F. Skinner, Verbal Behavior. New York: Appleton-Century-Crofts 1957, und in Noam Chomskys Rezension dieses Buches, die in Fodor/Katz, eds., The Structure of Language, S. 547 - 578, wieder abgedruckt ist; eine deutsche Übersetzung der Rezension finden Sie in H. Holzer/K. Steinbacher, Hrsg., Sprache und Gesellschaft. Hamburg: Hoffmann u. Campe 1972, S. 6 0 - 8 5 . )

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2. Ein erster Blick auf die Sprache

Spracherwerb Kinder zeigen die erstaunliche Fähigkeit, jede beliebige Sprache, die in ihrer Umgebung dauernd gesprochen wird, so weit zu erlernen, daß sie sie fließend beherrschen. Jedes normal entwickelte Kind, das nicht gerade völlig isoliert vom Umgang mit Sprache aufgezogen wird, spricht bald eine oder mehrere Sprachen als Muttersprache. Das Kind ist beim Erlernen seiner Muttersprache nicht auf besondere Unterweisung angewiesen. Wohl mögen manche Eltern versuchen, das Sprachverhalten ihres Kindes mit einem Lächeln oder mit anderen Belohnungen zu „verstärken" oder mit Hilfe einer „Baby-Sprache" die Kluft zwischen ihrer eigenen voll entwickelten Sprachfähigkeit und der sich erst entwickelnden des Kindes zu überbrücken. Es gibt jedoch keinen besonderen Grund zu glauben, daß solche Verhaltensweisen irgendeinen Einfluß darauf hätten, daß das Kind schließlich die Sprache seiner Eltern als Muttersprache spricht. Kinder können eine Sprache genau so gut erlernen, wenn sie mit anderen Kindern spielen, die die betreffende Sprache sprechen, als wenn übereifrige Eltern ihre konzentrierten Anstrengungen darauf verwenden. Über die spezifischen Umweltfaktoren, die den Spracherwerb überhaupt möglich machen, wissen wir noch wenig; die wichtigste Bedingung scheint jedoch zu sein, daß das Kind einfach genügend dem Gebrauch der betreffenden Sprache im gesellschaftlichen Zusammenhang „ausgesetzt" ist. Die Fähigkeit, Sprache zu erwerben, ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Erstens, weil sie bei allen Menschen gleichermaßen ausgebildet ist. Es gibt schlechterdings keine Fälle, wo normale Kinder eine Muttersprache nicht erwerben, sofern man ihnen nur die Gelegenheit dazu gibt. Es ist zum Vergleich ganz und gar nicht ungewöhnlich, daß ein Kind Rechnen, Lesen, Schwimmen oder Turnen nicht lernt, obwohl es darin ausgiebig unterrichtet wird. Spracherwerb ist also gattungseinheitlich. Er ist weiterhin gattungsspezifisch. Zwar besitzen · 9

viele Tiere die Fähigkeit zur Kommunikation; einigen Schimpansen hat man sogar beibringen können, durch Kombination von Gesten oder anderen visuellen Zeichen zu satzartigen Mitteilungen vergleichsweise komplexe Gedanken auszudrücken. Selbst die am weitesten entwickelten nichtmenschlichen Kommunikationssysteme sind jedoch überraschend rudimentär im Vergleich zur Komplexität und Kompliziertheit der menschlichen Sprache. Die Fähigkeit der höheren Primaten (oder der Wale und Delphine) zum Zeichengebrauch mag sich möglicherweise als erheblich weiterreichend herausstellen, als wir uns vorstellen — nach dem heutigen Stand der Forschung scheint die Aussage jedoch durchaus begründet, daß keine andere Spezies ein Kommunikationssystem erwerben kann, das auch nur entfernt der menschlichen Sprache vergleichbar wäre, obgleich manche Tiere es lernen können, Probleme zu lösen, Werkzeuge zu benutzen, usw. Der Spracherwerb scheint also vom Erwerb der anderen genannten Fähigkeiten grundsätzlich verschieden zu sein. Der Vorgang des Spracherwerbs ist weiterhin bemerkenswert wegen seiner relativen Geschwindigkeit und Vollkommenheit. Wenn wir einmal versuchen, eine Sprache in ihre Elemente zu zerlegen, um zu sehen, wie sie funktioniert, so finden wir, daß sie, außerordentlich komplex ist und höchst abstrakte Aufbauprinzipien zeigt. Und doch ist jedes Kind in der Lage, sich in seinen ersten Lebensjahren zumindest ein derartiges System zu eigen zu machen. Weiterhin ist das Sprachsystem, das sich das Kind aneignet, für alle praktischen Zwecke mit dem identisch, das die Leute in seiner Umgebung verwenden. Im Vergleich zur insgesamt vollbrachten Leistung wiegen die Unterschiede wirklich gering. Wenn ein Kind in seiner Umgebung regelmäßig zwei Sprachen hört, so wird es höchstwahrscheinlich beide lernen; es wird darüberhinaus weitgehend in der Lage sein, die beiden Sprachsysteme nicht durcheinanderzubringen, was an sich schon eine beachtliche Leistung ist. Es ist oft festgestellt worden, daß Erwachsene nicht in der Lage sind, eine Sprache auf die gleiche spontane, natürliche Art zu lernen, wie Kinder es tun. Für den Erwachsenen bedeutet das Erlernen einer Fremdsprache gewöhnlich eine große Anstrengung und führt nur selten zur perfekten Beherrschung der neuen Sprache. Ein amerikanisches Kind von sechs Jahren, das mit seinen Eltern nach Japan umzieht, wird sich schon nach kurzer Zeit im Japanischen zurechtfinden; seine Eltern dagegen werden sich möglicherweise auf ihr Kind als Dolmetscher verlassen müssen. Vielleicht hat man die Unterschiede zwischen dem Sprachenlernen beim Kind und beim Erwachsenen übertrieben, aber der Beginn der Pubertät scheint 10

in der Tat eine Grenzlinie darzustellen für die Fähigkeit, ein neues Sprachsystem beherrschen zu lernen. So ist es zum Beispiel unwahrscheinlich, daß ein Erwachsener es lernt, eine Fremdsprache ohne den geringsten Akzent zu sprechen. Die Beobachtung, daß jedes normale Kind eine oder mehrere Sprachen lernt, wenn es nicht isoliert vom Gebrauch der Sprache aufgezogen wird, fuhrt zu einigen interessanten Fragen. Was verstehen wir in diesem Zusammenhang unter Normalität? Was geschieht, wenn ein Kind in seinen ersten Lebensjahren nicht mit Sprache konfrontiert wird? Im Hinblick auf den Spracherwerb kann man Normalität ziemlich weit fassen. Tatsächlich ist es möglich, Sprache zu erlernen, auch wenn schwere körperliche oder psychische Mängel vorliegen. Weder die Unfähigkeit zu hören noch die Unfähigkeit, Laute zu bilden, ja nicht einmal geistige Zurückgebliebenheit muß ein Kind notwendigerweise daran hindern, ein sprachliches System zu erlernen. Bei tauben Kindern ist natürlich besondere Unterweisung nötig, da Taube ja die Sprache nicht durch Hören lernen können. Trotzdem können taube Kinder mit Hilfe von verschiedenen optischen Hilfsmitteln eine Sprache sehr gut erfassen. Selbst dann, wenn Taubheit und Blindheit zusammen auftreten, ist Spracherlernung möglich, wie das Beispiel von Helen Keller höchst überzeugend deutlich gemacht hat. Wie zu erwarten, haben taube Kinder vor allem im Bereich der Artikulation die größten Schwierigkeiten, obwohl sie manchmal durchaus in der Lage sind, ihre Aussprache der normalen weitgehend anzugleichen, besonders dann, wenn die Taubheit erst eine gewisse Zeit nach der Geburt eingetreten ist. Aber die Artikulation der Laute ist nur eine Seite der sprachlichen Kompetenz, und die Fähigkeit völlig tauber Kinder, Bedeutung, Grammatik und Wortschatz einer Sprache zu meistern, ist wirklich beachtlich. Kinder, die ihre Sprechorgange nicht zur Artikulation von Sprachlauten einsetzen können, lernen trotzdem ohne besondere Schwierigkeiten eine Sprache. Sie können sie vollständig verstehen und die schriftliche Form der Kommunikation ebenso gut erlernen wie andere auch. Der Spracherwerb hängt also nicht entscheidend von der Verbalisierung ab. Der Erwerb der Muttersprache wird viel weniger von geistiger Zurückgebliebenheit beeinflußt als der Erwerb anderer intellektueller Fähigkeiten. Selbst wenn ein Kind geistig so weit zurückgeblieben ist, daß es nicht rechnen lernen kann, so kann es dennoch sprechen lernen. Nur in den schlimmsten Fällen, bei völligem Schwachsinn, fehlt die Sprache ganz und gar. Darin liegt ein weiterer Hinweis, daß der Spracherwerb 11

sich in entscheidender Weise vom Erwerb anderer geistiger Fähigkeiten unterscheidet. Kinder können in der Sprache sehr erfinderisch sein. Das zeigen etwa verschiedene „Geheimsprachen", die die Kinder untereinander verwenden, wenn sie zum Beispiel verhindern wollen, daß Erwachsene ihre Unterhaltungen mitverfolgen. Alle bisherigen Beobachtungen zeigen jedoch, daß ein Kind eine Sprache nicht völlig aus dem Nichts erfinden kann, ohne vorher Kontakt mit der menschlichen Sprache gehabt zu haben. Direkte Beweise für diese Annahme sind natürlich äußerst schwierig beizubringen: das Prinzip der Menschlichkeit und Gesetze zum Schutze des Kindes verbieten es dem Wissenschaftler, Kinder in der Entwicklung für Versuchszwecke völlig vom Kontakt mit der Sprache zu isolieren, um feststellen zu können, ob sich Sprache auch spontan entwickelt. Gelegentlich kommt es aber vor, daß Kleinkinder abseits jeglicher Zivilisation allein in der Wildnis aufwachsen, und von Wölfen oder anderen Tieren wie ein Tieijunges großgezogen werden. In einem bekannten Fall wuchsen sogar zwei Schwestern zusammen auf diese Art und Weise auf. In keinem der Fälle konnte man bei einem solchen wild aufgewachsenen Kind auch nur Ansätze zu einer Sprache entdekken. Komplizierende Faktoren, wie möglicherweise vorliegende Taubheit, geistige Retardierung oder schlechter Allgemeinzustand der Kinder machen es jedoch schwierig, die Bedeutung dieser Fälle genau einzuschätzen. Die Ergebnisse sind auch dann nicht schlüssiger, wenn Kinder zwar in menschlicher Gesellschaft, aber in sprachlicher Isolation aufwachsen, ζ. B. bei ausschließlichem Umgang mit einer taubstummen Pflegeperson. Wann immer unter solchen Umständen Sprache auftrat, war der Abschluß vom sprachlichen Umgang nicht vollständig, und als Quelle ließ sich einwandfrei die Sprache der Erwachsenen identifizieren. Sobald ein in sprachlicher Isolation aufgewachsenes Kind einmal aufgefunden ist und in eine normale Umgebung gebracht wird, kann es die Sprache noch annäherungsweise vollständig beherrschen lernen, vorausgesetzt, es hat ein bestimmtes Alter noch nicht überschritten und ist nicht taub oder geistig behindert. Diese Fakten weisen darauf hin, daß der Umgang mit Sprache während eines gewissen Zeitraumes der kindlichen Entwicklung eine unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb ist; weiterreichende endgültige Schlüsse lassen sich jedoch nicht ziehen. Wie wir in Kapitel 1 festgestellt haben, ist es die Aufgabe der Linguistik, zu einem Verständnis der Sprache zu gelangen. Unter diesem Aspekt ist es von besonderer Bedeutung, die Fähigkeit zum Spracherwerb 12

zu verstehen, die uns aus mehreren Gründen bemerkenswert erschien. Eine angemessene Erklärung des Spracherwerbs ist noch völlig außerhalb unserer Reichweite, aber dieses Ziel bietet einen großen Anreiz zur Erforschung der Sprachstrukturen. Mit anderen Worten: einer der Gründe, warum Linguistik sich lohnt, liegt darin, daß von ihr letzten Endes ein gewisser Aufschluß über diesen höchst bemerkenswerten Aspekt der psychischen Entwicklung des Kindes erwartet werden kann.

Der Ursprung der Sprache und die Gattung Mensch Im vorigen Abschnitt haben wir festgestellt, daß Spracherwerb gattungseinheitlich und gattungsspezifisch ist. Alle Menschen lernen eine Sprache, während keine anderen Lebewesen, nicht einmal die intelligentesten, etwas Vergleichbares erreichen. Diese Bemerkungen müssen noch etwas näher ausgeführt werden, da es in dieser Frage häufig Mißverständnisse gibt. Die Vielgestaltigkeit der menschlichen Sprache hat über die Jahrhunderte hinweg zu mannigfaltigen Spekulationen darüber geführt, was die Quelle dieser Vielgestaltigkeit sei, und welche Faktoren die Form der Sprache bestimmen, die sich an einem gegebenen Ort in einer gegebenen Sprechergemeinschaft entwickelt. So sind rassische und kulturelle, ja selbst geographisch-klimatische Unterschiede ins Feld geführt worden, um sprachliche Unterschiede zu „erklären". Zu der Vorstellung, daß geographische oder klimatische Faktoren die Form der Sprache beeinflussen könnten, läßt sich nur folgendes sagen: bisher ist es noch nicht gelungen, klare Aussagen in dieser Hinsicht vorzulegen, die auch nur einer oberflächlichen wissenschaftlichen Überprüfung standgehalten hätten. Einflüsse von Rasse und Kultur kommen nicht viel besser weg; hier ist jedoch eine etwas ausfuhrlichere Diskussion angebracht. Die Sprache ist ein soziales Phänomen, und ihre Form ist zu einem großen Teil von biologischen Faktoren bestimmt. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß anatomische und neurophysiologische Gegebenheiten beim Menschen die Natur seiner Sprache grundlegend bedingen. (Ein offensichtliches Beispiel dafür ist, daß sich die Sprache nicht solcher Laute bedienen wird, die von der menschlichen Physiologie her unmöglich zu artikulieren sind.) Solange man nur die biologische Bedingtheit der Sprache im Auge hat, ist die Frage angebracht, ob sprachliche Unterschiede in irgendeiner Weise von Unterschieden der Rasse abhängig sind. Die Antwort scheint jedoch negativ auszufallen. Wie wir bereits festge13

stellt haben, ist eines der wichtigsten Merkmale des Spracherwerbs seine Einheitlichkeit für die gesamte Gattung Mensch — so ist prinzipiell jedes Kind in der Lage, jede beliebige Sprache als Muttersprache zu lernen. Welche Sprache das Kind wirklich lernt, hängt einzig und allein von seinen „Vorbildern" ab, von denen er das Sprechen lernt. So lernen die Kinder amerikanischer Einwanderer aller Rassen und Nationalitäten, amerikanisches Englisch perfekt zu sprechen. Wohlgemerkt — rassische und sprachliche Unterschiede treten oft zusammen auf, wie es die Andersgeartetheit des amerikanischen Englisch bezeugt, das von farbigen Amerikanern gesprochen wird. Das gemeinsame Auftreten muß jedoch eher sozialen als biologischen Faktoren zugeschrieben werden; viele Farbige unterscheiden sich in ihrer Sprechweise nicht von der der weißen Bevölkerung. Dem besonderen Charakter des Amerikanischen, wie es Farbige gewöhnlich sprechen, ist unter diesen Umständen keine größere Bedeutung beizumessen als dem speziellen Charakter des Amerikanischen, wie es ζ. B. in Neu-England gesprochen wird. Solche mit der Rasse korrelierenden Dialektunterschiede sind deswegen so beständig, weil farbige Kinder unter normalen Umständen auch von farbigen Erwachsenen sprechen lernen. Genausowenig wie zwischen Sprache und Rasse besteht zwischen Sprache und Kultur ein innerer Zusammenhang. Zu der athabaskischen Gruppe amerikanischer Indianersprachen gehören Sprecher von mehreren deutlich unterschiedenen Kulturen. Umgekehrt gehören zu der PuebloKultur von Rio Grande zwei Sprachen aus völlig verschiedenen Sprachfamilien, Keresisch und Tanoisch. Solche Beispiele zeigen, daß sich Sprache und Kultur nicht gegenseitig vorherbestimmen. Trotzdem hängen sie eng miteinander zusammen. Diese gegenseitige Abhängigkeit zeigt sich am deutlichsten bei mündlicher oder schriftlicher Literatur; Regeln des literarischen Stils, der Metrik und dergleichen, die sich auf der Grundlage einer Sprache herausgebildet haben, finden nicht immer ihr entsprechendes Gegenstück in der anderen. Wörter, die für spezifische Begriffe einer bestimmten Kultur stehen, werden sich nur schwer übersetzen lassen. Wenn eine neue Sprache angenommen wird, so folgt dem oft die allmähliche Annahme einer neuen Kultur. Zwischen Sprache und Kultur besteht also in der Praxis eine enge Beziehung, aber es spricht nichts dafür, daß eine bestimmte Sprachstruktur für eine bestimmte Kultur besonders geeignet sei. Man hat manchmal behauptet, daß primitive Völker auch primitive Sprachen sprechen. In Wirklichkeit gibt es jedoch keinerlei Zusammenhang zwischen der Höhe der kulturellen Entwicklung und der Komplexi14

tat der Sprachstruktur. Die Sprachen primitiver Völker können genauso komplex und reich an Ausdruckskraft sein wie irgendeine europäische Sprache. Was immer in einer Sprache ausgedrückt werden kann, läßt sich auch in jeder anderen ausdrücken, wenn auch vielleicht etwas umständlicher. Behauptungen wie die, „primitive" Sprachen hätten einen sehr kleinen Wortschatz und keine Grammatik, der größte Teil ihrer Wörter sei lautmalend und sie könnten keine abstrakten Gedanken ausdrücken, sind einfach falsch. Die Eskimos haben Wörter für verschiedene Formen von Schnee, aber keinen allgemeinen, abstrakteren Begriff (wie unser Schnee), das die verschiedenen Formen umfaßt. Daraus folgt nicht, daß sie nicht abstrakt denken können oder daß ihre Sprache arm ist; es bedeutet nur, daß für sie Schnee wichtiger ist als für uns, so daß ihre sprachliche Kategorisierung dieses Erfahrungsbereichs detaillierter ist als bei uns. Genausowenig wie primitive Sprachen gibt es „entartete" Sprachen. Sprachen ändern sich, aber sie verfallen nicht. Es gibt keine vernünftige Grundlage für die Klage, daß die Sprache X zu einem Zeitpunkt weit in der Vergangenheit ein reines und vollkommenes Werkzeug zum Ausdruck unserer Gedanken gewesen sei, inzwischen aber durch einen dauernden Verfallsprozeß dekadent geworden sei. Das ist puristischer Unsinn. Das heutige Deutsch und das Deutsch von vor tausend Jahren sind sehr verschieden; das Deutsch von vor tausend Jahren war jedoch ebenso verschieden von einer noch früheren Vorstufe. Zu jedem Zeitpunkt ist eine Sprache ihrem Zweck völlig angemessen. Sie ist das Ergebnis einer Entwicklung und wird sich, wenn sie weiterhin gesprochen wird, weiter entwikkeln. Die Vorstellung von einer „reinen" Sprache ist eine Illusion. Jahrhundertelang hat die Frage, wie die Sprache bei den Menschen entstanden ist, die Gelehrten fasziniert, aber es-gibt keinerlei gesicherte Auskunft über den Ursprung der Sprache. Soweit wir irgendwelche Sprachen historisch zurückverfolgen können, stellen sie ein ebenso in sich geschlossenes Gebilde dar wie jede gegenwärtige Sprache. Die Sprachen von vor zwei- oder dreitausend Jahren erscheinen in keiner Weise einfacher oder primitiver als die heutigen Sprachen; sie sind auch ihrem Wesen nach nicht verschieden. Es muß eine Zeit in der Geschichte der Menschheit gegeben haben, in der die Sprache noch nicht voll entwikkelt war und in der die Menschen eine primitive Vorstufe der komplexen Sprachsysteme von heute verwendeten. Allen Anzeichen nach liegt diese Zeit jedoch so weit in der Vergangenheit, daß wir keine Hoffnung haben, eine Überlieferung dieser Vorstufen zu finden. Im Hinblick auf den Ursprung der menschlichen Sprache werden wir möglicherweise 15

immer auf bloße Vermutungen angewiesen sein. Die einzige Aussage, die wir heute mit einer gewissen Sicherheit über Ursprung und Entwicklung der Sprache machen können, ist die, daß der Mensch dabei umfassenden evolutionären Wandlungen seiner neurophysiologischen Struktur unterworfen war. Theorien, die die Evolution des Nervensystems nicht als bedeutenden Faktor berücksichtigen, sind in verschiedener Hinsicht unangemessen. So haben einige Forscher angenommen, daß die Wurzeln der Sprache in der Nachahmung von Tierlauten durch den primitiven Menschen zu suchen seien. Andere haben instinktives Schreien bei Schmerz oder großer Gemütsbewegung, oder auch Grunzlaute und rhythmischen Singsang, die bei schwerer körperlicher Anstrengung vorkommen mögen, als den eigentlichen Ursprung der Sprache bezeichnet. Aber Laute der genannten Art sind für die menschliche Sprache so untypisch, daß es schwerlich einzusehen ist, warum man sie als Quelle allen Sprechens postulieren sollte. Eine weitere, grundlegendere Unangemessenheit dieser Theorien liegt darin, daß sie die wahre Natur des Problems verkennen. Sie bauen auf der Annahme auf, es gelte zu erklären, wie unsere primitiven Vorfahren dazu kamen, überhaupt Laute zu artikulieren. Das eigentliche Problem ist es jedoch, zu erklären, wie sich die Sprache von ihren äußerst bescheidenen Anfängen, in denen sie sich einmal befunden haben muß, zu ihrer heutigen Komplexität und Abstraktheit entwickeln konnte. Ohne das Postulat einer Evolution des Nervensystems zeichnet sich kein gangbarer Weg ab, das Entstehen der hochkomplexen grammatischen und phonologischen Systeme in Übereinstimmung mit anerkannten psychologischen Grundsätzen zu erklären. Auch eine Untersuchung der verschiedenen Arten tierischer Kommunikation gibt uns keinen endgültigen Aufschluß über den Ursprung der Sprache. Bei verschiedenen Tierarten findet die Kommunikation mit Hilfe eines festgelegten Systems von Signalen statt, aber diese Ähnlichkeit zur menschlichen Sprache ist so vage und allgemein, daß von ihr allein keine Rückschlüsse auf eine Verwandtschaft mit unserer Sprache gezogen werden können. In der Tat sind natürliche tierische Kommunikationssysteme und die menschliche Sprache von ihrem Aufbau her gänzlich verschieden. Kommunikationssysteme bei Tieren lassen grundsätzlich eines von zwei elementaren Aufbauprinzipien erkennen. Nach dem einen Prinzip bewegen sich die Signale kontinuierlich in nur einer oder in wenigen Dimensionen. So können etwa Bienen einander mit großer Genauigkeit mitteilen, wo sich Nahrung befindet, indem sie im Bienenkorb eine Art

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Tanz aufführen. Die Entfernung der Nahrungsquelle vom Bienenstock wird angezeigt durch die Zahl der Drehungen der tanzenden Biene: je größer die Entfernung, desto geringer die Zahl der Drehungen. Die Richtung der Quelle wird, unter Berücksichtigung der Sonnenstellung, durch den Winkel des geraden Teils des Tanzes angezeigt. Die Bienen können demnach eine unbegrenzte Zahl von Nachrichten übermitteln. Sie ist jedoch nur in einem trivialen Sinne unbegrenzt, weil jede Nachricht eine Variante des einzigen Nachrichtentyps ist: „In der Entfernung X befindet sich in Richtung Y Nahrung." Die menschliche Sprache zeigt ähnliche Aspekte; sie sind jedoch von nebensächlicher Bedeutung. Ein Parallelfall wäre das Spektrum unserer möglichen verbalen Reaktion auf Schmerzempfindungen. Je nach der Intensität des Schmerzes bewegt sich die Reaktion kontinuierlich von einem schwachen „Au" bis hin zu einem qualvollen Schrei. Das zweite Aufbauprinzip besteht darin, daß das Tier eine begrenzte Anzahl wohlunterschiedener Signale beherrscht, von denen jedes eine ganz bestimmte Information trägt. Ein solches System wird den höheren Primaten, etwa Gibbons oder Schimpansen, zugeschrieben. Eine Art von Schrei zeigt drohende Gefahr an, erne andere Hunger, usw., bis zu vielleicht ein paar Dutzend verschiedenen Signalen. Bei diesem Schema gibt es eine genaue zahlenmäßige Beschränkung der möglichen Nachrichten, was für die menschliche Sprache nicht zutrifft. Wenn man versucht, alle Sätze des Deutschen oder irgendeiner anderen Sprache aufzuschreiben, so wird man bald die Aussichtslosigkeit des Unternehmens erkennen. Man könnte unendlich lange schreiben, ohne die Menge der wohlgeformten Sätze auszuschöpfen, von denen jeder seine besondere Bedeutung hat. Die menschliche Sprache unterscheidet sich also grundlegend von beiden Arten der Kommunikation bei Tieren. Der Mensch beherrscht eine unbegrenzte Menge unterschiedlicher Signale; Kommunikationssysteme bei Tieren bedienen sich entweder einer begrenzten Menge von unterschiedenen Signalen, oder eines Kontinuums von nicht-unterschiedenen Signalen. Im Vergleich mit der einzigen Ähnlichkeit, die wir festgestellt haben (nämlich die, daß tierische Kommunikation ebenso wie die menschliche Sprache auf einem festgelegten System von Signalen beruht), haben die genannten Unterschiede eine erheblich größere Tragweite. Sie lassen eine direkte Verwandtschaft der Kommunikationssysteme bei Mensch und Tier zweifelhaft erscheinen. In letzter Zeit ist die Ansicht vertreten worden, daß der normale Sprachwandel, zusammen mit dem großen intellektuellen Fortschritt, der die Evolution des Menschen bestimmt hat, zur Er17

klärung der Entwicklung ausreiche, die von primitiven Kommunikationssystemen, wie sie bei den anderen höheren Primaten vorliegen, zum System der menschlichen Sprache geführt habe. Für den tatsächlichen Ablauf einer derartigen Entwicklung sind jedoch keine Beweise erbracht worden; auch konnte nicht gezeigt werden, wie Sprachwandel und größeres intellektuelles Vermögen allein zu der hohen strukturellen Komplexität der heutigen Sprachen geführt haben könnten. Bis auf weiteres muß diese Ansicht deshalb als bloße Vermutung betrachtet werden, deren Gültigkeit und Plausibilität sich erst noch erweisen muß. Es lassen sich auch noch eine Reihe weiterer Unterschiede zwischen der Sprache und natürlichen Systemen tierischer Kommunikation feststellen: ein Unterschied ist die erheblich größere strukturelle Komplexität der einzelnen Signale einer menschlichen Sprache. Der Bienentanz oder der Schrei eines Schimpansen besitzt praktisch keinerlei innere Struktur, abgesehen von dem Vorgang der körperlichen Realisierung des Signals selbst. Jeder Satz einer menschlichen Sprache ist zumindest auf zwei weiteren Ebenen strukturiert. Er besteht erstens aus einer linearen Kette von Wörtern, von denen jedes eine mehr oder weniger klare Einzelbedeutung hat, und außerdem aus einer Folge von Lauten, die aus einem kleinen Lautinventar stammen, das in der Sprache systematisch verwendet wird. Zweitens besitzt jeder Satz eine komplexe grammatische Struktur. (Grammatische Strukturen werden wir in Kapitel 5 behandeln.) Für keine dieser Strukturebenen gibt es ein Pendant in den Kommunikationssystemen der Tiere. Ein weiterer Unterschied ist der, daß das Lernen für die menschliche Sprache eine viel größere Rolle spielt als für die tierische Kommunikation. Die menschlichen Sprachen haben vieles gemeinsam, unterscheiden sich jedoch in vielen einzelnen Punkten voneinander. Wenn jemand Englisch lernt, so muß er alle jene Einzelheiten lernen, die das Englische vom Burmesischen und jeder möglichen anderen menschlichen Sprache unterscheiden. Es ist dabei gleichgültig, wieviel von der menschlichen Sprache angeboren ist; der Lernaufwand bleibt doch beträchtlich. Schon die Aufgabe, alle Wörter zu lernen, die sich in einem kleinen englischen Wörterbuch finden, kostet erhebliche Mühe. Der Mitteüungstanz der Bienen muß dagegen praktisch im ganzen angeboren sein, und es gibt keinen Hinweis darauf, daß dies bei anderen tierischen Kommunikationssystemen grundsätzlich anders ist. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß Kommunikationssysteme von Tieren geschlossen sind, während menschliche Sprachen o f f e n sind. Wann immer Bienen eine Mitteüung machen, kann es sich nur um 18

Varianten derselben Nachricht handeln — die Entfernung der Nahrungsquelle und ihre Richtung in bezug zum Bienenstock. Menschenaffen können nicht ohne weiteres etwas mitteilen, wofür sie kein besonderes Signal haben, und selbst in diesen Fällen sind die Möglichkeiten noch sehr beschränkt. Dagegen können die Menschen sich über alles unterhalten, was sie beobachten oder sich vorstellen können. Darüberhinaus können sie über jeden beliebigen Gegenstand nahezu unbegrenzt viel sagen. Diese größere Beweglichkeit beruht zum großen Teil auf der komplexen grammatischen Struktur der menschlichen Sprachen. Zudem werden dem Wortschatz einer Sprache ständig neue Einheiten hinzugefügt. Wörter und feste Wendungen werden unablässig neu geprägt oder von anderen Sprachen entlehnt, um den wechselnden kommunikativen Bedürfnissen der Sprecher zu genügen. Vergleichbares gibt es in der tierischen Kommunikation nicht. Unsere Ergebnisse bezüglich der Verwandtschaft von Sprache und tierischer Kommunikation ändern sich nicht nennenswert, wenn wir uns nach der Betrachtung natürlicher Kommunikationssysteme bei Tieren solchen zuwenden, die künstlich und von Menschen geschaffen sind. In den letzten Jahren haben einige Forscher beachtliche Erfolge bei dem Unterfangen errungen, Schimpansen ein System zur Kommunikation mit dem Menschen zu lehren, das sich visueller Mittel wie der Zeichensprache oder der Verwendung von Plastiksymbolen unterschiedlicher Form und Farbe bedient. Dabei hat sich gezeigt, daß Schimpansen es lernen können, eine große Zahl von verschiedenen Begriffen mit unterschiedlichen visuellen Zeichen zu assoziieren, und diese Zeichen auch mit vergleichsweise hoher Wahrscheinlichkeit angemessen zu verwenden. Unter den Begriffen, deren Verwendung den Schimpansen beigebracht wurde, befinden sich solche mit sehr hohem Abstraktionsgrad, wie ζ. B. „wenn — dann"; die Tiere lernten auch, Fragen zu stellen. Weiterhin erwiesen sie sich als fähig, durch die Kombination von Einzelsymbolen komplexere Vorstellungen mitzuteilen. Diese eindrucksvollen Ergebnisse zeigen, daß wir die kognitiven Fähigkeiten anderer Gattungen nicht unterschätzen dürfen. Die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache ist durch sie jedoch noch keineswegs beantwortet; auch die Behauptung, daß eine Evolution der neurophysiologischen Struktur des Menschen anzunehmen sei, wird dadurch nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Visuelle Kommunikationssysteme der genannten Art haben nichts den phonologjschen Systemen der menschlichen Sprache Entsprechendes. Die syntaktischen Fähigkeiten der Menschenaffen lassen sich noch nicht abschließend beurtei19

len — aber im Vergleich zum Menschen erweisen sie sich sicher als sehr rudimentär. Die bisher durchgeführten Forschungen geben uns auch noch keinen Aufschluß darüber, ob Menschenaffen dazu gebracht werden können, mithilfe dieser Systeme sich untereinander spontan zu verständigen, und ob die Beherrschung eines solchen Systems von einer Generation auf die nächste vererbt werden kann. Wenn wir auch die zu erwartenden Erkenntnisse in dieser Hinsicht nicht aus den Augen verlieren dürfen, so scheint doch keine unmittelbare Gefahr zu bestehen, daß ein Schimpanse Englisch oder Chinesisch perfekt beherrschen lernt und damit unseren Glauben an die Einmaligkeit des Menschen zerstört. Laut und Bedeutung Wenn man den Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und natürlichen Kommunikationssystemen bei Tieren in einem Wort zusammenfassen wollte, so würde sich dafür das Wort Neuheit anbieten. Wann immer eine Biene anderen Bienen die Lage einer Nahrungsquelle mitteilt, wiederholt sie eine Grundnachricht, die bei Bienen schon unzählige Male übermittelt worden ist. Wenn ein Tier seine Artgenossen durch einen Ruf vor drohender Gefahr warnt, erfindet es keinen neuen Ruf, sondern verwendet den, der von den Tieren bereits unzählige Male vorher verwendet worden ist. Neuheit gibt es in diesen Fällen nicht, vielmehr nur eine Wiederholung von vergangenen kommunikativen Ereignissen. Dies trifft auf die menschliche Sprache zweifellos nicht zu. Ein hervorstechendes Merkmal der Sprachverwendung ist ihre Kreativität, die Unabhängigkeit von früherer sprachlicher Aktivität des Sprechers. Eine sehr große Anzahl von Sätzen, die auftreten, sind neu und noch nie zuvor aufgetaucht. (Sollten Sie daran zweifeln, so versuchen Sie einmal, in anderen Büchern eine genaue Wiederholung eines jeden Satzes dieser Seite zu finden!) Ausnahmen sind natürlich gängige Wendungen wie Herein! oder Das Essen ist fertig; auch bewußtes Zitieren gehört zu diesen Ausnahmen. Dennoch behält die Aussage ihre Gültigkeit. Ein Mensch besitzt die Fähigkeit, eine unbegrenzte Zahl von völlig neuen Sätzen hervorzubringen und zu verstehen. Wenn ein Satz eine genaue Wiederholung eines früheren ist, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß er beim zweiten Mal neu geprägt worden und die Wiederholung reiner Zufall ist. Das Sprechen besteht nicht darin, papageienhaft Sätze nachzuplappern, die man gehört und auswendig gelernt hat. 20

Unsere Fähigkeit, neue Sätze hervorzubringen und zu verstehen, läßt sich nicht mit einem Hinweis auf die menschliche Fähigkeit des Analogiedenkens erklären. Manche Leute haben behauptet, daß neue Sätze in Analogie zu früher gehörten gebildet werden. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand hat folgende Sätze gehört und behalten: Peter hilft beim Abwaschen, Peter hilft beim Aufräumen und Barbara hilft beim Abwaschen. Mit Hilfe eines Analogieschlusses kann er den Satz Barbara hilft beim Aufräumen hervorbringen. Der letzte Satz ist in seiner bisherigen Erfahrung noch nie vorgekommen, aber er kann ihn in Analogie zu den drei anderen Sätzen trotzdem bilden. Diese Erklärung sprachlicher Kreativität ist unhaltbar: wenn dabei nur Analogiedenken eine Rolle spielte, bliebe unsere Fähigkeit völlig unerklärt, zwischen richtigen Analogien wie der obigen und falschen Analogien zu unterscheiden. So beruht die Ableitung des ungrammatischen Satzes Schnee sind weiß aus den früher gehörten Sätzen Ich mag junge Katzen, Ich mag Schnee und Junge Katzen sind weiß auf einem falschen Analogieschluß. Die Fähigkeit zur Unterscheidung von richtigen und falschen Analogien läßt sich nur dann erklären, wenn wir eine Menge von grammatischen Regeln der Art annehmen, wie sie in Kapitel 5 diskutiert werden. Da solche Regeln jedoch für sich allein genommen die sprachliche Kreativität bereits erklären, erübrigt sich die Analogie-Theorie ganz und gar. Wir gehen nicht umher und sammeln Sätze, die wir im Gedächtnis speichern, um sie später zum Sprechen und Verstehen gebrauchen zu können. Wir müssen auch nicht unsere persönlichen Spracharchive durchforsten und anschließend einen Analogieschluß durchführen, um etwas sagen zu können. Wir bilden und verstehen Sätze ganz spontan. Ebenso unzureichend für die Erklärung des kreativen Charakters unserer sprachlichen Aktivität ist die Ansicht, daß die Sprache eine Menge von sprachlichen Gewohnheiten sei. Wir wollen nicht im einzelnen nachzuweisen versuchen, warum diese Ansicht unhaltbar ist; sie ist so tief eingebettet in der Tradition der behavioristischen Psychologie, daß eine eingehende Darlegung der hiermit verbundenen Vorstellungen den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Wir begnügen uns mit der Feststellung, daß keine Version des Stimulus-Response-Modells der psychischen Organisation auch nur im Ansatz eine Erklärung liefert für die komplexe Struktur der menschlichen Sprache (die in Teil II besprochen wird), und daß die Mechanismen der Konditionierung (conditioning) und Verstärkung (reinforcement) prinzipiell ungeeignet sind, den Spracherwerb zu erklären. Im Alter von fünf oder sechs Jahren beherrscht ein Kind die Grundzüge seiner Muttersprache. Es hat die Fähigkeit erworben, spontan und ohne 21

Mühe eine unbegrenzte Zahl von Sätzen zu bilden und zu verstehen, die ihm von seiner Erfahrung her völlig neu sind. Wenn wir das Wesen der Sprache und den Spracherwerb verstehen wollen (soweit es heute möglich ist), müssen wir zuerst eine Vorstellung von der Art der Fähigkeit haben, die jemand erwirbt, wenn er Sprechen lernt. Wir wollen uns deshalb, unter Berücksichtigung des Problems der sprachlichen Kreativität, die Frage stellen: Was ist eigentlich Sprache? Ganz allgemein gesagt, läßt sich Sprache als ein Mittel der Kommunikation verstehen. Wenn Α eine Vorstellung hat, die er Β übermitteln will, so macht er bestimmte Bewegungen mit seinen Artikulationsorganen (Lippen, Zunge, Stimmbänder). Diese Bewegungen erzeugen Schallwellen, die sich durch die Luft zu Β fortpflanzen. Β hört die Laute, und unter günstigen Umständen versteht Β die Mitteilung. Diese Beschreibung gilt grundsätzlich, selbst wenn eine Sprache bisweilen ohne kommunikative Absicht verwendet wird. Wenn Α sich die Zehe anstößt und schrecklich zu fluchen anfängt, so fehlt seiner Verbalisierung wahrscheinlich jegliche Kommunikationsabsicht. Jeder Versuch, durch die Verwendung der Sprache zu kommunizieren, ist natürlich der Gefahr ausgesetzt, teilweise oder ganz zu scheitern. A's Absicht, Β seine Vorstellung mitzuteilen, kann mißlingen: vielleicht spricht Β nicht die Sprache von A. Vielleicht kann Β die Äußerung nicht genau hören und hält ein Wort für ein anderes. Vielleicht verspricht sich Α und sagt genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich sagen will. In den meisten Fällen sind unsere Kommunikationsversuche jedoch einigermaßen erfolgreich. Gewöhnlich entspricht die Vorstellung, die Β aufnimmt, der von Α intendierten. Obgleich es viele Fehlerquellen gibt und die Kommunikation nie vollkommen ist, verwenden wir unsere Sprache im allgemeinen doch mit soviel Erfolg, daß wir uns ihrer ohne große Zweifel an ihrer Wirksamkeit weiterhin bedienen. Wenn Α eine Nachricht an Β übermitteln will, dann ist das dazu von Α erzeugte Signal eine Lautfolge. Β kann die Vorstellung von Α nicht unmittelbar erkennen; er kann nur die Laute wahrnehmen, die Α von sich gibt. Aus ihnen leitet er irgendwie ab, was Α seiner Meinung nach wohl denkt. Α und Β verwenden für die Kommunikation eine Sprache, aber die Sprache selbst i s t weder die übertragene Lautfolge noch der durch sie vertretene Gedanke. Die Sprache ist das Mittel, das es ermöglicht, die beiden einander zuzuordnen. Sie ist eine Menge von Regeln, die es Α erlauben, seine Vorstellung in ein wahrnehmbares Signal zu übersetzen, und die Β in die Lage setzen, die Vorstellung aus dem Signal zu rekonstruieren. Die Sprache ist ein Mittel, das zwischen Lauten 22

und Bedeutungen Beziehungen herstellt, indem sie Signalen Bedeutungen zuordnet und es den Menschen so ermöglicht, über wahrnehmbare Lautfolgen Vorstellungen auszutauschen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Α schaut aus dem Fenster und sieht etwas Seltsames. Um Β zu informieren, was sich abspielt, äußert Α den Satz Die Katze jagt den Hund auf den Baum. Β nimmt die Nachricht auf; er versteht den Satz, und besitzt nun die wesentliche Information über den Vorgang, von dem Α berichtet. Α hat die deutsche Sprache verwendet, um diese Information in eine Lautfolge umzusetzen, und Β hat die deutsche Sprache verwendet, um dieselbe oder doch eine ähnliche Information aus der Lautfolge abzuleiten. Die deutsche Sprache ist ein Mittel, das, unter anderem, eine Beziehung herstellt zwischen der Lautfolge Die Katze jagt den Hund auf den Baum und einer Bedeutung. Teil II dieses Buches wird sich ausfuhrlich mit der inneren Struktur der Sprache beschäftigen. Im Augenblick wollen wir uns auf einige vorläufige, aber wichtige Bemerkungen über diese Struktur beschränken. Es ist völlig einsichtig, daß der Satz Die Katze jagt den Hund auf den Baum nur deshalb eine Bedeutung hat, weil die einzelnen Wörter des Satzes Bedeutungen haben. Die Bedeutung eines Satzes wird zu einem Teil von den Bedeutungen der Wörter bestimmt, aus denen er aufgebaut ist. Es stimmt natürlich nicht, daß die Bedeutung eines Satzes einfach die Summe der darin enthaltenen Wörter ist. Nehmen wir eine leicht veränderte Version dieses Satzes: Mieze jagt Bello auf den Baum. Dieser Satz hat genau die gleichen Wörter wie Bello jagt Mieze auf den Baum, und doch ist seine Bedeutung verschieden. Die Beziehung zwischen der Bedeutung eines Satzes und den Bedeutungen seiner Teile ist also abstrakter als eine rein additive Beziehung. Dies wird im Kapitel 4 näher untersucht werden. Die Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung ist im allgemeinen völlig willkürlich; sie ist durch Konvention geregelt. Es gibt keinen inneren Grund, warum gefrorenes Wasser mit dem Wort Eis bezeichnet wird und nicht mit irgendeinem anderen Wort. Daß das Wort Eis von den Sprechern des Deutschen verwendet wird, ist ein reiner Zufall der Sprachgeschichte. In anderen Sprachen werden andere Lautketten verwendet, um diesen Aggregatzustand des Wassers zu bezeichnen. Darüberhinaus wäre es gar nicht verwunderlich, zu erfahren, daß in einer anderen Sprache ein ähnlich ausgesprochenes Wort etwas völlig Anderes bezeichnet. Das Wort und der damit verbundene Begriff sind keineswegs auf irgendeine geheimnisvolle Weise aufeinander abgestimmt: eine Sprache würde ebenso gut funktionieren, wenn die Zuordnungen von Wort und Begriff völlig anders geregelt wären. 23

Es ist also ein allgemeingiiltiges Prinzip, daß die Beziehung zwischen einem Wort und seiner Bedeutung willkürlich ist. Ein Wort „steht für" einen Begriff, aber es gibt keine inhärente Beziehung zwischen den beiden; tatsächlich bestehende Zuordnungen sind zufällige Ergebnisse der geschichtlichen Entwicklung einer Sprache. Allerdings gibt es eine Reihe von Ausnahmen von diesem allgemeinen Prinzip. Ihre Bedeutung ist nicht ohne weiteres genau einzuschätzen, aber sie ist zweifellos nicht sehr groß. Das Prinzip muß nur eingeschränkt werden; es bedarf keiner grundsätzlichen Änderung. Viele Wörter sind offensichtlich lautmalend (onomatopoetisch), d.h., sie imitieren nicht-sprachliche Laute. Bei diesen Wörtern besteht natürlich eine besondere Beziehung zwischen Bedeutung und Aussprache. So ähneln etwa die deutschen Wörter muh und wau-wau bis zu einem gewissen Grade den Lauten, die Kühe bzw. Hunde von sich geben. Das ist kein Zufall. Diese Wörter wurden sicher in der Absicht der Nachahmung geprägt, so auch bei Wörtern wie tick-tack, bums oder bim-bam, die außerhalb des semantischen Feldes der Tierlaute liegen. Es ist aber interessant, daß sogar diese nachahmenden Wörter weitgehend der Konvention unterliegen. Die entsprechenden lautmalenden Wörter sind in den einzelnen Sprachen verschieden, trotz ihrer Ähnlichkeit untereinander und zu dem Laut, den sie imitieren. Ein klassisches Beispiel ist das Krähen des Hahnes, das im Deutschen als kikeriki erscheint, im Französischen als coquerico und im Englischen als cock-a-doodle-doo. Ein Sprecher muß also die für seine Sprache durch Konvention gültige Form der Nachahmung erst lernen. Eine zweite Einschränkung des Prinzips, die oft angeführt wird, ist noch schwerer zu beurteilen. Es handelt sich dabei um die sogenannte L a u t s y m b o l i k . So erscheint etwa die Lautfolge [kn] im Deutschen häufig im Anlaut von Wörtern, deren Bedeutung Assoziationen wie „hart", „ d u m p f , „schlagend" oder „unangenehm" trägt: knacken, knarren, knurren, knattern, knuffen, knallen, Knoten, Knüppel, Knolle, Knorpel, knorrig, Knauf Knebel, Knute. Dagegen tragen Wörter, die mit w [v] beginnen, häufig Bedeutungen, die ein Element der Leichtigkeit, der schwankenden Bewegung oder Unruhe assoziieren: wehen, Wind, Wolken, Wellen, Wogen, wallen, wanken, weben, wedeln, wimmeln, winken, wirbeln Man könnte also folgern, daß [kn] im Deutschen eine gewisse dumpfe Schwere „symbolisiert", dagegen [v] eine gewisse bewegte Leichtigkeit. Man sollte aber diese Art der Lautsymbolik nicht überschätzen. Man 24

kann sie zwar nicht als reine Phantasiegeburt abtun, sie spielt aber keine entscheidende Rolle. Das zeigen schon Beispiele, die bedeutungsmäßig völlig aus der lautsymbolischen Reihe tanzen: Knabe für [kn], Wand oder Wolf für [v]. Das Prinzip der Willkürlichkeit von Wort-BedeutungsZuordnungen wird von dieser Einschränkung nur unwesentlich berührt. Eine gewisse Ausnahme stellen auch die B a b y - W ö r t e r dar. In sehr vielen Sprachen sind sich die Wörter für Vater (Papa) und Mutter (Mama) außerordentlich ähnlich. Etwa: deutsch Papa, spanisch papa, russisch papa, suaheli baba, türkisch baba, ungarisch apa. Diese Ähnlichkeit ist aber nicht weiter überraschend, denn die in diesen Wörtern vorkommenden Laute werden mit als erste erworben, und die Eltern sind die ersten Erscheinungen seiner Umwelt, die das Kind zu benennen Anlaß hat. Weiterhin trägt dazu sicher der Eifer der Eltern bei, die ersten Äußerungen des Kindes so zu deuten, als seien sie direkt auf sie gemünzt. Zusammenfassend läßt sich die Sprache als Kommunikationsinstrument verstehen. Sie dient dazu, Beziehungen zwischen Lautformen und Bedeutungen herzustellen, so daß Nachrichten durch den Austausch von wahrnehmbaren akustischen Signalen übermittelt werden können. Die Bedeutung eines Satzes ist bestimmt durch die Bedeutungen der Wörter, aus denen er konstruiert ist, und die Basis für die Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung, die eine Sprache aufstellt, wird erkennbar in den Beziehungen zwischen den Einzelwörtern und ihren Bedeutungen. Die Verknüpfung eines Wortes mit seiner Bedeutung ist weitgehend willkürlich bzw. durch Konvention geregelt, wobei dieses Prinzip gewissen kleineren Einschränkungen unterliegt.

Sprachliche Teilsysteme Als Sprecher einer Sprache sind wir in der Lage, Wörter aneinanderzureihen, um neue Sätze zu bilden, die unsere Gedanken ausdrücken. Wenn wir eine Sprache lernen, so müssen wir zunächst eine bestimmte Menge von Wörtern lernen, von denen jedes eine Bedeutung und eine Lautform einander zuordnet. Darüberhinaus müssen wir eine Menge von Prinzipien lernen, die angeben, wie einzelne Wörter zu Sätzen zusammengefügt werden können. Zum Zwecke der Untersuchung können wir also drei Aspekte der Sprachstruktur isolieren; bei der Beschreibung einer Sprache müssen wir uns befassen mit den Bedeutungen der Wörter, mit den Lautfolgen, die diesen Bedeutungen zugeordnet sind, und mit der Art und Weise, wie Wörter sich zu Sätzen kombinieren lassen. Entsprechend können 25

wir sagen, daß die Sprache ein s e m a n t i s c h e s S y s t e m , ein p h o n o l o gisches S y s t e m und ein s y n t a k t i s c h e s S y s t e m umfaßt. Wenn wir vom semantischen System einer Sprache reden, so beziehen wir uns damit nicht nur auf die Tatsache, daß die Wörter der Sprache Bedeutungen haben, sondern auch darauf, wie sie den Bereich unserer Begriffserfahrung in Kategorien aufteilen. Im Deutschen etwa unterscheiden wir sprachlich zwischen den mit grün und blau bezeichneten Farben. Diese Unterscheidung beruht auf keiner psychologischen Notwendigkeit; in vielen Sprachen deckt ein einziger Ausdruck den ganzen Teil des Farbspektrums, der blau und grün umfaßt. In der Hopi-Sprache (einer amerikanischen Indianersprache) gibt es verschiedene Wörter für offenes Wasser und Wasser in einem Behälter. Im Deutschen gibt es keine entsprechende lexikalische Unterscheidung, wir verwenden für beides Wasser. Keine zwei Sprachen sind völlig identisch in der Art, wie Erfahrung kategorisiert wird. Obgleich die Wahl einer Lautfolge zur Bezeichnung eines gegebenen Begriffs im wesentlichen willkürlich ist, muß die gewählte Sequenz sich in bestimmten Grenzen bewegen, die die Struktur der Sprache setzt. Eine Sprache ist durch ein phonologisches System charakterisiert, und jedes einheimische Wort der Sprache wird durch eine Lautfolge repräsentiert, die den Einschränkungen dieses Systems unterworfen ist. Vergleichen Sie einmal gesprochenes Englisch mit einer anderen gesprochenen Sprache, z.B. Französisch. Der Höreindruck ist deutlich verschieden. Englisch und Französisch „klingen" einfach nicht gleich. Sie haben verschiedene phonologische Systeme, verschiedene Prinzipien, die die Aussprache regeln. Im Kapitel 6 werden wir ausfuhrlich auf phonologische Systeme eingehen, so daß wir uns hier mit einigen allgemeinen Bemerkungen begnügen können. Zumindest drei wesentliche Seiten der phonologischen Struktur lassen sich unterscheiden: Inventare von Lauttypen, Einflüsse von benachbarten Lauten aufeinander, und erlaubte Lautfolgen. Die Tatsache, daß Sprachen sich grundsätzlich in diesen drei Bereichen voneinander unterscheiden, erklärt weitgehend ihre verschiedene Wirkung fur das Ohr. Eine Sprache ist gekennzeichnet durch ein Inventar von Lauttypen, und jedes einheimische Wort der entsprechenden Sprache ist aus einer Folge von Lauten aufgebaut, die aus diesem Inventar stammen. Schon im Inventar unterscheiden sich die verschiedenen Sprachen. So gibt es im Englischen die Laute [c j ] (die Anfangslaute von char und jar), während das Französische keinen von beiden kennt; im Deutschen gibt es den Laut [x] (den Schlußlaut von Bach), den weder das Englische 26

noch das Französische kennt, usw. Darüberhinaus sind Laute aus verschiedenen Sprachen, die man als „gleich" zu bezeichnen geneigt ist, nicht notwendigerweise in allen phonetischen Einzelheiten identisch. Sowohl im Deutschen als auch im Französischen gibt es einen Laut [t], aber die beiden Laute sind in ihren phonetischen Eigenschaften deutlich unterschieden, zumindest für den geschulten Hörer. Laute, die einander in einer Äußerung benachbart sind, neigen dazu, sich gegenseitig zu beeinflussen, wobei die Art dieses Vorgangs von Sprache zu Sprache etwas verschieden ist. Je nachdem, ob der betreffende Laut in Isolation oder in einer bestimmten lautlichen Umgebung auftritt, können verschiedene Varianten erscheinen. So wird etwa das [k] in Kasten weiter hinten am Gaumen gebildet als dasjenige in Kiste. Dieser lautliche Wechsel ist nicht auf diese Wörter beschränkt, sondern charakteristisch für die lautliche Umgebung [a] bzw. [i], trifft also auch für Katze und Kitsch zu. Das phonologische System einer Sprache schränkt die Kombinationsmöglichkeiten von Lauten innerhalb eines Wortes ein. So können wir feststellen, daß im Deutschen bestimmte Lautfolgen mögliche deutsche Formen sind, andere nicht. Baun ist kein deutsches Wort, könnte aber eines sein. Ein deutsches Wort kann mit [b] beginnen wie Bau und mit [-aun] aufhören wie Zaun. Es verhält sich also Baun zu Baum wie Zaun zu Zaum. Daß es Baun im Deutschen nicht gibt, beruht nicht auf einer Beschränkung, die das phonologische System des Deutschen den Möglichkeiten der Lautkombination auferlegt, sondern ist ein reiner Zufall der Sprachgeschichte. Andererseits kann das Wort Tlaum kein deutsches Wort sein, weil das deutsche Lautsystem die Lautfolge [tl] im Anlaut nicht zuläßt. Kein deutsches Wort besteht nur aus Konsonanten oder aus vierzehn aneinandergereihten Vokalen. Diese Beschränkungen gelten für alle deutschen Wörter. Sie grenzen einen Bereich phonologischer Möglichkeiten ein, in dem sich jedes Wort bewegen muß, das ein Wort der deutschen Sprache sein soll. Stuhn ist ein mögliches deutsches Wort, das es zufällig nicht gibt; Bnuhn ist als deutsche Form unmöglich. Genauso wie es Beschränkungen für die Kombination von Lauten zu Wörtern gibt, gibt es auch Beschränkungen für die Kombination von Wörtern zu Sätzen. Nicht jede Folge von deutschen Wörtern ergibt einen grammatischen deutschen Satz. Die Folge Helga pflückte gestern eine Blume ist ein grammatischer Satz; nicht aber Schnee sind weiß und Baum Katze Hund die der den aufjagt. Ein Teil des Vorganges des Spracherwerbs besteht darin, daß jemand eine bestimmte Menge von Prinzipien lernt, die es ihm ermögjichen, Wörter so aneinanderzureihen, 27

daß annehmbare Sätze entstehen und unannehmbare vermieden werden. Aus diesen Prinzipien besteht das syntaktische System oder die S y n t a x einer Sprache. Stellen Sie sich die Menge aller deutschen Wörter vor, die heute in Gebrauch sind. Diese Menge enthält viele Elemente, tausende sogar, aber sie ist zweifellos begrenzt. Eine erschöpfende Wortliste könnte zusammengestellt werden in Form eines vollständigen Wörterbuches. Natürlich werden dem deutschen Lexikon dauernd neue Wörter hinzugefügt, während andere in Vergessenheit geraten; auch werden die Kompilatoren von Wörterbüchern das eine oder andere übersehen. Trotzdem trifft die Aussage zu: wenn man eine Liste aller Wörter aufstellen würde, die den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft geläufig sind, so könnte die Liste prinzipiell endlich und erschöpfend sein. Ganz anders verhält es sich mit den Sätzen. Die Anzahl der Sätze, die von den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft als „akzeptabel" bezeichnet würden, bewegt sich in astronomischen Größenordnungen, und es ist prinzipiell unmöglich, alle grammatischen Sätze einer Sprache aufzulisten. Eine einfache Beobachtung kann das beweisen: es gibt keinen Satz, von dem man sagen könnte: „Aha, dies ist der längste Satz der Sprache X." Zu jedem deutschen Satz (oder zu jedem Satz einer anderen Sprache) läßt sich ohne weiteres ein längerer finden, gleichgültig wie lang das Original ist. Wenn S ein Aussagesatz der deutschen Sprache ist, dann ist Ich weiß, daß S auch ein deutscher Satz. Wenn also Whisky ist teuer ein grammatischer Satz ist, dann ist es auch Ich weiß, daß Whisky teuer ist. Was fur diesen Satz gilt, gilt auch für Ich weiß, daß ich weiß, daß Whisky teuer ist. Und daraus folgt, daß auch Ich weiß, daß ich weiß, daß ich weiß, daß Whisky teuer ist ein grammatischer Satz ist. Offensichtlich könnten wir ad infinitum so fortfahren und einen wohlgeformten Satz beliebiger Länge konstruieren. Das Beispiel ist trivial, nicht aber die Frage, um die es hier geht. Die Menge der wohlgeformten Sätze des Deutschen ist unbegrenzt, und dasselbe gilt für alle Sprachen. Es gibt weder eine größte Zahl von Sätzen noch einen längsten Satz einer Sprache. Es ist prinzipiell unmöglich, alle Sätze einer Sprache aufzuzählen, genauso wie es unmöglich ist, alle natürlichen Zahlen aufzuzählen. Wenn jemand eine Sprache lernt, so erwirbt er die Fähigkeit, unbeschränkt viele Sätze zu bilden. Er kann diese Sätze nicht in Form einer Liste aus wendiglernen; vielmehr muß er sich eine beschränkte Menge von Prinzipien zu eigen machen, nach denen Wörter zu Sätzen kombiniert werden können. Diese Prinzipien sind von solcher Art, daß sie die Konstruktion eines jeden beliebigen Satzes 28

aus einer unbegrenzten Menge von möglichen Sätzen erlauben. Zum besseren Verständnis mag ein analoges Beispiel dienen. Wenn jemand multiplizieren lernt, muß er eine begrenzte Menge von Prinzipien lernen, die auf eine unbegrenzte Menge von Zahlenpaaren anwendbar sind und die für jedes Paar das richtige Produkt ergeben. Hat er diese Prinzipien einmal gelernt, so kann er zwei beliebige Zahlen multiplizieren, auch wenn er sie vorher noch nie gesehen hat. Indem er über eine begrenzte Menge von Prinzipien oder Anweisungen für die Multiplikation verfügt, beherrscht er unbegrenzt viele Mengen von Zahlen x—y—z, für die gilt, daß χ mal y gleich ζ ist. Er „weiß" gewissermaßen, daß 13 479 mal 231 641 gleich 3 122 289 039 ist; er hat sich wahrscheinlich nie darüber Gedanken gemacht, aber es gehört zu seiner Kompetenz (Fähigkeit), es herauszufinden oder zu überprüfen, wenn er dazu einen Anlaß hat. Seine Kompetenz ist begrenzt (notwendigerweise, denn weder vom Zeitaufwand noch von den geistigen Fähigkeiten her wäre er in der Lage, eine unbegrenzte Anzahl von Anweisungen zu lernen), aber sie erstreckt sich auf eme unbegrenzte Zahl von Fällen. In eben diesem Sinne beherrscht der kompetente Sprecher einer Sprache eine unbegrenzte Menge von grammatischen Sätzen. Er hat eine begrenzte Menge von Prinzipien gelernt, die angeben, wie Wörter zu Sätzen kombiniert werden können, und diese Prinzipien erstrecken sich auf eine unbegrenzte Menge von grammatischen Sätzen der entsprechenden Sprache. Die meisten dieser Sätze werden in seiner sprachlichen Erfahrung nie vorkommen, aber sie gehören zu dem Bereich syntaktischer Möglichkeiten, die die von ihm beherrschten strukturellen Prinzipien angeben. Mit ihrer Beherrschung hat er letzten Endes unterscheiden gelernt zwischen Wortfolgen, die grammatische Sätze sind und solchen, die ungrammatisch sind. Wenn er die deutsche Sprache beherrscht, so kann er unterscheiden zwischen grammatischen Folgen wie Schnee ist weiß und Die Katze jagt den Hund auf den Baum und ungrammatischen wie Schnee sind weiß und Baum Katze Hund die der den aufjagt. Die Prinzipien der Satzkonstruktion, die der kompetente Sprecher internalisiert hat, erzeugen alle Wortfolgen des ersten Typs, aber keine des zweiten. In Kapitel 5 werden wir syntaktische Systeme ausführlicher behandeln.

Grammatikalität Einige Bemerkungen zum Begriff „grammatischer Satz" scheinen angebracht, da dieser Begriff eine wichtige Rolle in unserer Erörterung ge29

spielt hat. Der linguistische Gebrauch der Unterscheidung grammatischungrammatisch hat viel Unwillen erregt, meistens auf Grund eines einfachen Mißverständnisses. Wir wollen deshalb gleich zu Anfang klarmachen, worum es dabei geht. Es ist die Aufgabe der Linguisten, Sprachen zu beschreiben, es ist aber weder ihre Aufgabe noch ihr Vorrecht, Vorschriften zu machen. Linguisten wollen darstellen, wie Sprachen aussehen, sie haben aber kein Recht zu sagen, wie Sprachen aussehen sollten, oder vorzuschreiben, wie die Leute reden sollten. Manchmal hört man den Vorwurf, die Linguisten würden diese Regel verletzen und Vorschriften machen, wenn sie zwischen grammatischen und ungrammatischen Sätzen unterscheiden. Das trifft aber nicht zu. Was der Linguist behauptet, wenn er zwischen wohlgeformten und falsch geformten Sätzen unterscheidet, ist, daß der Sprecher, dessen Sprache beschrieben wird, in eben dieser Weise unterscheidet. Der Linguist beschreibt unmittelbar, was er vorfindet; er zwingt niemandem eine unzutreffende Dichotomie auf. Jeder geübte Sprecher des Deutschen kann erkennen, daß der Satz Helga pflückte gestern eine Blume wohlgeformt ist, was für Blume eine pflückte gestern Helga nicht zutrifft. Er erkennt, daß Paul und Petra küßten sich der Struktur nach korrekt ist, im Gegensatz zu Paul küßten und sich Petra. Wahrscheinlich wird er nie Anlaß haben, sich über diese Unterschiede Gedanken zu machen, aber er würde sie zweifellos bemerken, wenn er daraufhingewiesen würde. Es gibt unendlich viele Sätze, die ohne jeden Zweifel als wohlgeformte Sätze des Deutschen gelten können. Ebenso gibt es unendlich viele Sätze, die zweifellos aus der Klasse der wohlgeformten deutschen Sätze ausgeschlossen werden müssen. Mehr behaupten die Linguisten auch nicht. Es mag Fälle geben, die nicht so eindeutig sind, bei denen ein bestimmter Sprecher Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden. Das steht außer Frage, aber es ist auch kein entscheidender Einwand Die syntaktischen Prinzipien einer Sprache können sehr wohl an den Rändern unscharf sein. Das rechtfertigt aber keinen Zweifel an der Existenz einer bestimmten Menge von Prinzipien der Satzkonstruktion, die sich jemand erwirbt, der eine Sprache lernt, Prinzipien, die von bestimmten Wortfolgen in einer Sprache manche als grammatisch angeben und manche aus dieser Gruppe ausschließen. Würde man wegen einiger Grenzfälle die Unterscheidung überhaupt aufgeben, so würde unser Bild von der Sprache dadurch weit mehr verzerrt als durch die idealisierende Annahme, daß die Unterscheidung für jeden Satz getroffen werden kann. Manchmal hört man die Frage: „Warum wird dem Satz eine so entscheidende Rolle zugewiesen? Oftmals verwenden die Leute gar keine 30

ganzen Sätze; in vielen Situationen wäre ein ganzer Satz auch fehl am Platz. Mehr als ein Wort oder eine kurze Wendung wird oft gar nicht erwartet." Das ist völlig richtig — aber das hat auch noch niemand geleugnet, schon gar nicht die Linguisten, die zwischen grammatischen und ungrammatischen Sätzen unterscheiden. Im Gespräch kommen häufig Ausrufe und Satzbruchstücke vor: um Gotteswillen!, verdammt!, zum Teufel!, kaum, wirklich?, mag sein, richtig. Sie gehören zur Sprache genau wie die vollständigen Sätze und müßten entsprechend in jeder vollständigen Sprachbeschreibung erscheinen; niemand will sie beiseite lassen. Es gibt aber eine Reihe von guten Gründen, die vollständigen Sätze in den Vordergrund zu rücken und die kürzeren Wendungen vergleichsweise wenig zu betonen. Ausrufe wie um Gotteswillen! und zum Teufel! gibt es in allen Sprachen; jeder Sprecher hat ein Inventar davon, auf das er bei Bedarf zurückgreift. Dieses Inventar ist, im Gegensatz zum Inventar der Sätze einer Sprache, begrenzt und kann erschöpfend aufgezählt werden. Diese Ausrufe werden immer wieder verwendet und sind keineswegs Neuschöpfungen. Mehr läßt sich unter dem Aspekt der Sprachstruktur darüber nicht aussagen; eine vollständige Liste der gängigen Ausrufe niederzuschreiben, wäre eine reine Frage der Geduld. Satzbruchstücke sind genau das, was der Name sagt. Sie können als elliptische Versionen vollständiger Sätze aufgefaßt werden, obwohl es nicht immer klar ist, welchen bestimmten Satz ein Bruchstück abgekürzt wiedergibt. So kann hinter wirklich? stehen: Ist das wirklich wahr? Kann er das wirklich? oder irgendein anderer Satz, der der Situation angepaßt ist. Daraus wird deutlich, warum die vollständigen Sätze so betont werden: Satzbruchstücke lassen sich von ganzen Sätzen her verstehen und erklären, aber nicht umgekehrt. Wenn wir ganze Sätze beschreiben, haben wir schon einiges fur die Beschreibung von Satzbruchstücken mitgeleistet, während die Untersuchung von Satzbruchstücken wenig oder nichts für die Beschreibung von ganzen Sätzen und der in ihnen deutlich werdenden sprachlichen Kreativität hergibt. (Nebenbei bemerkt: Satzbruchstücke müssen nicht notwendigerweise ungrammatisch sein. Sie können genau wie ganze Sätze grammatisch oder ungrammatisch sein. Mag sein ist ein grammatisches Bruchstück, sein mag nicht.) Beim Sprechen machen die Leute häufig Fehler; sie wählen eine falsche Wortstellung, manövrieren sich syntaktisch so in eine Ecke, daß es kein grammatisches Entrinnen mehr gibt, vernachlässigen die Kongruenz von Verb und Subjekt und begehen alle möglichen anderen syntaktischen Sünden. Haben wir trotzdem recht mit unserer Behauptung, daß die Leu31

te den Unterschied zwischen wohlgeformten und falsch geformten Sätzen erkennen? Die Antwort ist: ja. Wenn wir sagen, daß jemand eine Menge von Prinzipien zur Satzkonstruktion beherrscht, schließt das keineswegs aus, daß er bei der Anwendung der Prinzipien Fehler macht. Jemand, der multiplizieren kann, wird auch nicht mit absoluter Sicherheit bei jedem Versuch zum richtigen Ergebnis gelangen. Selbst wenn man fähig ist, bestimmte Probleme zu lösen, kann man dabei Fehler machen; und Sprechen unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Arten von Problemlösungsverhalten. Ja, gerade beim Sprechen gibt es eine größere Zahl möglicher Fehlerquellen als in anderen Bereichen. So können Fehler vorkommen, weil jemand zu müde ist, um sich zu konzentrieren, weil er von irgendetwas abgelenkt wird, weil er mitten im Satz etwas anderes sagen will, oder weil er einen Satz konstruiert, der so lang ist, daß er am Ende den Anfang vergessen hat. Die Beherrschung der unbegrenzten Klasse der Sätze einer Sprache ist noch keine Garantie dafür, daß der Sprecher seine Sprachkompetenz auch immer fehlerlos anwendet, sei es beim Sprechen oder beim Hören. Dieser Gedanke ist sehr wichtig. Man muß unbedingt unterscheiden zwischen der Struktur einer Sprache und der Art und Weise, wie diese Struktur gebraucht wird. Im Hinblick auf den Sprecher unterscheiden wir zwischen seiner S p r a c h k o m p e t e n z (Sprachvermögen) und Sprachperformanz (Sprachverwendung). Wie wir festgestellt haben, ist die Sprache eine Menge von Prinzipien, die zwischen Bedeutungen und Lautfolgen Korrelationen herstellen. Diese Prinzipien ermöglichen Kommunikation in Form sprachlichen Verhaltens und liegen ihm zugrunde, aber sie können nicht mit diesem Verhalten gleichgesetzt werden. Eine Sprache ist eine Menge von Prinzipien, die ein Sprecher beherrscht, nicht etwas, das ein Sprecher tut. Kurz gesagt, die Sprache ist eine Art Kode, aber der Kode selbst muß deutlich von den Tätigkeiten der Kodierung und Dekodierung unterschieden werden. Dieselbe Unterscheidung gilt zwischen einer Symphonie und ihrer Auffuhrung. Auch bei der schlechtesten Auffuhrung bleibt die Symphonie selbst davon unberührt. Sie ist ein abstraktes musikalisches System, das dem Spiel der Musiker zugrundeliegt, kann aber mit dem Spiel nicht gleichgesetzt werden. Ebenso liegt das sprachliche System der verbalen Tätigkeit der Sprecher zugrunde. Eine Sprache ist eine abstrakte Menge von psychologischen Prinzipien, die jemandes Kompetenz als Sprecher ausmacht. Diese Prinzipien machen ihm eine unbegrenzte Klasse von Sätzen zugänglich, auf die er in konkreten Situationen zurückgreifen kann. Sie sind ein entscheidendes Element der sprachlichen Kreativität. 32

Dieses abstrakte Sprachsystem versuchen die Linguisten zu beschreiben. Erst in zweiter Linie interessieren sie sich für das tatsächliche sprachliche Verhalten, das ja nur eine mittelbare Äußerung der psychologischen Prinzipien ist, die die menschliche Sprache so einmalig machen. Die Struktur der Sprache wird von Fehlern beim Sprechen ebensowenig berührt wie die Symphonie von einer schlechten Aufführung. Im Zusammenhang damit steht ein anderer Aspekt, der erläutert werden muß, weil er so oft mißverstanden wird. Wenn Linguisten die Struktur einer Sprache beschreiben, so beschreiben sie damit keineswegs das, was die Leute tun, wenn sie Sätze hervorbringen oder verstehen. Die Grammatik einer Sprache ist kein Rezept, dem man folgen könnte, wenn man die kommunikativen Erfordernisse in einer Situation einschätzt, entscheidet, was gesagt werden soll, einen bestimmten Satz auswählt und ihn dann in eine Äußerung umsetzt. Sie ist auch kein Rezept, dem der Hörer folgt, wenn er einer Äußerung zuhört und herausfindet, was gerade gesprochen wird. Sie ist vielmehr eine Beschreibung der Prinzipien, die angeben, welche Wortfolgen wohlgeformte Sätze einer Sprache sind, eine Beschreibung der inneren Struktur des sprachlichen Systems. Wie diese Struktur in sprachliches Verhalten umgesetzt wird, ist eine völlig andere Frage. In dieser Hinsicht ist die grammatische Beschreibung einer Sprache wie die geschriebene Partitur einer Symphonie. Die Noten der Partitur geben nicht Schritt fur Schritt die genauen Armbewegungen des Dirigenten an; sie zeigen auch nicht, welche Fingerbewegungen der Geiger machen muß, um die richtigen Töne auf seinem Instrument zu erzeugen. Vielmehr symbolisieren sie die innere Struktur des musikalischen Werkes. Welche Körperbewegungen die Ausführenden machen müssen, um das Werk in akustisch wahrnehmbare Form zu bringen, ist völlig außerhalb des Bereichs der Partitur. Die Grammatik einer Sprache ist eine symbolische Darstellung des abstrakten Sprachsystems, genauso wie die Partitur das abstrakte musikalische System sichtbar darstellt. Der Linguist versucht, das abstrakte Sprachsystem zu charakterisieren, aus dem die Sprecher schöpfen, wenn sie sprechen oder verstehen, aber er versucht nicht, das sprachliche Verhalten Schritt für Schritt zu erklären. Mit anderen Worten: er versucht vorwiegend, die Sprachkompetenz zu beschreiben und nicht die Performanz. Nicht, daß die Sprachperformanz gänzlich ohne Interesse wäre. Ganz im Gegenteil: der Linguist würde gerne erfahren, was die Leute im einzelnen tun, wenn sie sprechen oder zuhören. Der Grund, warum er sich hauptsächlich der Kompetenz widmet, ist ganz einfach der, daß eine Beschreibung der Sprachkompetenz logischerweise einer Beschreibung der Sprach33

performanz vorausgehen muß. Die Prinzipien, die die wohlgeformten Sätze einer Sprache angeben, machen einen entscheidenden Teil des psychologischen Apparates aus, der das Sprechen und Verstehen regelt; wir bedienen uns ihrer, wenn wir Sätze bilden oder verstehen. Deshalb setzt jede angemessene Erklärung der Sprachperformanz eine angemessene Erklärung des abstrakten Sprachsystems voraus, während das Umgekehrte nicht gilt. Wir müssen wissen, was eine Sprache ist, bevor wir verstehen können, wie Sprecher und Hörer sie praktisch verwenden.

Sprache und Denken Die Tatsache, daß Sprache dazu verwendet werden kann, unsere Gedanken auszudrücken, gibt Anlaß zu einigen interessanten Fragen. In welchem Verhältnis stehen Sprache und Denken zueinander? Können wir ohne Sprache denken? Wird unser Denken geformt von der Struktur unserer Sprache? Dies sind sehr schwierige Fragen, Fragen, die wir erst dann endgültig beantworten können, wenn wir die psychologische Struktur des Menschen viel besser kennen als heute. Widersprüchliche Ansichten sind darüber geäußert worden. Bei den folgenden Bemerkungen kann deshalb nicht garantiert werden, daß sich alle Linguisten oder Psychologen damit einverstanden erklären werden. Wenn wir Denken als bewußte Geistestätigkeit definieren, so läßt sich zunächst feststellen, daß sich Denken (oder doch gewisse Formen des Denkens) völlig unabhängig von der Sprache abspielen kann. Das einfachste Beispiel liefert die Musik. Wir haben alle schon einmal erlebt, daß wir in das Hören eines Musikstücks vertieft waren oder uns in Gedanken eine bekannte Melodie vergegenwärtigt haben. Hier spielt die Sprache keinerlei Rolle. Das Komponieren von Musik hängt in keiner Weise von der Sprache ab, zumindest was den eigentlichen schöpferischen Vorgang angeht, und dasselbe dürfte wohl für andere Formen kreativen oder problemlösenden Verhaltens gelten. Der Bildhauer wird bei der Arbeit in keiner entscheidenden Weise von der Sprache gelenkt. Er kann natürlich einen großen Teil seiner Ausbildung über die Sprache vermittelt bekommen, über seine Schöpfungen reden und sich sogar in inneren Selbstgesprächen ergehen, während er mit Hammer und Meißel vor sich hin arbeitet. Aber diese Form der Verbalisierung hat keine instrumentale Funktion im kreativen Vorgang. Über lange Zeitstrecken hinweg wird er so mit der Vergegenwärtigung von Formen und Techniken beschäftigt sein, daß Wörter völlig aus seinem Denken verschwinden. Ähnliches gilt für jemanden, der ein Puzzle-Spiel löst. Wenn man merkt, daß zwei für sich 34

allein fertiggestellte Teile zusammengehören, so ist das keineswegs eine sprachliche Leistung, auch wenn man hinterher sagt: „Aha, das gehört hierher!" Es ist deshalb schwer verständlich, warum manche Leute behauptet haben, daß Denken ohne Sprache unmöglich sei. Vielleicht haben sie den Begriff „Denken" so eng gefaßt, daß er etwas wie „propositionales Denken" bedeutet. Wenn der Begriff zu eng gefaßt wird, wird diese Behauptung zur Tautologie; es ist nicht sehr informativ, zu erfahren, daß Denken auf sprachlicher Basis nicht ohne Sprache auskommen kann. Ein weiteres Argument fur das Vorhandensein von Gedanken ohne Sprache ist die allgemein bekannte Erfahrung, daß man eine Vorstellung ausdrücken möchte, für die man keinen befriedigenden sprachlichen Ausdruck findet. Wenn es kein Denken ohne Sprache gäbe, könnte dieses Problem nie auftauchen. Trotzdem hat ein Großteil unseres Denkens zweifellos mit Sprache zu tun, zum Teil in entscheidender Weise. Einige Wissenschaftler haben die „Tyrannei" der Sprache beklagt und behauptet, daß das Weltbild einzelner Individuen oder ganzer Gemeinschaften von der verwendeten Sprache geformt wird. Man muß jedoch die Frage nach dem Grad des Einflusses der Sprache auf das Denken mit äußerster Vorsicht behandeln. Zweifellos sind schon Menschen durch das blinde Vertrauen auf Wörter irregeführt worden, aber wir können solche Fälle erkennen und die Tatsachen klarstellen; wenn die Sprache tatsächlich so tyrannisch wäre, wären wir außerstande zu erkennen, daß sie uns manchmal irreleiten kann, wenn wir nicht auf der Hut sind. Weiterhin dürfen wir die Möglichkeit nicht ausschließen, daß auch dann, wenn wir in Worten denken, unser Denken gar nicht durch die Sprache geformt ist; vielleicht ist hier eine viel allgemeinere kognitive Fähigkeit des Menschen am Werk, der die Sprache nur als Medium dient, genau wie die Musik das Medium für die kreativen Kräfte des Komponisten ist. Die Gelehrten sind sich weitgehend darin einig, daß Wörter bestimmte Denkformen sehr erleichtem, indem sie als „Spielmarken" oder Symbole dienen, die leicht gehandhabt werden können. Wir wissen ziemlich genau, was Rechnen ist; wir können addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Wir kennen auch das Wort Rechnen, das als Etikett für diesen Begriffskomplex dient. Wenn wir über Rechnen nachdenken (welche Stellung es im Gesamtbereich der Mathematik hat, wie es in den Schulen unterrichtet wird, ob unsere Kinder damit zurechtkommen, ob wir es gerne tun, wie schwierig es ist), können wir das Wort Rechnen als Symbol in unseren Denkvorgängen verwenden. Es ist viel einfacher, das Wort 35

Rechnen in unseren Gedanken zu handhaben, als mit dem gesamten Begriffskomplex zu operieren, den das Wort symbolisiert. Der Gebrauch von sprachlichen Symbolen vereinfacht also das Denken in vielen Fällen. Man könnte sogar behaupten, daß manche Formen des Denkens ohne diese praktischen „Spielmarken" überhaupt unmöglich wären. Sprachliche Etiketten haben eine besondere Bedeutung im Bereich abstrakter Vorstellungen. Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, Kommunismus und Bildung sind gebräuchliche Termini, und doch wäre es sehr schwierig, ihre Bedeutung genau zu fixieren. Gerechtigkeit ruft kein konkretes Bild hervor wie etwa Tisch. Normalerweise können wir darüber Einigkeit erzielen, ob etwas ein Tisch ist oder nicht, aber wann wissen wir genau, was Gerechtigkeit ist? Wann wird etwas zu Recht als obszön bezeichnet? Hat das Wort Freiheit irgendeine greifbare Bedeutung? Wir haben natürlich zumindest eine vage Vorstellung von der Bedeutung dieser Termini, aber ihre genaue Bedeutung entzieht sich der Festlegung und ist von Person zu Person verschieden. Diese Begriffe würde es wahrscheinlich gar nicht geben, wenn keine Wörter dafür vorhanden wären, die die Funktion haben, eine Anzahl von vagen, einigermaßen unzusammenhängenden Vorstellungen zu sammeln und zusammenzuhalten. Weil solche Wörter abstrakt sind, stehen sie in einem ziemlich losen Verhältnis zur Realität. In gewisser Weise sind sie fast leer. Wenn man nicht vorsichtig ist, können sie zu emotional geladenen Etiketten werden, die nur dazu dienen, jemanden oder etwas als gut oder schlecht abzustempeln. Es ist unglücklicherweise sehr leicht, jemanden einen Kommunisten zu nennen oder etwas im Namen der Freiheit zu tun, und man wird nur zu leicht vom leeren Gebrauch von Wörtern verfuhrt. Was ist nun die Beziehung zwischen unseren Denkvorgängen und der Struktur unserer Sprache? Ist die Sprache ein tyrannischer Herrscher, der unser Denken unerbittlich in bestimmte ausgefahrene Bahnen zwingt und uns von allen anderen Möglichkeiten abschirmt? Ist unser Weltbild wesentlich durch unsere Sprache vorgeformt, wie manche Leute behauptet haben? Diese Fragen kann man sowohl im Hinblick auf Wörter als auch auf grammatische Strukturen stellen. Wir haben gesehen, daß ein Wort nützlich sein kann, wenn man den von ihm bezeichneten Begriff bilden, behalten oder damit operieren will. Wir haben ebenfalls gesehen, daß keine zwei Sprachen den Begriffsraum genau in der gleichen Weise aufteilen und die Teile Wörtern als Bedeutungen zuordnen. Das Deutsche unterscheidet zwischen grün und blau, während andere Sprachen nur ein einziges Wort gebrauchen, um diesen ganzen Bereich des Spektrums zu bezeichnen; einige Sprachen haben 36

Wörter für einzelne Arten von Bäumen, besitzen jedoch keinen dem deutschen Wort Baum entsprechenden allgemeinen Ausdruck, der die ganze Klasse umfaßt. Solche Unterschiede finden sich im gesamten Wortschatz und lassen sich immer finden, gleichgültig, welche zwei Sprachen man vergleicht. Unsere Frage ist also, in welchem Ausmaß diese Unterschiede in der sprachlichen Kategorisierung der Erfahrung für entsprechende Unterschiede im Denken verantwortlich sind. Es besteht kaum Zweifel darüber, daß Unterschiede im Wortschatz einen gewissen Einfluß auf das Denken haben, zumindest in dem Sinne, daß es leichter ist, über Dinge nachzudenken, für die wir ein Wort haben. Wir sind gewohnt, bestimmte Farben mit der Bezeichnung rot zu versehen und andere mit blau. Wenn wir einen typisch roten oder blauen Gegenstand sehen, können wir sofort seine Farbe angeben; die Begriffe rot und blau stehen uns sofort zur Verfügung, denn wir haben unser ganzes Leben hindurch Erfahrung gesammelt, welche Dinge man rot und welche man blau nennt. Es wird uns auch keine Schwierigkeiten bereiten, uns die Farbe eines roten oder eines blauen Gegenstandes zu merken. Nehmen wir aber an, wir hätten einen Gegenstand in einem sehr dunklen Braunton vor uns, der schon ins Schwarze spielt. Für diese besondere Farbe gibt es im Deutschen keinen allgemein üblichen Terminus. Man wird zögern, sie als braun oder schwarz zu bezeichnen, weil sie nicht der Normalvorstellung von braun oder schwarz entspricht. Schließlich wird man es dann mit einer Wendung wie ganz dunkelbraun oder schwarzbraun versuchen, aber eine solche Wendung wird sich wohl nicht so leicht anbieten wie rot oder blau. Wir sind nicht in der gleichen Weise daran gewöhnt, Nuancen von braun voneinander zu unterscheiden, wie wir rot und blau unterscheiden. Es wird schwieriger sein, sich an einen bestimmten Braunton zu erinnern (im Vergleich zu anderen Brauntönen), als sich die Farbe eines typisch roten Gegenstands zu merken. Hätte aber unsere Sprache ein besonderes Wort für diesen sehr dunklen Braunton und wären wir gewöhnt, Gegenstände dieser Farbe durch die Bezeichnung mit diesem Wort zu charakterisieren, so würden solche Schwierigkeiten nicht auftreten. Unser Denken wird also von der sprachlichen Kategorisierung der Erfahrung insofern vorgeformt, als es leichter ist, mit Begriffen zu operieren, die mit einem einzelnen Wort kodiert werden, als mit solchen, für die kein einzelner Terminus verfügbar ist. Die Aufteüung des Begriffsraums durch die Sprache hat somit zumindest einen gewissen minimalen Einfluß auf das Denken. Aber es gibt absolut keinen Beweis dafür, daß dieser Einfluß in irgendeiner Weise tyrannisch oder auch nur stark 37

wäre. Wir können ohne weiteres Begriffe bilden und mit ihnen umgehen, für die kein besonderes Wort vorhanden ist. Wir können nach Belieben Phantasiegebilde erfinden und, wenn wir wollen, ihnen auch Namen geben. Man könnte sich etwa ein Einhorn vorstellen, dem aus jedem Nasenloch eine Blume wächst. Es gibt fiir dieses Wesen kein Wort, und doch läßt es sich leicht in Gedanken fassen. Wir könnten uns einen Namen dafür einfallen lassen, aber das muß nicht sein. Wie verhält es sich nun mit den grammatischen Strukturen einer Sprache? Zwingen sie unser Denken in bestimmte vorgeformte Bahnen, so daß andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden? Bestimmen sie unser Weltbild, wie viele Gelehrte behauptet haben? Nach außen hin zeigen Sprachen manchmal außerordentlich auffallende Unterschiede in der grammatischen Struktur. (Wir werden jedoch später sehen, daß bei genauerer Untersuchung die Sprachen einander grammatisch ziemlich ähnlich zu sein scheinen.) So wird zum Beispiel das, was wir im Deutschen durch Adjektive ausdrücken, in manchen anderen Sprachen mit dem Äquivalent unserer intransitiven Verben ausgedrückt. Wenn wir den Satz, der die Bedeutung hat ,Der Baum ist hoch', Wort für Wort übersetzen, so erhalten wir Der Baum hocht. Um auszudrücken, daß der Fluß tief ist, würde man sagen Der Fluß tieft. Viel häufiger ist es aber, daß sich Sprachen darin unterscheiden, was an grammatischen Kategorien obligatorisch in Sätzen vertreten sein muß. Eine solche Kategorie ist das Genus. Im Französischen z.B. ist jedes Substantiv als Maskulinum oder Femininum klassifiziert, und im Singular erscheint der Artikel als le, wenn das betreffende Substantiv ein Maskulinum ist, aber als la, wenn das Substantiv ein Femininum ist. Während man im Englischen the cheese und the meat sagt, unterscheidet man im Französischen und sagt le fromage, aber 1a viande. Im Deutschen ist die Unterscheidung dreifach. Der Käse als Maskulinum, die Kartoffel als Femininum und das Fleisch als Neutrum. In anderen Sprachen gibt es sogar noch mehr Genus-Kategorien, die Kongruenz im Satz fordern. (Diese Unterscheidungen sind, nebenbei gesagt, grammatischer Art; sie beruhen nicht direkt auf dem natürlichen Geschlecht der betroffenen Einheiten.) Das Genus ist natürlich nur ein Beispiel. Numerus, Kasus, Tempus und Aspekt sind andere Kategorien, die man in den bekannten europäischen Sprachen häufig findet. Und viele Sprachen kennen Kategorien, die einem deutschen Sprecher recht exotisch vorkommen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Plural verschieden gekennzeichnet ist, je nachdem, ob die betreffenden Gegenstände nahe zusammenliegen oder ver38

streut sind. In der Navaho-Sprache sind bestimmte Verben im Bereich der Handhabung von Gegenständen, wie ,fallen lassen' oder .aufheben', ihrer Form nach davon abhängig, welche Gestalt der gebrauchte Gegenstand hat. So wird etwa die eine Form verwendet, wenn der Gegenstand rund oder unförmig ist, die andere, wenn er lang, dünn und starr ist. In den Sioux-Sprachen enthalten Sätze Elemente, die angeben, welchen Grad der Glaubwürdigkeit der Sprecher dem Gesagten zumißt. Niemand leugnet diese offensichtlichen grammatischen Unterschiede. Wenn zwei Sprachen ihrer Struktur nach verschieden genug sind, so wird einem Sprecher der zweiten Sprache eine wörtliche Übersetzung aus der ersten, die Element für Element wiedergibt, grotesk vorkommen. Etwas ganz anderes ist es, zu behaupten, daß diese Unterschiede in der grammatischen Struktur signifikante Unterschiede in den Denkvorgängen der Sprecher zur Folge haben. Der Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist bis jetzt noch nicht erbracht worden. Es ist nicht gelungen, die hochtrabende Annahme, daß das Weltbild eines Menschen durch seine Sprache determiniert sei, durch Fakten zu erhärten. Es gibt keinerlei Grund zu glauben, daß die grammatische Struktur unserer Sprache unser Denken mit tyrannischem Griff wie in einem Schraubstock hält. Daß die Beweise für diese Vorstellung nicht erbracht worden sind, ist nicht überraschend. Die Behauptungen beruhen auf eigentlich recht oberflächlichen Aspekten der Sprachstruktur. Was bedeutet es schon, wenn die französischen Substantive in zwei Genus-Klassen aufgeteilt sind, während es im Englischen nur eine gibt? Aus dieser willkürlichen und eher uninteressanten grammatischen Tatsache ergeben sich keine gültigen psychologischen Folgerungen. Wenn man in seiner Muttersprache gelernt hat, zu sagen Die Blume rötet, Der Baum hocht und Der Muß tieft, so folgt daraus nicht, daß man in einer besonders aufregenden geistigen Welt lebt, in der Farben Tätigkeiten von Gegenständen sind, wo Bäume dauernd mit der Tätigkeit des Hoch-Seins beschäftigt sind und die Flüsse sich in die Tiefe strecken, während sie horizontal dahinfließen. Diese Ausdrucksweisen wären das Gewohnte, sie kämen einem nicht poetisch vor, wie sie einem deutschen Sprecher vorkommen: man würde in derselben Welt leben wie jetzt auch. Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Ergänzen Sie die Liste onomatopoetischer Wörter im Text durch weitere Beispiele für Lautmalerei! Gibt es eine klare Trennung zwischen imitativen (nachahmenden) und nicht-imitativen lexikalischen Einheiten? Lassen sich imitative Wörter nach den Mustern, nach denen sie gebildet sind, zu natürlichen Gruppen

