Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre. Eine werkanalytische Einführung 9783848753048, 9783845294865

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Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre. Eine werkanalytische Einführung
 9783848753048, 9783845294865

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Wolfgang A. Mühlhans

Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre Eine werkanalytische Einführung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5304-8 (Print) ISBN 978-3-8452-9486-5 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Mutti

Danke

Herzlichst danke ich meiner Frau Barbara, die Hoch- wie Tiefstimmungen des Autors mit beeindruckender Gelassenheit immer wieder „aufgefangen“ hat. Mein Sohn Maximilian hat Unregelmäßigkeiten des technischen Equipments umgehend wieder in die nötige Ordnung gebracht und bei der Literaturbeschaffung geholfen, lieben herzlichen Dank. Ein großes Dankeschön meiner Schwester Jutta Eckert und ihrem Mann Wolfgang, die mich während der entscheidenden Abschlusssemester in Frankfurt am Main so herzlich bei sich aufgenommen haben. Lieben Dank auch meiner Cousine Elke Lugert (M.A.), die wichtige Teile meines Manuskripts gelesen hat und durch kritische Nachfragen und Diskussionen wertvolle Anregungen gab. Besonders danke ich Frau Dr. Sandra Frey vom Nomos-Verlag, die dieses Buch mit ruhiger Hand von der ersten Konzeption bis zur Fertigstellung begleitete und dem Autor die Zeit ließ, die er brauchte. Alle verbliebenen Fehler und Unklarheiten dieses Buches liegen ausschließlich in der Verantwortung des Autors. Uffenheim, im September 2018

Wolfgang A. Mühlhans

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

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Erster Teil: Grundlegungen.

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Erstes Kapitel:

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Schuld und Schuldarten (1910).

I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg. II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910). Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912) I. Referendariat in Düsseldorf (1). II. Gesetz und Urteil (1912). 1. Der staatsrechtliche Positivismus. 1.1. Staatswillenspositivismus. 1.2. Die reine Rechtslehre Hans Kelsens. 1.3. Die politischen Konsequenzen des staatsrechtlichen Positivismus. 2. Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis. 2.1. Vorbemerkungen. 2.2. Das Problem: Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig? 2.3. Der Wille des Gesetzes. 2.4. Das Postulat der Rechtsbestimmtheit. 2.5. Die richtige Entscheidung. 2.6. Die Frage nach der Legitimation der legitimierenden Autorität. III. Referendariat in Düsseldorf (2). 1. Ein Dichterfreund: Theodor Däubler. 2. Carita („Cari“) von Dorotic

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur. I. II. III. IV.

Drei Tischgespräche (1911). Der Spiegel (1911). Schattenrisse (1913). Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 1. Vorbemerkungen. 2. Recht und Macht. 3. Der Staat. 4. Der Einzelne. II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn. III. Referendariat in Düsseldorf (3). 1. Am Rand von Selbstmord und Wahnsinn. 2. Wendepunkte? IV. München zum Zweiten. 1. Beim Militär: Schmitts Kampf an der „Heimatfront“. 2. Antisemitische Gefühle und jüdische Freunde. 3. Erster Weltkrieg und die Bohème Münchens.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916). „Drei Studien über „die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes“.

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“. 1. Historische und ästhetische Elemente. 2. Zur Kritik der Moderne. 2.1. Zu Inhalt und Interpretationsansatz von Däublers „Nordlicht. 2.2. Rathenaus „Zur Kritik der Zeit“. 2.3. Schmitts Kritik der Moderne im „Nordlicht“. 2.4. Antichrist und Apokalypse. II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus. 1. Das Thema des Belagerungszustandes.

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2. Straßburg: Universitäre Weihen. 2.1. Diktatur und Belagerungszustand. 2.2. Franz Blei und die Zeitschrift Summa. Sechstes Kapitel: Politische Romantik. I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. 1. Eine kurzer Aufriss des Kriegsverlaufs. 2. Die Politik des Krieges. 3. Der Kriegseintritt der USA und Wilsons 14-Punkte Plan. 4. Offensive, Gegenoffensive und der Zusammenbruch im Westen. 5. Friedensschluss oder Kapitulation: Strategisch-taktische Scheinverhandlungen. 6. „Im Felde unbesiegt“: Zur Genese der Dolchstoßlegende. 7. Novemberrevolution. 8. Revolution und konstitutionelle Bewegung: Das Ringen um die künftige politische Ordnung. II. Politische Romantik (1919). 1. Die Politische Romantik Carl Schmitts und ihr Umfeld. 2. Carl Schmitts Romantikkritik als Selbstinquisition. 3. „Romantik“ vs. „Gegenrevolution“: Schmitts Kritik der „Romantik“ als Kritik des „Liberalismus“. 3.1. Die Politische Romantik als konservativer Grundtypus. 3.2. Politische Romantik: Das Vorwort zur zweiten Auflage von 1925. 3.3. Einleitung (PR 31-49). 3.4. Die äußere Situation (PR 50–76). 3.5. „Die Struktur des romantischen Geistes“ oder „das antimetaphysische Subjekt“ als Prinzip. Der Demiurg der Gesellschaft. 3.6. Der Demiurg der Geschichte: „Die Vergangenheit ist Negation der Gegenwart“ (PR 102). 4. Das subjektive Prinzip der Romantik. 5. Die occasionalistische Struktur der Romantik. 6. Politische Romantik. 8. Schluss (PR 222-228).

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Zweiter Teil: Staat, Politik und Theologie.

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Erstes Kapitel:

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Die Diktatur (1921).

I. Der Versailler Frieden. 1. Ausgestoßen in Versailles. 2. Der Versailler Friedensvertrag. II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921. 1. Die belogene Nation: „Diktatfrieden“, „Kriegsschuldlüge“ und „Dolchstoßlegende“. 1.1. Die „Zäsur-Wahl“ von 1920. 1.2. Reparationsfrage und Teilung Oberschlesiens. 1.3. Erfüllungs- vs. Illusionspolitik. 1.4. Radikalisierung auf der Linken wie der Rechten. II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff. III. Die Diktatur (1921). 1. „Diktatur und Belagerungszustand“ (1916). 2. Zur Werkgeschichte. 3. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von 1921. 4. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre. 4.1. Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie. 4.2. Niccolò Machiavelli. 4.3. Arnold Clapmar. 4.4. Monarchomachen. 4.5. Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Jean Bodin. 5. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert. 6. Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts. 6.1. Die Kommissare der französischen Zentralregierung und die intermediären Gewalten. 6.2. Die Physiokraten und die Anfänge einer souveränen (Revolutions-) Diktatur bei Gabriel Bonmot de Mably. 6.3. Die Diktatur bei Jean-Jacques Rousseau. 7. Der Begriff der souveränen Diktatur.

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8. Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand). Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922). I. Ein Karriereintermezzo. 1. Das ungeliebte Greifswald. 2. Erlösung von Greifswald. II. Die Bonner Jahre. 1. Schmitt politisiert sich. 2. Katholizismus als Lebensmaxime. III. Politische Theologie (1922). 1. Politische Theologie: Begriff und Inhalt. 1.1. Zum Begriff der Politischen Theologie. 1.2. Inhalt und Bedeutung. 2. „Definition der Souveränität“. 3. „Das Problem der Souveränität als Problem der Rechtsform und der Entscheidung“. 4. Politische Theologie. 4.1. Säkularisierung und Strukturanalogie. 4.2. Berufstypologie oder Strukturidentität. 4.3. Die Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs. 4.3.1. Theismus und Monarchie. 4.3.2. Repräsentations- und Immanenzdenken. 4.3.3. Deismus und konstitutionelle Monarchie. 4.3.4. Sozialismus und Anarchismus. 5. Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution. 6. Katholizismus als politisches Credo. IV. Das Krisenjahr 1923. 1. Szenarium einer Staatskrise. 2. Die Regierung Cuno: Unvorbereitet und ratlos. 3. Scherben einer Ehe. Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923). I. Einführung.

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II. Römischer Katholizismus und politische Form. 1. Der antirömische Affekt. 2. Die katholische Kirche als eine complexio oppositorum. 3. Das Prinzip der Repräsentation. 4. Autorität und politische Form. 5. Katholische Kirche und Kapitalismus. 6. Autorität und Anarchismus. III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts. 1. Der Großinquisitor Dostojewskijs. 1.1. Einführung. 1.2. Die Figur des Großinquisitors in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow. 2. Der Katholizismus des Carl Schmitt. 2.1. Der Katholik. 2.2. Carl Schmitt, Donoso Cortez und die spanische Inquisition. 2.3. Der Großinquisitor in den Schriften Carl Schmitts. 2.4. Die drei Fragen des Versuchers. 2.5. Apokalyptische Geschichtsphilosophie: der Katechon. 2.5.1. Der theologische Hintergrund. 2.5.2. Das katechontische Geschichtsdenken Carl Schmitts. 2.5.3. Antichrist und Apokalyptik. 2.6. Anthropologisches Glaubensbekenntnis und das Dogma der Erbsünde. 2.6.1. Die Natur des Menschen: böse oder gut? 2.6.2. Das Dogma von der Erbsünde. 2.6.3. Die Instrumentalisierung der Kirche zum Kampf gegen den Anarchismus. 2.6.4. Carl Schmitt, der französische Katholizismus, Charles Maurras und die Action française. 2.6.4.1. Renouveau Catholique. 2.6.4.2. Action française und Charles Maurras.

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Dritter Teil: Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles.

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Erstes Kapitel:

München vor dem Putsch.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923).

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I. Einführung und Werkgeschichte. II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie). 1. Grundprinzipien des Parlamentarismus: Öffentlichkeit und Diskussion. 2. Parlamentarismus, Liberalismus und Demokratie: Demokratie als Identität. 3. Einleitung. 4. Demokratie und Parlamentarismus. 5. Die Prinzipien des Parlamentarismus. 5.1. Die öffentliche Diskussion. 5.2. Die Öffentlichkeit der Meinung. 5.3. Die Teilung (Balancierung) der Gewalten. 6. Die Diktatur im marxistischen Denken. 6.1. Die Wissenschaftlichkeit des Marxismus ist Metaphysik. 6.2. Diktatur und dialektische Entwicklung. 7. Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung. 7.1. Sorel und die Entdeckung des Mythos. 7.2. Die Energie des Nationalen. 8. Resümee. Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen. I. Die Regierung Stresemann: Wege aus der Krise. II. Das Völkerrecht in Weimar. 1. Das Völkerrecht der Zwischenkriegszeit in Deutschland. 2. Biographische und werkgeschichtliche Vorbemerkungen. 3. Carl Schmitts völkerrechtliche Grundposition.

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925). Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande in Köln am 14. April 1925. 1. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik. 2. Die moralisierende „pacta-sunt-servanda“-These. IV. Der Genfer Völkerbund. 1. Der Genfer Völkerbund: Werkgeschichtliche Vorbemerkungen. 2. „Die Kernfrage des Völkerbundes“. 2.1. Die Ausgangsfrage. 2.2. Die Garantie gegen gewaltsame Gebietsänderungen. 2.3. Homogenität. 2.4. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes. 3. Völkerbund und Vereinigte Staaten von Amerika. 4. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932). Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung der Weimarer Republik 1924-1929. 1. Sozial- und innenpolitische Folgen der Stabilisierung. 2. Außenpolitische Folgen der Stabilisierung. 3. Außenpolitische Wegmarken: „Nationale Revisionspolitik als internationale Versöhnungspolitik“. 4. Der Young-Plan als Motor der Republikfeinde: Kooperation von NSDAP und DVP. Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928). I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung. 1. Konstitutionelle Monarchie und Rechtsstaat. 2. Verfassungsänderungen und Staatsrechtslehre im Krieg. 3. Die Gültigkeit der neuen Verfassung und ihre Legitimität. 4. Die „geistesgeschichtliche Wende“ der Staatsrechtswissenschaft und der „Methodenstreit“. II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts. 1. Einführung.

