Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon [1 ed.] 9783428483006, 9783428083008

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Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon [1 ed.]
 9783428483006, 9783428083008

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FELIX GROSSHEUTSCHI

Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 91

Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon

Von Felix Grossheutschi

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grossheutschi, Felix: Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon / von Felix Grossheutschi. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 91) ISBN 3-428-08300-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08300-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

9 11

I. Der zweite Brief an die Thessalonicher

11

II. Das Obrigkeitsveständnis im Neuen Testament

14

1. 2.

Die Evangelien Paulus a) Römer 13 b) Paulus und der Katechon

14 19 19 24

3.

Die Offenbarung des Johannes

26

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

30

1.

Irenäus

30

2.

Hippolyt

35

3.

Die griechischen Apologeten: Aristides, Justin und Melito

38

4.

Tertullian

41

IV. Geschichte der Rom-Deutung des Katechon

53

1.

Mittelalter

53

2.

Neuzeit

55

C. Carl Schmitt und der Katechon

57

I. Übersicht II. Einzeldarstellungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Beschleuniger wider Willen Land und Meer Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft Glossarium: Aufzeichnungen der Jahre 1947 - 1951 Ex Captivitate Salus Drei Stufen historischer Sinngebung Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum Die andere Hegel-Linie

D. Schluß I. Die verschiedenen Typen des Katechon

57 59 59 66 71 76 86 88 92 98 103 103

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

107

III. Der Katechon im Denken Carl Schmitts

116

Bibliographie

122

Abkürzungsverzeichnis 1. Werke von Kirchenvätern adv. haer.

Irenäus v. Lyon: Fünf Bücher gegen die Häresien

Apol.

Tertullian: Apologeticum

comm. in Dan.

Hippolyt v. Rom: Kommentar zum Buch Daniel

de bell. jud.

Flavius Josephus: Der jüdische Krieg

hist. ecc.

Eusebius ν. Caesarea: Kirchengeschichte

2. Werke von Carl Schmitt AHL

Die andere Hegel-Linie

BP

Begriff des Politischen

DShS

Drei Stufen historischer Sinngebung

ECS

Ex Captivitate Salus

LeR

Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft

LuM

Land und Meer

NE

Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum

RiV

Der Reichsbegriff im Völkerrecht

Α. Einleitung Carl Schmitt ist sicher einer der einflußreichsten, aber auch einer der umstrittensten politischen Denker unseres Jahrhunderts. Seines Engagements in der NSDiktatur wegen jahrelang verfemt und nur untergründig rezipiert, erfahrt sein Werk seit einiger Zeit eine - politisch oft nicht unproblematische - Renaissance. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen beschäftigen sich mit allen möglichen Facetten seines thematisch breit angelegten Denkens. Schmitts Ausführungen zum Staats- und Völkerrecht, zur Rechtsphilosophie, Literatur, Politik und - nicht zuletzt - 'politischen Theologie' werden mit großem Interesse kommentiert und bezüglich ihrer Gegenwartsrelevanz diskutiert. Eine der rätselhaftesten Stellen des Neuen Testaments ist ohne Zweifel das Paulus-Wort über den bzw. das Katechon in dem zweiten Brief an die Thessalonicher. Sie gehört zu den meistinterpretierten Stellen des ganzen Briefkorpus. Im Verlauf der Jahrhunderte hat sich eine Fülle von Deutungen ergeben, und noch heute bemühen sich Theologen und Philologen um die einzige wirklich vernünftig-logische Entschlüsselung des Rätsels. Die meisten dieser 'Lösungen' können eine Vielzahl guter Gründe für sich reklamieren - ein Umstand, der das Problem nicht unbedingt vereinfacht. Was hat eine reichlich mysteriöse Stelle des Neuen Testamentes mit Carl Schmitt zu tun? In der Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, daß Schmitt den Begriff'Katechon'wiederholt verwendet.1 Es fehlt allerdings bisher eine genauere Untersuchung zur Frage, wie und warum er den Begriff aufnimmt. Was kann eine derart entlegene Figur wie der Katechon für einen Denker bedeuten, der sich mit der politischen und geistigen Situation seiner - unserer - Zeit auseinandersetzt? Damit ist die Fragestellung dieser Arbeit gegeben. In einem ersten Schritt geht es im folgenden darum, die wichtigste traditionelle, d.h. vor'schmittianische' Deutung - Rom als Katechon - in ihrer Entstehung zu untersuchen. Nach der Darstellung von 2.Thessalonicher 2 6.7, der Grundlage der ganzen Diskussion, werden wir uns mit dem Obrigkeitsverständnis des Neuen Testamentes beschäftigen. Insbesondere die Einstellung des Paulus ist hier natürlich von großem Interesse. Die eigentliche Entstehung der Rom-Deutung bei den Kirchenvätern wird den Schwerpunkt bilden. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einer kurzen Übersicht über das weitere Schicksal dieser Deutung.

1

So z.B. bei Hofmann 1964, 220 Anm.69; Meier 1994, 240ff.

10

Α. Einleitung

Vor diesem Hintergrund werden wir uns in einem zweiten Schritt der Verwendung des Begriffs in verschiedenen Werken von Carl Schmitt zuwenden. Der Versuch einer Verortung der Ergebnisse unserer Untersuchung im Denken Schmitts schließt die Arbeit ab. Bedanken möchte ich mich bei Prof. Henning Ottmann, der die Anregung zu dieser Arbeit gab und dessen kritisches Wohlwollen ihre Entstehung begleitete. Für technische Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage bin ich meinem Bruder Urs Grossheutschi verpflichtet.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon I. Der zweite Brief an die Thessalonicher Die Echtheit des zweiten Briefes an die Thessalonicher ist umstritten. Bereits 1801 äußerte J.E.Chr. Schmidt1 den Verdacht, dieser Brief könnte nicht von Paulus stammen, und seither ist die Debatte zu keinem Ende gekommen. Insbesondere das Verständnis der Verse 6 und 7 aus dem zweiten Kapitel entscheidet oft, ob der Text für echt gehalten wird oder nicht. So glauben etwa - um nur zwei neuere Autoren zu nennen - O. Cullmann und A. Strobel2 Erklärungen für diese dunkle Stelle gefunden zu haben, die sich auch in das ganze Denken des Paulus und in die Tradition einfügen. Entsprechend halten sie den Brief für authentisch. Andere, wie z.B. A. Lindemann und W. Trilling 3 , bekunden Mühe damit, die Katechon-Idee in den Zusammenhang mit den anderen Paulus-Briefen zu stellen. Sie halten den Brief denn auch nicht für echt. Authentisch oder nicht - es ist nicht unsere Aufgabe, diese Kontroverse darzustellen, weiterzuführen oder gar zu entscheiden.4 Die Echtheitsfrage ist für unser Thema ohne Belang. Der zweite Thessalonicherbrief ist unter den Paulusbriefen, die unser Kanon enthält, mit 47 Versen der drittkleinste. Im Aufbau wie im Wortschatz orientiert er sich sehr stark an dem ersten Thessalonicherbrief, unterscheidet sich aber im Stil beträchtlich von diesem.5 Der erste Brief wurde vermutlich im Winter 50/51 in Korinth geschrieben6, gehört also zu den früheren Briefen des Paulus. Bedeutsam ist er vor allem seiner eschatologischen Botschaft wegen. Das Nahesein der Parusie, die unversehens hereinbrechen kann und darum stete Wachsamkeit verlangt, wird hier so stark betont, daß der Eindruck entsteht, Paulus rechnet mit ihrem Eintreffen noch zu seiner Lebenszeit (l.Th 5 1-11). Der zweite Brief muß vor diesem Hintergrund verstanden werden. Zur Abfassungszeit läßt sich nicht viel mehr sagen, als daß er nach dem Winter 50/51 ent1

Vgl. Schmidt 1801.

2

Vgl. Cullmann 1966; Strobel 1961,98-110.

3

Vgl. Lindemann 1977; Trilling 1980, 23f.

4

Vgl. zur Geschichte dieser Kontroverse: Bornemann 1894, 400-459.

5

Vgl. Trilling 1972, 66.

6

Vgl. Neue Jerusalemer Bibel 1987, 1611.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

12

standen ist; ebenso spekulativ sind Angaben über den Abfassungsort, möglicherweise in Kleinasien.7 Nach dem üblichen Eingangsgruß spricht Paulus im ersten Kapitel seines Briefes von den Verfolgungen und Bedrängnissen, die die Gemeinde zu ertragen hat. Er rühmt ihre Geduld und ihren Glauben und tröstet sie mit der Aussicht, daß Jesus kommen wird "Vergeltung zu üben an denen, die Gott nicht kennen und die nicht gehorsam sind dem Evangelium unseres Herrn Jesus" (1 8), und "wunderbar erscheinen [wird] bei allen Gläubigen" (1 10). Zu Beginn des dritten Kapitels bittet Paulus seine Brüder für ihn zu beten, daß das Evangelium sich ausbreite und daß er vor "falschen und bösen Menschen" (3 2) bewahrt werde. Daran schließt sich die Mahnung an die Gemeindemitglieder, sich vor einem unordentlichen Leben zu hüten und nicht dem Müßiggang zu verfallen. Auch er habe anläßlich seines Aufenthaltes in Thessaloniki für sein Brot "mit Mühe und Plage ... Tag und Nacht gearbeitet"(3 8), denn: "Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen." (3 10). Deshalb solle jeder still seiner Arbeit nachgehen und sein eigenes Brot essen (3 12). Hält sich jemand nicht an das in diesem Brief Gebotene, so soll er zurechtgewiesen werden. Mit Gruß und Segenswunsch endet der Brief. Das eigentliche Anliegen des Briefes findet sich im zweiten Kapitel. Anscheinend wurde die Gemeinde in Thessaloniki von Weissagungen und gefälschten Paulusbriefen beunruhigt, die behaupteten, der 'Tag des Herrn' sei schon da. Paulus ermahnt seine Brüder und Schwestern in Christo, dergleichen nicht zu glauben, schließlich habe er ihnen bei seinem Besuch gesagt, wie es sich wirklich verhalte (2 5). Er erinnert sie daran, daß der Parusie einige Ereignisse vorangehen werden: "denn zuvor muß der Abfall (ή αποστασία) kommen und der Mensch der Bosheit (ό άνθρωπος τχ\ς ανομία?) offenbart werden" (2 3). Wer von wem oder was abfallen wird, darüber sagt Paulus nichts. Den 'Menschen der Bosheit' beschreibt er dagegen näher: "Er ist der Widersacher (ό αντικείμ ενο?), der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott."(2 4). Es wird ein Mensch sein, der sich in radikalster Weise gegen Gott wendet, und der auch nicht davor zurückschreckt, sich selbst als Gott anbeten zu lassen. Er wird "in der Macht des Satans auftreten mit grosser Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern"(2 7) und so all die verführen und schließlich ins Verderben stürzen, die "die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben"(2 10). Dann erst wird der Herr kommen und den Widersacher' "mit dem Hauch seines Mundes" töten (2 8).

7

Vgl. Trilling 1980, 27.

I. Der zweite Brief an die Thessalonicher

13

Hat diese Ereignisreihe bereits begonnen? Nein, denn noch hält etwas oder jemand den großen Widersacher auf. Damit sind wir bei der eigentlichen Problemstelle, den Versen 6 und 7, angelangt. Der griechische Originaltext lautet: V.6: και νυν το κατέχον οιδατ€ elç το άττοκαλυφθήναι αυτόν cv τω ζαυτου καιρώ. V.7: το γαρ μ υστήριον ήδη cvepycÎTai της· ανομ ία?· μ όνον ό κατέχων αρτι €ως· £κ μ€σου γένηται.

Die revidierte Luther-Bibel (1984) übersetzt: V.6: Und ihr wißt, was ihn [jetzt] noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. V.7: Denn es regt sich schon das Geheimnis der Bosheit [genauer: Gesetzlosigkeit]; nur muß der, der es jetzt noch aufhält, weggetan werden.

Der 'Widersacher' (V.4) wird kommen "zu seiner Zeit", im richtigen Kairos. In der gegenwärtigen Zeit wird er jedoch noch an seinem Erscheinen gehindert durch das Aufhaltende, das Katechon. Das 'Geheimnis der Gesetzlosigkeit' ist bereits in der Gegenwart zu spüren. Aber es bleibt im Verborgenen solange, bis der Aufhalter, der Katechon, der sich seinem Wirken - offensichtlich ziemlich erfolgreich - entgegenstellt, verschwunden ist. Wörtlich übersetzt muß der Katechon 'aus der Mitte werden' (cic μ έσου γένηται, lat. de medio fiat). Zumeist wird diese Stelle aktivisch verstanden, d.h. jemand oder etwas macht, daß der Katechon verschwindet. In dieser Art übersetzen neben Luther auch die kath. Einheitsübersetzung ("muß ... beseitigt werden"), J.Kürzinger ("muß ... weggeräumt werden"). Neutraler, und damit wohl auch näher am griechischen Text, übersetzen die reformierte Zürcherbibel ("... weggeschafft ist"), M. Dibelius ("... beseitigt ist")8, O. Cullmann ("... verschwunden ist")9, W. Trilling ("... entfernt ist") 10 . Die erste Variante läßt die Deutung zu, daß das oder der Katechon durch aktives Handeln der Gläubigen, eventuell gar mit Gewalt, beseitigt werden könnte, die zweite Variante faßt sein Verschwinden mehr als ein Erleiden auf, als etwas, das einfach einmal geschehen wird, ohne daß jemand sagen könnte wann und wie.

8

Dibelius 1937,46.

9

Cullmann 1966,307.

10

Trilling 1980,69 .

14

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

IL Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament 1. Die Evangelien Die klassische Stelle zum Verständnis von Jesu Einstellung der Obrigkeit gegenüber findet sich in Mk 12 13-17 par, in dem 'Streitgespräch' über die Steuer: V.13: Und sie sandten zu ihm einige von den Pharisäern und von den Anhängern des Herodes, daß sie ihn fingen in Worten. V.14: Und sie kamen und sprachen zu ihm: Meister, wir wissen, daß du wahrhaftig bist und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen, sondern du lehrst den Weg Gottes recht. Ist's recht, daß man dem Kaiser Steuern zahlt oder nicht? Sollen wir sie zahlen oder nicht zahlen? V.15: Er aber merkte ihre Heuchelei und sprach zu ihnen: Was versucht ihr mich? Bringt mir einen Silbergroschen, daß ich ihn sehe! V.16: Und sie brachten einen. Da sprach er: Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers. V.17: Da sprach Jesus zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Und sie wunderten sich über ihn.1

Auffällig ist zuerst einmal der Umstand, daß zu Jesus nicht nur Pharisäer, sondern auch Anhänger des Herodes geschickt wurden. Sieht man sich diese beiden Gruppen genauer an, so ist ihre Allianz im höchsten Maße verwunderlich. Die Pharisäer waren die Frommen im Lande.2 Zumeist Laien, bemühten sie sich um die Heiligung des Alltags auch des einfachen, d.h. nicht dem Priesterstand angehörenden Juden. Heil ist gleichbedeutend mit Gottwohlgefälligkeit, und Gott gefallen kann man nur, wenn man seinen Willen erfüllt. Die genaue und strikte Befolgung des Gesetzes ist der einzige Weg zum Heil in dieser wie auch in der jenseitigen Welt. Deshalb widmeten sich die Pharisäer - wie Josephus schreibt - "mit besonderer Sorgfalt der Gesetzesauslegung"3. Aus diesem Glauben erklärt sich die pedantisch erscheinende Gesetzestreue, die im Neuen Testament so häufig kritisiert wird. Umgekehrt mußte die freie Art, mit der Jesus und seine Anhänger mit dem Gesetz umgingen, natürlich die entschiedene Mißbilligung dieser Kreise finden. Die intensive Beschäftigung mit dem Gesetz weckte das Bewußtsein, daß daeigentliche Herrscher Israels Gott bzw. der von ihm eingesetzte jüdische Herrscher ist. Diese theokratische Überzeugung brachte die Pharisäer - zumindest theoretisch - in Opposition zur römischen Besatzungsmacht. De facto machte allerdings nur eine kleine Gruppe vom äußersten linken Rand des Pharisäismus, die Zeloten, ernst mit dem Widerstand. Sie ging in den Untergrund bzw. in die

1

Es wird, wenn nicht anders vermerkt, nach der revidierten Luther-Übersetzung zitiert.

2

Vgl. zum Folgenden: Reicke 1982, 160ff.

^ de bell. jud. 8, 14.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

15

Wüste und machte mit Überfällen auf Garnisonen, Ermordung von Kollaborateuren und ähnlichen Untaten den Römern jahrzehntelang das Leben schwer, bis sie schließlich im ersten jüdischen Krieg besiegt und aus dem Land vertrieben wurde. Die überwiegende Mehrheit der Pharisäer gab sich jedoch mit der weitgehenden Toleranz, die Rom in religiösen Fragen pflegte, zufrieden und verhielt sich politisch indifferent. Die Anhänger des Herodes waren dagegen eindeutig Partei.4 Sie waren Kollaborateure, die weniger die Angst vor dem Zorn Gottes als die Sorge um die Gunst Roms umtrieb. Ohne diese Gunst konnte sich ihr Herr, Herodes Antipas, der Tetrarch von Galiläa-Peräa, nicht auf seinem Thron halten. Dazu kam, daß sich eine Volksbewegung, wie friedlich sie sich auch immer gibt, schlecht verträgt mit der immer lauernden Urangst des Tyrannen vor der Revolte. Entsprechend der Devise, 'der Feind meines Feindes ist mein Freund', schlossen sich die eher römerfeindlichen Pharisäer und die römerfreundlichen Anhänger des Herodes, obwohl eigentlich Gegner, gegen Jesus zusammen, "daß sie ihn fingen in Worten". Das Problem der Steuer war geschickt gewählt: "Abgesehen von der generellen Unpopularität von Steuern und einem weitverbreiteten Unwillen gegenüber den rabiaten Steuereintreibungsmethoden und der wirtschaftlichen Ausplünderung des Landes wurde zumal die Kopfsteuer (tributum capitis) als bedrückende Erinnerung an die Abhängigkeit vom römischen Staat empfunden."5 Die Falle schien perfekt. Die Frage war geeignet, Jesus in jedem Fall zu kompromittieren: eine bejahende Antwort hätte ihn als Kollaborateur erscheinen lassen und seinem Ansehen im Volk nachhaltig geschadet; eine negative Antwort wäre in den Augen der römischen Obrigkeit der Beweis für seine zelotische Gesinnung gewesen und deshalb einem Todesurteil gleichgekommen. Tertium non datur. Und wie reagiert Jesus? Er läßt sich eine römische Münze, einen Denar geben. Die im Land geprägten Münzen waren - aus Rücksicht auf das jüdische Bilderverbot - ohne Herrscherportrait. Daneben zirkulierten importierte Münzen mit dem Kaiserbild.6 Die gereichte Münze war offensichtlich eine mit Herrscherbild. Vermutlich handelte es sich um einen der weit verbreiteten Silberdenare des Tiberius. Die Vorderseite dieser Münze zeigt das Brustbild des Kaisers, geschmückt mit dem Lorbeerkranz, der seine göttliche Würde bezeichnet, die Rückseite die Kaiserinmutter, auf einem Götterthron sitzend als Verkörperung der himmlischen Pax. Die Münzlegende lautete: "Kaiser Tiberius, anbetungs-

4

Vgl. zum Folgenden: Reicke 1982, 129f.

5

Schräge 1971, 32f.

6

Vgl. Reicke 1982, 142.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

16

würdiger Sohn des anbetungswürdigen Gottes."7 Einem auch nur einigermaßen frommen Juden mußte diese Münze ein besonderer Stein des Anstoßes sein. Trotzdem trug einer der Fragenden einen solchen Dinar bei sich. Da nicht mehr zwischen Herodianer, denen ein solches noch am ehesten zuzutrauen wäre, und Pharisäern unterschieden wird, wird damit die ganze Gruppe der Fragenden gekennzeichnet: Die Frage Jesu, wessen Bild die Münze zeigt, "bewies ihnen und allen Umstehenden, daß sie im Grunde ja die Herrschaft des Kaisers anerkannten und ihm daher zur Steuerzahlung verpflichtet waren"8, mithin ihre Frage eigentlich nur als rhethorisch bzw. böswillig aufgefaßt werden kann. Aber Jesus läßt es nicht mit der Bloßstellung seiner Gegner bewenden. Seine eigentliche Antwort besteht aus zwei, parallel aufgebauten Teilen. Der erste Teil, "gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist", antwortet, mit Bezug auf den Silberdinar, direkt auf die Frage: sollen wir Steuern zahlen oder nicht? Offensichtlich befürwortet Jesus die Bezahlung der Steuern. Die allgemeine Fassung des Wortes läßt darüber hinaus den Schluß zu, daß dem Kaiser nicht nur die Steuern, sondern alles, was ihm zukommt, zu geben ist. Was damit gemeint ist, folgt aus dem zweiten Teil des Logions: "und Gott, was Gottes ist". Die Übergeordnetheit des zweiten vor dem ersten Teil ergibt sich schon aus V.14, wo danach gefragt wird, ob die Bezahlung der Steuern von Gott erlaubt wird. Der Bereich des Kaisers erhält seine Grenzen von Gott her, und nicht umgekehrt. In Parallele zu V.16 kann man auch sagen: ebenso wie der Dinar als Abbild des Kaisers dem Kaiser gehört, so gehört der ganze Mensch als Abbild Gottes Gott. Was die Obrigkeit legitimerweise fordern darf und was nicht, hängt davon ab, was Gott vom Menschen fordert. Entsprechend läßt sich auch nicht - sofern man nicht einem starren Gesetzespositivismus, so wie ihn das Neue Testament den Pharisäern vorwirft, folgt - ein detaillierter und zeitloser "Positiv- oder Negativkatalog möglicher Pflichten gegenüber dem Kaiser"9 erstellen. Die Antwort Jesu ist oft mißdeutet worden. Manche Interpreten lasen aus ihr eine Gleichgewichtigkeit des Gehorsams gegenüber Gott und dem Kaiser heraus oder meinten gar mit der Erfüllung der Ansprüche des Kaisers sei auch Gott genüge getan.10 Wie wir gesehen haben, kann davon keine Rede sein. Allerdings darf man bei aller Kritik an der Absolutsetzung des Staates nicht übersehen, daß Jesus den Kaiser durchaus anerkannte. Damit wandte er sich eindeutig gegen theokratische oder nationalistische Vorstellungen. Eine solche Ab-

7

Zitiert nach Schräge 1971, 34.

8

Hengel 1976, 199.

9

Schräge 1971, 36.

10

Vgl. z.B. Hirsch 1951, 131; Stauffer 1960, 143.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

17

grenzung war umso notwendiger, als Jesus offensichtlich gerade auf Zeloten eine besondere Anziehungskraft ausübte. Folgt man Cullmann, so waren möglicherweise fast die Hälfte seiner Jünger Anhänger dieser militanten Bewegung.11 Auch die Anrede in V.14, die die Wahrheitsliebe, Furchtlosigkeit und seinen absoluten Gehorsam gegen Gottes Willen betont, legt nahe, daß die Fragenden in Jesus einen 'Eiferer' vermuteten.12 Schließlich wurde er sogar als Zelot verurteilt und gekreuzigt.13 Damit wurde seine Botschaft jedoch entschieden mißverstanden. Auch wenn sich Jesus wiederholt als Menschensohn bezeichnete14 und damit vermutlich ein messianisches Selbstbewußtsein verband, so sah er sich doch nicht als politischer Messias, als "nationaler, siegreicher Heerführer, der alle heidnischen Völker unterwirft und über die Welt herrscht" 15. Im Gegenteil: "der Menschensohn [ist] nicht gekommen ..., daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele."(Mt 20 28). Das Reich Gottes, das Jesus zu verkünden hatte, war und ist nicht durch politisch-militärische Gewalt herbeizuzwingen16; es hat nichts zu tun mit den zelotischen Träumen eines neuen, endgültigen Weltreiches, in dem statt Rom Jerusalem das Zentrum bildet und an Stelle der Römer die Israeliten die Herren sind. Möglicherweise zielt das schwierige Logion Mt 11 12 auf dieses falsche Verständnis: "Aber von den Tagen Johannes des Täufers bis heute leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich." Das Reich Gottes wird von ganz anderer Art sei. Auf die Frage der Pharisäer: Wann wird es kommen? antwortet Jesus: "Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man's beobachten kann,/ man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Das ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch."(Lk 17 20-21). Damit ist etwas Entscheidendes gesagt: Die Gottesherrschaft ist bereits angebrochen. Für das Verständnis seiner jüdischen Umgebung hatte die Aufrichtung der Endherrschaft Gottes und Israels die Beseitigung der irdischen Weltmächte zur Voraussetzung17, d.h. entweder die Römer oder das Reich Gottes, ein Zusammenbestehen, eine Koexistenz auch nur für eine gewisse Zeit war undenkbar. Für Jesus jedoch war der Anbruch der Herrschaft Gottes innerhalb der gegenwärtigen Machtstrukturen nicht nur denkbar, sondern bereits Realität. Erfahrbar wurde diese Realität in den Heilungen: "Wenn ich aber durch Gottes Finger die 11

Vgl. Cullmann 1956, llf.; dagegen Hengel 1976, 49 Anm.3, 55ff.

12

Vgl. Hengel 1976, 199.

13

Vgl. dazu Cullmann 1956, 16ff.; Hengel 1976, 347.

14

Z.B. in Mt 8 20.

15

Cullmann 1956, 16.

16

Vgl. Hengel 1976, 97.

17

Vgl. ebd., 96.

2 Grossheutschi

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

18

bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen"(Lk 11 20), aber auch in den Seligpreisungen, in der Zusage, daß Gott trösten und heilen wird. "Demnach ist das Kommen des Reiches hier primär theozentrisch als persönliches Handeln Gottes am Menschen gesehen. Das Reich kommt zentral in der Weise, daß Gott dem Menschen begegnet und ihn in seine Gemeinschaft hineinnimmt. Es bricht dort an, wo Gott die Trauer und das Hungern überwindet, letztlich barmherzig den Menschen als Kind annimmt."18 Aber neben diesen Stellen, die das bereits angebrochene Reich Gottes verkünden, enthalten die Evanglien auch einige - wenn auch nicht so zahlreiche - Stellen, die von dem noch ausstehenden Himmelreich sprechen.19 Wie die alltägliche Erfahrung zeigt, ist das verheißene Reich, wo aus Schwertern Pflugscharen und aus Spiesen Sicheln werden 20 und wo "die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern"(Jes 11 6) noch keineswegs gekommen. In verschiedenen Gleichnissen versuchte Jesus seinen Jüngern dieses 'schon' und 'noch nicht' verständlich zu machen (z.B. mit dem Gleichnis vom Senfkorn): Einerseits ist das Reich Gottes schon angebrochen, andererseit steht seine Vollendung noch aus. Und auch für die Vollendung der Herrrschaft Gottes gilt: sie bedarf keiner militärischen Unterstützung. "Das Reich Gottes kommt 'von selbst', als Gottes große Wundertat." 21 Was ergibt sich nun aus alledem? Zum einen: Jesus war kein Kollaborateur im Sinne der Anhänger des Herodes. Nicht die Obrigkeit hat in dieser Welt das letzte Wort, sondern Gott. Von ihm her bestimmen sich die Grenzen kaiserlicher Macht. Zum anderen: Jesus war auch kein Zelot. "Gewiß soll das Reich Gottes für uns unendlich mehr sein als der Staat, aber es ist falsch, den Staat mit Gewalt zu bekämpfen, um das Gottesreich aufzurichten." 22 In dieser Zeit zwischen Anbruch und Vollendung des Reiches Gottes hat die Obrigkeit als Ordnungsmacht durchaus ihre Berechtigung - sofern sie sich innerhalb ihrer Grenzen hält. Deshalb ist die Bezahlung der Steuer nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Letztendlich war das Interesse Jesu am Staat wohl eher gering. Da er nicht als Politiker auftrat, weder die nationale Wiedergeburt noch irgendwelche Sozialprogramme zu verkünden hatte, hätte es von seiner Seite her zu keinerlei Konflikten mit einer - sich in ihren Grenzen haltenden - Obrigkeit kommen müssen. Daß es dennoch dazu gekommen ist, lag weniger an Jesu Botschaft, als vielmehr an

18

Goppelt 1991, 119.

19

Z.B. Mt 4 17 par.

20

Vgl. Jes 2 4.

21

Zahrnt 1987, 83.

22

Cullmann 1956, 14.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

19

der fehlenden Bereitschaft (vielleicht auch Unmöglichkeit), sie richtig zu verstehen.23

2.

Paulus

a) Römer 13 Die Einstellung des Paulus gegenüber der Obrigkeit wurde und wird zumeist nach Römer 13 1-7 bestimmt: V.l: Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. V.2.: Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. V.3: Denn vor denen, die Gewalt haben, muß man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. V.4: Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. V.5: Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein, um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. V.6: Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. V.7: So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.24 I m Vergleich zu der differenzierenden Aussage Jesu wirkt die offensichtlich rein positive Sicht des Paulus zumindest irritierend. Wird dort der Obrigkeit der Anspruch Gottes entgegengesetzt und diese dadurch relativiert, so scheint hier nichts Vergleichbares zu geschehen. I m Gegenteil: die Obrigkeit wird 'Gottes Dienerin' genannt, mithin ist ihr Urteil über Gut und Böse als göttliches Urteil anzusehen - mit der entsprechenden Unfehlbarkeit ausgezeichnet. In Vers 6 spricht Paulus, ebenso wie Jesus, von der Steuer; allerdings wird hier nicht die Frage nach ihrer Zulässigkeit gestellt, sondern umgekehrt wird von der Tatsache der Steuerzahlung auf die Legitimität der Obrigkeit geschlossen.

23 24

Vgl. ebd., 38.

Es ist umstritten, ob diese Passage wirklich von Paulus stammt oder ob sie nicht vielmehr als Interpolation eines späteren Redaktors zu sehen ist. Für letzteres sprechen etwa die abrupten Übergänge zwischen den vorhergehenden und den nachfolgenden Versen, die sie als Fremdkörper erscheinen lassen. Wie dem auch sei - da es uns hier nicht um die authentische Meinung des historischen Paulus geht, sondern um das, was sich aus den unter seinem Namen im Rahmen des NT überlieferten Briefen entnehmen läßt, braucht diese Frage hier nicht erörtert zu werden. Vgl. Schmithals 1988, 459. 2*

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

20

Angesichts der Erfahrungen unseres Jahrhunderts kann einen das Entsetzen ankommen ob dieses biblischen Freibriefes für alle staatlichen Greueltaten. So blind, so realitätsfremd konnte Paulus doch nicht gewesen sein. Immerhin war er ein weitgereister Mann, kannte weite Teile der damaligen Welt und war mehr als einmal obrigkeitlicher Willkür begegnet.25 Daß die Dinge in der Tat so einfach nicht liegen, darauf verweist l.Kor. 2 8, wo Paulus über die Weisheit Gottes spricht, "die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt." Zumindest einmal hat sich die Obrigkeit geirrt: als sie Jesus, den Sohn Gottes, verurteilte. Man kann einwenden, daß sie auch darin im Dienste Gottes stand, denn: was wäre mit der erlösungsbedürftigen Welt geschehen, wenn Pilatus Jesus als harmlosen religiösen Schwärmer seiner Wege hätte ziehen lassen? Andererseits bleibt die Tatsache, daß die Obrigkeit einen Unschuldigen hinrichten ließ, daß sie gefehlt hat. Ganz so unkritisch gegenüber der Obrigkeit war Paulus also doch nicht. Die Korintherstelle wirft ein neues Licht auf Römer 13. Achtet man nur auf den zweiten Teil von V.lb: "wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet", so scheint der Schluß zwingend, daß jede Obrigkeit, also auch die Herrschaft Caligulas, Neros oder - in unserem Jahrhundert - Hitlers und Stalins, von Gott stammt. Dem Christen bliebe in diesem Fall nur das Sich- Schicken ins Unvermeidliche übrig, der Glaube, alles was geschieht, so schrecklich es auch erscheint, sei gerecht und gut. Nun lautet aber der erste Teil von V.lb: "Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott". Auf den ersten Blick scheint in diesem Vers zweimal das selbe gesagt zu werden - zuerst negativ, dann positiv gefaßt. Schaut man jedoch genauer hin, so zeigt sich, daß der erste Teil dem zweiten einen Bedeutungshintergrund gibt, den dieser allein nicht hat, d.h. der erste Teil bestimmt, was eine wirkliche Obrigkeit ist, nämlich eine, die von Gott kommt, die dem Willen Gottes entspricht. In 12 2 nennt Paulus als Gottes Willen "das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene"(V.2), und in 13 10 bezeichnet er die Liebe als die Erfüllung des Gesetzes. Offensichtlich konnte Paulus nicht gemeint haben, die von den Herrschern so oft begangenen Greuel entsprächen dem Willen Gottes. Im weiteren sagt Paulus, daß die Obrigkeit die bösen Werke ahnde und die guten Werke lobe (V.3). Wer entscheidet über gut und böse? Etwa die Obrigkeit aus eigener Machtvollkommenheit? Wenn dem so wäre, so hätten Christen, die sich den Forderungen des römischen Staatskultes widersetzten und mithin Gott mehr gehorchten als den Menschen26, gegen Gott gesündigt - ein in sich widersprüchlicher Gedanke. Angesichts des Dilemmas, in das Christen so nur allzu

25

Vgl. z.B Apg 16 20ff.

26

Vgl. Apg 5 29.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

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leicht kommen würden, wäre der Rat in V.3a: "Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes" von zumindest fragwürdigem Wert. Einer solchen Sicht der Dinge widerspricht auch V.4, wo die Obrigkeit als "Dienerin Gottes" bezeichnet wird, mit dem Zusatz "dir zugut". Als Gottes Dienerin hat sie ihre Maßstäbe nicht aus sich selbst, sondern von Gott 27 , und deshalb können Christen mit solchen Maßstäben auch leben. Römer 13 kann aus diesen Gründen kaum als Rechtfertigung obrigkeitlicher Willkür dienen. Sehr viel plausibler scheint die Vermutung, Paulus wollte der Gemeinde in Rom aufzeigen, unter welchen Bedingungen sie die Obrigkeit anerkennen konnte, ja, mußte. Folglich hat man zu lesen: wenn die Obrigkeit das Gute lobt und das Böse bestraft, wenn sie sich an die Anordnungen Gottes hält, dann ist es Gewissenspflicht eines jeden Christen, ihr zu gehorchen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß Paulus eine christliche Obrigkeit im Auge hatte: "Dazu war die Schar der Christen zu klein und zu ohnmächtig ...; dazu rechnete man auch viel zu wenig mit einem langen Bestand dieser Welt und ihrer Herrschaften; dazu empfand man schließlich viel zu stark die andere Qualität der Herrschaft Gottes."28 Letzteres geht auch aus dem Kontext hervor, in den unsere Passage gestellt ist. In Kap. 12 wird die Gemeinde ermahnt, niemandem Böses mit Bösem zu vergelten (V.17a), die Rache Gott zu überlassen (V.19) und im übrigen das Böse mit Gutem zu überwinden(V.21); in 13 8 fährt Paulus fort:"Seid niemandem etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt". Offensichtlich stehen diese Ermahnungen im Gegensatz zu dem, was von der Obrigkeit erwartet wird, die nicht mit Liebe, sondern mit dem Schwert regieren soll. Aus diesem Grunde ist eine christliche Obrigkeit im Grunde genommen ein Widerspruch in sich. Noch Tertullian argumentiert in diesem Sinne: "Alle diese Christus betreffenden Ereignisse meldete Pilatus dem damaligen Kaiser Tiberius, in seinem Gewissen selbst schon ein Christ. Aber auch die Kaiser hätten an Christus geglaubt, wenn nicht die Kaiser nötig wären für diese Welt bzw. wenn Kaiser zugleich Christen sein könnten."29 Aber kann eine Obrigkeit nicht-christlich und dennoch Gottes Dienerin sein? Die Antwort findet sich in den ersten zwei Kapiteln des Römerbriefes. Paulus vertritt hier eine Ansicht, die evangelischer Theologie von jeher Schwierigkeiten bereitet hat 30 : die Möglichkeit einer 'natürlichen' Theologie und einer

27

Vgl. Wilckensl982, 35.

28

Schmithals 1988,470.

29

Apol. 21 24.

30

Vgl. Meinhold 1960,41.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

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"natürlichen Sittlichkeitserkenntnis"31. Der locus classicus für letztere ist 2 14.15: V.14: Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. V.15: Sie beweisen damit, daß in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert, zumal ihr Gewissen es ihnen bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen.

Paulus gesteht den Heiden ein natürliches Wissen vom Gesetz, d.h. vom Willen Gottes zu. Obwohl die Schöpfung durch den Sündenfall verdunkelt worden ist, blieb das Wissen um die von Gott gewollte Ordnung in das Herz aller Menschen eingeschrieben. Die katholische Lehre unterscheidet entsprechend "zwischen dem Gesetz der Natur und dem in den Heiligen Schriften enthaltenen Gesetz", wobei beides göttliches Recht ist; "aber in jener Gegenüberstellung bedeutet das göttliche Gesetz positives göttliches Recht, wogegen das Gesetz der Natur unabhängig von einer positiven, geschichtlichen Dazwischenkunft Gottes besteht"32. Deshalb ist es der heidnischen Obrigkeit möglich, den Willen Gottes zu erkennen und als seine 'Dienerin1 zu handeln, d.h., "das Recht des Menschen vor dem Zugriff des anderen Menschen [zu] schützen"33, und deshalb kann sie auch Gehorsam verlangen sowohl von den Christen wie von den Nicht-Christen. Auf Letzteres weist auch der Wechsel von der 2. zur 3. Person zu Beginn von 13 1 hin. Paulus meint hier nicht mehr nur, wie in den vorhergehenden und in den nachfolgenden34 Kapiteln, seine Brüder und Schwestern in Christo, sondern 'jedermann' (gr. πάσα ψσυχή; lat. omnis anima), ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit. Aber was ist nun davon zu halten, wenn Paulus den Korinthern rät 35 , bei Streitigkeiten nicht vor die obrigkeitlichen Gerichte zu gehen? Ist damit nicht ein Widerspruch gegeben zu den oben besprochenen Stellen? Nicht unbedingt. Die Ermahnungen des Apostels richteten sich an Christen, die wissen, daß die obrigkeitliche Gerechtigkeit nicht die letzte und höchste Instanz bildet, daß sie nur vorläufige und nicht endgültige, nur vorletzte und nicht letzte Gerechtigkeit ist. Die endgültige und letzte Gerechtigkeit ist bereits angebrochen in Christi Leben und Tod. Allerdings steht die Vollendung noch aus, so daß ein Nebeneinander zwischen altem und neuem, vergehendem und kommendem Aeon besteht. In dieser Situation hat die Obrigkeit als Vertreterin der alten Ordnung durchaus

31

Fuchs 1955,25.

32

Ebd., 17; vgl. Dempf 1962, 78ff.

33

Meinhold 1960, 39.

34

Von 13 8 an.

35

Vgl. l.Kor 6 ff.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

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noch ihre Existenzberechtigung, und die Christen, die Vertreter der neuen Ordnung, sind gehalten, ihr zu gehorchen, und zwar "nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen"(Röm 13 5). Aber die eigentliche Aufgabe der Christen ist es, Zeugnis von der endgültigen göttlichen Gerechtigkeit zu geben.36 Von daher gesehen ist die Obrigkeit 'ungerecht', weil sie das 'Schwert trägt', d.h. zur Durchsetzung ihrer Ordnung Gewalt anwendet - notwendigerweise, da in diesem Aeon allein mit der Liebe sich das Chaos nicht verhindern läßt. Deshalb geht es für Paulus nicht an, daß Christen, die sich eigentlich gegenseitig in besonderer Liebe zugetan sein sollten, bei einem Streit ihr "Recht ... suchen vor den Ungerechten und nicht vor den Heiligen" (l.Kor 6 1) und damit wieder zurückfallen in das vorläufige Recht des alten Aeons. Der Christ hat - wie jeder Untertan bzw. Bürger - dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, "Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt."(13 7). Aber "überall da, wo ... [er] den Staat übergehen kann, ohne ihn damit in seiner Existenz zu bedrohen, soll er dies tun" 37 . Damit relativiert Paulus die Obrigkeit in radikaler Weise, er nimmt ihr jede Wichtigkeit, jede wirkliche Bedeutung. Versteht man Paulus in diesem Sinne, so verschwindet der Widerspruch zwischen Mk 12 13ff. und Rom 13 Iff. Hier wie dort geht es darum, die Obrigkeit weder zu verteufeln noch zu vergöttlichen, sondern in ihrem richtigen Maß zu erkennen. Wenn Paulus v.a. die positiven Aspekte hervorhebt, so liegt das möglicherweise an den Adressaten: "Wir dürfen nicht vergessen, daß die Leser sich gerade in der Hauptstadt des römischen Imperiums befinden und daß gerade unter den dortigen Christen eine staatsfeindliche Stimmung aufkommen konnte, die derjenigen der jüdischen Zeloten ähnlich war." 38 Es ist denkbar, daß die Mahnung veranlaßt ist durch die heftige Erregung über die drückenden Steuerlasten, die in jenen Jahren nachweislich die Bevölkerung Roms erfaßt und im Jahre 58 zu einer Protestaktion vor Nero geführt haben.39 Eine solche Vermutung bleibt jedoch zugegebenermaßen reine Spekulation, da entsprechende Anhaltspunkte im Text fehlen.

36

Vgl. Rom 12.

37

Cullmann 1956,44.

38

Ebd., 42.

39

Vgl. Wilckens 1982, 34.