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zusammenfassen? Gibt es weitere Beispiele für Laute oder Lautfolgen der deutschen Sprache, bei denen eine besonderer Lautsymbolik vorzuliegen scheint (ζ. B. [i] und [o])? 2. Die Sprachen unterscheiden sich ausnahmslos darin, wie ihre lexikalischen Einheiten die Erfahrung in sprachliche Kategorien fassen. Dafür gibt es eine große Anzahl bekannter Beispiele, so ζ. B. die unterschiedliche Art und Weise, in der die Sprachen das Farbspektrum aufteilen; Unterschiede im Bereich der Verwandtschaftsbezeichnungen (siehe dazu Burling, Man 's Many Voices), und die unterschiedliche Klassifizierung von Pflanzen und Tieren. Solche Unterschiede in der sprachlichen Kategorisierung der Erfahrung lassen sich jedoch in allen Bereichen des Wortschatzes finden. Falls Sie mehrere Sprachen beherrschen, versuchen Sie festzustellen, wie sich die betreffenden Sprachen in dieser Hinsicht voneinander unterscheiden! 3. Geben Sie weitere Beispiele fur solche Arten des Denkens, die nicht grundlegend auf der Sprache beruhen! Welche Arten des Denkens beruhen dagegen in entscheidender Weise auf der Sprache? Operieren Sie manchmal mit Vorstellungen und Begriffen, für die es keinen gängigen sprachlichen Ausdruck gibt? 4. Die Sprache verleitet oft zu falschen Schlüssen. Nehmen Sie ζ. B. folgenden Trugschluß: Hans will ein Einhorn erlegen. Wenn Hans ein Einhorn erlegen will, so muß es ein Einhorn geben, welches Hans erlegen will. Also gibt es mindestens ein Einhorn. Was stimmt nicht an diesem Schlußverfahren? Geben Sie andere Beispiele für falsche Schlußfolgerungen, die auf unangemessener Verwendung von Sprache beruhen! Was lassen solche Beispiele hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprache und Denken erkennen? Ergeben sich daraus Zweifel an der Verwendbarkeit der menschlichen Sprache als Mittel für philosophische Untersuchungen? 5. Die Sprache läßt sich leicht zur Verfolgung der verschiedensten Ziele mißbrauchen. So werden ζ. B. durch geschickte Wortwahl, durch übertriebene Betonung von Nebensächlichkeiten, durch Vermeiden von bestimmten Ausdrükken oder durch ähnliche Mittel oft sprachliche Wirkungen erreicht, die dazu geeignet sind, den Hörer in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen. Eine kleine Auswahl von Wörtern, die eher wegen ihrer emotionalen Wirkung als wegen ihres intellektuellen Inhalts gebraucht werden, findet sich bereits im Text. Beobachten Sie Sprache im praktischen Gebrauch und stellen Sie die sprachlichen Mittel zusammen, die speziell zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt werden! Zu diesem Zweck eignet sich nahezu jedes sprachliche Material: eine politische Rede, kommerzielle Werbung, der Leitartikel einer Tageszeitung, oder auch ein Schlagertext· 6. Stellen Sie die Satzfragmente zusammen, die Sie in einem^Redeausschnitt der deutschen Sprache finden, oder entwerfen Sie aufgrund Ihrer eigenen Intuition eine Liste einschlägiger Beispiele! Für welche vollständigen Sätze stehen

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die Fragmente als Abkürzung? Gibt es Regelmäßigkeiten in der Beziehung von Fragmenten zu vollständigen Sätzen? Lassen sich Regeln formulieren, die diese Regelmäßigkeiten beschreiben? 7. Wir haben gezeigt, daß die Analogie-Theorie zur Erklärung von grammatischen Fakten inadäquat ist, und zwar hauptsächlich deshalb, weil auf der Grundlage grammatischer Sätze mit Hilfe der Analogie sowohl grammatische als auch ungrammatische Sätze konstruiert werden können. Die Fähigkeit eines Muttersprachen-Sprechers, zwischen beiden zu unterscheiden, kann nur dadurch hinreichend erklärt werden, daß ergänzend zum Analogie-Modell grammatische Regeln angenommen werden, die aber das Analogie-Modell selbst überflüssig machen. Im Text wurde bereits ein Beispiel für einen falschen Analogieschluß gegeben; hier folgt ein weiteres: auf der Grundlage der zu einem früheren Zeitpunkt gehörten grammatischen Sätze Peter verbietet Hans zu kommen, Peter verbietet die Feier und Ich wünsche die Rückgabe könnte ein Sprecher durch einen Analogieschluß den ungrammatischen Satz Ich wünsche Hans zu kommen ableiten. Konstruieren Sie weitere Beispiele fur falsche Analogien! Welche zusätzlichen Prinzipien müßten angenommen werden, um solche falschen Ergebnisse zu verhindern? 8. Einen Überblick über die in neuerer Zeit geleistete sprachliche Arbeit mit Schimpansen gibt Roger Brown in seinem Artikel "Teaching Sign Language to a Chimpanzee" (in: Laird/Gorrell, eds., Reading About Language, S. 38 - 46). Unter anderem diskutiert Brown die Frage, ob die „Sätze", die Schimpansen zu bilden vermögen, nur aus einer Zusammenstellung unverbundener einzelner Zeichen bestehen, oder ob die Zeichen auf irgendeine erkennbare Weise syntaktisch konsistent gruppiert sind. Auf der Grundlage des ihm zur Verfugung stehenden Materials schließt Brown, daß die Frage im Moment noch offen bleiben muß. Lesen Sie Browns Artikel und studieren Sie seine Materialgrundlage; lesen Sie Kap. 5 des vorliegenden Buches, und bilden Sie sich selbst ein Urteil! (Zur ergänzenden Lektüre seien zwei weitere Aufsätze empfohlen: R. A. Gardner/B. T. Gardner, "Teaching Sign Language to a Chimpanzee", in: Parveen Adams, ed., Language in Thinking. Harmondsworth, Middlesex: Penguin Books 1972, S. 17 - 42, und A. J. Premack/ D. Premack, "Teaching Language to an Ape", in: Scientific American 227:4 (Oktober 1972) S. 92 - 99.) 9. Es ist unmittelbar einzusehen, daß es in einer Sprache eine unbegrenzte Anzahl von Sätzen gibt. Es ist ebenfalls klar, daß der ständig in Gebrauch befindliche Wortschatz einer Sprache zahlenmäßig begrenzt ist. Nicht ganz so leicht ist jedoch die Frage zu beantworten, ob alle Wörter einer Sprache — sowohl die ständig verwendeten als auch „potentielle", die ganz selten oder gar nicht verwendet werden - eine endliche oder eine unendliche Menge ausmachen. Die Schwierigkeit liegt zum Teil in der Entscheidung darüber, ob Zusammensetzungen (siehe Kap. 4) als Wörter im obigen Sinne angesehen werden sollen. Wenn man sie als Wörter betrachtet, dann läßt sich nur sehr schwer argumentieren, daß der Wortschatz einer Sprache notwendig endlich sei; denn es gibt offensichtlich keine obere Grenze für die Komplexität, die eine Zusammensetzung haben darf. So ließen sich beispielsweise die Zusammensetzung Staub-

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Sauger und das von einem Verb abgeleitete Substantiv Verkäufer zu der größeren Zusammensetzung Staubsaugerverkäufer kombinieren; jemand, der dem Verkäufer hilft, könnte als Staubsaugerverkäufergehüfe bezeichnet werden; die Voraussetzung, die eine solche Person zur Ausübung ihres Berufes mitbringen müßte, wäre eine Staubsaugerverkäufergehilfenausbildung; diese Ausbildung würde vorzugsweise an einer Staubsaugerverkäufergehilfenausbildungsstätte vermittelt, und der Leiter einer solchen „Schule" wäre ein Staubsaugerverkäufergehilfenausbildungsstättenleiter, usw.. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Punkt, an dem Zusammensetzungen wie diese wegen zu großer Komplexität nicht mehr wohlgeformt sind? Soll man solche Zusammensetzungen als der betreffenden Sprache zugehörig betrachten, auch wenn sie niemals im tatsächlichen Gebrauch vorkommen mögen? Soll man sie als „Wörter" betrachten? Bei den Ableitungsaffixen ergibt sich ein ähnliches Problem, obwohl hier klar ist, daß wir es mit Wörtern und nicht mit Wortfolgen zu tun haben. Dazu ein Beispiel aus dem Englischen: durch Anfügen des Suffixes al an ein Substantiv kann ein Adjektiv abgeleitet werden: region + al = regional; durch Anfügen von ize wird ein Adjektiv zu einem Verb abgeleitet: rational + ize = rationalize; das Suffix ation macht aus einem Verb ein Substantiv: relax + ation = relaxation; ein Adjektiv plus ist ergibt ein Substantiv: real + ist = realist, und schließlich können wir ein Adjektiv zu einem Substantiv ableiten, indem wir ic suffigieren: photograph + ic = photographic. Auf der Grundlage dieser Ableitungsprinzipien lassen sich Wörter beliebiger Komplexität konstruieren: nation, national, nationalize, nationalization, nationalizational, mtiomlizationalist, nationalizationalistic, nationalizationalisticalizationalistic, JUSW. Können wir bei diesem Prozeß ein Stadium erreichen, in dem nach der Anfügung eines weiteren Suffixes das Ergebnis nicht mehr wohlgeformt ist? Haben Wörter wie das letzte keine Bedeutung, oder ist ihre Bedeutung nur so hochspezialisiert, daß wir sie kaum erfassen können und daß der Umgang mit ihnen nahezu unmöglich ist? Soll man solche und ähnliche Wörter als der betreffenden Sprache zugehörig betrachten? 10. Eine behavioristische Theorie des Spracherwerbs ist die Theorie der instrumentellen Konditionierung ("operant conditioning"). Diese Theorie besagt, daß das Kind spontan und auf größtenteils unsystematische Weise Laute hervorbringt. Die Eltern verstärken diese Lautungen des Kindes auf charakteristische Weise, um sein sprachliches Verhalten zu formen; ist eine verbale Reaktion des Kindes ihrer Sprache ähnlich, so verstärken sie sie positiv durch eine Belohnung; ist sie es nicht, so verstärken sie sie negativ durch Ignorieren oder Bestrafung des Kindes. Über eine gewisse Zeit hinweg wird durch solche positive oder negative Verstärkung der Lautungen, die das Kind hervorbringt, sein Sprachverhalten so geformt, daß es dem seiner Eltern mehr und mehr entspricht. So lernen wir dieser Theorie zufolge sprechen. Lassen sich die beobachteten Fakten des Spracherwerbs, wie sie in diesem Kapitel dargestellt sind, mit der Theorie der instrumenteilen Konditionierung vereinbaren? 11. Die Abbildung zeigt ein „Diagramm mit endlich vielen Zuständen". Es weist eine begrenzte Anzahl von Zuständen auf, hier mit den Nummern 1 bis 7 versehen, und eine endliche Menge von Übergängen von einem Zustand in einen anderen, die durch die Pfeile symbolisiert werden. Das Diagramm kann man interpretieren

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als „Schaltplan" eines satzproduzierenden Automaten. Der Automat beginnt seine Operationen mit dem Zustand Nr. 1 und springt von einem Zustand zum nächsten, bis Nr. 7 erreicht ist, wo er abschaltet. Die einzigen erlaubten Ubergänge sind die im Diagramm durch Pfeile gekennzeichneten. Bei jedem Übergang wirft der Automat das Wort aus, mit dem der entsprechende Pfeil versehen ist (in diesem Fall ein Wort der englischen Sprache). Beim Fortschreiten des Automaten von Zustand zu Zustand werden dadurch Ketten von Wörtern, also Sätze, erzeugt, Das hier abgebildete Diagramm mit endlich vielen Zuständen setzt den Automaten in die Lage, eine unbegrenzte Zahl grammatischer Sätze der englischen Sprache zu produzieren, aber keine ungrammatischen. Unter anderem erzeugt der Automat folgende Sätze: Paul is intelligent; Sally is very intelligent; Joe is very very very intelligent; Sally is a liar; Paul is a fool; Joe believes so; Sally thinks so; Paul thinks that Joe believes that Sally thinks so; Joe believes that Sally thinks that Joe is very very very very intelligent; Sally thinks that Paul is a fool. Da ein solches Diagramm mit endlich vielen Zuständen eine potentiell unendliche Menge von Sätzen beschreibt, und da die Grammatik einer Sprache die Sätze dieser Sprache beschreiben muß, liegt die Überlegung nahe, ob nicht die Grammatik einer Sprache einfach aus einem komplexen Diagramm mit endlich vielen Zuständen bestehen kann. Ein solches Modell gewinnt ferner an Interesse dadurch, daß es in seinen Grundprinzipien, vielleicht sogar in einzelnen Details, dem einfachen Reiz-Reaktions-Modell der psychischen Struktur verwandt ist. Tatsächlich wissen wir jedoch, daß das Modell einer „Grammatik mit endlich vielen Zuständen" zur Beschreibung der syntaktischen Struktur menschlicher Sprachen inadäquat ist (siehe N. Chomsky, Strukturen der Syntax). Entwerfen Sie selbst eine „Grammatik mit endlich vielen Zuständen" für verschiedene Strukturen der deutschen Sprache! Achten Sie darauf, daß keine ungrammatischen Sätze erzeugt werden! Welche syntaktischen Phänomene lassen sich mit einem solchen Modell nur sehr schwierig oder auf Kosten der Einfachheit behandeln? Welche Phänomene können überhaupt nicht behandelt werden? Überlegen Sie, nachdem Sie Kap. 5 durchgearbeitet haben, auf welche Weise — falls es Uberhaupt möglich ist - in einem solchen Modell die dort beschriebenen Regularitäten dargestellt werden könnten! very

ANFANG

7 ) ENDE

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3. Sprachliche Vielfalt

Sprachen und Dialekte Man nimmt an, daß heute in der Welt etwa drei- bis fünftausend Sprachen gesprochen werden. Eine genaue Zahl läßt sich aus mindestens zwei Gründen kaum angeben. Erstens fehlt uns die umfangreiche Information aus allen Teilen der Welt, ohne die eine genaue Schätzung unmöglich ist. Der zweite Grund betrifft den Begriff Sprache selbst. Obgleich wir intuitiv eine grobe Vorstellung davon haben, was Sprache bedeutet, sind doch die Fakten des Gebrauchs der Sprache so geartet, daß es oftmals sehr schwer ist, praktisch zu entscheiden, wann dieser Terminus richtig gebraucht wird. Auf den ersten Blick zeigt sich kein Problem. Englisch ist eine Sprache, dasselbe gilt für Französisch und Holländisch. Englisch ist die Sprache, die in den Vereinigten Staaten, England, Kanada und noch einigen anderen Ländern gesprochen wird; Holländisch ist die Sprache, die in den Niederlanden gesprochen wird. Aber ganz so einfach ist das doch nicht. Wenn wir Sprachgrenzen bestimmen wollen, stellen wir fest, daß sie in erne Karte nicht so einfach eingetragen wejden können wie Staatsgrenzen, zumindest nicht ohne grobe Vereinfachung. Um uns die Probleme vorzuführen, wollen wir einen Fall annehmen, in dem sich Sprachgebiete genauso leicht auf einer Karte eintragen lassen wie Länder. So wäre Abb. 3.1 eine Sprachkarte eines bestimmten geographischen Gebiets. Eine derartige Karte impliziert zweierlei. Erstens impliziert sie, daß innerhalb eines jeden durch Grenzlinien abgetrennten Teilgebiets die Sprache einheitlich ist. So wird man sagen, daß alle Bewohner des mit „Sprache A " gekennzeichneten Gebietes dieselbe Sprache sprechen. Zweitens impliziert die Karte, daß die sprachlichen Unterschiede zwischen den jeweiligen Gebieten so deutlich sind, daß eine Grenzziehung berechtigt ist. So lassen sich nach Abb. 3.1 die Sprachen Β und C leicht unterscheiden, so daß es realistisch ist, zwischen den beiden eine Grenzlinie zu ziehen.

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Abb. 3.1

In Wirklichkeit trifft jedoch keine dieser zwei Vorbedingungen zu. Zunächst einmal zeigen Sprachgebiete im allgemeinen eine erstaunliche innere Vielfalt. Darüber hinaus gehen sie sehr oft langsam ineinander über, so daß jede Trennlinie auf einer Karte mehr oder weniger willkürlich gezogen werden muß. Sprachsituationen wie in Abb. 3.1 finden sich deshalb nie in der Wirklichkeit. Tatsächliche Gegebenheiten nähern sich dem mehr oder weniger an, aber nie genau. Betrachten wir zuerst die Tatsache, daß die Trennlinie willkürlich gezogen ist. In manchen Fällen läßt sich eine vernünftige Trennlinie ziehen, ohne daß dadurch den Tatsachen allzusehr Gewalt angetan wird. So läßt sich etwa die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko recht gut als Demarkationslinie zwischen Englisch und Spanisch verwenden. Aber selbst hier müssen einige wichtige Einschränkungen hinzugefügt werden. Viele Leute, die nahe der Grenze auf der amerikanischen Seite wohnen, sprechen besser Spanisch als Englisch, und manche sprechen nur Spanisch. Andererseits sprechen viele Leute auf der mexikanischen Seite Englisch. Zwischen dem Gebiet, wo Englisch so vorherrscht, daß Spanisch praktisch keine Rolle mehr spielt, und demjenigen, wo das Gegenteil der Fall ist, gibt es einen recht breiten Bereich, wo beide Sprachen verwendet werden, wo englische Wörter sich in spanisch geführte Gespräche einschleichen usw. Demnach ist sogar hier jede scharfe Trennlinie eine unzulässige Vereinfachung. 45

In anderen Fällen sind die Schwierigkeiten beim Festiegen einer Trennlinie noch viel größer. Bei den australischen Ureinwohnern etwa findet man unterscheidbare Sprachregionen, die geographisch wie die Glieder einer Kette angeordnet sind. Die Leute in zwei jeweils aneinander angrenzenden Sprachregionen sprechen ganz ähnlich; wenn man sich nun von einem Ende der Kette immer von einer Region zur nächsten fortschreitend bis zum anderen Ende der Kette bewegen würde, wäre an keinem Punkt der sprachliche „Sprung" so groß, daß sich die Annahme einer Sprachgrenze rechtfertigen ließe. Man hätte nie einen guten Grund zu sagen: „Aha, gerade habe ich die Sprache X verlassen; jetzt befinde ich mich in der Region, in der Sprache Y gesprochen wird." Bei einem derartigen Kontinuum scheint es kaum gerechtfertigt, von zwei verschiedenen Sprachen zu reden. Wenn wir aber direkt vergleichen würden, wie die Leute an den beiden Enden der Kette sprechen, ohne die dazwischenliegenden Glieder der Kette zu berücksichtigen, fänden wir gewichtige Unterschiede und würden zweifellos daraus den Schluß ziehen, daß es sich hier um zwei verschiedene Sprachen handelt. Dergleichen findet man häufig. Oft verstehen sich die Sprecher in zwei angrenzenden Regionen gegenseitig, während das für die beiden Enden eines Kontinuums nicht gilt. Daraus folgt eindeutig, daß irgendwelche Linien wie in Abb. 3.1 bis zu einem gewissen Grad künstlich sein müssen, da es nie eine scharfe geographische Grenze zwischen Sprachen gibt. Der Übergang kann relativ abrupt oder sehr allmählich sein, oder er kann irgendwo in der Mitte zwischen diesen Extremen liegen. Diese Einschränkung bedeutet nicht, daß wir überhaupt nicht von verschiedenen Sprachen sprechen können, aber sie zeigt, daß eine derartige Einteilung immer mehr oder weniger von der Wirklichkeit abstrahiert. Die zweite Implikation der Abb. 3.1 ist, daß es innerhalb jedes durch Grenzlinien bezeichneten Teilgebiets eine sprachliche Einheitlichkeit gibt. Selbst in den Vereinigten Staaten, wo es vergleichsweise wenig sprachliche Vielfalt gibt, ist diese Implikation nicht gerechtfertigt. Die Sprache von Texas unterscheidet sich von der in den Neu-England-Staaten, und Leute aus dem Mittelwesten sprechen nicht so wie die aus dem Süden. Entsprechendes findet sich im deutschen Sprachraum: Bayern sprechen anders als Hannoveraner, Schwaben anders als Österreicher. Wir alle sind uns dieser oberflächlichen Unterschiede bis zu einem gewissen Grad bewußt und erlauben uns gelegentlich sogar einen Witz auf Kosten eines anderen Dialekts. Die Unterschiede sind verschiedener Art. Am bekanntesten sind wohl diejenigen der Aussprache, die ja sogar von einem Sprecher einer Sprache

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zum andern vorhanden sind. In Norddeutschland spricht man in dem Wort Salat das anlautende s stimmhaft [z] und die beiden α hell, während man in Österreich das s stimmlos spricht [s] und die beiden α dunkel, fast wie ein o. An den weichen Konsonanten erkennt man den Sachsen, und die Franken rollen das r auf besondere Weise. Aber auch im Wortschatz und in der Syntax gibt es regionale Unterschiede. So wird statt vom Metzger vom Fleischer, Fleischhauer oder Schlächter gesprochen, statt Johannisbeere findet sich Träuble oder Ribisl. In Süddeutschland verwendet man als Durativform ich bin gesessen, in Norddeutschland ich habe gesessen. Etwas vergessen heißt es in Deutschland, auf etwas vergessen in Österreich. Dies ist nur eine kleine Auswahl aus einer Vielzahl von Einzelheiten, in denen sich Sprecher des Deutschen unterscheiden. Im strengen Sinn kann also in dem Gebiet, wo Deutsch gesprochen wird, von sprachlicher Einheitlichkeit nicht die Rede sein. Wir müssen demnach unsere Vorstellung vom Sprachraum weiter differenzieren, um die wirkliche Sprachvielfalt berücksichtigen zu können.

Dialekte Ein naheliegender Versuch, das Bild realistischer zu gestalten, wäre, ein Sprachgebiet in Dialektgebiete aufzuteilen. Innerhalb des geographischen Bereichs der Bundesrepublik könnte man ζ. B. einen rheinländischen, einen hessischen, einen schwäbischen, einen bairischen Dialekt u. a. kennzeichnen. Dieses etwas realistischere Bild ist in Abb. 3.2 schematisch dargestellt: Die Sprache Α ist hier in die Dialekte Αι, A2 und A3 aufgeteilt, das gleiche gilt für die Sprachen Β und C. Natürlich ist bei der Setzung von Dialektgrenzen dieselbe Vorsicht geboten wie bei den Sprachgrenzen. Selten oder nie können wir auf der Karte mit Sicherheit angeben, wo ein Dialekt aufhört und der andere anfangt. Die Unterscheidung von verschiedenen Dialekten innerhalb einer Sprache beruht darauf, daß das Sprachsystem der Sprecher des einen Dialekts sich in bestimmten Punkten von dem der Sprecher des anderen Dialekts unterscheidet. Nehmen wir ein hypothetisches Beispiel: Der Dialekt Bi in Abb. 3.2 sei ein besonderer Dialekt der Sprache B, weil er etwa folgende Differenzen zeigt: (1) die Sprecher von Bj verwenden im Anlaut stimmhaftes s [z], wo andere Sprecher von Β stimmloses s [s] sprechen; (2) es wird helles a [a] gesprochen, wo andere Dialekte von Β dunkles a [ο] haben; (3) das Wort tawpa bezeichnet einen bestimmten Vogel, der 47

Abb. 3.2

von den Sprechern von B2 und B3 als kenso bezeichnet wird. In Wirklichkeit ist es aber nicht so einfach. Wenn man versucht, Dialektgrenzen auf Grund von unterschiedlichen Elementen in den Sprachsystemen festzulegen, so erhält man verschiedene Ergebnisse, je nachdem, welche Merkmale des Sprachsystems als Kriterien für die Grenzziehung herangezogen werden. Hätten wir uns nicht die obengenannten Beispiele ausgewählt, sondern andere Merkmale der Aussprache, des Wortschatzes und der Syntax genommen, die bei Sprechern von Β verschieden sind, so hätte sich möglicherweise eine völlig andere Aufteilung von Β ergeben. Dazuhin wären diese Grenzen ebenso gültig wie die zuerst festgestellten, da sie auf derselben Grundlage gewonnen worden wären. Für die geographische Grenzlinie eines sprachlichen Merkmals verwenden die Linguisten den Terminus Isoglosse. Auch in einem relativ einheitlichen Sprachgebiet lassen sich eine ganze Anzahl von Isoglossen finden. Es besteht keine zwangsläufige Beziehung zwischen verschiedenen Isoglossen; sie überkreuzen sich, gehen auseinander und bieten oft ein ziemlich verwirrendes Bild. Abb. 3.3 ist eine mögliche Sprachkarte, auf der drei Isoglossen eingezeichnet sind. Die betreffenden sprachlichen Merkmale stammen aus dem 48

FINU / TAWEN

finu stanu sen STANU LUFA~"~" finu lufa sen SEN

tawen stanu sen

\

[

/

/

tawen lufa sen

γ-

Ι KT AW finu lufa iktaw

\ J J

tawen lufa iktaw

Abb. 3.3

Wortschatz. Manche Sprecher nennen einen sperlingartigen Vogel, der in diesem Gebiet vorkommt, finu, andere nennen ihn tawen. Die vertikal verlaufende Isoglosse bezeichnet grob die Teilgebiete, die durch die beiden lexikalischen Einheiten charakterisiert sind: Sprecher links der Linie gebrauchen im allgemeinen//««, während rechts der Linie tawen gebraucht wird. Entsprechend zeigen die Isoglossen für stanu/lufa und fiir sen/iktaw den Ausdehnungsbereich des Gebrauchs dieser lexikalischen Einheiten. Die drei Isoglossen teilen das in Abb. 3.3 gezeigte Gebiet in sechs Teilgebiete auf, wobei sich jedes Teilgebiet klar von den anderen fünf unterscheiden läßt. In einem Teilgebiet verwendet man finu, stanu und sen, in einem anderen tawen, stanu und sen. Wo ist also jetzt die Dialektgrenze? Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort. Dialektgrenzen werden auf der Grundlage von verschiedenen sprachlichen Merkmalen bestimmt, aber die drei sprachlichen Merkmale in Abb. 3.3 widersprechen sich gegenseitig. Nimmt man die Unterscheidung stanu/lufa als Kriterium für die Trennlinie, so muß sie an einer anderen Stelle gezogen werden, als wenn man sen/iktaw zugrundelegt; und bei finu/tawen ergibt sich wieder eine andere Grenzlinie. Würden wir in Abb. 3.3 noch mehr Isoglossen hinzufügen, so würde das Bild noch komplizierter. 49

Ein Ausweg aus der verzwickten Lage wäre, in Abb. 3.3 die Darstellung von sechs Dialektgebieten zu sehen. Man könnte, mit anderen Worten, den Terminus Dialekt so definieren, daß der Unterschied in mindestens einem sprachlichen Merkmal als Dialektunterschied zwischen zwei Sprechern zu werten sei. Also spricht ein Sprecher aus dem Gebiet finu/lufa/sen einen anderen Dialekt als einer aus dem Gebiet tawenjlufa/ sen, da der einefinu gebraucht und der andere taweru Das Problem dieser Definition liegt darin, daß es keine zwei Menschen mit genau identischem Sprachsystem gibt. Nimmt man zwei beliebige Sprecher einer Sprache, so werden sie sich in bestimmten Elementen der Syntax, der Phonologie oder des Wortschatzes unterscheiden, ob sie sich dessen normalerweise bewußt sind oder nicht. Wahrscheinlich stimmt die Behauptung, daß keine zwei Sprecher der englischen (oder deutschen) Sprache genau dieselbe Menge von Wörtern in ihrem Wortschatz besitzen. Der eine hat immer zufällig einige Wörter gelernt, die der andere nicht kennt. Ziehen wir also die logische Folgerung aus der Annahme, daß ein Merkmal ausreicht, um eine Dialektgrenze festzulegen, so müssen wir zu dem Ergebnis kommen, daß jeder Sprecher seinen eigenen Dialekt spricht, den er mit niemandem gemeinsam hat. Die so gefundene Definition von Dialekt ist zwar völlig einsichtig, aber doch sehr eng gefaßt. Wir können damit etwa nicht vom „schwäbischen Dialekt" sprechen, weil keine zwei Schwaben genau das gleiche Sprachsystem besitzen. Und es ist doch offensichtlich oft nützlich, von Dialekten im weiteren Sinne reden zu können. Deswegen wird im allgemeinen der Terminus Idiolekt verwendet, um den Dialekt eines einzelnen Sprechers zu bezeichnen, während der Terminus Dialekt so weit gefaßt wird, daß man von einem schwäbischen Dialekt sprechen kann. Es muß sich also ein anderes Prinzip finden lassen, das es erlaubt, ein Sprachgebiet in Dialektgebiete aufzuteilen. Ein derartiges Prinzip haben wir implizit schon bei der Erläuterung von Abb. 3.2 angewandt. Wir hatten die Abtrennung des Gebiets Bj als eines besonderen Dialektgebiets damit gerechtfertigt, daß die Sprecher von Β ι nicht nur ein differenzierendes Merkmal gemeinsam haben, sondern eine ganze Anzahl von Merkmalen, die in den anderen Dialekten von Β nicht vorkommen. Demnach stellt die Trennlinie zwischen Β ι und B2 ein ganzes Bündel von mehr oder weniger zusammenfallenden Isoglossen dar. Auf oder nahe der Trennlinie von B] und B2 befinden sich die Isoglossen für [z]/[s], [a]/[o], tawpa/kenso und noch mehrere andere. Die Sprecher von Β ι haben jeweils noch individuelle sprachliche Merkmale, aber sie bilden doch eine gemeinsame Gruppe, indem sie viele sprachliche 50

Merkmale gemeinsam haben, die sie von anderen Sprechern derselben Sprache unterscheiden. Man erhält also recht vernünftige Ergebnisse, wenn man Dialektgrenzen auf der Basis von Isoglossenbündeln definiert und nicht auf der Basis von einzelnen Isoglossen. Trotzdem ist eine Karte wie Abb. 3.2 immer noch eine weitgehende Abstraktion von der Wirklichkeit, genauso wie Abb. 3.1. Es ist eine grobe Vereinfachung, wenn man Dialektgrenzen zieht, die ein Sprachgebiet in sich überhaupt nicht überschneidende Teilgebiete aufteilt. Betrachten wir die Abb. 3.4, wo jede der numerierten Linien eine Isoglosse darstellt. Die Isoglossen 7, 8, 9, 10 und 11 verlaufen einigermaßen als Bündel. Wir sind demnach in der Lage, eine stärkere

Abb. 3.4 Dialektgrenze zwischen den Gebieten links und rechts des Bündels anzusetzen. Gleichzeitig bilden aber auch die Isoglossen 3, 4, 5 und 6 ein Bündel, das sich ebenso für die Festlegung einer deutlichen Dialektunterscheidung eignet. Wenn wir auf Dialektbereichen bestehen, die sich nicht überschneiden, müssen wir eine willkürliche Entscheidung treffen, welches oder welche Isoglossenbündel wir als Kriterien heranziehen. Werden alle

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gleichzeitig als Kriterien definiert, so überschneiden sie sich vielfach und ergeben viele kleine Dialektgebiete. Auf jeden Fall ist das Bild immer ziemlich komplex, und die sprachlichen Fakten einer Region bieten sich meist nicht von selbst als natürliche Einteilungsprinzipien für die Dialektbereiche an. Welche Entscheidung wir auch treffen, sie wird einigermaßen willkürlich sein und einige Fakten außer acht lassen. Es gibt immer verirrte Isoglossen wie 1 und 2, die die Lage komplizieren. Dialekte sind also eher ein Ergebnis unserer Begriffsbildung und unseres Bedürfnisses nach Vereinfachung als ein natürliches sprachliches Phänomen. Die sprachliche Vielfalt beschränkt sich aber nicht nur auf den geographischen Aspekt; mindestens zwei andere Dimensionen müssen ebenso behandelt werden. Die erste ist die Dimension der sozialen Gruppierungen und Klassen. In einem bestimmten geographischen Gebiet, vor allem in Städten, gibt es Unterschiede in der Sprache, die mit der Sozialstruktur zusammenhängen. Bürger der Mittel- und Oberschicht unterscheiden sich in ihrer Sprache normalerweise merklich von den Arbeitern der Unterschicht. In Universitätsstädten findet sich oft ein deutlicher Sprachunterschied zwischen den Akademikern, die häufig aus anderen Gegenden stammen, und den „eingeborenen" Stadtbewohnern. Leute, die miteinander arbeiten, die die gleiche Beschäftigung oder das gleiche Hobby haben, haben oft auch ein gemeinsames Spezialvokabular, das nicht allgemein bekannt ist. So haben etwa Polizisten einen besonderen Jargon, genau wie Tennisspieler oder Mitglieder der Unterwelt. Die andere Dimension sprachlicher Vielfalt liegt in den einzelnen Sprechern selbst. Der einzelne Sprecher besitzt ja nicht nur sein eigenes Sprachsystem, sondern auch verschiedene Sprachstile, die er in verschiedenen Situationen einsetzt. Zum Beispiel unterscheidet sich der Sprachstil eines Sprechers bei der Vorstellung zur Bewerbung um einen neuen Posten beträchtlich von dem, den er im Kreis seiner Freunde verwenden wird. Wir sind auf Stilunterschiede eingestellt, auch wenn sie uns nur selten zu Bewußtsein kommen. Beobachten Sie etwa den leicht komischen Effekt der Stilmischung: Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, Sie in aller Bescheidenheit zu ersuchen, das Maul zu halten. So begegnen wir der sprachlichen Vielfalt selbst dann, wenn wir nur einen Sprecher betrachten und dazu noch außer acht lassen, daß das sprachliche System eines Menschen im Laufe seines Lebens ja auch Veränderungen unterliegt. Wir haben die sprachliche Vielfalt so sehr betont, daß wir sogar die Gültigkeit der Begriffe Sprache und Dialekt selbst anzweifeln mußten. Streng genommen, gibt es keine zwei identischen Sprachsysteme, so daß die Beschreibung eines Sprachsystems immer die Beschreibung des 52

Sprachsystems eines Individuums sein müßte. Und selbst hier gelten noch Einschränkungen. Aber wir dürfen daraus nicht schließen, daß die verschiedenen Spielarten der Sprachen, die wir mit den Namen Deutsch oder Japanisch zu bezeichnen gewohnt sind, in keiner Weise zusammengehalten werden. Die sprachliche Vielfalt erscheint natürlich dann außerordentlich bedeutend, wenn wir sie allein betrachten und nicht versuchen, auch die Merkmale aufzuspüren, die für alle oder doch die meisten Idiolekte einer Sprache übereinstimmen. Je genauer wir jedoch in die Struktur einer Sprache eindringen, desto weniger Gewicht behalten die IdiolektUnterschiede. Sprecher der deutschen Sprache haben sehr viel mehr gemeinsame als trennende sprachliche Merkmale. Zudem pflegen die Unterschiede von eher untergeordneter Bedeutung zu sein. Man muß einen Eindruck von der Vielfalt des Sprachgebrauchs haben, aber man darf es nicht so weit treiben, daß man vor lauter Unterschieden die Ähnlichkeiten nicht mehr sieht.

Vereinheitlichende Kräfte Sprachliche Vielfalt läßt sich darauf zurückführen, daß Sprache gelernt und gebraucht wird und daß Lernen und Gebrauch der Sprache kreative Vorgänge sind, in die ein außerordentlich komplexes System einbezogen wird. Jeder Sprechakt ist bis zu einem gewissen Grad kreativ. Eine Sprache ist ein Kommunikationsinstrument, aber die Sprache selbst kommuniziert nicht. Um eine Vorstellung auszudrücken, muß der Sprecher die Situation einschätzen und das ihm verfügbare Sprachsystem so zur Kodierung der Vorstellung in ein Signal einsetzen, daß der Hörer in der Lage ist, die der Äußerung zugrundeliegende Vorstellung wenigstens annähernd zu rekonstruieren. Dabei spielt natürlich der Kontext der Situation eine bedeutende Rolle. Man kann also die Ursache für die sprachliche Vielfalt darin sehen, daß das abstrakte Sprachsystem für kommunikative Zwecke auf konkrete Situationen angewandt wird. Wenn das vom Sprecher benötigte Wort nicht vorhanden ist, prägt er ein neues oder bedient sich einer metaphorischen Wendung. Jedermann wird mich verstehen, wenn ich im entsprechenden Situationskontext sage Ich entunkraute den Garten. In allen Sprachen gibt es metaphorische Wendungen wie die Katze im Sack kaufen, in der Klemme sitzen oder jemanden übers Ohr hauen. Der Neigung zur sprachlichen Vielfalt wirken jedoch auch eine Reihe von Kräften entgegen. Da eine Sprache in erster Linie der Kommunikation dient, kann ein Sprecher nicht nach Belieben Neuerungen einführen; 53

sein Sprachsystem muß dem seiner Umwelt soweit ähnlich bleiben, daß eine Verständigung möglich ist. Neben diesem vorwiegend negativen Faktor wirken auf den Sprecher noch eine Reihe von positiven Kräften ein, die auf Einheitlichkeit hinzielen. Man orientiert im allgemeinen seine eigene Sprache an der Sprache seiner Umgebung, aus welchen psychologischen Motiven auch immer das geschieht. Ein wichtiger Grund ist sicher der, daß man den Wunsch hat, sich in eine Gruppe zu integrieren, und deshalb auch sprachlich dazugehören will. Diese Tendenz zur sprachlichen Einheitlichkeit innerhalb einer Gruppe ist wohl weitgehend unbewußt und nicht ausnahmslos feststellbar. Das stärkste Motiv ist vielleicht das Prestige-Motiv. Wer jemanden bewundert, wird ihn unter anderem auch im sprachlichen Habitus nachahmen. So kann die Sprache von berühmten oder bewunderten Personen zum Modell werden, nach dem sich andere richten. Dasselbe kann auch für bestimmte Dialekte gelten. Wenn ein Dialekt in der Einschätzung der ganzen Sprachgemeinschaft besonderes Prestige hat, so kann er als vereinheitlichender Einfluß wirken. Ein gutes Beispiel dafür ist das Französisch von Paris. Ursprünglich war es ein Dialekt wie jeder andere auch. Als jedoch Paris zu einem Mittelpunkt der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik wurde, wurde dem Pariser Dialekt ein besonderer Wert beigelegt und er wurde, aus rein äußerlichen Gründen, zur mustergültigen Form der französischen Sprache überhaupt. Ein Dialekt, der besonderes Prestige hat, wird oft als korrekter, angemessener oder reiner angesehen als die weniger hochgeschätzten Dialekte. Es sollte klar sein, daß diese Beurteilung einer objektiven und kritischen Untersuchung nicht standhält. Die Vorstellung, daß es korrekte und weniger korrekte Formen der Sprache gibt, wird weitgehend durch die pädagogische Praxis aufrechterhalten. Deutsche Schulkinder müssen Feinheiten im Gebrauch der Konjunktionen oder Präpositionen besonders lernen. Etwa den Unterschied im Gebrauch von als und wie oder von denn und dann; sie lernen auch, daß man sich wegen etwas und nicht über etwas schämt und dergleichen mehr. Solange man die Öffentlichkeit noch nicht zur Toleranz gegenüber sprachlicher Verschiedenheit erzogen hat, ist es nicht ungewöhnlich, daß sprachliche Besonderheiten, die von der Umgebung als nicht korrekt angesehen werden, zu einer sozialen und beruflichen Benachteiligung fuhren. Hier sollten die Schulen Toleranz gegenüber sprachlicher Verschiedenheit fördern und künstliche Korrekturen unterlassen. Ein Kind, das durct dauernden Drill dazu gebracht wird, eine Unterscheidung von wie und als 54

in sein Sprachsystem aufzunehmen, die es ursprünglich nicht machte, wird, falls es das nicht schon besser weiß, leicht zu dem falschen Schluß gelangen, daß es Formen seiner Muttersprache gibt, die „korrekter" sind als andere, seine eigene Sprache Inbegriffen. Es ist zweifelhaft, ob sich grammatische Feinheiten wie die Differenzierung im Gebrauch von wie und als erhalten hätten (soweit sie sich überhaupt erhalten haben), wenn man die Sprecher sich selbst überlassen hätte. Trotz des Grammatikunterrichts wissen viele Sprecher des Deutschen nicht genau, wann wie und wann als zu setzen ist. So kommt es vor, daß ein Sprecher besonders „korrekt" sein will und deshalb sagt Er ist so groß als ich. Solche Fälle nennt man h y p e r k o r r e k t e Formen; sie treten dann auf, wenn die Sprachnorm besonders ernst genommen wird. Zu den stabilisierenden Kräften gehört weiterhin die S c h r i f t . Die Schrift kann entscheidend dazu beitragen, daß sich ein Dialekt als Standardsprache durchsetzt oder es bleibt. Geschriebene Sprache besitzt grosses Ansehen, wie das Beispiel der Kultur- und Literatursprache von Paris beweist. In schriftlicher Form kann eine Sprache oder ein Dialekt besser als Modell dienen, weil Geschriebenes dauerhafter ist als Gesprochenes. Die Autoren von Wörterbüchern und Grammatiken beziehen sich mit Vorliebe auf schriftliche Quellen, und ihre Beschreibungen werden in der Praxis meist als Vorschriften für das richtige Sprechen und Schreiben verstanden. Dies wirkt ebenfalls auf die Vereinheitlichung der Sprache hin. Wir sehen also, daß eine Tendenz zur Einheitlichkeit der Sprache sich ganz natürlich aus der Dynamik der sozialen Interaktion ergeben kann; auch die Ausbreitung sprachlicher Merkmale beruht letzten Endes auf der Kommunikation und der Bereitschaft der Leute, ihre Sprachmuster nach dem Vorbild anderer zu ändern. Wo wenig oder keine Kommunikation stattfindet, kann es auch keine Bewegung auf sprachliche Einheit hin geben. Geographische Hindernisse wie Berge können deshalb sehr wirksam Dialektunterschiede erhalten. Die Isoglossen können einen Berg nur dann überwinden, wenn die Leute oder ihre Nachrichten einigermaßen regelmäßig hin und her gelangen. Dasselbe gilt für politische oder soziale Grenzen. Deshalb häufen sich Isoglossen dort zu Bündeln auf, wo Lücken im System der Kommunikationskanäle sind. Diese Tendenz wird sich an späterer Stelle in unserer Untersuchung sprachlicher Verwandtschaften als wichtiger Faktor erweisen.

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Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Überlegen Sie, welche verschiedenen Sprachstile Sie in verschiedenen Situationen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verwenden! In welcher Weise wird die Wahl von lexikalischen Einheiten durch bestimmte Situationen beeinflußt? Gibt es bestimmte Merkmale der Aussprache, die Sie unter manchen Umständen zu vermeiden suchen? Welche grammatischen Prinzipien beachten Sie bei formellen Anlässen eher als bei informellen? Neigen Sie dazu, in bestimmten Situationen komplexere Sätze als sonst zu verwenden? In welchem Maße sind Sie sich solcher stilistischer Unterschiede im normalen Sprachgebrauch bewußt? Fallen Ihnen in der Rede Ihrer Mitmenschen solche Unterschiede auf? 2. Auf dieser Karte eines hypothetischen Gebietes sind 40 Orte durch Zahlen ausgewiesen. Wir wollen annehmen, daß bei einer Untersuchung der sprachlichen Vielfalt in diesem Gebiet Datenmaterial von Sprechern aller 40 Orte gesammelt wurde, und daß dabei die unten aufgeführten sechs sprachlichen Merkmale isoliert wurden, in denen sich die Sprecher unterscheiden.

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Merkmal A Pronomen an Subjektstelle können an den Punkten 7, 8, 13 — 18 und 24 fakultativ getilgt werden. An allen übrigen Punkten dürfen Pronomen an Subjektstelle nicht getilgt werden. Merkmal Β Ein Substantiv an Objektstelle mu£> an den Punkten 3, 4, 10, 11, 20, 27, 30, 31 und 33 - 40 obligatorisch mit einem besonderen Objektsuffix gekennzeichnet werden. An den übrigen Orten ist das Objektsuffix fakultativ.

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Merkmal C Das am meisten gebrauchte Wort für .Schwert' ist [sez] an Punkt 37. An den Punkten 11, 20 und 26 - 40 wird für .Schwert' gewöhnlich [karf] verwendet. An allen übrigen Punkten findet sich [lalm] für .Schwert'. Merkmal D Das gebräuchlichste Wort für .Biber' ist [mim] an den Punkten 14 — 17. An allen übrigen Punkten ist [fas] das gebräuchlichste Wort für .Biber'. Merkmal Ε [d] am Wortende wir zu [t] an Punkt 16. An allen übrigen Orten tritt dieser Wechsel nicht ein. Merkmal F An den Punkten 5, 12, 21, 22, 28, 32 und 33 ändert sich intervokalisches [p] nicht in der Aussprache. An den Punkten 31 und 35 - 40 wird [p] zwischen Vokalen zu [v]. An allen anderen Punkten wird intervokalisches [p] zu [b]. Zeichnen Sie die Isoglossen in die Karte ein, die das Vorkommen jedes der obigen Merkmale begrenzen! Welche Orte scheinen als Quelle sprachlicher Neuerungen besonderen Einfluß auszuüben? Bietet das vorliegende Material eine ausreichende Basis für die Annahme wichtiger Dialektgrenzen? 3. Welche wichtigen deutschen Dialekte (Mundarten) kennen Sie? Können Sie die Sprache solcher Sprecher, die nicht reines „Hochdeutsch" sprechen, als einer bestimmten Mundart zugehörig erkennen? Auf welcher Art von sprachlichen Merkmalen - phonologischen, lexikalischen oder syntaktischen - beruht dabei Ihre Zuordnung in der Hauptsache? (Eine gutfe Übersicht über die deutschen Mundarten findet sich in Die deutsche Sprache. Kleine Enzyklopädie. Band 1. Hrsg. v. E. Agricola, W. Fleischer u. H. Protze. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1969; einen akustischen Eindruck von den deutschen Mundarten vermittelt L. M. Weifert, Deutsche Mundarten. Teil I - III. 4 Schallplatten mit Leitfaden und Übersichtskarte. München: Lehmanns 1965. Als Einführung in die deutsche Mundartforschung kommen u. a. in Frage: A. Bach, Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. 3. Aufl. Heidelberg: Winter 1969 (Germanistische Bibliothek. 3. Reihe); B. Martin, Die deutschen Mundarten. 2., neubearb. Aufl. Marburg: Elwert 1959; E. Schwarz, Die deutschen Mundarten. Göttingen: Vandenhoeck 1950.) 4. Überlegen Sie, welchen Einfluß politische, wirtschaftliche und religiöse Wandlungen auf den einheitlichen Sprachgebrauch innerhalb eines Dialektgebietes haben können! Gibt es dazu Beispiele fur das deutsche Sprachgebiet? Wie wirken sich solche Ereignisse u. U. auf den Idiolekt eines einzelnen Sprechers aus? Kennen Sie Sprecher, deren Idiolekt Merkmale verschiedener Dialekte aufweist? (Vergleichen Sie zu dieser Problematik auch Kap. 7 des vorliegenden Buches!)

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5. Im Text dieses Kapitels sind mehrmals hypothetische Sprachkarten zur Veranschaulichung verwendet worden. Auf authentischem Sprachmaterial beruhende Karten finden Sie vor allem in den sogenannten „Sprachatlanten", z.B. in dem Hauptwerk der deutschen Sprachgeographie: Deutscher Sprachatlas. Aufgrund des von G. Wenker begründeten Sprachatlas des Deutschen Reichs. In vereinfachter Form begonnen von F. Wrede, fortgesetzt von W. Mitzka und B. Martin. Marburg: Elwert 1926 1956 (dazu: W. Mitzka, Handbuch zum Deutschen Sprachatlas. Marburg: Elwert 1952); ferner in: W. Mitzka (ab Band 5: W. Mitzka und L. E. Schmitt), Deutscher Wortatlas. Gießen: Schmitz 1951 ff; L. E. Schmitt, Schlesischer Sprachatlas. Marburg: Elwert 1967 ff; A. Gutter, Nordbairischer Sprachatlas. München: Lerche 1971; u.a.m. Eine gute Einführung in die Methoden der Sprachgeographie bietet 3. Goossens, Strukturelle Sprachgeographie. Eine Einführung in Methodik und Ergebnisse. Heidelberg: Winter 1969.

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II Die Sprachstruktur

4. Der Aufbau der Grammatik

Einfache lexikalische Einheiten Die Isolierbarkeit sprachlicher Einheiten Man kann eine Sprache verstehen als ein System, das eine unendliche Menge von Sätzen beschreibt, von denen jeder einer Lautfolge eine Bedeutung zuordnet. Ein Satz besteht aus einer Wortkette. Die Bedeutung eines Satzes hängt von den darin enthaltenen Wörtern ab, ebenso wie die Lautform eines Satzes von der Lautform seiner Wörter abhängt. Indem wir einen Satz so charakterisieren, gehen wir von der Annahme aus, daß sprachliche Einheiten grundsätzlich isolierbar sind, daß es möglich und richtig ist, einen Satz in wortartige Einheiten aufzuteilen, von denen jede wieder in eine lineare Kette von einzelnen Lautsegmenten aufgeteilt wird. Die Isolierbarkeit von sprachlichen Einheiten erscheint vielleicht selbstverständlich, aber eine akustische Untersuchung eines Sprachsignals würde von sich aus noch nicht zu diesem Schluß führen. Rein physikalisch gesprochen gibt es meistenteils keinen deutlichen Einschnitt zwischen Wörtern, die nebeneinander in einer Äußerung vorkommen oder zwischen den Lautsegmenten eines einzelnen Wortes. Ein Sprachsignal gleicht viel eher einem kontinuierlichen Strom als einer Perlenkette. Zwar können wir bei der Äußerung eines Satzes zwischen den Wörtern eine Pause machen oder selbst in der Mitte eines Wortes, aber meistens tun wir es nicht. Und doch fühlen wir intuitiv, daß ein Satz in Wörter aufgeteilt werden kann. Unser Schriftsystem spiegelt eine solche Annahme der Isolierbarkeit wider, denn wir lassen im allgemeinen Zwischenräume zwischen Wörtern und geben jeden Laut eines Wortes mit einem eigenen Zeichen wieder. Es gibt eigentlich keinen Zweifel daran, daß sprachliche Einheiten in der Tat grundsätzlich isolierbar sind, obgleich das Sprechsignal selbst dagegen spricht. Wie Sie sich erinnern, besteht eine Sprache nicht aus Schallwellen in der Luft; sie ist vielmehr die Kompetenz des Sprechers,

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d. h. die Menge von Prinzipien, die der Sprecher beherrscht und mit deren Hilfe er über eine unendliche Menge von Sätzen verfugt. Auf der Grundlage dieser Kompetenz konstruiert ein Sprecher irgendwie Sätze und gibt ihnen eine Lautform; damit produziert er das physikalische Sprechsignal. Es gibt also keinen Widerspruch in der Behauptung, daß linguistische Einheiten isolierbar sind, das Sprechsignal aber kontinuierlich ist. Die Behauptung der Isolierbarkeit gilt fur die Einheiten der Sprachkompetenz, für die psychologische Repräsentation der Sprachstruktur, die dem sprachlichen Verhalten zugrundeliegt. Diese Einheiten wollen wir nun im folgenden untersuchen.

Wörter und Morpheme Bis jetzt haben wir den umgangssprachlichen Terminus Wort verwendet, um eine mittlere Struktureinheit zu bezeichnen, die kleiner ist als ein ganzer Satz, aber größer als ein einzelnes Lautsegment. Wörter scheinen eine gültige psychologische Einheit darzustellen; wir könnten vielleicht Antipathie falsch schreiben, aber wir würden wahrscheinlich nicht den Fehler machen vor thie eine Lücke zu lassen, um eine Wortgrenze anzudeuten: Antipa thie. Ferner gibt es bei der Äußerung eines Satzes Stellen, wo eine Pause natürlicher klingt als an anderen. Der Satz Friedrich hat eine Antipathie gegen Kommunisten könnte nach jedem orthographisch abgesetzten Wort natürlich unterbrochen werden, aber kaum nach Friedri. Wenn wir jedoch die Struktur einer Sprache untersuchen, bemerken wir alsbald das Vorhandensein von Einheiten der grammatischen Struktur, die kleiner als Wörter sind. Das Wort Kinder zum Beispiel läßt sich ganz natürlich in die Teile Kind und er auflösen. Kind kann allein als einzelnes Wort auftreten oder auch in den Wörtern kindlich, kindgemäß usw. Die Pluralendung er in Kinder kommt auch in anderen Substantiven wie Bilder, Eier, Rinder vor. Das Tele in Telefon findet man auch in Telegraph, Telepathie und Teleskop. Das Wort Undankbarkeit läßt sich auflösen in Undankbar und keit; undankbar läßt sich auflösen in un und dankbar, das seinerseits wieder aus Dank und bar besteht. Jede der vier Komponenten, un, Dank, bar und keit kommt in anderen Wörtern oder als unabhängiges Wort allein vor (wie in untreu, Dank, fruchtbar, Heiterkeit). Minimaleinheiten der grammatischen Struktur wie die vier Komponenten von Undankbarkeit nennt man M o r p h e m e . Telefone besteht also aus drei Morphemen, während Telefon nur zwei enthält. Ein Mor62

phem hat normalerweise eine ziemlich klare und konstante Bedeutung, wann immer es verwendet wird, obgleich sich Ausnahmen von dieser Regel finden lassen. Un hat negative Bedeutung in untreu, undankbar, unbeschäftigt, unfähig, unfreundlich und in vielen anderen Wörtern. Er besitzt eine konstante Bedeutung in Maler, Lehrer, Kämpfer, Zuschauer, Ausbilder, Säufer und Sänger. Andererseits wäre es schwierig, irgendeine konstante Bedeutung fiir spekt in den folgenden Wörtern festzustellen: Prospekt, Aspekt, suspekt und Spektakel. Entsprechendes gilt für pro in progressiv, Protest, Professor, Prozeß und Produktion. Zu hat eigentlich keine Bedeutung in Sätzen wie Er hat nichts zu tun, obgleich es vorhanden sein muß, damit solche Sätze grammatisch sind. Ähnliches gilt für das Englische do in What do armadillos eat? desgleichen für es und daß in Ich finde es einen Skandal, daß Ihre Fabrik stündlich tausende von Litern Schwefelsäure in den Fluß laufen läßt. Morpheme zeigen zuweilen verschiedene phonetische Realisationen. Im Englischen etwa wird pro in profess (Ton auf der zweiten Silbe) anders ausgesprochen als in progress (Ton auf der ersten Silbe); vergleichen Sie im Deutschen vier und vierzehn. Das englische Pluralmorphem wird in Wörtern wie lamps, ropes, births, puffs, nuts, racks und fights als [s] ausgesprochen. In Wörtern wie ideas, bras, cards, pencils, dams, cans, bibs und pills wird es jedoch als [ζ] ausgesprochen; eine dritte Aussprache gibt es in churches, judges, juices, roses, flashes und rouges mit [ez]. In manchen Substantiven besitzt das Pluralmorphem überhaupt keine phonetische Form; denken Sie etwa an Ich suchte ein Zimmer und Ich fand keine Zimmer. Englische Beispiele für diese Erscheinung wären die Wörter sheep und fish. Im Englischen gibt es zusätzlich noch völlig einmalige Pluralformen wie oxen, children und brethren. Es ist nicht immer eindeutig, ob eine gegebene Lautfolge als ein Morphem angesehen werden sollte oder nicht. Sollte ζ. B. animal als zweimorphemig betrachtet werden, anim(a) und (a)l, oder nur einmorphemig? (Denken Sie an animate, nature/natural.) Sollte man woman in wo plus man aufteilen? In jedem Fall muß eine Lautfolge, die in manchen Wörtern ein Morphem darstellt, nicht notwendigerweise immer ein Morphem sein. Un ist zweifellos ein Morphem in undankbar und unfähig, aber es ist kein Morphem in unter oder Tunnel.

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Morphemtypen Die Linguisten unterscheiden manchmal zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen, freien und gebundenen Morphemen, Wurzeln und A f f i x e n . Obgleich diese Unterscheidungen ziemlich oberflächlich sind, lohnt es sich doch, sie zu untersuchen, selbst wenn man daran nur zeigen kann, wie die Morpheme sich in ihrem Verhalten voneinander unterscheiden. Nehmen Sie die Kette Mann hack- Holz Axt. Diese Morphemkette ist kein grammatischer Satz des Deutschen, obgleich sie aus deutschen Morphemen besteht. Andrerseits kann man unschwer die allgemeine Bedeutung dieser ungrammatischen Kette verstehen. Ohne Schwierigkeit können wir uns einen Mann vorstellen, der eine Axt hält und damit Holz hackt. Dieser ungrammatische Satz hat eine gewisse Bedeutung. Er ist etwas vage, aber man kann die Begriffssituation, die der Satz wiedergibt, weitgehend rekonstruieren. Um den Satz Mann hack- Holz Axt in einen grammatischen Satz zu verwandeln, könnten wir folgende Morpheme hinzufügen: der, PRÄT (zur Angabe des Verbaltempus) mit, ein, -er (als Flexionsmorphem zur Angabe von Genus und Kasus); wir erhalten so Der Mann hackte Holz mit einer Axt. Der Satz ist nun wohlgeformt und um einiges präziser, aber die zusätzlichen Morpheme scheinen relativ wenig semantischen Inhalt hinzuzufügen. Sie fassen die von dem Satz dargestellte Begriffssituation schärfer, aber die Bedeutung, die sie beitragen, scheint zweitrangig zu sein. Die entscheidenden Bedeutungskomponenten wurden von den Morphemen Mann, hack-, Holz und Axt geliefert. Lexikalische Morpheme sind Formen wieMann, hack-, Holz und Axt; grammatische Morpheme sind Formen wie der, mit, ein, -er, und das Präteritalmorphem (PRÄT). Lexikalische Morpheme sind Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien. Sie besitzen eine mehr oder weniger unabhängige Bedeutung, so daß eine Folge von lexikalischen Morphemen in sich schon eine gewisse Bedeutung tragen kann. Axt ruft in uns eine ziemlich klare Vorstellung hervor, ebenso Mann hack- Holz Axt. Mit, ein oder der mit einer allein gibt uns nicht viel Information. Die Klassen der lexikalischen Morpheme enthalten Hunderte oder Tausende von Elementen. Es gibt ζ. B. im Deutschen Tausende von Substantiven, und es ist ein alltäglicher Vorgang, daß neue Substantive dem Wortschatz hinzugefügt werden. Grammatische Morpheme sind etwa Präpositionen, Artikel, Konjunktionen und Formen, die Numerus, Genus oder Tempus und dergleichen angeben. Solche Klassen enthalten verhältnismäßig we64

nige Elemente, und neue Elemente werden in einer Sprache ziemlich selten hinzugefügt. Die Unterscheidung zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen ist brauchbar und bis zu einem gewissen Grad auch korrekt, aber man sollte sie nicht zu weit treiben. Sie ist einigermaßen künstlich, denn in Wirklichkeit gibt es ein Kontinuum ohne scharfe Einschnitte, das sich von Morphemen mit semantischem Inhalt wie Holz bis zu solchen Morphemen erstreckt, die keinerlei semantischen Inhalt haben wie es und daß in Ich finde es einen Skandal, daß Ihre Fabrik stündlich tausende von Litern Schwefelsäure in den Fluß laufen läßt. Präpositionen werden zu den grammatischen Morphemen gerechnet, obgleich sie einen gewissen semantischen Inhalt besitzen. Der Satz Die Münzen sind auf dem Pult wird in seiner Bedeutung entscheidend verändert, wenn man auf durch unter, neben, über, bei, in ersetzt. Grammatische Morpheme wie das lieh in gröblich, das un in unfähig und das er in Läufer besitzen einen ganz bestimmten semantischen Inhalt. Und, oder und aber sind keineswegs synonym. Andrerseits besitzen nicht alle lexikalischen Morpheme eine unabhängige Bedeutung. Was ist z.B. die Bedeutung von stehen in verstehen? Die Unterschiede in der Anzahl sind auch nicht eindeutig. Die deutschen Präpositionen sind ziemlich zahlreich, zumindest wenn man sie mit den einmorphemigen Ortsadverbien wie hier und dort oder mit den einmorphemigen Zeitadverbien wie jetzt, dann und bald vergleicht. F r e i e Morpheme sind diejenigen, die isoliert als unabhängige Wörter stehen können; alle anderen heißt man gebundene Morpheme. Hund, schlank, grob, Beere und schön sind demnach Beispiele für freie Morpheme, während das Pluralmorphem e von Hunde, das heit von Schlankheit, das lieh von gröblich und das un von unschön gebundene Morpheme sind. Die meisten lexikalischen Morpheme sind frei und viele grammatische Morpheme sind gebunden, wie die obigen Beispiele zeigen, aber die beiden Unterscheidungen stimmen nicht überein; es gibt Ausnahmen in beiden Richtungen. Und, oder und aber sind grammatische Morpheme und doch unabhängige Wörter. Him und Brom würde man als lexikalische Morpheme betrachten, aber sie sind an Beere gebunden und treten nie allein auf. Eine Vielzahl von Wörtern werden durch die Hinzufügung von einem oder mehreren grammatischen Morphemen an ein lexikalisches Morphem gebildet. Wir haben gesehen, daß bar an Dank angefügt wird, um dankbar zu bilden, das weiter zu undankbar und Undankbarkeit erweitert werden kann. Dem lexikalischen Morphem grün können wir das grammatische Morphem lieh hinzufügen und erhalten das Wort grünlich. Ε wird zu 65

Hund hinzugefügt, und man erhält Hunde. Das aztekische Wort nitetlazotla bedeutet ,ich liebe' oder ,ich liebe jemanden'. TZazotla ist eine lexikalische Form, das Verbum ,lieben'. Μ und te sind grammatische Formen; ni bezeichnet das Subjekt des Verbs: ,ich'; te bezeichnet, daß das Objekt des Verbs menschlich aber nicht weiter spezifiziert ist. Das aztekische Wort tlamatini bedeutet,weiser Mann' oder .Wissender'. Das Verb rriati bedeutet,wissen'. Die grammatischen Morpheme tla und ni werden hinzugefügt und bilden so tlamatini; tla ist ähnlich wie te: es bezeichnet, daß das Objekt des Verbs mati nicht spezifiziert ist und daß es nicht menschlich ist; ni wird am Ende des Verbs tlamati hinzugefugt und trägt die Bedeutung ,Agens' bei, genau wie das er in Sänger. Dabei ist zu bemerken, daß das ni in nitetlazotla und das ni in tlamatini nicht das gleiche Morphem sind, obgleich sie die gleiche phonologische Gestalt besitzen. Ebenso sind das er in Sänger und das er in stärker zwei verschiedene Morpheme; abgesehen von ihrer Aussprache haben sie völlig verschiedene Eigenschaften. Das lexikalische Morphem, das den Kern solcher Wörter bildet, nennt man die Wurzel, während die grammatischen Morpheme, die an eine Wurzel angefugt werden, um größere Einheiten zu bilden, A f f i x e genannt werden. Demnach ist Dank die Wurzel, an die die Affixe bar, un und keit angefügt werden, um die Form Undankbarkeit zu bilden. In grünlich ist grün die Wurzel und lieh das Affix. Die Affixe tla und ni umgeben die Wurzel mati in tlamatini. Affixe, die der Wurzel vorausgehen wie etwa tla, nennt man Präfix; lieh, das auf die Wurzel grün folgt, ist ein Suffix. In manchen Sprachen kann ein Affix innerhalb einer Wurzel vorkommen. So wird z.B. im Sundanesischen, einer auf Java gesprochenen Sprache, das Affix ar in die Verbalwurzel eingefugt, um anzuzeigen, daß das Verb das Subjekt im Plural hat; so heißt der Plural von niis ,sich kühlen' nariis. Derartige Affixe, die man Infixe nennt, sind sehr viel seltener als Präfixe und Suffixe.

Flexion und Derivation Das Anfügen von Affixen an Wurzeln kann verschiedene Wirkungen haben. Fügt man an die Form Hund ein e und bildet damit Hunde, so ist die Wirkung eine genauere Angabe der Zahl der Tiere auf die sich Hund bezieht. Hund und Hunde sind beide Substantive; die Hinzufugung des Pluralmorphems verändert nicht die Zugehörigkeit des Wortes zu einer grammatischen Klasse (oder, in der älteren Terminologie: sie verändert nicht den 66

Redeteil). Entsprechend ergibt die Suffigierung des Präteritalmorphems an das Verb hack- wieder ein Verb, nämlich hackte. Andrerseits wird das Adjektiv grün durch die Hinzufügung des Morphems en in die Klasse der Verben überfuhrt: grünen. Ήαιηαίΐ ist eine Verbform mit der Bedeutung ,etwas wissen'; die Hinzufügung des Suffixes ni ergibt tlamatini ,weiser Mann, Wissender', also kein Verb, sondern ein Substantiv. Durch die Hinzufugung des entsprechenden Affixes kann man ein Verb aus einem Adjektiv ableiten oder ein Substantiv von einem Verb. Andere Affixe verbinden wieder andere grammatische Klassen. Entsprechend unterscheiden die Linguisten oft zwischen Flexions- und Derivationsaffixen. Hund und Hunde sind, ganz vorläufig ausgedrückt, verschiedene Formen der gleichen Einheit, desgleichen hack- und hackte oder lateinisch laudo ,ich lobe', laudas, du lobst', laudat, er lobt', laudamus, wir loben', laudatis ,ihr lobt' und laudant ,sie loben'. Die Endungen, die an Hund, hack- und laud- in den obigen Formen angefügt werden, sind Flexionsaffixe. Substantive wie Hund können den Numerus durch Flexion ausdrücken. Hackte enthält eine Flexionsendung, die das Präteritum bezeichnet. Lateinische Verben werden flektiert, um die Kongruenz in der Person (,ich' gegenüber ,du' gegenüber ,er') und im Numerus (Singular gegenüber Plural) mit dem Subjekt herzustellen. Das spanische Adjektiv hermosas ,schön' enthält zwei Flexionssuffixe: es steht mit dem von ihm näher bestimmten Substantiv nach Numerus und Genus in Kongruenz; α gibt an, daß das Substantiv feminin ist, und s, daß es Plural ist. Eine andere Rolle spielen die Derivationsaffixe, wobei man einschränkend sagen muß, daß sich die Unterscheidung von Derivations- und Flexionsaffixen nicht immer streng durchführen läßt. Das Derivationsaffix bar dient dazu, das Adjektiv trinkbar von dem Verb trink- abzuleiten. Das aztekische Suffix ni ist ein Derivationssuffix, das ein Substantiv von einem Verb ableitet wie in tlamatini. Derartige Affixe dienen nicht dazu, die Kongruenz zu kennzeichnen, wie die meisten Flexionsaffixe. Auch lassen sich die verschiedenen Formen, die von einer Wurzel abgeleitet werden können, nicht ohne weiteres als Paradigma darstellen, das für die ganze Sprache gilt, wie etwa die oben genannten sechs Präsensformen von lateinisch laud-. Wenn sowohl Derivations- als auch Flexionsaffixe zu einer Wurzel hinzutreten, stehen die Derivationsafftxe meist näher bei der Wurzel als die Flexionsaffixe. In dem Wort trinkbare leitet das direkt an die Wurzel angefügte Affix bar das Adjektiv vom Verb ab; das Flexionsmorphem -e wird dann an das abgeleitete Adjektiv angefugt und kennzeichnet z.B. die Kongruenz mit einem Substantiv im Plural. Vergleichbar im Englischen: 67

In darkens ,wird dunkel' leitet das direkt an die Wurzel angefugte Affix en das Verb darken vom Adjektiv dark ab; an das abgeleitete Verb tritt dann noch das Flexionsmorphem s. In dem aztekischen Verb quimictias ,wird ihn töten' ist das Derivationssuffix tia, verursachen' bewirken' an die Wurzel mic ,sterben' angefügt und bildet den Verbalstamm mictia ,töten'. Die Flexionsaffixe qui ,ihn' und s ,FUTUR' werden dann an den Stamm angefügt und bilden das vollständige Wort quimictias. Die Wortbildung im Deutschen macht sehr stark von dem Mittel der Derivationsaffixe Gebrauch. Betrachten wir ζ. B. einige der Affixe, die Substantive aus Verben ableiten. Ung ist sehr produktiv, denken Sie an die Formen Fahndung, Röstung, Tilgung und Tötung und viele andere. Age bildet aus den entsprechenden Verben auf ieren die Formen Massage, Blamage und Sabotage. Das Agens-Suffix er ergibt Fahrer, Sänger, Schwimmer, Räuber und zahllose andere. Weitere Paare von Verbum und Substantiv, die diesen Typ von Affix illustrieren, wären promenieren/Promenade, existieren)Existenz und demonstrieren/Demonstration. Derivationsaffixe bewirken nicht immer den Wechsel der grammatischen Klasse. Das Präfix ent ζ. B. verbindet nehmen und entnehmen, wobei es sich beidemale um Verben handelt. Vergleichen Sie anmelden/ wiederanmelden, schön/unschön, praktikabel/impraktikabel. Im Englischen wird eine Veränderung der grammatischen Klasse nicht immer durch ein sichtbares Element bezeichnet. Star und face sind zunächst einmal Substantive, aber sie können auch ohne Affix als Verben verwendet werden: The governor will star in a new movie; Some people can never face reality. In ähnlicher Weise können die Adjektive major und minor als Verben und Substantive verwendet werden, to major in linguistics bedeutet 'Linguistik als Hauptfach studieren' und to minor in physics bedeutet .Physik im Nebenfach studieren', α major ist ein Hauptfach, α minor ein Nebenfach.

Komplexe lexikalische Einheiten Affixe Das Lexikon einer Sprache ist ihr Morpheminventar, in dem auch Information enthalten ist über die Möglichkeiten der Kombination von Morphemen zur Bildung komplexerer lexikalischer Einheiten wie etwa der Wörter. In manchen Fällen verläuft die Kombination von Morphemen zu komplexen lexikalischen Einheiten sehr regelmäßig. Das Präteritalmor68

phem kann jedem deutschen Verb hinzugefugt werden. Also gibt es hack/hackte, seh-/sah, bring-/brachte, kenn-jkannte, bin/war, beiß-jbiß usw. Wenn man das Verb ins Präteritum setzt, so ergeben sich von Verb zu Verb verschiedene phonetische Wirkungen. Im Englischen gibt es sogar einige Verben, bei denen die Hinzufügung des Präteritalmorphems überhaupt keine phonetische Auswirkung hat, etwa cut. Vergleichen Sie I cut meat every day und I cut meat yesterday. Im allgemeinen ist die Bildung von Wörtern durch die Hinzufügung von Flexionsmorphemen recht regelmäßig. Die Kombination von Wurzeln mit Derivationsaffixen ist im allgemeinen weniger regelmäßig. Man kann jemanden mißachten oder mißbrauchen, aber kaum mißloben. Jemand kann kindisch, weibisch oder närrisch sein, aber kaum feindisch, ordinariusisch oder ameisisch. Man kann einer Sache widerstehen, aber schwerlich widertreten. Jemand, der tanzt, ist ein Tänzer, jemand, Abläuft, ist ein Läufer, aber jemand, der lebt, ist kein Leber und jemanden, der berufsmäßig kocht, nennt man einen Koch und nicht einen Kocher. Im Gegensatz zu den Flexionsprozessen erstrecken sich die Derivationsprozesse vom Bereich der Regelmäßigkeit bis hin zu völliger Isoliertheit und Unregelmäßigkeit. Die Unterscheidung zwischen im wesentlichen regelmäßigen sprachlichen Phänomenen und im wesentlichen unregelmäßigen oder vereinzelten Phänomenen ist ziemlich wichtig, wie wir bei unserer Untersuchung von phonologischen und syntaktischen Systemen sehen werden. Sie berührt unmittelbar die Frage nach dem Wesen der Sprache und des Spracherwerbs. Nehmen wir an, ein Freund berichtet Ihnen, daß er im Urwald von Neu-Guinea eine bisher unbekannte Pflanze entdeckt hat und daß er sich entschlossen hat, sie eine Dack zu nennen. Sie kennen jetzt ein neues Substantivmorphem, Dack. Im Gegensatz zum Deutschen, v/o der Rural etwa Däcke oder Dacken heißen könnte, wüßte man im Englischen sofort, daß das korrekte Wort für die Mehrzahl von dack dacks wäre. Die Pluralbildung ist im Englischen nicht eine individuelle Eigenschaft von einzelnen Substantiven; sie wird vielmehr durch allgemeine und regelmäßige Prinzipien gelenkt, die man lernt, wenn man ein Sprecher des Englischen wird. Ein englisches Kind lernt nicht für jedes von Tausenden von Substantiven, daß etwa pencil einen Plural besitzt, apple einen Plural besitzt, box einen Plural besitzt usw. Vielmehr internalisiert es das allgemeine Strukturprinzip, daß jeder Gattungsname, der sich auf ein konkretes Einzelobjekt bezieht, einen Plural besitzt. (John, evaporation und butter sind Beispiele für Substantive, die normalerweise keinen Plural besitzen: John 69

ist ein Eigenname, kein Gattungsname; evaporation ist kein konkreter Gegenstand; butter ist kein Einzelobjekt.) Auf Grund der Kenntnis dieses allgemeinen Prinzips weiß man, daß dack einen Plural besitzt. Dieses Prinzip erstreckt sich auf neue Fälle, auf neue lexikalische Einheiten, denen man noch nie begegnet ist. Was ein Sprecher lernen muß, ist einfach die Menge von Substantiven dieses Typs und das eine Prinzip, daß alle derartigen Substantive mit dem Pluralmorphem kombiniert werden können. Andrerseits ist die Hinzufiigung des Derivationsaffixes un an Adjektive nicht völlig regelmäßig. Derselbe Prozeß der Wortbildung ist für die Formen unwahr, unglücklich und uneinsichtig usw. verantwortlich. Die Konstruktion dieser Wörter wird von einem ziemlich allgemeinen Prinzip gelenkt. Einzelne Adjektive fallen jedoch im Hinblick auf diesen Wortbildungsprozeß aus dem Rahmen. Es gibt kein offen erkennbares Prinzip, nach dem wir zwar unwahr, aber nicht unfalsch sagen; wir sagen unglücklich, aber nicht untraurig, uneinsichtig, aber nicht unschlau, unattraktiv, aber nicht unabstoßend oder unhäßlich Es ist demnach beim Spracherwerb nicht damit getan, das Inventar der Adjektive und das Ableitungsprinzip zu lernen, nach dem un an ein Adjektiv angefiigt werden kann. Man muß dazuhin lernen, welche Adjektive diesem Prinzip der Ableitung unterworfen werden können und welche nicht. Was von allgemeinen sprachlichen Prinzipien nicht vorausgesagt werden kann, muß für jede lexikalische Einheit einzeln gelernt werden.

Zusammensetzungen Das Hinzufügen von Affixen zu lexikalischen Morphemen ist eine der Möglichkeiten zur Bildung komplexer lexikalischer Einheiten aus einfachen. Es gibt noch verschiedene andere Möglichkeiten zur Bildung solcher Einheiten, die aber meistenteils weniger regelmäßig sind als die Affigierung. Die Affigierung besteht, wie wir gesehen haben, darin, daß man ein grammatisches Morphem an ein lexikalisches Morphem oder eine größere Einheit, die ein lexikalisches Morphem enthält, anfügt. Manche Wörter werden dagegen dadurch gebildet, daß man zwei oder mehr grammatische Morpheme kombiniert. Durch Kombination von zwei Präpositionen entsteht das Wort hinauf oder daneben. Das französische Wort des zeigt die Zusammenfugung von drei grammatischen Morphemen, falls man es als einzelnes Wort versteht: les besteht aus le oder la (dem bestimmten Ar70

tikel ,der' oder ,die') plus Pluralmorphem; de ,νοη' plus les wird realisiert als des. Des bedeutet also ,νοη den'. Häufiger sind wahrscheinlich die als Zusammensetzungen bekannten lexikalischen Einheiten. Eine Zusammensetzung ist eine lexikalische Einheit, die aus zwei oder mehr lexikalischen Morphemen besteht. Die Sprachen unterscheiden sich sehr in der Zahl der Zusammensetzungen, die sich in ihrem Lexikon findet; das Deutsche und Englische sind sehr reich an Zusammensetzungen. Einige Beispiele: Regenbogen, Bäckermiitze, Rabenaas, Fliehkraftkupplung, Wasserspülung, Wasserturm, Hochspringer. Beachten Sie, daß in manchen Fällen zu einem der lexikalischen Morpheme noch ein grammatisches Morphem hinzutritt, wie in Wasserspülung. Im Deutschen und Englischen, nicht aber in allen anderen Sprachen, sind Zusammensetzungen durch ein besonderes Betonungsmuster gekennzeichnet: das erste lexikalische Morphem wird betonter ausgesprochen als das zweite. Auf Grund der Betonung kann man im Englischen die Folge Adjektiv — Substantiv red skin ,rote Haut' unterscheiden von der Zusammensetzung redskin .Rothaut', in der red und nicht skin den Hauptton trägt. Vergleichen Sie im Deutschen die beiden Wörter Regen und Bogen mit Hauptton auf der jeweils ersten Silbe mit der Zusammensetzung Regenbogen, wo nur die erste Silbe des ersten Morphems Hauptton trägt. Für die englischen Zusammensetzungen ist weiterhin bemerkenswert, daß sie in ihrer Orthographie keineswegs einheitlich sind. Manche werden zusammengeschrieben, manche werden in zwei Wörtern geschrieben; vergleichen Sie sunburn .Sonnenbrand' und gas mask .Gasmaske'. Diese Tatsache muß uns nicht unbedingt überraschen, da die Zusammensetzungen doch eine gewisse Zwischenstellung einnehmen. Einerseits sind sie einzelne komplexe Einheiten, aber gleichzeitig unterscheiden sie sich von anderen Wörtern und ähneln Wortfolgen, da sie mehr als ein lexikalisches Morphem enthalten. Zusammensetzungen sind im Aztekischen außerordentlich häufig. Nehmen wir nur zwei Beispiele, tizanamacac und apannemini. Tizanamacac bedeutet,Kreideverkäufer'. Es besteht aus tiza ,Kreide' plus namacac .Verkäufer', was seinerseits auf das Verb namaca .verkaufen' zurückgeht. Apannemini ist noch komplexer. Die zwei lexikalischen Morpheme sind α .Wasser' und nemi,leben'; pan ist ein grammatisches Morphem und bedeutet ,auf; ni ist das Agens-Suffix, das wir schon von tlamatini ,weiser Mann, Wissender' her kennen. Die ganze Zusammensetzung bedeutet also ,Wasser-auf-Leb-er' oder .einer, der auf (dem) Wasser lebt'. Obgleich sich eine Anzahl von Regelmäßigkeiten erkennen lassen, ist die Bildung von Zusammensetzungen doch eher individuell geprägt. Neh71

men wir etwa die Zusammensetzungen, die aus Adjektiv plus Substantiv bestehen. Die folgenden erscheinen uns ganz regelmäßig: Wildbach, Grünfutter, Weißwein, Hochofen, Kleinkind. Sie alle lassen sich umschreiben durch einen Ausdruck der Form Substantiv, das Adjektiv ist. Folglich ist ein Wildbach ein Bach, der wild ist und ein Kleinkind ein Kind, das klein ist usw. Dieses Muster der Zusammensetzung kommt häufig vor; mit anderen Worten: man kann eine derartige Zusammensetzung bilden, wenn es einen entsprechenden Ausdruck der Form Substantiv, das Adjektiv ist gibt. Jemand, der die Sprache lernt, muß jedoch noch mehr als nur dieses Prinzip der Bildung von Zusammensetzungen lernen. Er muß darüberhinaus noch eine Vielzahl von unvorhersagbaren, willkürlichen Fakten über Zusammensetzungen dieser Art lernen. Es ist eine rein willkürliche Tatsache, daß Weißwein eine deutsche Zusammensetzung ist, nicht aber Sauerwein. Warum gibt es die Form Kleinkind, nicht aber Frohkind, Lautkind oder Naßkind? Außerdem bedeuten einige Zusammensetzungen, die oberflächlich nach diesem Muster gebaut zu sein scheinen, nicht das, was man auf Grund des Musters vorhersagen würde. So ist eine Rothaut nicht eine Haut, die rot ist, sondern ein Indianer. Ein Dickkopf ist nicht dasselbe wie ein dicker Kopf. Andere Beispiele für diese besondere Form sind Grünschnabel, Langbein, Plattfuß, Rotrock, Bleichgesicht. Ähnliche Beobachtungen könnte man auch für Zusammensetzungen aus anderen Wortklassen als aus Adjektiv plus Substantiv machen.

Idiomatische Wendungen (Idioms) Eine andere Art von komplexer lexikalischer Einheit ist die idiom atische Wendung oder das I d i o m . Ein Idiom ist eine Wendung, deren Bedeutung nicht auf Grund der Bedeutung ihrer einzelnen Morpheme vorausgesagt werden kann. Wenn man unter falscher Flagge segelt, muß das nicht notwendig auf dem Wasser sein. Man kann jemanden links liegenlassen, auch wenn er rechts steht. Auch wenn man die Katze aus dem Sack läßt, wird selten eine Katze herauskommen. Sprachen sind voller idiomatischer Wendungen. Einige andere Beispiele im Deutschen sind im Eimer sein, Dreck am Stecken haben, das Kriegsbeil ausgraben und den Nagel auf den Kopf treffen. Schon der Definition nach geschieht die Bildung idiomatischer Wendungen eher idiosynkratisch als regelmäßig. Weil die idiomatischen Wendungen aus Morphemen konstruiert sind, die auch nicht-idiomatisch verwendet werden können, gibt es für die 72

meisten von ihnen auch eine wörtliche Bedeutung. Wer den Nagel auf den Kopf trifft kann in der Tat gerade dabei sein, einen Nagel einzuschlagen. Den Nagel auf den Kopf treffen schildert also in seiner Bedeutung zwischen dieser wörtlichen Interpretation und der übertragenen Bedeu- · tung, etwas vollkommen richtig tun oder verstehen'. Interessant ist, daß idiomatische Wendungen nicht nur semantisch von den entsprechenden, wörtlich genommenen Morphemketten verschieden sind; zu der semantischen Eigenart treten oft auch besondere syntaktische Eigenschaften hinzu. Ein Beispiel: Zu der wörtlich gemeinten Form Die Büste war im Eimer gibt es die Form Die Bürste fiel in den Eimer; wird jene aber idiomatisch gebraucht, im Sinne von ,unbrauchbar', läßt sich die entsprechende Form nicht bilden. Die meisten idiomatischen Wendungen erkennt man leicht als erstarrte Metaphern. Der metaphorische Charakter von Gras über eine Sache wachsen lassen oder den Stier bei den Hörnern packen etc. ist offensichtlich. Wenn erstarrte Metaphern aber einmal als feste lexikalische Einheiten in die Sprache eingegangen sind, verlieren sie oft ihre Anschaulichkeit, und die Sprecher machen sich ihren metaphorischen Ursprung nicht mehr bewußt. Das gilt z.B. für den ursprünglich metaphorischen Charakter von jemanden im Stich lassen oder etwas im Schilde führen. Andere Idiome entstehhen nicht aus Metaphern, sondern durch Ellipse. Das spanische No hay de que bedeutet wörtlich ,Es gibt nichts, wofür'; als idiomatische Wendung jedoch entspricht es dem deutschen Jceine Ursache' oder dem englischen ,don't mention it'. Der Ausdruck ist etwas rätselhaft, bis man merkt, daß er eine Kurzform für einen längeren Ausdruck ist, der etwa zu übersetzen wäre als ,Es gibt nichts, wofür Sie mir zu danken hätten'. Das französische II n'y a pas de quoi ist genau parallel gebaut. Idiomatische Wendungen und erstarrte Metaphern (ganz abgesehen von anderen komplexen lexikalischen Einheiten) sind ganz eindeutig auf dem Amboß des Sprachgebrauchs zurechtgehämmert. Wenn sie auf die betreffende Situation zutreffen, sind metaphorische Ausdrücke viel farbiger als einfache prosaische Wendungen. Erfolgreiche Metaphern werden aufgegriffen und wieder angewendet, so daß sie schließlich zu einem festen Bestandteil der Sprache werden. Wir verwenden täglich hunderte davon, ohne es zu merken. Die hohe Redundanz der meisten alltäglichen Kommunikationssituationen, verbunden mit der natürlichen Neigung zum verkürzten Ausdruck und zum Weg des geringsten Widerstandes, läßt die Tendenz zur Ellipse leicht verständlich werden, die solche Formen wie No hay de que hervorbringt. Dieselbe Tendenz ist vielleicht auch bei der Bildung von Zusammensetzungen zu beobachten; es ist viel 73

einfacher zu sagen Fliehkraftkupplung als Kupplung, die nach dem Prinzip der Fliehkraft funktioniert. Wörter, die im Gebrauch immer zusammen auftreten, neigen manchmal dazu, eine gemeinsame lexikalische Einheit zu bilden. Hin und her ist eine derart alltägliche Wendung, daß es etwas seltsam klingt, sie in der Reihenfolge her und hin zu hören. Tag und Nacht ist ein weiteres Beispiel ; Nacht und Tag klingt einfach nicht richtig. Im Englischen gibt es etwa die Fälle bread and butter oder ham and eggs. The stars and stripes (Bezeichnung fur die amerikanische Flagge) bezieht sich auf etwas anderes, als nur eine Anhäufung von Sternen und Streifen; stripes and stars dagegen besitzt diese besondere Bedeutung nicht. Dasselbe gilt für Hammer und Sichel. Die Morpheme genau, so, viel werden so häufig zusammen gebraucht, daß sie praktisch schon als ein Wort verstanden werden können. Wir können entweder genau so viel schreiben oder genausoviel. Ähnlich ist nichtsdestoweniger entstanden. Wer Französisch kann, wird denselben Typ auch in cependant,indessen' oder parce que ,weil' erkennen.

