Gretha Jünger und die Sache selbst: Ein Porträt mit Carl Schmitt [1 ed.] 9783428586257, 9783428186259

Das Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Ernst Jünger wurde über eine jahrzehntelange, politisch wechselvolle Wegstrecke

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Gretha Jünger und die Sache selbst: Ein Porträt mit Carl Schmitt [1 ed.]
 9783428586257, 9783428186259

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Carl-Schmitt-Vorlesungen · Band 5

Gretha Jünger und die Sache selbst Ein Porträt mit Carl Schmitt

Von Ingeborg Villinger

Duncker & Humblot · Berlin

INGEBORG VILLINGER Gretha Jünger und die Sache selbst

Carl-Schmitt-Vorlesungen Band 5 Herausgegeben von der Carl-Schmitt-Gesellschaft e.V.

Gretha Jünger und die Sache selbst Ein Porträt mit Carl Schmitt

Von

Ingeborg Villinger

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die siebte Carl-Schmitt-Vorlesung „Ernst und Gretha Jünger und Carl Schmitt“ von Ingeborg Villinger sollte am 22.10.2020 im Tieranatomischen Theater der Charité in Berlin stattfinden. Sie wurde wegen der Covid-Pandemie abgesagt. Das Motiv auf dem Umschlag ist eine Figurine aus dem Triadischen Ballett von Oskar Schlemmer. Alle Rechte für die deutsche Übersetzung vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2367-1149 ISBN 978-3-428-18625-9 (Print) ISBN 978-3-428-58625-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Gretha von Jeinsen  – Herkunft und Prägungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gretha und Ernst Jünger  – Von Hannover nach Leipzig (1922–1925)  13 Berliner Annäherung I: Ernst Jünger und Carl Schmitt (1930–1933)  . 18 Berliner Annäherung II: Gretha Jünger und Carl Schmitt (1930– 1933)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Goslar und Überlingen: Carl Schmitts Patenschaft und „die Sache selbst“ (1934–1936)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Gretha und die Klippenrunden in Berlin: Schmitts Exitstrategie des „Oberförsters“ (1939 f.)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Pariser Morbidezza, Bomben in Kirchhorst, Ernstels Fall und Schmitts Advice (1940–1945)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ende des Krieges, Schmitts Internierung und Gretha Jüngers Attitüde (1945–1947)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Ravensburg und Goslar: Trennung, Auszug, Krisen-Triade und „die Sache selbst“ (1948–1950)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Duschka und Carl Schmitt: Tod und Ende einer Freundschaft (1950– 1953)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Epilog  – Wer ihn infrage stellt, ist sein Feind (1953)  . . . . . . . . . . . . . . . 97 Eventum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Gretha von Jeinsen – Herkunft und Prägungen Als „Frau Ernst Jünger“ ist sie aus den Biographien ihres Ehemannes bekannt. Weniger bekannt ist sie als Autorin literarischer Texte von beachtlicher Erzählkraft1 und eines umfänglichen Briefwerkes – auch mit Carl Schmitt.2 Denn die meist identischen Kurzpassagen aus ihren Erinnerungen, die der Illustration von Ernst Jüngers Lebenslauf dienen, vermitteln weder einen Eindruck ihrer eigenen Texte noch ihrer Person. Gegen derartige Unsichtbarkeiten setzte sie sich bereits in jungen Jahren zur Wehr und klagte vehement eigene Sichtbarkeit ein. Noch im Dezember 1941, inmitten von Kriegswirren und Bombenangriffen, schreibt sie an Ernst Jünger in Paris: „Was mich unangenehm berührt, […] ist die Tatsache, dass man immer wieder von mir als Frau Ernst Jünger spricht, und mich sogar unter diesem Namen vorstellt; siehe C. S. – Abgesehen von der Eitelkeit, die derjenige dabei zur Schau trägt, […] trage ich ja meinen eigenen Namen, und bin und bleibe mein eigener Mensch, nicht etwa das Spiegelbild des Mannes, und sei er das grösste Genie. […I]ch bin ich, und lebe nicht im Schatten eines Anderen.“3

Bis es der künstlerisch und intellektuell agilen wie politisch meinungsstarken und emotional intelligenten Gretha Jünger gelingt, aus dem Schatten ihres Ehemannes mit eigenem Profil herauszutreten, sollten noch Jahre vergehen. Für den bereits im Ersten Weltkrieg sturmerprobten Leutnant Jünger galten die zeittypischen Ambiva1  Die beiden Texte sind unter ihrem Geburtsnamen Gretha von Jeinsen veröffentlicht: Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe, Hamburg 1949, und dies., Silhouetten. Eigenwillige Betrachtungen, Pfullingen 1955; für sie werden im Folgenden die Siglen „P“ und „S“ als Nachweis verwendet. 2  Vgl. Briefwechsel Gretha Jünger  – Carl Schmitt (1934–1953), hrsg. von Ingeborg Villinger und Alexander Jaser, Berlin 2007. 3  Gretha Jünger an Ernst Jünger am 9.12.1941, in: Gretha und Ernst Jünger, Einer der Spiegel des Anderen. Briefwechsel 1922–1960, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Anja Keith und Detlev Schöttker, Stuttgart 2021, S. 263–264 (264).

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lenzen gegenüber weiblicher Eigenständigkeit in besonders ausgeprägtem Maße, wie u. a . aus seiner Notiz in den Strahlungen vom 3.  Dezember 1941 hervorgeht; hier schreibt der inzwischen Sechsundvierzigjährige: „Ich mußte in mein Alter kommen, um an der geistigen Begegnung mit Frauen Genuß zu finden“. Dass ausgerechnet Carl Schmitt diesen Eintrag in seinem Leseexemplar der Strahlungen (1949) empathisch mit der Randnotiz „arme Gretha“ kommentiert, markiert kaum eine Gegenposition in der Sache, sondern indiziert die bereits subkutan schwelenden Spannungen zwischen beiden.4 Wie sich Gretha Jünger in dieser Triade positionierte, welche biographischen, kulturellen und politischen Prägungen ihr zur Verfügung standen, soll zunächst in einem biographischen Abriss skizziert werden. Vor diesem Hintergrund können ihre Handlungsmo­ tive ebenso wie ihr freundschaftlicher, ja lange sehr enger Kontakt mit Carl Schmitt während der Jahre 1934–1953 ausgeleuchtet werden.5 Erkennbar wird dabei nicht nur Gretha Jüngers Profil, sondern auch das von Politik und Kultur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der spezifischen Ausformung ihres Umfeldes; deutlich werden auch die Verwerfungen und politischen wie persönlichen Untiefen zwischen ihr, Ernst Jünger und Carl Schmitt – sie sind aus dieser scheinbar rein privaten Perspektive durchaus anschaulich zu konturieren. Zwei Leitmotive charakterisieren Gretha Jünger: ihre adlige Herkunft und die Erfahrung von Verlust  – beides ging im Laufe ihres Lebens eine sich wechselseitig intensivierende Verbindung ein. ­Beispielhaft dafür ist ihr recht kreativer Umgang mit den Verlust­ erfahrungen des Ersten Weltkrieges mithilfe ihres historisch weit zurückliegenden Familienromans. Dessen Nucleus dreht sich um drei adlige Stammgüter ihrer Herkunftsfamilie von Jeinsen, die vor ca. 200 Jahren ihr Vorfahre in einer einzigen Nacht beim Kartenspiel an seine jüngeren Brüder verlor. Ein Ereignis, das – so Grethas Über4  Ernst Jünger, Strahlungen, Stuttgart 1949, S. 70–71 (S. 71) (Eintrag vom 3.  Dezember 1941); Nachlass Carl Schmitt, Landesarchiv NordrheinWestfalen, Abt. Rheinland, RW 265-22024. 5  Siehe dazu ausführlich: Ingeborg Villinger, Gretha Jünger. Die unsichtbare Frau, Stuttgart 2020.



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zeugung – ihr gesamtes Leben beeinflusste und weitere Verlusterfahrungen nach sich zog. Ähnlich prägend sieht sie die ebenfalls auf zwei Zeitebenen erzählten, verlorenen juristischen Prozesse, die ihrer Familie weitere Armut bescherten.6 Dieser Verlust-Bilanz stellt sie  – angesichts der tatsächlich recht prekären Lage ihrer Familie in Hannover – die Imago ihres „Verschwender“ titulierten Vorfahren entgegen. Da sein Bild, das das Familienmerkmal einer „stark betonten Unterlippe“ dokumentiert, ihr als einziges Erbe verblieb, stilisierte sie ihn zum Träger des eigentlichen väterlichen Vermächtnisses.7 Denn mit dieser physiognomischen Eigenheit konnte sie sich und ihre landadlige Herkunft in die Dynastie des Habsburgischen Hochadels einreihen, dessen auffallende Unterlippen Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und populärer Publikationen seit dem 14. Jahrhundert bis in die späten 1930er Jahre hinein waren.8 Diese imaginäre Nobilitierung ergänzt sie durch ein höchst kämpferisches Persönlichkeitsprofil, das sie gleichfalls als Erbe dieses spielsüchtigen Vorfahren attribuiert: Er schreckte im Falle von Eifersucht auch vor Mordlust nicht zurück und erschlug  – so der Familienroman  – in einem grundherrlichen Wutausbruch seinen Nebenbuhler noch im Beichtstuhl  – einem Ort also, der die grenzüberschreitende Intensität solch emotionaler Aufwallung demonstrativ vor Augen führt.9 Die Intention von Gretha Jüngers Erzählung ihres Familien­romans als Mantel- und Degenstück gibt spätestens seit der Publikation von Ernst Jüngers Strahlungen (1949) keine Rätsel mehr auf: Das inszenierte Waffen-Arsenal diente ihr als Drohpotential, mit dem sie im Verlauf der recht zahlreichen Krisensituationen ihrer Ehe meist recht treffsicher auf Jüngers bereits in jungen Jahren vorhandene Selbstzweifel zielte. Es war ihre (einzige und wichtigste) Option, um sich gegen seine Affären und seine alltägliche neusachlich-heroische Gleichgültigkeit zu behaupten. Eine ähnlich planvolle Funktion 6  Die eminente Bedeutung dieser Schlüsselszene für Gretha Jünger zeigt bereits der Auftakt ihres 1955 publizierten Erinnerungsbandes, S, S. 9 ff. 7  S, S. 9. 8  Wirklich berühmt jedoch wurde dieses ins „Gesicht geschriebene“ Merkmal durch die Vererbungs- und Rasselehren im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. 9  S, S. 31.

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kommt auch den von ihr erzählten Armuts-Prozessen10 zu – tatsächlich sind sie weniger Folge adliger Abendunterhaltung mit Güterverlust in historischer Zeit, sondern Teil eines die reale Verlust-Erfahrung ihrer sehr kargen Kindheits- und Jugendjahre verdeckenden Narrativs. Denn das ohnehin knappe Einkommen ihres Vaters, eines technischen Zeichners im öffentlichen Dienst der Stadt Hannover, wurde mit der Besoldungsreform in der Weimarer Republik ganz empfindlich beschnitten – die dagegen eingereichte Sammelklage verlor er.11 Dass die 1906 geborene Gretha Jünger in ihren Erinnerungen aus dem Jahre 1955 den kargen Alltag nicht als Kriegs-Folge, sondern als spätes Nachspiel adligen Güterverlustes inszeniert, ist Teil  ihres kreativen Krisenmanagements, mit dem sie die soziale Deklassierung ihrer Familie infolge wirtschaftlicher Not zu nobilitieren versucht. Derartige symbolische Rochaden waren in den 1920er Jahren nicht selten, zumal in der Weimarer Republik die letzten Reste der Ständegesellschaft, die deren Erosion im 19. Jahrhundert noch überlebt hatten, beseitigt wurden.12 Grethas Vater Harry von Jeinsen kompensierte den Verlust materiellen wie symbolischen Kapitals mit ­einer Mitgliedschaft in der konservativen Deutsch-Hannoverschen Partei (DHP), der sog. Welfenpartei, die ihm Identifikation in schwieriger Zeit bot.13 Und er erstellte in den 1920er Jahren  – hier 10  Harry von Jeinsen reichte am 1.  Oktober 1923 eine Sammelklage gegen den Magistrat der Stadt ein, die vom Gericht im Frühjahr 1924 abgewiesen wurde und die finanzielle Lage der Familie zementierte; siehe auch S, S. 9. Grethas Mutter war Hausfrau ohne Berufsausbildung. 11  Ein Problem, das auch Carl Schmitt beschäftigte; siehe dazu: ders., Wohlerworbene Beamtenrechte und Gehaltskürzungen, in: Deutsche Juristen-Zeitung 36 (1931), Sp. 917–921, sowie ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 174–180 (S. 179), sowie ders., Verfassungslehre (1928), 1983, S. 172. 12  Wie Elemente des Lehnswesens, Sonderrechte des Fideikommiss, ­Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeigewalt der Gutsbesitzer, siehe dazu ­Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart und München 2000, S. 242, sowie Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 40 f. 13  Die Partei löste sich, um dem NS-Verbot zuvorzukommen, 1933 auf; die katholischen Welfen schlossen sich meist dem Zentrum an, viele protes-



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ganz Vorbild für Tochter Gretha  – den bis in das Jahr  902 zurückreichenden Stammbaum der Familie von Jeinsen. Die Realisierung dieser familialen „Vermittlung eines adeligen Sonderbewußtseins“14 war für sie kein totes, sondern ein höchst lebendiges politisch-soziales Kapital, das neben ihrer adligen Herkunft zugleich ihre Gegnerschaft zur Weimarer Republik demonstrierte. Nicht zuletzt wenn sie ihn im Rahmen der jüngerschen Abendrunden in Berlin präsentierte, wie Carl Schmitt bereits zu Beginn seiner Freundschaft mit dem Ehepaar Jünger in seinem Tagebuch notiert.15 Gretha von Jeinsens Ablehnung der ungeliebten Republik teilte ganz entschieden ihr vier Jahre älterer Bruder Kurt, der überdies sehr erfolgreich ihr Männlichkeitsbild prägte: Der junge Ingenieur und draufgängerische Freikorpsler  – offenbar so „leichtfertig“ wie „un­ überlegt“16  – gehörte als Prototyp des preußischen Soldatenstaates zu jenem früh vom ‚vaterländischen‘ Krieg geprägten Männertypus, für den der Erste Weltkrieg nie wirklich zu Ende gegangen war: Zu Beginn zog er zum Schrecken der Eltern klandestin mit der schulischen Jugendgruppe eines paramilitärischen Trainingslagers nach Belgien, um dort die deutschen Truppen als Funker und Nachrichtenübermittler zu verstärken; nach Kriegsende nahm er (zum Stolz und erheblicher Begeisterung der Schwester) an den grausamen Kämpfen im Mai 1921 in Schlesien zur Erstürmung und Besetzung des Annabergs teil.17 Nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der von ihr verhassten Schule, die sie in die stratifikatorisch geprägte Kultur und den Geist der wilhelminischen Gesellschafts- und Geschlechtermuster einübte, war Gretha von Jeinsen den Prägungen des preußischen Soldatentantische Mitglieder der NSDAP  – so auch am 1.  Mai 1933 Harry von Jeinsen. 14  Conze, Adel (Anm. 12), S. 303. 15  Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, hrsg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010, S. 54 (Eintrag am 8.11.1930). 16  P, S. 27 (Eintrag vom 29.4.1939). 17  S, S. 19. Grethas Bruder Kurt (1902–1943) verkörperte buchstäblich Jüngers Statement zu ‚Glanz und Gloria‘ der kampfbereiten jungen Männer des preußischen Soldatenstaates, vgl. Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, Leipzig 1920, S. 15 f. u. a .

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staates ausgesetzt. Ihr Besuch der Höheren Töchterschule in Hannover – einer auch international beachteten Bildungsanstalt, die zu den „besten Ausbildungsstätten Preußens“ gehörte und explizit nur Kinder statusbewusster Eltern aufnahm – tat ein Übriges, um ihr die meist gar nicht so feinen gesellschaftlichen Unterschiede vertraut zu machen.18 Obwohl sie die Schule zum frühestmöglichen Zeitpunkt verließ, um dem dort eingeübten traditionellen Gretchen-Programm19 zu entkommen, wurde sie von den Eltern zu ihrem nicht geringen Widerwillen zunächst gezwungen, in einem ländlichen Pfarrhaushalt dieses Frauenbild nun auch im Alltag zu praktizieren. Doch zu ihrer Freude wurde der Haushalt wegen des Todes des betagten Geistlichen bereits nach einem halben Jahr aufgelöst; sie kehrte nach Hannover zurück, um dort endlich ihre ersehnte Bühnenkarriere zu beginnen. Dazu professionalisierte sie ihre langjährige schulische Vorbildung am Piano, verbesserte ihre Gesangs- und Theaterausbildung und ergänzte sie um eine klassische Ballettschulung. Dank ihrer Vorkenntnisse und einer offenbar beachtlichen Begabung für die Schauspielerei war sie bereits nach relativ kurzer Zeit als Bühnenkünstlerin in verschiedenen Genres auf den Theatern nicht nur in Hannover  – zum erheblichen Missfallen von Ernst Jünger, den sie bald nach ihrer Rückkehr aus dem Pfarrhaus kennengelernt hatte  – recht erfolgreich.20 18  Die Schule war erstmals „den höheren Knabenschulen gleichgestellt“ und fand unter anderem in England, den USA und in Australien als Modellschule große Beachtung, siehe Karin Ehrich, Städtische Lehrerinnenausbildung in Preußen. Eine Studie zu Entwicklung, Struktur und Funktionen am Beispiel der Lehrerinnenbildungsanstalt Hannover 1856–1926, Frankfurt/M. u. a . 1995, S. 118–126. 19  „Gretchen“ war der von ihr sehr verachtete „nickname“ der Eltern, den sie zu Beginn der zwanziger Jahre ablegte und bühnenwirksam durch „Gretha“ ersetzte  – Vorbild dafür war vermutlich die adlige, in Grethas Jugendtagen berühmt-berüchtigte Mata Hari, Mehrfach-Spionin und sehr erfolgreiche Varieté-Künstlerin mit dem bürgerlichen Namen Lady Gretha MacLeod und dem Geburtsnamen Margaretha Geertruida Zelle (1876–1915). In ihren „Silhouetten“ erläuterte Gretha Jünger ex post die Namenwahl für das th ihres „given-name“, die „völlig aus der Regel falle“, siehe S, S. 52. 20  Ihr beachtliches Spektrum reichte von Revuen und Cabaret, für die sie auch eigene Couplets komponierte, über Soubrettenrollen in Operetten und Opern bis hin zu Klassiker-Inszenierungen im Schauspiel.

Gretha und Ernst Jünger – Von Hannover nach Leipzig (1922–1925) Als sich Gretha von Jeinsen und Ernst Jünger im Oktober 1922 in der Innenstadt von Hannover erstmals begegneten, beeindruckte sie vor allem sein Auftritt im Dekor soldatischen Heldentums,21 das in scharfem Gegensatz zur herrschenden Realität auf den Straßen nichts als Sieg und hegemoniale Männlichkeit ausstrahlte.22 In den folgenden drei Jahren bis zur Heirat 1925 in Leipzig, drehte sich der Austausch des Paares vor allem um ihre Bühnenkarriere und Jüngers heftige Ablehnung einer solch anrüchigen und sittenwidrigen Tätigkeit, wobei seine abwertende Kritik orchestriert wurde durch heftige Szenen im Elternhaus von Jeinsen, das – zeittypisch – ob des unklaren Status der Verbindung ihrer Tochter mit einem noch nicht heiratsfähigen Anwärter auf eine Offizierskarriere, um ihren guten Ruf fürchtete und deren Heiratschancen schwinden sah.23 Dieser Konflikt spitzte sich zu und führte letztlich zum Abbruch von Ernst Jüngers Versuch, bei der Reichswehr eine Offizierslaufbahn einzuschlagen: Er nahm eine (nach mehrfacher Ankündigung erfolgte) schriftliche Intervention Harry von Jeinsens beim Militär zum An21  Gretha Jünger hielt in ihren Erinnerungen fest: „Es tauchte in der Ferne auf: ein wehender Militärmantel, eine Reichswehrmütze, ein schleppender Säbel. Am Kragenausschnitt, weithin leuchtend: ein blauer Stern“, d. i. der Orden Pour le mérite; siehe S, S. 70. 22  Vgl. Ute Frevert, Männer(T)Räume. Die allgemeine Wehrpflicht und ihre geschlechtergeschichtlichen Implikationen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11 (2003), H. 3, S. 111–123 (S. 115– 117). 23  Nicht heiratsfähig meint in diesem Kontext, dass Stellung und Einkommen noch nicht gesichert sind und der Vorgesetzte deshalb auch noch keine Heiratserlaubnis erteilte.  – Obwohl Gretha lediglich ein knappes halbes Jahr im Pfarrhaushalt tätig war, stand auf ihrem Trauschein als Berufsangabe Dienstmädchen und nicht etwa Schauspielerin, ihre eigentliche Tätigkeit der zurückliegenden drei Jahre.

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lass  – den erwartbaren Auseinandersetzungen zuvorkommend  – für seinen Abschied und begann im WS 1923/24 in Leipzig ein Studium der Zoologie. Ein Jahr später übernahm der seit der Publikation der Stahlgewitter (1920) bereits durchaus bekannte Schriftsteller eine kleine Nebenbeschäftigung in einem Verlag, deren Ertrag als finan­ zielle Grundlage für eine Heirat im Sommer 1925 mit soldatischkarger Zeremonie ausreichte.24 Gretha Jünger aber war mit diesem Schritt in ein gemeinsames Leben zugleich gezwungen, ihre geliebte Theater-Bühne aufzugeben. Was ihr blieb, war lediglich die Hinterzimmer-Bühne in den Jüngerschen Räumen, in denen sich allabendlich versprengte Figuren der vom Krieg entwurzelten (rechts)nationalen Bohème einfanden, um dort die Rituale ehemaliger WeltkriegsKämpfer zu inszenieren.25 Einer der Dauergäste der nahezu täglichen Runden in Leipzig war – neben dem Assessor der Rechte, Friedrich Georg Jünger, – der Sozialphilosoph Hugo Fischer. Der „gute Hugo Fischer“,26 so Carl Schmitts Tagebuchnotiz, war eine jener vom Krieg traumatisierten, genialisch anmutenden Gestalten. Er war in der Zwischenkriegszeit auf der Suche nach einem neuen Erlösungswissen27 und hielt als Privatdozent Vorlesungen  – zumeist „vor drei Personen, der vorgeschriebenen Mindestzahl: seiner Frau, der Frau Ernst Jüngers und einer dritten Person, die dafür bezahlt wurde“.28 Nach zwei Jahren in Leipzig zogen Ernst und Gretha Jünger mit dem einjährigen Sohn Ernstel nach Berlin-Babylon, wie das „Herz der kulturellen Avantgarde und politischen Opposition, Zentrum allgemeiner Experimen24  Ernst Jünger an Gretha Jünger am 27.6.1925, vgl. Villinger, Unsicht­ bare Frau (Anm. 5), S. 87. 25  Vgl. dazu Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 79 ff. 26  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 122 (Eintrag vom 8.7.1931). Fischer suchte Carl Schmitt in Berlin mehrfach auf. 27  Hugo Fischer entwarf Feldtheorien nach mathematisch-physikalischen Modellen eines Max Planck, Heisenberg und Einstein, die er umstandslos als soziologische Vorhersage auf die menschliche Kulturentwicklung übertrug. 28  So Manfred Lauermann, zit. in: Reinhard Blomert, Lehre im Kränzchen. Die Tradition der Leipziger Schule und ein neues Institut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 15 vom 19.1.1994, S. N5; Ernst Jünger notierte auf diesem Zeitungsausschnitt „mit Anklängen an meine Leipziger Jahre“ (DLA Marbach, Nachlass Ernst Jünger).



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tierfreudigkeit und einer gehörigen Portion Sex-Appeal“ damals genannt wurde.29 Ihre Zimmer – erneut lediglich zur Untermiete – in einem Gartenhaus30 in der Nollendorfstrasse lagen im Zentrum des schwul-lesbischen Viertels, das damals als Tagtraum der europäischen Homosexuellen galt.31 In Berlin begann Gretha Jünger die disparate abendliche Gästeschar der Jahre 1927–1933 als ihren garden of beasts32 nach dem Vorbild La Fontaine’scher Fabeln aufzuzeichnen. Sie wollte anhand dieser ‚Schule des Lebens‘ einen Einblick in die Gefährlichkeit menschlicher Natur und ihrer Fähigkeit zur Täuschung gewinnen  – so ihre Adaption von Ernst Jüngers Beobachtungen im Reich der Zoologie, die er unter dem Titel „Die Bewaffnung der Tiere“ als Dissertation ausarbeiten wollte, wie er ihr wenige Wochen nach Studienbeginn mitteilte. Ihr menschliches Anschauungsmaterial in Berlin war breit gefächert, teilweise auch heftig kriegerisch gestimmt  – doch gemeinsam war all den heterogenen Besuchern die Ablehnung jeder Art von Sekurität und Bürgerlichkeit und das Hochgefühl, „wir [sind] alle Revolutionäre“, denen es, so Gretha Jünger, an „diabolischen Ereiferungen […] nicht mangelt.“33 Zu den abendlichen Gästen gehörte, neben dem ebenfalls in diese Stadt gewechselten Schwager Friedrich Georg Jünger, der Schriftsteller und Freikorpskämpfer Arnolt Bronnen (1895–1959), der Religi29  Kristine von Soden, in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919–1933, Hamburg 1988, S. 181. 30  Gemeint ist damit ein Quergebäude hinter dem Vorderhaus, in dem die ‚einfacheren‘ Leute wohnen, so Michael Thomas, Deutschland, England über alles. Rückkehr als Besatzungsoffizier, Berlin 1984, S. 87. 31  Im Herbst 1928 bezogen die Jüngers eine erste eigene Wohnung im Arbeiter-Viertel Berlin-Ost, Stralauer Allee 36. 32  In Anlehnung an Erik Larson und seinen dokumentarischen Bestseller In the Garden of Beasts. Love, terror, and an american familiy in Hitler’s Berlin, New York 2011, in dem die politischen Netzwerke in Berlin nach 1933 im Umfeld der amerikanischen Botschaft beschrieben werden; dt. u. d. T. Tiergarten  – In the Garden of Beasts. Ein amerikanischer Botschafter im Nazi-Deutschland, Hamburg 2013. 33  S, S. 117. Gretha Jüngers Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass nahezu alle Besucher ein ausgeprägt autokratisch-patriarchalisches Verhalten den Frauen gegenüber praktizierten.

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onsgründer Friedrich Hielscher (1902–1990), der permanent „den ollen Nitschke“ zitierte;34 ebenso der von Gretha als sprungbereitaggressiven Panther beschriebene Fotograph Edmund Schultz (1901–1965)35; der eher depressiv gestimmte Schriftsteller Franz Schauwecker (1890–1964)  – populär geworden durch die Formel im Ersten Weltkrieg: „Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.“36 Ein weiterer Dauergast war der als Löwe skizzierte Schriftsteller Joachim Freiherr von der Goltz (1882–1972), dessen berühmte Schützengrabenfibel Eiserne zehn Gebote an die deutschen Krieger (1915) rasch mit Billigung von Helmuth von Moltke d. J. (1848–1916), Chef des Großen Generalstabes, beschlagnahmt und verboten wurde.37 Häufige Besucher waren auch die beiden Brüder und Attentäter Bruno und Ernst von Salomon38 ­sowie der von Gretha Jünger als Wolf charakterisierte, höchst undurchsichtige Landsknecht Hubert E. Gilbert (1889–1944), vormals 34  Friedrich Nietzsche (1844–1900) war bei allen Teilnehmern der abendlichen Runde der meist zitierte Philosoph. Hielscher gründete die von den Nationalsozialisten als regimefeindlich eingestufte, höchst technikfeindliche „Unabhängige Freikirche“ (UFK), deren Mitglieder er selbst obsessiv überwachte und seinem Kontrollzwang unterwarf. 35  Schultz gab verschiedene Photobände heraus, zu denen Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger eine Einleitung schrieben; siehe dazu Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 381 f. 36  Siehe dazu Oswald Claaßen, Franz Schauwecker. Ein Leben für die Nation, Berlin 1933, S. 8. 37  Grund für das Verbot war das als zersetzend geltende zehnte Gebot, das sich An die jungen Soldaten richtet; der Text ist ein Hymnus auf die Jugend und zugleich eine Kampfansage an „die Alten“: „Heil uns Jungen“, heißt es hier, der „Krieg ist eine Prüfung für alle. Über die Alten hält er ein Gericht, während unter uns Jungen er eine Musterung hält“, siehe Joachim von der Goltz, Eiserne zehn Gebote an die deutschen Krieger in Worte gebracht, Leipzig 1915. 38  Bruno von Salomon (1900–1952) bombte für die Landvolkbewegung; der Journalist wurde KPD-Mitglied, emigrierte 1933 nach Frankreich, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik und schloss sich in Frankreich der Résistance an; Ernst von Salomon (1902–1972) war am Attentat auf Walther Rathenau (1867–1922) beteiligt, galt nach 1933 als Otto Strasser (1897–1974) nahe stehend, war ab 1934 bei Rundfunk und Film tätig; nach 1945 Autor des Bestellers „Der Fragebogen“ (1951), mit dem er die Entnazifizierung der Alliierten ironisierte.



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s­owjetischer Artillerie-General mit klandestinem Verhältnis zur Schriftstellerin Larissa Reißner (1895–1926), der Frau von Fjodor Raskolnikov (1892–1939); Gilbert wurde nach 1940 Leiter des ­Telegrafenbüros in Kopenhagen und dort gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als SS-Mann enttarnt und erschossen. Weiter erwähnt Gretha Jünger den schillernden französischen Literaturkritiker, Journalisten und „Erbe des Gründers des Crédit Lyonnais“, André Germain (1882–1976), dessen rauschende Feste während der Berliner Jahre berühmt-berüchtigt waren.39 Recht ausführlich geht sie auch auf das in Berlins Rosenstrasse40 wohnende assoziierte Dreigestirn ein, dessen liebstes Mitglied der von ihr hochgeschätzte, alles Militärische ironisch-verachtende Schwager Hans Otto Jünger (‚Bruder Physikus‘) war. Sehr gern umgab sie sich auch mit dem von ihr als Haussohn titulierten, späteren Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908–1982), der aus Altersgründen einer der wenigen Zivilisten unter all den ehemaligen Soldaten und Freikorpskämpfern des Ersten Weltkrieges war. Zu ihnen gehörte auch der als Strandgut des Kaiserreiches anmutende Jurist, Schlossbesitzer und Brasilienreisende Wilhelm von Weickhmann (1872–1949), dessen Obsession vor allem der Vermehrung deutscher Einfluss- und Kolonialgebiete galt. In diesem heterogenen Personenkreis mit wechselnder Besetzung bei den abendlichen Geselligkeiten war ab Herbst 1930 auch Carl Schmitt anzutreffen, der in der Folgezeit nicht selten bei den Jüngers zu Gast war.

39  Siehe dazu auch Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933–1943, München und Wien 1984, S. 109, sowie Schmitts Notiz vom 26.2.1931, in: Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S.  92 f. 40  Gemeint ist ein Haus in der „Werderschen Rosenstrasse“, siehe S, S.  144 ff.