24

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

b) Paulus und der Katechon "Ihr wißt, was ihn noch aufhält, bis er offenbar wird zu seiner Zeit". Leider wissen wir es nicht. Anscheinend waren Paulus und die Thessalonicher die einzigen, die die Identität des Aufhalters kannten. Aus irgendwelchen Gründen hielten sie es entweder nicht für nötig oder nicht für ratsam, dieses Wissen der Nachwelt zu überliefern. Deshalb waren schon die frühen Kirchenväter auf Vermutungen angewiesen, und auch modernste exegetische Methoden bringen uns der Lösung des Rätsels kaum einen Schritt näher. In den letzten zweitausend Jahren wurde wohl so ziemlich jede auch nur im entferntesten denkbare Deutung vorgeschlagen. Es ist hier nicht der Ort, all diese Versuche aufzuführen. Die folgende kurze, mehr oder weniger wahllose Aufzählung möchte denn auch nur einen Eindruck geben von den Möglichkeiten, die in dieser Frage stecken. Der Glaube als Katechon findet sich bei dem Reichenauer Abt Walafried Strabo (gest. 849) neben anderen Deutungen aufgeführt: "vel qui fidem tenet, teneat, donee ipsa refrigescat." 40 Solange der allgemeine Glaube stark und fest ist, hat der Böse keine Möglichkeit, seine Herrschaft aufzurichten; erst wenn der Glaube erlahmt, wird der Antichrist kommen können. Im 5. Jahrhundert vertraten Theodorus von Mopsvestia (gest.428) und Theodoret von Cyrus (gest. um 466) die Ansicht, Paulus meinte mit το κατέχον den Ratschluß Gottes, die Offenbarung des Antichrist solange zurückzuhalten, bis überall auf Erden das Evangelium verkündet sei, mit ό κατέχων dementsprechend Gott selbst.41 Diese Deutung hat allerdings mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß damit Gott "weggetan werden" muß, bevor der Antichrist kommen kann - gerade für einen griechischen Theologen ein höchst unsinniger Gedanke. Eine ähnliche Meinung vertrat Nicolaus Hemming (gest. 1608). Für ihn ist mit dem Katechon in V.6 die noch ausstehende weltweite Verkündigung des Evangeliums gemeint. Sobald alle Menschen das Wort Gottes gehört haben, wird die Endzeit hereinbrechen. V.7 sieht er als Parenthese: der Apostel unterbricht sich tröstend: 'im Geheimen wirkt schon jetzt das Antichristentum, aber dieser gegenwärtige Machthaber soll (von Christus) beseitigt werden'. 42 Völlig aus dem Rahmen des Üblichen fällt die Deutung, die Nic.Friedr. Freese vorschlägt.43 Seiner Meinung nach ist unter dem Aufhaltenden in V.6 die Nichterfüllung der beiden in V.3 prophezeiten Ereignisse - der Abfall und das 40

Glossa ordinaria, zitiert nach Bornemann 1894, 567.

41

Vgl. Bornemann 1894, 404.

42

Vgl. ebd., 581.

43

Vgl. Freese 1920/21, 73-77.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

25

Offenbarwerden des Menschen der Gesetzlosigkeit - zu verstehen. Da das Ausbleiben des Antichristen nicht das Ausbleiben des Antichristen erklärt, ändert Freese den Gegenstand der Hemmung: nicht das Kommen des Antichristen, sondern die Parusie Christi wird verzögert. In V.7 wird der Katechon als der 'Mensch der Bosheit' gedeutet, der das Offenbarwerden des 'Geheimnisses der Bosheit' aufhält. Da der Vollzug der Parusie das Offenbarwerden des Geheimnisses der Bosheit erfordert, halten beide Katechonten dasselbe auf. Diese Deutung ist zwar originell, aber auch ein ziemlicher Unsinn. Freese muß denn auch die unwahrscheinlichsten Bezüge innerhalb des Briefes konstruieren, um zu seinem Ergebnis zu kommen. Für uns von besonderem Interesse ist die über die Jahrhunderte mit Abstand am meisten vertretene Deutung: die Existenz des römischen Reiches hält das Erscheinen des Antichristen auf. Wir werden später verfolgen, wie es zu dieser Sicht der Dinge kam. Hier geht es um die Frage, ob Paulus tatsächlich Rom gemeint haben kann. Natürlich wird hier nicht der Anspruch erhoben, das Rätsel zu lösen. Aber immerhin läßt sich etwas über die Wahrscheinlichkeit dieser Sicht der Dinge sagen. Rom als Katechon, das bedeutet: die Existenz einer weltlichen, einer irdischen Macht hält das Erscheinen des Antichristen, den Endkampf zwischen Gut und Böse und das 'kosmische' Geschehen der Parusie Christi auf. Damit ist das Schicksal der Welt aufs engste mit dem Schicksal des römischen Reiches verbunden, Rom wird zu einer eschatologischen Größe. Wie wir gesehen haben, verhält sich Paulus zur Obrigkeit zwar freundlich, aber betont distanziert. Für ihn ist sie nicht mehr als ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung solange der alte Aeon noch dauert. Eigentlich betrifft die Obrigkeit die Christen nicht mehr, sie ist gleichgültig geworden für diejenigen, die frei geworden sind von der Sünde.44 Es wäre schwer verständlich, wenn Paulus etwas im Grunde so Bedeutungslosem wie der Obrigkeit, dem römischen Reich, eine derart wichtige Rolle für das Schicksal der Welt zusprechen würde. Er hätte damit Rom gleichsam zu einem Bestandteil der christlichen Lehre gemacht, die Freiheit der Gläubigen gegenüber der Welt eingeschränkt. Das Obrigkeitsverständnis von Paulus spricht unseres Erachtens eindeutig gegen eine solche Deutung. Solange die Christen gegenüber der Obrigkeit eine derart pragmatische Haltung einnahmen, gleichweit entfernt von der Vergöttlichung wie von der Dämonisierung, bestand kein Grund, das Katechon auf Rom zu deuten. Erst als sie gezwungen durch die Zeitumstände - ihre neutrale Haltung aufgaben und zu werten begannen, wurde die eschatologische 'Aufladung' Roms möglich.

44

Vgl. Rom 6 18.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

26

3. Die Offenbarung des Johannes Einen völlig anderen Ton als der Römerbrief schlägt die Offenbarung an. Es ist hier nicht mehr die Rede von einer Obrigkeit, die die Guten schützt und die Bösen bestraft, die als Dienerin Gottes den Gehorsam auch der Christen fordern kann. In grellen Bildern des Schreckens wird die irdische Macht als unversöhnliche Feindin der Kirche, als Dienerin Satans, als Antichrist geschildert. Nichts ist mehr übrig geblieben von dem optimistischen Glauben des Paulus an eine friedliche Koexistenz von Obrigkeit und Kirche; an seine Stelle ist tiefster Pessimismus getreten. Die Gemeinschaft der Heiligen hat jetzt und in der nächsten Zukunft nur zu leiden, Versuchungen zu widerstehen und auf die baldige Ankunft des Herrn zu hoffen. Die 'Offenbarung' entstand in einer für die Christen schwierigen Zeit. Kaiser Domitian fühlte sich in seinen letzten Regierungsjahren von seiner Schutzgöttin Minerva berufen, für die Förderung römischer Tugend und Religion zu kämpfen. 45 Als erster Kaiser verlangte er zudem die göttliche Verehrung seiner Person schon zu Lebzeiten. Da die Christen einem solchen Gebot natürlich nicht folgen konnten, kam es zwischen 93 und 96 in Rom und vermutlich auch in den Provinzen Bithynien und Asien zu Verhaftungen und Hinrichtungen. Auch wenn von einer systematischen Verfolgung wohl nicht die Rede sein konnte46, mußten diese Ereignisse doch eine verstörende Wirkung auf die Gemeinden v.a. in den betroffenen Gebieten ausgeübt haben. Wohl hatte schon die neronische Verfolgung dreißig Jahre zuvor gezeigt, daß die Obrigkeit nicht notwendigerweise zur Koexistenz mit der Kirche bereit war; aber damals wurden die Christen nicht als religiöse Dissidenten, sondern als angebliche Brandstifter verurteilt, und die Verfolgung blieb auf Rom beschränkt.47 Jetzt war es ihr Glaube, der exklusive Monotheismus, der sie in gefährliche Opposition zur Obrigkeit brachte. Die Losung, "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist", wurde gegenstandslos in dem Moment, wo der Kaiser forderte, was ihm nicht zukommt. Aus dieser Situation heraus schrieb Johannes, "eine bedeutende, prophetische Gestalt und Autorität der kleinasiatischen Gemeinde"48, in der Verbannung auf der Insel Patmos seine Visionen nieder. Seine Schrift sollte die Widerstandskraft stärken und den Christen Halt und Mut geben. Für unser Thema von besonderem Interesse ist das 13. Kapitel der Offenbarung:

45

Vgl. Reicke 1982, 279.

4 6

Vgl. ebd., 293f.

47

Vgl. Reicke 1982, 249 ff.

48

Vgl. Neue Jerusalemer Bibel 1987, 1782.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

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V.l: Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Horner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. V.2: Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht. V.3: Und ich sah eines seiner Häupter, als wäre es tödlich verwundet, und seine tödliche Wunde wurde heil. Und die ganze Erde wunderte sich über das Tier, V.4: und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tier die Macht gab, und sie beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen?

Die Anknüpfung an Daniel ist offensichtlich. In dessen Traum steigen vier Tiere aus dem Meer: ein Löwe, ein Bär, ein Panther und ein nicht benanntes viertes Tier. Dieses wird geschildert als "furchtbar und schrecklich und sehr stark", mit großen, eisernen Zähnen: es "fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen" (7 7). Genaueres über seine Gestalt erfahren wir nicht. Gegen Endes des Traumes wird das vierte Tier gedeutet als das vierte Königreich, das alle anderen Länder "fressen, zertreten und zermalmen" (7 23) wird. Dieses Reich wird ein Weltreich sein, das alle anderen Reiche in sich enthält: das Reich des Löwen, des Bären und des Panthers. Johannes interessiert sich nur für dieses vierte Reich, das vierte Tier, das bei ihm zum ersten Tier wird. Ihm gibt der Drache die Herrschaft. Zum Zeichen seiner weltbeherrschenden Macht vereinigt es in seiner Gestalt die entscheidenden Merkmale der drei anderen Tiere: die geschmeidige Gestalt des Panthers, die mächtigen Tatzen des Bären und der schreckliche Rachen des Löwen. Auch die sieben Köpfe lassen sich so erklären: drei Köpfe stehen für drei Tiere, das dritte Tier besitzt bei Daniel vier Köpfe, zusammen macht das sieben Köpfe, d.h. auch hier zeigt sich, daß das vierte Tier alle anderen aufnimmt. 49 Das Tier hat bei Daniel zehn Horner, ebenso bei Johannes. Im Unterschied zur Offenbarung bleibt es im Traum Daniels allerdings nicht dabei: zwischen den zehn Hörnern wächst ein "anderes kleines Horn" (7 8) hervor, das hat "Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge". Die entsprechende Stelle bei Johannes lautet: V.5: Und es wurde ihm ein Maul gegeben, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ihm wurde Macht gegeben, es zu tun zweiundvierzig Monate lang. V.6: Und es tat sein Maul auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen und sein Haus und die im Himmel wohnen. V.7: Und ihm wurde Macht gegeben, zu kämpfen mit den Heiligen und sie zu überwinden; und ihm wurde Macht gegeben über alle Stämme und Völker und Sprachen und Nationen.

Die zehn Hörner werden bei Daniel gedeutet als "zehn Könige, die aus diesem Königreich hervorgehen werden" (7 24), das kleine Horn als der elfte König, danach ihnen kommen wird. Er wird "den Höchsten lästern und die Heiligen des

4 9

Vgl. Brütsch II 1970, 117.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

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Höchsten vernichten", er wird Festzeiten ändern und das Gesetz. Seine Macht wird dauern "eine Zeit 5 0 und zwei Zeiten und eine halbe Zeit" (7 25). Johannes übernimmt die zehn Horner und die Deutung als zehn Könige (17 12), das kleine Horn, den elften Herrscher jedoch nicht. So ergibt sich gegenüber Daniel eine Verschiebung: In dessen Traum ist es das Horn, das 'große Dinge' redet, das Gott lästert und gegen die Heiligen kämpft, dem die Macht dreieinhalb Jahre lang gegeben ist, und nicht das Tier. Johannes dagegen verzichtet auf diese Stufe und läßt das Tier selbst all diese Dinge tun. Dafür gibt er dem ersten Tier ein zweites Tier zu Seite, das nicht aus dem Meer stammt, sondern "aus der Erde" (13 I I ) 5 1 , versehen mit zwei Hörnern "wie ein Lamm" und das redet "wie ein Drache". Es dient dem ersten Tier wie ein Wesir seinem Sultan. Die Gründe für das Abweichen von der Vorlage werden deutlich, wenn wir uns Vers 4 der Offenbarung genauer ansehen: "und sie beteten den Drachen an, ... und sie beteten das Tier an...". Bei Daniel findet sich dergleichen nicht. Wohl lästert das Horn gegen Gott, wohl wütet es gegen die Heiligen, daß es sich aber anbeten läßt, davon ist nirgends die Rede. Johannes erwähnt die Anbetung dagegen noch in drei weiteren Versen des 13.Kapitels.52 Offensichtlich ist ihm dieser Aspekt der Tätigkeit des Tieres besonders wichtig. Wir sagten bereits, daß die Offenbarung zur Zeit Domitians entstand, und daß dieser Kaiser die Anbetung seiner Person bereits zu Lebzeiten verlangte. Johannes mußte diese Forderung als nicht mehr überbietbarer Greuel erscheinen. Er erinnerte sich vermutlich an die zweite Versuchung Jesu in der Wüste: "Und da* Teufel führte ihn hoch hinauf und zeigte ihm alle Reiche der Welt in einem Augenblick/ und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, wem ich will./ Wenn du mich nun anbetest, so soll sie ganz dein sein./ Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: 'Du sollst den Herrn deinen Gott anbeten und ihm allein dienen.'" (Lk 4 5-8) Es ist eine teuflische Forderung, jemand anderen anzubeten als den Herrn. Ein Reflex dieser Perikope findet sich vermutlich auch in der Doppelanbetung, Drache und Tier, d.h. die Anbetung des Tieres ist aufs engste verbunden mit der Anbetung des Drachen, des Satans. In der Offenbarung steht das erste Tier für Rom. Im 17. Kapitel wird dies offensichtlich, wenn die sieben Häupter als sieben Berge gedeutet werden (V.9). Es ist Rom, das all die Greuel begeht, das sich an die Stelle Gottes setzt und sich

50

Nach Dan. 4 13 ist hier unter 'Zeit' ein Jahr zu verstehen.

51

Vermutlich eine Anspielung auf den 'Behemot' aus Hiob 40 15-24. Das 'Tier aus dem Meer' würde in diesem Fall dem Leviathan' entsprechen (Hiob 40 25 - 4 1 26). 52

Vgl. 13 8.12.15.

II. Das Obrigkeitsverständnis im Neuen Testament

29

anbeten läßt, d.h. das römische Reich ist die antichristliche Macht - und nicht jemand oder etwas, der oder das noch kommen wird. Deshalb wird das 'kleine Horn' Daniels nicht übernommen. Johannes meint die Ereignisse seiner Gegenwart, die für ihn zur Endzeit geworden ist. Er schildert eine verkehrte Welt, wo Gott ohnmächtig und Satan, der "große Drache" (12 17), allmächtig zu sein scheint. Ebenso wie Gott-Vater seinen Sohn in die Welt sendet, so sendet der Drache das Tier, Rom, in die Welt, und wie Christus die Welt zum Vater, so soll das Tier die Welt zum Drachen bekehren. Das ganze Geschehen ist eine einzige Parodie auf Gottes Heilshandeln: die tödliche Wunde, die wieder heilt, ist unschwer als Nachäffung von Christi Tod und Auferstehung zu erkennen; das zweite Tier mit den beiden Hörnern, "wie ein Lamm", ist ebenfalls eine Anspielung auf Christus; der Ruf "Wer ist dem Tier gleich" erinnert an "Wer ist wie Jahwe" des Mosesliedes53; die Wundertaten, womit das zweite Tier die Menschen zur Anbetung des ersten Tieres zu verführen sucht (13 14), finden ihr Vorbild ebenfalls in den Evangelien. Und die Heiligen Gottes sind ohnmächtig, sie können dem Treiben des Tieres nicht Einhalt gebieten, denn "ihm wurde Macht gegeben, zu kämpfen mit den Heiligen und sie zu überwinden"(V.7). Unschwer konnten die ersten Leser darin ihre eigene Situation wiedererkennen, ihre Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts einer überwältigend erscheinenden feindlichen Macht. Aber Johannes tröstet: der Sieg des Tieres wird nicht von Dauer sein. Etwas später in der Vision wird Rom zu "das große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden", die trunken ist "von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu" (17 5.6). Über Babylon spricht schließlich ein gewaltiger Engel das Urteil, indem er einen Stein aufhebt, so groß wie ein Mühlstein, diesen ins Meer wirft und ruft: "So wird in einem Sturm niedergeworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden." (18 21) Auf den ersten Blick scheint kaum ein größerer Gegensatz denkbar als dazwischen Römer 13 und Offenbarung 13. Auf der einen Seite die scheinbar uneingeschränkt positive Einschätzung der Obrigkeit durch Paulus, auf der anderen Seite die ebenso uneingeschränkte Verdammung derselben durch Johannes. Aber wie bei Paulus gilt es auch hier dem ersten Eindruck zu mißtrauen. Es läßt sich zugegebenermaßen nicht leugnen, daß die Offenbarung kein gutes Haar an der Obrigkeit läßt. Die Frage lautet aber: warum ist das so? Handelt es sich um ein prinzipielles Problem, d.h. ist Johannes ein Anarchist? Ist für ihn Macht 'an sich böse'? Oder ist das Problem eine bestimmte Art der Machtausübung, der Machtmißbrauch? Wie wir gesehen haben, entstand die Offenbarung in einer Zeit, in der die Grenze zwischen Kaisergut und Gottesgut überschritten wurde. Anders als Paulus erfuhr Johannes die Obrigkeit nicht als in religiösen Fragen 53

2.Mose 15 11; vgl. Brütsch II 1970, 121.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

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weitgehend tolerant, sondern als unduldsam und anmaßend. Ein Kaiser, der religiöse Verehrung verlangte und diese nötigenfalls auch gewaltsam einforderte, konnte aus christlicher Sicht keinesfalls mehr ein Diener Gottes sein, sondern war offensichtlich ein Geschöpf des Satans. Wenn die Offenbarung von der Obrigkeit spricht, so spricht sie immer von dieser Obrigkeit, der pervertierten, satanischen Obrigkeit, von Rom. Die Obrigkeit im guten Sinne, d.h. diejenige, die sich innerhalb ihrer Grenzen hält, die als Dienerin Gottes die Guten lobt und die Bösen bestraft, kommt gar nicht ins Blickfeld; sie war uninteressant und belanglos schon deshalb, weil sie einer vergangenen Zeit angehörte. Seit ihrer Selbstvergöttlichung war die Obrigkeit, war Rom, für Johannes zu einer dämonischen Macht geworden, zu einer eschatologischen Größe: der Endkampf zwischen den Mächten des Bösen und Gott hatte begonnen.

ΙΠ. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon 1. Irenaus Die paulinische Sicht der Dinge wird von Irenäus von Lyon (gest. um 200) wieder aufgenommen. Im fünften Buch seiner Schrift adversus haereses schreibt er: "Da nämlich der von Gott abtrünnige Mensch so verwilderte, daß er selbst seinen Blutsverwandten als Feind betrachtete und in allerlei Unruhe und Menschenmord und Geiz ohne Scheu sich erging, so legte Gott ihm die Furcht vor den Menschen auf, da er die Furcht vor Gott nicht kannte. Menschlicher Gewalt unterworfen und menschlichem Gesetz verbunden, sollten sie in etwa wenigstens zur Gerechtigkeit gelangen und sich gegenseitig zügeln, indem sie das Schwert vor ihren Augen fürchteten . . . M l Nach dem Sündenfall, nach seiner Abwendung von Gott, hinderte nichts mehr den Menschen, seinen Trieben und Leidenschaften freien Lauf zu lassen, müßte er nicht Angst haben, das Opfer der Zügellosigkeit der anderen zu werden. Die Furcht vor den Mitmenschen, der Schrecken des 'bellum omnium contra omnes' veranlaßte ihn, seine Freiheit einschränkende Regeln zu akzeptieren - vorausgesetzt, die anderen halten sich ebenfalls an diese Regeln. Um den einen vor dem anderen zu schützen entstand das 'menschliche Gesetz', und um das Gesetz selbst zu schützen, entstand die obrigkeitliche, die 'menschliche' Gewalt. Um 'in etwa wenigstens' auch in einer sündigen Welt Gerechtigkeit zu schaffen, hat Gott den Menschen die 'Menschenfurcht', und damit die Obrigkeit geschenkt, so wie er Adam und Eva nach ihrem Fall wärmende und schützende Kleidung gefertigt hat - kein Ersatz für das Paradies, aber eine Milderung der Verbannung.

1

adv.haer. V 24 2.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

31

Ebensowenig wie Paulus konnte Irenäus bei seinen Ausführungen eine christliche Obrigkeit gemeint haben. Die Bestimmung der Obrigkeit liegt darin, Menschen ohne Gottesfurcht in die Schranken zu weisen: "Die irdische Herrschaft fürchtend, sollen sich die Menschen nicht nach Art der Fische gegenseitig verschlingen, sondern durch die Bestimmungen der Gesetze die vielfache Ungerechtigkeit der Heiden [Hervorhebung fg] hintenanhalten."2 Ebenso wie Paulus mußte Irenäus eine christliche Obrigkeit als ein hölzernes Eisen erscheinen. Christen brauchen keine menschliche Gewalt als Ansporn zum rechten Tun, sie üben Gerechtigkeit aus Furcht vor Gott. Deshalb, weil man sich vor denen, die Gewalt haben nicht fürchten muß wegen guter, sondern wegen böser Taten3, weil die Obrigkeit das Gottesvolk vor dem Unfrieden der Heiden schützt und weil sie für die Christen selbst im Grunde völlig bedeutungslos ist, weist Irenäus seine Brüder und Schwestern ihr gegenüber zum Gehorsam an, gemäß dem Vorbild ihres Königs Christi. 4 Irenäus wendet sich deshalb entschieden gegen Lehren, die in der Obrigkeit ein Werk des Teufels sehen: "Also sind die irdischen Reiche zum Nutzen der Völker von Gott aufgestellt, und nicht vom Teufel, der doch niemals ruhig ist und demgemäß auch nicht will, daß die Völker in Ruhe leben."5 Er sucht mit Nachdruck zu zeigen, daß die gegenwärtige Weltzeit nicht unter der Gewalt des Satans stehe6, daß Christus vielmehr durch seinen Hinweis auf die Gerechten und die Ungerechten7 die Existenz einer natürlichen Gerechtigkeit unter allen Menschen, also auch unter den Heiden, ausdrücklich anerkannt habe.8 Dem Zweck einer 'Entteufelung' der Obrigkeit dient auch Irenäus' Beharren darauf, daß Paulus in Römer 13 1-7 die konkrete irdische Gewalt und nicht irgendwelche Engelmächte gemeint habe. Für Irenäus war Obrigkeit in erster Linie und ganz selbstverständlich römische Obrigkeit. Rom war die Herrscherin der Welt. Sie war es seit langer Zeit, und kaum jemand bezweifelte, daß sie es bis zum Ende dieses Aeons bleiben würde. Wenn der Kirchenvater also die Obrigkeit als Instrument Gottes bezeichnet, wenn er bestreitet, daß die gegenwärtige Weltzeit unter der Herrschaft Satans steht, so bedeutet das auch, daß er es ablehnt, Rom als dämonische Macht zu sehen.

2

Ebd.

3

Vgl. Rom 13 3.

4

Vgl. adv.haer. V 24 2.

5

Ebd. V 24 2.

6

Vgl. ebd. V 22 2.

7

Mt 5 45.

8

Vgl. adv.haer. IV 13 1.

32

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

Irenäus übergeht die Letzten Dinge, das Erscheinen des Antichrist und das Ende der Welt keineswegs. Im letzten Buch von adversus haereses geht er sogar ausführlich auf die entsprechenden Stellen bei Daniel, Paulus und v.a. Johannes ein. Aber im Gegensatz zur Offenbarung ist für Irenäus die Eschatologie nicht von dringender Aktualität. Es sind zukünftige Ereignisse, die der Kirchenvater v.a. in den Kapiteln 25 bis 39 schildert; er wollte damit nicht - oder höchstens mittelbar - eine Gegenwartsdiagnose stellen. Bezeichnend dafür ist die Art und Weise, wie das imperium Romanum in das eschatologische Geschehen eingeordnet wird. Die Offenbarung meint mit dem ersten Tier ohne Zweifel Rom, für sie ist das römische Reich die antichristliche Macht und der Kaiser der Antichrist. Wichtig für diese Sicht der Dinge ist der Umstand, daß für Johannes das erste Tier, die zehn Könige und das zweite Tier Bestandteile ein und derselben, drei Jahren und sechs Monaten herrschenden antichristlichen Macht darstellen. Auch Irenäus sieht in dem ersten Tier das römische Reich, er orientiert seine Sicht der Letzten Dinge jedoch in erster Linie an Daniel. Wie wir gleich sehen werden, macht das einen nicht unerheblichen Unterschied. Das vierte Tier aus dem Traum Daniels hat, wie das erste Tier der Offenbarung, von Anfang an zehn Horner; dabei bleibt es aber nicht (Dan 7): V.8: Als ich ... auf die Horner achtgab, siehe, da brach ein anderes kleines Horn zwischen ihnen hervor, vor dem drei der vorigen Horner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge.

Das Tier verändert sich im Verlauf der Vision. Was dieses Geschehen zu bedeuten hat, wird Daniel einige Verse weiter erklärt: V.23:Er sprach: Das vierte Tier wird das vierte Königreich auf Erden sein; das wird ganz anders sein als alle anderen Königreiche; es wird alle Länder fressen, zertreten und zermalmen. V.24:Die zehn Horner bedeuten zehn Könige, die aus diesem Königreich hervorgehen werden. Nach ihnen aber wird ein anderer aufkommen, der wird ganz anders sein als die vorigen und wird drei Könige stürzen. V.25:Er wird den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten vernichten und wird sich unterstehen, Festzeiten und Gesetz zu ändern. Sie werden in seine Hand gegeben werden eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit.

Zuerst erscheint das vierte Tier, das vierte Königreich. Es wird ein außerordentlich mächtiges Reich sein, das den Erdkreis beherrschet. Aus diesemewen Königreich werden zehn Könige hervorgehen, und nach diesen zehn Königen wird einer kommen, dem eine bestimmte Zeit große Macht gegeben sein wird. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Erscheinen der zehn Könige zu verstehen: entweder man deutet es als eine Aufeinanderfolge der Könige, oder als eine Gleichzeitigkeit. Im ersten Fall wird ein christlicher Interpret an die Reihe der Kaiser von Augustus bis zu seinem neunten Nachfolger auf dem Thron denken9; im zweiten Fall muß man mit dem Zerfall des vierten Reiches in zehn Nachfolgereiche rechnen.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

33

Irenäus wählt die zweite Möglichkeit. 10 Dadurch werden Ereignisse und Gestalten, die in der Offenbarung praktisch gleichzeitig - oder doch innerhalb eines sehr engen Zeitraumes - stattfinden und zur gleichen eschatologischen Figur gehören, zeitlich und inhaltlich getrennt. Interpretiert man die zehn Könige als nacheinander aus dem vierten Königreich hervorgehende Herrscher desselben, so kommt man nicht umhin zuzugeben, daß das vierte Reich auch das Reich des elften Königs sein wird. Nimmt man jedoch an, daß das vierte Reich zuerst unter die zehn Könige geteilt wird - und seinen Untergang erfährt - , bevor der Antichrist kommt, so wird damit dieses Reich entlastet, d.h. es gehört offensichtlich nicht zu den antichristlichen Mächten, die gegen die Heiligen kämpfen werden. Im Gegenteil: sein Verschwinden ist die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinen des Antichristen - und vice versa: sein Bestand hält das Weltende auf! 11 Irenäus ist so von seiner Sicht der Dinge überzeugt, daß er auch Johannes entsprechend interpretiert. So schreibt er zu Apk 17 12: "Noch deutlicher wies Johannes, der Schüler des Herrn, in der Apokalypse auf das Ende der Zeiten mit seinen zehn Königen hin, an die das jetzt herrschende Imperium verteilt werden soll." Seine Interpretation untermauert er zusätzlich durch ein Wort Jesu: 11 Daß nämlich das Reich geteilt werden und so zugrunde gehen muß, verkündet der Herr, indem er sagt: 'Jedes Reich, das in sich geteilt ist, wird verwüstet werden, und jede Stadt oder Haus, das in sich geteilt ist, hat keinen Bestand' (Mt 12 25). Gezehnteilt also muß das Reich, die Stadt und das Haus werden, und deswegen

9

9. Titus, 10. Domitian !

10

Vgl. adv.haer. V 25 3.

11

In der Literatur findet sich immer mal wieder der Hinweis, daß Irenäus doch zur Deutung der apokalyptischen Zahl 666 den Namen 'Lateinos' vorgeschlagen habe. Tatsächlich erwähnt er im V.Buch (30 3) diese Deutung und erklärt: "... es ist sehr wahrscheinlich, daß das letzte Reich so heißen wird. Denn die Lateiner herrschen heute ..." Richard Klein (1968, 16) schließt aus diesem Umstand: "Mit dieser Erklärung und der Ablehnung anderer Deutungsversuche greift Irenäus bewußt auf Johannes zurück und setzt hundert Jahre nach dem Seher von Patmos wiederum das Römische Reich dem Antichrist gleich." Offensichtlich hat Klein nicht genau gelesen, sonst wäre ihm aufgefallen, daß Irenäus keineswegs andere Deutungsversuche ablehnt - im Gegenteil: "Aber am meisten von allen Namen, die sich bei uns vorfinden, ist der Name Teitan glaubwürdig..." -, zum anderen, daß er sämtliche Deutungen entwertet mit dem Hinweis: "Gibt es doch viele Namen der genannten Zahl, und somit kommt die Sache nicht weiter." Irenäus übt in dieser Frage Zurückhaltung und vertraut im übrigen auf die pädagogische Weisheit Gottes: "Läge nämlich für die Verkündigung desselben [=Name des Antichrist] im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Notwendigkeit vor, dann wäre er gewiß durch den gemeldet worden, der die Apokalypse geschaut hat." Die Erwähung der 'Lateinos'-Deutung bedeutet folglich nicht, daß Irenäus "bewußt auf Johannes zurückgreift]" und das Römische Reich dem Antichrist gleichsetzt. Auch widerspricht die weitgehend positive Darstellung der Obrigkeit dieser Interpretation ebenso wie der Hinweis, daß das "jetzt herrschende Imperium" zuerst unter die in der Offenbarung erwähn-ten zehn Könige verteilt werden muß, bevor der Antichrist kommen kann (V 26 1). Eine Erklärung dafür, daß Irenäus diese Deutung immerhin in Erwägung zieht, ist vielleicht, daß das römische Reich geteilt wird und die Nachfolgekönige aus diesem Reich stammen, also Lateiner sein werden. 3 Grossheutschi

34

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

hat er die Teilung und Trennung schon im voraus angezeigt."12 Die kommentierte Stelle aus der Offenbarung lautet: V.12:Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, das sind zehn Könige, die ihr Reich noch nicht empfangen haben; aber wie Könige werden sie für eine Stunde Macht empfangen zusammen mit dem Tier.

In der Offenbarung wird das erste Tier - wie bereits gesagt - mit Rom gleichgesetzt. Wenn dem so ist, so kann hier von einer Aufteilung des 'jetzt herrschenden Imperiums' nicht die Rede sein - wie könnte sonst das Tier zusammen mit den zehn Königen 'Macht empfangen'? Johannes hat für die Idee eines Aufhalters keine Verwendung, für ihn ist die Endzeit bereits angebrochen. Das Tier, das römische Reich ist die antichristliche Macht. Irenäus hat folglich die Offenbarung uminterpretiert und seinen Vorstellungen angepaßt. Irenäus nimmt nirgends direkten Bezug auf 2.Th 2 6.7, er spricht auch nie explizit davon, daß der Antichrist durch irgendetwas oder irgendjemanden aufgehalten wird. Den zweiten Thessalonicherbrief benutzt er zweimal: in V 25 1 zitiert er 2.Th 2 3.4, in V 25 3 die Stelle 2.Th 2 8-12. Beide Stellen bestimmen das Wesen des Antichristen. Immerhin beweisen diese Zitate, daß Irenäus den zweiten Brief an die Thessalonicher kannte. Also wird ihm wohl auch die Vorstellung eines Aufhalters bekannt gewesen sein. Aber es ist dennoch gut möglich, daß er nicht an diese Stelle angeknüpft hat. Ein, wenn auch etwas schwaches Indiz dafür liegt in dem unterschiedlichen Charakter der beiden aufhaltenden Momente. Das Katechon bei Paulus hat den Charakter eines Hindernisses, das erst weggeräumt werden muß; das römische Reich macht bei Irenäus mehr den Eindruck einer Station auf dem Weg, eines Punktes A, denn man passiert haben muß, um zu Punkt Β zu gelangen. Dem vierten Tier fehlt bei Irenäus das aktive Element; es ist Bestandteil eines zwangsläufig sich vollziehenden Geschehens, eines störungsfrei und reibungslos ablaufenden eschatologischen 'Uhrwerks'. Wie dem auch sei - zu größerer, gar politischer Wirkung konnte die Idee des Aufhalters durch Irenäus nicht gelangen. Dazu ist sie in seinem Werk zu wenig ausgeprägt und zu passiv gesehen.

12

adv.haer. V 26 1.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

2.

35

Hippolyt

In großer Nähe zu Johannes argumentiert Hippolyt von Rom gegen die Obrigkeit seiner Zeit, das römische Reich. In der Schrift Über den Antichrist (geschrieben um 200) und im Danielkommentar deutet er seine Gegenwart ganz in eschatologischen Kategorien. Hippolyt war vermutlich ein Schüler des Irenäus.13 Es verwundert deshalb nicht, daß er auf weite Strecken sehr ähnlich Ideen vertritt wie sein Lehrer. Auch er geht von Daniel aus, sieht in dem vierten Tier Rom und in den zehn Hörnern die zehn Königreiche, in die das imperium Romanum vor der Ankunft des Antichrist zerfallen wird. 14 Aber dennoch besteht zwischen beiden ein grundlegender Unterschied: Irenäus sieht die Ordnung dieser Welt als ein Geschenk Gottes, er wendet sich entschieden gegen jede'Verteufelung' derselben; Hippolyt vergleicht dagegen den Kosmos mit Babylon, d.h. für ihn ist die Welt das Herrschaftsgebiet der dämonischen, widergöttlichen Mächte.15 Diese pessimistische Grundhaltung wird deutlich in dem, was Hippolyt aus dem - von Irenäus doch eigentlich vom Verdacht der Komplizenschaft mit dem Antichristen befreiten - vierten Reich macht. Es ist bezeichnend, daß er zur Darstellung seiner Sicht der Dinge die Vision des Johannes verwendet. Konform mit der Tradition setzt er das erste Tier "aus dem Meer" (Apk 13 1) mit Rom gleich. 16 Mit Irenäus unterscheidet er das erste Tier vom Antichristen. Seine eigene Idee ist es jedoch, wenn er das zweite Tier "aus der Erde" (Apk 13 11) als den Antichristen ansieht.17 Schaut man sich das Verhältnis der beiden Tiere an, so fällt die enge inhaltliche Verbindung auf. Das zweite Tier 18 vollzieht alle Befehle des ersten Tieres und bringt die Erde und ihre Bewohner dazu, das erste Tier anzubeten. Es wild dem Bild des Tieres Odem einflößen, so daß es redet; es wird handeln entsprechend seinen Gesetzen und wird töten lassen, wer das Bild nicht anbetet. Es zwingt alle, sich einen Stempel machen zu lassen auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn, damit niemand kaufen oder verkaufen kann, der nicht den Stempel hat oder die Zahl seines Namens. Es erhebt sich gegen die Heiligen Gottes, um sie zu verfolgen, weil sie ihm die geforderte Ehre schuldig bleiben. Das zweite Tier erscheint als der Erfüllungsgehilfe des ersten Tieres, d.h. diesem untergeordnet.

13

3*

Vgl. Altaner 1978, 164.

14

Vgl. comm. in Dan. IV 5.

15

Vgl. ebd. 114 5.

16

Vgl. de ant. 49.

17

Vgl. ebd.

18

Vgl. Apk 13 llf.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

36

Da Johannes das römische Reich mit der antichristlichen Herrschaft ineins setzt, das erste Tier als Antichrist versteht, gibt diese Zuordnung auch Sinn. Hippolyt kann das erste Tier nicht als Antichrist gelten lassen, da er Rom nicht als Antichristen sehen will. Folglich dreht er die Deutung um: das zweite Tier wird zum Antichristen und das erste Tier zu - ja, zu was? Es ergibt sich das etwas irritierende Bild, daß der Antichrist, dem doch - nach Daniel 19 - große Macht gegeben wird, dem ersten Tier, Rom, dient und seine Befehle ausführt. Die gegenseitige Zuordnung der beiden Tiere bleibt erhalten, obwohl die Interpretation die Inhalte quasi vertauscht hat. Das römische Reich scheint so über mindestens ebensoviel Macht zu verfügen wie der Antichrist - und ebenso dämonisch zu sein! Die gleichen Beweggründe, die Johannes zur Verteufelung Roms trieben, scheinen auch bestimmend für Hippolyts Sicht der Dinge: in erster Linie handelt es sich hierbei um den Greuel des Kaiserkultes.20 Die Forderung nach Anbetung verbindet die römischen Kaiser und den Antichristen, sie kennzeichnet die satanische Macht. Gesteigert wird die dämonische Qualität Roms durch den Aufweis, das sein Gedeihen nichts anderes ist als die Nachahmung, oder besser: Nachäffung der Heilsgeschichte: "Denn da im zweiundvierzigsten Jahr bei Augustus der Herr geboren wurde, bei welchem [= Augustus] wuchs das Reich der Römer, durch die Apostel aber der Herr herzurief alle Nationen und alle Zungen und machte Eine gläubige Nation der Christen, 'den Namen' [Apk 2 17] des Herrn und 'einen neuen' im Herzen habend, - auf dieselbe Weise ahmte nach das Reich, welches jetzt sein soll, welches zu herrschen beginnt über die Nationen 'nach der Wirkung des Satans' [2.Th 2 9], sammelnd aus allen Nationen die Edlen und sich bereitend zum Streit, Römer sie nennend. Und deshalb geschah die erste Anschreibung bei Augustus, als der Herr in Bethlehem geboren wurde, damit die in der Welt lebenden Menschen dem irdischen König angeschrieben Römer genannt werden, aber die dem himmlischen König Glaubenden Christen genannt werden, den Sieg über den Tod an der Stirn tragend."21 Ebenso wie der Herr und die Apostel das übernationale, weltumspannende Volk der Christen berufen, so beruft Rom aus 'allen Völker die Edelsten' ein Gegen-Volk, bereit zum Kampf gegen die Kirche. Die starke dämonische Aufladung des römischen Reiches macht es außerordentlich schwierig, das erste und das zweite Tier ihrem Wesen nach auseinanderzuhalten - die Grenze wird hauchdünn. Welche Schwierigkeiten Hippolyt selbst mit der Unterscheidung hat, wird besonders deutlich bei der Deutung der apoka-

19

Vgl. Dan 7 25.

20

Vgl. z.B. Lk 4 7.

21

comm. in Dan. IV 9.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

37

22

lyptischen Zahl 666 . Nach dem Text der Offenbarung bezieht sich diese Zahl auf das erste Tier, Hippolyt dagegen bezieht die Zahl auf das zweite Tier 2 3 - gezwungenermaßen, will er die Gleichsetzung mit dem Antichrist nicht aufgeben. Da er nun 666 als 'Lateinos' liest, wird die Sache kompliziert: so wie das Wesen des römischen Reiches antichristlich ist, so steht umgekehrt die Kraft des Antichrist in Verbindung mit der gegenwärtigen Herrschaft der Lateiner 24; dieser Sachverhalt wird durch den Namen des Antichrist, 'Lateinos', offenbar 2 5 Eine mehr als gezwungene Interpretation, aber im Hinblick auf Hippolyts Prämissen eine wohl unvermeidliche. Wie Irenäus so glaubt also auch Hippolyt, daß das römische Reich zuerst verschwinden muß, bevor der Antichrist kommen wird. Im Unterschied zu Irenäus aber erwähnt er den Katechon ausdrücklich. In Über den Antichrist wird 2.Th.2 1-12 zitiert, allerdings ohne weitere Erklärung. Im Daniel-Kommentar werden die Verse 1 bis 9 ebenfalls angeführt, diesmal ergänzt durch eine Erklärung: "Wer ist es nun, der bis jetzt aufhält, anders als das vierte Tier? Nachdem es vorübergegangen, kommt der Betrüger." 26 Daß diese Umgestaltung und Beseitigung so bald nicht stattfinden wird, ergibt sich aus den sieben Köpfen des ersten Tieres 27: Diese symbolisieren die große Weltwoche von siebentausend Jahren. Die Geburt Jesu erfolgte im 5500. Jahr seit Adam. Sechstausend Jahre müssen vergangen sein bis zum Eintritt der Sabbatruhe. Folglich hat das vierte Tier von der Erscheinung Christi bis zum Ende der Welt fünfhundert Jahre zu herrschen. Da Hippolyt seine Schriften um 200 schrieb, hatten seine ersten Leser den Trost, daß diese schrecklichen Ereignisse weder sie noch ihre Kinder treffen werden. Überhaupt berührt es etwas eigenartig, zu bemerken, daß Hippolyt offensichtlich an diesem schrecklichen Aeon hängt. An mindestens zwei Stellen in seinem Danielkommentar fordert er zum Gebet dafür auf, daß der Antichrist, und damit das baldige Ende dieses Aeons, nicht während der Lebenszeit der gegenwärtigen Generation kommen möge! 28 Rom ist der Aufhalter - ein seltsamer Aufhalter allerdings: Das vierte Tier, das römische Reich entspricht seinem Wesen nach so ziemlich dem, den es aufhalten soll; es macht gleichsam gemeinsame Sache mit ihm. Mit dem Begriff 22

Vgl. Apk 13 18.