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2. Die Verfassungsbegriffe. 2.1. Absoluter und relativer Verfassungsbegriff. 2.2. Der positive Verfassungsbegriff. 2.2.1. Staat und Verfassung und die Verfassung als Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. 2.2.2. Rechtsbindung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. 2.2.3. Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision. 2.2.3.1. Die Verfassung als Kompromiss (Verfassungsgesetze). 2.2.3.2. Inhalte der positiven Verfassung. 2.2.3.3. Rechtsfolgen der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz. 3. Der bürgerliche Rechtsstaat. 3.1. Die rechtsstaatlich-unpolitischen Bestandteile der Verfassung. 3.2. Die Gewaltenunterscheidung. 4. Das allgemeine Gesetz. 4.1. Formelles und materielles Gesetz. 4.2. Das rechtstaatliche Gesetz. 4.3. Der politische Gesetzesbegriff. 5. Die Grundrechte. 5.1. Verteilungsprinzip und Eingriffsabwehr. 5.2. Rechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen Einzelnen. 5.3. Demokratische Staatsbürgerrechte. 5.4. Soziale Leistungsrechte. 5.5. Institutionelle Garantien. 5.5.1. Schutz von Verfassungsnormen gegen den Gesetzgeber. 5.5.2. Besonderheiten der Eigentumsgarantie. 6. Bürgerlicher Rechtsstaat und politische Form. 6.1. Die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaats ist immer eine gemischte Verfassung. 6.2. Zwei Prinzipien politischer Form: Repräsentation und Identität.

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7. Das Urphänomen der Demokratie: Die Akklamation. 7.1. Volk und Akklamation. 7.2. Öffentliche Meinung als moderne Akklamation. 8. Schluss. Vierter Teil: Entscheidung für den starken Staat. Erstes Kapitel:

Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin. 1. Carl Schmitts Bemühungen um einen Ruf nach Berlin. 2. Das historische Umfeld. 2.1. Das Parlament entmachtet sich: das Ende der Regierung Marx. 2.2. Die Auflösung des Parteienstaates beschleunigt sich. 2.3. Ein Ausblick. II. Der Begriff des Politischen (1927,1932, 1933). 1. Das politische Zentrum im staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts. 2. Der Begriff des Politischen: Inhalt und Bedeutung. 2.1. Begriff des Staates. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (BP 20). 2.2. Freund-Feind-These. „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (BP 26). 2.3. Qualifizierung als politischer Gegensatz. „Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (BP 37). 2.4. Krieg als Extrem der Feindschaft. „Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ (BP 33).

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2.5. Recht zum Krieg. „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das ius belli, d.h. die reale Möglichkeit im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen.“ (BP 45) 2.6. Freund-Feind-Bestimmung. „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selbst bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“ (BP 50) 2.7. Pluralismus der Staatenwelt. „Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt“ (BP 54). 2.8. Politische Anthropologie. „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ‚von Natur bösen‘ oder einen ‚von Natur guten‘ Menschen voraussetzen“ (BP59). 2.9. Liberalismuskritik. „Durch den Liberalismus des letzten Jahrhunderts sind alle politischen Vorstellungen in einer eigenartigen und systematischen Weise verändert und denaturiert worden“ (BP 68). 3. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929). 3.1. Geschichtsphilosophie und Kulturverfall. 3.2. Die Stufenlehre der wechselnden Zentralgebiete. 3.3. Das Zeitalter der Technik. 3.4. Kulturuntergang oder Neubeginn? 3.5. Der konkrete Feind im Begriff des Politischen. 3.5.1. Liberalismus und Anarchismus. 3.5.2. Der Liberalismus als konkreter Feind.

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre. I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930). 1. „The discredited state“. 2. Der Kern der pluralistischen Theorie. 3. Kritik des Pluralismus. 4. Umdeutung: Der internationale Pluralismus. 5. Die Pflicht zum Staat. II. Nationaler Widerstand mit der Stimme Jean d’Arcs. III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV. 1. Die Auslegung von Art. 48 Abs. 2 in Die Diktatur (1921). 2. Der Vortrag auf der Staatsrechtlehrertagung in Jena (1924). 2.1. Die Lehre von der Unantastbarkeit der Reichsverfassung. 2.2. Carl Schmitts Kritik der Unantastbarkeitslehre. 2.3. Die staatstheoretische Qualifikation der Diktatur. 2.4. Die Grenzen der Diktaturbefugnis. 2.5. Der Begriff der Maßnahme in Art. 48 WRV. 3. Gesetzvertretende Notverordnungen und finanzrechtliche Gesetzesvorbehalte. 3.1. Machtpolitische Defizite der Lehre Schmitts. 3.2. Das „Hinzutreten“ des gesetzesvertretenden Verordnungsrechts. 3.3. Beseitigung der diktaturfesten Gesetzesvorbehalte der Finanzverfassung. Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette. 1. Flügel-Antagonismen und SPD-Versagen? 2. Die Regierung Brüning und der Übergang zur Präsidialregierung. I. Der Hüter der Verfassung (1931). 1. Einführung. 2. Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht. 2.1. Zum Streitgegenstand. 2.2. Die Position Carl Schmitts.

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3. Die Debatte um die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. 3.1. Richterliches Prüfungsrecht oder Verfassungsgericht. 3.2. Die Position Kelsens anhand der Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien. 4. Die Justiz als Hüter der Verfassung 4.1. Das Vorwort vom März 1931. 4.2. Einleitende Übersicht über verschiedene Arten und Möglichkeiten des Verfassungsschutzes. 4.3.1. Funktionswandel der Verfassung. 4.3.2. Politisierung der Justiz. 4.3.3. Subsumtion und Dezision: Der Eigenwert der juristischen Entscheidung. 4.3.4. Die Position Hans Kelsens. 4.4. Der Reichspräsident als „Hüter der Verfassung“ – „pouvoir neutre et intermédiaire“. 5. Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart. 5.1. Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. 5.1.1. Entwicklung des Parlaments zum Schauplatz eines pluralistischen Systems. 5.1.1.1. Einführung: Pluralismustheorie. 5.1.1.2. Pluralismus im Hüter der Verfassung. 5.1.1.3. Die Wesensveränderung der Parteien. 5.1.1.4. Der Charakterwandel der Wahl. 5.1.1.5. Der Parteienstaat. 5.2. Die Polykratie in der öffentlichen Wirtschaft. 5.3. Der Föderalismus. 5.4. Abhilfen und Gegenbewegungen. 5.4.1. Versuche einer Wirtschaftsverfassung. 5.4.2. Das Problem der innerpolitischen Neutralität im pluralistischen Parteienstaat. 5.4.3. Unzulänglichkeiten der meisten Neutralisierungen und Entpolitisierungen. 5.4.4. Das Vorgehen der verfassungsmäßigen Regierung nach Art. 48 WRV. Die Entwicklung vom militärisch-politischen zum wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand. 5.4.4.1. Krisensteuerung mit Art. 48 WRV.

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5.4.4.2. Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung des Art. 48 WRV. 5.4.4.3. Das Verhältnis von Gesetzesvorbehalt und Verordnung. 5.4.4.4. Aushebelung der Kontrollfunktion des Parlaments? 5.4.4.5. Ablehnung aus verfassungsgeschichtlichen Erwägungen. 6. Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. 6.1. Die staatsrechtliche Lehre von der „neutralen Gewalt“ (pouvoir neutre). 6.2. Die besondere Bedeutung der „neutralen Gewalt“ im pluralistischen Parteienstaat, dargelegt am Beispiel des staatlichen Schlichters von Arbeitsstreitigkeiten. 6.3. Das Beamtentum und die verschiedenen Möglichkeiten einer „Unabhängigkeit“ vom pluralistischen Parteienstaat. 6.4. Die demokratische Grundlage der Stellung des Reichspräsidenten. II. Die Septemberwahl 1930 und der Funktionsverlust des Reichstags. 1. Die Katastrophenwahl vom 14. September 1930. 2. Tolerierung der Präsidialregierung Brüning: Zerreißprobe für die SPD. 3. Bemerkungen zur Weltwirtschaftskrise aus deutscher Sicht. III. Der Sturz Brünings und das Präsidialregime v. Papen. 1. Der Sturz Brünings. 2. Die Ernennung v. Papens zum Reichskanzler. 3. Die Reichstagswahl vom 31.7.1932 und die Verhandlungen Hitler-Schleicher/Hindenburg. IV. Legalität und Legitimität. (1932) 1. Zur Werkgeschichte 2. Die Einleitung zu Legalität und Legitimität. 2.1. Der Gesetzgebungsstaat. 2.2. Der Jurisdiktionsstaat. 2.3. Der Regierungsstaat. 22

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2.4. Der Verwaltungsstaat. 3. Die Legalität. 4. Die Legitimität. 5. Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates. 5.1. Gesetzgebungsstaat und Gesetzesbegriff. 5.2. Legalität und die gleiche Chance politischer Machtgewinnung. 6. Die drei außerordentlichen Gesetzgeber der Weimarer Verfassung. 6.1. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae; der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als eine zweite Verfassung (LuL 40-61). 6.2. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione supremitatis. Eigentliche Bedeutung: plebiszitäre Legitimität statt gesetzgebungsstaatliche Legalität (LuL 62-69). 6.3. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis. Eigentliche Bedeutung: die Maßnahme des Verwaltungsstaates verdrängt das Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates (LuL 70-87). 7. Schluss. V. Die Reichsexekution gegen Preußen (der „Preußenschlag“). 1. Der Ablauf des „Preußenschlags“. 2. Die Vorgeschichte. 3. Zum Grundsatz der Diskontinuität. 4. Die Machtprämienlehre Carl Schmitts. 5. Schmitts staatsrechtliche Würdigung des „Preußenschlags“. 6. Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932. VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars. 1. In der Nähe der Macht. 2. Staatsnotstandspläne. 3. Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (1933). 4. Eine letzte Chance für die Weimarer Republik? 4.1. Das Präsidialkabinett v. Schleicher 1932/33.

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Inhaltsverzeichnis

4.2. Ausgebotet: „Der alte Herr ist verrückt geworden.“ 5. Sie machen den Weg frei. 6. Abgesang und Neuorientierung. Literaturverzeichnis I. Werke Carl Schmitts mit Siglen. II. Sekundärliteratur.

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„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitsbestimmungen“. Antonio Gramsci1 „Alle großen Revolutionen der Geschichte haben nichts anderes getan, als eine Entwicklung in die Tat umzusetzen, die sich zuvor schon unterschwellig in den Geistern vollzogen hatte. Man kann keinen Lenin haben, bevor man einen Marx hatte. Dies ist die Revanche der Theoretiker – die nur scheinbar die großen Verlierer der Geschichte sind.“ Alain de Benoist2. „Wenn Sie mehr als 30 Jahre eine erfolgreiche liberale Revolution haben, kommt fast zwangsläufig die Gegenrevolution. Aber wir haben auch manches falsch gemacht. (…) Wir haben das Bedürfnis der Menschen nach Gemeinschaft und Identität vernachlässigt, das sieht man in der Migrations- und Islamdebatte. Und wir haben Solidarität und Gleichheit vernachlässigt (…).“ Timothy Garton Ash.3

Carl Schmitt, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 130sten Male jährt, gilt als der umstrittenste deutsche Jurist des 20. Jahrhunderts, als Staatsdenker im Range eines Thomas Hobbes, als Klassiker des politi-

1 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Hamburg 1991. S. 354. 2 Alain de Benoist (2017): Kulturrevolution von rechts. Buchdeckel (Rückseite). Das vollständige Zitat setzt sich fort: „Eines der Dramen der Rechten ist ihre Unfähigkeit, die Notwendigkeit zu begreifen, daß auf lange Frist geplant werden muß.“ De Benoist ist ein französischer Publizist und Philosoph und gilt als maßgeblicher Vordenker der Neuen Rechten. In seinem Buch Kulturrevolution von rechts befasst sich Benoist ausführlich mit den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. 3 Ash (2018).