Berliner Annäherung I: Ernst Jünger und Carl Schmitt (1930–1933) Mitte Juli 1930 hatte Carl Schmitt erstmals brieflichen Kontakt mit Ernst Jünger aufgenommen;41 seinem Schreiben legte er als Sonderdruck den 1930 in den Kant-Studien 1930 erschienenen Text Staatsethik und pluralistischer Staat42 bei. Er umriss damit die Themenfelder seines aktuellen Interesses an einem Austausch mit Jünger: Eine Kennzeichnung der Ursachen der gegenwärtigen „Erschütterung des Staates“ als „oberster Instanz“, dessen Merkmal trotz aller „vernunftrechtlichen Relativierung“ sei, dass es gegen ihn kein Widerstandsrecht gibt. Diese Überlegung war und blieb für Jünger in den Jahren nach 1933 und verstärkt nach 1939 ein Leitfaden seiner konsequenten Ablehnung jeder aktiven Mitarbeit am Widerstand, einer Planung von oder gar Beteiligung an Attentaten.43 Die intellektuelle Annäherung zwischen Schmitt und Jünger drehte sich zunächst um die gegenwärtige Infragestellung staatlicher Einheit und Autorität  – ein Problemfeld, das Schmitt rasch auf das Thema der politischen Romantik lenkte; seine gleichnamige Publi41  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 14.7.1930, in: Ernst Jünger  – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, 2. Aufl., Stuttgart 2012, S. 5; Hugo Fischer regte den Kontakt offenbar an und übermittelte Jüngers Adresse. 42  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 16.7.1930, in: Kiesel (Anm. 41), S. 5, 466. 43  Vgl. Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar  – Genf  – Versailles, Berlin 1988, S. 133–145 (S. 134). Jünger war trotz Distanz zum NS-Regime zu keiner Zeit bereit, sich dem aktiven Widerstand anzuschließen; zu Jüngers Idee des „Widerstehens allein durch reine Geistesmacht“ siehe Heidrun Ehrke-Rotermund/Erwin Rotermund, Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im ‚Dritten Reich‘ , München 1999, S. 315–393; dort auch Hinweise zur Rezeption der „Marmorklippen“ im Dritten Reich.



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kation sandte er kurz darauf an Jünger.44 Dort heißt es zur „Struktur der Romantik“, deren geistesgeschichtliche Grundlagen eines liberalen Pluralismus und vor allem ihr subjektiver Occasionalismus bringe eine zunehmende Unfähigkeit zu politischer Entscheidung mit sich  – für Schmitt ein ganz zentrales politisches Problem, das er im letzten Drittel seiner Romantikanalyse weiter vertieft.45 Schmitts Ausführungen werden von Jünger in einem Dankesschreiben mit begeisterter Zustimmung aufgegriffen; er betonte, „[v]or allem müssen wir uns entscheiden“ und forderte angesichts der von Schmitt diagnostizierten entscheidungslosen Beliebigkeit eine „strenge […] Zucht des Geistes und des Gefühls“, damit „eine neue deutsche Politik“ wieder möglich werde.46 Auf dieses Statement hin überreichte ihm Schmitt seinen Begriff des Politischen, der mit seiner griffigen Formel den Weg zur Entscheidung zu konkretisieren sucht.47 Jünger würdigt in einem durchkomponierten Antwortschreiben tief beeindruckt die darin aufgezeigte Freund-Feind-Definition als „kriegstechnische Erfindung“, als „eine Mine“, die „lautlos explodiert. Man sieht wie durch Zauberei die Trümmer zusammensinken; und die Zerstörung ist bereits geschehen, ehe sie ruchbar wird.“48 Diese ganz unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges formulierte Replik auf Schmitts Kategorie der Entscheidung zeigt, dass für Jünger eine Wiedergewinnung des Politischen ausschließlich in Kategorien kriegerischen Geistes vorstellbar war. Auch über die Bandbreite der Mittel lässt er keinen Zweifel aufkommen, wie er als „alter Krieger […] Morgenluft“ witternd bereits 1928 dem Bruder Fried44  Carl Schmitt, Politische Romantik, München 1919, erschien 1925 in wesentlich erweiterter Form. 45  Carl Schmitt, Politische Romantik (1925), Berlin 1982, S. 115 ff. 46  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 2.8.1930, in: Kiesel (Anm. 41), S. 6; trotz der Unkenntnis des Materials, wie bspw. der Schriften des Philosophen und Staatstheoretikers Adam Müller (1779–1829), kommt Jünger zum Schluss, dass die Schrift ihn überzeuge und ihm den Blick dafür geschärft habe, dass „wir uns entscheiden“ müssen  – er schließt sich damit Schmitts zentraler These an. 47  Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, München und Leipzig 1932. 48  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 14.10.1930, in: Kiesel (Anm. 41), S. 7.

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rich Georg Jünger gegenüber vermerkt: „Wir müssen uns viel mehr bemühen, die literarische Tätigkeit als Kriegsmittel zu betrachten“.49 Angesichts einer solchen Übereinstimmung in der Sache zwischen Jünger und Schmitt überrascht es wenig, dass die Annäherung bald auch merklichen Einfluss auf Jüngers politische Publizistik indiziert. Bereits mit dem Austausch der Politischen Romantik Anfang August 1930 wird dieser Einfluss in Jüngers Abhandlung Über Nationalismus und Judenfrage50 vom September 1930 offensichtlich. Hier formuliert er – in ersichtlicher Übernahme von Carl Schmitt – eine harsche Kritik am Einfluss auf die „staatsrechtliche Grundlegung der legitimen Mächte“ durch den jüdischen Staatsrechtslehrer Friedrich Julius Stahl,51 den Schmitt bereits in der Politischen Theologie (1922) als einen der maßgeblichen Akteure der Neutralisierung aller Lebensbereiche – allen voran von Staat und Politik „und der gesamten Denkweise“ – identifizierte.52 Weitere Indizien sind Jüngers Beschreibung 49  Ernst Jünger an Gerhard Günther am 3.  Oktober 1930; Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger am 30.12.1928, beide zit. in Sven Olaf Berggötz (Hrsg.), Ernst Jünger, Politische Publizistik 1919 bis 1933, Stuttgart 2001, 841, 836. 50  Ernst Jünger, Über Nationalismus und Judenfrage, September 1930, in: Berggötz, Publizistik (Anm. 49), S. 587–592. 51  Jünger greift auf den Begriff „Stellungen“ zurück, in denen dieser Jurist verharre und das konservative Denken in seinem Sinne beeinflusse, in: Berggötz, Publizistik (Anm. 49), S. 587 f. Siehe dazu auch Reinhard Mehring, Der konkrete Feind und der Übermensch. Judentum und Antisemitismus bei Schmitt, Jünger und Heidegger, in: Jünger-Debatte 1. Ernst Jünger und das Judentum, hrsg. von Thomas Bantle, Alexander Pschera und Detlev Schöttker, Frankfurt a. M. 2017, 23–35; sowie Carl Schmitt, Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936), in: ders., Positionen und Begriffe (Anm. 43), S. 229–234 (S. 234). 52  Schmitt bemängelt grundsätzlich Stahls Formalisierung und Neutralisierung des Rechts mit der Folge eines „auswechselbaren Gesetzespositivismus“, der den Rechtsstaat in einen „indifferenten Gesetzesstaat“ verwandle; siehe zunächst ders., Politische Romantik (Anm. 45), 11 u. ö. sowie in ders., Der Begriff des Politischen (1927), Berlin 1963, 88–95. Diese Thematik zieht sich durch das Werk von Schmitt, so besonders deutlich in: Der Rechtsstaat (1935), in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hrsg., mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 108–120 (S. 112); ders., Neutralität und Neutralisierungen. Zu Christoph Steding „Das Reich und die



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der Merkmale des Verhältnisses von Judentum und Liberalismus, die Wirkung der konservativen wie revolutionären Romantik und nicht zuletzt findet sich hier auch der gängige Vorbehalt einer Dominanz des Ökonomischen, die mittels (jüdischer) Fiktionalisierung des Realen im Modus des Als-Ob (wie bspw. der Reklame) unsichtbar gemacht werde, u. v. a. mehr. Insgesamt wendet sich Jünger gegen das bürgerlich-liberale, assimilierte Judentum, dessen „Maskenexistenz“ unter dem Deckmantel einer weltumspannenden Humanität im Namen der Menschheit als Bedrohung der spezifisch deutschen Art zu sein aufgefasst wird – Denkfiguren, die auch im Zentrum von Carl Schmitts Freund-Feind-Relation stehen; so heißt es beispielsweise im Der Begriff des Politischen: Feindschaft ist „die seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“, die nur im Falle der „äußersten Realisierung der Feindschaft“ als Krieg ausgetragen wird.53 Ebenso unübersehbar sind die Spuren von Schmitts Begriff des Politischen u. a. in Jüngers Sammelband Hier spricht der Feind. Kriegserlebnisse unserer Gegner (1931), für den er selbst die Einleitung schrieb und (unter Pseudonym) die Texte auswählte.54 Der Band  löst ein, was der Titel verspricht: Es handelt sich um eine mediale Rekonstruktion der zuvor Schmitt attestierten kriegstechnischen Mine, die nun ex post am Beispiel des – für viele nach wie vor unerledigten  – Ersten Weltkrieges eine Konturierung des FreundFeind-Verhältnisses unternimmt. Die Textauswahl verfolgt dabei dem Anliegen als „völkische Eigenart“ das höchst „sachliche Verhältnis [der Deutschen] zum Kriege […] im Spiegel der Gegenseite“ sichtbar zu machen. Dabei zeige sich, so Jünger, dass gerade bei den Feinden nahezu ausnahmslos eine „höhere Meinung vom Gegner“ vorherrsche als es die propagandistischen Stimmen von Politik und Krankheit der europäischen Kultur“ (1939), in: Schmitt, Positionen und Begriffe (Anm. 43), S. 271–295. 53  Schmitt, Begriff des Politischen (Anm. 47), S. 33 sowie auch ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938), Stuttgart 2015, 106–110. 54  Schlussband von Richard Junior (Hrsg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Hier spricht der Feind. Mit etwa 150 photographischen Aufnahmen, Berlin [1931]. Beim Herausgeber dieses Sammelbandes handelt es sich (vermutlich) um Ernst Jünger selbst, siehe Berggötz, Publizistik (Anm. 49), S. 816.

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Presse in Deutschland zum Ausdruck bringen.55 Auch Jüngers weitere Ausführungen folgen konsequent den Argumenten der Carl Schmitt­schen Begriffsbestimmung von Krieg und Feindschaft.56 Ende Oktober 1930, als Schmitt den Kriegsschriftsteller Jünger explizit in seinen Bekanntenkreis einführt, zeigt die inzwischen intensivierte Freundschaft bereits deutlich Züge eines ausgeprägten Consiliar-Verhältnisses in politics: So notiert Schmitt bspw. in seinem Tagebuch: „dann kam Ernst Jünger, mit dem ich über den Begriff des Reichs sprach, den er behandeln will“.57

Richard Junior, Vorwort, in: ders., Antlitz (Anm. 54), S. 12. Siehe Schmitt, Begriff des Politischen (Anm. 47), Kap. 3: Krieg als Erscheinungsform von Feindschaft (S. 28–37). 57  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S.  50 (Eintrag am 30.10.1930). 55  56 

Berliner Annäherung II: Gretha Jünger und Carl Schmitt (1930–1933) Zunehmend wurden nun auch die beiden Familien mit einbezogen.58 Als Schmitt Anfang November 1930 zu Gast bei den Jüngers war, lernte er neben Friedrich Georg auch Gretha Jünger kennen. Anlässlich eines Abendessens, aus dem wie so häufig eines der trinkfesten Gelage in der Runde der nationalistischen Männerbünde wurde, hält Schmitt fest, dass sie im Verlauf des Abends „ihren Stammbaum zeigte“.59 Sollte sie mit dessen Präsentation gehofft haben, bei Schmitt fachkundige Bestätigung des Rechts auf Rück­ gabe oder Entschädigung ob der vor über 200 Jahren verlorenen Stammgüter zu erhalten, so dürfte sie gründlich enttäuscht worden sein. Denn Schmitt wies bereits 1922 und 1929 darauf hin, dass nicht aus jeder Verletzung von „Privatinteressen oder auch -rechten […] eine allgemeine Entschädigungspflicht“60 resultiert. Er betont unmissverständlich, dass (anders als in Frankreich) zwar in Deutschland der staatliche Gedanke auf „hausgesetzlicher Grundlage, durch Einrichtungen wie Stammgüter und Primogenitur“ beruhe, doch könne im Zuge der Rechtsentwicklung nach dem Wiener Kongress bis heute eine solche Regelung allein noch auf dem „Wege gegen­ seitiger Verständigung“61 erfolgen. Und an eine solche Verständi58  Schmitts und Jüngers waren nach mehreren Umzügen auch räumlich nahezu Nachbarn geworden: sie wohnten am Rande des Tiergartens bzw. im südlichen Moabit und waren nur getrennt durch die Spree – so der Hinweis von Gerd Giesler. 59  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S.  54 (Eintrag am 8.11.1930). 60  Carl Schmitt, Die Auflösung des Enteignungsbegriffs (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (Anm. 11), S. 110–123 (S. 114). 61  Carl Schmitt, Die Auseinandersetzung zwischen dem Hause Wittelsbach und dem Freistaat Bayern, in: Kölnische Volkszeitung Nr. 436, 6.  Juni 1922, S. 1.

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gung, das wusste Gretha Jünger sehr genau, war in ihrem Falle keineswegs zu denken.62 Neben dem zirkulierenden Stammbaum hielt Schmitt weiter fest: „[Z]u viel Chianti getrunken, bis 3 Uhr geblieben, fürchterlich. Nachher sprach Jünger nur noch davon, dass er bis Herbst hunderttausend Mark verdienen müsse. Das tat mir leid. Traurig und skeptisch nach Hause. So sind alle verbürgerlicht und gehören alle zur untergehenden Schicht.“63

Schmitt registrierte demnach zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Freundschaft bei dem sich soldatisch-kämpferisch gebenden Ernst Jünger Symptome einer verbürgerlichten Entpolitisierung, wie er sie 1928 im Begriff des Politischen mit Blick auf den Liberalismus als Folge des Sieges der „Gesetze des Ökonomischen“ über das Poli­ tische und ebenso über das Ästhetische diagnostizierte  – was nach 1945 mit Jüngers Roman Heliopolis zum Spannungsauslöser zwischen beiden werden sollte.64 Tatsächlich produzierte Jünger in der Zeit des Notates vom November 1930 vermehrt Beiträge in großen Tageszeitungen und darüber hinaus sogenannte „Finanzierungsschinken“, wie er an seinen Journalistenfreund Ludwig Alwens schrieb.65 In einer solchen Entwicklung sah Schmitt Ausdruck und Resultat der folgenschweren „Logik der geistigen Unterwerfung“ des „tapferen […] preußischen Soldatenstaates“ durch das liberale Bürgertum und weniger eine Folge der Kriege, die die Totalität eben dieses

62  Vgl. zu den Adelsgütern der von Jeinsens: Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 17–23. Wie die Nichte Gretha Jüngers, Viktoria Witthuhn, berichtete, bestand keinerlei Verbindung zu den „sich unter den Parkbäumen jenes alten Besitzes [tummelnden] fremden Basen und Vettern“, so Gretha von Jeinsen, in: S, 9. Witthuhn erinnerte sich lediglich an eine ungeplante Kontaktaufnahme von Seiten Gretha Jüngers mit einer Kurzbesichtigung des mit Wappen und Bildern geschmückten Hauses. 63  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S.  54 (Eintrag am 8.11.1930). 64  Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 71. 65  Ernst Jünger an Ludwig Alwens am 1.3.1929, zit. Berggötz, Publizistik (Anm. 49), S. 842. Allerdings entstand in dieser Zeit auch Jüngers Groß­ essay „Der Arbeiter“ (1932).



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Soldatenstaates und dessen Politik provozierten.66 In seinem Furor gegen die Weimarer Republik konnte er auch die Frage nach der Bewährung „in der Feuerprobe der politischen Gefahr“ keineswegs in Richtung regelförmiger Legalität oder gar Kompromissbildung beantworten, sondern mit dem Hinweis auf ein autoritatives „Führerrecht“ des „politischen Soldaten“.67 Diese Figur des politischen Kriegers war sowohl bei Jünger als auch bei Schmitt zunächst die gemeinsame Erwartung an die neue Politik. Doch Jüngers Frontsoldatenperspektive, mit der er den nächsten Weltkrieg bereits 1930 als „eine Tatsache“ sah, über die er „kein Wort mehr verliere“,68 trennte spätestens 1933  – nach der ersten Hausdurchsuchung durch die Gestapo  – das Militärische vom Politischen, während für Schmitt beides ein untrennbarer Ausdruck legitimer autoritativer Politik und Staatlichkeit blieb. Doch ob Adel, Bürgertum oder Bohème, zu der sich die Jüngers in Leipzig (1925–1927) und ebenso in Berlin (1927–1933) rechneten: deren Merkmale lösten sich zusehends unter dem Druck der allgegenwärtigen materiellen Bedürftigkeit in der Zwischenkriegszeit auf. Auch die Jüngers hofften bald auf Veränderung; 1932 schreibt Ernst Jünger nicht ohne depressive Anwandlung aus dem Elternhaus in Leisnig, wohin er sich zum Schreiben zurückgezogen hatte, an seine Frau Gretha nach Berlin: „Es ist mir ganz unmöglich, in unserer so kleinen Wohnung so häufig fremde Gesichter zu sehen. […] Die Bohème-Gesichter ekeln mich an“, weshalb er nach seiner Rückkehr neue Bekannte oder Freunde suchen wolle, solche „von denen man auch wirklich etwas hat“  – Carl Schmitt gehörte für ihn ganz sicher in diese Kategorie.69 Auch Gretha Jünger erschienen inzwi66  Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten. Anhang: Die Logik der geistigen Unterwerfung (1934), Berlin 2011, S. 1–47 (S. 40). Dass der konstatierte Zusammenbruch auch Folge des zerstörerischen Totalitätsanspruchs des Politischen war, findet hier keinen Eingang; siehe Schmitts Schlussbemerkung, ebd., S. 47. 67  Schmitt, Staatsgefüge (Anm. 66), S. 47. 68  Ernst Jünger an Hugo Fischer am 7.10.1930, zit. Berggötz, Publizistik, (Anm. 49), S. 842. 69  Ernst Jünger an Gretha Jünger am 20.10.1932, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 174.

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schen die „Geister aus dem Berliner Westen […] recht dürftig geworden“ zu sein.70 Die steigende Verunsicherung infolge sich auflösender Gewissheiten machte sich zunächst auch im Verhältnis von Carl Schmitt zu Gretha Jünger als negative Ambivalenz bemerkbar. So notiert er anlässlich eines weiteren geselligen Abends: „[D]ann zu Ernst Jünger, es waren noch einige Leute da, Mitscherlich usw. Fühlte mich aber dumm und langweilig, Jünger war nett, Angst vor seiner Frau“.71 Doch einige Monate später, in seinem Haus und auf eigenem Terrain, fühlte sich Carl Schmitt  – nun Hausherr und zusammen mit seiner Frau Duschka Gastgeber eines „Damentee[s]“  – auch in Gegenwart von Gretha Jünger und ihrer jederzeit höchst lebhaften Ausstrahlung deutlich sicherer und notiert: „Frau Jünger gefiel mir besonders gut.“72 Die politische Haltung dieser Gegnerin der Weimarer Republik wurde deutlich beeinflusst von den Kämpfen um die Deutungsmacht des verlorenen Krieges: Emotional überdeterminiert durch den Güterverlust, den ihr landadliger Familienroman erzählt, und aufgeladen durch den väterlichen Einkommensverlust, war ihre heftige Ablehnung der Weimarer Republik fokussiert auf die im Versailler Vertrag festgelegten Gebietsabtretungen. In dieser bis weit in die Bundesrepublik hineinreichenden Verlustwahrnehmung zeigt sich die besondere Färbung der Bindung des Landadels an Grund und Boden und die Erfahrung der kargen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg  – beides prägte maßgeblich ihre politische Sicht der Dinge.73 Sie wird erneut sichtbar mit dem Auftakt des Zweiten Krieges, den sie in der Hoffnung auf Gebiets-Revision freudig begrüßte, sie wird erkennbar mit ihrer lebenslangen Sehnsucht nach einer vertikalen Stratifikation der Gesellschaft, ihrer entschiedenen Präferenz für ein landadliges Leben, mit der eine beharrliche Abwehr moderner Technik und heftiger Widerstand gegen jede Erosion traditioneller Werte 70  So Gretha Jünger im Rückblick an Anne von Katte am 16.8.1936, zit.  Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 4), S. 174. 71  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S. 216 (Eintrag am 15.9.1932). 72  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S. 262 (Eintrag am 14.2.1933). 73  Conze, Adel (Anm. 12), S.  362 f.



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einherging. Die andere Seite von Gretha Jüngers Haltung ist jedoch die einer vehementen Abneigung gegen jede Art von NS-Volksgemeinschaft und Gesinnungsschnüffelei, wie sie bald zum Alltag in Berlin (und anderswo) gehörte. Sie selbst erlebte kurze Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30.1.1933 aufgrund der „Anzeige eines Hausbewohners“ die erste Hausdurchsuchung der Jüngerschen Wohnung durch die Gestapo – in der Hoffnung, Briefe des inzwischen verhafteten Erich Mühsam (1878–1934) zu finden.74 Gretha Jünger sah darin eines der „ersten Flammenzeichen“ der neuen Machthaber, das die Jüngers bewog, den Wohnort zu wechseln, was ihnen nach schwieriger Wohnungssuche im Dezember 1933 gelang: Sie zogen in das beschaulich-ländliche Goslar  – eine alte Stadt im Harz, von der sie erhoffte, hier ein ruhigeres, unpolitisches Leben „jenseits des verwirrenden und betäubenden Rhythmus, der Berlin erfüllt hatte“, führen zu können.75

74  Ernst Jünger, Strahlungen II. Das zweite Pariser Tagebuch. Kirchhorster Blätter. Die Hütte im Weinberg, München 1995, S. 516–520 (S. 517) (Eintrag vom 24.8.1945). 75  S, S. 181.

Goslar und Überlingen: Carl Schmitts Patenschaft und „die Sache selbst“ (1934–1936) In Goslar wurde einige Monate später, am 9.  März 1934, der zweite Sohn Alexander geboren, für den die beiden höchst ungleichen Persönlichkeiten Carl Schmitt und Hans Otto Jünger die Patenschaft übernahmen. Ernst Jüngers ‚Bruder Physikus‘  – hochbegabter Physiker und Phlegmatiker, ein ewiger Junggeselle  – wurde von Gretha Jünger besonders geschätzt, da er „von allen JüngerBrüdern […] der humorvollste“ war, weshalb „wir uns Beide recht zugetan“ sind.76 Der preußische Staatsrat77 Carl Schmitt begrüßte mit großer Empathie den neuen Erdenbürger als „neuen Erden-Soldaten“ und spielt damit programmatisch auf seine gerade erschienene Schrift Staatsgefüge und Zusammenbruch mit dem Untertitel: Der Sieg des Bürgers über den Soldaten an.78 Offenbar erhoffte er von diesem neuen Mitglied der jungen Generation, dass sie die „Logik der geistigen Unterwerfung“  – so Schmitts Terminus für die Ab­ lösung des „preußischen Soldatenstaat[es]“ durch den bürgerlichen Verfassungsstaat  – wieder beenden wird.79 Beflügelt wird seine Erwartung an die Geburt des Täuflings durch die Annahme einer schicksalhaften Verbindung, denn Schmitt war überzeugt, dass nach „allen Regeln der Astrologie […] meine Beziehungen zu dem Jungen vorzüglich sein“ werden.80 Diese den Eltern nahegelegte Besonder76  Gretha Jünger an Curt Pauly am 21.3.1957, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 176. 77  Carl Schmitt wurde am 11.7.1933 von Hermann Göring zum Staatsrat ernannt – ein Titel, auf den er zeitlebens stolz war; Ernst Jünger verwendete ihn fortan in den Briefanreden, Gretha Jünger ignorierte ihn. 78  Siehe Schmitt, Staatsgefüge (Anm. 66). 79  Schmitt, Staatsgefüge (Anm. 66), S.  34 ff. 80  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 15.3.1934, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 23.



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heit veranlasste Gretha Jünger, Carl Schmitt um die Übernahme der Patenschaft zu bitten; er stimmte dem postwendend hoch erfreut zu und kündigte ihr einen raschen Besuch des Patenkindes an.81 Die Patenschaft als familialer Stiftungsakt sollte die bis 1953 andauernde freundschaftliche Verbindung zwischen Gretha Jünger und Carl Schmitt festigen. Zur feierlichen Taufe sechs Wochen später, zu der sich auch die Großfamilie Jünger in Goslar versammelte, reisten Carl Schmitt und seine Frau Duschka bereits am Abend zuvor an – in der Erwartung, noch Zeit für ein abendliches Gespräch mit Ernst Jünger im Hotelzimmer zu finden. Doch dieses Gespräch mündete in einen heftigen Konflikt, dessen politische Bruchlinien bereits zuvor anlässlich Schmitts Ernennung zum Staatsrat erkennbar wurden: damals warnte Jünger vor dem „politischen Harakiri“ eines NS-Engagements und sah, gänzlich anders als Schmitt, dieses Gremium nicht als „Träger der Regierungsgewalt“, sondern lediglich als reines Arbeitsinstrument für „Angelegenheiten von geringerer Wichtigkeit“.82 Doch für Schmitt war dieses nicht-öffentlich beratende83 und auch nicht abstimmende Gremium etwas gänzlich anderes: Es repräsentierte die von ihm lang erwartete Zeitenwende einer Abkehr von der liberalen Demokratie und dem in seinen Augen degenerierten, öffentlich diskutierenden und abstimmenden Parlament; entsprechend kränkend war ihm 1933 Jüngers Warnung. Das Streitgespräch am Vorabend der Taufe folgt einem analogen politischen Muster. In seinem Tagebuch notiert Schmitt dazu am 19.  Mai 1934: „Reise nach Goslar; große Freude über das Eintreten des NS-Juristenbundes gegen Helfritz. Mit Jünger im Hotel bis 81  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 4.4.1934, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 25. 82  Es handelt sich um das immer wieder von beiden (nicht ohne Heftigkeit) thematisierte Nachtgespräch in der Berliner Friedrichstrasse in der Nacht vom 7. auf den 8.  August 1933, siehe dazu Martin Tielke, Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich, Berlin 2007, S.  89 ff. 83  Zu den Regelungen der Satzung dieses Gremiums siehe Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt: Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995, S. 428 ff. Im Frühjahr 1936 fand die letzte von lediglich sechs Sitzungen des Staatsrates statt.

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nachts 1  Uhr war gekränkt und beleidigt“. Doch am nächsten Tag, nach der Taufe in der Parochie Am Frankenberge, hält er fest: „Taufe des kleinen Carl Alexander Jünger […]. Kaffee und Abend bei Jünger, sehr schöne Unterhaltung […]. Wieder große Freundschaft und Liebe zu ihm“.84 Neben diesem ebenso raschen wie intensiven Stimmungsumschwung und der annotierten Namengebung „Carl“ für den Täufling fällt auf, dass künftig sowohl Gretha als auch Ernst Jünger ausschließlich Carl und Duschka Schmitt gegenüber diesen Vornamen verwenden  – er ist jedoch weder im Kirchenbuch noch im amtlichen Geburtsregister für den zweiten Sohn mit dem Namen Alexander Joachim Jünger eingetragen. „Carl“ fungierte demnach als ein inszenierter, repräsentativer Platzhalter und Geste zur Versöhnung des in der Nacht zuvor von Jünger so sehr gekränkten Paten; „Carl“ sollte über alle politischen Differenzen hinweg die Verbindung der beiden Häuser Jünger und Schmitt nach außen demons­ trieren und nach innen bekräftigen. Offenbar mahnte Jünger bei ihrem Streitgespräch  – ähnlich wie im Falle der Ernennung zum Staatsrat – bei Carl Schmitt am Abend zuvor erneut Zurückhaltung vor einer allzu großen Annäherung an die Politik des Nationalsozialismus an und dämpfte damit Schmitts euphorische Begeisterung über die NS-Intervention gegen Hans Helfritz. Es ist davon auszugehen, dass Jüngers Warnung kein Gehör fand, denn Schmitt wandte sich schon seit geraumer Zeit gegen Helfritz, der seit 1920 Professor des Öffentlichen Rechts war und 1933 zum Rektor an der Universität in Breslau gewählt wurde. Trotz einstimmiger Wiederwahl durch den Senat der Universität zwang ihn kurz darauf die Universitätsleitung, das Amt niederzulegen und ersetzte ihn durch den Völkerrechtler Gustav Adolf Walz.85 An Walz war Schmitt schon „vor 1933 […] sehr interessiert“; bereits im August 1933 empfahl er ihn dem Leiter der Hochschulbehörde, Adolf Rein, im Rahmen der Reformbemühungen zu einer politischen Universität

84  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 345 (Eintrag vom 19. und 20.  Mai 1934). 85  Ein Ämterwechsel, an dem Carl Schmitt nicht ganz unbeteiligt gewesen sein dürfte; zu den Hintergründen siehe Koenen, Der Fall (Anm. 83), S. 541–552, sowie Stolleis, Geschichte (Anm. 12), S.  300 ff.