Phonologische, semantische und syntaktische Repräsentation Wenn jemand ein Morphem lernt, so ist seine eigentliche Leistung die, drei Typen von Information zusammenzufügen: phonologische, semantische und syntaktische. Nehmen wir an, jemand lernt das englische Morphem cat. Dafür muß er ein bestimmtes Maß an phonologischer Information beherrschen, nämlich daß die Aussprache dieses Morphems cat [kaet] ist und nicht filk, liberty, dog, act, tack oder sonstwie. Genauer gesagt, muß er lernen, daß dieses Morphem phonologisch aus drei Lautsegmenten besteht (nicht aus zwei und auch nicht aus sieben); daß diese [k], [x] und [t] sind (und nicht etwa [s], [ae] und [t] oder irgend eine andere Kombination) und daß sie in der Reihenfolge [k]-[ae]-[t] auftreten (und nicht als [ae]-[t]-[k], [t]-[as]-[k] oder in einer anderen Folge). Wir können also feststellen, daß jemand als Teil des Vorgangs, ein Morphem zu erlernen, eine phonologische Repräsentation des betreffenden Morphems lernen muß. Die phonologische Repräsentation des Morphems cat umfaßt mindestens die eben vorgrführte Information. Wir haben festgestellt, daß manche Morpheme semantisch leer sind; 74

so besitzt ζ. Β. to in I want to go keine Bedeutung. Die meisten Morpheme besitzen jedoch eine Bedeutung, und diese Bedeutung muß beim Lernen eines Morphems mitgelernt werden. Wir können heute noch nicht genau sagen, wie die semantische Repräsentation eines Morphems auszusehen hat und welche Art von Information mit einem Morphem verbunden sein muß, damit es eine feste Bedeutung hat, die sich von allen anderen möglichen Bedeutungen abhebt. Bekannt ist jedoch, daß Morpheme semantische Repräsentationen irgendwelcher Art besitzen und daß die Zuordnung einer semantischen Repräsentation zu einer phonologischen Repräsentation in einem Morphem in den meisten Fällen völlig willkürlich oder durch Konvention geregelt ist. Das Englische würde um kein Haar schlechter funktionieren, wenn die semantische Repräsentation von cat mit einer anderen phonologischen Einheit verbunden wäre. Ein Morphem ist aber durch seine semantischen und phonologischen Eigenschaften noch nicht vollständig definiert. Ein Morphem besitzt auch noch syntaktische Eigenschaften, eine syntaktische Repräsentation, die bestimmt, wie sich das Morphem im Hinblick auf die grammatischen Vorgänge der Sprache verhält. Cat ζ. Β. kann nur als Substantiv auftreten und nie etwa als Adjektiv. Deshalb ist der Satz That fat cat spat at flat black mats grammatisch, nicht aber It is very cat. Demzufolge kann man Morpheme als Bündel von semantischen, phonologischen und syntaktischen Eigenschaften verstehen. Ganz so einfach ist die Sache jedoch nicht. Das englische Wort route besitzt ζ. B. zwei verschiedene Aussprachen, manchmal sogar innerhalb desselben Idiolekts; es kann so ausgesprochen werden, daß es entweder auf shout oder auf shoot reimt. Ball kann die Bedeutung Tanzveranstaltung' haben oder aber ein Sportgerät bezeichnen. Das englische square kann syntaktisch als Substantiv, Verb oder Adjektiv auftreten (Mark an X in the proper square ,Feld, Quadrat';/? is useless to try to square the circle;,einen Kreis zu quadrieren (,die Quadratur des Zirkels'); The table is square quadratisch'). Es ist eher eine Ausnahme, wenn ein gewöhnliches lexikalisches Morphem eine einzige phonologische Repräsentation, eine einzige semantische Repräsentation und eine einzige syntaktische Repräsentation besitzt; davon kann uns ein Blick auf jede beliebige Seite eines Wörterbuchs überzeugen. Bei der Beschreibung des Lexikons einer Sprache müssen wir diese verschiedenen Möglichkeiten in irgendeiner Form berücksichtigen. Nun erhebt sich natürlich die Frage, in welcher Weise solche Einheiten, die Varianten ein und desselben Morphems zu sein scheinen, miteinander zusammenhängen. In Fällen wie dem angeführten Beispiel route ist nicht 75

viel zu sagen. Das Morphem route besitzt für manche Sprecher zwei verschiedene Vokale in seiner phonologischen Repräsentation; wann immer der Sprecher diese Form ausspricht, hat er die Wahl, welchen er verwenden will. Viel interessanter sind die Fälle, wo die gleiche phonologische Repräsentation mit verschiedenen semantischen oder syntaktischen Repräsentationen verknüpft ist. Wir können zunächst einmal feststellen, daß viele Formen mit identischer phonologischer Gestalt darüberhinaus nichts oder nur wenig gemeinsam haben. In diesem Fall sind wir berechtigt, die Formen als verschiedene Morpheme anzusprechen. Die beiden ni im Aztekischen sind ein gutes Beispiel dafür. Das eine gibt an, daß das Subjekt ,ich' ist, das andere ist ein Agens-Suffix; gemeinsam ist ihnen nur die Lautform. Die beiden er-Suffixe des Deutschen (in schöner und Schwimmer) sind ein weiteres Beispiel. Auch Moor und Mohr, die beide gleich ausgesprochen werden, haben zweifellos keine besondere Verwandtschaft. Das Vorhandensein solcher Paare (oder Gruppen) von phonologisch identischen Morphemen in einer Sprache sind als reiner Zufall zu betrachten. In anderen Fällen sind jedoch die Ähnlichkeiten so beschaffen, daß sie mit verschieden großem Nachdruck eine besondere Form der Verwandtschaft zwischen den lautlich identischen Formen vermuten lassen. Betrachten Sie ζ. B. die Wendungen scharfe Klinge, scharfer Verstand, scharfes Bild, scharfe Kalkulation. Genau genommen sind die vier Formen scharf semantisch verschieden; sie können jeweils als ,gut schneidend', ,schnell begreifend',,nicht verwackelt' und ,knapp, risikoreich' umschrieben werden. Aber in einem weiteren Sinne zeigen die vier Versionen von scharf eine ganz bestimmte semantische Beziehung, die es rechtfertigt, sie als Varianten eines einzigen Morphems zu behandeln. Rein intuitiv könnte man annehmen, daß scharf im Sinne von ,gut schneiden' gewissermaßen die Grundbedeutung ist, während die anderen Versionen sekundär sind, insofern, als sie als metaphorische Schöpfungen von der Grundform abgeleitet sind. Ein Verstand ist scharf, weil er ohne Mühe schwierige Probleme durchschneiden kann; ein Bild ist scharf, wenn die Umrisse klar und unverwischt geschnitten sind; eine scharfe Kalkulation ist eine, bei der zwischen Gewinn und Verlust nur eines Messers Schneide steht. Beispiele für solche metaphorische Erweiterungen gibt es zu Tausenden. Vergleichen Sie klares Wasser, ein klarer Fall, eine klare Darstellung und ein klarer Himmel; oder Karl schlägt Otto, Die Uhr schlägt zwölf, sich etwas aus dem Kopf schlagen, die gegnerische Mannschaft schlagen, ein Leck schlagen. Selbst, wenn wir uns auf einfache lexikalische Einhei76

ten beschränken, die nur aus einem Morphem bestehen, treffen wir die weitverbreitete Wirkung der Metaphorik an. Aber nicht immer läßt sich ein Verhältnis von Grundbedeutung und abgeleiteter Metaphorik in den beiden Bedeutungen eines Morphems ohne weiteres feststellen. Das fuhren in einen Blinden führen und in ein Leben fuhren sind bis zu einem gewissen Grad bedeutungsähnlich (gemeinsam ist das Element aktiver Tätigkeit), aber keines von beiden läßt sich als metaphorische Ausweitung des anderen verstehen. Am schwierigsten zu fassen sind alle jene Varianten eines scheinbar gleichen Morphems, die je nach ihrem syntaktischen Gebrauch auch semantisch variieren. Solche Fälle kommen gerade im Englischen häufig vor. Zweifellos besteht eine Beziehung zwischen dem Substantiv circle in He drew a circle in the sand und dem Verbum circle in The Indians circled the cabin (,kreisten die Hütte ein') oder zwischen dem Substantiv fire (I will light a fire) und dem homonymen Verb (fire the pottery ,die Tonwaren brennen'). Man ist versucht, den semantischen Unterschied direkt auf den Unterschied im syntaktischen Gebrauch zurückzuführen: man würde also sagen, daß die beiden Formen von circle dieselbe semantische Repräsentation besitzen, und daß der Unterschied zwischen circle als einer geometrischen Figur und circle als einer Bewegung, die einer solchen Figur entsprechend verläuft, einzig und allein auf dem Unterschied zwischen Substantiven und Verben beruht. Das mag der wirklichen Sachlage nahekommen, aber die vollkommene Erklärung ist es nicht. Es genügt schon, festzustellen, daß es keine konstante semantische Wirkung gibt, die mit der Funktion eines Morphems als Substantiv, Verb oder ein anderer Redeteil automatisch gekoppelt ist. Der semantische Unterschied zwischen circle als Substantiv und als Verb ist der der Bewegung. Welcher Unterschied auch immer zwischen fire als Substantiv und als Verb besteht, es ist nicht der der Bewegung gegenüber Nicht-Bewegung. Der semantische Unterschied zwischen dem Substantiv skin (My skin is soft) und dem Verb skin (I skinned my knee ,ich habe mein Knie aufgeschürft') ist wieder völlig anders. Squaring a circle (.einen Kreis quadrieren') und circling a circle (,in Kreisbewegung fahren, gehen' etc.) sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Die Bedeutung und ihre Realisierung Bei unserem Versuch, die Sprachstruktur zu erfassen, haben wir uns bisher hauptsächlich damit befaßt, die Sprache zu sezieren, um herauszufin77

den, aus welchen Teilen sie besteht. Wir haben gesehen, daß sich Sätze in lexikalische Einheiten verschiedener Art aufteilen lassen, von denen manche wiederum in kleinere lexikalische Einheiten aufgeteilt werden können. Wir haben gesehen, daß ein Sprachsystem als Ganzes, zumindest zur Vereinfachung der Untersuchung, sich in seine Teilsysteme, das semantische, das syntaktische und das phonologische, auflösen läßt. Eine lexikalische Einheit läßt sich auf ihre semantische, ihre syntaktische und ihre phonologische Repräsentation hin analysieren, wobei jede Repräsentation einem der genannten Teilsysteme entspricht. Es ist nun an der Zeit, daß wir den Schwerpunkt vom Sezieren auf die Anatomie oder die Physiologie verlagern, damit wir einen gewissen Überblick bekommen, wie die Komponenten einer Sprache zu einem zusammenhängenden System aufgebaut sind und wie sie zusammenwirken. Fragen der Semantik müssen in dieser Darstellung eine besondere Rolle spielen. In den Kapiteln 5 und 6 werden wir näher auf die Besonderheiten des syntaktischen und des phonologischen Systems eingehen. Kommen wir zurück zu unserer ursprünglichen Vorstellung von der Sprache als einem Mittel, Bedeutungen und Lautfolgen einander zuzuordnen. Der Besitz eben dieses Mittels setzt den Sprecher in die Lage, seine Gedanken zum Zwecke der Kommunikation in Lautfolgen zu übersetzen und die von anderen Sprechern geäußerten Lautsignale zu verstehen, d. h. zumindest annähernd die Gedanken zu rekonstruieren, die der Anlaß zur Abgabe dieser Signale waren. Dieses Mittel zur Zuordnung von Bedeutungen und Lautfolgen besteht aus einer Menge von Konventionen und Prinzipien. Indem man sich dieser Konventionen und Prinzipien auf eine komplizierte und noch lange nicht genügend erforschte Weise bedient, ist man fähig, Äußerungen zu produzieren und zu verstehen. Was uns hier in erster Linie interessiert, ist nicht der praktische Gebrauch dieser Konventionen und Prinzipien, sondern ihr Charakter an sich. Mit anderen Worten: es ist unsere Aufgabe, die Sprachkompetenz soweit als möglich zu verstehen; über die Sprachperformanz weiß man noch sehr wenig, und in jedem Fall würde das den Rahmen dieses Buches überschreiten. Die folgenden Abschnitte werden also nicht Schritt für Schritt umreißen, was ein Sprecher tut, wenn er eine Äußerung produziert oder aufnimmt, sondern vielmehr den Aufbau des Systems skizzieren, das seiner Performanz zugrunde liegt und das es ihm ermöglicht, sowohl als Sprecher als auch als Hörer zu fungieren. Nehmen Sie den Satz Die Katze kratzte den Hund. Er besitzt eine Bedeutung und eine Lautform. Das Problem ist nun, festzustellen, wie und durch welche Organisationsform diese Bedeutung und diese Lautform 78

(und alle entsprechenden Paare) verbunden sind. Wenn wir die Lage in Form der Abb. 4.1 darstellen, so geht es darum, die durch den Pfeil bezeichnete Beziehung zu charakterisieren. Die Beziehung ist komplex, selbst in den einfachsten Sätzen, so daß wir sie in kleinen Untersuchungsschritten betrachten wollen. BEDEUTUNG

LAUTFORM Abb. 4.1

Die Rolle der phonologischen Regeln Fangen wir bei der phonologischen Seite an. Die Katze kratzte den Hund besteht aus einer Morphemkette. Wenn wir PRÄ Τ für das Präteritalmorphem einsetzen und ein Pluszeichen zwischen den einzelnen Morphemen anbringen, so läßt sich der Satz folgendermaßen darstellen: die+Katze+ kratz-+PRÄT+den+Hund. Jedes dieser Morpheme besitzt, wie wir gesehen haben, eine phonologische Repräsentation. Das Morphem Katze ist zum Beispiel teilweise dadurch charakterisiert, daß es aus vier Lautsegmenten in folgender Reihenfolge besteht: [k], [a], [ts], [e]. Die phonologischen Repräsentationen dieser Einzelmorpheme spezifizieren noch nicht vollständig die Aussprache des Satzes in allen phonetischen Einzelheiten. Sie erinnern sich: eine Sprache ist charakterisiert durch ein phonologisches System, durch allgemeine phonologische Prinzipien, die sich nicht auf einzelne Morpheme beziehen, sondern für alle Morpheme der Sprache gültig sind. Diese Prinzipien werden kombiniert und wirken zusammen mit den phonologischen Repräsentationen einzelner Morpheme, um die vollständige, detaillierte Aussprache eines Satzes zu bestimmen. Ein Lautsegment wird zum Beispiel verschieden ausgesprochen je nach seiner lautlichen Nachbarschaft in der Kette. Das deutsche [k] in Katze (vor [a]) ist nicht phonetisch identisch mit dem in Kiste (vor [i]). Außerdem wird es im Wortanlaut anders ausgesprochen (mit starkem Hauch) als im Inlaut, etwa in Takt, wo die Behauchung viel geringer ist. Derartige allgemeine phonologische Prinzipien wie diese werden kombiniert mit den besonderen phonologischen Eigenschaften einzelner Morpheme, um die genaue Aussprache eines Satzes zu bestimmen. 79

Wenn wir bei unserem Beispiel bleiben Die Katze kratzte den Hund, so können wir die oben gezeigte Skizze verändern und erhalten Abb. 4.2. Das phonologische System der Sprache ist verantwortlich für die Bestimmung der vollständigen Aussprache dieses Satzes auf der Basis der phonologischen Repräsentationen der Einzelmorpheme. Die Prinzipien des phonologischen Systems schreiben vor, daß das anlautende [k] in Katze behaucht ausgesprochen wird und weiter hinten am Gaumen gebildet wird als dasjenige in Kiste. Diese Prinzipien heißt man p h o n o l o gische Regeln. (Dabei ist Regel nur ein einfacherer Terminus für Prinzip und wird genau in diesem Sinne verwendet.) Die Eigenart der phonologischen Regeln und Repräsentationen wird in Kapitel 6 ausführlicher dargestellt.

BEDEUTUNG

die + Katze + kratz + PRÄT + den + Hund

Phonologische Regeln

LAUTFORM

Abb. 4.2

Begriffsstrukturen und Oberflächenstrukturen Haben wir einen Satz als eine Kette von Morphemen, so bestimmen die phonologischen Regeln der Sprache auf der Basis von phonologischen Einzelrepräsentationen die detaillierte phonetische Form des Satzes, d. h. seine Aussprache. Der nächste Punkt unserer Untersuchung ist die Beziehung zwischen einem Gedanken, den ein Sprecher ausdrücken möchte (oder den ein Hörer rekonstruiert) und der dazugehörigen Morphemkette. Wie sind Bedeutungen und Morphemketten miteinander verbunden? Dies ist, milde ausgedrückt, eine schwierige Frage. Letzten Endes 80

ist dies die entscheidende Frage mit der heutzutage die Linguisten in ihrer Untersuchung des Aufbaus der Sprache konfrontiert sind. Eine Antwort auf diese Frage muß die Beziehung zwischen der Syntax (den Prinzipien oder Regeln, die die Menge der grammatischen Sätze und deren Strukturen angibt) und der Semantik (der Untersuchung der Bedeutung) klären. Die Schwierigkeit wird noch verschärft durch die enge Beziehung zwischen Semantik und menschlicher Psychologie überhaupt; um Bedeutung zu beschreiben oder auch nur zu sagen, was Bedeutung ist, müssen wir uns mit der Struktur des Denkens und der Wahrnehmung beschäftigen. Es gibt aber bis jetzt noch wenig konkrete Erkenntnis über die Prinzipien der psychischen Struktur. Ohne Schwierigkeiten können wir die Bewegungen unserer Sprechorgange beobachten, um festzustellen, wie Laute gebildet werden; aber es ist sehr viel schwieriger, die Denkvorgänge zu beobachten und zu beschreiben. Wir können zwar mit einiger Sicherheit einiges über die Beziehung zwischen Bedeutung und Morphemketten sagen, aber unser Wissen darüber weist noch viele große und emstzunehmende Lücken auf. Welches ist die Beziehung zwischen der Kette die+Katze+kratz-+ PRÄT+den+Hund und der Bedeutung dieses Satzes? Zunächst muß beachtet werden, daß beide Elemente stark strukturiert sind. Die+Katze+ kratz-+PRÄT+den+Hund ist kein durch Zufall zusammengekommener Haufen, sondern eine in besonderer Weise angeordnete Gruppe von Morphemen. Einmal sind diese Morpheme in einer spezifischen linearen Folge nacheinander angeordnet. Eine Veränderung dieser Reihenfolge ergibt entweder eine ungrammatische Kette oder einen anderen Satz. Darüberhinaus hängen bestimmte aufeinanderfolgende Morpheme irgendwie untereinander zusammen und bilden erkennbare Teilketten. Die+Katze scheint eine besondere Gruppierung zu bilden; diese Teilkette funktioniert in einer Weise als Einheit, die für PRÄT+den nicht zutrifft. Entsprechend ist kratz-+PRÄT+den+Hund in einer gewissen Weise eine Einheit (mit den Teileinheiten kratz-+PRÄT und den+Hund), im Gegensatz zu Katze+kratz-+PRÄT+den. Wir beschäftigen uns also mit einer ziemlich abstrakten Struktur, in der die lineare Anordnung der Morpheme nur eine Facette ist. Diese Struktur wollen wir die Oberflächenstruktur des Satzes nennen. Es ist ebenfalls deutlich, daß auch die Bedeutung des Satzes Die Katze kratzte den Hund strukturiert ist, aber es ist schwieriger zu sagen in welcher Weise. Wie sieht die Bedeutung eines Satzes überhaupt aus? Das ist eine berechtigte Frage, die wir aber im Augenblick noch nicht befriedigend beantworten können. 81

Als Organismen mit komplexem Zentralnervensystem besitzen wir riesige Speicher von Begriffswissen, einem Wissen, das hochgradig organisiert und integriert ist. Denken ist das Handhaben von Begriffen, die Aktivierung von Teilbereichen unseres gesamten konzeptuellen Apparats. Ein Satz ist bedeutungsvoll, wenn überhaupt, weil er in Beziehung steht zu Aspekten unserer psychischen Organisation, weil er in der Lage ist, die Vorstellung einer Situation hervorzurufen oder von einer solchen hervorgerufen zu werden. Wir verwenden Sätze, um über vorgestellte Situationen zu reden, die sich in verschiedener Weise ergeben. Wenn Α für Β eine unmittelbare Schilderung eines Kampfes zwischen einer Katze und einem Hund gibt, wird er vielleicht den Satz Die Katze kratzte den Hund verwenden, indem er etwas berichtet, das er erst Sekunden vorher beobachtet hat. In diesem Fall ergibt sich die Konzeptualisierung des Α direkt aus der sinnlichen Wahrnehmung. Er denkt eine Katze und einen Hund, weil er einen Vorgang beobachtet, an dem sie beteiligt sind, und er denkt sie sich als Teilnehmer an dem Akt des Kratzens, weil er gerade eine derartige Aktivität gesehen hat. Β denkt sich einen Akt des Kratzens, weil Α ihm sagt Die Katze kratzte den Hund. Auf der Grundlage des gehörten Satzes konstruiert er eine Art Vorstellungsbild des Vorgangs. Wenn der Kommunikationsvorgang erfolgreich ist, so wird das Vorstellungsbild von Β weitgehend mit dem übereinstimmen, das Α zu seinem Bericht veranlaßt hat; in Einzelheiten werden sie sich letztlich zweifellos unterscheiden, aber nicht in den Grundzügen. Die Konzeptualisierung einer Situation kann Zustandekommen, ohne daß irgendeine sprachliche oder nicht-sprachliche Wahrnehmung vorausgeht. Jemand kann sich eine Situation aus der Erinnerung heraus vorstellen und dann den erinnerten Sachverhalt berichten. Oder er kann sich seines Vorstellungsspeichers so bedienen, daß er sich etwas vorstellt, das er überhaupt noch nie beobachtet hat; unsere geistigen Prozesse besitzen einen beträchtlichen Grad der Unabhängigkeit von sensorischer Kontrolle. Wenn man weiß, was Katzen und Hunde sind, und wenn man weiß, was es bedeutet, wenn etwas etwas kratzt, so kann man sich vorstellen, wie eine Katze einen Hund kratzt, auch wenn man es noch nie im Leben gesehen oder berichtet bekommen hat. Indem wir bekannte Vorstellungselemente neu anordnen und strukturieren, können wir neue Vorstellungen erfinden, die uns noch nie bewußt geworden sind. So entstehen Einhörner (mit oder ohne Blumen in den Nüstern) und alle Produkte menschlicher Kreativität. Die Bedeutung eines Satzes ist also eine begrifflich geformte Situation 82

(conceptual situation) und damit-strukturiert. Die Bedeutung von Die Katze kratzte den Hund ist nicht identisch mit dem Vorstellungsbild, das Α letzten Dienstag hatte, als er diesen Satz zu Β äußerte, und ebensowenig identisch mit dem Vorstellungsbild, das sich Β konstruierte, als er den Satz hörte. Vielleicht dachte A an eine Siamkatze und einen Collie, als er den Satz bildete, und er interessierte sich dafür, daß die Siamkatze gerade die linke Vorderpfote zum Kratzen verwendete, aber diese Einzelheiten gehören eindeutig nicht zur Bedeutung des Satzes selbst; wenn Β keine andere Information als den Satz selber hätte, könnte er diese Einzelheiten daraus nicht erschließen. Insofern der Satz Die Katze kratzte den Hund überhaupt eine genau faßbare Bedeutung hat, beruht das darauf, daß die betreffenden begrifflich geformten Situationen, die er hervorruft oder die ihn hervorrufen, gewisse grundlegende Eigenschaften gemeinsam haben. Wenn wir all das unbedeutende Beiwerk entfernen könnten, das bei jedem Konzeptualisierungsvorgang hereinspielt, der einem Satz zugrunde liegt, so könnten wir das begrifflich geformte Bild, das übrigbleibt, einigermaßen zutreffend als die Bedeutung dieses Satzes bezeichnen. Begrifflich geformte Bilder sind hochgradig strukturiert. Die begriffliche Situation, die durch Die Katze kratzte den Hund repräsentiert wird, ist keineswegs nur eine zufällige Anordnung von Vorstellungselementen. Sie besteht aus Teilen, die in einer ganz bestimmten Weise angeordnet sind. Eine Komponente dieses komplexen Gedankens ist die Vorstellung einer Katze, eine andere die eines Hundes. Diese Komponenten sind kombiniert als Teilnehmer an dem Vorgang des Kratzens. Die Tätigkeit wird in der Vorzeitigkeit gesehen. Wären diese Komponenten anders kombiniert, ergäbe sich ein anderer Gedanke. So könnten ζ. B. dieselben Elemente, in anderer Kombination strukturiert, die begrifflich geformte Situation darstellen, die durch Der Hund kratzte die Katze oder In Gegenwart des Hundes kratzte sich die Katze repräsentiert wird. Entsprechend besteht unsere Begriffsvorstellung von einem Fahrrad nicht einfach aus der Assoziation der Begriffe Rad, Pedal, Lenkstange, Rahmen, Sattel usw., sondern vielmehr aus einer Anordnung dieser Elemente in einer zusammenhängenden, bekannten Struktur. Ohne diese Konfiguration erhalten wir nur einen Haufen unzusammenhängendes Zeug. Sowohl die Morphemkette, die einen Satz ausmacht, als auch die dem Satz zugrundeliegende begrifflich geformte Situation sind also strukturierte Elemente. Das erste haben wir die Oberflächenstruktur eines Satzes genannt. Für das zweite wollen wir den Terminus Begriffsstruktur verwenden. Das semantische und das syntaktische System einer Sprache 83

umfassen die Prinzipien, die Begriffsstrukturen und Oberflächenstrukturen miteinander verbinden. Für jeden Satz einer Sprache spezifizieren diese Prinzipien das Verhältnis zwischen seiner Form als Morphemkette und seinem Begriffswert. Wir können nun unsere Skizze (Abb. 4.2) revidieren, in der wir das Zusammenwirken der Komponenten einer Sprache bei der Zuordnung von Bedeutungen und Lautformen in der Form von Sätzen dargestellt haben. Als Ergebnis erhalten wir Abb. 4.3, in der die Termini B e d e u t u n g und L a u t f o r m durch deskriptivere ersetzt sind: wir können sagen, ein Satz repräsentiert eine B e g r i f f s s t r u k t u r und besitzt eine p h o n e t i s c h e R e a l i s i e r u n g .

BEGRIFFSSTRUKTUR

PHONETISCHE REALISIERUNG

Abb. 4.3

Die Wahl von lexikalischen Einheiten und die syntaktischen

Regeln

In Kapitel 2 haben wir uns das semantische und das syntaktische System kurz angesehen. Wir stellten fest, daß lexikalische Einheiten Bedeutung tragen bzw. einen Begriffswert haben, und daß die Bedeutung eines Satzes letztlich von den Bedeutungen seiner lexikalischen Einheiten abhängt. Diesen Aspekt der Sprache nannten wir das semantische System. Das

84

syntaktische System wurde charakterisiert als die Menge von Prinzipien oder Regeln, die angeben, welche Ketten aus der Zahl aller möglichen Ketten von lexikalischen Einheiten grammatische Sätze der Sprache sind. Die Syntax einer Sprache kann, mit anderen Worten, als ein Regelsystem zur Konstruktion der unendlichen Menge von grammatischen Ketten einer Sprache verstanden werden. Wir können nun genauer beschreiben, wie diese Systeme funktionieren, um Begriffsstrukturen und Oberflächenstrukturen zu verbinden. Man kann einen Satz dazu verwenden, über eine Vorstellung von einer Situation zu reden, weil die Morpheme, aus denen er aufgebaut ist, im einzelnen Begriffswert bzw. semantische Repräsentationen haben. Morpheme können also dazu dienen, Komponenten eines komplexen Gedankens oder Aspekte seiner Konfiguration zu bezeichnen. Nehmen wir nochmals an, Α berichtet Β von einem Kampf zwischen einer Katze und einem Hund. Α sieht wie die Katze den Hund kratzt, und einen Augenblick später beginnt er, dies Β zu berichten. Als Ergebnis einer eben gemachten sinnlichen Wahrnehmung hat Α eine ziemlich komplexe Situation begrifflich geformt. Er hat eine Vorstellung erzeugt, die einen Vorgang mit zwei Teilnehmern umfaßt, die wiederum bestimmte Eigenschaften besitzen. Um diese komplexe Vorstellung in sprachliche Form zu übersetzen, wählt er Morpheme zur Bezeichnung von Teilelementen. Der Begriffswert des Morphems Katze entspricht einer Komponente der begrifflich geformten Situation; derjenige von Hund einer anderen und derjenige von kratz- einer dritten. Darüberhinaus stellt sich Α den Vorgang zu einem vor der Gegenwart liegenden Zeitpunkt vor. Er kann deshalb das Morphem PRÄT verwenden, um die zeitliche Einordnung des Ereignisses anzugeben. In der Annahme, daß die Aufmerksamkeit von Β sich schon auf eine bestimmte Katze und einen bestimmten Hund gerichtet hat, wählt er den bestimmten Artikel die (und den) vor Katze (und Hund) (im Gegensatz zu irgendeine, eine oder eine Angabe darüber, um welche Katze und welchen Hund es sich handelt). Die Bestimmung von lexikalischen Einheiten für die Repräsentation von Teilen einer Begriffsstruktur ist natürlich nur eine Facette in der Beziehung zwischen der Begriffsstruktur eines Satzes und seiner Oberflächenstruktur, die wiederum phonologische Regeln mit einer phonetischen Realisierung verbinden. Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur sind keineswegs identisch, und folglich muß es eine bestimmte Menge von Prinzipien geben, die sie einander zuordnen. Diese Prinzipien sind die syntaktischen Regeln der Sprache, ihr syntaktisches System. 85

Einige Beispiele sollen zeigen, daß Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur von Sätzen nicht identisch sind. In manchen Fällen erscheinen Komponenten der Begriffsstruktur überhaupt nicht in der entsprechenden Oberfläche. Imperativsätze sind ein gutes Beispiel. Komm her! zeigt erkennbar kein Substantiv, das die Person oder das Ding, das kommen soll, bezeichnet. Trotzdem enthält der Begriffswert des Satzes selbstverständlich etwas, das im Hinblick auf den Sprecher seinen Ort verändern soll. Umgekehrt gibt es Sätze, die in ihrer Oberflächenstruktur Elemente enthalten, die in der Begriffsstruktur nicht vorkommen. Das zw in Du brauchst nicht zu kommen ist ein Beispiel dafür; es besitzt keinerlei Bedeutung. Herwig hat die Scheibe zerbrochen und Die Scheibe ist von Herwig zerbrochen worden haben verschiedene Oberflächenstrukturen, aber offensichtlich dieselbe Bedeutung, dieselbe Begriffsstruktur. Das Streicheln der Affen war unangenehm kann aus zwei grundsätzlich verschiedenen Begriffsstrukturen entstehen (streicheln die Affen oder werden sie gestreichelt? ), aber die Oberflächenstruktur ist bei beiden Deutungen gleich. Mithin können Oberflächen- und Begriffsstruktur von Sätzen nicht identisch sein. Damit sind wir bei dem Schema vom Aufbau der Sprache, wie es in Abb. 4.4 dargestellt ist. Um eine Sprache zu lernen, muß man eine Menge

BEGRIFFSSTRUKTUR

Auswahl von le xikal. Einheiten Syntaktis«;he Regeln

OBERFLÄCHEN STRUKTUR

Phonologische Regeln

PHONETISCHE REALISIERUNG Abb. 4.4

86

von lexikalischen Einheiten, eine Menge von syntaktischen Regeln und eine Menge von phonologischen Regeln lernen. Jede lexikalische Einheit besitzt eine semantische Repräsentation, eine phonologische Repräsentation und eine syntaktische Repräsentation. Eine Begriffsstruktur ist mit einer Oberflächenstruktur verbunden durch die Wahl der lexikalischen Einheiten, deren semantische Repräsentation sie zu geeigneten Bezeichnungsteilen der Begriffsstruktur macht, und durch syntaktische Regeln. Phonologische Regeln verbinden die Oberflächenstruktur eines Satzes mit seiner phonetischen Realisierung auf der Basis der phonologischen Repräsentationen seiner lexikalischen Einheiten.

Sprachliche und psychische Beschränkungen Um diese Skizze des Aufbaus von Sprachsystemen vollständig zu machen, wollen wir nochmals zu der Feststellung zurückkehren, die Syntax einer Sprache sei eine Menge von Regeln, die eine unendliche Menge von grammatischen Sätzen angeben und dabei unterscheiden zwischen solchen Morphemketten, die wohlgeformte Sätze sind, und solchen, die es nicht sind. Die Sätze einer Sprache bilden eine unendliche Menge, weil es prinzipiell keine Begrenzung ihrer Länge gibt; ebensowenig wie eine höchste Zahl gibt es einen längsten Satz. Bei einem derartigen Bau der Sprachen können demnach Sätze von jedem beliebigen Grad der Komplexität konstruiert werden. Es gibt eine doppelte Quelle für diese Eigenart der menschlichen Sprache. Erstens kann der menschliche Verstand prinzipiell Gedanken jedes beliebigen Komplexitätsgrades konzipieren; und zweitens sind die syntaktischen Regeln einer Sprache in der Lage, Begriffsstrukturen unabhängig von ihrer Komplexität mit Oberflächenstrukturen zu verbinden. Dieses Merkmal der syntaktischen Regeln soll im nächsten Kapitel einigermaßen ausfuhrlich dargelegt werden. Der erste Punkt sollte aber noch verdeutlicht werden, bevor wir weiter fortschreiten. Unsere psychischen Mechanismen sind so gebaut, daß grundsätzlich begrifflich geformte Situationen in unbegrenzter Komplexität auftreten können. Jemand kann sich eine Katze vorstellen, die einen Hund gekratzt hat. Er kann sich auch vorstellen, daß jemand glaubt, daß ein bestimmter Zustand vorhanden ist. Diese zwei Vorstellungen können nun wiederum als Komponenten eines komplexeren Gedankens dienen, des Gedankens, daß jemand glaubt, daß die Katze den Hund gekratzt hat. Dieser Gedanke kann nun wieder Teil einer noch komplexeren Konzeptualisierung wer87

den, bei der die Person Β hofft, daß Α glaubt, daß die Katze den Hund gekratzt hat usw. Es ist leicht einzusehen, daß diese begrifflich geformten Situationen strukturiert sind, daß die Teilvorstellungen nicht nur zufällig aufgehäuft sind. Daß Β hofft, daß Α glaubt, daß die Katze den Hund gekratzt hat, ist keineswegs das gleiche wie daß Α hofft, daß Β glaubt, daß die Katze den Hund gekratzt hat oder daß die Katze glaubt, daß A hofft, daß der Hund Β gekratzt hat. Es sollte also evident sein, daß es keine prinzipiell notwendige Schranke für die mögliche Komplexität von derartigen begrifflich geformten Situationen gibt. Wenn wir sagen, daß es keine prinzipiell notwendige Schranke gibt, so meinen wir damit nicht, daß die menschlichen konzeptuellen Kräfte unbeschränkt seien. Zweifellos sind sie in mancherlei Weise hochgradig beschränkt, obgleich niemand so recht weiß, welcher Art diese Beschränkungen sind. Versuchen Sie sich ζ. B. etwas vorzustellen, das gleichzeitig rund und viereckig ist: es geht nicht. Man kann sich etwas vorstellen, das gleichzeitig rund und rot ist, aber nicht rund und viereckig. Man kann sich höchstens eine runde Figur oder eine viereckige Figur vorstellen, oder man kann schnell zwischen einer runden und einer viereckigen hinund herwechseln, oder man kann sich eine viereckige Figur über eine runde gelegt vorstellen. Derartige Beschränkungen muß es noch viele geben. Darüberhinaus gibt es Grenzen der kognitiven Leistungsfähigkeit, ebenso wie es Grenzen der sprachlichen Leistung (Performanz) gibt. Wenn wir eine sehr komplizierte Situation begrifflich fassen wollen, kann es leicht vorkommen, daß wir verwirrt werden oder die Komponenten falsch zusammensetzen usw. Von einem bestimmten Grad der Komplexität an beginnen wir Fehler zu machen. Es gibt ganz bestimmte Grenzen für die Menge an Information, die wir im Gedächtnis speichern und mit denen wir zu einem gegebenen Zeitpunkt operieren können. Folglich gibt es Gedanken, die einfach zu kompliziert sind, um auf einmal bewältigt zu werden. Beim Schachspielen etwa kann man ohne weiteres den nächsten Zug vorausdenken, und auch zwei Züge im voraus kann man noch einigermaßen bewältigen. Versuchen wir aber, uns alle Möglichkeiten und deren Konsequenzen für drei, vier oder fünf Züge im voraus vorzustellen, verlieren wir leicht das Konzept und müssen nochmals Schritt für Schritt von vorne anfangen. Es gibt also Gedanken, die zu komplex zur Bewältigung sind, auch wenn sie mögliche Gedanken sind, genau wie es grammatische Sätze gibt, die zu komplex sind, als daß wir sie bilden könnten. Diese Beschränkung ist grundsätzlich anderer Art als die, die es uns verwehrt, uns viereckige Kreise vorzustellen. Die Möglichkeit zur Vorstellung von viereckigen Kreisen wird 88

schlechterdings von den Prinzipien der psychischen Organisation des Menschen ausgeschaltet. Sie hat nichts zu tun mit Komplexität oder Gedächtnisbeschränkungen. Aber keine der Komponenten der komplexen Konzeptualisierung, die ein Vorausplanen von elf Zügen beim Schach erfordert, wird durch psychische Beschränkungen ausgeschaltet, genausowenig wie ihre Anordnung; es sind einfach zu viele, als daß wir sie gleichzeitig im Gedächtnis behalten könnten. Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung wollen wir zum Begriff der Grammatikalität zurückkehren. Manche Sätze werden wahrscheinlich nie vorkommen, weil es die eben besprochenen Performanzbeschränkungen gibt. Kein Satz von 3 Milliarden Wörtern Länge hat eine reelle Chance, jemals geäußert zu werden, obgleich ein derartiger Satz prinzipiell konstruiert werden könnte; einen so langen Satz könnten wir einfach nicht bewältigen. Schon Sätze von mäßiger Länge können so verschachtelt sein, daß wir nicht leicht mit ihnen umgehen können. Der Wagen, den der Mann kaufte, blieb stehen ist ein ziemlich einfacher Satz und wird keine Schwierigkeiten bereiten. Der Wagen, den der Mann, den der Zahnarzt quälte, kaufte, blieb stehen wird man schon viel weniger auf Anhieb verstehen: Der Wagen, den der Mann, den der Zahnarzt, den meine Mutter empfahl, quälte, kaufte, blieb stehen ist für die meisten Leute zu verschachtelt, um unmittelbar verstanden zu werden, obgleich sie es schaffen werden, wenn sie den Satz schriftlich vor sich haben und genügend Zeit haben. Alle drei Sätze sind in gleicher Weise grammatisch und bedeutungstragend. Man darf Ungrammatikalität nicht mit übermäßiger Komplexität verwechseln, die die Bewältigung des Satzes erschwert oder unmöglich macht. Dadurch, daß wir eine Sprache sprechen, sind wir im Besitz von unendlich vielen wohlgeformten Sätzen, die zu kompliziert für eine leichte Bewältigung sind; ebenso können wir prinzipiell zwei beliebige Zahlen multiplizieren, auch wenn es viele Multiplikationen gibt, die zu schwierig sind, als daß wir sie im Kopf vornehmen könnten. Das ist einer der Gründe, warum wir zwischen Kompetenz und Performanz unterscheiden. Abweichende oder ungrammatische Sätze sind solche, die irgendeine Beschränkung verletzen; ob sie für den praktischen Gebrauch zu kompliziert sind, spielt hier keine Rolle. Wir könnten zwischen Ungrammatikalität im engeren und im weiteren Sinne unterscheiden. Im engeren Sinne ist ein Satz dann ungrammatisch, wenn er eine syntaktische Regel der Sprache verletzt. So ist ζ. B. Die Jungen bin dumm ungrammatisch im engeren Sinne. Es ist ein syntaktisches Prinzip der deutschen Sprache, daß das Verb eines Satzes mit dem Subjekt nach 89

Numerus und Person übereinstimmt. Das Subjekt won Die Jungen bin dumm ist dritte Person Plural, aber die Verbform bin ist eine Form, die nur zu einem Subjekt der ersten Person Singular gehört (ich). Ein weiteres syntaktisches Prinzip der deutschen (wie der englischen) Sprache ist, daß ein einfaches Adjektiv wie dumm dem von ihm näher bestimmten Substantiv vorausgehen muß und nicht umgekehrt. Die dummen Jungen ist also ein wohlgeformter Ausdruck, während die Jungen dummen ungrammatisch ist. Andere Sätze sind in einem gewissen Sinn abweichend, aber nicht wegen der Verletzung irgendeiner syntaktischen Regel. In diesem weiteren Sinne sind folgende Sätze ungrammatisch: Dieser Kreis ist quadratisch; Herwig ritt auf dem Duft im Zimmer umher; Ich hörte eine violette Symphonie. Diese Sätze durchbrechen bestimmte psychische Beschränkungen, nicht syntaktische, d. h. die Begriffsstrukturen, die diesen Sätzen zugrunde liegen müßten, sind einfach keine möglichen Gedanken. Wir können kein Ding konzeptualisieren, das gleichzeitig rund und quadratisch ist (obgleich man auf verschiedene Art das Prinzip unterlaufen und es als doch möglich erscheinen lassen könnte, etwa indem man schnell zwischen den Vorstellungen eines Kreises und eines Quadrats hin und her schaltet). Die einzige Möglichkeit, uns vorzustellen, daß jemand auf einem Duft reitet, ist, einen Duft im Geiste in etwas Konkretes wie eine Rauchfahne zu verwandeln und anzunehmen, daß dies kompakt genug ist, einen Reiter zu tragen, wenn es wie ein Zauberteppich durch den Raum schwebt. Eine Symphonie kann nur dann violett sein, wenn man eine entsprechende geistige Verwandlung vornimmt. Wenn wir einen Duft oder eine Symphonie in etwas Konkretes verwandeln, stellen wir uns natürlich schon nicht mehr einen Duft oder eine Symphonie vor; wir haben vielmehr mit Hilfe unserer Begriffsfähigkeit eine neue Art von Gegenstand erdacht. Der Backstein verging ist in derselben Weise abweichend. Keine begrifflich geformte Situation kommt als diesem Satz zugrunde liegende Begriffsstruktur in Frage, und in diesem Fall ist es sogar schwierig, eine metaphorische Art von Backstein zu erfinden, von dem man sagen könnte, er vergeht (wie die Zeit). Wenn wir uns anstrengen, so können wir diese Sätze interpretieren, aber nur in einem sekundären oder metaphorischen Sinne. Es ist notwendig, den Begriffswert einer lexikalischen Einheit zu modifizieren, um die Begriffsstruktur psychologisch möglich zu machen. Ungramm atisch werden wir einen Satz nur dann nennen, wenn er syntaktisch abweichend ist, d. h. eine syntaktische Regel verletzt. Bei Sätzen wie Ich hörte eine violette Symphonie wird es näher liegen, von 90

semantischer Abweichung oder Verletzung einer psychischen Beschränkung zu reden. Es wird nicht in jedem Fall klar sein, ob ein Satz syntaktisch oder semantisch abweichend ist, schon deshalb, weil vieles, was syntaktische Regeln und psychische Vorgänge betrifft, noch unbekannt ist. Die Unterscheidung scheint jedoch sinnvoll zu sein. Manche Sätze sind natürlich gleichzeitig syntaktisch und semantisch abweichend, ζ. B. Ich hören gerade eine violette Symphonie. Andere entfernen sich so weit von den syntaktischen Mustern einer Sprache oder von möglichen Realisierungen von Begriffsstrukturen, daß man zögern würde, sie überhaupt Sätze zu nennen. Und aber obgleich Schokolade oder dreimal Weide Schlinge abstrakt quadratisch quadratisch auseinander Herwig ist nur in dem Sinne ein deutscher Satz, als es sich um eine Kette von deutschen Wörtern handelt. Nur rein willkürlich könnte man irgendwelche besonderen syntaktischen oder psychischen Beschränkungen aussondern, die in dieser Kette als verletzt gelten müßten.

Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Idiomatische Wendungen sind in ihrer Form mehr oder weniger festgelegt; infolgedessen ist es gewöhnlich nicht möglich, alle syntaktischen Regeln auf sie anzuwenden, die auf entsprechend strukturierte nicht-idiomatische Ausdrücke angewendet werden können. Nehmen Sie ζ. B. die idiomatische Wendung die Flinte ins Korn werfen. Sie ist parallel zu der nicht-idiomatischen Wendung die Sense ins Korn werfen strukturiert. Während jedoch zu dem Satz Er warf die Sense ins Korn der Passivsatz Die Sense wurde ins Korn geworfen gebildet werden kann, ist das beim idiomatischen Gebrauch von Er warf die Flinte ins Korn nicht möglich: Die Flinte wurde ins Korn geworfen ist dann ungrammatisch. Eine Pronominalisierung von die Flinte fuhrt bei idiomatischer Verwendung ebenfalls zu einem ungrammatischen Satz: Er warf sie ins Korn, während der gleiche Satz, wenn er auf die nicht-idiomatische Wendung Er warf die Sense ins Korn zurückgeht, grammatisch ist. Bei Er warf die Sense ins Korn ist auch ein Possessivpronomen möglich, ζ. B. Er warf seine Sense ins Korn; bei der idiomatischen Wendung Er warf die Flinte ins Korn fuhrt das zu einem ungrammatischen Satz: Er warf seine Flinte ins Korn. Nennen Sie eine Anzahl gebräuchlicher idiomatischer Wendungen der deutschen Sprache! Läßt sich ihre Herkunft in jedem Fall ohne weiteres aus metaphorischem Sprachgebrauch erklären, oder liegen u. U. andere Bildungen vor? Erklären Sie die semantischen Unterschiede und das verschiedene syntaktische Verhalten von idiomatischen Wendungen im Vergleich zu entsprechenden nichtidiomatischen Ausdrücken! 2. Im Text wird unterschieden zwischen Sätzen, die ungrammatisch sind, weil sie syntaktische Regeln verletzen, und anderen Sätzen, die zwar grammatisch, aber zu komplex sind, als daß sie von Sprechern spontan gebildet oder verstan-

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den werden könnten. Halten Sie diese Unterscheidung fur gültig? Können Sie Fälle anführen, in denen es schwierig oder sogar unmöglich ist, zwischen Ungrammatikalität und übertriebener Komplexität zu unterscheiden? 3. Im Text wird weiterhin unterschieden zwischen ungrammatischen Sätzen, die syntaktische Regeln verletzen, und solchen Sätzen, die grammatisch wohlgeformt, aber trotzdem abweichend sind, weil sie semantische oder psychische Beschränkungen verletzen. Ist diese Unterscheidung gültig? Gibt es Fälle, in denen es nicht offensichtlich ist, ob syntaktische oder semantische Abweichung vorliegt? Konstruieren Sie eigene Beispiele für „unmögliche Gedanken" (wie violette Symphonie)\ Welche Beziehung haben solche Ausdrücke zur Metapher? 4. Untersuchen Sie ein Gedicht (oder ein anderes literarisches Werk), dessen Wirkung weitgehend auf dem „nicht-normalen" Sprachgebrauch beruht! Stellen Sie fest, welche Arten von sprachlichen oder psychischen Beschränkungen durchbrochen worden sind, um diesen besonderen Effekt zu erzielen! Erfolgen bestimmte Verletzungen von Beschränkungen systematisch? Welche zusätzlichen Beschränkungen, die über die Beschränkungen des normalen Sprachgebrauchs hinausgehen (ζ. B. Reim und Metrum), hat der Dichter eingeführt? 5. Die folgenden Wörter stammen aus dem LuiseTio, einer uto-aztekischen Sprache, die im Süden Kaliforniens gesprochen wird. Jedes der Wörter besteht aus zwei Morphemen. Isolieren Sie die einzelnen Morpheme und geben Sie ihre Bedeutung an! (Hinweis: Gehen Sie am besten so vor, daß Sie jeweils zwei Formen miteinander vergleichen, die sich in nur einem Morphem unterscheiden; überprüfen Sie das Ergebnis, indem Sie dann ein weiteres Paar bilden, usf.) Das Zeichen [?] bezeichnet einen glottalen Verschlußlaut - siehe Kap. 6. nokaamay

'mein Sohn'

''oki

'dein Haus'

potaana

'seine Wolldecke'

'ohuukapi

'deine Pfeife'

'otaana

'deine Wolldecke'

noki

'mein Haus'

pokaamay

'sein Sohn'

poki

'sein Haus*

notaana

'meine Wolldecke'

pohuukapi

'seine Pfeife'

nohuukapi

'meine Pfeife'

?okaamay

'dein Sohn'

6. Identifizieren Sie auf der Grundlage des folgenden Wortmaterials weitere Morpheme des Luiseno und geben Sie ihre Bedeutung an! Eines der Morpheme erscheint in zwei geringfügig verschiedenen Formen; wovon hängt es ab, welche Form im einzelnen Fall gebraucht wird?

92

9

omkim

'eure Häuser'

nokaamayum

'meine Söhne'

popeew

'seine Frau'

9

opeew

'deine Frau'

9

omtaana

'eure Wolldecke'

camhuukapi

'unsere Pfeife'

pompeewum

'ihre (Plural) Frauen'

pomki

'ihr (Plural) Haus*

£ampeewum

'unsere Frauen'

camhuukapim

'unsere Pfeifen'

9

omtaanam

'eure Wolldecken'

pomkaamay

'ihr (Plural) Sohn'

7. Die meisten Morpheme bestehen aus einer linearen Folge von Lautsegmenten, aber es gibt auch andere. Diese haben keine eigene aus Segmenten bestehende Form, sondern bewirken vielmehr die Veränderung von anderen lexikalischen Einheiten. So erscheint ζ. B. das Präteritalmorphem im Deutschen in mehreren Fällen als phonologische Veränderung der Verbwurzel und nicht als ein an die Wurzel angefügtes Affix. Daher haben wir Formen wie geb-jgab, reit-/ritt, flieg-/flog usw. Solche Morpheme, die andere lexikalische Einheiten verändern, werden als „Prazeßmorpheme" bezeichnet. Die unten aufgelisteten Wörter stammen aus der Clallam-Sprache, die zur Gruppe der salischen Sprachen gehört und im nördlichen Teil des US-Bundesstaates Washington gesprochen wird. (Das Datenmaterial ist aus Laurence C. Thompson/M. Terry Thompson, "Metathesis as a Grammatical Device", in: International Journal of American Linguistics 35:3 (1969) S. 213 - 219.) Die Verbformen in Spalte II sind von den Formen in Spalte I durch das Hinzufugen eines Prozeßmorphems abgeleitet und entsprechen in etwa der englischen Verlaufsform be. . . ing. Beschreiben Sie dieses Prozeßmorphem! [ w ] zeigt die Labialisierung, [?] die Glottalisierung des vorausgehenden Konsonanten an; [q] entspricht einem weit hinten im Mund artikulierten [k]; [x] ist ein velarer Reibelaut (etwa wie in Deutsch ach)·, [c] steht für eine stimmlose alveolare Affrikate, und [a] für einen mittleren Mittelzungenvokal (ausführliche Erklärungen finden Sie in Kap. 6). I

II

£k w ut w

iukwt 9

w

'schießen'

q x it

q ix t

'zusammen-, festbinden'

t° cat

V act

'zertrümmern'

w

mtaq t

w

matq t

'in Wasser legen'

8. Die lexikalischen Einheiten einer Sprache lassen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen grammatischen und phonologischen Eigenschaften in Klassen auf-

93

teilen; die Aufzählung der Klassen, zu denen eine gegebene lexikalische Einheit gehört, ist ein notwendiger Bestandteil jeder vollständigen Sprachbeschreibung. Eine Klasse ist durch ein bestimmtes Strukturmerkmal definiert, das gewissen lexikalischen Einheiten der Sprache eigen ist, aber eben nicht allen; ihren verschiedenen Merkmalen entsprechend gehört eine lexikalische Einheit gleichzeitig mehreren sich überschneidenden Klassen an. Die Pluralform der deutschen Substantive wird nicht einheitlich durch Hinzufügen eines bestimmten Suffixes gebildet (wie es ζ. B. in fast allen Fällen des Englischen der Fall ist); vielmehr lassen sich hinsichtlich der Pluralbildung mehrere Klassen von Substantiven unterscheiden. Führen Sie möglichst alle Klassen anhand von charakteristischen Beispielen auf! Läßt sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse aufgrund der Singularform voraussagen? 9. Besonders wichtig für die lexikalische Klassifizierung ist die Wechselwirkung von lexikalischen Einheiten und syntaktischen und phonologischen Regeln der entsprechenden Sprache. Nehmen Sie ζ. B. die folgenden Aktivsätze des Deutschen, die wir im Hinblick auf eine mögliche Passivbildung untersuchen wollen: Der Bundestag verabschiedete des Gesetz. Der Lehrer tadelt den schlechten Schüler. Emil verbrennt das Unkraut. Unser Nachbar hat einen grauen Hut. Die Konzerlhalle faßt dreitausend Besucher. Das Auto kostet ein kleines Vermögen. Durch die Passivisierung wird das direkte Objekt zum Subjekt des Satzes, d. h., es wird an die Satzspitze gestellt und mit dem Nominativ markiert. Das Verb wird als Partizip Perfekt gekennzeichnet; außerdem wird eine Form des Hilfsverbs werden eingeführt. Das vorherige Subjekt des Satzes wird in einer präpositionalen Fügung mit von oder durch angeschlossen. Für die ersten drei Beispielsätze ergibt sich also Das Gesetz wurde vom Bundestag verabschiedet. Der schlechte Schüler wird vom Lehrer getadelt. Das Unkraut wird von Emil verbrannt. Während diese Passivsätze grammatisch sind, ergeben sich aus den anderen Aktivsätzen ungrammatische Sätze: Ein grauer Hut wird von unserem Nachbarn gehabt. Dreitausend Besucher werden von der Konzerthalle gefaßt. Ein kleines Vermögen wird von dem Auto gekostet. Einige Verben des Deutschen lassen offensichtlich die Passivbildung nicht zu. Teilen Sie Verben aufgrund ihres Verhaltens hinsichtlich der Passivbildung in Klassen ein! Kann man in den einzelnen Fällen voraussagen, zu welcher Klasse ein gegebenes Verb gehört? Verschiedene Sprecher des Deutschen werden bei bestimmten Verben unterschiedliche Urteile über Grammatikalität bzw. Ungrammatikalität abgeben. Kennzeichnen Sie diese Fälle besonders! 10. Weitere Aufgaben zur lexikalischen, syntaktischen, phonologischen und historischen Analyse von sprachlichem Material finden Sie in R. Langacker, Fundamentals of Linguistic Analysis.

94

5. Syntaktische Systeme

Oberflächenstrukturen Syntaktische Regeln haben die Funktion, Begriffsstrukturen mit Oberflächenstrukturen zu verknüpfen. Wir wissen sehr wenig von den Begriffsstrukturen, weil wir über den kognitiven Apparat des Menschen generell wenig wissen. Im Vergleich dazu läßt sich das Wesen der Oberflächenstrukturen relativ leicht erfassen, und wir werden folglich unsere Untersuchung der syntaktischen Systeme damit beginnen. Die folgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf deutsches und englisches Beispielmaterial, aber ein großer Teil des Festgestellten trifft für alle Sprachen zu. Wie wir gesehen haben, kann man einen Satz in eine Folge von Morphemen aufteilen. Die Katze kratzte den Hund kann man wiedergeben als die+Katze+kratz-+PRÄT+den+Hund. Der alte Mann spielte das Duo mit Helen besteht aus der Morphemfolge der+alte+Mann+spiel-+PRÄT+ das+Duo+mit+Helen. Die Morpheme eines Satzes sind nicht wahllos aneinandergereiht, sondern sind in einer ganz spezifischen Weise kombiniert, um eine Oberflächenstruktur zu bilden. Wir können drei Aspekte in der Konfiguration von Oberflächenstrukturen feststellen: ihre lineare Anordnung, ihre hierarchische Anordnung und die Typen von Einheiten, die sie enthalten.

Lineare und hierarchische Anordnung Die lineare Anordnung der Morpheme eines Satzes ist direkt einsichtig. In der ersten der obengenannten Ketten folgt Katze auf die, kratz- auf Katze, PRÄT auf kratz- usw. Eine Veränderung der Reihenfolge führt entweder zu einem anderen Satz {Den Hund kratzte die Katze) oder zu einer ungrammatischen Morphemkette (z.B. Katze die Hund den kratzte). 95

Die Morpheme eines Satzes sind ferner hierarchisch angeordnet. Wir haben schon bemerkt, daß die Morpheme von Die Katze kratzte den Hund in größeren Einheiten zusammenhängen. Die und Katze bilden in gewissem Sinn eine Gruppe, während sich PRÄT und den durch keinerlei nähere Zusammengehörigkeit aus der Gesamtkette hervorheben. Eine Morphemkette, die eine derartige Einheit bildet, nennt man eine Konstituente. Die+Katze ist also eine Konstituente von Die Katze kratzte den Hund, PRÄT+den nicht. Die ganze Kette Die+Katze+kratz-+PRÄT+den+Hund kann als Konstituente aufgefaßt werden, da sie eine besondere Form von Einheit bildet, einen Satz. Diese Kette kann in zwei kleinere Konstituenten aufgeteilt werden, Die+Katze und kratz-+PRÄT+den+Hund, wobei die letztere die Teilkonstituenten kratz-+PRÄT und den+Hund besitzt. Schließlich ist jedes einzelne Morphem eine Konstituente. Die hierarchische Anordnung der Morpheme eines Satzes läßt sich durch das Schema in Abb. 5.1 veranschaulichen. In dieser S t a m m bäum struktur werden

die

Katze

kratz-

PRÄT

den

Hund

Abb. 5.1

Die+Katze, kratz-+PRÄT und den+Hund als Einheiten dargestellt, da die Zweige, an denen die beiden Teile eines jeden Paares sitzen, sich unmittelbar in einem gemeinsamen Punkt („Knoten") treffen. Auf dieselbe Art erweist sich kratz-+PRÄT+den+Hund als Einheit, und der ganze Satz ist eine Einheit höherer Ordnung, die aus den Teilen Die+ Katze und kratz-+PRÄT+den+Hund besteht. PRÄT+den dagegen bildet keine Einheit; der Zweig von PRÄT und deqenige von den treffen sich nicht. Entsprechend erweist sich Die+Katze+kratz- ebenfalls nicht als Konstituente, da der Zweig von Die+Katze sich nicht mit dem von kratzin einem Knoten trifft. 96

Die Mehrdeutigkeit bestimmter Sätze läßt sich mit Bezug auf ihre Stammbaumstruktur erklären. Nehmen Sie als Beispiel den Satz Werner oder Peter und Gerd sollen kommen. Dieser Satz läßt sich auf zweierlei Weise interpretieren. Er kann einmal bedeuten, daß außer Gerd noch Werner oder Peter kommen soll; die zweite Interpretation wäre, daß entweder Werner allein kommen soll, oder Peter und Gerd zusammen. Dieser Unterschied in der Interpretation· schlägt sich unmittelbar in der Stammbaumstruktur nieder. Der erste Strukturbaum in Abb. 5.2 entspricht der ersten Interpretation, der zweite Baum der zweiten Interpretation. (In beiden Strukturbäumen steht PRÄS für das Präsensmorphem, das dafür sorgt, daß das Modalverb soll- in der Form sollen reali-

Abb. 5.2

Die Morphemfolge Werner+oder+Peter+und+Gerd+soll-+PRÄS+kommen steht also für zwei mögliche Oberflächenstrukturen. Diese beiden Oberflächenstrukturen unterscheiden sich nicht in ihren Morphemen oder deren Anordnung, sondern in der Stammbaumstruktur. In der ersten Struktur von Abb. 5.2 ist Werner oder Peter eine Teilkonstituente von Werner oder Peter und Gerd. In der zweiten Struktur ist 97

Peter und Gerd eine Teilkonstituente. Wenn wir runde Klammern verwenden, um die Elemente einer Konstituente zusammenzufassen, können wir die beiden gegensätzlichen Strukturen folgendermaßen darstellen: ( Werner oder Peter) und Gerd und Werner oder {Peter und Gerd). Diese verschiedenen Oberflächenstrukturen sind Realisierungen von verschiedenen Begriffsstrukturen. Ein anderes Beispiel für diese Art struktureller Mehrdeutigkeit ist little girl's bike Als {little girl's) bike bedeutet es das Fahrrad eines kleinen Mädchens; als little {girl's bike) bedeutet es ein kleines Mädchenfahrrad. Oder nehmen wir Der Polizist erschoß die Frau mit der Pistole, einen ebenfalls strukturell mehrdeutigen Satz. Der Polizist erschoß {die Frau mit der Pistole) bedeutet, daß die Frau bewaffnet war, während Der Polizist erschoß {die Frau) {mit der Pistole) eine andere Interpretation verlangt. Diese strukturelle Mehrdeutigkeit entspricht genau derjenigen bei gewissen geometrischen Figuren. Abb. 5.3 z.B. kann auf zweierlei Art gesehen werden, genau wie little girl's bike.

Abb. 5.3

Typen von Konstituenten Wenn wir die lineare Abfolge der Morpheme einer Oberflächenstruktur und ihre hierarchische Ordnung beschrieben haben, haben wir noch nicht alles gesagt, was sich zu einer Oberflächenstruktur sagen läßt. Gehen wir einmal zurück zu den Abb. 5.1 und 5.2. Die Stammbaumdarstellungen geben an, daß bestimmte Morphemfolgen als Konstituen98

ten zusammengehören und andere nicht, aber sie geben nicht an, welche Art von Konstituente eine bestimmte Folge ist. Sie zeigen z.B. nicht, daß die Katze und der Hund Konstituenten gleicher Art sind, im Gegensatz etwa zu kratzte oder sollen kommen. Es wird nicht angegeben, daß Werner oder Peter und Gerd, der alte Mann und den Hund ähnlich sind, daß sollen kommen, spielte das Duo mit Helen und kratzte den Hund sich ähneln, daß aber der alte Mann und kratzte den Hund verschiedenartige Konstituenten sind. Um diese Information zu geben, können wir einfach die Konstituenten mit Bezeichnungen versehen („etikettieren"), wobei wir Konstituenten gleichen Typs die gleichen Etiketten geben. In Abb. 5.4 sind die Konstituenten von Die Katze kratzte den Hund mit Etiketten versehen dargestellt.

die

Katze

kratz-

PRÄT

den

Hund

Abb. 5.4

Einige der Etiketten sind unmittelbar verständlich. S steht für Satz, Ν für Nomen (=Substantiv), V flir Verbum und ART für Artikel. NP steht für Nominalphrase, eine Konstituente, deren Hauptelement ein Substantiv ist. Entsprechend ist VP eine Verbalphrase, eine Konstituente, deren Kern ein Verb bildet. Die Katze und den Hund erweisen sich als Konstituenten gleichen Typs: beide werden als Nominalphrasen etikettiert. Die Katze und kratzte erweisen sich dagegen als Konstituenten verschiedenen Typs. Abb. 5.5 stellt die Oberflächenstruktur von Der alte Mann spielte das Duo mit Helen dar. ADJ steht für Adjektiv, und Ρ für Präposition. Als Präpositionalphrase (PP) bezeichnen wir eine Konstituente, die aus einer Präposition und einer Nominalphrase besteht. Helen ist natürlich ein Substantiv, wie das Etikett Ν angibt, aber es ist gleichzeitig auch als Nominalphrase etikettiert. Da Helen eine Konstituente ist, deren 99

Kern ein Substantiv ist, entspricht sie der oben gegebenen Definition einer Nominalphrase. Wir sehen also, daß ein einzelnes Substantiv wie Helen ebenso gut als Nominalphrase auftreten kann wie komplexere Strukturen wie der alte Mann oder Werner oder Peter und Gerd. Ebenso kann eine Verbalphrase aus einem einfachen Verb wie z.B. lebt bestehen, oder sie kann komplexer sein wie spielte das Duo mit Helen. Solche verschiedenen Strukturen wie Helen, der alte Mann und Werner oder Peter und Gerd werden deshalb als Konstituententypen gleicher Art etikettiert, weil sie sich im Hinblick auf syntaktische Re-

ART

ADJ

Ν

der

alte

Mann

spiel-

PRÄT

das

Duo

mit

Helen

Abb. 5.5

geln gleich verhalten. Als Beispiel möge die Regel für die Bildung von Fragesätzen dienen. In einer Frage geht das finite Verb der SubjektNominalphrase voraus; in Kontrast dazu steht die „normale" Wortstellung des Aussagesatzes, bei dem das finite Verb dem Subjekt folgt. Die Frageform von Helen soll kommen ist also Soll Helen kommen? Entsprechend ist die Frageform von Der alte Mann soll kommen: Soll der alte Mann kommen? und von Werner oder Peter und Gerd sollen kommen: Sollen Werner oder Peter und Gerd kommen? In jedem dieser Fälle unterscheidet sich die Frage vom Nicht-Fragesatz nur in der Anordnung von soll (bzw. sollen) und der als Nominalphrase bezeichneten Morphemkette. Da Helen, der alte Mann und Werner oder Peter und Gerd sich im Hinblick auf die Bildung der Frageform und viele andere syntaktische Regeln gleichartig verhalten, ist es gerechtfertigt, sie als gleichartige Typen von Konstituenten zu behandeln. 100

Es sollte nun nicht der Eindruck entstehen, als seien die Oberflächenstrukturen schon völlig erforscht oder als sei es in jedem Fall leicht, die genaue Stammbaumstruktur zu einer bestimmten Morphemkette anzugeben. Selbst auf dieser relativ leicht zugänglichen Ebene der Syntax muß noch vieles erarbeitet werden, und viele Einzelheiten sind noch sehr umstritten. Trotzdem sind einige Dinge weitgehend klar: die Morpheme eines Satzes sind in einer bestimmten Struktur hierarchisch angeordnet, deren gröbere Umrisse mit einiger Sicherheit skizziert werden können; weiterhin müssen wir Konstituententypen durch Etikettierung oder ein vergleichbares Mittel bezeichnen. Komplexe Sätze Die menschlichen Fähigkeiten zur Begriffsbildung und -Verwendung sind so angelegt, daß sie uns, wenigstens prinzipiell, in die Lage versetzen, Ge· danken beliebiger Komplexität zu bilden. Unabhängig davon, wie komplex die Begriffsstrukturen sein mögen, ermöglichen es uns die syntaktischen Regeln und die lexikalischen Wahlmöglichkeiten einer Sprache, grammatische Sätze zu bilden, die die Begriffsstrukturen repräsentieren. Die grammatischen Sätze einer Sprache stellen also eine unendliche Menge dar, denn es gibt keine prinzipielle Grenze im Hinblick auf die Länge oder auf die Komplexität von sinnvollen Sätzen, die die Grammatik einer Sprache als wohlgeformt ausweist. Im folgenden Abschnitt werden wir uns eingehender mit jenen Aspekten syntaktischer Systeme beschäftigen, die es ermöglichen, daß sich unsere Sprachkompetenz auf eine unendliche Menge von Sätzen bezieht. Komplexe

Begriffsstrukturen

Sätze — und die durch sie repräsentierten Gedanken — können von höchst unterschiedlicher Komplexität sein. Peter schläft ist einfacher als Alice zerbrach die chinesische Blumenvase, die ihr ihre Großtante geschenkt hatte, sowohl hinsichtlich der Begriffsstruktur als auch der Oberflächenstruktur. Der zweite Satz wiederum ist einfacher als der folgende: Linguisten unterscheiden sich nicht wirklich von solchen Leuten, die mehr als 19 Stunden täglich damit verbringen, über die Komplexität der Grammatik und deren Beziehung zu so gut wie allen Bereichen des menschlichen Lebens nachzudenken, nur um zu beweisen, daß die Sprache so außergewöhnlich kompliziert ist, daß es eigentlich unmöglich ist, daß Menschen überhaupt eine Sprache sprechen. 101

Wir wollen unser Augenmerk hier auf eine besondere Art von Komplexität richten: viele Sätze sind komplex in dem Sinne, daß sie aus einfacheren Sätzen aufgebaut sind. So kann z.B. der Satz Ich fürchte, Gerda denkt, der Köter hat mich gebissen in die einfacheren Sätze Ich fürchte und Gerda denkt und Der Köter hat mich gebissen zerlegt werden. Wenn man die einfachen Sätze Pudding mag ich gern und Rhabarber kann ich nicht ausstehen durch aber verbindet, so ergibt sich der komplexere Satz Pudding mag ich gern, aber Rhabarber kann ich nicht ausstehen. Die einfachen Komponenten mit Satzcharakteristik, die in die Konstruktion komplexerer Sätze eingehen, bezeichnen wir als (konstitutive) Teilsätze (englisch "clauses"); einen Teilsatz können wir also vorläufig definieren als Konstituente, die ein Verbalelement noch nicht näher bestimmter Art enthält, und die (eventuell mit kleineren Modifikationen) als unabhängiger alleinstehender Satz vorkommen könnte. K o m p l e x e r Satz definieren wir entsprechend als Satz, der zwei oder mehrere Teilsätze enthält. Im großen und ganzen entsprechen die Teilsätze eines komplexen Satzes den Komponenten der zugrundeliegenden Begriffsstruktur. So enthält die Begriffsstruktur von Pudding mag ich gern, aber Rhabarber kann ich nicht ausstehen zwei Propositionen, wovon sich eine auf die Einstellung des Sprechers zu Pudding bezieht, die andere auf seine Einstellung zu Rhabarber. Diese Propositionen haben in den beiden Teilsätzen der Oberfläche ihre unmittelbare Entsprechung. Auf ähnliche Weise besteht auch die semantische Struktur von Ich ßrchte, Gerda denkt, der Köter hat mich gebissen aus drei Hauptkomponenten, die direkt den Teilsätzen der Oberfläche entsprechen. Die erste Komponente bezieht sich auf eine Befürchtung des Sprechers, die zweite auf eine Annahme von Gerda, und die dritte hat das Gebissenwerden des Sprechers von einem Hund zum Gegenstand. Die Beziehung, die zwischen Teilsätzen der Oberfläche und Bedeutungskomponenten besteht, ist jedoch keineswegs unproblematisch. Während die Teilsätze eines komplexen Satzes der Oberfläche nahezu ohne Ausnahme eine Entsprechnung in semantischen Propositionen haben, wird längst nicht jede semantische Proposition auch als einzelner Teilsatz an der Oberfläche repräsentiert. Betrachten wir folgenden Satz: Peter schlief ein, während ihm der Arzt eine Spritze gab. Die Begriffsstruktur dieses Satzes hat mindestens drei getrennte Propositionen: daß Peter einschlief, daß der Arzt ihm eine Spritze gab und daß beide Ereignisse gleichzeitig erfolgten. An der Oberfläche finden sich jedoch nur zwei Teilsätze: Peter schlief ein und während ihm der Arzt eine Spritze gab. Das Einzelwort während vermittelt die Bedeutung einer Proposition; es ist Bestandteil eines Teil102

satzes, nicht aber selbst ein Teilsatz. Gleiches gilt für das Adjektiv schwarz in dem Satz Ein schwarzer Hund hat ihn gebissen. Hier handelt es sich um einen einfachen Satz der Oberfläche; in seiner Bedeutung aber ist er komplex, da er zwei Propositionen umfaßt, nämlich daß ihn ein Hund gebissen hat, und daß dieser Hund schwarz war. Einige Komponenten der Begriffsstruktur von Sätzen werden überhaupt nicht unmittelbar an der Oberfläche realisiert. Das trifft beispielsweise bei Imperativsätzen wie dem folgenden zu: Öffne sofort die Tür! Es gehört zur Bedeutung dieses Satzes, daß der Sprecher dem Hörer damit einen Befehl erteilt; an der Oberfläche findet sich jedoch kein Teilsatz, wie z.B. Ich befehle dir, der diesen Aspekt der Bedeutung unmittelbar ausdrücken würde. Auch ein lexikalisches Element mit dieser Bedeutung fehlt. Der Hörer muß deshalb die Bedeutung von Ich befehle dir auf der Grundlage des verwendeten Satztyps (Imperativsätze müssen im Deutschen und Englischen kein explizites Subjekt enthalten), der Intonation des Satzes und der Sprechsituation erschließen. Ein weiteres Beispiel für solche Fälle stellen Fragesätze dar. In einer Frage wie Hat sie wirklich Flöhe? gibt es keinen Teilsatz der Oberfläche, der unmittelbar die Bedeutung Ich frage dich, ob ausdrücken würde, und doch ist es intuitiv einleuchtend, daß dieser Bedeutungsaspekt Teil der Begriffsstruktur des Satzes ist. Auch hier muß die Bedeutung des Satzes als Frage erschlossen werden: aus der Form des Satzes (das Verbum steht vor dem Subjekt), aus der Intonation und aus dem Zusammenhang. Wir stellen also fest, daß die Begriffsstrukturen von Sätzen oft weitaus komplexer sind, als es ihre Oberflächenstrukturen erscheinen lassen. Komponenten der Bedeutung, die auch als selbständige Teilsätze ausgedrückt werden könnten, erscheinen zuweilen als kleinere Einheiten an der Oberfläche oder erfahren überhaupt keine Oberflächenrealisierung. Aus diesem Grund ist die Hypothese nicht unbegründet, daß jeder Satz eine komplexe Begriffsstruktur mit mehreren Einzelpropositionen als Komponenten hat, wenn auch eine große Anzahl von Sätzen an der Oberfläche nicht-komplex ist. So ist z.B. die Ansicht vertreten worden, daß die Begriffsstruktur eines jeden Satzes einen Spezifikator enthalte, der angibt, welchen Typ von S p r e c h a k t der Satz darstellt. (Solche Spezifikatoren wären z.B. ich befehle dir, ich frage dich, ich sage dir, usw.) Als vollständiger Teilsatz der Oberfläche erscheint diese Spezifizierung allerdings nur in seltenen Fällen. Man hat ferner die Ansicht vertreten, daß auch Spezifizierungen des Tempus (d.h. des Zeitpunkts eines Ereignisses im Verhältnis zum Zeitpunkt der Äußerung) selbständige Propositionen auf der Ebene der semantischen Struktur darstellen. Wenn 103

diese Vorschläge richtig sind, dann führt uns die Analyse selbst des einfachsten Satzes zu mehreren Propositionen auf der semantischen Ebene. Ein nicht-komplexer Satz wie Die drei kleinen Männer husteten hat dann mindestens fünf Propositionen in seiner Begriffsstruktur: daß der Sprecher eine Aussage macht (im Gegensatz z.B. zu ,eine Frage stellen' oder .einen Befehl geben'); daß von den Männern ausgesagt wird, daß sie husten; daß das Hust-Ereignis in der Vergangenheit liegt; daß die Männer klein waren; und schließlich, daß es genau drei Männer waren. Wir wollen uns nun wieder der Beobachtung zuwenden, daß einige Sätze in dem Sinne komplex sind, daß sie aus einfacheren Sätzen aufgebaut sind. Diese Feststellung ist, grob gesehen, durchaus richtig und stellt eine fundamentale Einsicht in das Wesen des Satzbaus dar. Wenn wir sagen, daß der Satz Ich ßirchte, Gerda denkt, der Köter hat mich gebissen aus den einfacheren Sätzen Ich fürchte und Gerda denkt und Der Köter hat mich gebissen aufgebaut ist, so charakterisieren wir damit zutreffend einen bestimmten Aspekt seiner syntaktischen Struktur. Aus diesem Grunde verwenden Linguisten das gleiche Symbol, S, zur Bezeichnung sowohl von (komplexen) Sätzen (englisch "sentence"), wie auch von (einfachen) konstitutiven Teilsätzen ("clause"); Teilsätze werden als einfache Sätze verstanden, die zur Konstruktion komplexer Sätze verwendet werden. Bei genauerem Zusehen erweist sich diese Auffassung jedoch in mehrfacher Hinsicht als irreführend. So betrifft sie z.B. vorwiegend Erscheinungen der Oberfläche. Wenn man nur die Oberflächenform berücksichtigt, so besteht Ich fürchte, Gerda denkt, der Köter hat mich gebissen in der Tat aus den obengenannten einfacheren Strukturen; aber wir haben gesehen, daß die Oberflächenstruktur nur ein Aspekt der Satzstruktur ist. Im Hinblick auf die Begriffsstruktur ist die Beziehung nicht ganz so einfach: durch bloße Kombination der Begriffsstrukturen der einfachen Sätze Ich färchte und Gerda denkt und der Köter hat mich gebissen erhalten wir nicht die Begriffsstruktur des komplexen Satzes. Hier ist z.B. zu beachten, daß die Bedeutung des Satzes Der Köter hat mich gebissen die Versicherung des Sprechers umfaßt, daß dieser Sachverhalt der Wahrheit entspricht — der Sprecher wäre unaufrichtig, wenn er diesen Satz äußerte, ohne tatsächlich von dem Hund gebissen worden zu sein. Diese Versicherung ist jedoch nicht in der Bedeutung von Ich fürchte, Gerda denkt, der Köter hat mich gebissen enthalten, im Gegenteil: diesen Satz kann ein Sprecher sinnvoll nur dann äußern, wenn der Hund ihn nicht gebissen hat. Selbst dann, wenn man die Vorstellung, daß komplexe Sätze aus einfacheren Sätzen aufgebaut sind, auf die Oberflächenstruktur beschränkt, 104

ist sie nicht ganz unproblematisch, und zwar aus folgendem Grund: damit ein einfacher Satz als Konstituente eines komplexen Satzes fungieren kann, wird er oft von bestimmten syntaktischen Regeln modifiziert. Er nimmt dadurch eine solche Form an, in der er als vollständiger und unabhängiger Satz nicht vorkommen könnte. Der Satz Nichtschwimmer fürchten tiefes Wasser kann als unabhängiger Satz allein stehen, oder er kann als Komponente in einen komplexeren Satz eingehen, beispielsweise als Subjekt von . . .ist verständlich. In diesem Fall erfordert eine syntaktische Regel des Deutschen die Einführung der unterordnenden Konjunktion daß und weiterhin die Endstellung des Verbums: Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser färchten, ist verständlich Bei der Verwendung des Satzes als konstitutiver Teilsatz muß daß eingefügt und das Verb umgestellt werden; beim nicht-abhängigen Satz darf daß nicht stehen, und damit auch keine Verbumstellung erfolgen. (Nichtschwimmer färchten tiefes Wasser, ist verständlich; Daß Nichtschwimmer färchten tiefes Wasser; Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser färchten und Nichtschwimmer tiefes Wasser färchten sind sämtlich ungrammatisch.) Bestimmte syntaktische Prinzipien der deutschen Sprache bewirken also verschiedene Oberflächenformen, je nachdem, ob der Satz allein steht oder in eine komplexere Struktur eingefügt ist. Relativsätze können als zusätzliche Beispiele herangezogen werden. (Relativsätze sind solche Sätze, die eine Nominalphrase näher bestimmen.) Betrachten Sie z.B. den Satz Johanna interessiert sich fär den Mann, mit dem Petra spricht. Dieser Satz besteht aus zwei Teilsätzen, die als unabhängige Sätze die Form Petra spricht mit einem Mann und Johanna interessiert sich fär den Mann hätten. Der erste dieser Sätze dient als Relativsatz dazu, den Mann im zweiten genauer zu bestimmen; in seiner Funktion als Relativsatz wird er von verschiedenen syntaktischen Regeln des Deutschen in seiner Form verändert. A m auffälligsten ist dabei die Verschiebung der Präpositionalphrase mit einem Mann an den Anfang des Satzes und die Ersetzung der Nominalphrase einem Mann durch das entsprechend flektierte Relativpronomen (dem). Mit dem Petra spricht ist als unabhängiger Satz ungrammatisch; Petra spricht mit einem Mann wiederum ist kein wohlgeformter Relativsatz. Zusammenfassend können wir sagen, daß auf der Ebene der Begriffsstruktur wohl alle Sätze komplex sind; sie lassen sich in Propositionen zerlegen, die die Komponenten der Begriffsstruktur bilden. Einzelne Propositionen einer Begriffsstruktur können an der Oberfläche verschieden realisiert werden, abhängig von syntaktischen Regeln und der Wahl der lexikalischen Einheiten; so kann eine Proposition als Teilsatz an

105

der Oberfläche erscheinen, aber auch als kleinere Einheit, oder sie findet überhaupt keine direkte Entsprechung an der Oberfläche. Wegen solcher syntaktischer und lexikalischer Modifikationen ist die Oberflächenstruktur eines Satzes oft einfacher als seine Begriffsstruktur, und die tatsächliche Komplexität der letzteren ist weitgehend verdeckt. Daher haben einige semantisch komplexe Sätze nur einen einfachen Satz an der Oberfläche. Andere sind auch in ihrer Oberflächenstruktur komplex und bestehen aus mehreren konstitutiven Teilsätzen, die einzelnen Komponenten der zugrundeliegenden semantischen Strukturen entsprechen. Wenn ein Satz bei der Konstruktion eines komplexen Satzes verwendet wird, so wird er oft durch syntaktische Regeln umgeformt, die nicht angewandt werden, wenn er allein steht. Aus diesem Grunde sind die konstitutiven Teilsätze eines komplexen Satzes nicht immer identisch mit den einfachen, selbständigen Sätzen, aus denen (grob gesprochen) der komplexe Satz konstruiert ist.