23

Vgl. de ant. 50.

24

Vgl. ebd.

25

Vgl. Neumann 1902, 35.

26

comm. in Dan. IV 21.

27

Vgl. ebd. IV 24 7.

28

Vgl. ebd. IV 5; 12.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

38

'Aufhalter' verbindet man gemeinhin Begriffe wie 'Widerstand', 'Bollwerk', 'Schutz'; aber wovor schützt der Fuchs die Gänse? Vor dem Wolf? Die Vorstellung eines 'Wegbereiters', eines kosmischen 'Anti-Johannes', würde unseres Erachtens das vierte Tier sehr viel treffender charakterisieren.

3· Die griechischen Apologeten: Aristides, Justin und Meli to 2 9 Neben der distanziert-positiven und der dezidiert negativen Sicht der Obrigkeit gab es schon früh Versuche, die Christen in zumeist an den Kaiser gerichteten Apologien als besonders gute Untertanen, das Christsein als Merkmal besonderer Loyalität darzustellen. Ein Argument spielt bereits bei den ältesten dieser Bemühungen eine besondere Rolle: die Verdienste der Kirche um die Verzögerung des Weltunterganges. Vorausgesetzt wird dabei - und das wohl zu recht - das Interesse der heidnischen Obrigkeit an einem Weiterbestand dieser Welt. Da aber eine solche aufhaltende Funktion der Kirche strenggenommen den tiefsten Wünschen der Christen nach der Wiederkunft des Herrn und der Vollendung des Reiches Gottes widerspricht, ergibt sich eine logische Spannung zwischen der Argumentation gegen außen und der eigenen Lehre, eine Spannung, die nicht aufgelöst wird. In seiner an Kaiser Hadrian gerichteten Apologie schreibt Aristides von Athen im Jahre 117 oder 118: "Auch hege ich keinen Zweifel, daß [nur] durch das flehentliche Gebet der Christen die Welt noch fortbesteht." 30 Das aufhaltende Moment ist hier noch einzig und allein das Gebet der Kirche. Ähnlich argumentiert etwas später Justin der Märtyrer (gest. 165) in seiner Zweiten Apologie: "Darum nämlich um der zarten Saat des Christentums willen, das Gott als Grund für den Fortbestand der Natur ansieht, verzögert er den Untergang und die Zerstörung der ganzen Welt, durch die dann auch die bösen Engel, Dämonen und Menschen ihr Ende finden würden. Wenn das nicht wäre, so könntet auch ihr [=Nichtchristen] nicht mehr solches und euch von den bösen Dämonen als Werkzeuge gebrauchen lassen."31 Auch für Justin ist es einzig das Christentum, das das Ende der Welt noch aufhält. Die Tolerierung, ja, vielleicht sogar Förderung der Kirche liegt - so die Botschaft - im wohlerwogenen Interesse auch der heidnischen Obrigkeit. Aristides und Justin argumentieren v.a. mit einer Drohung: wenn die Obrigkeit die Kirche nicht in Ruhe läßt, sie an ihrem welterhaltenden Gebet hindert,

29 Biographische und bibliographische Angaben finden sich in: Altaner 1978, 64 (Aristides), 65 (Justin), 63 (Melito). 30

Arist. Apol. XVI 5 6.

31

Jus. 2 Apol. 6.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

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oder sie gar zu vernichten sucht, so hat das für diese Obrigkeit und die ganze Welt - mit Ausnahne natürlich der Gläubigen - katastrophale Folgen. Dieses Argument setzt voraus, daß die beiden Apologetiker die Christen bzw das Gebet derselben als das Katechon ansehen - ungeachtet der Frage, ob sie damit bewußt auf die Thessalonicherstelle anspielen wollen oder nicht. Der Erfolg einer solchen Argumentation hängt davon ab, ob der Adressat die Prämissen akzeptiert. Im Bezug auf die aufhaltende Funktion der Christen dürfte das hier kaum der Fall gewesen sein. Die welterhaltende Bedeutung der christlichen Gemeinden kann nur einem Christen einleuchten, keinesfalls einem heidnischen Kaiser. Die Argumentation dreht sich im Kreis. Es ist kein Wunder, daß die Apologeten keinen politischen Erfolg verbuchen konnten - Justin wurde unter dem philosophierenden Kaiser Marc Aurel in Rom enthauptet. Geschickter, wenn auch nicht unbedingt erfolgreicher, ging Melito, Bischof von Sardes, vor. In seiner 177 verfaßten und an Marc Aurel gerichteten Apologie klagt er zuerst über neue Gesetze, die gegen die Christen in Asien erlassen worden sind, und die "frechen Denunzianten" den Vorwand zu Raub und Plünderung geben. Dann fahrt er fort: "Geschieht dies auf deinen Befehl hin, so soll es gerecht sein! Denn ein gerechter Fürst wird niemals ungerechte Verordnungen erlassen. Und gerne nehmen wir die Ehre eines solchen Todes hin. Doch tragen wir dir die eine Bitte vor, daß du erst, nachdem du diese Aufwiegler [=Christen] kennengelernt hast, urteilest, ob sie die Todesstrafe oder ein gesichertes Leben verdienen. Wenn aber der Erlaß und diese neue Verordnung, die man nicht einmal gegen barbarische Völker anwenden sollte, nicht von dir ausgegangen sein sollte, dann bitten wir dich umso inständiger, du mögest uns, da man uns offen beraubt, nicht im Stich lassen."32 Melito wußte offensichtlich, wie man mit Herrschern spricht. 33 Zuerst kommt die große Klage, dann die Versicherung, alle Anordnungen des Kaisers seien selbstredend gerecht - bis eventuell möglicherweise auf diese eine Ausnahme, der Erlaß gegen die Christen. Diese Kühnheit wird sogleich wieder abgeschwächt durch die Bemerkung, daß ein solch unmenschlicher Erlaß wahrscheinlich nicht vom Herrscher ausgegangen sei, eine Zurücknahme desselben also die kaiserliche Ehre nicht beeinträchtigen würde. Letzteres wird nicht explizit gesagt, ergibt sich aber aus dem Vorhergehenden. Der Bischof von Sardes hat alle Distanz aufgegeben, die Irenäus und Hippolyt auszeichnet, und den unterwürfigschmeichlerischen Ton eines Höflings angenommen. Aber vielleich war höfische Rhetorik die Bedingung, um bei Hof Gehör zu finden. Wie dem auch sei, Melito schmeichelt nicht nur, er hat auch etwas zu sagen. Das Argument, das er

32 33

Eusebius, hist.ecc. IV 26.

Leider ist Melitos Apologie bis auf einige Reste verlorengegangen. Bekannt ist nur noch das, was Eusebius in seiner Kirchengeschichte verwendet hat.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

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hier verwendet, lautet: Die Obrigkeit weiß nicht was sie tut - sie kann es nicht wissen, weil sie ihren vorgeblichen Gegner gar nicht kennt. In seinem Bestreben, diesem Informationsdefizit abzuhelfen, macht Melito etwas sehr ähnliches wie Hippolyt rund 25 Jahre später: er setzt die Entwicklung des römischen Reiches und die Ausbreitung des Evangeliums parallel: "Unsere religiöse Bewegung erwachte dereinst kräftig im Schöße von Barbaren, reifte unter der ruhmreichen Regierung deines Vorgängers Augustus unter deinen Völkern zur Blüte und brachte vor allem deiner Regierung Glück und Segen. Von da ab nähmlich erhob sich die römische Macht zu Größe und Glanz. Ihr ersehnter Herrscher bist du und wirst du sein mit deinem Sohne, sofern du diese Religion, welche zugleich mit dem Reiche groß geworden ist, mit Augustus ihren Anfang genommen hatte und von deinen Vorfahren wie die übrigen Religionen geachtet wurde, beschützest. Daß unsere Religion zugleich mit dem Reiche, das glücklich begonnen hatte, zu dessen Wohl erblühte, ergibt sich am deutlichsten daraus, daß ihm von den Zeiten des Augustus an nichts Schlimmes widerfahren ist, daß es im Gegenteil - wie es aller Wunsch ist - lauter Glanz und Ruhm geerntet hat." 34 Anders als Hippolyt sieht Melito die Blüte des kaiserlichen Roms nicht als Nachäffung der von Christus begründeten civitas Dei, nicht als Sammlung der satanischen Kräfte zum Kampf gegen das Gottesvolk. Er schildert hier kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander - zu beiderseitigem Nutzen. Melito droht nicht - zumindest nicht direkt. Die christliche Religion dient dem Wohl und dem Wachstum des römischen Reiches wie die Geschichte beider beweist. Augustus und die meisten seiner Nachfolger haben das Christentum geachtet und folglich ging es dem Imperium auch immer gut, es hat "lauter Glanz und Ruhm geerntet". Diese glücklichen Zeiten werden anhalten - vorausgesetzt, Marc Aurel und sein Sohn Commodus sind nicht so töricht und wenden sich gegen die christliche Religion. Obwohl sich der Bischof von Sardes in seiner Apologie nicht (oder zumindest nicht direkt) zu der Frage nach dem den Weltuntergang aufhaltenden Moment äußert, so sind seine Ausführungen für unser Thema dennoch von Interesse. Im Gegensatz zu Hippolyt, aber auch im Unterschied zur distanzierten Haltung des Irenäus, zeichnet er ein im Grunde außerordentlich positives Bild der Obrigkeit. Ist für Hippolyt der gleichzeitige Aufstieg von Christentum und Rom ein Zeichen, das letzteres unter dem Einfluß des Satans steht, so sieht Melito in diesem Parallelismus eine Bestätigung der heilbringenden Funktion des Christentums. Die Obrigkeit, Rom, wird dadurch - obwohl heidnisch - enorm aufgewertet, d.h. sie ist nicht mehr bloß der Rahmen, innerhalb dessen sich das Evangelium ungestört verbreiten kann, sie ist in einem gewissen Sinn Teil der guten Botschaft

34

hist. ecc. IV, 26.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

41

geworden. Christus brachte nicht nur den himmlischen, sondern auch den irdischen Frieden, die pax Romana. Wir haben bereits auf die Spannung hingewiesen zwischen der Sehnsucht nach der baldigen Wiederkunft des Herrn und der der Obrigkeit 'angepriesenen' aufhaltenden Funktion der Christengemeinde bzw. des christlichen Gebets. Bereits bei Paulus ist eine zumindest untergründig positive Weitung des Katechon zu spüren, tröstete er doch damit die durch seine Ausführungen über den Widersacher' geängstigten Brüder und Schwestern - zumindest kann man diese Verse so lesen. Aber diese Tendenz blieb im Hintergrund, entscheidend war für Paulus und die Christen seiner Generation die Hoffnung auf die baldige Vollendung des Reiches Gottes, auf die baldige Ankunft des Endes dieses Aeons. Als die Parusie auf sich warten ließ, begannen sich die Christen der folgenden Generationen, notgedrungenermaßen, in der Welt einzurichten. Anscheinend gewann dabei das diesseitige Leben an Anziehungskraft und die Angst vor den Schrecken der Endzeit an Gewicht, so daß der oder das Katechon immer eindeutiger mit einem positiven Vorzeichen gesehen wurde. Bezeichnend für diese Entwicklung ist der Umstand, daß Aristides und Justin die Kirche selbst, die Christen, für die aufhaltende Macht halten - und damit diese zu einer rein positiv zu bewertenden Größe machen. Der Beitrag von Melito zur Etablierung der Christen in diesem Aeon liegt auf einem anderen Gebiet. Johannes und Hippolyt sahen in Rom das wiedererstandene Babylon, die 'große Hure', der Inbegriff des Bösen schlechthin. Für einen Christen ist Babylon naturgemäß ein äußerst ungastlicher Ort, an dem er nicht länger bleiben möchte als unbedingt notwendig. Die Gleichsetzung Roms mit Babylon bedeutete demnach ein ernstes Hindernis auf dem Weg zu einem positiven christlichen Rombild. Dadurch, daß Melito Rom nicht dämonisiert, sondern im Gegenteil das imperium Romanum in das göttliche Heilwirken direkt integriert, löst er die Verbindung zu Babylon und rückt Rom in die Nähe von Jerusalem, der Stadt des Rechts und des Friedens35, der Stadt des kommenden Gottesreiches.

4.

Tertullian

Mit ähnlicher Zielsetzung wie die eben dargestellten Apologetiker bemüht sich auch Tertullian um die Klärung des Verhältnisses zwischen Christen und Obrigkeit. Im Unterschied zum theologischen bzw. historischen Ansatz von Aristides, Justin und Melito behandelt er die Frage jedoch vor allem aus juristischer Sicht.

35

Vgl. Jes 2 2-4.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

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Quintus Septimius Florens Tertullianus, geboren um 160 in Karthago, war Römer. 36 Diese Tatsache unterscheidet ihn erheblich von den bisher behandelten Autoren. Diese waren Griechen, und die griechische Variante des christlichen Denkens war durch die Philosophie stark beeinflußt, sowohl terminologisch wie auch inhaltlich. Die lateinischen Kirchenväter der ersten Jahrhunderte konnten jedoch mit der metaphysisch-spekulativen Theologie ihrer östlichen Brüder nur wenig anfangen. Ihrer mehr pragmatisch-nüchternen Art waren die 'wilden1, mit dem Wortlaut der Schrift recht frei umgehenden Spekulationen etwa eines Origenes mehr als suspekt. Es waren mehr praktische Fragen, Fragen des konkreten Glaubens, Fragen der Sittlichkeit, die ihr Interesse fanden. Tertullian war aber nicht nur Römer, er war auch Jurist. Seine rhetorische und juristische Schulung bestimmt den Stil wie auch den Inhalt seiner Argumentation erheblich. Dieser Umstand wird besonders deutlich in seinem bekanntesten - und für unser Thema interessantesten - Werk, dem Apologeticum, geschrieben im Jahre 198. Anders als die bisherigen Apologeten versucht Tertullian hier nicht, seine Leser zum Übertritt zu bewegen, er wirbt weder mit Plato noch versucht er eine alle überzeugende Darstellung der christlichen Lehre. Seine Argumentation betrifft in erster Linie die rechtliche Seite der Christenverfolgungen. Anlaß für die Abfassung dieser Schrift waren Ausschreitungen des Pöbels gegen die Christen in Karthago und eine drohende offizielle Verfolgung. Die Adressaten der Schrift waren die höchsten römischen Provinzialobrigkeiten, die Prokonsuln, in deren Ermessen es lag, "ob sie die bestehenden Edikte streng ausführen oder ignorieren wollten"37. "Sie [die Wahrheit] sucht nicht durch Bitten ihre Sache zu bessern, weil sie über ihre Lage nicht einmal verwundert ist. Sie weiß wohl, daß sie als Fremdling auf Erden weilt und unter Fremden leicht Feinde findet, daß sie im übrigen aber ihre Herkunft, Heimat, ihren Lohn und ihre Würde im Himmel hat. Eins nur wünscht sie für jetzt: nicht ungekannt verdammt zu werden." 3 8 Tertullian bittet nicht um Gnade, um Nachsicht für die christliche Religion, er verlangt auch keine Gerechtigkeit - solche wird den Christen erst im Himmel zuteil - , er fordert einzig Rechtlichkeit. Als römische Untertanen haben die Christen ein Recht auf ein juristisch korrektes Verfahren, ein Recht, das ihnen nach Tertullians Meinung von der Obrigkeit vorenthalten wird. Ein solch korrektes Verfahren bedeutet zum einen, daß dem Angeklagten eine angemessene Verteidigung ermöglicht wird, zum anderen, daß sich die Richter ernsthaft um die Wahrheitsfindung bemühen. Bei allen sonstigen Anklagen ist solches selbstverständlich, nur mit den Christen wird anders 36

Zum Folgenden vgl. Altaner 1978, 148ff; v.Campenhausen 1986, 12ff.

37

Esser 1915,20.

38

Apol. 1.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

43

verfahren: "Den Christen allein erlaubt man nicht, die Aussagen zu machen, wodurch ihre Sache entlastet, die Wahrheit verteidigt und es dem Richter möglich gemacht wird, nicht ungerecht zu sein, sondern man wartet einzig auf das, was der allgemeine Haß für allein wesentlich hält, nämlich nicht auf die Untersuchung über das Verbrechen, sondern auf das Bekenntnis auf jenen Namen." 39 Niemand untersucht, ob die Verbrechen, die mit dem Namen 'Christen1 verbunden werden, Kindermorde, Blutschande etc, auch tatsächlich von diesen begangen werden. Es scheint, also ob niemand wirklich an der Frage nach der Schuld der Christen interessiert ist. Tertullian versucht mit seinem Apologeticum genau das zu leisten, was den Christen vor Gericht verweigert wird: eine wirkungsvolle, juristischen Ansprüchen genügende Verteidigung. Die Hauptvorwürfe, gegen die er sich wendet, betreffen einerseits die bereits erwähnten Verbrechen wie Kindermord etc., andererseits die Tatbestände der "öffentliche[n] und schwere[n] Verletzung der römischen Religion"40 und - eng damit verbunden - der Beleidigung und Schädigung der kaiserlichen Majestät41. Der Sachverhalt zu den letzten zwei Punkten ist v.a. die Verweigerung des Götter- bzw. Kaiserkultes. Mit der Anklage wegen Ritualmord etc. hält sich unser Anwalt nicht lange auf. Anschuldigungen wie diese sind zum einen in sich unsinnig42 - wie kann jemand glauben, ewiges Leben, und darum geht es den Christen schließlich, könne der Lohn für solche Schandtaten sein?-, zum anderen können sie sich auf keinerlei Beweise stützen, d.h. sie beruhen einzig auf böser Nachrede 43. Im übrigen sollte man, wenn man sich für dergleichen Verbrechen interessiert, besser bei den Heiden suchen.44 Sehr viel mehr Aufmerksamkeit widmet Tertullian dem Vorwurf des crimen laesae religionis bzw. maiestatis. Den Sachverhalt selbst bestreitet er keineswegs: selbstverständlich verweigern die Christen den Kult, und sie werden ihn auch in Zukunft verweigern. Rein formal gesehen sind die Verurteilungen dementsprechend zu Recht erfolgt. Aber Tertullian wendet sich entschieden gegen diesen 'Rechtspositivismus' und setzt dagegen die Billigkeit, d.h. er beruft sich auf den Grundsatz, "daß nur das nicht erlaubt werden darf, was schlecht ist". Die Einsicht in Gut und Böse, die Moralität, wird als norma normans dem postiven

39

Ebd. 2.

4 0

Ebd. 24.

41

Vgl. ebd. 28.

4 2

Vgl. ebd. 8.

43

Vgl. ebd. 7.

4 4

Vgl. ebd. 9.

44

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

Gesetz gegenüber gestellt bzw. übergeordnet: "Wenn ich finde, daß gut ist, was das Gesetz verboten hat, so kann es... mich unmöglich daran hindern, woran es mich von Rechtswegen hindern würde, wenn es etwas schlechtes wäre." 45 Das Gesetz, das den Kult gebietet und seine Verweigerung unter Strafe stellt, widerstreitet dem Prinzip der Billigkeit, so die rechtliche Grundthese Tertullians. Der weitaus größte Teil des Apologeticums dient der Erhärtung dieser These. Tertullian geht aus von der Intention des Gesetzgebers. Die römische Religion sieht das Verhältnis zu den Göttern nüchtern-pragmatisch als Vertrag, es gilt das Prinzip des 'do ut des': ich halte die Rituale ein und bringe die vorgeschriebenen Opfer, dafür gewähren mir die Götter Wohlergehen, Erfolg etc. Genau gleich gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem imperium Romanum und den Reichsgöttern. Entsprechend bedeutet die Verweigerung des Kultes Vertragsbruch, d.h. die Götter sind in diesem Fall nicht mehr verpflichtet, für das Wohl des Reiches, für das Wohl des Kaisers zu sorgen. Das crimen laesae religionis ist somit gleichbedeutend mit bewußter Schädigung des Reiches, mit Hochverrat. Die Absicht des Gesetzgebers ist es also, eine Schädigung von Reich und Kaiser zu verhindern und sich der Loyalität der Bürger zu Reich und Kaiser zu versichern. 46 Um seinen Mandanten zu helfen, muß Tertullian nachweisen, daß die Verweigerung des Kultes zum einen keine Schädigung des Reiches nach sich zieht, zum anderen kein Zeichen fehlender Loyalität darstellt. Ersteres sucht er dadurch zu erweisen, daß er die Existenz der Götter überhaupt leugnet. In langen und sehr gelehrten Ausführungen zeigt er, daß diese entweder längst verstorbene Menschen und bloße Bilder sind47, oder - noch schlimmer Dämonen, die sich bloß für Götter ausgeben48. Wie kann durch solche Kulte etwas Gutes, ja, überhaupt etwas bewirkt werden? Wie kann ein vernünftiger Mensch glauben, Rom verdanke seine Größe diesen Chimären? Aber selbst wenn die Götter existieren sollten, selbst wenn sie etwas bewirken könnten, so ist nicht einzusehen, so Tertullian in seiner ironisch-sarkastischen Art, warum z.B. Jupiter, der mächtige Herrscher des Olymp, hätte zulassen sollen, "daß sein Kreta durch die römischen Fasces in Schrecken gesetzt wurde, ganz vergessend der bekannten Höhle im Ida, der korybantischen Pauken und des so lieblichen Geruches seiner dortigen Amme" 49 .

45

Ebd. 4.

46

Vgl. Heiler 1984, 309ff.

47

Vgl. Apol. lOu.12.

48

Vgl. ebd. 23.

49

Ebd. 25.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

45

Aber nicht nur die offensichtliche Nichtexistenz der Götter, nicht nur die Absurdität dieses Glaubens in sich, auch ein Argument historischer Art führt Tertullian zugunsten seiner Sache an: "... wie töricht ist es, die Größe des römischen Namens dem Verdienst der Religiosität beizumessen, da doch die Religion sich nach Aufrichtung des Reiches bzw. des Königreiches entfaltete." Mit unwiderlegbarer Logik zieht er aus diesem Umstand den Schluß: "Also waren die Römer nicht erst religiös und dann groß; folglich auch nicht deshalb groß, weil religiös." 50 Wer immer den Römern die Weltherrschaft gegeben hat, die Götter waren es ganz gewiß nicht. Aus der dargelegten Unsinnigkeit des Götterglaubens ergibt sich zweierlei: zum einen die Feststellung, daß die Verweigerung des Götterkultes dem Reich nicht schaden kann, mithin das crimen laesae religionis im eigentlichen Sinne nicht vorliegt; zum anderen die Forderung, daß dem Christentum genauso wie den anderen fremden Kulten im Reich die Religionsfreiheit gewährt werde. 51 Ein Verteidiger unserer Zeit würde an dieser Stelle sein Plädoyer beenden. Er hat gezeigt, daß den Anschuldigungen gegen seine Mandaten jede Grundlage fehlt. Möglicherweise erscheinen die Christen ihren Mitmenschen als eine etwas sehr exzentrische religiöse Gruppierung, eine Gefahr für das Wohl oder gar den Bestand des Imperiums stellen sie jedoch nicht dar. Unser Advokat kann bei diesem Stand der Dinge nicht stehenbleiben. Er hat die Frage zu beantworten, die sich eigentlich nur einem Menschen der Neuzeit nicht aufdrängt: Wenn nicht die Götter den Römern die Weltherrschaft verliehen haben, wer dann? Die Vorstellung, ein Mensch oder ein Volk könnte in dieser Welt etwas erreichen, groß werden, ohne göttlichen Beistand, war dem antiken wie auch noch dem mittelalterlichen Denken fremd. Von nichts kommt nichts, und ohne verleihende Macht keine verliehene Macht. Also nochmals: Wer odo* was hat Rom groß gemacht? Tertullians Antwort: Der einzig, wahre Gott, der Gott der Christen. Alle Macht dieser Erde stammt von ihm; er verleiht die Herrschaft und er nimmt sie auch wieder - ganz nach seinem Belieben. So haben die Amazonen, die Assyrer, die Ägypter, die Meder und die Babylonier die Weltherrschaft besessen - und wieder verloren. 52 Nun gut, wird der Nichtchrist erwidern, die Christen mögen solches glauben, für uns aber ist die Lehre von dem einzigen Gott nicht mehr als eine bloße Behauptung. Falsch, meint Tertullian, im Grunde ihrer Seele kennen alle Menschen, also auch die Heiden, zumindest einen Teil der Wahrheit. Dafür spricht 50

Ebd.

51

Vgl. ebd. 24.

52

Vgl. ebd. 26.

46

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

schon die einfache Alltagsbeobachtung, daß auch Nichtchristen oft unwillkürlich Ausrufe wie 'was Gott geben möge', 'ich stelle es Gott anheim' oder 'Gott wird es mir vergelten' verwenden.53 Insbesondere die Kaiser haben die Wahrheit schon immer geahnt. Bereits Tiberius wollte Christus in das römische Pantheon aufnehmen, und als der Senat sich widersetzte "drohte [er] den Anklägern der Christen mit Nachteilen"54. Auch seine Nachfolger blieben und bleiben der Kirche wohlgesinnt55, denn: "Sie wissen wohl, wer ihnen das Kaisertum, sie wissen, da sie Menschen sind, auch, wer ihnen ihr Leben verliehen habe, sie sind sich bewußt, daß jener der alleinige Gott ist, in dessen alleiniger Gewalt sie sich befinden, von welchem sie aber die ersten sind, vor allen und über allen sogenannten Göttern. ... Sie erwägen, wie weit die Macht ihrer Kaiserwürde reiche, und so erkennen sie Gott". Diese positive Haltung hat also v.a. zwei Gründe: zum einen wissen die Kaiser qua Menschen, wem sie ihr Leben zu verdanken haben; zum anderen zeigt ihnen ihre außerordentliche Machtfülle, ihre Stellung vor und über allen Göttern, daß menschliche Gewalt beschränkt ist und bleibt, es folglich einen allmächtigen Gott geben muß: "Durch den ist er Kaiser, durch den er Mensch ist, bevor er Kaiser war; von daher hat er seine Macht, von woher er seinen Lebensodem hat." 56 Aus alledem ergibt sich, daß auch die Heiden, wenn sie ehrlich sind, anerkennen müssen, daß die christliche Lehre ein solcher Unsinn nicht ist, wie sie immer behaupten. Tatsächlich verhält es sich nämlich so, daß nur die Christen das crimen laesae religionis nicht begehen, während sich das übrige Menschengeschlecht "gegen Gott schwer verschuldet, und zwar zuerst durch Mangel an Diensteifer gegen den, welchen es, da es ihn doch zum Teil erkannte [Hervorhebung fg], nicht zu verehren suchte, sondern sich vielmehr andere ersann, die es verehrte; zweitens dadurch, daß es, weil es den Lehrer der Sittenreinheit, den Richter und den Rächer der Schuld nicht suchte, in Laster und Verbrechen versank."57 Es fallt Tertullian nun nicht mehr schwer zu zeigen, daß auch die Anklage wegen Verletzung der kaiserlichen Majestät jeder Grundlage entbehrt. Anlaß für diese Beschuldigung ist die Weigerung der Christen auch nur für das Wohl des Kaisers zu opfern. Aber aus all dem bereits Gesagten ergibt sich, daß solche Opfer aus mehr als einem Grund sinnlos sind: entweder sie wenden sich an nichtexistierende Wesenheiten - in diesem Fall ist die Nutzlosigkeit des ganzen Auf-

53 Vgl. ebd. 17; dieses Argument ist Tertullian so wichtig, daß er es in einer eigenen Schrift, de testimonio animae, ausführlicher behandelt. 5 4

Ebd. 5

55

Bis auf die bedauerlichen Ausnahmen Nero und Domitian (vgl. Apol. 5).

56

Ebd. 30.

57

Ebd. 40; Tertullian nimmt hier vermutlich Bezug auf Rom 1 26ff.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

47

wandes evident-, oder die Adressaten sind Dämonen - was die Sache nur noch fragwürdiger macht: "Es möge ... erst festgestellt werden, ob die, denen man opfert, dem Kaiser oder irgendeinem beliebigen Menschen Heil und Wohlergehen zu verschaffen imstande sind; und dann erklärt uns der Majestätsbeleidigung schuldig, wenn Engel oder Dämonen, ihrer Substanz nach böse Geister, irgendetwas Wohltätiges bewirken." 58 Solche Opfer können deshalb, genau genommen, sogar kontraproduktiv sein, d.h. sie schaden unter Umständen dem Kaiser und dem Reich! Die Christen zu verurteilen, weil sie an derartigen, das Verderben des Kaisers und des Reiches fördernden Aktivitäten nicht teilnehmen, ist - zumindest - eine Dummheit. Wenn sich die Obrigkeit um einerichtigeSicht der Dinge bemühen würde, so müßte sie feststellen, daß die Christen keine Hochverräter sind, sondern ganz im Gegenteil die eigentliche Stütze des Reiches bilden: "Wir beten allezeit für alle Kaiser um ein langes Leben, um eine ungestörte Herrschaft, um die Sicherheit ihres Hauses, um tapfere Heere, einen treuen Senat, ein rechtschaffenes Volk, um die Ruhe des Erdkreises und welche Wünsche sie immer als Mensch und als Kaiserhaben mögen." Ihr Gebet allein versichert das Reich des göttlichen Beistandes, nicht der Rauch unzähliger Brandopfer an imaginäre Götter und böse Dämonen. Voll Selbstbewußtsein betont Tertullian diesen Umstand: "... ich ... bin [es], dem Erhörung gebührt, ich, sein Knecht, der allein ihm dient, der für seine Lehre in den Tod geht, der ihm ein fettes und besseres Schlachtopfer darbringt, das er selbst darzubringen befohlen hat, nämlich Gebet ..., nicht aber Weihrauchkörner von einem Aas, Tränen eines Baumes in Arabien, auch nicht zwei Tropfen Wein oder das Blut eines auszähligen, lebensmüden Ochsen."59 Für den Nutzen des Christentums spricht auch, daß das Gebet für den Kaiser und das Reich nicht im Belieben des Einzelnen steht, sondern daß die heiligen Schriften dieses von jedem Gläubigen ausdrücklich fordern. So heißt es etwa in l.Tim 2 2: "Betet für die Könige, Fürsten und Gewalten, damit ihr in allem Ruhe habt." 60 Sogar in der Verfolgung sind die Christen angehalten für den Kaiser zu beten: "Wisset daß uns darin, damit unsere Güte überfließe, die Vorschrift 61 gegeben wird, auch für unsere Feinde Gott zu bitten und für unsere Verfolger Gutes zu erflehen. Welches sind nun ärgere Feinde und Verfolger der Christen als die, um derentwillen wir als Majestätsverbrecher belangt werden?"62

58

Ebd. 29.

59

Ebd. 30.

6 0

Zitiert nach ebd. 31.

61

Vgl. Mt 5 44

62

Apol. 31.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

48

Der Grund für diese Loyalität der Christen liegt in der Erkenntnis, daß alle Obrigkeit von Gott ist: "Wir verehren in den Kaisern die Entscheidung Gottes, der sie über die Völker gesetzt hat. Wir wissen, daß sie das sind und das besitzen, was Gott will; deshalb wünschen wir auch, das wohlbehalten sei, was Gott will." 6 3 Tertullian geht sogar so weit, den Kaiser für die Christen zu reklamieren: "Als von unserem Gott eingesetzt, gehört der Kaiser mit größerem Recht uns" 64 Hielt Tertullian eine Verchristlichung des imperium Romanum für möglich? Die Lobrede auf den Christen als idealen Bürger legt diese Sicht der Dinge nahe. Jedoch finden sich im Apologeticum auch andere Stellen. So wird etwa in Kapitel 38 versichert: "... es ist uns nichts fremder als die Politik", und: "Wir erkennen nur ein einziges Gemeinwesen für alle an, die Welt." Solche Äußerungen klingen sehr vertraut, sie entsprechen dem neutestamentlichen Gedanken, daß die Christen immer nur Fremdlige in dieser Welt sein können.65 In bezug auf die Kaiser scheint Tertullian der - uns bereits bekannten - Meinung zu sein, daß eine christliche Obrigkeit in sich ein Widerspruch darstellt: "Aber auch die Kaiser hätten hinsichtlich Christi geglaubt, wenn nicht einesteils die Kaiser für den Weltlauf notwendig wären, oder wenn andererseits Christen Kaiser sein könnten." 66 Wie dem auch sei - für die Folgezeit jedenfalls weist sein Werk "der Kirche einen gangbaren Weg, aus einer fruchtlosen und einseitigen Abkehr vom römischen Staat herauszukommen, auf den sie doch so sehr angewiesen ist" 67 . Andere Kirchenväter, insbesondere Eusebius von Caesarea, der im übrigen Tertullian eifrig rezipierte, gingen diesen Weg mit nachhaltiger Wirkung weiter. Nach der obigen ausführlichen Erörterung von Tertullians Haltung gegenüber der Obrigkeit können wir uns jetzt unserem eigentlichen Thema zuwenden: Tertullians Verwendung der Idee des Katechon. Es sind, so weit wir sehen, fünf Stellen, wo er direkt oder indirekt auf die Vorstellung eines Aufhalters Bezug nimmt: zweimal im Apologeticum, je einmal im Brief ad Scapulam, in de oratore und in de carnis resurrectione. Von diesen Äußerungen werten drei das Katechon positiv, eine negativ und eine überhaupt nicht.

63

Ebd. 32.

64

Ebd. 33.

65

Vgl. z.B.2.Kor5 6; Apol. 1.

66

Apol. 21.

67

Klein 1968, 88.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

49

Beginnen wir mit der sich neutral gebenden Stelle. In de carnis resurrectione, dessen Abfassungszeit unbekannt ist 6 8 , schreibt Tertullian in Kapitel XXIV, 3 (a)zu 2.Th 2 6.7: "Quis, nisi romanus status? cuius abscessio in decern reges dispersa Antichristum superducet." Diese Erklärung stützt sich auf Apk 17 12f.: "Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, das sind zehn Könige, die ihr Reich noch nicht empfangen haben; aber wie Könige werden sie für eine Stunde Macht empfangen zusammen mit dem Tier./ Diese sind eines Sinnes und geben ihre Kraft und Macht dem Tier./ Die werden gegen das Lamm kämpfen, und das Lamm wird sie überwinden, denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige, und die mit ihm sind, sind die Berufenen und Auserwählten und Gläubigen." Wie sein Zeitgenosse Hippolyt identifiziert Tertullian hier offensichtlich das erste Tier (Apk 13 1) mit dem römischen Reich, und wie Hippolyt glaubt er, daß das erste Tier verschwinden muß, bevor das zweite Tier (Apk 13 11) kommen kann, d.h solange das römische Reich noch nicht in zehn Königreiche zerfallen ist und die zehn Könige dem zweiten Tier ihre Macht zur Verfügung stellen, wird auch der Antichrist nicht kommen. Es liegt eigentlich in der Logik des Textes, daß das erste Tier, das römische Reich, das Katechon negativ bewertet wird. Hippolyt zieht - wie wir sahen - diese Konsequenz und verdammt Rom. Aber schon Irenäus folgt dieser Logik nicht. Wie Tertullian sich dazu stellt, darüber gibt de carnis resurrectione keine Auskunft. Folgt man der zwischen 198 und 204 entstandenen Schrift de oratione, so scheint Tertullian zur Ansicht Hippolyts zu neigen. In der Auslegung des VaterUnsers schreibt er zur Zeile 'Dein Reich komme' : "Wenn ... die Verwirklichung des Reiches des Herrn sich auf den Willen Gottes und auf unsern ungewissen Zustand bezieht, wie können manche einen Aufschub für die Welt verlangen, da ja das Reich Gottes, um dessen Ankunft wir bitten, auf die Vollendung der Welt hinarbeitet? - Wir wünschen früher zu regieren und nicht länger mehr zu dienen." Deshalb lautet das Gebet der Christen nicht: Erhalte Reich und Kaiser, sondern: "Ja recht bald, ο Herr, möge Dein Reich, der Gegenstand der Wünsche der Christen, zu uns kommen zur Beschämung der Heiden, zur Freude der Engel." 69 Das Katechon ist hier eindeutig nicht das römische Reich, sondern das Gebet der Kirche. Tertullian nimmt damit die ältere Deutung des Aristides wieder auf. Anders allerdings als sein Vorgänger ist er hier nicht der Meinung, daß die Aufschiebung des Endes ein lohnender Gegenstand des Bittens darstellt. Im Gegenteil, er findet ein solches Tun geradezu unsinnig. Eine solche Haltung ist nur konsequent, schließlich sind die Christen hier auf Erden nur Fremdlinge, ihre wahre Heimat ist bei Gott, und es ist nicht einzusehen, wie jemand das Exil der Heimat vorziehen könnte. In diesem Sinne hat auch Paulus an die Korinther geschrieben: "Denn wir wissen, wenn unser irdisches Haus, diese Hütte abgebro-

68

Vgl. Altaner 1978, 155.

69

Apol. 5.

4 Grossheutschi

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

50

chen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel./ Denn darum seufzen wir auch und sehen uns danach, daß wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden,/ weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden." (2.Kor 5 1-3). Die Überraschung ist deshalb umso größer, wenn Tertullian im, etwa zu gleichen Zeit wie obige Schrift entstandenen, Apologeticum eine genau gegenteilige Sicht der Dinge vertritt. Die wichtigere der beiden Stellen findet sich zu Beginn von Kapitel 3 2 7 0 und lautet: "Es gibt für uns auch eine andere, noch größere Nötigung, für die Kaiser, ja, sogar für den Bestand des Reiches überhaupt und den römischen Staat zu beten. Wir wissen nämlich, daß die dem ganzen Erdkreis bevorstehende gewaltsame Erschütterung und das mit schrecklichen Trübsalen drohende Ende der Zeiten nur durch die dem römischen Reich eingeräumte Frist aufgehalten wird. Daher wünschen wir es nicht zu erleben und, indem wir um Aufschub dieser Dinge beten, befördern wir die Fortdauer Roms." Hier ist nichts mehr von der großen Sehnsucht nach der himmlischen Heimat zu spüren, dafür umso mehr von einer, angesichts der gerade auch im Apologeticum oft und gern betonten christlichen Leidensbereitschaft 71, merkwürdig anmutenden Furchtsamkeit. Schauen wir uns zuerst die hier vertretene Deutung des Katechon genauer an. Die Christen wissen, daß die Welt ein Ende hat, daß dieses Ende bevorsteht, d.h. nicht erst in einer unabsehbaren Zukunft droht, und daß es von 'gewaltsamen Erschütterungen' und 'schrecklichen Trübsalen' begleitet sein wird. Die heidnischen Leser, das Zielpublikum dieser Schrift, packt ob solcher Aussichten das Entsetzen. Kein vernünftiger Mensch wird sich einen solchen Zustand wünschen, so denken sie sich. Genau so ist es, antwortet Tertullian, niemand, auch wir Christen nicht, möchte solches erleben. Glücklicherweise werden diese Endereignisse noch aufgehalten durch den Bestand des imperium Romanum. Christen wie Heiden sind deshalb am Wohlergehen des Reiches interessiert - schließlich sind alle, auch die Christen, nüchterne und vernünftig denkende Menschen. Aber was ist zu tun, um die gewährte Frist so weit wie möglich zu verlängern, um die Ankunft des Schreckens hinauszuzögern? In dieser Situation können nur die Christen mit ihrem Gebet helfen, nur sie werden von Gott erhört. 72 Genau genommen haben wir es hier mit zwei Katechonten zu tun: Zum einen das eigentlich Aufhaltende, das römische Reich, zum anderen ein 'Neben'-Katechon, ein Katechon zweiter Ordnung, das Gebet der Kirche. Tertullian verbindet also gleichsam die Deutungen aus de carnis resurrectione und aus de oratione.

7 0

Die andere Stelle findet sich in ebd. 39.

71

Vgl. z.B. ebd. 50.

72

Vgl. ebd. 30.

III. Die Kirchenväter, die Obrigkeit und der Katechon

51

Aber auch das 'Haupt-Katechon läßt sich verstehen als eine Integrierung vorhergehender Deutungen. Die Gleichsetzung Roms mit dem Aufhaltenden findet sich bei Irenäus und Hippolyt, wobei allerdings - zumindest bei Hippolyt - damit eine negative Wertung verbunden wird; bei Aristides und Justin wird aus dem Katechon ein positiver Wert; Melito macht aus dem antichristlichen Rom eine heilsgeschichtliche Größe. Schließlich wird aus alledem das bergende Rom als wünschenswertes Katechon. Die fünfte Stelle, die sich in dem 212 geschriebenen Brief an Scapula, Proconsul in Afrika, findet, entspricht inhaltlich den beiden Stellen im Apologe ticum. Auf eine Erörterung kann deshalb verzichtet werden. Die Deutung, die Tertullian in seinem Apologeticum gibt, wurde die bis zur Reformation fast unangefochtene opinio communis - bemerkenswerterweise auch die positive Wertung, obwohl - wie bereits gesagt - die in de oratione sichfindende Sicht der Dinge den Intentionen der Evangelien wohl mehr entspricht. Wie ist es nun zu erklären, daß Tertullian in Schriften, die fast zur gleichen Zeit entstanden sind, so grundverschiedene Katechon-Deutungen vertritt? Die Schwierigkeit besteht nicht darin, daß einmal das Gebet der Kirche, das andere Mal das imperium Romanum das Ende aufhalten soll - wie wir gesehen haben, läßt sich beides durchaus verbinden - , sondern in dem Umstand, daß das Aufhalten einmal als wünschenswert erscheint, das andere Mal entschieden nicht. Auch bei sehr viel gutem Willen ist es nicht möglich, diese zwei verschiedenen Versionen auf eine gemeinsame Grundlage zurückzuführen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt unseres Erachtens im Charakter Tertullians. Betrachtet man sein Werk genauer, hat "man sich von dem ersten bestrikkenden Zauber der tertullianischen Schriften losgemacht"73, so fällt die Leichtigkeit auf, mit der er die Standpunkte wechselt, Argumente, die er eben noch als unzulässig erklärt hat, selbst verwendet, wie er dasselbe einmal verherrlicht, das andere Mal verdammt. So versichert er etwa im Apologeticum, daß die Christen selbstverständlich am gesamten bürgerlichen Dasein in allen Zweigen des Geschäfts- und Erwerbslebens wie jedermann teilnehmen.74 In der Schrift de idolo latria schränkt er dagegen die Zahl der erlaubten Tätigkeiten dermaßen ein, daß von einer ernsthaften Beteiligung der Christen am wirtschaftlichen Leben kaum noch die Rede sein kann. 75 Man fühlt sich an einen 'Sophisten', an einen erfolgreichen Anwalt erinnert, der mit gleicher Vehemenz einmal das eine, das anderemal das Gegenteil vertritt und dabei vor keinem rhetorischen Kunstgriff zurück-

4*

73

Holl 1928, 8.