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Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

schen Denkens schon zu Lebzeiten4, als Zuhälter der Gewalt5, als staatsrechtlicher Diabolus6, als Kronjurist des Dritten Reiches7: „In jedem Fall ist Schmitt ein teuflisch interessanter Denker“.8 Die moralische Verurteilung Schmitts nach 1945 wegen dessen Wirken im Nationalsozialismus vor allem von 1933 bis 1936 wurde gleichsam staatsoffiziell geadelt, auch wenn ihre Verbalisierung durch den damaligen Bundepräsidenten Theodor Heuss, der als Abgeordneter dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt hatte, einen gewissen Beigeschmack hinterlässt.9 Die Liste negativer Urteile über Schmitt ließe sich fortsetzen. Wir versuchen, in dieser Schrift den Grundsatz walten zu lassen: Audiatur et altera pars. Wer über Carl Schmitt schreibt, begibt sich gleichwohl noch immer auf vermintes Terrain und die Befassung mit diesem schillernden Autor, brillanten Analytiker und scharfen Polemiker10 kann zu einem Entdeckungsverfahren mit ungewissem Ausgang werden. Zwar hat es den Anschein, als ob sich die Diskussion über Schmitt – auch wegen der stetig zunehmenden internationalen Rezeption11 – versachlicht hätte. Und gewiss mag es heute leichter sein, zwischen Schmitts theoretischen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen und ihren Anwendungen in der politischen Praxis durch Dritte zu trennen. Aber es wird wohl eine grundsätzliche Frage bleiben, wie – vielleicht sogar ob – sich ein Diskurs über diesen oft mehrdeutigen Denker und rätselhaften Menschen versachlicht überhaupt führen lässt. Denn schwerlich lässt sich verneinen, dass Schmitts immer noch rätselhafte zwölfjährige Phase im Nationalsozialismus eine nüchterne und sachliche Befassung mit seinem Werk mindestens erschwert. Ob ihm der vernichtende Titel eines „Kronjuristen“12 des Nationalsozialismus zuzuweisen ist, wird mit guten Gründen bejaht wie mit guten Gründen ver-

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Bernhard Willms. Cristian Graf von Krockow. Kurt Sontheimer. Waldemar Gurian. Ottmann (2010, S. 215). Siehe ebd. Schmitt setzte sich mit einem Gedicht gegen die öffentliche Verfemung zur Wehr: „Ich bin fürwahr ein alter Mann/mich spucken Präsidenten an./Alt-Bundes-Präsidenten./Und nicht nur in dem alten Bund,/Nein, auch im Allerneuesten Bund/bin ich nur noch ein toter Hund/Für alle Prominenten“ (zit. n. Ottmann 2010, S. 215-216). 10 So Voigt (2015, S. 303). 11 Siehe die Publikationsliste der Carl-Schmitt-Gesellschaft (www.carl-schmitt.de). 12 Waldemar Gurian (1934).

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neint.13 Fest steht, dass Carl Schmitt in dem hier behandelten Zeitraum seines Lebens nach unserer Meinung vor 1933 kein Nationalsozialist war und den Nationalsozialismus auch nicht herbeigeschrieben hat.14 Fest steht aber auch, dass Schmitt nach 1945 selbst nichts zu seiner Entnazifizierung beigetragen hat – von Einsicht, Reue und Entschuldigung für die schrecklichen Jahre 1933 bis 1945 findet sich keine Spur.15 Durchaus möglich erscheint uns, dass sich Carl Schmitt selbst nie als einen Nationalsozialisten gesehen hat, und wenn doch, dann jedenfalls intellektuell weit über dem gemeinen Nationalsozialismus stehend. * An Carl Schmitts Denken und Schriften führte schon zu seinen Lebzeiten rasch kein Weg mehr vorbei, sein Tod im Jahr 1985 aber hatte eine regelrechte und anhaltende Schmitt-Renaissance zur Folge16. Carl Schmitt verfüge heute, so Stefan Breuer, „über eine so breite und stets wachsende internationale Leserschaft wie kein anderer deutscher Staatsrechtslehrer des vergangenen Jahrhunderts. Das dürfte nicht zum wenigsten an seinem ausgeprägten Sensorium für die neuralgischen Punkte des staatsrechtlichen Diskurses der Moderne liegen (…).17

Genannt seien an dieser Stelle nur: die Krise des modernen kontinentaleuropäischen Nationalstaates und der zunehmend antagonistische Charakter von Krisenlagen, die nur noch eine Freund-Feind-Unterscheidung zulassen.18 Schmitts Denken im „Interregnum“ zwischen den beiden Weltkriegen mit seinen „unterschiedlichen Krankheitsbestimmungen“19 und folglich alternativen Heilmethoden oszillierte dabei um die Pole „Souveränität“, „Ausnahmezustand“, „Aushöhlung des Staates“ und „Bürgerkrieg“. Sein Denken orientierte sich dabei häufig am Ausnahmefall:

13 Schmitt war nach 1936 im Dritten Reich weitgehend „kaltgestellt“. 14 Noch am 19 Juli 1932 schreibt Schmitt in einem Beitrag für das Sprachrohr Schleichers, die Tägliche Rundschau: „Wer den Nationalsozialisten am 31 Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt töricht. (…) Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus“ (zit. n. Noack 1993, S. 181). Weitere Belege für diese These finden sich im Hauptteil dieser Arbeit. 15 Dadurch verzichtete Schmitt zunächst sogar auf seine ihm zustehende Pension (Voigt 2015, S. 291 f.). 16 So Brodocz (2002, S. 281-316; hier 283 mit weiteren Nachweisen). 17 Breuer (2012, S. 7). 18 Ebd., mit Benennung weiterer neuralgischer Problempunkte. 19 Siehe das dem Vorwort vorangestellte Gramsci-Zitat.

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„Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik" (PT 21).

Schmitt denke dabei oft, so Günter Maschke, in „etwas gewaltsamer Konsequenzlogik bis an den äußersten Punkt, an die extreme Möglichkeit eines Gedankens, in dem das ‚Wesen‘ der Sache erkennbar wird“, also analog zu der Bedeutung des Ausnahmezustands in seinen frühesten Schriften.20 Carl Schmitt lebte und erlebte die verschiedensten „Ausnahmezustände“. Allein in der kurzen Spanne zwischen dem Ende der parlamentarischen Regierungen und der Machtübernahme der Nationalsozialisten von 1930–1933 herrschte während der Präsidialregime Brüning, Papen, Schleicher ein eigentlich permanenter Ausnahmezustand.21 Der Bürgerkrieg, die Entfriedung des Staates im Inneren, war Schmitts Horrorszenario, verliere doch mit der Auflösung des Normalzustandes, des Zustandes der Ordnung, das Recht seine Geltungsgrundlage. Das hatte er am Anfang der Weimarer Republik im revolutionären München erleben müssen und hat es umgehend in der großen Monographie Die Diktatur verarbeitet. Die vorübergehend errichtete „kommissarische“ Diktatur war ihm von da ab ein probates Mittel für die Rückkehr zum Normalzustand. Schonungslos, polemisch und manchmal auch überspitzt arbeitete Schmitt die Schwachpunkte der konstitutionellen Ordnung der Weimarer Republik ab, stellvertretend auch „für die Deformation der demokratischen Tradition durch das Denken des modernen Liberalismus“.22 Volker Neumann formuliert diesen Tatbestand äußerst prägnant: „C. Schmitt war einer der schärfsten Kritiker der Weimarer Republik (…). Ironischerweise hätte es jedoch der Republik vielleicht das Überleben ermöglicht, hätten ihre Vertreter eine Lehre Schmitts beherzigt und die Staatsform selbst – wie heute im Grundgesetz – nicht bloßer Mehrheitsentscheidung anheimgestellt“.23

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Maschke (2012, S. 179). Voigt (2015 c, S. 7). Flickinger (1990, S. 4). Neumann (1985, S. 305).

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

In diesem Kontext sollte ein Zitat Joseph Goebbels vom 5.2.1931 im Reichstag nicht unerwähnt bleiben: „(…) nach der Verfassung sind wir nur verpflichtet zur Legalität des Weges. Wir wollen legal die Macht erobern. Aber was wir mit dieser Macht einmal, wenn wir sie besitzen, anfangen werden, das ist unsere Sache“.24

Diese zwei Zitate umrahmen die ganze Problematik von Schmitts Weimarer Endschrift Legalität und Legitimität (1932). * Carl Schmitt wurde am 11. Juni 1888 im sog. Drei-Kaiser-Jahr im sauerländischen Plettenberg geboren. In seinem Jahrhundertleben – Schmitt starb am Ostersonntag des 7. April 1985 im Alter von 97 Jahren – suchte, fand und verlor und fand er immer wieder die tragende Ordnung: den Wilhelminischen Rechtsstaat, die katholische Kirche, die parlamentarische Republik und das Präsidialsystem Weimars und „die juristisch-institutionelle Sinngebung im Nationalsozialismus“.25 Schmitt studierte von 1907 bis 1910 in Berlin, München und Straßburg, wo er bei Fritz van Calcer promovierte. Nach der Referendarzeit in Düsseldorf wird er 1915 Assessor und dient während des Krieges als Freiwilliger mit Angst und Abscheu vor dem Militär in der Münchner Militärverwaltung. Daneben bleibt er bis zur Schließung der deutschen Straßburger Universität, an der er sich 1916 auch habilitiert hatte, Privatdozent. Nach einer kurzen Dozentur an der Handelshochschule München wird er Professor in Greifswald, wechselt von 1921 bis 1928 – seiner wohl fruchtbasten Zeit – nach Bonn. Anschließend begnügt er sich 1928 bis 1933 mit einer Professur an der Handelshochschule Berlin, weil ihm die Hauptstadt einen näheren Zugang zum Machthaber bietet. Während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 lehrt er an der Universität Berlin, um nach 1945 seine akademische Laufbahn für immer beendet zu sehen. Ein Leben, das beinahe durch die ganze deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts „hindurchgegangen“ ist, kann schwerlich ein normales gewesen sein. Die verdienstvolle, nicht zu überschätzende Publikation der Tagebücher gewährt heute neue Einsichten, die zeigen, „wie radikal, antibürgerlich und chaotisch Schmitt dachte“.26 Dass Schmitt am Ende seines langen Lebens von Halluzinationen und Verfolgungswahn gequält wurde, er-