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für ein Ordinariat in Breslau.86 Im Zuge der heftigen, auch von persönlicher Profilierung geprägten Auseinandersetzungen des Juristenstandes um den liberalen Rechtsstaat versus Führerstaat, in dem es keine „organisatorische Trennung von Gesetzgebung und Regie­ rung“87 mehr geben soll, meldete sich mit Hans Helfritz88 auch die liberale Seite zu Wort. Seine Abhandlung in der DJZ89 und kurz darauf mit einer weiteren in der Kölnischen Zeitung, rief offenbar große Empörung in Teilen der juristischen community und nicht zuletzt bei Reichsjustizkommissar Hans Frank hervor.90 Obwohl Helfritz zunächst den Konflikt zu entschärfen und in der DJZ „in vorsichtigen Formulierungen [den] Rechtsstaatsbegriff zu retten“ versuchte, erreichte er damit das Gegenteil und intensivierte noch die Frontstellung.91 Denn in seinem zweiten Beitrag wandte sich Helfritz unmissverständlich gegen eine Beeinflussung rechtlicher Normen im Namen der Politik; er beklagte die gegenwärtige „Flucht ins Politische, [die] ein bedenklicher Wesenszug neuerer Rechtswissenschaft“ sei.92 Damit attackierte „er nicht nur die Basis der Schmittschen Staats- und Rechtstheorie“ und die von der NS-Politik erwartete neue RechtsSchmitt am 19.8.1933, so Koenen, Der Fall (Anm. 83), S.  376 f. Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in: Deutsche Verwaltung 11 (1934), S. 35–42 (S. 38), jetzt in Carl Schmitt, Gesammelte Schriften 1933–1936 mit ergänzenden Beiträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2021, S. 131–146 (S. 137). Der vor allem zwischen Koell­ reutter, Schmitt, Forsthoff, aber auch Helfritz u. a . ausgetragene Kampf um den Rechtsstaat war nicht nur ein ideologischer, sondern auch ein Profilierungskampf um die Festigung der eigenen Position bei den neuen Macht­ habern. 88  Anlässlich von Forsthoffs Besprechung von Otto Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, Tübingen 1934; siehe: Koenen, Der Fall (Anm. 83), S.  530 ff. 89  Siehe Hans Helfritz, Rechtsstaat und nationalsozialistischer Staat, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), Sp. 426–433. 90  Hans Helfritz, Politik und Rechtsstaat, in: Kölnische Zeitung vom 24.4.1934, S. 1 f.; siehe dazu Kritische Umschau, in: Deutsches Recht. Zentral-Organ des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen 4 (1934), Heft 9 vom 10.5.1934, S. 220. 91  Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 345, Fn. 1691. 92  Helfritz, Politik (Anm. 90), S. 2. 86  87 

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entwicklung, sondern demonstrierte auch sein eigenes pragmatischliberales Rechtsverständnis.93 Das BNSDJ-Organ Deutsches Recht reagierte auf diesen Artikel von Helfritz mit polemisch kommentierten Textauszügen und dem Hinweis, Hans Frank sei auf der Großen Gautagung des BNSDJ in Düsseldorf „mit scharfen Worten“ gegen die „besondere Gefährlichkeit [dieser] versteckten Angriffe“ vorgegangen und habe betont, niemand solle es wagen, „den Parteigenossen Staatsrat Schmitt anzugreifen, der die geistige Grundlage unseres Ringens unseren jungen Juristen klarzulegen als seine Aufgabe betrachte“.94 Weiter heißt es dort, das Presseamt der Deutschen Rechtsfront habe deshalb darauf hingewiesen, dass Zeitschriften „alten Stils“ wie die Deutsche Juristenzeitung, dringend einer Gleichschaltung bedürfen. Auf diese Verlautbarung bezieht sich Carl Schmitts annotierte Freude über die NS-Intervention auf der Fahrt nach Goslar wie auch sein abendlicher Streit mit Ernst Jünger, dessen Anmahnung zur Distanz erneut verhallte. Schmitts freudige Erwartung dagegen erfüllte sich: Wenige Tage nach der Taufe von Alexander Joachim Jünger erfuhr am 25.5.1934 die Öffentlichkeit, dass Carl Schmitt  – auch für Fachkreise überraschenderweise  – der neue Herausgeber der Deutschen Juristenzeitung sein wird.95 In seinem Geleitwort in dieser neuen Funktion formulierte er unter dem Titel Der Weg des deutschen Juristen eine über die Kontroverse mit Helfritz weit ­hinausgehende, grundsätzliche Replik auf die vorangegangenen Diskussionen und bezeichnet den „Rechtsstaat“ als überlebten, dogmatisch erstarrten Begriff des „ewig Gestrigen“ (wie Liberalismus und Positivismus); mahnt dringend eine Rechtserneuerung an und radikalisiert seine politische Aussage mit dem Nachsatz: Es sei ihm Koenen, Der Fall (Anm. 83), S.  539 ff. Kritische Umschau, in: Deutsches Recht. Zentral-Organ des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen 4 (1934), Heft 9 vom 10.5.1934, S. 220  – das in der Zeitschrift zitierte Datum der Gauleitertagung vom 12.5.1934 liegt unklarerweise zwei Tage nach dem Erscheinungsdatum des Heftes. 95  Stolleis geht davon aus, dass Schmitts Übernahme der DJZ „durch eine gegen Helfritz und Koellreutter gerichtete Polemik von G. K. (= Günther Kraus) in ‚Deutsches Recht‘ vorbereitet worden“ war, so Stolleis, Geschichte (Anm. 12), S.  300 f. 93  94 



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fortan nicht mehr möglich, von der „Weimarer Verfassung als geltender Verfassung zu sprechen“.96 Nach den zwischen Jünger und Schmitt in Goslar erfolgreich geglätteten Wogen ließ der nächste politische Zusammenstoß zwischen beiden nicht lange auf sich warten. Sechs Wochen später, am 30.6.1934, erhielten in Goslar Gretha und Ernst Jünger im Hause von Elfriede und Hermann Pfaffendorf97 bei einer abendlichen Weinrunde die Nachricht vom sog. Röhm-Putsch. Über die Bedeutung dieser Mordaktion herrschte in dieser Freundesrunde unmittelbar Einvernehmen, dass sie das kommende Unheil durch die neuen Gewalthaber ankündige. Auch auf Gretha Jünger wirkte die Nachricht „wie ein Fanal. Das Menetekel erschien damit in seinen ersten deutlichen Zügen an der Wand des Palastes. Hierüber sprachen wir eindringlich“, wobei Jünger offenbar Dinge prophezeite, „die sich mit einer grausamen Konsequenz bewahrheiten sollten“. Sie zeigte sich erneut erleichtert, Berlin bereits verlassen zu haben, um „nicht wiederum neuen Unbilden ausgesetzt zu sein, die mit jedem Sturz und jedem Wechsel unweigerlich verbunden zu sein schienen. Goslar blieb frei davon.“98 Während ihres anschließenden Aufenthaltes auf Sylt verfolgten die Jüngers mit Schrecken, dass die Ermordung Röhms, zahlreicher weiterer SA-Mitglieder, unliebsamer Politiker und des letzten Reichs­ kanzlers der Weimarer Republik, Kurt von Schleicher und seiner Frau, bei den Badegästen „erst einen Augenblick des Entsetzens und dann der Begeisterung hervor[rief ]“.99 Jünger schrieb Schmitt kurz zuvor, dass „trotz des Bade-Betriebes das Gemüt mit einer fruchtbaren Melancholie“ erfüllt sei; überdies finde er „[d]ie politische Stellungnahme der Bade­ 96  Schmitt war zum 1.6.1934 von Hans Frank die Herausgeberschaft der DJZ übertragen worden; siehe Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), Sp. 689–691. Carl Schmitt, Der Weg des deutschen Juristen, in: Deutsche Juristen-Zeitung 39 (1934), Sp. 691–698 (Sp. 691, 695), wieder in Schmitt, Schriften 1933–1936 (Anm. 87), S. 165–173 (S. 166, 171). 97  Pfaffendorf war von 1958–1968 Oberbürgermeister von Goslar. 98  S, S. 184. 99  So Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger am 8.7.1934, zit. in: Jan Robert Weber, Ästhetik der Entschleunigung  – Ernst Jüngers Reisetage­ bücher (1934–1960), Berlin 2011, S. 132.

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gäste […] sehr amüsant, – es gibt wohl kaum einen tolleren Pöbel als den, der jedes Jahr in den Strandkörben zusammenkommt. In den letzten beiden Jahren habe ich politisch mehr gelernt als in den 37 vorhergehenden. Wir lassen doch allmählich die Moderne hinter uns“.

Neben dieser wie eine Einladung zur Stellungnahme wirkenden Sentenz heißt es etwas enigmatisch im gleichen Brief: „Meine Frau beschäftigt sich jetzt damit, Argumente gegen Weininger zu sammeln. Außer dem Datum des Selbstmordes sieht sie im Falle der Frau v. Schleicher eine neue Bestätigung.100 Ich finde diese Braunjungen sehr nett; sie hatten jedenfalls schon den einen Erfolg, mir Weininger sehr widerlich zu machen.“101

Jünger evoziert mit der Verbindung von Weininger und Frau von Schleicher die antiliberale Stoßrichtung des Philosophen102 und lässt erkennen, dass er  – wie es den Pressemeldungen der ersten Wochen nach dem ‚Putsch‘ entsprach – von einem Selbstmord des Ehepaares ausging; seine Anspielung auf die braune Uniform der SA deutet Distanz zur Mordaktion an und rückt die vielfach kolportierte Homosexualität Röhms und anderer SA-Mitglieder als Ursache in den Blick.103 100  Der Philosoph Otto Weininger, mit dem sich Gretha Jünger zeitlebens intensiv beschäftigte, veröffentliche 1903 seinen erfolgreichen Bestseller Geschlecht und Charakter, in dem er ausgeprägt misogyne und antisemitische Thesen aufstellte; Weininger erschoss sich dreiundzwanzigjährig nach dem großen Erfolg seines Buches am 4.10.1903 in Wien. 101  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 4.7.1934, in: Kiesel (Anm. 41), S. 35 f. (S. 36). 102  Weiningers Konnotationsfeld für Weiblichkeit ist lang: Frauen stehen für Unmoral, Gier, Luxus, Geld u. ä.; für Weiningers ausgeprägten Antisemitismus sind dies gleichermaßen Merkmale des von ‚Weiblichkeit durchtränkten Judentums‘. Frau von Schleichers erste Ehe wurde 1931 geschieden; ihre Trennung wurde als großer Skandal wahrgenommen, der politisch von den Nationalsozialisten genutzt wurde, um von Schleichers Integrität und seine Position bei Hindenburg in Frage zu stellen; siehe dazu: Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Neunter Band  1926–1937, hrsg. von Sabine Gruber und Ulrich Ott, Stuttgart 2010, S. 646 (Eintrag vom 20.  Juli 1935). Kessler berichtet, dass die Nationalsozialisten die Scheidungsakten durch einen Einbruch an sich gebracht haben und mit Erfolg versuchten, damit das hohe Ansehen Kurt von Schleichers als Berater von Hindenburg zu schwächen. 103  Eine der vielbeachteten Thesen Weiningers war die der prinzipiellen Bisexualität des Menschen.



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Trotz der zur Reaktion einladenden Äußerungen geht Schmitts Antwort mit keinem Wort auf Schleicher oder die Röhm-Aktion ein, sondern greift lediglich Jüngers Wort von der Überwindung der Moderne (Liberalismus und Parlamentarismus) auf, als die er die ‚Nacht der langen Messer‘ offenbar sah.104 Obwohl Schmitts offi­ zielle Reaktion auf die Mordaktion, sein Artikel Der Führer schützt das Recht, noch nicht im Druck erschienen war, wird kurz darauf erneute die Differenz zwischen beiden Parteien erkennbar: so berichtet Gretha Jünger an den nach wie vor auf Sylt weilenden Ehemann, dass ihre Gästerunde in Goslar über Carl Schmitt „nichts Gutes gesprochen [habe]. Namentlich Fischer war erbost“.105 Offenbar wurden auch jenseits der juristischen Fachöffentlichkeit Schmitts Posi­ tionen zum Rechtsstaat106 aufmerksam und kritisch verfolgt  – so auch von dem ebenfalls in Goslar anwesenden Gründer des Siedlinghauser Kreises, Dr. Franz Schranz, der in freundschaftlichem Kontakt mit Schmitt stand.107 Schmitts am 1.8.1934 in der DJZ erschienene Verteidigung der Tötungsaktion nutzte er über den konkreten Fall hinaus als rechtspolitisch-praktisches Beispiel zur Debatte um den Rechts- oder Führerstaat mit klarem Votum für Letzteren.108 Er

Vgl. dazu Kiesel (Anm. 41), S. 500. Gretha Jünger an Ernst Jünger am 9.7.1934, in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 62 f. (S. 62); gemeint ist damit Hugo Fischer, anwesend waren ebenfalls der Arzt Franz Schranz sowie der Bildhauer Eugen Senge-Platten. Siehe dazu auch die Schilderung von Ernst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln/Berlin 1958, S. 243–245. 106  Schmitt hatte inzwischen an Gesetzesvorhaben der NS-Regierung mitgearbeitet, so im Anschluss an den „Preußenschlag“ bei der Gleichschaltung der Länder in Richtung ‚Reichsland-Lösung‘ am Gesetz über die Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (1933) sowie am Reichsstatthaltergesetz, Berlin 1933; zu letzterem siehe Schmitt, Schriften 1933–1936 (Anm. 87), S. 7–27. 107  Schranz votierte – in angenommener Übereinstimmung mit Schmitt – für einen autoritativen christlichen Staat. 108  Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13.  Juli 1934, in: DJZ 39 (1934), H. 15 vom 1.8.1934, Sp. 945–950, bzw. Schmitt, Schriften 1933–1936 (Anm. 87), S. 200–204. Siehe dazu auch die erhellenden Ausführungen von Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, Tübingen 2015, S. 338 ff. 104  105 

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schlug damit eine deutlich andere Tonart an, als sie bei den Jüngers vorherrschte; auch Freund Niekisch erinnert sich: „Jünger war der Aufsatz peinlich; er erzählte mir, er habe Schmitt mit allem Ernst darauf hingewiesen, daß er sich hier zu weit vorgewagt habe. Die Erinnerung an die Urheberschaft dieses Aufsatzes werde er nie mehr auslöschen.“109

Allerdings bleibt diese spannungsvolle Differenz in ihren gegenseitigen Briefen völlig unerwähnt  – lediglich im November 1934 vermerkt Jünger eine offenbar bestehende „Meinungsverschiedenheit“ und hofft, dass das beiderseitige Verhältnis „wohl einen gemeinsamen Ort besitzt, an dem eine solche Differenz gar keine Rolle spielt“.110 Trotz dieser Beschwörungsformel wird die Freundschaft während der Goslarer Jahre lediglich auf recht kleiner Flamme gepflegt und politische Untiefen im schriftlichen Austausch sorgsam ausgeblendet.111 Erst ein Jahr später, im Sommer 1935, findet sich im Rahmen des relativ spärlichen Briefwechsels zwischen den Briefpartnern Jüngers Feststellung, inzwischen seien „die Seebäder immer mehr zu großen Entpersönlichungs- und Gleichschaltungsmaschinen für das mittlere Bürgertum“ geworden.112 Doch Schmitt reagiert auch darauf so wenig wie auf Jüngers Äußerungen zur Röhm-Aktion. Im November 1936 setzen die Jüngers nach längeren Überlegungen ihren Entschluss in die Tat um, nach drei Jahren aus Goslar wieder wegzuziehen und sich in Überlingen in der südlichen Landschaft des Bodensees niederzulassen. Jünger ging wie stets während eines Umzuges auf Reisen, solange Gretha Jünger in Überlingen das sog. Weinberghaus und den Ortwechsel dorthin im Dezember 1936 organisierte. In diesem mediterranen Städtchen am See fühlte sie 109  110 

S. 42.

Niekisch, Leben (Anm. 105), S. 244. Ernst Jünger an Carl Schmitt am 11.11.1934, in: Kiesel (Anm. 41),

111  Die spärlichen Briefe drehen sich meist um Lektüren zu allgemeinen Themen; Ernst und Friedrich Georg Jünger besuchten Schmitt an einem Nachmittag am 29.8.1934, siehe Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 351 (Eintrag vom 29.8.1934). 112  Ernst und Gretha Jünger an Carl Schmitt am 9.7.1936, in: Villinger/ Jaser (Anm. 2), S. 28 f. (S. 28). Die Familie Jünger hielt sich in Timmendorfer Strand auf.



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sich spontan wohl; auch während dieser Überlinger Jahre (1936– 1939) blieb der Kontakt zwischen Gretha Jünger und Carl Schmitt recht marginal, lediglich zwei Briefe von ihr sind überliefert.113 Sie orientierte sich in der Überlinger Zeit verstärkt an neuen Kontakten, u. a . dem Künstlerkreis in der Rehmenhalde, der zur sog. „Boheme am Bodensee“ gehörte;114 auch in Richtung Schweiz (so nach Basel und Zürich) pflegte sie Verbindungen und freundete sich mit der Romanistin, Kunstkritikerin und Übersetzerin Elisabeth Brock-Sulzer (1903–1981) an.115 Während der Überlinger Jahre und noch lange danach standen beide in freundschaftlichem Austausch über ihre Lebensumstände und Lektüren. Ein anhaltendes Thema war dabei die prekäre Lage des sogenannten schwachen Geschlechts – Brock-Sulzer schrieb an Gretha Jünger: „Wenn jemand später einmal Ihre Briefe lesen würde, z. B. eben diesen, den ich in der Hand gehabt habe, […] so würde man sicher eine geistige Haltung, die Sie an den Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts bewundern, auch bei Ihnen finden.“116 Sie spielt damit auf Gretha Jüngers Vorliebe für Lektüren an, zu denen etwa Droste-Hülshoff, aber auch Briefe und Erinnerungen der Lieselotte von der Pfalz gehörten, außerdem Marie de Rabutin-Chantal, Louise d‘Épinay, Sophie von La Roche sowie Caroline Schlegel, Rahel Varnhagen, Franziska von Reventlow und viele andere. Doch die Quintessenz ihrer Präferenz für die in diesen Werken lebendigen traditionalen Lebensformen fand sie in der Nachfolge Montaignes, den sie mit den Worten zitiert: „Da ich mich in diesem, meinem Jahrhundert, nicht mehr zurechtfinde, flüchte ich mich in 113  Gretha Jünger an Carl Schmitt vom 27.4.1937, 9.1.1939, vgl. Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 29 f., S. 30 f., von Ernst Jünger dagegen sind insgesamt 14 Briefe und Postkarten überliefert. 114  Den Grundstein zur Künstlerkolonie legte das Haus am Regenbogen von Margarete und Robert Binswanger; siehe dazu Manfred Bosch, Bohème am Bodensee. Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, 3. erw. Aufl., Lengwil 2007. 115  Beide lernten die Jüngers über Ernst Niekisch kennen, vgl. Niekisch, Leben (Anm. 105), S. 272; Elisabeth Brock-Sulzer veröffentlichte 1936 eine vergleichende Abhandlung u. d. T. Ernst und Friedrich Georg Jünger, in: Schweizer Monatshefte 15 (1935–1936), S. 621–632. 116  Elisabeth Brock-Sulzer an Gretha Jünger am 23.11.1939, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 193.

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die vergangenen zurück“.117 Wobei ihre Sehnsucht in erster Linie einer landadligen Lebensweise in einer stratifikatorisch ausdifferenzierten Umgebung galt und einem vor-romantischen Verhältnis der Geschlechter, welches sie die alte „natürliche Einheit“ nannte: sie kannte zwar eine klare Rollenverteilung, doch keine damit verbundene Asymmetrie der Wertschätzung. Diesen Traum träumte sie im Verlauf ihres Lebens mit Ernst Jünger lange Jahre vergebens: Nicht nur ihre eigene Prägung stand dem immer wieder entgegen, sondern auch die ehelichen und kulturellen Rahmenbedingungen waren kaum dazu angetan, an ihrer Lebenslage etwas zu verändern. Die Folgen des Ersten Krieges118 und der erneute Kriegsbeginn 1939 verschärften die ohnehin bestehende Rollenund Wertedifferenz zwischen den Geschlechtern, was auch bei Gretha Jünger nicht ohne Wirkung blieb; so setzte sie im Dezember 1939 – Ernst Jünger befand sich inzwischen an der Westfront  – mit BrockSulzer das Gespräch fort, doch nun deutlich pessimistischer gestimmt: „Um noch etwas zu ‚unserem Thema‘ zu sagen: Ja, die Fehler der Männer sind oft hart und böse zu tragen, aber ich frage mich oft, ob in der vielfachen Belastung der Frau nicht ein Urteilsspruch der Natur zum Ausdruck gebracht wird. Da sie in all ihren Schöpfungen von so hoher Weisheit ist, geraten wir vielleicht nicht unverdient an diese Stelle zweiter Rangordnung. Dies ist ein schwacher Trost, er hilft uns wenig.“119

Selten lässt sie sich von der Macht der herrschenden Ordnung derart überwältigen, doch die mit Kriegsausbruch erneut naturalisierte Geschlechter-Polarität hatte zur Folge, dass auch die  – von Jüngers Dominanzverhalten und Daueraffären ohnehin geplagte  – eigenwillige Gretha Jünger begann, mit Selbstzweifeln zu kämpfen. Ernst Jüngers alltäglicher Beitrag dazu wird offenkundig, wenn sie an ihn über Brock-Sulzer schreibt: „[S]ie ist eine prächtige Frau; 117 

P, S. 15 f. (S. 16) (Eintrag vom 26.  Oktober 1937). Bereits infolge des Ersten Weltkrieges galten die Frauen als schädlich für das Kriegshandwerk: Nach der populären sog. Dolchstoßlegende lag die Schuld am verlorenen Krieg ganz wesentlich an der Demoralisierung der kämpfenden Truppe durch die Heimatfront, hier vor allem an den über den Krieg und seine Folgen klagenden Frauen. 119  Gretha Jünger an Elisabeth Brock-Sulzer am 12.12.1939, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 193. 118 



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wären Deine Verehrerinnen so beschaffen, wäre ich glücklicher darüber“.120 Dabei ging es ihr weniger um die tabuisierte Frage ehelicher Treue, sondern vor allem um die neusachlich-herablassend, distanziert-kalte Atmosphäre, die der „Gebieter“ in Folge seiner „Tief­­see Tauchabenteuer“ – so Gretha Jüngers spöttische Kennzeichnung seiner Affären  – im Familienkreis verbreitete. In den Überlinger Jahren wurde die Situation für sie zusätzlich dadurch belastet, dass sich Jünger angesichts der immer konkreter werdenden Bedrohungswahrnehmung bereits im Januar 1937 dazu entschloss, das politische Gespräch gänzlich zu vermeiden und auch ihr völlige Abstinenz von jedweder politischen Äußerung auferlegte. Der Wegfall dieser Äußerungsform im Verhältnis zu Carl Schmitt – zumindest in brieflicher Form  – mag mit zu diesem Entschluss beigetragen haben. Doch Jünger forderte von Gretha zugleich ein, dafür Sorge zu tragen, dass die Harmonie innerhalb des Hauses davon gänzlich untangiert bleibt.121 Der damit einhergehende „Nervenverschleiß“, den die ständige Anspannung zwischen depressivem Rückzug (Ernst Jünger) und emotionaler Explosion (Gretha Jünger) mit sich brachte, bewog die Jüngers bald, erneut den Wohnort zu wechseln und wieder in den heimatlichen Norden zu ziehen  – diesmal nach Kirchhorst in ein renovierungsbedürftiges „ländliches Pfarrhaus mit 14 Zimmern und grossem Garten“, wie sie Carl Schmitt im Januar 1939 ankündigte.122 Als Umzugsgrund nannte sie Schmitt  – ganz unpolitisch  – das feuchte Klima am See, tatsächlich aber wollte Jünger angesichts der heraufziehenden Kriegsgefahr in der Nähe seines alten Regiments in Hannover sein.123 Und Gretha Jünger erhoffte sich, in dem großen 120  Gretha Jünger an Ernst Jünger am 6.11.1939, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 194. 121  Siehe dazu Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 202. Die RhodosReise der beiden Jünger-Brüder im Mai 1938 brachte ihr eine vorübergehende Entlastung von dieser Atmosphäre. 122  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 9.1.1939, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 30 f. (S. 31). 123  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 9.1.1939, in: Villinger/Jaser (Anm. 3), S. 30 f. (S. 31); mit dem Begriff „Klima“ meint Gretha Jünger weniger die meteorologischen Eigenarten einer Landschaft, sondern die

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Kirchhorster Anwesen endlich ihren alten landadligen Traum von autarker Versorgung verwirklichen zu können, der mit der absehbaren Knappheit von Lebensmitteln von durchaus praktischer Bedeutung war. Trotz des Zustandes des verwahrlosten Pfarrhauses konnte Ernst Jünger bereits am 3.  April 1939 in seinem Tagebuch notieren: „Im neuen Haus zum ersten Mal gearbeitet“. Ab Frühsommer 1939 stellte sich in Kirchhorst wieder der Besucherstrom der Berliner Jahre ein, auch der Kontakt zu den Schmitts intensivierte sich. Gretha Jünger schrieb an Duschka Schmitt: „Carl Alexander möchte mit seinem Patenonkel einen Spaziergang in den Wald machen, wohlausgerüstet mit seinen Käferflaschen und Gläsern, um ihm all die Insekten zu zeigen, die er sammelt. […] sein Vater behauptet, dass beide Söhne ein starkes väterliches Erbe aufweisen, der Älteste das kriegerische Element, der Jüngste neigt mehr zum Metaphysischen.“

Über den neuen Wohnort hält sie fest: „Wir leben recht einsam, in ländlicher Stille und Zurückgezogenheit, der große und prächtige Garten entschädigt uns für die vergangenen Freuden am unvergess­ lichen und sehr geliebten See-Ufer.“124 Schmitt scheint der Einladung nach Kirchhorst des Öfteren gerne nachgekommen zu sein; auch Gretha Jünger war in der Folgezeit nicht selten Gast im Hause Schmitts in Berlin – sie traf sich dort auch anlässlich der Fronturlaube mit dem Besatzungssoldaten Ernst Jünger, der sich mit Ende des sog. Sitzkrieges (Mai 1940) mit seiner Einheit der Wehrmacht nach Paris in Bewegung gesetzt hatte.

Atmosphäre von Umgebung und Lebenswelt, die für sie erneut (wie schon in Goslar) durch Ernst Jüngers libidinöses Umherschweifen massiv beeinträchtigt waren. 124  Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 4.6.1939, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-6923.

Gretha und die Klippenrunden in Berlin: Schmitts Exitstrategie des „Oberförsters“ (1939 f.) Die gemeinsamen Gespräche im Hause Schmitt während der ersten Kriegsjahre waren für Gretha Jünger eine wichtige Brücke zu Carl und Duschka Schmitt, aber auch zwischen ihr und dem Ehemann, wie sich am Beispiel der noch weitgehend in Überlingen entstandenen, Ende 1939 erschienenen, sehr erfolgreichen Marmorklippen zeigen lässt. Das klandestin an der Zensur vorbeigeschleuste Werk fand in der Presse starke Resonanz und hatte offenbar für einen breiten Leserkreis, der es als verdeckte Kritik an der Gewaltherrschaft der Nazis auffasste, eine Signalwirkung, die zur „Herausbildung von Widerstandsgesinnung“ beitrug.125 Die Befürchtungen im Hause Jünger waren daher nicht unerheblich; Gretha Jünger schrieb ihrem Ehemann, gegen die Marmorklippen sei die „alte ­Clique“ in Berlin „wieder […] am Werk“, die bereits 1936 „an den Afrik. Spielen Anstoß nahm; hoffentlich gelingt es, sie zum Schweigen zu bringen“.126 Am ersten Aprilwochenende 1940 besuchte Gretha Jünger Carl Schmitt in Berlin-Dahlem, der mit ihr dringend ein Gespräch über die Marmorklippen führen wollte.127 Da sie nicht wusste, welche 125  Siehe dazu ausführlich Helmuth Kiesel, Ernst Jüngers Marmor-Klippen. „Renommier“- und „Problem“buch der 12 Jahre, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), H. 1, S. 126–164, sowie ders., Biographie (Anm. 35), S. 461–481. Die NS-gesteuerte Presse erwähnte das Buch offenbar nur knapp. Dass es bis in den Kreis der „Weißen Rose“ hinein wirkte, geht vermutlich auf Richard Scheringer zurück, der die Jüngers bereits in Goslar aufsuchte und auf dessen Bauernhof sich die Geschwister Scholl versteckt hielten, siehe Villinger, Unsicht­ bare Frau (Anm. 5), S. 367 f. 126  Gretha Jünger an Ernst Jünger am 23.3.1940, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 213. 127  Siehe Gretha Jünger an Carl Schmitt am 29.3.1940, in: Villinger/Jaser (Anm. 2); vgl. auch Ernst Jünger an Carl Schmitt am 6.4.1940 sowie am 8.4.1940, beide in Kiesel (Anm. 41), S. 90 f., S. 91.

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Positionen sie bei der dazu eingeladenen Gesprächsrunde antreffen wird, nahm sie sich größte Zurückhaltung und ihre Teilnahme als reine Beobachterin vor.128 Die große Verunsicherung der Jüngers, die mit diesem Werk im NS-Staat verbunden war, erstreckte sich demnach ganz offensichtlich als Imponderabilität auch auf Carl Schmitt. Dass dieser mit Argusaugen die Rezeption der Marmorklippen verfolgte, ja nicht ohne Deutungslust an deren Rezeption mitwirkte und die Interpretation auf politisch opportunes Terrain zu lenken versuchte, zerstreute schließlich ihre anfänglichen Bedenken, wie aus ihrem Brief vom übernächsten Tag an Ernst Jünger hervorgeht: „Ich schreibe Dir aus Berlin, wo ich auf das Beste bei Schmitts unter­ gebracht bin; der Empfang war sehr herzlich, ich musste kommen, weil man mir sehr viel über die Marmorklippen zu berichten hatte. Die verschiedenen Briefe und Mitteilungen gingen C. S. zu, das Aufsehen über dieses Buch ist so gross, dass ich es Dir im Einzelnen kaum schildern kann. Wir haben an den beiden vergangenen Abenden diese Briefe gemeinsam durchgelesen, u. a. von dem Prinzen Rohan, einem jungen Theologen namens Müller, letzterer scheint mir am Besten durchdacht zu sein. C. S. lässt mir eine Abschrift hiervon machen, ich werde sie Dir senden. Professor Weber, Prof. Jessen, und ein jüngerer Mitarbeiter von Ribbentrop waren mit anwesend, und zählen zu Deinen Verehrern. Bis tief in die Nacht saßen wir bei den besten Weinen zusammen, und es wurde über nichts anderes gesprochen. Wie ich erfahre, hat auch Adolphus im kleinen Kreise sein Urteil abgegeben; es galt jedoch in der Hauptsache den Kriegsbüchern, und das im lobendsten Sinne.129 Es ist mir nicht leid, diese wenigen Tage nach hier gekommen zu sein, sie gaben mir doch über Manches Aufschluss. Deine Gemeinde ist zahlreich, und ständig im Wachsen begriffen, man begegnet Deiner Frau mit so viel Ehrfurcht, dass es mir zu viel des Guten scheint, denn sie ist bei mir nicht angebracht; ich rette mich stets in das Menschliche, Allzu-Mensch­ liche.“130

128  Angesichts ihres hochemotionalen Temperamentes verhielt sie sich, wie der weitere briefliche Austausch dazu dokumentiert, jedoch keineswegs als passive Zuhörerin. 129  Adolphus = Adolf Hitler; mit den Kriegsbüchern sind vor allem gemeint: „In Stahlgewittern“ (1920), „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (1922); „Das Wäldchen 125“ (1925) und „Feuer und Blut“ (1925); die Kolportage von Adolf Hitlers Aussage geht vermutlich auf Wilhelm Grewe zurück, siehe Anm. 138 und 140.



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Welchem Nietzsche-Kapitel ihr rettender Rückzug galt, bleibt ihr Geheimnis, doch die (virtuellen und realen) Mitglieder der Gesprächsrunde legen die Vermutung nahe, dass das Deutungs-Spiel der Marmorklippen für Gretha in dieser Runde zunächst ein politischer Balanceakt auf Messers Schneide war: Der österreichische Schriftsteller und Vertreter eines neo-aristokratischen Europas nach 1918, Prinz Karl Anton Rohan (1898–1974), mit seinem elitär-konservativen Konzept des Abendlandes, war bereits sehr früh ein überzeugtes NSDAP-Mitglied; er begrüßte den Anschluss Österreichs und trat für eine Annäherung von Christentum und NS ein, gründete 1925 die Europäische Revue, die ab 1933 massiv von Goebbels beeinflusst und bis 1944 als unauffällige Auslandspropaganda finanziert wurde. Allerdings geriet Rohan bereits ab Ende 1937/38, trotz Parteimitgliedschaft und „SS Zugehörigkeit in niedrigen Rängen […] durch seine katholisch-österreichischen Bindungen“ und seine Warnungen vor einem erneuten Krieg, politisch ins Abseits.131 Werner Weber (1904–1976) war ab Mai 1933 NSDAP-Mitglied und als Referent im preußischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, ab 1934 im Reichskulturministerium tätig. 1936 wurde er Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und übernahm eine Professur für öffentliches Recht an der Wirtschaftshochschule Berlin. Da er sich im Laufe der Jahre gegen die zunehmende Politisierung von Recht und Verwaltung wandte, kam er ab 1939/1940 u. a. mit dem Reichssicherheitshauptamt in Konflikt. Jens Jessen (1895–1944), bereits seit 1930 NSDAP-Mitglied,132 war ab 1933 Professor und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, wo er „eine rassistische und antidemokratische Personalpolitik“ verfolgte und Anstrengungen 130

130  Gretha Jünger an Ernst Jünger am 5.4.1940, in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 142–144 (S. 142); sie hielt sich sechs Tage bei Schmitts in Berlin auf. 131  Guido Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, S. 227. 132  Jens Jessen druckte das Programm der NSDAP im vollen Wortlaut ab, in: ders., [Artikel] Sozialistische Ideen und Lehren. II. Nationalsozialismus, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in drei Bänden, hrsg. von Ludwig Elster, 4., völlig umgearbeitete Auflage Jena 1931–1933, Bd. 3: Reichsfinanzen – Zwecksteuern, S. 341–359 (S. 354–356).