Koordination Die traditionelle Grammatik unterscheidet zwischen Koordination (Nebenordnung) und Subordination (Unterordnung). Sind die konstitutiven Teilsätze eines komplexen Satzes strukturell „gleichrangig", wie in Der Spatz ist ein Vogel, und der Löwe ist ein Säugetier, so stehen sie im Verhältnis der Koordination zueinander. Ein Verhältnis der Subordination liegt vor, wenn die Teilsätze nicht gleichrangig sind: so ist in dem Satz Es ist verständlich, daß Nichtschwimmer tiefes WasS

der

Spatz sein PRÄS ein Vogel

und der

Abb. 5.6

106

Löwe sein PRÄS ein

Säugetier

ser fürchten die Konstituente es ist verständlich der Hauptsatz, während daß Nichtschwimmer tiefes Wasser fürchten der (subordinierte) Nebensatz ist. Abb. 5.6 stellt die Oberflächenstruktur von Der Spatz ist ein Vogel, und der Löwe ist ein Säugetier dar. Dieser komplexe Satz entsteht durch die Verknüpfung der beiden Teilsätze der Spatz ist ein Vogel und der Löwe ist ein Säugetier durch und. Dabei sind die Teilsätze „parallel" angeordnet — keiner der beiden enthält den anderen als Konstituente. Wir nennen eine solche Konstruktion koordinierte S t r u k t u r (Satzverbindung); die dabei beteiligten Teilsätze werden als K o n j u n k t e der koordinierten Struktur bezeichnet. Elemente wie und, die die Konjunkte miteinander verbinden, heißen koordinierende Konjunktionen.Beachten Sie bitte, daß in Abb. 5.6 das Symbol S dreimal vorkommt. Jeder der beiden koordinierten Teilsätze trägt, da er eine Einheit mit Satzcharakteristik ist, die Etikettierung S; das oberste S weist die ganze Struktur als (komplexen) Satz aus. Die Anzahl der in einer koordinierten Struktur zusammengefaßten konstitutiven Teilsätze ist prinzipiell unbeschränkt. Wenn wir unserem Beispielsatz ein drittes Konjunkt hinzufügen, so erhalten wir den längeren Satz Der Spatz ist ein Vogel, und der Löwe ist ein Säugetier, und die Scholle ist ein Fisch; nach Hinzufügen eines vierten Konjunkts erhalten wir den wiederum längeren Satz Der Spatz ist ein Vogel, und der Löwe ist ein Säugetier, und die Scholle ist ein Fisch, und die Eidechse ist ein Reptil usw. Offensichtlich könnten wir diesen Prozeß ad infinitum fortsetzen; ein solcher Satz wäre wegen seiner Länge niemals ungrammatisch. Der Prozeß der Satzkoordinierung allein würde demnach schon ausreichen, unsere Sprachkompetenz auf eine unendliche Menge von Sätzen auszudehnen. Schematisch läßt sich die Struktur von koordinierten Sätzen wie in Abb. 5.7 darstellen. Ein Dreieck steht dabei abkürzend für die interne Struktur eines jeden Teilsatzes, denn unser Interesse gilt hier nicht der internen Struktur der einzelnen Konjunkte, sondern ihrer Anordnung zueinander. Die drei Punkte deuten die Möglichkeit der unbegrenzten Erweiterung des Satzes durch Hinzufügen weiterer Teilsätze an. Sätze wie die oben diskutierten mit zwei, drei oder vier Konjunkten sind Sonderfälle des in Abb. 5.7 in seiner allgemeinen Struktur dargestellten Satztyps. Neben der in den obigen Beispielen verwendeten Konjunktion und kennt das Deutsche natürlich noch eine Anzahl weiterer koordinierender Konjunktionen, zu denen auch aber und denn gehören, um nur die wichtigsten zu nennen. 107

s s

s

s

s. .

s

Abb. 5.7

Außer solchen eingliedrigen Konjunktionen weist das Deutsche auch zwei- oder mehrgliedrige Konjunktionen auf, wie entweder oder, weder - noch (- noch), nicht nur - sondern auch. Bestimmte syntaktische Prinzipien regeln das Vorkommen einzelner Konjunktionen und beeinflussen somit die Oberflächenform der gesamten koordinierten Struktur. So gilt z.B. für die eingliedrigen Konjunktionen, daß sie grundsätzlich nicht vor dem ersten Konjunkt vorkommen können: Und meine Eltern feiern Silberhochzeit, und mein Bruder hat Geburtstag ist demnach ungrammatisch (es sei denn in dem besonderen Fall, in dem dieser Satz eine vorangegangene Aufzählung fortsetzt). Dabei ist zu beachten, daß im Deutschen, ebenso wie im Englischen, Konjunktionen enger an das folgende Konjunkt als an das vorhergehende gebunden sind; das zeigt sich auch darin, daß bei der Äußerung von Sätzen eine Sprechpause vor der Konjunktion natürlicher ist als danach. Im Vergleich zu Petra ist ziemlich schüchtern - aber Alfons ist ganz schön frech, mit der Pause vor aber, wirkt Petra ist ziemlich schüchtern aber — Alfons ist ganz schön frech, mit der Pause hinter aber, ziemlich ungewöhnlich und unnatürlich. (Aus diesem Grund würde es vielleicht eher den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen, wenn man Konjunktionen als Konstituenten des folgenden Konjunkts darstellen würde und nicht als selbständige Elemente zwischen den Konjunkten, wie es in Abb. 5.6 geschehen ist.) In vielen Sprachen sind jedoch Konjunktionen enger an das vorausgehende Konjunkt gebunden als an das folgende. Eine weitere syntaktische Regel des Deutschen ermöglicht es uns, in einer Reihung von Konjunkten, die durch und oder oder verbunden sind, alle Konjunktionen außer der letzten wegzulassen. Dieses Prinzip läßt den Satz Der Spatz ist ein Vogel, der Löwe ist ein Säugetier, die Scholle ist ein Fisch, und die Eidechse ist ein Reptil als grammatische Variante neben dem „ausführlicheren" Satz zu, bei dem auch der zweite und dritte Teilsatz durch und eingeleitet werden. (Durch aber koordi108

nierte Strukturen werden von dieser Regel nicht betroffen, da after jeweils nur zwei Teilsätze verbindet.) Drastischere Auswirkungen haben einige Regeln, die Konjunkte durch Tilgung von wiederholt auftretenden Elementen vereinfachen. So können z.B. die Verben in allen koordinierten Teilsätzen außer dem ersten getilgt werden, sofern sie identisch sind (und einige Zusatzbedingungen erfüllt sind). Auf der Grundlage der Struktur Werner verspeiste Schnecken, Gerd verspeiste Muscheln, und Max verspeiste Froschschenkel erzeugt diese Regel die fakultative Variante Werner verspeiste Schnecken, Gerd Muscheln, und Max Froschschenkel Eine andere Regel erlaubt es unter bestimmten Bedingungen, daß alle Konstituenten des zweiten Teilsatzes außer der Subjekt-Nominalphrase getilgt werden, sofern sie mit den entsprechenden Konstituenten des ersten Teilsatzes identisch sind; wir erhalten so Oberflächen wie die folgenden: Kurt kann mit dem kleinen Finger einen Eimer Wasser hochheben, und Günther auch. Angelika fährt nächste Woche mit ihrer Schulklasse nach England, aber Marion nicht. Nicht nur Blattläuse sind erklärte Feinde eines jeden Blumenfreundes, sondern auch Schnecken. Bisher haben wir uns nur mit der Koordination von Teilsätzen be-

ART

der

Kreuzer

und

das

alte

Schlachtschiff

Abb. 5.8

schäftigt; aber auch kleinere Konstituenten als Sätze können koordiniert werden. Der Kreuzer und das alte Schlachtschiff beispielsweise ist eine koordinierte Nominalphrase, die aus den einfacheren Nominalphrasen der Kreuzer und das alte Schlachtschiff zusammengesetzt ist. Die Struktur der komplexen NP zeigt Abb. 5.8. Die folgenden Sätze illustrieren die Koordination anderer Konstituententypen (Verben, Adjektive, Verbalphrasen und Präpositionen): Sie biß und kratzte den Wüstling. Ich möchte einen Mann heiraten, der groß, dunkelhaarig, zärtlich und reich ist. Alexander liebt das süße Leben und scheut die harte Arbeit. Sie suchte die Stecknadel auf und unter dem Tisch. 109

In vielen Fällen empfiehlt es sich, bestimmte koordinierte Konstituenten, die nicht selbst Teilsätze sind, als verkürzte Versionen von koordinierten Teilsätzen aufzufassen. Betrachten Sie bitte einmal den folgenden Satz: Der Kreuzer und das alte Schlachtschiff werden verschrottet. An der Oberfläche besteht dieser Satz nur aus einem einzigen Teilsatz mit koordinierter Subjekt-Nominalphrase. In seiner Bedeutung ist er jedoch mit dem komplexen Satz Der Kreuzer wird verschrottet, und das alte Schlachtschiff wird verschrottet gleichzusetzen; hier haben wir es aber mit zwei koordinierten Teilsätzen zu tun. Die Annahme ist also nicht unbegründet, daß beide Sätze von derselben komplexen Begriffsstruktur abgeleitet sind. Während der zweite Satz diese Begriffsstruktur ziemlich direkt abbildet, ist der erste durch syntaktische Regeln modifiziert, die die identischen Elemente (wird verschrottet) in einem der Teilsätze tilgen und die beiden Subjekte (der Kreuzer und das alte Schlachtschiff) zu einem koordinierten Subjekt zusammenfügen. Eine ähnliche Analyse bietet sich auch für andere Sätze an. So kann der Satz Sie biß und kratzte den Wüstling als Variante von Sie biß den Wüstling, und sie kratzte den Wüstling verstanden werden; Ich möchte einen Mann heiraten, der groß, dunkelhaarig, zärtlich und reich ist kann von der gleichen Begriffsstruktur wie Ich möchte einen Mann heiraten, der groß ist, der dunkelhaarig ist, der zärtlich ist, und der reich ist abgeleitet werden, usw. Es gibt jedoch Sätze, für die eine solche Analyse unangemessen zu sein scheint. John und Marsha trafen sich in New York z.B. ist mit Sicherheit nicht äquivalent mit John traf sich in New York, und Marsha traf sich in New York; der zweite Satz ist sogar semantisch abweichend. Gleichermaßen läßt sich der Satz Wir streichen die ganze Wand rot, grün und blau nicht von der gleichen Begriffsstruktur ableiten wie Wir streichen die ganze Wand rot, wir streichen die ganze Wand grün, und wir streichen die ganze Wand blau. Selbst wenn man die Hypothese akzeptiert, daß koordinierte Teilsätze durch syntaktische Regeln zu einfachen Sätzen mit koordinierten kleineren Konstituenten verkürzt werden können, bleibt zweifelhaft, ob solche koordinierten kleineren Konstituenten in jedem Falle auf diese Art und Weise entstehen. Einbettung In einer koordinierten Struktur (wie in Abb. 5.6 oder 5.7) ist keiner der koordinierten Teilsätze Konstituente eines anderen; per definitionem sind alle Komponentensätze gleichrangig. Wenn jedoch ein Teilsatz als Konstituente eines anderen fungiert, so liegt ein Verhältnis der Subordi110

nation (Unterordnung) vor. Wir bezeichnen den subordinierten Teilsatz als N e b e n s a t z und sagen, er sei in den Hauptsatz e i n g e b e t t e t . Der untergeordnete Status eines Nebensatzes ist offensichtlich, wenn der Nebensatz als Subjekt oder Objekt eines anderen Satzes fungiert. Solche Nebensätze nennen wir entsprechend S u b j e k t s ä t z e bzw. Obj e k t s ä t z e . Der Teilsatz daß Nichtschwimmer tiefes Wasser fürchten z.B. fungiert als Subjekt von ist verständlich in dem Satz Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser furchten, ist verständlich. Die Oberflächenstruktur dieses Satzes zeigt Abb. 5.9. Die Struktur dieses Satzes ist der Struktur von Das Problem ist verständlich analog, nur daß sich an Subjektstelle statt einer einfachen Artikel-Substantiv-Kombination ein Teilsatz befindet. Eine Begründung S

Schwimmer

Abb. 5.9

dafür, den Subjektsatz als Nominalphrase zu analysieren, finden wir in der Tatsache, daß er sehr viele syntaktische Eigenschaften (wenn auch nicht alle) mit eindeutig nominalen Konstituenten wie das Problem gemein hat. So können beispielsweise sowohl das Problem als auch daß Nichtschwimmer tiefes Wasser fürchten auf das Fragewort was antworten: Was ist verständlich? Das Problem ist verständlich. Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser fürchten, ist verständlich. 111

Abb. 5.10

Auch der untergeordnete Status von Relativsätzen ist unmittelbar einzusehen. Abb. 5.10 zeigt die Oberflächenstruktur von Erwin zerbrach die Vase, die Irene liebte. (PRO Ν steht für Pronomen.) In diesem Satz ist der Relativsatz die Irene liebte in den Hauptsatz Erwin zerbrach die Vase eingebettet; er bestimmt die Objekt-Nominalphrase des Hauptsatzes, die Vase, näher. Wie aus Abb. 5.10 ersichtlich ist, ergeben der Relativsatz und das durch ihn näher bestimmte Substantiv zusammen eine komplexere Objekt-Nominalphrase: die Vase, die Irene liebte. Abb. 5.10 weist auch aus, daß die Vase, die Irene liebte in der gleichen Beziehung zu zerbrach steht wie meinen Spazierstock in dem einfachen Satz Erwin zerbrach meinen Spazierstock — beide Ausdrücke fungieren nämlich als Objekt. Beweise für diese Behauptung lassen sich unschwer finden. So hat z.B. der Aktivsatz Erwin zerbrach meinen Spazierstock die Passiv-Variante Mein Spazierstock wurde von Erwin zerbrochen; die Objekt-NP im Aktivsatz, meinen Spazierstock, erscheint als Oberflächensubjekt im Passivsatz. Und im Hinblick auf die Passivbildung verhält sich die Vase, die Irene liebte ebenso wie meinen Spazierstock: Die Vase, die Irene liebte, wurde von Erwin zerbrochen. Die in Abb. 5.10 skizzierte Konstituentenstruktur läßt sich auf der Grundlage dieser und anderer Beobachtungen sehr gut rechtfertigen. 112

Neben den Relativsätzen und den Subjekt- und Objektsätzen kennt das Deutsche noch eine große Anzahl von Nebensätzen spezifischen Charakters, mit denen wir uns hier nicht weiter beschäftigen können; zu ihnen gehören z.B. die Kausalsätze, die typischerweise durch solche s u b o r d i n i e r e n d e n K o n j u n k t i o n e n wie da und weil eingeleitet werden (Er beklagte sich, weil er sich übergangen fühlte. Da ich krank war, konnte ich nicht kommen)·, ferner die Konzessivsätze, die typischerweise durch obwohl eingeleitet werden (Er kam, obwohl er krank war), die indirekten Fragesätze {Ich weiß nicht, ob Werner auch anwesend war. Er fragte ihn, wann er kommen könnte) u.a.m. Die verschiedenen Möglichkeiten der Satzeinbettung lassen sich mit der Koordinierung von Sätzen insofern vergleichen, als auch sie unsere sprachliche Kompetenz auf eine unendliche Menge von Sätzen erweitern. Ein in einen Hauptsatz eingebetteter Nebensatz kann selbst wieder komplex sein und aus Haupt- und Nebensatz bestehen; dieser zweite eingebettete Nebensatz wiederum kann einen weiteren eingebetteten Nebensatz enthalten, usf. Abb. 5.11 stellt die Struktur eines solchen komplexen Gesamtsatzes schematisch dar; die drei Punkte geben an, daß der Einbettungsprozeß endlos weitergeführt werden könnte. Wir wollen uns an einem konkreten Beispiel den Einbettungsprozeß verdeutlichen. In Abb. 5.12 ist die syntaktische Organisation des Satzes Ich denke, Jürgen hofft, Herbert glaubt, Margit meint, Sybille weiß die Wahrheit dargestellt. (In einem solchen Fall würden Sprecher des Deutschen wohl eher S

Abb. 5,11

113

die Alternative der Oberflächenrealisierung vorziehen, bei der die Nebensätze mit daß angeschlossen werden. Diese Einschränkung ist aber ohne Bedeutung für unsere Argumentation.) S

Margit meint

S

Abb. 5.12

In diesem Satz fungiert die komplexe Struktur Jürgen hofft, Herbert glaubt, Margit meint, Sybille weiß die Wahrheit als direktes Objekt des Hauptsatzverbs denke. Innerhalb dieser eingebetteten Struktur ist Herbert glaubt, Margit meint, Sybille weiß die Wahrheit Objekt zum Verb hofft. Glaubt wiederum hat Margit meint, Sybille weiß die Wahrheit als direktes Objekt, und Sybille weiß die Wahrheit ist direktes Objekt von meint. Natürlich könnte dieser Satz unendlich fortgeführt werden, z.B. durch Anfügen eines Relativsatzes, der die Wahrheit näher bestimmt, durch Ersetzung von die Wahrheit durch einen weiteren Objektsatz, oder durch eine Reihe anderer Möglichkeiten. Syntaktische Regeln beeinflussen eingebettete Sätze in verschiedener Weise. Im Falle der Subjekt- und Objektsätze zeigt sich ihre Wir114

kung unter anderem in der Einfügung von bestimmten Morphemen, die den untergeordneten Status der Nebensätze anzeigen. Eines dieser Morpheme ist die subordinierende Konjunktion daß, die schon weiter oben in unserem Beispielsatz Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser ßrchten, ist verständlich vorkam. Je nach Art und Stellung des eingebetteten Nebensatzes am Anfang oder Ende des Hauptsatzes ist die Einfügung von daß obligatorisch (wie im obigen Satz) oder fakultativ (wie in Ich glaube, (daß) Hans spinnt). V o n der ifojS-Einsetzung abhängig ist im Deutschen die Umstellung der Wortfolge im Nebensatz, so daß die finite Verbform in Endposition steht; so hat z.B. Ich glaube, Hans hat einen Dachschaden die alternative Oberflächenform Ich glaube, daß Hans einen Dachschaden hat. Als zweites Beispiel dafür, wie syntaktische Regeln die Oberflächenform von eingebetteten Subjekt- und Objektsätzen beeinflussen, wollen wir uns mit zwei Erscheinungen des Englischen etwas näher befassen, nämlich mit den for. . . fo-Konstruktionen und den POSSESSIV. . .ingKonstruktionen, die, ähnlich wie die subordinierende Konjunktion that, bei untergeordneten Teilsätzen vorkommen. Die folgenden Sätze sind Beispiele dafür: For us to get a divorce would be tragic. I prefer for you to stay. The President's being so dense is astonishing. I dislike Joan's being so stubborn. Bei for. . .to geht for dem Subjekt des Nebensatzes voraus; to steht vor dem Verb (und ersetzt gleichzeitig seine Tempusmarkierung). Ähnlich wird das Subjekt des Nebensatzes als Possessiv markiert, wenn das folgende verbale Element das -/«^-Suffix erhält (anstelle der Tempusmarkierung). Dabei ist die Wahl von that, for. . . to und POSSESSIV. . .ing weitgehend vom Prädikat des Hauptsatzes abhängig: bestimmte Hauptsatz-Prädikate erlauben nur die Verwendung bestimmter Nebensatzkonstruktionen und schließen andere aus. So kann beispielsweise das Objekt von advocate (.befürworten', ,dafür eintreten, daß') mit that oder POSSESSIV. . .ing angeschlossen werden,nicht aber mit for. . .to (I advocated that she leave; I advocated her leaving; ungrammatisch ist I advocated for her to leave). Want, andererseits, kann eine for. . . fo-Konstruktion bei sich haben (/ want very much for her to leave), nicht aber eine POSSESSIV. . .('«^-Konstruktion oder den Anschluß mit that (/ want her leaving, I want that she leaves sind beide ungrammatisch). Eine weitere syntaktische Regel, die sich auf die Form eines englischen Subjekt- oder Objektsatzes auswirkt, tilgt die Subjekt-NP des Nebensatzes, falls sie mit einer NP des Hauptsatzes identisch ist; Voraussetzung ist allerdings, daß im Nebensatz eine for. . .fo-Konstruktion 115

oder eine POSSESSIV. . .^-Konstruktion steht. In dem Satz I prefer for you to stay here ist das Subjekt des Hauptsatzes (I) mit dem Subjekt des untergeordneten Satzes (you) nicht identisch — eine Tilgung ist also nicht möglich. Nehmen wir jedoch einmal an, das Subjekt des untergeordneten Satzes wäre auch I (oder die Objektform me): I prefer for me to stay here. Dieser Satz liegt wohl gerade noch innerhalb der Grenzen der Akzeptabilität, aber normalerweise wird das Subjekt des Nebensatzes, me, getilgt aufgrund seiner Identität mit dem Subjekt des Hauptsatzes, so daß sich der Satz I prefer to stay here ergibt (mit der Subjekttilgung geht die Tilgung von for bzw. der POSSESSI K-Markierung einher). Mit anderen Worten: diese Tilgungsregel operiert auf der ersten Struktur in Abb. 5.13; das Ergebnis ihrer Anwendung (ihr "output") ist die zweite Struktur. S

S

Abb. 5.13

Diese Art und Weise, die Oberflächenstruktur I prefer to stay here zu betrachten, trägt der Tatsache Rechnung, daß I als semantisches Subjekt sowohl von prefer als auch von stay verstanden wird, außerdem zeigt diese Analyse, daß / p r e f e r to stay here in den Grundzügen analog strukturiert ist zu I prefer for you to stay here. Zwei grundsätzliche syntaktische Regeln beeinflussen die Oberflächenform von Relativsätzen: beide Regeln wirken sich auf die Realisierung deijenigen Nominalphrase im Relativsatz aus, die mit der vom Relativsatz näher bestimmten Nominalphrase identisch ist. Wenden wir uns noch einmal dem deutschen Beispielsatz Erwin zerschlug die Vase, die Irene liebte zu. (Für das Englische gelten die folgenden Aussagen entsprechend.) Als selbständiger Satz hätte der Relativsatz die Irene liebte die Form Irene liebte die Vase. Da die Vase diejenige NP des Relativsatzes ist, die mit der Bezugs-NP im Hauptsatz identisch ist, werden die beiden Regeln auf sie angewendet. Die erste Regel stellt die den beiden 116

Teilsätzen gemeinsame NP an die Spitze des Relativsatzes; die zweite ersetzt die NP durch das passende Relativpronomen (z.B. der, die, das, welcher, welche, welches, oder entsprechend flektierte Formen). Die Anwendung dieser Regeln ergibt die in Abb. 5.10 dargestellte Oberflächenstruktur; Abb. 5.14 zeigt die Satzstruktur, die sich ergäbe, wenn die beiden Regeln nicht angewendet würden. S

Ν

V

NP

/\

ART

Erwin zerbrech-PRÄT die

Vase

Irene

lieb- P R Ä T

die

Ν

Vase

Abb. 5.14

In einigen Fällen müssen zu den beiden beschriebenen Regeln einige weitere hinzutreten, damit grammatische Oberflächenstrukturen entstehen: mit der NP im Relativsatz eventuell verbundene Präpositionen werden zusammen mit der NP an die Spitze des Relativsatzes verschoben, wie z.B. in Johanna interessiert sich für den Mann, mit dem Petra spricht. Eine andere Umstellungsregel des Deutschen („Verbendstellung") schließlich sorgt fur die Nebensatzstellung des flniten Verbs, verschiebt es also an das Ende des Relativsatzes (wenn es sich nicht schon in dieser Position befindet). 117

Die Beziehung zwischen Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur Derivationen Bis jetzt haben wir uns auf die Oberflächenstrukturen konzentriert, aber die Oberflächenstruktur eines Satzes stellt nur eine Facette seines syntaktischen Aufbaus dar. Jede Oberflächenstruktur realisiert eine ihr zugrundeliegende Begriffsstruktur, aus der sie durch syntaktische Regeln und die Auswahl von lexikalischen Einheiten abgeleitet wird. Um eine umfassende Darstellung der Zusammensetzung eines Satzes zu geben, muß man nicht nur seine Oberflächenstruktur beschreiben, sondern auch

BEGRIFFSSTRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

MODIFIZIERTE STRUKTUR

OBERFLÄCHEN STRUKTUR Abb. 5.15

118

seine Begriffsstruktur und die schrittweise Ableitung oder D e r i v a t i o n der einen von der andern. Wir wissen noch nicht genug über den kognitiven Apparat des Menschen, um Begriffsstrukturen detailliert beschreiben zu können, aber es ist klar, daß die Beziehung zwischen Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur in vielen Fällen nur entfernt und indirekt ist. Die Überführung einer Begriffsstruktur in ihre Oberflächenrealisierung umfaßt sowohl die Einsetzung von lexikalischen Einheiten für Begriffskomponenten als auch die Anwendung einer langen Folge von sytaktischen Regeln. Die Derivation eines Satzes ist in Abb. 5.15 schematisch dargestellt. Jede Auswahl einer lexikalischen Einheit und jede Anwendung einer syntaktischen Regel modifiziert die abstrakte zugrundeliegende Struktur in einer gewissen Weise, indem sie sie weniger abstrakt und ihrer endgültigen Oberflächenform immer ähnlicher macht. Der Unterschied zwischen der Begriffsstruktur und der Oberflächenstruktur eines Satzes ist also das Gesamtergebnis einer Vielzahl von kleinen Modifikationen, die durch syntaktische Regeln und die Wahl lexikalischer Einheiten bewirkt werden. Jede der Modifikationen verbindet eine zugrundeliegende mit einer etwas weniger abstrakten Struktur.

Mehrdeutige

Sätze

Weil die Beziehung zwischen Begriffs- und Oberflächenstrukturen sehr indirekt ist, zeigen sich die Unterschiede zwischen zwei oder mehr Begriffsstrukturen nicht immer an der Oberfläche. Die Anwendung von BEGRIFFSSTRUKTUR

BEGRIFFSSTRUKTUR

BEGRIFFSSTRUKTUR

Abb. 5.16

119

syntaktischen Regeln und die Auswahl von lexikalischen Einheiten können die Unterschiede der Struktur verwischen, so daß mehrere verschiedene Begriffsstrukturen dieselbe Oberflächenrealisierung besitzen, wie es die Abb. 5.16 schematisch darstellt. Wenn ein Satz zwei oder mehrere verschiedene Begriffsstrukturen repräsentieren kann, so bezeichnen wir ihn als mehrdeutig („ambig"), d.h., er erlaubt verschiedene semantische Interpretationen. Die streitsüchtigen Araber wollen einen neuen Krieg ist ein interessantes Beispiel dafür. Dieser Satz ist mehrdeutig, aber beide Interpretationen zeigen dieselbe Morphemkette und denselben Oberflächenstammbaum. Der Satz kann bedeuten, daß alle Araber streitsüchtig sind und einen neuen Krieg wollen; bei dieser Interpretation besteht eine Beziehung zu Die Araber sind streitsüchtig und wollen einen neuen Krieg und zu Die Araber, die (bekanntlich) streitsüchtig sind, wollen einen neuen Krieg, die beide von derselben Begriffsstruktur abstammen. Andererseits kann der Satz bedeuten, daß nur jene Araber, die streitsüchtig sind, wieder kämpfen wollen. Bei dieser Interpretation realisiert der Satz dieselbe Begriffsstruktur wie Diejenigen Araber, die streitsüchtig sind, wollen einen neuen Krieg. Nicht jeder mehrdeutige Satz zeigt bei verschiedenen Interpretationen genau die gleiche Oberflächenstruktur wie das eben besprochene Beispiel. Nehmen Sie z.B. Ich warte neben der Bank. Dieser Satz ist deshalb mehrdeutig, weil Bank zwei verschiedene Substantivmorpheme repräsentieren kann; einmal bezeichnet Bank eine Sitzgelegenheit, zum anderen ein Geldinstitut. Lautlich ist der Satz bei beiden Interpretationen identisch, da die beiden Substantive Bank gleich ausgesprochen werden. Die zwei Oberflächenstrukturen von Ich warte neben der Bank sind jedoch geringfügig verschieden, da ja eine Oberflächenstruktur eine strukturierte Kette von Morphemen ist, und die beiden Substantive Bank zwei verschiedene Morpheme sind. Derartige Beispiele von lexikalischer Mehrdeutigkeit lassen sich in großer Zahl finden. Es gibt auch mehrdeutige Sätze, die sich bei den verschiedenen Interpretationen in der Stammbaumstruktur der Oberfläche unterscheiden, wie einige der angeführten Beispiele zeigen. So besteht etwa der Satz Werner oder Peter und Gerd sollen kommen bei beiden Interpretationen aus derselben Morphemkette, aber die syntaktischen Regeln, die dafür verantwortlich sind, die beiden verschiedenen Begriffsstrukturen in dieselbe Morphemkette zu überführen, verwischen die entsprechenden Unterschiede in der Stammbaumstruktur nicht völlig. Die beiden Stammbaumstrukturen der Oberfläche hatten wir in Abb. 5.2 veranschaulicht. 120

Hier folgen noch einige andere Beispiele von Mehrdeutigkeit, die vielleicht amüsant oder lehrreich sind: Der Mann erklärte den Streckenplan im Zug; Das Streicheln der Affen war unangenehm; Ich hasse fette Männer und Frauen; Es ist zu heiß zum Essen; Der Chauffeur wird den Wagen abstauben oder waschen und polieren; Robert hat mit seiner kleinen Schwester die Scheibe eingeschlagen; Ich gab John, was ich wollte; Er ließ die Leute stehen; Mutter kocht; Die Missionare sind zum Essen bereit; Es war der Mann, der das Geld gestohlen hat; Peter soll eine Kur machen; Johanna sagt, sie will einen Faschisten heiraten. Synonyme Sätze Syntaktische Regeln und die Auswahl lexikalischer Einheiten haben nicht immer den Effekt, Unterschiede der zugrundeliegenden Struktur zu neutralisieren und eine relative Einheitlichkeit der Oberfläche zu bewirken. Auch das Umgekehrte kommt vor, so daß eine einzige Begriffsstruktur verschiedene Oberflächenrealisierungen hat, wie Abb. 5.17 zeigt. In solchen Fällen verdeckt die Verschiedenheit der Oberfläche, die durch syntaktische Regeln und die Wahl von lexikalischen Einheiten herbeigeführt wird, die Einheitlichkeit der zugrundeliegenden Struktur. BEGRIFFSSTRUKTUR

STRUKTUR

STRUKTUR

STRUKTUR

Abb. 5.17

Der Unterschied der Oberfläche zwischen Sie aß eine Apfelsine und Sie aß eine Orange ist entstanden durch die unterschiedliche Wahl von lexikalischen Einheiten, Apfelsine und Orange, fur die Repräsentation derselben Begriffskomponente. Die beiden Einheiten sind gegeneinander austauschbar, da sie die gleiche syntaktische Funktion und den gleichen Begriffswert besitzen. Die beiden Sätze realisieren demnach dieselbe Begriffsstruktur, obgleich sie aus verschiedenen Morphemketten bestehen.

121

Die Verschiedenheit der Oberfläche, die sich aus Alternativen bei der Wahl lexikalischer Einheiten ergeben, sind bisweilen noch umfangreicher. Betrachten wir ein englisches Beispiel, die Realisierung der Vorstellung etwas in zwei Teile teilen. Diesen Begriffswert hat das Wort (to) bisect, aber auch die Wendung (to) divide into two parts. Folglich besitzt die Begriffsstruktur, die The East Germans bisected Berlin with a wall zugrundeliegt, die Realisierungsvariante The East Germans divided Berlin into two parts with a wall. Keine einzelne lexikalische Einheit im zweiten Satz hat denselben Begriffswert wie bisect. Stattdessen werden mehrere lexikalische Einheiten syntaktisch kombiniert, um den gleichen semantischen Effekt zu erzielen. Die Sätze Herwig ist Junggeselle und Herwig ist ein Mann, der nie geheiratet hat sind ein extremeres Beispiel für diese Erscheinung. Der Begriffswert von Mann, der nie geheiratet hat, einem Substantiv Mann plus einem eingebetteten Relativsatz, wird im ersten Satz durch eine einzige lexikalische Einheit, Junggeselle, repräsentiert. Die Wirkung der Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen lexikalischen Einheiten bei der Bestimmung der Oberflächenrealisierung einer Begriffsstruktur kann also ganz beträchtlich sein. Ebenso groß können die Unterschiede sein, die durch syntaktische Regeln bewirkt werden, wie wir später genauer sehen werden. Im Augenblick wollen wir uns auf ein einziges Beispiel beschränken. Betrachten Sie die englischen Sätze A detective hunted down the killer, The policeman looked over the situation und The robber tied up the manager of the bank. Jeder dieser Sätze enthält eine zweiteilige Verbkonstituente, die aus einem Verb und einer präpositionsartigen Partikel besteht. Hunted down, looked over und tied up sind die Verbalkonstituenten, down, over und up ihre Partikel. Jedem dieser drei Sätze kann ein anderer gegenübergestellt werden, der dieselbe Begriffsstruktur realisiert und dieselben lexikalischen Einheiten enthält. Die entsprechenden Sätze sind: A detective hunted the killer down, The policeman looked the situation over und The robber tied the manager of the bank up. Die Unterschiede zwischen diesen Satzpaaren sind das Ergebnis einer syntaktischen Regel, die wir „Partikelverschiebung" nennen wollen. Diese Regel trennt ein Verb und eine Partikel, indem sie die Partikel hinter die folgende Objekt-Nominalphrase stellt. Wendet man diese Regel auf die Struktur an, die A detective hunted down the killer zugrundeliegt, so erzeugt sie die Struktur, die A detective hunted the killer down zugrundeliegt, indem sie die Partikel mit der Nominalphrase the killer vertauscht. Entsprechende Verschiebungen sind: (looked over) (the situation) zu (looked) (the 122

BEGRIFFSSTRUKTUR

Τ 4

(a detective) (hunted down) (the killer)

Partikel Verschiebung

OBERFLÄCHENSTRUKTUR

( a detective) (hunted) (the killer) (down) +

i

OBERFLACHENSTRUKTUR

Abb. 5. 18

situation) (over) und (tied up) (the manager of the bank) zu (tied) (the manager of the bank) (up). Die Ableitung des ersten Satzpaares ist in Abb. 5.18 dargestellt. Dort können wir sehen, daß A detective hunted down the killer und A detective hunted the killer down auf dieselbe Begriffsstruktur zurückgehen und daß dieselbe Wahl von lexikalischen Einheiten stattgefunden hat. Im großen und ganzen wird bei der Ableitung dieser beiden Sätze dieselbe Menge von syntaktischen Regeln angewendet. Der einzige Unterschied ist, daß in einem von beiden die Partikelverschiebung angewendet wird, im anderen dagegen nicht. Wie viele syntaktische Regeln ist auch diese fakultativ: sie kann angewendet werden, aber sie muß es nicht. Wird sie angewendet, dann ergibt sich der Satz A detective hunted the killer down. Wenn nicht, bleiben hunted und down nebeneinander in der Morphemkette, und es ergibt sich A detective hunted down the killer. Dabei ist zu bemerken, daß keiner der beiden Sätze von dem anderen abgeleitet ist. Vielmehr sind beide Realisierungen derselben zugrundeliegenden Struktur, die in Abb. 5.18 als (a detective) (hunted down) 123

{the killer) dargestellt ist. Diese zugrundeliegende Struktur ist nicht die gemeinsame Begriffsstruktur selbst, sondern eine Zwischenstruktur, die durch Einsetzen von lexikalischen Einheiten und durch die Anwendung von Regeln von ihr abgeleitet worden ist. Dasselbe gilt für alle unsere Beispiele für syntaktische Regeln. Oberflächenstrukturen sind das Ergebnis der Wirkung syntaktischer Regeln; diese Regeln werden nicht auf Oberflächenstrukturen angewendet, sondern leiten sie vielmehr von abstrakten zugrundeliegenden Strukturen ab. Wie diese abstrakteren Satzstrukturen — und dazu gehören auch die Begriffsstrukturen selbst — genau aussehen, darüber können wir im Augenblick jedoch nur Vermutungen anstellen. Syntaktische Regeln Eine Anzahl syntaktischer Regeln haben wir in den letzten Abschnitten schon kurz angesprochen. Wir wollen nun solche Regeln auf eine etwas systematischere Art und Weise behandeln. Allen im folgenden zu besprechenden Regeln ist gemein, daß sie Baumstrukturen in einer jeweils spezifischen Weise modifizieren und dadurch weniger abstrakte Strukturen von ihnen ableiten, wie in Abb. 5.15 gezeigt wurde. Solche Regeln nennen wir Transformationen. Drei Grundtypen von Transformationen lassen sich unterscheiden: Reduktionsregeln, Einsetzungsregeln und Umstellungsregeln. Reduktionsregeln In allen Sprachen gibt es Möglichkeiten, die Wiederholung von identischen Elementen in Sätzen zu vermeiden. Nehmen wir den englischen Satz My uncle has been dieting, and my aunt has been dieting, too. Der Satz ist komplex und realisiert eine Begriffsstruktur mit zwei Komponenten. Eine Komponente liegt My uncle has been dieting zugrunde, die andere My aunt has been dieting, wobei die beiden durch and und too koordiniert sind. Für diese komplexe Begriffsstruktur ließe sich eine Reihe anderer Oberflächenrealisierungen denken, die z.T. durch die Auswahl ganz anderer lexikalischer Einheiten und die Anwendung anderer syntaktischer Regeln entstanden wären (z.B. Both my aunt and my uncle have been eating less than usual in order to lose weight). Wir wollen uns hier jedoch nur mit drei Alternativsätzen beschäftigen, die auf die gleiche lexikalische und syntaktische Grundlage zurückgehen. 124

Die Ähnlichkeit der folgenden Sätze sticht sofort ins Auge: uncle has been dieting, and my aunt has been dieting, too. uncle has been dieting, and my aunt has been, too. uncle has been dieting, and my aunt has, too. uncle has been dieting, and my aunt, too. Sie stammen nicht nur von der gleichen Begriffsstruktur ab, sondern sind auch syntaktisch und lexikalisch sehr ähnlich. Jeder Satz unterscheidet sich von dem folgenden darin, daß er im zweiten Konjunkt ein Verbalwort mehr enthält. So unterscheidet sich der erste Satz vom zweiten durch die Wiederholung von dieting, der zweite wiederum unterscheidet sich vom dritten Satz durch die Wiederholung von been, und das nochmalige Vorkommen von has schließlich unterscheidet den dritten Satz vom vierten. Die vier Sätze gehen auf eine gemeinsame zugrundeliegende Struktur zurück, in der die volle Verbfolge has been dieting im zweiten Konjunkt repräsentiert ist. Also gibt der Satz My uncle has been dieting, and my aunt has been dieting, too diese gemeinsame zugrundeliegende Struktur am unmittelbarsten wieder, auch wenn er selbst von dieser Struktur schon relativ weit entfernt sein mag. Eine syntaktische Regel, die wir „Verbtilgung" nennen wollen, wirkt auf die zugrundeliegende Struktur ein und bringt die verschiedenen Realisierungsformen hervor (siehe Abb. 5.19). Die Verbtilgungsregel kann fakultativ auf das zweite Konjunkt einer komplexen Satzstruktur angewendet werden, bei der eine Koordination mit too vorliegt. Diese Regel hat (etwas vereinfacht) die Funktion, das jeweils letzte in einer Folge von Verbalwörtern zu tilgen, vorausgesetzt, daß dieselbe Folge von Verbalwörtern auch im ersten Konjunkt vorkommt. Die Verbfolge has been dieting erscheint in beiden Konjunkten der Struktur, die My uncle has been dieting, and my aunt has been dieting, too zugrundeliegt; folglich kann die Verbtilgung vorgenommen werden. Wird die Regel nur einmal angewendet, so wird has been dieting im zweiten Konjunkt auf has been reduziert; bei einer zweiten Anwendung wird has been auf has reduziert, da been jetzt das letzte Verbalwort in der Folge ist. Eine dritte Anwendung reduziert has zu Null. Alle vier Sätze gehen also auf die gleiche zugrundeliegende Struktur zurück; die Wahl einer der Varianten hängt nur davon ab, wie oft die Verbtilgung angewendet wird. My My My My

Reduktionsregeln wie die Verbtilgung sind sehr häufig. Jede Sprache hat syntaktische Regeln, die unter bestimmten Bedingungen Konstituenten zu tilgen erlauben, wenn identische Konstituenten anderswo im sel125

BEGRIFFSSTRUKTUR

t

has been dieting, too

Verbtilgung OBERFLÄCHENSTRUKTUR (My uncle has been dieting, and my aunt has been dieting, too.)

. . . has5 bi been, too

/

Verbt Verbtilgung

has, too

\

OBERFLÄCHENSTRUKTUR (My uncle has been dieting, and my aunt has been, too.)

Verbtilgung

too OBERFLÄCHENSTRUKTUR (My uncle has been dieting, and my aunt has, too.)

OBERFLÄCHENSTRUKTUR (My uncle has been dieting, and my aunt, too.) Abb. 5. 19 126

ben Satz erscheinen. Wenn durch die Tilgung von has been dieting der Satz My uncle has been dieting, and my aunt, too entsteht, so besteht keinerlei Zweifel, was über die Tante ausgesagt wird. Ein Sprecher der englischen Sprache wird den Satz sofort so interpretieren, daß die Tante eine Schlankheitskur gemacht hat, obwohl eine mit my aunt verbundene Verbalphrase an der Oberfläche gar nicht auftaucht. Das ist deshalb möglich, weil ein Duplikat der getilgten Folge im ersten Konjunkt vorkommt; die volle Bedeutung der Oberflächenkette and my aunt, too kann durch die Untersuchung des übrigen Teils des Satzes ermittelt werden. Die Reduktion von doppelt auftretenden Elementen beseitigt also viele potentielle Wiederholungen, ohne daß dabei semantischer Inhalt verloren ginge. Die Verbtilgung ist zwei bereits diskutierten Regeln sehr ähnlich (möglicherweise handelt es sich dabei sogar um verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben grundlegenden Regel). Die eine Regel leitet den Satz Werner verspeiste Schnecken, Gerd Muscheln, und Max Froschschenkel ab, indem sie verspeiste im zweiten und dritten Konjunkt tilgt. Die andere Regel eliminiert kann mit dem kleinen Finger einen Eimer Wasser hochheben im zweiten Konjunkt und leitet so den Satz Kurt kann mit dem kleinen Finger einen Eimer Wasser hochheben, und Günther auch ab. In allen drei Fällen werden die identischen Elemente vollständig getilgt. Manchmal bleibt bei der Reduktion identischer Elemente jedoch ein „Rest" übrig, den wir als Pro—Form bezeichnen, da er für eine andere, ausführlichere Form steht. Das umgangssprachlich oft verwendete Indefinitpronomen welche z.B. ist eine solche Pro-Form, die für Substantive im Plural und gewisse nähere Bestimmungen des Substantivs stehen kann. So läßt sich z.B. der Satz Franz wollte unbedingt dicke schwarze Zigarren mit Bauchbinde haben, und auch Gustav brauchte dicke schwarze Zigarren mit Bauchbinde auf Franz wollte dicke schwarze Zigarren mit Bauchbinde haben, und auch Gustav brauchte welche reduzieren; eine Reduktionstransformation ersetzt dicke schwarze Zigarren mit Bauchbinde durch welche. Ähnlich steht das englische one (ones) wie in This pretty black widow spider looks healthier than that one fur getilgte Nominalphrasen, in diesem Fall für pretty black widow spider. Die bisher diskutierten Reduktionsregeln können immer dann angewendet werden, wenn zwei Konstituenten die gleiche Bedeutung haben. Für andere Reduktionen gilt statt der Bedingung der Bedeutungsidentität die Bedingung der R e f e r e n z i d e n t i t ä t , d.h., die Regeln können nur dann angewendet werden, wenn die betreffenden Elemente sich auf ein und dasselbe Objekt oder Individuum in der Wirklichkeit beziehen. In 127

dem Satz Ein grauhaariger Mann, der wie ein Gelehrter aussah, bewunderte sich im Spiegel z.B. ist die Pro-Form sich referenzidentisch mit der Nominalphrase ein grauhaariger Mann, der wie ein Gelehrter aussah. Es ist unschwer einzusehen, daß die Ersetzung der komplexen Nominalphrase durch das Reflexivpronomen sich von der Referenzidentität abhängt und nicht von der Bedeutungsidentität. Der Satz kann nur so interpretiert werden, daß von einem einzigen Mann die Rede ist (der sowohl Subjekt als auch Objekt von bewundert ist); wollte man die Vorstellung ausdrücken, daß zwei verschiedene grauhaarige Männer, die wie Gelehrte aussehen, beteiligt sind, so müßte man das auf andere Art tun. Das Reflexivpronomen sich und die Personalpronomen der 3. Person (er, sie, es), deren Vorkommen an Referenzidentität gebunden ist, unterscheiden sich in dieser Hinsicht von dem Indefinitpronomen welche (und entsprechend one), für dessen Vorkommen nur Bedeutungsidentität gefordert ist. Dementsprechend muß es sich bei Franz wollte unbedingt dicke schwarze Zigarren mit Bauchbinde haben, und auch Gustav brauchte welche nicht um dieselben Zigarren handeln; bei This pretty black widow spider looks healthier than that one geht es um zwei verschiedene Spinnen. Referenzidentität ist auch für zwei andere,bereits besprochene Reduktionsregeln erforderlich: zum einen für die Regel, die die SubjektNominalphrase eines Subjekt- oder Objektsatzes tilgt, zum anderen für die Regel, die eine Nominalphrase auf ein Relativpronomen reduziert. Die Ableitung des englischen Beispiels Joe prefers to be rich von Joe prefers for Joe to be rieh illustriert die Subjekttilgung im Objektsatz. Diese Ableitung ist nur dann möglich, wenn die beiden Vorkommen von Joe referenzidentisch sind, sich also auf ein und dieselbe Person namens Joe beziehen. Entsprechendes gilt für dem Mann und der in Irma dankte dem Mann, der sie vor einem schrecklichen Ende bewahrt hatte; sowohl die Nominalphrase im Hauptsatz als auch das Relativpronomen müssen sich auf dasselbe Individuum beziehen. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß einige Tilgungsregeln völlig unabhängig von Identität operieren; für sie sind allein bestimmte grammatische Faktoren ausschlaggebend. So kann das Subjekt englischer Imperativsätze, you, auch dann getilgt werden, wenn der Satz nur ein einziges you aufweist. Leave my wife alone! ist daher eine fakultative Variante von You leave my wife alone! Auch deutsche Imperativsätze erscheinen an der Oberfläche gewöhnlich ohne Subjekt, so daß wir z.B. folgende Sätze haben: Laß die Finger davon! Hör jetzt damit auf!

128

Einsetzungsregeln Durch die Reduktion von wiederholt auftretenden Konstituenten sind manchmal größere Teile einer zugrundeliegenden Stammbaumstruktur in der Oberflächenstruktur nicht mehr sichtbar (obgleich ihr Begriffswert auf der Grundlage des restlichen Satzes rekonstruiert werden kann). Umgekehrt fuhren manche syntaktische Regeln Elemente in die Oberflächenstruktur ein, die semantisch leer sind oder eine Information wiederholen, die schon an einer anderen Stelle im Satz vorhanden ist. Solche Elemente kann man als Satzverzierungen verstehen, als syntaktisch eingeführte Ausschmückungen ohne eigenen semantischen Inhalt. Die Regeln, die die Einsetzung („Insertion") von that, von for. . .to und von POSSESSIV. . .ing zur Kennzeichnung der Subordination in Teilsätze bewirken, sind Beispiele für Transformationen, die Satzverzierungen einführen. In manchen Fällen ist auch das englische there eine durch eine Insertionsregel eingeführte semantisch leere Satzverzierung. Wenn flektierte Formen von be ein indefinites Subjekt haben, kann dieses Subjekt in der Oberflächenstruktur durch there ersetzt werden; das Subjekt in seiner ursprünglichen Form erscheint dann hinter der Form von be. Sätze wie There is a horse in that cornfield und There are many people out of work, die durch Anwendung der thereEinsetzungsregel entstanden sind, sind daher fakultative Varianten von A horse is in that cornfield und Many people are out of work. Auf ähnliche Weise ist auch das Vorkommen von es in deutschen Sätzen wie Es kommen schlechtere Zeiten, Es spricht der Bundeskanzler, Es spielten die Berliner Philharmoniker zu erklären: unter bestimmten Umständen können in Aussagesätzen die Subjekt-Nominalphrase und die Verbalphrase umgestellt werden, so daß in der Oberflächenrealisierung die Subjekt-Position unbesetzt wäre. In diesem Fall muß es-Einsetzung erfolgen, die den Satz mit dem neuen, semantisch leeren Oberflächensubjekt es versieht. Auch bei Sätzen mit bestimmten Verben, die kein semantisches Subjekt haben, wie z.B. schneit, regnet, stürmt usw., sorgt die es-Einsetzung dafür, daß an der Oberfläche ein Subjekt vorhanden ist; es ergeben sich Sätze wie Es schneit, Es regnet und Es stürmt. Kongruenztransformationen führen Kennzeichnungen (Markierungen) ein, die eine Verdopplung von bereits an anderer Stelle im Satz enthaltener Information darstellen. Die eingefügten Kennzeichnungen haben deshalb keine Eigenbedeutung und können ebenfalls als Satzverzierungen betrachtet werden. Zwei Typen von Kongruenzregeln sind wohl am häufigsten: solche, die die Kongruenz des Verbs mit seinem Sub129

jekt oder Objekt herstellen, und solche, die für die Kongruenz zwischen dem Substantiv und seinen näheren Bestimmungen sorgen. In der deutschen Sprache sind beide Bereiche, im Vergleich zum Englischen, relativ differenziert ausgeführt: während die finite Verbform im Deutschen grundsätzlich von Person und Numerus der Subjekt-NP abhängt und wir z.B. im Indikativ Präsens und Präteritum der schwachen Verben je vier Flexionssuffixe kennen, unterscheidet das Englische an der Oberfläche nur zwischen Subjekt—NP der 3. Person Singular und allen anderen NPs (eats gegenüber eat), und das auch nur im Präsens. Substantive und attributiv gebrauchte Adjektive stimmen im Deutschen in Genus, Numerus und Kasus überein; im Englischen ist allein die Numeruskongruenz von Demonstrativpronomen zu beachten (this truck - these trucks, that cathedral - those cathedrals). In anderen Sprachen finden wir unterschiedlich stark ausdifferenzierte Kongruenzsysteme; dabei können auch ganz andere Typen von Kongruenz vorkommen. Umstellungsregeln Umstellungsregeln modifizieren Baumstrukturen dadurch, daß sie die lineare Abfolge der Elemente oder den Aufbau von Konstituenten aus einzelnen Elementen verändern. Eine sehr einfache Umstellungsregel, die Partikelverschiebung, wurde in Abb. 5.18 dargestellt: sie vertauscht fakultativ eine Partikel und eine Objekt-NP und weist damit Satzpaare wie A detective hunted down the killer und A detective hunted the killer down als verschiedene Realisierungen ein und derselben zugrundeliegenden Struktur aus. Vielfach sind die Wirkungen von Umstellungsregeln jedoch ausgedehnter. Denken Sie beispielsweise an die Regel, die eine Nominalphrase in einem Relativsatz an die Satzspitze stellt, wie es in der Ableitung von Erwin zerbrach die Vase, die Irene liebte der Fall war (vgl. Abb. 5.14 und 5.10). In diesem Beispiel wird die Nominalphrase, die schließlich als die an der Oberfläche erscheint, von der Objektposition in die Position vor dem Subjekt verschoben, bleibt aber innerhalb desselben einfachen Teilsatzes. Nehmen wir jedoch einmal an, daß der Relativsatz komplex ist. Abb. 5.20 zeigt einen einfachen englischen Satz (The truth is a disturbing one), in den als Relativsatz zur näheren Bestimmung von the truth ein komplexer Satz eingebettet ist. (Dabei entspricht die Struktur des eingebetteten Satzes genau der Struktur des deutschen Satzes, der in Abb. 5.12 dargestellt ist. Die im folgenden geschilderte Regelanwendung gilt jedoch nur für das Englische, so daß der deutsche Satz aus 130

s

Harvey believes

A b b · 5·

20

S

Shirley knows the truth

Abb. 5.12 nicht ohne weiteres in gleicher Weise eingebettet werden kann.) Die Nominalphrase im Relativsatz, die auch im Hauptsatz vorkommt, befindet sich in dem am tiefsten eingebetteten Teilsatz {Shirley knows the truth). Dennoch kann die Regel auf sie angewendet werden, die die NP an die Spitze des Relativsatzes stellt, wo sie dann die Form des Relativpronomens annimmt. In der Oberflächenstruktur befindet sich also das Relativpronomen which im obersten Teilsatz des eingebetteten Relativsatzes und steht vor I think: The truth which I think Joe hopes Harvey believes Marge feels Shirley knows is a disturbing one. Um in diese Position an der Oberfläche zu gelangen, mußte die NP mehrere dazwischengeschaltete Teilsätze überwinden; dabei sollte klar sein, daß es keine prinzipielle Begrenzung gibt, wie weit der Weg sein darf, den die NP auf diese Weise zurücklegt — das hängt allein von der Komplexität des Relativsatzes ab. Die gleiche Umstellungsregel (oder wenigstens eine sehr ähnliche) können wir auch in der Ableitung von Fragesätzen beobachten. In dem Satz What do you think Joe hopes Harvey believes Marge feels Shirley knows? fungiert das Fragepronomen what als semantisches Objekt von knows. 131

Solche Fragepronomen erscheinen immer an der Spitze des Fragesatzes, unabhängig davon, wie komplex er sein mag. Subjekt- und Objektsätze unterliegen zwei wichtigen Umstellungsregeln, die man gewöhnlich als „Extraposition" und „Subjektanhebung" bezeichnet. Extraposition bewirkt z.B., daß ein mit daß (engl, that) eingeleiteter Nebensatz in Subjektposition an das Ende des Hauptsatzes gestellt wird. Wendet man die Regel auf die Struktur in Abb. 5.9 an, so erhält man die Struktur in Abb. 5.21; die erste Struktur wird an der Oberfläche als Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser ßrchten, ist verständlich realisiert, die zweite als Es ist verständlich, daß Nichtschwimmer tiefes Wasser fürchten. Das Auftreten von es im zweiten Satz wird nicht durch die Extrapositionsregel selbst bewirkt; für seine Einfügung ist eine bereits besprochene Einsetzungsregel verantwortlich, die dafür sorgt, daß solche Sätze ein Oberflächensubjekt erhalten, bei denen es sonst fehlen würde (vgl. Es schneit). Die folgenden Satzpaare veranschaulichen, wie im Deutschen Strukturen durch Extraposition aufeinander bezogen sind: Daß Handarbeit nützlich sein kann, war ihm bewußt. Es war ihm bewußt, daß Handarbeit nützlich sein kann. Daß Armut keine Schande ist, ist klar. Es ist klar, daß Armut keine Schande ist. Daß kein Zucker mehr im Hause war, brachte

Abb. 5. 21

132

sie in Raserei Es brachte sie in Raserei, daß kein Zucker mehr im Hause war. Zur Erklärung der Subjektanhebung wollen wir uns einem englischen Beispiel zuwenden. Diese Regel beeinflußt die Subjekt-Nominalphrase von Subjekt- und Objektsätzen, die mit for. . .to oder POSSESSIV.

. .ing

markiert sind: bei Subjektsätzen ersetzt sie den eingebetteten Teilsatz durch sein Subjekt, und verschiebt den Rest des Teilsatzes an das Ende der Verbalphrase im Hauptsatz. Die erste Struktur in Abb. 5.22 wird also durch die Anwendung der Subjektanhebung in die zweite Struktur überführt; John is likely win ist eine fakultative Variante von For John to win is likely. ähnliche Weise leitet die Subjektanhebung den Satz John

to Auf

stopped

hallucinating als Oberflächenvariante von John 's hallucinating stopped von der gemeinsamen zugrundeliegenden Struktur ab. Zu beachten ist dabei, daß bei Anhebung des Nebensatzsubjekts (ebenso wie bei seiner Tilgung) for bzw. POSSESSIV

in der Oberfläche nicht mehr S

t o win

Abb. 5. 22

auftauchen. Weiterhin ist zu beachten, daß Subjektanhebung nur dann erfolgen kann, wenn im Hauptsatz bestimmte Prädikate vorliegen, nicht aber in jedem Fall. Possible als Prädikat des Hauptsatzes z.B. verbietet Subjektanhebung; John is possible to win ist ungrammatisch gegenüber der grammatischen Oberfläche For John to win is possible. In den genannten Beispielen bezieht sich die Subjektanhebung auf Subjektsätze. Auch das Subjekt eines Objektsatzes kann angehoben werden, so daß es die Objektposition im Hauptsatz einnimmt, die vorher vom Nebensatz ausgefüllt wurde. Durch Anwendung dieser Regel wird

133

die zweite Struktur in Abb. 5.23 aus der ersten Struktur abgeleitet. Von den Begriffsstrukturen her ist in dem Satz Joan believes Bill to be rich die Nominalphrase nicht Objekt von believes, sondern vielmehr Subjekt von be rich. Die erste Struktur in Abb. 5.23 spiegelt also die Bedeutung des Satzes deutlicher wider als die zweite, die seine Oberflächenstruktur darstellt. (Die Markierung der Unterordnung des Objektsatzes darf nur dann durch for. . .to erfolgen, wenn auch Subjekt-

to be rich

for Bill to be rich Abb. 5.23

anhebung stattfindet; andernfalls kann nur der Satz Joan believes that Bill is rich entstehen.) Daß in der Oberflächenstruktur des Satzes Bill tatsächlich Objekt von believes ist, läßt sich leicht nachweisen. Es kann beispielsweise zum Subjekt von believes in dem Passivsatz Bill is believed by Joan to be rich werden. Das wäre unmöglich, wenn Bill nicht Teil des Hauptsatzes wäre. Ableitungen Die Ableitung (Derivation) einer Oberflächenstruktur von der ihr zugrundeliegenden Begriffsstruktur umfaßt charakteristischerweise viele verschiedene Auswahlprozesse von lexikalischen Einheiten und die wiederholte Anwendung von syntaktischen Regeln (vjgl. Abb. 5.15). Zum Abschluß unserer kurzen Betrachtung der Syntax wollen wir einige Aspekte der Satzableitung etwas genauer untersuchen. Wir nehmen dabei die Einsetzung von lexikalischen Einheiten als gegeben an und konzentrieren uns auf die syntaktischen Regeln.

134

Sequentielle

Regelanwendung

Die Existenz syntaktischer Regeln wird postuliert, um die Unterschiede zwischen Begriffsstrukturen und Oberflächenstrukturen erklären zu können. Logisch wäre es durchaus möglich, daß alle Unterschiede zwischen einer gegebenen Begriffsstruktur und ihrer Oberflächenrealisierung durch eine einzige Regel eingeführt werden, aber in Wirklichkeit scheint das niemals der Fall zu sein. Stattdessen können wir ausnahmslos feststellen, daß die Ableitung einer Oberflächenstruktur das kumulative Ergebnis der Anwendung vieler einzelner unterscheidbarer Regeln ist. Jede dieser Regeln finden wir in der Ableitung vieler anderer Sätze wieder, und zu einem großen Teil sind die entsprechenden Regeln insoweit selbständig, als sie unabhängig von irgendwelchen anderen angewendet werden können. Wir müssen uns vorstellen, daß die Anwendung der syntaktischen Regeln sequentiell erfolgt (d.h. also, die Anwendung einer Regel folgt der nächsten, im Gegensatz zu simultaner, also gleichzeitiger Anwendung) — die Ausgabe (der "output") einer Regel stellt die Eingabe (den "input") fur die nächste Regel dar. (Die Regelanwendung erfolgt sequentiell in einem abstrakten, logischen Sinn, vergleichbar der Abfolge einzelner Beweisschritte in einem mathematischen Beweis; die Anwendung ist nicht sequentiell in einem zeitlichen Sinn, denn wir machen hier keine Aussagen über die sprachliche Performanz.) Wir wollen an der Ableitung der Nominalphrase die glückliche Frau den Vorgang veranschaulichen. Er ist in Abb. 5.24 schematisch dargestellt; runde Klammern bezeichnen einen eingebetteten Satz.

ZUGRUNDELIEGENDE STRUKTUR die Frau (die Frau ist glücklich) Relativisierung:

die Frau (die ist glücklich)

Relativreduktion:

die Frau (glücklich)

Adjektivumstellung:

die glücklich Frau

Adjektivkongruenz:

die glückliche Frau OBERFLÄCHENSTRUKTUR

Abb. 5. 24

135

Für das Adjektiv glücklich nehmen wir an, daß es von einem zugrundeliegenden Teilsatz abgeleitet ist (ein Satz wie Ich sehe die glückliche Frau beruht nämlich auf mindestens zwei Propositionen: daß der Sprecher die Frau sieht, und daß sie glücklich ist); stünde dieser zugrundeliegende Teilsatz allein als selbständiger Satz, hätte er die Form Die Frau ist glücklich. Die ersten Regeln, die auf diese zugrundeliegende Struktur angewendet werden, sind die, die auch in allen anderen Fällen Relativsätze ableiten, indem sie nämlich die Nominalphrase im Relativsatz, die der Nominalphrase im Hauptsatz entspricht, an die Spitze des Relativsatzes stellen und sie zu einem Relativpronomen reduzieren. In unserem Beispiel steht diese NP, die Frau, bereits an der Spitze des Relativsatzes; die Umstellung hat also keine sichtbare Wirkung. Die Reduktion der NP auf ein Relativpronomen ergibt die modifizierte Struktur die Frau, die ist glücklich. (Wendet man auf diese Struktur die Verbumstellung an, die das finite Verb an das Ende des Relativsatzes stellt, entsteht die grammatische Struktur die Frau, die glücklich ist.) Aber auf genau solche Strukturen wie die Frau, die ist glücklich kann fakultativ die „Relativreduktion" genannte Regel angewendet werden, die das Relativpronomen und das Verb sein tilgt; nach der Relativreduktion erhalten wir die Struktur die Frau glücklich, in der das Adjektiv dem Substantiv folgt. Solche Strukturen sind (bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. die archaische Wendung Röslein rot) nicht grammatisch; Adjektive, z.T. auch komplexe Substantivergänzungen, werden obligatorisch vor das näher zu bestimmende Substantiv gestellt, und zwar durch Anwendung einer Regel, die wir „Adjektivumstellung" nennen. Sie leitet die Struktur die glücklich Frau ab. Um die grammatische Oberflächenstruktur die glückliche Frau zu erhalten, muß eine (obligatorische) Adjektiv-Kongruenz-Regel das Adjektiv mit der entsprechenden Flexionsendung versehen. (Im Englischen gilt für die Adjektivumstellung die Bedingung, daß das Adjektiv einfach ist; die deutsche Struktur die über ihre Beförderung glückliche Frau hat also im Englischen keine direkte Entsprechung.) Zweierlei ist zu dieser Ableitung noch zu bemerken. Zum einen sind Relativisierung, Relativreduktion, Adjektivumstellung und Adjektivkongruenz grundsätzlich selbständige Prozesse, nicht nur Teilaspekte einer einzigen Regel. Relativisierung kann angewendet werden, ohne daß die anderen Regeln folgen müßten (das Ergebnis bildet die Eingabe für die Regel, die die Frau, die glücklich ist ableitet), und auch die Relativreduktion kann manchmal ohne anschließende Adjektivumstellung erfolgen. Das gilt z.B. für die englischen Strukturen wie the woman nervous about having children, aber ebenso für bestmimte deutsche und englische Wendungen, die in der (komplexen) Bestimmung zum Substantiv eine Präpo136

sition aufweisen, z.B. die Katze auf dem Dach, die Ruhe nach der Arbeit, the chair near the window, usw. Zweitens muß man sich die Anwendung der einzelnen Regeln eher als Abfolge, als Sequenz, vorstellen, denn als simultanen Prozeß: erst nach Anwendung der Relativisierung sind die Bedingungen für die Relativreduktion gegeben, nämlich das Vorliegen eines Relativpronomens plus einer Form von sein. Und erst nach Anwendung der Relativreduktion folgt ein einfaches Adjektiv direkt dem Substantiv, das es näher bestimmt; nur dann ist es möglich, daß Adjektivumstellung eintritt. Deshalb haben wir es mit getrennten grammatischen Prozessen zu tun, die jedoch in der Ableitung von Sätzen in ganz spezifischer Weise aufeinander bezogen sind. Geordnete

Regelanwendung

In der vorausgegangenen Diskussion ist die Vorstellung einer geordneten Regelanwendung bereits implizit enthalten. In vielen Fällen müssen die Regeln zur Ableitung einer Oberflächenstruktur in einer bestimmten Ordnung angewendet werden, entweder weil eine Regel erst die Strukturen schafft, auf denen die nächste Regel operiert, oder weil eine anders geordnete Anwendung falsche Resultate ergäbe. (Auch hier handelt es sich um eine abstrakt-logische Ordnung, wie wir sie in der Abfolge der einzelnen Schritte eines mathematischen Beweises finden, nicht um eine zeitliche Ordnung.) Betrachten Sie bitte noch einmal die in Abb. 5.24 dargestellte Ableitung. Die zwei als Relativisierung zusammengefaßten Regeln müssen vor der Relativreduktion angewendet werden, denn sie schaffen erst die Bedingung (Relativpronomen plus sein) fur das Operieren der Reduktionsregel. Ähnlich geht die Relativreduktion der Adjektivumstellung voraus, da die fur die Anwendung der letzteren Regel geforderte Struktur (Substantiv plus einfaches Adjektiv) erst durch das Operieren der ersteren entsteht. Die Ableitung des Satzes Es ist verständlich, daß Nichtschwimmer tiefes Wasser färchten ist ein weiteres Beispiel für geordnete Regelanwendung. Zwei Regeln, Extraposition und es-Einsetzung, leiten diesen Satz (vgl. Abb. 5.21) von der zugrundeliegenden Struktur ab, die sonst die Oberflächenrealisierung Daß Nichtschwimmer tiefes Wasser furchten, ist verständlich hätte (vgl. Abb. 5.9). Die Extrapositionsregel operiert zuerst; sie verschiebt den Subjektsatz an das Ende des Hauptsatzes. Dann erst kann die es-Einsetzung angewendet werden, da diese Regel es nur in solchen Sätzen einfügt, deren Subjektposition unbesetzt ist. 137

Bei diesen Beispielen ergibt sich die geordnete Abfolge der Regeln notwendig daraus, daß die eine Regel erst die Strukturen schafft, auf denen die nächste Regel operiert. Wir wollen uns jetzt einem Beispiel aus dem Englischen zuwenden, bei dem zwei Regeln deshalb in einer bestimmten Reihenfolge angewendet werden müssen, weil die umgekehrte Reihenfolge falsche Ergebnisse erbringen würde. Abb. 5.25 zeigt die Derivation des Satzes They are likely to lose. THEY und BE in Großbuchstaben bezeichnen das Pronomen und das Verb vor ihrer Flexion durch die betreffenden Regeln.

ZUGRUNDELIEGENDE STRUKTUR (THEY lose) BE likely for..

.

to-Einsetzung:

(for T H E Y to lose) BE likely

Subjektanhebung:

T H E Y BE likely (to lose)

Subjekt-Verb-Kongruenz:

T H E Y are likely (to lose)

Subjekt-Kasusmarkierung:

they are likely (to lose) OBERFLÄCHENSTRUKTUR

Abb. 5. 25

Die for. . . iö-Einsetzung wollen wir hier nicht näher erörtern; uns interessiert vielmehr die geordnete Abfolge von Subjektanhebung einerseits und den beiden Flexionsregeln andererseits. Wenn Subjektanhebung zuerst eintritt, wie in Abb. 5.25 dargestellt, ergeben sich keine Probleme. BE kongruiert mit dem neuen Subjekt THEY und wird infolgedessen korrekt als Pluralform are realisiert (und nicht als Singularform is). Schließlich erhält THEY die Flexionsform they (nicht die Form them)\ denn for, das die Flexionsform them erfordern würde, ist bei Anwendung der Kasusmarkierungsregel bereits getilgt. In beiden Fällen wäre das Ergebnis jedoch inkorrekt, wenn die beiden Flexionsregeln vor der Subjektanhebung angewendet würden. In der vor der Subjektanhebung vorliegenden Struktur, for THEY to lose BE likely ist der Teilsatz for THEY to lose Subjekt von BE, und THEY folgt for, so daß zu erwarten wäre, daß BE die Singularform is erhält und THEY in der flektierten Form them erscheint (wie in dem — grammatischen — Satz For them to lose is likely); wollte man jetzt jedoch noch die Subjektanhebung anwenden, so erhielte man den ungrammatischen Satz Them is likely to lose. 138

Abstrakte

Strukturen

Der vielleicht wichtigste Punkt in unserer Diskussion syntaktischer Erscheinungen war die Behauptung, daß Oberflächenstrukturen in Beziehung zu abstrakteren, zugrundeliegenden Strukturen gesehen werden müssen und daß verschiedene Regeln zwischen beiden Ebenen vermitteln, so daß Oberflächenstrukturen nur indirekt die zugrundeliegenden Strukturen abbilden. Da Oberflächenstrukturen und semantische Strukturen mit Sicherheit nicht gleichzusetzen sind, besteht grundsätzlich Einigkeit darüber, daß irgendwie geartete zugrundeliegende Begriffsstrukturen angenommen werden müssen. Die Rechtfertigung für das Postulat der modifizierten Strukturen zwischen Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur (vgl. Abb. 5.15) mag jedoch nicht ganz so unmittelbar einsichtig sein. Zwei verschiedene Argumente können zur Stützung der Hypothese von der Existenz solcher Zwischenstrukturen vorgebracht werden, von denen wir eines schon besprochen haben. Wir haben gesehen, daß zahlreiche selbständige Regeln an der Ableitung eines bestimmten Satzes beteiligt sind. Außerdem müssen einige dieser Regeln vor anderen angewendet werden. Diese Tatsachen weisen deutlich auf die Existenz von solchen Strukturen hin, die das Ergebnis einer Regelanwendung sind und die Grundlage für das Operieren einer zweiten Regel bilden; mit anderen Worten, sie implizieren die Existenz von Zwischenstrukturen. Das zweite Argument für zwischen Begriffsstruktur und Oberflächenstruktur liegende Strukturen ist darin zu sehen, daß sie es ermöglichen, scheinbare Unregelmäßigkeiten zugunsten von allgemeinen Regeln aufzulösen. Wir wollen dazu ein Beispiel aus der englischen Sprache betrachten, nämlich das Auftreten des Reflexivpronomens yourself in dem Imperativsatz Imagine yourself to be rich. Die allgemeine Regel für das Auftreten von (nicht-emphatischen) Reflexiven lautet wie folgt: wenn zwei referenzidentische Nominalphrasen in demselben Teilsatz auftauchen, wird die zweite als Reflexivpronomen realisiert. So wird Joan admires Joan auf Joan admires herself reduziert, wenn man davon ausgeht, daß beide Vorkommen von Joan ein und dieselbe Person bezeichnen. Joan imagined that someone bit Joan kann dagegen nicht als Joan imagined that someone bit herself realisiert werden, da Joan jeweils in einem anderen Teilsatz vorkommt. (Durch einfache Pronominalisierung würde in diesem Fall der Satz Joan imagined that someone bit her abgeleitet.) Von diesen Beobachtungen ausgehend erscheint das Auftreten von 139

yourself in Imagine.yourself to be rich überraschend. In der Oberflächenstruktur des Satzes findet sich nur eine Nominalphrase (yourself), und da fur das Eintreten der Reflexivisierung zwei referenzidentische Nominalphrasen gefordert werden, läßt sich das Vorkommen des Reflexivums auf der Grundlage der Oberflächenstruktur allein nicht erklären. Auch der Rückgriff auf die Begriffsstruktur liefert keine Erklärung; konzeptuell gesehen ist you Subjekt von imagine; Objekt von imagine ist jedoch nicht you, sondern die Proposition you be rich (an der Oberfläche deutlicher sichtbar in dem Satz Imagine that you are rich). Also enthält weder die Oberflächenstruktur noch die Begriffsstruktur von Imagine yourself to be rich zwei referenzidentische Nominalphrasen in demselben Teilsatz; das Auftreten des Reflexivpronomens scheint also unregelmäßig zu sein. Die Schwierigkeit verschwindet jedoch, wenn wir uns die schrittweise Ableitung dieses Satzes über die entsprechenden Zwischenstadien vor Augen halten. Abb. 5.26 stellt diese Ableitung dar. Alle in ihr vorkommenden Regeln sind bereits anhand anderer Sätze gerechtfertigt worden. Die in unserem Zusammenhang wichtige Regel ist die Subjektanhebung, die den Teilsatz als Objekt von imagine durch you ersetzt. Das Ergebnis der Subjektanhebung ist die Zwischenstruktur you imagine you to be rich, in der you zweimal im gleichen Teilsatz vorkommt. In dieser Zwischenstruktur, und nur in ihr, sind die Bedingungen für Reflexivisierung erfüllt, und das neue Objekt von imagine erhält die Reflexivform yourself. Das Subjekt you wird später in der Ableitung getilgt, wie es bei englischen Imperativsätzen geschehen kann. Das Auftreten won yourself im Beispielsatz ist also keineswegs eine Unregelmäßigkeit. Es folgt aus der allgemeinen Reflexivisierungsregel — die Existenz von Zwischenstrukturen in einer Ableitung vorausgesetzt.

ZUGRUNDELIEGENDE STRUKTUR you imagine (you be rich) for.

. . fo-Einsetzung

you imagine (for y o u to be rich)

Subjektanhebung:

you imagine you (to be rich)

Reflexivisierung:

you imagine yourself (to be rich)

yot/-Tilgung

imagine yourself (to be rich) OBERFLÄCHENSTRUKTUR

Abb. 5. 26 140

Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Zerlegen Sie folgende komplexe Sätze in ihre (Oberflächen-) Teilsätze: Hartwig sagt, daß seine Mutter Frauen haßt, die sich nichts aus Schlagsahne machen. Lehrer, die glauben, daß Feingefühl schlecht und Aggressivität gut ist, sind schlecht, aber Pädagogen, die glauben, daß Nachsicht gut und Bestrafung schlecht ist, sind gut. Es ist klar, daß Frauen, die Geld verdienen müssen, ziemliche Schwierigkeiten haben, wenn nicht dafür gesorgt ist, daß für ihre Kinder Plätze im Kindergarten zur Verfägung stehen. Daß Jugendliche, die keine Arbeitsstelle haben, immer öfter beim Alkohol Trost suchen, macht deutlich, daß es notwendig ist, daß sich alle zuständigen Stellen gemeinsam dafür einsetzen, daß dafür gesorgt wird, daß genügend Arbeitsplätze geschaffen werden Daß der Mann, der der Frau, die ihr Geld verloren hatte, einen Hundertmarkschein schenkte, den er sich selbst borgen mußte, ein Millionär sein soll, erscheint mir ziemlich unwahrscheinlich. Geben Sie jeweils an, ob der isolierte Teilsatz ein Konjunkt, ein Hauptsatz, ein Subjekt- oder Objektsatz, ein Relativsatz oder ein eingebetteter Satz anderen Typs ist! 2. Finden Sie möglichst viele verschiedene Interpretationen für die mehrdeutigen Sätze auf S. 121! Geben Sie zusätzliche Beispiele für jede Art von Mehrdeutigkeit, die in diesen Sätzen vorliegt! Gibt es noch andere Arten? Überlegen Sie, wie die Mehrdeutigkeit im jeweiligen Kontext aufgelöst wird! 3. Im Text wurde die Subjektanhebung an den englischen Beispielen John is likely to win und Joan believes Bill to be rich gezeigt. Auch in der Ableitung deutscher Sätze operiert die Subjektanhebungsregel, die z.B. den Oberflächensatz Manfred sieht den Kaminfeger kommen von der zugrundeliegenden Struktur Manfred seh- (der Kaminfeger komm-) ableitet, indem sie die Subjekt-NP des eingebetteten Satzes, der Kaminfeger, in die Objektposition des Hauptsatzes hebt, wo sie auch als Objekt gekennzeichnet wird: Manfred sieht den Kaminfeger. Das Verb im Restteil des eingebetteten Satzes wird als Infinitiv markiert. Wie im Englischen ist auch im Deutschen Subjektanhebung vom Verb des Hauptsatzes abhängig. Überlegen Sie, bei welchen Verben Subjektanhebung möglich ist! Welche Oberflächenrealisierungen erhalten Sätze mit Verben, die Subjektanhebung nicht zulassen? Gibt es im Deutschen auch Subjektanhebung bei Subjektsätzen? Auch die an einem englischen Beispiel dargestellte Subjekttilgung, die unter bestimmten Bedingungen die Subjekt-NP im Subjekt- oder Objektsatz tilgt, so daß z.B. aus der zugrundeliegenden Struktur John prefers (for John to stay here) der Oberflächensatz John prefers to stay here abgeleitet wird, hat eine Entsprechung im Deutschen. Subjekttilgung ist z.B. bei der Ableitung des Satzes Werner glaubt zu träumen von der zugrundeliegenden Struktur Werner glaub- (Werner träum-) beteiligt. Obligatorisch auf Subjekttilgung muß zu -Einsetzung und Verbendstellung erfolgen. Es entstehen so Sätze wie Jakob beabsichtigt, das Examen erst im Win-

141

ter zu machen. Uberlegen Sie, ob auch Subjekttilgung vom Verb des Hauptsatzes abhängig ist! 4. Bei den folgenden drei Beispielsätzen ist jeweils die zugrundeliegende Struktur angedeutet; außerdem sind die Regeln aufgezählt, die die Oberflächenstruktur des entsprechenden Satzes ableiten. Zeigen Sie die schrittweise Derivation dieser Sätze anhand eines Schaubildes, das den Abbildungen 5.24, 5.25 und 5.26 analog aufgebaut ist! Siegfried glaubt, daß Hartmut einen Floh husten hört. Zugrundeliegende Struktur: Siegfried glaub- (Hartmut hör-(ein Floh hust-)) Regeln: Subjektanhebung, cfajS-Einsetzung, Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbendstellung. Gemälde, die von Kennern bewundert werden, werden von Kunstbanausen belächelt. Zugrundeliegende Struktur: Kunstbanausen belächel- Gemälde (Kenner bewunder- Gemälde) Regeln: Passivisierung, Relativisierung, Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbendstellung. Der reiche Onkel befiehlt Donald, den arroganten Verwandten zu unterstützen. Zugrundeliegende Struktur: Der Onkel (der Onkel sein reich) befehl- Donald {Donald unterstütz- den Verwandten (der Verwandte sein arrogant)) Regeln: Relativisierung, Relativreduktion, Adjektivumstellung, Adjektivkongruenz, Subjekttilgung, zu-Einsetzung, Subjekt-Verb-Kongruenz, Verbendstellung. 5. Geben Sie für die folgenden drei Sätze die zugrundeliegenden Strukturen an und zeigen Sie die schrittweise Ableitung der Oberflächenstrukturen durch die entsprechenden Regeln, wie Sie es in Frage 4 getan haben! Wir kennen einen Mann, der behauptet, sich mit einem Buschmesser zu rasieren. Es ist verwerflich, daß Frau M. versucht hatte zu erreichen, daß ihre Nachbarin von der Polizei überwacht wurde. Daß es bedauerlich ist, daß Sebastian, der oft von dem Lehrer gelobt wird, dem Hausmeister vorwirft, die Hausordnung nicht zu kennen, ist auch meine Meinung. 6. Die folgenden sieben Sätze stammen aus dem Samoanischen (in samoanischer Orthographie). Geben Sie den semantischen Wert der einzelnen lexikalischen Einheiten an! Legen Sie die Prinzipien dar, die die Wortstellung in diesen Sätzen bestimmen!

Ε sogi e le tama le ufi i le to'i. 'Der Junge hackt die Pflanzenknolle mit der Axt ab.' Sa sogi e le teine le ufi.

'Das Mädchen hackte die Pflanzenknolle ab.'

Sa fa'apa'ü e Ioane le to'i.

'John ließ die Axt herunterfallen.'

Ε fa'apa'ü

142

e le teine le peni. 'Das Mädchen läßt den Kugelschreiber herunterfallen."

Sa pa'ü le ufi.

' Die Pflanzenknolle fiel herunter.·

Ε pa'ü le to'i.

'Die Axt fällt herunter.'

Sa sogi e Ioane le ufi i le peni. 'John hackte die Pflanzenknolle mit dem Kugelschreiber ab.' 7. Das folgende Material stammt aus dem Luiseno. Jedes der Wörter besteht aus zwei Morphemen; isolieren Sie die Morpheme und geben Sie jeweils ihre Bedeutung an! Die Beispiele zeigen die Kongruenz von Substantiv und Adjektiv; beschreiben Sie diese Kongruenz! [13] steht für einen velaren Nasal; [y] entspricht in etwa [j] (siehe auch Kap. 6). kiik xwaayanik

'zu (dem) weiß(en) Haus'

tooqay yawaywiqay

'von (dem) hiibsch(en) Felsen'

tootal xwaayantal

'mit (dem) weiß(en) Felsen'

kiqa yawaywiqa

'in (dem) hübsch(en) Haus'

kiqay yawaywiqay

'von (dem) hübsch(en) Haus'

tooik xwaayanik

'zu (dem) weiß(en) Felsen'

tooqa xwaayanqa

'in (dem) weiß(en) Felsen'

8. In der traditionellen Grammatik gibt es eine grundlegende Unterscheidung zwischen „notwendigen" und „nicht-notwendigen" Relativsätzen (engl, "restrictive" und "non-restrictive"). Die moderne linguistische Analyse hat die Richtigkeit dieser Unterscheidung bestätigt. Notwendige Relativsätze sind, wie der Name andeutet, notwendige nähere Bestimmungen eines Substantivs: durch den notwendigen Relativsatz wird die durch das Substantiv bezeichnete Klasse von Individuen oder Objekten in bestimmter Weise „eingeschränkt" (daher der englische Terminus "restrictive"). Nicht-notwendige Relativsätze charakterisieren die vom Substantiv bezeichnete Klasse von Individuen oder Objekten inhaltlich näher; sie enthalten ζ. T. schon bekannte, entbehrliche Information. (Im Englischen werden nicht-notwendige Relativsätze durch Kommas abgetrennt, während notwendige Relativsätze ohne besondere Interpunktion stehen. Im Deutschen werden sowohl notwendige als auch nicht-notwendige Relativsätze durch Kommas abgetrennt.) Bei den folgenden Beispielsätzen enthält jeweils der erste einen notwendigen Relativsatz: Englisch: The Goths who are quarrelsome The Goths, who are quarrelsome,

want another

war.

want another war.

Deutsch: Alle Berge, die in den Alpen liegen, sind unter 5000 m hoch. Der Mount Everest, der 8848 m hoch ist, liegt im Himalaja. Führen Sie möglichst viele Unterschiede - syntaktischer, semantischer und phonologischer Natur - zwischen den beiden Typen von Relativsätzen an! 9. Im letzten Abschnitt von Kap. 5 wurde durch die Darstellung der Reflexivisierung ein starkes Argument für die Annahme von Zwischenstrukturen in einer

143

Ableitung gegeben. Ähnliche Argumente lassen sich auch finden, um die Annahme von bestimmten zugrundeliegenden Strukturen und syntaktischen Regeln zu rechtfertigen. Felix verspricht, das Auto zu waschen leiten wir von einer zugrundeliegenden Struktur ab, in der Felix sowohl Subjekt des Hauptsatzes als auch des untergeordneten Satzes ist: Felix versprech- (Felix wasch- das Auto). Die Subjekttilgung, die auf dieser Struktur operiert, tilgt das Subjekt des Nebensatzes, wenn es mit dem Hauptsatz-Subjekt referenzidentisch ist. Zeigen Sie anhand einer Ableitung, an der Reflexivisierung beteiligt ist, daß diese Analyse gerechtfertigt ist! (Hinweis: Beachten Sie die unterschiedliche zugrundeliegende Struktur von Oberflächensätzen wie Felix verspricht, sich zu waschen und Felix verspricht, ihn zu waschen.) Auch die Subjektanhebungsregel läßt sich durch die Reflexivisierung rechtfertigen. Peter hörte den Vater reden wird von einer zugrundeliegenden Struktur abgeleitet, in der der Vater als Subjekt des eingebetteten Satzes fungiert: Peter hör- (der Vater red ). In der Oberflächenstruktur aber fungiert der Vater als Objekt des Hauptsatzes; an diese Stelle ist die NP durch Subjektanhebung gelangt. Zeigen Sie unter Zuhilfenahme der Reflexivisierung, daß diese Behauptung richtig ist! (Diesmal kein Hinweis!) 10. Stellen Sie fest, ob die Regeln, die an der Ableitung der Sätze in Frage 9 beteiligt sind, in einer bestimmten Ordnung operieren müssen! 11. Leider gibt es im Moment kein einführendes Werk über moderne Syntax, das man ohne jeden Vorbehalt auch Anfängern empfehlen könnte; folgende Werke stellen jedoch eine wertvolle Hilfe dar: Palmer, Grammatik und Grammatiktheorie; Langendoen, The Study of Syntax; Bach, An Introduction to Transformational Grammars (in einer Neufassung erschienen unter dem Titel Syntactic Theory)·, Jacobs/Rosenbaum, Transformationelle Grammatik der englischen Sprache; Chomsky, Strukturen der Syntax; Grinder/Elgin, Guide to Transformational Grammar. Weitere Titel finden Sie in der Auswahlbibliographie am Ende des Buches.

144

6. Phonologische Systeme

Artikulatorische Phonetik Die Sprachlaute können unter verschiedenen Aspekten untersucht werden. Man kann die physikalischen Eigenschaften der Sprachlaute, wie sie durch die Luft übertragen werden, erforschen, indem man die Menge der im akustischen Signal vorhandenen Energie und deren Verteilung auf das Frequenzspektrum mißt; man kann untersuchen, wie diese Meßwerte sich im Verlauf einer Äußerung ändern usw. Ein anderer Ansatz geht davon aus, wie wir Sprachlaute aufnehmen, wobei Fragen etwa der folgenden Art gestellt werden: Wie groß muß der physikalische Unterschied zwischen zwei Lauten sein, damit jemand sie auseinanderhalten kann? Auf welche akustischen Merkmale von Sprachlauten verläßt sich der Hörer am meisten bei der Lautaufnahme? Welche physikalischen Eigenschaften werden vom Hörer überhaupt vernachlässigt? Die dritte Art, Sprachlaute zu untersuchen, beruht darauf, daß man fragt, wie die Laute mit den Sprechorganen gebildet oder artikuliert werden. Dieser Ansatz ist der älteste — er geht mindestens auf die alten Inder zurück —, und er ist auch der üblichste. Auch wir gehen nach diesem Ansatz vor.

Die Sprechorgane Die menschlichen Stimmorgane haben alle auch noch elementarere Funktionen (wie Essen und Saugen), denen die artikulatorischen Funktionen übergelagert sind. Unsere Stimmorgane sind also nicht grundlegend verschieden von denen anderer Primaten. Die Tatsache, daß wir in einer hochgradig systematischen und koordinierten Weise Laute bilden, was die anderen Primaten nicht tun, muß deshalb der Besonderheit unseres Nervensystems und nicht etwa gröberen anatomischen Unterschieden zugeschrieben werden. Das heißt nicht, daß die Äußerungen der anderen Primaten genauso klingen wurden, wenn sie ein entsprechendes Ner-

145

vensystem hätten; Unterschiede im Aufbau und den relativen Dimensionen des Sprechtrakts würden auch zu einer von der unseren unterschiedenen Lautbildung führen. Wenn Luft aus der Lunge gepreßt wird, geht sie durch die Luftröhre und entweicht durch den Mund, die Nase oder beide. Die ausströmende Luft kann auf verschiedene Arten kanalisiert und damit zur Lautproduktion nutzbar gemacht werden. Der Weg, den der Luftstrom nimmt, ist in Abb. 6.1 skizziert. Dieser Weg ist eine Art Hindernisbahn, auf der Hindernisse aufgestellt oder entfernt werden können. Wenn wir normal ausatmen, lassen wir die Luft frei ausströmen. Sprachlaute werden gebildet, wenn verschiedene Hindernisse dem Luftstrom entgegenstehen. Das erste potentielle Hindernis für die ausströmende Luft sind die Stimmbänder, zwei elastische Bänder, die etwas unterhalb des oberen Endes der Luftröhre im Kehlkopf liegen. Diese Bänder können verschie-

Abb. 6.1

146

dene Stellungen einnehmen. In entspannter Stellung stehen sie auseinander und lassen die Luft ungehindert ausströmen. Wenn sie straff angespannt sind, treten sie aneinander und schließen die Luftröhre ab, so daß keine Luft hindurchströmen kann. In einer dritten Stellung sind sie nahe zusammengetreten, aber nur so dicht, daß Luft hindurchgepreßt werden kann, was sie in schnelle Schwingungen versetzt. Diese Schwingungen der Stimmbänder, S t i m m g e b u n g genannt, ist die Quelle der Vokale, die gebildet werden, wenn sonst keine Hindernisse der ausströmenden Luft im Wege stehen. Wir wollen zuerst die Artikulation der Vokale und dann die der Konsonanten untersuchen.