24 Goebbels, zit. in Hennig (1990, S. 133). 25 Mehring (2009, S. 15). 26 Mehring (2017, S. 354).

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scheint da fast schon als Zwangsläufigkeit eines wechselvollen, von extremen Höhen wie Tiefen gezeichneten Lebens. In der Zeit der Weimarer Republik verfasste er seine bedeutensten Schriften: Politische Romantik (1919; 1925), Die Diktatur (1921), Politische Theologie (1922), Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Der Begriff des Politischen (1927; 1932; 1933), Verfassungslehre (1928), Der Hüter der Verfassung (1931) sowie Legalität und Legitimität (1932). * Betrachtet man mit Mehring die Verfassungslehre (1928) als theoretische Summe, Substanz und Quintessenz von Schmitts Schaffen, die insbesondere ohne die Vorarbeiten Politische Theologie, Die Diktatur und die Parlamentarismus-Schrift so nicht möglich gewesen wäre, kann man Schmitt auch als einen Analytiker staatlicher Transformation lesen, der von historischen Fällen unabhängig ist: „Er interessiert dann als Kritiker des ‚bürgerlichen Rechtsstaats‘, Analytiker der Selbstauflösung und Transformation einer liberalen und demokratischen Verfassung in das ‚autoritäre‘ Präsidialsystem und den ‚totalen Staat‘ nationalsozialistischer Diktatur“.27

Carl Schmitt ist vornehmlich als Jurist, Professor für öffentliches Recht und hier insbesondere für Staats-, Verfassungs- und Völkerrecht bekannt, der zu seinem Forschungsgegenstand zahlreiche juristische Schriften verfasst hat. Dabei bewegte er sich keineswegs nur in den Grenzen seines Fachs, auch wenn, schränkt Mehring ein, sein Werk fachliche Identität und „Substanz“ vor allem in der Rechtswissenschaft habe.28 Auch Schmitt selbst verstand sich primär immer als Jurist, der sich aber, wie zu zeigen ist, zunehmend politisierte.29 Als Verfassungsrechtler kritisierte er den juristischen Positivismus und Normativismus, bestand auf metajuristischen Begründungen des Rechts wie auch der Rechtsauslegung und thematisierte die politischen und in zunehmendem Maße auch die religiös-theologischen Geltungsvoraussetzungen des Rechts.30 Aber Schmitts wissenschaftliches Interesse galt über die Rechtswissenschaften hinaus auch Themen der Politikwissenschaft, der Soziologie, der

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Mehring (2017, S. 359). Mehring (2017, S. 364). Voigt (2015, S. 289). Mehring (2011, S. 143).

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Philosophie und Theologie, ja sogar der Literaturwissenschaft. So versuchte sich Schmitt selbst als Literaturkritiker und als Literat, der auch feuilletonistische und zeitkritische Texte publizierte. Helmut Quaritsch ist zuzustimmen, wenn er bemerkt, „in den Nachbarwissenschaften wurzelt Carl Schmitts zweite wissenschaftliche Existenz.“31 Schmitts fachübergreifende Schriften werden wegen ihres Scharfsinns und ihres geschliffenen Stils teils sehr hoch, von anderen überwiegend als polemisch, antiparlamentarisch und antidemokratisch – vor allem wegen Schmitts Wirken im Nationalsozialismus – eingeschätzt. Hans-Georg Flickinger fasst diesen Zwiespalt so: „Schon zu Lebzeiten war Carl Schmitt ein Mythos. Die Brillanz, auch die rhetorische, seiner Analysen kontrastiert mit seiner, wenn auch zeitlich begrenzten, Teilhabe an den nationalsozialistischen Überzeugungen. Seine Fähigkeit, mit Begriffen Sachverhalte und Entwicklungslinien zu identifizieren und einzukleiden, scheint in unaufhebbarem Widerspruch zu der Blindheit zu stehen, die seine Parteinahme für Volk und Führer zuließ“.32

Schmitts Schriften wurden bei Juristen, Philosophen, Theologen, Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern schnell rezipiert. Spätestens mit dem Erscheinen seiner Verfassungslehre (1928), kritisch vor allem gegenüber dem juristischen Positivismus und Normativismus, war man sich im Fach sicher, „es mit einem bedeutenden Kopf zu tun zu haben“, dessen verfassungsrechtlichen Ableitungen man zum Teil aber misstraute.33 Was Schmitt so lesenswert und interessant macht, ist neben seiner rhetorischen und ästhetischen Sprache34 die Einbettung der juristischen Methode in einen weiten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorierahmen:35 „Die hohen theoretischen und systematischen Ansprüche machen Schmitt als ‚Klassiker‘ attraktiv“.36 Ein weiteres Faszinosum der Arbeiten Schmitts sei, dass er wie kein anderer Staatsrechtler die Kunst beherrschte, „Situationen, Konfliktlagen und Entwicklungen zum Begriff zu bringen“.37 Carl Schmitt in seine einzelnen Wissenschaftsgebiete gleichsam aufzuspalten und isoliert zu betrachten, seine schriftstellerischen Versuche ein-

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Quaritsch (1991, S. 11). Flickinger (1990, S. 1). So Stolleis (2002, S. 179). Zu Schmitts Rhetorik siehe Mehring (2011, S. 110-114). Vgl. Mehring (2017, S. 366). Ebd. Hofmann (1964, S. 7).

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mal ausgenommen, wäre nicht nur problematisch wenn nicht unmöglich, sondern würde „Schmitt“ wohl auch verfälschen:38 „(…) die spannendsten Fragestellungen ergäben sich vielmehr erst dem, der bereit sei, sich auf den breiten Horizont des Schmittschen Denkens einzulassen und dessen vielfältige Wurzeln, Verweisungen und daraus erwachsende Perspektiven einzubeziehen. Nur so könnten auch die diesem Denken vorausliegenden Überzeugungen offengelegt werden; Überzeugungen, die manche seiner politischen Positionen in ein neues Licht rückten und auf ihren sachlichen Kern zurückführten“.39

Wer sich näher auf Schmitt einlässt, wird aber auch bemerken, dass er sich in vielen seiner Arbeiten als mehrdeutig präsentiert. Hinzutritt sein Synkretismus, seine frappierend unbefangene Methode, sich der Argumente aus den verschiedensten ideologischen Lagern zu bedienen, nebst seiner notorischen Verschwiegenheit über die Herkunft etlicher dieser Argumente.40 Schon dies lässt Eindeutigkeit im Urteil über den Wissenschaftler Carl Schmitt schwerlich zu.41. Schmitt war schon für die Zeitgenossen in Weimar „am schwierigsten zu verorten“.42 Regulärer Professor für Staatsund Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Staatstheorie war er, so trägt Stolleis vor, „von Anfang an auch Essayist und Theoretiker der Politik mit vielfältigen Verbindungen zur literarischen Szene“. Schmitt war ein origineller und widerborstiger, ein scharf bis zynisch formulierender Autor, Debattenredner und er war und blieb ein Außenseiter.43 Viele Freunde macht man sich derart nicht – und trotzdem verstärkte sich seine Anziehungskraft kontinuierlich „durch die ungewöhnliche Art, wie Schmitts Werk sich präsentiert – als eine Mischung aus konträren und letztlich inkompatiblen Typen des Denkens und des Wissens, deren einer sich in der Sphäre der Begriffe, der logischen De-

38 Quaritsch sieht hingegen bei Schmitt ein geistiges Doppelleben, hier der professorale Rechtswissenschaftler, dort der politische Schriftsteller, wobei es der Part des letzteren gewesen sei, der ihn so berühmt wie umstritten gemacht hätte (Quaritsch 1991, S. 12). 39 Flickinger (1990, S. 2). 40 Maschke (2012, S. 183 FN 66). 41 „Ohne Kollegenschelte wird niemand über Carl Schmitt referieren können. Denn jeder Meinung wird sofort eine andere Meinung entgegengestellt, für die sich durchaus Gründe finden ließen“ (Quaritsch 1991, S. 9). 42 Stolleis (2002, S. 178; nachst. Zitat ebd.). 43 Vgl. Voigt (2015 c, S. 8).

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duktion und der diskursiven Erörterung sich bewegt, deren anderer in der Welt der Bilder, der Symbole, der mythischen Narration“.44

Carl Schmitt hat wohl als einziger Staatsrechtler ausgeführt, dass die eigentlichen Kämpfe um die Macht in den Köpfen ausgetragen werden, in der Sphäre der Metaphysik, der Ideen und ihrer großen Bilder verloren oder gewonnen werden.45 Hinzutritt der breite Bildungskanon dieses vielbelesenen Autors, aus dem er schöpft, „die Evokation religiöser und esoterischer Traditionen, die Neigung zur Chiffrierung, dies alles stimuliert immer neue Versuche, den verborgenen Kern, das Kohärenz und Kontinuität stiftende arcanum herauszufinden“.46

So wird das arcanum gesucht in der – neopagan oder katholisch verstandenen – politischen Theologie, im okkasionellen Dezisionismus, im politischen Existenzialismus oder Expressionismus, „in der Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; im fundamentalistischen Antimodernismus; im Etatismus, Nationalismus, Antisemitismus oder gar, arcanum arcanorum, der Bisexualität“.47

* SchmittsTheorieentwicklung setzte mit der Behandlung grundsätzlicher juristischer Probleme ein.48 In seiner Dissertationsschrift Über Schuld und Schuldarten erörterte er die Unterscheidung und Beziehung von Moral und Recht, in Gesetz und Urteil das Verhältnis von Gesetz und Urteil, indem er fragte, wann denn ein richterliches Urteil richtig sei. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen problematisierte die Unterscheidung des Verhältnisses von Macht und Recht. Mit Beginn der Weimarer Republik setzte die Politisierung Schmitts ein. Die Haltung des Bürgertums – den Bürger sah er vom citoyen zum bourgeois degeneriert – kritisiert er in Politische Romantik, Verfassungsfragen, staatsrechtliche und staatspolitische Erwägungen dominieren in Die Diktatur. An Aufbau wie Ordnung der katholischen Kirche vermisst er in Politische Theologie und Katholizismus und politische Form den liberalen Verfassungsstaat. Alle diese Schriften bestimmten die zeitgenössischen Diskurse mit und sie evo-

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Breuer (2012, S. 7). Siehe auch das einleitende Zitat von Alain de Benoist. Voigt (2015, S. 297.) Ebd. (Herv. im Original). Ebd. (Herv. im Original). Nachst. s. Mehring (2017, S. 356).

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zieren und provozieren noch heute49, wie die anhaltende Flut der Literatur über Carl Schmitt zeigt.50 Das Diktum Helmut Quaritschs, da dem politischen Denker Schmitt die „normativen Haltegriffe“ gefehlt hätten, seien „materiale Grundprägungen“ − Schmitt war für ihn Katholik, Etatist und Nationalist – an ihre Stelle getreten, trifft. Diese Prägungen hätten sein Erkenntnisinteresse ebenso wie seine Lagebeschreibungen und Situationsdeutungen bestimmt. Diese These ist so richtig, wie sie eine vermeintliche Trennschärfe suggeriert, die es so nicht gibt. Carl Schmitt war von allem mit unterschiedlicher Gewichtung – und ganz individuell – immer etwas von allem (s.o.) Als er mit der Politischen Romantik auch gegen seinen eigenen Ästhetizismus anschrieb, blieb er gleichwohl Ästhet51, auch in dem Sinne, Form gegen das Chaos zu stellen – eine Ausprägung seiner Schriften, die bei Schmitt deshalb „stets im Auge zu behalten ist“52. Zudem gehen die vier Grundprägungen auch unterschiedliche Verbindungen ein, wie Quaritsch selbst anhand der katholischen Kirche (Ästhetisches mit dem Katholischen) und des Staates (Ästhetisches mit dem Etatistischen und wohl auch dem Nationalen) aufzeigt. * Die Aktualität Schmitts erweist sich etwa an den Mutationen liberaler Verfassungsstaaten zu „autoritären“, in Putins Russland und Erdogans Türkei, bei Orbans Ungarn und Morawieckis Polen, den generellen Tendenzen der Renationalisierung in der Europäischen Union sowie dem europaweiten Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen. Letzteres mit der Frage, wie homogen muss eine Demokratie sein, anders gewendet, wie viel Heterogenität verträgt eine Demokratie. Zudem gewinnt Schmitts spezifisches Denken mit den Problemen der Spät- bzw. Postdemokratie an Aktualität: „Carl Schmitt kann man – lange vor Lyotard – durchaus als Vordenker der Postmoderne ansehen, der politische Begriffe dekonstruiert hat, um sie zusammenzusetzen. Die Frage ist also nicht fernliegend, inwieweit das Staats-

49 „Die weltweite Wirkung und Publizität ist deshalb ein merkwürdiges Phänomen. Eine Generalerklärung verbietet sich aber offenbar, wenn Schmitt auch in entlegenen Sprachen, Ländern und Kontinenten übersetzt ist und diskutiert wird“ (Mehring 2017, S. 357/358). 50 (…) auch wenn sie in ihrer selektiven, polemischen und thetischen Zuspitzung höchst problematisch [sind]“ (Mehring 2017, S. 357). 51 Voigt (2015 c, S. 8). 52 Ebd.; vorst. vgl. ebd..