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unternahm, „das bisher liberale Institut zu einer Kaderschmiede für NS-nahe Ökonomen umzubauen“.133 Im Nationalsozialismus suchte er eine „Synthese von nicht nur bürgerlichem Nationalismus und einem neuen, nicht nur materiell bestimmten Sozialismus“, wandte sich jedoch bald gegen die NS-Idee eines „Binneneuropa unter deutscher Führung“ und forderte 1939 das Recht auf Diskussionsfreiheit aller Völker.134 Bald versuchte er die Gruppe Wirtschaftswissenschaften der Akademie für Deutsches Recht zunehmend „im Sinne des Widerstandes gegen die Parteidoktrin zu beeinflussen“; ab Herbst 1939 war er Mitglied der nationalkonservativen Mittwochsgesellschaft, wo er aktiv an den Vorbereitungen des Attentats am 20.  Juli 1944 teilnahm; er wurde am 30.11.1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.135 Bei dem von Gretha Jünger erwähnten jüngeren Mitarbeiter von Ribbentrop handelt es sich um Wilhelm Grewe (1911–2000), der vor Ribbentrops Ernennung zum Reichsaußenminister bei der Dienststelle Ribbentrop als einer von „wenigen und sorgfältig […] aus­ gewählten“ Mitarbeitern für „begrenzte Sonderaufgaben“ zuständig war; danach arbeitete er als Völkerrechtsreferent und Mitarbeiter von Prof. Friedrich Berber (1898–1984) dem Ministerium Ribbentrops unmittelbar zu.136 Berber hatte im RAA den Rang eines Gesandten und war – als Leiter eines neu organisierten Institutsverbundes137  – einer der engsten Berater Ribbentrops für dessen Propa­ 133 

. Anlässlich der Übernahme der Redaktion von Schmollers Jahrbuch. 135  Walter Braeuer, Jessen, Jens, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S.  424 f. [Online-Version]. 136  Hermann Weber, Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Hamburger Institut für Auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, in: Klaus Jürgen Gantzel (Hrsg.), Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht, Berlin und Hamburg 1986, S. 185–425 (S. 276 f.). 137  Es handelt sich um die Deutsche Informationsstelle und das Deutsche Institut für außenpolitische Forschung  – bei beiden Einrichtungen gab es keine Trennung zwischen Wissenschaft und Propaganda; ihre Aufgabe bestand in der Herausgabe von Büchern, Zeitschriften, Broschüren etc., die mit völkerrechtlichem Anstrich „die NS-Außenpolitik publizistisch flankierten“, so Peter Longerich, Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des 134 



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gandaapparat.138 Grewe dürfte in diesem Umfeld auch mit Hitlers Meinung um Ernst Jüngers Kriegsbücher, die in dieser Ämterkon­ stellation vermutlich Teil  des allgemeinen Rumors war, bestens vertraut gewesen sein. Carl Schmitt kannte und schätzte Grewe als Schüler und Doktorand von Forsthof, ab 1931 wird er in seinen Tagebüchern auch als abendlicher Gast des Hauses erwähnt.139 Vertraut waren Grewe auch die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger aus dem „Zirkel um die Brüder Gerhard und Albrecht Erich Günther“, sowie dem TaT-Kreis.140 Obwohl für Gretha Jünger die anwesenden Personen im Frühjahr 1940 politisch zunächst nicht leicht einzuordnen waren, nahm sie doch bald mit Vergnügen am sich entfaltenden Spiel der Deutungen teil. Auch Carl Schmitt fand Gefallen daran, den allgemein vermuteten antifaschistischen Gehalt des Renommierbuchs der 12 Jahre, wie Thomas Mann die Marmorklippen nannte, auf die Beschränktheit des „verbreiteten Schlüsselroman-Leser[s]“ zurückzuführen.141 Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop, München 1987, S. 52 f., sowie Weber, Rechtswissenschaft (Anm. 136), S.  280 ff. 138  Grewe erinnert Carl Schmitt mit Brief vom 29.12.1950 an einen Abend mit Gretha Jünger in Berlin-Dahlem, dem Ort des Klippen-Gesprächs, siehe Carl Schmitt/Duschka Schmitt. Briefwechsel 1923 bis 1950, hrsg. von Martin Tielke, Berlin 2020, S. 403. Für diesen Hinweis danke ich Angela Reinthal. 139  Siehe dazu die Einträge Carl Schmitts am 23.11.1931, 17.12.1931, 12.6.1932, in: ders., Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 147, S. 157, S. 196. 140  Der Zirkel unterhielt eine enge Querverbindung zum „Tat“-Kreis und zu Carl Schmitt, siehe: Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, S. 46; siehe auch: Ernst Jünger und Grewe 1943 im Hotel „Raphael“ in Paris über Günther: Jünger, Tagebuch (Anm. 74), S. 53–54 (S. 53) (Eintrag vom 28.4.1943). Grewe initiierte vermutlich auch den Kontakt zwischen Ribbentrop und Jünger auf Schloss Fuschl im August 1939, mit dem er zur Mitarbeit an der französischen Auslandspropaganda gewonnen werden sollte; siehe: Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 211 f. 141  Schmitt schrieb im März 1940 an Jünger, dass er in einem Gespräch mit dem jugoslawischen Gesandten Andric erwähnte, er pflege die Schlüsselroman-Leser der Marmorklippen „zu épatieren“, indem er behaupte, „der Oberförster sei der Fürst Bismarck“. Jüngers Replik hielt fest: „Die Version mit dem Fürsten Bismarck ist nicht übel, und auch nicht Version allein; wir

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Zu seinem eigenen Amusement bot er dieser Leserschaft mit dem Hinweis, der „Oberförster sei der Fürst Bismarck“ der Marmorklippen, absichtsvoll eine glaubwürdige und politisch unschädliche Deutungsversion an, da die Nationalsozialisten sich selbst des Mythos Bismarck bedienten, um die national-konservativen Bevölkerungsschichten für sich einzunehmen.142 Glaubwürdig schien diese Deutung überdies, weil der Oberförster der Marmorklippen  – ähnlich wie Bismarck selbst  – über Jagdreviere und ausgedehnte Wälder verfügte, die der Alte vom Sachsenwald 1871 als Geschenk von Wilhelm I. für seine Verdienste erhielt; sie wurden ihm bald zum hochgeschätzten Zentrum seines Privatlebens.143 Nicht zuletzt meinte der in Forstangelegenheiten recht kenntnisreiche Bismarck, dass er selbst „ein ganz brauchbarer Oberförster geworden“ wäre, was ihm schließlich diesen Beinamen eintrug.144 Eine vollständige Lektüre der Marmorklippen lässt jedoch erkennen, dass das Vexierbild des Oberförsters deutlich andere Merkmale als Bismarck aufweist: Es sind die eines Tyrannen, dessen Agenten sich in Gerichte und Amtsstuben einschleichen, die sich an Schinderhütten und Stankhöhlen ergötzen, in denen die Menschenwürde geschändet und namenlose Angst und Schrecken verbreitet werden.145 sprachen schon einmal in Goslar anläßlich der ersten Conception des Oberförsters davon“, siehe dazu Carl Schmitt an Ernst Jünger [März 1940], in: Kiesel (Anm. 41), S. 88 f., sowie Ernst Jünger an Carl Schmitt am 6.4.1940, in: Kiesel (Anm. 41), S. 90 f. (S. 90). 142  Carl Schmitt an Ernst Jünger im März 1940, in: Kiesel (Anm. 41), S.  88 f. 143  Überdies findet sich die Figur des Oberförsters bereits in der 2. Fassung des „Abenteuerlichen Herzens“ von 1934, siehe dazu Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, hrsg. von Gerd Giesler und Martin Tielke, Berlin 2015, S. 428 f. 144  So die Bezeichnung Bismarcks in der deutschsprachigen Ausgabe der Pariser Zeitung vom 30.7.1943; Dank an Gerd Giesler für den Zeitungsausschnitt mit Signatur von Ernst Jünger. Carl Schmitt erschien Bismarcks Politik 1866 und seine Versöhnung mit den Liberalen als ein „sehr hoher Grad von Oberförsterei“, in: BW Carl Schmitt an Ernst Jünger am 9.12.1943, in: Kiesel (Anm. 41), S. 175 f. (S. 175). 145  Siehe dazu auch Martin Tielke, Der Schmerz als Währung unserer Zeit: Ernst Jünger in Wilhelmshaven, in: Tota Frisia. Hajo van Lengen zum



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Sie sind von Jünger eher als Vertreter eines überzeitlichen Prinzips des Bösen entworfen, wobei der datierte Entstehungsvermerk das Werk durchaus zeitlich verortet. Erkennbar bleibt bei Jüngers Schilderungen seine permanent schwankende Gratwanderung zwischen „Pflicht zur Zeugenschaft und dem Wunsch nach Tabuisierung“.146 Die Bismarck-Interpretation Carl Schmitts begrüßte er mit Nachdruck, da sie das Buch aus der politischen Schusslinie zu bringen suchte; er forderte deshalb auch seine Frau Gretha auf, die Carl Schmittsche Bismarck-Interpretation zu übernehmen. Da für sie der öffentliche Rumor um den politischen Gehalt der Marmorklippen das eigentliche Problem war, bemühte sie bereits vor ihrem Besuch bei Schmitt das Argument, es handle sich dabei um einen grundlegenden Irrtum, denn das Werk spiegele keine äußere Realität, sondern lediglich das Innere des Autors. Der am KlippenAbend ebenfalls diskutierte Brief des Theologen Hans Michael Müller,147 den Gretha so beifällig hervorhebt, schließt direkt an ihr Deutungsmuster an: demnach seien die Marmorklippen eine Spie­ gelung des Dichters von bildhaften inneren Ereignissen und deren Welt „ein Inbegriff von Traum, Rausch und Genuß“. Auch Müllers weiteres Argument fand ihren ganz persönlichen Beifall: In Jüngers rauschhaft geschauter Üppigkeit sei kein Platz für das Alltägliche wie die „Geschöpflichkeit Weib“ zu finden  – sie komme lediglich in einer „Reihe von Weinsorten, Rassehunden und blühenden Gärten“ vor; das zeuge zwar von einer „vornehmen“ Genusshaltung Jüngers, 65. Geburtstag, Aurich 2005, S. 409–446 (S. 426). Manche Leser sahen „hinter dem Oberförster nicht (nur) Hitler oder Göring, sondern (auch) Stalin“; dass der Roman eine „über das Dritte Reich hinausreichende[…] Modellhaftigkeit“ besitze, erfüllte Jünger offenbar mit Befriedigung, so ­Kiesel, Marmor-Klippen (Anm. 125), S. 132. 146  Ehrke-Rothermund/Rothermund, Zwischenreiche (Anm. 43), S. 346, Anm. 25. 147  Der evangelische Theologe Hans Michael Müller (1901–1989) habilitierte 1929 in Jena, begrüßte u. a . die Lateranverträge Mussolinis (1929), die Machtergreifung Hitlers, erklärte 1934 Karl Barth zum „Staatsfeind“ und beruft sich auf Georges Sorel, der den Antisemitismus „als eine natürliche, urwüchsige, soziale Reaktion“ bezeichnet, so Hans Michael Müller, Äußere und innere Voraussetzungen der Lage, in: ders., Was muß die Welt von Deutschland wissen? Nationale Revolution und Kirche, Tübingen 1933, S. 5–17, sowie ders., Vom Staatsfeind, Hamburg 1934.

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verfehle jedoch die Lebens-Wirklichkeit.148 Dass sie in dieser Analyse Müllers präzise ihre eigene Situation gespiegelt sieht, teilt sie ihrem Ehemann noch von Berlin aus mit: „Der Vorwurf, den man fast allgemein gegen Dich erhebt, ist der, dass Du das Weibliche in Deinem Leben ausschaltest, und keine Beziehung zu der Frau besitzt. (Dies von den Lesern der Klippen, die Dich nicht persönlich kennen.) Selbst der Rausch sei bei Dir Ausdruck des Aesthetischen, und so fort. Man will nicht glauben, dass Du Frau und Kinder besitzt, und ist erst dann überwunden, wenn man es bestätigt erhält. Dann allerdings ist man zufrieden, bedauert jedoch diese unbekannte Frau von Dir, weil man annimmt, dass Du in Deiner Kühle keinen warmen und menschlichen Weg zu ihr findest.“149

Obwohl sie diese Klage bei Jünger zu recht führte, versuchte sie Carl Schmitt gegenüber  – auch um den Preis eigener Selbstverleugnung – ein gänzlich anderes Erscheinungsbild ihres Mannes aufrecht zu erhalten. Sie schreibt Schmitt nach ihrer Rückkehr aus Berlin: „Den Brief Michael Müllers habe ich noch einmal gelesen, er ist mir angenehm, wenngleich ich den wesentlichen Vorwurf darin als allzu christlich ablehnen muss.“ Und fährt fort: „Ist diese Geschöpflichkeit ‚Weib‘ so wichtig? In einem Leben, wie wir es bei E. J. vor Augen haben, kann und darf die Frau nicht diese mir zu allgemeine Bedeutung finden; gewiss ist er einsam, aber gerade in dieser Einsamkeit liegt seine besondere Kraft. Ich werde sie immer zu achten wissen, denn ein jeder Lösungsversuch würde eine Schwächung für ihn bedeuten.“150

Diese überraschend selbstlose Ankündigung, die auch den Geist des Krieges widerspiegelt, konnte sie im weiteren Verlauf nicht 148  Hans Michael Müller an Carl Schmitt am 28.3.1940, zit. in Villinger/ Jaser (Anm. 2), S. 188. 149  Gretha Jünger an Ernst Jünger am 5.4.1940, in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 142–144 (S. 143). Eine ähnliche Reaktion findet sich bei Heinrich Böll, den die Marmorklippen offenbar sehr beschäftigten. In einem Brief an seine Frau schreibt er, er vermisse in den Klippen „eine würdige und christliche Einordnung der Frau in die Welt“, so Kiesel, Biographie (Anm. 35), S. 475. 150  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 17.5.1940, sowie Brief Hans ­Michael Müller an Carl Schmitt vom 28.3.1940, beide in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S.  39 f., S.  187 f.



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durchhalten: weder den Verzicht einer Loslösung, noch die bedingungslose Parteinahme für den „Eheherrn“.151 Während der Kriegsjahre idealisierte Gretha Jünger erneut ihre Vorliebe für das landadlige Leben auf dem Dorf, da es ihr die Option einer nahezu autarken Versorgung mit Nahrungsmitteln in schwieriger Zeit bot. Dennoch vermisste sie neben diesem naturnahen, oft recht einsamen Leben in der abgelegenen Pfarrhausinsel Kirchhorst das kulturelle Leben der Stadt (Caféhäuser, Theater, Oper), in der sie bisher die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Vor allem fehlten ihr im inzwischen recht leer gewordenen Haus die Gespräche mit Freunden; sie schätzte deshalb ganz besonders die Besuche bei Duschka und Carl Schmitt in Berlin, wo sie jederzeit ein willkommener Gast war. So genoss sie sehr ihren sechstägigen Klippen-Aufenthalt‚ bei dem ihr neben den abendlichen Gesprächen von Carl und Duschka Schmitt ein geselliges Programm geboten wurde: Am Abend nach ihrer Anreise am 4.4.1940 traf sich zunächst die Klippen-Runde zum Gespräch mit Wilhelm Grewe, Jens Jessen und Werner Weber; nach deren Verabschiedung zu später Stunde wurde der Austausch noch länger in kleiner Runde fortgeführt. Für den nächsten Tag erwähnt Gretha die Begegnung mit dem begeisterten Jünger-Leser Ivo Andric (1892–1975), Schriftsteller und Gesandter des Königreiches Jugoslawien;152 am Samstag-Abend, den 6.4.1940, folgte eine Weinprobe im Weinhaus Uhl, an der neben Gretha Jünger, Carl und Duschka Schmitt, Jens Jessen mit seiner Frau Käthe, sowie der Mussolini-Vertraute, der italienische Generalkonsul Gino Scarpa (1904–1954), gleichfalls ein Jünger-Verehrer, teilnahmen. Als Mussolini-Vertrauter bereiste Scarpa des Öfteren Deutschland, um „mit allen deutschen Oppositionsgruppen in Füh151  Grethas widersprüchliche Argumentation ist Ausdruck zeittypischer Geschlechterasymmetrie, die den Frauen eine permanente Schaukelbewegung zwischen Wunsch nach Respekt und Anerkennung einerseits und realer Abhängigkeit, Unsichtbarkeit und Unterordnung andererseits abverlangte. 152  Der spätere Literatur-Nobelpreisträger (1961) war von 1939 bis 1941 außerordentlicher Gesandter des Königreiches Jugoslawien in Berlin, siehe Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S.  32 f.

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lung zu treten, […] aber auch alle politisch führenden Nationalsozialisten zu besuchen“; er traf Ribbentrop ebenso wie Ernst Jünger und war auch für Schmitt kein Unbekannter.153 Am Sonntag wurde eine kleine Jünger-Gemeinde zum Mittagstisch bei Schmitts eingeladen: Es waren die Maler Werner Gilles (1894–1961) und Werner Heldt (1904–1954), einige Offiziere sowie ein Neffe von Popitz; am Nachmittag war sie mit Schmitts zu Gast bei der deutsch-italienischen Gesellschaft, bei der „köstliche Weine und Schinken“ gereicht wurde, wie Gretha Jünger in diesen kargen Zeiten nicht ohne Vergnügen anmerkt.154 Da den Gastgebern am Abend in der Staatsoper die Loge von Popitz zu Verfügung stand, verlängerte sie ihren Aufenthalt und kehrte erst am darauffolgenden Montag wieder nach Kirchhorst zurück. Das sonntägliche Tischgespräch im Hause Schmitt drehte sich  – so Gretha Jünger  – um „die Maschinerie des Staates, dieses Meisterwerkes, dessen sich der Mensch zu seiner individuellen Vernichtung bedient, dessen einzelne Funktionen er sinnreich durchleuchtet, ohne die geheime Tür für sich, aus der er entschlüpfen kann, mit einzuordnen. Ist er ein Deutscher, so wird er sie, falls er sie überhaupt wahrnimmt, noch mit einem Doppel­ riegel versehen; so weit geht seine Gläubigkeit.“155

Die angemahnte „geheime Tür“ fand die Klippen-Runde in der Chiffre Bismarck; demgegenüber unterliege das Verhalten der Massen den „finsteren Dämonen“,156 wie Gretha Jünger im Blick auf 153  Niekisch, Leben (Anm. 105), S. 268 f., sowie Michael Frederik Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten: Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904–1987), Berlin und Münster 2007. Einige Tage später, am 13.4.1940, war Scarpa erneut Gast bei Schmitts, siehe P, S. 38 f. (S. 38) (Eintrag vom 13.  April 1940). 154  So lt. Gerd Giesler Duschka Schmitts Vermerk in ihrem Gästebuch. Beide Maler lernten sich 1936 kennen und schätzen. Schmitts erwarben u. a. ein Stilleben mit „toten Fischen“, wie Carl Schmitt zunächst verärgert bemerkte; siehe dazu auch Gerd Giesler, Carl Schmitt und die Künste in der Plettenberger Nachkriegszeit, Plettenberg 2010; ebenso die Einträge Carl Schmitts in den Tagebüchern 1930–1934 (Anm. 15). 155  Gretha Jünger, in P, S. 38 f. (S. 38) (Eintrag vom 13.  April 1940). Schmitt betont seine „geheime Tür“ in dem Brief an Ernst Jünger vom März 1940, siehe Kiesel (Anm. 41), S. 88 f. (S. 89). 156  P, S. 94–96 (S. 95) (Eintrag vom 10.  Juli 1944).



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Werner Heldts Kohlezeichnung Aufmarsch der Nullen (1933/1934) betont: Sie seien mit dem Verlust der Individualität ganz ihren Gefühlen preisgegeben und in diesem Zustand folgten sie willenlos einem idealisierten Führer  – einer Figur, die dem Maler eine tiefe Quelle von Angst war.157 Heldt, der sich von 1933–1936 wegen der NS-Kunstlenkung im Exil aufhielt, wurde bald nach dem Berliner Treffen im April 1940 zur ihm höchst verhassten Wehrmacht eingezogen  – damit wurde seine künstlerische Tätigkeit, mit der er vor allem im Bereich der Graphik Strategien des Widerstands realisierte, bis zum Ende des Krieges unterbrochen.158 Dass seine persönliche Situation – ähnlich der von Gilles – eine höchst prekäre war, notiert Gretha Jünger in ihrem Tagebuch: „Der Maler H., dessen abgerissene Kleidung in diesem kultivierten Hause seltsam genug wirkte, der sich jedoch in all seiner Armut mit großer Ungezwungenheit gab. Ein nobler Zug.“159 Carl Schmitt erwarb von Heldt u. a . die beiden Zeichnungen mit dem Titel Kleists Tod  I und Kleists Tod  II; der Suizid am Wannsee des für Schmitt „eigentliche[n] Dichter[s] des nationalen Widerstandes gegen den fremden Eroberer“, der die „größte Partisanendichtung aller Zeiten“160 schuf, war ihm sichtbares Fanal auch für die politische Lage in den Weimarer Jahren und da­ rüber hinaus.161

157  Siehe Werner Heldt, Einige Beobachtungen über die Masse (1935), in: Wieland Schmied, Werner Heldt. Mit einem Werkkatalog von Eberhard Seel, Köln 1976, S. 71–86; hier auch die Abb. der programmatischen, auch als „Aufmarsch der Nullen“ bezeichneten Kohlezeichnung Meeting (1935), S. 85. 158  Siehe dazu Verena Hein, Werner Heldt 1905–1954. Leben und Werk, München 2016, S. 21 f., S. 138–165. Heldt fürchtete überdies die Verfolgung wegen seiner Homosexualität; Mallorca musste er wegen des Spanischen Bürgerkrieges verlassen. 159  P, S. 38 f. (S. 39) (Eintrag vom 13.  April 1940). 160  Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen (1963), Berlin 1975, S. 15; siehe auch ders., Zwei Gräber, in: Ex Captivitate (Anm. 152), S. 35–53. 161  Schmitt erwarb von Heldt das Ölgemälde Rathaus in Berlin (1928) und die Zeichnungen Kleists Tod (1929) und Kleists Tod II (1930), letztere schenkte er 1959 Ernst Forsthoff, siehe Schmied (Anm. 157), Seel-Nr. 147 und Nr. 186, und Briefwechsel Ernst Forsthoff Carl Schmitt (1926–1974),

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Gleichermaßen beeindruckt war Gretha Jünger von Werner Gilles, wie sie nach ihrer Rückkehr an Duschka Schmitt schrieb: „Über die Bekanntschaft mit Gilles bin ich doch sehr froh; er strahlt eine wunderbare Kraft aus, das ist sehr viel bei der Armut überall“.162 Ihre Bewunderung galt vermutlich auch dem Umstand, dass Gilles – er war als Schüler des Bauhauses (Lionel Feininger, Oskar Schlemmer) von der Unterdrückung der modernen Kunst durch das NSSystem schwer betroffen  – produktive Wege des Eskapismus für seine Malerei fand.163 Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass er 1941, mit dem zwangsweisen Abbruch seines Italien-Aufenthaltes, mehrere Wochen im Hause Schmitt unterkommen konnte,164 wo seine Bilder unverändert zum „magischen Hausrat“ zählten, wie Ernst Jünger 1943 notierte.165 Dass Gretha Jünger für Carl Schmitt eine geschätzte Gesprächspartnerin war, zeigt auch die Spur von Hermann Melvilles Benito Cereno, dessen Lektüre er brieflich Ernst und Gretha Jünger (in Paris bzw. Kirchhorst) mit Nachdruck empfahl.166 Die Erzählung diente hrsg. von Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Reinthal, Berlin 2007, S. 162. 162  Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 14.4.1940, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-6925. Es ist davon auszugehen, dass sie vor allem Gilles’ Landschaftsbildern zugetan war, da landschaftliche Atmosphäre bei ihr einen hohen Stellenwert besaß. 163  Schmitt und Gilles lernten sich 1926 kennen. 164  Siehe Brief von Carl Schmitt an Gretha Jünger am 10.7.1941, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 45 f. (S. 45); Gilles wohnte sechs Wochen im Hause Schmitt, bis er – wie auch Werner Heldt – in der Ateliergemeinschaft Klosterstrasse unterkam. 165  Jünger, Tagebuch (Anm. 74), S. 136 (Eintrag vom 30.8.1943); siehe dazu Jüngers späte Erinnerung, Duschka Schmitt habe geplant, Gilles’ Bilder beim Einmarsch der Russen zu zerstören, was den Künstler offenbar zutiefst verstörte, siehe Ernst Jünger, Siebzig verweht III, Stuttgart 1993, S. 199–201 (S. 199 f.) (Eintrag vom 2.11.1982). 166  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 6.4.1941, in: Kiesel (Anm. 41), S. 118, und Carl Schmitt an Gretha Jünger am 10.7.1941 und am 22.1.1942 mit Hinweis auf Friedrich Georg Jünger, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S.  45 f. (S. 45), 54 f. (S. 55); Ernst Jünger erwarb für ihn ein weiteres Exemplar. Eine ähnliche Bedeutung kam Edgar Allen Poes Erzählung Sturz in den Mahlstrom (1841) zu.



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fortan auch der Klippen-Runde als kommunikative Matrix zur Verständigung über die politische Lage Deutschlands und ergänzte die bisherige „Initialzündung“ der Marmorklippen als „Erkennungs­ zeichen“ und „indirekte Verständigung im Freundeskreis“ über den Zustand des gegenwärtigen Leviathans.167 Nach einem ihrer nächsten Besuche bei Schmitts hält sie in ihrem Tagebuch Palette unter dem 2.  Februar 1941 fest: „Aus Berlin zurück, bei sibirischer Kälte. Angenehme Tage bei Carolus verbracht und dort Romain168 getroffen. Die Abende verplauderten wir am Kaminfeuer, von unseren Gastgebern liebevoll verwöhnt. Gespräche über Melville und seinen Benito Cereno.“

Dieser Austausch prägte sich offenbar auch in Schmitts Erinnerung tief ein, denn er verwendete Melville noch als Matrix für seine eigene Situation im Nachkriegsdeutschland.169 Am 15. Februar 1942 brachte er erneut den Wunsch zum Ausdruck, sich mit Gretha Jünger über Melville’s Benito Cereno zu verständigen – er hatte ihr dieses Werk Mitte Februar 1941 nach Kirchhorst gesandt.170 Nach ihrer Lektüre schrieb sie ihm darüber offenbar einen ausführlichen Brief, der seine Erwartung und „Freude an einem Gespräch mit Ihnen noch sehr vertieft[e]“.171 Da sie sich mit Sohn Alexander in Oberstdorf aufhielt – er wurde dort in einem Kindersanatorium untergebracht –, nutzte sie die Gelegenheit, bei ihrer Rückreise über Berlin Schmitts zu besuchen. Zu ihrer Freude traf sie dort ein weiteres Mal die Klippen-Runde an  – erneut mit Jessen und nun auch mit Popitz. In der Palette notiert sie dazu: Ehrke-Rotermund/Rotermund, Zwischenreiche (Anm. 43), S. 345. Carolus und Romain sind Gretha Jüngers Pseudonyme in der Palette für Carl Schmitt und Ernst Jünger. 169  Carl Schmitt, eine Tagebuchnotiz zu diesem Gespräch vom 3.2.1941 aufgreifend, im Glossarium (Anm. 143), S. 309 (Eintrag am 14.11.1954). 170  Sie sollte es an Ernst Jünger weiterreichen, der es sich jedoch bereits besorgt hatte, siehe: Carl Schmitt an Ernst Jünger am 25.2.1941, in: Kiesel (Anm. 41), S. 114 f., sowie Carl Schmitt an Gretha Jünger am 9.–16.2.1941, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 43. 171  Der Brief Gretha Jüngers ist leider nicht überliefert; Carl und Duschka Schmitt an Gretha Jünger am 15.2.1942, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 55 f. (S. 55). 167  168 

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„Gespräche bis tief in die Nacht hinein. […] Beide liebenswert in dem hohen Maße des Anstandes, das von ihnen ausgeht. Es beruhigt, zu wissen, daß inmitten des großen Schlammtrichters, dieses menschlichen Unrates unserer Zeit, es noch Menschen wie diese gibt. Der preußische Begriff, heute zerlumpt und zu Schanden geritten von Konjunktur-Rittern und käuflichen Seelen  – hier steht er auf, unbestechlich und zu hohen Opfern für die Nation bereit. Jessen, schon im Fortgehen: ‚Sie wissen, daß Ihr Mann sehr gefährdet ist?‘ Ich antwortete: ‚Er war es immer und zu allen Zeiten!‘ […]. ‚Doch will ich lassen siebentausend übrigbleiben in Israel: alle Kniee, die sich nicht gebeugt haben vor Baal, und allen Mund, der ihn nicht geküßt hat.‘ “172

Angesichts von Jüngers permanentem „Ritt über den Bodensee“173 markiert Gretha Jünger die Attribute des NS-Regimes als alttestamentarische Gewalt niederster Provenienz im Verbund mit höchst modernen Antrieben und kontrastiert dies mit dem opferbereiten Tugendethos des preußischen Offiziers – so ihr Anklang an Schmitts Staatsgefüge.174 Wobei ihr Rückgriff auf Baal die Annahme suggeriert, dass Jessen und Popitz trotz der allgegenwärtigen Gefahr der Vernichtung entgehen.175 Angesichts der überall lauernden „finsteren Dämonen“176 boten ihr auch Jüngers Marmorklippen immer wieder Anlass zu tiefer Beunruhigung: 1942 wurde dem Nachdruck (auf Intervention von Goebbels) das Papier verweigert,177 Jüngers Kriegs172  P, S. 54 (Eintrag am 7.  März 1942). Zitat aus: Lutherbibel, 1. Buch der Könige 19. 173  So umfassend Ernst Jünger im Rückblick in: Jünger, Siebzig verweht (Anm. 165), S. 231–239 (S. 231) (Eintrag am 31.1.1983). 174  Ähnlich führt auch Schmitt den „tapfere[n] preußische[n] Soldatenstaat“ argumentativ ins Feld, siehe Schmitt, Staatsgefüge (Anm. 66), S. 116, S. 114. 175  Beide wurden in Berlin-Plötzensee hingerichtet. 176  P, S. 94–96 (S. 95) (Eintrag vom 10.  Juli 1944). 177  Siehe: Steffen Martus, „Ernst Jünger“, Stuttgart/Weimar 2001, S. 61, sowie insgesamt zur HVA und Benno Ziegler: Siegfried Lokatis, Ernst Jüngers Marmorklippen. Benno Ziegler und die Hanseatische Verlagsanstalt, in: Jünger-Debatte 2. Zwischen Mythos und Widerstand. Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“, hrsg. von Thomas Bantle, Alexander Pschera und Detlev Schöttker, Frankfurt a. M. 2019, S. 9–27.



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aufzeichnungen Gärten und Straßen erhielten ein Besprechungsverbot.178 Kurz darauf, im April 1942, mit dem Weggang von Oberst Speidel aus Paris, schreibt Gretha Jünger an Schmitt, man müsse derzeit nicht nur „ein guter Schwimmer sein, sondern auch die Kunst des Tauchens beherrschen können, um mit Cereno […] zu sprechen. Mit dem einfachen Sprung von Bord ist nichts getan, man lernt das in allen Schwimmbädern von Jugend an.“179 Es ist anzunehmen, dass die Schwimmversuche bei einem weiteren Klippen-Gespräch einen Monat später, am 17.  Mai 1942 in Kirchhorst  – diesmal in Anwesenheit von Carl Schmitt, Ernst und Gretha Jünger, dem Verleger Benno Ziegler und den Pfaffendorfs aus Goslar  – fortgesetzt wurden.180 Ziegler, Verleger der Marmorklippen, war seit deren Erscheinen mehrfach in Berlin vorstellig geworden, um die politischen Wogen wegen dieses Werkes zu glätten und die sich auftürmenden Hindernisse für weitere Druckauflagen zu beseitigen.181 Wie groß die Vertrautheit zwischen Gretha Jünger und Carl und Duschka Schmitt während der düsteren Kriegsjahre war, dokumentiert nicht zuletzt ihr Tagebuch-Eintrag vom November 1942, notiert aus Anlass der Abreise Ernst Jüngers in den Kaukasus: „Aus Berlin zurück; das nächtliche Bild des Schlesischen Bahnhofes, düsterer Zerfall. Kälte, Gestank und dazwischen verwegene Gestalten in

178  Jünger weigerte sich 1942 in Gärten und Strassen den Hinweis auf den 73. Psalm, der das Ende der Gottlosen thematisiert, zu entfernen. Im Herbst 1944 wurde gegen ihn offenbar ein Verfahren vor dem Kriegsgericht wegen defätistischer Äußerungen in den Marmorklippen angestrengt, das auf persönliche Anordnung Hitlers wieder eingestellt wurde, siehe dazu EhrkeRotermund/Rotermund, Zwischenreiche (Anm. 43), S.  327 f. 179  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 7.4.1942, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 57–59 (S. 57). Speidel wurde an die Ostfront versetzt, siehe Dieter Krüger, Hans Speidel und Ernst Jünger. Freundschaft und Geschichtspolitik im Zeichen der Weltkriege, Paderborn 2016, S. 39 f. 180  P, S. 55 f. (S. 55) (Eintrag vom 17.  Mai 1942). Erschienen sind die Marmorklippen 1939 in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg. 181  Auch Werke von Carl Schmitt wurden durch Ziegler verlegt, so bspw. die 2. bis 4. Auflage von Der Begriff des Politischen 1933, 1935 und 1940, sowie Der Leviathan (1938), Positionen und Begriffe (1940), ebenso ab 1942 die Zeitschrift Deutschland-Frankreich des Deutschen Instituts in Paris, die Jünger und Schmitt zu ihren Autoren zählte.