7 4

Apol. 42.

75

Vgl. v.Campenhausen 1986, 20f.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

52

schreckt. Es stellt sich die Frage: "Ist Tertullian im Grunde ein Mann ohne Ernst und Tiefe, ist er ein Advokat, der jede Meinung rechtfertigen kann? Oder, wenn es ihm ernst bei der Sache ist, wo spricht er dann im Ernst?" 76 Wofür kämpft Tertullian, wofür tritt er ein? Was ist sein eigentliches, sein Grundanliegen? Durch sein ganze Werk halten sich folgende Ideen durch: der Glaube an Gottes Güte und Gerechtigkeit, der Glaube an Dämonen, die den Menschen plagen und ständig zum Bösen reizen, und der Glaube an ein künftiges Gericht. Auf diese "Grundpfeiler seines Christentums"77 lassen sich alle seine Bemühungen zurückführen, sie sind der gemeinsame Nenner all seiner Schrift. Tertullian ist kein Systematiker wie etwa Irenäus; es ist nicht seine Sache, von einigen Axiomen aus ein in sich konsistentes Theoriegebäude zu errichten. Vieles, was er an Argumenten verwendet, ist Mittel zum Zweck, d.h. man ist flexibel, wenn der Zweck mit anderen oder gar gegenteiligen Argumenten besser erreicht werden kann. Seine Schriften entstanden aus der Situation heraus, auf konkrete Fragen hin, an bestimmte Adressaten gerichtet, und von daher sind sie auch zu verstehen. Die Schrift de oratione entstand aus Tertullians Tätigkeit als Lehrer der Katechumenen. Sie gibt Vorschriften über das Gebet im allgemeinen und erklärt das Vater-Unser. 78 Dieses Werk wendet sich an Christen bzw. angehende Christen. Damit ist schon Entscheidendes über seinen Charakter gesagt. Nicht die Rechtfertigung des Glaubens gegenüber Nichtchristen, keine Verteidigung ist das Ziel, sondern eine vertiefende Einführung bereits Bekehrter in den Glauben. Entsprechend steht im Mittelpunkt die spezifisch christliche Hoffnung auf die Wiederkehr des Herrn, auf die Vollendung des Reiches Gottes. Die Adressaten wurden Christen, um Anteil zu haben an der künftigen Herrlichkeit, um der Trost- und Hoffnungslosigkeit des irdischen Lebens zu entrinnen, und nicht um die Existenzdauer des irdischen Jammertales zu verlängern. Tertullian spricht hier zu Seinesgleichen, zu Brüdern und Schwestern in Christo, die die Vorstellung des nahen Weltendes nicht schreckt. Über den Inhalt des Apologeticums haben wir bereits ausführlich gesprochen. Sowohl die Adressaten wie auch die Zielsetzung unterscheiden sich erheblich von obiger Schrift. Tertullian geht es hier um den Nachweis der 'Sozialverträglichkeit' der Christen. Er muß zeigen, daß die Christen keine Staatsfeinde sind, daß sie zu tolerieren, ja geradezu zu fordern sind. Der Zweck scheint hier manches zu heiligen, so auch die - streng genommen unzutreffende - Behauptung, den Christen liege etwas am Erhalt dieser Welt. Entscheidend ist die - von Ter-

76

Holl 1928,9.

77

Ebd.

78

Vgl. Altaner 1978,157.

IV. Geschichte der Rom-Deutung des Katechon

53

tulllian auch in anderen Werken nicht bestrittene - Aussage, daß die Christen für das Reich keine Gefahr darstellen, daß Kirche und Obrigkeit grundsätzlich friedlich nebeneinander leben können. Damit wird einmal mehr einem gewalttätigen Guerilla-Christentum (etwa nach dem Vorbild der Zeloten) eine Absage erteilt.

IV. Geschichte der Rom-Deutung des Katechon 1.

Mittelalter

Der Untergang des weströmischen Reiches im Jahre 476 bedeutete keineswegs das Ende der Deutung Roms als Katechon. Noch bestand die östliche Reichshälfte, und die byzantinischen Kaiser verstanden sich denn auch - wie ihr Titel βασιλ€ύ$- των 'Ρωμαίων zeigt - als die Nachfolger und Erben der Kaiser in Rom. Daß sie in dieser Stellung auch allgemein anerkannt wurden, zeigt der Umstand, daß die germanischen Eroberer immer noch eine Legitimierung ihrer Herrschaft durch Konstantinopel suchten. Zumindest in den Anfängen der germanischen Reichsgründungen wurde der römische Reichsgedanke in der spezifischen byzantinischen Ausformung der Idee von der 'Familie des Kaisers' anerkannt, dessen 'Söhne' alle anderen Herrscher und Fürsten sind - weil der Kaiser allein die Quelle legitimer Macht und Herrschaft ist. Auch als Byzanz sich für das Bewußtsein des Westens immer mehr entfernte, immer fremder wurde, war damit das Ende Roms nicht erreicht. In der Krönung Karls zum römischen Kaiser wurde schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts eine Übertragung des römischen Imperiums auf die Franken gesehen, eine 'Translatio imperii a Graecis ad Francos'. Dies und die spätere mehr stillschweigend geschehene Weiterübertragung des römischen Imperiums an die Deutschen sicherte den Bestand der Welt bzw. die Deutung des Katechon als Rom während des ganzen Mittelalters. 1 Als Vertreter der Rom-Deutung im frühen Mittelalter sind zu erwähnen Johannes von Damaskus (gest. 754) und der 'primus praeceptor germaniae' Hrabanus Maurus (geb. um 780, gest. 856). 2 Ein ausführlicher Kommentar zu dem zweiten Thessalonicherbrief aus dem 9. Jahrhundert ist unter dem Namen Haimos von Halberstadt überliefert. 3 Haimo war in Fulda Mitschüler des Hrabanus Maurus, wurde 840 Bischof von Halberstadt und starb 853. Allerdings zeigen neuere Forschungen, daß nicht dieser

1

Vgl. Maier 1973, 134.

2

Vgl. Bornemann 1894, 466.

3 Vgl. zum Folgenden: Artikel 'H.v.Halberstadt' u. 'H.v.Auxerre' in: Lexikon des Mittelalters. Bd. I , IV. Zürich 1989.

54

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

Haimo, sondern Haimo von Auxerre der wirkliche Autor des Kommentars - wie vermutlich auch aller anderen Halberstadt zugeschriebenen Werke - ist. Diese Verwechslung, die auf Johannes Trithemius (gest. 1516) zurückgeht, ist insofern erklärlich, als wir von Haimo von Auxerre nicht viel mehr wissen, als daß er um die Mitte des 9. Jahrhunderts als Lehrer tätig war. Zu 2.Th 2 7 schreibt Haimo: "Id est hoc solummodo restât, ut Nero, qui nunc tenet imperium totius orbis, tantdiu teneat illud donee de medio mundi tollatur potestas Romanorum. In Nerone comprehendit omnes imperatores Romanos qui post ilium imperii sceptra tenuerunt."4 Abgesehen von dem kurzen Umweg über Nero wird auch hier die Ansicht vertreten, daß das römische Reich den Antichristen aufhält. Auf das Referieren beschränkt sich im Hohen Mittelalter Herveus Burgidolensis (12. Jahrhundert) wenn er schreibt: "Quoniam scire illos dixit, aperte hic dicere noluit; et ideo nos, qui nescimus, quod illi sciebant, aut vix aut nequaquam pervenire valemus ad id, quod ipse in hoc loco sensit. De Romano tamen imperio intelligitur etc."5 Der Natur seines Werkes gemäß ebenfalls nur referierend erwähnt etwa zur gleichen Zeit auch Petrus Lombardus (gest. 1160) in den Sentenzen die RomDeutung.6 Mehr Gedanken machte sich Thomas v. Aquin. In seinem Kommentar zum zweiten Thessalonicherbrief erwähnt er zu 2 6.7 neben der Deutung auf dai Glauben auch die auf Rom.7 Etwas weiter oben in der selben Schrift entwickelt er die Variante Rom weiter: "Iamdiu gentes recesserunt a Romano imperio et tamen needum venit Antichristus. Dicendum, quod nondum cessavit imperium, sed est commutatum de temporali in spirituale, ut dicit Leo papa in sermone de Apostolis; et ideo discessio a Romano imperio debet intellegi non solum a temporali sed etiam a spirituali, scilicet a fide Romanae Ecclesiae."8 Offensichtlich ist Thomas nicht der Meinung, das römische Reich lebe im Reich der deutschen Kaiser weiter. Einfach so untergegangen kann es aber auch nicht sein, sonst wäre der Antichrist bereits erschienen. Die Lösung: das imperium Romanum hat eine Wandlung erfahren, d.h. es wurde von einem zeitlichen zu einem geistigen Reich. In zeitlicher Hinsicht ist das imperium Romanum längst untergegangen, die Völker haben sich zerstreut; in geistiger Hinsicht exisitiert es als Glaube der römischen Kirche weiter. Erst der Abfall nicht nur von dem zeitlichen, sondern

4

H.v.Halberstadt 1881, 781.

5

Zitiert nach Bomemann 1894, 568.

6

Vgl. Bornemann 1894, 569.

7

Vgl. Thomas v. Aquin 1953, 200.

8

Ebd., 198.

IV. Geschichte der Rom-Deutung des Katechon

55

auch von dem geistigen imperium Romanum führt zur Erscheinung des Antichristen.

2. Neuheit Die Reformation brachte insoweit eine Änderung in der Katechon-Deutung, als der Antichrist für Luther bereits gekommen war, die aufhaltende Macht also der Vergangenheit angehörte. Seit 1520 glaubte er fest, im Papstum den Antichristen sehen zu müssen, und noch fünfundzwanzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, veröffentlichte er die Schrift Wider das Papstum in Rom, vom Teufel gestiftet, in dem er wider den "allerhöllischsten Vater, Paul ΠΙ." seine Auffassung vom Antichristen zur Geltung bringt. Diese Auffassung Luthers hat auch in die staatsrechtlich-offiziellen Bekenntnisschriften des Protestantismus, etwa in die Schmalkaldischen Artikel (Π 4), Eingang gefunden. Der Papst wurde so zum offiziellen Antichristen des Protestantismus. In der Exegese blieb diese Sicht der Dinge über zweihundert Jahre gültig.9 Aber auch Luther hielt, wie - fast - alle anderen Reformatoren, der traditionellen Deutung des Katechon auf das römische Reich die Treue. Einziger Unterschied: für sie war das imperium Romanum untergegangen. Die Ausnahme unter den großen Reformatoren ist Calvin. In seinem Kommentar zum zweiten Thessalonicherbrief schreibt er zu 2 6: "Diese Stelle ist sehr verschieden gedeutet worden. Manche Ausleger denken dabei an das römische Reich. Der Bestand des römischen Reiches habe die Offenbarung des Antichristen aufgehalten. Diese geschichtliche Deutung hat ihre Berechtigung. Doch glaube ich, daß Paulus nicht an das römische Reich, sondern an die Predigt des Evangeliums gedacht hat.... Die Leser mögen nun selbst prüfen, ob wohl Pauli Meinung war, erst müsse das Licht des Evangeliums über die ganze Erde hin verbreitet werden, bevor Gott dem Satan freie Hand lasse, oder: die Macht des römischen Reiches hindere den Antichrist an seinem Hervortreten. Ich glaube den Paulus zu hören, wie er von der allgemeinen Berufung der Nationen spricht, wie dem ganzen Erdkreis Gottes Gnade angeboten werden müsse, damit die Gottlosigkeit der Menschen hernach klar hervorträte. Das war die Verzögerung, daß erst das Evangelium seinen Lauf vollenden mußte."10 Calvin spricht der Rom-Deutung keineswegs jede Berechtigung ab; sie stellt eine mögliche und legitime Interpretation dar. Er selbst zieht allerdings eine

9

Vgl. Bornemann 1894,415.

10

Calvin, 386.

Β. Die traditionelle Lehre vom Katechon

56

nicht-politische, religiöse Deutung vor und glaubt, daß erst wenn die Anweisung Christi: "Darum gehet hin und machet alle zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vater und des Sohnes und des heiligen Geistes" (Mt 28 19) erfüllt ist, das Ende der Zeiten anbrechen und der Antichrist kommen wird. Diese Deutung unterscheidet sich von der üblichen auch dadurch, daß hier das Katechon keine positive Bewertung erfährt: die Situation, daß noch nicht alle Menschen das lebenspendende Wort Gottes gehört haben, kann unmöglich als wünschenswert gelten. Die einfache Menschenliebe, die Sorge um das Seelenheil, gebietet, die Missionierung der Heiden so schnell wie möglich zu vollenden. Schwierigkeiten bereitet der Umstand, daß Calvin auf der Identifizierung des Antichristen mit dem Papstum besteht.11 Damit scheint zum einen das Katechon, die noch nicht vollendete Verbreitung des Evangeliums, weiter zu bestehen, zum anderen ist der Antichrist bereits gekommen. Aber möglicherweise glaubt Calvin in der Wiederherstellung der reinen Lehre und seiner Verbreitung in Europa der Weisung Christi genüge getan zu haben. Dafür spricht die Verwendung des Imperfekts in :"... das erst das Evangelium seinen Lauf vollenden mußte" In diesem Fall ist der Katechon bereits beseitigt, und die Tatsache, daß der Antichrist, der Papst, bereits im Tempel Gottes sitzt, findet eine befriedigende Erklärung. Während der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts gab es kaum jemanden oder etwas von auch nur einiger Bedeutung, das nicht als Antichrist oder zumindest als antichristlich bezeichnet wurde. 12 Auf katholischer Seite waren der Verwendung des Begriffs durch das Festhalten an dem zukünftigen Erscheinen des Antichristen zwar Grenzen gesetzt, für die Protestanten galt eine solche Einschränkung jedoch nicht. Eine solch exzessive Verwendung führte zwangsläufig zu einer Entwertung, und so verwundert es nicht, daß der Begriff für die Deutung der politischen Gegenwart an Bedeutung verlor. 13 Die historisch-kritische Betrachtungsweise, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte14, machte den Antichrist schließlich zu einer mythischen Figur 15 und den Katechon zu einer Denksportaufgabe für Theologen, Altphilologen und Anverwandte.

11

Vgl. ebd., 383.

12

Vgl. Artikel 'Antichrist' IV 2 in: TRE. Bd III.

13

Vgl. ebd. IV 3.

14

Vgl. Bornemann 1894,401.

15

Z.B. bei Dibelius 1937,47.

C. Carl Schmitt und der Katechon Nachdem der Katechon im Gefolge der Reformation außerhalb der spezialisierten Paulus-Exegese praktisch jede Bedeutung verloren hatte, nahm Carl Schmitt, einer der "einflußreichsten Juristen und politischen Denker des 20. Jahrhunderts"1 den Faden wieder auf. Über mehrere Jahrzehnte hin verwendete er diesen Begriff immer wieder in seinem politischen und geschichtsphilosophischen Denken. Nachdem die Entstehung der über die Jahrhunderte vorherrschenden Deutung das imperium Romanum als Katechon - ausführlich geschildert worden ist, wird im folgenden untersucht, welche Vorstellungen Schmitt mit diesem Begriff verband.

I. Übersicht In den sechs Jahre nach seinem Tod unter dem Titel Glossarium veröffentlichten Aufzeichnungen der Jahre 1947 bis 1951 notierte Schmitt unter dem Datum des 11. Januar 1948 den Text einer "Antwort an Pierre Linn". Dort heißt es u.a.: "Vous connaissez ma théorie du κατέχων, elle date de 1932." Wir werden auf den ganzen Text noch zurückkommen. Für den Moment geht es uns nur darum, daß Schmitt selbst den Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des Katechon in die Zeit kurz vor dem Ende der Weimarer Republik und noch vor seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus (Parteieintritt l.Mai 1933) datiert. Leider hat sich diese Beschäftigung jedoch nicht in den veröffentlichten Schriften dieser Zeit niedergeschlagen. Möglicherweise könnten die - bisher unveröffentlichten - Tagebücher der Jahre 1932 bis 1934 Aufschluß über Schmitts damalige 'théorie du κατέχων' geben.2

1 2

Ottmann 1990,61

Möglicherweise könnten die Tagebücher dieser Zeit auch darüber Auskunft geben, wie Carl Schmitt auf den Katechon gestoßen ist. Karlfried Gründer meint, Schmitt habe den Begriff von dem evangelischen, später katholischen Theologen und Spezialisten für das frühe Chnstentum Erik Peterson übernommen (in: Quaritsch 1988, 230). Eine durchaus plausibel klingende Vermutung, bedenkt man die doch recht enge Beziehung, die zeitweise zwischen Peterson und Schmitt bestand. Eine recht ausführliche Beschreibung dieser Bekanntschaft gibt Barbara Nichtweiß in ihrer Peterson-Biographie (Freiburg 1992, 727ff.). Schmitt und Peterson lernten sich 1924 in Bonn kennen und trafen sich daraufhin regelmäßig, bis Schmitt - sehr zum Leidwesen Petersons - 1928 nach Berlin ging. 1932 (sie!) unternahmen sie gemeinsam eine von Ende März bis Anfang Mai dauernde Reise nach Rom. Während Schmitts steiler NS-Karriere brach der

58

C. Carl Schmitt und der Katechon

So wird Schmitts Beschäftigung mit dem Katechon erst zehn Jahre später, 1942, faßbar. In diesem Jahr verwendet er den Begriff gleich in zwei Publikationen in jeweils unterschiedlicher Weise. Am 19. April erschien in Das Reich ein Artikel mit dem Titel: Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre. Schmitt macht sich darin - anläßlich des Kriegseintritts der USA - recht unfreundliche Gedanken über die weltgeschichtliche Rolle der angelsächsischen Mächte, insbesondere der Vereinigten Staaten. In der Schrift Land und Meer erklärt er die Ereignisse der Zeit als Ausdruck des jahrhundertealten Antagonismus zwischen 'maritimer Existenz' und 'terraner Existenz'. Hier wird das Katechon zweimal eher beiläufig ewähnt (S.19, 80). 1943/44, die Niederlage Hitler-Deutschlands war inzwischen auch für manche Anhänger der Regimes denkbar geworden, entstand der Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. Schmitt sucht hier zu zeigen, daß die gegenwärtige Situation durch den im 19. Jahrhundert auftauchenden Gegensatz von Legalität und Legitimität bestimmt wird. Für unser Thema von Interesse ist die Nachbemerkung zur Wiederveröffentlichung des Vortrage in der Sammlung Verfassungsrechtliche Aufsätze aus dem Jahre1958. Darin werden Savigny und Hegel als Katechonten bezeichnet (S.428f.). Genau genommen handelt es sich also um eine ziemlich späte Äußerung zum Katechon-Begriff. Da aber Schmitt selbst offensichtlich der Meinung war, in der Nachbemerkung nichts zu sagen, was nicht schon im eigentlichen Text enthalten ist, werden wir die Stelle - mit Vorbehalt - in dieser zeitlichen 'Verortung' belassen. Dank der 1991 erfolgten Veröffentlichung des - bereits erwähnten - Glossariums ist es möglich, Schmitts Beschäftigung mit dem Katechon zwischen Dezember 1947 und Oktober 1949 zu verfolgen. Zumeist handelt es sich hierbei um kurze Bemerkungen, Stichworte, ohne weitere Ausarbeitung. 1950 erschienen drei für unser Thema relevante Schriften. Einmal Ex captivi tate salus (mit dem Untertitel: Erfahrungen der Zeit 1945/47), eine Sammlung von Aufsätzen, die in der amerikanischen Gefangenschaft entstandenen waren. Verwendet wird der Katechon-Begriff in dem Aufsatz Historiographia in Nuce: Alexis de Tocqueville (S.31). In der Zeitschrift Universitas (5.Jg., Heft 8) veröffentlichte Schmitt einen Aufsatz mit dem Titel: Drei Stufen historischer Sinngebung. In AuseinandersetKontakt ab. 1936 reiste Schmitt wieder nach Rom und besuchte dort neben Mussolini auch Peterson. In den Kriegsjahren brach der Kontakt erneut ab, wurde nach dem Krieg wieder aufgenommen und endetet 1950 oder 1951 endgültig. Die erhaltenen Briefe und Karten Schmitts an Peterson zeigen, "daß der gelehrte Peterson fur Schmitt eine Fundgrube von Informationen und Anregungen war"(740). Peterson verwendete u.W. den Ausdruck Katechon zwar in keiner Publikation, er scheint allerdings an einer Stelle in Die Kirche (München 1929, 5) auf die Thessalonicherstelle anzuspielen.

59

II. Einzeldarstellungen

zung mit Karl Löwith entwickelt Schmitt hier die Idee des Katechon als eine Stufe 'historischer Sinngebung'. Schließlich erschien in diesem Jahr Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. In dieser Schrift verwendet Schmitt unseren Begriff zweimal: das erstemal im dritten einleitenden Corollarium: 'Hinweise zum Völkerrecht des christlichen Mittelalters', Abschnitt b): 'Das christliche Reich als Aufhalter des Antichrist (Kat-Echon)' (S.28ff); das zweitemal im zweiten Teil: 'Die Landnahme einer neuen Welt', Kapitel 1: 'Die ersten globalen Linien* (S.55). In dem Artikel Die andere Hegel-Linie - Hans Freyer zum 70. Geburtstag, 1957 in der Zeitschrift Christ und Welt (lO.Jg., Nr. 30 vom 26. Juli) veröffentlicht, deutet Schmitt die Verwendung des Aufhalters in Freyers Weltgeschichte Europas aus. Der Ort der letzten Erwähnung des Begriffs Katechon ist zugleich das letzte Werk Carl Schmitts. 1970 veröffentlichte er Politische Theologie IL Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie. Darin setzt er sich in erster Linie mit der Kritik auseinander, die mehr als fünfündvierzig Jahre zuvor Erik Peterson an Politische Theologie, erschienen 1922, übte. So interessant die Schrift im Hinblick auf Petersons Kritik auch sein mag, bezüglich des Katechon ist sie nicht sehr erhellend. Im II. Kapitel: 'Das legendäre Dokument', Abschnitt 5: 'Eusebius als Prototyp Politischer Theologie' (S.81) referiert Schmitt zum einen die Deutung Petersons: das Katechon ist der Unglaube der Juden, zum anderen stellt er die - sicher nicht uninteressante - Frage, wie Eusebius sich zur Deutung auf das imperium Romanum stellte. Eine nähere Erörterung erübrigt sich.3

Π. Einzeldarstellungen 1. Beschleuniger wider

Willen

Obwohl offiziell neutral, unterstützten die Vereinigten Staaten von Amerika seit dem Sommer 1940 Großbritannien und seine Verbündeten mit umfangreichen Lieferungen an Kriegsgerät und sonstigem kriegswichtigen Material. Im März 1941 billigte der Kongreß die 'Lend Lease Act' und ermöglichte damit Lieferungen auch ohne Bezahlung. Als am 7. Dezember 1941 die Japaner Pearl Harbor angriffen und die amerikanische Pazifikflotte zu einem großen Teil zerstörten, erklärten die USA am darauffolgenden Tag den Japanern den Krieg, worauf Deutschland und Italien am 11. Dezember 1941 den USA den Krieg erklär-

3

Vgl. oben S.57, Anm.2 .

60

C. Carl Schmitt und der Katechon

ten. Diese waren jedoch nicht auf das Führen eines Krieges - zumal auf zwei so verschiedenen Kriegsschauplätzen - vorbereitet und brauchten Zeit, um ihre Friedenswirtschaft auf Kriegswirtschaft umzustellen. So dauerte es fast ein ganzes Jahr, bis das militärische Engagement der USA in Europa spürbar wurde. Damit ist die geschichtliche Lage kurz skizziert1, in der Carl Schmitt mit seinem Artikel Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre im April 1942 zum Zeitgeschehen Stellung nimmt. Schmitt beginnt seinen Ausführungen mit einer Beurteilung der Folgen, die der amerikanische Kriegseintritt bis dato hatte. Mit gar nicht feiner Ironie wendet er sich gegen jene, die geglaubt haben, die bloße Drohung der USA weide die Wende bringen. Offensichtlich haben sich dergleichen Hoffnungen als Täuschung erwiesen. Aber auch diejenigen, die wenigstens von der tatsächlichen amerikanischen Teilnahme am Krieg eine "überwältigende Wirkung" erwartet haben, sind einem Irrtum erlegen: "Der Eintritt der Vereingten Staaten in den Krieg war offenbar nicht kriegsentscheidend."2 Wenn es den USA also nicht beschieden ist, die Allierten durch ihre Macht und Stärke zum Sieg zu führen, "so fragt es sich, worin weltgeschichtlich und weltpolitisch sein [des Kriegseintritts] Inhalt und seine Bedeutung eigentlich bestehen". Das 19. Jahrhundert war weltpolitisch geprägt vor allem durch "die alles beherrschende Tatsache der britischen Seemacht". England war eine Seefahrer- und Handelsnation mit Stützpunkten überall auf der Welt. Entsprechend vertrat es die Ideale "von freiem Weltmarkt, freiem Welthandel, Freizügigkeit der Arbeit und des Goldes". Um die eigenen Interessen zu schützen, mußte England an der Durchsetzung einer überall in der Welt gültigen Ordnung größtes Interesse haben, d.h. es konnte nicht zulassen, daß ein Land oder ein Gebiet von nur einiger ökonomischer Bedeutung nach eigenen Regeln spielte und protektionistische oder ähnliche Allüren entwickelte. Der Anspruch auf universale Geltung der eigenen Ordnungsvorstellungen waren auf das engste mit dem Wesen der britischen Seemacht verbunden, das Empire verstand sich deshalb als Weltordnungsmacht. Die USA wollen das Erbe Englands übernehmen. Neben der Übernahme der ökonomischen Ideale wird für die USA ein anderer Erbteil besonders wichtig: "Weltmarkt, Welthandel, Weltmeer und der große Mythos der Freiheit erhielten ihren konkreten Inhalt dadurch, daß die Angloamerikaner das fabelhafteste aller

1 2

Vgl. Bracher 1982, 201f.

Der Artikel nimmt nur eine Zeitungsseite in Anspruch. Deshalb erübrigen sich im folgenden Seitenangaben.

II. Einzeldarstellungen

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Monopole innehatten, nämlich das Monopol, Hüter der Freiheit der ganzen Erde zu sein." Die Vereinigten Staaten als neue Hüter der Weltordnung - für Schmitt ein aus mehreren Gründen unsinniger Gedanke. Zum einen sind die Zeiten, als der amerikanische Mythos einer neuen Welt und der unbegrenzten Freiheit noch einen Bezug zur Wirklichkeit hatte, längst vorbei. Heute - 1942 - ist Amerika "von inneren, ungelösten Widersprüchen" zerrissen, es ist "nur noch das vergrößerte und vergröberte Spiegelbild der Problematik des alten Europa und der Alten Welt, und diese Problematik wird noch aufs äußerste gereizt und hochgetrieben durch den unverändert festgehaltenen Anspruch, immer noch die im alt gewordenen Sinne Neue Welt, immer noch das Land freien Bodens, freier Pioniere, freier Grenzer zu sein." Die Folge ist ein orientierungs- und entscheidungsloses, ein "taumelndes Amerika", das durch sein Eingreifen in die Weltauseinandersetzungen "nur die allgemeine Verwirrung [vermehrt] und ... nur den Weltbrand [schürt], aus dem die gequälten Völker verzweifelt einen Ausweg suchen". Dazu kommt, daß die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu anderen Ländern bestimmt wird vom Primat der Wirtschaft. Die traditionelle Trennung von Handel und Politik - entsprechend dem Grundsatz : soviel Handel wie möglich, so wenig Politik wie möglich - läßt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten: "Die Interessen eines Weltkapitalismus zwingen zu einer allgegenwärtigen, 'ubiquitären' Einmischungs- und Nicht-Anerkennungspolitik, die sich anmaßt, zu jeder an irgendeinem Punkt der Erde eintretenden Aenderung der Lage von Washington aus das Placet zu erteilen oder zu verweigern." Die Vorstellung, Welthandel ohne Weltpolitik treiben zu können, ist eine Illusion, die von der Wirklichkeit widerlegt wird. Entsprechend können die Vereingten Staaten ebensowenig vom angelsächsischen Modell abweichende Ordnungs- und Freiheitsideale zulassen wie das britische Empire. Der Anspruch, Hüter der Freiheit zu sein, wird so mehr als zweifelhaft. Das Erbe des Empire umfaßt aber nicht nur die Sorge um den freien Welthandel und die Freiheit im allgemeinen, sondern auch eine weniger glänzende Aufgabe. Mit der Weiterfuhrung der britischen See- und Weltherrschaft treten die Vereinigten Staaten unter das Gesetz, "dem die politische Existenz des britischen Reiches im letzten Jahrhundert folgerichtig unterstand. England war der Konservator aller 'kranken Männer' geworden." Vom 'kranken Mann am Bosporus' bis zu den indischen Feudalherren unterstützte es Regimes aller Art, die sich selbst überlebt hatten und ohne diese Hilfe nicht überleben konnten: "England war in die Rolle des großen Verzögerers der weltgeschichtlichen Entwicklung geraten und in dieser Rolle wie festgebannt." Das Empire war wohl nicht zufällig in diese Lage gekommen, denn: "Es scheint das allgemeine Gesetz aller altgewordenen Reiche zu sein, das England zum Hindernis jeder vernünftigen Änderung, schließlich sogar zum Hindernis jedes starken Wachstums gemacht hat."

62

C. Carl Schmitt und der Katechon

An dieser Stelle schiebt Schmitt einen längeren Exkurs zum Thema 'Verzögerer' bzw. 'Aufhalter' ein, den wir im folgenden vollständig zitieren: "Die Historiker und Geschichtsphilosophen sollten einmal die verschiedenen Figuren und Typen der weltgeschichtlichen Aufhalter und Verzögerer untersuchen und darstellen. In der Spätantike und im Mittelalter glaubten die Menschen an eine geheimnisvoll aufhaltende Macht, die mit dem griechischen Wort 'kat-echon' (Niederhalten) bezeichnet wurde und die es verhindert, daß das längst fällige apokalyptische Ende der Zeiten jetzt schon eintrat. Tertullian und andere sahen in dem damaligen, alten Imperium Romanum den Verzögerer, der durch seine bloße Existenz den Äon 'hielt' und eine Vertagung des Endes bewirkte. Das europäische Mittelalter hat diesen Glauben übernommen und wesentliche Vorgänge mittelalterlicher Geschichte sind nur von ihm aus verständlich. In einem anderen, aber doch wieder analogen Sinne war Hegel, der letzte große systematische Philosoph Deutschlands, in den Augen Nietzsches nichts als ein Verzögerer und Aufhalter auf dem Wege zum wahren Atheismus. Aber auch in einzelnen Figuren und Persönlichkeiten der politischen Geschichte können aufhaltende und verzögernde Kräfte in eigentümlicher, symbolischer Weise Gestalt annehmen. Der alte Kaiser Franz Joseph schien durch sein bloßes Dasein das Ende des überalterten habsburgischen Reiches immer wieder aufzuhalten, und wenn damals die Meinung verbreitet war, Oesterreich werde nicht zusammenbrechen, solange er lebte, so war das mehr als törichter Aberglaube. Nach dem Weltkrieg 1918 kam dem tschechischen Präsidenten Masaryk die Funktion eines Aufhalters in entsprechend kleinerem Maßstab zu. Für Polen wurde der Marschall Pilsudski zu eine Art von 'kat-echon'. Vielleicht genügen diese Beispiele, um den politischen und geschichtlichen Sinn anzudeuten, der in der Rolle des Verzögerers enthalten sein kann." Im ersten Teil gibt Schmitt in aller Kürze einen Überblick über die Verwendung der Idee in der Spätantike und im Mittelalter. Interessant ist die Behauptung, daß von Tertullian und anderen das alte imperium Romanum als Aufhalter angesehen wurde. Nach einem kurzen Abstecher in die Philosophie - Hegel, von Nietzsche gesehen - , zählt er im letzten Teil seiner Ausführungen eine Reihe von Persönlichkeiten auf, die in der - für Schmitt - jüngsten politischen Geschichte die Rolle des Verzögerers bzw. Aufhalters übernommen haben. Die Auswahl ist bezeichnend: Kaiser Franz Joseph war der Repräsentant des Inbegriffs eines 'altgewordenen' Reiches, eines Vielvölkerstaates, der im Zeitalter nationaler oder gar 'völkischer' Selbstbesinnung als überlebt gelten mußte. Masaryk erlangte 1918 die Zustimmung der allierten Politiker zur Auflösung der Habsburgermonarchie und zur Errichtung einer selbständigen Tschechoslowakei.3 Bis zu seinem Tod 1935 war er Präsident dieses Staates. Nach der völki-

II. Einzeldarstellungen

63

sehen Ideologie der Nationalsozialisten war der Zwei- bzw. (mit der starken deutschen Minderheit) Drei-Völkerstaat ein Unding, ein Anachronismus. Schmitt sieht offensichtlich in Masaryk die Persönlichkeit, die die Auflösung, das Ende dieses seinem Prinzip nach überlebten Staatsgebildes noch aufhielt. So paßt es denn auch ins Bild, daß die Tschechoslowakei ihren Staatsgründer kaum mehr als drei Jahre überlebte. Eine in mancher Hinsicht ähnliche Rolle wie Masaryk spielte Pilsudski für sein Land. Er war ebenfalls maßgeblich an der Wiederherstellung Polens 1918 beteiligt und regierte das Land mit Unterbrüchen zuerst als gewähltes Staatsoberhaupt, später als Diktator bis zu seinem Tod 1935. 4 Polen stand über hundertzwanzig Jahre unter Fremdherrschaft. Seine Unabhängigkeit bedeutete für die beiden Großmächte Deutschland und Sowjetunion Gebietsverluste, die von beiden nur sehr widerwillig hingenommen wurden. Sehr bezeichnend für diese Haltung ist eine Äußerung von General von Seeckt, damals immerhin Chef der deutschen Heeresleitung, aus dem Jahre 1922: "Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene, innere Schwäche und durch Rußland - mit unserer Hilfe." 5 Daß die Nationalsozialisten genauso dachten, beweisen die Ereignisse im Herbst 1939. Anscheinend war Schmitt der Ansicht, ohne den 'starken Mann' Pilsudski hätte Polen seine 'unnatürliche' Existenz wider die Interessen so starker Völker nicht so lange bewahren können. Es sind immer 'alte' oder zumindest anachronistische Reiche oder Staaten, die Schmitt hier mit dem Katechon-Begriff verbindet. Die Donau-Monarchie, die Tschechoslowakei, Polen - sie alle gehörten 1942 nicht zu den Gewinnern der Weltgeschichte, sie alle standen dem Fortschritt im Wege. Für Schmitt ist 'katechon' hier ein entschieden negativer Begriff: 'aufgehalten' wurden nicht das Ende der Welt, sondern die Ankunft eines 'neuen Aeon'! Auch das britische Empire ist einer der großen Verzögerer der Weltgeschichte, auch es hält - in sehr viel größerem Ausmaß als die oben erwähnten Katechonten - den Anbruch des Neuen auf. Aber worin besteht dieses Neue? Schmitt schreibt: "Das große Thema des gegenwärtigen Weltkrieges liegt ... in dem Gegensatz gegen eine ... universale Weltmacht und ihren Weltordnungsanspruch. Gegen den Universalismus angloamerikanischer Weltherrschaft hat sich der Gedanke einer in kontinental zusammenhängenden Großräumen sinnvoll eingeteilten Erde durchgesetzt. Es kann

3

Vgl. v.Salis III 1980, 130ff.

4

Vgl. ebd., lOOff.

5

Michalka / Niedhart 1984, 144.

64

C. Carl Schmitt und der Katechon

keine gelenkte Weltwirtschaft geben. Großräume sind die dem inneren Maß menschlicher Planung und Lenkung angemessenen Räume." Die Unwiderstehlichkeit des "modernen Großraumgedankens" demonstriert die Schnelligkeit, mit der es den Japanern gelungen ist, die hervorragend ausgestatteten Stützpunkte "raumfremder Mächte" im "ostasiatischen Großraum" zu "liquidieren". Was Schmitt unter dem "Universalismus angloamerikanischer Weltherrschaft" versteht, haben wir bereits gesehen; was aber versteht er unter "Großraum"? Ein Kennzeichen eines Großraums ist sein kontinentaler Zusammenhang, d.h. ein Großraum, der sich zusammensetzt aus ein paar Besitzungen in Afrika, ein paar Besitzungen auf dem amerikanischen Kontinent und vielleicht noch die eine oda: andere Besitzung in Asien, ist ein Widerspruch in sich. Schmitt wendet sich damit entschieden gegen die Herrschaftsprinzipien einer Seemacht. England war nie primär daran interessiert, große zusammenhängende Landmassen zu besitzen; sein terranes Interesse galt vielmehr Häfen und Stützpunkten als Tore für dai Handel mit dem Hinterland. Wichtig waren die ozeanischen Verkehrssträßen, sie waren der eigentliche Gegenstand des englischen Herrschaftsinteresses. Anders die Bestrebungen Japans: Sie waren von Anfang an auf die Beherrschung des asiatischen Kontinents gerichtet. 1931 wurde die Mandschurei besetzt und zwei Jahre später begann die - zuerst verdeckte, ab 1937 offene - Eroberung Chinas.6 Die großen Erfolge, die Japan bis Juni 1942 vor allem auch gegen die USA und die europäischen Kolonialmächte, insbesondere gegen die britische Seemacht erzielten, zeigten für Schmitt die Überlegenheit des neuen Prinzips gegenüber dem überlebten Universalismus der angloamerikanischen Mächte. Näheren Aufschluß über Schmitts Vorstellungen von einer neuen, auf Großräumen basierenden Weltordnung gibt der 1939 entstanden Aufsatz Der Reichsbegriff im Völkerrecht. Die Stützen der neuen Großraumordnung sind die Reiche. Unter 'Reiche' versteht Schmitt "die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen."7 Die Großraum-Idee hat also nichts damit zu tun, daß die Völker einer Region, etwa Ost-Asiens, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und über sich selbst bestimmen; die Idee ist vielmehr, daß ein Volk mit einer "politischen Idee" - was immer das sein mag - über die Region absolut herrscht und sich jede Einmischung anderer, "raumfremder" Mächte verbittet. Der Gegenbegriff zum 'Reich', das "wesentlich volkhaft bestimmt [ist] und eine wesentlich nichtuniversalistische, rechtliche Ordnung auf der Grundlage der

6

Vgl. Hall 1968, 319ff.

7

RiV, 303.

II. Einzeldarstellungen

65

Achtung jedes Volkstums [sie!]" darstellt, ist das 'Imperium1. Schmitt versteht unter diesem Begriff ein "universalistische[s], Welt und Menschheit umfassendes, also übervölkisches Gebilde"8. Ein solches Imperium ist per definitonem stets dazu bereit, sich in die Angelegenheiten anderer Völker einzumischen und diesen ihre Wert-Maßstäbe als universal gültige aufzuzwingen. Solange die westlichen Imperien die Weltordnung bestimmen, können neue Mäche, wie Japan und Deutschland, sich nicht ihrem eigenen Wesen nach entwickeln und ihre "politische Idee" in den ihnen 'natürlicherweise' zustehenden Großraum "ausstrahlen". "Sobald aber völkerrechtliche Großräume mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte anerkannt sind und die Sonne des Reichsbegriffs aufgeht, wird ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Erde denkbar und kann der Grundsatz der Nichtintervention seine ordnende Wirkung in einem neuen Völkerrecht entfalten." 9 Kehren wir zurück zu Schmitts Artikel vom April 1942. Das britische Weltreich war - wie wir gesehen haben - durch seinen Uni versalismus zum "großen Verzögerer der weltgeschichtlichen Entwicklung" geworden. Dadurch, daß die USA sich entschlossen hatten, die britische See- und Weltherrschaft weiterzuführen, unterwarfen sie sich - ob sie wollten oder nicht - "der aufhaltenden und verzögernden Daseinsrichtung des alten britischen Weltreichs". Damit gerieten sie aber in Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis als einer fortschrittlichen, auf die Zukunft ausgerichteten Macht. Einmal mehr stand der Mythos gegen die Wirklichkeit. Schmitt spricht den USA nicht nur die Fähigkeit zur Errichtung einer neuen Weltordnung ab, er sieht in ihnen nicht einmal einen großen Verzögerer und Aufhalter: "... die innere Entscheidungslosigkeit... verhindert diese wie jede andere echte Wirkung. Statt dessen vollzieht sich hier das Schicksal derer, die ohne Bestimmtheit des inneren Sinnes mit ihrem Schiff in den Mahlstrom der Geschichte gleiten. Sie sind weder große Beweger noch große Verzögerer, sondern können nur als Beschleuniger wider Willen enden." Schmitt war im April 1942 offensichtlich fest von der Unvermeidlichkeit der neuen Weltordnung überzeugt, und er hielt ihr Kommen auch für höchst wünschenswert. Damit war seine Situation - in formaler Hinsicht - vergleichbar mit deijenigen der ersten Christen, die voll Ungeduld auf den Anbruch des neuen Aeon warteten. Daß die Idee des Katechon nur gerade im zweiten Thessalonicherbrief erwähnt wird und ansonsten für die ersten Generationen der Christen anscheindend keine - schon gar keine positive - Rolle spielte, zeigt, daß sie kein Interesse an einer Verzögerung der Vollendung ihres Heils besaßen. Analog

8

Ebd.