Artikulation der Vokale Der Laut, der durch die Schwingungen der Stimmbänder erzeugt wird, wird in jedem Fall durch die Einstellung des restlichen Stimmtrakts verändert. Zum einen absorbieren die Gewebe des Stimmtrakts einen Teil des ursprünglichen Lautes. Wichtiger ist jedoch, daß eine Veränderung der Form des Stimmtrakts die Resonanzeigenschaften verändert. Sind die Lippen und die Zunge in einer bestimmten Stellung, so wird die Höhle, durch die die schwingende Luft strömt, die Lautkomponenten in bestimmten Frequenzen verstärken oder hervorheben. Sind Lippen und Zunge in einer anderen Stellung, wird sich die Energie in anderen Frequenzen konzentrieren. (Ähnlich verstärkt eine Orgelpfeife einen Ton in der Frequenzlage, die durch ihre Länge und andere Charakteristika bestimmt ist.) Die entstehenden Unterschiede in der Verteilung der Energie über das Frequenzspektrum nehmen wir als Unterschiede in der Vokalqualität wahr. Die Vokale [i] und [a] zum Beispiel klingen deshalb verschieden, weil die Zunge bei ihrer Bildung in verschiedenen Lagen ist, so daß sich Energie in verschiedenen Frequenzen konzentriert. Nach den Stimmbändern sind die wichtigsten Organe für die Artikulation von Vokalen die Zunge, die Lippen und das Velum (der fleischige hintere Teil der Munddecke). Die Zunge kann verschiedene Lagen einnehmen und ist von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung der Vokalqualität. Die Lippen können in verschiedenem Grad gerundet und vorgeschoben sein oder sie können ungerundet sein. Das Velum kann geschlossen sein wie in Abb. 6.2, so daß die Nasenhöhle abgeschlossen wird und die Luft nur durch den Mund ausströmt; oder es kann nach unten bewegt werden wie in Abb. 6.1, so daß Luft in die obere Kammer eintreten kann. Für den Augeblick wollen wir einmal von den Lippen und dem Velum ab147

[a]

Μ

[u]

Abb. 6.2

sehen, wobei wir annehmen, daß letzteres geschlossen ist. Wir können uns damit auf die Auswirkung von Veränderungen der Zungenposition konzen trieren. Man pflegt die Zungenposition in zwei Dimensionen anzugeben: hoch/ tief und vorne/hinten. Die Zunge kann tief im Mund gehalten werden oder an einer bestimmten Stelle nach oben gebracht werden, zur Munddecke, auch Palatum genannt, hin. Entsprechend wird ein Vokal als h o c h oder tief bezeichnet. Der Laut [a:] wie in Tag ist ein tiefer Vokal, [i:] und [u:] wie in Lied und Hut sind Hochzungenvokale. Die ungefähre Lage der Zunge bei der Artikulation dieser drei Vokale ist in Abb. 6.2 dargestellt. Anders als bei [a: ] werden die Laute [i:] und [u:] artikuliert, indem die Zunge etwas angehoben wird und so den Stimmtrakt verengt, allerdings ohne daß es dabei zu einer nennenswerten Wirbelbildung im Luftstrom kommt, [i:] und [u:] haben also einen Zug gemeinsam, der sie von [a:] unterscheidet. [i:] und [u:] sind natürlich nicht identisch. Sie unterscheiden sich in der Stelle der Verengung des Stimmtrakts. Bei [i:] wird die Verengung dadurch gebildet, daß der Vorderteil der Zunge zum Zahndamm, zu den Alveolen hin bewegt wird. Dagegen wird für das [u:] der hintere Teil der Zunge gehoben und zum hinteren Teil des Palatums hin bewegt, [i: ] ist also ein Vorderzungenvokal, während [u:] ein Hinterzungenvokal ist. Die Bildungsweise vorne unterscheidet [i:] von [a:] und [u:], die in der Mitte bzw. hinten gebildet werden. 148

[a:], [i:] und [u:] sind die Extreme der Vokalartikulation. Kein Vokal wird mit einer Zungenposition weiter vorne gebildet als [i: ] oder weiter hinten als [u:], weiter oben als [i:] und [u:] oder weiter unten als [a:]. Zwischen diesen Extrempositionen gibt es natürlich noch viele Möglichkeiten der Vokalartikulation. Laute können sich der Höhe nach zwischen hohen und tiefen Vokalen bewegen, sie können auch in der Dimension vorne/hinten eine Mittellage einnehmen. Die Position der Zunge bei der Artikulation verschiedener Vokale ist in Abb. 6.3 angegeben. Der Ort eines Vokals im Hinblick auf die zwei Dimensionen vorne/hinten, hoch/ tief ist mit seinem phonetischen Symbol angegeben. Beide Dimensionen sind in jeweils drei Bereiche eingeteilt, Vorne/Mitte/Hinten und Hoch/ Mittel/Tief. Diese Einteilung findet man häufig, in Wirklichkeit aber sind die Übergänge natürlich fließend, so daß die Einteilung in Bereiche nur der Vereinfachung der Darstellung dient. (Zweierlei ist noch zu bemerken: Für die deutschen Vorderzungenvokale muß noch die Differenzierung nach der Lippenstellung gemacht werden: gerundet-ungerundet. Weiterhin sind kurze ([u]) und lange ([u:]) Vokale zu unterscheiden. Die langen Vokale werden jeweils mit etwas höherer Zungenstellung gebildet als die entsprechenden kurzen.) Für spätere Beispiele wird hier auch eine entsprechende Tabelle für das Englische gegeben; bei den englischen Beispielen wird die Lautschrift dieser Tabelle verwendet. Damit ist die Interpretation von Abb. 6.3 ziemlich klar. Man kann in einer Folge die Vokale [i:], [e:] und [as:] bilden, indem man nach und nach die Zunge (und den Unterkiefer) senkt. Entsprechend kann [u: ]

VORNE

MITTE

HINTEN HINTEN

MITTE

cooed [i could [υ] code [o] roses cawed [o] [A]

but

cod [a]

Abb. 6.3

149

Schritt für Schritt zum [o:] und schließlich zum [a:] verändert werden. Die Zungenhöhe ist jeweils für [i:], [ü:] und [u:], [e:], [ö:] und [o:], sowie für [ae:] und [a:] etwa gleich. Zur Identifizierung eines Vokals geben wir seine Stellung in den beiden Dimensionen an. So ist [e] ein vorderer Mittelzungenvokal, [a] ein mittlerer Tiefzungenvokal und [a] ein mittlerer Mittelzungenvokal. Benötigen wir eine größere Präzision, so können wir die Dimensionen in kleinere Bänder aufteilen und so eine feinere Einstellung erreichen. Die Position der Zunge bestimmt die Grundqualität eines Vokals. Der genaue phonetische Charakter hängt jedoch von den Lippen und vom Velum ab. Diese addieren noch zwei weitere Dimensionen zu jeder einigermaßen adäquaten Vokalbeschreibung. Sprechen wir einmal [i:] und [u:] aus. Im Hinblick auf die Form der Lippen sind sie völlig verschieden. Beim [i:] sind die Mundwinkel zurückgezogen wie beim Lächeln, beim [u:] dagegen sind sie gerundet und vorgestülpt. [u:] ist also ein g e r u n d e t e r Vokal, [i:] ein u n g e r u n d e t e r . Die hinteren Vokale in Abb. 6.3 sind — bis auf das amerikanische [a] — alle gerundet, bei den Vorderzungenvokalen gibt es im Deutschen, anders als im Englischen (bzw. Amerikanischen), eine ungerundete und eine gerundete Reihe. In vielen Sprachen sind diejenigen Vokale gerundet, die hinten mit mittlerer oder hoher Zungenstellung gebildet werden, und alle anderen ungerundet. Grundsätzlich sind die Eigenschaften gerundet/ungerundet aber von den Dimensionen Vorne/Hinten unabhängig. So könnte man z.B. auch einen Vokal wie [u:],aber ungerundet aussprechen. Solche Laute kommen im Deutschen nicht vor, wohl aber in anderen Sprachen. Alle bisher angeführten Vokale können auch mit tiefer gesetztem Velum ausgesprochen werden, so daß Luft durch die Nasenhöhle strömen kann. So gebildete Vokale nennt man Ν asalvokale, im Gegensatz zu den mit geschlossenem Velum gebildeten O r a l v o k a l e n . Nasalvokale sind sehr häufig, obwohl sie im Deutschen und Englischen zufällig nicht auftreten. Ein bekanntes Beispiel für eine Sprache mit Nasalvokalen ist das Französische. Im allgemeinen sind tiefe Vokale eher nasal als hohe, aber auch das ist nur eine Tendenz. Die Dimension nasal/oral ist von den anderen drei Dimensionen unabhängig. Man kann also einen Sprachlaut als ein Bündel von artikulatorischen Eigenschaften verstehen, [i: ] ζ. B. läßt sich als langer, ungerundeter, hoher, oraler Vorderzungenvokal beschreiben. Dabei gehen sechs Termini in die Beschreibung ein. Der Terminus V o k a l zeigt an, daß die Stimmbänder bei der Bildung des Lautes schwingen, und daß sonst keine größeren Hindernisse im Stimmtrakt sind. Die anderen fiinf Termini ordnen diesen 150

Laut nach der eben beschriebenen Vokalklassifikation ein; jeder Terminus dient der Einordnung entlang einer Dimension. Ein anderes Beispiel wäre das französische Wort un, das phonetisch als gerundeter, mittlerer, nasaler Vorderzungenvokal realisiert wird. Phonetische Symbole wie [i: ] können als brauchbare Notationen für ganze Bündel von artikulatorischen Eigenschaften gelten.

Artikulation der Konsonanten Konsonanten kann man auf vielerlei Weise bilden, und die damit verbundenen Mechanismen sind manchmal recht kompliziert. Da dieses Buch keine Abhandlung über Phonetik ist, werden wir uns auf eine kleine Auswahl beschränken. Die wohl wichtigsten Konsonanten sind die Verschlußlaute. Diese Laute werden gebildet, indem man den Luftstrom völlig abschließt, so daß sich hinter dem Verschluß ein Druck bildet, und man dann die Luft auf einen Stoß entweichen läßt. [p] etwa wird gebildet, indem die Lippen verschlossen werden, so daß der Luftstrom aufgehalten wird, und dann die Lippen plötzlich geöffnet werden, damit die eingeschlossene Luft entweichen kann. Dieser Laut kommt vor dem Vokal [a] in dem Wort Papa vor. Die Luft kann durch die Lippen, die Stimmbänder oder die Zunge zurückgehalten werden. Einen mit den beiden Lippen gebildeten Verschlußlaut nennt man bilabial. Einen durch die Stimmbänder gebildeten nennt man Glottisverschluß. Mit der Zunge kann natürlich an verschiedenen Stellen der Mundhöhle ein Verschluß gebildet werden. Dabei bestimmt die Stelle, wo der Verschluß gebildet wird, den Teil der Zunge, der verschließt. Die Zungenspitze etwa kann leicht einen Verschluß an den oberen Zähnen bilden, aber kaum am Velum. Mit der Zunge artikulierte Verschlußlaute sind dental, alveolar, palatal oder velar, je nachdem, ob der Verschluß an den oberen Zähnen, an den Alveolen, am harten oder am weichen Gaumen gemacht wird, [p] ist also ein bilabialer Verschlußlaut, [t] wie in Tasse ein alveolarer Verschlußlaut und [k] wie in Kasse ein velarer Verschlußlaut. Ein Verschlußlaut, der durch einen Verschluß an einer bestimmten Stelle gebildet wird, kann viele verschiedene spezifische phonetische Formen annehmen. Wie bei den Vokalen gibt es eine Reihe von sekundären Dimensionen, in denen ein Verschlußkonsonant variieren kann. Wir wollen nur einige davon betrachten und auch die ziemlich kurz. Diese Ver151

änderungen sind am wichtigsten für die Verschlußlaute, treten aber auch bei anderen Lauten auf. Wenn die Stimmbänder bei der Artikulation eines Konsonanten zu schwingen aufhören, nennt man den Konsonanten s t i m m l o s . Schwingen sie weiter, so ist der Konsonant s t i m m h a f t , [p t k] sind im Deutschen stimmlose Verschlußlaute. Alle drei besitzen ein stimmhaftes Gegenstück: [b] wie in Buch, [d] wie in Dach und [g] wie in Gans sind stimmhafte Verschlußlaute (bilabial bzw. alveolar bzw. velar). Stimmlose Verschlußlaute werden im Deutschen (wie im Englischen) normalerweise so gebildet, daß ein Lufthauch ausgestoßen wird, wenn sich der Verschluß öffnet. Hält man die Hand vor den Mund, wenn man pa artikuliert, so kann man leicht den ausgestoßenen Lufthauch beim [p] spüren. Verschlußlaute können auch ohne Behauchung gebildet werden, was sogar ziemlich häufig ist, so etwa zumeist im Französischen und Spanischen. Verschlußlaute mit Hauch nennt man behaucht oder aspiriert, solche ohne Hauch unbehaucht oder u n a s p i r i e r t . Das [p] in Papa kann also genauer bestimmt werden als aspirierter bilabialer Verschlußlaut. Das französische [d] wie in dans ,in' ist ein unaspirierter stimmhafter dentaler Verschlußlaut. Einige andere Varianten von Verschlußlautartikulationen sollten wir erwähnen, die zwar in den europäischen Sprachen seltener vorkommen, aber in vielen anderen Sprachen der Welt verwendet werden. Ein Verschlußlaut, der mit zusätzlicher Lippenrundung gebildet wird, ist labialisiert. (Dies ist dasselbe Merkmal, das gerundete Vokale charakterisiert.) Im Englischen kommen labialisierte alveolare und velare Verschlußlaute in einigen speziellen Umgebungen vor. [t d k g] werden labialisiert, wenn sie dem bilabialen [w] (dem Anfangslaut von wig) vorausgehen; die Lippen antizipieren dabei die für die Bildung des [w] notwendige Stellung. Beispiele sind twig, Edward, liquid und iguana. Laute können auch durch eine Veränderung der Größe der Rachenhöhle oder P h a r y n x modifiziert werden. Indem man die Zungenwurzel nach hinten bewegt, kann man die Rachenhöhle stark verkleinern. Auf diese Weise gebildete Laute nennt man p h a r y n g a l i s i e r t . Das Arabische ist eine Sprache mit pharyngalisierten Konsonanten. G l o t t a l i s i e r t e Konsonanten werden gebildet durch die gleichzeitige Wirkung des Kehlkopfes und eines weiteren Artikulators. Der Kehlkopf kann bei geschlossenen Stimmbändern gehoben werden, so daß im oberen Stimmtrakt ein größerer Luftdruck entsteht. Die eingeschlossene Luft entweicht, wenn die Artikulation des Konsonanten ausgelöst wird. Viele amerikanische Indianersprachen besitzen glottalisierte Konsonanten. 152

Bei der Bildung von Verschlußlauten bewirken Lippen, Zunge oder Stimmbänder einen Verschluß für den Luftstrom im Stimmtrakt, und dieser Verschluß wird anschließend gelöst. Eine andere Art, Konsonanten zu artikulieren,beruht darauf, daß man den Luftstrom behindert, aber nicht völlig blockiert. Man erreicht dies, indem man einen Artikulator in die Nähe der zum Verschluß notwendigen Position bringt, aber noch eine kleine Öffnung läßt, durch die der Luftstrom hindurch kann. Die Verengung des Stimmtrakts bewirkt einen Wirbel in dem durch die Engstellung entweichenden Luftstrom; diesen Wirbel nehmen wir als Zischen wahr. Auf solche Weise produzierte Laute bezeichnet man als Reibelaute oder F r i k a t i v e . Wie Verschlußlaute können Frikative durch die Stelle charakterisiert werden, an der die Verengung vorgenommen wird. Ein mit beiden Lippen gebildeter Frikativlaut wäre ein bilabialer Reibelaut, ein Laut, den es im Deutschen nicht gibt. Das deutsche [f] ist ein l a b i o d e n t a l e r Reibelaut, weil bei der Artikulation die oberen Zähne auf der Unterlippe ruhen. Das englische [Θ], der Anfangslaut von thing, ist ein dentaler Reibelaut; die Zunge stößt an die oberen Zähne an, schließt aber, wie beim [f], den Luftstrom nicht völlig ab. Das [s] in Biß ist alveolar, etwas weiter hinten wird am Palatum das [S] in schön gebildet. Das [9] wie in ich unterscheidet sich vom [s] vor allem durch die fehlende Lippenrundung. Manche Phonetiker unterscheiden auch folgendermaßen: [§] ist prä-palatal, [ς] palatal. (Da wir in Abb. 6.4 diese Unterscheidungen nicht berücksichtigen, fallen die beiden Laute in einem „Kästchen" zusammen.) Im Englischen gibt es keinen velaren Reibelaut [x], wohl aber im Deutschen (ach) und Russischen. [h], der erste Laut in Hand, ist ein glottaler Reibelaut, obgleich nur wenig Reibung erzeugt wird, wenn die Luft durch die Stimmritzen strömt. Die obengenannten Reibelaute sind alle stimmlos. Parallel dazu gibt es im Englischen eine Serie von stimmhaften Reibelauten, die jeweils den stimmlosen entsprechen: [v d ζ 2] wie in vile, this, zero und azure. Das Deutsche kennt davon nur zwei, [v] in Wasser und [z] in sehen (norddeutsche Aussprache). Eine dritte Art der Konsonantenartikulation verbindet die Merkmale von Verschlußlauten und Reibelauten. Ein Verschluß wird gebildet und gelöst, wobei beim Lösen des Verschlusses ein Wirbel wie beim Reibelaut zustandekommt. Das Deutsche kennt zwei derartige Laute, die man A f f r i k a t e n nennt, [pf] in Pferd und [ts] in Zahl In anderen Sprachen gibt es noch eine ganze Reihe anderer Affrikaten, so im Englischen [}] und [S| wie sie in judge und church je zweimal vorkommen. Manche Konsonanten werden gebildet, indem man im Mund einen 153

Verschluß bildet und gleichzeitig das Velum senkt, so daß Luft durch die Nasenhöhle strömen kann. Solche Konsonanten nennt man nasale Konsonanten. Nasale Konsonanten unterscheiden sich nach der Stelle, an der der Verschluß gemacht wird, [m] in mich ist ein bilabialer Nasal, [n] in noch ist ein alveolarer Nasal und [q ] in sang ist ein velarer Nasal (trotz der Orthographie ng, die zwei Laute vermuten lassen könnte). Nasale Konsonanten sind normalerweise stimmhaft, müssen es aber nicht sein. Wir kommen nun zu den Liquiden, den 1- und r-artigen Lauten. Die Vielfalt der in den Sprachen der Welt vorkommenden Liquiden können wir nur andeuten. Die verschiedenen 1-artigen Laute werden Laterale genannt. Sprechen Sie einmal ein [1] wie in lesen. Die Zunge bildet einen alveolaren Verschluß in der Mitte des Mundes. Gleichzeitig kann jedoch die Luft zu den Seiten hin entweichen, so daß der Luftstrom nie blockiert ist; daher der Terminus lateral. Der deutsche Lateral ist stimmhaft. Da durch den Verschluß in der Mitte kein Wirbel verursacht wird, und da der Luftstrom gleichmäßig ist, ähnelt dieser Laut den Vokalen in seiner akustischen Qualität. Dasselbe gilt von stimmhaften Nasalen und vor allem vom r-Laut. Der r-Laut kann im Deutschen auf zwei verschiedene Arten gebildet werden. Entweder als Zungen-r [r], bei dem die Zunge gegen die Alveolen schlägt oder als uvulares r [R], bei dem das Zäpfchen (Uvula) lautbildend wirkt. Unter den Zungen-r-Lauten gibt es etwa im Spanischen zwei Varianten; das eine wird durch einfachen Zungenschlag gebildet wie in pero ,aber', das andere durch schnelles mehrmaliges Schlagen „gerollt" wie in perro ,Hund'. Es bleiben jetzt noch die Gleitlaute oder Halbvokale zu behandeln. Im Deutschen gibt es das [j], im Englischen zusätzlich das [w] (Beispiele Ja und water). Ein Gleitlaut entsteht durch die schnelle Bewegung der Artikulationsorgane zu oder weg von einer Stellung, die sie für die Artikulation eines bestimmten Vokals einnehmen. Der Gleitlaut [w] ist in dieser Weise mit dem [u] verwandt, der Laut [j] mit [i]. Die Aussprache etwa von englisch wow beginnt mit der für die Artikulation von [u] notwendigen Stellung: gerundete Lippen und Zunge hinten und oben. Statt nun tatsächlich [u] zu bilden, gleiten die Stimmorgane in die Stellung für [a: ]. Wenn das [a:] gebildet ist, gleiten Lippen und Zunge in ihre Ausgangsposition zurück, so daß das Wort mit einer dem [u] entsprechenden Mundposition aufhört. Die Bildung von [j] ist entsprechend. Normalerweise, wenn auch nicht immer, sind Gleitlaute mit Hochzungenvokalen verwandt, wobei [j] und [w] die häufigsten sind. Ein anderes 154

glottal

velar

palatal

alveolar

dental

labiodental

bilabial

|

Beispiel: Das Französische besitzt zusätzlich noch einen Gleitlaut, der in der hohen, vorderen, gerundeten Stellung beginnt wie in lui ,ihm'. Im Englischen werden die Vokale [e] und [o] normalerweise mit einem anschließenden Gleitlaut ausgesprochen, wie in bait,Köder' und boat, phonetisch [bejt] und [bowt]. Weitere Kombinationen von Vokal + Gleitlaut findet man im Englischen in eye, boy und cow. In Abb. 6.4 sind die Angaben über die Artikulationsweise der wichtigsten Konsonanten des Englischen und Deutschen zusammengefaßt.

stimmloser Verschlußlaut

Ρ

t

k

stimmhafter Verschlußlaut

b

d

g X h

stimmloser Reibelaut

f

θ

s

stimmhafter Reibelaut

ν

d

ζ

stimmlose Affrikata

δ V

stimmhafte Affrikata Nasal

J m

Liquid Gleitlaut

ζ

1 w

Γ)

η r j

Abb. 6.4

Suprasegmentale Merkmale Bisher haben wir nur Lautsegmente untersucht. Zum Abschluß sollten wir noch etwas über Länge, Betonung und T o n h ö h e sagen, phonologische Elemente, die man kaum als Segmente betrachten kann. Sie werden im allgemeinen suprasegmentale Merkmale genannt, weil man sie bei der phonetischen Schreibung meist über den Symbolen notiert, die Segmente bezeichnen. 155

Für das Englische betrachtet man Länge im allgemeinen als suprasegmentales Merkmal, im Gegensatz zum Deutschen, wo sie, zumindest bei den Vokalen, segmental ist und die Opposition kurz — lang bedeutungsunterscheidend wirken kann (Saat - satt). Im allgemeinen sind die Vokale im Englischen vor stimmhaften Konsonanten länger als vor stimmlosen (bed und bet). In vielen Sprachen spielt die Länge von Vokalen (wie im Deutschen) oder Konsonanten eine wichtigere Rolle, indem sie dazu dient, Morpheme zu unterscheiden. Vokale können sich auch in ihrer relativen Betontheit unterscheiden. So haben die Wörter Regen und Bogen je einen Hauptton, im Gegensatz zu der Wortbildung Regenbogen, die nur einen Hauptton auf der ersten Silbe trägt. Im Englischen ist in red skin ,rote Haut' skin betont, während im Kompositum redskin ,Rothaut' red betont ist. Betonte Vokale unterscheiden sich normalerweise von unbetonten darin, daß sie länger und höher sind und größere Artikulationsstärke besitzen. Man kann den Ton der Stimme einfach dadurch erhöhen oder erniedrigen, daß man die Spannung der Stimmbänder erhöht oder erniedrigt. In vielen Sprachen werden Unterschiede der Tonhöhe systematisch dazu verwendet, Morpheme zu unterscheiden. Das klassische Beispiel für solche Sprachen ist das Chinesische. Ein Unterschied in der Tonalität kann sich auf einen Unterschied in der Tonhöhe beschränken. So kann ζ. B. die Identifikation eines Morphems davon abhängen, ob der betreffende Vokal einen hohen oder einen niedrigen Ton hat. Wenn eine Sprache eine Reihe von Tonhöhen unterscheidet und nicht nur zwei oder drei, spielt die Intonationskontur eine Rolle. Die Sprecher können ζ. B. einen hohen Ton, einen niederen Ton, einen fallenden Ton, einen steigenden Ton und einen erst steigenden und dann fallenden Ton unterscheiden. Die Höchstzahl von Tonalitäten, die in einer Sprache verwendet werden, um Morpheme zu unterscheiden, ist nicht mit Sicherheit bekannt, liegt aber in der Größenordnung zwischen acht und zwölf.

Distinktive Unterschiede Menschliche Wesen können eine unbegrenzte Zahl von verschiedenen Sprachlauten produzieren. Das ist einfach deshalb so, weil manche Artikulationsdimensionen eher kontinuierlich als in begrenzten Schritten funktionieren. Zwischen den Positionen für [u:] und [a:] gibt es ζ. B. eine unendliche Zahl von Zungenhöhen, und folglich auch eine unendliche Zahl von entsprechenden Vokallauten. Ein anderes Beispiel wären 156

die Verschlußlaute, bei denen der Verschluß an jeder beliebigen Stelle der Mundhöhle vorkommen kann. Die meisten dieser minimalen Unterschiede sind jedoch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Darüberhinaus werden viele gröbere, klar wahrnehmbare Unterschiede von Sprechern einer Sprache nicht systematisch für kommunikative Zwecke verwendet. Damit sind wir bei einer entscheidenden Tatsache angekommen: der systematischen Ausnützung bestimmter phonologischer Unterschiede zu kommunikativen Zwecken durch die Sprecher einer Sprache. Eine Sprache kann als Kommunikationsmittel dienen, weil sie Bedeutungen und Lautformen einander zuordnet. Die Bausteine dieser Zuordnungen sind die einzelnen Morpheme, die (zusätzlich zu ihren syntaktischen Eigenschaften) einen Begriffswert und eine phonologische Repräsentation besitzen. Die phonologische Repräsentation eines Morphems bestimmt seine Aussprache. Damit dieses Kommunikationsschema wirksam funktioniert, muß im großen und ganzen gelten, daß verschiedene Morpheme verschiedene Lautformen haben. Auf Grund der phonologischen Form eines Morphems muß man es identifizieren und seine Bedeutung erschließen können; wäre dies nicht der Fall, so könnte der Hörer die Bedeutung eines Satzes nicht verstehen, und der Sprecher hätte keinen Anlaß, ihn zu äußern. Nehmen wir einen extremen Fall: wir könnten kaum kommunizieren, wenn alle Morpheme unserer Sprache gleich ausgesprochen würden. Einige gleichlautende Morpheme bereiten keine echten Schwierigkeiten (z.B. Tau ,Niederschlag' und Tau ,Seil'). Dagegen könnte häufig auftretende Identität der phonologischen Form die Kommunikation ernsthaft behindern. Deshalb muß es möglich sein, die Morpheme auf Grund ihrer Lautform auseinanderzuhalten. In welcher Weise unterscheiden sich nun die Morpheme einer Sprache phonologisch voneinander? Mit und Mitte ζ. B. unterscheiden sich darin, daß das erste aus drei Segmenten besteht und das zweite aus vier. Offensichtlich spielt jedoch die Identität der Segmente eine viel größere Rolle. Tanne kann identifiziert und von anderen Morphemen unterschieden werden, wenn das erste Segment als [t], das zweite als [a], das dritte als [n] und das vierte als f s] identifizierbar sind. Diese Information trennt die Tanne von der Kanne, die mit einem ande·· ren Segment beginnt, und weiter von anderen Morphemen, die Tanne noch weniger ähneln. Aber in welchem Sinn ist man berechtigt, von der Identifizierung eines Lautsegments zu reden? Rein objektiv gesprochen, sind keine zwei geäußerten Laute sich jemals in allen phonetischen Einzelheiten genau 157

gleich. Wann immer ein Laut ausgesprochen wird, so wird genau dieser Laut zum ersten (und letzten) Mal ausgesprochen. Die Unterschiede zwischen zwei geäußerten Lauten mögen minimal sein, fast unmeßbar, aber sie sind immer vorhanden. In welcher Weise identifizieren wir dann Laute, wenn jeder Laut einmalig ist? Die Antwort darauf ist, daß wir als Sprecher einer bestimmten Sprache systematisch bestimmte Lautunterschiede unbeachtet lassen, während wir andere beachten. Auf welche Unterschiede wir achten müssen, ist ein Teil der Lernleistung beim Erwerb des phonologischen Systems unserer Sprache. Als Sprecher des Deutschen achten wir ζ. B. darauf, ob ein Verschlußlaut stimmhaft ist oder nicht. Diese Verschiedenheit unterscheidet [b] und [p], [d] und [t], [g] und [k], die fur uns funktional verschiedene Laute sind. Durch die Wahrnehmung der Stimmhaftigkeit unterscheiden wir Blatt und platt, Dorf und Torf, Gabel und Kabel. Andrerseits beachten wir nicht den Artikulationsort bei der Bildung eines r-Lauts. Der Unterschied zwischen dem Zungen-r [r] und dem uvularen r [R] ist im Deutschen nicht funktional. Es gibt keine zwei Morpheme des Deutschen, die sich nur darin unterscheiden, daß das eine Zungen-[r] und das andere in derselben Position uvulares [R] besitzt. Funktionale Unterschiede, d. h. solche, auf die Sprecher einer Sprache bei der Bestimmung der Identität eines Morphems achten, nennt man distinktiv. Stimmhaftigkeit bei Verschlußlauten ist also im Deutschen distinktiv, die Unterscheidung des Artikulationsorts beim r-Laut nicht. Das phonologische System einer Sprache überlagert das phonetische Kontinuum mit einer Struktur. Genau wie der weitgehend kontinuierliche Lautstrom psychologisch als eine Folge von Lautsegmenten behandelt wird, werden auch die kontinuierlichen Artikulationsdimensionen durch ein Sprachsystem in unterscheidbare Bereiche aufgeteilt. Ein Laut kann während seiner ganzen Artikulation stimmhaft sein, oder er kann ganz stimmlos sein, zuerst stimmlos, dann stimmhaft, stimmlos bis zur letzten hundertstel Sekunde — die Möglichkeiten sind unbegrenzt; aber für die Sprecher einer Sprache, in der Stimmhaftigkeit distinktiv ist, wird ein Segment als stimmhaft oder stimmlos behandelt, eine Zwischenlösung gibt es nicht. Vom Zahndamm bis zum Velum gibt es eine unendliche Zahl von Stellen, an denen die Zunge an der Munddecke einen Verschluß bilden kann. Als Sprecher des Deutschen behandeln wir jedoch das Kontinuum, als sei es in zwei klar unterschiedene Bereiche geteilt. Ein mit der Zunge gebildeter stimmloser Verschlußlaut wird entweder als [t] oder als [k] eingeschätzt. Andere Möglichkeiten gibt es nicht; ein Verschlußlaut, der in einer Zwischenstellung gebildet wird, muß einer der beiden Möglichkeiten zugeschlagen werden. 158

Die funktional verschiedenen Laute einer Sprache sind einander in einem Netz von distinktiven Unterschieden gegenübergestellt. Im Englischen tritt ζ. B. [s] auf Grund des distinktiven Unterschieds zwischen stimmlosen und stimmhaften Segmenten zu [z] in Opposition; zu [f], [Θ] und [s] auf Grund der distinktiven Opposition von alveolarer, labialer, dentaler und palataler Artikulation; zu [d] wegen der Merkmale Verschluß und Stimmhaftigkeit; und zu den anderen Lauten des Englischen auf Grund dieser und anderer distinktiver Unterschiede. Sprachen unterscheiden sich darin, welche Unterschiede sie als distinktiv behandeln und zur Unterscheidung von Morphemen verwenden. Im Englischen achtet man darauf, ob ein Verschlußlaut oder ein Reibelaut stimmhaft ist oder nicht. Das ist deshalb wichtig, weil manche Morpheme nur auf Grund dieses Unterschiedes auseinandergehalten werden (etwa pig/big; fan/van; fat/fad). In vielen Sprachen wird jedoch die Unterscheidung stimmhaft/stimmlos überhaupt nicht ausgenützt; es gibt dort keine Morpheme, die nur durch dieses Merkmal allein unterschieden werden. In manchen Sprachen ist der Unterschied zwischen aspirierten und nicht-aspirierten Verschlußlauten distinktiv, nicht so im Deutschen oder Englischen. In anderen sind sowohl Stimmhaftigkeit als auch Aspiration distinktiv. Das gleiche gilt für Labialisierung, Glottalisierung und Pharyngalisierung. Das Merkmal Stimmhaftigkeit ist im Englischen (und Deutschen) für die Liquide nicht distinktiv. Es gibt dort nur einen distinktiven [1]-Laut oder [r]-Laut; keine zwei Morpheme werden nur auf Grund des Unterschiedes zwischen einem stimmhaften und einem stimmlosen Liquiden auseinandergehalten. Manche Sprachen jedoch bedienen sich des Unterschieds zwischen einem stimmhaften und einem stimmlosen [1] zur Unterscheidung von Morphemen. Im Englischen muß man mehrere funktionale Vokalhöhen unterscheiden, um etwa bit, bet und bat auseinanderzuhalten. In verschiedenen anderen Sprachen genügt eine einfache Zweiteilung in hohe und tiefe Vokale. Ein Teil des Erwerbs einer Sprache besteht darin, das System der distinktiven Oppositionen zu lernen, die die Sprache dazu verwendet, Morpheme auseinanderzuhalten. Darüberhinaus muß ein Sprecher die phonologischen Repräsentationen sämtlicher einzelner Morpheme einer Sprache lernen. Diese beiden Lernleistungen sind nicht getrennt, sondern hängen eng miteinander zusammen. Das System der distinktiven Oppositionen bestimmt, welche phonologische Information für jedes Morphem einzeln gelernt werden muß und welche Information aus den allgemeinen phonologischen Regeln gezogen werden kann, die für alle Morpheme einer Sprache gelten. 159

Die phonologischen Eigenschaften eines Morphems, die einzeln gelernt werden müssen, sind genau die distinktiven Eigenschaften. Phonologische Eigenschaften, die aus allgemeinen Regeln ableitbar sind, können nicht als distinktive Eigenschaften dienen. Betrachten wir den Anfangslaut des englischen Wortes tin. Phonetisch ist es ein aspirierter, stimmloser, alveolarer Verschlußlaut. Die Information, daß es ein stimmloser, alveolarer Verschlußlaut ist, muß für dieses einzelne Morphem gelernt werden. Die Information jedoch, daß der Laut aspiriert ist, kann von einer allgemeinen phonologischen Regel her vorausgesagt werden. Die Eigenschaft aspiriert oder nicht-aspiriert ist nicht distinktiv. Es ist in keiner Weise voraussagbar, daß das englische Wort für das Metall ,Zinn' mit einem stimmlosen alveolaren Verschlußlaut beginnt und nicht mit einem stimmhaften; sowohl stimmhafte als auch stimmlose alveolare Verschlußlaute kommen in Anfangsstellung vor; es ist eine rein willkürliche Tatsache, daß die Form tin und nicht din (,Lärm') lautet. Das Merkmal der Stimmlosigkeit ist deshalb in dieser Position distinktiv: es dient dazu, anzugeben, welche der beiden potentiellen Formen die richtige ist. Ebenso ist die Information, daß dieses Segment alveolar und nicht bilabial oder velar ist, eine distinktive Information. Es ist eine charakteristische Eigenart dieses einen Morphems und unterscheidet es von den möglichen englischen Formen pin (,Nadel') und kin (^Verwandtschaft'). Schließlich muß man ganz speziell für dieses Morphem lernen, daß der erste Laut ein Verschlußlaut und nicht etwa ein Reibelaut ist. Diese phonologische Eigenschaft unterscheidet die Morpheme tin und sin (,Sünde'). Die Tatsache jedoch, daß der Verschlußlaut von tin aspiriert ist, unterscheidet diese Form nicht von irgendeiner möglichen anderen englischen Form. Diese Information besitzt keinen kontrastiven Wert, da im Anlaut stehende Verschlußlaute im Englischen immer aspiriert sind, wenn der folgende Vokal betont ist. Weil diese Eigenschaft für alle Morpheme charakteristisch ist, die mit einem stimmlosen Verschlußlaut beginnen, kann sie nicht dazu verwendet werden, sie auseinanderzuhalten. Es handelt sich vielmehr um ein redundantes phonetisches Detail, das auf der Grundlage anderer phonologischer Information durch eine allgemeine Regel des Englischen eingeführt wird. Wenn ein Sprecher lernt, wie man das Wort tin ausspricht, muß er nicht besonders für diese Form lernen, daß der anlautende Verschlußlaut aspiriert wird. Er aspiriert ihn automatisch in Übereinstimmung mit einem phonologischen Prinzip, das für das Englische ganz allgemein gilt. Vielleicht sind ein paar weitere Beispiele nützlich. Es ist ein phonolo160

gisches Prinzip des Deutschen, daß die hinten in der Mundhöhle gebildeten Vokale [u: u o: o] grundsätzlich gerundet sind, während es bei den vorne als Hoch-oder Mittelzungenvokale gebildeten eine gerundete und eine ungerundete Reihe gibt ([ü: ü ö: ö] gegenüber [i: i e: e]). Es muß also bei den hinteren Vokalen das Merkmal der Rundung nicht für jedes der Tausende von Morphemen der Sprache wieder einzeln gelernt werden. Wenn der Sprecher die Aussprache von deutsch Sud [zu:t] lernt, so muß er die distinktive Information lernen, daß der Vokal hinten gebildet wird, im Gegensatz zu den Wörtern Saat und sieht, daß er ein Hochzungenvokal ist, im Gegensatz zu Sod- und daß er lang ist, im Gegensatz zu einem möglichen deutschen Wort Sutt. Aber er muß nicht lernen, daß der Vokal gerundet ist. Dieses nicht-distinktive phonetische Detail stellt ein phonologisches Prinzip des Deutschen bereit, das für Tausende von anderen Morphemen genauso gilt. Es ist viel leichter, diese eine, einfache Regel zu beherrschen, als, Morphem für Morphem, Tausende von phonetischen Fakten zu lernen, die sie beschreibt. Umgekehrt muß man im Deutschen bei den vorne gebildeten Vokalen das Merkmal Rundung/Nicht-Rundung lernen, um etwa Süd [zü:t] und sieht [zi:t] lautlich differenzieren zu können. Betrachten Sie als letztes Beispiel das zweite Segment des englischen Wortes spin (.spinnen')· Phonetisch ist es ein unaspirierter, stimmloser, bilabialer Verschlußlaut. Von diesen vier Merkmalen sind nur die letzten zwei distinktiv. Die Information, daß der Verschlußlaut bilabial und nicht velar oder alveolar ist, unterscheidet dieses Morphem von skin (,Haut') und von stin, das eine mögliche englische Form ist, die es zufällig nicht gibt. Die distinktive Eigenschaft des Verschlusses unterscheidet das zweite Segment von [w 1 m n] und den Vokalen, die auch nach anlautendem [s] vorkommen können. Nun sind aber Verschlußlaute im Englischen nach anlautendem [s] immer unaspiriert; das ist eine allgemeine phonologische Regel und keine Besonderheit von spin. Deshalb ist die Unaspiriertheit des [p] nach anlautendem [s] nicht distinktiv. Es sind keine zwei englischen Morpheme denkbar, die sich nur darin unterscheiden würden, daß das eine in dieser Stellung einen unaspirierten Verschlußlaut und das andere einen aspirierten hat. Das Merkmal der Stimmhaftigkeit ist im Englischen im Hinblick auf Verschlußlaute zumeist distinktiv, nicht aber nach anlautendem [s]. In dieser phonologischen Umgebung sind Verschlußlaute stets stimmlos. Ein Sprecher muß diese Information nicht für jedes Morphem, das mit [s] plus Verschlußlaut beginnt, einzeln lernen; er beherrscht eine einzige Regel, die besagt, daß alle Verschlußlaute in dieser Umgebung stimmlos 161

sind. Es könnten also im Englischen keine Morpheme nur durch den Unterschied in der Anlautsequenz zwischen [sp] und [sb], [st] und [sd] und [sk] und [sg] unterschieden werden. Man bezeichnet den Kontrast zwischen den Paaren [p b], [t d] und [k g] als in dieser Umgebung n e u t r a lisiert. Die Unterschiede zwischen diesen Lauten werden in anderen phonologischen Umgebungen fur die Kommunikation systematisch ausgenützt, aber nicht nach anlautendem [s]. Die phonologische Repräsentation eines Morphems ist demnach die Information, die der Sprecher für das betreffende Morphem einzeln lernen muß, um zu wissen, wie es ausgesprochen wird. Ein Morphem wird phonologisch als eine geordnete Folge von Segmenten repräsentiert. Jedes Segment ist spezifiziert durch jene und nur jene Eigenschaften, die fur Segmente in der betreffenden Position distinktiv sind.

Phonologische Regeln Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, ist es die Funktion der phonologischen Regeln, Oberflächenstrukturen mit ihren phonetischen Realisierungen zu verknüpfen (vgl. Abb. 4.4). Eine Oberflächenstruktur ist, wie Sie sich erinnern werden, eine Stammbaumstruktur, deren letzte Ableitungsstufe eine lineare Morphemkette ist. Jedes Morphem in der Kette besitzt eine phonologische Repräsentation, eine Angabe der distinktiven Eigenschaften, die seine Aussprache bestimmt. Phonologische Regeln beziehen einen Satz und seine phonetische Realisierung auf der Basis dieser Angaben aufeinander.

Die Angabe von nicht-distinktiven

Merkmalen

Phonologische Systeme sind alles andere als einfach. Die Beziehung zwischen Oberflächenstrukturen und ihren phonetischen Realisierungen ist indirekt und wird durch eine lange und manchmal sehr komplizierte Folge von phonologischen Regeln vermittelt. Die Erläuterung dieses Vorgangs wollen wir damit beginnen, die Derivation des englischen Morphems stack (,Stapel') zu untersuchen. Phonetisch besteht stack aus einer Folge von vier Segmenten: [staek]. [s] ist ein stimmloser alveolarer Reibelaut; [t] ist ein unaspirierter, stimmloser, alveolarer Verschlußlaut; [ae] ist ein ungerundeter, nicht-nasaler, vorderer Tiefzungenvokal; und [k] ist ein unaspirierter, stimmloser, vela162

rer Verschlußlaut. Wollten wir mit unserer Beschreibung Vollständigkeit anstreben, so müßten wir noch viele nicht-distinktive phonetische Details hinzufügen. Wir müßten ζ. B. anmerken, daß keines der Segmente labialisiert, pharyngalisiert oder glottalisiert ist. Wir müßten den genauen Ort des velaren Verschlusses für die Artikulation des [k] angeben. Irgendwann müßten wir angeben, daß [s] und [t] nicht mit der vordersten Zungenspitze artikuliert werden, sondern mit dem Teil der Zunge, der etwas dahinterliegt. Die komplette Regelfolge, die für die Realisierung von stack verantwortlich ist, enthält demnach viele Regeln zusätzlich zu den von uns ausdrücklich berücksichtigten. Nicht alle der oben aufgezählten phonologischen Eigenschaften sind distinktiv. Die Unaspiriertheit von [t] kann ζ. B. durch eine generelle Regel des Englischen vorausgesagt werden; desgleichen die Nicht-Rundung von [ae] und einige weitere Merkmale. Wie in Abb. 6.5 dargestellt, machen die distinktiven phonologischen Eigenschaften, d. h. diejenigen Merkmale, die für dieses besondere Morphem gelernt werden müssen, seine phonologische Repräsentation aus, die der vollständigen phonetischen Realisierung zugrundeliegt. Sowohl in der zugrundeliegenden als auch in der phonetischen Repräsentation kann man ein Segment als ein Bündel von phonologischen Eigenschaften verstehen. In Abb. 6.5 ist jedes Bündel in eckigen Klammern angegeben. Die nicht-distinktiven Merkmale sind kursiv gedruckt. Diese werden durch phonologische Regeln angegeben, die die zugrundeliegende phonologische Repräsentation mit ihrer phonetischen Realisierung verknüpfen. Der Vergleich der beiden Repräsentationen von stack in Abb. 6.5 zeigt, daß phonologische Regeln die Merkmale stimmlos und alveolar für [s] angeben; desgleichen die Merkmale unaspiriert und stimmlos für [t], die Merkmale ungerundet und nicht-nasal fur [as] und das Merkmal unaspiriert für [k]. Die Hinzufügung all dieser phonetischen Einzelheiten ist die gemeinsame Wirkung einer Anzahl von Einzelregeln, die alle für den gesamten Morphembestand des Englischen gelten. Beginnen wir beim Vokal. Die Information, daß das dritte Segment ein vorderer Tiefzungenvokal ist, ist distinktiv; diese Merkmale unterscheiden [ae] von Vokalen, die nicht vorne und nicht mit tiefer Zungenstellung gebildet werden, sowie von dem Liquiden [r], alles Laute, die nach anlautendem [st] vorkommen können (ζ. B. stick, stool, strip). Dagegen ist die Information, daß er nicht-nasal ist, nicht distinktiv. Es gibt ein allgemeines phonologisches Prinzip des Englischen, das angibt, daß alle Vokale nicht-nasal sind. Dies ist keine individuelle Eigenart eines besonderen Morphems. Keiner der englischen Vokale ist nasal, also kann 163

Z U G R U N D E L I E G E N D E PHONOLOGISCHE REPRÄSENTATION

j^Reibelaut^j

alveolar

tief vorne Vokal

Verschlußlaut

Ρ

stimmlos velar Verschlußlaut

1 Phonologische Regeln Τ

stimmlos alveolar

unaspiriert stimmlos

tief vorne

Reibelaut

alveolar Verschlußlaut

ungerundet nicht-nasal

unaspiriert stimmlos velar Verschlußlaut

Vokal

PHONETISCHE R E A L I S I E R U N G Abb. 6.5

diese Eigenschaft auch nicht dazu verwendet werden, sie oder Morpheme auseinanderzuhalten. Weiterhin gibt es die Regel, die besagt, daß hinten gebildete Vokale des Englischen, die keine Tiefzungenvokale sind, im Gegensatz zu den anderen Vokalen gerundet sind. Da [ae] vorne gebildet wird, fügt diese Regel das nicht-distinktive Detail hinzu, daß der Laut ungerundet ist. So wirken zwei Regeln zusammen, um ein als vorderer Tiefzungenvokal angegebenes zugrundeliegendes Segment mit seiner phonetischen Realisierung als ungerundeter, nicht-nasaler, vorderer Tiefzungenvokal zu verknüpfen. Wir wenden uns nun den anlautenden Segmenten zu. Normalerweise sind die Merkmale stimmlos und alveolar für den Reibelaut [s] distinktiv. Im Anlaut eines Morphems sind sie jedoch vor einem Verschlußlaut nicht distinktiv, [s] ist der einzige Reibelaut, der in dieser Umgebung vorkommen kann; es gibt keine englischen Formen wie zdack oder ftack, wo ein stimmhafter oder nicht-alveolarer Reibelaut einem Verschlußlaut vorausgeht. Die Information, daß das erste Segment ein Reibelaut und nicht ein Vokal ist, genügt deshalb zur Identifikation. (Genau genommen genügt schon die Information, daß es ein Konsonant ist.) Die anderen 164

Merkmale können als redundante phonetische Einzelheiten durch die Regel angegeben werden, daß ein Reibelaut im Anlaut vor einem Verschlußlaut stimmlos und alveolar ist. Dies ist ein allgemeines Kennzeichen des Englischen, nicht eine Eigenschaft von einzelnen Morphemen. Wir haben vorher gesehen, daß Stimmlosigkeit und Unaspiriertheit bei Verschlußlauten nach anlautendem [s] nicht distinktiv sind. Diese zwei Merkmale sollte man wohl zwei verschiedenen Regeln zuschreiben. Eine Regel gibt an, daß ein Verschlußlaut nicht aspiriert ist, wenn er auf einen Reibelaut folgt. Die andere bezieht sich auf bestimmte Folgen oder Häuf u n g e n von Konsonanten, die aus Verschlußlauten, Reibelauten oder Affrikaten bestehen. Es ist ein allgemeines Prinzip des Englischen, daß, wenn zwei oder mehr dieser Laute nebeneinander in einer Kette auftreten, entweder alle stimmhaft oder alle stimmlos sind. So wird z.B. eggs ausgesprochen als [egz] und χ (beim Buchstabieren) als [eks]; aber es gibt keine englischen Wörter, die als [skz] oder [ε gsj ausgesprochen werden. Die Häufung von Verschluß-plus Reibelaut kann völlig stimmlos oder völlig stimmhaft sein, aber nicht gemischt. Das Merkmal Stimmhaftigkeit des Verschlußlauts bestimmt das des folgenden Reibelauts, wobei Kombinationen wie [kz] oder [gs] ausgeschlossen werden. Ein weiteres Beispiel: das Pluralmorphem ist normalerweise ein alveolarer Reibelaut, wie in books und beds. Es wird jedoch im ersten Wort als [s], im zweiten als [z] ausgesprochen. Offensichtlich stimmen das stimmlose [s] in [buks] und das stimmhafte [z] in [bedz] mit dem jeweils vorangehenden Verschlußlaut überein. Schließlich noch als Beispiel das Präteritalmorphem, das bei englischen regelmäßigen Verben ein alveolarer Verschlußlaut ist. Das Präteritalmorphem wird nach judge als stimmhaftes [d] realisiert (judged), da dieses Wort eine stimmhafte Affrikate im Auslaut hat, während es nach der stimmlosen Affrikate von reach als [t] realisiert wird (reachedj. Diese allgemeine Regel, die für die Behandlung vieler anderer Fälle für das phonologische System des Englischen vorausgesetzt werden muß, gibt das zweite Segment von stack als stimmlos an, um Übereinstimmung mit dem anlautenden [s] zu schaffen. Das letzte Segment von stack haben wir als phonetisch unaspiriert beschrieben. Das ist in der Tat eine Möglichkeit, aber zufällig nicht die einzige Möglichkeit. Die Artikulation von Verschlußlauten im Auslaut ist ein Bereich, in dem den Sprechern des Englischen ein gewisser Spielraum gelassen ist. Verschlußlaute können im Auslaut aspiriert sein oder auch nicht, und es gibt sogar die dritte Möglichkeit, die Zunge fur den Verschluß an die Munddecke zu bringen, aber das Sprengen des Verschlusses wegzulassen. Das geschieht, indem man einfach den Verschluß nicht öff165

net. Demnach müssen die Regeln, die die phonetischen Einzelheiten für die Artikulation von auslautenden Verschlußlauten hinzufügen, alle diese drei Möglichkeiten berücksichtigen. Wir haben nun die Derivation der phonetischen Realisierung von stack aus der zugrundeliegenden Repräsentation mit Hilfe von phonologischen Regeln untersucht. Selbst wenn wir minimale phonetische Einzelangaben außer acht lassen, stellen wir fest, daß zumindest sechs Regeln daran beteiligt sind, die beiden Ebenen zu verknüpfen. Jede dieser Regeln gibt ein oder mehrere nicht-distinktive Merkmale für ein jedes Segment an und umgibt damit die skelettartigen Repräsentationen, die nur distinktive Merkmale berücksichtigen, mit phonetischem Fleisch.

Andere Arten von phonologischen Regeln Es wäre falsch, aus dem obigen Beispiel zu folgern, daß phonologische Regeln nichts anderes leisten, als nur nichtdistinktive Merkmale anzugeben. Es wäre auch falsch, zu folgern, daß zugrundeliegende phonologische Repräsentationen und deren phonetische Realisierungen sich nur darin unterscheiden, daß die letzteren mit Fleisch versehene, detailliertere Versionen der ersteren sind: die Beziehung zwischen den beiden Ebenen kann außerordentlich entfernt und abstrakt sein. Phonologische Regeln fügen Segmente ein, tilgen Segmente und verändern die Identität und selbst die Anordnung von Segmenten. Zusätzlich führen sie noch suprasegmentale Merkmale ein und modifizieren sie. Ein hypothetisches Beispiel erlaubt uns, diese Bemerkungen einfach und zusammenhängend zu illustrieren. Betrachten Sie das phonetische Datenmaterial in der folgenden Tabelle, das durchaus in einer natürlichen Sprache vorkommen könnte. (Ein Akzent auf einem Vokal gibt an, daß der Vokal betont ist.) [beb] [lot] [mek] [räba] [sonob] [if] [tif] [eso] [teso] 166

,Vogel' ,Baum' ,Hund' ,Feuer' ,Fels' ,rennen' ,nicht rennen' .schwimmen' .nicht schwimmen'

[bebib] [lödib] [megib] [räbib] [sömbib] [ifa] [tifa] [esa] [tesa]

,'Vögel' .Bäume' ,Hunde' ,Feuer' (Plur.) ,Felsen' ,rannte' .rannte nicht' .schwamm' .schwamm nicht'

[kinap] [etkrnap] [sune] [estune] [särot] [estarot]

,essen' ,nicht essen' ,laufen' ,nicht laufen' .schlafen' ,nicht schlafen'

[kunba] [etkimba] [s&na] [estuna] [särda] [estärda]

,aß' ,aß nicht' ,lief ,lief nicht' .schlief .schlief nicht'

Wir wollen zuerst die Formen für .Vogel' und .Vögel' vergleichen, [beb] und [bebib]. [bebib] besteht zweifellos aus dem Morphem [beb] .Vogel', gefolgt von dem Suffix [ib], das den Plural bezeichnet. Es scheint also, daß der Plural in dieser Sprache durch Antreten des Suffixes [ib] an die Substantivwurzel gebildet wird. Das Substantiv für ,Baum' ist [lot], und nach dem Paar [beb] und [bebib] würde man als Form für,Bäume' [lotib] erwarten, die Form, die sich ergibt, wenn man das Suffix [ib] an [lot] anfügt. In Wirklichkeit heißt die Form aber nicht [lotib], sondern [lödib]. Auf den ersten Blick scheint also das Substantiv ,Baum' in seiner Pluralbildung unregelmäßig zu sein; diese Wurzel hat zwei mögliche Formen, [lot] und [löd], je nachdem, ob ein Suffix antritt oder nicht. Schauen wir uns jedoch die Wörter für ,Hund' und ,Hunde' an, so finden wir eine entsprechende Alternation, die vermuten läßt, daß [lot] vielleicht doch nicht unregelmäßig ist. Das Morphem für ,Hund' ist [mek], aber die Pluralform ist nicht [mekib], sondern [megib]. [lot] und [mek] verhalten sich also in ihrer Pluralbildung gleich; wenn das Suffix [ib] hinzutritt, wird der zugrundeliegende stimmlose Verschlußlaut als stimmhafter Verschlußlaut realisiert. In dem vorhandenen phonetischen Datenmaterial gibt es keinen Fall, in dem ein stimmloser Verschlußlaut zwischen zwei Vokalen auftritt. Es scheint ein allgemeines phonologisches Prinzip dieser Sprache zu sein, daß ein Verschlußlaut immer stimmhaft ist, wenn er von Vokalen umgeben ist; dieses Prinzip wollen wir die Regel zur Stimmhaftigkeit von Verschlußlauten nennen. Nach dieser Regel sind also [räba], [lödib] und [megib] mögliche phonetische Folgen, im Gegensatz zu [rapa], [lotib] und [mekib], die intervokalisch stimmlose Verschlußlaute zeigen. Unter dem Aspekt der allgemeinen Regel zur Stimmhaftigkeit von Verschlußlauten erweisen sich die Formen [lödib] .Bäume' und [megib] ,Hunde' als völlig regelmäßig. Wie [bebib] .Vögel' werden sie einfach durch Anfügen des Suffixes [ib] an die Substantivwurzel gebildet. Man erhält auf diese Weise [lotib] und [mekib] als zugrundeliegende Repräsentationen für .Bäume' und ,Hunde'. Die Regel zur Stimmhaftigkeit von Verschlußlauten wird auf diese zugrundeliegenden Repräsentationen angewendet und 167

macht die intervokalischen Verschlußlaute stimmhaft: so entstehen die phonetischen Realisierungen [lödib] und [megib]. Demnach bilden [beb], [lot] und [mek] ihren Plural alle auf dieselbe Art, nämlich durch Anfügen des Suffixes [ib]. Es ist eine allgemeine phonologische Regel der Sprache, daß zwischen Vokalen [t] zu [d] und [k] zu [g] werden. Was in der Oberfläche als Unregelmäßigkeit erschienen war, erweist sich bei näherer Untersuchung als die Auswirkung einer tieferen Regelmäßigkeit. Die Wurzel für ,Feuer' ist [räba], aber die Pluralform heißt einfach [rabib], statt des zu erwartenden [rabaib]. Wieder scheinen wir uns einer phonologischen Unregelmäßigkeit gegenüberzusehen, wenn wir die Lage nicht genauer prüfen. Das Vorkommen von [rabib] statt [rabaib] überrascht überhaupt nicht, wenn wir das übrige Datenmaterial untersuchen; in keinem einzigen Fall finden wir mehr als einen Vokal nach dem betonten Vokal eines Wortes. Dies ist offensichtlich ein phonologisches Prinzip der Sprache. Wir wollen, um es genauer zu sagen, das Vorhandensein einer Vokaltilgungsregel annehmen, die innerhalb eines Wortes anzuwenden ist und jeden Vokal tilgt, der auf eine betonte Silbe folgt und gleichzeitig einer weiteren Silbe vorangeht. Die Vokaltilgung ist also auf die regelmäßig gebildete, zugrundeliegende Repräsentation [rabaib] anzuwenden; sie tilgt das [a] und bewirkt die phonetische Folge [rabib]. [a] kann getilgt werden, weil es der betonten Silbe [rä] folgt und der Silbe [ib] vorangeht. Eine weitere Illustration der Vokaltilgungsregel erhält man, wenn man das Substantiv [sönob] ,Fels' und seinen Plural [sömbib] untersucht. Wenn das Substantiv [sonob] eine regelmäßige Pluralbildung besitzt, dann muß die phonetische Folge [sömbib] eine abstraktere phonologische Repräsentation von [sönobib] realisieren, [sömbib] unterscheidet sich in zweierlei von dieser zugrundeliegenden Repräsentation. Erstens fehlt das unbetonte [o] von [sönobib]. Zweitens erscheint das zugrundeliegende Segment [n] phonetisch als [m]. Beide Unterschiede lassen sich auf die Wirkung von allgemeinen phonologischen Regeln zurückführen. Die Vokaltilgungsregel gibt an, daß ein unbetonter Vokal getilgt wird, wenn er einer Silbe mit betontem Vokal folgt und einer weiteren Silbe (im selben Wort) vorangeht. Da [o] einer betonten Silbe in [sönobib] folgt, und da eine weitere Silbe dem [o] folgt, wird die Vokaltilgungsregel angewendet, die [sönobib] zu [sönbib] reduziert. Von der Repräsentation [sönbib], die durch die Vokaltilgungsregel gebildet wurde, leitet eine Regel, die wir die Nasal-Assimilationsregel nennen wollen, [sömbib] ab. Diese Regel gibt an, daß ein nasaler Konsonant als bilabial realisiert wird, wenn er einem bilabialen Verschlußlaut, in diesem Fall [b], vorausgeht. Unter 168

A ssim ilation, einer sehr häufig vorkommenden Erscheinung, versteht man die Veränderung eines Lautes zur Angleichung an benachbarte Laute. In diesem Fall wird das zugrundeliegende Segment [n] an das folgende [b] assimiliert, so daß beide als Bilabiale realisiert werden. Man wird nirgends in unserem Datenmaterial die phonetische Folge [nb] finden, wo ein alveolarer Laut einem bilabialen Verschlußlaut vorausgeht; also scheint die Nasal-Assimilation ein allgemeines Prinzip der Sprache zu sein. Wenn das Datenmaterial nur die angeführten Substantiva und deren Pluralformen umfassen würde, könnte man mit Recht an der Existenz von bestimmten, von uns angenommenen Regeln zweifeln. Es könnte ζ. B. ohne weiteres möglich sein, daß [sönob], wie das englische Morphem child, eine besondere Form hat, die nur mit dem Pluralmorphem zusammen auftritt, und wir damit die Variante [sömb] zu Unrecht der Wirkung von allgemeinen phonologischen Regeln zugeschrieben hätten. Wenn wir uns jedoch den Verbformen zuwenden, finden wir die betreffenden Regeln weiter bestätigt. Das Verbum mit der Bedeutung ,rennen' hat die Form [if], wenn keine Zeitstufe spezifiziert ist. Vergleichen wir damit die Präteritalform [ifa] ,rannte', so stellen wir fest, daß das Präteritum durch Hinzufügen des Suffixes [a] bezeichnet wird. Die negativen Formen [tif] .nicht rennen' und [tifa] .rannte nicht' bestätigen diese Analyse und zeigen gleichzeitig, daß die Negation beim Verb durch das Präfix [t] bezeichnet wird. Da .schwimmen' als [eso] ausgesprochen wird, erwarten wir die Form für ,nicht schwimmen' als [teso], was genau dem Datenmaterial entspricht. Nach demselben Prinzip würden wir fiir ,schwamm' und ,schwamm nicht' [esoa] und [tesoa] erwarten, denn diese Formen ergäben sich durch direktes Anfügen des Suffixes [a] zur Bezeichnung des Präteritums. In Wirklichkeit sind die Formen jedoch [esa] und [tesa], nicht [esoa] und [tesoa]. So scheinen [esa] und [tesa] auf den ersten Blick unregelmäßige Formen zu sein, aber nur solange, bis wir uns an die Vokaltilgungsregel erinnern. Um das Vorkommen der Pluralformen [rabib] zu [raba],Feuer' und [sömbib] zu [sönob] ,Fels' erklären zu können, setzten wir diese Regel voraus, die einen Vokal tilgt, der einer betonten Silbe folgt und einer weiteren Silbe im selben Wort vorangeht, [eso] erweist sich unter Berücksichtigung der Vokaltilgungsregel als völlig regelmäßig in seiner Präteritalbildung. Durch Hinzufugen des Präteritalsuffixes [a] an [eso] und [teso] ergeben sich die zugrundeliegenden Repräsentationen [esoa] und [tesoa]. Auf diese zugrundeliegenden Repräsentationen wird automatisch die Vokaltilgungsregel angewendet, die das [o] tilgt und die phonetischen Folgen [esa] und 169

[tesa] bewirkt. Das gleiche phonologische Prinzip, das die Pluralformen der Substantive [räba] und [sonob] erklärt, erklärt auch das Präteritum des Verbums [eso]. [kinap] ,essen' und [ki'mba] ,aß' bestätigen in der gleichen Weise die Regel zur Stimmhaftigkeit von Verse hlußlauten, die Vokaltilgungsregel und die Nasal-Assimilation. Fügt man [kinap] das Suffix [a] hinzu, so ergibt sich die zugrundeliegende Repräsentation [kinapa], deren phonetische Realisierung, [kunba] durch die Anwendung der drei Regeln automatisch ableitbar ist. Die Stimmhaftigkeits-Regel besagt, daß ein Verschlußlaut stimmhaft wird, wenn er zwischen zwei Vokalen erscheint; die Anwendung dieser Regel auf [kinapa] ergibt [krnaba]. Die Vokaltilgung fordert den Verlust eines Vokals, der einer betonten Silbe folgt und einer weiteren Silbe vorausgeht; daraus folgt die Form [kinba] aus [kinaba]. Die Nasal-Assimilation macht einen Nasal bilabial, wenn er einem bilabialen Verse hlußlaut direkt vorausgeht, wie es bei [n] in [kinba] der Fall ist. Auf diese Weise verknüpft die Nasal-Assimilationsregel [kinba] mit der phonetischen Folge [kunba]. Die anderen positiven Formen, [sune] .laufen', [sima] ,lief, [särot] schlafen' und [särda] .schlief bestätigen unsere Analyse, [sima] ,lief ergibt sich direkt aus [sime] .laufen' durch Anfügen des Suffixes [a], zusammen mit der Vokaltilgungsregel. Die Suffigierung von [a] an [särot] .schlafen' ergibt [särota] als zugrundeliegende Repräsentation von [särda] .schlief. Aus dieser zugrundeliegenden Repräsentation erzeugt die Regel zur Stimmhaftigkeit von Verschlußlauten [säroda], was die Vokaltilgungsregel zu [särda] reduziert. Ausgehend von [tif] .nicht rennen' und [teso] .nicht schwimmen' ist es klar, daß die Negation beim Verb durch das Präfix [t] bezeichnet wird. Fügt man dieses Präfix [kinap],essen' hinzu, so erhält man die zugrundeliegende Repräsentation [tkinap], deren phonetische Realisierung [etkinap] ist. Andere negative Formen wie [estune],nicht laufen' und [estärot] ,nicht schlafen' zeigen, daß das Vorkommen eines [e] eine allgemeine Erscheinung ist, nicht eine Besonderheit von [kinap]. Folglich können wir eine Vokal-Einfügungsregel annehmen, die vor einer Konsonantenhäufung, mit der sonst ein Wort beginnen würde, [e] einfügt. Die Vokal-Einfügung wird also auf die zugrundeliegende Repräsentation [tkinap] angewendet und verknüpft sie mit der phonetischen Folge [etkinap]. [etkfrnba] ,aß nicht', die negative Präteritalform von [kinap],essen', muß die zugrundeliegende Repräsentation [tkinapa] besitzen, von der sie durch verschiedene Regeln, darunter die Vokal-Einfügung, abgeleitet wird. Diese Derivation ist in Abb. 6.6 dargestellt. 170

ZUGRUNDELIEGENDE REPRÄSENTATION [tkfnapa] Verschlußlaut -*• stimmhaft: [tkfnaba] Vokaltilgung:

[tkrnba]

Nasal-Assimilation:

[tkimba]

Vokal-Einfügung:

[etkfmba] PHONETISCHE R E A L I S I E R U N G

Abb. 6.6

Da ,laufen' [sime] heißt, muß die zugrundeliegende Repräsentation von ,nicht laufen' [tsime] heißen, vorausgesetzt, das Verb ist regelmäßig. Natürlich muß die Vokal-Einfügungsregel angewendet werden, so daß [etsime] entsteht. Die im Datenmaterial gegebene Form für,nicht laufen' ist jedoch [estune] und nicht [etsime]. Auch [estärot], die negative Form zu [sarot], zeigt die Häufung [st], wo wir eigentlich [ts] erwarten würden. Offensichtlich besitzt also diese Sprache eine Regel, die unter bestimmten Bedingungen die Reihenfolge der Segmente [ts] umkehrt. Wir wollen diese Regel die Metathese-Regel nennen; M e t a t h e s e ist der Terminus, den man für die Veränderung der Reihenfolge der Segmente verwendet. Die Metathese leitet [estime],nicht laufen' und [estärot] ,nicht schlafen' aus [etsime] und [etsärot] ab. Wir haben nun fünf Regeln gefunden, darunter solche, die Segmente einfügen oder tilgen, die Segmente verändern und die Reihenfolge von Segmenten ändern. Das Datenmaterial bezeugt noch eine weitere Regel, die die Position der Betonung bestimmt. Die Position der Betonung ist keine individuelle Eigenschaft von einzelnen Wörtern oder Morphemen; sie ist völlig regelmäßig. Die Betonung fällt immer auf den ersten Vokal der Wurzel, nie auf den zweiten Vokal der Wurzel oder auf ein Suffix. Deshalb finden wir Formen wie [beb], [sömbib] und [etkinap], aber keine wie [sombib], [etkinap] oder [etkinap]. Die Betonung wird aus diesem Grund in den abstraktesten zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen nicht angegeben, weil sie nicht distinktiv ist. Vielmehr wird sie durch die allgemeine Regel zur Position der Betonung eingeführt. Die 171

Derivation von [estima] ,lief nicht' und [estärda] .schlief nicht', die in Abb. 6.7 skizziert ist, gibt weitere Illustration für die von uns untersuchten Regeln.

ZUGRUNDELIEGENDE PHONOLOGISCHE REPRÄSENTATION [tsimea]

[tsarota]

Betonungsangabe:

[tsimea]

[tsarota]

Verschlußlautstimmh.:

(nicht anwendbar)

[tsäroda]

Vokaltilgung:

[tsima]

[tsarda]

Nasal-Assimilation:

(nicht anwendbar)

(nicht anwendbar)

Vokal-Einfügung:

[etsima]

[etsarda]

Metathese:

[est'ma]

[estarda]

PHONETISCHE REALISIERUNG

Abb. 6.7

Die Abstraktheit phonologischer

Systeme

Die vorangegangenen Beispiele sollten andeuten, wie abstrakt die Beziehung zwischen zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen und deren phonetischen Realisierungen sein kann. Die Derivation einer phonetischen Folge aus ihrer zugrundeliegenden Repräsentation ist das kumulative Ergebnis der Anwendung einer langen Serie von phonologischen Regeln. In der Tat umfassen solche Derivationen sehr o f t viel längere Regelfolgen als die von uns untersuchten, einigermaßen einfachen Fälle. Wir erkennen auch, daß scheinbare individuelle Besonderheiten und Unregelmäßigkeiten sich oft als Ergebnisse völlig regelmäßiger phonologischer Prozesse erweisen. Um diese Regelmäßigkeiten aufzudecken, müssen wir das phonologische System einer Sprache verstehen als ein System 172

von Regeln, die phonetische Realisierungen aus ziemlich abstrakten zugrundeliegenden Repräsentationen ableiten. Recht häufig gibt es in den zugrundeliegenden Repräsentationen Regelmäßigkeiten, die durch die Anwendung von phonologischen Regeln in der phonetischen Ebene überdeckt werden. Ähnliches haben wir auch aus unserer Untersuchung von syntaktischen Systemen gelernt. Phonologische und syntaktische Systeme sind sich darüberhinaus darin ähnlich, daß ihre Regeln manchmal in einer bestimmten Reihenfolge angewendet werden müssen. In der Derivation von [kfrnba] aus der zugrundeliegenden Repräsentation [kinapa] wird etwa die Vokaltilgung vor der Nasal-Assimilation angewendet. Erst, wenn die Festlegung der BetonungsPosition, die Regel zur Stimmhaftigkeit von Verschlußlauten und die Vokaltilgung die Form [kinba] erzeugt haben, stehen der Nasal [n] und der bilabiale Verschlußlaut [b] nebeneinander, was die Assimilierung des Nasals bewirkt. Da phonologische Regeln in der Lage sind, die Identität von Segmenten zu verändern, sowie Segmente einzufügen und zu tilgen, kann das in einer Sprache verwendete Lautinventar in den zugrundeliegenden Repräsentationen verschieden sein von dem der phonetischen Realisierungen. Das heißt: manche Segmenttypen kommen vielleicht in zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen vor, obgleich sie nie sichtbar auf der phonetischen Ebene realisiert werden oder umgekehrt. Wenn wir also von den Lauten einer Sprache reden, so können wir uns entweder auf sichtbar vorkommende phonetische Einheiten beziehen oder aber auf die abstrakten Einheiten von zugrundeliegenden Repräsentationen, und es ist natürlich notwendig, daß man klar sagt, wovon man redet. Bei der Aufzählung der Laute des Deutschen bzw. Englischen im Rahmen unserer Untersuchung der artikulatorischen Phonetik haben wir uns auf Laute bezogen, die auf der phonetischen Ebene vorkommen (wobei wir von gewissen kleineren phonetischen Variationen abgesehen haben).

Morphologie Wir haben in Kapitel 4 gesehen, daß ein Morphem mehrere verschiedene phonetische Realisierungen haben kann. Das Pluralmorphem des Englischen erscheint in verschiedener Form, als [z], [s] und faz], und es kommt noch in anderen phonetischen Formen vor (so in children, sheep, men usw.). Der Terminus M o r p h o l o g i e bezieht sich auf diejenigen Aspekte phonologischer Systeme, die Unterschiede in der phonetischen 173

Realisierung von Morphemen erklären, obgleich es keine scharfe Trennungslinie zwischen Morphologie und der restlichen Phonologie gibt. Im Bereich der Morphologie pflegen die Sprachen ein beträchtliches Ausmaß an Unregelmäßigkeit zu zeigen, vor allem wenn man nicht unter die Oberfläche hinabschaut. Warum sollte der Plural von child gerade children sein und nicht das zu erwartende Childs? Warum heißt es women und sheep und nicht womans und sheeps? Warum ist das Präteritum von eat das unregelmäßige ate und nicht das regelmäßige eated? Man kann auch keinen prinzipiellen Grund dafür erkennen, warum es went anstelle von goed heißen sollte. Für diejenigen Formen, die wirklich unregelmäßig sind, sind besondere Regeln notwendig. Eine Regel des Englischen muß ζ. B. angeben, daß die Folge eat+PRÄT als ate realisiert wird. Da es sich um die Feststellung einer Unregelmäßigkeit handelt, gilt diese Regel nicht für alle Morpheme des Englischen; es ist eine spezielle Regel, die nur für ein Morphem gilt und für dieses Morphem einzeln gelernt werden muß. Ebenso muß der Sprecher des Englischen als willkürliche Tatsache für das Morphem woman lernen, daß woman+PLURAL als women realisiert wird; die dazu notwendige Regel wird dem Sprecher nichts nützen, wenn er die Pluralform anderer Morpheme vorhersagen will. (Der Plural von man wird anders gebildet — man verwechsle nicht den Unterschied von Schreibweise und Aussprache!) Phonologische Regeln, die auf nur ein Morphem oder eine Morphemfolge angewendet werden, bilden das eine Extrem des Kontinuums, das als anderes Extrem allgemeine phonologische Regeln besitzt, die für alle Morpheme der Sprache gelten. Zwischen den Extremen existieren Regeln, die morphologische Veränderungen angeben, die weder völlig einmalig noch völlig regelmäßig sind. Diese Regeln beziehen sich auf Morphemklassen, aber nicht auf alle Morpheme einer Sprache. Eine Anzahl von Verben des Englischen wird ζ. B. dadurch ins Präteritum gesetzt, daß der Präsensvokal [/] durch [ae] ersetzt wird. Die Regel, die PRÄ Τ in dieser Weise realisiert, gilt nicht für alle Verben der Sprache, beschränkt sich aber auch nicht auf nur ein Verb. Diese Regel erklärt die Präteritalformen sat, spat, rang, sang, swam, began, drank, shrank, stank und sprang. Eine Anzahl von Verben werden ins Präteritum gesetzt, indem man für alles, was nach der anlautenden Konsonantenhäufung kommt, durch [ot] ersetzt: brought, bought, caught, fought, sought, thought und taught. Die Bildung des Präteritums bei diesen Verben ist eine Teilregularität der englischen Morphologie und kann durch eine einzige Regel ausgedrückt werden, die für alle diese Fälle gilt. Wenn diese Verben völlig 174

unregelmäßig wären, würde jedes Verb sein Präteritum auf eine besondere, individuelle Weise bilden, und jedes Verb würde eine besondere Regel erfordern wie bei eat und go. Es kommt jedoch sehr häufig vor, daß scheinbare morphologische Unregelmäßigkeiten sich als völlig regelmäßige Erscheinungen erweisen, wenn sie sorgfältig in ihrer Beziehung zum gesamten phonologischen System untersucht werden. Betrachten Sie ζ. B. die englischen Pluralformen auf [az], [s] und [z]. [az] bezeichnet den Plural in Wörtern wie glasses, sizes, bunches, judges, bushes und rouges, [s] kommt in Pluralformen wie hips, bits, books, fifes und births vor. [ζ] bezeichnet den Plural in Wörtern wie ribs, beds, eggs, elms, bins, bars, pills, loves, ways und bras. Die jeweilige Wahl von [aζ], [s] oder [ζ] zur Bezeichnung des Plurals ist in dieser Menge von Wörtern alles andere als zufällig. Beachten Sie, daß [az] nur verwendet wird, wenn der letzte Laut der Substantivwurzel [s], [z], [t]> Ofl» I s ! 0 ( ier [2] ist. Endet das Substantiv auf einen anderen Laut, so wird die Pluralform durch die Stimmgebung bestimmt; [s] kommt nur nach stimmlosen Segmenten vor, [z] nur nach stimmhaften Segmenten. Für alle diese Wörter können wir als zugrundeliegende phonologische Repräsentation des Pluralmorphems [z] ansetzen. Glasses, bunches, hips und books haben ζ. Β. die zugrundeliegenden Repräsentationen [glaesz], [bAniz], [hipz] und [bukz], genau parallel zu ribs und bras, [ribz] und [braz]. Die Varianten [az] und [s] werden von dem zugrundeliegenden [z] durch allgemeine phonologische Regeln des Englischen abgeleitet, Regeln, die auch noch verschiedene andere phonologische Erscheinungen erklären. Glasses und bunches werden phonetisch als [glassaz] und [bAnfcaz] realisiert. Diese phonetischen Formen werden von den zugrundeliegenden Repräsentationen [glaesz] und [bAnfcz] durch eine Regel abgeleitet, die den Vokal [a] zwischen dem letzten Segment des Substantivs und dem Suffix [z] einfügt. Diese Regel gilt allgemein; sie fügt [a] immer dann zwischen einer Wurzel und einem Suffix ein, wenn das Suffix aus einem einzelnen O b s t r u e n t e n besteht, und die Wurzel auf einen Obstruenten der entsprechenden Art ausgeht. (Ein Obstruent ist ein Verschlußlaut, ein Reibelaut oder eine Affrikate - lauter Laute, die durch Behinderung des entweichenden Luftstroms gebildet werden.) In dem hier zutreffenden Sinne sind [s z t J 5 Obstruenten von grundsätzlich gleichem Typ wie [z]. Sie sind Reibelaute, die am Zahndamm oder Palatum gebildet werden (Affrikaten wie [£ 5] enden, wie Sie sich erinnern werden, nach einem verschlußlautähnlichen Ansatz auf einen Reibelaut). Die Folgen [sz z z t z ]z 5z 2z] werden also durch die [a]-Einfügungsregel 175

jeweils zu [sez zaz Cazjez Ssz iaz] verändert, womit die phonetischen Realisierungen von glasses, sizes, bunches, judges, bushes und rouges bestimmt sind. Das Possessivmorphem und die Verbalendung der dritten Person Singular sind ebenfalls Suffixe, deren Grundform [z] ist, was Wörter wie Bill's, Ed's, goes und stabs zeigen, phonetisch geschrieben [bilz], [edz], [gowz] und [staebz]. Die zugrundeliegenden Repräsentationen von Chris's und reaches sind also [krtsz] und [riiz], parallel den oben angeführten Wörtern. Da die Regel, die [s] einfugt, eine allgemeine Regel ist, die nicht nur auf das Pluralmorphem beschränkt ist, wird sie automatisch auf diese zugrundeliegenden Repräsentationen angewendet und ergibt die korrekten phonetischen Realisierungen [krisez] und friöaz]. Das Vorhandensein der [9]-Einfügungsregel wird weiter bestätigt durch die verschiedenen Formen des Präteritalmorphems. Seine zugrundeliegende Form ist [d], die sichtbar erscheint in Wörtern wie bribed [brajbd] und freed [frid]. Die zugrundeliegenden Repräsentationen von rotted und raided sind demnach [ratd] und [rejdd]; diese werden zu [ratsd] und [ rejdad] verändert. Die | sJ-Einfügungsregel wird deshalb zur Bildung dieser Lautfolgen angewendet, weil das Endsegment der Wurzel ein Obstruent von grundsätzlich gleicher Art wie das Suffix ist (ein alveolarer Verschlußlaut). Die [ azj-Variante des Pluralmorphems wird durch eine allgemeine phonologische Regel des Englischen von der zugrundeliegenden Form [z] abgeleitet, eine Regel, die gleichzeitig noch eine ganze Anzahl von anderen Erscheinungen erklärt. Entsprechendes gilt auch für die fs]-Variante, die nach stimmlosen Konsonanten außer [s δ $] erscheint. Wir haben schon festgestellt, daß alle Konsonanten einer Konsonantenhäufung stimmlos sind, wenn der erste stimmlos ist. Also ist box [baks] ein mögliches englisches Wort, nicht aber [bakz] oder [bags]. Dieses Prinzip gibt auch an, daß das zweite Segment von stack stimmlos ist, weil es auf den stimmlosen Reibelaut [s] folgt. Es ist klar, daß diese Regel auch auf die zugrundeliegenden Repräsentationen von hips und books, [htpz] und [bukz], angewendet werden muß, so daß sich die phonetischen Realisierungen [htps] und [bwks] ergeben. Diese Regel erklärt auch Varianten des Possessivmorphems, der Endung der dritten Person Singular und des Präteritalmorphems. Da diese die entsprechenden Basisformen [z], [z] und [d] besitzen, müssen die zugrundeliegenden Repräsentationen von Nat's, kicks und kicked [naetz], [kikz] und [ktkd] lauten. Die stimmlosen Endkonsonanten der Wurzeln bewirken, daß die Endungen auch stimmlos werden, und so erklären sich die phonetischen Realisierungen [naets], [ktks] und [kikt]. 176

Es werden also alle drei Pluralendungen [az s z] von derselben zugrundeliegenden Repräsentation abgeleitet. Auf diese abstrakte Repräsentation werden allgemeine phonologische Regeln angewendet, die die Vielfalt an der Oberfläche bewirken. Zu beachten ist, daß die [3]-Einfügungsregel vor der Regel zur Angabe der Stimmlosigkeit angewendet werden muß; wären die Regeln nicht in dieser Reihenfolge angeordnet, würden falsche Ergebnisse Zustandekommen. Glasses würde ζ. B. die phonetische Form [glaesss] zugewiesen statt [glaessz], da die zugrundeliegende Repräsentation [glaesz] zu [glaess] verändert werden würde, bevor die [9]-Einfugungsregel angewendet würde. Das hypothetische Datenmaterial, das wir im Abschnitt über ,andere Arten von phonologischen Regeln' untersucht haben, ist eine weitere Illustration dafür, wie scheinbare morphologische Unregelmäßigkeiten sich manchmal als völlig regelmäßige Erscheinungen erweisen, wenn man sie in Beziehung zum gesamten phonologischen System sieht. Bei einer isolierten Untersuchung des phonetischen Datenmaterials würden wir ζ. B. wenig Regelmäßigkeit in der Bildung des Präteritums der Verben finden: [if] [eso] [kinap] [sime] [särot]

,rennen' ,schwimmen' ,essen' ,laufen' .schlafen'

[ifa] [esa] [kimba] [sima] [särda]

, rannte' .schwamm' ,aß' ,lief .schlief

[if] bildete das Präteritum durch Anfügen von [a]; [eso] durch Ersetzen des [o] durch [a]; [krnap] durch Anfügen des [a] und Veränderung des fnap] zu [mb]; [sune] durch Ersetzen des [e] durch [a]; [särot] durch Anfügen des [a] und die Veränderung von [ot] zu [d]. Bei genauerer Untersuchung haben wir jedoch entdeckt, daß all diese Verben das Präteritum auf genau dieselbe Weise bilden, nämlich durch Suffigierung des [a]. Das Zusammenwirken der so erlangten zugrundeliegenden Repräsentationen mit allgemeinen phonologischen Regeln bewirkt die Vielfalt der Oberfläche, die im phonetischen Datenmaterial zu beobachten ist. Um die morphologischen Muster einer Sprache zu verstehen, darf man sich deshalb nicht mit der Untersuchung des phonetischen Datenmaterials begnügen. Die phonologischen Mechanismen, die hier mit hereinwirken, können nur entdeckt werden, wenn man unter die phonetische Oberfläche schaut und das phonologische System als eine integrierte Folge von Regeln versteht, die auf abstrakte zugrundeliegende Repräsentatio177

nen angewendet werden. Wenn man das tut, erkennt man, daß sich die Verschiedenheit der Oberfläche häufig auf völlig regelhafte Weise aus einer zugrundeliegenden einheitlichen Form ergibt.

Arbeits- und Diskussionsvorschläge

1. Malmberg, Phonetics und Ladefoged, Elements of Acoustic Phonetics bieten gute grundlegende Einführungen in die allgemeine bzw. akustische Phonetik. Heffner, General Phonetics stellt höhere Ansprüche und ist umfassender; Smalley, A Manual of Articulator)! Phonetics ist ein Handbuch für die praktische Übung von Produktion und Transkription von Sprachlauten. Als Einführung in die moderne phonologische Theorie und Beschreibung eignet sich Schane, Generative Phonology; einen kurzen Überblick über Geschichte und neuere Entwicklung der Phonologie gibt E. C. Fudge, "Phonology", in: Lyons, Hrsg., Neue Perspektiven in der Linguistik, S. 70 - 87. Weitere Titel zur Phonetik und Phonologie finden Sie in der Auswahlbibliographie. 2. Das Zeichen [k] steht für einen Laut, der sich von [k] nur dadurch unterscheidet, daß er weiter vorn am Gaumen artikuliert wird. Sowohl [k] als auch [Jj] kommen als phonetische Einheiten im Deutschen und im Englischen vor, aber der Unterschied zwischen ihnen ist nicht distinktiv, weil sich voraussagen läßt, wann [k] und wann [k] auftritt. Untersuchen Sie das folgende englische Material und formulieren Sie die Regel, die das Vorkommen von [ijJ bestimmt! Gilt die Regel in der gleichen Form auch für das Deutsche?

kAt

cut

kl/p

clip

kul

cool

kejp

cape

kip

keep

kat

cot

ken

Ken

km

kin

kot

caught

kowl

coal

baek

back

kaet

cat

3. In vielen englischen Dialekten wird unter bestimmten Umständen der Diphthong [aj] phonetisch als [aJ] realisiert. Die Verteilung von [aj] und [Aj] folgt einer allgemeinen Regel; der Unterschied zwischen den beiden Realisierungen ist also nicht distinktiv. Formulieren Sie die Regel auf der Grundlage des gegebenen Materials!

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bAjt

bite

rAjs

rice

fajl

file

fajr

fire

rajz

rise

rajd

ride

baj

buy

tajm

time

najn0

ninth

fAjt

fight

taj

tie

tAjp

type

Ujf

life

bAjk

bike

tAjt

write

4. Im Englischen ist der Unterschied zwischen [£] und [s] distinktiv, denn er dient der Unterscheidung von Morphemen; die Morpheme chip [cip] und ship [sip] z.B. unterscheiden sich einzig und allein durch die Verwendung von [c] bzw. [s] im Anlaut. Im Luiseflo dagegen kontrastieren [5] und [s] nicht; in dieser Sprache gibt es keine zwei lexikalischen Einheiten, die sich nur dadurch unterscheiden, daß die eine in einer bestimmten Position [c] hat, während bei der anderen [s] erscheint. Untersuchen Sie das folgende Material und stellen Sie die Regel für die Verteilung von [c] und [s] im Luiseno auf! ,küssen'

hakmawiS

.hungrig'

hica

,etwas"

peslis

.Schüssel'

coraat

,rund'

neci

,zahlen'

tapaSmal

,Maus'

yawaywis

,hübsch'

cuqi

5. Im Swaheli ist die Verteilung der Betonung innerhalb eines Wortes regelmäßig. Stellen Sie auf der Grundlage der folgenden Wörter die entsprechende Regel auf! asubuhi

.Morgen'

fuatisa

.abschreiben'

wokovu

.Erlösung'

usinde

.besiegen'

utoto

.Kindheit'

karatasi

.Papier'

huruma

.Gnade'

edasira

.elf

damu

.Blut'

fikire

.nachdenken'

6. Die unten aufgeführten Formen stammen aus dem Araukanischen, einer Sprache, die in Chile und Argentinien gesprochen wird (Material aus Max S. Echeverria/Heles Contreras, "Araucanian Phonemics", in: International Journal of American Linguistics 35:2 (1965) S. 132 - 135). [i] steht für einen ungerundeten hinteren Hochzungenvokal (eine ungerundete Entsprechung von [u] ); [t] steht für einen Versehlußlaut ähnlich [t], der weiter hinten im Mund gebildet wird; [ή] steht für einen palatalen Nasal. Betonte Vokale können entweder primäre Betonung tragen (durch ['] angedeutet), oder sekundäre Betonung ( ['] ). Stellen Sie fest, ob die Betonung im Araukanischen regelmäßig ist - in diesem Fall würde sie einer allgemeinen Regel folgen - oder ob sie idiosynkratisch und damit distinktiv ist! Geben Sie, falls die Betonung regelmäßig ist, die Regel an!

179

nuke

,Mutter'

ilmen

.reich, adlig'

inay

,er kratzt sich'

wule

,morgen'

aküle

,wenn er kommt'

tipanto

,Jahr'

elwafiml

,du wirst ihm geben'

elumuyu

,gib uns'

eluaenew

,er wird mir geben'

kimufaluwulay

,er gab vor, nicht zu wissen'

7. Reduplikation ist ein weitverbreiteter phonologischer Prozeß, bei dem lexikalische Einheiten teilweise oder ganz wiederholt werden; gewöhnlich werden dadurch Vorstellungen wie Mehrzahl, Wiederholung, Dauer oder Intensität ausgedrückt. Im Papago, einer uto-aztekischen Sprache, die im US-Bundesstaat Arizona und im Norden Mexikos gesprochen wird, spielt Reduplikation bei der Pluralkennzeichnung von Substantiven eine Rolle. Untersuchen Sie das Material (aus Kenneth Hale, "On Papago Laryngeals", in: Earl H. Swanson, Jr., ed., Languages and Cultures of Western North America: Essays in Honor of Sven S. Liljeblad. Pocatello: Idaho State University Press 1970, S. 54 - 60) und formulieren Sie die Regel zur Ableitung der Pluralformen aus den entsprechenden Singularformen. Ein langer Vokal erscheint als Doppelsetzung des Vokalzeichens; faa] steht also für langes [a], [oo] für langes [o], usw. SINGULAR

PLURAL

bana

baabana

,Kojote'

tiima

tiitima

,Ferse'

kuna

kuukuna

.Ehemann'

paga

paapaga

.Loch'

tiho

tiithio

.Höhle'

bahi

baabhai

.Schwanz'

sona

soosona

.Fundament*

tini

tiitini

,Mund'

naaka

naanaka

,Ohr'

piha

piiphia

,Penis'

toona

tootona

,Knie"

8. Piro ist eine arawakanische Sprache, die in Peru gesprochen wird. (Material aus Charles W. Kisseberth, "The Treatment of Exceptions", in: Papers in Linguistics 2:1 (1970) S. 44 - 58.) In Spalte I sind lexikalische Einheiten aus dem

180

Piro in der Form aufgeführt, in der sie als isolierte, selbständige Wörter erscheinen. In Spalte II stehen von den entsprechenden Einheiten in Spalte I durch Affigierung abgeleitete Formen. An dem Material ist das Operieren einer generellen phonologischen Regel zu erkennen; beschreiben Sie diese Regel! (Gehen Sie davon aus, dafl jeder Einheit eine einzige phonologische Repräsentation zugrundeliegt!) II I ,lehren' yimaka yimaklu .lehren (Verlaufsform)' xipalu

.Süßkartoffel'

nxipalne

calu

,Fischnetz'

ncalne

.mein Fischnetz'

cokoruha

.harpunieren'

iokoruhkaka

.veranlassen zu harpunieren'

yohima

,sich verstecken'

yohimlewa

,sich gewöhnlich verstecken'

kakonu

.Jagdhütte bauen'

kakonru

Jagdhütte'

.meine Süßkartoffel'

9. Die folgenden Wörter entstammen dem Tonkawa, einer amerikanischen Indianersprache in Texas (Material aus Charles W. Kisseberth, "Vowel Elision in Tonkawa and Derivational Constraints", in: Jerrold M. Sadock/Anthony L. Vanek, eds., Studies Presented to Robert B. Lees by His Students. Papers in Linguistics Monograph Series 1, 1970, S. 109 - 137). Die Wörter in jeder der drei Spalten sind von jeweils einer Wurzel durch Affigierung abgeleitet; jeder der drei Wurzeln liegt eine einheitliche phonologische Repräsentation zugrunde. Drei phonologische Regeln bestimmen die phonetische Realisierung der einzelnen Wortformen: eine Regel tilgt einen Vokal im Auslaut; eine zweite tilgt den ersten von zwei direkt benachbarten Vokalen. Isolieren Sie die einzelnen Morpheme und geben Sie jeweils ihre Bedeutung an! Stellen Sie für jede der drei Wurzeln eine einheitliche zugrundeliegende Repräsentation auf! Formulieren Sie die dritte Regel, die für die Erzeugung der endgültigen phonetischen Form noch benötigt wird! Zeigen Sie abschließend, wie durch die Anwendung der Regeln die korrekte phonetische Form der Wörter abgeleitet wird! I notox

,Hacke'

notxo 1

,er hackt (es)'

wentoxo?