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denken Carl Schmitts zum besseren Verständnis unserer heutigen Situation beitragen kann“.53

Die Einteilung der Welt in „Gut“ und Böse“ durch den amerikanischen Präsidenten George W. Bush wurde nicht nur in Deutschland mit Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung aus der Schrift Der Begriff des Politischen in Verbindung gebracht. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben greift in seiner Homo sacer-Reihe – Ausnahmezustand (dt. 2004) – auf Carl Schmitts Begriff der Souveränität aus dessen Politischer Theologie zurück, um unter anderem Reaktionen der USA auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 zu erörtern. Schmitt ist oft und vielfältig interpretiert worden: werkimmanent, zeitgeschichtlich-soziologisch, biographisch und auch seine Tagebücher und Briefwechsel sind mit Gewinn zur Analyse herangezogen worden. Zur Aktualität Schmitts trägt trotz seiner Tabuisierung sicher auch sein intellektueller Einfluss auf die junge Bundesrepublik bei. Beeinflusst von ihm und seinem Denken zeigen sich Juristen und Philosophen wie Ernst Forsthoff, Ernst-Rudolf Huber, Werner Weber, Joseph H. Kaiser, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Roman Schur, Reinhart Koselleck, Christian Meier, Hanno Kesting, Bernard Willms und Hermann Lübbe, aber auch journalistische Intellektuelle wie Rüdiger Altmann und Johannes Groß.54 Robert van Oyen ordnet zusätzlich zu den oben genannten die aus seiner Sicht etatistischen, liberal-konservativen Staatsrechtslehrer Roman Herzog, Hans Herbert von Arnim und Ernst-Wolfgang Böckenförde in die Reihe der Rechts-Schmittianer ein55, eine Ansicht, die man nicht vollinhaltlich und unbedingt teilen muss. Was bei einem als konservativ, weit rechts stehenden und meist als reaktionär eingeschätzten Autor überraschen dürfte, ist, dass sich neben Rechts- auch Links-Schmittianer an seinem Denken geformt haben. „Links“ finden sich Sozialdemokraten, Marxisten und Mitglieder der Frankfurter Schule. Promoviert hat bei Schmitt Otto Kirchheimer, der vor 1933, so Mehring, bereits einen „Links-Schmittianismus“ begründet habe.56 Beeinflusst von Schmitt war der Justiziar der Weimar-SPD, Franz

53 Voigt (2015, S. 9). 54 Siehe mit Details bei Ottmann (2010, S. 216 f.). 55 Siehe Voigt (2015, S. 300). Der spätere Bundespräsident Herzog war wie Böckenförde Richter am Bundesverfassungsgericht und hatte damit auch Deutungshoheit bei der Auslegung des Grundgesetzes. 56 Mehring (2009, S. 197); Voigt (2015, S. 300; nachst. s. ebd.).

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Neumann. Ernst Fraenkel konkurrierte mit Schmitt um den Ruf, Vater des grundgesetzlichen konstruktiven Misstrauensvotums zu sein. Eckard Bolsinger57 hat sogar den politischen Realismus Schmitts mit dem Lenins verglichen. Bekannt ist weiter, dass Walter Benjamin Carl Schmitt als einen großen Anreger geschätzt hat: „Wenn beide auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, so ist doch die Parallelität ihres Denkansatzes festzustellen, die ein gegenseitiges Sich-zurKenntnis-Nehmen fast selbstverständlich macht. Beide sind Gegner eines Denkens in Kompromissen – Benjamin sprach davon, daß Kompromiß Korruption sei – damit auch Gegner des Parlamentarismus, des politischen Liberalismus und des daraus hervorgehenden politischen Systems. Beide sind der Auffassung, daß erst im Ausnahmezustand sich der Geist einer Epoche enthüllt; beide pflegen eine Neigung zum Absoluten und Theologischen“.58

Mehring, so Voigt weiter, zähle auch Ulrich K. Preuß, Ingeborg Maus und Herfried Münkler zu den „Protagonisten eines Links-Schmittianismus“.59 Ellen Kennedy wiederum ordnete auch Jürgen Habermas in diese Reihe.60 Ob diese Bewertungen immer vollkommen zu Recht erfolgen, kann hier nicht erörtert werden. * „Carl Schmitts Schriften entstanden zumeist als Antworten auf Herausforderungen durch konkrete politische Probleme“,61 und auch Schmitt selbst hat seine Schriften historisiert und sie als Reaktionen auf zeitgeschichtliche Problemlagen verortet, die es zu befragen, zu deuten und zu beantworten galt. Insoweit war Schmitt ein über die Fachgrenzen hinaus publizistisch wirkender, öffentlicher politischer Akteur. Deshalb bietet sich für die Interpretation gerade der Schriften Schmitts ein werkbiographischer, sozial-historischer Ansatz an, der es ermöglicht, zu analysieren ohne zu moralisieren und so vor Schwarz-Weiß-Etikettierungen schützen kann, weil er Schmitt konsequent in die Zeit stellt. Mit anderen Worten: Schmitt wird in dieser Schrift zeitgeschichtlich gelesen und analysiert.

57 Eckard Bolsinger: The Autonomy of the Poitical: Carl Schmitt’s and Lenin’s Political Realism (2001). 58 Siehe Noack (1993, S. 113; weiter S. 110-114). Siehe aber auch Mehring (2009, S. 542). 59 Voigt (2015, S. 300). 60 Wir zitieren diese Zuordnungen ohne weitere Prüfung, die wohl einer eigenen Arbeit bedürfte. Siehe zur Beziehung Schmitt – Habermas Günter Maschke (2012, S. 109-154). 61 Mehring (2011, S. 7).

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Ein weiteres: Noack sieht bei Schmitt eine Korrelation zwischen der historischen Lage und seiner persönlichen Balance: „Betrachtet man sein Leben im Überblick, so läßt sich auch zu anderen Zeiten eine Synchronisation seines persönlichen Befindens, seiner Produktion und der politischen ‚Lage‘ nicht übersehen“.62

Auch wenn es dieser Korrelation eines konkreten Gradmessers ermangelt, zeigen doch die nunmehr publizierten Tagebücher, dass Schmitts Schriften von persönlichen Einflüssen keineswegs frei waren. Die vorliegende Arbeit unternimmt auch deshalb den Versuch, die Schriften Carl Schmitts – der sich weitgehend als einen Repräsentanten von Krisenlagen sah63 − in der Zeit ihrer Entstehung historisch und biographisch zu verorten, um sie textnah und ohne den wissenden Blick vom Ende her darzustellen. Sie ist der Versuch, den Denker Carl Schmitt konsequent in seine Zeit zu stellen, der auch als ein Theoretiker des Übergangs und der Grenzziehung zeitlebens ein „seismographisches Gespür für wechselnde Lagen“64 entwickelt hatte.65 Diese Herangehensweise ist nur möglich dank der herausragenden Carl Schmitt-Biographie von Reinhold Mehring und seiner neueren biographischen Forschungsergebnisse.66 Ähnliches gilt für Volker Neumanns epochales Werk Carl Schmitt als Jurist.67 Diese Arbeit geht weiter davon aus, dass ein Autor von dem zeitbedingten intellektuellen Umfeld – freilich unterschiedlich stark – beeinflusst ist, so wie er es subjektiv wahrnimmt, und so, wie jeder Text aus seiner Zeit für seine Zeit spricht.68 „Zugleich war dieses Jahrhundert eines, in dem politische Ideen eine ungewöhnlich wichtige Rolle zu spielen schienen – und zwar in einem solchen Ausmaß, daß die Zeitgenossen sie unmittelbar mit den Katastrophen und Umwälzungen in Verbindung brachten, die sie durchlebten. Dieser Glaube an den

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Noack (1993, S. 65). Auch bei Mehring (2009) findet sich diese Spur. Vgl. Mehring (2017, S. 355). Noack (1993, S. 13; 50). Das bedeutet nicht, dass der Leser eine lückenlose Geschichte der Weimarer Republik und eine lückenlose Biographie Carl Schmitts bis 1933 vorfinden wird. Historische und/oder biographische Ausführungen finden sich, wenn sie nach unserer Auffassung für die Einordnung der Schriften Carl Schmitts erkenntnisfördernd sind. 66 Mehring (2009; 2014; 2017). 67 Neumann (2015). 68 Vgl. Voigt (2015, S. 16; nachst. s. 16 ff.).

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Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

geradezu unermeßlichen Eindruck von Ideen fand sich unabhängig von der politischen Ausrichtung“.69

Zugleich wirken aber Aufnahme und Kritik eines Werkes reflexiv auf den Autor zurück. Auf den Kritiker wie den Interpreten dringen nun allerdings dieselben Kräfte seiner Zeit, von Recht, Politik und Kultur ein: „Das Erscheinungsbild jedes Denkers ändert sich von Epoche zu Epoche; diese Veränderungen wiederum werden in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lagern unterschiedlich wahrgenommen. Auch die Schlussfolgerungen, die daraus für die Gegenwart gezogen werden, ändern sich – mit den sich wandelnden Rahmenbedingungen – oft ganz erheblich“.70

Der Zeitgeist selbst wird stark durch historische Schlüsselerlebnisse geprägt. Für Schmitt waren solche die revolutionären Nachkriegserlebnisse in München und die Staatskrisen der Jahre 1923 und 1932 mit der anschließenden Machtergreifung der Nationalsozialisten:71 „Carl Schmitts Publikationen von 1919 bis 1932 lassen sich nur vor diesem Hintergrund der Erfahrungen und wissenschaftlichen Strömungen der Weimarer Zeit verstehen, auch wenn und gerade weil seine Thematiken erst in einem epochengebundenen Kontext ihre Brisanz entfalten“.72

* Wollte Schmitt selbst kein die Zukunft antizipierender Prophet sein, sich nicht mehr offensiv mit seinen Einsichten an eine ferne Nachwelt wenden?73 Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Carl Schmitt faszinierte der eigener Legitimation nicht bedürftige Staat, der allein als eine „dämonische Macht“ dazu fähig war, den Ausnahmezustand zu bändigen74, und er läutete dem okzidentalen Staat dennoch das Totenglöckchen. Würde er heute angesichts der Entwicklungen in der Europäischen Union ein kommendes Zeitalter der Renationalisierung und die Wende zu einem neuen starken und womöglich autoritären Nationalstaat diagnostizieren? Der Geschichtswissenschaftler Timothy Garton Ash urteilt: „Nüchternanalytisch ist festzustellen: „Wir leben in einer Zeit der europäischen Desintegration“, und beschreibt diese wie folgt:

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Müller (2018, S. 7/8). Voigt (2015, S. 19/20). Näher dazu Voigt (2015, S. 20 f.). Flickinger (1990, S. 3). So Mehring (2017, S. 356). Stolleis (2002, s. 178).