9

Ebd.

5 Grossheutschi

C. Carl Schmitt und der Katechon

66

sah Schmitt sein Heil bzw. das Heil Deutschlands in der neuen Großraumordnung, deren baldige Verwirklichung er wünschte. Entsprechend konnte er Kräfte, die dieser Verwirklichung im Wege standen, d.h. Katechonten, nur negativ bewerten. Immerhin scheint er dem britischen Reich als authentischem Vertreter des Universalismus ein gewisses Maß an Achtung nicht versagen zu wollen. Das "taumelnde Amerika" dagegen, das eine Rolle übernehmen wollte, der es nicht gewachsen war, verdient in Schmitts Augen nicht einmal die Anerkennung als ernsthafter Gegner der neuen Ordnung.

2. Land und Meer Im selben Jahr wie der eben besprochene Artikel erschien die "weltgeschichtliche Betrachtung" Land und Meer (Leipzig 1942). Schmitt erzählt darin seiner (damals elfjährigen) Tochter Anima die Weltgeschichte als "eine Geschiche des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte"10. Er bedient sich dabei einer - von dem "deutschen Philosophen der Geographie"11 Ernst Kapp entliehenen - Dreiteilung der Geschichte in eine "potamische", von Flüssen bestimmte, eine "thalassische", von Binnenmeeren und vom Mittelmeer bestimmte und eine "ozeanische" Kultur. Die potamische Kultur blühte an den großen Flüssen, am Euphrat und Tigris und am Nil. Von besonderem Interesse ist diese Phase für Schmitt nicht. Wichtiger ist die zweite Phase, die thalassische Kultur. Als ihren typischen Repräsentanten bezeichnet Schmitt Venedig. Diese Stadt beherrschte zwar rund fünfhundert Jahre lang die Adria, das Ägäische Meer und den östlichen Teil des Mittelmeeres12, zu einer echten Seemacht wurde sie jedoch nie. Sie blieb eine Küstenmacht und gelangte nie zu "Verlagerung der geschichtlichen Gesamtexistenz vom Lande auf das Meer" 13 . Deutlich wurde dies, als im 16. Jahrhundert die großen Fahrten über die Ozeane begannen und die Venezianer nicht dabei waren. Für unser Thema ist diese Phase deshalb von Interesse, weil der erste von den zwei in dieser Schrift erwähnten Katechonten ebenfalls ein "Küstenreich" war. Nachdem die Araber 698 Karthago erobert hatten, beherrschten sie über Jahrhunderte das westliche Mittelmeer. Im östlichen Mittelmeer stand ihnen Byzanz gegenüber: "Es verfügte noch über eine starke Flotte und besaß ein geheimnisvolles Kampfmittel, das sogenannte griechische Feuer. Doch war es ganz in die 10

L u M , 16.

11

Ebd., 23.

12

Ebd., 21.

13

Ebd., 25.

II. Einzeldarstellungen

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Verteidigung gedrängt. Immerhin vermochte es als Seemacht etwas zu vollbringen, was das Reich Karls des Großen - eine reine Landmacht - nicht vermochte; es war ein wahrer 'Aufhalter', ein 'Katechon', ... es hat trotz seiner Schwäche viele Jahrhunderte lang gegen den Islam 'gehalten' und dadurch verhindert, daß die Araber ganz Italien eroberten. Sonst wäre, wie das damals mit Nordafrika geschehen ist, unter Ausrottung der antik-christlichen Kultur, Italien der islamischen Welt einverleibt worden." 14 Byzanz verhinderte in der Sicht Schmitts, daß das Zentrum der antik-christlichen Kultur, Italien, zerstört wurde, es bewahrte das Abendland vor den alle christliche Kultur ausrottenden Heeren des Islam. Byzanz war in der Tat jahrhundertelang das Bollwerk des Abendlandes gegen den Islam, insofern wirklich ein Katechon. Diese Tatsache wurde dem Abendland drastisch vor Augen geführt, als die Türken nach dem Fall Konstantinopels Ungarn eroberten und 1529 erstmals vor Wien standen.15 Der Umstand, daß Byzanz über eine beachtliche Flotte verfügte, die den Arabern jahrhundertelang die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer streitig machen konnte, trug tatsächlich wesentlich zu der lange erfolgreichen Ausführung der Katechon-Funktion bei. Ärgerlich ist allerdings das Islam-Bild, das Schmitt seiner Tochter vermittelt. Die Araber mögen viel Unerfreuliches getan haben - die Ausrottung der antikchristlichen Kultur gehört nicht dazu. Im Gegenteil: wie etwa das Beispiel Johannes von Damaskus, eines bedeutenden Führers der christlich-orthodoxen monastischen Bewegung in Syrien 16, zeigt, konnte christliche Kultur durchaus unter islamischer Herrschaft bestehen; auch wären ohne die bewahrende und vermittelnde Tätigkeit der Araber sicherlich große Teile des antiken Erbes dem Abendland für immer verloren gegangen. Schmitt baut hier ein Feindbild auf, das eher in die Zeit der Kreuzzüge paßt als in das 20. Jahrhundert. Aber wie dem auch sei - Byzanz ist an dieser Stelle ein sehr 'handfestes' Katechon, ausgerichtet nicht auf ein künftiges Entwicklungsstadium oder ein neues 'Aeon', sondern auf einen konkreten Gegner. Die Funktion von Byzanz als Katechon wird hier nicht - zumindest nicht primär - durch die geschichtsphilosophische Brille gesehen, sondern in demselben konkreten Sinn verstanden wie die 'Aufhalter'-Funktion einer Festungsmauer. Im 16. und 17. Jahrhundert begann die Zeit der großen überseeischen Landnahme. Spanien und Portugal erwarben sich in dieser Zeit riesige Kolonialreiche. Zur selben Zeit entstanden die ersten eigentlichen Seemächte, Holland und England. Insbesondere England machte - nach Schmitt - in dieser Zeit eine grundlegende Wandlung durch: "Es hat seine Existenz wirklich vom Land weg in

14

Ebd., 19.

15

Vgl. Diwald 1982, 181.

16

Vgl. Haussig 1966, 273.

*

C. Carl Schmitt und der Katechon

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das Element des Meeres verlegt." 17 Während Spanien, Portugal und Frankreich Landmächte blieben, vom Land her dachten und die Welt ordneten, machte England das freie Meer zu seinem Lebensraum. Der Gegensatz zwischen Land- und Seemächten wurde durch die Reformation zu einem Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus, oder genauer: zwischen Calvinismus und Jesuitismus: "Als die elementaren Energien der See im 16. Jahrhundert aufbrachen, war ihr Erfolg so groß, daß sie schnell in den Bereich der politischen Weltgeschichte eintraten. In diesem Augenblick mußten sie auch in die geistige Sprache ihrer Zeit eintreten. ... Sie mußten sich ihren geistigen Verbündeten, den kühnsten und radikalsten Verbündeten, suchen, denjenigen, der mit den Bildern der früheren Zeit am echtesten ein Ende machte."18 Dieser Verbündete war der Calvinismus. "Alle Nicht-Calvinisten erschraken vor dem calvinistischen Glauben, vor allem vor dem harten Glauben an die Auserwähltheit des Menschen von Ewigkeit her, an die 'Prädestination'. Weltlich gesprochen ist der Prädestinationsglaube aber nur die äußerste Steigerung des Bewußtseins, einer anderen als einer zum Untergang verdammten, korrupten Welt anzugehören. Er ist, in der Sprechweise der modernen Soziologie, der höchste Grad des Selbstbewußtseins einer Elite, die ihres Ranges und ihrer geschichtlichen Stunde sicher ist." 19 Das Neue und die Kühnheit einer "in das Element des Meeres verlegten" Existenz verlangte eine ebenso neue, kompromißlose, in einem gewissen Sinn 'reine', d.h. nicht von der verbrauchten und korrupt gewordenen Tradition verunreingte geistige Grundlage. Der Elite-Glaube des Calvinismus entsprach offensichtlich genau diesen Erwartungen. Die katholischen Landmächte antworteten auf den Calvinismus der Seemächte mit einer Radikalisierung ihrer Position, mit dem Jesuitismus. Der große Weltgegensatz dieser Zeit war also der Gegesatz zwischen dem Jesuitismus der Landmächte, vor allem Spaniens, und dem Calvinismus der Seemächte Holland und England: "Das war jetzt die weltpolitisch maßgebende Freund-Feind-Unterscheidung."20 Und auf welcher Seite stand Deutschland? Es stand auf keiner Seite, denn: "Das eigentümliche der damaligen Lage Deutschlands bestand nämlich darin, daß Deutschland sich in diesem Religionskrieg nicht entschieden hat und auch gar nicht entscheiden konnte."21 Es konnte sich nicht entscheiden, weil sich der deutsche Religionsstreit nicht einfach auf den Gegensatz zwischen Katholizis-

17

L U M , 53.

18

Ebd., 84.

19

Ebd., 83.

20

Ebd., 81.

21

Ebd.

II. Einzeldarstellungen

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mus und Protestantismus reduzieren ließ. Neben diesen beiden Parteien gab es nämlich noch die Lutheraner, und "der Haß der Lutheraner gegen die Calvinisten war nicht geringer als ihr Haß gegen die Papisten, auch nicht geringer als der Haß der Katholischen gegen die Calvinisten"22. Die Unentschiedenheit Deutschlands hatte aber einen noch tieferen Grund: "Der eigentliche Grund liegt darin, daß Deutschland damals von der europäischen Landnahme der Neuen Welt abgedrängt worden war und von außen her in die Weltauseinandersetzung der landnehmenden Mächte hineingezerrt wurden." Die "weltpolitisch maßgebende Freund- Feind-Unterscheidung", der Gegensatz zwischen Calvinismus und Jesuitismus, basierte auf der Rivalität zwischen den Land- und den Seemächten in der Eroberung der Neuen Welt. Deutschland beteiligte sich nicht an dieser großen Landnahme, ja, es konnte sich nicht beteiligen, weil es "abgedrängt" worden war. Dennoch wurde es in den großen Streit hineingezogen: "Jesuiten und Calvinisten stellten Deutschland von Spanien, Holland und England aus vor die Alternative, die der innerdeutschen Entwicklung ganz fern lagen." Zwar versuchten nicht-jesuitische katholische und nicht-calvinistische lutherische deutsche Fürsten und Stände "dem ihnen innerlich fremden Streit zu entgehen", aber ihre Kraft reichte dazu nicht aus. Das Ergebnis war, "daß Deutschland zum Schlachtfeld eines ihm innerlich fremden, überseeischen Landnahmekrieges wurde, ohne selbst an der Landnahme beteiligt zu sein"23. Es sei die Frage erlaubt, wie Schmitt sich eine Beteiligung Deutschlands an der Eroberung der überseeischen Gebiete vorstellte. Schon allein die Bezeichnung 'Deutschland' ist für die tatsächliche Situation im 16. und 17. Jahrhundert irreführend insofern, als es in diesem Zusammenhang den Eindruck einer politischen Einheit erweckt. Nichts wäre unzutreffender als dies. Deutschland war damals in der politischen Wirklichkeit ein bunter Teppich bereits weitgehend selbstständiger Fürstentümer und Städte.24 Zwar gab es einen deutschen Kaiser, einen Kaiser des 'Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation', aber zu sagen hatte dieser in seinem deutschen Reich nicht mehr allzuviel. Wer sollte also die Schiffe ausrüsten, sie auf große Fahrt schicken und soriesigeLändereien erobern? Die Freie und Hansestadt Hamburg? Oder Sachsen? Die Behauptung, daß Deutschland im 17. Jahrhundert von der Landnahme "abgedrängt" worden ist, erinnert fatal an die Klage des zweiten deutschen Kaiserreiches über den ihm von den Kolonialmächten vorenthaltenen 'Platz an da* Sonne'.25 In einem weiteren Sinn sieht Schmitt hier möglicherweise auch die Mißgunst vorgezeichnet, mit der die Westmächte Hitler-Deutschland seinen 'na22

Ebd., 82.

23

Ebd.

24

Vgl. Hassinger 1959, 106ff.

25

Vgl. v.Salis I 1980,424.

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türlichen', 'legitimen' Großraum einfach nicht zugestehen wollten. Wie dem auch sei - haltbar ist eine solche Sicht der Dinge jedenfalls nicht. Deutschland wurde also schließlich zum Schlachtfeld in einem Streit, der nicht der seine war. Aber bevor es soweit war, regierte in Deutschland ein Kaiser, der für Schmitt die Funktion eines Katechon ausübte: "Nur ein einziger Deutscher dieser für Deutschland so tatenarmen Jahre von 1550 bis 1618 ist zum Helden eines bedeutenden Trauerspiels geworden: der Kaiser Rudolf II. Du wirst wenig von ihm gehört haben, und man kann wirklich nicht sagen, daß er in der geschichtlichen Erinnerung des deutschen Volkes weiterlebe. Dennoch gehört sein Name in diesen Zusammenhang, und ein großer deutscher Dramatiker, Franz Grillparzer, stellt ihn mit Recht in den Mittelpunkt einer Tragödie: 'Ein Bruderzwist in Habsburg'. Problematik und Größe des Grillparzerschen Stückes wie seines Helden liegen aber gerade darin, daß Rudolf II. kein aktiver Held, sondern ein Aufhalter, ein Verzögerer war. Er hatte etwas von einem 'Katechon' ... Was konnte Rudolf in der damaligen Lage Deutschlands auch tun? Es war schon sehr viel, wenn er erkannte, daß die außerdeutschen Fronten Deutschland nichts angingen, und es war schon eine Leistung, wenn er wirklich den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges um Jahrzehnte aufgehalten und verzögert hat." 26 Seine Unentschiedenheit machte Deutschland - schon seiner geographischen Lage wegen - fast zwangsläufig zum Opfer, zum Schlachtfeld des großes Kampfes zwischen Jesuitismus und Calvinismus. Abgewendet werden konnte dieses Schicksal nicht, aber es konnte um einige Jahrzehnte verzögert werden. Für Schmitt war Rudolf II. die Figur, die diesen viel Leid und Zerstörung über Deutschland bringenden Krieg eine Zeitlang aufhielt. Es ist hier nicht der Ort, die reichlich komplizierte Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges darzustellen27 und Schmitts Einschätzung von Rudolfs Bedeutung zu überprüfen, zumal die historische Korrektheit für unser Thema keine Rolle spielt. Der Katechon Rudolf II. ist kein 'aktiver Held', er packt nichts an, verändert nichts, er verzögert nur. Er stellt sich gegen die "weltpolitisch maßgebende Freund-Feind-Unterscheidung", verweigert sich dieser. Anders als im Fall des byzantinischen Reiches wird hier nicht ein konkreter Gegner aufgehalten, sondern eine gleichsam notwendige Entwicklung. Damit befindet sich Rudolf II. aus Schmitts Sicht - in einer ähnlichen Lage wie das britische Empire in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, d.h. beide verhalten sich unzeitgemäß, gegen den 'Zeitgeist'. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings: während Schmitt das Verhalten des britischen Empire auf das entschiedenste mißbilligt, anerkennt

26

LuM, 80.

27

Eine gute, neuere Darstellung: G.Parker, Der Dreissigjährige Krieg. Frankfurt 1987.

II. Einzeldarstellungen

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er die Erfüllung der 'Aufhalter- Funktion durch Rudolf II. als eine Leistung, wertet den Katechon in diesem Fall also positiv. Der Umstand, daß der Kaiser den Dreißigjährigen Krieg aufhielt, erinnert an den die Schrecken der Endzeit aufhaltenden biblischen Katechon. Führt man diese Gedankenverbindung weiter aus, so könnte Deutschland für die Menschheit stehen, Calvinismus und Jesuitismus für die beiden Mächte, die um die Menschheit kämpfen. Bedenkt man die Aversion Schmitts gegen die Seemächte mit ihrer Tendenz zum Universalismus, so wäre der Calvinismus die böse Macht, und der Jesuitismus, als Glaube der Landmächte, die als solche einer 'Großraumordnung' sehr viel näher stehen, die gute Macht. Gegen eine solche Deutung spricht jedoch der Umstand, daß die deutschen Fürsten sich - nach Schmitt - weder für die eine noch die andere Seite begeistern konnten. Aber all dies ist eine Spekulation, die sich nur höchst unzureichend aus dem Text stützen läßt.

3. Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft Der Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, den Schmitt in den Jahren 1943 und 1944 an mehreren Universitäten hielt, beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Jurisprudenz als Wissenschaft überhaupt noch rechtfertigen läßt. Auf den ersten Blick mag diese Problemstellung etwas verwundern, spricht man doch immer von Rechtswissenschaft. Auch erhalten die Juristen ihre Ausbildung - zumindest im deutschsprachigen Raum - nicht an irgendwelchen Fachhochschulen, sondern an den juristischen Fakultäten der Universitäten. Aber eine nähere Beschäftigung mit diesem Thema zeigt, daß diese Frage nicht unberechtigt ist. Relativ unproblematisch war die Situation, solange im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung das römische Recht stand. Die Aufarbeitung, Systematisierung und die Anwendung dieser reichen Tradition bestimmte den Charakter der Rechtswissenschaft vom 12. bis ins 19. Jahrhundert hinein. Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich die Situation zu ändern: "Die Krisis der europäischen Rechtswissenschaft beginnt vor hundert Jahren mit dem Sieg des gesetzlichen Positivismus."28 1 848 hielt der Jurist und damalige Staatsanwalt von Kirchmann in Berlin einen Vortrag mit dem Titel: Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Der entscheidende Satz seiner Ausführungen lautet: "Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." 29 Schmitt schreibt dazu: "In der Tat: Was bleibt von einer Wissenschaft übrig, deren Sinn und Zweck nichts anderes ist als

28

LeR, 398.

29

Zitiert nach ebd., 199.

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die kommentierende und interpretierende Begleitung fortwährend wechselnder, positiver Anordnungen von staatlichen Stellen, die ihrerseits doch wohl selber am besten wissen und sagen können, was ihr eigentlicher Wille und was der Sinn und Zweck ihrer Anordnungen ist?" 30 Damit ist die wesentliche Schwierigkeit, die der Gesetzespositivismus für die Wissenschaft vom Recht bedeutet, angesprochen: Wenn der einzige Gegenstand der Jurisprudenz das vom Staat erlassene Gesetz darstellt, das von diesem jederzeit und nach eigenem Gutdünken geändert werden kann, bleibt für die Jurisprudenz eigentlich kaum mehr als das bloße Handwerk, die Anwendung der gegebenen Bestimmungen in Justiz und Verwaltung, übrig. Von einer Wissenschaft im eigentlichen Sinne kann bei einem dermaßen flüchtigen und der Willkür ausgesetzten Gegenstand keine Rede sein. Nun war die Situation trotz Positivismus im 19. Jahrhundert noch nicht so dramatisch. Zum einen wechselten die Gesetze nicht so schnell: "Die Federstriche des Gesetzgebers, die ein solches Schrifttum in Makulatur verwandelten und ein zum gleichen Schicksal prädestiniertes neues Schrifttum ins Dasein riefen, erfolgten nicht als etwas Alltägliches."31 Zum anderen erlaubten die Methode und das Tempo der Gesetzgebung der Rechtswissenschaft eine maßgebliche Mitarbeit. So wurden große Gesetzeswerk dieser Zeit von Rechtsgelehrten verfaßt. 32 Hinzu kam die Vorstellung, daß "das Gesetz selbst, der im authentischen Wortlaut in der amtlichen Gesetzessammlung veröffentlichte, maßgebende Text ... als eine in sich geschlossene, unpersönliche Größe" 33 zu betrachten sei. So konnte das objektive Gesetz dem subjektiven Willen des Gesetzgebers gegenüber gestellt werden. Damit wurde denkbar, daß der Urheber des Gesetzes selbst - insbesondere wenn es sich bei diesem um eine "in sich gespaltene gesetzgebende Körperschaft" 34 handelt - gar nicht weiß, was das Gesetz wirklich will. Erst eine genaue Untersuchung seitens der Rechtswissenschaft zeigt, was alles in einem Gesetz enthalten ist: "Die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzgeber ... gewährte der Rechtswissenschaft einen bedeutenden Spielraum für ihre Kommentierung und Interpretierung." 35 Nach dem ersten Weltkrieg änderte sich die Lage grundsätzlich: "Seit 1914 haben alle großen geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen in allen europäischen Ländern dazu beigetragen, daß das Verfahren der Gesetzgebung immer

30

Ebd., 400.

31

Ebd., 401.

32

So z.B. das deutsche BGB (1896), das Schweiz. ZGB (1907).

33

L e R , 401.

34

Ebd., 402.

35

Ebd., 408.

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schneller und summarischer, der Weg des Zustandekommens einer gesetzlichen Regelung immer kürzer, der Anteil der Rechtswissenschaft immer kleiner wurde." 36 Die rechtswissenschaftliche Behandlung einer Frage braucht seine Zeit, eine Zeit, die das moderne Leben dem Gesetzgeber jetzt kaum mehr läßt. Zwangsläufig wurde die Rechtswissenschaft in diesem Prozeß immer mehr marginalisiert. Die Parlamente gingen dazu über, ihre Befugnis, Dekrete und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, auf andere Organe zu übertragen: "Das 'Dekret', die 'Verordnung' verdrängte das Gesetz."37. Mit Verordnungen, zumal wenn sie nicht durch das Parlament gebilligt werden müssen, kann man sehr viel schneller und flexibler regieren als mit Gesetzen, weshalb sie auch schon mal 'motorisierte Gesetze'38 genannt worden sind; eine zusätzliche Beschleunigung brachte die 'Anordnung', gleichsam die 'motorisierte 'Verordnung' 39. Als Gegenstand der Rechtswissenschaft kommt die Anordnung nicht mehr in Frage: "Bei einer von der zuständigen Stelle erlassenen, nicht öffentlich bekanntgegebenen, sondern oft nur den unmittelbar Betroffenen mitgeteilten, ohne weiteres abänderbaren und ganz an die schnell wechselnde Lage der Dinge sich anpassenden Anordnungen ist es nicht mehr möglich, zwischen die Anordnungen und den Anordungsgeber, zwischen die Maßnahme und denjenigen, der die Maßnahme trifft, zwischen Lenkungsakt und Lenkungsstelle eine selbständige dritte Größe einzuschalten."40 In einer solchen Situation ist nur noch eine rein instrumentelle, technokratische Jurisprudenz möglich. Aber warum braucht es überhaupt eine Rechtswissenschaft ? Die Antwort, die Schmitt auf diese Frage gibt, mutet etwas merkwürdig an für einen Juristen, der sich offen zum Dritten Reich bekannt hatte: "... wir erfüllen eine Aufgabe, die keine andere Form oder Methode menschlicher Betätigung uns abnehmen kann. Wir können uns die wechselnden Machthaber und Regime nicht nach unserem Geschmack aussuchen, aber wir wahren in der wechselnden Situation die Grundlage eines rationalen Mensch-Seins, das der Prinzipien des Rechts nicht entbehren kann. Zu diesen Prinzipien gehört eine auch im Kampf nicht entfallende, auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person; Sinn für Logik und Folgerichtigkeit der Begriffe und Institutionen; Sinn für Reziprozität und für das Minimum eines geordneten Verfahrens, einen due process of law f ohne den es kein Recht gibt. Darin, daß wir diesen unzerstörbaren Kern allen Rechts gegen-

36

Ebd., 404.

37

Ebd.

38

Ebd., 407.

39

Ebd.

4 0

Ebd., 408.

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C. Carl Schmitt und der Katechon

über allen zersetzenden Setzungen wahren, liegt die Würde, die in unsere Hand gegeben ist." 41 Es ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft, die Rechtsordnung und die Rechstnormen nicht einfach hinzunehmen, sondern sie im Hinblick auf bestimmte Prinzipien kritisch zu hinterfragen. Diese Prinzipien stellen, nach Schmitts Aufassung, "den unzerstörbaren Kern allen Rechts" dar, sie bilden eine Art 'Naturrecht' und stehen über jedem positiven Recht, d.h. Gesetze, die diesen Prinzpien widersprechen, können nicht als Recht gelten. Damit distanziert sich Schmitt von einer gesetzespositivistisch denkenden Jurisprudenz, die naturgemäß solche über dem positiven Gesetz stehende Prinzipien nicht akzeptieren kann. Das große Beispiel für einen Juristen, der sich nicht an die reine Legalität verlor, sondern den Zusammenhang zwischen Legalität und Legitimität zu bewahren suchte, ist für Schmitt Friedrich Carl von Savigny. Die gesetzespositivistische Nachwelt urteilte über ihn meist negativ: "Immer mehr vermißte man an Savigny und seiner Lehre den Aktivismus der Tat und stieß man sich an seiner allzu passiven Art der reinen Kontemplation." Man warf ihm vor, "der zur staatsgesetzlichen Kodifikation drängenden geschichtlichen Entwicklung hemmend in den Weg" 42 getreten zu sein. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang eine Schrift aus dem Jahre 1814: Vom Beruf unserer Zeit fir Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Darin verneint Savigny den 'Beruf der Zeit für die Gesetzgebung'. Seiner Überzeugung nach wird das wahre Recht nicht gesetzt, sondern es entsteht in einer absichtslosen Entwicklung. Ein ungeschichtliches, nicht gewachsenes Recht gibt es nicht. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, dieses quasi organische Wachstum des Rechts zum Bewußtsein zu bringen und die jeweilige geschichtlich-konkrete 'Rechtswahrheit' zur Darstellung zu bringen. Damit wendet sich Savigny gegen die Technisierung und Instrumentalisierung des Rechts, gegen das "Legalitäts-Monopol des Gesetzesstaates"43: "... das Wesentliche ist, daß hier ein Repräsentant europäischen Geistes, in einem großartigen Moment und mit genialem Blick, in der Vergesetzlichung die Gefahr der Mechanisierung und Technisierung des Rechts erkannt hatte."44 Soviel zu dem Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft aus dem Jahre 1943. Fünfzehn Jahre später veröffentlichte Schmitt diesen Vortrag in dem Sammelband Verfassungrechtliche Aufsätze und versah ihn mit einer Nach-

41

Ebd., 423.

42

Ebd., 410.

43

Ebd., 412.

44

Ebd., 420.

II. Einzeldarstellungen

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bemerkung. Dieser Text ist deshalb für uns von besonderem Interesse, weil darin der Begriff 'Katechon' verwendet wird. Schmitt beschäftigt sich hier mit dem Verhältnis von Rechtswissenschaft und Philosophie, exemplifiziert an dem Verhältnis von Savigny und Hegel. Sein Interesse richtet sich dabei weniger auf den "Streit der Fakultäten", als vielmehr auf die "tiefere Beziehung", die in bezug auf 'Legalität und Legitimität' zwischen den beiden doch so unterschiedlichen Denkern besteht. Schmitt schreibt: "Die tiefer Beziehung liegt darin, daß beide, Savigny wie Hegel, den geschichtlichen Sinn hatten, jenen sechsten Sinn, wie Nietzsche ihn voller Wut genannt hat 45 , weil er die Deutschen auf dem Weg zum offenen Atheismus aufhält. Beider geistige Haltung war epimetheisch, aber der epimetheische Geist Hegels vermochte auch die prometheische Richtung seiner Gegenwart zu erkennen, anzuerkennen und zu begreifen. Beide waren echte Aufhalter, Katechonten im konkreten Sinne des Wortes, Aufhalter der freiwilligen und der unfreiwilligen Beschleuniger auf dem Wege zur restlosen Funktionalisierung. Es fragt sich höchstens, wer von beiden der stärkere Katechon war. Das hängt davon ab, ob man die freiwilligen oder die unfreiwilligen Beschleuniger für die gefährlicheren hält. Unter dem Gesichtspunkt dieser Fragestellung könnte es sein, daß Nietzsches Wutanfall gegen Hegel an die richtige Adresse ging, weil Savigny nur die freiwilligen Beschleuniger sah und von den unfreiwilligen mühelos vereinnahmt werden konnte."46 Savigny und Hegel hielten eine Entwicklung auf, die zu einer 'Entleerung' des Rechts führt, zu seiner Instrumentalisierung und Funktionalisierung. Das Endergebnis dieser Entwicklung wird die völlige Beliebigkeit von Inhalt und Form des Rechts sein. Einzig der verfolgte Zweck wird den Maßstab abgeben, und das Recht wird sich in Verordnungen und Anordnungen auflösen. Dagegen setzte Savigny seine Vorstellungen von dem 'gegebenen' und nicht 'gesetzten' Recht. Eine solche Sicht der Dinge entzieht das Recht der reinen Willkür des Gesetzgebers, indem es ihn an die Tradition, an das 'organisch' gewachsene Rechtsbewußtsein bindet. Eine solche Bindung mußte natürlich einer gesetzespositivistischen Jurisprudenz als eine Verzögerung des Fortschritts erscheinen, als ein Hemmnis, das eine angemessene Reaktion auf die Probleme der modernen Welt verunmöglicht oder zumindest sehr erschwert. Das Aufhalten dieser 'freiwilligen Beschleuniger' gehört für Schmitt zum großen Verdienst Savignys um die Rechtswissenschaft. Etwas überraschend in dem Zusammenhang ist die Nennung Hegels. Immerhin waren er und Savigny ausgesprochene Gegner. In § 211 seiner Rechtsphilo-

45

Vgl. Nietzsche, 599 (= Aph.357: "Zum alten Problem: 'was ist deutsch'").

46

LeR., 428.

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C. Carl Schmitt und der Katechon

sophie bekämpft Hegel mit deutlichen Worten Savignys Ablehnung der modernen Gesetzesstaatlichkeit. Inwiefern er dennoch mit Savigny als ein Aufhalter der Entwicklung zur 'restlosen Funktionalisierung' zu verstehen ist, deutet Schmitt nur an. Beiden gemeinsam ist der 'geschichtliche Sinn', der Sinn für Geschichte, für den Wert der Vergangenheit, des Herkommens, der Tradition; beide werden als 'epimetheisch', als 'nachherüberlegend', 'nach-denkend' bezeichnet. Damit stehen sie im Gegensatz zu einer per definitionem geschichtslosen Welt des reinen Funktionierens und sind 'echte Aufhalter'. Im Gegensatz zu Savigny verstand und anerkannte Hegel allerdings auch die 'prometheische Richtung' seiner Zeit. Er war dadurch in der Lage, nicht nur den freiwilligen, sondern auch den unfreiwilligen Beschleunigern zu widerstehen. Schmitt sieht deshalb in Hegel wohl den stärkeren Katechon. Savigny und Hegel sind Katechonten einer bestimmten Entwicklung des Rechts. Es sind nicht geschichtliche Vorgänge im engeren Sinne des Wortes, keine macht-politisch konkreten Verschiebungen, die aufgehalten werden, sondern die Entwicklung einer bestimmten Art, die Welt zu denken. Natürlich hat die Art und Weise, wie das Recht von der Jurisprudenz verstanden wird, einen erheblichen Einfluß auf Politik und Gesellschaft. Aber primär handelt es sich hier um ein 'geistiges' Phänomen. Insofern unterscheiden sich Hegel und Savigny von den bisher behandelten Katechonten.

4. Glossarium: Aufzeichnungen der Jahre 1947 -

1951

Daß sich Schmitt auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, nach dem Sieg der angloamerikanischen Mächte, mit der Idee des Katechon beschäftigte, zeigt das erst vor kurzem veröffentlichte Tagebuch Glossarìum, das Aufzeichnungen aus derZeit zwischen Sommer 1947 und Sommer 1951 enthält. Insgesamt unter zehn Data wird der Begriff Katechon ausdrücklich erwähnt: das erste Mal kurz vor Weihnachten 1947, das letzte Mal im Oktober 1949. "Nous sommes toujours ... dans le 'aion' chrétien, toujours en agonie, et tout év[é]nement essentiel n'est qu'une affaire du 'Kat-echon', c'est-à-dire de 'celui qui tient', qui tenet nunc (2.ep. de Sain Paul au Thessaloniques, 2.chap. vers 7.) Vous connaissez ma théorie du κατέχων, elle date de 1932. Je crois qu'il y a en chaque siècle un porteur con[c]ret de cette force et qu'il s'agit de le trouver. Je me garderai d'en parler aux théologiens, car je connais le sort déplorable du grand et pauvre Donoso Cortés. Il s'agit d'une présence totale cachée sous les voiles de l'histoire." 47 Auch in der Mitte des 20.Jahrhunderts leben wir nach wie vor im

47

11. 1. 1948.

II. Einzeldarstellungen

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christlichen 'Aeon' und damit auch in der letzten Zeit. Daß das Ende immer noch nicht gekommen ist, läßt sich nur erklären durch das Vorhandensein eines Aufhalters, eines Katechon. Schmitt glaubt, das in jedem Zeitalter ein konkreter, faßbarer Katechon existierte und existiert, und das es darauf ankommt, diesen zu finden. Dieser Text läßt sich unter drei Fragestellungen lesen: Wèlche Funktion hat der Katechon? Wie läßt sich sein Wesen bestimmen? Wer ist ein oder der Katechon? Über die Funktion haben wir bereits gesprochen. Als Wesensbestimmung gibt Schmitt sein Verborgensein 'unter den Schleiern der Geschichte'. Dagegen ließe sich von Paulus her einwenden, daß nicht der Katechon verborgen ist, sondern das gegenwärtig bereits wirkende Böse (μ υστήιον τχ\ς ανομίας). Das, was aufhält, ist der Gemeinde in Thessalonich ja bekannt. Es ist vermutlich kein Zufall, daß Schmitt als Quelle Vers 7 und nicht Vers 6 angegeben hat. Damit wählte er die Form ό κατέχων, der Aufhalter, statt το κατέχον, das Aufhaltende, d.h. er wählte die personaliserte und nicht die neutrale Form. Primäre Träger der Katechon-Funktion sind somit keine anonymen Mächte und wahrscheinlich auch keine Institutionen, sondern einzelne Persönlichkeiten. Anhand der an diesem Text gewonnen dreiteiligen Fragestellung wollen wir nun die übrigen Stellen untersuchen. Die ausführlichste und inhaltsreichste Eintragung findet sich unter dem Datum des 19. Dezember 1947. Schmitt notierte: "Zu κατέχων : ich glaube an den Katechon; er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden. Die paulinische Geheimlehre ist nicht mehr und ebenso viel geheim wie jede christliche Existenz. Wer nicht selber in concreto etwas vom κατέχων weiß, kann die Stelle nicht deuten. Zu κατέχων kommt Haimo von Halberstadt, als die Quelle von κατέχων und viel deutlicher als diese (Migne + 117, col.779). Die Theologen von heute wissen es nicht mehr und wollen es im Grunde auch nicht wissen. Ich wollte eigentlich von Ihnen [Gerhard Günther] wissen: Wer ist heute der κατέχων ? Man kann doch nicht Churchill oder John Foster Dulles dafür halten. Die Frage ist wichtiger als die nach dem Jüngerschen Oberförster. Man muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den κατέχων nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden. Jeder große Kaiser des christlichen Mittelalters hat sich mit vollem Glauben und Bewußtsein für den Katechon gehalten, und er war es auch. Es ist gar nicht möglich, eine Geschichte des Mittelalters zu schreiben, ohne dieses zentrale Faktum zu sehen und zu verstehen. Es gibt zeitweise, vorübergehende, splitterhaft fragmentarische Inhaber dieser Aufgabe. Ich bin sicher, daß wir uns sogar über viele konkrete Namen bis auf den heutigen Tag verständigen können, sobald nur einmal der Be-

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C. Carl Schmitt und der Katechon

griff klar genug ist. Donoso Cortés ist theologisch daran gescheitert, daß ihm dieser Begriff unbekannt geblieben ist." Für das Christentum ist das neue Aeon, das Reich Gottes, bereits mit dem Leben, dem Tod und der Auferstehung Christi angebrochen. Seine Vollendung wird es finden mit der Parusie. Die ersten Gläubigen erwarteten diese noch zu ihren Lebzeiten. Sie täuschten sich - die Parusie steht nach rund zweitausend Jahren immer noch aus. Für eine christliche Geschichtsbetrachtung stellt sich natürlich die Frage nach dem aufhaltenden Moment, nach dem Katechon; ohne eine solche Idee - und darin ist Schmitt zuzustimmen - ist es für einen Christen unmöglich, Geschichte zu verstehen. Umgekehrt ist für einen Nicht-Christen die Vorstellung von einem Aufhalter sinnlos. Deshalb gehört der Katechon gleichsam zum Credo des Christen, deshalb kann Schmitt sagen: "ich glaube an den κατέχων". Als 'Glaubenssatz' ist der Aufhalter aber nicht nur eine theoretische Angelegenheit, sondern ebenso eine Frage der Erfahrung, der "christlichen Existenz" Nicht ganz verständlich ist die Begeisterung Schmitts für die Ausführungen von Haimo von Halberstadt zu diesem Thema. Sie unterscheiden sich in nichts vom Hauptstrom der Katechon-Deutung.48 Vielleicht hat Schmitt gerade zu dieser Zeit den Thessalonicher-Kommentar von Haimo gelesen und erwähnt ihn deshalb. Immerhin läßt die Nennung Haimos vermuten, daß Schmitt die RomDeutung besonders einleuchtend findet. Im übrigen ist die Konstruktion des Satzes etwas unklar, und sein Verständnis mehr eine Frage des Zusammenhangs und der Intuition als des exakten Wortlautes. Wenn nur der Katechon das Weltende aufhält, so ist die Frage naheliegend, wer diese Rolle innehat. Wir haben bereits gesehen, und diese Beobachtung bestätigt sich hier, daß Schmitt immer nur von ό κατέχων, der Aufhalter, spricht. Wenn einzelne Persönlickeiten als Träger dieser Rolle anzusehen sind, so wechseln diese naturgemäß im Verlauf der Jahrhunderte. Die Tatsache, daß die Welt immer noch besteht, beweist, daß es immer einen Katechon gegeben hat. Folglich muß es möglich sein, "für jede Epoche der letzten 1948 Jahre" den Katechon zu nennen. Für die ersten 33 Jahre ist es Christus; für folgenden Jahrhunderte sind es - entsprechend der von Haimo referierten Deutung - die römischen Kaiser; im Mittelalter waren es die "großen" Kaiser - eine Einschränkung, die die Frage aufkommen läßt, wer denn zwischen den 'großen' Kaisern den Antichristen aufhielt. In bezug auf den heutigen Katechon werden nur zwei Persönlichkeiten genannt, die es Schmitts Meinung nach nicht sein können, nämlich Churchill und Dulles. Schmitt scheint der Meinung zu sein, daß seine Wesensbestimmung des Begriffs noch nicht klar genug ist, und daß, sobald dieses

48

Vgl. oben S.54.

II. Einzeldarstellungen

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Manko einmal beseitigt ist, es kein Problem darstellen wird, sich über "viele konkrete Namen bis auf den heutigen Tag" einigen zu können. Etwas merkwürdig ist die Idee von "splitterhaft fragmentarische[n] Inhaber[n]" der Katechon-Funktion. Wie soll man sich das vorstellen? Kann man das Weltende ein 'bißchen' aufhalten? Entweder die Welt geht unter oder sie geht nicht unter - tertium non datur. Aber vielleicht ist hier gemeint, daß die 'Kraft 1 des Katechon gleichzeitig auf mehrere Träger verteilt ist, so daß nur alle zusammen den eigentlichen Aufhalter ausmachen. Wie dem auch sei, die Vorstellung eines fragmentierten Katechon findet sich in der Tradition nirgends. Die fundamentale Bedeutung der Katechon-Idee für die christliche Geschichtsphilosophie, oder besser: Geschichtstheologie wird zum Schluß noch einmal deutlich, wenn das "theologische" Scheitern von Donoso Cortés darauf zurückgeführt wird, daß ihm dieser Begriff nicht geläufig war. Offensichtlich hat dieser letzte Punkt Schmitt weiter beschäftigt. Acht Tage später (27.12) notiert er: "Armer Donoso, der seiner politischen Theorie adäquate Begriff wäre nur der Katéchon gewesen; statt dessen gerät er in dieses Labyrinth der Lehre vom absoluten und relativen Naturrecht." Wie und warum unser Begriff in das theologische oder politische Denken von Donoso Cortéz paßt, können wir leider nicht ausführen. Eine solche Untersuchung würde eine Darstellung der Lehre von Donoso Cortéz erfordern, ein Unterfangen, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Zur Frage nach dem Träger der Katechon-Funktion findet sich unter diesem Datum die Vermutung: "Vielleicht war der Jesuitenorden der κατέχων. Aber seit 1814? Restaurierter Katechon?"49 Kann dieselbe Person, oder in diesem Fall eine Gemeinschaft, die Rolle des Katechon abgeben und später wieder übernehmen? Eine interessante Variante des Themas findet sich unter dem Datum des 13. März 1948. Schmitt äußert hier sein Bedauern über den Tod von Masaryks 50 Sohn, Jan Masaryk. Bei dieser Gelegenheit notiert er auch gleich einige Gedanken zu Tomas Masaryk: "Der Vater Masaryk war ein echter europäischer Katechon gewesen; der Katechon der westlichen Liberaldemokratie. Der Vater Masaryk hat in erstaunlicher historischer Bewußtheit - mit unendlich mehr Bewußtheit als die damaligen deutschen Politiker, Philosophen oder Historiker aufzubringen vermochten - mit allergründlichster Überlegung für den Westen optiert. Er kannte Rußland und den Osten besser als die meisten damaligen Deutschen,

49 Die Societas Jesu wurde 1773 von Klemens XIV. verboten und 1814 von Pius VII. wieder zugelassen. 50

Vgl. oben S.62f.