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den Mauernischen. Hans und Desmessieur182 auf dem Bahnsteige, wo der Zug nach Osten unter Dampf stand. Schritt mit Romain auf und ab, bis das Signal gegeben wurde. Adieu und letzter Kuß. Dann heim zu Carolus und Duška, Müdigkeit und Melancholie; als ich am Gartentor anlange, schimmert ein schmaler Lichtstreif durch die Jalousie. Beide sind noch auf, trotz der späten Nachtstunde, und erwarten mich mit der Stärkung eines guten Weines, und, was noch besser ist, der ihrer Anteilnahme an allem, was Romain und mich bewegt.“183

182  Gemeint sind damit der Bruder Hans Otto Jünger und der Ernst Jünger zugeteilte Offiziers-Bursche. 183  P, S. 60 (Eintrag am 29.  November 1942). Zu Jüngers Aufenthalt im Kaukasus siehe: Kiesel, Biographie (Anm. 35), S.  511 f.

Pariser Morbidezza, Bomben in Kirchhorst, Ernstels Fall und Schmitts Advice (1940–1945) Im Laufe des Krieges verschärfte sich Gretha Jüngers Abneigung nicht nur gegen die Stadt Berlin, die ihr zum wahren Babylon wurde,184 sondern gegen Städte überhaupt; bald schien ihr nur noch das Leben auf dem Lande vorstellbar  – nun auch aus metaphysischmoralischen Gründen. Obwohl sie in Kirchhorst ab Sommer 1940 wegen der im nahen Misburg185 angesiedelten kriegswichtigen Industrie zunehmend heftigsten Bombenangriffen ausgesetzt war, schien ihr der Krieg in den Städten totaler und der Mensch den Folgen der von ihr verhassten (Kriegs-)Technik stärker ausgeliefert. Sie setzte sich damit bewusst in Gegensatz zu Ernst Jünger, der Technik (nicht nur) in seinem Buch Der Arbeiter (1932) positiv konnotierte. So schrieb sie ihren Berliner Gastgebern Duschka und Carl Schmitt bereits im November 1941, nach einer erneuten Rückkehr aus Berlin in das dörfliche Kirchhorst: „Immer jedoch, wenn ich die Häuserreihen großer Städte hinter mir lasse, und die Grenze unseres Dörfchens erreiche, glaube ich die letzte Insel vor mir zu sehen, den kleinen Raum, auf dem es uns noch vergönnt ist, ein wenig Freiheit einzuatmen. […] Der Eingang zur Untergrundbahn, in den die Menschen einfahren wie in tiefe Bergschächte, hat oft für mich etwas 184  Gretha Jünger rekurriert damit auf einen seit 1900 viel zitierten Topos, siehe Andrea Polaschegg/Michael Weichenhan (Hrsg.), Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination 1890–1930, Berlin 2017, S. 7 f., sowie Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 225 ff. 185  Jünger, seit September 1944 in Kirchhorst zur „Führungsreserve beurlaubt“, hält zu Misburg, dem „Hauptziel“ der nächtlichen „Überfliegungen“, am 16.9.1944 in seinem Tagebuch fest, die „nächtlichen Geräusche sind seit 1940 bedeutend bösartiger geworden; der Eindruck der Katastrophe wächst“ und noch am 15.3.1945 beobachtet er einen der „schwersten Angriffe auf Misburg“, siehe Jünger, Tagebuch (Anm. 74), S. 305 (Eintrag vom 16.9.1944), S. 382–384 (S. 384) (Eintrag vom 15.3.1945).

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Grausiges; das große, weithin leuchtende U darüber,  – ein Vokal des Schreckens, des menschlichen Stöhnens auch, im Vergleich zu dem tiefen und ruhigen U auf der anderen Seite, – erscheint mir als eine Verlockung, und in engem Zusammenhang mit diesem Gefühl innerer Abwehr.“186

Sie begann bereits 1939, kaum in Kirchhorst angekommen, mit einer geradezu obsessiven Suche nach einem eigenen Ort der Entschleunigung, mit dem sie an ihre Familientradition anschließen konnte: Ein eigener Landsitz oder ein weitab von Autostraßen und Wegen gelegenes „Haus mit Landschaft“ sollte es sein und damit ein Gegenstück zum städtischen Berlin des Jüngerschen Arbeiters. Gleichwohl genoss sie bei ihren Besuchen in dieser Stadt die kulturellen Annehmlichkeiten städtischen Lebens  – vom Café Kranzler (das sie jedes Mal aufsuchte oder sich von Besuchern erzählen ließ) bis hin zu den Logen in Staatsoper und Schauspielhaus, die offenbar im Hause Schmitt nahezu obligatorisch zur Verfügung standen – wie aus ihrem erwartungsvollen Brief an Duschka Schmitt zum Besuch des „Faust“ hervorgeht.187 Im weiteren Verlauf des Krieges zeigte sich jedoch, dass für Gretha Jünger vor allem die Stadt Paris die eigentliche Morbidezza der ‚­Hure  Babylon‘ verkörperte, die als Verführerin die städtische Szene beherrschte. Morbidezza wurde ihre häufig zitierte kulturkritische Formel, mit der sie auf Jüngers langjährige Geliebte in Paris, die Kinderärztin Sophie Ravoux zielte, die ab 1942 für Gretha sowohl die Morbidität der Stadt als auch die babylonische Sprachverwirrung im Hause Jünger repräsentierte. Dem imaginierten, sittlich verwerflichen Leben in Paris, dessen Vorstellung sie im Verlauf der Kriegsjahre wie ein Schatten begleitete, hält sie 1946 in heftiger emotio­ naler Aufwallung ihre langjährige Anstrengung auf dem Lande entgegen: „6 Jahre lang Kirchhorst gegen Babylon hochgehalten“ und „verteidigt“ zu haben und damit „die Mitte gegen den Westen, den Waldweg gegen die Orchidee, die Urwüchsigkeit einer Landschaft

186  Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 11.11.1941, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 232. 187  Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 4.11.1941, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-6935.



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gegen die Morbidezza, und nicht zuletzt den geistigen Raum gegen den Bakterienreichtum westlicher Dekadenz.“188 Den realen Kriegsalltag im dörflichen Kirchhorst prägten bald nicht nur die dichter und heftiger werdenden Bombenangriffe, sondern auch die Überbelegung des Hauses durch Einquartierungen von Flüchtlingen und Ausgebombten (u. a . auch ihre Familie aus Hannover), was – neben zwischenmenschlichen Spannungen – auch Raum- und Nahrungsknappheit mit sich brachte. Dazu kam ihr angespanntes Verhältnis mit dem Ehemann, der seit September 1944 aus der Armee entlassen, sich wieder in Kirchhorst befand, wo er bald begann, um die in Paris gebliebene Geliebte zu trauern. Bei Gretha Jünger evozierte er damit den Verdacht, er sei nur notgedrungen zu ihr nach Kirchhorst zurückgekehrt – eine Annahme, der der lediglich abwesend-anwesende Ernst Jünger mit seinen Mitteln begegnete: einer heroisch-herablassenden, neusachlichen Gefühls­ kälte. Eine weitere große Sorge waren Gretha Jünger während des Krieges die Erfahrungen ihrer Kinder: der jüngste Sohn Alexander Joachim Jünger durchlebte im Alter zwischen dem sechsten und elften Lebensjahr nahezu allnächtlich die Ängste der Bombenangriffe, die das Haus fast zum Einsturz brachten und auch häufig die ihm sonst Schutz vermittelnden Erwachsenen in Furcht und Schrecken versetzten. Der ältere Sohn, Ernst Jünger jr., befand sich mit seiner Schule unter prekären hygienischen Bedingungen in einem paramilitärischen Lager auf der Insel Spiekeroog, wo er bald an heftiger Gelbsucht erkrankte.189 Zum Schrecken der Mutter erwartete er mit seinem Freund, dem späteren Verleger Wolf Jobst Siedler, trotz allem

188  Gretha Jünger an Curt Pauly am 3.2.1946, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 231 f. Der „Bakterienreichtum“ ist eine Anspielung auf die seit der Industrialisierung in den Städten zum Symbol gewordenen Epidemien, aber auch auf die sich im besetzten Paris rasant ausbreitenden Geschlechtskrankheiten, siehe dazu Bernd Wegner, Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940–1944, Paderborn 2019. 189  Er hatte inzwischen die Schule gewechselt von Salem an die Hermann-Lietz-Schule in Haubinda (Thüringen); nicht wenige erkrankten in diesen Lagern an Gelbsucht, Typhus u. a .

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mit Spannung seine Einberufung zum Militär.190 Das änderte sich erst mit der Kriegswende des Jahres 1943, mit der die Schüler jeden Morgen an das Telefon stürzten, um zu erfahren, ob ihr Elternhaus noch steht und die Eltern noch am Leben waren.191 Im Februar 1944 erhielt Gretha Jünger die Mitteilung, dass ihr Sohn und Wolf Siedler von einem Klassenkameraden wegen defätistischer Äußerungen gegen Hitler und das NS-Regime denunziert und in der Festung Wilhelmshaven interniert worden waren. Nach turbulenten Wochen voller Unsicherheit und Ängsten verurteilte schließlich beide das Marinefeldgericht zur Frontbewährung an die heftig umkämpfte Gotenstellung in Carrara, die den alliierten Vormarsch aus dem Süden aufhalten sollte.192 Nach ihrer Entlassung in Wilhelmshaven tauchten beide bis zum Eintritt in den Kriegsdienst auf Anraten von Carl Schmitt  – so Siedler  – in Kirchhorst unter, weil er davon ausging, „die Gestapo werde eine Hausdurchsuchung bei [ Jünger] nicht wagen“.193 Auch in Kirchhorst befolgten sie seinen Rat zur Vorsicht und „betraten nur nach Einbruch der Dunkelheit“ den Pfarrgarten, damit sie auch von den Dorfnachbarn nicht entdeckt und der Gestapo gemeldet werden konnten. Sohn Ernstel wurde im Mai, Siedler im Juni zu den Panzergrenadieren in Salzwedel zum Kriegsdienst im Oktober 1944 eingezogen; im November wurde dort der Vorstrafenvermerk in ihren Papieren entdeckt und beide als gefährliche Subjekte getrennten Gruppen zugeordnet.194 Den Eltern Gretha und Ernst Jünger wurde am 11.  Januar 1945 mitgeteilt, dass ihr Sohn in Car­ rara bereits fünf Wochen zuvor durch Kopfschuss gefallen war.195 190  Bis ca. Mitte 1943 war sein ganzer Ehrgeiz die Hoffnung, es mit der Einberufung „dem Vater nachzutun“, so Jünger, Tagebuch (Anm. 74), S. 360 (Eintrag am 13.1.1945). 191  Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern, Berlin 2000, S. 127–152. 192  Die endgültige Urteilsfindung sollte nach dem Krieg vor dem Volksgerichtshof stattfinden. 193  Siedler, Ein Leben (Anm. 191), S. 162; siehe auch Ernst und Gretha Jünger an Carl Schmitt vom 26.3.1944, in: Kiesel (Anm. 41), S. 181–183 (S.  181 f.), sowie Tielke, Bürgerkrieg (Anm. 82), S. 125–128. 194  P, S. 105 f. (S. 105) (Eintrag am 27.11.1944); siehe auch Siedler, Ein Leben (Anm. 191), S.  174 f. 195  P, S. 110 (Eintrag am 14.1.1945).



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Einen Monat später schrieben beide einen ausführlichen Brief an Carl Schmitt zum Tode von Ernstel und ihrer gegenwärtigen Situation.196 Die gemeinsame Trauer um den Sohn, dessen Tod Gretha Jünger mit „elementarer Gewalt zu Boden“197 zwang, überbrückte zunächst den Graben, den die Pariser Morbidezza zwischen dem Ehepaar aufgeworfen hatte. Doch beide hatten bis zum Ende des Krieges einen kräftezehrenden Alltag zu ertragen mit den nahezu täglichen Bombardierungen, dem unverändert mit Flüchtlingen überfüllten Pfarrhaus, in dem Hunger, Kälte und ständige Unruhe herrschte, was vor allem Ernst Jünger belastete. Dazu kam vor allem für Gretha Jünger bald die Furcht vor den anrollenden Panzern der Alliierten, deren fernes Grollen für sie in apokalyptischem Sinne eine „Ankündigung des Kommenden“ war, weshalb sie – eingedenk der Taten der Wehrmacht – mit dem Schlimmsten rechnete und sich brieflich von Freunden und Wegbegleitern verabschiedete.198 Nach einigen Wochen enger Verbundenheit des Ehepaares löste sich die trauerbedingte Nähe zwischen beiden wieder auf  – Ernst Jünger ‚entfloh‘ dem Kirchhorster Alltag und war zunehmend okkupiert von der in Paris weilenden Geliebten. Gretha Jünger muss dies alles zutiefst erschöpft haben: Sie fühle sich, schrieb sie an ihren Freund Lindemann, wie in einem „grossen Strudel, der mich um- und fortriss“, als Figur auf einem Schachbrett, auf dem „die Dame gegen den Bauer“ steht, so die Wahrnehmung ihrer schwierigen Rolle in dieser triadischen Konstellation.199

196  Ernst und Gretha Jünger an Carl Schmitt am 10.2.1945, in: Villinger/ Jaser (Anm. 2), S. 94–96. 197  P, S. 110 f. (Eintrag am 26.3.1945). 198  Viele Frauen rechneten am Ende des Krieges mit Übergriffen sexualisierter Gewalt, was die Selbstmordwelle zwischen April und Mai 1945 deutlich verstärkte. 199  Gretha Jünger an Fritz Lindemann am 21.3.1945, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 265.

Ende des Krieges, Schmitts Internierung und Gretha Jüngers Attitüde (1945–1947) Das Jahr 1945 ging für Gretha Jünger angesichts der großen Belastungen mit heftigen Krankheitszuständen zu Ende. Im August 1945 hatte Carl Schmitt, der bisher von „allen Verwandten und Bekannten ausserhalb Berlins [noch] ohne Nachricht“ war, ein erstes Mal versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen.200 Sein Brief blieb offenbar bis Juni 1947 unbeantwortet, und bis zu seiner endgültigen Entlassung aus der Nürnberger Zeugenhaft und Rückkehr nach Plettenberg Mitte Mai 1947 war der direkte Kontakt zwischen beiden unterbrochen.201 Doch mit Duschka Schmitt stand Gretha Jünger ab Dezember 1945 in brieflichem Austausch; ihrem ersten Schreiben ist zu entnehmen, dass sie „leider immer noch verzweifelt über den Tod ihres Sohnes“ ist und „keinen Trost“ findet, wie Duschka ihrem Mann ins Internierungslager berichtet.202 Am 10.4.1947 kündigte Gretha Jünger ihr offenbar an, im Falle eines Prozesses für Carl Schmitt als Zeugin auftreten zu wollen, woraufhin ihr Duschka Schmitt umgehend die gegenwärtige Situation ihres Mannes schildert, die ihr vor allem durch Ernst Niekisch verursacht schien: „Am 19.III. ist C.S. verhaftet und in das Gefängnis in Lichterfelde eingeliefert [worden]. Dort hatte ich die Erlaubnis ihn zweimal zu sehn. Er war zum 24.III. zu einer Vernehmung vorgeladen, und weil er durch seine Haft daran verhindert war, bin ich an seiner Stelle hingegangen. Das 200  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 19.8.1945, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 96. 201  Die Lücke der Korrespondenz legt ungefähr diesen Zeitraum nahe. Carl Schmitt und Ernst Jünger begannen im Januar 1947 den brieflichen Austausch, der durch Schmitts erneute Inhaftierung im März 1947 bis Juni  1947 unterbrochen wurde. 202  So Duschka Schmitt an Carl Schmitt am 22.1.1946, in: Carl Schmitt/ Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 136–138 (S. 138); der Brief Gretha Jüngers ist nicht überliefert.



Ende des Krieges63 Gespräch war sehr interessant und ich habe alles begriffen. Es schien mir sogar daß ein Urteil schon vor der Anklage beschloßen war. Es wird wohl derselbe Mann sein mit dem E. Niekisch gesprochen hat. Am 25.III. kam C. S. nach Wannsee wo er zuletzt war. Von dort wurde er am 28.III. zu einer Vernehmung geführt die drei Stunden gedauert hat. Dabei waren noch drei Personen zugegen, wohl der Gewährsmann von E. N. einer davon. Auf Grund der bösartigen Behauptung von E. N. in seiner Broschüre ‚D[eutsche] Daseinsverfehlung‘ auf S. 82 wird eine ungeheure Schuld von C. S. konstruiert und zur Anklage genutzt. […] Mag sein daß E. N. damals nicht überlegte welches Unheil seine Behauptung anrichten wird, und daß seine Regung die Stimmung zu revidieren daraus zu verstehen ist. Es bleibt mir unbegreiflich warum er sich einen solchen Angriff geleistet hat. Eine Revision hat nur Sinn wenn sie öffentlich geschieht. Wenn sein Einfluß vielleicht gesunken ist wie Sie es annehmen, so war doch seine Behauptung willkommen um C. S. die Philosophie der Konzentrationslager zuzuschreiben. […]. Eine Anklage ist jetzt noch nicht erhoben obwohl er als Angeklagter behandelt wird. Wie lange es noch dauern wird bis die Anklage erhoben wird ist ungewiß.“203

Weshalb die agile Briefeschreiberin Gretha Jünger auf diese eindringlichen Zeilen erst fünf Wochen später, am 28.5.1947, antwortete, erhellt ein nahezu zeitgleicher Brief von Ernst Jünger an Duschka Schmitt. Er teilt ihr mit, dass er angesichts der Angriffe, denen er sich selbst in der Öffentlichkeit ausgesetzt sieht, von einer Zeugenschaft für Carl Schmitt Abstand nehmen wird, bis er „die Angriffe zurückgewiesen [hat], die gegen mich gerichtet sind. Ich nehme an, daß das in etwa einem halben Jahre geschehen sein wird. Bis dahin muß Gretha mich vertreten in dieser Angelegenheit“.204 Gretha, die vermutlich mit ihrer Antwort an Duschka das Plazet ihres Ehemannes abwarten musste, betont zwei Tage danach mit bekannter Verve, 203  Duschka Schmitt an Gretha Jünger am 17.4.1947, in: Kiesel (Anm. 41), S. 626–629 (S. 627 f.). Carl Schmitt war nach seiner Entlassung am 10.10.1946 aus dem US-Camp erneut verhaftet und am 19.3.1947 zum Verhör in das Gefängnis Lichterfelde eingeliefert und anschließend in das Gefängnis des Internationalen Gerichtshofes in Nürnberg überführt worden, siehe Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 33–35. 204  Ernst Jünger an Duschka Schmitt am 26.5.1947, in: Kiesel (Anm. 41), S. 629 f. (S. 630). Gretha Jünger führt als Begründung für die späte Antwort eine Bronchitis an, doch ihr sonstiger Briefwechsel in dieser Zeit war unverändert lebhaft, siehe: Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 28.5.1947, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-6943/1.

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dass sie ihr „Angebot [für Carl Schmitt] als Zeugin aufzutreten, aufrecht“ halte, ja dass sie „bei einem solchen Anlass wieder die alte Vitalität“ verspüre. Doch ihr Angebot kam zu spät  – Carl Schmitt war inzwischen bereits entlassen und nach Plettenberg zurückgekehrt.205 Gretha Jüngers Haltung zur NS-Aufarbeitung durch die Alliierten, das verdeutlicht ihr Brief, bewegt sich auf der Linie von Carl Schmitt, der sich als ‚Geisel auf freiem Fuß‘ fühlte: Sie wähnt sich in der Lage derer, „die die Nationalsozialisten als Unheilbare auszurotten pflegten“; ein nämliches Muster der verbreiteten Opfer-Umkehr notierte bereits im März 1945 Ernst Jünger: „Die Lage des Deutschen ist jetzt ganz so, wie die der Juden innerhalb Deutschlands war“.206 Gretha stellt weiter fest, dass derzeit die „Tätigkeit der Deutschen nur noch in der Abwehr besteht; wir sind einem nackten Menschen zu vergleichen, der die Pfeile abzuwehren hat, die von allen Richtungen her auf ihn abgeschossen werden, und wie das Schicksal des Volkes in der Gesamtheit, so ist auch das Einzelschicksal“.207

„[O]bjektive Nacktheit“ demonstrieren für Carl Schmitt auch die Kleidungsstücke, die ihm im Camp verblieben sind.208 Beide verachten zutiefst das, was sie als bußfertige Beschämungsrituale verstehen, wie das Ausfüllen des Fragebogens der Alliierten oder die ‚Unterwerfung‘ unter ein Spruchkammerverfahren, um einen sog. Persilschein zu erhalten  – ein Thema, das im Hause Jünger wegen seines Publikationsverbotes in der englischen Zone höchst virulent war: es hatte nicht nur lähmende Wirkung auf den Autor, sondern auch erheb­ liche Auswirkungen auf die Finanzen der Familie. Gretha Jüngers geradezu militante Verachtung der Entnazifizierungsverfahren erhellt ihr Brief an Freund Pfaffendorf in Goslar, der ihr ob des Publikationsverbotes riet, Ernst Jünger möge eben doch den Fragebogen dafür ausfüllen. Sie schrieb ihm zurück: 205  Zu den Personen, die für Schmitt „eingetreten sind“, siehe Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 239. 206  Jünger, Tagebuch (Anm. 74), S. 390 (Eintrag am 28.3.1945). 207  Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 28.5.1947, Nachlass Carl Schmitt, RW 265-6943/2. 208  Z. B. Schmitt, Ex Captivitate (Anm. 152), S. 80.



Ende des Krieges65 „Wir hoffen für 1947 allerlei […]. Ob die ‚Strahlungen‘ in der frz. Zone erscheinen werden, ist noch ungewiss; die Engländer haben nicht nur jeden Neudruck, sondern auch jeden Vertragsabschluss untersagt. Das würde praktisch unseren Ruin bedeuten […]. Was Sie vorschlagen, ist grotesk […]! Die sogenannte Entnazifizierungskammer soll mich! Hat Jünger das nötig? Ich würde mich von ihm scheiden lassen, wenn er jemals auf den Gedanken verfallen würde, sich irgendwelchen Spruchkammern zu stellen; für mich ist seine persönliche politische Situation sehr klar. Sie wird sich in dem Masse festigen, als den Marktschreiern der Gosse der Hals umgedreht werden wird; […] es ist unwichtig, ob wir bis dahin unseren letzten Hundertmarkschein ausgegeben haben oder nicht,  – aber es ist gewiss, dass vor Niemand und Nichts auch nur die Andeutung einer Verneigung gemacht wird. Sie sehen, ich bin wieder kriegerisch; das beste Zeichen für die Wiederkehr der Gesundheit.“209

Ihre vehemente Ablehnung spiegelt nicht nur die Angriffe der Presse auf Ernst Jünger, sondern auch die in der praktischen Umsetzung nur begrenzt geglückte Form der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.210 Doch Gretha Jünger sah in diesen alliierten Verfahren ganz grundlegend eine Zumutung fremder Okkupanten, deren Funktion vor allem darin liege, dass „die jeweiligen Kathederplätze unter den Deutschen wie bei einem Preisboxen ausgewechselt werden; alles, was geistigen Rang besitzt, muss naturgemäss ausgerottet werden, wobei der Eine dem Anderen behilflich ist. Irgendein Schatten der Vergangenheit findet sich bei Jedem; wenn er kein Nazi war, so ein Militarist, wenn nicht das, dann ein Antisemit, und so fort. Zuguterletzt bleibt eine Kaste kleindeutscher Zwiebelforscher übrig, und eine Generation rachitischer Gandhigestalten.“211

Ähnliches findet sich bei Carl Schmitt, der den alliierten Verfahren jede Berechtigung abspricht: es gehe dabei weder „um Recht, 209 

bach).

Gretha Jünger an Hermann Pfaffendorf am 10.1.1947 (DLA Mar-

210  Es steht im Rückblick außer Frage, dass es nicht gelungen ist, eine wirkliche Entnazifizierung in Verbindung mit einer Demokratisierungsstrategie in Deutschland zu realisieren, weil dazu letztlich, auch angesichts des sich sehr rasch verstärkenden Ost-West-Gegensatzes, der politische Wille fehlte; siehe u. a . dazu Markus Lang, Karl Loewenstein. Transatlantischer Denker der Politik, Stuttgart 2007. 211  Gretha Jünger an Hermann Pfaffendorf am 18.5.1947 (DLA Marbach).

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noch um Vernunft, noch um Logik, und nicht einmal um Entnazifizierung“; auch er sieht sie als „Freimachung von einträglichen Posten und […] Legalisierung unlauterster Konkurrenz“.212 Die Ankläger der Spruchkammern  – sein eigenes Verfahren wurde offenbar im Juni/Juli 1946 mit unterstützenden Stellungnahmen u. a . von Erich F. Podach und Hans Leistikow abgeschlossen und er daraufhin im Oktober 1946 entlassen213  – seien lediglich rabiate „juristische[…] Kriminialisierer[…]“, denen er jede Kompetenz abspricht.214 Seine radikalisierte Formel für diese Verfahren lautet: Der Mensch wird heute nicht mehr „tot[ge]schlagen“, sondern „unschädlich“ gemacht durch Ausfüllen des Fragebogens.215 Bereits die Ineinssetzung dieser ‚Todesarten‘ beantwortet implizit die Frage, ob „von Schmitt ein klares Nein zum Nationalsozialismus erwartet werden“ konnte.216 Es findet sich stattdessen die Forderung nach „Freisprechung vom Verbrechen“ für „mich und mein Volk“  – eine Erwartung, für die nach 1945 kein öffentlicher Raum zur Verfügung stand, sondern nur der klandestine seines Tagebuches, das eine Fülle einschlägiger Sprech­ akte enthält.217 Klare Worte gegen die Verbrechen der tausend Jahre finden sich bei Schmitt lediglich in dem posthum veröffentlichten Flick-Gutachten vom Sommer 1945.218 Ausschließlich hier, in diesem erst im Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 174 (Eintrag vom 13.4.1949). Siehe dazu die Hinweise von Tielke, in: Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 239 f., Anm. 601. Die Akte des Verfahrens ist bis zum Jahre 2049 gesperrt. 214  So hält Schmitt im Kontext von Flick und de Menthon in seinem Glossarium noch am 18.1.1957 fest, vgl. Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 355. 215  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 355 (Eintrag am 21.1.1957). 216  Wolfgang Eßbach, Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukács und Carl Schmitt, in: Andreas Göbel, Dirk van Laak und Ingeborg Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 137–155 (S. 144). 217  Schmitt, Glossarium (Anm.  143), S. 172  f. (S. 173) (Eintrag vom 4.4.1949). 218  Das von Friedrich Flick (1883–1972) 1945 in Auftrag gegebene Gutachten „Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ‚Nullum crimen, nulla poena sine lege‘ “ wurde erstmals 1994, knapp zehn Jahre nach Schmitts Tode, veröffentlicht (Anm. 219); vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 440. 212  213 



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Jahre 1994 zugänglichen Text – der auch an seine alliierten Ankläger adressiert ist  – stellt er über die NS-Verbrechen fest: „Ihre Unmenschlichkeit ist so groß und so evident, daß es genügt, die Tatsachen und den Täter festzustellen, um ohne jede Rücksicht auf bisherige positive Strafgesetze eine Strafbarkeit zu begründen. Hier treffen alle Argumente des natürlichen Empfindens, des menschlichen Gefühls, der Vernunft und der Gerechtigkeit in einer geradezu elementaren Weise zusammen, um einen Schuldspruch zu rechtfertigen, der keiner positiven Norm in irgendeinem formalen Sinne bedarf.“219

Dass er sich im Camp „unter diese Kategorie abnormer Verbrechen gestellt“ und „mit den schlimmsten Tätern in einen Topf geworfen“220 sieht, empört ihn zutiefst, denn angesichts der Größe der sadistischen NS-Verbrechen wähnt er sich auch hinsichtlich seines Engagements für das NS-Regime in den Jahren 1933–1936 frei von Schuld  – erkennbar an den Klagen und Vorwürfen im Glossarium, in dem man jede Form von Schuld- oder Problembewusstsein vergebens sucht.221 Unter dieser Prämisse steht auch Schmitts Versuch, sich bei den Alliierten mithilfe des Artikels Der Führer schützt das Recht zu verteidigen.222 Dass er dazu den aus aktuellem Anlass des sog. RöhmPutsches entstandenen, massiv das NS-Regime stützenden Artikel nun als Text deklariert, der ganz „in der Atmosphäre wissenschaft­ licher Objektivität“ entstanden sei, ist richtig und falsch zugleich. Richtig insofern, als Schmitt seit 1933 im Rahmen wissenschaftlicher Abhandlungen und Vorträge eine neue, nationalsozialistische Rechts­ politik betrieb; falsch, weil diese Politik mit Mitteln des Rechts an 219  Carl Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „Nullum crimen, nulla poena sine lege“, hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Helmut Quaritsch, Berlin 1994, S. 23. 220  Mehring, Schmitt (Anm. 218), S.  440 f. 221  In Schmitts (bisher unveröffentlichtem) Tagebuch vom März bis September 1945, das noch nicht so sehr wie das Glossarium von Selbststilisierungen geprägt ist, lassen sich eher kritische Anklänge zum Nationalsozialismus erkennen; siehe dazu auch ausführlich: Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000, S. 335 ff. 222  Siehe dazu auch Martin Tielke, Einführung, in: Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 15–44 (S. 29).