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

„Aber es ist ein großer Irrtum zu glauben, was in Polen und Ungarn geschehe, sei weit weg, Osteuropa sei doch nie ganz das Europa der Aufklärung gewesen. Tatsächlich gibt es Ungarn jetzt in Großbritannien, Ungarn ist in Frankreich, überall gibt es genau die gleichen Phänomene. In den Niederlanden, in Österreich und jetzt erst recht in Bayern (…).75

Immer mehr Menschen sehen ihren Wohlfühlisolationismus – ob aus rationalen oder irrationalen Gründen sei hier dahingestellt – vielfältig bedroht. Allzu leicht gerät dabei die Einsicht in Vergessenheit, dass Geschichte sich nicht einfach wiederholt – oder tut sie dies etwa doch? Das Europa Weimars ist nicht das Europa Berlins. Und doch lohnt sich ein vertiefender Blick auf die Schriften Schmitts. „Ein zweiter wichtiger Aspekt der Beschäftigung mit Carl Schmitt muss also im ‚Herauspräparieren‘ solcher Erkenntnisse liegen, die uns helfen, den heutigen Staat zu verstehen“.76

Zu diesem Buch. Die vorliegende Schrift ist so konzipiert, dass die Kapitel einzeln für sich gelesen werden können. Dabei kommt es zu „Wiederholungen“, da Schmitt einzelne Sachverhalte von unterschiedlichen Standpunkten aus immer wieder betrachtet. Das ist auch deshalb in Kauf zu nehmen, um eine Flut von Querverweisen zu vermeiden. Deutlich wird dies z. B. im Kapitel Die Diktatur. Um seine Unterscheidung von „kommissarischer“ und „souveräner Diktatur“ zu erarbeiten, bettet er dieses Anliegen in eine weit ausholende ideengeschichtliche, verfassungsrechtliche, politiktheoretische wie geschichtswissenschaftliche Abhandlung. Das ist „Schmitt“. Wir gehen diesen Weg mit, um Schmitts Arbeit nah am Text nachvollziehen zu können, weil in ihm auch staatstheoretische Institute, theoretische Bausteine und Schlüsselbegriffe wie Souveränität, Repräsentation, Gewaltenteilung, Arcana und pouvoir constituant erörtert werden, die uns immer wieder begegnen werden.

75 Ash (2018). 76 Stolleis (2002, S. 178).

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Erster Teil: Grundlegungen.

Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910). I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg. „Ich sehe noch, wie ich die Treppen der Humboldt- (damals natürlich noch Friedrich-Wilhelms-) Universität hinaufstieg, mit Hunderten von Menschen. Ich sehe heute noch das Schild vor mit: ‚Juristische Fakultät‘. Ich habe einen Moment überlegt – dann lief ich einfach in die Hürde ‚Juristische Fakultät‘ und blieb da. Ich fand das juristische Studium wunderbar, weil es im ersten Semester gleich mit Römischem Recht anfing. Das war für mich ein Vergnügen: Latein – eine ungeheure Freude“.1

So schildert Carl Schmitt 1972 seinen Studienbeginn 1907 in Berlin, nicht ahnend, wie eng der Lebensweg des jungen Stud. iur. aus der katholischen Diaspora, der von sich selbst einmal sagen wird, er habe nie ein Großstädter werden wollen, sich mit dem protestantischen „Babylon“-Berlin verweben würde. Der schon grassierenden Wohnungsnot2 immerhin konnte Schmitt entgehen, er kam bei Verwandten seines Vaters in einer Mietskaserne unter. Aufschlussreich, weil auf Schmitts damaligen Antiindividualismus weisend, ist seine frühe und wenig schmeichelhafte Kritik an den zwei „Großordinarien“ Josef Kohler und Ulrich von Wialamowitz-Moellendorff, die er heranzieht, um an ihnen die negativen Auswirkungen der damals ausgeprägten Ich-Bezogenheit zu verdeutlichen. Bemängelte er bei Ersterem die „ästhetizistische Ich-Entfesselung“, so kritisierte er bei Zweitem „das Selbstgefällig-Deutsche“, das Schmitt als „Goethe-Maske“ identifizierte, die für ihn ein bloßes Scheinbild geistiger Größe erzeugt habe.3 Schmitt selbst positioniert sich als Beobachter:

1 Carl Schmitt im Gespräch mit Dieter Groh und Klaus Figge (1972), hier zit. nach Mehring (2009, S. 23). 2 Die Einwohnerzahl Berlins steigerte sich von der Reichsgründung 1871 von 826.341 auf 1.888.848 im Jahr 1900 (Moser 2003/04). 3 Mehring (2009, S. 24); s. a. Noack (1993, S. 20).

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

„Ich war ein obskurer junger Mann bescheidener Herkunft. Weder die herrschende Schicht, noch eine oppositionelle Richtung hatte mich erfaßt. Ich schloß mich keiner Verbindung, keiner Partei und keinem Kreise an und wurde auch von niemandem umworben“.4

Diese Selbsteinschätzung Carl Schmitts, auch wenn sie im Rückblick aus der Warte von 1946/47 erfolgt, birgt wichtige psychologische Erkenntnisse, die Mehring treffend zusammenfasst: „Sein Leben lang empfindet er sich als intellektuell überlegenen Aufsteiger und Außenseiter, als Underdog, der nicht dazugehört, nicht hinreichend respektiert wird und seine ‚bürgerliche‘ Mitwelt im Gegenzug verachtet“.5

Diese Schrift will und kann kein Ort sein, der sich mit Carl Schmitt aus psychologischer Sicht befasst, geschweige denn eine psychopathologische Diagnose erarbeitet, so wertvoll sie auch sein könnte.6 Aber die Symptomatik einer steten Suche nach Anerkennung, die man Außenseitern zuschreibt, kann für eine Bewertung von Schmitts Leben und Werk den Blick weiten. Auch Noack erkennt die Bedeutung dieser Selbstinterpretation Schmitts, aus der sich für Noack vor allem „Fremdheit“ artikuliert – vor 1914 gegenüber dem selbstinszenierten trügerischen Glanz der protestantischen Stadt, nach dem Weltkrieg gegenüber dem politischen System: „Wer so befremdet ist, kann als junger Mensch auf unterschiedliche Weise reagieren: Er sucht nach anderen Formen der Gemeinschaft, der Loyalität und Solidarität. Oder er drängt sich mit allen Mitteln, die er zur Hand hat, in die vorgefundenen Strukturen, paßt sich ihnen an, um sich ihrer zu bedienen, sei es, um sie zu verformen. Er bedient sich also der politischen Realität. Er kultiviert das Gefühl seiner Fremdheit und damit zugleich seiner Überlegenheit. Er schafft sich dadurch einen eigenen Entfaltungsraum, daß er Fremdheit und Feindschaft zu einer Ur-Befindlichkeit erklärt. Wenn jemand so weit ist, bedarf es nur noch eines Schrittes, um zu einem eigenen ‚Begriff des Politischen‘ zu gelangen“.7

Schmitts erster Berlin-Aufenthalt war nur eine kurze Episode, bereits zum Sommersemester 1908 wechselt er nach München.8 Dort belegt er zehn

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Carl Schmitt, hier zit. n. Mehring (2009, S. 24). Mehring (2009, S. 24). Siehe Mehring (2014, S. 5 ff.; insb. S. 6/7.) Noack (1993, S. 21/22). Siehe Mehring (2009, S. 24 f.). Schmitt belegt Sachenrecht, Urheberecht, Familienrecht und Erbrecht, Strafrecht, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Konkurs- und Konkursprozessrecht, Digesten-Exegese, Grundzüge der Sozialpolitik und Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert.

I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg.

Vorlesungen und Seminare. Und er lernt die Stadt kennen, in der er von 1915 bis 1921 leben wird. München wird so zum zweiten zentralen Ort neben Berlin werden. Wahrscheinlich sind es die Nähe zu seinen begüterten lothringischen Verwandten mütterlicherseits und somit auch finanzielle Erwägungen, die ihn schon im Wintersemester 1908/09 nach Straßburg wechseln lassen, wo schon Goethe die Jurisprudenz studiert hatte und nun Paul Laband – der Star der juristischen Fakultät – lehrte. Was im Sommersemester in München begann, setzte sich in den vier Straßburg-Semestern fort. Schmitt trieb sein Studium vehement voran und, wir greifen etwas vor, nach nur sieben Semestern hatte er es einschließlich der Promotion abgeschlossen. Im Frühjahr 1910 wird er das Erste Staatsexamen ablegen. Noch im Wintersemester 1908 lernt Schmitt Fritz Eisler kennen, den in Hamburg aufgewachsenen Sohn des jüdischen Verlegers Heinrich Ludwig Eisler. Fritz ist ungarischer Staatsbürger, weil die Einbürgerung des Vaters 1908 scheiterte. Auch Eisler wird 1910 bei van Calker summa cum laude promovieren. Zwischen Schmitt und Eisler entwickelt sich eine tiefe Freundschaft: „Schon die gemeinsame Arbeit an der Satire Schattenrisse, die Begegnung mit dem Dichter Theodor Däubler und auch das liebe Geld verbinden beide miteinander. Die Familie Eisler unterstützt Schmitt“.9

Eisler kann als Ausländer kein Staatsexamen ablegen, ohne das eine akademische Karriere nahezu ausgeschlossen ist. Ein Einbürgerungsantrag, den Eisler stellt, bevor er eine Assistenz bei van Calker antreten will, scheitert wegen der Vorstrafen des Vaters. Daraufhin verzichtet Fritz Eisler förmlich auf das Staatsexamen, erklärt seine Bereitschaft zum Wehrdienst in Deutschland und sagt verbindlich zu, dass er nicht in den Hamburger Staatsdienst, sondern in das Geschäft seines in gesicherten Verhältnissen lebenden Vaters eintreten wolle – mit Datum vom 19. Mai 1914 wird Fritz Eisler eingebürgert und meldet sich bei Kriegsbeginn freiwillig zum Militär. Er fällt bereits am 27. September 1914 durch einen Granatsplitter. Schmitt war vom Tod des Freundes tief betroffen. Als letzten Freundschaftsdienst gibt er eine strafrechtliche Arbeit aus Eislers Nachlass heraus: „Mit der Familie Eisler begegnet Schmitt seinem Lebensthe-

9 Mehring (2009, S. 30; Herv. im Original; nachst. s. 30 ff.).

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

ma: dem Verhältnis zum Judentum“10 – eine Problematik, die uns noch beschäftigen wird. Nachdem Schmitt 1910 seinen ersten Aufsatz – Über Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des kunstgerechten operativen Eingriffs – veröffentlicht hatte, war die Promotion sein nächstes Ziel. II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910). Betrachtet man Schmitts Gesamtwerk, mag es auf den ersten Blick durchaus überraschen, dass ein späterer Staatsrechtsprofessor mit einer strafrechtlichen Dissertation promoviert, nicht aber, wenn man seine Studienschwerpunkte zurate zieht.11 Seine Vorlieben galten dem Strafrecht und dem Verfassungsrecht.12 Und so promovierte Schmitt 1910 bei dem Straßburger Strafrechtler Fritz van Calker.13 Sein Doktorvater wird Schmitt Mentor wie auch väterlicher Freund werden.14 Weil Schmitt das Gebiet des Strafrechts nach Schuld und Schuldarten rasch wieder verließ und diese Schrift zudem für das Verständnis seiner staats- und völkerrechtlichen wie auch politischen Schriften nur geringe Bedeutung hat, können wir unsere Ausführungen dazu sehr knapp halten. Schmitt betont, dass seine Dissertation keine philosophischen wie auch kriminalpolitischen Erwägungen verfolge, sondern „dem geltenden Strafrecht und seiner Terminologie“ gilt (SuS 20). Schuld und Schuldarten (SuS) ist also eine Abhandlung in dogmatischer Absicht. Seine Arbeit soll

10 Ebd. S. 32. 11 Schmitt hatte allerdings während seines Studiums das Strafrecht schwerpunktmäßig gewählt, ebenso ökonomisch-staatswissenschaftliche Themen. Hingegen – und mit Blick auf seine Schriften wirklich überraschend – ist die fehlende Belegung philosophischer und theologischer Veranstaltungen (s. dazu Mehring 2009, S. 32 f.). 12 So Kennedy (1988 b; S. 239 f.). 13 Van Calker betrat mit einer Arbeit über die Fehlentwicklungen der politischen Parteien selbst das Gebiet des Staatsrechts (Neumann 2015, S. 6). Zweifellos, so Mehring, habe van Calker Schmitt an eine politische Betrachtung des Rechts herangeführt (Mehring 2009, S. 29). 14 Van Calker bietet Schmitt schon 1912 eine Dozentenstelle an, holt ihn aus seinen Düsseldorfer Ehekalamitäten nach München in die Militärverwaltung, was Schmitt den Frontdienst ersparte und ermöglichte auch die Habilitation – und trotzdem erwähnt ihn Schmitt in seinen Schriften fast nie (s. Mehring 2009, S. 27).