80

C. Carl Schmitt und der Katechon

Polen oder die Serben; er liebte dieses Rußland, aber seine geistige Entscheidung ging zum Westen." Auf die zeitgeschichtlichen Hintergründe, besonders was die Kritik an den deutschen Politikern, Historikern und Philosophen angeht, brauchen wir hier nicht weiter einzugehen. Bemerkenswert an dieser Katechon-Deutung ist der Umstand, daß Schmitt von einem 'europäischen' Katechon spricht, d.h. es handelt sich hier nicht um einen universalen, das Weltende verzögernden Aufhalter, sondern um einen 'lokalen' Katechon. Masaryk hielt das Ende der westlichen (europäischen) Liberaldemokratie auf, indem er "in erstaunlich historischem Bewußtsein" sich dem Westen zuwandte. Der Begriff wird aus seinem eschatologischen Zusammenhang gelöst und auf ein innerweltliches Geschehen angewendet. Er wird in diesem Fall in ähnlicher Weise verwendet wie in den Texten, die Schmitt während des Krieges verfaßt hatte. Am 9. April 1948 wird die Liste der Nicht-Katechonten um einen weiteren Namen ergänzt: mit Churchill und Dulles teilt nun Arnold Toynbee diese Ehre. Schmitt schreibt: "Arnold Toynbee (Int. Affairs November 1947) versucht das Kunststück einer 3. Position, eines 3. Weges (zwischen der Alternative des kapitalistischen Amerika und des kommunistischen Rußland) ohne faschistisch zu werden; Westeuropa zu einem Faktor von eigener dritter Bedeutung zu machen, ohne Deutschland wieder zu Kräften kommen zu lassen. Europa darf nicht versuchen, wieder stark zu werden, damit Deutschland nicht wieder stark wird. Lieber zugrunde gehen, als Deutschland wieder hochkommen zu lassen. Das alles ist erasmistisch-friedlich-unausgesprochen in aller Deutlichkeit gesagt. Welch ein hochgebildet verbogener Geist! Im Dienst eines verbogenen Gemüts! Was er Westeuropa nennt (und wovon Deutschland ausgeschlossen ist), das ist ein Bürgertum in der sozialen Lage des deutschen Bürgertums von 1919; Zwischenstadium zwischen kapitalistischer Prosperität und der Verelendung der underprivileged der asiatischen Völker. Es bleibt ihm also nach Toynbee nur die Option für den russischen Kommunismus. Das ist der Spengler der Nachkriegszeit des 2.Weltkrieg; analog wie Churchill zum Clémenceau des 2.Weltkriegs geworden ist; kein κατέχων." Das Konzept des britischen Geschichtsphilosophen sieht für Europa einen dritten Weg vor, zwischen Kommunismus und Kapitalismus. So wie Schmitt die Dinge darstellt, geht es Toynbee dabei in erster Linie darum, Deutschland niederzuhalten - auch wenn dies ein schwaches Europa bedeuten sollte. Für eine solche "erasmistische" Haltung des 'Friede um jeden Preis' fehlt Schmitt jedes Verständnis. Der Vergleich Westeuropas (ohne Deutschland!) mit dem deutschen Bürgertum von 1919 zeigt, daß Schmitt von einem dritten Weg nicht viel hält. Damals hatten die Deutschen nur die Wahl zwischen einer parlamentarisch-republikanischen Demokratie nach westlichem und einer Räterepublik nach sowjetischem

II. Einzeldarstellungen

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Vorbild. Toynbee's dritter Weg würde bedeuten, in einem Zwischenstadium "zwischen kapitalistischer Prosperität und der Verelendung ... der asiatischen Völker" verharren zu wollen, was aber unmöglich ist. In einer solchen Lage bleibt nur die "Option für den russischen Kommunismus". Der Vergleich Toynbees mit Spengler zielt wohl auf den Umstand, daß beide sich um eine "Morphologie der Weltgschichte"51 bemühten, beide noch einmal eine umfassende philosophische Durchdringung der gesamten Weltgeschichte versuchten. Der Tonfall des Textes läßt allerdings vermuten, daß Schmitt Toynbee geringer einschätzt als Spengler 52; entsprechend gilt dies vermutlich auch für Churchill im Vergleich zu Clémenceau. Letzteres ließe sich in den Augen Schmitts wohl dadurch begründen, daß Clémenceau der Politiker war, der Deutschland nach dem 1.Weltkrieg ermöglichte, wieder zu einem anerkannten Staat zu werden, während Churchill als Vertreter Englands und als der Besieger des Dritten Reiches einem Mann wie Schmitt sehr viel unsympathischer sein muß. Toynbee ist, wie Chruchill, kein Katechon. Weder verhindert er die Entscheidung Europas für den kapitalistischen Weg noch hält er das Wiedererstarken Deutschlands auf. Wir haben es in diesem Fall mit einer ähnlichen Art von 'begrenztem' Katechon zu tun wie bei Masaryk. Auch hier steht der Aufhalter nicht in einem eschatologischen sondern in einem innergeschichtlichen Zusammenhang. Die nächste Eintragung zu unserem Thema stammt vom 23. Mai 1948. Schmitt schreibt: "Begegnung mit Joachim Schoeps: Erst durch Cramer von Laue, dann jetzt durch den ... Satz aus dem Blüherschen Streitgespräch um Israel 1933 (S.50): 'Und dies (daß die jüdische Auserwähltheit das Vorbild des mittelalterlichen Reiches war) ist auch der Grund, warum ein gläubiges Judentum kaiserlich (nicht königlich) gestimmt ist!1 Nein, Joachim Schoeps, das ist nicht der Grund! Der Grund liegt in Joh. 19,15, und das christliche Reich der Kaiser des Mittelalters hatte eine Legitimation als ein κατέχων nach 2.Thess. 6/7." Diese Eintragung gehört zu den - gar nicht so seltenen - Stellen im Glossarium, die dem Versuch, den Antisemitismus in Schmitts Schriften aus den Jahre 1933 bis 1945 als eine 'bloße' Konzession an die herrschende Ideologie zu entschuldigen, die Grundlage entziehen. Die angegebene Stelle aus dem Johannes-Evangelium lautet: "Sie schrieen aber: Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König als den Kaiser." Schmitt sieht offensichtlich den Grund für die besondere Loyalität

51

Untertitel von Spenglers Werk.

52

Vgl. dazu die Eintragung vom 11.4. 1948.

6 Grossheutschi

82

C. Carl Schmitt und der Katechon

der Juden gegenüber dem Kaiser in ihrer Gegnerschaft zu Jesus, in ihrem Haß auf den Sohn, in ihrem Sein als 'Gottesmörder'. Die Vorstellung, daß das christliche Kaisertum mit diesem Volk, und sei es nur ideell, etwas zu tun haben könnte, weist er weit von sich: nicht das Alte Testament, sondern das Neue Testament, ein Brief des Heidenapostels Paulus, gab dem mittelalterlichen Kaiserreich die Legitimation. Sieht man von dem hier zum Ausdruck kommenden dezidierten Anti-Judaismus ab, so bleibt die sachliche Frage nach dem Selbstverständnis des mittelalterlichen Kaisertums. Schmitt hat insofern recht, als spätestens seit dem 10. Jahrhundert, seit den Ottonen, die Katechon-Idee die vorherrschende Reichs'ideologie' darstellte.53 Karl der Große allerdings verstand und rechtfertigte sein Kaisertum nach dem Vorbild des Davidischen Königtums, d.h. als persönliche Auserwählung durch Gott, und nicht als Nachfolger der römischen Kaiser. Deshalb war es ihm auch möglich, den byzantinischen Kaiser anzuerkennen. Auch wenn dieses Modell schon sehr bald verdrängt wurde, so war es latent doch während des ganzen Mittelalters präsent.54 Es ist also durchaus möglich, daß für die Juden des Mittelalters die Erinnerung an die davidische Rechtfertigung des Reiches lebendig blieb, Schoeps mit seiner Erklärung also recht hat. Der Katechon-Begriff wird an dieser Stelle entsprechend der Tradition und ganz im Sinne der Eintragung vom 19. Dezember 1947 verwendet. Rund drei Wochen später, am 16. Juni 1948, schreibt Schmitt: "Große Stärkung wieder durch Konrad Weiß, Kreatur des Wortes: der babylonische Turm der neutralisierenden Spracheinheit. 'Selbst die Sprachverwirrung ist heute besser als diese babylonische Einheit', d.h. doch: anarchisches Chaos besser als nihilistische Zentralisierung und Satzung. Der Katechon ist daran zu erkennen, daß er diese Welteinheit nicht erstrebt, sondern die Kaiserkrone niederlegt. Naiv die Vererblichung der Kaiserkrone; diese wird aber durch die Verbindung mit der Hausmacht-Praxis erblich, und kann das Haus nicht auch ein Katechon sein?" Einmal mehr wendet sich Schmitt hier gegen Zentralisierung und Universalisierung. Überraschenderweise sieht er den Katechon auf seiner Seite. Eigentlich gehört zum mittelalterlichen Kaisertum die Idee der Einheit: ein Reich und ein Kaiser. 55 Merkwürdig ist auch, daß der Katechon die "Kaiserkrone niederlegt" Eine denkbare, wenn auch hier noch ziemlich spekulative Erklärung dieser dunklen Formulierung knüpft sich an Schmitts Erwähnung von Haimo v. Halberstadt.56 Der Kommentar zum 2.Thessalonicherbrief des Haimo v. Halberstadt 53

Vgl. Schramm 1929, 68ff.

54

Vgl. Mohr 1962, 44.

55

Vgl. Schramm 1929, 74f.

56

S. 19. 12. 1947.

II. Einzeldarstellungen

83

bzw. Haimo von Auxerre war in Bezug auf den Antichrist eine der Hauptquellen für die in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhundert von Adso von Montier-en-Der verfaßten Schrift De ortu et tempore antichristi. 5 7 Adso ergänzte die Angaben Haimos durch die - von Pseudo-Methodius und der Tiburtinischen Sibylle überlieferte 58 - 'Endkaisersage'. Diese Sage erzählt, wie der letzte König, der ein König der Griechen und Römer sein wird, seine Gegner vernichtend schlägt und eine glückliche Friedensperiode anbrechen läßt. Aber nach einer gewissen Zeit erheben sich seine Feinde erneut und erobern eine Stadt nach der anderen. Schließlich werden sie besiegt, und der letzte König zieht nach Jerusalem und verweilt dort zehneinhalb Jahre. Nach dieser Zeit tritt der Antichrist auf. Bei seinem Erscheinen steigt der König der Römer nach Golgatha hinauf, wo sich das Kreuz befindet. Er legt dort seine Krone auf dem Kreuz nieder und übergibt Gott das christliche Reich. Unmittelbar darauf gibt der König seinen Geist auf. Damit bricht das Reich des Antichrist an. 5 9 Kannte Schmitt diese Sage und bildet sie wirklich den Hintergrund seiner Notiz, so stellt die Welteinheit der "nihilistischen Zentralisierung und Satzung" möglicherweise - im übertragenen Sinn - das Reich des Antichristen dar. Der Katechon, der in diesem Fall wahrscheinlich die Ordnungsvorstellungen Schmitts vertritt, legt, wenn er den Antichristen nicht mehr aufhalten kann, seine Krone nieder, d.h. er zieht sich zurück und will keinen Anteil haben an diesem Reich. Vorausgesetzt, Schmitt sieht in der "nihilistischen Zentralisierung" nicht dai Anfang vom konkreten Ende der Welt, so haben wir es an dieser Stelle wieder mit einem 'begrenzten' Katechon zu tun, mit einem Aufhalter eines innergeschichtlichen Ereignisses. Neben dieser inhaltlichen Bestimmung des Begriffs findet sich in dieser Notiz auch eine Bemerkung zum Wesen des Katechon: Kann die Katechon-Funktion vererbt werden? Vorausgesetzt, sie ist an eine Einzelpersönlichkeit gebunden, wohl nicht. Wenn sie aber an eine Familie, ein Haus gebunden ist? Schmitt läßt es bei der Frage bewenden. Die Eintragung vom 4. Juli 1949 ist ein Auszug aus einem an Hans Paeschke gerichteten Brief. Schmitt schreibt: "Was heißt denn das: die Juridifizierung, die Institutionalisierung des Christentums in der römischen Kirche? Es heißt doch nur: Verwirklichung; denn was ist Recht? Die Antwort Hegels lautet: Recht ist Geist sich wirklich machend. Natur ist, was sie ist (Bemerkungen zur 57

Konrad 1964, 29ff.

58

Ebd., 35.

59

Ebd., 38f.

6*

84

C. Carl Schmitt und der Katechon

Rechtsphilosophie, §29). Recht ist Dasein des freien Willens; es ist die Freiheit als Idee; der Geist selbst, nicht nur das Individuum; indem sie nun die Verwirklichung (die Werke) ablehnen, bleiben sie rein. Die Tat selber ist schon ein Verbrechen; Untat. Das ergibt dann: Tragik. Konrad Weiß würde sagen: Die um eine unbesetzbare Mitte des Inbildes in die Zeit angulativ sich einstückende Planschaft Gottes. Die römische Kirche ist historische Wirklichkeit; idealistisch gesehen eo ipso Untat. Sie ist der κατέχων; das ist dann wohl der schlimmste Verbrecher. Idealistisch gesehen ist jede geschichtliche Tat eine Untat; idealistisch gesehen ist Recht = Unrecht = Setzung = Willkür. Das nennen sie dann Tragik! Sohm's These gilt nicht nur für das Kirchenrecht.11 "Idealistisch gesehen" bedeutet die Verrechtlichung des Christentums, d.h. seine Verwirklichung in der Geschichte, die Kompromittierung desselben durch die Tat, denn die Tat als solche ist bereits "Untat", "Verbrechen". "Idealistisch gesehen" kann das Christentum nur 'rein' erhalten werden, wenn es nicht 'von dieser Welt' ist bzw. sich aus der Verstrickung mit dieser Welt löst. Die Geschichte muß deshalb vergleichgültigt und jede geschichtliche Tat verweigert werden, um das Christentum auf eine ahistorische oder metahistorische Ebene zu versetzen. Schmitt verweist in diesem Zusammenhang auf "Sohm's These". Gemeint ist wohl die berühmt-berüchtigte Stelle aus dem ersten Band von Rudolph Sohms Kirchenrecht: "Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch." 60 "Idealistisch gesehen" - so Schmitt - steht nicht nur das Kirchenrecht im Widerspruch zum Christentum, sondern auch das Recht im allgemeinen. Führt man den Gedanken weiter, so wäre ein so verstandenes Christentum die Verneinung und die Auflösung jeden Rechts, es wäre die Anomie, die 'Gesetzlosigkeit'. Gegen diese Bemühungen um die 'Ent-wirklichung' und 'Ent-geschichtlichung' des Christentums steht die ausgeprägt rechtlich strukturierte Institution der katholischen Kirche. Sie hat sich nie vor der Tat gescheut und dadurch die Geschichte des Abendlandes entscheidend geprägt. Aber die römische Kirche ist nicht nur eine geschichtsmächtige Gestalt unter anderen. Als Katechon61 ist sie

6 0 Kirchenrecht. Erster Band, 700. Sohm setzt dem Recht das Wort entgegen: "Die Kirche Christi ist die Leitung des Volkes Christi durch das Wort Christi. ... Sie ist rechtlicher Verfassung unfähig, ja sie verwirft dieselbe. Sie kann nicht durch den Zwang, sondern nur durch das Wort geweidet, geleitet werden. "(700) Der erste Band endet mit den Sätzen: "Überall hat das Kirchenrecht sich als ein Angriff auf das geistliche Wesen der Kirche erwiesen, mit welchem deshalb die lebendigen geistlichen Kräfte der Kirche in naturnotwendigem Kampf sich befinden. Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechtes ist weltlich. Das Wesen des Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch" (700). Schmitt hat sich bereits Römischer Katholizismus und politische Form (1923) mit Sohm auseinandergesetzt, ohne ihn allerdings zu erwähnen - vgl. Meier 1994, 23, Anm.19. Die neunzehn Glossarium-Eintragungen zu Sohm zeigen, daß die Beschäftigung mit ihm auch nach dem Krieg intensiv blieb. 61

Vgl. dazu oben S.54 (Thomas v. Aquin).

II. Einzeldarstellungen

85

gleichsam die conditio sine qua non von Geschichte. Sie hält das Ende dieser Welt, dieses Äons, das Ende der Geschichte auf. Die Kirche ist 'historische Wirklichkeit' katexochen. Im Anschluß an den oben geäußerten Gedanken zur 'Gesetzlosigkeit' ist daran zu erinnern, daß bei Paulus der 'Mensch der Gesetzlosigkeit' (άνθρωπο? της- άνο\ιίας) bzw. das 'Geheimnis der Gesetzlosigkeit' (μυστηριον τχ\ς ανομ ίας-) vom Katechon aufgehalten wird. Die aufhaltende Funktion der Kirche dürfte folglich nicht zuletzt ihrem Rechtscharakter zu verdanken sein. Damit werden die Vertreter der 'idealistischen' Sicht der Dinge in ihrer Gegnerschaft zum Recht zu Handlangern des Antichristen. Die Deutung vom 25. September 1949 fällt etwas aus dem Rahmen. Schmitt schreibt: "Der κατέχων, das ist der Mangel, das ist Hunger, Not und Ohnmacht. Das sind diejenigen, die nicht regieren, das ist Volk; alles andere ist Masse und Objekt der Planung. Wunderbare Kraft der nicht-oppositionellen Negation, Sozialer Rechtsstaat, Historie." Hier werden eigentlich zwei Träger der Katechon-Funktion namhaft gemacht: zum einen das Volk als "diejenigen, die nicht regieren", zum anderen - und das ist neu - eine soziale Situation. Beide werden nicht strikt getrennt, sondern verfließen ineinander. Ihnen entgegengesetzt wird die Masse als "Objekt der Planung". Denkt man an die Eintragung vom 16. Juni 1948, so stehen Mangel, Hunger, Not und Ohnmacht und das sie erleidende Volk möglicherweise für das' anarchische Chaos', das die 'babylonische Einheit', d.h. die - von Schmitt entschieden abgelehnte - 'nihilistische Zentralisierung und Satzung', für die die verplanbare Masse steht, aufhält. Ansonsten lassen die aufgereihten Stichwörter verschiedenste Interpretationen zu. Aus dem einmal mehr außerordentlich larmoyanten Ton der ganzen Eintragung läßt sich immerhin schließen, daß Schmitt mit ihnen keine freundlichen Gedanken verband. Eine knappe Woche später (1.10.1949) finden wir die letzte Eintragung zu unserem Thema. Schmitt schreibt: "Wichtig für Hobbes und die Zeit Cromwells: die bewußte Preisgabe der κατέχων - Tradition des römischen Reiches (übrigens auch bei Vitoria nichts mehr davon!!). Kein drittes Rom (wie in Moskau)! Keine Succession mehr: doch, in Frankreich bis Napoleon I. Kaisertum, Cäsarismus. Jedenfalls ist für Hobbes die römische Kirche das Gespenst, das auf dem Grabe des Imperium Romanum sitzt. Kritik des Imperium Romanum bei Bacon und Hobbes: Es war gar nicht universal, war kein Orbis."

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Die Puritaner 62 brachen bewußt mit der tausendfünfhundert Jahre alten Tradition der römischen Kirche und wandten sich den Anfängen des Christentums und besonders auch dem Alten Testament zu. Ihre Abneigung gegen bischöfliche Aufsicht und ihr Ideal einer sich selbst organisierenden Gemeinde, ihr Individualismus, ließen eine politische Katechon-Deutung nicht zu. Im übrigen brauchten sie - wie Luther - keinen Aufhalter mehr, weil der Antichrist in der Gestalt des Papstes bereits erschienen war. 63 Die Gleichsetzung des Papstes mit dem Antichrist wird von Hobbes abgelehnt. 64 Von der Katechon-Idee scheint er aber auch nicht viel zu halten. Weder in den Ausführungen über das Papstum und die römische Kirche im Leviathan noch in den entsprechenden Kapiteln von De cive findet sich ein Hinweis auf 2.Th 2 6.7. In Anbetracht seines sehr pragmatischen Verständnisses von Staat und Religion überrascht das Fehlen des Katechon-Begriffs bei Hobbes jedoch nicht. Ob dieses Nicht-Erwähnen allerdings als ein 'bewußter1 Verzicht auf den Katechon verstanden werden muß, ist nicht zwingend. Wahrscheinlicher ist, das die Zeit mit diesem Begriff nichts mehr verbinden konnte, und er deshalb einfach aus dem Bewußtsein verschwand. Bezeichnend für den Stellenwert dieses Begriffs in der anbrechenden Neuzeit ist Schmitts Beobachtung, daß auch der katholische Moraltheologe und frühe Völkerrechtler Francisco de Vitoria (gest. 1546) ihn nicht mehr verwendete.

5. Ex Captivitate Salus 1950 veröffentlichte Schmitt unter dem Titel Ex Captivitate Salus. Erfahrungen derZeit 1945/47 eine Anzahl von Aufsätzen, die während seiner Gefangenschaft in einem amerikanischen Lager entstanden. Für unser Thema von Interesse ist der im August 1946 geschriebene dritte Aufsatz dieser Sammlung: Historiographia in Nuce: Alexis de Tocqueville. Schmitt nennt Tocqueville den Mgrößte[n] Historiker des 19. Jahrhunderts"65. Verdient hat dieser sich diese Auszeichnung vor allem dadurch, daß er sich nicht in den "Vordergründen der Revolutionen und Reformationen" verlor, sondern dai

62

Vgl. Artikel 'Puritaner' in: RGG. Bd.V.

63

Vgl. Artikel 'Antichrist' IV 3 in: TRE. Bd.III.

6 4

Leviathan, 422.

65

ECS, 27.

II. Einzeldarstellungen

87

"schicksalhaften Kern der Entwicklung" erkannte 66: der Drang "zu immer weiterer Zentralisierung und Demokratisierung". Aber es ist nicht allein diese Prognose, die die Leistung Tocquevilles ausmacht. Von ebenso großer Bedeutung ist der Umstand, daß er die "konkreten geschichtlichen Mächte, die diese Entwicklung tragen" 67, richtig bezeichnete: Amerika und Rußland. Er zeigte, daß sowohl die freiheitliche wie die diktatorische Organisationsform im Fall dieser beiden Mächte "zu dem gleichen Ergebnis einer zentralisierten und demokratisierten Menschheit"68 führen werden. Und Europa? Europa wird - zumindest in der Tocquville-Deutung Schmitts der große Verlierer sein, d.h. seine Zukunft wird bestimmt von seinen beiden Nachbarn, die sich "über die Grenzen und über die Köpfe des kleinen Europa hinweg unmittelbar treffen." 69 Tocqueville war Aristokrat, Liberaler, Franzose, Europäer und Christ. Damit stand er eigentlich immer auf der Seite der Verlierer. Als Sohn einer adligen Familie wurde er bereits als Besiegter geboren, besiegt durch die 'Grande Révolution'. 1848 war für den Liberalen Tocqueville das Schicksalsjahr. Als Franzose gehörte er zu den Verlierern der Napoleonischen Kriege. Sein Wissen, daß das Geschick der Welt in Zukunft von Amerika und Rußland bestimmt wird, machte ihn als Europäer zum - künftigen - Unterlegenen. Als Christ schließlich "erlag er dem wissenschaftlichen Agnostizismus seines Zeitalters" 70. Letzteres, seine Kapitulation vor dem wissenschaftlichen Agnostizismus, macht für Schmitt die eigentliche Tragik Tocquevilles aus: "Darum ist er nicht das geworden, wozu er mehr als jeder Andere prädestiniert schien: ein christlicher Epimetheus. Ihm fehlte der heilsgeschichtliche Halt, der seine geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahrte. Europa war ohne die Idee eines Kat-echon verloren. Tocqueville kannte keinen Kat-echon. Statt dessen suchte er kluge Kompromisse. Er selbst fühlte die Schwäche dieser Kompromisse ebenso wie seine Gegner, die ihn deshalb verlachten."71 In einem gewissen Sinne verband Tocqueville in sich das Wesen Europas. Als Aristokrat stand er gegen die absolute Demokratisierung, gegen die bedingungslose Gleichheit Amerikas, als Liberaler gegen die Zentralisierungsbegeisterung Rußlands, als Christ gegen den Nihilismus eines positivistischen Zeitalters. 66 Schmitt bezieht sich auf den Schluss des ersten Bandes von: Über die Demokratie in Amerika (1835). 67

ECS, 28.

68

Ebd., 29.

69

Ebd.

7 0

Ebd., 31.

71

Ebd.

C. Carl Schmitt und der Katechon

88

Tocquevilles Schwierigkeit, seine 'Schwäche' (wie Schmitt meint) lag aber darin, daß er für seine, von ihm gleichsam verkörperte, "geschichtliche Idee von Europa" keine Zukunft sah, daß sie für ihn sinnlos geworden war: "So wurde er ein Besiegter, der seine Niederlage akzeptiert."72 Tocqueville blieb zwar "nach dem Glauben seiner Väter, durch Taufe und Tradition" Christ, den Glauben an den Gott als Herrn der Geschichte hatte er jedoch verloren. Die Vorstellung einer 'Heilsgeschichte' war ihm fremd geworden. Deshalb konnte er auch mit der Idee des Katechon nichts anfangen. Aber - so Schmitt - nur die 'Verortung' in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang kann der "geschichtlichen Idee von Europa" einen Halt geben. Wie läßt sich eine solche heilsgeschichtliche 'Verortung' denken? Die Geschichte läuft auf die völlige Zentralisierung und Demokratisierung zu. Wir erinnern uns, daß Schmitt bereits bei anderen Gelegenheiten sein Mißfallen über eine solche Entwicklung ausgedrückt hat. 73 Es ist folglich nicht (all)zu weit hergeholt, wenn wir annehmen, daß er in dem Ziel dieser Entwicklung antichristliche Züge zu entdecken meint. Amerika und Rußland werden bei einer solchen Sicht der Dinge zu antichristlichen Mächten. Ihr Sieg ist allerdings erst dann endgültig, wenn die "geschichtliche Idee von Europa" bedeutungslos geworden ist, wenn sie keine Kraft mehr besitzt. Damit ist der heilsgeschichtliche 'Ort' Europas, gegeben: es hat die Rolle des Katechon zu übernehmen. Diese Funktion macht die Selbstbehauptung Europas aus einem Rückzugsgefecht einer überlebten Kultur zu einer sinnvollen Aufgabe.

6. Drei Stufen historischer

Sinngebung

In der Zeitschrift Universitas erschien im selben Jahr wie Ex captivitate salus und DerNomos der Erde ein Aufsatz von Carl Schmitt mit dem Titel Drei Stufen historischer Sinngebung 7 4 . Schmitt läßt sich hier von Karl Löwith und seinem Buch Meaning of History (1949) zu einigen Gedanken über verschiedene Formen historischer Sinnstiftung anregen. Eine erste Form solcher Sinnstiftung ist der das historische Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts bestimmende Vergleich der eigenen Zeit mit der Zeit der römischen Bürgerkriege und des frühen Christentums. Der Gedanke der historischen Parallelisierung als solcher erscheint Schmitt keineswegs unsinnig, denn: "Trotz aller hegelisch-marxistisch-stalinistischen Geschichtsdialektik haben wir 72

Ebd.

73

So z.B. Glossarium, 16. 6. 1948.

74

Der ursprüngliche Titel lautete: Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes. Er wurde von der Redaktion eigenmächtig geändert. Vgl. Meier 1994, 39 Anm.56.

II. Einzeldarstellungen

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tatsächlich kein anderes Mittel geschichtlichen Selbstverständnisses".75 'Merkwürdig' allerdings findet Schmitt, daß ausgerechnet diese Zeit ausgewählt wurde und daß sich Autoren aller Richtungen in dieser Wahl einig waren. Immerhin hat sie den Vorteil, daß sie sich sowohl mit einem "kyklischen" wie mit einem "eschatologischen" Verständnis der Geschichte verbinden läßt: "Beide finden in ihr den Beweis für das Ende eines Aion, die Gewißheit einer erschöpften Zeit, eines tempo esaurito ." Für das kyklische Denken folgt daraus der Beginn eines neuen Weltjahres, für das eschatologische Denken die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes und für das "progressistische" Denken - ein dritter Begriff, der hier etwas plötzlich eingeführt wird - "die spiralförmige Steigerung einer vollkommeneren Zeit". 76 Eine andere Form historischer Sinnstiftung geht auf die "unendliche Einmaligkeit des geschichtlich Wirklichen". Anders als Löwith versteht Schmitt die Botschaft des Neuen Testamentes weniger als ein Aufruf zur Buße, sondern vielmehr als die Verkündigung eines "geschichtliche[n] Ereignisses] von unendlicher, unbesitzbarer, unokkupierbarer Einmaligkeit". Die Menschwerdung Gottes in Christus geschieht nicht in der ewigen Gegenwart mythischer Zeitlosigkeit, sondern fand als historisch genau verortetes, einmaliges Ereignis statt. Dieser Umstand unterscheidet das Christentum von jeder "Religion im Sinne der vergleichenden Religionswissenschaft". Aus diesem Moment der Einmaligkeit ergibt sich für den Christen eine bestimmte Sicht der Geschichte: Er "blickt auf vollbrachte Ereignisse zurück und findet dort Ingrund und Inbild, in deren aktiver Kontemplation der dunkle Sinn unserer Geschichte weiterwächst."77 Schmitt übernimmt zur Kennzeichnung dieser Situation von dem katholischen Dichter Konrad Weiß das Bild des 'christlichen Epimetheus'78. Neben diesen beiden Formen der historischen Sinnstiftung behandelt Schmitt als dritte Form die Idee des Katechon. Er geht aus von der Frage, wie eschatologischer Glaube und Geschichtsbewußtsein zusammengedacht werden können. Eigentlich stehen sie im Gegensatz zueinander: "Die lebendige Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes scheint aller Geschichte ihren Sinn zu nehmen und bewirkt eine eschatologische Lähmung, für die es viele geschichtliche Beispiele gibt." 79 Warum sich Gedanken machen über den weiteren Verlauf menschlicher Geschichte, warum sich noch anstrengen im Dienst des Staates,

75 DShS, 929; sieben Jahre später (in AHL) spricht Schmitt allerdings von "billigen historischen Parallelen", die überwunden werden müssen, um die "unwiederholbare Einmaligkeit unserer Situation" zu erkennen. Vgl. unten S.98. 76

Ebd.

77

Ebd., 930.

78

Ebd. Schmitt verwendet den Ausdruck auch an anderen Orten, so z.B. im Vorwort zu ECS, wo er sich selbst als 'christlichen Epimetheus* bezeichnet. 79

Ebd., 929; vgl. dazu unten S.93.

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90

im Dienst künftiger Generationen, wenn morgen schon die Welt untergeht ? Um die "eschatologische Lähmung" zu überwinden, ist eine Vermittlung notwendig, eine 'Brücke1. In der Idee des Katechonfindet Schmitt eine solche Brücke. Wir zitieren im Folgenden die entsprechende Passage des Aufsatzes: "Die Brücke liegt in der Vorstellung einer Kraft, die das Ende aufhält und das Böse niederhält. Das ist der Katechon der geheimnisvollen Paulus-Stelle des 2.Thessalonicher-Briefes. Das mittelalterliche Kaisertum der deutschen Herrscher verstand sich selbst geschichtlich als Kat-echon. Noch Luther hat es so verstanden, während Calvin eine entscheidende Wendung nimmt, indem er nicht mehr das Reich, sondern die Predigt des Wortes Gottes für den Kat-echon hält. Die Vorstellung haltender und aufhaltender Kräfte und Mächte läßt sich in irgendeiner Form wohl bei jedem großen Historiker nachweisen. Nietzsche hat voller Wut gerade in Hegel und in dem sechsten, das ist in dem historischen Sinn der Deutschen den großen Verzögerer auf dem Weg zum offenen Atheismus erblickt. In Hans Freyers vor kurzem erschienener 'Weltgeschichte Europas' (11,616,915) treten haltende Mächte als Kat-echonten auf. Freilich müssen wir uns hüten, das Wort zu einer generalisierenden Bezeichnung bloß konservativer oder reaktionärer Tendenzen zu machen. Wir dürfen es nicht benutzen, um durch Erhalter und Verzögerer die Diltheyschen Typensammlungen des Historismus um einige Exemplare zu vermehren. Die ursprüngliche Geschichstkraft der Figur eines Kat-echon bleibt trotzdem bestehen und vermag die sonst eintretende eschatologische Lähmung zu überwinden."80 Größtenteils werden hier Deutungen referiert, die Schmitt bereits an anderen Orten mehr oder weniger detailiert ausgeführt hat. Sowohl die Festelllung, daß für christlich-eschatologisches Denken Geschichte ohne die Idee eines Aufhalters unverständlich bleiben muß, wie auch der Hinweis auf das katechontische Selbstverständnis der mittelalterlichen Kaiser begeneten uns bereits im Glossarium81; auch Nietzsches Wort über Hegel als den 'großen Verzögerer auf dem Weg zum offenen Atheismus' ist von Schmitt bereits früher - wenn auch nur beiläufig - erwähnt worden. 82 Neu ist die Vermutung Schmitts, daß "haltende und aufhaltende Kräfte und Mächte" sich bei jedem Historiker von einiger Bedeutung finden lassen. Hans Freyer mit seiner Weltgeschichte Europas wird als Beispiel genannt. Ebenfalls neu ist die Ergänzung der Nietzsche-Paraphrase um den "sechsten", den "historischen Sinn der Deutschen", der in Verbindung mit Hegel das Absterben des Gottesglaubens verzögere. 83 Die Idee des Aufhalters erscheint so sehr als

8 0

Ebd., 929f.

81

19.12.47. Vgl. oben S.77.

82

Beschleuniger wider Willen (1942). Vgl. oben S.62.

II. Einzeldarstellungen

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eine Notwendigkeit echten historischen Denkens, daß dieses Denken selbst aufhaltende Wirkung zeigt. Schmitt deutet den Katechon hier als eine historische Kategorie-nicht jedoch als eine Kategorie des Historismus! Wenn man diesen versteht als "'historische[n] Positivismus', als zur Stoffhuberei ausgewucherte Tatsachenforschung und - aufreihung, die alles und jedes genetisch herleitet und so auch den Standpunkt des erkennenden Subjekts historisch relativiert" 84, so wäre es in der Tat eine sich eigentlich von selbst verbietende Banalisierung, wollte man den Begriff in diesem Kontext verwenden. Er würde seinen spezifischen Charakter verlieren und zu einem Allerweltsbegriff werden. Damit ginge ihm das verloren, was Schmitt seine "Geschichtskraft" nennt, seine Fähigkeit, die "eschatologische Lähmung" zu überwinden. Um sinnvoll zu bleiben, muß er eingebunden sein in ein bestimmtes, in ein teleologisches Geschichtsbild; wo es kein telos der Geschichte mehr gibt - sei es positiv oder negativ gefaßt - wird die Idee eines Aufhaltenden sinnlos, sofern sie nicht trivialisiert wird "zu einer generalisierenden Bezeichnung bloß konservativer oder reaktionärer Tendenzen". Schmitt verbindet hier auf eigenartige Weise zwei Deutungen des Katechon miteinander: Zum einen der heilsgeschichtliche Aufhalter des realen, physischen Endes der Welt - veranschaulicht an den mittelalterlichen Kaisern - ; zum anderen der Aufhalter als notwendige Kategorie echten historischen Denkens. Der Übergang ist fließend, und es stellt sich die Frage, ob für Schmitt 'große' Geschichtsschreibung letztlich mit Theologie zusammenfällt oder zumindest die Rolle einer 'ancilla theologiae' einnimmt, oder ob es ihm hier nur um eine formale Analogie zu tun ist. Der Kontext spricht für ersteres. Zwar wird als erste "Sinndeutung" die (historische) Parallelisierung angeführt, als dritte jedoch die "Einmaligkeit des geschichtlich Wirklichen", genauer: die Einmaligkeit der Inkarnation Gottes in Christus. Schmitts eigenen Vorstellungen scheint diese dritte Sinndeutung zu entsprechen. Dem "kyklischen" Denken ist alles Wiederholung85, und für das "progressistische" Denken ist die vergangene Zeit überwundene Zeit und ohne eigene Bedeutung mehr - nur die Gegenwart bzw. die Zukunft zählt und ist von Wert. Beide sind damit in einem gewissen Sinne traditions- und geschichtslos. Nur innerhalb eines christlichen Geschichtsverständnisses kann - so legen Schmitts Ausführungen nahe - das geschichtliche Ereignis in seiner ihm eigenen Würde ernstgenommen werden. Als Bedingung christlichen Geschichtsver-

83 In der zwar erst 1958 geschriebenen, von uns aber bereits besprochenen Nachbemerkung zu LeR erwähnt Schmitt diesen Teil der Nieztsche-Stelle ebenfalls. Vgl. oben S.75. 84 G.Scholtz, Art. 'Historismus', in: J.Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, Basel 1974. 85 Und daß kyklisches Denken mit echter Geschichtsschreibung nichts zu hat, sagt Schmitt ausdrücklich:"...daß das Heidentum keines geschichtlichen Denkens fähig ist, weil es kyklisch denkt. In den Kreisläufen einer ewigen Wiederkehr verliert das Geschichtliche seinen spezifischen Sinn." (928).

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C. Carl Schmitt und der Katechon

stehens ist der Katechon damit zugleich die Bedingung jedes echten Geschichtsverstehens. Die Überlegungen zum Katechon stehen in diesem Aufsatz zwischen dem gegenüber verschiedensten Geschichtsdeutungen offenbar weitgehend indifferenten Denken in geschichtlichen Parallelen oder Analogien und dem spezifisch christlichen Denken der historischen Einmaligkeit. In dieser Position wird der Katechon zu einer Art Prüfstein - es wird hier gleichsam die Gretchenfrage gestellt. Deshalb findet sich die "Vorstellung haltender und aufhaltender Kräfte und Mächte" bei jedem 'großen' Historiker. Umgekehrt bedeutet dies auch, daß, wo der 'historische Sinn' noch vorhanden ist, der 'Weg zum Atheismus' versperrt ist.

7. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum In der 1950 erschienen Schrift Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum versucht Schmitt in der Form eines völkerrechtsgeschichtlichen Rückblicks seine 'geschichtliche Idee von Europa', seine Sicht des 'Jus Publicum Europaeum' darzustellen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Vorstellungen näher einzugehen. Ein solches Unterfangen würde eine eigene Arbeit erfordern. Wir beschränken uns deshalb hier auf die für unser Thema relevanten Abschnitte. In seinen bisherigen, von ihm veröffentlichten Schriften behandelte Schmitt den Katechon-Begriff mehr beiläufig, als ein weiterer, zusätzlicher Aspekt des behandelten Gegenstandes. Offensichtlich ist ihm dieses Thema inzwischen aber so wichtig geworden, daß er ihm im dritten einleitenden Corollarium: Hinweise zum Völkerrecht des christlichen Mittelalters erstmals ein eigenes Kapitel widmet. Wir haben bereits gesehen, daß für Schmitt der Katechon einer der Schlüsselbegriffe für das Verständnis der politischen Wirklichkeit des christlichen Mittelalters darstellt. 86 Unter dem Titel: Das christliche Reich als Katechon wird dieser Gedanke hier weiter ausgeführt. Ein entscheidendes Merkmal, das das christliche römische Reich der Antike und des Mittelalters von dem heidnischen imperium Romanum unterscheidet, ist das Wissen um die eigene Endlichkeit. Es wußte, daß seine Zeit, das gegenwärtige Äon dem Ende zuging. Das eigentlich Erstaunliche ist, daß dieses Reich trotz dieses Wissens sein Handeln nicht einfach auf das für den Moment Le-

86

Vgl. Glossarium, 19. 12. 1947 (s.oben S.77).

II. Einzeldarstellungen

93

bensnotwendige beschränkte und ansonsten in eine erwartungsfrohe Passivität versank, sondern daß es zu einer "geschichtlichen Macht" wurde. 87 Dieses Phänomen läßt sich - nach Schmitt - nur mit Hilfe der Idee des Katechon verstehen: "Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Katechon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt. Die Autorität von Kirchenvätern und Schriftstellern wie Tertullian, Hieronymus und Lactantius Firmianus, und die christliche Fortführung sibyllinischer Weissagungen vereinigen sich in der Überzeugung, daß nur das Imperium Romanum und seine christliche Fortsetzung den Bestand des Äons erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten. Das war bei den germanischen Mönchen ein lichtvoller, christlicher Glaube von stärkster, geschichtlicher Kraft, und wer die Sätze Haimos von Halberstadt oder Adsos nicht von den trüben Orakeln des Pseudomethodius oder der tiburtinischen Sibylle zu unterscheiden vermag, wird das Kaisertum des christlichen Mittelalters nur in fälschlichen Verallgemeinerungen und Parallelen mit nicht christlichen Machtphänomenen, aber nicht in seiner konkreten Geschichtlichkeit begreifen können."88 Diese Passage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. So weist sie über die Problematik des mittelalterlichen Reiches hinaus dadurch, daß Schmitt die Katechon-Idee als notwendiges Element jeder 'ursprünglich' christlichen Geschichtsbetrachtung sieht, also auch der des 20. Jahrhunderts. Sie erlaubt dem Christen, seine geschichtliche Situation und die diesem Äon verbliebene Zeit wichtig genug zu nehmen, um politisch handeln zu können. Für ein christliches Reich ist sie die Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz. Man könnte hier geradezu von einem Bekenntnis Schmitts zum Katechon sprechen. Wie wir uns erinnern, finden sich bereits im Glossarium sehr ähnliche Gedanken. Die nur aus dem christlichen Glauben erklärbare Katechon-Rolle des Kaiserreiches macht dieses zu einem geschichtliches Phämomen sui generis. Der Vergleich mit anderen, nicht-christlichen Reichen der Weltgeschichte, etwa mit dem Reich Alexanders, dem heidnischen imperium Romanum oder den islamischen Reichen verfehlt nach Schmitts Ansicht das Wesentliche, die Legitimation, die eigentliche Daseinsberechtigung des mittelalterlichen Kaisertums, nämlich die Verantwortung für den Erhalt dieser Welt.