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der Konsolidierung der politischen Ziele des NS-Regimes ausgerichtet war und damit an einem Rechtsverständnis, das einem Verlust des „Rechts auf Rechte“ (Hannah Arendt) gleichkommt und nichts mehr mit einem Rechtsstaat gemein hat.223 Da dem Staatsrechtslehrer im Camp nicht entgangen sein dürfte, dass seine Rechtspolitik nach 1933 kaum zur Verteidigung vor den amerikanischen Alliierten taugte, mutet dieser Verteidigungsversuch auf den ersten Blick als geradezu somnambule Ausblendung der aktuellen Situation an. Man kann jedoch davon ausgehen, dass dies als wohlüberlegte, prozess­ taktische Vorwärtsverteidigung gedacht war: Das weithin beachtete Flaggschiff seiner NS-Unterstützung als wissenschaftlich und Versuch einer rechtlichen Bindung der Macht des NS-Regimes zu deklarieren, hätte im Erfolgsfalle seine gesamte Tätigkeit als Staatsrechtslehrer entlastet.224 Doch dass die amerikanischen Ankläger an solchen ‚Details‘ kaum Interesse zeigten, lag weniger an deren intellektueller Unfähigkeit, wie Schmitt mehrfach im Briefwechsel mit seiner Frau Duschka und im Glossarium mutmaßt, sondern an der enorm schwierigen Gemengelage der NS-Mitarbeit in Deutschland, die es zu durchdringen galt und nicht zuletzt auch an der Ausarbeitung des für die NS-Prozesse erforderlichen Neulandes der Rechtsentwicklung:225 Denn das ame223  Siehe u. a . Schmitts Auseinandersetzung mit Koellreutter; das von Schmitt bemühte Argument, die Diktatur durch das Recht einhegen zu wollen, verkennt seine eigene Intention: nämlich das Recht ganz in den Dienst des aktuellen Führerwillens zu stellen, der keiner Rechtfertigung bedarf. Seine These, dass aus dem Führertum das Richtertum fließt, hebt überdies die Dreiteilung der Gewalten auf, siehe Neumann, Schmitt (Anm. 108), S.  338 f. 224  So u. a . auch seine sog. ‚Judentagung‘ 1936 in Berlin, siehe Gross, Juden (Anm. 221), S. 120–134; zu den Röhm-Morden siehe Schuller, der u. a . auf Schmitts Versuch eingeht, die über Hitlers Anordnung (?) hinausgehenden Morde der Strafjustiz zu überantworten, was sich angesichts des durch die SS absichtsvoll provozierten Chaos und die Totalität von Hitlers Machtverständnis politisch als illusorisch und geradezu naiv erwies: Wolfgang Schuller, Nachwort, in: Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm. 15), S. 457–467 (S. 462 ff.). 225  Siehe bspw. Martin Tielke, Einführung, in: Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 15–44 (S. 30). Die Geringschätzung Schmitts ist Ausdruck seines Ressentiments gegenüber allem Amerikanischen, das er



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rikanische Politik-, Rechts- und Wissenschaftssystem, sowie die mediale Öffentlichkeit, waren nicht zuletzt dank der zahlreichen Emigranten recht gut über die Situation in Nazi-Deutschland informiert  – diese Wissensvermittlung war zunächst ihre eigentliche Domäne. Dennoch waren lange Zeit Struktur und Dimension des in Deutschland herrschenden Unrechtssystem kaum vorstellbar  – erst ab Ende 1942 verfügten die USA über ausreichend Informationen, „which leave no room for doubt that the German authorities … are now carrying into effect Hitler’s often repeated intention to exterminate the jewish people in Europe.“226 Diesmal wurde jedoch – anders als nach dem Ersten Weltkrieg  – von vorne herein angestrebt, eine Kampagne wie ‚Hang the Kaiser‘ zu vermeiden, aber auch keine Situation herbeizuführen, bei der weitreichende Strafandrohungen in wenigen Prozessen „zu unbefriedigenden Urteilen“ führen; auch sollte vermieden werden, jenen, die das Völkerrecht „in so eklatanter Weise missachtet hatten, jetzt den Status von Rechtsubjekten“ zuzuerkennen, weshalb nur diejenigen, die sich bestimmter Vergehen gegen das Kriegsrecht schuldig gemacht hatten, Anspruch auf ein Rechtsverfahren in jenen Ländern erhalten sollten, in denen die Verbrechen begangen wurden. Wie sehr sich Carl Schmitt im Camp in die Enge getrieben sah, vermittelt nicht zuletzt sein anhaltend beruhigender Selbst-Zuspruch in den Briefen an Duschka, in denen er seine schlechte körperliche Verfassung heroisch als Gewinn eines Raumes innerer Freiheit übernicht selten mit Juden, Emigranten, mit Liberalismus und Demokratie, Presse und Reklame in einem Atemzug nennt; er bemüht damit einen weit verbreiteten Topos der Modernisierungs- und Fortschrittskritik des frühen 20.  Jahr­hunderts, so Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?, München 2021, S. 60 ff. Tatsächlich war es vor allem das Verdienst der USA, die bis heute wegweisende Rechtsentwicklung für Nürnberg vorangetrieben zu haben und bspw. weniger ein Anliegen der Angelsachsen, die lange auf eine Siegerjustiz nach altem Muster setzten. Einen Überblick dazu gibt Lothar Kettenacker, Die Behandlung der Kriegsverbrecher als anglo-amerikanisches Rechtsproblem, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt/M. 1999, S. 17–31. Zu dieser Thematik siehe auch Werke von Arieh J. Kochavi, Bradley F. Smith, Kevin Jon Heller, Karl Loewenstein, Herbert C. Pell, Elizabeth Borgwardt, Markus Lang u. v. a . 226  Kettenacker, Kriegsverbrecher (Anm. 225), S. 20.

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höht. Mithilfe dieser Suggestion versuchte er, Abstand von Schuld, Lagersituation und eigener Kreatürlichkeit zu gewinnen, auf die er nun ganz – ohne schützendes Gerüst von Ruhm, Ehre und sozialem Status  – verwiesen war. Denn eine Umgebung, in der „Schwarzmarktschieber und grauenhaftes Zeug mit anständigen Menschen auf einer Stufe behandelt werden“, so Schmitt, erforderte solche Schutzmechanismen gegen die permanente Angst vor sozialer Ansteckung.227 Bereits Schmitts Tagebücher der Jahre 1930–1934 vermitteln eine derartige Attitüde recht deutlich: sie zeigen seine lediglich höchst fragile Fähigkeit, zwischen äußerer Realität und gefühlter eigener Marginalität zu unterscheiden. Seine Angst vor Deklassierung entspricht dem Muster seiner Angst vor ‚den Juden‘, die ihn nicht selten – auch nach sehr freundschaftlichen Begegnungen – überwältigte und Gefühle wie Ekel, Schmutz und Abwehr bei ihm hervorriefen. Um von der Lage der Juden – wie Ausgrenzung, wissenschaftliche Deklassierung, Bedrohung und Vernichtung – nicht angesteckt zu werden und der Gefahr ‚jüdischer Infektion‘ zu entgehen, die ihm u. a . durch das Schwarze Korps drohte, betrieb er noch im Oktober 1936 ‚wissenschaftlichen‘ Exorzismus mit der sog. Judentagung. Wie sehr er dabei mit Definitionsproblemen ‚des Jüdischen‘ zu kämpfen hatte, zeigen seine gerade für ihn ganz ungewohnt „plumpen Tautologien“ wie: „Wenn wir dabei von Juden und Judentum sprechen, so meinen wir wirklich den Juden und nichts anderes“.228 Dass ihn dieses Thema zeitlebens gefangen hielt und in kaum einer Situation losließ, zeigte sich erneut in der schwierigen Kriegsphase 1943, was nicht nur aus den bisher veröffentlichten Tage­ büchern hervorgeht. Während der immer bedrohlicher werdenden Situation in Berlin  – „Ganz Berlin flüchtet, Zehntausende von Wohnungen stehen einfach leer“229  – überlegte Gretha Jünger, wie 227  Vgl. zur Furcht vor sozialer Ansteckung Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt/M. 1994, S. 7–69, sowie S. 360–390. 228  Zit. in: Gross, Juden (Anm. 221), S. 126 f. Die bis weit in die 1980er Jahre populäre Opferumkehr von Juden und Deutschen ist auch in Schmitts Camp-Notizen allgegenwärtig, siehe bspw. Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 415, S. 417. 229  So Carl Schmitt an Gretha Jünger am 8.8.[1943], in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 80.



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sie Carl und Duschka Schmitt in der ländlichen Umgebung Kirchhorsts unterbringen könnte.230 In Erwartung einer bunt gemischten Tischgesellschaft beschäftigte sie bereits vorab die Tischordnung wegen der für Carl Schmitt offenbar unverzichtbaren Tischgespräche zu Themen wie Kirchenpolitik im ‚totalen Staat‘, die Juden und die das ‚Jüdische‘ verkörpernden Freimaurer.231 Bei Gretha Jünger findet sich neben den gängigen Kollektiv-Stereotypen eine teils offene, teils klandestine antisemitische Semantik, die sie auch nach 1945 nicht preisgeben konnte, wobei ihre Äußerungen dazu je nach Textsorte  – ob private, unveröffentlichte Briefe oder veröffentlichte Textpassagen  – recht unterschiedlich ausfallen: Eine Differenz, in der sich nach 1945 die je akzeptierte öffentliche Meinung in der Bundesrepublik spiegelt. So notiert sie in ihrer 1949 veröffentlichten Palette unter dem Datum 23.9.1938, dass „H.“, gemeint ist Wilhelm Hausenstein, „das Unglück hat eine jüdische Frau zu b­esitzen und zu den Verfolgten zählt“.232 Doch die uneingeschränkte Zuordnung des Unglücks zum Ehemann ist kein lapsus linguae, wie schließlich ihre Erinnerung von 1955 in den Silhouetten dokumentiert: „Man lernte viel in dieser Zeit. Es kamen die Juden aus dem Konzentrationslager Belsen, und auch sie suchten unser Haus auf. Bis zum Jahre des Heils, 1933, war ich ihnen nicht gewogen, ich liebte sie nicht; besonders nicht die Juden Berlins und des Kurfürstendamms. Als ihre Verfolgung einsetzte, der Massenmord, und alles vergossene Blut zur fürchterlichen Anklage gegen uns aufstand, lernte ich dann, wie man sich des deutschen Namens zu schämen hatte. Und so lernen wir weiter bis zum Ende unseres Lebens, und das ist gut so. 230  Anima war von ihrer Mutter bereits am 7.8.43 nach Cloppenburg verbracht worden; in der Nacht vom 23. zum 24.8.1943 wurde die Wohnung Schmitts durch eine Luftmine zerstört, siehe Villinger/Jaser (Anm. 2), S.  80 f. 231  Vgl. dazu Gross, Juden (Anm. 221), S. 27 und S. 92–98. 232  Wilhelm Hausenstein (1882–1957), Schriftsteller und Diplomat, verheiratet mit der Jüdin Alice Marguerite (Margot) Kohn, war Redakteur bei der „Frankfurter Zeitung“ (Literaturbeilage), 1936 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und 1943 entlassen, bis Kriegsende versteckte er sich in Tutzing und arbeitete an seiner Autobiographie Lux Perpetua (1952). Er gehörte zum Bohéme-Bekanntenkreis der Münchner Jahre von Carl Schmitt, war u. a. befreundet mit Alfred Kubin und Theodor Heuss.

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Sie kamen und berichteten. Auch sie verlangten nicht Trost und Anteilnahme, sie klagten auch nicht an. Sie aßen von dem wenigen, das wir hatten und waren zufrieden. Dann, an einem Morgen, kam ein Jude den Gartenweg entlang, dessen Physiognomie mir so unangenehm erschien, daß ich Widerwillen verspürte. ‚Der nicht!‘ dachte ich, fest entschlossen, ihn weiter zu schicken. Er trat anmaßend auf, verlangte ein Frühstück und nahm ohne weiteres auf dem Gartenstuhl Platz. Ein ganz unbestimmtes Gefühl in mir verlangte Überwindung; wäre ich meiner eigentlichen Reaktion gefolgt, so hätte ich seine unverschämte Art beantwortet, indem ich ihn hinausgeworfen hätte. Jetzt aber brachte ich ihm ein Tablett mit Milch und Brot und setzte mich zu ihm. Warum nur? Es geschah etwas sehr Merkwürdiges: nach den ersten Worten, die er sprach, rollten ihm die Tränen aus den Augen, er öffnete sein Hemd über der Brust und zeigte mir die Narben von Folterungen. Um mich zu prüfen, hatte er jenen barschen Ton angenommen, nun nahm er meine Hand in die seine und versicherte, er werde es mir nicht vergessen, dass ich ihn nicht aus dem Hause gewiesen habe. Sein Gesicht, mir erst so zuwider, verwandelte sich und nahm einen Ausdruck an, den auch ich nicht vergessen habe“.233

Diese – veröffentlichte – Sequenz, in der das Leid eines KZ-Insassen von Bergen-Belsen vor allem Gretha Jüngers Menschlichkeit, ihre spontane Überwindung alter Vorurteile und die damit bestandene menschliche ‚Prüfung‘ spiegelt, inszeniert eine kollektive, imagebezogene Scham („des deutschen Namens“), aus der kaum eine individuelle Einstellungsänderung resultiert. Dieses Muster bestätigt auch ihr nicht-öffentlicher Brief, den sie einige Monate später anlässlich des anhaltend großen Erfolges von Ernst von Salomons Der Fragebogen an ihren „Seelenfreund“ Fritz Lindemann schreibt. Hier heißt es: „[A]llein es wird zu leicht vergessen, dass die Juden es selber waren, die damals zersetzend wirkten, die mit allem Vordrängen an alle Machtpositionen, mit ihren Kutisker-Skandalen und Genossen den eigentlichen Grund für die Nazis legen konnten und die fürchterliche Saat, die dann aufging. Ich habe jene Juden miterlebt, um zumindest einen jungen Menschen wie Salomon begreifen zu können, der in diesem Attentat234 einen 233 

S, S.  270 f. Der Barmat-Kutisker-Skandal ist einer der beiden großen Bestechungsskandale der Weimarer Republik und zugleich der bis dato längste Strafprozess der deutschen Justiz.  – Salomon war beteiligt am Attentat auf den jüdischen Außenminister Walther Rathenau; Gretha Jünger begrüßte den großen Erfolg von Salomons umstrittenem Werk „Der Fragebogen“ 234 



Ende des Krieges73 Dienst für die Nation zu erfüllen glaubte. Damit entschuldige ich weder diesen Mord noch alles, was späterhin an Juden begangen wurde.“

Im Vordergrund steht hier die Schuldzuweisung an die Opfer, die von Gretha nachgeschobene Distanz zum Holocaust dient vor allem der Abwehr von Lindemanns Vorwürfen an ihre Adresse, denn er stelle  – wie sie klagt  – „in allem das Ethos“ und damit die deutsche Schuld an den Juden voran, während sie selbst aus einer Posi­tion des Nihilismus argumentiere, der nicht dem „Einzelnen zum Vorwurf gemacht werden“ könne, da er „zeitlich gesehen  – ein Fluss [sei], durch den Alle hindurch müssen.“235 Mit dieser Definition des Holocaust als eines zeitlosen Schicksals kann das Unglück der zwölf Jahre – ähnlich wie bei von Salomon – als unabwendbar und die Täter als willen- und schuldlos erzählt werden. Gretha Jüngers politische Haltung eines geradezu nimmermüden, antisemitisch grundierten Nationalismus ist in hohem Maße durch Kaiserreich, die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik geprägt. Deren tiefe, bis vor den Ersten Weltkrieg zurückreichende Spur überlagert vielfach die Schrecken des Nationalsozialismus, von dem sie noch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges  – bei aller Distanz zur NS-Bewegung  – hoffte, er könne Verlust und Schmach des Ersten Krieges tilgen. Doch mit ihren eigenen leidvollen Kriegserfahrungen, den endlosen Bombennächten und dem Verlust des Sohnes, sieht sie sich  – wie viele Deutsche  – nachvollziehbar selbst als Opfer und dennoch zugleich vor die Frage gestellt, wie mit dem unbestreitbar grausamen, den Anderen zugefügten Leid, wie mit eigener Schuld und der Schuld der Deutschen umzugehen sei. In ihrer Palette heißt es dazu: „Die Empfindsamkeit des Schmerzes gleicht der der Beichte; die katholische Kirche weiß sehr wohl, warum sie den Beichtstuhl in das Dunkel hüllt. Der reuige, wie der von Leiden erfüllte Mensch erträgt weder das Licht, noch die Öffentlichkeit.“236

(1951); siehe dazu ihren Brief an Ernst von Salomon vom 22.4.1951 (DLA Marbach), vgl. auch Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 154 und S.  343 f. 235  Gretha Jünger an Fritz Lindemann am 9.1.1956 (DLA Marbach). 236  P, S. 110 f. (S. 111) (Eintrag am 26.3.1945).

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Dass sich die selbsterklärte ‚Heidin‘ Gretha Jünger im Kontext der Frage der ‚Schuld der Deutschen‘ auf den verschwiegenen Raum der katholischen Kirche beruft, folgt einer nach 1945 höchst populären Haltung, die Ausdruck nicht einer Schuld-, sondern einer SchamKultur ist. Was auf deren  – rein emotionaler  – Ebene zählt, ist „nicht die Mahnung des individuellen Gewissens, sondern die Verachtung des Publikums“, die verlangt, das Geschehene möglichst unsichtbar zu machen und schweigend zu übergehen, die Matrix dafür ist der Beichtstuhl.237 Diese Attitüde findet sich in beiden Häusern  – sowohl bei Ernst und Gretha Jünger als auch bei Carl und Duschka Schmitt: Für sie werden in der Nachkriegszeit Schweigen und Täter-Opfer-Umkehr zur Stanzform der kommunikativen Verständigung unter Eingeweihten über die Jahre 1933–1945. Sie gehören damit nicht zu jenen „Intellektuellen, die es verstehen, sich als gesellschaftliche Wesen zu vermitteln“, sondern zu „jenen, deren letzte anthropologische Worte Einsamkeit und Inkognito lauten“.238 Mit dieser genuin heroisch grundierten Haltung sehen sie sich vor eine Frage der ‚Bewährung‘ nicht nur für die Jahre nach 1933 gestellt, sondern auch für diejenige nach 1945. Carl Schmitt hat diese ‚Bewährung‘ aus seiner Sicht als christlicher Epimetheus bestanden – im Gegensatz zu Ernst Jünger, der sich seiner Meinung nach mit den Siegern (wie bpsw. Theodor Heuss u. a .) nach 1945 arrangierte.239

237  Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994, S. 219. Ob diese Flucht zur Institution Kirche sachlich gerechtfertigt war, sei dahingestellt, doch der Umgang mit Schweigen, Scham und Geheimnis ist ihr genuiner Erfahrungsraum  – bis heute. 238  Siehe dazu Eßbach, Formproblem (Anm. 216), S. 144. 239  Mit Theodor Heuss unterhielt Gretha Jünger einen kleinen Briefwechsel, der sich um ihren zweiten Erinnerungsband „Silhouetten“ (1955) drehte (DLA Marbach).

Ravensburg und Goslar: Trennung, Auszug, Krisen-Triade und „die Sache selbst“ (1948–1950) Mit der Nachkriegszeit begannen für Gretha Jünger neue pro­ blembeladene Jahre: Das häusliche Zusammenleben in Kirchhorst wurde aufgrund der Finanzknappheit des andauernden Publika­ tionsverbotes, Ernst Jüngers Okkupation durch Sophie Ravoux240 und der damit einhergehenden eisig-schweigsamen Atmosphäre von Abwesenheit und Desinteresse für die lebhaft-temperamentvolle 240  Am 9.9.1948 schrieb Gretha Jünger angesichts der häuslichen Atmosphäre einen Brief an seine Geliebte in Paris und teilte ihr mit, ihr eigener Begriff von Freiheit verlange, auf Ernst Jünger völlig zu verzichten; sie könne also alle Schritte einleiten, die sie zur Verbindung mit ihm führen. Der Brief liegt im Nachlass von Ernst Jünger (DLA Marbach) und ist vermutlich nie abgesandt worden, denn er war in erster Linie für ihn als Leser bestimmt. Die emotional intelligente Gretha wusste, dass sie nur mit solchen Signalen der Unabhängigkeit seinen Reiz an dieser Affäre dezimieren konnte – es war nicht das erste Mal, dass sie den Schriftsteller auf diese Weise mit dem Rea­ litätsprinzip konfrontierte. Das vorhersehbare Ergebnis war auch diesmal, wie u. a . sein Brief an Gretha in Goslar vom 13.1.1950 (in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 537 f.) zeigt, die von ihr erwartete Reaktion. Gretha konnte auch nach 1945 sehr sicher sein, dass E. J. sich wegen R. nicht von ihr trennen wird, denn es wäre angesichts der deutschen politischen Kultur (zumindest im ersten Nachkriegsjahrzehnt) für Jüngers Ansehen kaum opportun gewesen, eine deutsch-frz. Geliebte, die Halbjüdin war (siehe u. a . die Parsen-Tarnung in „Heliopolis“) zu ehelichen und sich von seiner langjährigen, sein Haus mit Leben erfüllenden Ehefrau Gretha zu trennen. Siehe dazu Grethas Brief an Ravoux in: Detlev Schöttker, Ernst Jünger, Sophie Ravoux und Joseph Breitbach. Zum deutsch-jüdischen Widerstand in Paris (1941– 1944), in: Jünger-Debatte 1. Ernst Jünger und das Judentum, hrsg. von Thomas Bantle, Alexander Pschera und Detlev Schöttker, Frankfurt/M. 2017, S. 51–65 (S. 57); hier auch Jüngers Tagebuchnotiz vom 6.3.1943 zur Frage, für welche Frau man sich entscheiden solle: es sei jene, die ihren Mann nicht teilen will  – genau das war Grethas Intention all ihrer Schachzüge, in späteren Jahren vor allem deshalb, weil Affären seine neusachliche Kälte erheblich intensivierten und ihren Alltag belasteten.

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Gretha bald unerträglich. In dieser bleiernen Zeit konfrontierte Hans Speidel241 die Jüngers im Oktober 1948 mit der dringenden Notwendigkeit eines raschen Umzuges in den Süden angesichts der neu drohenden Kriegsgefahr, denn er ging davon aus, sobald „der russische Koloss sich in Bewegung“ setze, sei Kirchhorst eines der ersten Aufmarschgebiete, so teilte Gretha nach seinem Besuch ihrem Seelenfreund mit.242 Überdies, so Speidels weiteres Argument für einen raschen Umzug, werde in der französischen Zone Jüngers Publikationsverbot entfallen. Er vermittelte dem Ehepaar eine kaum ausreichende Drei-Zimmer-Wohnung in Ravensburg, die 1949 die dreiköpfige Familie bald beziehen konnte. In relativ kurzer Zeit wurde dort die Publikation mehrerer Werke Ernst Jüngers möglich: Die Strahlungen,243 Bestseller des Jahres, und der neue Roman Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt erschienen. Beide Publikationen, insbesondere der Roman Heliopolis wurden für Schmitt zu einem erheblichen Stein des Anstoßes, da sie in aller Schärfe ihre Differenz „in der Sache selbst“,244 die sich bereits in den Auseinandersetzungen der Jahre 1933 und 1934 abzeichnete, erkennen ließen. Weiter erschien von Jünger 1949 u. a . im Züricher Verlag Arche (Peter Schifferli) ein erster regulärer Buchdruck von Der Friede  – eine bereits zuvor kursierende Schrift, die trotz Jüngers Hinwendung zu einer neuen Theologie, mit der er im Gebet eine Überwindung der Welt der Vernichtung erhoffte, kaum Schmitts Zustimmung finden konnte, worauf bereits seine scharfe Kritik an der Einleitung ver-

241  Speidel war ehemaliger Stabschef im Kommandostab des Militärbefehlshabers in Paris, dort Mitglied der sog. Georgsrunde, der auch Ernst Jünger angehörte; ab 1950 militärischer Berater u. a . im Amt Blank. 242  Gretha Jünger an Fritz Lindemann am 29.12.1948, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 301. 243  Erschienen im Frühjahr 1949 im Heliopolis-Verlag in Tübingen; Umfang: Strahlungen (S. 7–18), Das Erste Pariser Tagebuch (S. 19–192), Kaukasische Aufzeichnungen (S. 193–270), Das Zweite Pariser Tagebuch (S. 271–545), Kirchhorster Blätter (S. 547–648). Im gleichen Jahr erschienen drei Auflagen mit insges. 20.000 Exemplaren; siehe Carl Schmitt zu den „Strahlungen“: Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 201 f. (Eintrag vom 22.8.1949) u. ö. 244  So die wiederkehrend verwendete Benennung ihrer grundlegenden inhaltlichen Differenzen.



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weist.245 Die theologische Kontroverse trug jedoch vor allem Alexander Mitscherlich mit den Jüngers aus, der den Vorwurf eines strategischen Rückzugs auf die „Attitüde der Gläubigkeit“ und des Christentums erhob.246 Es verwundert daher kaum, dass Gretha Jünger in Ravensburg bald in steigendem Maße ob der bereits bei Schmitts letztem Besuch in Kirchhorst erkennbar gewordenen Spannungen in Sorge um den Fortbestand der Freundschaft war. Die von Jünger schließlich am 14.5.1949 offen angesprochene „Verstimmung“, die Schmitt zunächst als „Schallverlagerungen eines Briefwechsels“247 wertet, hatten zwar als Hintergrund ihre sehr unterschiedliche Situation in der Nachkriegszeit: Während von Ernst Jünger die neuen Veröffentlichungen „nach vier Jahren planmässiger Stauung“ in Druck gingen, wie Gretha Jünger ihm mit Erleichterung als „Dammbruch“ mitteilt, sind Schmitts Briefe von tiefer Resignation und Einsamkeit geprägt. Als überdies seine Frau Duschka eine Krebsdiagnose erhält, wurden Verunsicherung und Bedrängnis nahezu übermächtig. Dass Gretha Jünger ihm schließlich mit Stolz das Manuskript von Heliopolis (1949) zur Lektüre ankündigt, verbesserte die Lage nicht, sondern führte zunächst zu einem halbjährlichen Kontaktabbruch zwischen beiden. Schmitts Absage auf die Einladung zur Konfirmation seines Patenkindes Alexander im April 1949 in Ravensburg warf deutliche Schatten voraus.248 Doch die asymmetrische Situation beider war 245  Die Schrift unterlag zunächst dem alliierten Publikationsverbot und wurde 1946 von Wolfang Frommel im Argonauten-Verlag in Amsterdam als Widerstandsbuch gedruckt, daneben kursierten zahlreiche Abschriften, Privatdrucke u. a. Provisorien des Textes. Siehe dazu den Brief von Carl Schmitt an Ernst Jünger am 20.8.1948, in: Kiesel (Anm. 41), S. 231 f. 246  Mitscherlich sah in Jüngers „Rechts-schwenkt-Marsch ins Christentum“ eine Flucht als „taktische Notlösung“, die „der Reaktion, die jetzt aus allen Löchern kriecht, billigen Vorspann“ leiste. Mitscherlichs Vorwurf führte zu einem heftigen Konflikt mit Kontaktabbruch; siehe dazu Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 286, sowie die Briefe Mitscherlichs an Gretha und Ernst Jünger, S. 379–390 (DLA Marbach). 247  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 27.5.1949, in: Kiesel (Anm. 41), S. 238 f. (S. 238). 248  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 8.2.1949, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 115 f. (S. 115).

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lediglich der Auslöser, nicht jedoch die Ursache des bald aufbrechenden Konfliktes: für Schmitt war dies die erneute Aktualisierung „der Sache selbst“, die – der konkreten politischen Situation der NS-Zeit enthoben  – nun als sachlich-grundlegende Differenz zwischen beiden deutlich wurde. Zeitgleich mit Heliopolis publizierte Gretha Jünger ihren ersten Erinnerungsband Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe.249 Sie übersandte auch Carl Schmitt ein Exemplar mit der Bemerkung: „Was die ‚Palette‘ betrifft, so geben Sie sich keinen grossen Erwartungen hin; ich bin bewusst sehr sparsam im Ausdruck geblieben […]. Die Neugierde der Menge, mir unerträglich, sollte enttäuscht werden, wenn sie nach den Strahlungen die Gestalt E. J. ausführlich zu sehen hoffte.“250

In dieser als Tagebuch strukturierten Publikation wird Schmitt unter dem Namen Carolus häufig und in sehr freundschaftlicher Verbundenheit erwähnt – so heißt es unter dem 17. Mai 1942: „An Gästen Carolus, den ich immer mehr lieben lerne“.251 An seine Frau Duschka schrieb Schmitt über Grethas Erinnerungen nach Heidelberg: „Die Palette von Frau Jünger habe ich inzwischen gelesen; sie ist sympathischer als die Strahlungen ihres Mannes. In Heliopolis ist ein spannendes Kapitel, Ortners Erzählung. Das Buch ist ein Meisterwerk restloser Verwertung jedes Einfalles und der Zusammenstellung völlig verschiedenartiger Elemente zu einem großen Buch. Ich habe es noch nicht über mich bekommen, an Jünger zu schreiben.“252

Und einige Tage später: „Über Jüngers ‚Heliopolis‘ hat Friedhelm Kemp eine ziemlich tödliche Besprechung geschrieben […]. Er spricht von Jüngers angestrengten Fortschritten in der désinvolture, dem peinlichen Streben nach ‚erlesener 249  Erschienen im Juni 1949 im Hans Dulk Verlag, Hamburg, gewidmet dem toten Sohn und den von diesem Schicksal betroffenen Müttern. 250  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 29.10.1949, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 121 f. (S. 121). 251  P, S. 55 f. (S. 55) (Eintrag am 17.  Mai 1942). 252  Carl Schmitt an Duschka Schmitt am 24.11.1949, in: Carl Schmitt/ Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 342–345 (S. 343), siehe dazu auch Carl Schmitts Methodenkritik an Heliopolis vom 25.11.1949 in seinem Glossa­ rium (Anm. 143), S.  212 f.



Ravensburg und Goslar79 Geistigkeit‘ […]. Ich fürchte, Jünger ist viel zu selbstverpanzert, als dass er die Gefährlichkeit einer solchen Besprechung überhaupt bemerkt.“253

Auch zwischen Gretha und Ernst Jünger verstärkten sich aufgrund der häuslichen Situation die Spannungen während der Entstehungszeit der Strahlungen, was sie Carl Schmitt zunächst – im Wissen ihrer verwandten Geisteshaltung – nur in sehr indirekter Form allgemeiner Modernitäts- und Zivilisationskritik übermittelte. So schreibt sie: „Die Wut der Erpressung, mit der die verschiedenen Lemuren in diese geheimsten Kammern unseres Begriffes an Freiheit vorstossen möchten, wird zwar seit 1933 fortgesetzt […], trotzdem glaube ich, dass uns auch unser grösster Widersacher, der Zeitgeist, die wahre Freiheit nicht nehmen kann […]. Sie wissen vielleicht, wie sehr ich das 20. Jahrhundert verabscheue; in seinem gerühmten Fortschritt erblicke ich den eigentlichen Leerlauf, in dem Triumph seiner Maschinen den Todesstoss gegen die Natur […]. Es soll mich nicht wundern, wenn eines Tages in Amerika, diesem Lande, von dem alle Verrücktheiten ausgehen, und von dem unser Jahrhundert bestimmt wird, eine neue Erfindung die Menschheit beglückt: die Gedanken des Menschen durch Strahlungen aufzufangen. […] Von hier aus gesehen, ist mir der Russe fast angenehm, der von der zivilisatorischen Welt kaum Ahnung besitzt, und sich nur im Elementaren bewegt; […u]nd gerade diesen Zug an ihm finde ich erstaunlich: sich inmitten des technischen Wellenmeeres, gleichsam unberührt davon, zu bewegen“.

Und sie lässt keinen Zweifel daran, wer bereits jetzt „die Gedanken des Menschen durch Strahlungen“ versucht aufzufangen: „E. J., der den Osten nicht nur nicht liebt, sondern ihn nur wahrnimmt, wie man hinter der Linse des Mikroskopes ein fremdartiges Insekt betrachtet, gleitet mir zu rasch über diese Fragen hinweg; auch ist er der Mensch seiner Zeit und ihr Bejaher, ich bin das Gegenteil davon“.254

Es sind Äußerungen wie diese über Fortschritt, dessen Synonym Amerika, ihre Technikfeindlichkeit und Zivilisationskritik, die Gretha Jünger über viele Jahre hinweg für Carl Schmitt zu einer geschätzten Gesprächspartnerin machten.

253  Carl Schmitt an Duschka Schmitt am 29.11.1949, in: Carl Schmitt/ Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 345–347 (S. 346 f.). 254  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 4.5.1948, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 108–110 (S. 109 f.).

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Da sie angesichts der anhaltend eisigen Atmosphäre ihres Alltages bald an gesundheitlichen Problemen litt, vollzog sie schließlich im Herbst 1949 – nachdem sie bereits ein Jahr zuvor von ihrem Elternhaus aus die juristische Scheidung ihrer Ehe eingereicht hatte, dies jedoch auf heftiges Drängen Ernst Jüngers wieder zurücknahm – mit einem Ortswechsel die ersehnte räumliche Trennung mit prinzipiell offenem Ende.255 Sie verließ mit Sohn Alexander die bedrückenden Lebensbedingungen in den beengten Wohnverhältnissen in Ravensburg und zog sich zur Untermiete in die vertraute Umgebung der Stadt Goslar zurück. Im Verlauf des nächsten Halbjahres (bis Februar 1950) entwickelte sich eine intensive Annäherung zwischen ihr und Carl Schmitt  – gegenläufig verstärkten sich die Spannungen zwischen den beiden Panzerschiffen. Auf dem Weg in ihr neues Domizil (in dem sie sich rasch erholen wird), suchte sie die erkrankte Duschka in der LudolfKrehl-Klinik in Heidelberg auf; in der Folgezeit reiste sie mehrfach von Goslar aus nach Plettenberg zu Carl Schmitt, der sich an ihrer „sprachlichen désinvolture [und] an der Unmittelbarkeit Ihrer Briefe und Ihres Gesprächs“ erfreute.256 Mit ihm besprach sie auch kurz vor ihrer vorübergehenden Rückkehr nach Ravensburg über die Weihnachtstage sehr offen ihre persönlichen Nöte, die für sie durch die Veröffentlichung von Jüngers Strahlungen noch erheblich belastender wurden; dazu kam, dass Ernst Jünger  – unbeirrt von warnenden Stimmen  – den Plan eines Meskalin-Experiments weiter verfolgte, das sie ebenso entschieden ablehnte wie Carl Schmitt. Kurz nach Feiertagen und Jahreswechsel fuhr sie – gesundheitlich erneut heftig angeschlagen – auf dem Weg nach Goslar über Plettenberg zu Duschka und Carl Schmitt. Wenige Tage nach ihrer Weiterreise schrieb ihr Schmitt  – noch ganz unter dem Eindruck von 255  Sohn Alexander wurde im Gymnasium in Goslar angemeldet, Ernst Jünger logierte bis zu ihrer Abreise aus Ravensburg in München bei Schwester Hanna. 256  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 25.10.1949, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 119 f. (S. 119). Kurz vor ihrer mit Jünger vereinbarten Heimreise über die Weihnachtstage bat Schmitt sie explizit um einen Besuch; siehe Carl Schmitt an Gretha Jünger am 22.11.1949, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 122 f. (S. 123).