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II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910).

klären,15 in welcher Beziehung Vorsatz und Fahrlässigkeit zur Schuld stehen (SuS 74) bzw. die Frage beantworten, ob sie, wie dies von der h. M. als selbstverständlich angenommen werde, überhaupt Schuldarten sind. Denn stehe fest, dass sie dies sind, müsse ihr Gemeinsames „offenbar die Schuld im Sinne des Strafrechts sein“ (SuS 3). Hiergegen führt Schmitt ins Feld, es sei „ein ewiger Zirkel, erst die Schuld aus den sogenannten Schuldarten und dann die Schuldarten aus der Schuld zu beweisen“ (SuS 14).

Deshalb sei zunächst überhaupt zu klären, „was ‚Schuld‘ ist“ (ebd.; s.a. SuS 20):16 „(…) es muß erst ohne Rücksicht auf die Terminologie ‚Schuldarten‘ eine Begriffsbestimmung der Schuld gesucht und erst dann, von ihr aus, nachgesehen werden, mit welchem rechte Vorsatz und Fahrlässigkeit Schuldarten heißen.“ (…)„Erst muß der Gattungsbegriff feststehen, bevor man die differentia specifica der Arten untersuchen kann“ (ebd.).

Die Suche nach diesem Gattungsbegriff beginnt beim geltenden Recht und der Tatsache, dass es einen Staat gibt, der Strafe androht, weil er das, wofür er straft, als etwas Böses, d. h. seinen Zwecken nicht Gemäßes ansieht, wobei der Inhalt dieses Zweckes irrelevant ist.17 Damit sei anerkannt, dass menschliche Satzung eine Schuld begründen kann (SuS 19). Für Schmitt ist – betrachtet man das geltende Recht – klar, dass Schuld ein Vorgang des Innenlebens eines Täters ist (s. SuS 24, Überschrift zu § 3; 28 f.; 31; 36). Wenn dem aber so sei, könne die Schuld nicht die Kausalität einer Handlung betreffen.18 Der Täter wird nur für einzelne Taten belangt, eine Charakterschuld – die es gebe, aber erst bei der Strafzumessung relevant werde – lehnt Schmitt ab. Für ihn ist „Schuld“ nicht gleich mit der juridischen Schuld. Die weitere Frage: „(…) was ist Schuld im formalen Sinne? folgt daraus, daß alle Schuld, wie wohl allgemein anerkannt, Willensschuld ist; sodaß sich als unbestreitbare

15 Zum Untersuchungsplan der Arbeit s. (SuS 1 f.). 16 „Erst muß der Gattungsbegriff feststehen, bevor man die differentia specifica der Arten untersuchen kann“ (SuS 14). 17 Mehring hebt als wichtig hervor, dass Carl Schmitt bereits in seiner Dissertation die Sphären von „Moral“ und „Recht“ strikt trennte (Mehring 2011, S. 20): „[Er] vertritt gegenüber dem moralischen Standpunkt des Individuums den juridischen Standpunkt normativer Orientierung am kollektiven Recht“. 18 Siehe Mehring (2009, S. 33; nachst. s. S. 33 ff.)

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

Schulddefinition ergibt: Schuld im Rechtssinne ist (rechtlich) böser Wille“ (SuS 51).

Der Missbilligung liegt eine Zweckbetrachtung zu Grunde (SuS 57). Aus ihr ergibt sich die – für Schmitt – einwandfreie und präzise Definition: Schuld ist die „den Zwecken des Rechtes nicht entsprechende konkrete Zwecksetzung“ (SuS 72). Sind nach all dem Vorsatz und Fahrlässigkeit also Schuldarten (SuS 94)? Schmitt unterscheidet zwei unterschiedliche Lehrmeinungen: „Die erste Gruppe sieht in Vorsatz und Fahrlässigkeit neutrale Begriffe, die sich auf die Handlung im natürlichen Sinn beziehen, die zweite Gruppe hingegen Begriffe, deren Inhalt auf die Rechtswidrigkeit Bezug nimmt“.19

Neumann illustriert dies anhand folgenden Schulbeispiels. Nach der ersten Ansicht handelt ein Scharfrichter vorsätzlich, nach der zweiten hingegen nicht. Beide Arten betreffen eigentlich jede Handlung, die Handlung ist. Damit sind Vorsatz und Fahrlässigkeit keine Schuldarten und auch keine Schuldelemente, sondern „Schuldvoraussetzungen“, mithin „Voraussetzungen der Zurechenbarkeit“ und nicht „Arten der Schuld“ (ebd.); denn anderenfalls „müsste jeder, der vorsätzlich handelt, schuldhaft handeln“ (SuS 105)20 – so auch der Scharfrichter in obigem Beispiel. Die Bestnote „summa cum laude“ ist für Neumann durch van Calker zu Recht vergeben worden21, für Mehring ist die Dissertation eine „kühne Talentprobe“, mit der Schmitt gegen die h. M. angetreten sei.22 Werfen wir einen kleinen Blick voraus. Mit Gesetz und Urteil (1912) wird eine rechtstheoretische Arbeit folgen, mit der der Spielraum richterlicher Entscheidungen begrenzt wird. Seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914; 1916), in der die normative Konstruktion des Individuums durch den Staat erörtert wird, gehört in den Bereich der Rechtsphilosophie. Die Diktatur (1921) ist dem Bereich der Staatstheorie und der politischen Ideengeschichte zuzuordnen. Die ersten drei Kapitel der Politischen Theologie (1922) sind staatsrechtswissenschaftlich geprägte Abhandlungen, das vierte Kapitel behandelt Ge-

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Neumann (2009, S. 10). Siehe Mehring (2009, S. 34); Neumann (2015, S. 10). Neumann (2015, S. 10). Mehring (2009, S. 34).

II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910).

schichte und Wirkung der konservativen Gegenrevolution und greift dabei Motive der Politischen Romantik (1919) wieder auf.23

23 Siehe Mehring (2009, S. 35); Neumann (2015, S. 10).

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

I. Referendariat in Düsseldorf (1). Schmitt beginnt seinen Vorbereitungsdienst als Referendar am 25. August 1010 am Amtsgericht Lobberich und setzt ihn ab Mai 1911 in Düsseldorf fort. Die Zeit in Düsseldorf ist von Krisen geprägt, auch wenn er, wie er seiner Schwester schreibt, Gesetz und Urteil im Oktober 1911 abschließen konnte. Sein chronischer Geldmangel – man muss allerdings wissen, dass Referendare damals kein Gehalt bezogen – zwingt ihn zu mehreren Umzügen in der Rheinmetropole. Wohl über seinen Freund Eisler lernt er den Dichter Theodor Däubler kennen, eine Bekanntschaft mit Folgen. Wegen des Erfolgs seiner Schrift Gesetz und Urteil wird ihm eine Stelle als Privatdozent in Straßburg angeboten, Strafrecht und Rechtsphilosophie soll Schmitt lesen. Wegen der mit nur 1000 Mark im Jahr dotierten Stelle, muss er ablehnen, und tröstet sich: 24 „Es wird schon wieder so etwas kommen und ich bin schließlich noch jung“ (JB 153). II. Gesetz und Urteil (1912). „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.“ Carl Schmitt25

Die Werkgeschichte Carl Schmitts durchzieht ein Problemkreis von Anfang an: die Frage nach der Legitimation öffentlicher Macht. Wenn auch nicht in jeder Schrift ausdrücklich betont oder behandelt, ist es notwendig, bei der Befassung mit Schmitts Werk die Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Gewalt in die Analyse einzubeziehen – auch, weil Schmitt den Begriff der Legitimität „in einen ungewohnten, ja provozierenden Gegen-

24 Siehe nachst. Mehring (2009, S. 37 f.). 25 (GU 68). GU = Gesetz und Urteil.

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II. Gesetz und Urteil (1912).

satz zum Begriff der Legalität bringt“.26 Mit seiner Kritik am Diskussionsstand seiner Zeit, der das Recht als „reine, wertende, aus Tatsachen nicht zu rechtfertigende Norm“ primär setzt, wo es doch um den Staat als Realität gehe (WdS 10),27 greift Schmitt bewusst die Problematik des staatsrechtlichen Positivismus auf.28 Für das Verständnis von Schmitts Position ist es unerlässlich, sich zu vergewissern, wogegen er sich konkret in Stellung bringt. 1. Der staatsrechtliche Positivismus. 1.1. Staatswillenspositivismus. Am Anfang des staatsrechtlichen Positivismus steht der Jurist Carl Friedrich Wilhelm von Gerber. Sein Ziel war es, das Staatsrecht als selbstständige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Dazu hielt er ein Zweifaches für nötig: Einmal waren die dogmatischen Grundbegriffe zu präzisieren, wozu es notwendig war, alle philosophischen, ethischen und politischen Betrachtungen aus dem Staatsrecht zu entfernen. Zum anderen war ein System zu entwickeln, in dem alle Institute des Staatsrechts aus nur einem Grundgedanken rühren. Um das zu erreichen, sollten alle staatsrechtlichen Beziehungen als menschliche Willensverhältnisse aufgefasst werden. Diese wissenschaftliche Methode bezeichnete Gerber als „Positivität“: d. i. das vom Menschen gesetzte Recht.29 Der sog. Rechtspositivismus unterscheidet strikt Recht und Moral und lehnt die Geltung vorgegebener, nicht-gesetzter Rechtsnormen ab.30 Im Gegensatz dazu steht das Naturrecht bzw. das natürliche Recht (ius naturae bzw. ius naturale) oder überpositive Recht, das sich nicht menschlicher Autorität und Setzung verdankt, sondern unabhängig von gesetzlichen Normierungen der Vernunft des Menschen eigen ist.31 Paul Laband führte den rechtspositivistischen Ansatz weiter. Für ihn musste die juristisch-dogmatische Methode eine „rein logische Denktätig-