87

NE, 29.

88

Ebd., 29f.

94

C. Carl Schmitt und der Katechon

Bemerkenswert sind auch die Autoren, die Schmitt zur Stützung seiner Sicht der Dinge anführt. Tertullian und Lactanz sehen im römischen Reich den Katechon; Hieronymus äußerte sich zwar nicht zur Thessalonicherstelle, in seinem, im Mittelalter außerordentlich einflußreichen Kommentar zu Daniel bezeichnet er jedoch Rom als das vierte und damit letzte Reich - indirekt also eine Bestätigung der Rom-Deutung. Interessant ist die Erwähnung von Haimo von Halberstadt und Adso von Montier-en-Der. Schmitt erwähnte Haimo bereits einmal in einer Tagebuch-Notiz.89 Bei der Besprechung einer anderen Eintragung 90 vermuteten wir, daß Schmitt Adso kennt. Der Umstand, daß dieser Autor hier - vielleich ein halbes Jahr später - aufgeführt wird, bestätigt diese Vermutung. Beide Autoren vertreten übrigens ebenfalls die Rom-Deutung. Die Art und Weise, wie Schmitt seine Gewährsleute anführt, erweckt den Eindruck, als ob alle Kirchenväter und sonstige Autoritäten bezüglich dieser Deutung einer Meinung seien, als ob es gar keine 'dissidenten' Interpretationen gäbe. Offensichtlich ist für Schmitt nur diese Deutung von Interesse. Träger der Katechon-Funktion ist nicht primär der Kaiser, sondern das Reich: "'Reich' bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegewärtigen Äon aufzuhalten vermag." 91 Diese Zuordnung mag etwas überraschen, bezeichnet doch Schmitt im Glossarium mit Vorliebe einzelne Persönlichkeiten als Katechonten. Bringt man jedoch diese Stelle in Zusammenhang mit Vorstellungen, die Schmitt etwa im Aufsatz Der Reichsbegriff im Völkerrecht ms dem Jahre 1939 vertritt 92, so wird diese Hervorhebung des 'Reiches' verständlich und der Gegenwartsbezug offensichtlich. Seine Verkörperung findet das Reich im Kaisertum. Wichtig erscheint Schmitt, daß das Kaisertum "keine in sich absolute und alle anderen Ämter absorbierende oder konsumierende Machtstellung bedeutet". Es ist "keine senkrechte, gradlinige Steigerung, also kein Königtum über Könige, keine Krone der Kronen, keine Verlängerung einer Königsmacht oder gar, wie später, ein Stück einer Hausmacht, sondern ein Auftrag, der aus einer völlig anderen Sphäre stammt als die Würde des Königtums."93 Die Kaiserwürde tritt zu einer konkreten Krone hinzu, d.h. mit ihr ist keine konkrete Herrschaft, kein Land verbunden. Die Herrschaft über ein Volk, Verteidigung der Grenzen etc. sind die Aufgaben eines Königs, und als deutscher König nahm etwa Otto der Große diese Aufgaben auch wahr. Als Kaiser jedoch hatte er die heilsgeschichtliche Funktion

89

19. 12. 1948.

9 0

16. 6. 1948 (s.oben S.82f.).

91

NE, 29.

92

Vgl. oben S.64f.

93

NE, 31.

II. Einzeldarstellungen

95

des Katechon auszuüben, er hatte die Kirche zu schützen, die Verbreitung des Glaubens zu fördern und durch seine Existenz das Ende der Welt aufzuhalten. Weil dem so ist, weil das Kaisertum, die Funktion des Katechon, eine zusätzliche Leistung darstellt, kann der "Kaiser ... daher auch - wie das Ludus de Antichristo im Anschluß an die ganz von Adso beherrschte Tradition zeigt - nach Vollendung eines Kreuzzuges seine Kaiserkrone in aller Demut niederlegen, ohne sich etwas zu vergeben. Er tritt dann aus der erhöhten Reichsstellung in seine natürliche Stellung zurück und ist dann nur noch König seines Landes".94 Schmitt notiert in seinem Tagebuch: "Der Katechon ist daran zu erkennen, daß er diese Welteinheit nicht erstrebt, sondern die Kaiserkrone niederlegt."95 Aber, so stellt sich hier die Frage, steht das Kaisertum nicht gerade für die Einheit? Beanspruchten die Kaiser nicht, in einem gewissen Sinne Herren der ganzen Welt zu sein? Mit anderen Worten: steht die mittelalterliche Einheitsidee nicht im Gegensatz zu den Vorstellungen Schmitts? Die Welteinheit, die in der Tagebuchnotitz gemeint ist, wird als "nihilistische Zentralisierung" bezeichnet. Genau dies war die mittelalterliche Einheit aber nie: "Die mittelalterliche, west- und mitteleuropäische Einheit von Imperium und Sacerdotium ist niemals eine zentralisierte Machtanhäufung in der Hand eines Menschen gewesen. Sie beruhte von Anfang an auf der Unterscheidung von postestas und auctoritas als zwei verschiedene Ordnungsreihen derselben umfassenden Einheit. Die Gegensätze von Kaiser und Papst sind daher keine absoluten

9 4 NE, 32; Wir sind dieser Figur des die Krone niederlegenden Kaisers bereits im Glossarium begegnet (16.6.48). Anscheinden übernahm Schmitt dieses Bild nicht - wie wir vermuteten - direkt von Adso, sondern über das aus staufischer Zeiten stammende geistliche Schauspiel Ludus de Antichristo. Immerhin war ihm bekannt, aus welcher Quelle der Autor schöpfte. Wir führen im folgenden den entsprechende Szenenabschnitt im Ludus mit den vom Autor gegebenen Anweisungen an (Günther, 117):

"Dieser [der König v. Babylon] wird überwunden und in die Flucht geschlagen. Hierauf betritt der Kaiser mit den Seinen den Tempel. Nach der Anbetung nimmt er die Krone vom Haupt und bringt sie zusammen mit dem kaiserlichen Zepter vor dem Altar dar. Der

Kaiser

singt Nimm, was ich darbringe! Mit Herzens freiem Schlage Für dich, der König der Könige, als Kaiser ich entsage. Durch dich die Könige herrschen. Dich alleine Kaiser Kann nennen man, Du bist des Weltalls Wegweiser. Nachdem er Krone und Zepter auf dem Altar niedergeigt hat, kehrt er auf den Sitz seines früheren Königtums [Reich der Franken] zurück. Die Kirche, die mit ihm nach Jerusalem gezogen war, bleibt im Tempel." (Ende I.Teil) In diesem Zusammenhang sei noch darauf verwiesen, daß Schmitt mit Gerhard Günther, dem späteren Übersetzer und Kommentator des Ludus, über den Katechon korrespondierte - s. Glossarium, 19.12.47. 95

16.6.48.

C. Carl Schmitt und der Katechon

96

Gegensätze, sondern nur 'diversi ordines', in denen die Ordnung der Respublica Christiana lebt." 96 Im Gegensatz zu heute gehörten im Mittelalter das Diesseits und das Jenseits, das Irdische und das Göttliche zusammen, bildeten eine, in sich geschlossene Welt. Die Respublica Christiana, die sowohl das Priesterum wie die Herrschaft umfaßte, war Ausdruck dieses Weltbildes. Anders als z.B. im alten Ägypten, wo ein Gottkönig regierte, anders aber auch als in Byzanz, wo der Basileus den Patriarchen ein- und absetzen konnte nach Belieben, waren im Westen das Sacerdotium und das Imperium nicht in einer Hand, sondern verteilten sich auf zwei Amtsträger, auf den Papst und den Kaiser. Auch wenn sich beide immer wieder stritten, sich gegenseitig absetzten und Gegenpäpste bzw Gegenkaiser ausriefen, blieb die Ordnung, die Dualität in der Einheit, doch unangetastet. Deshalb ist es falsch, wenn die "unifizierenden und zentralisierenden Ideen, die seit der Renaissance, Reformation und Gegenreformation mit der Vorstellung einer Einheit verbunden sind"97, auf die mittelalterliche Ordnung angewendet werden. Aber die Respublica Christiana war nicht nur die 'Organisationsform' Westund Mitteleuropas, sie stellte auch eine 'Raumordnung' dar: "Sie hatte klare Ortungen und Ordnungen. Ihr Nomos ist durch folgende Einteilungen bestimmt: Der Boden nicht-christlicher, heidnischer Völker ist christliches Missionsgebiet; er kann einem christlichen Fürsten durch den päpstlichen Auftrag zur christlichen Mission zugewiesen werden. ... Der Boden islamischer Reiche galt als feindliches Gebiet, das durch Kreuzzüge erobert und annektiert werden konnte. ... Der Boden der euorpäischen christlichen Fürsten und Völker selbst ist nach dem Bodenrecht der Zeit unter fürstliche Häuser und Kronen, Kirchen, Klöster und Stifter, Landesherren, Burgen, Marken, Städte, Communitäten und Universitäten verschiedener Art verteilt." 98 Auf der einen Seite gab es den christlichen Raum, innerhalb dessen die Eigentumsverhältnisse theoretisch gesichert waren, d.h. eine Änderung konnte nur nach bestimmten Regeln, auf Grund alter Rechte erfolgen. Kriege innerhalb dieses Raumes waren "Fehden im Sinne von Rechtsbehauptungen, Rechtsverwirklichungen oder Betätigungen eines Widerstandsrecht".99 Auf der anderen Seite war der nicht-christliche Raum, der ohne Rücksicht auf bestehende Rechtstitel erobert, annektiert und missioniert werden konnte. Das Mittelalter war - im Vergleich zu heute - sicherlich ein "anarchisches Chaos" 100 , aber es besaß eine räumliche 'Ortung' und eine politische Ordnung,

96

NE, 30.

97

Ebd., 31.

98

Ebd., 27.

"Ebd. 100

16.6.48.

II. Einzeldarstellungen

97

die eine "grundlegende Einheit" bildeten, und zu deren Träger das Kaisertum wesentlich gehörte. Damit unterscheidet sich diese Epoche für Schmitt grundsätzlich von dem "Nihilismus des 20.Jahrhunderts". 101 Seit dem 13. Jahrhundert begann die Situation sich zu verändern. Noch Dante verstand unter dem Kaisertum "eine transzendente, Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Gemeinschaften bewirkende und nur aus diesem Grunde höhere, umfassendere Einheit besonderer Art" 1 0 2 . Aber das Wissen um den Aufhalter ging allmählich verloren. Die Kaiserwürde wurde zu einem Bestandteil der Hausmacht der deutschen Könige, "aus dem starken Kat-echon der fränkischen, sächsischen und salischen Zeit wurde ein schwacher, nur noch konservativer Erhalter und Bewahrer" 103. Dazu kam, daß zu dieser Zeit die Wiederentdeckung des römischen Rechts einsetzte, ein Umstand, der die Renovation des heidnischen Kaiserbegriffs zur Folge hatte. Das Kaisertum unterschied sich schließlich nur noch durch das, auf seiner ehrwürdigen Geschichte beruhende Prestige von anderen Fürstentiteln. Der Verlust der heilsgeschichtlichen Rolle des Kaisertums war ein Zeichen der allgemeinen Auflösung der mittelalterlichen Ordnung: "Das Reich des christlichen Mittelalters dauert solange, wie der Gedanke des Kat-echon lebendig blieb." 104 Die nächste Erwähnung des Katechon in dieser Schrift findet sich im zweiten Teil: Die Landnahme einer neuen Welt, erstes Kapitel: Die ersten globalen Linien. Die Stelle lautet: "Im Mittelalter hielten die christlichen Fürsten und Völker Europas Rom oder Jerusalem für die Mitte der Erde und sich selbst für einen Teil der alten Welt. Die Stimmung, daß die Welt alt und dem Untergang nahe ist, tritt öfters auf; sie beherrscht z.B. einen Teil des Geschichtswerkes von Otto von Freising. Auch das gehört zu dem bereits erwähnten christlichen Geschichtsbild, das im Reich nur den Aufhalter des Anti-Christen, einen Katechon, sieht. Der gefährlichste Feind, der Islam, war damals nicht mehr neu. Im 15. Jahrhundert war er längst zu einem alten Feind geworden. Als nun im Jahre 1492 wirklich eine 'Neue Welt' auftauchte, mußten alle traditionellen Begriffe sowohl von einer Mitte wie auch vom Alter der Erde ihre Struktur verändern. Die europäischen Fürsten und Nationen sahen jetzt einen riesigen, bisher unbekannten, nichteuropäischen Raum neben sich auftauchen." 105

101

NE, 26.

102

Ebd., 32.

103

Ebd., 33.

104

Ebd., 29.

105

Ebd., 55.

7 Grossheutschi

C. Carl Schmitt und der Katechon

98

Die Vorstellung, in einem zu Ende gehenden Aeon zu leben, war ein wesentliches Merkmal der christlichen Sicht der Geschichte von Anfang an. Die Idee des Katechon wäre nicht nötig, wenn man von einer noch jungen Welt ausgehen könnte. Erst wenn das Ende unmittelbar bevorsteht oder eigentlich schon gekommen sein müßte, wird die Frage nach dem Aufhalter aktuell. Aber am Ende des 15. Jahrhunderts geschah tatsächlich etwas Neues unter der Sonne: eine neue Welt tat sich auf, eine Welt, von der die Alten nichts wußten. Die riesigen Räume, die es nun zu entdecken, zu erobern und zu missionieren galt, ließen die Welt wieder jung erscheinen. Zugleich warfen sie die Frage nach dem Zentrum der Welt auf: konnte Rom oder Jersualem weiterhin als die Mitte dieser so viel größeren Welt gelten? Beide Entwicklungen waren der KatechonIdee nichtförderlich und trugen wohl ebenso wie die Reformation und die Entstehung der nationalen Territiorialstaaten zum Untergang des mittelalterlichen Kaiserreiches bei.

8. Die andere Hegel-Linie Die letzte für unsere Untersuchung relevante Erwähnung des Katechon findet sich in einem Artikel, den Schmitt 1957 unter dem Titel: Die andere Hegel-Linie - Hans Frey er zum 70.Geburtstag in der Zeitschrift Christ und Welt (lO.Jg., Nr. 30 vom 26. Juli) veröffentlichte. Schmitt zeichnet hier ein äußerst anspruchsvolles Bild des Historikers und Soziologen Hans Freyer. Indem er der Linie von Hegel zu Lenin und Stalin die 'andere1 Linie von Hegel über Dilthey zu Freyer gegenüberstellt, macht er den letzteren zum großen geistigen Konzentrationspunkt des wahren europäischen Geistes. Freyer hat - so Schmitt - in konsequenter Weiterführung der genannten Linie sich nicht mit "naheliegenden, billigen historischen Parallelen" zufriedengegeben106, sondern als erster die geschichtlich einmalige, unwiederholbare Situation Europas nach dem zweiten Weltkrieg erkannt und adäquat dargestellt, nämlich "daß Europa sich heute nicht mehr ... fremder Invasionen zu erwehren hat, sondern die Auseinandersetzung mit den Ausgeburten seines eigensten europäischen Geistes nach Osten und Westen bestehen muß" 1 0 7 . Diese Stelle erinnert wohl nicht zufällig an Schmitts Tocqueville-Aufsatz von 1946. 1 0 8 Hier wie dort findet sich Europa konfrontiert mit Entwicklungen, die zwar in ihm ihren Ursprung haben, den wahren europäischen Geist jedoch verraten. Im Unterschied zum Tocqueville-Aufsatz kommt hier allerdings nur die östliche 'Ausgeburt' ins 106 Diese Geringschätzung 'historischer Parallelen' steht im Gegensatz zu der Bewertung derselben in DShS, 929. Vgl. oben S. 89f. 107

AHL, 2.

108

Vgl. oben S.86f.

II. Einzeldarstellungen

99

Blickfeld, und diese ist jetzt nicht mehr einfach nur der 'Zentralismus', sondern eine bestimmte Deutung Hegels, der Marxismus-Leninismus-Stalinismus. Als dezidierter Vertreter der 'anderen' Hegel-Linie trifft Freyer auf die intensivste Feindschaft dieser östlichen 'Ausgeburt', da er ihr mit Hegel ein "Stück ihres geistigen Prestiges, ja ein Teil ihrer geschichtlichen Legitimation" streitig macht. Und genau diese Feindschaft ist für Schmitt Gewähr für die existentielle Tiefe - und damit für den Rang - von Freyers Denken. Die Wichtigkeit, die Schmitt diesem Umstand zumißt, zeigt sich, wenn er - wie immer sehr einprägsam - formuliert: "Ich denke, also habe ich Feinde; ich habe Feinde, also bin ich." 1 0 9 Diese existentielle Tiefe geht der von Freyer beschriebenen modernen Welt völlig ab. In ihr "wird alles verwischt und entfällt die Spannung der ehrlichen Feindschaft. Es gibt keine Feinde mehr, sondern nur noch Schädlinge, Saboteure und Verräter, die durch Schweigen oder Diffamierung offen oder unter der Hand, prozeßförmig oder geräuschlos beseitigt werden." 110 Wir kennen diese Klage bereits zur Genüge. Es folgen einige mehr andeutende als erhellende Bemerkungen zur Aktualität der Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Macht nach Hiroshima und der Hinweis auf einen Aufsatz Freyers zu diesem Themenkreis. Der Artikel schließt mit einer allgemeinen Würdigung des Jubilars. Für unser Thema von Bedeutung ist die Passage, die sich an die Beschreibung der heftigen Feindschaft zwischen den beiden Hegel-Linien anschließt: "Nietzsche hat in einem Wutanfall erklärt: Hegel ist der große Verzögerer auf dem Weg Deutschlands zum Atheismus. Alle Beschleuniger aber auf diesem Wege werden sich einig sein gegen einen Mann wie Hans Freyer, der in seinen Büchern vom Katechon des 2.Thessalonicher-Briefes spricht, das ist die Kraft, die die Macht des Bösen für eine Zeitlang niederhält und den schlimmsten Beschleunigern auf dem Wege zum Abgrund entgegentritt. Alles, was seit dem 19. Jahrhundert konservativ heißt und auch sich selber so nennt, ist durch diesen Begriff des Aufhalters, den wir in Freyers Weltgeschichte finden, überholt und überspielt." 111 Der Ausspruch Nietzsches begegnet uns hier nicht zum ersten M a l . 1 1 2 Offensichtlich beschäftigte Schmitt der Gedanke immer wieder, Hegel nicht so sehr als den Propheten des unbeirrt voranschreitenden Weltgeistes zu

109

AHL, 3.

110

Ebd., 4.

111

Ebd., 3.

112

Die Nietzsche-Paraphrase findet sich in: Beschleuniger wider Willen (1942) - hier nur sehr beiläufig und ohne die positive Konnotierung auszuspielen -, in DShS (1950) und in der Nachbemerkung zu LeR (1958). Vgl. oben S.75, Anm. 45. 7»

100

C. Carl Schmitt und der Katechon

verstehen, sondern vielmehr als Gegner, als Aufhalter eines falschen, verderblichen Fortschritts, eines Fortschritts hin zur "restlosen Funktionalisierung" 113. Ebenso wie Nietzsche gegen Hegel, so werden die zeitgenössischen Beschleuniger sich gegen Freyer wenden. Entsprechend dem Feindbild des Aufsatzes sind mit den 'Beschleunigern' in erster Linie die Vertreter der leninistisch-stalinistischen Hegel-Deutung gemeint. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß - wir erinnern uns an den Reich- Artikel von 1942 - Schmitt hierbei auch an die westliche 'Ausgeburt' denkt. Der Logik der bisherigen Darstellung entsprechend müßte nun die Einsetzung Freyers als Katechon folgen. Aber hier endet die Parallele: Hegel ist der Katechon, Freyer spricht nur von ihm. Aufgehalten wird bei Hegel wie bei Freyer der Atheismus. Dieser bedeutet hier sehr viel mehr als einfach nur leere Kirchen. Er steht für die 'Macht des Bösen', für den 'Abgrund'. Schauen wir noch einmal in den Tocqueville-Aufsatz, so stellen wir fest, daß gerade die Kapitulation vor dem 'wissenschaftlichen Agnostizismus', der im Ergebnis gleichbedeutend ist mit Atheismus, verhinderte, daß Tocqueville nicht zur so dringend notwendigen Idee des Katechon fand bzw. nicht selbst zu einem solchen geworden ist. Damit gab er die 'geschichtliche Idee von Europa' verloren. Für Schmitt eine Todsünde. Falls es nicht gelingt, diesen Fehler wieder wettzumachen, so hindert nichts die Welt auf dem Weg zu einer "zentralisierten und demokratisierten Menschheit" 114 - eine Aussicht, die so ziemlich allem widerspricht, was Schmitt für wert- und sinnvoll hält. 1 1 5 Enttäuscht Tocqueville trotz seiner ansonsten außerordentlichen Hellsichtigkeit im entscheidenden Punkt, so bedeuten Hegel und sein Adept Freyer für Schmitt Licht in der Finsternis. Sie sind der Beweis dafür, daß die Funktion des Katechon immer noch wahrgenommen wird bzw. der Begriff des Katechon immer noch präsent ist. Europa und alles, wofür dieser Name steht, ist noch nicht völlig den obskuren Mächten der Gottlosigkeit, des Bösen ausgeliefert. Gelingt es, die katechontische Kraft Hegels zu bewahren - und für dieses Bemühen steht in Schmitts Augen Hans Freyer - , oder schafft es die Gegenseite, ihn für sich zu vereinnahmen ? Das ist für Schmitt hier die entscheidende Frage: "Hier wird der Kampf um Hegel geschichtsmächtig und ist kein Schulstreit mehr. Hier gilt das Wort von Arthur Rimbaud: Der Kampf der Geister ist so brutal wie die blutigste Schlacht."116 Näheren Aufschluß über die Art und Weise von Hegels Katechon-Sein bekommen wir nicht. Einige Andeutungen mehr macht Schmitt zu Freyers Ka-

113

LeR, 428.

114

ECS, 29.

115

Siehe dazu unten S.107ff.

116

AHL, 3.

II. Einzeldarstellungen

101

techon-Begriff. Wir erfahren zum einen, daß sich dieser in Freyers Weltgeschichte Europas (1949) findet, zum anderen, daß er "alles, was seit dem 19. Jahrhundert konservativ heißt und auch sich selber so nennt ... überholt und überspielt." 117 Schlagen wir in dem genannten Buch nach, so finden wir die einschlägigen Stellen im dritten Kapitel des zweiten Bandes unter der Kapitelüberschrift 'Haltende Mächte'. Im Rahmen einer Darstellung des europäischen Mittelalters entwickelt Freyer hier einen formalen Katechonbegriff von dialektischer Strukur. Zum besseren Verständnis wollen wir im Folgenden den Gedankengang Freyers kurz darstellen. Es sind drei Mächte, die "beim Übergang vom römischen Reich zum Abendland" 118 aufhaltend eine bedeutende Rolle spielen. Haltende Macht ist einmal Byzanz. Es ist der Verdienst des griechische Kaiserreichs, das Abendland dauernd vor der "Welle des Arabertums" 119 bewahrt zu haben. Allerdings ist dies "nur die kleinere, die defensive Hälfte" seiner Leistung. Die größere, wichtigere Hälfte ist die Durchdringung, Kultivierung, Christianisierung seiner nördlichen Feinde: "die gesamte ostslawische und ein Großteil der südslawischen Welt ist durch Byzanz in das Lebenssystem Europas einbezogen worden." 120 Haltende Macht ist auch die römischen Kirche. Anders als Byzanz erfüllt sie ihre katechontische Aufgabe - das Erbe zu erhalten - nicht, "indem sie schützt, abwehrt, abdeckt, sondern indem sie selbst aufsteigt und zur Mitte - zu einer der beiden Mitten des Abendlandes wird" 121 . Haltende Macht sind schließlich die Germanen. Sie, die in das alte imperium Romanum eindrangen, das westliche Reich schließlich zerschlugen und doch zugleich das römische Erbe weiterführten, verdeutlichen den Begriffs des Katechons - wie Freyer ihn versteht - in besonderer Weise: "Diejenigen, die zerstören, bewahren zugleich; die zerbrechen, halten auch." 122 Nach dem bisherigen Verlauf unserer Untersuchung überrascht es etwas zu hören, daß der Aufhalter beides sein kann, Bewahrer und Zerstörer, ja vielleicht beides sein muß, um sein eigentlichstes Wesen zu verwirklichen: "Gibt es einen höheren Grad von haltender Macht, als daß gerade im Zusammensturz die neue Stufe des Alten befreit wird, daß die Hand, die zerbricht, mit demselben Griff bewahrend zurückgreift und der Wille, der vorwärts drängt, wie mit tausend lebendigen Wurzeln das ganze Erbe aufsaugt?" 123 In der Negation wird das Alte nicht vernichtet, sondern im Neuen aufgehoben und damit auf eine höhere Stufe

117

Ebd.

118

Freyer 1949, 654.

119

Ebd., 619.

120

Ebd., 621.

121

Ebd., 635.

122

Ebd., 654.

123

Ebd.

102

C. Carl Schmitt und der Katechon

seiner Selbst gebracht. In der Dialektik von Zerstören und Bewahren erhält der Katechon in der Tat gegenüber der Tradition eine neue Qualität. Der Katechon ist bei Freyer kein eindimensionaler Begriff im Sinne eines nur Aufhaltenden und nur Konservierenden. Er bricht die Statik auf und wird dynamisch. Er vereinigt den Wunsch nach Erneuerung, nach Fortschritt mit dem Bestreben nach Verwurzelung in der Tradition, nach geschichtlicher Verortung. Der Begriff ist damit der adäquate Ausdruck für die 'geschichtliche Idee von Europa'. Ein Konservatismus, der sich dieses Begriffes bedient, ist nicht mehr nur darauf angewiesen, in der Defensive des bloßen Beharrens zu bleiben, er braucht nicht mehr gelähmt die Vergangenheit anzustarren wie das Kaninchen die Schlange; er kann zur Offensive übergehen und sich der Gestaltung der Zukunft zuwenden. Deshalb wird durch den Begriff "alles, was seit dem 19. Jahrhundert konservativ heißt und auch sich selber so nennt... überholt und überspielt." 124 Es verwundert nicht, daß Schmitt von diesem Begriff des Katechon angetan ist. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es Freyers Begriff ist. Wenn wir trotzdem so ausführlich auf diese Konzeption eingegangen sind, dann deshalb, weil sich in ihr ein Potential des Katechon-Begriffs zeigt, daß sich bei Schmitt so oder zumindest in dieser Deutlichkeit - nirgendwo findet. Es ist deshalb umso bemerkenswerter, daß Schmitt diese Anregung u.W. nicht aufgenommen hat. Die nächste Erwähnung des Katechon (1958) bleibt in den Grenzen des Gewohnten. Danach scheint Schmitt den Begriff fallengelassen zu haben.

124

AHL, 3.

D. Schluß Wie und zu welchem Zweck nun verwendet Carl Schmitt die paulinische Figur des Katechon, des 'Aufhalters'? Unsere Untersuchung gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Im Gegenteil: Sie zeigt eine Vielzahl von zum Teil höchst unterschiedlichen Deutungen, die zuerst einmal mehr Verwirrung als Klarheit schafft. Es entsteht der Eindruck der Willkür, des Zufälligen. Wäre dem aber wirklich so, dann könnte der Katechon kaum als zur Substanz von Schmitts Denken gehörig angesehen werden, er bliebe ein äußerliches Attribut, ein Ornament. Dem Verdacht der Unerheblichkeit widerspricht allerdings Schmitts immer wieder gezeigtes Gespür für die Tiefendimensionen eines Begriffs. Es ist schwer vorstellbar, daß er im Falle eines - wie wir gesehen haben - so mit Tradition und Reflexion gesättigten Begriffes wie dem des Katechon nur die Oberfläche gemeint und das Übrige ignoriert haben soll. Die Vermutung, der Begriff sei von Schmitt bewußt mit Bezug auf dessen theologisch-eschatologischen Hintergrund eingesetzt worden, dürfte also nicht allzu abwegig sein. Unterstellen wir nicht zu viel, so müßten sich die anscheinend so verschiedenen Verwendungsweisen des Katechons in eine auf das 'eschaton', das 'Äußerste' und 'Letzte' - wie immer man das deuten will - ausgerichtete Sicht der Geschichte einfügen lassen, der Begriff wäre mithin ein wichtiger Schlüssel zu Carl Schmitts Denken. Wir wollen im Folgenden untersuchen, ob diese Vermutung zutrifft.

I. Die verschiedenen Typen des Katechon Zur besseren Übersicht fassen wir unsere Ergebnisse noch einmal systematisch zusammen unter folgenden Gesichtspunkten: die verschiedenen Typen des Katechon, die chronologische Verteilung und das jeweilige 'Aufzuhaltende'. Schmitts 'Aufhalter' lassen sich unterteilen in lokale und universelle Katechonten. Letztere können weiter differenziert werden in geschichtsimmanente und geschichtstranszendente Katechonten. Diese Einteilung ist selbstverständlich nur eine Hilfskonstruktion. Die Grenzen sind keineswegs immer so eindeutig, und in manchen Fällen läßt sich über die Zuordnung streiten. Dennoch dürfte sie erhellend sein. Zu den lokalen Aufhaltern gehören Masaryk, Pilsudsky, Kaiser Franz Joseph, Rudolf Π., Byzanz und als Nicht-Katechon Toynbee. Ihnen gemeinsam ist, daß

104

D. Schluß

sie weder das Ende der Welt noch eine weltweite Entwicklung aufhielten, sondern ihre Funktion nur innerhalb eines bestimmten, mehr oder weniger eng umgrenzten Raumes erfüllten. Masaryk, Pilsudsky und Kaiser Franz Joseph verzögerten durch ihr Tun oder, wie im Fall des Kaisers, durch die bloße Existenz den - aus historischer Sicht eigentlich überfälligen - Zerfall ihrer Staaten. 1942, als er diese Namen niederschrieb, glaubte Schmitt den geschichtlichen Fortschritt noch auf seiner Seite. Entsprechend waren für ihn diese Katechonten keine leuchtenden Vorbilder, sondern unnötiger Sand im Getriebe der Geschichte. Im selben Jahr 1942 werden zwei Katechonten aus der ferneren Vergangenheit positiv bewertet. Byzanz hielt die islamischen Mächte auf und verhinderte so die Eroberung Italiens, und Rudolf Π. verzögerte um einige Jahrzehnte den Ausbruch des Krieges zwischen calvinistischen und jesuitischen Mächten auf deutschem Boden. Gleichsam ex negativo ebenfalls eine eher positive Bewertung erfährt drei Jahre nach dem Krieg die Idee des Aufhalters in der Verdammung Toynbees. Die Ideen des englischen Geschichtsphilosophen zur Zukunft Europas und speziell Deutschlands sind für Schmitt dermaßen unsinnig, daß ihnen bzw. ihrem Urheber keine die Entwicklung aufhaltende Funktion zuzuschreiben ist. Sowohl was den höhnischen Ton als auch was den Inhalt betrifft erinnert diese Stelle stark an die Verurteilung der USA als 'Beschleuniger wider Willen' aus dem Jahr 1942. Zu den universellen Katechonten des geschichtsimmanenten Typs gehören das britische Empire, Savigny, Hegel (zusammen mit dem 'historischen Sinn') und der fehlende Katechon bei Tocqueville. Gemeinsam ist diesen Aufhaltern, daß sie eine allgemeine Entwicklung aufhalten. Die Seemacht England gehört auch nach dem Krieg zu Schmitts liebsten Feinden. 1942 sieht er im Empire und seinem Universalismus diejenige Macht, die die notwendige, unausweichliche und höchst wünschenswerte Entwicklung hin zu einer Weltordnung von Großräumen blockiert. Entsprechend negativ wird der Katechon hier bewertet. Ganz anders liegen die Dinge im Fall von Savigny und Hegel. Die Wendung, die die Jurisprudenz in der Mitte des 19.Jahrhunderts genommen hatte, und die sie zu einer positivistischen, rein technischen Haltung gegenüber den Gesetzen veranlaßte, findet in keiner Weise Schmitts Beifall. Folglich werden die Verdienste v.a. Savignys um die Verzögerung dieser verhängnisvollen Entwicklung hoch gelobt. Die Erwähnung Hegels eröffnet eine weitere Perspektive über das Recht hinaus. Schmitt bezeichnet Hegel ausschließlich im Zusammenhang mit Nietzsches Aphorismus als Katechon. Das ist insofern bemerkenswert, als in diesem Aphorismus1 zum einen Hegel nicht allein, sondern in Verbindung mit dem 'sech-

I. Die verschiedenen Typen des Katechon

105

sten', dem 'historischen Sinn' als Aufhalter bezeichnet, zum anderen der Atheismus als das genannt wird, was aufgehalten werden soll. In bezug auf den Katechon ist die Verknüpfung 'Hegel - historischer Sinn - Atheismus' bei Schmitt eine feste Größe. Da für Schmitt 'Atheismus' gleichbedeutend ist mit 'Nihilismus' und 'restloser Funktionalisierung'2 wird der Katechon hier positiv bewertet. Ebenfalls Schmitts Wohlwollen fände Tocquevilles Katechon - wenn der französische Historiker es nicht versäumt hätte, diese Figur in seine Geschichtskonzeption aufzunehmen. Schmitt hätte an Tocquevilles Stelle die 'geschichtliche Idee von Europa' nicht verlorengegeben, sondern sie als Aufhalter der auf Zentralisierung und Demokratisierung gerichteten geschichtlichen Entwicklung mit einer neuen Funktion versehen. In dieser Rolle wäre sie ähnlich zu bewerten wie die Leistungen Hegels und Savignys. Zu den universellen Katechonten des geschiehtstranszendenten Typs schließlich gehören der fehlende Katechon bei Donoso Cortés, (möglicherweise) die Jesuiten, die römische Kirche und vor allem die mittelalterlichen Kaiser bzw. das mittelalterliche Reich. Diese Katechonten halten nichts weniger auf als das Ende der Welt. Für Schmitt als Christen ist die so gefaßte Katechon-Idee eine geschichtstheologische Notwendigkeit. Die Jesuiten sind als Aufhalter denkbar insoweit, als sie die wesentlichen Träger der Gegenreformation waren und damit die Welt vor dem völligen Abfall von der katholischen Kirche bewahrten. Nach Thomas v. Aquin hätte ein solcher Abfall die allerschlimmsten Folgen.3 Die Kaiser endlich sind die 'klassischen' Katechonten. Wie wir gesehen haben, beschäftigt sich Schmitt mit dieser traditionellen Deutung ausführlich und mit Zustimmung. In chronologischer Hinsicht kann festgestellt werden, daß die negativ bewerteten Katechonten sich nur in dem Artikel Beschleuniger wider Willen aus dem Kriegsjahr 1942 finden. Bereits die im gleichen Jahr erschienene Schrift Land und Meer erwähnt nur positive Beispiele für Aufhalter, ebenso der Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. Auch in den Schriften aus der Zeit nach dem Krieg ist die Bezeichnung Katechon für Schmitt gleichsam eine Art Ehrentitel.

1

Vgl. oben S.99, Anm.112.

2

Vgl. dazu LeR, 428 und oben S.76f.

3

Vgl. oben S. 54.

D. Schluß

106

Weiter ist zu beobachten, daß Schmitt während des Krieges den Katechon nur im lokalen und im universellen, geschichtsimmanenten Sinn verwendet. Nach dem Krieg gewinnt der universelle, geschichtstranszendente Katechon immer mehr an Bedeutung und der Typus des lokalen Aufhalters verschwindet fast völIi«Schaut man auf das, was von den jeweiligen Katechonten aufgehalten werden soll, so ergibt sich folgendes: 1942 stehen die lokalen Aufhalter - mit Ausnahme von Rudolf II. und Byzanz - sowie der universell-geschichtsimmanente Aufhalter Großbritannien einer, von Schmitt für ebenso unvermeidlich wie wünschenswert gehaltenen, neuen, auf Großräumen basierenden Weltordung entgegen. Es handelt sich hierbei also um ein positiv bewertetes, in naher Zukunft zu erwartendes Stadium der geschichtlichen Entwicklung. Gegen Ende des Krieges ändert sich die Situation. Schlagworte wie "Mechanisierung und Technisierung des Rechts"4, "restlose Funktionalisierung"5, "Zentralisierung und Demokratisierung"6 kennzeichnen von nun an Schmitts Sicht der geschichtlichen Entwicklung der Neuzeit. Die Welt ist demnach auf dem besten Weg, zu einer einzigen sinn- und bedeutungslosen Megamaschine zu werden - das genaue Gegenteil einer in Großräume "sinnvoll eingeteilten Erde"7. Die aufhaltende Tätigkeit der universell-geschichtsimmanenten Katechonten Savigny, Hegel und der 'geschichtlichen Idee von Europa' (hätte Tocqueville sie entsprechend ausgeführt) gilt also einer im höchsten Maße negativen Entwicklung. Zeitlich parallel zu dieser letzteren geschichtsimmanenten Sicht des weiteren Schicksals der Welt nimmt Schmitt - dem alten Bedeutungszusammenhang des Begriffs folgend - die geschichtstranszendente christliche Vorstellung des Weltendes wieder auf. Das eigentliche Ziel der Geschichte liegt hier jenseits derselben, in "einem neuen Himmel und einer neuen Erde" (Apk 21 l), wobei der Übergang gekennzeichnet ist durch die Schrecken der Endzeit und das Jüngste Gericht. Die Zukunft ist demnach sowohl voller Grauen wie voller Verheißungen, ebensosehr zu fürchten wie herbeizusehnen. Entsprechend ambivalent ist die Rolle, die die universell-geschichtstranszendenten Katechonten im Rahmen der Heilsgeschichte spielen. Schmitt behandelt diese Aufhalter folglich auch mehr im Sinne einer Erklärung für das, aus der Sicht eines Christen nicht selbstverständliche Weiterbestehen der Welt denn als Hoffnungsträger bzw. Ärgernis, d.h. er verzichtet auf eine ausdrückliche Wertung - obwohl auch bei ihm, wie bei den meisten seiner Vorgänger, Sympathien für den Aufhalter spürbar sind. 4

LeR, 420.

5

Ebd, 428.

6

ECS, 28.

7

RiV, 303.

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

107

Es lassen sich also drei Zukunftsvorstellungen oder Geschichtste/ö/ unterscheiden, jeweils verbunden mit bestimmten Katechonten. Zwei dieser teloi haben ihren Ort innerhalb der Geschichte, das dritte setzt das Ende der Geschichte voraus. Eindeutig positiv bewertet wird die Vorstellung einer durch Großräume neugeordneten Welt, eindeutig negativ die Vorstellung einer durch und durch funktionalisierten, maschinengleichen Welt. Das christliche telos schließlich ist mehr Grund zur Frage und historischer Reflexion denn zur Wertung. Im Zusammenhang mit dem Katechon findet sich das positive telos 1942, die beiden anderen teloi kurz vor dem Ende des Krieges bzw. nach dem Krieg. Sonderfälle bilden die beiden Katechonten aus Land und Meer. Ihnen läßt sich keines der eben beschriebenen 'Aufzuhaltenden' zuordnen. Byzanz verhinderte die Islamisierung Italiens8, und Rudolf I I verzögerte den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Die Herrschaft des Islams über ganz Italien hätte - nach Schmitt die "Ausrottung der antik-christlichen Kultur" 9 zur Folge gehabt und damit wohl die Entwicklung des jus publicum europaeum letztendlich verunmöglicht. Der Dreißigjährige Krieg wurde auf deutschem Boden ausgetragen, obwohl der zugrundeliegende Konflikt zwischen dem Jesuitismus der Landmächte und dem Calvinismus der Seemächte 'Deutschland' überhaupt nicht betraf. Beide 'Aufzuhaltende' werden also negativ bewertet

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus Soweit die Zusammenfassung unserer Untersuchungsergebnisse. Das Auflisten und Systematisieren von Beobachtungen ist das eine, die Deutung derselben das andere. Der folgende Versuch einer solchen Deutung erhebt nicht den Anspruch, erschöpfend zu sein. Es geht nur um eine erste Skizzierung der Beziehungen, die den Aufhalter mit anderen Ideen Schmitts verbinden, um eine erste 'Verortung'. Dabei gehen wir so vor, daß wir zuerst einige für unser Thema wesentliche Bereiche von Schmitts Denken knapp darstellen, wobei das Schwergewicht auf dem 'Begriff des Politischen' und der Auseinandersetzung mit dem 'inidividualistischen Liberalismus' liegt, um uns dann vor diesem Hintergrund der eigentlichen Frage, der Frage nach dem Katechon, zuzuwenden. "Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein. Sind die verschiedenen Völker, Religionen, Klassen und andere Menschengruppen der Erde sämtlich so geeint, daß ein Kampf zwischen ihnen unmöglich und undenk8 Im übrigen ein untypischer Katechon insofern, als das oströmische Reich in diesem Fall nicht nur aufhielt, sondern auf Dauer erfolgreich war. 9

LuM, 19.