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Grethas Gesundheitszustand und der gemeinsamen Gespräche  – einige tröstliche Zeilen aus Angelus Silesius und ließ sie wissen, dass er bereits vor Tagen, am 10.1.1950, einen Brief an Ernst Jünger gesandt habe, von dem er sehr hoffe, dass er noch vor dem MeskalinExperiment bei ihm eintreffe.257 Dieser Brief war die zweite schriftliche Äußerung Carl Schmitts an Jünger zu Helipolis  – er fiel unter dem Eindruck von Gretha Jüngers Lage nicht ohne persönliche Schärfe aus. Zwar hatte er bereits in seinem ersten Schreiben vom 25.11.1949 zu Heliopolis betont, selbst „ein Chaopolit und kein Heliopolit“ zu sein, doch nannte er Ortners Erzählung in diesem Roman ein „Meisterstück“, das manches von E.  T.  A. Hoffmann überrage und zeigte sich beeindruckt von der „moraltheologischen Problemstellung“ des Kapitels „In der Kriegsschule“, das einen Pol zu Vitoria markiere.258 Doch nun, in seinem zweiten Brief, setzt Schmitts heftige Kritik direkt bei der „Figur der Parsin“259 an, über die er – so lässt er Jünger wissen  – mit seiner Frau Gretha ein „heftiges Nachtgespräch“ geführt habe, das sich vor allem um die Parsin drehte, die ihm selbst „zum spitzesten Stein des Anstosses wurde, während Frau Jünger gerade diese Figur in der rührendsten Weise zu verteidigen suchte“.260 Dass Schmitt hier mit der „Parsin“ weniger die jüdische Frauenfigur in Heliopolis meint, sondern vor allem die „Pariserin“ Sophie Ravoux – also Grethas Problem und nicht nur Jüngers Camouflage für das Wort Juden261  –, traf bei Jünger einen höchst empfindlichen Punkt, wie seine rasche und gereizte Antwort zeigt: 257  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 14.1.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 126–128 (S. 126). 258  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 25.11.1949, in: Kiesel (Anm. 41), S. 241 f. (S. 241). „Andere Erfahrungen“ meint im Kontext, dass Schmitt die Juden nicht als die Verfolgten (wie in Heliopolis), sondern als Verfolger wahrnimmt. 259  Die Parsen sind in Heliopolis Platzhalter der Juden. 260  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 10.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 243–245 (S. 244). 261  Sophie Ravoux war Halbjüdin und in Paris zunehmend gefährdet; Jünger wollte offenbar in Heliopolis mit den Parsen, die dort „die Erbschaft der Verfolgung“ angetreten haben und vielfach Pogromen ausgesetzt sind, nicht nur die Juden, sondern ein duales Prinzip von Gut und Böse präsen-

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„Meine gute Frau hat mit Recht viel zu klagen über mich. Aber sie kennt mich doch, über die Schönheitsflecke hinaus. Das ist es, was ich von einer Frau und von Freunden voraussetze. Sonst bleibts doch nur Soziologie. Man muß wissen, mit wem man’s zu schaffen hat. Daß ich auch von meinen Freunden auf meine Fehler aufmerksam gemacht und zurechtgewiesen werde, ist richtig, und ich muß es dankbar hinnehmen und wohl berücksichtigen.“262

Schmitts Parteinahme für Gretha Jünger öffnete jedoch die Schleusen für seine bisher zurückgehaltene Kritik an Heliopolis, die er nun ins Grundsätzliche auf „die Sache selbst“263 ausweitet: Er teilt Jünger mit, dass er bei der Lektüre der Rezension264 des „als klugen und ehrlichen Mann“ geschätzten Karl Korn „bei dem Wort ‚privat‘ […] beinah erstarrt [sei]. Es fliesst scheinbar beiläufig ein, wirkt aber ungewollt wie ein Pfiff, der alles zerstört. Dieses ‚Privat‘ ist ein böses Stichwort. Ich verstehe etwas davon. […] Ernst Jünger ist längst privat geworden und flösst nicht einmal mehr Misstrauen ein, ausser der Art Misstrauen, die Herrn de Mendelsohn beseelt.“265

Schmitts Notizen in seinem Glossarium erläutern das Korn-Zitat als heftige Kritik an Jüngers Methode des Verschwindens ins Unpolitische; dort heißt es: Jünger setze „sich die Nebelkappe einer halb mythologischen Verschleierung auf, weicht in vielsagende Landschaften und Räume aus, malt Böcklin-Landschaften historisch-politisch, spricht nicht mehr von Juden, sondern von Parsen, obwohl jeder sieht, daß es sich um ihn und die Juden usw. handelt, nicht mehr von Nazis, sondern von Demos und vom Landvogt, nicht mehr von der SS, sondern von Mauretaniern, nicht mehr von sich

tieren, siehe Ernst Jünger an Carl Schmitt am 28.11.1949, in: Kiesel (Anm. 41), S. 242 f. (S. 243). 262  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 16.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 246–248 (S. 248). 263  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 10.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 243–245 (S. 244). 264  Karl Korn, Der Sprung ins Wunderbare. Zu Ernst Jüngers neuem Buch „Heliopolis“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 24.12.1949, S.  5 f. 265  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 10.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 243–245 (S. 244 f.).



Ravensburg und Goslar83 selbst, sondern vom Kommandanten Lucius.266 […] Es ist alles wunderbar freibleibend und der eifrige Leser, der nun wissen möchte, was der Autor über die Juden oder die Nazis denkt, bleibt ebenso gefoppt wie der Autor freibleibt. Eine sehr praktische, in Zeiten schnell wechselnder Fronten überaus empfehlenswerte Methode der Deckung durch Verschlüsselung. Man redet sehr weise und sehr viel und redet sich doch nicht fest; man sagt soviel, daß ein dickes Buch entsteht und hat schließlich doch nichts Gefährliches gesagt“.267

Mit dem Stichwort Gefährliches spielt Schmitt erneut auf die Anlässe an, die bereits in der Vergangenheit ihre Differenz in der „Sache selbst“ aufbrechen ließen und zu heftigen Warnungen vor allzu großer Nähe mit den Nationalsozialisten und schließlich zur Frage führten, wer von beiden berechtigt ist zum Urteil in letzter Instanz über den je Anderen. Vorausgegangen war diesem aktuellen Aufriss in der „die Sache selbst“ Schmitts erstes Schreiben zu Heliopolis vom 25.11.1949 mit dem Hinweis auf die „Parsen und Parsinnen“, mit denen er „andere Erfahrungen gemacht und andere Erlebnisse gehabt“ habe, was Jünger umgehend in Form einer Warnung an Schmitt repliziert: „Sowohl Ihre Übersicht als auch Ihre Umsicht und Vorsicht haben in einer Weise zugenommen, die den Eindruck höchster geistiger Macht erweckt. Nur hinsichtlich der Parsen seien Sie freundschaftlich gewarnt. Sie kennen doch sonst die neuralgischen Punkte gut.“268 266  Lucius, der für den Autor Jünger steht, ist der Erhellende, Glänzende. In seinem Glossarium hält Schmitt noch am 1.3.1951 im Kontext des Arbeitsrechts fest, Jünger hätte darüber ein Buch schreiben sollen, „statt über Lucius und seine hochgebildete Parsin“; er unterstreicht damit die nachwirkende Heftigkeit seiner Anwürfe an Jünger und die Parsin Sophie Ravoux, vgl. Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 239 f. (S. 239). 267  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 212  f. (S. 213) (Eintrag vom 25.11.1949). In Karl Korns Rezension heißt es über „Heliopolis“: „Wie privat aber und streckenweise öd belanglos sind die Begebenheiten in den luxuriös und raffiniert asketisch ausgestatteten Appartements all dieser ­ Herrn im Stabe, wie unfreiwillig komisch die Uniformdetails und der schnieke Kommandokram der Herren unter sich! Man ist sehr nobel“, in: Korn, Sprung (Anm. 264), S. 5. 268  Carl Schmitt an Ernst Jünger am 25.11.1949, sowie: Ernst Jünger an Carl Schmitt am 28.11.1949, in: Kiesel (Anm. 41), S. 242 f., mit Dank für Schmitts Donoso Cortés-Aufsatz; der Text „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation“ erschien erstmals anonym in: Die neue Ordnung.

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Schmitts Antwort darauf vom 10.1.1950  – mit der er die Frage der Parsen ganz in Richtung Sophie Ravoux lenkt  – wertet Jüngers Parsen-Warnung recht knapp als bloß taktische Angelegenheit ab, vorgebracht in unpassender, weil schriftlicher Form. Jüngers rasche wie kurze Antwort vom 13.1.1950 umgeht zunächst die Schärfe von Schmitts Zeilen und äußert die Hoffnung auf ein Gespräch. Drei Tage später greift er jedoch  – offenbar emotional überwältigt  – in einem nachgeschobenen Brief erneut „die Sache selbst“ auf und betont, gleichfalls das Recht zu haben, Schmitt „in der Sache Rat zu erteilen; ich habe das angesichts der folgenschwersten Entscheidung Ihres [Schmitts] Lebens nachgewiesen, und Sie werden sich der Nacht entsinnen, in der ich Sie in der Friedrichstraße verließ und in großer Trauer war. Auch damals lebte ich in meinen Alltag nicht vorbildlich. Wären Sie aber in der Sache meinem Rat und Beispiel gefolgt, so würden Sie heute vielleicht nicht mehr am Leben sein, aber berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich. Wäre ich damals Ihrem Rat gefolgt, so würde ich heute gewiß nicht mehr am Leben sein, weder physisch, noch sonst. Das müssen Sie anerkennen, denn da Sie mich einladen, in die Sache einzutreten, so muß es geschehen.“269

Das Echo auf diesen Brief Jüngers, das Schmitt in seinem Glossarium am 5.2.1950 festhält, zeigt, wie rettungslos tief die Differenz „in der Sache“ zwischen beiden war: „Die beiden Briefe Jüngers (10. und 16.  Januar 1950) habe ich genau gelesen. Capisco. Er sagt wörtlich ‚Wären Sie aber in der Sache meinem Rat und Beispiel gefolgt, so würden Sie heute vielleicht nicht mehr am Leben sein, aber berechtigt zum Urteil in letzter Instanz über mich.‘ Gut. Capisco et obmutesco. So spricht ein Überlebender zu einem Überlebenden! Er stellt zwei irreale Conditionalsätze auf. Er sagt: Der Überlebende

Zeitschrift für Religion, Kultur, Gesellschaft 3 (1949), S. 1–15. Schmitt verwendet darin an keiner Stelle das Wort Juden oder jüdisch, sondern spricht von Liberalismus in all seinen Facetten; Schlagworte sind: „liberale Bourgeoise“, „unverschämte Herrschaft der Geldaristokratie“, Diskussion statt Entscheidung etc. 269  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 16.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 246–248 (S. 247, kursiv von der Autorin); siehe dazu auch den Kommentar, S. 679 f.: Zwei Daten kommen dafür in Betracht: Schmitt Zustimmung zur Ernennung zum Staatsrat und sein Text Der Führer schützt das Recht vom 1.8.1934 als Reaktion auf den sog. Röhm-Putsch.



Ravensburg und Goslar85 hat Unrecht, denn ich wäre vielleicht nicht mehr am Leben; vorher aber sagt er: Er selbst (obwohl doch schließlich auch überlebend) wäre gewiß nicht mehr am Leben (weder physisch noch psychisch), wenn er mir gefolgt wäre. Ist das nicht die Rabulistik eines Ich-verrückten Rechthabers? Nachwirkung seines Mescalin-Experimentes?“.

Die „Sache selbst“, um die sich Auseinandersetzung dreht,  – das legt noch Jüngers später Eintrag in Siebzig verweht vom 18.11.85 nahe  – meint vor allem Carl Schmitts Artikel vom 1.8.1934 Der Führer schützt das Recht.270 Anlässlich der Aktualisierung dieses Konflikts hielt Schmitt bereits am 17.1.1950 im Glossarium fest: „Die Sorge um Ernst Jünger: Jetzt verliert er doch noch den Pour le Mérite. […] Er konstruiert sich sein Leben als gefährlich. Das lassen sich die anderen, die wirklich in Gefahr waren, nicht gefallen und diejenigen, die heute gefährlich leben, noch weniger. Auf diese Weise gerät er in den Streit um die Frage, wer am meisten gefährdet war oder ist. Wie trau­ rig.“271

Deutlich sieht sich Schmitt nicht nur aktuell, sondern auch im Rückblick wirklicher Gefahr ausgesetzt, während ihm Jüngers Gefahr vorwiegend als Selbst-Konstruktion erscheint. Die Fronten, die sich zwischen beiden in der NS-Zeit zumeist verdeckt formierten, erhalten erkennbar nach 1945 eine neue Aktualität und werden nun stilisiert zur Probe nicht nur ihrer Freundschaft, sondern auch zur je persönlichen Bewährung angesichts der „heutigen Restauration“, wie Schmitt die Nachkriegszeit charakterisiert.272 Die durch „die Sache selbst“ ausgelösten Spannungen lassen die ganze Dimension ihrer inhaltlichen Differenzen erkennen; sie führte nach diesem Schlag­ abtausch von Februar bis September 1950 zu einer Unterbrechung ihres Kontaktes.273 Gretha Jüngers Krise mit Ernst Jünger war für

270  Zu Schmitts Artikel in der DJZ weist Kiesel auf eine Notiz Jüngers in Siebzig verweht III vom 18.11.1985 hin, die auf diesen Artikel Schmitts vom 1.8.1934 verweist, siehe Kiesel (Anm. 41), S. 680. Zu Schmitts Warnung an die Adresse Jüngers siehe Carl Schmitt an Ernst Jünger am 10.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 243–245. 271  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 221 (Eintrag vom 17.1.1950). 272  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 229 (Eintrag vom 10.5.1950). 273  Der Briefwechsel wurde von Jünger wieder aufgenommen und stand zunächst ganz im Zeichen von Duschka Schmitts Erkrankung.

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das zwischen beiden ohnehin vorhandene Konfliktpotential lediglich ein Katalysator, der die Schleusen öffnete.274 Zeitgleich mit diesem Schlagabtausch forderte Jünger seine Frau Gretha recht ultimativ auf, umgehend Goslar aufzugeben und wieder nach Ravensburg zurückzukehren. Er schreibt ihr: „Immer noch geht mir Dein Brief durch den Kopf, der mir für Tage heftige Migräne verursacht hat. Vielleicht schadet das nichts. Inzwischen schrieb mir auch C. S. – an sich herzlich, doch muß ich mich immer wieder fragen, ob es richtig ist, daß Du im Lande reist und solche Gespräche über mich führst […]. Auch lebe ich nicht so, wie Du vermutest […]. Im Augenblick, in dem Du mir ausdrücklich Freiheit gegeben hast, ist diese überflüssig geworden, und vielleicht hätte mich das schon längst vorher geheilt. Ich will Dir auch nichts versprechen, habe jetzt aber von mir aus die Notwendigkeit erkannt“.275

Dieses selten abgründige Dokument an Unverbindlichkeit und Schuldzuweisung an Grethas Adresse, die unter ihrer häuslichen Situation doch recht zu leiden hatte, lässt bereits ihren künftigen Alltag erahnen. Jünger ignoriert ihren Vorschlag von künftig zwei Wohnsitzen, auf die sie in ihrem letzten Brief drängte, damit sie zur häuslichen Situation Distanz gewinnen könne und „die Schärfe mit der Zeit einer klaren Übersicht Platz macht […]. Eine Nord- und eine Südklause wäre so übel nicht, man kann sich besuchen, wenn man den Wunsch verspürt, man kann sich fern bleiben, wenn das Gegenteil der Fall ist.“276 Doch der zu geringe finanzielle Buchertrag und unklare Geschäftspraktiken des damaligen Verlegers verhinderten diese Pläne bereits aus ökonomischen Gründen; bei Ernst Jünger wären sie auch jenseits davon auf entschiedene Abwehr gestoßen. Gretha Jünger leistete dennoch der Aufforderung ihres Ehemannes Folge und reiste nach Ravensburg zurück  – irrigerweise in der 274  Vgl. zur literaturwissenschaftlichen Kritik an „Heliopolis“: Kiesel, Biographie (Anm. 35), S. 558–573; dort auch ein informativer Überblick über den Roman. 275  Ernst Jünger an Gretha Jünger am 13.1.1950, in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 537 f. Von Gretha Jünger und Carl Schmitt wurde Gerhard Nebel als „Verstärker“ der Spannungen angesehen; beide verbannten ihn aus ihrem Kreis, Gretha versöhnte sich mit ihm erst kurz vor ihrem Tod. 276  So beschrieb sie ihr Vorhaben Fritz Lindemann am 20.9.1949, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 313.



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Hoffnung, die häusliche ‚Eiswüste‘ sei nun aufgetaut und der „Raubtiergeruch“ habe sich verzogen.277 In dieser Erwartung schrieb sie an Schmitt: „Ihr Brief278 hat mir sehr wohl getan; mit gleicher Post rief mich E. J. nach Ravensburg zurück. Ich werde am 1. Februar hier [Goslar] abreisen, weil ich fühle, dass er mich braucht, und dass unser gemeinsamer Anruf von ihm aufgenommen wurde. Ich empfinde sehr stark die Bedeutung unseres Wiedersehens in Plettenberg, und dass Sie es sind, der das künstliche Gebäude um ihn sprengte; bislang brachte Niemand den Mut dazu auf, und ich befand mich allein. So darf ich Ihnen auch sagen, dass ich Ihnen mehr verbunden bin als je zuvor“.

Weiter appelliert sie an Schmitt, angesichts von Jüngers Äußerungen im „entmaterialisierten Zustand“ seines Meskalin-Experiments, an ihrem Mann niemals zu zweifeln, denn sie seien Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit ihm.279 Dass Schmitt derart narkotische Botschaften – anders als Gretha Jünger, die sich nun erneut ganz auf die Seite ihres Mannes stellt – keineswegs schätzte, geht nicht zuletzt aus seiner Notiz im Glossarium hervor, in der er Jüngers Logik des Rechthabens als Folge seines Drogen-Experimentes bewertete.280 Es überrascht ob solcher Dissonanzen kaum, dass in den folgenden Monaten auch der Briefwechsel zwischen Gretha Jünger und Carl Schmitt recht einseitig wurde. Die Ursache für sein Schweigen war eine tiefe Verstimmung, was seine späte Antwort auf einen wiederholten Brief Grethas belegt, mit dem sie erneut auf ihre gemeinsamen Gespräche in Sachen Ravoux zurückblickt und Schmitt wissen lässt, dass sie beide bei „E. J. den Eindruck eines Forums [am] Richtertisch“ erweckt hätten, weshalb er „weder Ihnen noch mir den Hinweis auf Dinge [verzeiht], die er als nebensächlich, als untergeordnet empfindet […]. Er erblickt in ihnen Schwächen, aber keine Gefährdungen; er glaubt, dass es nicht Zuneigung und Sorge, son277  So Gretha Jünger an Fritz Lindemann am 8.3.1951, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 342. 278  Gemeint ist Schmitts trostreicher Brief an Gretha Jünger vom 14.1.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 126–128 (S. 126). 279  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 15.1.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 128. 280  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 222–225 (S. 222 f.) (Eintrag vom 5.2.1950).

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dern Ressentiment und heftige Kritik waren“, die ihre gemeinsamen Gespräche über ihn bestimmten, weshalb Schmitt für Jünger „aus einem wohlwollenden Freunde zum Ankläger und Richter“ geworden sei. Ihr selbst mache er „den Vorwurf, diese Anklage geteilt, und dadurch eine zwanzigjährige Freundschaft zerstört zu haben.“281 Angesichts der Spannungen zwischen den beiden ‚Panzerschiffen‘ beschriftet Jünger nun auch das Sündenregister seiner Frau Gretha: Er sieht sie nicht nur verantwortlich für seine notorischen Affären – inklusive der langjährigen zu Sophie Ravoux  –, weil sie ihm dafür den Freibrief282 zu spät ausstellte, sondern auch für die Zerstörung seiner langjährigen Freundschaft mit Carl Schmitt. Tatsächlich dokumentiert die Attitüde hochempfindlichen Gekränktseins von Schmitt und Jünger recht eindrucksvoll die Fragilität ihrer Welt, bedingt durch den Verlust des bisherigen sozialen Status bei unverändert konkurrierendem Männerideal. Zum anderen zeigt es ihre eingeübten Mechanismen der Konfliktbewältigung: Kränkung und Verunsicherung werden auf asymmetrische Weise entsorgt und auf schwächere Dritte verschoben. Gretha trifft dies bei ihrem Ehemann zeitnah und alltäglich in der auch nach ihrer Rückkehr unverändert neusachlich-kalten Atmosphäre; Carl Schmitt verstummt vorübergehend und ignoriert ihre Briefe, doch bei ihm staut sich Ärger an, der knapp drei Jahre später zum abrupten Abbruch seines Kontaktes zu ihr beitragen wird. Doch zunächst gelang es Gretha Jünger (nach mehreren brieflichen Interventionen) zwischen beiden die „Verkrampfung“  – die nach einem ersten Treffen am 7.11.1949283 eher intensiver geworden sein dürfte – zu lösen und den Bruch wieder zu glätten, wie Schmitt nach einem zweiten Treffen mit Jünger in Wehrdohl im September 1950 feststellt.284 Auch Carl Schmitt und 281  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 14.6.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 131 f. (S. 131). 282  Siehe Anm. 275. 283  Siehe dazu die Schilderung von Anima Schmitt, die während des Treffens anwesend war: Brief von Anima Schmitt an Duschka Schmitt vom 7.11.1949, in: Reinhard Mehring, „Eine Tochter ist das ganz andere“. Die junge Anima Schmitt (1931–1983), Plettenberg 2012, S. 22 f. 284  Siehe Gretha Jünger an Carl Schmitt vom 15.8.1950, in: Villinger/ Jaser (Anm. 2), S. 135 f., sowie Carl Schmitt an Duschka Schmitt vom 12.9.1950, in: Carl Schmitt/Duschka Schmitt (Anm. 138), S. 373 f. (S. 373).



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Gretha Jünger nahmen danach ihren Briefwechsel wieder auf  – er gilt nun ganz der Unterstützung und Sorge von Duschka Schmitts Krankheit bis zu ihrem Tode.285 Wenige Monate nach Grethas Rückkehr aus Goslar wurden die Jüngers zu ihrer großer Erleichterung der räumlichen Enge der Ravensburger Wohnverhältnisse enthoben, da sie von Graf Friedrich von Stauffenberg das Angebot erhielten, ab August 1950 zunächst in das Schloss in Wilflingen einzuziehen, was ihr zugleich Anschluss an ihren imaginären Familienroman bedeutete.286 Wenige Monate später wechselten sie in das gegenüber liegende Barockhaus, die ehe­ malige Oberförsterei, das ebenfalls zum Ensemble des Schlosses in Wilflingen gehört.

Das Treffen fand am 10.9.1950 bei Peterheinrich Kirchhoff statt, die Aussprache zwischen Jünger und Schmitt im Rahmen eines zweistündigen Spazierganges, wie Carl Schmitt an Duschka Schmitt am 12.9.1950 unmittelbar nach dem Treffen schrieb. 285  Am 3.12.1950, Gretha Jünger per Telegramm mitgeteilt, vgl. Edith Mohler, In Wilflingen 1950–1953, in: Armin Mohler, Ravensburger Tagebuch. Meine Jahre bei Ernst Jünger 1949/50, hrsg. von Edith Mohler, Wien und Leipzig 1999, S. 90–109 (S. 94). 286  Siehe dazu auch Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 17 und S.  329 ff.

Duschka und Carl Schmitt: Tod und Ende einer Freundschaft (1950–1953) Angesichts von Duschkas Erkrankung traten die seit 1934 mehrfach sichtbar gewordenen Verwerfungen „in der Sache“ zwischen Schmitt und Jünger etwas in den Hintergrund. Gretha Jünger schlägt im September 1950 vor, Duschka in ihre pflegerische Obhut nach Wilflingen bringen zu lassen.287 Kurz darauf erhielt sie von Duschka in Erwartung ihres baldigen Todes einen Abschiedsbrief, in dem sie Gretha um Organisation und Übernahme ihrer Überführungs-, Beerdigungs- und Krankenhauskosten bat und darum, sich nach ihrem Tod für einige Tage bei Anima und Carl Schmitt aufzuhalten, was Gretha sofort zusagte. Sie verabredete mit ihr des Weiteren, dass sie im Falle ihres Todes umgehend von der nicht mehr verschiebbaren Reise zum Grab des Sohnes in Carrara zurückkehren und das Vereinbarte übernehmen werde.288 Kurz nach ihrer Rückkehr aus Italien erhielt Gretha Jünger am 3.12.1950 ein Telegramm mit der Nachricht vom Tode Duschkas und reiste sofort nach Plettenberg. Wieder in Wilflingen zurück gedachte sie in einem Schreiben an Carl Schmitt des bewegenden Abschieds von seiner Frau und seiner neuen, schwierigen Situation, da er nun allein den Angriffen von ehemaligen Weggefährten und Öffentlichkeit ausgesetzt sei.289 Ihre Einla287  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 2.9.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 139 f. (S. 139). 288  Die Einreiseerlaubnis nach Italien war nur innerhalb eines genehmigten Zeitfensters möglich. Verständigen sollte sie der in Basel lebende Hans Obrist (1903–1956), ein Schweizer Industrieller, zu dessen Umfeld der Schweizer Chemiker und Entdecker des LSD, Albert Hofmann (1906– 2008), sowie die Mäzenatin Marguerita Meerwein gehörten. 289  Siehe Gretha Jünger an Carl Schmitt am 13.12.1950, in: Villinger/ Jaser (Anm. 2), S. 144 f.; das Begräbnis fand am 7.12.1950 in Plettenberg statt, vgl. „Beerdigung von Duška Schmitt“, in: Ernst Hüsmert über Carl Schmitt. Herscheider Erinnerungen, hrsg. von Gerd Giesler, Berlin 2017, S. 17.



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dung an ihn und Anima, sie im Frühling im neuen Haus zu besuchen, verstand sie auch als Versuch, beide Familien wieder enger in Kontakt zu bringen und die von Duschka hinterlassene Leerstelle etwas auszufüllen. Ihr folgender Briefwechsel mit Carl Schmitt bis zum Sommer 1953 vermittelt im besten Sinne den Eindruck eines überaus harmonisch-familiären und freundschaftlichen ­Austausches.290 Schmitt berichtet ihr in seinen Briefen von öffentlichen Angriffen, Kränkungen und Einsamkeit in Plettenberg, aber auch von Besuchen, Einladungen zu Vorträgen, Gutachten, Stellungnahmen und kommentiert seine Beobachtungen zu Politik, Kultur und Gesellschaft. Er erörtert regelmäßig die Vorlieben und Studienpläne seiner Tochter Anima, die selbst brieflichen Kontakt mit Gretha Jünger unterhielt und immer wieder für einige Tage als Gast in Wilflingen weilte, so auch im Sommer 1951. Im Februar 1952 war Anima eine begeisterte Teilnehmerin von Grethas Kostümfest, das alljährlich im Hause Jünger recht aufwendig über die Fastnachtstage ausgerichtet wurde.291 Auch ihre „literarischen Sprünge“ verfolgte sie mit Inte­ resse, wie die Übersetzung des Buches von Lilian Winstanley Hamlet, Sohn der Maria Stuart aus dem Englischen ins Deutsche, zu dem Carl Schmitt das Vor- und Nachwort verfasste.292 Zur Drucklegung des Werkes stellte Gretha Jünger den Kontakt mit dem ihr freundschaftlich verbundenen Verleger Günther Neske her. In ihren Briefen an Schmitt versuchte Gretha Jünger ihn mit meinungsstarkem Rat zu trösten  – doch er fasste die öffentlichen Angriffe auf seine Person als liberal-bürgerliche Ritualmorde mit distanzierten Zuschauern auf, die zwar für Kafkas Prozess literarisches Interesse zeigten, jedoch „an den unerhörten Prozessen und Prozeduren

Siehe Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 145–185. Siehe die Schilderung dieses Festes durch Anima Schmitt, in: Mehring, Eine Tochter (Anm. 283), S. 25–27. 292  Carl Schmitt, Vorwort und „Hinweis für den deutschen Leser“ zu diesem im Verlag Neske erschienenen Buch: Hamlet, Sohn der Maria Stuart, Pfullingen 1952, S. 7–25 und S. 164–170; siehe dazu auch Carl Schmitt an Ernst Jünger am 16.7.1952, in: Kiesel (Anm. 41), S. 257 f. (S. 258), sowie Gretha Jünger an Carl Schmitt am 23.11.1952, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 173–175. 290  291 

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der heutigen Wirklichkeit […] lieber vorbei“ gehen.293 Angesichts seiner Situation zwischen Ausgrenzung und Einsamkeit regte sie ­einen Wohnortwechsel an, um der ländlichen Situation des vom geselligen Verkehr abgeschiedenen Sauerlandes zu entkommen. Sie schreibt ihm: „Sie machen mir Sorge, wie Sie ja überhaupt mein Sorgenkind sind, nachdem Duska uns verlassen hat. Plettenberg darf für Sie nur der Punkt sein, an den Sie immer wieder zurückkehren. Die dortige Einsamkeit ist für Sie schädlich, weil Sie nie die Möglichkeit eines Gespräches haben; wie soll ein Kopf wie der Ihrige die vielen dritten Garnituren aushalten? […] Nach so langen Jahren erzwungenen Schweigens sollten Sie beweg­ licher werden; Köln, Frankfurt, beides sagt Ihnen doch zu. Eine Privatpension in der Sie betreut werden, wird sich doch finden lassen!“294

Obwohl Gretha selbst die Abgeschiedenheit des Dorfes bevorzugte, war ihr Schmitts tägliche Belastung durch seine schwierige Wohnsituation bewusst: Er lebte in Plettenberg mit seiner Familie, zu der auch Anni Stand gehörte, in der „Dachwohnung des Hauses [seiner beiden] Schwestern“, in der das Zusammenleben „nicht ohne Spannungen“ verlief; besondere Bürden waren  – neben der akustischen Bedrängnis durch die Klavier unterrichtende Schwester – „die räumliche Enge, die sich erschöpfenden materiellen Reserven“, sowie die „immer deutlicher werdende Ablehnung seiner Person in der Öffentlichkeit“.295 Im Briefwechsel dieser Jahre war erneut Grethas schwierige Situation im Hause Jünger Thema ihres brieflichen Austausches, wobei sie ihre sehr angegriffene Gesundheit nur recht knapp andeutet  – man kann davon ausgehen, dass dieses Problem seit ihrer abrupten Rückkehr aus Goslar ein etwas neuralgischer Punkt zwischen den Briefpartnern war, denn ihre Krankheitssymptome waren ein wesentlicher Auslöser für Schmitts harsche Parsin-Kritik, was jedoch Gretha nicht davon abhielt, Jüngers Wunsch nach Rückkehr sehr rasch Folge zu leisten. 293  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 28.2.1951, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 145–147 (S. 145). 294  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 16.9.1952, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 171 f. (S. 172). 295  van Laak, Gespräche (Anm. 140), S. 33.