,er hackt sie (Plural)'

notxo no?

,er hackt (es) (Verlaufsform)'

wentoxono7

,er hackt sie (Plural) (Verlaufsform)' II

picen

,der Kastrierte, Mastochse'

picno?

,er schneidet (es)'

wepceno?

,er schneidet sie (Plural)'

picnano ?

,er schneidet (es) (Verlaufsform)'

wepcenano?

,er schneidet sie (Plural) (Verlaufsform)'

181

III netlo?

,er beleckt (es)'

wentalo?

,er beleckt sie (Plural)'

netleno?

,er beleckt (es) (Verlaufsform)'

wentaleno?

,er beleckt sie (Plural) (Verlaufsform)'

182

III

Sprachverwandtschaft

7. Sprachwandel

Entlehnung Lexikalische Entlehnung Lebende Sprachen bleiben nie stehen. Jede Sprache ist das Ergebnis eines Wandels und wandelt sich weiterhin, solange sie gesprochen wird. Großenteils entgehen diese Veränderungen unserer Aufmerksamkeit, wenn sie vor sich gehen. Sie sind klein genug oder graduell genug, um unbemerkbar zu bleiben. Shakespeares Englisch ist für moderne Leser schwer zu verstehen, und ohne besondere Ausbildung kann man Chaucer fast gar nicht verstehen. Einer der Umstände, unter denen Sprache sich wandelt, ist der Einfluß anderer Sprachen. So war etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt das Wort patio .offener Lichthof nicht im englischen Wortschatz enthalten. Jetzt gehört es dazu. Das Hinzufügen dieses Wortes zum englischen Lexikon bedeutet also eine Veränderung im Sprachsystem, wenn auch eine geringfügige. Darüberhinaus wurde das Wort patio von englischen Sprechern nicht aus der Luft gegriffen. Bevor es im Englischen-gebräuchlich wurde, war es ein spanisches Wort mit etwa der gleichen Bedeutung (und ist es heute noch). Daß patio dem englischen Wortschatz hinzugefügt wurde, geht eindeutig auf spanischen Einfluß zurück. Sprecher, die das Wort vom Spanischen her kannten, begannen es im Englischen zu gebrauchen. Seine Verwendung verbreitete sich, und heute ist es ein durchaus gebräuchliches Wort der englischen Sprache. Hätte es dieses Wort im Spanischen nicht gegeben oder wären Sprecher des Englischen nie damit in Berührung geraten, wäre es nicht Teil des Englischen geworden. Kurz: patio wurde aus dem Spanischen ins Englische e n t l e h n t . Die Entlehnung ist eine sehr häufige sprachliche Erscheinung. Höchstwahrscheinlich ist keine Sprache völlig frei von entlehnten Formen. Die Sprachen sind jedoch grundsätzlich verschieden im Hinblick auf den Anteil jener lexikalischen Einheiten in ihrem Wortschatz, die auf Entleh185

nung zurückgehen. Albanisch z.B. besitzt so viele entlehnte Wörter in seinem Lexikon, daß nur ein paar Hundert einheimischer Wörter übrigbleiben. Obgleich das Englische viel weniger entlehnt hat als das Albanische, wird es oft als eine Sprache angeführt, die viel entlehnt hat, da über die Hälfte des englischen Lexikons fremder Herkunft ist. Im Gegensatz dazu neigen die amerikanischen Indianersprachen der athabaskischen Sprachfamilie dazu, wenig zu entlehnen. Die Gründe für diese Unterschiede zwischen den Sprachen liegen wohl eher im historischen und kulturellen als im sprachlichen Bereich. Entlehnung ist nie eine sprachliche Notwendigkeit, weil es immer möglich ist, den Gebrauch von vorhandenen lexikalischen Einheiten auszuweiten oder zu verändern, um neue kommunikative Notwendigkeiten zu bewältigen. Eine interessante Variante der lexikalischen Entlehnung ist eine Erscheinung, die man Lehnübersetzung nennt. Der englische Ausdruck That goes without saying ,Das versteht sich von selbst' ist ζ. B. eine wörtliche Übersetzung des französischen va sans dire. Was die Sprecher des Englischen hier entlehnt haben, sind keine lexikalischen Einheiten, sondern ein Muster für ihre metaphorische Kombination zum Ausdruck eines bestimmten Inhalts. Das Wort skyscraper ist ein weiteres Beispiel. Das Französische, mit dem Begriff gratte-ciel, und das Spanische, mit rascacielos, haben aus dem Englischen die Metapher ,den Himmel kratzen' entlehnt, um die Vorstellung eines sehr hohen Gebäudes wiederzugeben. Das deutsche Wort Wolkenkratzer unterscheidet sich nur darin, daß statt der Form .Himmel' die Form ,Wolken' erscheint.

Syntaktische und phonologische Entlehnung Lexikalische Einheiten werden verhältnismäßig leicht entlehnt. Das ist weiter nicht verwunderlich; eine lexikalische Einheit mehr oder weniger bedeutet nicht viel für eine Sprache, da das Lexikon größtenteils nur eine Liste von unabhängigen Elementen ist. Veränderungen in der Syntax oder Phonologie einer Sprache können auch auf Entlehnung zurückgehen, obgleich dies seltener vorkommt. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß ein syntaktisches oder phonologisches System aus einer integrierten Folge von Regeln besteht, so daß die Veränderung einer Regel einschneidende Konsequenzen in anderen Teilen des Systems haben könnte. Das Ausmaß, in dem sich Sprachen im Hinblick auf Syntax und Phonologie beeinflus186

sen können, kennt man nicht genau, aber es gibt Fälle, an denen sich das Vorhandensein eines derartigen Einflusses nachweisen läßt. Als Beispiel fur die Syntax können wir die Sprachen der Balkan-Halbinsel, Albanisch, Bulgarisch, Griechisch und Rumänisch, anführen. Sie ähneln sich alle syntaktisch darin, daß der Gebrauch von Infinitivsätzen stark eingeschränkt ist. Manche Balkansprachen haben sogar überhaupt keine Infinitive. Statt Die Kinder wollen gehen würde man eine Wendung wie Die Kinder wollen, daß sie gehen verwenden. Die Sprachen sind untereinander verwandt, wenn auch zum Teil nur sehr indirekt, und es besteht kein Zweifel, daß dieser gemeinsame syntaktische Zug auf gegenseitige Entlehnung zurückgeht. Die amerikanischen Indianersprachen des pazifischen Nordwestens geben ein Beispiel für Entlehnung im Bereich der Phonologie ab. Viele Sprachen dieser Gegend besitzen glottalisierte Konsonanten; der Prozentsatz ist viel höher als bei den Sprachen der Welt im allgemeinen, und trotzdem sind die Sprachen, die glottalisierte Konsonanten zeigen, nicht verwandt. Die Erklärung dürfte sein, daß die Glottalisierung sich unter den Stämmen durch Entlehnung verbreitet hat. Ein anderes Beispiel für phonologische Entlehnung findet man in den vielen indoeuropäischen Sprachen Indiens, die retro flex e Konsonanten besitzen, d.h. Konsonanten, die mit der Zungenspitze am Palatum gebildet werden. Es ist ziemlich sicher, daß diese Laute sich in den indoeuropäischen Sprachen unter dem Einfluß der Familie der drawidischen Sprachen entwickelt haben, die auch in Indien gesprochen werden und die retroflexe Konsonanten verwenden.

Gründe für die Entlehnung Ein häufiger Grund für die Entlehnung ist die Notwendigkeit, Wörter für neue Gegenstände, Begriffe und Orte zu finden. Es ist einfacher, ein vorhandenes Wort aus einer Sprache zu entlehnen, als selbst eines zu erfinden. Viele Ortsnamen in Nordamerika stammen ζ. B. aus Indianersprachen: Mississippi, Michigan, Chicago, Dakota, Oklahoma, Kentucky, Manhattan und Waukegan, um nur einige anzuführen. Von den amerikanischen Indianern stammen auch, zusammen mit den Gegenständen, die Wörter totem, wampum, moccasin und tomahawk. Von den Sprachen der Ureinwohner Australiens stammen die Wörter kangaroo und wombat. Das Wort gnu, das sich auf eine afrikanische Antilopenart bezieht, ist aus den afrikanischen Bantu-Sprachen entlehnt. 187

Die Wege der lexikalischen Entlehnung spiegeln bis zu einem gewissen Grad die Wege des kulturellen Einflusses wider. So gehört ζ. B. ein großer Prozentsatz der arabischen Wörter im Englischen dem Bereich der Naturwissenschaft an: zero, cipher, zenith, alchemy, algebra, nadir, alcohol, bismuth und alkali. Diese Entlehnungen, die durch das Spanische ins Englische gelangten, bezeugen den arabischen Einfluß in den Naturwissenschaften und der Mathematik während des frühen Mittelalters. Die Bedeutung des italienischen Einflusses im Bereich der Musik und der anderen Künste wird ersichtlich aus der langen Liste von italienischen Lehnwörtern auf diesem Gebiet: opera, tempo, adagio, soprano, piano, sonata, scherzo, virtuoso, sonnet, fresco, miniature, dilettante, balcony, cornice, corridor, colonnade, mezzanine, parapet und niche. Nach der normannischen Eroberung gelangten große Mengen von Lehnwörtern aus dem Französischen ins Englische. Unter diesen Lehnwörtern finden sich Dutzende von Termini aus den Bereichen des Regierungswesens des Militärs, des Rechtswesens und der Religion, was die Tatsache widerspiegelt, daß die normannischen Franzosen als die Eroberer einen vorherrschenden Einfluß in diesen Bereichen ausübten. Zu den Begriffen aus dem Regierungswortschatz, die aus dem Französischen ins Englische gelangten, gehören: Crown, power, state, reign, country, peer, court, duke, duchess, prince, realm, sovereign, minister, chancellor, council, authority, parliament, baron und nation. Lehnwörter aus dem militärischen Bereich sind battle, army, war, peace, lance, banner, ensign, officer, lieutenant, vessel, navy, admiral, soldier, sergeant, troops, arms, armor, assault, siege, enemy, challenge, gallant, march, company, guard, force und danger. Das englische Rechtsvokabular wurde bereichert um jury, judge, plaintiff, accuse, crime, justice, privilege, damage, traitor, felony, summon, defendant, sue, attorney, session, fee, plead, suit und property. Aus dem Bereich der Religion und der Moral gehören hierher mercy, cruel, vice, nature, blame, save, pray, preach, angel, religion, virgin, saint, tempt, grace, pity, trinity, service, savior, relic, abbey, cloister, clergy, parish, baptism, friar, altar, miracle, sermon, sacrifice, virtue, charity, chaste, covet und lechery. Dem Einströmen von französischen Lehnwörtern ins Englische während der normannischen Periode entspricht kein vergleichbarer Fluß von Lehnwörtern in der umgekehrten Richtung. Der Faktor des Prestiges, der in Kapital 3 kurz erwähnt worden war, spielt zweifellos die entscheidende Rolle. Da die Franzosen die obere Klasse bildeten, mußten Sprecher des Englischen, die den sozialen Aufstieg suchten, natürlich Französisch lernen. Der Gebrauch französischer Wörter in englischer Rede wurde allge188

mein üblich wegen des damit verbundenen Prestigegewinns. Die Franzosen dagegen spürten keinen entsprechenden Druck, Englisch zu lernen, das ja schließlich nur die Sprache der Volksmassen war. Die französische Kultur stand auch im zaristischen Rußland in hohem Ansehen. Es war für die Mitglieder der besten Gesellschaft allgemein üblich, Französisch statt Russisch zu sprechen, und französische Ausdrücke drangen in russische Gespräche ein. Als Folge davon enthält das moderne Russisch eine Vielzahl von Entlehnungen aus dem Französischen. Die Macht und Bedeutung Amerikas in der Welt von heute haben eine Entlehnungswelle eingeleitet, die der im normannischen England entgegengesetzt verläuft. Die Anzahl der englischen Lehnwörter im modernen Französisch nimmt derart rasch zu, daß es bei manchen Leuten zu einem Grund zur Beunruhigung wird (obgleich nicht recht einzusehen ist, warum eine natürliche Erscheinung wie die lexikalische Entlehnung Grund zur Beunruhigung geben sollte). Symptomatisch für diese moderne französische, Anglomanie' sind Dutzende von Ausdrücken wie snack bar, selfservice, parking,Parkplatz', check list, deep freeze, pullover, living .Wohnzimmer' expressway, pinup, whisky, sandwich, weekend und dancing .Nachtlokal'. In einer gesungenen Werbung für bestimmte alkoholfreie Getränke, die häufig von einem Sender in Tijuana gesendet wurde, folgt auf die Zeile a cada gusto, was,für jeden Geschmack' bedeutet, unmittelbar die Zeile a cada taste. Man war offenbar der Meinung, daß das Ansehen eines englischen Wortes solche Mexikaner, die modern und kultiviert wirken wollen, dazu bringen würde, die betreffenden Waren zu kaufen. Latein und Griechisch standen in der Welt der Gelehrten im Mittelalter in hohem Ansehen. Deshalb sind seit der Renaissance immer wieder Wörter aus dem Lateinischen und Griechischen ins Englische (oft über das Französische) und in andere europäische Sprachen gelangt. Sie stammen keineswegs alle aus klassischen Texten. Viele sind dadurch gebildet worden, daß man lateinische oder griechische Morpheme nach dem Muster der betreffenden Sprache oder auch nur irgendwie kombinierte, so daß das Ergebnis einen gelehrten Anstrich bekam. Wörter, die auf diese Art aus klassischen Quellen eingeführt wurden, werden manchmal gelehrte Bildungen genannt (engl.: learned words, frz.: mots savants); tausende von ihnen können in jedem großen englischen Wörterbuch gefunden werden. Am meisten konzentrieren sich gelehrte Bildungen wahrscheinlich im Wortschatz der Naturwissenschaften und anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Selbst die Bezeichnungen für diese Disziplinen sind häufig aus den klassischen Sprachen entlehnt: sociology, psychology, anthropology, 189

philosophy, philology, biology. Gelehrte Bildungen beschränken sich aber keineswegs auf diesen Bereich. Hunderte von Wörtern der englischen Alltagssprache lassen sich aufs Griechische und Lateinische zurückfuhren. Um nur eine Gruppe von Beispielen zu nennen: betrachten Sie einmal die folgenden gewöhnlichen englischen Wörter mit dem lateinischen Morphem ex ,aus, von': exact, exaggerate, exalt, exasperate, excerpt, exclude, excrete, excursion, execute, exempt, exert, exhaust, exhibit, expand, expect, expel, explain, explicit, explode, explore, export, extend, exterminate, extinct, extort, exude. Gelehrte Bildungen sind im Englischen so häufig, daß eine Anzahl von lateinischen und griechischen Morphemen produktiv geworden ist. Diese Morpheme können mit Wurzeln jeder beliebigen Herkunft kombiniert werden, nicht nur mit solchen aus den klassichen Sprachen. Ex-husband und ex-wife zeigen ζ. B. das lateinische ex als Präfix zu germanischen Formen. Das Suffix able/ible wird in folgenden Wörtern mit einheimischen Wurzeln kombiniert: answerable, eatable, bearable, laughable und salable.

Auswirkungen der Entlehnung Normalerweise wird ein entlehntes Wort dem phonologischen System der entlehnenden Sprache angepaßt. Das englische Wort rendezvous stammt aus dem Französischen, aber es gehorcht den phonologischen Prinzipien des Englischen. Es wird mit dem englischen [r] und nicht mit dem französischen ausgesprochen: der erste Vokal ist nicht-nasal, obgleich er im Französischen nasaliert ist usw. Der Grund dafür ist offensichtlich: Sprecher des Englischen können Englisch, aber meist kein Französisch. Lehnwörter werden jedoch nicht immer dem phonologischen System der entlehnenden Sprache völlig angepaßt. Dieselben Leute, die hie und da aus Prestige-Gründen französische Wörter in ihre Rede einfließen lassen, werden, aus demselben Grund, vielleicht versuchen, die französische Aussprache zu bewahren. Wenn genug Sprecher mit der Sprache, aus der entlehnt wird, vertraut sind oder wenn eine sehr große Zahl von Wörtern entlehnt wird, können die Lehnwörter als phonologisches trojanisches Pferd wirken, mit dessen Hilfe sich neue Laute in das Lautinventar der entlehnenden Sprache einschleichen können. In der Tat sind auf genau diese Weise die stimmhaften Reibelaute [v z] aus dem Französischen ins Englische eingedrungen. Es hatte sie vorher schon als phonetische Varianten anderer Lauttypen gegeben, aber nicht als distinktive Laute. Lehn190

Wörter wie very, veal, zeal und zest waren für ihre Einführung verantwortlich. Ein anderes Ergebnis starker lexikalischer Entlehnung kann die Aufteilung des Vokabulars im Hinblick auf das Wirken der phonologischen Regeln sein. Das Türkische ζ. B. besitzt Hunderte von arabischen Lehnwörtern, von denen die meisten nicht den phonologischen Regeln der V o k a l h a r m o n i e folgen, die für einheimische türkische Wörter gilt. (Vokalharmonie bedeutet, grob gesprochen, daß die Vokale eines Wortes sich alle in einer bestimmten Weise ähnlich sind. Im Fall des Türkischen müssen alle Vokale eines Wortes darin übereinstimmen, daß sie entweder Vorderzungenvokale oder Hinterzungenvokale sind — Vorderzungenvokale und Hinterzungenvokale können nicht zusammen im selben Wort vorkommen.) Folglich verhalten sich die arabischen Lehnwörter im Hinblick auf die phonologischen Regeln des Türkischen auf eine bestimmte Weise, während sich die einheimischen Wörter auf eine andere Weise verhalten. Das Kind, das türkisch lernt, muß fur jedes Wort, das es neu hinzuerwirbt, lernen, in welche Klasse es gehört, denn diese Information bestimmt das Verhalten des Wortes im Hinblick auf die phonologischen Regeln und ist so teilweise verantwortlich für die Bestimmung seiner Aussprache. Eine vergleichbare Aufteilung des Wortschatzes gibt es in vielen anderen Sprachen auch. Die Entlehnung von lexikalischen Einheiten kann also einen wichtigen Einfluß auf das phonologische System einer Sprache haben. Man kann sogar die Hypothese wagen, daß dies der entscheidende Mechanismus ist, durch den Sprachen sich gegenseitig phonologisch beeinflussen.

Innerer Wandel

Veränderungen im Wortschatz Nicht alle Veränderungen in Sprachsystemen kommen durch den Einfluß anderer Sprachen zustande. Entlehnung kann in allen ihren Formen als V e r ä n d e r u n g v o n a u ß e n (external change) beschrieben werden, da sie sich aus einem sprachlichen Einfluß von außen ergibt. Ohne zu behaupten, daß es eine saubere ZweiteÜung gibt, können wir Veränderungen, die nicht durch Entlehnung bewirkt werden, als i n n e r e n W a n d e l (internal change) bezeichnen. Innerer Wandel kann auf allen Ebenen der Sprachstruktur festgestellt werden. Er betrifft einzelne lexikalische Einheiten ebenso wie allgemeine

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Regeln und kommt gleichermaßen im semantischen wie im syntaktischen und phonologischen System einer Sprache vor. Die einfachste Form inneren Wandels ist das Hinzukommen oder Verschwinden von lexikalischen Einheiten. Es gab einmal ein englisches Wort cere, das,Wachs' bedeutete; heute ist es veraltet. Um den Begriff .Götze' auszudrücken, würde kaum ein heutiger Sprecher sich des Wortes maumet bedienen wollen, aber es gab eine Zeit, da war dieses Wort gängig. Congree .übereinstimmen' (heutiges Englisch: agree) wird nicht mehr gebraucht, und das gleiche gilt für das Wort neat ,Vieh' (ein einheimisches Wort, das man nicht mit dem modernen englischen Wort neat,ordentlich' verwechseln darf, das aus dem Französischen stammt). Diese Beispiele zeigen ganz einfach, daß Wörter aus dem allgemeinen Gebrauch in Vergessenheit geraten können. Gäbe es keine schriftlichen Zeugnisse, wir wüßten gar nichts von Wörtern wie maumet und cere. Der Verlust von lexikalischen Einheiten wird uns selten bewußt. Sie verschwinden nicht plötzlich, so daß wir uns fragen würden, wo sie denn geblieben sind; der Vorgang des Veraltens geht langsam vor sich. Aus irgendeinem Grund verlieren bestimmte Wörter ihre Beliebtheit und werden weniger gebraucht; nach und nach werden sie aus den Augen verloren, bis sie schließlich, nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, völlig verschwinden. Wir können viele lexikalische Einheiten angeben, die im Begriff sind, in Vergessenheit zu geraten. Lo ist ζ. B. kein gebräuchliches Wort mehr; manche Sprecher würden es ohne seinen zweiten Partner im Gespann Lo and behold (,siehe da!') gar nicht erkennen. Fro kommt nur noch in der festen Wendung to and fro (,hin und her') vor. Verily klingt deutlich nach Bibelsprache. Nicht einmal Eigennamen und Flüche entziehen sich der Ebbe und Flut sprachlicher Mode. Heutige amerikanische Eltern nennen ihre Kinder nur selten Egbert, Bertha oder Percival. Die archaischen Flüche Zounds! oder Egad! werden nie ohne scherzhaften Beiklang verwendet. Manche dieser Ausdrücke könnten natürlich wieder Beliebtheit erlangen, aber es ist doch wohl unwahrscheinlich. In einer hochtechnisierten und komplexen Gesellschaft wie der unsrigen werden dauernd neue lexikalische Einheiten gebraucht. Wo die Entlehnung sich nicht als Möglichkeit zum Erwerb eines neuen Begriffs anbietet, gibt es noch andere Möglichkeiten. Ein neuer Begriff kann völlig neu gebildet werden, genau auf den neuen Zweck gemünzt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, lexikalische Einheiten zu kombinieren und damit zusammengesetzte Einheiten zu bilden, die auf irgendeine Weise beschreibend oder angemessen sind. Ein dritter Weg, einen neuen Begriff 192

bereitzustellen, ist, den Gebrauch eines alten auszuweiten und ihn damit für neue Situationen anwendbar zu machen. Von diesen drei Methoden wird die erste am seltensten angewendet. Meistens neigt man eher dazu, schon vorhandenes lexikalisches Material neu anzupassen, als völlig neues Material zu schaffen. Warenbezeichnungen könnte man als einen Bereich betrachten, in dem Neubildungen für neue Produkte häufig sind, aber selbst hier beziehen sich die meisten Begriffe auf schon vorhandene lexikalische Einheiten. Die meisten Warenbezeichnungen kommen entweder von Eigennamen her (Ford, Mercedes) oder von anderen schon vorhandenen Morphemen {Golf, Kadett, Mustang). Von denen, auf die dies nicht zutrifft, ist bei weitem die Mehrzahl auf ziemlich durchsichtige Weise nach dem Muster vorhandener Morpheme gebaut. Vel, Lux, Jello, Britto und Fab z.B. zeigen große Ähnlichkeit mit velvet, luxury, gelatin, brilliant und fabulous; diese Ähnlichkeit ist alles andere als zufällig. Der Slang dürfte eine wichtige Quelle sprachlicher Erfindungen sein, wie etwa gammeln, grapschen, die Piepen, der Macker. Aber auch Slang-Aüsdrücke bestehen meistens aus alten lexikalischen Einheiten in neuem semantischen Gewand. Die Bildung von komplexen lexikalischen Einheiten ist ein derart häufiges Mittel zur Schaffung neuer Wörter, daß es vielleicht ausreicht, einige wenige Beispiele zu geben. Als die Linguisten von Stammbaumstruktur, spelling pronunciation (, Aussprache nach der Schreibung'), hyperkorrekten Formen, Lehnübersetzungen, Oberflächenstruktur und Idiolekten zu reden begannen, kombinierten sie schon vorhandene lexikalische Einheiten zu komplexeren Einheiten, die als technische Termini dienten. Das Wort hippie ist kerne völlige Neuschöpfung; es besteht aus dem Diminutivsuffix y/ie (wie in sonny, birdie), das an das ältere Morphem hip angefügt wurde. Entsprechend wurden neue Wörter wie beatnik, peacenik und Vietnik dadurch gebildet, daß man an ein schon vorhandenes Wort das Morphem nik anfügte, das durch das russische Lehnwort sputnik und jiddisch nudnik in die englische Sprache gelangt war. Das Wort hamburger (ursprünglich von Hamburg) wurde von Sprechern des Englischen offensichtlich als ham+burger analysiert. Die so entstandene lexikalische Einheit burger ist die Quelle einer endlosen Zahl von Wortschöpfungen geworden, zu denen cheeseburger, pizzaburger, chiliburger, tomatoburger, mushroomburger, tunaburger, beeßurger, doubleburger, steakburger und Burger Chef gehören, wobei der erste Teil der Bildung zumeist die Art des Belages zwischen den beiden Brötchenhälften bezeichnet. Die Liste von Neuschöpfungen aus altem lexikalischem Material könnte unendlich verlängert werden. 193

Die Ausweitung von vorhandenen lexikalischen Einheiten auf neue Situationen umfaßt sowohl die metaphorische Seite der Sprache als auch den semantischen Wandel. Metaphorische Ausweitungen kommen vor in so verschiedenen Bereichen wie der naturwissenschaftlichen Terminologie (elektromagnetische Welle, Strahlung^ürie/, Solarsiurm), den Warenbezeichnungen (das amerikanische Waschmittel Salvo, der Lastwagen Opel Blitz, die amerikanische Zigarettenmarke Spring .Frühling') und dem Slang (LSO-trip, sich jemanden angeln, bei der Polente singen). Natürlich handelt es sich nicht bei allen Ausweitungen um Metaphorik. So ist es ζ. B. allgemein üblich, einen Eigennamen zur Bezeichnung eines neuen Produkts zu verwenden, wie bei Kent, Newport, Salem, Chesterfield, Marlboro, Winston etc. In anderen Fallen wird eine Bezeichnung nur deshalb gewählt, weil sie einen günstigen oder ungünstigen Beiklang hat, oder aber, um einfach irgendeine Bezeichnung zu finden. Die Bezeichnungen True und Lucky Strike wurden zweifellos wegen ihrer positiven Assoziationen als Zigarettennamen gewählt. Fuzz als Bezeichnung für die Polizei dürfte der entgegengesetzten Absicht entspringen. Der Warenname Pure Oil ist offensichtlich werbewirksam gemeint, während Shell eine willkürliche Wahl darstellt. Die metaphorische Ausweitung ist eine der Möglichkeiten, wie es zum Bedeutungswandel kommt, aber keineswegs die einzige. Bei der Polente singen war zweifellos ein sehr farbiger Ausdruck, als er neu war, aber Metaphern verblassen durch häufigen Gebrauch. Die bildliche Ausdruckskraft von singen hat mit der Bekanntheit des Ausdrucks abgenommen. Singen hat, kurz gesagt, die Bedeutung jemanden verraten' angenommen, die es von Haus aus nicht hatte. Diese Ausweitung des Gebrauchs bedeutet einen Wandel im semantischen System. Über eine Zeitspanne von Jahrhunderten hin verändern sehr viele lexikalische Einheiten einer Sprache ihre Bedeutung. Das französische Verb traire besaß einmal die allgemeine Bedeutung ,ziehen'. Im modernen Französisch ist es auf die Bedeutung ,melken' beschränkt. Cuisse .Oberschenkel' bedeutete ursprünglich ,Hüfte' (lateinisch coxa). Das deutsche Wort geil hatte im Mittelhochdeutschen die Bedeutung ,fröhlich'. Im Englischen bedeutete nice ,hübsch' ursprünglich .töricht'. Silly .töricht' dagegen hatte die Bedeutung .glücklich, selig, unschuldig'. Cheek ,Wange' ist die moderne Fortsetzung des altenglischen Wortes für ,Unterkiefer'. Das Wort meat bedeutete früher .Nahrung', hat aber seinen Bedeutungsbereich eingeengt und bezeichnet nur noch eine bestimmte Art von Nahrung. Bird hat eine Bedeutungserweiterung erfahren: ursprünglich hieß es .junger Vogel'. Bead .Perle' bedeutete einst .Gebet'; seine heutige Be194

deutung erhielt es, weil man beim Gebet die Perlen des Rosenkranzes verwendete. Es dürfte klar sein, daß es keine eindeutige Formel zur Beschreibung der Beziehung zwischen der alten und der neuen Bedeutung einer lexikalischen Einheit gibt, die einen Bedeutungswandel durchgemacht hat. Die Beziehung ist zuweilen sehr indirekt und oft nur durch außersprachliche Faktoren vermittelt. Hätte es den Gegenstand Rosenkranz nicht gegeben, besäße das Wort bead nicht seine heutige Bedeutung. Eine lexikalische Einheit läßt sich als ein Bündel von semantischen, syntaktischen und phonologischen Eigenschaften beschreiben. Wir haben eben festgestellt, daß es keineswegs ungewöhnlich ist, wenn eine lexikalische Einheit sich im Hinblick auf ihre semantische Repräsentation verändert. Es mag etwas seltener sein, daß sich die syntaktische oder die phonologische Repräsentation einer lexikalischen Einheit verändert, aber auch das kommt vor. Einige englische Substantive, zu denen für die meisten Sprecher friend und für manche Sprecher auch enemy gehört, haben ihre syntaktische Repräsentation verändert, so daß es nun Ausdrücke wie Bill is friends with Harvey gibt. Wir haben im Englischen eine systematische Beziehung zwischen Sätzen mit koordinierten Subjekten und solchen mit einem einfachen Subjekt und einer Präpositionalphrase, z.B. Paul and Mary came / Paul came with Mary; The car and the truck collided / The car collided with the truck; The oil and the water mixed / The oil mixed with the water. Wenn das Prädikat, das einem koordinierten Subjekt folgt, aus einem Substantiv im Plural besteht, gibt es normalerweise keine entsprechende Wendung mit einer Präpositionalphrase; entsprechend gibt es zwar Bill and Harvey are colleagues, Bill and Harvey are (old) acquaintances und Bill and Harvey are antagonists, aber die folgenden Sätze sind ungrammatisch: Bill is colleagues with Harvey, Bill is (old) acquaintances with Harvey, Bill is antagonists with Harvey. Das Muster scheint jedoch seinen Geltungsbereich zu erweitern, denn neben Sätzen wie Bill and Harvey are friends und Bill and Harvey are enemies gibt es die akzeptablen Varianten Bill is friends with Harvey und Bill is enemies with Harvey. Die syntaktische Repräsentation von friend hat sich verändert, da jetzt friends (nicht aber colleagues, acquaintances, antagonists, scientists usw.) auch in der Wendung mit der Präpositionalphrase vorkommen kann. In denjenigen Dialekten, in denen Bill is enemies with Harvey als nicht abweichend empfunden wird, hat die Veränderung auch auf enemy übergegriffen. Diese Veränderung in dem Morphem friend war rein syntaktischer Natur, da friend in Harvey and I are friends und I'm friends with Harvey 195

das gleiche bedeutet. Recht häufig treten jedoch syntaktischer und semantischer Wandel gemeinsam auf. Wenn ein Morphem in eine andere syntaktische Klasse übertritt, erwirbt es eine neue Bedeutung. Die Präposition bzw. das Adverb up kann ζ. B. heute als Verb verwendet werden (The manager upped the prices). Der neue syntaktische Gebrauch geht parallel mit einer neuen Bedeutung, .erhöhen'. Down ist ebenfalls ein Verb geworden, wobei es die Bedeutungen .trinken' und ,aus der Luft herunterholen' besitzt (He downed the medicine, Snoopy downed the Red Baron's plane). Hunderte von Beispielen für einen derartigen doppelten Wandel ließen sich aufzählen. Wenn wir dies als syntaktischen Wandel betrachten wollen, dann kann man sagen, daß lexikalische Einheiten sich häufig in ihren syntaktischen Eigenschaften verändern. Einzelne lexikalische Einheiten können auch eine Veränderung ihrer phonologischen Repräsentation erfahren. Unter dem Einfluß seiner Schreibung wird often heute von vielen Leuten mit [t] ausgesprochen. Diese Idiolekte spiegeln einen Wandel der phonologischen Repräsentation wider, denn in einer früheren Periode des Englischen wurde das [t] nicht ausgesprochen. Im Deutschen trat im 13. Jahrhundert an eine Reihe von Wörtern, die auf [s] ausgingen, ein [t] an, so bei Axt (mittelhochdeutsch ackes), Obst, Palast, Papst. Häufiger sind die phonologischen Veränderungen in Morphemen morphologischer Natur. Der Plural von kint ,Kind' lautete im Mittelhochdeutschen noch kint; erst später hat sich die Pluralbezeichnung durch -er durchgesetzt. Im Englischen war der Plural von brother einmal brethren, aber heute ist er brothers; brethren hat sich nur noch als religiöser Archaismus erhalten. Für manche Sprecher des Englischen ist der plural von ox nicht oxen, sondern oxes. Für diese Sprecher ist ox nicht mehr eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln, die die phonetische Realisierung des Pluralmorphems bestimmen. Seine phonologischen Eigenschaften haben sich verändert, da es in einem veränderten Verhältnis zu den phonologischen Regeln des Englischen steht. Als letztes Beispiel wollen wir die Konjugation des französischen Verbs aimer betrachten. Als regelmäßige Entwicklung aus dem Lateinischen besaß es die Präsensformen j'aime ,ich liebe', tu aimes ,du liebst', il aime ,er liebt', nous amons ,wir lieben', vous amez ,ihr liebt', ils aiment ,sie lieben'. Beachten Sie, daß der Wurzelvokal in vier Formen ai [ε ] ist, aber einfaches a [a] in den zwei restlichen. Im modernen Französisch ist ai auf alle Formen ausgedehnt worden: nous aimons ,wir lieben' und vous aimez ,ihr liebt'.

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Regelveränderungen Veränderungen der Eigenschaften einzelner lexikalischer Einheiten sind meistens sporadisch und nur für die eine Einheit ch; rakteristisch. Da solche Veränderungen sich auf einzelne lexikalische Einheiten beschränken, ist ihre Auswirkung auf das Sprachsystem minimal. Von viel größerer Bedeutung sind Veränderungen in den Regeln einer Sprache. Da Regeln sich auf ganze Klassen von lexikalischen Einheiten und auf unendliche Mengen von Satzstrukturen beziehen, kann die Oberflächenwirkung einer Regelveränderung beträchtlich sein. Veränderungen kommen sowohl in dem syntaktischen als auch in dem phonologischen System von Sprachen vor. Sie können darin bestehen, daß Regeln verloren gehen oder hinzukommen oder daß bestehende Regeln modifiziert werden. Im modernen Französisch sind Possessivausdrücke wie mon livre ,mein Buch' und le mien ,das meine (meines)' syntaktisch verwandt. Zum Beispiel: die beiden Sätze Ce livre est mon livre 'Dies Buch ist mein Buch' (was ungeschickt, aber grammatisch ist) und Ce livre est le mien ,Dies Buch ist das meine' realisieren dieselbe zugrundeliegende Struktur. Vor allem realisieren die beiden Nominalphrasen mon livre und le mien dieselbe zugrundeliegende Struktur. Verschiedene syntaktische Regeln wirken zusammen, um eine abstrakte Struktur der Form le mien livre, wörtlich ,das meine Buch' (analog zu le grand livre ,das große Buch') hervorzubringen. Wenn livre die Wiederholung eines Substantivs ist, das schon vorher im Satz vorkommt, kann es getilgt werden, so daß le mien übrigbleibt; z.B. wird die zugrundeliegende Struktur Ce livre est le mien livre auf diese Art reduziert zu Ce livre est le mien ,Dies Buch ist das meine'. Wenn jedoch livre nicht getilgt wird, muß der Artikel le getilgt werden; der so entstehende Ausdruck, mien livre, wird phonologisch als mon ZUGRUNDELIEGENDE

STRUKTUR

le mien livre

'das meine Buch'

OBERFLÄCHENSTRUKTUR Abb. 7.1 197

livre ,mein Buch' realisiert. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 7.1 dargestellt. Uns interessiert hier die Artikel-Tilgungsregel, da diese Regel sich im Laufe der historischen Entwicklung des Französischen verändert hat. Im modernen Französisch kann diese Regel nur angewendet werden, wenn das Substantiv nicht getilgt ist; wenn aber das Substantiv noch vorhanden ist, dann ist die Tilgung des Artikels obligatorisch. Wenn das Substantiv getilgt ist, so daß sich le mien ,das meine' ergibt, kann der Artikel nicht getilgt werden, da mien allein ungrammatisch ist. Ist jedoch das Substantiv in le mien livre nicht getilgt, muß der Artikel getilgt werden, da nur mon livre grammatisch ist, nicht aber le mien livre. Die Artikel-Tilgungsregel kam auch im Altfranzösischen vor, aber sie wurde unter etwas anderen Bedingungen angewendet. Im Altfranzösischen, um das 12. Jahrhundert, konnte der Artikel getilgt werden, ob das Substantiv vorhanden war oder nicht, und die Regel war eher fakultativ als obligatorisch. Demnach waren Ausdrücke wie L 'abaie est moie ,Die Abtei ist meine' und Ii nostre deu ,(der) unsere Gott' wohlgeformt, obgleich ihre Gegenstücke im modernen Französisch es nicht mehr wären. Die Artikel-Tilgungsregel hat sich also im Laufe der historischen Entwicklung des Französischen insofern verändert, als die Bedingungen für ihre Anwendung sich verändert haben. Ein weiteres Beispiel für historische Veränderung in syntaktischen Regeln wollen wir im Englischen betrachten. Im heutigen Englisch kann die Negation not direkt nach gewissen Verben vorkommen, aber nicht nach anderen. Die Modalverben (wie can, may, will) können direkt vor not stehen, desgleichen have, be und do. Sätze wie He cannot come, He has not come, He is not coming und He does not come sind grammatisch, während solche wie He comes not, He likes not chicken ungrammatisch sind. Es war jedoch früher so, daß not jedem beliebigen Verb folgen konnte, nicht nur diesen wenigen. Beispiele dafür sind It aperteneth nat to a vvys man ,Es schickt sich nicht für einen weisen Mann' und Y f f the maters went not to my maister entent ,Wenn die Angelegenheiten nicht nach der Vorstellung meines Herrn liefen', wo not den Verbformen aperteneth und went folgt. Also haben sich die syntaktischen Regeln, die die Stellung des not in englischen Sätzen bestimmen, geändert. Als letztes Beispiel wollen wir Possessivwendungen des Englischen betrachten, etwa John's friend. Man kann mit gutem Grund annehmen, daß solche Nominalphrasen auf zugrundeliegende Strukturen der Art the friend of John's (parallel zu a friend of John's) zurückgehen. Syntaktische Regeln permutieren die Possessiv-Nominalphrase John 's mit friend 198

(und tilgen of und the) und produzieren so John's friend aus der vorausgesetzten zugrundeliegenden Struktur. Im heutigen Englisch kann die gesamte Possessiv-Nominalphrase permutiert werden, selbst wenn sie ziemlich komplex ist. (Man kann sich selbst Monstrositäten leisten wie The woman who I went to the party with's husband.) Früher war jedoch die Permutationsregel in ihrer Wirkung weit mehr eingeschränkt, da Nebensätze und Satzteile, die die Possessiv-Nominalphrase ergänzen, nicht verschoben werden konnten. Statt The King of England's throne sagte man the King's throne of England; dabei wurde die Ergänzung of England nach dem Substantiv belassen. Die Regel, die diese Permutation bewirkt, ist folglich im Laufe der historischen Entwicklung des Englischen gelockert worden. Die Untersuchung von phonologischen Systemen erbringt eine Vielzahl von Beispielen für einen Wandel durch Hinzufugung oder Verlust von phonologischen Regeln. Betrachten wir ζ. B. die phonologischen Regeln, die die morphologischen Muster des Altenglischen bestimmten. Das Englische war einst eine stark flektierende Sprache; es war gekennzeichnet durch verschiedene Formen der Wortendungen, die Kasus, Genus, Numerus, Person, Tempus usw. unterschieden, ähnlich wie es im Lateinischen, Deutschen und Russischen der Fall ist. Das Wort scip ,Schiff besaß verschiedene Endungen, die von seiner grammatischen Funktion im Satz (Kasus) oder seiner Charakterisierung für Plural oder Singular (Numerus) abhingen. Scip wurde für Nominativ und Akkusativ Singular verwendet; scipes war die Form des Genitiv Singular; scipe war Dativ Singular. Die entsprechenden drei Pluralformen waren scipu, scipa und scipum. Auch wenn wir die phonologische Struktur des Altenglischen nicht im einzelnen untersuchen, wird deutlich, daß es eine ganze Anzahl von phonologischen Regeln gegeben haben muß, deren Hauptfunktion es war, die Formen dieser Flexionsendungen anzugeben. Im heutigen Englisch ist jedoch die Flexion relativ schwach ausgebildet. Substantive besitzen nur eine Pluralendung und eine Genitiv- oder Possessivendung, die beide, wie wir gesehen haben, in den meisten Fällen fz] sind. Die Flexionen der Verben und Pronomina sind wesentlich vereinfacht worden, und die Flexion der Adjektive ist völlig beseitigt worden, mit Ausnahme der Komparativund Superlativformen (stronger, strongest). Es sind also viele phonologische Regeln des Englischen aus der Sprache entfernt worden. Auch einige syntaktische Regeln zur Kennzeichnung der Kasus und der Kongruenz müssen verloren gegangen sein. Beim Vergleich des Lateinischen mit dem Französischen finden wir 199

den Fall einer phonologischen Regel, die zwar erhalten geblieben ist, sich aber im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Die Regel, um die es hier geht, ist die Betonungsregel. Im Lateinischen fallt die Betonung auf die zweitletzte Silbe eines Wortes, wenn diese Silbe „schwer" ist; andernfalls wird die drittletzte Silbe betont. Eine Silbe ist schwer, wenn sie entweder einen langen Vokal besitzt oder auf zwei oder mehr Konsonanten ausgeht (es sei denn, der zweite Konsonant ist ein Liquid). Anteponö ,ich ziehe vor' wird also auf der zweitletzten Silbe betont; diese Silbe ist schwer, weil sie einen langen Vokal enthält (ein Strich über dem Vokal bezeichnet die Länge). Ebenso wird adversus auf der zweitletzten Silbe betont, weil dem Vokal e zwei Konsonanten folgen. Difficilis .schwierig' dagegen wird auf der drittletzten Silbe betont, weil die zweitletzte nicht schwer ist. Um die Regel ganz auszuformulieren, müssen wir noch hinzufügen, daß ein Wort mit weniger als drei Silben auf der ersten Silbe betont wird (ζ. B. bene ,wohl', res,Sache'). Die Entwicklung des Lateinischen zum Französischen umfaßte neben vielen anderen Veränderungen auch eine Modifizierung der Betonungsregel. Die Regel im heutigen Französisch lautet einfach: der letzte Vokal eines Wortes ist betont. So werden ζ. B. ami,Freund', cheval,Pferd', flnira ,er wird beenden' und examiner .prüfen' phonetisch mit Betonung dargestellt als [ami], [Saväl], [finirä] und [egzamine]. Die einzige Einschränkung ist die, daß das End-fa] bei der Festlegung der Betonung unberücksichtigt bleibt. Femme ,Frau' kann man ζ. B. entweder [fäma] oder [fam] aussprechen, das [a] trägt auf jeden Fall die Betonung. Der Vergleich des Lateinischen mit dem heutigen Französisch zeigt auch ein Beispiel für phonologischen Wandel durch Hinzufiigung einer Regel. Das Französische besitzt eine Regel, die betontes [a] in einer großen Klasse von Morphemen zu [ε] verändert, wie die folgenden Wörter zeigen: mer sei claire

[mer] [sei] [klcr]

,Meer' ,Salz' .klar'

marine saline clarte

[marina] [saline] [klarte]

.Marine' .Saline' .Klarheit'

Mer, sei und clair besitzen die zugrundeliegende Repräsentation [mar], [sal] und [klar]. Der Vokal erscheint sichtbar in diesen Morphemen, wenn die Endung ine oder te hinzugefügt wird, da dann die Endung den Ton trägt. Erscheinen jedoch diese Morpheme isoliert als volle Wörter, so ist [a] der letzte Vokal, und es ergibt sich [mär], [sal] und [klär]. Auf diese Formen ist nun die Regel anzuwenden, die betontes [a] in [ε] über200

fuhrt; sie leitet davon die phonetischen Folgen [mer], [sei] und [kler] ab. Diese Regel gehörte nicht zur lateinischen Phonologie, wie die Wörter märe ,Meer\ sal und clarus zeigen, von denen die betreffenden französischen Wörter abstammen.

Sprachwandel und Spracherwerb Veränderungen in der Struktur einer Sprache spielen sich nicht in Augenblicken ab. In einem bestimmten Idiolekt, dem Sprachsystem eines einzelnen Sprechers, kann es vorkommen, daß bestimmte kleinere Veränderungen innerhalb von Augenblicken stattfinden; ein Sprecher kann etwa ein Wörterbuch aufschlagen und ein neues Wort lernen. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn wir die Sprache als ein vielen Sprechern gemeinsames System betrachten, und es ist wahrscheinlich nicht einmal für IdiolektVeränderungen charakteristisch. Nehmen wir ζ. B. das Wort hippie, das sich sehr schnell in der ganzen englischsprechenden Welt verbreitet hat. Irgendjemand muß das Wort als erster gebraucht haben, oder vielleicht haben es mehrere Leute unabhängig voneinander erfunden. In beiden Fällen werden Wochen oder Monate vergangen sein zwischen seiner Prägung und dem Zeitpunkt, wo es in allgemeinem Gebrauch war. Man kann mit Sicherheit sagen, daß es immer noch Sprecher des Englischen gibt, die es nicht kennen. Die meisten neuen lexikalischen Einheiten brauchen viel länger, sich zu verbreiten und in allgemeinen Gebrauch zu kommen, wenn es überhaupt dazu kommt. Darüberhinaus kann es sein, daß ein Sprecher sich eine neue lexikalische Einheit nur nach und nach aneignet. Vielleicht sah ein Sprecher bei einem Besuch in San Francisco das Wort hippie in einer Zeitungsüberschrift; erst später jedoch, als es in weiteren Kreisen gebraucht wurde und es ihm mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen begegnet war, wurde ihm klar, was es genau bedeutet. Veränderungen im Regelsystem einer Sprache verbreiten sich noch langsamer als lexikalische Veränderungen. Denken Sie an die Regel in manchen englischen Dialekten, daß [ε] vor [n] phonetisch als [t] realisiert wird. Für die Sprecher, die diese Regel kennen, werden pen und pin beide [pin] ausgesprochen, und penny reimt sich auf mini Diese Regel ist ziemlich weitverbreitet. Die Sprache gewisser Radio- und Fernsehsprecher ist durch die Aussprache des [ε] vor [n] als [i] charakterisiert, so daß praktisch alle Sprecher des amerikanischen Englisch diese sprachliche Besonderheit schon gehört haben. Aber, während die meisten Sprecher, 201

die dem Wort hippie öfters begegnet sind, es in ihren Wortschatz und damit in ihr Sprachsystem aufgenommen haben, gilt dasselbe nicht für die genannte phonologische Regel. Obgleich praktisch alle Amerikaner schon gehört haben, daß pen und pin gleich ausgesprochen werden, haben die meisten sich die phonologische Regel, die dafür verantwortlich ist, nicht angeeignet. Idiolekte, die diese Regel besitzen, stehen also neben solchen, die sie nicht besitzen. Dieser sprachliche Unterschied beeinträchtigt die Kommunikation nicht (meistens wird er nicht einmal bemerkt), und die Kommunikation hat bis jetzt den Unterschied auch noch nicht beseitigt. Vielleicht wird das nie geschehen. Nehmen wir aber an, wir kämen in einigen Jahrhunderten zuriick in das Sprachgebiet des amerikanischen Englisch und stellten fest, daß alle Sprecher eine Regel besitzen, die t e ] vor Nasalen als [i] realisiert. Unter dieser größeren zeitlichen Perspektive würden wir sagen, daß das Englische eine phonologische Veränderung durchgemacht hat, die darin besteht, daß dem phonologischen System eine Regel hinzugefügt worden ist. Das hätte dann aber Jahrzehnte oder Jahrhunderte gebraucht, um sich auf alle Sprecher auszudehnen, und wäre alles andere als eine augenblickliche Veränderung. Wenn wir von Veränderungen sprechen, die eine Sprache in ihrer historischen Entwicklung durchgemacht hat, sind wir uns darüber im klaren, daß die allgemeine Annahme der Neuerungen vielleicht sehr lange Zeit benötigt hat. Man nimmt an, daß Erwachsene in ihrer sprachlichen Beweglichkeit beschränkt sind. Ein Erwachsener, der eine Fremdsprache lernt, wird eine den Einheimischen nahekommende Sprachfähigkeit nur mit großer Schwierigkeit erwerben, und er wird die Sprache fast immer mit einem Akzent sprechen (was zum Teil darauf beruht, daß er von dem ihm schon bekannten phonologischen System auf das andere schließt). Trotz der sprachlichen Erstarrung der Erwachsenen kommen in ihrer Sprache doch Neuerungen vor. Selbst der letzte Mummelgreis kann ζ. B. das Wort hippie lernen. Außerdem können Erwachsene ihre Sprache auch im Hinblick auf Regeln verändern, wenn sie sie bewußt oder unbewußt, nach dem Muster eines anderen Dialekts formen. Ein erwachsener Texaner, der in den Mittelwesten zieht, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit seine Aussprache anpassen, indem er die Unterschiede zwischen sich und den Sprechern seiner Umgebung verkleinert. Ein Erwachsener, der auf sozialen oder beruflichen Aufstieg aus ist, wird, vielleicht mit einigem Erfolg, seine Grammatik zu „verbessern" suchen. Obwohl wir bis jetzt auf Vermutungen angewiesen sind, ist es durchaus möglich, daß neueingeführte Regeln bei erwachsenen Sprechern nur 202

eine dünne Politurschicht über ihren im Kindesalter gelernten Regelsystem sind. In Augenblicken der Erregung können Feinheiten der Grammatik und der Aussprache, um die sich ein Erwachsener sorgfältig bemüht hat, spurlos verschwinden. Ob diese Einschätzung nun stimmt oder nicht, so ist es jedoch für ein klareres Verständnis des Sprachwandels wichtig, daß wir den kindlichen Erwerb der Muttersprache verstehen. Ein sprachlicher Zug, der für Erwachsene eine Neuerung bedeutet, wird von einem Kind, das das veränderte Sprachsystem als Muttersprache lernt, nicht als solche betrachtet werden. Ein Erwachsener, der eine neugeprägte lexikalische Einheit lernt, kann sie als Neuheit erkennen. Für Kinder späterer Generationen wird dieses Wort überhaupt keinen Klang der Neuheit haben, da es von Anfang an zu ihrem Idiolekt gehört. Wenn die Stellung des Wortes bei erwachsenen Sprechern unsicher ist, so wird diese Unsicherheit verschwinden, wenn es von neuen Generationen von einheimischen Sprechern der Sprache als gleichberechtigtes Wort neben älteren lexikalischen Einheiten gelernt wird. Der Unterschied zwischen dem Sprachenlernen von Kindern und dem von Erwachsenen hat zweifellos mehr Bedeutung im Hinblick auf Neuerungen im Bereich der sprachlichen Regeln, da ja auch Erwachsene sich lexikalische Einheiten verhältnismäßig leicht aneignen können. Man hat die Hypothese aufgestellt, daß neue syntaktische oder phonologische Regeln im Sprachsystem von Erwachsenen nur eine Sekundärstellung einnehmen können und daß sie am Rande des im Kindesalter gelernten Regelsystems der Erwachsenen bleiben. Betrachten wir dagegen das Kind, das Sprache um sich hat, die durch neue Regeln gekennzeichnet ist. Da das Kind keine früheren sprachlichen Erfahrungen besitzt, in denen die Neuerungen fehlten, wird es ganz natürlich die neuen Sprachzüge gleichrangig mit allen anderen Zügen der Sprache behandeln, die es zu lernen versucht. Folglich lernt das Kind die neuen Regeln als einen integralen Bestandteil des Sprachsystems, das es erwirbt, und nicht etwa als oberflächliche Anhängsel daran. Das Sprachsystem, das sich das Kind selbst aufbaut, wenn es sprechen lernt, kann sogar einfacher sein als das entsprechende System der Erwachsenen, besonders wenn dieses Regelneuerungen enthält. Nehmen wir ζ. B. an, das phonologische System eines Erwachsenen wird durch die Hinzufiigung mehrerer Regeln modifiziert, und diese Regeln haben für ihn nur eine sekundäre, periphere Stellung. Wenn ein Kind den modifizierten Dialekt lernt, dann werden diese neuen Regeln als ein integraler Bestandteil in sein Sprachsystem eingebracht und nicht als isolierte Anhängsel. Auf diese Weise sehen Kinder die Sprache mit neuen Augen an, wenn sie sie

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lernen, und ihre Leistung kann eine Neu strukturierung des Systems mit sich bringen. Zur Illustration wählen wir ein hypothetisches Beispiel. Nehmen wir an, es gibt eine Sprache, die eine Regel enthält, nach der [t] am Ende eines Wortes aspiriert wird. Ein Morphem mit der zugrundeliegenden Repräsentation [kit] würde also phonetisch als [kit h ] realisiert, wobei das hochgestellte h nach einem Segment anzeigt, daß das Segment aspiriert ist. Wir nehmen weiter an, daß eine Neuerung stattfindet; aus irgendwelchen unbekannten Gründen, vielleicht nur wegen des stilistischen Werts, beginnen Sprecher Wörter mit [s] statt [ t h ] auszusprechen. Auf Grund dieser Neuerung wird dann das Morphem, dessen zugrundeliegende Repräsentation [kit] ist, [kis] ausgesprochen. Wenn wir davon ausgehen, daß Erwachsene neue Regeln vorwiegend als isolierte Elemente lernen, dann bedeutet Neuerung für sie die Hinzufügung einer phonologischen Regel, einer Regel, die [t h ] als [s] realisiert. [kit]wird also in zwei Schritten in die phonetische Folge [kis] überfuhrt. Zuerst verändert die ursprüngliche Regel [kit] zu [kit h ], da das [t] am Ende des Wortes steht. Dann realisiert die neue Regel [kit h ] als [kis]. Wenn nun Kinder Sprecher dieser hypothetischen Sprache werden, sehen sie die Sache mit neuen Augen an. Nehmen wir an, es ist strukturell bezeugt, daß [kit] als die zugrundeliegende Form für [kis] anzusetzen ist (vielleicht ist ζ. B. dieses Morphem ein Verb, das im Präteritum als [kita] realisiert wird, so daß das zugrundeliegende [t] sichtbar wird). Diejenigen, die diese Sprache lernen, sehen sich also zugrundeliegenden Formen wie [kit] gegenüber gestellt, die phonetischen Folgen wie [kis] zugeordnet sind; als Teil des Sprachelernens müssen sie sich eine Regel konstruieren, die alle solche Zuordnungen vornimmt. Die Regel, die sie konstruieren, wird wahrscheinlich folgende sein: Realisiere [t] im Wortauslaut als Reibelaut. Im Gegensatz zu den erwachsenen Sprechern wird es für sie keinen strukturellen Grund geben, eine Zwischenposition [th] zwischen [t] und [s] anzunehmen, und sie werden mit einer Regel statt zwei auskommen. Der einzige Grund, warum [ t h ] im System des Erwachsenen zwischen [t] und [s] vermittelt, ist, daß die erwachsenen Sprecher vor der Einführung der Neuerung ein System gelernt hatten, in dem [t] als [ t h ] realisiert wurde; Kinder, die diese Sprache als erste lernen, werden diesen Grund natürlich nicht haben. Das neu strukturierte System, das sie sich aufbauen, ist einfacher als das der Erwachsenen, denn es enthält nur eine Regel zur Verknüpfung von [t] und [s] und nicht zwei. In diesem einleuchtenden, aber hypothetischen Beispiel entspricht der Dialekt des Erwachsenen unmittelbar dem Dialekt, der von neuen Spre-

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ehern gelernt wird. Beide sprechen unser Beispielverb als [kis] aus, obgleich sie sich in den Regeln unterscheiden, die [kis] aus dem zugrundeliegenden [kit] ableiten. Die Sprecher werden sich keines Unterschieds bewußt sein, da Sprachregeln nicht unmittelbar beobachtet werden können, sei es durch Introspektion, sei es durch andere Sprecher. Und trotzdem hat sich ein struktureller Wandel in der Sprache vollzogen; das phonologische System ist neu strukturiert worden, und diese Neustrukturierung kann man unmittelbar dem Prozess des Erwerbs der Muttersprache zuschreiben. Dies ist aber nicht der einzige Mechanismus, durch den eine Veränderung auf den Spracherwerb des Kindes zurückgehen kann. Ein weiterer, naheliegender Mechanismus ist der des u n v o l l k o m m e n e n Lernens. Bei der Übermittlung eines Sprachsystems von einer Generation zur andern werden sich mit Sicherheit einige Veränderungen einschleichen; das System, das sich das Kind konstruiert, wird notwendig zumindest in kleineren Dingen von dem seiner sprachlichen Vorbilder abweichen. In diesem Fall ist anzunehmen, daß das neuerworbene System und das System der Erwachsenen nicht völlig äquivalent sind. Die Unterschiede werden sichtbar realisierte Folgen zeigen. Nehmen wir als Beispiel das Lernen des Wortschatzes. Da tausende von lexikalischen Einheiten bewältigt werden müssen, wird es bestimmt einige geben, die das Kind gar nicht oder nur unvollkommen lernt. Es kann einige lexikalische Einheiten geben, die wegen der Seltenheit ihres Gebrauchs zufällig nicht in der sprachlichen Erfahrung des Kindes auftauchen. Wenn sie dem Kind nie begegnen, wird es sie natürlich auch nicht lernen. Andere lexikalische Einheiten wird das Kind kennenlernen, ohne genau zu erkennen, was sie bedeuten, sei es, daß sie zu selten vorkommen, sei es, daß sie nicht in einem Kontext vorkommen, der es erlaubt, ihre Bedeutung zu erschließen. Es ist keine ungewöhnliche Feststellung, daß ein Wort für andere Leute etwas anderes bedeutet als für uns selbst. Unregelmäßige morphologische Erscheinungen fallen zweifellos häufig dem unvollkommenen Lernen zum Opfer. Bei sehr alltäglichen Morphemen können sich morphologische Unregelmäßigkeiten unendlich lange erhalten. Das englische Verb go ist ziemlich unregelmäßig; die Präteritalform heißt nicht goed, sondern went und das Partizip des Präteritums heißt gone, während bei regelmäßigen Verben das Partizip des Präteritums mit der Form des Präteritums übereinstimmt. Da jedoch go ein derart häufig vorkommendes Verb ist, werden diese unregelmäßigen Formen leicht erlernt und behalten. Nehmen wir aber andrerseits ein weniger 205

häufiges Verb wie strive .streben, sich bemühen um'. Strive ist kein Verb, das wir jeden Tag zu benützen Gelegenheit haben, und so können einzelne Formen, wie etwa sein Partizip des Präteritums, nur selten in der sprachlichen Erfahrung eines bestimmten Sprechers vorkommen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daßdie unregelmäßigen Präteritalformen strove und striven oft durch die regelmäßige Form strived ersetzt werden. Ein Kind, das Englisch lernt, hört vielleicht nie strove und striven, oder es hört die Formen so selten, daß sie ihm nicht im Bewußtsein bleiben. Da anderweitige Information fehlt, wird das Kind strive so behandeln, als sei es ein regelmäßiges Verb. Unvollkommenes Lernen muß auch bei der Veränderung von allgemeinen Regeln eine entscheidende Rolle spielen. Das Kind muß sich sein Sprachsystem auf der Grundlage von Sprachmerkmalen konstruieren, die es bei der Sprachverwendung anderer beobachtet. Das Datenmaterial, das ihm zur Verfugung steht, ist also zufällig, verzerrt und unvollständig. Es enthält Fehler, die seine Vorbilder beim Sprechen machen, und es enthält wahrscheinlich auch beträchtliche Lücken, da die Sätze, die zu hören das Kind Gelegenheit hat, nur einen minimalen Ausschnitt aus der unendlichen Menge der einer Sprache zugehörigen Sätze umfassen. Schon auf Grund der Unvollkommenheit des Datenmaterials, auf das sich das Kind verlassen muß, können die Regeln, die es formuliert, sich sehr wohl in kleineren Dingen von denen seiner Vorbilder unterscheiden. Die Konsequenzen dieser Abweichung können so gering sein, daß sie nie auffallen oder korrigiert werden. Man sollte aus dieser Darstellung keineswegs den Eindruck gewinnen, daß der Sprachwandel schon völlig erklärbar ist. Viele der Bemerkungen in diesem Abschnitt sind ganz vorläufig, vor allem die, die sich auf den Spracherwerb beziehen. Es muß noch vieles am sprachlichen und psychischen Aufbau erforscht werden, bevor alle unsere Fragen zum Sprachwandel beantwortet werden können.

Nochmals: Dialekte Die zugrundeliegende Einheitlichkeit der Dialekte Bei unserer Behandlung der sprachlichen Vielfalt in Kapitel 3 haben wir festgestellt, daß keine zwei Menschen genau das gleiche Sprachsystem besitzen. Unterschiede im Idiolekt kann man stets zwischen zwei beliebigen Sprechern finden, ob diese Unterschiede nun bewußt erkannt werden oder 206

nicht. Man darf sich jedoch nicht vom oberflächlichen Eindruck leiten lassen. Wenn man die Oberflächenunterschiede in Beziehung zu dem System von Regeln und abstrakten zugrundeliegenden Repräsentationen sieht, auf dem ja die Sprachstruktur beruht, so erweisen sie sich oft als sehr viel weniger zahlreich und gewichtig als man zunächst annimmt. Zur Illustration wollen wir nochmals auf Dialekteinteilungen zurückkommen, wie sie in Abb. 3.2 dargestellt sind. Der Dialekt Βχ unterscheidet sich, so wollen wir annehmen, darin von den anderen Formen der Sprache B, daß seine Sprecher viele Sprachmerkmale gemeinsam haben, die sie von anderen Sprechern von Β unterscheiden. Sprecher von B, so sagen wir, sprechen [u] in Wörtern, in denen andere Sprecher [u] sprechen; außerdem sprechen sie [i] in Formen, die in anderen Dialekten mit [i] gesprochen werden; diese und noch weitere Merkmale unterscheiden B j von B2 und B3. Würde man sich nur auf die Oberflächenunterschiede konzentrieren, so könnten sie eindrucksvoll erscheinen. Man könnte Tausende von Wörtern aufzählen, die von Sprechern von B j und anderen Sprechern von Β verschieden ausgesprochen werden. Die erste Gruppe würde ζ. B. [tup], [kitane], [isu], [gilipumay] und [sumo] sprechen, während die zweite stattdessen [top], [kitane], [isu], [gilipumay] und [sumo] sprechen würde. Auf der phonetischen Ebene unterscheidet sich demnach Bi von B2 und B3 in Tausenden von Einzelheiten. Diese Unterschiede verschwinden aber fast völlig, wenn wir phonetische Einzelheiten nur als Oberflächenrealisierung eines Systems von phonologischen Regeln betrachten, die auf abstrakte zugrundeliegende Repräsentationen angewendet werden. Zuerst ist zu beachten, daß diese phonetischen Unterschiede völlig regelmäßig sind. Wann immer ein Wort in Bi mit [i] ausgesprochen wird, wird das entsprechende Wort in Β2 und B3 mit [1] ausgesprochen, wenn es in derselben Position auftritt. Wann immer ein Wort in Bi mit [u] ausgesprochen wird, wird das entsprechende Wort in B2 und B3 in derselben Position mit [u] ausgesprochen. Vergleichen wir also B j mit den anderen Dialekten, so stellen wir eine systematische E n t s p r e c h u n g zwischen [i] und [1] und zwischen [u] und [υ] fest.Die phonetischen Unterschiede sind nicht zufällig, vereinzelt und für einzelne lexikalische Einheiten charakteristisch. Vielmehr sind sie regelmäßig, folgen einem gleichbleibenden Muster und gelten für alle Morpheme von B. Nehmen wir an, Bi besitzt fünf distinktive Vokale, deren phonetische Realisierungen [ i u e ο a ] sind. Der Unterschied zwischen hoch, mittel und tief ist distinktiv; er trennt [i u] von [e o] von [a]. Für die hohen und 207

mittleren Vokale ist der Unterschied vorne/hinten distinktiv; er trennt [i] und [u] sowie [e] und [o]. In den zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen von Morphemen wird demnach das Segment [i] als Vokal mit den Merkmalen hoch und vorne erscheinen, womit er von den Vokalen mit den Merkmalen mittel und tief [e ο a] und von dem Vokal [u] (hoch, hinten) unterschieden ist. Entsprechend wird [u] einfach als Vokal mit den Merkmalen hoch und hinten aufgeführt. Die genaue phonetische Gestalt dieser distinktiven zugrundeliegenden Vokalsegmente werden von Regeln bestimmt, die nicht-distinktive phonetische Einzelheiten angeben und von relativ geringerem Interesse sind. Aber für B2 und B3 gilt genau dasselbe Schema. Auch sie besitzen fünf distinktive Vokale, einen tiefen Vokal, phonetisch [a], zwei Mittelvokale, phonetisch [e o], und zwei Hochvokale. Der einzige Unterschied besteht in der phonetischen Realisierung der zwei Hochzungenvokale als [t u] statt [i u]. Die zugrundeliegenden Repräsentationen sind die gleichen, da [t i] beide vordere Hochzungenvokale und [υ u] beide hintere Hochzungenvokale sind. Das Vokalsegment in [tup] [typ] würde ζ. B. in allen Dialekten von Β einfach mit den Merkmalen hoch und hinten aufgeführt; was die distinktive phonologische Information angeht, sind die Repräsentationen von Morphemen in allen Dialekten von Β einheitlich. Außerdem sind die meisten entscheidenden phonologischen Regeln in B i und den anderen Dialekten identisch. So gilt etwa die Regel, daß Vokale nicht-nasal sind, für alle Dialekte in gleicher Weise. Desgleichen die Regel, daß vordere Vokale und hintere Tiefzungenvokale ungerundet sind, während nicht-tiefe hintere Vokale gerundet sind. Die Unterschiede laufen auf das Folgende hinaus: Hochzungenvokale werden im Dialekt B i mit etwas höherer Zungenstellung ausgesprochen als in B2 und B3. D. h., die Regel, die die Zungenhöhe angibt, liefert eine geringfügig (aber nicht völlig) verschiedene phonetische Angabe für die Sprecher von B i . Dabei handelt es sich um nur eine Regel, da sich [i u] von [ι υ] in jeweils der gleichen Weise unterscheiden. Dieser eine minimale Unterschied in einer einzigen phonologischen Regel erklärt die Tausende von Unterschieden im phonetischen Detail. Natürlich erweisen sich nicht alle Unterschiede als so geringfügig wie in diesem Fall. Zwei Dialekte derselben Sprache können sich in sehr charakteristischer Weise unterscheiden, manchmal sogar im Hinblick auf ihre Regeln. Was man sich merken sollte, ist die wichtige Feststellung, daß Unterschiede in sprachlichen Zügen nicht unbesehen akzeptiert werden sollten. Wenn wir unter die Oberfläche schauen, bemerken wir normalerweise, daß die Dialekte einer Sprache in viel mehr Aspekten ähnlich 208

als verschieden sind. Außerdem sind die Unterschiede in den meisten Fällen nur oberflächlich.

Das Auseinandertreten in deutlich unterschiedene Dialekte Das Bild der Dialekte einer Sprache ist nie statisch. Über eine Zeitspanne von Jahren können sich verschiedene Isoglossen, die die Grenzen von bestimmten sprachlichen Merkmalen angeben, verschieben. Wenn zwei Sprecher oder zwei Sprechergemeinschaften häufig miteinander in Kontakt treten, können sich die Dialektunterschiede zwischen beiden durch Entlehnung verringern. Eine Neuerung, die in dem einen Dialekt eingeführt wird, breitet sich leicht auch in dem anderen aus, wenn zwischen den beiden Kommunikation besteht. Der Sprachwandel trägt aber auch den Keim einer verstärkten Dialektvielfalt in sich. Nehmen wir ζ. B. an, eine ziemlich gleichartige Gruppe von Sprechern wird durch irgendeinen Zufall der Geschichte in zwei kleinere Gruppen aufgeteilt, die in der Folge nicht mehr viel Kontakt miteinander haben. Diese Zweiteilung mag Zustandekommen durch die Auswanderung eines Teils der Sprachgemeinschaft, durch eine aufgezwungene politische Grenze oder durch eine Fehde — der Grund tut hier nichts zur Sache. Was wird nun das sprachliche Schicksal der beiden Gruppen sein, wenn die Kommunikation zwischen den beiden unterbrochen ist? Natürlich werden sich im Laufe der Zeit die Sprachsysteme der beiden Gruppen verändern, und nach einem Zeitraum von Jahrhunderten wird der gemeinsame Effekt der vielen einzelnen Veränderungen beträchtlich sein. Wenn die sprachliche Entwicklung der beiden Gruppen weiterhin unabhängig voneinander verläuft, so wird das Ergebnis die Aufspaltung in zwei Dialekte sein. Eine Neuerung, die sich in der einen Gruppe verbreitet, wird die Lücke im Kommunikationsnetz nicht überspringen und auf den zweiten Dialekt übergreifen können. Um diese Lücke werden sich Isoglossen zu einem Bündel aufhäufen, und dieses Bündel wird im Laufe der Zeit immer dicker werden, so daß immer mehr Merkmale die beiden Dialekte unterscheiden. Die Erscheinung des Sprachwandels wird demnach in einer Sprechergemeinschaft verstärkte sprachliche Vielfalt bewirken, wenn es nicht genügend Kommunikation und gegenseitigen sprachlichen Einfluß gibt, der dieser Tendenz entgegenwirkt. Solange sich die Mehrzahl der Veränderungen, die in einer Gruppe stattfinden, im Lauf der Zeit auf alle Mitglieder ausbreitet, bleibt die Gruppe sprachlich ziemlich einheitlich. Der betref-

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fende Dialekt mag sich über einen Zeitraum von Jahrhunderten radikal verändern, aber die Veränderungen werden innerhalb der Gruppe gleichgerichtet sein. Geschehen die Veränderungen aber nicht für alle Sprecher der Gruppe gleichmäßig, so führen sie zu vermehrter Vielfalt. Das Sprachsystem jeder Teilgruppe wird sich unabhängig von den anderen vom gemeinsamen Ausgangspunkt wegentwickeln. Dieser Mechanismus ist außerordentlich wichtig für die historische Untersuchung von Sprachen; wir wollen ihn deshalb graphisch darstellen. In Abb. 7.2 steht L für das gemeinsame Sprachsystem einer Gruppe von Sprechern, und der Pfeil bezeichnet die vergehende Zeit. Bleibt die Gruppe zusammen, und beeinflussen sich die Sprecher weiterhin sprachlich, so ergibt sich ein verändertes aber doch einigermaßen einheitliches Sprachsystem L'. Nehmen wir aber andererseits an, die Hälfte der Sprecher von L wandert auf eine ferne Insel aus und die beiden Teilgruppen haben keinen Kontakt mehr miteinander. Im Lauf der Zeit treten die Sprachsysteme der beiden Teilgruppen immer weiter auseinander. Diese Situation ist in Abb. 7.3 dargestellt. Je mehr das Isoglossenbündel zwischen den beiden Systemen an Umfang zunimmt, desto deutlicher wird das Auseinandertreten der beiden Dialekte von L, L! und L 2 . Uber einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten hin können sich Li und Lj so weit auseinanderentwickeln, daß man eher geneigt ist, sie als zwei verschiedene Sprachen, denn als zwei Dialekte einer Sprache anzusehen. In diesem Fall wird man L t und L j verwandte Sprachen nennen. L

I

L'

A b b . 7.2

L L1

/ \L,

Abb. 7.3

Verwandtschaft von zwei Sprachen bedeutet also, daß sie Fortsetzungen ein und derselben geschichtlich älteren Sprache sind, die sich jedoch auseinanderentwickelt haben. Ein gutes Beispiel dafür sind die romanischen Sprachen. Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch, Katalanisch und mehrere andere sind verwandte Sprachen in diesem Sinne. Sie alle sind voneinander abweichende Fortsetzungen des gesprochenen Lateins, die sich in den verschiedenen Gebieten, in die die römischen Eroberer das gesprochene Latein gebracht hatten, unabhängig 210

entwickelten. Sie bleiben einander ähnlich genug, daß ihre Verwandtschaft offensichtlich ist, aber gleichzeitig sind sie doch so unterschiedlich, daß sie als verschiedene Sprachen betrachtet werden. Man könnte sie jedoch genauso gut Dialekte derselben Sprache nennen. Es sollte klar sein, daß die Unterscheidung zwischen verwandten Sprachen und Dialekten einer Sprache nur eine Frage des Grades ist.

Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. Geben Sie deutsche Wörter an, von denen Sie wissen, daß sie aus einer anderen Sprache entlehnt worden sind! Haben diese Wörter durch die Übernahme in die deutsche Sprache semantische, syntaktische oder phonologische Veränderungen erfahren? Sind sie dadurch besser den Strukturmustern des Deutschen angepaßt? Stellen Sie die Herkunft und die geschichtliche Entwicklung einiger gebräuchlicher deutscher Wörter fest! Schlagen Sie dazu in einem etymologischen Wörterbuch nach (z.B. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Der Große Duden. Band 7. Mannheim: Bibliographisches Institut 1963; Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 21. Aufl., bearbeitet von W. Mitzka. Berlin: de Gruyter 1975). 2. Untersuchen Sie eine größere Anzahl von Warenbezeichnungen und stellen Sie Überlegungen an, welche Gründe für die Wahl bestimmter Bezeichnungen ausschlaggebend gewesen sein mögen! Erörtern Sie dabei solche Punkte wie Konnotation und emotionale Wirkung, Lautsymbolik, Wortspiele, Metaphern! 3. Komplexe lexikalische Einheiten, die in ständigem Gebrauch sind, werden oft verkürzt, um leichter gehandhabt werden zu können. So finden wir im Englischen z.B. private für private soldier, pram für perambulator, ad fur advertisement usw. Entsprechende deutsche Beispiele sind Bus für Omnibus, Auto für Automobil, Platte für Schallplatte usw. Besonders stark wird die Möglichkeit der Verkürzung in der Schülersprache ausgenutzt, z.B. Mathe für das Unterrichtsfach Mathematik, Reli für Religion usw. Stellen sie eine Anzahl Wörter zusammen, von denen Sie glauben, daß sie auf diese Weise entstanden sind! Überprüfen Sie gegebenenfalls Ihre Hypothesen anhand eines Wörterbuches! 4. In Kap. 2 haben wir eine Analogie zwischen der Sprachkompetenz und einer Symphonie aufgestellt. Wir haben insbesondere darauf hingewiesen, daß Fehler in der Peiformanz die Existenz des abstrakten sprachlichen Systems genau so wenig in Frage stellen, wie eine mangelhafte Auffuhrung einer Symphonie die Existenz der Symphonie als abstrakte Einheit in Frage stellt. Diese Analogie ist jedoch nicht perfekt, denn in Wirklichkeit haben die Wechselfälle der Sprachverwendung einen kumulativen Effekt, der ganz allmählich zu einer Veränderung

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der Sprachkompetenz führt. Die Verkürzung viel benutzter lexikalischer Einheiten ist ein Beispiel dafür. Der Verkürzung eng verwandt ist die phonetische Vereinfachung, wie sie z.B. bei der o f t verwendeten Form probly für probably im Englischen vorliegt. Metathese, die Umstellung der Abfolge zweier Elemente, liegt in der englischen F o r m prevert vor, die von einigen Sprechern anstelle von pervert gebraucht wird. Bei der Kontamination werden Bestandteile zweier Ausdrücke zu einem einzigen verschmolzen, der dann Teilaspekte beider ursprünglicher Ausdrücke umfaßt; ein Beispiel dafür ist das englische as far as NP, das eine Verschmelzung von as for NP und as far as NP is concerned darstellt. Obwohl Phänomene wie diese ursprünglich bloße Fehler in der Performanz sind, etablieren sie sich doch o f t mit der Zeit in der Sprache, und eine Veränderung der Sprachkompetenz ist die Folge. Suchen Sie weitere Beispiele für sprachliche Veränderungen, die durch phonetische Vereinfachung, Metathese, Verschmelzung oder ähnliche Prozesse hervorgerufen wurden!

5. Die Wortformen in der zweiten Spalte unten stammen aus dem Birmanischen. In der ersten Spalte stehen die entsprechenden rekonstruierten Formen der ProtoSprache, aus der das Birmanische und eine Anzahl anderer moderner Sprachen hervorgegangen sind. (Material aus Robbins Burling, "The Addition of Final Stops in the History of Maru (Tibeto-Burman)", in: Language 4 2 : 3 (1966) S. 581 - 586, und Robbins Burling, Proto Lolo-Burmese. Bloomington: Indiana University Research Center in Anthropology, Folklore, and Linguistics, Publication 43, 1967, Supplementband zu International Journal of American Linguistics 33:2.) Vergleichen Sie die Formen in den beiden Spalten und geben Sie die einzelnen Erscheinungen des Lautwandels an, die die Evolution des Birmanischen aus der ProtoSprache charakterisieren! ( p ] gibt an, daß das vorhergehende Element aspiriert ist. Tonhöhen sind nicht bezeichnet.) Proto-Sprache

Birmanisch

ca

sa

,essen'

yei

yei

,Haut'

no

nou

,Brust'

•Sei

0ei

,sterben'

cun

sun

.Gabelweihe (Vogelart)'

mo

mou

,Himmel'

yo

you

,Knochen'

ihou

,süß'

h

6 o

6. Die folgenden Wortformen stammen aus drei Dialekten des Papago. (vgl. Kenneth Hale, "Some Preliminary Observations on Papago Morphophonemics", in: International Journal of American Linguistics 31:4 (1965) S. 295 - 305). [d] und [s] stehen für schwach retroflexe Konsonanten. Gehen Sie davon aus, daß die in der Spalte ganz links angegebenen zugrundeliegenden phonologischen

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Repräsentationen fur alle drei Dialekte gelten! Im Dialekt 1 leiten die beiden folgenden Regeln die phonetischen Realisierungen von den phonologischen Repräsentationen ab: A.

[d] wird zu [1] und [s] wird zu [s], wenn ein [i] direkt folgt.

B.

[i] am Wortende wird getilgt.

Wie müssen diese beiden Regeln in Dialekt 1 geordnet sein? Stellen Sie die für die Dialekte 2 und 3 erforderlichen Regeln auf! Wie sind diese Regeln geordnet? Beschreiben Sie genau, wie sich die drei Dialekte voneinander unterscheiden! Phonologische Repräsentationen

Dialekt 1

Dialekt 2

Dialekt 3

?uusi

?uus

?uus

?uus

,Stock'

tini

tin

6ini

fin

,Mund'

hiwidi

hiwil

hiwili

hiwil

,Wind'

suudagi

suudag

suudagi

suudagi

,Wasser'

tihani

tihan

iihani

iihan

.leihen' ,etwas, das Feuer gefangen hat' ,Regen'

naadi

naad

naa/i

naaj

duuki

duuk

/uuki

Juuki

7. (übernommen aus Langacker, Fundamentals of Linguistic Analysis, S. 320) Die folgenden Wortformen stammen aus drei italienischen Dialekten; Dialekt 1 stellt die Standardsprache dar, Dialekt 2 ist die Variante, die im nördlichen Italien gesprochen wird, und Dialekt 3 ist der Dialekt der Lombardei. Nehmen Sie an, daß die zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen für alle drei Dialekte identisch sind! Wie müssen die Regeln beschaffen sein, die die phonetischen Realisierungen der einzelnen Dialekte ableiten? In welcher Weise sind die Regeln geordnet? (Lange Vokale und Konsonanten sind durch Doppelsetzung des entsprechenden Zeichens gekennzeichnet.) Phonologische Repräsentationen

Dialekt 1

Dialekt 2

Dialekt 3

fisso

fisso

fiso

fis

.festgemacht'

kassa

kassa

kasa

kasa

.Kästchen'

kasa

kaasa

kaaza

kaaza

,Haus'

kosa

koosa

kooza

kooza

,Sache, Ding'

213

8. Unten sind einige aktive und passive Verbformen aus dem Maori aufgeführt (vgl. Kenneth Hales Rezension von Patrick Hohepa, Α Profile Generative Grammar of Maori, die im Journal of the Polynesian Society 77:1 (1967) S. 83 - 99 erschienen ist). Zu einem früheren Zeitpunkt in der Entwicklung der Sprache bildete [ia] das Passivsuffix; ein Konsonant am Wortende wurde grundsätzlich durch eine phonologische Regel getilgt. So war z.B. [awhit] die zugrundeliegende phonologische Repräsentation von .umarmen', die durch die Wirkung der Konsonantentilgungsregel phonetisch als [awhi] realisiert wurde. Im Passiv andererseits wurde das [t] phonetisch beibehalten, weil durch Anfügen des Passivsuffixes [ia] der Konsonant [t] nicht mehr am Wortende stand. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß im Maori eine Neustrukturierung stattgefunden hat, so daß heute das Passivsuffix sowohl [ia] als auch den vorhergehenden Konsonanten umfaßt. Beschreiben Sie, indem Sie diese Annahme als zutreffend zugrundelegen, wie sich die Grammatik des Maori verändert hat; welche Veränderungen haben die betreffenden Regeln und phonologischen Repräsentationen im einzelnen erfahren? Könnten Sie sich Gründe für eine solche Neustrukturierung denken? Aktiv

Passiv

awhi

awhitia

.umarmen'

hopu

hopukia

.fangen'

aru

arumia

.folgen'

tohu

tohuqia

.zeigen, erklären'

mau

mauria

.tragen'

wero

werohia

,erstechen'

214

8. Genetische Sprachverwandtschaft

Stammbäume Direkte und indirekte

Verwandtschaft

Zwei Sprachen werden als verwandt bezeichnet, wenn sie voneinander abweichende Fortsetzungen derselben älteren Sprache sind. Li und L2 in Abb. 7.3 erwiesen sich als verwandte Sprachen, weil beide spätere Stufen von L sind. Eine Sprache, die in einer derartigen Situation die Stelle von L einnimmt, bezeichnet man als Proto-Sprache; L ist der Prototyp von Li und L2. Das gesprochene Latein kann man deshalb als Proto-Romanisch bezeichnen, da es diejenige Sprache ist, aus der sich alle heutigen romanischen Sprachen entwickelt haben. Die verschiedenen slavischen Sprachen sind voneinander abweichende Fortsetzungen des Proto-Slavischen. Die Sprachwissenschaftler haben nie der Versuchung widerstehen können, für Sprachverwandtschaften die menschliche Verwandtschaftsterminologie zu verwenden. Eine Proto-Sprache kann auch als Mutter-Sprache (parent-language) bezeichnet werden (im Deutschen besser: V o r s t u f e ) , die voneinander abweichenden Fortsetzungen entsprechend T o c h t e r s p r a c h e n . L wäre demnach die Proto-Sprache von Li und L2. Li und L2, als Tochtersprachen derselben Proto-Sprache, sind Schwestersprac h e n . Eine Proto-Sprache und ihre Tochtersprachen bilden zusammen eine Sprachfamilie. Das Lateinische und das Französische, das Spanische, das Italienische, das Portugiesische und deren Schwestersprachen bilden eine Sprachfamilie, desgleichen das Proto-Slavische und die heutigen slavischen Sprachen. Verwandtschaften dieser Art nennt man genetische Verwandtschaften. Eine Tochtersprache kann im Lauf der Zeit selber zu einer Proto-Sprache werden. Ihre historische Entwicklung kann eine Aufspaltung in eine Anzahl von unterscheidbaren Dialekten mit sich bringen, und wenn die Unterschiede ausgeprägt genug werden, können diese Dialekte als ver215

schiedene, aber verwandte Sprachen angesehen werden. Der S t a m m b a u m , der genetische Verwandtschaften darstellt, kann deshalb recht komplex sein. Betrachten Sie als Beispiel Abb. 8.1. B, C, D und Ε erweisen sich als Tochtersprachen von A, der Proto-Sprache. Im Verlauf der historischen Entwicklung dieser Sprachfamilie, teilt sich jede der Tochtersprachen von Α in eine Anzahl von neuen Tochtersprachen auf, für die jene jeweils die Proto-Sprache sind. F und G sind ζ. B. voneinander abweichende Fortsetzungen von Β; Β ist also eine Tochtersprache von A, aber die Proto-Sprache von F und G. G ist seinerseits wieder eine Vorstufe, von der Q und R abstammen. Um ein Beispiel aus der Wirklichkeit zu geben: das Proto-Slavische ist eine der Tochtersprachen des Proto-Indoeuropäischen. Die heutigen slavischen Sprachen wie Russisch, Tschechisch und Polnisch sind ihrerseits Tochtersprachen des Proto-Slavischen. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird vielleicht das Russische oder Polnische die Rolle einer Proto-Sprache für weitere Tochtersprachen einnehmen.

F

Q R

H I J

K L

S T U

N O P

Abb. 8.1 Abb. 8.1 zeigt, daß die Beziehung zwischen verwandten Sprachen entweder direkt oder indirekt sein kann. Q und R sind direkt verwandt, da sie Fortsetzungen von G sind, die die unmittelbare Vorstufe von beiden ist. In derselben Weise sind S, Τ und U verwandt. Dagegen ist die Verwandtschaft zwischen Q und S nur indirekt. Sie stammen beide von Α ab, aber dieser gemeinsame Vorfahr ist weit entfernt. Da sie sich beide so weit von Α wegentwickelt haben, können sie außerordentlich verschieden sein. Die Ähnlichkeit der Schwestersprachen Q und R untereinander wird viel größer sein als die jeweilige Ähnlichkeit mit S. Das Englische und Deutsche sind sich ζ. B. ziemlich ähnlich, da sie beide vom Proto216

Germanischen abstammen. Ebenso sind sich das Russische und Polnische ziemlich ähnlich, da sie über das Proto-Slavische direkt verwandt sind. Auch das Englische und Russische sind verwandt, aber nur indirekt; das Proto-Germanische und das Proto-Slavische sind Tochtersprachen des Indoeuropäischen, und über diese Sprache sind das Englische und Russische verwandt. Weil das Englische und das Russische nur indirekt verwandt sind, sind sie sich viel weniger ähnlich als ihren jeweiligen Schwestersprachen. Es ist ganz natürlich, zu fragen, ob alle menschlichen Sprachen verwandt sind, und sei es noch so entfernt. Mit anderen Worten: Sind alle menschlichen Sprachen in einem riesigen Stammbaum vereinigt? Das ist etwas, was wir heute noch nicht wissen und vielleicht nie wissen werden. Es ist noch nie nachgewiesen worden, daß alle Sprachen Mitglieder einer einzigen, riesigen Familie sind. Auf der anderen Seite ist auch das Gegenteil noch nie bewiesen worden und ließe sich auch prinzipiell nicht beweisen. Es ist möglich nachzuweisen, daß zwei Sprachen verwandt sind, indem man zeigt, daß sie weitgehende Ähnlichkeiten der Struktur besitzen, die nicht anders sinnvoll zu erklären sind, als daß sie voneinander abweichende Fortsetzungen einer gemeinsamen Vorstufe sind. Wie aber könnte man zeigen, daß zwei Sprachen nicht verwandt sind? Wenn sie völlig verschieden sind, ist es klar, daß sie nicht direkt verwandt sind; aber Unterschiede der Struktur können nicht die Möglichkeit ausschließen, daß sie indirekt verwandt sind. Der gemeinsame Vorfahr, über den sie verwandt sind, kann so weit zurückliegen, daß alle die ursprünglichen strukturellen Ähnlichkeiten im Lauf ihres langen, unterschiedlichen Entwicklungsweges ausgelöscht worden sind. Es ist also durchaus denkbar, daß alle menschlichen Sprachen in der Tat verwandt sind, daß aber der Beweis für diese universelle genetische Verwandtschaft nie angetreten werden wird. Es ist ebenso möglich, daß die menschlichen Sprachen nicht alle verwandt sind; in diesem Fall ist der Nachweis prinzipiell unmöglich.