108

D. Schluß

bar wird, kommt auch innerhalb eines die ganze Erde umfassenden Imperiums ein Bürgerkrieg selbst der Möglichkeit nach für alle Zeiten tatsächlich nie wieder in Betracht, hört also die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf, so gibt es nur noch politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung usw., aber weder Politik noch Staat. Ob und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten wird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht da."1 Für Schmitt ist das Wesen des Politischen, und damit auch das Wesen des Staates, die Unterscheidung von Freund und Feind, die Möglichkeit, Menschengruppen ein- und auszuschließen. Ein Weltstaat, der jeglichen wirklichen Kampf, d.h. jeden Kampf auf Leben und Tod verunmöglichen könnte, wäre unpolitisch und damit streng genommen auch kein Staat mehr. Ein solches Imperium würde - statt Kriege zu führen - sich nur um die Verteilung der Güter, das Gedeihen der Künste, das möglichst reibungslose Funktionieren der Justiz etc. kümmern - kurz: es würde nicht herrschen, sondern verwalten. Definiert man Geschichte als die Summe der Kämpfe verfeindeter Grupppen, so ist mit dem Ende des Politischen auch das Ende der Geschichte erreicht. Seit fast zweitausend Jahren bestimmt die Erwartung eines Zustandes dauernden Friedens am Ende der Zeiten das Geschichtsdenken des Abendlandes. Urspünglich als Vollendung des bereits mit Christus angebrochenen Reich Gottes gedacht, wird das friedvolle Ende der Geschichte in der Neuzeit säkularisiert und in den alleinigen Verantwortungsbereich des Menschen überführt. Sollte es uns also tatsächlich eines Tages gelingen, eine solche Welt zu errichten, eine Welt ohne Krieg, so würde dies zeigen, daß sich der Mensch mit der Ablösung Gottes in der Verantwortlichkeit für das schlußendliche gute Gelingen der Geschichte nicht heillos übernommen hat. Dem katholischen Christen Carl Schmitt allerdings muß ein solches Projekt ebenso als Anmaßung wie als vergebliche Mühe erscheinen. Dies wird denn auch deutlich in seiner mehr als kritischen Haltung gegenüber dem Liberalismus als derjenigen geistig-politischen Strömung, die in seinen Augen seit dem 19. Jahrhundert den neuzeitlichen Versuch des Turmbaus zu Babel' repräsentiert.

1 BP, 54. Als Textgrundlage für unsere Darstellung dient uns fast ausschließlich Der Begriff des Politischen aus dem Jahre 1927 in der Fassung der ersten selbständigen Veröffentlichung von 1932. Hoffmann bezeichnet diese Schrift als eine von Schmitts "brillantesten und bedeutendsten Leistungen" (102) - und zugleich als "die sachlich-fachlich am unzulänglichste". Trotz dieses Mangels oder gerade deshalb kann sie als eine Art Programmschrift gelesen werden, in der Schmitt wesentliche Momente seiner Weltsicht darlegt. Da er sich nie von den hier dargelegten Thesen distanziert hat, sondern im Gegenteil im Vorwort der Neuausgabe von 1963 seine damaligen Ausführungen im wesentlichen verteidigt - allein die ungenügende Differenzierung des Feindes ("konventioneller, wirklicher oder absoluter Feind"(17)) wird als berechtigter Kritikpunkt zugegeben -, halten wir uns für berechtigt, die folgende Darstellung als gültig für den ganzen uns interessierenden Zeitraum zu betrachten.

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

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Im Mittelpunkt der liberalistischen Weltsicht steht das einzelne Individuum und dessen moralische und wirtschaftliche Emanzipation. Nur wenn dem Einzelnen die größtmögliche Freiheit zugestanden wird, kann dieser seine Fähigkeiten vollständig entwickeln und, indem er seinen eigenen Nutzen fördert, dem allgemeinen Fortschritt dienen. Dieser vor allem wirtschaftlich geprägte Fortschritt verträgt sich - so die Theorie - nur schlecht mit Krieg. Kriege stören die Handelswege und erschweren so dem Kaufmann das Leben; sie binden die Arbeitskraft von Menschen, die diese ansonsten sehr viel produktiver verwenden könnten, und sie zerstören im großen Ausmaß materielle Werte. Ihre Gewinne sind dagegen zumindest zweifelhaft und im allgemeinen nicht von Dauer. Schmitt verweist in diesem Zusammenhang auf Benjamin Constant als "Inaugurator der gesamten liberalen Geistigkeit des 19. Jahrhunderts" und dessen Schrift De l'esprit de conquête von 1814: "Dort heißt es: (...) Da Krieg und gewalttätige Eroberung nicht imstande sind, die Annehmlichkeiten und den Komfort zu beschaffen, den Handel und Industrie uns liefern, so haben die Kriege keinen Nutzen mehr und der siegreiche Krieg ist auch für den Sieger ein schlechtes Geschäft." 2 Aber für Schmitt sind es nicht nur die zu erwartenden Verluste an materiellem Wohlstand, die es dem Liberalismus unmöglich machen, im Krieg irgendeinen Sinn zu sehen. Wenn das Wohl des Einzelnen - ohne welches es kein Wohl der Gemeinschaft gibt - als oberstes Ziel obrigkeitlichen Handelns gilt, so hat die Obrigkeit kaum das Recht, diesen Einzelnen in den Krieg zu schicken: "Ein Individualismus, der einem anderen als dem Inidividuum selbst die Verfügung über das physische Leben dieses Individuums gibt, wäre ebenso eine leere Phrase wie eine liberale Freiheit, bei der ein Anderer als der Freie selbst über ihren Inhalt und ihr Maß entscheidet. Für den Einzelnen als solchen gibt es keinen Feind, mit dem er auf Leben und Tod kämpfen müßte, wenn er persönlich nicht will; ihn gegen seinen Willen zum Kampf zu zwingen ist auf jeden Fall, vom privaten Individuum aus gesehen, Unfreiheit und Gewalt. Alles liberale Pathos wendet sich gegen Gewalt und Unfreiheit. Jede Beeinträchtigung, jede Gefährdung der individuellen, prinzipiell unbegrenzten Freiheit, des Privateigentums und der freien Konkurrenz heißt 'Gewalt' und ist eo ipso etwas Böses. Was dieser Liberalismus von Staat und Politik noch gelten läßt, beschränkt sich darauf, die Bedingungen der Freiheit zu sichern und Störungen der Freiheit zu beseitigen."3 Genau genommen ist ein Staat, dessen Existenzberechtigung allein darin besteht, die Einhaltung der Verträge zu überwachen und ansonsten dem Einzelnen ein Höchstmaß an Freiheit zu garantieren, nach Schmitt gar kein Staat mehr, weil ihm das Politische völlig abgeht. In einer Welt, in der es grundsätzlich nur

2

Ebd., 74.

3

Ebd., 70.

D. Schluß

110

einzelne Inidviduen gibt, die zu anderen Individuen in grundsätzlich selbstgewählte Beziehung treten, überschreitet eine Obrigkeit, die autoritativ zwischen Freund und Feind unterscheidet, entschieden ihre Kompetenzen. Etwas überspitzt gesagt: wo es keine Öffentlichkeit mehr gibt, sondern nur noch eine Vielzahl von Privatsphären, gibt es auch keinen öffentlichen Feind mehr, sondern nur noch den persönlichen Feind, den Konkurrenten, den Nebenbuhler etc. In der Konsequenz führt der Liberalismus über die einzelnen Nationen hinaus zur Idee der Menschheit: "Die Menschheit der naturrechtlichen und liberal-individualistischen Doktrinen ist eine universale, d.h. alle Menschen der Erde umfassende soziale Idealkonstruktion, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, das erst dann wirklich vorhanden ist, wenn die reale Möglichkeit des Kampfes ausgeschlossen und jede Freund-Feindgruppierung unmöglich geworden ist. In dieser universalen Gesellschaft wird es dann keine Völker als politische Einheiten, aber auch keine kämpfenden Klassen und keine feindlichen Gruppen mehr geben."4 Diese universale Gesellschaft entspräche dem vom Menschen errichteten Reich des Friedens am Ende der Geschichte, d.h. sie wäre die Bestätigung wie Vollendung der säkularisierten Heilsgeschichte. Für Carl Schmitt allerdings ist die Vorstellung eines solchen Endes der Geschichte mehr ein Alptraum denn ein Traum und alles andere als wünschenswert. Es ist sicher kein Zufall, daß die Aufzählung 5 dessen, was nach dem Verschwinden des Politischen noch übrigbleiben würde, mit 'Unterhaltung1 endet. Schmitt gibt zwar zu, daß es so hohe Güter wie Moral, Recht, Kunst, ja sogar Weltanschauungen auch in einer unpolitischen Welt noch geben könne. Aber bereits kurz nach Erscheinen der Schrift hat Leo Strauss darauf hingewiesen, daß der letzte Begriff der Aufzählung der entscheidende ist und die vorhergehenden relativiert: "Schmitt gibt so zu verstehen: Die Gegner des Politischen mögen sagen, was sie wollen; sie mögen sich für ihr Vorhaben auf die höchsten Anliegen des Menschen berufen; der gute Glaube soll ihnen nicht abgesprochen werden; zugegeben, daß Weltanschauung, Kultur usw. nicht Unterhaltung sein müssen; aber sie können zur Unterhaltung werden; hingegen ist es unmöglich, Politik und Staat in einem Atemzug mit Unterhaltung zu nennen; die einzige Garantie dagegen, daß die Welt nicht eine Welt der Unterhaltung wird, sind Politik und Staat."6 Eine Welt der Unterhaltung ist für Schmitt offensichtlich eine Schreckensvision. Aber warum? Ist nicht die Langeweile eine der großen Geißeln, die den modernen westlichen Menschen plagen? Und ist der Sieg über sie, d.h. das durch und durch und in jeder Minute unterhaltsame Leben, nicht ein großer Schritt auf

4

Ebd., 56.

5

Vgl. Zitat oben S. 108.

6

Strauss 1988, 118.

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

111

dem Weg zum Paradies auf Erden? Schmitt gibt selbst zu, daß eine solche Welt manch anregende Spannung bereithalten würde: "Es könnte in ihr mancherlei vielleicht sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art." 7 Es wäre eine interessante Welt, in der die Zeitgenossen in Atem gehalten würden von Literaturwettbewerben und 'soap operas1, spektakulären Korruptionsskandalen und den Launen des Wetters. Aber es wäre auch eine unverbindliche Welt, eine Welt des Sowohl-als-auch, in der alles immer möglich und nichts endgültig wäre. In ihr würden keine wirklichen Entscheidungen getroffen, weil solche die unendliche Potentialität auf endliche Aktualitäten, die verheißungsvolle Vieldeutigkeit auf - letztlich langweilige - Eindeutigkeiten reduzieren. Unterhaltsam ist nur der ständige Wechsel, der Kitzel des Neuen. Die daraus resultierende Leere des bloßen Amusements, der reinen Harmlosigkeit, das Genügen an der schillernden Oberfläche und der Verlust jeglicher Tiefendimension und Ernsthaftigkeit, eine letzlich bedeutungs- und sinnlose Welt - das sind die Gespenster, deren Bannung Schmittt allein dem Politischen zutraut. Nur das Politische nämlich ist in der Lage, eine Situation der ernsthaften und verbindlichen Entscheidung zu schaffen, nur es eröffnet die Möglichkeit eines Gegensatzes, "auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten"8. Ein solcher Gegensatz ist nur möglich, wenn zwischen Freund und Feind unterschieden werden kann. Hier setzt - wie oben bereits mehrfach angesprochene Schmitts Bestimmung des Politischen an: "Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind." 9 Mit 'Feind' meint Schmitt nicht den persönlichen Feind, nicht den wirtschaftlichen Konkurrenten und nicht den Abgeordneten von der anderen Partei. Der Feind ist überhaupt kein einzelnes Individuum, sondern immer eine Gruppe, und ein Einzelner hat nicht als Individuum, sondern nur als Teil einer Gruppe einen Feind. 10 Der Feind im Sinne Schmitts ist der 'öffentliche' Feind. Folglich entscheidet auch nicht das einzelne Individuum über diese Frage, sondern die Gruppe entsprechend ihrer Herrschaftsstruktur. Konstituierend für das Verhältnis zwischen Freund und Feind ist der Kampf. 'Kampf ist hier im eigentlichen Sinne zu verstehen als Kampf auf Leben und Tod: "Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug ha7

BP, 35.

8

Ebd., 36.

9

Ebd., 26.

10

Ebd., 29.

D. Schluß

112

ben und behalten."11 Der Krieg ist folglich als 'Ernstfall' der eigentliche und reinste Ausdruck des Politischen. Schmitt will damit nicht behaupten, nur eine kriegführende Gemeinschaft sei wirklich politisch: "Der Krieg ist durchaus nicht Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik, wohl aber ist er die als reale Möglichkeit immer vorhandene Voraussetzung, die das menschliche Handeln und Denken in eigenartiger Weise bestimmt und dadurch ein spezifisch politisches Verhalten bewirkt." 12 Ist das Politische unvermeidlich oder nur Schmitts Ideal und damit fakultativ? Schmitt selbst hält seinen Ausführungen für nichts als das Ergebnis nüchterner Beobachtung: "Hier handelt es sich nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit." 13 Es läßt sich in der Tat kaum leugnen, daß es auch heute noch Kriege gibt und damit auch Feinde. Aber die Feststellung eines Ist-Zustandes14 ist eine Sache, die Frage, ob dieser Zustand für alle Zeiten so bleiben muß oder ob eine Welt ohne Feindschaft möglich ist, eine ganz andere. Im Bezug auf letzteres ist Schmitts Ansicht nicht ganz eindeutig. Manche Stellen legen die Vermutung nahe, er halte einen künftigen Weltfrieden - welcher Art auch immer - für möglich.15 Im Widerspruch dazu scheinen die Ausführungen über die anthropologische Grundlage des Politischen zu stehen zumindest auf den ersten Blick. Schmitt behauptet, daß "alle echten politischen Theorien den Menschen als 'böse'", d.h. "als keineswegs unproblematisches, sondern als 'gefährliches' und dynamisches Wesen"16 voraussetzen, und er nennt zum Beweis Namen wie Machiavelli, Hobbes, de Maistre, Donoso Cortés u.a. Da Schmitt für seine Theorie natürlich auch das Prädikat 'echt' beansprucht, setzt er den Menschen ebenfalls als 'böse'. Es scheint allerdings so, daß er mit dieser Einschätzung keine Aussage machen will über das tatsächliche Wesen des Menschen, sondern nur einer methodischen Notwendigkeit folgt: "Man muß (...) beachten, wie sehr auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Denkens die 'anthropologischen' Voraussetzungen verschieden sind. (...) Weil nun die Sphäre des Politischen letzten Endes von der realen Möglichkeit eines Feindes bestimmt wird, können politische Vorstellungen und Gedankengänge nicht gut einen anthropologischen 'Optimismus' zum Ausgangspunkt nehmen. Sonst würden sie mit der Möglichkeit des Feindes auch

11

Ebd., 33.

12

Ebd., 35.

13

Ebd., 28f.

14 Abgesehen davon, daß die bloße Existenz von Feindschaften natürlich nicht zwangsläufig Schmitts 'Begriff des Politischen' als Ganzes plausibel machen muß. Vgl. zur Kritik z.B. Kuhn 1933. 15

So z.B. BP, 54: "Ob und wann dieser Zustand der Erde eintreten wird, weiß ich nicht."

16

Ebd., 61.

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

113

jede spezifische politische Konsequenz aufheben." 17 Damit erhält das Ganze einen Zirkelcharakter: Weil Schmitt das Politische für unabwendbar setzt, muß er den Menschen an sich als 'gefährliches' Wesen betrachten, und weil er den Menschen an sich als 'gefahrliches' Wesen betrachtet, muß er das Politische für unabwendbar setzen - die beiden Aussagen stützen sich gegenseitig. Es zeigt sich, daß Schmitt zwar glaubt, mit seinem 'Begriff des Politischen' Vergangenheit wie Gegenwart in einem wesentlichen Aspekt adäquat zu erfassen, aber sich - zumindest hier - durchaus darüber im Klaren ist, daß in bezug auf die Zukunft seine Sicht des Politischen eine Sache der Entscheidung, ja, des Bekenntnisses darstellt. Kehren wir zurück zur Erläuterung der 'politischen Unterscheidung'. Was macht den Feind zum Feind? Oder anders gefragt: Wie kommt eine Gruppe zu einem Feind? Ganz einfach: sie stößt auf eine zweite Gruppe, die anders ist, fremd in einem solchen Grade, daß sie zur Bedrohung wird. Sein Anderssein macht den Feind also zum Feind. Wichtig ist, daß die Entscheidung zur Feindschaft letztlich nicht auf objektiven, d.h. durch rationale Argumentation einsichtig zu machenden und nicht von der subjektiven Befindlichkeit abhängenden Gründen fußt, sondern 'existentieller' Natur ist: "Er [der Feind] ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines 'unbeteiligten' und daher 'unparteüschen' Dritten entschieden werden können."18 Das heißt: "Die MöglichkeitrichtigenErkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existentielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben."19 Diese 'Definition' des Feindes entzieht Konflikte jeder objektiven, vernunftgeleitenen Beurteilung, da die bloße Behauptung von Volk A, es werde von Volk Β bedroht, völlig genügt, um jede feindliche Aktion von A gegen Β zu legitimieren. Konsequenterweise wird auch die Unterscheidung von 'gerechtem' und 'ungerechtem' Krieg abgelehnt.20 Es verwundert deshalb nicht, daß Schmitt auch nach 1945 es nie als eine Schuld Deutschlands akzeptierte, einen Krieg begonnen zu haben. Aber es ist nicht nur der Krieg gegen außen, der durch Schmitts 'Begriff des Politischen' legitimiert wird, sondern auch der Krieg gegen innen, die blutige Verfolgung von angeblichen Staatsfeinden. Wenn der Träger des Politischen aus 17

Ebd., 63f.

18

Ebd., 27.

19

Ebd.

20

Ebd., 50.

8 Grossheutschi

114

D. Schluß

'existentieller' Einsicht bestimmt, daß ein Teil des Volkes in Wahrheit nicht zum Volk gehört, sondern zu seinen Feinden, so schafft er damit eine Art Notwehrsituation, die die physische Vernichtung dieser Menschen rechtfertigt. 21 Folgerichtig findet Schmitt denn auch nach dem Krieg keine Worte des Bedauerns über die Ermordung von Millionen von Juden durch das von ihm so eifrig unterstützte Dritte Reich. Wenn er sich überhaupt zu diesem Thema äußert, dann in der Art der Tagebucheintragung vom 19.11.47: "Als Gott zuließ, daß hunderttausende von Juden getötet wurden, sah er gleichzeitig schon die Rache voraus, die sie an Deutschland nahmen." In den Augen Schmitts trifft das Deutsche Reich keine Schuld - es hatte nur das Pech, den Krieg zu verlieren und damit zum eigentlichen Opfer zu werden, zum Opfer jüdischer Rachsucht und westlichliberaler Heuchelei. Wie unschwer zu erkennen, ist Schmitts Konzept des Politischen unvereinbar mit den liberalen Prinzipien. Für das liberale Individuum ist die persönliche Freiheit der höchste Wert. Diese Freiheit schließt die Verfügung über das eigene Leben ein, d.h. es hat grundsätzlich keine andere Person oder eine Instanz das Recht, über Leben und Tod des Individuums zu entscheiden.22 Genau dieses Recht jedoch beansprucht der Träger des Politischen. Er kann dies nur tun im Namen eines höheren Wertes als der Freiheit und der Existenz des Einzelnen. Voraussetzung dafür ist, daß das Individuum sich nicht als grundsätzlich in sich geschlossen versteht, sondern als Teil einer größeren Einheit. Diese übergeordnete Einheit ist gleichbedeutend mit einer bestimmten Ordnung, in der das Individuum lebt, und die von diesem als der wesentliche Teil der eigenen Identität wahrgenommen wird. So gesehen ist eine Bedrohung der Lebensordnung zugleich eine Bedrohung der Existenz eines jeden einzelnen Mitglieds derselben. In der Erhaltung des Ganzen ist damit ein höchster Wert gegeben, der die Freiheit und Existenz des Einzelnen relativiert. Diese Relativierung bedeutet, daß im Vergleich mit der Situation des in sich geschlossenen Einzelnen der Tod eine andere Qualität erhält. Für das liberale Individuum ist der Tod das Ende seiner Welt, weshalb denn auch die Vorstellung, für etwas zu sterben, für dieses keinen Sinn ergibt. Sieht sich der Einzelne jedoch in erster Linie als Teil eines Ganzen, kann er seinen vorzeitigen Tod, wenn er ihm als notwendig für das Leben des Ganzen erscheint, als sinnvoll verstehen. Damit wird die politische Unterscheidung mit all ihren Konsequenzen möglich. An diesem Punkt wird nun auch deutlich, warum nur das Politische für Schmitt die Welt vor dem Sich-Verlieren in der bloßen Unterhaltung bewahren

21 "Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politischer Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den 'inneren Feind' bestimmt." (ebd. 46). Problematisch wird diese Aussage erst in Kombination mit der 'existentiellen' Feindbestimmung. 22

Vgl. oben S.109.

II. Die 'politische Unterscheidung' und der individualistische Liberalismus

115

kann. Die Entscheidung über Existenz oder Nicht-Existenz der "eigenen, seinsmäßigen Art von Leben"23 ist keine ästhetische und unverbindliche, sondern eine im höchsten Maße ethische und verbindliche Entscheidung. Und sie ist eine Entscheidung, die etwas weitaus wichtigeres als das persönliche Wohl, ja als das eigene Leben betrifft. Durch das Politische erst erhält die kontingente Existenz des Einzelnen wirklich Bedeutung. Aber die politische Unterscheidung erlaubt uns nicht nur, dem 'Uneigentlichen' zu entkommen, sie ist für Schmitt auch gleichsam die conditio sine qua non einer geordneten Welt. Der Liberalismus, so wie Schmitt ihn sieht, ist atomistisch: Es gibt die einzelnen Individuen, und es gibt die Zusammenfassung aller dieser Individuen, 'Menschheit' genannt. Ordnungsstrukturen wie v.a. die Staaten sind bloße Hilfskonstruktionen, d.h. praktisch kommt man - vorläufig zumindest - ohne sie nicht aus, prinzipiell sind sie jedoch nicht notwendig. Das liberale Individuum ist eigentlich ohne Vaterland, und sein Ideal ist der Weltstaat, oder besser: die Weltverwaltung. Für Schmitt bedeutet eine solche Sicht der Dinge eine grundlegende Verkennung der menschlichen Natur. "In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen; die Priester und Theologen sind hier ebenso überflüssig wie die Politiker und Staatsmänner."24 Aber die Welt ist nun mal nicht gut und sie wird auch nie gut sein, weil der Mensch kein von Natur aus gutes Wesen ist. Deshalb ist für Schmitt das Politische ein unvemeidlicher Bestandteil der menschlichen Existenz. Wenn es Politik gibt, dann gibt es Gruppen, die sich von anderen Gruppen abgrenzen, dann löst sich die eine Welt der Menschheit auf in eine Vielzahl von Welten, in Völker, die sich gegenseitig als fremd, als gefährlich empfinden: "Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere, koexistierende, politische Einheit voraus. Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt'staat' geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum." 25 Die Behauptung eines Universums schafft das politische Pluriversum nicht aus der Welt, sie schafft nur eine gefährlich Illusion. Es entsteht eine Spannung zwischen dem tatsächlich vom Politischen bestimmten Leben der Völker und der Rede von der einen, zum friedlichen moralischen und ökonomischen Fortschritt bestimmten Menschheit. Gefährlich wird es, wenn einzelne Staaten sich für berechtigt halten, im Namen dieser Menschheit zu sprechen: "Wenn ein Staat im Namen der Menschheit 23

BP, 27.

24

Ebd., 64.

25

Ebd., 54.



D. Schluß

116

seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren." 26 Die Menschheit als solche hat keinen Feind. Wer sich gegen sie stellt, verrät sein Menschsein. Der Feind wird zum Verbrecher, sein Anderssein zur Schuld, zur Schuld gegenüber der Menschheit. Damit wird die Symmetrie zwischen Freund und Feind - A kann Β mit der gleichen Berechtigung als Feind betrachten wie Β A - beseitigt, eine Symmetrie, die die Kategorie 'Schuld' nicht kennt. Entsprechend führen nicht im Prinzip sich auf gleicher Ebene befindende Feinde aus 'existentieller' Notwendigkeit Krieg gegeneinander, sondern die Menschheit bzw. ihre Vertreter verhängen Sanktionen, führen Strafexpeditionen, schützen Verträge und sichern den Frieden gegen verbrecherische Individuen, Gruppen, Staaten auf Grund von Rechtsentscheiden.27 Es findet eine Verrechtlichung eines Bereiches statt, der sich nach Schmitts Überzeugung prinzipiell einer derartigen Regelung entzieht. Das Ergebnis ist für Schmitt folglich keine vernünftige Rechtsordnung, sondern Heuchelei. Unter dem Vorwand, für die Menschheit zu sprechen, versuchen einzelne Staaten und Völker anderen Staaten und Völkern ihre Wertvorstellungen aufzudrängen und sich selbst, als Gralshütern von eigenen Gnaden, die Hegemonie zu verschaffen. Das Politische verschwindet nicht, aber der politische Wettbewerb erleidet eine unstatthafte Verzerrung und eine sinnvolle politische Ordnung, d.h. eine Ordnung, die auf der Anerkennung des Gegners als Feind basiert und nicht auf seiner Diskriminierung als Verbrecher und die den Pluralismus der politischen Welt akzeptiert, wird verunmöglicht.

III. Der Katechon im Denken Carl Schmitts Kehren wir nun zurück zu unserem eigentlichen Thema, der Rolle des Katechon im Denken Carl Schmitts. Nach eigenen Angaben hat Schmitt bereits 1932 eine 'théorie du κατέχων' aufgestellt, dennoch hat er erst zehn Jahre später diesen Begriff in einer Publikation verwendet. Was hat Schmitt veranlaßt, die Idee des Aufhalters so lange ruhen zu lassen? Über den Inhalt seiner frühen Theorie wissen wir leider nichts Genaues und können deshalb nur spekulieren. Möglicherweise steht sie im Zusammenhang mit Schmitts Angst vor dem sich ausbreitenden und alles verschlingenden liberalistischen Universalismus. Immerhin entstand sie im selben Jahr, in dem auch der Begriff des Politischen zum ersten Mal als selbständige Schrift erschien. Ist dem so, so verlor sich nach der Machtergreifung durch die

26

Ebd., 55.

27

Vgl. dazu C. Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff. Berlin 1938.

III. Der Katechon im Denken Carl Schmitts

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Nationalsozialisten mit der Angst verständlicherweise auch das Interesse an einem Aufhalter. Das neue Regime war strikt antiliberal und praktizierte die Freund-Feind Unterscheidung zuerst im Inneren, später auch gegen Außen mit einer Vehemenz, die Schmitt überzeugte. Jedenfalls trat er am l.Mai 1933 in die Partei ein, machte eine steile Karriere und wurde in einer Vielzahl von Publikationen zum eifrigen Apologeten so ziemlich jeder Rechtsschändung der ersten Jahre des Dritten Reiches.1 Auch sein jäher Sturz 1936 konnte seinen Enthusiasmus nicht erschüttern : Statt Hitlers Innenpolitik zu rechtfertigen, verlegte er sich in den folgenden Jahren darauf, dessen außenpolitische Pläne theoretisch zu untermauern.2 Schmitt war überzeugt, daß dem 'völkischen' Denken und der damit verbundenen neuen 'Großraumordung' die Zukunft gehört, und daß der Schwung der Bewegung jeden Widerstand beseitigen würde. Es gab für ihn in diesen Jahren also weder ein 'Aufzuhaltendes' noch einen 'Aufhalter'. Erst der Kriegseintritt der USA, der ja bereits im ersten Weltkrieg die Niederlage Deutschlands besiegelte, beschwor die Möglichkeit herauf, daß die Errichtung der neuen Ordnung doch noch aufgehalten werden könnte. Zwar bezeichnet Schmitt in seinem Reich -Artikel solche Erwartungen als absurd, die USA würden sich im Gegenteil als 'Beschleuniger wider Willen' erweisen; dennoch ist es bemerkenswert, daß er es offensichtlich für nötig hält zu zeigen, daß politische Katechonten in der Regel Zustände zu bewahren suchten, deren Weiterexistenz eigentlich 'vor der Geschichte' nicht zu rechtfertigen war. Diese Einschätzung klingt bereits an in der Bezeichnung des imperium Romanum als 'alt' und wird deutlich, wenn von dem 'überalterten' habsburgischen Reich oder von dem 'altgewordenen' Britischen Empire die Rede ist. Aber auch die Erwähnung der Tschechoslowakei und Polens weist in diese Richtung.3 Der Begriff des Aufhalters wird so zu einem Mittel, den Gegner propagandistisch auf ein besiegbares Format herunterzudrücken. Ebenfalls diesem Zweck dient der Umstand, daß Schmitt nicht zwischen den lokalen Katechonten, die die neue Ordnung kaum partiell aufhielten, und dem weltgeschichtlich bedeutsamen universellen Katechon Großbritannien unterscheidet und damit beide Erscheinungsformen des Aufhalters auf die selbe Stufe 1 Vgl. zur unrühmlichen Rolle Schmitts im Dritten Reich: Rüthers 1988, 101-175; zu seinem Beitrag zur juristischen Rechtfertigung der sog. 'Röhm-Aktion' vgl. auch Gruchmann, 453. Aufschlußreich für Schmitts Rechtsvorstellung zu dieser Zeit ist sein 1936 erstelltes Gutachten zu einem vom Reichsjustizministerium vorgelegten Entwurf einer neuen Strafverfahrensordnung. Darin setzt er sich ein u.a. für die Abschaffung von Berufung und Revision, für die Nachprüfung richterlicher Entscheidungen durch politische Instanzen und die Teilnahme eines staatlichen oder von der Partei entsandten Kommissars am Verfahren. Vgl Gruchmann 994ff. 2 Damit wollen wir nicht behaupten, Schmitts Leistungen auf dem Gebiet des Völkerrechts erschöpften sich in der Rechtfertigung von Hitlers Großmachtsträumen. 3

Vgl. oben S.62f.

D. Schluß

118

stellt. Wenn Polen und die Tschechoslowakei den Lauf der Dinge nicht aufhalten konnten, wieso sollte es dann dem Britischen Empire gelingen ? Interessanterweise beginnt die Rehabilitierung des Katechon bereits kurze Zeit nach dem Reich -Artikel. In Land und Meer werden sowohl Byzanz als auch Rudolf Π. für ihr aufhaltendes Tun gelobt. Sicher darf man diesen Umstand nicht überbewerten. Es ist ein Unterschied, ob Schmitt von mittelbaren und unmittelbaren Aufhaltern der von ihm propagierten neuen Ordnung spricht, oder von der Bewahrung abendländischer Kultur vor der Zerstörung durch die Streiter Mohammeds bzw. von der Leistung, den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, dessen Grundkonflikt - der Streit zwischen den jesuitischen Landmächten und den calvinistischen Seemächten - die Deutschen gar nichts anging, um Jahrzehnte verzögert zu haben. Als Europäer und als Deutscher müssen ihm die beiden Aufhalter - gemäß seinem Geschichtsbild - als verdienstvoll erscheinen. Dennoch bleibt es bemerkenswert, daß nach zehn Jahren der Nicht-Erwähnung Schmitt die Idee des Katechon innerhalb eines Jahres gleich in zwei, in ihrer Art höchst unterschiedlichen Publikationen verwendet, und daß sich der Aufhalter dabei vom Mittel der Polemik gegen Deutschlands Kriegsgegner zu einer Kategorie des Verstehens geschichtlicher Situationen entwickelt. Ob Absicht oder nicht, dieser Funktionswechsel bereitete den Frontenwechsel des Begriffs vor, d.h. seine Konvertierung von einer Angriffs- zu einer Verteidigungswaffe in Schmitts geistigem Arsenal. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Umwertung der Idee des Katechon bildet die Beurteilung Savignys in dem Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. Zwar wird der Begründer der Historischen Rechtsschule nicht explizit als Katechon bezeichnet, aber da der ganze Vortrag vor der instrumentalisierten und technokratisierten Jurisprudenz warnt, und Savigny geschildert wird als "ein Repräsentant europäischen Geistes", der "in der Vergesetzlichung die Gefahr der Mechanisierung und Technisierung erkannt hattte"4, erscheint er hier von der Funktion her eindeutig als Aufhalter. 5 Anders als Byzanz und Rudolf II. hat dieser Katechon für Schmitt einen aktuellen Bezug zur Gegenwart. Der Islam stellt schon lange keine Bedrohung mehr für Europa dar und seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ist auch schon einige Zeit vergangen, die Degeneration des Rechts durch Technisierung und Instrumentalisierung dagegen betrifft uns heute mehr denn je. Damit bezeichnet Schmitt erstmals ein Gegenwartsphänomen als aufhaltenswürdig. Es stellt sich allerdings die Frage, warum er plötzlich eine Entwicklung anprangerte, die er selbst aufs tatkräftigste gefordert hat, indem er sich in einer Vielzahl von Schriften und Artikeln alle Mühe gab, das Recht zu einem willfahrigen Instrument des NS-Regimes zu machen. Anscheinend war an

4 5

LeR, 410.

Im Nachwort von 1958 holt Schmitt das Versäumnis nach und bezeichnet Savigny - zusammen mit Hegel - ausdrücklich als Katechon. Vgl. oben S. 75.

III. Der Katechon im Denken Carl Schmitts

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der Instrumentalisierung nichts auszusetzen, solange sie im Dienst der 'großen Idee' stand. Aber als der Vortrag gehalten wurde, war Stalingrad gefallen, der Afrikafeldzug verloren und Sizilien von den Alliierten erobert. Die Niederlage Hitler-Deutschlands war abzusehen. Mit dem ihm eigenen Gefühl für die geschichtliche Situation begann Schmitt seine Konsequenzen aus dem Scheitern des Nationalsozialismus zu ziehen, wenn auch vorläufig erst auf dem Gebiet der Jurisprudenz. Im Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich. Schmitt mußte sich nun in einer Welt einrichten, deren Prinzipien und Ziele er zugleich verachtete und fürchtete. Das Gespenst einer apolitischen, verwalteten, 'unterhaltsamen' Welt, das zwölf Jahre gebannt zu sein schien, tauchte wieder auf. Die erste Erwähnung des Katechons nach dem Krieg betrifft bezeichnenderweise eine verpaßte Gelegenheit. Tocqueville erkannte den "schicksalshaften Kern der Entwicklung", den Drang "zu immer weiterer Zentralisierung und Demokratisierung"6, und er sah voraus, daß Europa der große Verlierer sein wird. Aber er konnte oder wollte der Entwicklung nichts entgegenstellen, er wußte von keinem Aufhalter. Der Grund für dieses Versagen liegt - so Schmitt - in Tocquevilles Resignation vor dem wissenschaftlichen Agnostizismus, oder anders gesagt: in mangelnder Glaubensstärke: "Ihm fehlte der heilsgeschichtliche Halt, der seine geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahrte."7 Schmitts Idee vom Katechon beginnt hier eine theologische Wendung zu nehmen - zumindest was die Terminologie betrifft. Folgt man dieser Wendung, so werden, wenn 'die geschichtliche Idee von Europa' als Katechon gesetzt wird, 'Zentralisierung' und 'Demokratisierung' zu Synonymen für die Schrecken der Endzeit und ihre Träger, Amerika und Rußland, zu antichristlichen Mächten. Solange die 'geschichtliche Idee von Europa noch Bedeutung hat, solange sie noch nicht verstummt ist, regt sich zwar das 'Geheimnis der Gesetzlosigkeit', es wird aber nicht offenbar. In theologischem Gewand kommt hier die gleiche Sorge zur Sprache wie - begrenzt auf den juristischen Bereich - in dem Vortrag von 1943/44. 'Zentralisierung' und 'Demokratisierung' bedeuten für Schmitt soviel wie Funktionalisierung, Technisierung, Mechanisierung der Welt, d.h. das Ende des Politischen und damit der Verlust jeder ernsthaften Entscheidung und jeder echten, sinnvollen Ordnung. Ohne den Antrieb der politischen Spannung ist die Geschichte zu Ende. Es liegt nahe, einen Vorgang von solchen Dimensionen mit theologischen Begriffen zu beschreiben. Die Überhöhung der Geschichte zur Heilsgeschichte dürfte daneben allerdings noch einem anderem Zweck dienen, nämlich der Rache und der Rechtfertigung. Nachdem es Schmitt offensichtlich nicht gelungen ist, die USA durch die Desavouierung als Möchtegern-Katechon

6

ECS, 27.

7

Ebd., 31.

D. Schluß

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zu besiegen, macht er nun das Gegenteil und dämonisiert sie. Dadurch werden diese (zusammen mit ihrem Alliierten Sowjetuntion) zum Bösen schlechthin, der Kampf Deutschlands gegen sie mithin gerechtfertigt und die Niederlage erklärt. Die eigentliche Retheologisierung des Aufhalters findet in den Tagebuchaufzeichnungen statt. Der Katechon wird hier zu einem wesentlichen Bestandteil des christlichen Glaubens, "zur einzigen Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden" 8. Die Konsequenzen zieht Schmitt in dem Aufsatz Drei Stufen historischer Sinngebung: wirkliche, 'große' Geschichtsschreibung wird zur Theologie und der Katechon zu einer historisch-theologischen Kategorie. Schmitt findet mit dieser Deutung den Anschluß an die Tradition. Die Perspektive hat sich verschoben: Eingeführt als Erklärung für bestimmte geschichtliche Phänomene ist der Katechon nach 1945 zur Bedingung der Möglichkeit von Geschichte überhaupt geworden. Wir haben zu Beginn dieses Kapitels die Vermutung geäußert, daß Schmitt den Begriff des Katechon nicht mehr oder weniger zufälligerweise verwendet hat, sondern im Bewußtsein seines Bedeutungsgehalts und innerhalb einer auf ein 'eschaton' ausgerichteten Sicht der Geschichte. Zweifellos trifft dies zu im Bezug auf den universellen, geschichtstranszendenten Katechon. Das eschaton ist hier das wirkliche Ende der Welt, das Jüngste Gericht und die Vollendung des Gottesreiches. Aber wie steht es mit den säkularisierten Katechonten? Während der NS-Zeit glaubte Schmitt, die Zukunft gehöre auf unabsehbare Zeit der neuen, auf Reichen und Großräumen basierenden Ordnung. Für seine wie für die nächsten Generationen sollte diese neue Ordnung gleichsam das 'Letzte' darstellen. Trotzdem erscheint es doch als ziemliche Übertreibung von Schmitt, hier einen eschatologischen Zusammenhang herstellen zu wollen. Erklärbar ist dies wohl nur aus der polemischen Absicht, den eigenen Zielen eine möglichst hohe Weihe zu verschaffen und den Widerstand der Gegner als gleichsam per definitionem vergeblich zu erweisen. Völlig unter dem Potential des Begriffs bleibt die Verwendung in Land und Meer. Abgesehen davon, daß Byzanz in der Bewahrung Italiens vor dem Islam auf Dauer erfolgreich war und damit gegen eine wesentliche Verhaltensregel von Katechonten verstieß, nämlich nur aufzuhalten und nicht das eigene telos aufzulösen, erscheint der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges doch als ein zu partikuläres Ereignis, um als eschaton bezeichnet zu werden und Rudolf II. mit dem Ehrentitel 'Katechon' zu versehen.

8

Glossarium, 19.12.1947.

III. Der Katechon im Denken Carl Schmitts

121

Von einem innerweltlichen eschaton kann man hingegen im Bezug auf die folgenden Katechonten sprechen. Die Instrumentalisierung und Technisierung des Rechts' ebenso wie die 'Zentralisierung' und 'Demokratisierung' der Welt allgemein sind negative Zukunftsvisionen, die - wie wir gesehen haben - Schmitt schon vor 1933 plagten. Sie sind eingebettet in eine pessimistische Sicht der Geschichte, die vor der NS-Zeit noch eine Möglichkeit unter anderen war, während des Dritten Reiches völlig in den Hintergrund trat und nach dem Krieg praktisch zur Gewißheit wurde. Wir haben diese Auffassung vom Gang der Geschichte bereits ausführlich dargestellt. Die befürchtete Zukunft hat insofern eschatologische Charakter, als sie in einem gewissen Sinne das Ende der Geschichte bedeutet. Die Verwendung des Katechon unterstreicht hier einerseits die Dimensionen des Geschehens wie auch die Vergeblichkeit, sich dagegen zu wehren, und betont andererseits die Schrecken dieser Zukunft. Das Bedeutungspotentential des Katechon wird hier in der Tat weitgehend ausgeschöpft. Es ist kein großer Schritt, von diesem immanenten, säkularen eschaton zum transzendenten, christlichen eschaton - nur eine Ausweitung der Dimension. Die Resignation, die bei Schmitt gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg spürbar ist, mag diesen Schritt veranlaßt haben, vielleich auch die Suche nach einem neuen geschichtsphilosophischen bzw. geschichtstheologischen Halt. Unsere Erwartungen haben sich nur zum Teil erfüllt. Nicht jede Verwendung des Katechon in Schmitts Werk ist auf der Höhe des Begriffs. Wo dies jedoch der Fall ist, zeigt sich der große, der übergroße Anspruch, den Schmitt erhebt. Er begnügt sich nicht damit, eine Fehlentwicklung festzustellen und anzuprangern. Seine Prognosen nehmen biblische Ausmaße an, die von ihm abgelehnte Zukunft wird zur apokalyptischen Endzeit. Schmitts ausgeprägtes Selbstbewußtsein, wovon etwa das Glossarium in überreichlichem Maße zeugt, veranlaßt ihn dazu, gerade im eschatologischen Katechon ein Modell für seine eigene Situation, seinen Widerstand gegen das antichristliche Reich der 'nihilistischen Zentralisierung' 9 und hemmungslosen 'Demokratisierung' 10 zu sehen.

9

Glossarium, 16.6.1948.

10

ECS, 28.

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