Duschka und Carl Schmitt93

Erst ein Jahr später – ab Mitte April 1951 mit dem Umzug in die Stauffenbergsche Oberförsterei  – sprach sie an Carl Schmitt und Tochter Anima mehrfach von beiden gerne angenommene Einladungen aus. Von Armin Mohler, der seit 1949 einen regen Austausch mit Schmitt pflegte, berichtet sie in dieser Zeit, dass er „nach wie vor ein lieber Hausgenosse“ sei und aus Treue „einen Posten in Rom“ ausgeschlagen habe.296 Ihre Korrespondenz des Jahres 1952 stand ganz im Zeichen dieser familiär-freundschaftlichen Atmosphäre, zu der Schmitt schrieb: „Mir wird die unendliche Einmaligkeit unseres Lebens am meisten bewusst, wenn ich mich der 22 Jahre erinnere, die wir uns jetzt kennen.“297 Im Dezember 1952 besuchte Schmitt auf Grethas Vermittlung den Verleger Günter Neske im Kloster, wie sie dessen Wohnsitz in Pfullingen nannte.298 Er reiste danach für einige Tage weiter nach Wilflingen, wo sich die Gespräche u. a . um die gemeinsamen Berliner Jahre drehten, so auch  – aus aktuellem Anlass seiner Rückkehr nach Deutschland  – um den skandalumwitterten NS-Botschafter in Japan, Eugen Ott, den die Jüngers 1931 im Hause Schmitt kennenlernten, wo er mit seiner Frau bei den Abendgesellschaften nicht selten anzutreffen war.299 Bis auf die um Gerhard Nebel und Heinrich Gremmels300 erkennbaren Irritationen,301 die Gretha allerdings gänzlich personalisierte 296  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 15.4.1951, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 147 f. (S. 147); siehe dazu den von Mohler gekürzten Briefwechsel mit Carl Schmitt: Armin Mohler (Hrsg.), Carl Schmitt  – Briefwechsel mit einem seiner Schüler, Berlin 1995. 297  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 16.2.1952, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 160 f. (S. 161). 298  S, S. 192 f.; Gretha Jünger an Carl Schmitt, Weihnachten 1952, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S.  175 f. 299  Anlass der Gespräche war Otts Rückkehr nach Deutschland; während seiner Zeit als Botschafter in Japan war er mit dem Mehrfachspion Richard Sorge so eng befreundet, dass dieser die deutsche und japanische Kriegsplanung an die Sowjets übermitteln konnte, siehe dazu Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 176, sowie Robert Whymant, Richard Sorge. Der Mann mit den drei Gesichtern, Hamburg 1999. 300  Der Jurist Gremmels, 1940 bei Carl Schmitt promoviert, war ein Regimentskamerad von Ernst Jünger und  – neben Gerhard Nebel u. a .  – 1946 in Wuppertal Mitbegründer von Der Bund. Wissenschaftliche Gesellschaft zur geistigen Erneuerung, zu deren Diskussionsgruppen Gäste wie

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und nicht als Teil „der Sache selbst“ erkannte, schien der von ihr im Januar 1949 beschworene „Geist der Fremdheit“, den sie bei seinem letzten Besuch in Kirchhorst registrierte, gänzlich verflogen zu sein.302 Tatsächlich jedoch war der damals sichtbar gewordene Riss deutlich tiefer als von ihr wahrgenommen und bestand trotz aller Harmonie subkutan weiter: Während es bis 1945 schien, dass es vor allem anlassbezogene, politisch bedingte Differenzen in Sachen Nähe zum NS-Regime waren, wurde nun der Riss als fundamentale Differenz „in der Sache selbst“ erkennbar, wie seine Notizen vom 10. Oktober 1948 im Glossarium dokumentieren. Dort notiert er zu Grethas Klage der Fremdheit: Ihm, dem „Chaopoliten“ bleibe eben selbst „im Chaos nichts als die Unterscheidung der Geister“, die zugleich eine „Freund-Feind-Unterscheidung [sei]. Alles andere wäre Spaß.“303 301

Und genau um diesen „Spaß“  – den Schmitt dem Bereich des Unpolitisch-Privaten zuordnet – drehten sich 1948 die Gespräche in Kirchhorst. Im Anschluß an dieses Treffen sandte Jünger an Schmitt sein persönliches ‚Spaß-Manifest‘ in Gestalt von Henry Millers Wendekreis des Krebses – versehen mit dem provokanten Hinweis, Millers Façon sei schließlich auch „einer der Wege, auf denen man dem Leviathan entgeht“.304 Carl Schmitts umfänglicher Kommentar dazu im Glossarium dokumentiert die ganze Dimension der Verwerfung, die diese Männer-Freundschaft all die Jahre – auch jenseits der Frage Jürgen Habermas, Arnold Gehlen, Ingeborg Bachmann, aber auch Carl Schmitt und Hans Magnus Enzensberger gehörten. 301  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 9.2.1950, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 129 f., und Carl Schmitt an Gretha Jünger am 20.4.1951, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 148–150. 302  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 5.1.1949, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 110–112. Das Zusammentreffen beider in Wuppertal ist dokumentiert durch Ernst Jüngers Brief an Gerhard Nebel, siehe: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 112. Schmitts letzter Besuch in Kirchhorst, auf den sich Gretha Jüngers Brief bezieht, konnte nicht nachgewiesen werden. 303  Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 153 (Eintrag am 10.10.1948); Carl Schmitt erhielt das Manuskript der ‚Strahlungen‘ Mitte März 1948 von Gerhard Nebel in Wuppertal, wie Schmitt an Ernst Jünger am 26.4.1948 mitteilt, 304  Ernst Jünger an Carl Schmitt am 12.10.1948, in: Kiesel (Anm. 41), S. 234.



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von Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus  – durchzog. Nun, nach 1945, stellte sie auch die „Wirklichkeit“ für die weiteren Konflikte bereit.305 Eine der zentralen Achsen markiert in diesem Spannungsfeld der Begriff Fortschritt, der bei Miller als Hymnus auf die Humanität erscheint, der jedoch für Schmitt nichts als das in der Kunst mit „literarischer Desinvolture präpariert[e]“ Fleisch sei; ihm repräsentiert diese Entwicklung in Wahrheit vor allem eine Steigerung des „Nichts und des Nihilismus“ in das „Nicht-Nichts!“, denn die im Namen der Humanität entstehenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien nichts anderes als ein „Blut- und Kot-Mythos, dessen Tötungspotential beachtlich ist“.306 Schmitts grundsätzliches Drehmoment lautet im Blick auf Millers Façon: In einer Zukunft ohne Feind gibt es keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit mehr, sondern nur die unendlich viel schlimmeren Verbrechen für die Menschlichkeit.307 Dem setzt Schmitt betont die Suche nach Entscheidungen entgegen, Jüngers Suche dagegen gilt den „Qualitäten“ – so Jünger über sich selbst.308 Im Verhältnis von Schmitt und Jünger sind Begriffe wie Fortschritt, Technik, Humanität und Menschheit ein geradezu unausschöpfliches Reservoir für ihre Differenz in „der Sache selbst“. Ein Schlagwort bei dieser Konstellation genügte, um immer wieder den Dissens wie eine Stichflamme auflodern zu lassen. Zumeist wurden dabei zur Entladung über dem Haupt von Gretha Jünger die Klingen gekreuzt, da sie im konkreten Alltag die Mittlerin zwischen den he305  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 7.7.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 182; Schmitt bezieht sich auf die „Wirklichkeit“, die der Briefwechsel vom Januar 1950 mit Ernst Jünger ihm enthülle. 306  Schmitt, Glossarium (Anm. 143) S. 153 f. (Eintrag zu Henry Miller am 16.10. und 18.10.1948). 307  Eine weitere Drehung ins ‚jenseits der Linie‘ nennt Schmitt: statt Absolutismus, der „absolute Mensch“, den „absoluten Humanitär“, siehe Schmitt, Glossarium (Anm. 143), S. 298 f. (S. 298) (Eintrag am 21.7.1953). 308  So Schmitts Notiz über ein Gespräch von Jünger mit Oberheid u. a ., in: Schmitt, Tagebücher 1930–1934 (Anm.  15), S.  322 (Eintrag am 25.1.1934). Schmitt bildet solche „Qualitäten“ in seiner Anti-Liste ab  – sie basieren nicht auf einer transzendenten, der Polarität von Freund-und-Feind folgenden Logik, sondern einer Logik der Immanenz, wie Schmitt im Glossarium am 21.7.1953 festhält (Anm. 143), S. 298 f.

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terogenen Positionen war; sie bemühte sich auch, jenseits der ihr lange unklaren Ursache des in Kirchhorst bemerkten Risses, das Gesprächsband zwischen beiden immer wieder zu knüpfen.309 Tatsächlich aber stand sie mit ihrer Sicht auf die Dinge  – den zivilen wie politischen, permissiven und technischen – des 20. Jahrhunderts dem Briefpartner Carl Schmitt deutlich näher als dies bei Ernst Jünger der Fall war und sie in seinem Zukunftsmodell Der Arbeiter (1932) beschrieb. Für Gretha Jünger aber war gerade dieses Werk nichts als ein düsteres Produkt „von Fabriken und Untergrundbahnhöfen“ der städtischen Morbidezza und zugleich ein Signum der Moderne des sog. Fortschritts westlicher Zivilisation, dem sie in Haltung, Alltag und Lektüren entschieden den gänzlich anderen Lebensentwurf des O ­ stens sowie eines einfachen Lebens auf dem Lande entgegensetzte.310

309  Man kann davon ausgehen, dass es Gretha Jünger war, die am Abend vor der Taufe den Vorschlag machte, den Täufling nicht nur Alexander, sondern Carl Alexander zu nennen. 310  Siehe dazu Gretha Jüngers Brief an Carl Schmitt am 4.5.1948, in: Keith/Schöttker (Anm. 3), S. 108 ff., sowie: Gretha Jünger an Duschka Schmitt am 10.9.1933, zit. Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 171.

Epilog – Wer ihn infrage stellt, ist sein Feind311 (1953) Dennoch war es Gretha Jünger, mit der Carl Schmitt im Juli 1953 den Kontakt recht unvermittelt abbricht  – und nicht etwa Ernst Jünger, mit dem ein grundlegender Dissens bestand. Schmitt unterbrach zwar nach der Miller-Affaire den Briefwechsel mit Jünger für ein Jahr (von Januar 1953 bis Januar 1954), womit ein weiteres Mal „die Sache selbst“ die Umstände bestimmte.312 Gretha Jünger führte in dieser Zeit zunächst mit Schmitt den Briefwechsel weiter und versuchte zu vermitteln. Dabei zeigte sich, dass inzwischen in die bisherige Konflikt-Triade zwei weitere Akteure eingetreten waren: Jüngers langjähriger Sekretär Armin Mohler und der Verleger Günther Neske.313 Wenngleich der Konflikt zwischen Schmitt und Jünger sich unverändert um den alten Glutkern drehte, wurde doch die Heftigkeit der persönlichen Verletzungen durch diese beiden Akteure und deren wechselseitigen Idiosynkrasien erheblich verschärft. Erste Andeutungen finden sich in Gretha Jüngers Brief an Carl Schmitt vom 11.6.1953, in dem sie ihm nach ihrem Besuch in Pfullingen berichtet, Neske sei mit ihr der Meinung, dass „der Treue­ begriff Mohlers auch ein wenig Pubertätsgeschmack besitzt, und [überdies] irreführend“ sei, da er Carl Schmitt nicht „von dem Wirbel“ unterrichtete, den er bei Jünger durch seine unnütze „Schilde-

311  Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt/M. 1998, S. 119. 312  Die drei kurzen Briefe von Schmitt an Jünger – im Januar 1953, sein Brief zu Jüngers Geburtstag im März und den Brief vom 9.  Mai 1953, in: Kiesel (Anm. 41), S. 259 f.  – blieben offenbar unbeantwortet. 313  Zwischen beiden bestand ein scharf ausgeprägtes, konkurrierendes Spannungsfeld; siehe dazu den Brief von Gretha Jünger an Carl Schmitt, Weihnachten 1952, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S.  175 f.

98 Epilog

rung der Plettenberger Gespräche“ ausgelöst habe.314 Schmitt antwortete ihr am 25.6. und teilte mit, er habe von Mohler315 die „Abschrift eines an E.  J. gerichteten Briefes über Neske“ erhalten, weshalb er sehr auf ein klärendes Gespräch mit Gretha Jünger hoffe; er wolle auch gerne mit ihr über Animas sich rasch intensivierende Beziehung zu Heinrich Popitz sprechen.316 Die beiden Briefe situieren die neuen Akteure (Mohler und Neske) in den Konfliktszenarien und zeigen zugleich die Verbundenheit der beiden Briefpartner. Gretha schrieb Schmitt wenige Tage später, am 29.6.1953, dass sie umgehend nach Hannover reisen müsse, um die Pflege ihrer ernstlich erkrankten Mutter zu übernehmen. Zum schwelenden Konflikt teilt sie ihm mit, es bestehe kein Zweifel mehr daran, dass Mohler „Sie gegen E. J. aus[spielt], E. J. gegen Sie; mich gegen meinen Mann und ihn gegen mich, er hat über Neske Unwahrheiten verbreitet und E.  J. auf das Schlimmste gegen ihn eingenommen“. Der Zweck von Mohlers „Doppelspiel“, so Gretha weiter, könne „nur auf einem überspitzten Geltungsbedürfnis beruhen“, gepaart „mit grosser Indiskretion und wenig Überlegung“. Sie sieht ihre langjährigen Bemühungen, „das alte Vertrauen zwischen Ihnen und E.  J. wieder herzustellen“ von Mohler torpediert und bedauert angesichts der Zuspitzung zutiefst, dass sie nicht länger darüber schweigen könne, obwohl dies Schmitt nicht dienlich sei; sie rät ihm abschließend Mohler gegenüber zu großer Zurückhaltung.317

314  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 11.6.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 177 f. (S. 177). Wie sich später herausstellte, hatte Mohler im Auftrag von Ernst Jünger Carl Schmitt am 5.4.1953  – nachdem er Jünger von Schmitts Äußerungen in Kenntnis gesetzt hatte – von einem geplanten Besuch in Wilflingen abgeraten, ohne jedoch Gründe für diese Störung (deren Urheber er mit den bei Jünger kolportierten Äußerungen von Schmitt war) zu nennen. 315  Mohler arbeitete inzwischen in Paris für die schweizerische Tageszeitung Die Tat. 316  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 25.6.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 179. Der von Schmitt erwähnte Brief Mohlers an Ernst Jünger vom 22.6.1953 befindet sich im DLA Marbach; im Briefwechsel Schmitt– Mohler (Anm. 296) ist unter diesem Datum lediglich ein leicht gekürztes Schreiben von Mohler an Schmitt publiziert; in Mohlers Originalbrief ist der Name Günther Neskes enthalten. Hinweis von Gerd Giesler.

Epilog99

Eine Woche später, am 4.7.1953, schreibt sie erneut an Schmitt, nun aus Hannover vom Krankenbett ihrer Mutter, dass sie zu ihrem Kummer nicht an seinem „Ehrentage teilnehme[n]“ könne, obwohl sie gerne auch mit Barion ein altes Streitgespräch fortgesetzt hätte. Zum Konfliktszenario führt sie aus, dass Mohler seiner vermittelnden Stellung im Hause Jünger nicht nachgekommen sei und statt­ dessen bei Jünger den Eindruck hervorrief, Schmitt sei sein größter Feind. Sie selbst verzeihe Mohler nicht, dass er damit gleichfalls ihre „nächsten Freunde, zu denen Sie [Schmitt] und Günther Neske zählen, in Misskredit zu bringen“ versuche.318 Aus Schmitts umgehendem Antwortbrief  – der zugleich sein letzter an Gretha Jünger sein wird – vom 7.7.1953 geht hervor, dass Mohler ihn dankenswerterweise davor gewarnt habe, im Mai 1953 zu einem vereinbarten Treffen nach Wilflingen zu kommen  – mit der Begründung, er werde sich „todsicher mit Jünger wieder in die Haare“ geraten.319 Dieses Vorgehen erinnere ihn an die Situation nach Grethas Besuch in Plettenberg im Januar 1950 und den sich daran anschließenden Konflikt mit Ernst Jünger „in der Sache selbst“, den er offenbar in seiner ganzen „Wirklichkeit“ nicht ernst genug genommen habe; er betont abschließend, dass es zutiefst traurig sei, mit ihr zusammen nicht ihr aufmerksames Geburtstaggeschenk probieren zu können.320 317

Zwanzig Tage später, am 27.7.1953, zeigt sich Gretha Jünger in einem Brief an Schmitt zuversichtlich, dass das zwischenzeitlich stattgefundene Gespräch Günther Neskes mit Ernst Jünger dazu beigetragen habe, „die sinnlose Arbeit Mohlers gegen eine neue Ver­ ständigung zu entkräften“ und hofft auf ein Wiedersehen zwischen 317  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 29.6.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 180. 318  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 4.7.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 181. 319  Armin Mohler an Carl Schmitt vom 5.4.1953, in: Mohler (Anm. 296), S. 139; Mohlers Absage an Carl Schmitt war offenbar mit Ernst Jünger abgesprochen. 320  Carl Schmitt an Gretha Jünger am 7.7.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 182. Gemeint ist Carl Schmitts zweiter Heliopolis-Brief an Ernst Jünger vom 10.1.1950, in: Kiesel (Anm. 41), S. 243–245, in dem er Jüngers ‚freundschaftliche Warnung‘ aufgreift.  – Gretha Jünger hatte an Schmitt ein Paket mit Wein und Cognac zum Geburtstag gesandt.

100 Epilog

beiden, „ganz im Sinne unserer alten Freundschaft“. Sie betont weiter, gegen derartige Intrigen machtlos zu sein, hofft auf eine Aussprache zwischen Schmitt und Jünger, freue sich auf ein Wiedersehen und beschwört ihre gemeinsame Nähe im Zeichen Duschkas. Daraufhin erhielt sie von Schmitt so wenig eine Antwort wie auf ihren nächsten (und letzten) Brief vom 8.10.1953, in dem sie noch einmal „die Mohler-Affäre“ erläutert und die Hoffnung zum Ausdruck bringt, „dass der alte Geist einer Freundschaft doch wohl stärker ist als alle gelegentliche Unlust und Kritik“, und lädt Schmitt mit Erwartung und Herzlichkeit nach Wilflingen ein.321 Auch da­rauf reagiert Schmitt nicht mehr. Die Schuld, die Schmitt in diesem finalen Konflikt der stets um Vermittlung bemühten Gretha mit seinem abrupten Kontaktabbruch aufbürdet, bringt sie in die Rolle eines Boten im antiken Drama, dessen Bericht es nicht mehr gelingt, die konkreten Verletzungen zu verhüllen und eine Peripetie herbeizuführen. Denn Mohler wie Neske haben den Schrecken der kränkenden Reden der beiden Panzerschiffe in ihrer je (zugespitzten) Version bereits übermittelt, weshalb Grethas Versuch einer deeskalierenden Vermittlung auf Schmitt wie die Täuschung einer Frau wirkte, die sich in den dualen Kampf des männlichen Diskurses auf Augenhöhe mit einer abweichenden Stimme einzumischen versucht. Ihr Versöhnungsversuch fiel deshalb auf sie selbst zurück: Schmitts ‚Lösung‘ war  – wie bereits im Umgang mit dem Nationalsozialismus  – die ‚Sicherheit des Schweigens‘: er beantwortete keinen ihrer Briefe mehr, beharrte trotz ihrer beiden weiteren Schreiben auf dem endgültigen Kontaktabbruch und verweist sie so auf einen außerhalb der Männerdomäne liegenden Platz. Schmitt stellte damit die heilsgeschichtliche Ordnung seiner Welt wieder her: Der christliche Epimetheus sah für die langjährige Weggefährtin keine diskursive Augenhöhe mit eigener Haltung oder gar abweichender Meinung vor  – sie nahm mit ihrer Infragestellung die Gestalt seines Feindes an.322 Er billigte ihr offenbar lediglich die Rolle demütiger Hinnahme des Faktischen seiner Entscheidung zu, 321  Gretha Jünger an Carl Schmitt am 27.7.1953 und am 8.10.1953, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 183 bzw. S. 184 f. (S. 185). 322  Zum Todestag von Duschka sandte sie Schmitt noch eine Grußkarte, in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 185.

Epilog101

ganz so wie es seinem marianischen Geschichts- und Frauenbild entsprach, das – auch ohne theologischen Unter- oder Überbau – in der Kultur (nicht nur) der Nachkriegszeit das Herrschende ist. Sein Verstummen im Juli 1953 traf die kommunikative, Gespräche und Freundschaft hochschätzende Gretha Jünger mit voller Wucht.

Eventum Eineinhalb Jahre später, ab März 1955, wird Gretha Jünger von Carl Schmitt wieder am Ende eines Briefes an Ernst Jünger unter der üblichen Formel „Grüße an Ihre Frau“ erwähnt. Zur Buchmesse im Herbst 1955 erscheint von Gretha Jünger unter ihrem Herkunfts-Namen Gretha von Jeinsen ein zweiter, in der Presse viel beachteter Erinnerungsband Silhouetten. Eigenwillige Betrachtungen im Verlag Neske, Pfullingen, in dem sie Duschka Schmitt ein eigenes Kapitel widmet.323 Carl Schmitt erwähnt sie darin mit keinem Wort  – im Gegensatz zu ihrem ersten, weniger literarischen Band  Die Palette. Tagebuchblätter und Erinnerungen (1949), in dem sie ihn unter dem Pseudonym Carolus mehrfach empathisch würdigt. Kurz darauf, am 22.11.1955, beklagt sich Schmitt bei Armin Mohler, dass ihm Gretha Jünger kein Exemplar ihrer Silhouetten zugesandt habe; er bestellte den Band im Buchhandel. – 1995, in der Ausgabe des von Mohler (recht subjektiv) ausgewählten Briefwechsels mit Carl Schmitt, hält er als Herausgeber in Fn. 247 fest, es handle sich bei den Silhouetten um eines jener „Büchlein, mit denen […] Frau Gretha Jünger beweisen wollte, daß sie mehr als nur die Frau eines berühmten Mannes sei.“324 Im November 1957 lädt Carl Schmitt das Ehepaar Ernst und Gretha Jünger zur Hochzeit seiner Tochter Anima ein – seinen Kontaktabbruch mit Gretha Jünger erwähnt er dabei mit keinem Wort; Ernst Jünger sandte Glückwünsche. Ende November 1957 erkrankt Gretha Jünger an einem bereits weit fortgeschrittenen Karzinom. 323  Zur Rezeption ihrer Schriften siehe auch Villinger, Unsichtbare Frau (Anm. 5), S. 345–360. 324  Mohler (Anm. 296), S. 210.

Eventum103

Ernst Jünger schreibt ein Jahr später, am 22.11.1958, an Carl Schmitt: „Mir wäre es wichtiger, wenn Sie sich mit meiner Frau Gretha wieder vertragen würden“. Schmitt reagierte nicht darauf. Gretha Jünger stirbt am 20.11.1960 im Alter von 54 Jahren. Ernst Jünger sandte ihre Todesanzeige am 24.11.1960 an Carl Schmitt; er antwortet am 30.11.1960 mit einem knappen Zweizeiler, in dem er sein Schweigen bekräftigt. Der Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Carl Schmitt wird – in deutlich reduzierter Form  – erst acht Jahre später, am 16.7.1968 von Jünger wieder aufgenommen. Der Verleger Günther Neske versandte auf Wunsch von Gretha Jünger nach ihrem Tode einen von ihr am 26.  Mai 1959 verfassten, umfangreichen Brief an Armin Mohler, in dem sie präzise Gründe und Abläufe rekonstruiert und kommentiert, die zu Carl Schmitts Abbruch des Kontaktes mit ihr führten. Als Resümee hält sie fest: „Er zog es vor, einen ‚jungen Mann, den er brauchte‘, seiner alten, und in vielen schweren Situationen seines Lebens erprobten und bewährten Freundin vorzuziehen, deren Wort allein ihm genügt haben sollte. Das muss er mit sich abmachen. Er wird darüber nachzudenken haben, ob sein charakterliches Bild seine vielen persönlichen Gegner erklärt, oder das politische.“325

Mohler verbrannte diesen Brief unmittelbar nach Erhalt, um ­ retha Jüngers Stimme endgültig zum Verstummen zu bringen; ein G weiteres Exemplar des Briefes ging  – ebenfalls auf ihren Wunsch  – an Carl Schmitt.

325  Dieser Brief Gretha Jüngers vom 26.5.1959 ist in toto abgedruckt in: Villinger/Jaser (Anm. 2), S. 190–192 (S. 192). Er gibt Auskunft über Mohlers weitere Strategien.

Personenregister Im Einzelnen nicht erwähnt werden: Gretha und Ernst Jünger, Duschka und Carl Schmitt, sowie: Ingeborg Villinger (Biographie Gretha Jünger) und Villinger/Jaser (Briefwechsel Gretha Jünger mit Carl Schmitt) Alwens, Ludwig  24 Andric, Ivo  45, 49 Bantle, Thomas  20, 54, 75 Berber, Friedrich  44 Berggötz, Sven Olaf  20 f., 24 f. Bernstorff, Grafen von  10 Binswanger, Margarete und Robert  37 Bismarck, Otto von  45 ff., 50 Blomert, Reinhard  14 Böll, Heinrich  48 Borgwardt, Elizabeth  69 Bosch, Manfred  37 Braeuer, Walter  44 Brock-Sulzer, Elisabeth  37 ff. Bronnen, Arnold  15

Eßbach, Wolfgang  66, 74 Fischer, Hugo  14, 18, 25, 35 Flick, Friedrich  66 Forsthoff, Ernst  31, 45, 51 Frank, Hans  31 f., 33 Frevert, Ute  13 Frommel, Wolfgang  77

Droste-Hülshoff, Annette  37 Dulk, Hans  78

Gantzel, Klaus Jürgen  44 Germain, André  17 Giesler, Gerd  11, 23, 46, 50, 90, 98 Gilbert, Hubert E.  16 f. Gilles, Werner  50 ff. Göring, Hermann  28, 47 Goltz, Joachim, Freiherr von der  16 Gremmels, Heinrich  93 Grewe, Wilhelm  42, 44 f., 49 Groh, Ruth  92 Gross, Raphael  67 f., 70 f. Gruber, Sabine  34 Günther, Albrecht, Erich  45 Günther, Gerhard  20, 45

Ehrke-Rotermund, Heidrun  18, 47 Elster, Ludwig  43 d’Èpinay, Louis  37 Erich, Karin  12

Hausenstein, Wilhelm  71 Heldt, Werner  50 ff. Helfritz, Hans  29 ff. Heller, Kevin Jon  69

Cassirer, Ernst  70 Claaßen, Oswald  16 Conze, Eckart  10 f., 26

Personenregister105 Herbert, Ulrich  69 Heuss, Theodor  71, 74 Hielscher, Friedrich  16 Hitler, Adolf  15, 35, 42, 45 ff., 55, 60, 68 ff. Hofmann, Albert  90 Hüsmert, Ernst  90 Jeinsen, Bruno von (gen. Kurt)  11 Jeinsen, Harry von  10, 13, Jessen, Jens  42 ff., 49, 53 f. Jessen, Käthe  49 Jünger, Alexander Joachim  28, 30 ff., 40, 53, 59, 77, 80, 96 Jünger, Friedrich Georg  14 ff., 20, 23, 33, 36 f., 45, 52 Jünger, Hanna, verh. Deventer  80 Jünger, Hans Otto  17, 28, 56 Junior, Richard (Ps. Ernst Jünger)  21 f. Kafka, Franz  91 Keith, Anja  7, 35, 43, 48, 94 ff. Kemp, Friedhelm  78 Kessler, Harry Graf  34 Kettenacker, Lothar  69 Kiesel, Helmuth  17 ff., 34 ff., 41, 46 ff., 50, 52 f., 56, 60 ff., 77, 81 ff., 84 ff., 91, 94, 97 ff. Kirchoff, Peterheinrich  89 Kochavi, Arieh J.  69 Koellreutter, Otto  31 f., 68 Koenen, Andreas  29 ff., 32 Kohn, Alice Marguerite  71 Korn, Karl  82 f. Kraus, Günther  32 Kubin, Alfred  71 Laak, Dirk van  45, 66, 92

Lang, Markus  69 LaRoche, Sophie von  37 Larson, Erik  15 Lauermann, Manfred  14 Leistikow, Hans  66 Lengen, Hajo von  46 Lethen, Helmut  74 Lindemann, Fritz  61, 72 f., 76, 86 f. Loewenstein, Karl  69 Lokatis, Siegfried  54 Longerich, Peter  44 Lukács, Georg  66 Mann, Thomas  45 Martus, Steffen  54 Maschke, Günter  20 Meerwein, Marguerita  90 Mehring, Reinhard  20, 66 f., 88, 91 Melville, Hermann  52 f. Miller, Henry  94 f., 97 Mitscherlich, Alexander  17, 26, 77 Mohler, Armin  89, 93, 97 ff., 102 ff. Mohler, Edith  89 Moltke, Helmuth von  16 Mühsam, Erich  27 Müller, Adam  19 Müller, Guido  43 Müller, Hans Michael  42, 47 Mußgnug, Dorothee und Reinhard  52 Mussolini, Benito  49 Nebel, Gerhard  86, 93 f. Neske, Günter  91, 93, 97 ff., 100, 102 f. Neumann, Volker  35, 68 Niekisch, Ernst  35 ff., 50, 62 f.

106 Personenregister Nietzsche, Friedrich  16, 43 Oberheid, Heinrich  95 Ott, Eugen  93 Ott, Ulrich  34 Pauly, Curt  28 Pell, Herbert C.  69 Pfaffendorf, Elfriede  33 Pfaffendorf, Hermann  33, 55, 64 f. Poe, Edgar Alan  52 Podach, Erich Friedrich  66 Polaschegg, Andrea  57 Popitz, Heinrich  98 Popitz, Johannes  50 ff., 54 Pschera, Alexander  20, 54, 75 Rabutin-Chantal, Marie de  37 Raskolnikov, Fjodor  17 Rathenau, Walther  16, 72 Ravoux, Sophie  58, 75, 81 ff., 87 f. Reißner, Clarissa  17 Rein, Adolf  30 Reinthal, Angela  45, 52 Reventlow, Franziska von  37 Ribbentrop, Joachim von  42, 44 f., 50 Röhm, Ernst  33 ff., 67, 84 Rohan, Karl Anton, Prinz von  42 f. Rothermund, Erwin  18, 47 Salomon, Bruno von  16 Salomon, Ernst von  16, 72 f. Scarpa, Gino  49 Schauwecker, Franz  16 Scheringer, Richard  41 Schlegel, Caroline  37 Schleicher, Kurt von  33 ff. Schmitt, Anima  71, 88, 90 f., 93, 98, 102

Schöttker, Detlev  7, 35, 43, 48, 54, 94 ff. Schranz, Franz  35 Schultz, Edmund  16 Siedler, Wolf Jobst  59 f. Smith, F. Bradley  69 Soden, Kristine von  15 Sombart, Nicolaus  17 Sorge, Richard  93 Speidel, Hans  55, 76 Stahl, Friedrich Julius  20 Stauffenberg, Friedrich Graf von  89 Steding, Christoph  21 Stolleis, Michael  10, 30, 32 Strasser, Otto  16 Thomas, Michael  15 Tielke, Martin  29, 45 f., 60, 66 ff. Ueberschär, Gerd R.  69 Varnhagen, Rahel  37 Walz, Gustav, Adolf  30 Weber, Hermann  44 Weber, Jan Robert  33 Weber, Werner  42, 49 Weichenhan, Michael  57 Weickhmann, Wilhelm von  17 Weininger, Otto  34 Whymant, Robert  93 Winstanley, Lilian  91 Witthuhn, Viktoria  24 Zelle, Margaretha Gertruida (gen. Mata Hari)  12 Ziegler, Benno  54