Die Methoden der historischen Untersuchung Es ist keine einfache Sache, den zwingenden Nachweis zu führen, daß eine Anzahl von Sprachen verwandt ist, und die genetischen Verwandtschaftsbeziehungen zu identifizieren, die sie verbinden. Sprachen tragen keine Zeichen, auf denen steht „Ich gehöre zur Sprachfamilie X". Auch wachsen die Stammbäume nicht in des Linguisten Vorgarten, wo sie in Ruhe betrachtet werden könnten. Nur auf Grund der genialen Leistung 217

früherer Generationen von Gelehrten sind wir heute in der Lage, von der indoeuropäischen Sprachfamilie zu sprechen und in groben Zügen ihre genetischen Verwandtschaften zu skizzieren. Zu entdecken, welche Sprachen verwandt sind und wie sie verwandt sind, ist erne Aufgabe ersten Ranges für Gelehrsamkeit und analytisches Denken. Zur Feststellung genetischer Verwandtschaften stehen meistenteils nur Beschreibungen heutiger Sprachen als Material zur Verfügung. Manchmal kann jedoch der Forscher schriftliche Zeugnisse früherer Sprachstufen heranziehen, und diese können außerordentlich wertvoll sein. Von der englischen (und der deutschen) Sprache besitzt man schriftliche Zeugnisse über einen Entwicklungszeitraum von über tausend Jahren; ohne sie könnte man viele Fragen ihrer Entwicklung nicht beantworten. In manchen Fällen bewahren schriftliche Zeugnisse die Kenntnis einer Sprache, die nicht mehr gesprochen wird und sonst gar nicht mehr einbezogen werden könnte. Unsere Kenntnis des Gotischen etwa war eine wertvolle Hilfe bei der Untersuchung der historischen Entwicklung der germanischen Sprachen. Das Gotische ist seit dem sechzehnten Jahrhundert ausgestorben, aber es ist aus schriftlichen Zeugnissen bekannt. Noch bedeutender für die Untersuchung genetischer Verwandtschaftsbeziehungen ist es, wenn die Proto-Sprache einer Sprachfamilie in schriftlicher Form überliefert ist. Weil wir umfangreiche schriftliche Zeugnisse des Lateinischen besitzen, von denen einige den mündlichen Gebrauch widerspiegeln, ist unsere Kenntnis des Proto-Romanischen einigermaßen vollständig. Wir kennen viele Eigenarten der Proto-Sprache, die nicht allein durch die Untersuchung der heutigen romanischen Sprachen gewonnen werden könnten. Nur selten sind die Sprachforscher in der glücklichen Lage, eine direkte Kenntnis der Proto-Sprache zu besitzen. Es ist sogar sehr oft der Fall, daß historische Untersuchungen ganz ohne schriftliche Zeugnisse auskommen müssen. Versetzen wir uns in die Lage eines Linguisten in dieser Situation. Wir nehmen an, er trifft auf die Sprachfamilie in Abb. 8.1. Als Beweismaterial sind die heutigen Sprachen F, Q, R, Η, I, J, K, L, S, T, U, Ν, Ο und Ρ vorhanden. Er kann feststellen, daß sie sich in verschiedener Hinsicht gleichen (abgesehen von den Dingen, in denen sich alle Sprachen gleichen). Das führt ihn zu der Hypothese, daß diese Sprachen genetisch verwandt sind. Wie und bis zu welchem Grad kann er das Wesen dieser genetischen Verwandtschaftsbeziehungen ohne schriftliche Zeugnisse entdecken? Offensichtlich gibt es einige Dinge, die er überhaupt nicht entdecken kann. Er kann ζ. B. das Vorhandensein der Sprache Μ annehmen, der Vor218

stufe von S, Τ und U (falls er bemerkt, daß diese drei sich besonders gleichen). Er kann durch den Vergleich der drei Tochtersprachen sogar einige der Eigenschaften von Μ feststellen. Aber er wird nie in der Lage sein, ein Bild von Μ zu rekonstruieren, das so vollständig ist wie seine Information über die Tochtersprachen. Viele wichtige strukturelle Einzelheiten sind mit Sicherheit in der historischen Umwälzung verlorengegangen. Nehmen wir als einleuchtendes Beispiel an, Μ sei hochgradig flektiert gewesen, aber die drei Tochtersprachen hätten unabhängig voneinander die ursprünglichen Flexionen aufgegeben. Dann wird es unmöglich sein, nur aus S, Τ und U sämtliche Einzelheiten der Flexionsprozesse in Μ zu erschließen. Bis zu einem gewissen Grad kann man bestimmte Merkmale früherer Stufen der einzelnen Sprachen von heute rekonstruieren. Diese Methode bezeichnet man als innere R e k o n s t r u k t i o n ; dabei werden frühere Sprachstufen auf der Grundlage der strukturellen Eigenschaften der späteren Stufen teilweise rekonstruiert. Nehmen wir etwa an, in der Sprache S kommt [6] nur vor [i] vor, und [t] kommt nie vor [i] vor. S besitzt demnach Morpheme wie [Sik] und [tak], aber keine wie [£ak] und [tik]. [£] scheint eine Variante von [t] zu sein, die vor [i] auftritt. Wenn wir nun in S die Morpheme [ma£] und [ka£] antreffen, so kommen wir leicht zu dem Schluß, daß diese Morpheme einmal phonetisch auf [i] ausgegangen sein müssen. Das [i] im Auslaut bedingte, bevor es aufgegeben wurde, die Veränderung von [t] zu [£] in diesen Morphemen. Auf der Grundlage von innerem, nicht-historischem Beweismaterial können wir in der Vorstufe das Vorhandensein eines End-[i] bei solchen Morphemen annehmen. (Wahrscheinlich enthalten sie in ihrer zugrundeliegenden phonologischen Repräsentation immer noch ein Auslaut-[i]; dieses [i] bewirkt die Veränderung von [t] zu [δ] und wird später durch eine phonologische Regel getilgt). Die Grenzen der Methode der inneren Rekonstruktion sind jedoch ziemlich eng gezogen. Ein früheres strukturelles Merkmal einer Sprache kann nur dann rekonstruiert werden, wenn ein Beweisstück fur seine Annahme erhalten geblieben ist, und das ist keineswegs immer der Fall. Ein naheliegendes Beispiel ist der Verlust einer lexikalischen Einheit. Wenn S einmal ein Wort [tal] besessen hat, es aber nicht mehr besitzt, ist es durchaus möglich, daß keine Merkmale des heutigen S das frühere Vorhandensein dieses Wortes vermuten lassen werden. Eine sehr viel wirkungsvollere Methode gibt es für die Untersuchung der historischen Ursprünge und der Entwicklung einer Gruppe von Sprachen, die verwandt erscheinen. Statt Einzelsprachen zu untersuchen wie bei der inneren Rekonstruktion, kann man zwei oder mehr Sprachen 219

vergleichen, um herauszufinden, wie ihre gemeinsame Vorstufe beschaffen gewesen sein muß. Wenn Q und R eine größere Ähnlichkeit miteinander zu haben scheinen als mit anderen Sprachen der vermuteten Familie, kann man sinnvollerweise die Hypothese aufstellen, daß Q und R eine Teilfamilie ausmachen, und daß sie voneinander abweichende Fortsetzungen derselben früheren Sprache sind. Indem man das Beweismaterial aus zwei oder mehr Tochtersprachen zusammenträgt und gegenüberstellt, kann man ein sehr viel klareres Bild der Proto-Sprache bekommen, als wenn man nur eine Sprache untersucht. Die Methode des Vergleichs von Schwestersprachen zum Zweck der Rekonstruktion der Proto-Sprache ist bekannt als die sprachvergleichende oder k o m p a r a t i v e M e t h o d e , die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. In ihrer klassischen Form betrifft die komparative Methode vor allem die Laute einer Vorstufe und deren Reflex in den Tochtersprachen. Mit dieser Methode kann man sowohl die Verwandtschaft mehrerer Sprachen nachweisen als auch die Laute der Vorstufe rekonstruieren. Natürlich müssen wir uns nicht auf die Laute beschränken, wenn wir zwei oder mehr Sprachen vergleichen. Weitgehende Ähnlichkeiten in der Morphologie zweier Sprachen können als Beweis für die Behauptung dienen, sie seien verwandt; das gleiche gilt für syntaktische Ähnlichkeiten. Außerdem können natürlich durch den Vergleich der morphologischen und syntaktischen Eigenschaften der Tochtersprachen Schlüsse über diejenigen der Proto-Sprache gezogen werden. Der Linguist ist also, wenn schriftliche Zeugnisse fehlen, nicht völlig hilflos beim Aufspüren der historischen Verwandtschaft und Entwicklung einer Gruppe von Sprachen. Die genaue Untersuchung einer einzelnen Sprache liefert ihm schon einige Hinweise auf ihre früheren Stufen. Durch den Vergleich und die Gegenüberstellung von zwei oder mehr anscheinend verwandten Sprachen kann er verschiedene Kennzeichen der Proto-Sprache feststellen; wie durch geometrische Dreiecksaufnahme kann die Proto-Sprache teilweise rekonstruiert werden. Trotzdem gibt es dabei Grenzen. Eine Proto-Sprache kann nie vollständig rekonstruiert werden, gleichgültig wie viele von ihren Tochtersprachen bekannt sind. Da man weniger über die Struktur einer ProtoSprache als über die Struktur einer lebenden Sprache herausfinden kann, sind erschlossene Vorstufen im allgemeinen nicht soweit in Einzelheiten bekannt, daß man sie für weitere Rekonstruktionen verwenden könnte. Je weiter wir auf die historischen Vorstufen einer Sprachfamilie zurückgehen, desto weniger Datenmaterial haben wir zur Verfügung. Kommen wir nochmals auf die Sprachfamilie in Abb. 8.1 zurück.

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Nehmen wir an, die Vermutung trifft zu, daß Q und R eine Teilfamilie bilden, und daß F näher mit Q und R verwandt ist als mit den anderen Sprachen. Aus Q und R kann man die Proto-Sprache G teilweise rekonstruieren, aber man wird G viel weniger genau kennen als ihre Tochtersprachen. Demzufolge ist der Wert von G für die Rekonstruktion von B, der Vorstufe von G und F, geringer. Die Rekonstruktion von Β wird also nur versuchsweise und unvollständiger als die von G möglich sein. Die Rekonstruktionen von B, C, D und Ε enthalten vielleicht nicht genug Information, um eine Rekonstruktion von Α überhaupt zu erlauben, da keine der Tochtersprachen von Α direkt bekannt ist. Wegen des zunehmenden Mangels an Datenmaterial beim weiteren Zurückgehen in die Vergangenheit gibt es einen Punkt, wo alle bekannten Methoden der historischen Rekonstruktion keine verläßlichen Ergebnisse mehr liefern. Wenn schriftliche Zeugnisse vorhanden sind, ist die Lage nicht grundsätzlich verschieden. Schriftliche Zeugnisse ermöglichen es, ein wenig tiefer in die sprachliche Vergangenheit zu blicken, weil sie frühere Sprachstufen ausführlicher zeigen, aber sie führen uns nur einen kurzen Weg zurück. Wir besitzen gotische Texte, die noch aus dem 6. Jahrhundert stammen, aber selbst, wenn wir so weit zurückgegangen sind, haben wir nur die Oberfläche der Sprachgeschichte angeritzt. Es dürfte nun klar sein, warum noch niemand nachgewiesen hat, daß alle menschlichen Sprachen verwandt sind. Die Behauptung, daß sie verwandt sind, kann aufgestellt werden, aber es bleibt eine leere Behauptung. Um dieser Behauptung Wert zu geben, müßte man zeigen, welche bekannten Sprachfamilien zu größeren Familien zusammengehören, welche von diesen zu noch umfassenderen Familien gehören usw., bis alle menschlichen Sprachen untergebracht wären. Auf jeder Stufe müßte man eine Proto-Sprache rekonstruieren und zeigen, daß ihre vermutlichen Tochtersprachen in einer Weise verwandt sind, die sich am besten durch die Annahme erklären ließe, daß sie auseinanderentwickelte Fortsetzungen der Vorstufe sind. Selbst wenn alle Sprachen wirklich genetisch verwandt wären (eine reine Vermutung), wäre es nicht möglich, den Stammbaum zu rekonstruieren, der sie alle verbindet, und damit ihre Verwandtheit zu beweisen. Der Zeitraum ist so groß und es handelt sich um so viele Stufen von Proto-Sprachen, daß das in den lebenden Sprachen vorhandene Datenmaterial uns nicht weit genug zurückfuhren kann.

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Das Problem der Entlehnung Das ganze Bild der genetischen Verwandtschaft wird durch das Phänomen der Entlehnung noch komplizierter. Wenn eine Sprache einen Zug von einer anderen entlehnt, sind sich beide nachher ähnlicher, als sie es vorher waren. Wenn nur ein Zug oder eine Handvoll von Zügen entlehnt werden, ist die Angleichung natürlich gering. Manchmal kommt es jedoch vor, daß zwei Sprachen einander in großem Umfang beeinflussen. Wenn der wechselseitige Einfluß weitreichend genug ist, können die beiden Sprachen bei oberflächlicher Untersuchung verwandt erscheinen, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Um falsche Hypothesen über genetische Verwandtschaft zu vermeiden, muß man genau zwischen solchen Ähnlichkeiten unterscheiden, die gemeinsamem Erbe zugeschrieben werden können, und solchen, die auf Entlehnung zurückgehen. Das Problem, das die Entlehnung aufwirft, ist im allgemeinen aber viel diffiziler und betrifft den Vorgang der Bestimmung der genetischen Verwandtschaft einer Gruppe von Sprachen, die in der Tat verwandt sind. Das wesentliche Problem besteht darin, daß solche Züge, die durch Entlehnung eingeführt worden sind, nicht für die Rekonstruktion einer ProtoSprache herangezogen werden dürfen; das Datenmaterial, das zulässigerweise für die Rekonstruktion verwendet werden kann, wird entscheidend vermindert, wenn eine oder mehrere Tochtersprachen in großem Umfang entlehnt haben. Nehmen wir ζ. B. an, daß zwei Schwestersprachen einem starken lexikalischen Einfluß von Sprachen anderer Sprachfamilien ausgesetzt waren, so daß in beiden mehr als die Hälfte des einheimischen Wortschatzes ersetzt worden ist. Da die einheimischen lexikalischen Einheiten per definitionem diejenigen sind, die von lexikalischen Einheiten der Proto-Sprache abstammen, vermindert ihr Verlust notwendigerweise den Anteil der Proto-Sprache, der rekonstruiert werden kann. Dasselbe gilt, wenn eine Sprache von einer verwandten Sprache entlehnt. Derartige Entlehnungen sind sehr häufig, weil die Sprecher von abweichenden Dialekten gewöhnlich auch während der historischen Entwicklung, die zu verschiedenen Sprachen führt, weiterhin miteinander Kontakt haben; es wäre eine Idealisierung, anzunehmen, daß sich die Sprecher einer Proto-Sprache plötzlich in kleinere Sprachgemeinschaften aufspalten, zwischen denen es dann keinerlei weitere Kommunikation mehr gibt. (Es wäre ebenfalls eine Idealisierung der Verhältnisse, den Sprechern der Proto-Sprache eine völlige sprachliche Einheitlichkeit zuzuschreiben.) Wenn Q während des Vorgangs der Auseinanderentwicklung von G in großem Umfang von R entlehnt hat, dann werden die ent222

lehnten Merkmale von Q wenig Information hinzufügen, die nicht schon durch die Untersuchung von R gefunden werden kann. Außerdem stehen die Merkmale, die Q unter dem Einfluß von R abgestoßen hat, nicht für die Bestimmung des Verwandtschaftsgrades zwischen Q und R oder die Rekonstruktion der Proto-Sprache zur Verfügung. Ein gutes Beispiel dafür ist das Albanische. Da es so weitgehend aus anderen Sprachen entlehnt hat, unter anderem aus dem Griechischen, dem Slavischen und aus romanischen Sprachen, bleiben nur noch ein paar hundert einheimische Wörter übrig. Dazuhin haben sich die Flexionsendungen beträchtlich verändert. Eine Folge davon war, daß die Stellung des Albanischen in der indoeuropäischen Sprachfamilie erst relativ spät erkannt wurde.

Die komparative Methode Wir werden die komparative Methode zuerst in ihrer klassischen Form behandeln und dann unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse, wobei wir von der Notwendigkeit ausgehen, die Laute einer Sprache in Beziehung zu einem System von phonologischen Regeln und zugrundeliegenden Repräsentationen zu sehen. Die klarste und einfachste Art, die komparative Methode einzuführen, ist ihre Anwendung auf ein konkretes Beispiel. Wir werden ein hypothetisches Beispiel verwenden, so daß wir das Datenmaterial auf einen übersichtlichen Umfang beschränken können; die dargestellten Phänomene sind jedoch charakteristisch für die komplexeren Fälle, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen.

Das Datenmaterial Nehmen wir an, auf einer großen Insel im Pazifik werden vier neue Sprachen entdeckt. Zum Zwecke der Identifizierung bezeichnen wir sie als L i , L2, L3 und L4. Zusätzlich zu der weitgehenden syntaktischen und morphologischen Übereinstimmung zeigen diese Sprachen auffallende Ähnlichkeiten im Lexikon. Eine repräsentative Liste von lexikalischen Einheiten samt Bedeutung ist unten angegeben. (Das Zeichen [x] steht für einen stimmlosen velaren Reibelaut.)

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Li

L2

l3

L4

Bedeutung

[puxa] [lisu] [mani] [lana] [kaxa] [tupi] [palmufo] [samu] [matu] [nipa]

[buga] [lisu] [mani] [lana] [gaga] [dubi] [nili] [samu] [madu] [niba]

[puka] [risu] [meni] [rena] [kaka] [tupi] [niri] [semu] [matu] [nipa]

[puk] [Iis] [man] [rena] [kak] [tup] [nil] [sam] [mat] [nip]

,Baum' ,Insekt' .Himmel' ,Stein' ,Hütte' ,Donner' ,Speer' ,Fluß' ,Pfeil' ,Meer'

Man sieht auf den ersten Blick, daß die vier Sprachen lexikalische Ähnlichkeiten besitzen, die weit über das geringe Ausmaß hinausgehen, das durch Zufall entstehen kann. Wort für Wort finden wir Ähnlichkeiten der Lautform und der Bedeutung. Die Wörter für ,Baum' in den vier Sprachen, [puxa], [buga], [puka] und [puk] unterscheiden sich nur geringfügig voneinander, und das gleiche gilt für jeden „ S a t z " von Wörtern mit der gleichen Bedeutung. Außerdem sind die Ähnlichkeiten so durchgängig, daß man die Erklärung dafür kaum in Entlehnung suchen dürfte. Wir würden es für unwahrscheinlich halten, daß jede der drei Sprachen dermaßen einheitlich und ausnahmslos von der vierten entlehnt hätte. Die Entlehnung ist eine sehr häufige Erscheinung, aber keine sehr regelmäßige. Wenn nun Zufall und Entlehnung als sinnvolle Erklärungsmöglichkeiten für die Ähnlichkeit der vier Sprachen ausscheiden, so bleibt uns die Hypothese, daß sie genetisch verwandt sind, daß sie sich deshalb ähnlich sind, weil sie Fortsetzungen derselben historisch früheren Sprache sind, die sich auseinanderentwickelt haben. Bevor wir aber die Regularitäten des Datenmaterials eingehender untersuchen, müssen wir uns mit zwei Formen beschäftigen, die unseren Erwartungen völlig widersprechen. Das Wort für .Speer' in L j hebt sich von den anderen ab; [palmufo] hat praktisch nichts mit [nili], [niri] oder [nil], den Wörtern für,Speer' in L2, L3 und L4 gemeinsam. Außerdem scheint [palmufo] sich nicht in die sonst für L i gültigen phonologischen Prinzipien zu fügen. Sämtliche anderen Wörter in L j bestehen aus genau zwei Silben, von denen jede die Form Konsonant plus Vokal besitzt; Konsonanten treten innerhalb eines Wortes nicht nebeneinander auf. [palmufo] fällt in beiderlei Hinsicht aus dem Rahmen: es besitzt drei Silben statt 224

zwei und enthält die Konsonantenfolge [Im]. Die wahrscheinlichste Erklärung für diese Eigenheiten ist die, daß [palmufo] aus einer anderen, nicht mit L i verwandten Sprache entlehnt ist. Da es aus einer anderen Sprache stammt, besitzt es bestimmte phonologische Eigenschaften, die einheimische Wörter von L i nicht besitzen; wahrscheinlich ist es von den entlehnenden Sprechern verändert worden, aber nicht völlig. Unsere Hypothese, daß es sich bei [palmufo] um ein Lehnwort handelt, würde natürlich erhärtet, wenn wir auf der Insel eine weitere Sprache finden würden, in der [palmufo] oder eine sehr ähnliche Form das Wort für ,Speer' ist. Die andere verdächtige Form ist [rena], das Wort für,Stein' in L4. Es ist das einzige Wort in L4, das einen Vokal im Auslaut besitzt, und außerdem ist es das einzige Wort, das den Vokal [e] und den Konsonanten [r] enthält. Wenn es ein Lehnwort ist, so muß es aus einer verwandten Sprache entlehnt sein, weil die Wörter für,Stein' in L i , L2 und L3 so ähnlich sind: [lana], [lana] und [rena]. Tatsächlich ist die wahrscheinlichste Erklärung die, daß L4 das Wort für ,Stein' von L3 entlehnt hat. Das erklärt sowohl die Gleichheit der Wörter in den beiden Sprachen als auch die Eigentümlichkeit von [rena] im Hinblick auf die phonologischen Eigenschaften von L4. [rena] ist für L3 ein keineswegs ungewöhnliches Wort, [r] und [e] kommen auch in anderen Wörtern von L3 vor, und es ist auch ganz normal, daß ein Wort in L3 einen Vokal im Auslaut besitzt. Da [palmufo] und [rena] durch Entlehnung in L i und L4 geraten sind, können sie nicht vollgültig für die Rekonstruktion der Proto-Sprache herangezogen werden. Das so reduzierte Datenmaterial, von dem wir ausgehen können, ist im folgenden angegeben: Li

L2

L3

l4

Bedeutung

[puxa] [lisu] [mani] [lana] [kaxa] [tupi]

[buga] [lisu] [mani] [lana] [gaga] [dubi] [nÜi] [samu] [madu] [niba]

[puka] [risu] [meni] [rena] [kaka] [tupi] [niri] [semu] [matu] [nipa]

[puk] [Iis] [man]

,Baum' ,Insekt' ,Himmel' ,Stein' ,Hütte' ,Donner' ,Speer' ,Fluß' ,Pfeil' ,Meer'

[samu] [matu] [nipa]

[kak] [tup] [nil] [sam] [mat] [nip]

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Lautliche Entsprechungen Die entscheidende Feststellung im Hinblick auf dieses Datenmaterial ist nicht, daß die Wörter für die jeweils gleichen Begriffe sich in den vier Sprachen ähneln, sondern daß die Ähnlichkeiten und Unterschiede festen Mustern folgen.Die Laute der vier Tochtersprachen e n t s p r e c h e n sich völlig regelmäßig. Nehmen wir etwa den Laut [m]. [mani], das Wort für ,Himmel' in L x beginnt mit [m]; das gleiche gilt für die entsprechenden Wörter in den anderen drei Sprachen: [mani], [meni], [man]. Das Wort für ,Fluß' hat [m] als drittes Segment nicht nur in einer oder zwei der Sprachen, sondern in allen. Alle Wörter für,Pfeil' haben [m] im Anlaut. Ein [m] in entspricht ohne Ausnahme einem [m] in L 2 , L 3 und L 4 . Die sich entsprechenden Laute sind also in den vier Sprachen [m]-[m]-[m]-[m]. Weitere regelmäßige Lautentsprechungen sind [n]-[n]-[n]-[n] und [ S M S H S ]-| [s]. Bei jedem Wort, das in L i [n] enthält, enthalten die entsprechenden Wörter in den anderen Sprachen auch [n], und zwar in derselben Position. So finden wir [mani], [mani], [meni], [man] für ,Himmel' und [nipa], [niba], [nipa], [nip] für ,Meer'. Für die Wörter für,Stein' und ,Speer' können wir uns nur auf das Datenmaterial aus drei Sprachen beziehen, aber die verfügbaren Formen folgen demselben Muster: [lana], [lana], [rena]; [nili], [niri], [nil]. In derselben Weise entspricht [s] in einer Sprache dem [s] in den drei anderen. Alle vier Wörter für,Insekt' haben [s] als drittes Segment, und alle vier Wörter für ,Fluß' haben [s] als Anlaut-Segment: [lisu], [lisu], [risu], [Iis]; [samu], [samu], [semu], [sam]. Diese Entsprechungen sind also völlig regelmäßig. Eine vierte ausnahmslose Entsprechung ist [l]-[l]-[r]-[l]. In jeder Position, in der L j [1] hat, haben es auch L2 und L4; in der entsprechenden Position hat L3 immer [r]. Neben [lisu] in L i finden wir demnach [lisu], [risu] und [lis] in L 2 , L3 und L4. Das Datenmaterial für ,Stein' und ,Speer' ist unvollständig, aber die vorhandenen Wörter passen sich genau dem Muster an. Beachten Sie, daß eine lautliche Entsprechung völlig regelmäßig sein kann, auch wenn die Elemente der Entsprechung von Sprache zu Sprache verschieden sind. L3 unterscheidet sich von den anderen Sprachen darin, daß es statt [1] ein [r] hat, aber dieser Unterschied ist völlig systematisch. Man kann die Formel [l]-[l]-[r]-[l] aufstellen, die für alle lexikalischen Einheiten der Schwestersprachen gleichermaßen gilt, und gerade diese Regelmäßigkeit ist für die Rekonstruktion der Proto-Sprache von größtem Interesse, von größerem Interesse als phonetische Identität.

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Zwei weitere völlig regelmäßige Entsprechungen dieser Art sind [p][b]-[p]-[p] und [t]-[d]-[t]-[t]. Aus den Wörtern für ,Baum\ ,Donner' und ,Meer' können wir erkennen, daß jedesmal, wenn ein Wort in L i [p] hat, das entsprechende in L2 in dieser Position [b] hat; die entsprechenden Formen in L 3 und L4 stimmen mit L i überein. ,Baum' ist ζ. B. wiedergegeben als [puxa], [buga], [puka] und [puk], ,Donner' als [tupi], [dubi], [tupi] und [tup]. Die letztere Serie illustriert auch die Entsprechung [t][d]-[t]-[t], die auch die Wörter für ,Pfeil' zeigen: [matu], [madu], [matu] und [mat]. Wir haben nun sechs vollständig regelmäßige Entsprechungen festgestellt: [m]-[m]-[m]-[m]; [n]-[n]-[n]-[n]; [s]-[s]-[s]-[s]; [l]-[l]-[r]-[l]; [p]-[b][p]-[p] und [t]-[d]-[t]-[t]. Wenn wir jedoch noch weitere suchen, scheinen sich Ausnahmen zu zeigen. Nehmen wir etwa den Laut [k] in L 3 . A u f der Grundlage des Wortes für ,Baum' scheint [k] in L3 [x], [g] und [k] in L i , L 2 und L4 zu entsprechen: [puxa], [buga], [puka], [puk]. Wir würden also die Entsprechung [x]-[g]-[k]-[k] aufstellen. Auf der Grundlage dieser Formel und des Wortes für ,Hütte' in L 3 , [kaka], würden wir als parallele Wörter in den anderen drei Sprachen [xaxa], [gaga] und [kak] erwarten (wobei es zunächst einmal nur um die Konsonanten geht). Unsere Erwartungen werden jedoch nicht ganz erfüllt, da das Wort in L i nicht [ x a x a ] sondern [kaxa] lautet. Der anlautende Konsonant widerspricht dem Muster. Das bedeutet, daß manche (aber nicht alle) Entsprechungen relativ zu einer bestimmten phonologischen Umgebung angegeben werden müssen. In unserem Fall gilt die Entsprechung [x]-[g]-[k]-[k], aber nur wenn wir die anlautenden Konsonanten ausschließen. Die nicht-anlautenden velaren Konsonanten in [kaxa], [gaga], [kaka] und [kak] stimmen vollkommen mit dem in den Wörtern für ,Baum' entdeckten Muster überein. Für die anlautenden velaren Konsonanten braucht man eine andere Formel, nämlich [k]-[g]-[k]-[k]. Wir erwarten nun, daß andere ,Sätze' von Wörtern diese umgebungsabhängige Entsprechung bestätigen; so zeigen etwa die vier entsprechenden Wörter [kili], [gili], [kiri] und [kil], daß das Wort für,Hütte' in L i keine Ausnahme darstellt. In der gleichen Weise hängen auch die Entsprechungen für die Vokale [u] und [i] von spezifischen phonologischen Umgebungen ab. Aus den Wörtern für ,Baum' und ,Meer' könnte man die Entsprechungen [u]-[u][u]-[u] und [i]-[i]-[i]-[i] ableiten: [puxa], [buga], [puka], [puk]; [nipa], [niba], [nipa], [nip]. In beiden ,Sätzen' von Wörtern erscheint der betreffende Vokal in nicht-auslautender Stellung. Ein Blick auf die Wörter von L4 zeigt jedoch, daß für Vokale im Wortauslaut für L4 eine besondere 227

Regel gelten muß, da solche Vokale in L4 nicht vorkommen. Die Wörter für ,Fluß', [samu], [samu], [semu] und [sam] zeigen, daß die [u]-Serie im Wort-Auslaut [u]-[u]-[u]-[ ] lautet, wobei die leere Klammer das Fehlen eines Segments anzeigt. Dasselbe findet sich in der [i]-Serie: [i]-[i]-[i]-[ ] ergibt sich aus den Wörtern für .Himmel', [mani], [mani], [meni], [man]. Vergleichbar ist die [a]-Serie im Wort-Auslaut; aus [nipa], [niba], [nipa], [nip] schließen wir, daß die Serie [a]-[a]-[a]-[ ] lauten muß. Das bestätigen auch die Wörter für ,Baum' und ,Hütte'. In anderen Fällen entspricht aber dem [a] in L j , L2 und L4 manchmal [a] in L3 und manchmal [e]. So gibt es etwa [matu], [madu], [matu] und [mat] für ,Pfeil', aber [mani], [mani], [meni] und [man] für,Himmel'. Ist dies nun eine Unregelmäßigkeit im System der Entsprechungen, oder gibt es ein allgemeines Prinzip, das bestimmt, wann in L3 [a] steht und wann [e]? Untersuchen wir die Wörter in L3, so bemerken wir, daß [e] nur vor nasalen Konsonanten auftritt und [a] nie vor Nasalen: [puka], [meni], [rena], [kaka], [semu], [matu], [nipa]. Das Variieren zwischen [a] und [e] bei dem Gegenstück zum [a] der anderen Sprachen erweist sich also nicht als Unregelmäßigkeit, sondern vielmehr als eine Regelmäßigkeit niedrigerer Ordnung. Die Entsprechung lautet [a]-[a]-[e]-[a] vor Nasal und [a]-[a]-[a]-[a] in allen anderen Stellungen. Die von uns gefundenen Entsprechungen sind in der folgenden Tabelle zusammengefaßt: [m]-[m]-[m]-[m] (1) [n]-[n]-[n]-[n] (2) [s]-[s]-[s]-[s] (3) [l]-[l].[r]-[l] (4) [p]-[b]-[p]-[p] (5) [t]-[d]-[t]-[t] (6) (7a) [k]-[g]-[k]-[k] (im Wortanlaut) (7b) [x]-[g]-[k]-[k] (sonst) (8a) [u]-[u]-[u]-[ ] (im Wortauslaut) (8b) (sonst) [u]-[u]-[u]-[u] (9a) (im Wortauslaut) [i]-[i]-[i]-[ ] (9b) [i]-[i]-[i]-[i] (sonst) (10a) [a]-[a]-[a]-[ ] (im Wortauslaut) (10b) [a]-[a]-[e]-[a] (vor Nasal) (10c) [a]-[a]-[a]-[a] (sonst) Die Wörter der vier Schwestersprachen sind im Hinblick auf ihre phonetische Gestalt durch diese Formel aufeinander bezogen. Diese Aufstel228

lung der Regelmäßigkeiten ermöglicht es uns, die Lautform eines Wortes in einer Sprache vorherzusagen, wenn wir seine Aussprache in den Schwestersprachen kennen. Das einheimische Wort für,Speer' in L j , das durch das Lehnwort [palmufo] ersetzt worden war, könnten wir ohne Schwierigkeit aus den entsprechenden Wörtern der Schwestersprachen [nili], [niri] und [nil], erschließen; hätte sich das Wort erhalten, so müßte seine Lautform [nili] sein. Ebenso können wir aus den Formen [lana], [lana] und [rena] schließen, daß das einheimische Wort für,Stein' in L4 [lan] gelautet hätte, wenn es nicht durch das Lehnwort [rena] ersetzt worden wäre.

Die Regelmäßigkeit des Lautwandels Durch das Ausschließen anderer Möglichkeiten sind wir weiter oben zu dem Ergebnis gekommen, daß die Ähnlichkeiten zwischen den vier Sprachen auf genetische Verwandtschaft zurückzuführen sein müssen. Wir wollen nun ausdrücklich die Hypothese aufstellen, daß sie auseinanderentwickelte Fortsetzungen derselben Proto-Sprache sind, die wir PL nennen wollen, wie Abb. 8.2 zeigt. Die beobachteten Regelmäßigkeiten lasPL L,

L,

L3

L4

Abb. 8.2

sen sich zum Teil durch diese Hypothese erklären; es ist ζ. B. nicht verwunderlich, daß die Wörter für ,Baum' in den Tochtersprachen ähnlich lauten, da sie alle auf dieselbe Form zurückgehen, das Wort für ,Baum' in PL. Trotzdem erklärt die Hypothese der genetischen Verwandtschaft allein noch nicht das Vorhandensein von systematischen Lautentsprechungen. Es wäre durchaus vorstellbar, daß zwar jeder „Satz" von Wörtern ähnlich, aber die Art der Ähnlichkeiten in jedem „Satz" wieder verschieden wäre. Dies wäre der Fall, wenn sich jedes einzelne Wort der Proto-Sprache individuell entwickeln würde. Anlautendes [m] ζ. B. könnte sich in dem Wort für,Himmel' auf die eine Art entwickeln und in dem Wort für,Pfeil' auf die andere Art. Wenn die Veränderungen 229

bei den Lauten einer Proto-Sprache ganz individuell verschieden oder charakteristisch für einzelne lexikalische Einheiten wären, könnte man niemals systematische Lautentsprechungen finden, die die Wörter der Tochtersprachen verbinden und fur alle Sätze von Wörtern gleicher Herkunft gleichermaßen gelten. Um also das Vorhandensein systematischer Lautentsprechungen erklären zu können, benötigen wir eine Doppel-Hypothese. Zu der Hypothese der genetischen Verwandtschaft müssen wir noch die weitere hinzufügen, daß der Lautwandel grundsätzlich regelmäßig verläuft. Wenn anlautendes [m] von PL in dem Wort für,Himmel' in Li als [m] erscheint, so wird es in allen Wörtern von Li so erscheinen. Wenn ein [a] von PL in L3 als [e] erscheint, falls das darauffolgende Segment ein Nasal ist, dann wird [a] in dieser Umgebung immer als [e] erscheinen. Es mag vereinzelte Ausnahmen geben, wie es sie für jede Regel gibt, aber im ganzen betrachten wir den Lautwandel als regelmäßigen Vorgang. Der gemeinsame Ursprung jedes der Sätze von Wörtern im Verein mit der Annahme, daß der Lautwandel regelmäßig verläuft, erklärt sowohl die phonetische Ähnlichkeit der Wörter eines jeden Satzes als auch die ' Tatsache, daß sie durch Entsprechungsformeln systematisch verbunden sind, die für alle Wörter gemeinsamer Herkunft gelten. Einen Satz von genetisch in dieser Weise verwandten Wörtern können wir kurz als einen v e r w a n d t e n Satz bezeichnen; die Elemente eines solchen Satzes sind v e r w a n d t e W ö r t e r . Die Wörter der Tochtersprachen für ,Baum' bilden etwa einen verwandten Satz; [puxa], [buga], [puka] und [puk] sind verwandte Wörter. Für jeden verwandten Satz gibt es per definitionem eine Proto-Form, auf die alle auseinanderentwickelten Formen zurückgehen. Der nächste Schritt besteht in dem Versuch der Rekonstruktion dieser Proto-Formen; weiterhin muß man die Lautveränderungen feststellen, die in der Entwicklung der einzelnen Tochtersprachen stattgefunden haben.

Die

Rekonstruktion

Das Vorhandensein von verwandten Sätzen, die durch systematische Lautentsprechungen miteinander verbunden sind, gibt starkes Beweismaterial für die genetische Verwandtschaft der vier Sprachen ab. Der nächste Schritt der komparativen Methode — die Teilrekonstruktion der Proto-Sprache und die Feststellung der Lautveränderungen — bestätigt weiter unsere Hypothese. Er zeigt im einzelnen, daß es sinnvoll 230

ist, die beobachteten Regelmäßigkeiten unter dem Aspekt der genetischen Verwandtschaft zu deuten, da er erkennen läßt, daß es in der Tat eine derartige Proto-Sprache gegeben haben kann, die dann durch einleuchtende Lautveränderungen in die Tochtersprachen auseinandergefallen wäre. Für jede Lautentsprechung können wir einen Segmenttyp in der Proto-Sprache aufstellen. Wenn die Entsprechung von einer bestimmten phonologischen Umgebung abhängt, gilt dieselbe Abhängigkeit auch für den rekonstruierten Segmenttyp. Nehmen wir die Entsprechung [m]-[m]-[m]-[m]. Wann immer [ m ] in einem Wort einer der Tochtersprachen auftaucht, enthalten seine verwandten Wörter auch [m], und zwar in derselben Position. Man kann sinnvollerweise annehmen, daß diese Übereinstimmung daherkommt, daß das zugrundeliegende Wort in der Proto-Sprache in dieser Position auch [ m ] enthielt. Die Annahme ist also mit anderen Worten die, daß [mani], [mani], [meni] und

[man] deshalb mit [ m ] beginnen, weil das

Wort für,Himmel' in der Proto-Sprache auch mit [ m ] begann; oder daß das dritte Segment in [samu], [samu], [semu] und [sam] immer [ m ] ist, weil das dritte Segment des Wortes für ,Fluß' in der Proto-Sprache [ m ] war usw. Als Ausgangsform fur das Segment [ m ] in den Tochtersprachen rekonstruieren wir also das Segment * [ m ] in PL. (Das Sternchen setzt man immer vor rekonstruierte Einheiten, solche also, die nicht direkt beobachtet worden sind.) Das Ergebnis ist in A b b . 8.3 wiedergegeben. In diesem Fall haben keine Lautveränderungen stattgefunden, die das rekonstruierte Element hätten betreffen können. In ähnlicher Weise können wir für P L die Segmente * [ n ] und * [ s ] rekonstruieren. Das erste liegt der in den Tochtersprachen beobachteten Entsprechung [n]-[n]-[n]-[n] zugrunde, das zweite der Serie [s]-[s]-[s]-[s]. Wiederum zeigen die betreffenden Proto-Segmente keine Lautveränderung, da ihre R e f l e x e — ihre Realisierungen in den Tochtersprachen— einheitlich sind. Diese Einheitlichkeit fehlt in der Entsprechung [l]-[l]-[r]-[l]. Der Reflex des Proto-Segments in L3 stimmt nicht mit den Reflexen in den anderen Tochtersprachen überein. Welches Segment sollen wir nun als Grundlage dieser Entsprechung rekonstruieren? Die wichtigste Vorbedingung ist, daß das rekonstruierte Segment in der Lage gewesen sein muß, sich sowohl zu [1] als auch zu [ r ] historisch zu entwickeln, da wir ja gerade eine derartige Entwicklung behaupten. A u f dieser Grundlage allein könnte man entweder [1] oder [ r ] als Proto-Segment ansetzen, da die beiden Laute sich sehr ähnlich sind und der Wechsel zwischen [1] und

231

[I]

*[m]

[m]

[m]

[m]

Abb. 8.3

[m]

[I]

[I]

[r]

[I]

Abb. 8.4

fr] ein häufiges sprachliches Phänomen ist; d. h., [1] verändert sich oft zu [r], und auch die umgekehrte Entwicklung kommt vor. Als Grundlage der Serie [l]-[l]-[r]-[I] rekonstruieren wir *[1], wie es Abb. 8.4 zeigt. Indem wir diese Entscheidung treffen, behaupten wir implizit, daß zu der Entwicklung von PL zu L3 unter vielen anderen Dingen auch der Wandel von [1] zu [r] gehört. Diese Annahme ist etwas sinnvoller als die umgekehrte. Wenn wir stattdessen *[r] rekonstruieren, behaupten wir, daß sich [r] in Li, L2 und L4 unabhängig zu [ljentwickelt hätte und nur in L3 bewahrt worden sei. Obgleich dies nicht unmöglich ist, ist es doch etwas weniger wahrscheinlich als die einzelne Veränderung von [1] zu [r]. Aus diesem Beispiel können wir sehen, daß es nicht immer möglich ist, mit Sicherheit anzugeben, welches die genaue phonetische Form eines Proto-Segments gewesen sein muß. Wir müssen natürlich einen einzigen Segmenttyp als Grundlage für die Reflexe in den Tochtersprachen annehmen, aber von einem gewissen Punkt an bleibt die Frage nach seiner genauen Form Spekulation. Die nächsten zwei Entsprechungen stellen uns vor ähnliche Probleme, und wir werden eine ähnliche Lösung vorschlagen — die Mehrheit gibt den Ausschlag, es sei denn, das Gegenteil wäre zu erweisen. Für [p]-[b][ p H p ] rekonstruieren wir *[p], und für [t]-[d]-[t]-[t] rekonstruieren wir *[t]. Bei jeder Rekonstruktion setzen wir voraus, daß ein Lautwandel in L2 stattgefunden hat und zwar von [p] zu [b] und von [t] zu [d]. Es ist die einfachere Lösung, die Veränderungen in L2 anzusetzen, als [b] und [d] als die ursprünglichen Formen vorauszusetzen. Bei der letzteren Annahme müßten wir parallele Neuerungen in L j , L3 und L4 voraussetzen, was etwas weniger wahrscheinlich ist. Die Entsprechung [k]-[g]-[k]-[k] ist auf die Anlaut-Position beschränkt. Nach dem eben verwendeten Argumentationsschema können wir für PL in dieser Position *[k] rekonstruieren, wobei wir gleichzeitig in L2 einen Wandel von [k] zu [g] annehmen. Wenn unsere Rekonstruktion von *[p] und *[t] richtig war, dann muß 232

der dritte rekonstruierte Verschlußlaut fast notwendig *[k] sein und nicht *[g]. Der Grund dafür ist die Tatsache, daß das Inventar der in einer Sprache verwendeten Laute in vielen Fällen eine gewisse Symmetrie zeigt, vor allem im Hinblick auf Verschlußlaute, Reibelaute und Nasale. Es ist sehr häufig, daß Sprachen drei stimmlose Verschlußlaute haben, etwa [p t k], aber es ist äußerst selten, daß eine Sprache zwei stimmlose und einen stimmhaften Verschlußlaut besitzt, etwa [p t g]. Unsere rekonstruierten Verschlußlaute [p t k] tragen dieser Tendenz zur Symmetrie Rechnung. Besaß PL den Verschlußlaut *[k] im Anlaut, so kam derselbe Laut wahrscheinlich auch in nicht-anlautender Position vor. Deshalb liegt dasselbe Segment auch der Entsprechung [x]-[g]-[k]-[k] zugrunde. Beide Entsprechungen kommen in dem verwandten Satz für,Hütte' vor: [kaxa], [gaga], [kaka] und [kak]. Das Proto-Wort für,Hütte' enthielt offensichtlich das *[k] zweimal. Beide Vorkommen sind in den Wörtern von L3 und L4 bewahrt; [k] war in diesen Sprachen keinem Lautwandel unterworfen. Der Lautwandel in L2 war auf keine besondere Umgebung beschränkt; in allen Umgebungen wurde [k] zu [g]. Deshalb finden sich beide Vorkommen von *[k] in dem Proto-Wort als [g] in dem entsprechenden Wort in L2. Dagegen muß in Li eine Lautveränderung stattgefunden haben, die von der jeweiligen Umgebung abhing: zwischen zwei Vokalen wurde [k] zu [x]. Das anlautende [k] wurde bewahrt, während das intervokalische [k] eine Veränderung durchmachte und in Li als [x] erschien. Diese Situation ist in Abb. 8.5 dargestellt. Der angenommene Lautwandel ist ganz einsichtig, denn es kommt häufig vor, daß ein Verschlußlaut zum Reibelaut wird, vor allem, wenn er zwischen Vokalen steht. Die umgekehrte Entwicklung, daß ein Reibelaut zum Verschlußlaut wird, ist weniger gewöhnlich. *

[k]

Abb. 8.5

Wir kommen nun zu den Vokal-Entsprechungen. Wir haben im Auslaut die Entsprechung [u]-[u]-fu]-[ ] gefunden, während in anderen Umgebungen [u]-[u]-[u]-[u] gilt. Die naheliegende Lösung ist, *[u] für alle 233

Positionen der Proto-Sprache anzusetzen, wobei fur L4 ein besonderer Lautwandel anzunetimen ist: [u] im Auslaut geht verloren. Dieselbe Lösung ist für die beiden Entsprechungen mit [i] angemessen, nämlich [i][i]-[i]-[ ] im Auslaut und [i]-[i]-[i]-[i] in den anderen Positionen. Das Proto-Segment war zweifellos *[i], und L4 zeigt folgenden Lautwandel: [i] im Auslaut geht verloren. Für [a] haben wir drei Entsprechungen gefunden. Im Auslaut war die Entsprechung [a]-[a]-[a]-[ ], vor Nasalen [a]-[a]-fe]-[a] und sonst [a]-[a][a]-[a]. Für jede Entsprechung setzen wir das Proto-Segment *[a] an. Folgende zwei Lautveränderungen erklären dann das Datenmaterial: in L 3 wurde [a] vor Nasal zu [e]; in L4 ging [a] im Auslaut verloren. E s leuchtet unmittelbar ein, daß diese Lösung einfacher und vernünftiger ist als jede naheliegende Alternative. Alles in allem haben wir jetzt die zehn Proto-Wörter rekonstruiert, die dem Datenmaterial zugrundeliegen, von dem wir ausgegangen sind. Jedes Segment im Datenmaterial ist durch eine Entsprechung erklärt worden, und wir haben für jede Entsprechung ein Proto-Segment rekonstruiert. Zur Rekonstruktion der Proto-Wörter müssen wir nur noch das zusammentragen, was wir schon gefunden haben. Die rekonstruierten Proto-Wörter sind in der folgenden Tabelle zusammen mit ihren verwandten Sätzen angegeben, und die postulierten Lautveränderungen, die die verwandten Sätze von den Proto-Wörtern ableiten, sind nochmals aufgeführt. PL

Li

*[puka] [puxa] *[lisu] [lisu] *[mani] [mani] *[lana] [lana] *[kaka] [kaxa] *[tupi] *[nili]

[tupi]

*[samu] [samu] *[matu] [matu] *[nipa] [nipa]

U

Bedeutung

[puka] [risu] [meni] [rena] [kaka]

[puk] [Iis] [man]

,Baum' ,Insekt'

[tupi] [niri] [semu]

[tup] [nil] [sam]

[matu] [nipa]

[mat] [nip]

L2

L3

[buga] [lisu] [mani] [lana] [gaga] [dubi] [nili] [samu] [madu] [niba]

[kak]

,Himmel' ,Stein' ,Hütte' ,Donner' ,Speer' ,Fluß' ,Pfeil' ,Meer'

In wurde [k] zwischen Vokalen zu [x]. In L 2 wurde [p] zu [b], [t] zu [d] und [k] zu [g]. In L 3 wurde [1] zu [r], und [a] vor Nasal zu [e]. In L4 fielen [u], [i] und [a] im Auslaut aus.

234

Zur Erläuterung wollen wir einige Beispiele durchsprechen. Wir werden die Proto-Wörter für ,Baum' und ,Stein' rekonstruieren und dann die rekonstruierten Formen in ihrer historischen Entwicklung verfolgen. Der verwandte Satz für ,Baum' lautet [puxa], [buga], [puka] und [puk]. Das anlautende Segment dieser Formen zeigt die Entsprechung [p]-[b]-[p]-[p], für die wir *[p] rekonstruiert haben. Für die Entsprechung [u]-[u]-[u]-[u] haben wir *[u] rekonstruiert: das zweite Segment des Proto-Worts muß also *[u] gewesen sein. Die letzten beiden Segmente zeigen die Entsprechungen [x]-[g]-[k]-[k] und [a]-[a]-[a]-[ ], fur die wir *[k] bzw. *[a] rekonstruiert haben. Setzen wir die Segmente zusammen, so stellen wir fest, daß das Proto-Wort für ,Baum' *[puka] gewesen sein muß. Auf dem Wege ihrer Entwicklung von PL erfuhr L i eine Lautveränderung: [k] wurde zwischen Vokalen zu [x]. Eine spezielle Auswirkung dieser Veränderung ist es, daß *[puka] in Li als [puxa] realisiert wird. Wir beachten dabei, daß dieser Wechsel regelmäßig war, also alle Morpheme mit intervokalischem [k] betraf. Entsprechend entwickelte sich *[kaka] in L i zu [kaxa]. Zwei der Lautveränderungen in L2 werden bei *[puka] wirksam: [p] wurde zu [b] und [k] zu [g]. Das Ergebnis dieser regelmäßigen Veränderungen ist das Wort [buga] in L2· Von den für L3 charakteristischen Lautveränderungen betraf keine [puka], so daß das Wort fur ,Baum' in L3 mit dem der Proto-Sprache identisch ist. Schließlich wurde *[puka] durch den Verlust des [a] in Auslautposition in L4 zu [puk]. Für ,Stein' stehen nur drei verwandte Wörter zur Verfügung, [lana], [lana] und [rena], aber das führt zu keiner Schwierigkeit beim Erschließen der Proto-Form. Das erste Segment steht für die Entsprechung [l]-[l]-[r][1], das zweite für [a]-[a]-[e]-[a], das dritte für [n]-[n]-[n]-[n] und das vierte für [a]-[a]-[a]-[ ]. Die rekonstruierten Proto-Segmente sind jeweils *[1], *[a], *[n], *[a]. Das Wort für ,Baum in PL muß also *[lana] gewesen sein. Die Form [lana] hat sich sowohl in L i als auch in L2erhalten, weil die Lautveränderungen in diesen Sprachen nur die Verschlußlaute betrafen. Beide Lautveränderungen in L3 wurden bei *[lana] wirksam: [1] wurde zu [r], und [a] wurde vor Nasal zu [e]. Folglich ist das Wort für ,Stein' in L3 [rena]. Das Wort in L4 wurde durch Entlehnung ersetzt, aber die von uns gezeigten Prinzipien lassen erkennen, daß es [lan] gelautet hätte, wenn es erhalten geblieben wäre, da auslautendes [a] in L4 regelmäßig ausfiel. Man kann bei der klassischen Form der komparativen Methode also 235

mehrere Schritte unterscheiden. Zuerst werden offensichtlich verwandte Wörter isoliert. Dann werden die systematischen Lautentsprechungen, die die verwandten Sätze verbinden, aufgedeckt. Drittens werden auf der Basis der verwandten Sätze Wörter der Proto-Sprache rekonstruiert. Viertens werden die Lautveränderungen festgestellt, die in der Entwicklung von der Proto-Sprache zu den Tochtersprachen stattgefunden haben. Diese Veränderungen müssen die Entwicklung eines jeden Satzes von verwandten Formen aus der gemeinsamen Proto-Form erklären. Darüberhinaus muß die Proto-Sprache, soweit sie rekonstruiert werden kann, einer natürlichen Sprache gleichen, und die postulierten Lautveränderungen müssen einleuchtend sein, d. h. Veränderungen, von denen man weiß, daß sie vorkommen. Wenn man nach diesen Schritten vorgegangen ist und alle Bedingungen erfüllt sind, hat man zweierlei erreicht: man hat gezeigt, daß die vermutlichen Schwestersprachen wirklich genetisch verwandt sind, und man hat die Proto-Sprache teilweise rekonstruiert. Natürlich ist die historische Rekonstruktion nicht immer so einfach wie man aus unserem hypothetischen Beispiel vielleicht schließen möchte. In natürlichen Sprachen handelt es sich um eine viel größere Anzahl von Lautsegmenten; nur selten ist die Zahl der Lücken im Datenmaterial so gering; normalerweise ist es nicht so einfach, entlehnte Formen zu erkennen; die Lautveränderungen, die für die Ableitung der Tochtersprachen von der Vorstufe verantwortlich sind, sind gewöhnlich viel zahlreicher; auch syntaktisches und morphologisches Material muß berücksichtigt werden; es gibt keine Methode, wie man von vornherein bestimmen könnte, ob und wie die verwandten Sprachen sich zu Gruppen ordnen — diese Liste von Problemen könnte noch verlängert werden. Trotzdem lassen sich die hier vorgeführten Prinzipien in vollem Umfang auf das Datenmaterial natürlicher Sprachen anwenden. Die komparative Methode ist ein funktionstüchtiges Werkzeug zur Feststellung der genetischen Verwandtschaft einer Gruppe von Sprachen und zur Rekonstruktion von Proto-Formen.

Interpretation des Lautwandels In unserem hypothetischen Beispiel ist es uns gelungen, die genetische Verwandtschaft festzustellen und Proto-Formen zu rekonstruieren, ohne je unter die phonetische Oberfläche hinabzugehen. Wir sind ausgegangen von den phonetischen Formen der Tochtersprachen, ohne jemals ihre zugrundeliegenden Repräsentationen oder die für ihre Realisierung verant236

wortlichen phonologischen Regeln zu berücksichtigen. Bei dieser Art des Vorgehens entdeckten wir eine recht erstaunliche Tatsache: Der Lautwandel verläuft regelmäßig. Wenn [a] in L3 vor Nasal zu [e] wurde, so galt das für sämtliche Wörter, in denen [a] vor Nasal auftrat und nicht nur für einige. Die Veränderung von [a] zu [e] war nicht auf einzelne Morpheme beschränkt, sondern traf auf alle Morpheme der Sprache zu. Die gemeinsamen Proto-Formen und die Regelmäßigkeit des Lautwandels erklären die beobachteten Entsprechungen, die verwandte Wörter in den Tochtersprachen miteinander verbinden und auch die Glieder jedes verwandten Satzes in der gleichen Weise verbinden. Da die Entwicklung von den gemeinsamen Proto-Formen regelmäßig verläuft, sind verwandte Wörter ihrer phonologischen Gestalt nach in einem regelhaften Muster miteinander verbunden. Aber warum sollte der Lautwandel regelmäßig verlaufen? Die regelhafte Natur des Lautwandels war eine revolutionäre Entdeckung der Philologen des 19. Jahrhunderts, die die komparative Methode entwickelten, aber sie gaben nie eine zufriedenstellende Erklärung dafür, warum es so ist. Um dies zu erreichen, müssen wir das Ganze nochmals unter dem Aspekt der in Kapitel 6 dargelegten neueren Betrachtungsweise von phonologischen Systemen interpretieren. Wenn man das phonetische Datenmaterial, von dem wir ausgehen, als Realisierungen von abstrakten zugrundeliegenden Repräsentationen durch phonologische Regeln betrachtet, so wird die Regelmäßigkeit des Lautwandels recht einsichtig. Lassen Sie uns nochmals das Datenmaterial untersuchen, das den Wechsel von [a] zu [e] vor Nasal in L3 illustriert. Die zehn für L3 vorhandenen Formen lauten [puka], [risu], [meni], [rena], [kaka], [tupi], [niri], [semu], [matu] und [nipa]. Phonetisch kennt L3 sowohl [a] als auch [e]. Wir stellen jedoch fest, daß der Unterschied zwischen den beiden nicht distinktiv ist. Es gibt keine zwei Morpheme, die nur dadurch unterschieden werden, daß das eine [a] in einer Position hat, in der das andere [e] hat. Außerdem könnte das auch gar nicht der Fall sein (wenn wir unsere kleine lexikalische Auswahl als charakteristisch für die ganze Sprache ansehen). Da [e] nur vor Nasalen und [a] nie vor Nasalen auftritt, kann der Unterschied zwischen [e] und [a] in irgendeiner Position niemals der einzige Zug sein, der zwei Morpheme unterscheidet. Also ist [e] in L3 nichts anderes als eine Realisierungsvariante von [a]. Es ist die Form, die [a] sichtbar annimmt, wenn das folgende Segment ein Nasal ist. In den zugrundeliegenden Repräsentationen werden [e] und [a] nicht unterschieden, weil sie nicht distinktiv sind. Der erste Vokal in [semu] und [matu] würde einfach als tief aufgeführt (um [a] / [e]

237

von den hohen Vokalen [i u] zu unterscheiden). In den meisten Fällen wird ein tiefer Vokal endgültig als [a] angegeben wie in [matu]. Das [e] in [semu] ergibt sich aber aus der Anwendung der folgenden Regel von L 3 : ein tiefer Vokal wird vor Nasal als mittlerer Vordervokal realisiert. Verwenden wir zur Charakterisierung eines tiefen Vokals [a], so können wir die zugrundeliegende Repräsentation als [samu] angeben, wobei die angeführte Regel für die Oberflächenrealisierung [semu] verantwortlich ist. Entsprechend gehen [meni] und [rena] auf die abstrakteren Repräsentationen [mani] und [rana] zurück. Es gibt also in L 3 einen zugrundeliegenden Segmenttyp [a] (d.h., einen tiefen V o k a l ) und eine phonologische Regel, die besagt, daß [a] vor Nasal als [e] realisiert wird. Wenn wir uns nun der Proto-Sprache P L zuwenden, so stellen wir fest, daß es dort überhaupt kein [e] gibt, sondern nur den rekonstruierten tiefen Vokal *[a], über dessen genaue Aussprache man nur Vermutungen anstellen kann. Vergleichen wir nun L3 mit ihrer Vorstufe P L , so finden wir als einzigen Unterschied im Vokalismus die Tatsache, daß es in L3 eine Regel gibt, die [a] als [e] realisiert. Im Hinblick auf die zugrundeliegende Repräsentation der betreffenden Vokalsegmente sind die beiden Stufen identisch; auf beiden Stufen reicht es aus, den V o k a l als tief anzugeben. In P L wurde vermutlich ein zugrundeliegender tiefer Vokal immer als tiefer Vokal realisiert (zumindest gibt es keine Indizien für das Gegenteil); in L3 kann ein tiefer Vokal entweder als mittlerer oder als tiefer V o k a l realisiert werden, je nach phonologischer Umgebung. Wir haben vorher gesagt, daß L 3 in seiner Entwicklung von P L her einen Lautwandel durchgemacht hat, nämlich die Veränderung von [a] zu [e] vor Nasal. Das Wesen dieses Lautwandels sollte nun völlig klar sein: die Regel, daß [a] vor Nasal als [e] realisiert wird, ist zum phonologischen System von L3 hinzugefügt worden. Die Veränderung war keine Veränderung in den Lauten selbst, sondern vielmehr in dem System, das ihnen zugrundeliegt. Es sollte auch verständlich sein, warum dieser Lautwandel regelmäßig war und warum er für sämtliche Morpheme der Sprache galt und sich nicht nur auf einzelne Morpheme beschränkte. Der Wandel bestand in der Hinzufügung einer allgemeinen Regel, und eine allgemeine phonologische Regel ist per definitionem ein Prinzip, das allgemeingültig ist, und nicht nur eine individuelle Eigenschaft bestimmter lexikalischer Einheiten. Die Regelmäßigkeit der anderen Lautveränderungen, die wir angesetzt haben, läßt sich in ähnlicher Weise erklären. In L i wurde [k] zwischen Vokalen zu [ x ] , so daß sich F o r m e n wie [puxa] und [kaxa] ergaben. Der

238

Unterschied zwischen [k] und [x] ist jedoch nicht distinktiv, da [x] nur intervokalisch vorkommt, was bei [k] nie der Fall ist. Es gibt also sowohl in PL als auch in L j einen zugrundeliegenden velaren Konsonanten. Der Lautwandel bestand in der Hinzufügung der folgenden Regel zu dem System von L j : [k] wird zwischen Vokalen als Reibelaut realisiert. Der Wandel war regelmäßig, weil die phonologischen Repräsentationen einzelner Morpheme gar nicht betroffen waren; stattdessen wurde eine Regel hinzugefügt. Für L2 wurden drei Lautveränderungen postuliert: [p] wurde zu [b], [t] wurde zu [d] und [k] wurde zu [g]. Weder in PL noch in L2 ist der Unterschied zwischen einem stimmhaften und einem stimmlosen Verschlußlaut distinktiv. Vermutlich waren in PL alle Verschlußlaute stimmlos, und in L2 sind alle stimmhaft. Auf beiden Stufen ist demnach die Stimmhaftigkeit der Verschlußlaute ein redundantes phonetisches Detail, ein Detail, das durch eine phonologische Regel hinzugefügt wird. Die Regel für PL ist einfach die, daß Verschlußlaute stimmlos sind, während sie für L2 lautet, daß Verschlußlaute stimmhaft sind. Da eine Regel verändert wurde und nicht einzelne phonologische Repräsentationen, war der Wandel regelmäßig. Beachten Sie, daß es sich um eine einzige allgemeine Regel handelt. Alle Verschlußlaute werden in PL als stimmlos und in L2 als stimmhaft angegeben; die betreffende Regel gilt für alle Verschlußlaute. Es gibt keinen Grund, warum man die komplexere, weniger allgemeine und weniger Einsicht bringende Analyse vornehmen sollte, nach der es drei gesonderte Regeln für jede Art von Verschlußlaut geben müßte. Was die phonetischen Fakten der Oberfläche angeht, so haben sich drei verschiedene Lautveränderungen abgespielt, aber alle drei sind Folgen derselben geringfügigen Regelveränderung. Der Wandel von [1] zu [r] in L3 ist eine parallele Erscheinung. Weder in PL noch in L3 ist der Unterschied zwischen [1] und [r] distinktiv. Auf beiden Stufen genügt es, das zugrundeliegende Segment als Liquid anzugeben, wobei phonologische Regeln die genaue Lautgestalt bestimmen. Der Wandel von [1] zu [r] war also eine geringfügige Regelveränderung, ähnlich wie bei den Verschlußlauten in L2. In L4 haben drei Veränderungen stattgefunden: [u] fiel im Auslaut weg, [i] fiel im Auslaut weg und [a] fiel im Auslaut weg. Inzwischen sollte es klar geworden sein, daß diese drei Veränderungen die Auswirkungen derselben historischen Erscheinung sind und keine isolierten Ereignisse. Um aber zu wissen, was für ein historisches Phänomen es war, müssen wir noch etwas mehr über L4 wissen. Eine Möglichkeit ist die, daß sich die zugrundeliegenden phonologi-

239

sehen Repräsentationen in der Entwicklung von PL zu L4 nicht geändert haben und daß vielmehr eine Regel zur Tilgung von auslautenden Vokalen zum phonologischen System hinzugekommen ist. Ist dies der Fall, dann werden die zugrundeliegenden Repräsentationen [puka], [lisu] und [mani] durch diese Tilgungsregel in die phonetische Gestalt [puk], [Iis] und [man] überführt. Will man aber die zugrundeliegenden Vokale im Auslaut bewahren, obgleich sie phonetisch nicht vorhanden sind, so muß es auch noch nicht-historische strukturelle Indizien geben, die es rechtfertigen, sie anzusetzen. Nehmen wir etwa an, daß [n] als Suffix angefügt würde, wenn man die Pluralform von Substantiven bildet, und die Plurale der angegebenen Substantive seien [pukan], [lisun] und [manin]. Da die zugrundeliegenden Vokale im Plural sichtbar auftreten (wo das [n]-Suffix sie aus der Auslautposition herausnimmt und damit ihre Tilgung verhindert), gibt es strukturelle Indizien für ihr Vorhandensein. Wenn Kinder die Sprache L4 lernen, ist das Anlaß dafür, daß sie phonologische Repräsentationen für diese Substantive lernen, die die Angabe von Auslautvokalen einschließen. Nehmen wir aber andererseits an, derartige Indizien fehlten. Nehmen wir an, alle Wörter von L4 bestünden aus nur einer Silbe, und das Kind, das die Sprache lernt, hätte absolut keine strukturellen Gründe, zugrundeliegende Repräsentationen anzusetzen, die auslautende Vokale enthalten. In diesem Fall beruht der Unterschied zwischen P L und L4 nicht auf den phonologischen Regeln, sondern auf den zugrundeliegenden Repräsentationen, da ja in PL die Morpheme in ihren zugrundeliegenden Repräsentationen wirklich auf Vokale auslauten. Wenn aber die Repräsentationen von einzelnen Morphemen sich verändert haben und nicht Regeln, kann man dann noch von regelmäßiger Veränderung sprechen? Warum zeigen die Morpheme kein individuell verschiedenes Verhalten im Hinblick auf die Bewahrung des Auslautvokals? Darauf ist zu antworten, daß diese Veränderung ursprünglich eine Regelveränderung war. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in der historischen Entwicklung von PL zu L4 nahmen die Sprecher eine Regel an, nach der auslautende Vokale ausfielen. Vielleicht verbreitete sich diese Art der Aussprache wegen ihres bestimmten stilistischen Valeurs oder vielleicht aus anderen Gründen. Auf jeden Fall begannen Sprecher, die phonologische Repräsentationen mit Auslautvokalen gelernt hatten, diese Vokale beim Aussprechen von Wörtern wegzulassen. Die Erscheinung war im wesentlichen regelmäßig, da sie auf einer Regel beruhte. Die Kinder, die in dieser Situation sprechen lernten, sahen die Lage mit neuen Augen an. Da sie keine Auslautvokale hörten und auch keinen 240

Grund hatten, solche anzunehmen, lernten sie phonologische Repräsentationen, in denen die Auslautvokale alle fehlten. Die Veränderung der zugrundeliegenden Repräsentationen ergab sich demnach als ein Vorgang der Neustrukturierung. Nachdem die Auslautvokale auf Grund der Hinzufugung einer neuen Regel zum phonologischen System der Erwachsenen phonetisch verschwunden waren, bauten sich die Kinder, die später die Sprache lernten, ein einfacheres System, in dem die Auslautvokale völlig fehlten. In allen Fällen, bis auf einen, haben sich die Lautveränderungen in den Tochtersprachen als Regelveränderungen erwiesen; nur in einem Fall könnte man eine Veränderung in den zugrundeliegenden Repräsentationen annehmen, und auch hier muß eine Regelveränderung vorausgegangen sein. Unser hypothetisches Beispiel ist vielleicht nicht völlig repräsentativ, aber auch in der Wirklichkeit scheinen Regelveränderungen zu überwiegen. Das bis jetzt beschränkte, aber zunehmende Forschungsmaterial in diesem Bereich läßt vermuten, daß Regelveränderungen in phonologischen Systemen häufig vorkommen, während die zugrundeliegenden Repräsentationen vergleichsweise stabil sind.

Die indoeuropäische Sprachfamilie Wenn wir den vielbegangenen Pfad der indoeuropäischen Sprachen verlassen und uns weniger gut erforschten Sprachen zuwenden, sind genetische Klassifikationen häufig noch relativ unsicher. Es gibt Tausende von Sprachen in der Welt, und viele davon sind bisher nur in Umrissen oder noch gar nicht beschrieben worden. Wenn man Sprachen nicht sehr gut kennt, können natürlich Versuche, sie zu Familien zu ordnen, mißlingen. Auch hier könnte man einen Gesamtüberblick andeuten, wir wollen uns aber an dieser Stelle auf die indoeuropäische Familie beschränken, über die am wenigsten Zweifel besteht. Die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Sprachfamilie wurden im Verlauf der Entwicklung der komparativen Methode festgestellt. Das ProtoIndoeuropäische ist rekonstruiert worden, soweit man eben eine derart weit entfernte Sprache rekonstruieren kann, und die historische Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen ist weitgehend bis in Einzelheiten erforscht. Die indoeuropäische Familie umfaßt zehn Teilfamilien, wie Abb. 8.6 zeigt. Versuche, diese Teilfamilien in größere Familiengruppen zusammenzufassen, haben keine endgültigen Ergebnisse gebracht. Über das 241

Ρ roto-1 ndoeu ropä isch

Abb. 8.6 genaue Verhältnis des Anatolischen zu den übrigen indoeuropäischen Sprachen ist man sich immer noch nicht einig; manchmal wird das Anatolische eher als eine Schwestersprache des Proto-Indoeuropäischen angesehen denn als Tochtersprache. Die anatolischen Sprachen, die schon lange ausgestorben sind, wurden in Kleinasien gesprochen. Man kennt sie von Inschriften, die bis etwa 1400 v. Chr. zurückgehen und ungefähr einen Zeitraum von tausend Jahren umfassen. Die am genauesten bekannte anatolische Sprache ist das Hethitische, aber es sind auch Zeugnisse des Luwischen, Palaischen und Lydischen erhalten. Da das Hethitische zu einer so frühen Zeit gesprochen wurde, ist es recht wichtig für die Rekonstruktion des Proto-Indoeuropäischen, das man um die Zeit vor 3 0 0 0 v. Chr. ansetzt. Das Tocharische ist ebenfalls ausgestorben und nur aus schriftlichen Zeugnissen bekannt. Diese fragmentarischen Zeugnisse, die aus der Zeit vom 6. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. stammen, wurden in ChinesischTurkestan entdeckt. Es sind dabei offensichtlich zwei Dialekte vertreten, Tocharisch Α u n d B. Albanisch bildet für sich allein eine Teilfamilie, und dasselbe gilt für Armenisch. Das erstere wird in Albanien gesprochen und erstreckt sich bis nach Griechenland und Italien. Armenisch wird im südlichen Kaukasus und in Teilen der Türkei gesprochen. Die erste größere Teilfamilie, die wir genauer behandeln wollen, ist das Germanische. Das Gotische, das zuletzt im 16. Jahrhundert auf der Krim gesprochen wurde, das Skandinavische und das Westgermanische betrachtet man gewöhnlich als Teilgruppen des Germanischen. Zum Skandinavischen gehören das Isländische, das Dänische, das Schwedische und Norwegische, wobei sich die letzten drei recht ähnlich sind. Das Englische gehört zur westgermanischen Gruppe. Sein nächster Ver242

wandter ist das Friesische, das entlang der niederländischen Küste und auf Inseln in der Nordsee gesprochen wird. Die germanischen Sprachen in Kontinentaleuropa werden gewöhnlich in Oberdeutsch und Niederdeutsch aufgeteilt. Das Oberdeutsche, so genannt wegen der höhergelegenen, bergigeren Gegend des Südens, in der es gesprochen wird, umfaßt die Dialekte von Österreich, Süddeutschland und der Schweiz. Zum Niederdeutschen gehören das Holländische, das Flämische (in Belgien gesprochen) und die norddeutschen Dialekte. Das Jiddische, die Sprache der Juden, die sich vor Jahrhunderten in Osteuropa niederließen, ist Oberdeutsch. Das Afrikaans, das in Südafrika gesprochen wird, hat sich aus dem Holländischen entwickelt. Die italische Teilfamilie umfaßt die Sprachen, die in der Antike in Italien gesprochen wurden, und deren Nachfahren. Neben dem Lateinischen, das sie schließlich alle verdrängte, gehörten dazu das Oskische, das Umbrische und das Venetische, alles längst ausgestorbene Sprachen. Das Lateinische hat sich natürlich in den modernen romanischen Sprachen erhalten. Zusätzlich zum Französischen, Spanischen, Italienischen, Portugiesischen und Rumänischen, die jederman kennt, gehören dazu noch das Provenzalische, Katalanische, Ladinische, Sardinische und Dalmatinische. Provenzalisch ist ein Sammelbegriff für die Dialekte von Südfrankreich. Während des frühen Mittelalters war es eine Literatursprache und wetteiferte im Ansehen mit dem Französisch von Paris. Katalanisch wird im östlichen Spanien gesprochen, in der Gegend um Barcelona. Ladinisch, auch als Rhäto-Romanisch oder Romansch bekannt, steht in der Schweiz neben Französisch, Italienisch und Schweizerdeutsch und erstreckt sich bis nach Norditalien hinein. Sardisch wird auf Sardinien gesprochen, während das seit dem Tod seines letzten Sprechers (1898) ausgestorbene Dalmatinische sein Zentrum im heutigen Jugoslawien hatte. Die keltischen Völker waren einst eine wichtige Macht in Europa; sie waren über den ganzen Kontinent bis hin nach Kleinasien verbreitet. Die keltischen Sprachen haben sich jedoch nach und nach zurückgezogen und existieren heute nur noch auf den britischen Inseln und in Frankreich. Das Bretonische ist die Sprache der Bretagne in Nordwestfrankreich. Auf den britischen Inseln finden wir das Walisische, das Irische, das schottische Gälisch und das Manx (auf der Insel Man). Eine weitere keltische Sprache, das Kornische, ist seit dem 18. Jahrhundert ausgestorben. Die Geschichte des Griechischen kann man über 3000 Jahre hinweg verfolgen. Das klassische Griechisch bestand aus vielen örtlichen Dialekten, von denen der wichtigste das Attische war, der Dialekt von Athen. 243

Das Attische trat wegen der kulturellen Vormachtstellung von Athen in den Vordergrund und verbreitete sich über das ganze griechische Reich. Praktisch alle heutigen Dialekte gehen auf das attische Griechisch zurück. Man ist sich nicht darüber einig, ob die baltischen und die slavischen Sprachen sich deshalb ähnlich sind, weil sie eine Teilfamilie ausmachen, oder weil sie sich gegenseitig beeinflußt haben. Es mag deshalb angemessen sein, statt von einer balto-slavischen Teilfamilie von zwei Teilfamilien, Baltisch und Slavisch, zu reden. In jedem Fall umfaßt die baltische Gruppe das Litauische und das Lettische, sowie das seit einigen Jahrhunderten ausgestorbene Altpreussische. Die slavischen Sprachen teilt man häufig in die südliche, die westliche und die östliche Gruppe auf. Zum Südslavischen gehören Serbo-Kroatisch, Slovenisch und Bulgarisch. In der Ostslavischen Gruppe finden sich Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch, die sich sehr ähnlich sind. Tschechisch und Slovakisch, zwei Dialekte einer Sprache, gehören mit dem Polnischen zur Westslavischen Gruppe. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse des Slavischen stammen aus einer Bibelübersetzung des 9. Jahrhunderts. Die Sprache dieser Übersetzung bezeichnet man entweder als Altkirchenslavisch oder Altbulgarisch; als liturgische Sprache hat sie sich erhalten. Bleibt noch die indoiranische Teilfamilie. Heutige Vertreter des Iranischen sind das Persische, das im Iran gesprochen wird, Paschto in Afghanistan, Ossetisch im nördlichen Kaukasus, Kurdisch im Iran, Irak und in der Türkei und noch mehrere andere. Zwei antike iranische Sprachen sind aus Texten und Inschriften bekannt: das Alt-Persische, das man schon aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. kennt und das Avestische, die Sprache der Schriften des Zarathustra, das zwar aus derselben Zeit stammt, aber nur in späteren Handschriften überliefert ist. Zur indischen Gruppe gehören das Sanskrit, das man bis 1200 v. Chr. zurückverfolgen kann, und viele heutige Sprachen des nördlichen Indien und Pakistans, darunter Hindi, Urdu, Bengali, Panjabi, Gujerati, Marathi, Nepali und Kaschmiri.

244

Arbeits- und Diskussionsvorschläge

1. Untersuchen Sie in Frage 6 zum vorigen Kapitel noch einmal Dialekt 3 aus dem Papago! Durch innere Rekonstruktion lassen sich wahrscheinliche frühere phonetische Formen dieser Wörter erschließen. Welche Formen sind das? In welchem Verhältnis stehen sie zu den zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen? 2. In der folgenden Liste sind die Personalpronomen der 1. und 2. Person des Shoshone, einer uto-aztekischen Sprache, aufgeführt. Formen der 1. Person bezeichnen eine Gruppe von Individuen, zu der der Sprecher gehört; bei den Formen der 2. Person gehört der Hörer zu der Gruppe. Singularformen beziehen sich auf eine einzige Person, Dualformen auf zwei, und Pluralformen auf mehr als zwei Personen. Eine ,,Inklusiv"-Form der 1. Person umfaßt sowohl Sprecher als auch Hörer; bei der ,,Exklusiv"-Form ist der Hörer nicht einbezogen. Aus dem Beispielmaterial lassen sich fünf Morpheme isolieren, aus denen die Pronomen aufgebaut sind. Die Konstruktion der Pronomen aus den Basismorphemen ist durchaus regelmäßig; nur die Pluralform der 2. Person erscheint angesichts des übrigen Materials als unregelmäßig. Isolieren Sie die fünf Morpheme und geben Sie ihre Bedeutung an! Zeigen Sie, wie die regelmäßigen Formen der Pronomen aus ihnen aufgebaut werden! Nehmen Sie an, daß die vorliegende Pluralform der 2. Person eine Modifikation einer historisch früheren, ebenfalls regelmäßigen Form darstellt; erschließen Sie diese frühere Form durch die Methode der inneren Rekonstruktion! Können Sie Faktoren anführen, die zu dem Wandel geführt haben könnten? ni

1. Pers. Singular

tawih

1. Pers. Dual inkl.

niwih

1. Pers. Dual exkl.

tammin

1. Pers. Plural inkl.

nimmin

1. Pers. Rural exkl.

?in

2. Pers. Singular

mimmin

2. Pers. Plural

3. Cahuilla, Cupeno und Luiseno, drei uto-aztekische Sprachen, die im Süden Kaliforniens gesprochen werden, bilden eine Unterfamilie, die als Cupan bezeichnet wird. Proto-Cupan * [l] hat in den Tochtersprachen zwei verschiedene lautliche Entsprechungen, je nach der phonologischen Umgebung. Stellen Sie auf der Grundlage der folgenden verwandten Formen (aus William Bright/Jane Hill, "The Linguistic History of the Cupefio", in: Dell Hymes, ed., Studies in Southwestern Ethnolinguistics. The Hague: Mouton 1967, S. 351 - 371) die beiden lautlichen Entsprechungen des protosprachlichen * [l] auf, und beschreiben Sie das Prinzip, das das Vorkommen der Entsprechungen in den Tochtersprachen regelt! ([V] steht für palatalisiertes [1] .)

245

Cahuilla

Cupeno

Luiseno

haal

hal

.suchen'

silii

siili

.gießen'

qasilJ

qaasil

,Beifuß (Pflanze)'

puula

.Doktor'

muukil

,wund'

la?la

,Gans'

puul mukil) la?la?

mukiil)

4. (übernommen aus Langacker, Fundamentals of Linguistic Analysis, S. 344 f) Für das Proto-Indoeuropäische sind drei Gruppen von Verschlußlauten rekonstruiert worden: eine Gruppe von vier stimmlosen Verschlußlauten, eine Gruppe von vier nicht-behauchten stimmhaften Verschlußlauten, und eine Gruppe von vier behauchten stimmhaften Verschlußlauten. Zu jeder Gruppe gehören ein labialisierter velarer Verschlußlaut und drei nicht-labialisierte. Die unten aufgeführten verwandten „Sätze" lassen die Entwicklungen dieser Segmente in vier Unterfamilien des Indoeuropäischen erkennen; diese Unterfamilien sind hier durch Lateinisch, Griechisch, Sanskrit und Englisch repräsentiert. Stellen Sie die lautlichen Entsprechungen der schräggedruckten Konsonanten auf! Rekonstruieren Sie für jeden Satz von Entsprechungen ein Proto-Segment! Beschreiben Sie den Lautwandel, den die einzelnen Tochtersprachen erfahren haben! Versuchen Sie dabei, die Regeln so allgemein wie möglich zu formulieren (einige Veränderungen betreffen mehr als ein einziges Segment). Der Lautwandel, der zu den Lautformen im Germanischen (hier durch Englisch repräsentiert) geführt hat, wird als Erste (oder Germanische) Lautverschiebung bezeichnet. Die Formen sind nicht in phonetischer Umschrift gegeben, aber im großen und ganzen haben die schräggedruckten Konsonanten den Lautwert der entsprechenden phonetischen Zeichen (f entspricht also in etwa [f] ). Folgende Ausnahmen sind zu berücksichtigen: Lateinisch: c = [k], qu = [k w ]; Sanskrit: / = [JJ, s = [§]; Englisch: th = [Θ], wh - [h], c = [ k j h direkt hinter einem Zeichen für einen Verschlußlaut bezeichnet im Griechischen und im Sanskrit die Behauchung des Verschlußlautes, also z.B. bh = [b*1]. Die Bedeutung der englischen Wörter (und der deutschen Glossen in den fünf Fällen, für die englische Entsprechungen fehlen) entspricht nur grob der Bedeutung der verwandten Formen in den übrigen Sprachen; außerdem schwankt die genaue Bedeutung der einzelnen Formen teilweise erheblich von Tochtersprache zu Tochtersprache.

246

Lateinisch

Griechisch

Sanskrit

Englisch

feto

phetö

ftAarämi

quod

poteros

Aras

who

pater

pat5r

pitä

/ather

Aiems

AAeimön





edö

edomai

arfmi

eat

/acio

ti/Aemi

dadAäti

do

linquo

lejpö

rina£ti



»lassen*

de/endö

p/ionos

Aanti



.schlagen'

pes

pös

pät

foot

genus

genos

/'anah

kin

ienuis

fanaos

/anuh

thin

i>eniö

ftainö

agamam

come



/ormus

Aear

Aaras

warm

grüs

geranos



crane

fres

ireis

frayas

three

rü/us

erufAros

nu/Aira

red

deöilis

fteltion

ftalam



centum

hefcaton

s'atam

Aundred

pefcAus

bäAuh



/räter

pAratör

bh rätä

ft rother

decern

deka

dasa

fen

cor

fcardiä



Aeart

Aostis





guest



kannaftis



hemp



bös

gäuh

cow



.Winter'

,stark'

,Arm'

247

9. Die Universalität des Sprachbaus

Zum Wesen des Spracherwerbs

Die Leistung des Kindes Jedes Kind lernt während seiner ersten Lebensjahre eine Muttersprache, vorausgesetzt, es hat nach Erbgut und Umgebung die Möglichkeit dazu. Der Spracherwerb findet auch trotz beträchtlicher geistiger oder körperlicher Behinderung statt und bedarf keiner besonderen Unterweisung; allem Anschein nach genügt es völlig, daß das Kind in ausreichendem Maße dem Gebrauch einer Sprache ausgesetzt ist. Etwa im Alter von sechs Jahren beherrscht es seine Muttersprache in ihren Grundzügen. Es verfiigt über ein Sprachsystem, das die Konstruktion einer unbegrenzten Menge von Sätzen ermöglicht, derer sich das Kind beim Sprechen und Verstehen bedienen kann. Es besitzt die Fähigkeit, Sätze, die seiner Erfahrung völlig neu sind, mühelos und spontan zu bilden und zu verstehen. Wenn man es sich genauer überlegt, ist das eine sehr beachtliche Leistung. Wie groß die Leistung wirklich ist, müßte jedem Erwachsenen einsichtig sein, der einmal versucht hat, in einer Fremdsprache eine Sprechfertigkeit zu erwerben, die der eines Muttersprachen-Sprechers weitgehend ebenbürtig ist; es ist keine Leistung, die man leichthin abtun könnte oder als selbstverständlich erachten sollte. Der Erwerb der Muttersprache ist eines der wichtigsten Ereignisse in der psychischen Entwicklung des Kindes. Deshalb sollten wir bemüht sein, eine Erklärung des Spracherwerbs zu liefern. Wenn wir sein Wesen verstehen, ist unser Wissen über uns selbst um einen wichtigen Aspekt reicher. In einer gewissen Hinsicht ist das Kind, das Sprechen lernt, in derselben Lage wie der Linguist, der eine Sprache untersucht. Das Kind muß sozusagen die Struktur der in seiner Umgebung gesprochenen Sprache erschließen. Wie der Linguist kann es die Struktur nicht unmittelbar erkennen. Es kann sich bei seinen Schlüssen nur auf die be248

obachtete Sprachverwendung stützen, die zwar teilweise durch das abstrakte Sprachsystem bestimmt ist, die aber dieses System auch im besten Fall nur indirekt und unvollkommen widerspiegelt. Das Sprachsystem, das jedes Kind für sich selbst aufbaut, stellt also eine Hypothese über die Struktur der Sprache dar, die seine Umgebung verwendet. Indem es die Konsequenzen dieser Hypothese an seiner weiteren sprachlichen Erfahrung mißt, verfeinert das Kind seine Hypothese ständig, bis sein System für alle praktischen Zwecke dem seiner Vorbilder ebenbürtig ist. Da die Systeme aber nie direkt verglichen werden können, besteht immer die Möglichkeit, daß eine spätere Umstrukturierung notwendig wird, oder daß das Kind die Sprache nicht absolut perfekt lernt. Im Gegensatz zum Linguisten versucht das Kind nicht, die strukturellen Prinzipien einer Sprache explizit zu machen und der Überprüfung zugänglich darzustellen; es lernt einfach sprechen. Es versucht, weitgehend unbewußt, seinem psychischen Apparat ein abstraktes Sprachsystem einzugliedern. Nur im metaphorischen Sinne formuliert das Kind eine Theorie der Sprachstruktur und sucht dann nach empirischem Material, um die Theorie zu verifizieren oder zu falsifizieren; aber diese metaphorische Ausdrucksweise ist lehrreich. Irgendwie muß das Kind die Struktur seiner Muttersprache entdecken; niemand gibt sie ihm gebrauchsfertig in die Hand. Wenn das Kind sprechen gelernt hat, wenn es seine Muttersprache beherrscht, besitzt es ein System von Regeln, das eine unbegrenzte Menge von wohlgeformten Sätzen beschreibt. Es ist sich dessen nicht bewußt, daß es ein solches Regelsystem besitzt, und es kann über die Beschaffenheit dieser Regeln auch nicht durch Introspektion Aufschluß gewinnen. Es besitzt dieses System in dem Sinne, daß die Strukturmuster des Systems sich über die psychischen Prozesse gelagert haben, oder in sie integriert sind, so daß diese Muster mitbestimmen,wie seine verbale Tätigkeit abläuft. Sprechenlernen schließt, ähnlich wie Fahrradfahrenlernen, die Beherrschung einer gewissen Menge von Prinzipien ein. Zu der Gesamtheit der psychischen Fertigkeiten, unserer psychischen Kompetenz, die unser geistig gesteuertes Verhalten bestimmt, werden dabei neue Strukturen hinzugefügt. Diese Regeln sind demnach ebensowenig der direkten Beobachtung zuganglich wie die Regeln für das Gleichgewichthalten beim Fahrradfahren. Wir sprechen und wir halten die Balance auf dem Fahrrad, aber in keinem der beiden Fälle kann uns unser Bewußtsein darüber Auskunft geben, wie die uns dabei leitenden Prinzipien genau aussehen. Analog dazu wird die Tätigkeit eines Computers durch 249

ein Programm gesteuert, aber das Programm selbst, ist nicht Gegenstand seiner Tätigkeit; der Computer fuhrt Rechenvorgänge aus, die sich auf andere Bereiche beziehen, nicht auf das ihn steuernde Programm. Empirismus

und Rationalismus

Die Schwierigkeit bei dem Versuch, zu einem Verständnis des Spracherwerbs zu gelangen, liegt darin, genau herauszufinden, auf welche Weise das Kind das abstrakte Sprachsystem erwirbt, das weitgehend für die Form seiner verbalen Tätigkeit verantwortlich -ist Das Wesen dieses Prozesses ist zum größten Teil unbekannt. Wir haben keine angemessene Theorie, die die Entdeckung der Sprachstruktur durch das Kind detailliert genug erklären würde, obwohl sich Fortschritte in dieser Richtung abzuzeichnen beginnen. Wir wollen deshalb unsere Aufmerksamkeit auf eine enger gefaßte Frage richten, die jedoch für das volle Verständnis des Spracherwerbs von außerordentlicher Wichtigkeit ist: Wie groß ist der Anteil der Sprachstruktur, der schon von Geburt an „vorprogrammiert" ist? Oder, um es anders zu sagen: welchen Anteil des Sprachsystems, das das Kind schließlich beherrschen wird, besitzt es schon bei seiner Geburt, und wieviel muß es auf der Grundlage seiner sprachlichen Erfahrung entdecken? Die eine Extremposition wäre es, zu behaupten, daß überhaupt keine sprachliche Struktur angeboren ist und daß Sprache einzig und allein durch Erfahrung erworben wird. Dies ist die von den Empiristen vertretene Ansicht, die schon in Kapitel 1 kurz erwähnt wurde. Sie besagt, daß wir keinerlei spezielle, angeborene Fähigkeit zum Spracherwerb besitzen. Sowohl die Tatsache, daß wir überhaupt eine Sprache lernen, als auch die spezifische Struktur der gelernten Sprache beruhen auf Übung und Unterweisung im Kindesalter. Was die Sprache betrifft, so beginnen wir unser Leben als tabula rasa. Das Sprachsystem, das schließlich auf diese leere Tafel geschrieben wird, wird von den kleinsten Anfängen irgendwie aufgebaut, wobei seine Struktur nur von der Erfahrung bestimmt wird. Die Sprache wird somit als durch die Kultur vermittelt betrachtet, ähnlich wie Briefmarkensammeln oder der Gebräuch der Gabel. Die andere Extremposition nimmt die Ansicht der Rationalisten ein, die Sprache sei durch angeborene Prinzipien weitestgehend vorgeprägt. Kinder lernen deshalb sprechen, weü die Fähigkeit zur Sprachbeherrschung und ebenso der größte Teü der Sprachstruktur zur angeborenen psychischen Organisation gehört. Die sprachliche Erfahrung dient nach

250

Ansicht der Rationalisten nicht so sehr dazu, die Sprache zu formen, als vielmehr die Sprachkompetenz zu aktivieren, mit der wir geboren werden. Der Bauplan für jedes mögliche Sprachsystem ist als Teil der angeborenen neurophysiologischen Ausstattung jedem Kind schon bei Geburt mitgegeben. Das Lernen spielt daher eine untergeordnete Rolle. Das Kind muß nur jene strukturellen Einzelheiten lernen, die die Sprache seiner Umgebung von anderen möglichen menschlichen Sprachen unterscheiden. Es muß das skeletthafte Sprachsystem, das es bereits besitzt, nur noch mit Muskeln bekleiden. Nach Ansicht der Rationalisten wird also der größte Teil der Sprache auf genetischem Wege übermittelt. Durch den Einfluß der Umgebung werden nur die strukturellen Einzelheiten untergeordneter Natur erworben, die die Oberflächenunterschiede der einzelnen Sprachen ausmachen. Die Ansichten der Empiristen und Rationalisten widersprechen sich also im Hinblick auf den Anteil der zu erlernenden Struktur, aber sie sind nicht völlig unvereinbar. Selbst Vertreter der empiristischen Position würden zugestehen, daß die Struktur des menschlichen Organismus die Möglichkeiten erlernbarer Sprachsysteme in einem gewissen Rahmen hält. Jedes derartige System muß z.B. endlich sein; niemand könnte eine unendliche Zahl von Regeln lernen. Darüberhinaus muß man annehmen, daß Kinder mit einer gewissen angeborenen Lernfähigkeit zur Welt kommen, mit einer durch Vererbung übermittelten Fähigkeit zur Kombination von einfachen psychischen Strukturen zu komplexeren Strukturen. Besäße dagegen das Kind keine angeborene Lernfähigkeit, so würde es auch nie lernen. Diese elementare Lernfähigkeit wird gewöhnlich als ziemlich einfach aufgefaßt, vergleichbar etwa der Fähigkeit zur Bildung von Assoziationen. (So werden etwa Bonbons und die Vorstellung von Süße assoziiert, weil sie in unserer Erfahrung so häufig zusammen auftreten ; das eine erinnert jeweils an das andere.) Der Empirist wird also zugestehen, daß angeborene Eigenschaften des Organismus für die Bestimmung des Sprachbaus verantwortlich sind. In derselben Weise wird der Rationalist nicht leugnen, daß Lernen beim Spracherwerb durchaus eine Rolle spielt. Was das Kind durch Vererbung übermittel bekommt, ist nicht eine bestimmte Sprache, sondern die Sprachfähigkeit. Wenn es zur Welt kommt, sind die Organisations- und Struktureigenschaften in ihm bereits angelegt, die allen Sprachen gemeinsam sind, aber diese Eigenschaften machen noch keine vollständige Struktur irgendeiner bestimmten Sprache aus. Auf der Grundlage des angeborenen Gerüsts eines Sprachsystems muß das Kind jene strukturellen Einzelheiten entdecken, die diese Grundlage in das voll ausgeprägte System überführen, das in seiner Umgebung verwendet wird. Und bei diesem Punkt spielt das 251

Lernen eine Rolle. Indem das Kind herausfindet, welche von allen möglichen menschlichen Sprachen in seiner Umgebung gesprochen wird, formuliert es sozusagen Strukturhypothesen und überprüft diese an seiner weiteren sprachlichen Erfahrung, wobei es seine Hypothesen so lange verbessert, bis es ein Sprachsystem besitzt, das dem seiner Vorbilder entspricht. Aber dieser Entdeckungsvorgang spielt sich innerhalb eines Rahmens ab, der von den Erbanlagen genau abgesteckt ist, so daß das Lernen nur einen sehr beschränkten Anteil ausmacht. In zwei wichtigen Punkten unterscheiden sich also die Positionen der Empiristen und Rationalisten. Der Emprist ist davon überzeugt, daß nur ein sehr kleiner Teil der psychischen Struktur angeboren ist, während der Rationalist behauptet, daß es ein großer Teil sei. Dieser Unterschied ist nur gradueller Natur, während der zweite grundsatzlicher Art ist. Nach der empiristischen Ansicht wird das Kind mit keiner besonderen Sprachfähigkeit geboren, sondern nur mit einer allgemeinen Lernfähigkeit. Ein Sprachsystem wird dann mit Hilfe derselben elementaren geistigen Fähigkeit (etwa der Assoziationsfähigkeit) durch Erfahrung aufgebaut, die auch für die Ausbildung aller anderen Aspekte kognitiver Strukturen verantwortlich ist. Der Rationalist dagegen nimmt zusätzlich zur allgemeinen Intelligenz noch eine besondere angeborene Sprachfähigkeit an. Über unsere natürliche Fähigkeit hinaus, Begriffe zu bilden und zu handhaben, sind wir mit einer angeborenen Disposition begabt, ein Sprachsystem zu erwerben, das bestimmte Eigenschaften hat, die es von allen anderen denkbaren Sprachsystemen unterscheiden.

Indizien für eine angeborene

Vorprogrammierung

Es gibt sehr gute Indizien für die Richtigkeit der rationalistischen Ansicht. Man denke zuerst an die Einheitlichkeit des Spracherwerbs in der gesamten Menschheit. Wir haben gesehen, daß jedes Kind eine Sprache lernt, es sei denn, es wäre mit schwersten geistigen Mängeln behaftet, oder es wachse völlig isoliert vom Gebrauch der Sprache auf. Es gibt eine Vielzahl von körperlichen und geistigen Fertigkeiten, die Kinder manchmal trotz eines beträchtlichen Aufwands an Unterricht nicht erlernen, aber das Sprechen gehört nicht dazu. Genau das erwartet man, wenn man von der Annahme ausgeht, daß die Sprache bei der Geburt schon fast vollständig vorprogrammiert ist, und die sprachliche Erfahrung in der Hauptsache dazu dient, das durch Vererbung übermittelte vorprogrammierte System zu aktivieren. 252

Die Einheitlichkeit des Spracherwerbs für die Gattung Mensch läßt sich sehr gut mit der rationalistischen Position vereinbaren, während sie dem widerspricht, was wir vom Standpunkt der Empiristen her erwarten würden. Wenn der Spracherwerb in der Hauptsache von der Unterweisung abhinge, die ein Kind erhält, so wäre zu erwarten, daß Unterschiede in der Art der Unterweisung direkt mit Unterschieden beim Spracherwerb korrelieren (bei konstantgehaltener allgemeiner Intelligenz). In Wirklichkeit erweist sich diese Erwartung jedoch als falsch. Ein Kind lernt sprechen, unabhängig davon, ob seine Eltern es ständig anleiten, korrigieren und Sprachübungen machen lassen oder nicht. Manche Eltern handeln so, andere nicht — aber alle Kinder lernen sprechen. Obwohl der Sprachgebrauch, dem die Kinder ausgesetzt sind, quantitativ sehr unterschiedlich sein kann, erwerben sie alle ein voll ausgebildetes Sprachsystem. Man kennt keine Fälle, in denen Kinder eine Sprache nur zur Hälfte gelernt hätten, keine syntaktischen Regeln beherrscht oder keine zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen oder komplexe lexikalische Einheiten erworben hätten. Die Unregelmäßigkeiten der frühen sprachlichen Erfahrung schlagen sich in keiner vergleichbaren Unterschiedlichkeit der erworbenen Sprachstruktur nieder. Ein zweites Argument, das für die Position der Rationalisten spricht, ist die Tatsache, daß die Fähigkeit zur Beherrschung einer Sprache auf Menschen beschränkt ist. Aufgrund der Annahme der Empiristen, daß die Sprache eine Funktion einer allgemeinen Intelligenz, nicht einer besonderen Sprachfähigkeit sei, läßt sich voraussagen, daß auch Tiere proportional zu ihrer Intelligenz Sprache erwerben können, wenn sie nur entsprechend unterwiesen werden. Einige Vorsicht ist bei solchen Aussagen am Platz, wenn man die grundsätzlichen Schwierigkeiten bedenkt, die beim Vergleich der Intelligenz zweier Spezies entstehen; aber die Ergebnisse der bisherigen Forschung scheinen daraufhinzuweisen, daß die obige Voraussage falsch ist. Höher entwickelte Menschenaffen wie z.B. Schimpansen sind die am ehesten erfolgversprechenden Kandidaten für die Aufgabe, eine Sprache zu lernen, denn sie können den Gebrauch von Werkzeugen erlernen und einfache Probleme lösen. Der Unterschied in der Intelligenz zwischen Schimpansen und Menschen ist daher kein grundsätzlicher, sondern nur ein gradueller. Die sprachlichen Fähigkeiten dagegen, die man bei Schimpansen bisher beobachten konnte, unterscheiden sich nicht nur graduell, sondern grundsätzlich von der menschlichen Sprache. Obwohl bei den Versuchen, Schimpansen ein auf visuellen Zeichen aufgebautes Kommunikationssystem zu lehren, gewisse Erfolge zu verzeich253

nen sind, konnte die Forschung bisher nicht zeigen, daß Schimpansen ein System beherrschen lernen können, das auch nur entfernt den in Kapitel 5 diskutierten syntaktischen Systemen ähnlich wäre. Syntaktische Regeln, die systematische Beziehungen zwischen Typen von Sätzen ausdrücken; Ableitungen, die die geordnete Anwendung zahlreicher verschiedener Regeln umfassen; komplexe Sätze mit mehrfachen Einbettungen und klar abgegrenzten Teilsätzen — alle diese sprachlichen Fakten scheinen völlig zu fehlen; nicht einmal ansatzweise sind sie festzustellen. Diese Beobachtungen stimmen vollständig mit der Annahme der Rationalisten überein, daß die Existenz komplexerer syntaktischer Systeme bei den Menschen auf eine besondere, angeborene Sprachfähigkeit zurückzuführen sei. Menschenaffen besitzen diese angeborene Fähigkeit einfach nicht. Die relative Vollkommenheit des Spracherwerbs ist ein drittes Argument für eine angeborene Vorprogrammierung. Wäre die Sprache eine Funktion der allgemeinen Intelligenz und nicht einer speziellen Sprachfähigkeit, so müßte man erwarten, daß Unterschiede der Intelligenz sich direkt niederschlagen in Unterschieden beim Spracherwerb (bei konstantem Aufwand an Unterweisung und Übung). Wir würden erwarten, daß kluge Kinder mehr Erfolg beim Erlernen eines Sprachsystems hätten als dumme. Wir würden ebenfalls erwarten, daß manche Kinder beim Erwerb der Sprache völlige Versager sein müßten, genau wie viele Kinder in der Geographie oder beim Ausrechnen von Quadratwurzeln versagen. Wir würden erwarten, daß manche Kinder schließlich ein derart mangelhaftes und verzerrtes Sprachsystem erlangen würden, daß es nicht mehr als solches zu erkennen wäre. Diese Erwartungen bestätigen sich jedoch nicht. Kluge Kinder, durchschnittlich begabte Kinder und dumme Kinder lernen gleichermaßen sprechen. Sie lernen mit Erfolg die Beherrschung eines Sprachsystems, das mit dem ihrer Vorbilder praktisch identisch ist, ein Sprachsystem, das weder verzerrt noch mangelhaft ist. Unabhängig von seiner allgemeinen Intelligenz gelingt es dem Kind, ein komplexes System von Regeln und zugrundeliegenden Repräsentationen zu beherrschen, das sich auf eine unendliche Menge von Sätzen bezieht. Wohl mögen sich bei einzelnen Kindern Unterschiede in der Zungenfertigkeit oder der Größe ihres Wortschatzes zeigen, aber hinsichtlich der entscheidenden strukturellen Merkmale des Sprachaufbaus lassen sich keinerlei Unterschiede feststellen. Wenn es so ist, daß Lernen nur eine untergeordnete Rolle beim Spracherwerb spielt und nur dazu dient, das angeborene System zu aktivieren und einige Lücken an den Rändern der Struktur auszufüllen, dann können radikale Strukturfehler gar nicht entstehen. 254

Ein viertes überzeugendes Argument für die Ansicht der Rationalisten ist die Abstraktheit und Komplexität der Sprachen. Wir wissen sehr viel über die Sprache, aber trotz jahrhundertelanger ernsthafter Forschung sind wir völlig außerstande, die Struktur irgendeiner Sprache erschöpfend zu beschreiben, und sei es auch die der am gründlichsten erforschten. Aber im wesentlichen ist es genau das, was das Kind leistet. Er erlernt die ganze Menge der lexikalischen Einheiten und strukturellen Prinzipien, die ein Sprachsystem ausmachen. Und es tut dies auf der Grundlage von indirekten und fragmentarischen Indizien und in einem Alter, in dem es noch nicht logisch-analytisch denken kann. Dieses bemerkenswerte Phänomen läßt sich mit dem rationalistischen Ansatz erklären, aber kaum im Rahmen der empiristischen Position. Wenn die Sprachstruktur durch Vererbung übertragen wird, dann stellt ihre ungeheure Komplexität kein Problem mehr für das Kind dar. Seine durch Lernen zu bewältigende Aufgabe besteht einfach darin, den Bereich der durch angeborene Vorstrukturierung gesetzten Möglichkeiten soweit einzuschränken, bis es die richtige Möglichkeit gefunden hat. Es geht also nicht darum, ein gesamtes Sprachsystem von Grund auf aufzubauen, sondern nur darum, einige periphere Einzelheiten in das bereits vorhandene einzubauen. Die Behauptung der Empiristen jedoch läuft darauf hinaus, daß das gesamte Sprachsystem in der Tat von Grund auf aufgebaut wird, und zwar auf der Basis der allgemeinen geistigen Fähigkeiten des Kindes. Angeblich erschließt das Kind nicht nur einige strukturelle Einzelheiten, sondern auch die gesamte Organisation des Sprachbaus. Es kommt ohne sprachliche Erwartungen oder „Vorlieben" zur Welt und soll dann in einem vorintellektuellen Alter eine Reihe von sprachlichen Entdeckungen machen, die weit über das hianusgehen, was durch die Anstrengungen aller Forscher, die sich je mit Sprache beschäftigt haben, bisher erreicht worden ist! Diese Behauptung erscheint uns nicht als sinnvoll. Man darf dabei nicht vergessen, daß das zu erwerbende Sprachsystem nie der direkten Beobachtung zugänglich ist. Die Struktur des Systems muß auf der Basis der sehr indirekten Indizien gewonnen werden, die die Sprachverwendung liefert. Selbst wenn das Kind in einem Alter sprechen lernte, in dem es schon analytisch denken kann, könnte es doch nicht die Prinzipien des Aufbaus der Sprache erlernen, wenn sie nicht schon Teil seiner genetischen Ausstattung wären. Jede beliebige Anzahl von Strukturhypothesen läßt sich denken, die alle die begrenzte Menge von sprachlichen Beobachtungsdaten erklären könnten, die dem Kind als Grundlage zur Verfügung steht; so gäbe es beispielsweise keinen Grund, nicht 255

anzunehmen, die Sprache bestehe nur aus einer endlichen Liste von Äußerungen, die es auswendig zu lernen gelte. Ohne angeborene leitende Strukturprinzipien könnte man von einem Kind kaum erwarten, daß es das Wesen des Sprachsystems erschließt, das teilweise der verbalen Tätigkeit seiner Umwelt zugrundeliegt. Es hätte nicht einmal Anlaß, das Vorhandensein eines solchen Systems zu vermuten. Außerdem ist das System in seiner Abstraktheit und Komplexität weit außerhalb dessen, was das Kind durch die "trial-and-error"-Methode erschließen könnte. Sprachliche Universalien Wir haben gesehen, daß nach Ansicht der Rationalisten die Sprachstruktur bei der Geburt schon weitgehend bis in Einzelheiten vorprogrammiert ist. Allen Sprachen liegt derselbe angeborene strukturelle Rahmen zugrunde, und die sprachliche Erfahrung des Kindes dient eher dazu, seine Sprachfähigkeit zu aktivieren, als sie zu formen. Wenn diese Betrachtungsweise angemessen ist, dann müssen sich alle Sprachen strukturell sehr ähnlich sein. Wenn derselbe genetisch übermittelte strukturelle Rahmen allen Sprachen zugrundeliegt, dann können sich die Sprachen nur im Hinblick auf jene untergeordneten Strukturmerkmale unterscheiden, die das Kind durch Erfahrung lernt. Trotz ihrer Oberflächenunterschiede müssen sich die Sprachen in den meisten Dingen ähnlich sein. Sie müssen Variationen desselben strukturellen Themas sein. Um es anders auszudrücken: die Behauptung, daß die Sprache schon bei Geburt vorprogrammiert ist, impliziert die Feststellung, daß alle menschlichen Sprachen sich in einem verhältnismäßig engen Rahmen von strukturellen Möglichkeiten bewegen, wie Abb. 9.1 zeigt. Der äußere Kreis stellt das ganze Spektrum von denkbaren sprachlichen Systemen dar, die prinzipiell von einem mit Intelligenz ausgestatteten Wesen wie dem Menschen für seinen eigenen Gebrauch erfunden werden könnten. Innerhalb dieses weiten Rahmens weist jedoch nur eine begrenzte Teilmenge von Systemen jene strukturellen Merkmale auf, die für die menschlichen Sprachen charakteristisch sind; diese Teilmenge stellt der kleinere Kreis dar. Diese vergleichsweise kleine Auswahl von strukturellen Möglichkeiten ist durch die angeborene sprachliche Programmierung vorgegeben, die es dem Kind überhaupt ermöglicht, eine Sprache zu erwerben. Das Kind sieht sich also der Lernaufgabe gegenüber, diesen Rahmen von Möglichkeiten noch weiter einzuengen, bis es schließlich herausgefunden hat, welche Sprache L von allen möglichen Sprachen diejenige 256

ist, die in seiner Umgebung gesprochen wird. Von allen denkbaren Sprachsystemen können nur diejenigen natürlich und spontan von dem Kind erworben werden, die in diesen engen Rahmen von Möglichkeiten fallen. Die Behauptung, daß sich alle Sprachen sehr ähnlich sind, stößt oft auf Skepsis. Immerhin fallen uns doch beim Vergleich von Sprachsystemen, etwa beim Lernen einer Fremdsprache, ihre Unterschiede deutlich auf. Es wird auch niemand leugnen, daß sich Sprachsysteme in einer Vielfalt von Einzelheiten unterscheiden. Andererseits müssen wir uns klarmachen, daß Eigenheiten der Oberfläche viel eher unsere Aufmerksamkeit erregen als zugrundeliegende Prinzipien; und gerade" bei den letzteren können wir erwarten, sprachliche Universalien zu finden. Es sollte inzwischen klar geworden sein, daß die sprachliche Vielfalt der Oberflächen häufig die zugrundeliegende Einheitlichkeit verbirgt. Der Begriff der sprachlichen Universalien Viele strukturelle Merkmale begegnen uns in den Sprachen der Welt so häufig, daß ihr wiederholtes Vorkommen einer besonderen Erklärung bedarf. Wir bezeichnen solche Merkmale als s p r a c h l i c h e Universalien. Einige dieser strukturellen Merkmale sind allen menschlichen Sprachen ohne Ausnahme eigen (soweit wir das auf der Grundlage unseres bisherigen Wissens beurteilen können); diese Merkmale wollen wir a b s o l u t e Universalien nennen. Andere Merkmale sind nicht universell in diesem absoluten Sinne, kommen aber trotzdem so oft vor, daß Zufall, Entlehnungen und genetische Verwandtschaft nicht ausreichen, ihr Vorherr257

sehen zu erklären; in diesem Fall sprechen wir von u n i v e r s e l l e n T e n denzen . Grob gesehen können wir sprachliche Universalien — absolute Universalien und universelle Tendenzen — mit jenen sprachlichen Strukturmerkmalen gleichsetzen, die angeboren sind; wenn alle oder eine überzeugend große Anzahl von Sprachen ein bestimmtes strukturelles Merkmal aufweist, so ist das als Hinweis darauf zu verstehen, daß dieses Merkmal Teil der genetischen Ausstattung des Menschen ist. Diese Ansicht verträgt sich gut mit der Hypothese der Rationalisten, daß ein Großteil der Sprachstruktur durch eine besondere Sprachfähigkeit bestimmt wird, die im menschlichen Organismus bereits bei der Geburt vorgegeben ist. Wenn wir eine solche Fähigkeit nicht annähmen, hätten wir große Schwierigkeiten, das wiederholte Auftauchen von hochspezifischen Strukturmerkmalen in Einzelsprachen zu erklären, die über die ganze Erde verteilt und nach unserer Einsicht nicht miteinander verwandt sind. Die sprachlichen Universalien stellen also die Menge der angeborenen „Erwartungen" des Kindes hinsichtlich der strukturellen Eigenheiten jeder beliebigen, in seiner Umgebung zufällig gesprochenen Sprache dar. Einige dieser Erwartungen sind unumstößlich, und wahrscheinlich hätte das Kind große Schwierigkeiten, eine Sprache zu erlernen, die diese Grundsätze nicht erfüllte. Andere Merkmale (universelle Tendenzen) sind keine absoluten Erwartungen, sondern nur allgemeine Dispositionen, und das Kind muß durch Erfahrung lernen, welche sich davon mit dem tatsächlich in seiner Umgebung benutzten Sprachsystem decken. Die Strukturmerkmale der Sprache bilden allem Anschein nach ein Kontinuum, wobei an dem einen Ende absolute Universalien anzusiedeln sind, am anderen Ende spezifisch einzelsprachliche Eigenheiten; dieses Kontinuum definiert den Rahmen der Möglichkeiten, innerhalb dessen jede menschliche Sprache liegen muß.

Allgemeine

Bauprinzipien

Wir wollen unsere Diskussion von sprachlichen Universalien mit der weitgefaßten Feststellung beginnen, daß alle Sprachen das gleiche Grundschema des Aufbaus zeigen. Genauer gesagt umfaßt jede menschliche Sprache eine unendliche Menge von Sätzen, von denen jeder in phonetischer Form eine Begriffsstruktur realisiert. Eine komplexe Abfolge von syntaktischen Regeln verknüpft Begriffsstrukturen mit Oberflächenstrukturen, die aus linearen Ketten von hierarchisch gruppierten lexikalischen 258

Einheiten bestehen. Eine Reihe von phonologischen Regeln verknüpft die Oberflächenstruktur eines jeden Satzes auf der Basis der zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen seiner lexikalischen Einheiten mit seiner phonetischen Realisierung. Jede einzelne lexikalische Einheit besteht aus einer Verbindung von semantischen, syntaktischen und phonologischen Eigenschaften, wobei die Beziehung zwischen den semantischen und den phonologischen Eigenschaften zumeist willkürlich ist. Phonologisch wird eine lexikalische Einheit als eine lineare Folge von Segmenten repräsentiert, bei der jedes Segment hinsichtlich distinktiver phonologischer Information spezifiziert ist. Von diesem Grundschema des Aufbaus gibt es schlechterdings keine Ausnahmen. Niemand hat je eine menschliche Sprache gefunden, in der syntaktische Regeln, phonologische Regeln oder wohlunterschiedene lexikalische Einheiten gefehlt hätten. Niemand hat je eine Sprache gefunden, in der lexikalische Einheiten nicht aus Lautsegmenten in linearer Folge aufgebaut gewesen wären. Von allen denkbaren Möglichkeiten, wie eine Sprache aufgebaut sein könnte, bedienen sich alle menschlichen Sprachen einmütig genau dieser Möglichkeit. Sprachsysteme mögen von mehr oder weniger unterschiedlicher Struktur sein, aber die Unterschiede liegen grundsätzlich innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens. Indem wir dieses gemeinsame Organisationsschema umrissen haben, haben wir gerade erst begonnen, die universellen Eigenschaften des Sprachbaus aufzuzeigen. Absolute Universalien und universelle Tendenzen lassen sich auch im Hinblick auf die Inventare von semantischen, syntaktischen und phonologischen Elementen beobachten; ebenso bei den Strukturen, die durch die Kombination solcher Elemente gebildet werden können; selbst Einzelheiten syntaktischer und phonologischer Regeln zeigen universelle Tendenzen. Wir wollen uns den beiden ersten Bereichen nur kurz zuwenden und uns dann auf solche Universalien konzentrieren, die Regeln betreffen. Elemente Wir können semantische und syntaktische Elemente hier zusammen behandeln, da es eine klare Trennungslinie zwischen beiden nicht gibt. In jeder Sprache ist es möglich, Feststellungen zu machen, Fragen zu stellen und Befehle zu geben; normalerweise werden diese Funktionen durch bestimmte Satztypen erfüllt, die distinktive Eigenschaften aufweisen. Jede Sprache hat Demonstrativelemente irgendwelcher Art, Personalpro-

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nomen, Wörter, die die Quantität bezeichnen; irgendwie kann auch die Negation immer ausgedrückt werden. Fast in jedem Fall lassen sich Belege für die Feststellung finden, daß es grundsätzlich zwei große Klassen von lexikalischen Einheiten gibt: eine Klasse der Nomina oder Substantive, von denen ein großer Prozentsatz Objekte bezeichnet; und eine Klasse der Verben, von denen die meisten Handlungen, Zustände, Ereignisse oder Beziehungen bezeichnen. Ferner läßt sich eine universelle Tendenz der Sprachen feststellen hinsichtlich solcher Kategorien wie Adjektive, Artikel, Pro-Formen, Adverbien der Zeit und des Ortes, koordinierende und subordinierende Konjunktionen, und entweder Präpositionen (die dem Substantiv vorausgehen), Postpositionen (die dem Substantiv nachfolgen) oder Kasusmorpheme, die Lage und Richtung im Raum angeben. Im Bereich spezifischerer semantischer Kategorien wäre es äußerst überraschend, eine Sprache zu finden, in der es keine Eigennamen irgendwelcher Art gäbe, keine Bewegungsverben, Farbbezeichnungen, Bezeichnungen der relativen Größe, Verwandtschaftsbezeichnungen und Ausdrücke für Körperteile; keine lexikalischen Einheiten zur Bezeichnung von Gemütszuständen, und keine Substantive, die Pflanzen und Tiere benennen. Diese Liste enthält nur einige Beispiele und könnte nach Belieben verlängert werden. Einzelsprachen zeigen zahlreiche universelle Tendenzen hinsichtlich ihrer Inventare distinktiver phonologischer Elemente. Alle Sprachen besitzen mindestens zwei distinktive Vokale und eine erheblich größere Zahl von distinktiven Konsonanten. Bei den Vokalen kann man damit rechnen, daß dem Gegensatz „ h o c h / t i e f distinktive Funktion zukommt; gleichermaßen wird bei Sprachen mit drei oder mehr Vokalen so gut wie immer die Dimension „vorne/hinten" kontrastiv ausgewertet. Nasalierung von Vokalen ist gewöhnlich voraussagbar (und deshalb nicht distinktiv); Vokalrundung zeigt die gleiche Tendenz. Vordere Vokale sind gewöhnlich ungerundet, während hintere Vokale (außer [a] ) vorwiegend gerundet sind. Gerundete vordere Vokale werden sich in einer Sprache nur dann finden, wenn sie auch ungerundete kennt, und ungerundete hintere Vokale finden sich nur bei gleichzeitigem Vorhandensein von gerundeten. Hinsichtlich der Konsonanteninventare ist die Existenz von Verschluß- und Reibelauten absolut universell, während das Vorhandensein von Nasalen, Liquiden, Halbvokalen und Affrikaten starke universelle Tendenzen zeigt. Nur sehr wenige Sprachen haben keinen Verschlußlaut und keinen Reibelaut, der in der dentalen oder alveolaren Region gebildet wird; nahezu gleichgroß ist das Vorkommen von velaren und labialen Verschlußlauten; glottale Versehiußlaute finden sich etwas seltener. Alle

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Sprachen haben mindestens mehrere Verschlußlaute, wenn sie auch mit nur einem Reibelaut auskommen können und dazu neigen, insgesamt weniger Reibelaute als Verschlußlaute zu haben. Es ist ungewöhnlich, wenn eine Sprache nicht sowohl [m] als auch [n] hat, aber velare und palatale Nasale kommen als distinktive Segmente nicht so oft vor. Palatale Affrikaten (wie etwa [δ] ) sind bei weitem der gebräuchlichste Typ, und [w] und [j] stellen die meistverwendeten Halbvokale dar. Merkmale wie Stimmhaftigkeit, Labialisierung, Behauchung und Glottalisierung werden sehr häufig dazu verwendet, Verschlußlaute zu unterscheiden, die an der gleichen Stelle artikuliert werden; weniger häufig werden dadurch Reibelaute und Affrikaten unterschieden, gelegentlich Liquide, und selten Nasale und Halbvokale. Auch für suprasegmentale Phänomene lassen sich universelle Tendenzen feststellen. Wenn die Länge ein kontrastives Merkmal ist, dann genügt so gut wie immer der einfache Gegensatz von kurzen und langen Segmenten; eine dreifache Unterscheidung ist in dieser Hinsicht allem Anschein nach das mögliche Maximum. Die Betonung zeigt die Tendenz, wenigstens teilweise voraussagbar zu sein; und daß eine Sprache mehr als zwei oder drei graduelle Betonungsabstufungen mit distinktivem Charakter hat, ist unwahrscheinlich. Zwölf distinktive Tonhöhen scheinen das Maximum darzustellen, aber in den meisten Tonsprachen ist die Anzahl erheblich kleiner; sehr oft liegt die Zahl bei zwei bis vier distinktiven Tonhöhenstufen. Strukturen Die grammatischen und phonologischen Elemente einer Sprache bilden untereinander Strukturen unterschiedlicher Komplexität, wie z.B. Sätze, Teilsätze, Wörter, Morpheme und Silben. Zu einem beträchtlichen Grad haben solche Kombinationen universellen Charakter. In jeder Sprache gibt es komplexe lexikalische Einheiten, die aus einfacheren Einheiten konstruiert sind. Neben der metaphorischen Verwendung von lexikalischen Einheiten, die für das Entstehen von idiomatischen Wendungen verantwortlich ist, machen nahezu alle Sprachen von den Prozessen der Affigierung und Zusammensetzung bei der Bildung von komplexen lexikalischen Einheiten Gebrauch. Dabei sind Suffixe etwas häufiger als Präfixe, besonders dann, wenn zahlreiche Affixe mit einer einzigen Wurzel verbunden werden; Infixe sind vergleichsweise selten. Wenn sowohl Derivations- als auch Flexionsaffixe gemeinsam vor oder hinter einer Wurzel stehen, so zeigen die Derivationsaffixe eine starke universelle Tendenz, näher 261

bei der Wurzel zu stehen als die Flexionsaffixe. Bei Zusammensetzungen läßt sich eine starke Tendenz zur Binarität feststellen, d.h., sie bestehen vorwiegend aus genau zwei verbundenen Stämmen. (Zusammensetzungen mit mehr als zwei Stämmen lassen sich gewöhnlich in eine Folge von binären Zusammensetzungen zerlegen. Holzkohlengrill z.B. ist eine binäre Zusammensetzung mit den beiden Komponenten Holzkohle und Grill; Holzkohle ist wiederum eine binäre Zusammensetzung und besteht aus den Stämmen Holz und Kohle.) Jede Sprache hat eine unbegrenzte Menge von komplexen Sätzen, die entweder durch Einbettung oder durch Satzverbindung oder durch beides entstehen. Die Teilsätze von komplexen Sätzen zeigen ausgeprägte universelle Tendenzen hinsichtlich ihrer Funktion als auch ihrer internen Struktur. In nahezu jeder Sprache finden sich Teilsätze, die als Konjunkte, als Relativsätze, als Subjekt- oder Objektsätze, oder als Adverbialbestimmungen verschiedenster Art fungieren; ferner sind sich diese Typen von Sätzen hinsichtlich ihrer syntaktischen Eigenschaften von Sprache zu Sprache ziemlich ähnlich, d.h., sie verhalten sich weitgehend gleich in bezug auf ihre Stellung, ihre Markierung und die Regeln, denen sie unterworfen sind. Bei der Betrachtung der internen Struktur von Sätzen stellen wir fest, daß in nahezu allen Sprachen ein Verbalelement mit einer Anzahl von Beifügungen zum Ausdruck der intendierten Bedeutung die Grundstruktur darstellt. Als Beifügungen kommen Subjekte, direkte Objekte, indirekte Objekte (durch Präpositionen, Postpositionen oder entsprechende Kasusmarkierungen gekennzeichnet), Adverbien und Hilfsverben in Frage. Obwohl es für die Ordnung dieser Elemente viele Möglichkeiten gibt, lassen sich doch eine Anzahl stärkerer Tendenzen beobachten. So gehen Subjekte gewöhnlich Objekten voraus, und Hilfsverben finden sich vorwiegend an zweiter Stelle im Satz, oder sie sind in Form eines Suffixes mit dem Hauptverb verbunden. Wichtige Universalien lassen sich auch hinsichtlich der linearen Ordnung von Verb und Objekten feststellen. In vielen Sprachen (darunter Türkisch und Japanisch) muß das Verb Endstellung haben, und es wird die Abfolge indirektes Objekt — direktes Objekt — Verb gefordert; bei Sprachen dieses Typs finden wir eher Postpositionen als Präpositionen, Konjunktionen stehen beim vorausgehenden Konjunkt, nähere Bestimmungen gehen gewöhnlich dem zu bestimmenden Substantiv voraus, und von der Suffigierung wird ausgiebig Gebrauch gemacht. In vielen anderen Sprachen (darunter Englisch und Samoanisch) muß das Verb dagegen in Anfangsstellung stehen, d.h. so, daß es seinen Objekten vorausgeht; es kann jedoch noch das 262

Subjekt oder Hilfsverben vor sich haben. In bezug auf die genannten Eigenschaften scheinen Sprachen mit Verbanfangsstellung eine genaue Umkehrung der Sprachen mit Verbendstellung zu sein: bei ersteren finden wir die Abfolge Verb — direktes Objekt — indirektes Objekt, Präpositionen werden der Verwendung von Postpositionen vorgezogen, usw. Aus solchen und ähnlichen Beobachtungen wird klar, daß die Art und Weise, wie in den einzelnen Sprachen Sätze aufgebaut sein können, im Vergleich zu den denkbaren Möglichkeiten sehr beschränkt ist. Auch Lautsegmente werden zu größeren phonologischen Einheiten kombiniert; die grundlegendste größere Einheit ist die Silbe. Eine Silbe besteht aus einem Kern, der normalerweise ein Vokal bzw. eine Kombination aus einem Vokal und einem Halbvokal ist; hinzu treten Konsonanten, die vor oder hinter dem Kern stehen. Wenn wir V für den vokalischen Kern einer Silbe setzen, und Κ für einen Konsonanten, so können wir als Grundform von Silben die Form KV angeben. Alle Sprachen weisen KV-Silben auf, und einige haben nur Silben dieses Typs. Je nach Einzelsprache unterscheiden sich die Konsonantenkombinationen, die vor oder hinter einem Silbenkern zugelassen sind, aber auch hier zeigen sich weitreichende Beschränkungen und starke universelle Tendenzen. Beispielsweise können vielfach Konsonantenkombinationen vor dem Silbenkern komplexer sein als solche, die dem Kern folgen; in Konsonantenkombinationen, die vor dem Silbenkern stehen, gehen Reibelaute gewöhnlich Verschlußlauten voraus, usw. Syntaktische

Regeln

Allem Anschein nach ist es eine absolute Universalie, daß die Syntax jeder Sprache Reduktionsregeln, Einsetzungsregeln und Umstellungsregeln besitzt. Die tatsächlichen Operationen, die mit diesen Regeln ausgeführt werden können, sind jedoch im Vergleich zu den logisch möglichen Operationen in hohem Maße eingeschränkt. Viele syntaktische Regeln können wir in nicht verwandten Sprachen in allen Teilen der Welt finden; wir müssen sie daher als universell ansehen. Andererseits könnten wir uns eine unbegrenzte Zahl von möglichen Regeln ausdenken, die in der Realität einfach nicht vorkommen. Betrachten wir zuerst einige Reduktionsregeln. In jeder Sprache gibt es die Möglichkeit, eine von zwei referenzidentischen Nominalphrasen in einem Satz zu tilgen oder auf ein Pronomen zu reduzieren; stehen die identischen Nominalphrasen im gleichen Teilsatz, so wird o f t eine besondere „reflexive" Form des Pronomens verwendet. 263

Bei Pronominalisierungen und Reflexivisierungen zeigt sich die starke Tendenz, daß die zweite der identischen Nominalphrasen von der Regel erfaßt wird, nicht aber die erste. Wir finden deshalb Sätze wie Ellen bewundert sich und Ich liebe Ellen, und ich möchte sie heiraten, nicht aber Sich bewundert Ellen oder Ich liebe sie, und ich möchte Ellen heiraten (wobei Ellen und das entsprechende Pronomen als referenzidentisch verstanden werden). Die Regel, die das Subjekt von Subjekt- oder Objektsätzen tilgt, zeigt ebenfalls starke universelle Tendenzen. Im Englischen z.B. reduziert diese Regel I would like for me to leave auf I would like to leave, und zwar aufgrund der Referenzidentität der Subjekte im Haupt- und im untergeordneten Teilsatz. Während die Tilgung des Subjekts im subordinierten Teilsatz sehr weit verbreitet ist, ist es zu bezweifeln, daß irgendeine Sprache die Beibehaltung dieser Subjekt-Nominalphrase fordert und stattdessen das Subjekt im Hauptsatz tilgt (das ergäbe dann Strukturen wie Would like for me to leave). In den meisten Sprachen, aber nicht in allen, ist die Tilgung von wiederholt auftretenden Verben in koordinierten Sturkturen möglich. So läßt sich Rainer spielt gern Fußball, und Hans spielt gern Handball durch die Anwendung dieser Regel reduzieren auf Rainer spielt gern Fußball, und Hans Handball. Im Deutschen und im Englischen, wie in den meisten anderen Sprachen mit Verbanfangsstellung, muß das Verb im ersten Teilsatz beibehalten werden (Hans Handball, und Rainer spielt gern Fußball ist daher ungrammatisch); in Sprachen mit Verbendstellung dagegen muß gewöhnlich das Verb im letzten Teilsatz beibehalten werden. Ein weiterer universeller Prozeß liegt bei der Tilgung von nicht betonten Pronomen vor, besonders Pronomen mit Subjektfunktion. Diese Möglichkeit ist vorzugsweise in solchen Sprachen häufig anzutreffen, bei denen Subjekt-VerbKongruenz gefordert ist, weil dadurch die Person des Subjekts erschlossen werden kann, auch wenn das Subjekt nicht an der Oberfläche auftaucht. Das trifft z.B. für Spanisch und Navaho zu, nicht aber für Deutsch, Englisch und Französisch. Wenn wir uns nun den Einsetzungsregeln zuwenden, dann können wir feststellen, daß solche Regeln sehr häufig vorkommen, die eine semantisch leere Form an einer bestimmten Stelle des Satzes als grammatische Markierung einführen. Typische Beispiele sind dafür die Einsetzung von unterordnenden Konjunktionen, wie z.B. daß in Ich weiß, daß er eine Glatze hat; die Einsetzung eines leeren Pronomens in Subjektposition, wie in Es schneit; und die Kasusmarkierung von Subjekten und direkten Objekten. Kongruenzregeln finden sich ebenfalls sehr häufig, be264

sonders solche für die Kongruenz von Verb und Subjekt bzw. Objekt, aber auch für die Kongruenz von einem Substantiv und seiner näheren Bestimmung. Für Regeln wie diese finden wir in allen Sprachen immer wieder Beispiele. Andere logisch ohne weiteres mögliche Regeln kommen jedoch offensichtlich in keiner natürlichen Sprache vor. So scheint keine Sprache eine Regel zu besitzen, die nach jedem Wort im Satz eine semantisch leere Form einfügt, so daß Sätze wie Ich daß weiß daß er daß eine daß Glatze daß hat daß entstehen, oder eine Regel, die jedes Wort verdoppelt, so daß Sätze wie Tennis Tennis ist ist ein ein anstrengender anstrengender Sport Sport entstehen. Weiterhin hat auch keine tatsächlich vorkommende syntaktische Regel den Effekt, einem Satz eine Kette von grammatischen Morphemen einzufügen, deren Zahl sich mit der Zahl der bereits im Satz enthaltenen Wörter deckt. Eine derartige Regel würde den Satz Ich glaube, sie ist blond in den Satz Ich glaube daß daß daß daß daß sie blond ist überführen. Auch sprachlich unmögliche Kongruenzregeln lassen sich leicht erfinden. So wird z.B. ein Sprachforscher nie eine Sprache finden, in der das Verb nicht mit seinem Subjekt, sondern mit einer beliebigen Nominalphrase kongruiert; genausowenig wird er eine Sprache finden, bei der das Adjektiv nicht mit dem Substantiv kongruiert, das es bestimmt, sondern mit einem beliebigen anderen. Die Sprachen (besonders solche mit Anfangsstellung des Verbs) zeigen eine universelle Tendenz, Fragewörter und Relativpronomen an die Satzspitze zu stellen. Beides trifft für das Deutsche und Englische zu, wie wir bereits gesehen haben. Auch die Subjektanhebung, die z.B. The bomb is quite likely to explode von For the bomb to explode is quite likely ableitet, zeigt universelle Tendenz. Eine dritte Umstellungsregel mit universellem Status ist die Verschiebung eines Subjektsatzes an das Ende des Hauptsatzes („Extraposition"). Beispiele dafür sind Satzpaare wie das folgende: Daß meine Katze Flöhe hat, ist unangenehm und Es ist unangenehm, daß meine Katze Flöhe hat. Man kann eine große Anzahl von verschiedenartigen Umstellungsregeln finden, aber die tatsächlich nachgewiesenen Regeln stellen wiederum nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum aller vorstellbaren Regeln dar. Allem Anschein nach besitzt keine Sprache eine Regel, die das Fragewort obligatorisch an das Ende des Satzes stellt, oder die das Relativpronomen in den tiefer eingebetteten Teilsatz stellt, wenn der Relativsatz selbst komplex ist. Daß durch eine Regel der Austausch von Hauptsatz-Objekt und Nebensatz-Subjekt bewirkt wird, ist ebenfalls eine sprachliche Unmöglichkeit (eine Struktur wie Ich sagte Hans, daß Werner log hätte dann die fakultative Variante Ich sagte Werner, daß Hans log). Es ist 265

nicht ungewöhnlich, daß ja/nein-Fragen durch eine Änderung der Wortstellung gebildet werden; so finden wir Ist Inge in München gewesen? als Fragesatzversion von Inge ist in München gewesen, die durch die Umstellung von Subjekt und finitem Verb entsteht. Es kommt jedoch nie vor, daß Fragesätze gebildet werden, indem die Reihenfolge aller Wörter in einem Satz einfach umgekehrt wird, so daß z.B. Essen zum morgen kommen Boston aus Männer alte blinde drei? als Fragesatzversion zum Aussagesatz Drei blinde alte Männer aus Boston kommen morgen zum Essen erscheint. Es gibt auch keine Sprache, in der Fragesätze durch Umstellung von jeweils zwei aufeinanderfolgenden Wörtern gebildet werden, was in diesem Fall Blinde drei Männer alte Boston aus morgen kommen Essen zum? ergäbe. Phonologische Regeln Universelle Tendenzen auf dem Gebiet der phonologischen Regeln sind nicht weniger häufig anzutreffen. Phonologische Regeln fügen Segmente hinzu, tilgen Segmente, ändern oder spezifizieren die Identität von Segmenten, die in zugrundeliegenden phonologischen Repräsentationen angegeben ist, usw. Innerhalb dieser Grenzen gibt es ein weites Feld struktureller Möglichkeiten, von denen aber relativ wenige jemals in menschlichen Sprachen ausgenützt werden. Wir wollen hier nur zwei Arten von phonologischen Regeln betrachten, nämlich diejenigen, die Segmente einfügen, und diejenigen, die die Identität von Segmenten verändern. Bestimmte Arten von Segment-Einsetzungsregeln findet man ziemlich häufig in den Sprachen der Welt. Beim Beginn der Untersuchung einer unbekannten Sprache würde ein Linguist sich nicht wundern, wenn er auf eine Regel stieße, die einen Glottisverschluß zur Trennung von zwei nebeneinanderstehenden Vokalen oder als Einsatz eines sonst vokalisch anlautenden Wortes einführt. Er wäre auch nicht überrascht, eine Regel zu finden, die zwischen zwei identische oder ähnliche Konsonanten einen Vokal einfügt (wie in englisch judges [ftjsz] ). Auch eine Regel, die am Beginn eines Wortes, das sonst mit einer Konsonantenhäufung beginnen würde, einen Vokal einfugt, wäre nicht ungewöhnlich. Andererseits würde kein Linguist eine Regel erwarten, die nach jedem zweiten Segment eines Satzes ein [a] einfügt; eine derartige Regel wäre sprachlich unmöglich. Er würde auch keine Regel erwarten, die zwei aufeinanderfolgende stimmhafte Verschlußlaute in einer Kette durch die Einsetzung eines stimmlosen Verschlußlautes trennt oder am Schluß eines jeden Wortes, das auf einen Nasal auslautet, [£pl] hinzufügt. 266

Desgleichen sind phonologische Regeln, die die Identität von Segmenten verändern, in allen Sprachen der Welt ziemlich ähnlich. Viele gleichartige Phänomene finden sich in nahezu jeder Sprache, während andere überhaupt nicht vorzukommen scheinen. So ist es z.B. gar nicht ungewöhnlich, daß eine Regel ein [ι] im Auslaut in ein [i] verwandelt (das Englische hat z.B. eine solche Regel — vgl. pity [piti] und pitiful [pitifii]), oder Verschlußlaute in dieser Stellung stimmlos macht (wie z.B. im Deutschen — vgl. Wald [t] und Wälder [d] ). Es wäre auch nicht erstaunlich, eine Sprache zu finden, in der anlautendes [f] als [h] realisiert wird, oder in der ein stimmhafter Verschlußlaut zwischen Vokalen als stimmhafter Reibelaut erscheint. Besonders Assimilationsregeln muß universeller Status zugemessen werden. Häufig werden z.B. Vokale zumindest teilweise nasaliert, wenn ihnen ein Nasal folgt. Nebeneinanderstehende Konsonanten assimilieren oft in der Stimmhaftigkeit, so daß entweder beide stimmhaft oder beide stimmlos sind. Es wäre überraschend, eine Sprache zu finden, in der ein Verschlußlaut unmittelbar vor [w] in derselben Silbe nicht labialisiert wird, usw. Kein Linguist erwartet jedoch, eine Sprache zu finden, in der ein Konsonant stimmlos wird, wenn er zwischen zwei stimmhaften Konsonanten auftritt. Man kann mit einiger Sicherheit sagen, daß es keine Sprache mit einer Regel gibt, die [a] vor Nasal zu [t] verändert. Es scheint keine Sprache zu geben, die eine Regel besitzt, die einen Glottisverschluß als Nasalvokal realisiert oder [2] zu [m] verändert. Aus der Vielzahl von denkbaren Regeln, die dazu dienen könnten, die phonologischen Eigenschaften von einzelnen Segmenten zu verändern, wird nur eine stark beschränkte Menge in natürlichen Sprachen angetroffen. Schluß Es gibt sehr viele verschiedene Gründe, warum man die Sprache untersuchen kann; wir haben uns hier hauptsächlich auf zwei Gründe konzentriert, die allerdings die wohl bedeutendsten sind. Einerseits haben wir die Untersuchung der Sprache als einen Versuch betrachtet, die sprachliche Kreativität zu erklären, d.h. herauszufinden, wie es einem Sprecher möglich ist, eine potentiell unbegrenzte Menge von Sätzen zu bilden und zu verstehen, die ihm von seiner Erfahrung her völlig neu sind. Andererseits haben wir in der Untersuchung der Sprache einen Zugang zum Problem des Spracherwerbs gesehen, über den schließlich ein vollständiges Verstehen dieses Vorganges möglich sein wird. 267

Wir haben festgestellt, daß sich die Unbegrenztheit der Sprache auf die Natur der konzeptuellen Kräfte des Menschen zurückführen läßt. Als menschliche Wesen sind wir prinzipiell in der Lage, Konzeptualisierungen von beliebiger Komplexität vorzunehmen (obgleich natürlich die Komplexität eines Gedankens, den wir zu einem bestimmten Zeitpunkt formen und handhaben können, beschränkt ist). Jede beliebige begrifflich geformte Situation aus der unbegrenzten Zahl denkbarer Situationen läßt sich durch die Wahl von angemessenen lexikalischen Einheiten und durch die Anwendung von syntaktischen Regeln in eine Oberflächenstruktur überführen. Phonologische Regeln verknüpfen diese Oberflächenstrukturen mit phonetischen Realisierungen. Das Sprachsystem beschreibt also eine unendliche Menge von Lautsequenzen, von denen jeder eine Begriffsstruktur zugeordnet ist. Weil ein Sprecher ein solches Sprachsystem besitzt, beherrscht er eine unendliche Zahl von Sätzen, deren er sich beim Sprechen und Verstehen bedienen kann. Wenn wir die Struktur dieser Systeme untersuchen, befinden wir uns auf dem Weg zu einer Erklärung der sprachlichen Kreativität. Wir werden dann die sprachliche Kreativität völlig verstehen, wenn wir die Struktur von Sprachsystemen völlig verstehen, wenn uns klar ist, wie diese Systeme in der tatsächlichen Sprachverwendung angewendet werden, und welches die psychischen Vorgänge sind, die Begriffsstrukturen hervorbringen. Selbst wenn wir die Hypothese der angeborenen Vorprogrammierung akzeptieren, bleiben uns noch viele interessante Fragen, die beantwortet werden müssen, ehe wir unser Verständnis des Spracherwerbs als vollständig betrachten können. Zum Beispiel: Welche Aspekte der Sprachstruktur sind im einzelnen nicht schon bei Geburt vorprogrammiert, sondern müssen durch Erfahrung erworben werden? Wie geht dieses Lernen vor sich? In welchen Phasen vollzieht sich die Entdeckung der Sprachstruktur und das Erlernen der Sprachverwendung beim Kind? Von welchem Datenmaterial hängt der Spracherwerb letztlich ab? In welchem Maß unterliegen sprachliche Universalien allgemeinen psychischen Beschränkungen (Beschränkungen, die auch andere kognitive Phänomene betreffen), und inwiefern werden sie von unserer besonderen angeborenen Sprachfähigkeit bestimmt? Es sollte klar sein, daß diese Fragen nur im Zusammenhang einer adäquaten Theorie der Sprachstruktur und einer adäquaten Theorie des allgemeinen psychischen Aufbaus des Menschen befriedigend gelöst werden können, wobei im Augenblick jedoch noch keine von beiden verfügbar ist. Die Linguisten gestehen offen ein, daß sie weit davon entfernt sind, 268

alles zu erstrebende Wissen über die Sprache zu besitzen. Die tatsächlichen Ergebnisse der Sprachforschung sind weitreichend und beträchtlich, aber im Vergleich zu dem, was uns an Erkenntnis noch fehlt, nehmen sie sich bescheiden aus. Die Sprache ist ein schwieriger Untersuchungsgegenstand, weil sie ein psychisches Phänomen ist, das mit anderen Aspekten der psychischen Struktur eng zusammenhängt. Genau deshalb ist aber auch das Verständnis der Sprache so wichtig. Wenn wir zu einem Verständnis der kognitiven Fähigkeiten des Menschen gelangen wollen, so stellt die Untersuchung der Sprache einen guten Ansatzpunkt dar.

Arbeits- und Diskussionsvorschläge 1. In welchem Maße hängen Ihrer Meinung nach Sprachfähigkeit und allgemeine Intelligenz zusammen? Wie ist ihr Verhältnis zueinander geartet? 2. Überprüfen Sie Ihre Muttersprache (oder eine andere Sprache, die Sie beherrschen) auf die sprachlichen Universalien, die in Kapitel 9 dargestellt wurden! Läßt sich in der betreffenden Sprache eine größere Anzahl der erwähnten universellen Tendenzen feststellen? Widersprechen die beobachteten sprachlichen Phänomene in irgendeiner Weise den beschriebenen absoluten Universalien? 3. Obwohl die Begrenztheit unseres bisherigen Wissens Versuche, bestimmte sprachliche Phänomene zu „erklären", etwas problematisch macht, läßt sich die Existenz gewisser sprachlicher Universalien möglicherweise mit einiger Plausibilität auf physische oder psychologische Beschränkungen genereller Art zurückführen. So kann z.B. die beobachtete Tendenz, eher die zweite als die erste von zwei identischen Konstituenten zu reduzieren, vielleicht mit allgemeinen Erwägungen hinsichtlich der Informationsverarbeitung in Beziehung gesetzt werden: nur dann, wenn eine bestimmte Konstituente schon einmal in einem Satz aufgetaucht ist, werden folgende Vorkommen dieser Konstituente in einem gewissen Sinne redundant und damit reduzierbar. Einige phonologische Universalien korrelieren zweifellos direkt mit bestimmten physiologischen Faktoren. Daß Konsonantenhäufungen die Tendenz zur Assimilierung hinsichtlich der Stimmhaftigkeit zeigen, kann der Tatsache zugeschrieben werden, daß sich Konsonantenhäufungen erheblich leichter artikulieren lassen, wenn sie in bezug auf die Stimmhaftigkeit homogen sind - das wiederum hängt mit der physiologischen Beschaffenheit der Stimmbänder und den neurophysiologischen Vorgängen zusammen, durch die die Funktion der Stimmbänder gesteuert wird. Können Sie für einige der besprochenen Universalien eine plausible „Erklärung" liefern? Gibt es Universalien, für die es unwahrscheinlich ist, daß eine derartige

269

Erklärung gefunden werden kann? Was würde die Existenz von sprachlichen Universalien bedeuten, die sich nicht mit dem Hinweis auf von der Sprachfähigkeit unabhängige physische oder psychologische Faktoren erklären lassen? 4. Im Text wurde zwischen möglichen und/oder universellen Regeln einerseits und sprachlich unmöglichen Regeln andererseits unterschieden. Wenn diese Unterscheidung Gültigkeit besitzt, müßten sich auch in der Erlernbarkeit bestimmter Regeln Unterschiede zeigen. Das folgende informelle Experiment könnte Ihnen Hinweise dazu liefern: nehmen Sie eine syntaktische oder phonologische Regel, die das Deutsche zufällig nicht besitzt, und versuchen Sie, diese Regel konsequent beim Sprechen anzuwenden, wobei Sie das restliche Sprachsystem unverändert lassen. So könnten Sie z.B. die Kongruenz von Substantiv und prädikativ gebrauchtem Adjektiv einführen; dadurch würden sich Ausdrücke wie Der Tag war langer, Frau P. ist unschuldige, Das Kind wurde älteres usw. ergeben. Auf phonologischem Gebiet könnten Sie z.B. eine Regel wählen, die [t] vor vorderen Hochzungenvokalen ( [i] und [ü] ) zu der Affrikate [ts] verändert. Tisch erschiene dann phonetisch als [tsiä], Tür als [tsü:r]. Könnten Sie eine solche Regel soweit erlernen, daß Sie sie spontan in der Rede anwenden? Wie würde sich die Befolgung einer solchen Regel auf das übrige Sprachsystem auswirken? (Bei der Anwendung der obengenannten phonologischen Regel auf das Deutsche wären z.B. die Morpheme Tier und Zier phonetisch nicht mehr auseinanderzuhalten.) Denken Sie sich als nächstes eine sprachlich unmögliche Regel aus (wie z.B. die Regel, die Fragesätze dadurch bildet, daß sie die lineare Abfolge der Wörter im entsprechenden Aussagesatz umkehrt), und versuchen Sie, sie beim Sprechen anzuwenden! Können Sie Unterschiede in der Erlernbarkeit und Anwendbarkeit zwischen einer sprachlich unmöglichen und einer natürlichen Regel feststellen? Wie ist ein solcher Unterschied (oder sein Fehlen) im Hinblick auf sprachliche Universalien zu beurteilen? 5. Zur Beurteilung der Behauptung, alle Sprachen seien sich in ihrem Gesamtaufbau weitgehend ähnlich, empfiehlt sich ein Vergleich von einander entsprechenden Ausdrücken in verschiedenen Sprachen, um im einzelnen zu sehen, wo sie sich tatsächlich gleichen und wo sie verschieden sind. Selbst in der Oberflächenstruktur, in der sich die sprachliche Vielfalt am deutlichsten zeigt, lassen sich oft weitgehende Ähnlichkeiten feststellen. Vergleichen Sie z.B. die folgenden sieben Sätze aus dem Englischen, dem Französischen, dem Samoanischen, dem Türkischen, dem Luiseno, dem Japanischen und dem Tyapukay (einer australischen Sprache); von ihnen sind nur Englisch und Französisch verwandt. In den Beispielen sind Bindestriche verwendet worden, um relevante Morphemgrenzen zu markieren; die Sätze sind typographisch leicht verändert, um eine Ablenkung vom Wesentlichen zu vermeiden. Elemente, die zwar strukturell repräsentiert sind, aber keine isolierbare Segmentfolge darstellen, sind in Klammern gesetzt. (Englisch we z.B. ist die Subjektform des Personalpronomens der 1. Person Plural, aber nur völlig willkürlich ließe sich w oder e als Subjektkennzeichnung isolieren; daher die Klammern um SUBJEKT in der Morphem-fur-Morphem-Übersetzung des englischen Beispiels.) Für das Samoanische und das Tyapukay sind die Bezeichnungen SUBJEKT und OBJEKT nicht ganz zutreffend, aber in unserem Zusammenhang erfüllen sie ihren Zweck.

270

Englisch: we

made

the

boy-s

leave

wir-(SUBJEKT) mach-(PRÄT) der Junge-PLURAL

weggeh

,Wir brachten die Jungen dazu, daß sie weggingen.' Französisch: je

fer-ai

parti-r

ich-(SUBJEKT)

le-s

mach-FUTUR-(ich)

femme-s

weggeh-en die-PLURAL

Frau-PLURAL

,Ich weide die Frauen dazu bringen, daß sie weggehen.' Samoanisch: sa

fa'a-pa'ü

e

ioane

le

to'i

PRÄT lass-fall SUBJEKT John die Axt ,John ließ die Axt fallen.' Türkisch: ben

fare-yi

ich-(SUBJEKT)

öl-dür-dü-m Maus-die-(OÄ/£XD

sterb-mach-PRÄT-ich

,Ich tötete die Maus.' Luiseno: noo

nawitmal-um-i

paati-ni-n

ich-(SUBJEKT) Mädchen-PLURAL-OBJEKT

trink-mach-FUTUR

,Ich werde die Mädchen zum Trinken bringen.' Japanisch: watasi-ga

kodomo-o

tabe-sase-ru

ich-SUBJEKT Kind-OBJEKT

ess-mach-PRÄS

.Ich bringe ein Kind dazu, daß es ißt.' Tyapukay: pama-lu

tyulpin

wanta-ri-lna

Mann-SUBJEKT Baum-(OBJEKT)

fall-mach-FUTUR

,Der Mann wird den Baum fällen.' Bei diesen Sätzen gibt es offensichtliche Unterschiede (von den verschiedenen lexikalischen Einheiten einmal abgesehen). So ist z.B. die Wortstellung unterschiedlich geregelt, und das Luiseito hat keinen Artikel. Es finden sich jedoch auch viele Ähnlichkeiten. Wenn beispielsweise der Artikel ein selbständiges Wort ist (und kein Affix), so geht er in unseren Beispielen grundsätzlich dem Substantiv voraus. Versuchen Sie möglichst viele Ähnlichkeiten zwischen den Sätzen ausfindig zu 271

machen! Untersuchen Sie das Material im Hinblick auf die Unterscheidung von Sprachen mit Verbanfangsstellung und Verbendstellung! (Nach der im Text gegebenen Definition weisen Englisch, Französisch und Samoanisch Verbanfangsstellung auf, die übrigen Sprachen Verbendstellung.) Ziehen Sie Beispiele aus anderen Sprachen zum Vergleich heran! Weiten Sie die Analyse aus, indem Sie anhand einer Grammatik einer (möglichst nicht-indoeuropäischen) Sprache andere Oberflächenstrukturen mit Strukturen des Deutschen oder Englischen vergleichen!

272

Auswahlbibliographie

Allgemeine Einführungen

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279

Sachregister

Ableitung, s. Derivation absolute Universalien, 257 abstrakte Strukturen, 1 3 9 - 1 4 0 Ähnlichkeit der Sprachen, 38, 2 5 0 - 2 5 3 , 256-267 Affix, 6 6 - 7 0 , 2 6 1 - 2 6 2 Definition, 66 Ableitungsaffixe, 4 2 , 6 6 - 7 0 Flexionsaffixe, 6 6 - 6 9 Affrikaten, 153 Afrikaans, 2 4 3 . Akustik, 6 1 - 6 2 , 1 4 5 , 147 Albanisch, 186, 187, 223, 242 Altbulgarisch, 244 Altenglisch, 199 Altfranzösisch, 198 Altkirchenslavisch, 2 4 4 Alt-Persisch, 244 Altpreussisch, 244 alveolare Konsonanten, 1 5 1 , 1 5 3 Alveolen, s. Zahndamm Ambiguität, s. Mehrdeutigkeit Analogie, 2 1 , 4 1 Anatolisch, 2 4 2 angeborene Struktur, 2 5 0 - 2 5 6 Beziehung zu sprachlichen Uni Versalien 256-258 angewandte Linguistik, 6 anthropologische Linguistik, 6 Arabisch, 152, 188, 191 Araukanisch, 179 arbiträr, s. willkürlicher Charakter des Wortes Armenisch, 2 4 2 Artikulation, s. Phonetik, artikulatorische Aspekt, 38 aspirierte Konsonanten, 152, 246 Assimilation, 169, 267 Athabaskisch, 14, 1 8 6 Ausrufe, 31 australische Sprachen, 4 6 , 187 Avestisch, 2 4 4 Aztekisch, 6 6 , 6 8 , 7 1 , 76

280

Babysprache, 25 Baltisch, 244 Bantu, 187 Bedeutung, 7, 2 3 - 2 5 , 8 0 - 8 4 von Sätzen, 2 3 , 8 1 - 8 4 von Wörtern, 2 3 - 2 6 s.a. Morphem begrifflich geformte Situation, 8 2 - 8 3 , 85 Begriffsstrukturen, 8 3 - 8 7 , 90 komplexe Begriffsstrukturen, 1 0 1 - 1 0 6 Beziehung zu Oberflächenstrukturen, 80-84, 85-86, 101-106, 118-124 Behauchung, s. Konsonanten, aspirierte Behaviorismus, 8, 21 Bengali, 244 Betonung, 1 5 5 - 1 5 6 , 1 7 9 - 1 8 0 , 2 0 0 - 2 0 1 in Zusammensetzungen, 71 bilabiale Konsonanten, 151, 153 biologische Faktoren, ihr Einfluß auf die Sprache, 1 3 - 1 4 , 16 Birmanisch, 2 1 2 Bretonisch, 243 Bulgarisch, 187, 2 4 4 Cahuilla, 2 4 5 - 2 4 6 Chinesisch, 156 Clallam, 93 Cupan, 245 Cupeno, 245 Dänisch, 2 4 2 Dalmatinisch, 243 dentale Konsonanten, 151, 152 Derivation (Ableitung), 1 1 8 - 1 1 9 , 1 3 4 140, 1 6 2 - 1 6 6 deskriptive Linguistik, 6 Deutsch: Dialekte, 4 6 - 4 7 , 5 0 , 57 Entlehnung, 211 Flexion, 6 4 , 6 7 , 1 2 9 - 1 3 0 , 1 9 9 genetische Verwandtschaft, 2 1 6 - 2 1 7 , 243

idiomatische Wendungen, 7 2 - 7 4 , 91 Morphologie, 38, 6 2 - 6 3 , 6 4 - 6 8 , 6 9 70, 7 6 - 7 7 , 94 Phonologie, 2 6 - 2 7 , 7 9 - 8 0 , 147-161, 270 Sprachwandel, 15, 193, 194, 196, 211 Syntax, 27, 28, 30, 31, 4 0 - 4 1 , 8 1 - 8 2 , 86, 8 9 - 9 1 , 94, 95-115, 116, 117, 120-122, 127-133, 135-137, 1 4 1 142, 143-144, 264-266 Zusammensetzungen, 4 1 - 4 2 , 7 0 - 7 2 , 262 Diagramm mit endlich vielen Zuständen, 42-43 Dialekte, 4 4 - 5 3 , 57, 206-211, 215-216 geographische Grenzen von Dialekten, 4 7 - 5 2 , 55 zugrundeliegende Einheitlichkeit, 53, 206-209 Dialektgeographie, 4 7 - 5 2 , 57 distinktive Unterschiede, 156-166 Drawidisch, 187 Einbettung, 106-107, 110-117, 1 3 0 131 Empirismus, 4, 250-256 Englisch: Dialekte, 45, 46 Entlehnung, 185-186, 187-190 Flexion, 199 genetische Verwandtscliaft, 216-217 242-243 Morphologie, 63, 6 8 - 7 0 , 7 4 - 7 7 , 173-177, 205-206 Phonologie, 26, 74-75, 149-155, 173-177, 2 0 1 - 2 0 2 Sprachwandel, 192-196, 198-199 Syntax, 115-116, 122-128, 1 2 9 1 3 4 , 1 3 8 - 1 4 0 , 195-196, 198-199 Zusammensetzungen, 71 Entlehnung, 185-191, 222-223 Auswirkungen der Entlehnung, 1 9 0 191 Gründe fur die Entlehnung, 186, 1 8 7 190 lexikalische Entlehnung, 185-186, 187-190, 224 phonologische Entlehnung, 186-187 syntaktische Entlehnung, 186-187

Eskimosprache 15 external change, 191, s.a. Entlehnung Flämisch, 243 Französisch, 24, 40, 210, 215, 243 Dialekte, 5 4 - 5 5 Einfluß aufs Englische, 188, 190-191, 192 Entlehnung, 186, 188-189 Morphologie, 7 0 - 7 1 , 73 Phonologie, 26-27, 150, 152, 1 9 9 201 Sprachwandel, 194 Syntax, 196, 197-198, 270-271 freie Morpheme, 65 Fremdsprachenlernen, 10—11, 2 0 2 - 2 0 3 Friesisch, 243 Frikative (Reibelaute), 153, 260-261 Gälisch, 243 gebundene Morpheme, 65 gelehrte Bildungen, 189 Generative Grammatik, 7 genetische Sprachverwandtschaft, 2 1 5 244 Definition, 215 Genus, 38, 67 Germanisch, 190, 216-217, 218, 2 4 2 243 gerundete Vokale, 150, s.a. labialisierte Konsonanten Geschichte der Linguistik, 7 Gleitlaute (Halbvokale), 154-155 glottalisierte Konsonanten, 152, 187 Gotisch, 218, 221, 242 Grammatik, 33 Definition, 6 traditionelle Grammatik, 7 Grammatik mit endlich vielen Zuständen, 42-43 Grammatikalität, 28-34, 8 9 - 9 1 grammatische Kategorien, 3 8 - 3 9 grammatische Klassen, 66—68 grammatische Morpheme, 6 4 - 6 6 Griechisch, 187, 189, 223, 243-244, 246-247 281 Gujerati, 244

Halbvokale, s. Gleitlaute Hethitisch, 242 Hindi, 244 Hinterzungenvokale, 148 historische Linguistik, 6, 210-211, 2 1 7 223, s.a. komparative Methode Hochzungenvokale, 148 Holländisch, 44, 243 Hopi, 26 hyperkorrekte Formen, 55 Identität, 1 2 4 - 1 2 8 Idiolekt, 50, 202 idiomatische Wendungen, 7 2 - 7 4 , 91 Indoeuropäisch, 187, 217, 218, 223, 2 4 1 244 Indo-Iranisch, 244 Infix, 66, s.a. Affix innere Rekonstruktion, 219-220 innerer Wandel, 191-206 lexikalische Einheiten, 191-196 Regeln, 197-201, 201-202, 204-205 instrumenteile Konditionierung (operant conditioning), 42 internal change, s. innerer Wandel Intuition, 8 Iranisch, 244 Irisch, 243 Isländisch, 242 Isoglossen, 4 5 - 5 3 , 55, 206-209 Definition, 48 Isolierbarkeit sprachlicher Einheiten, 6 1 62 Italienisch, 188, 210, 213, 215, 243 Italisch, 243 Japanisch, 262, 2 7 0 - 2 7 1 Jiddisch, 243 Kaschmiri, 244 Kasus, 38, 199 Katalanisch, 210, 243 Kategorisierung der Erfahrung, 3 4 - 3 9 , 40 Kehlkopf, 146 Keltisch, 242, 243 Keresisch, 14 Kommunikation: Sprache als Kommunikationsinstrument, 20-25, 53

282

Kommunikation bei Tieren, 10, 1 6 20,41, 253-254 Komparative Methode, 220-221, 2 2 3 237 Kompetenz (Sprachvermögen), 3 2 - 3 4 , 62, 78, 89, 249-250 komplexe Sätze, 101-117, 124-125, 141, 262 Definition, 102 Komplexität der Sprache, 1 4 - 1 5 , 16,18, 21, 87 Konditionierung, 21,42 Konjunkt, 1 0 7 - 1 1 0 Definition, 107 Konjunktionen, 107-109, 113 koordinierende, 107 subordinierende, 113, ein- und mehrgliedrige, 108 Konsonanten: Artikulation, 151 — 155 alveolare, 151, 153 aspirierte, 152, 246 bilabiale, 151, 153 dentale, 151, 152 glottalisierte, 152, 187 labialisierte, 152 labiodentale, 153 nasale, 153-154 palatale, 151 pharyngalisierte, 152 retroflexe, 187 stimmhafte, 152 stimmlose, 152 universelle Tendenzen, 2 6 0 - 2 6 1 velare, 151, 152 Konsonantenhäufung, 165, 263 Konstituenten: Definition, 96 Funktion in syntaktischen Regeln, 100 Typen, 9 8 - 1 0 1 konstitutiver Teilsatz, s. Teilsatz Kontamination, 212 Konzeptualisierung, 8 2 - 8 3 , 8 7 - 8 9 , 90 Grenzen der Konzeptualisierung, 88, 90, 268 Koordination, 106-110, 124-127, 264 Komisch, 243 Kreativität, sprachliche, 12, 18-19, 20-22,32,53,267 Kultur und Sprache, 1 4 - 1 5 Kurdisch, 244

labialisierte Konsonanten, 152 labiodentale Konsonanten, 153 Ladinisch, 243 Länge, 1 5 5 - 1 5 6 Lateinisch, 67, 1 8 9 - 1 9 0 , 1 9 9 - 2 0 1 , 210, 215, 218, 243, 2 4 6 - 2 4 7 Laterale, 154 Laut-Bedeutungs-Korrelationen, 2 2 - 2 4 , 61-62, 78-79 lautliche Entsprechungen, 2 2 6 - 2 3 0 lautmalend (onomatopoetisch), 24, 3 9 - 4 0 Lautsymbolik, 2 4 - 2 5 Lautsysteme, 2 6 - 2 7 Lautwandel, 2 2 9 - 2 4 1 Regelmäßigkeit des Lautwandels, 2 2 9 230 Lautwandel als Regelveränderung, 236-241 leeres Morphem, 64, 7 4 - 7 5 Lehnübersetzung, 186 Lehnwörter, 1 8 5 - 1 9 1 Lettisch, 244 lexikalische Einheiten: Ausweitung im Gebrauch, 1 9 4 - 1 9 5 Entlehnung, 19, 1 8 5 - 1 9 1 Klassenbildung, 9 3 - 9 4 , 260 komplexe lexikalische Einheiten, 6 8 - 7 4 , 1 9 2 - 1 9 3 , 211 lexikalische Einheiten im Satz, 8 4 - 8 7 , 258-259 Neubildungen, 19, 1 9 2 - 1 9 3 Verlust von lexikalischen Einheiten, 192 Wandel von lexikalischen Einheiten, 191-196, 201-206 lexikalische Morpheme, 6 4 - 6 6 Lexikon, 68, 7 4 - 7 5 Definition, 68 lineare Anordnung, 9 5 - 9 6 Linguistik: Definition, 5 linguistische Disziplinen, 6 Liquide, 154 Litauisch, 244 literarischer Stil, 14 Luiseüo, 9 2 - 9 3 , 143, 179, 2 4 5 - 2 4 6 , 270-271 Luwisch, 242 Lydisch, 242

Manx, 243 Maori, 214 Marathi, 244 Mehrdeutigkeit (Ambiguität), 9 7 - 9 8 , 119-121 Metapher, 7 2 - 7 4 , 7 6 - 7 7 , 9 0 - 9 1 , 1 9 2 193 Metathese, 93, 171, 212 Mittelzungenvokale, 1 4 8 - 1 5 0 Morphem, 6 2 - 7 7 , 79, 80, 8 4 - 8 7 , 120 Definition, 62 Anordnung im Satz, 9 5 - 9 8 , 100 Einfluß des phonologischen Systems, 156-162, 173-178 Morphem typen, 6 4 - 6 6 s.a. lexikalische Einheiten Morphologie, 1 7 3 - 1 7 8 , 219 Definition, 1 7 3 - 1 7 4 morphologischer Wandel, 196, 2 0 5 206 nasale Konsonanten, 1 5 3 - 1 5 4 Nasalvokale, 150 Nasenhöhle, 146, 154 Navaho, 39, 264 Nebenordnung, s. Koordination Nebensatz, 107, 111, 141, 142 Arten von Nebensätzen, 111, 113 Negierung, 62, 70, 1 6 9 - 1 7 2 , 198, 260 Nepali, 244 Neustrukturierung, 204, 214, 249 Neutralisierung, 162 Niederdeutsch, 243 Nominalphrase: Definition, 99 Norwegisch, 242 Numerus, 38, 64, 65, 90, 130, 138, 165, 1 6 7 - 1 6 9 , 1 7 3 - 1 7 7 , 196, 199, 240 Oberdeutsch, 243 Oberflächenstruktur, 8 0 - 8 4 , 9 5 - 1 0 1 , 1 0 8 - 1 0 9 , 124 OS und abstrakte Struktur, 1 3 9 - 1 4 0 OS und Begriffsstruktur, 8 0 - 8 4 , 8 5 86, 1 0 1 - 1 0 6 , 1 1 8 - 1 2 4 OS und phonetische Realisierung, 162-173 OS und semantische Struktur, 101 — 104

283

Objektsatz, 111, 113-116, 128, 1 3 2 134, 141-142, 143-144, 264 Obstruenten, 175 onomatopoetisch, s. lautmalend Oralvokale, 150 Oskisch, 243 Ossetisch, 244 Palaisch, 242 palatale Konsonanten, 151 Palatum, 148 Panjabi, 244 Papago, 180, 212-213 Partikel, 122-124, 130 Paschto, 244 Passiv, 91, 9 4 , 1 1 2 Performanz (Sprachverwendung), 3 2 - 3 4 , 88, 89, 211-212, 249 Persisch, 244 Person (als gramm. Kategorie), 67, 90, 199 pharyngalisierte Konsonanten, 152 Pharynx, 152 Philosophie und Linguistik, 4 Phonetik, 6 artikulatorische, 145-155 phonetische Realisierung, 63, 84, 87, 162-164, 173-174, 207-208, 259 phonologische Regeln, 7 9 - 8 0 , 85, 162, 173 Allgemeingültigkeit von phonologischen Regeln, 174 Assimilationsregeln, 167-170, 175 — 177, 267 Betonungsregeln, 171-172, 200-201 Einfügungsregeln, 170, 175—177, 266 Hinzufügung von Regeln, 200, 201 — 202, 238-241

Verlust von phonologischen Regeln, 199 Wandel von phonologischen Regeln, 199-203, 203-205, 236-241 phonologische Repräsentation, 74, 7 9 - 8 0 , 87, 157, 163, 239-241, 259 Wandel der phonologischen Repräsentation, 196 phonologisches System, 26, 7 9 - 8 0 , 145 182, 190-191 distinktive Unterschiede, 156-162 universelle Tendenzen, 259-261, 263 Wandel im phonologischen System, 190-191,195-196,199-201, 204205, 236-241 Piro, 1 8 0 - 1 8 1 Polnisch, 216, 244 Portugiesisch, 210, 215, 243 Possessivbildungen, 115-116, 176, 1 9 7 199 Präfix: Definition, 66, s.a. A f f i x präskriptive Tendenzen, 30, 5 4 - 5 5 primitive Sprachen, 1 4 - 1 5 Pro-Formen, 127 Pronominalisierung, 139, 263-264 Proto-Sprache, 215-217, 218-219 Rekonstruktion der Proto-Sprache, 218-221 Provenzalisch, 243 Prozeßmorphem, 93 psychische Struktur und Sprache, 4, 16, 19, 8 7 - 8 9 Psycholinguistik, 6 Psychologie und Linguistik, 4 - 5 , 13, 16, 21, 3 4 - 3 9 , 6 2 , 8 0 - 9 1 , 248

Rasse und Sprache, 1 3 - 1 4 Rationalismus, 4, 250-256, 257-258 merkmalverändernde Regeln, 166-172, Reduplikation, 180 236-241, 267 Referenzidentität, 1 2 7 - 1 2 8 , 1 3 9 , 144,263 Metathese-Regeln, 171 Reflexe, 231 Redundanzregeln, 1 6 2 Reflexivisierung, 139-140, 143-144,

166 Reihenfolge von phonologischen Regeln, 173 Tilgungsregeln, 168-170 universelle Tendenzen, 260 — 261, 266-267

284

263-264 Reibelaute, s. Frikative Rekonstruktion, 6, 218-221, 222, 2 3 0 236 Problem der Entlehnung, 222-223 Relativpronomen, 117, 131

Relativsatz, 105, 1 1 2 - 1 1 4 , 1 1 6 - 1 1 7 , 130-131,135-136 notwendige und nicht-notwendige Relativsätze, 143 retroflexe Konsonanten, 187 Rhäto-Romanisch, 243 romanische Sprachen, 2 1 0 - 2 1 1 , 223 Romansch, 243 Rumänisch, 187, 210, 243 Russisch, 25, 153, 189, 193, 199, 216, 244

Sprachatlas, 58 Sprache: Definition, 2 2 - 2 3 , 32 Sprache und Denken, 4, 3 4 - 3 9 , 8 0 - 8 3 Spracherwerb, 9 - 1 3 , 14, 18, 2 1 - 2 2 , 25, 2 7 - 2 8 , 5 3 - 5 4 , 69, 8 6 - 8 7 , 2 4 8 - 2 5 6 bei Tauben und Stummen, 11 geistige Zurückgebliebenheit und Spracherwerb, 1 1 - 1 2 , 254 Spracherwerb und Sprachwandel, 201-206 s.a. Empirismus, Rationalismus Sprachfamilien, 2 1 5 - 2 1 7 , 2 4 1 - 2 4 4 Salisch, 93 sprachliche Gewohnheiten, 21 Samoanisch, 1 4 2 - 1 4 3 , 262, 2 7 0 - 2 7 1 sprachliche Vielfalt, 4 4 - 5 5 Sanskrit, 244, 2 4 6 - 2 4 7 Gründe, 5 2 - 5 3 Sardinisch, 243 entgegenwirkende Tendenzen, 5 3 Satzbau: universelle Tendenzen, 2 6 2 - 2 6 3 55 Satzbruchstücke, s. Satzfragmente Sprachstile, 5 2 - 5 3 Satzfragmente, 31, 4 0 - 4 1 Sprachvermögen, s. Kompetenz Satzlänge, 2 8 - 2 9 Sprachverwandtschaft, 210, 2 1 5 - 2 4 4 Satzverbindung, s. Koordination Sprachverwendung, s. Performanz Satzverzierungen, 129 Sprachwandel, 1 5 - 1 6 , 18, 1 8 5 - 2 1 4 schottisches Gälisch, 243 s.a. Entlehnung, innerer Wandel Schwedisch, 242 Sprechakt, 103 Schweizerdeutsch, 243 Sprechorgane, 1 4 5 - 1 5 1 , 153, 154 Schwestersprachen, 2 1 5 - 2 1 7 Stammbaumstruktur, 9 6 - 9 8 Semantik, 81, s.a. Bedeutung Stimmbänder, 1 4 6 - 1 4 7 semantische Repräsentation, 7 5 - 7 7 , 85 Stimmgebung, 147, 152 Wandel der semantischen Repräsentastimmhafte Konsonanten, 152 tion, 1 9 4 - 1 9 5 stimmlose Konsonanten, 152 semantische Struktur, 1 0 1 - 1 0 4 Stimulus-Response-Modell (Reiz-Reaksemantisches System, 26, 8 3 - 8 4 , 1 9 4 tions-Modell), 2 1 , 4 2 , 4 3 Suaheli (Swaheli), 25, 179 195 Wandel im semantischen System, 1 9 4 - Subjektsatz, 111, 1 1 3 - 1 1 6 , 128, 1 3 2 134, 1 4 1 - 1 4 2 , 1 4 3 - 1 4 4 , 264 196 Subordination (Unterordnung), s. EinbetElemente, 2 5 9 - 2 6 0 tung Serbo-Kroatisch, 244 Suffix: Definition, 66, s.a. Affix Shoshone, 245 Sundanesisch, 66 Silbe, 263 suprasegmentale Merkmale, 155 — 156, Sioux-Sprachen, 39 261 Skandinavisch, 242 Synonymie, 1 2 1 - 1 2 4 Slavisch, 215, 216, 223, 244 syntaktische Regeln, 7, 8 5 - 8 7 , 119, 120, Slovakisch, 244 124-134 Slovenisch, 244 Sozialstruktur und Sprache, 1 3 - 1 4 , 52 Sozialwissenschaften und Linguistik, 5 Soziolinguistik, 6 Spanisch, 25, 45, 67, 73, 152, 154, 1 8 5 186, 188, 189, 210, 215, 243, 264

Einsetzungsregeln, 105, 1 1 4 - 1 1 5 , 1 2 9 - 1 3 0 , 132, 137, 2 6 3 - 2 6 6 Kongruenzregeln, 1 2 9 - 1 3 0 , 2 6 4 - 2 6 5 Ordnung von syntaktischen Regeln, 135-138

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Reduktionsregeln, 1 0 9 - 1 1 0 , 1 2 4 - 1 2 8 , 135-136, 263-264 Tilgungsregeln, 108-110, 115-116, 125-128, 133, 141-142, 144, 1 9 7 198, 263-264 Umstellungsregeln, 94, 116-117, 123, 130-134, 135-137, 198-199, 2 6 5 266 Universalität syntaktischer Regeln, 263-266 Verletzung syntaktischer Regeln, 8 9 91 Wandel von syntaktischen Regeln, 197-200 syntaktische Repräsentation, 75 Wandel der syntaktischen Repräsentation, 195-196 syntaktisches System, 26, 27-29, 8 3 - 8 4 , 87 Wandel im syntaktischen System, 195-196 Elemente, 259-260 Syntax: Definition, 81, 85, s.a. syntaktisches System Tanoisch, 14 Taubheit, Einfluß auf den Spracherwerb, 11 Teilsatz, 102-109, 141, 262 Definition, 102 koordinierter Teilsatz, s. Koordination subordinierter Teilsatz, s. Einbettung Tempus, 38, 64, 67, 6 8 - 6 9 , 79, 85, 9 5 - 9 7 , 103-104, 165, 174-178, 205-206 Tiefzungenvokale, 148 Tocharisch, 242 Tochtersprache, 215-217 Tonhöhe, 155-156, 261 Tonka wa, 181-182 Tonsprachen, 156 Transformationen, 124, s.a. syntaktische Regeln Tschechisch, 244 Türkisch, 25, 191, 262, 270-171 Tyapukay, 270-271 Ukrainisch, 244 Umbrisch, 243 Ungarisch, 25

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Universalien, 2 5 6 - 2 6 9 absolute Universalien, 257 universelle Tendenzen, 258, 2 5 9 - 2 6 7 Unterordnung (Subordination), s. Einbettung unvollständiges Lernen, 205-206, 249 Urdu, 244 Ursprung der Sprache, 1 5 - 1 6 Uto-Aztekisch, 245 Uvula, s. Zäpfchen velare Konsonanten, 151, 152 Velum, 147, 151 Venetisch, 243 Verb-Partikel-Konstruktion, 122-124, 130 Verbalphrase: Definition, 99 Verschlußlaute, 151-152 Verstärkung (reinforcement), 42 verwandter Satz, 230-236, 246 Vokale: Artikulation, 147-151 gerundete, 150 Länge, 155-156 nasale, 150 orale, 150 universelle Tendenzen, 260 Vokalharmonie, 191 Vorderzungen vokale, 148 Vorstufe einer Sprache, 215, s.a. ProtoSprache Walisisch, 243 Weißrussisch, 244 Westgermanisch, 242 willkürlicher (arbiträrer) Charakter des Wortes, 2 3 - 2 4 , 75 Wörterbücher, 7, 28 Wort, 2 3 - 2 5 , 3 5 - 3 7 , 6 2 Wurzel, 66, 67 Definition, 66 Zäpfchen (Uvula), 154 Zahndamm (Alveolen), 148 Zungenstellung: bei der Konsonantenartikulation, 151-155 bei der Vokalartikulation, 147-151 Zusammensetzungen, 4 1 - 4 2 , 70—72, 73 — 74, 261-262 Zweig (im Stammbaum), 96