26 27 28 29 30 31

Hofmann (1964, S. 16 f.). Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) = WdS. Vgl. Hofmann (1964, S. 18). Vgl. Neumann (2015, S. 11). Vgl. Staatslexikon (Bd. 4, S. 723-726; hier S. 723): „Rechtspositivismus. Vgl. Staatslexikon (Bd. 3, S. 1296-1318; hier S. 1296): „Naturrecht“.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

keit“ sein, für politische, historische und philosophische Betrachtungen ist da kein Raum.32 Der Staat muss rechtswissenschaftlich betrachtet werden, d.h. die juristische Konstruktion – „generalisierende Abstraktion, anschließende Deduktion und Subsumtion“ – hat an die Stelle „politischen und staatsphilosophischen Raisonnements“ zu treten.33 Die Staatsrechtswissenschaft wird zu einer reinen Wissenschaft von den Normen und „endet in der „sozialen Technik“ Kelsens mit der restlosen Abstraktion von der Wirklichkeit im Namen einer auf Normlogismus reduzierten Wissenschaftlichkeit“.34

1.2. Die reine Rechtslehre Hans Kelsens. Der reinen Rechtslehre Hans Kelsens liegt die neukantianische Wissenschaftstheorie zugrunde. Neben dem Grundsatz, dass die Methode das Erkenntnisobjekt bestimmt, bildet die strikte Trennung von Sein und Sollen die grundlegende Prämisse von Kelsens Wissenschaftstheorie. Seine Rechtslehre entwickelt er als reine Normwissenschaft, die ein logisches, hierarchisches System von Sollenssätzen bildet. Jede Rechtsnorm kann nur aus einer höheren Rechtsnorm abgeleitet werden. Die letzte, nicht mehr ableitbare Norm dieser Hierarchie benennt Kelsen als Grundnorm; sie bildet den Geltungsgrund des Rechts.35 Hans Kelsen, der sich in einer Reihe mit den Staatsrechtswissenschaftlern v. Gerber, Laband und Jellinek sieht, bezeichnet seine eigene Theorie, die Reine Rechtslehre, als eine positivistische. Da das positive Recht durch den menschlichen Willen gesetzt ist, steht es dem Naturrecht diametral gegenüber.36 Dementsprechend ist die Rechtslehre „rein“, weil das

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Ebd. Als Anwendungsbeispiel dient der „Preußische-Budget-Konflikt“ (ebd. S. 11 f.). Hofmann (1964, S. 28). Vgl. Kick (2001, S. 69). Die Grundnorm als die letzte wissenschaftliche Begründung für das geltende Recht, wird vorausgesetzt und bildet die Hypothese für die Geltung der Rechtsordnung. Die Grundnorm stellt eine nicht beweisbare Annahme dar, die vorgibt, wie die Normen einer Rechtsordnung gebildet werden. Eine Rechtsnorm bestimmt so die Erzeugung der anderen Rechtsnormen (vgl. Kley/ Tophinke 2001, S. 172). 36 Vgl. Neumann (2015, S. 13).

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II. Gesetz und Urteil (1912).

Recht ausschließlich normlogisch begründet ist, nicht naturrechtlich und nicht durch empirische Kausalzusammenhänge.37 Für Kelsen ist jeder Staat ein (Rechts-)Staat, weil er eine „relativ zentralisierte Rechts- und damit eine Zwangsordnung“ ausbildet.38 Der Staat zieht Existenz nur aus von Menschen gesetzten (Staats-)Akten: „Der Staat wird dabei als Fiktion ausgeblendet, da er nur durch Menschen handelt und die Reine Rechtslehre sich nur mit dem vom Recht bestimmten Menschen befasst.“39

Im System Kelsens werden Staat und Recht identisch, der Staat ist immer dem Recht unterworfen und – weil er sich nur normativ begründen lässt – deshalb nichts anderes als eine Rechtsordnung.40 Das bedeutet auch, dass der (Rechts)-Staat sich durch das Recht weder legitimieren, noch inhaltliche Begründung finden kann.41 Neumann kommt zu dem Ergebnis: „Die Übereinstimmungen mit der reinen Rechtslehre sind unübersehbar.“42 Mit einer Divergenz: Bei Gerber und Laband begründet der Wille des Staates die Geltung des Rechts, bei Kelsen verschwindet der Staat, „d.h. er ist die ‚Rechtsordnung oder deren Einheitsausdruck‘. Dass Kelsen der deutschen Staatsrechtslehre ihren Lieblingsgegenstand genommen hat, das hat sie ihm nie verziehen“.43

1.3. Die politischen Konsequenzen des staatsrechtlichen Positivismus. Durch die Abstraktion von „allen staatstheoretischen, philosophischen, soziologischen, geschichtlichen Beziehungen und Verbindungen“44 kann der normativistische Positivismus – als eine bloße soziale Technik – sich mit jeder politischen Idee und Staatsform akkommodieren und den jeweiligen staatlichen Status quo legitimieren: 45

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Kick (2001, S. 69). Kley/Tophinke (2001, S. 172). Ebd. S. 173; nachst. vgl. ebd.. Ebd. S. 173; vgl. Kick (2001, S. 69). Vgl. Kley/Tophinke (2001, S. 173). Neumann (2015, S. 13.) Ebd. Hofmann (1964, S. 29/30). Ebd.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

„In der Tat ließ sich mit Kelsens Lehre jeder Staat rechtfertigen, der nach wie auch immer inhaltlich beschaffenen Gesetzen regiert.“46

Trotz dieser pejorativ besetzten, allumfassenden politischen Anpassungsfähigkeit – einer staatsrechtlichen complexio oppositorum47 gleichsam – sollte man den ursprünglichen Sinn und die politische Zielsetzung des Positivismus nicht gänzlich verdrängen.48 Die angestrebte Reinheit der juristischen Begriffe sollte nämlich die ungelösten politischen Widersprüche von monarchischem und demokratischem Prinzip und deren jeweiliger Legitimität neutralisieren: Man deklarierte die Frage nach der Legitimität deshalb als eine „metajuristische“ und folglich unwissenschaftliche. So „wurde die politische Sprengkraft der ‚Kernfrage des Jahrhunderts‘, der Dualismus von Fürst und Volk, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft von ‚homme‘ und ‚citoyen‘ rechtswissenschaftlich neutralisiert. Übrig blieb an Stelle der Legitimität der Staatsgewalt die Legalität aller ihrer Akte, (…) die Rechtfertigung des Staates und die Geltung des Rechts aus sich selbst“.49

Durch die Streichung der Legitimität aus der juristischen Welt hatte sich der theoretische Diskurs über das Wesen des Staates zur Nationalökonomie, zur Geschichtswissenschaft und zur Soziologie verlagert: „Aus der Reaktion auf den staatsrechtlichen Positivismus, aus dem Bemühen, dessen Grundlagen in Frage und das Problem der Rechtsgeltung wieder als eine Frage der zu erneuernden Rechtstheorie und Staatsphilosophie zur Diskussion zu stellen, sind die Anfänge des Werkes Carl Schmitts zu begreifen.“50

2. Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis. 2.1. Vorbemerkungen. Mit der ersten großen Abhandlung nach seiner Dissertation wendet sich Carl Schmitt, der „Theoretiker staatlicher Dezision“51, Methodenfragen des Rechts zu. Die gängige Verortung der Richtigkeit einer richterlichen

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Sontheimer (1994, S. 68). Siehe hier Römischer Katholizismus und politische Form. Grundlegend u. umfassend v. Oertzen (1974). Hofmann (1964, S. 30). Ebd. S. 31. Neumann (2015, S. 16).

II. Gesetz und Urteil (1912).

Entscheidung in deren Gesetzmäßigkeit zu sehen, weist Schmitt zurück. Er sucht ein von der Gesetzesbindung unabhängiges, methodisches Richtigkeitsprinzip. Zugleich wendet er sich gegen eine Kernthese des juristischen Positivismus, für den das Recht ein geschlossenes System ist. Denn der Dezisionismus vertritt gegen den normativistischen Positivismus die Auffassung, dass das richterliche Urteil niemals ausschließlich und vollständig allein durch die anzuwendenden Gesetzesnormen determiniert ist.52 Auch die positivistische These aus dem 19. Jahrhundert, es gäbe einen nahezu klaren Wortlaut des Gesetzes, den ein Richter nur zu artikulieren brauche, um den gesetzgeberischen Willen im Urteil zu realisieren, lehnt Schmitt als dogmatisch erstarrte Fiktion ab.53 Zugleich aber wendet er sich gegen eine freirechtlich-willkürliche richterliche Subjektivität54, die nur noch das gesetzliche Vokabular für ihre aus einem Gefühl des „Gerechten-an-sich“ getroffene Entscheidung gebraucht.55 „Dezisionismus“ ist einer der Schlüsselbegriffe im Denken Carl Schmitts, der ihn auch in die staats- und verfassungstheoretische Diskussion einbrachte. Der Begriff fußt auf der These, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen die „Entscheidung an sich“ wichtiger ist als ihr Inhalt.56 Von Schmitt wird er auch im Sinne von „Entscheidungsdenken“ gebraucht.57 Höchstselbst weist er 1969 auf die Bedeutung von Gesetz und Urteil als wissenschaftliche Vorarbeit für seinen späteren staats- und verfassungstheoretischen Dezisionismus hin (GU Vorwort). Der Frühschrift folgen seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1916) und die Monographie Die Diktatur (1921). Sie bereiten der Präzisierung des Dezisionsbegriffs in der Politischen Theologie weiteren Boden. In ihr wird Schmitt das Diktum setzten, dass die juristische Entscheidung „normativ betrachtet aus dem Nichts ge-

52 Zum Dezisionismus bei Schmitt s. grds. Bolsinger (1998). 53 Bolsinger (1998, S. 473 f.). 54 Die Freirechtslehre ist eine rechtswissenschaftliche Schule des frühen 20. Jahrhunderts, die gegen die Begriffsjurisprudenz dem Richter eine „freie Rechtsfindung“ bei Gesetzeslücken zubilligen, sehr weitgehend sogar das geltende Recht als dem Einzelfall angemessener durch ein freies Richterrecht ablösen wollte. Cum grano salis sollte die Gesetzesbindung des Richters zugunsten des richterlichen Ermessens zurückgedrängt werden. 55 Vgl. Kiefer (1990, S. 481). 56 Vgl. (WdS 79); (DD 22); (PT 44). 57 Neumann (2015, S. 16).

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boren“ (PT 42) und irreduzibel personalistisch ist.58 Und er wird dem Prinzip, wonach Rechtsentscheidungen nur aus rechtlichen Normen zu gewinnen sind, eine entschiedene Absage erteilen (vgl. Werner 2006): „Die Vorstellung von der Gesetzesmäßigkeit aller Entscheidungen kann heute als überwunden bezeichnet werden“ (GU 11).

Das Vorwort zur Erstauflage von 1912 leitet Schmitt ein: „Die vorliegende Abhandlung stellt sich die Frage, wann eine in der Rechtspraxis ergangene Entscheidung richtig ist, und beantwortet sie dahin, daß die Rechtspraxis selbst darüber entscheide“ (GU VII).

Und im Vorwort zur Auflage von 1969 betont er: „Die Abhandlung Gesetz und Urteil vom Jahre 1912 betrifft die richterliche Entscheidung und ihre Eigenständigkeit gegenüber der Norm, auf deren materiell-rechtlichen Inhalt sie sich zu ihrer Begründung beruft“ (GU V).

Das Problem der Richtigkeit der richterlichen Entscheidung fokussiert sich – so können wir in erster Näherung sagen – auf das Verhältnis von Rechtsnorm und konkretem Fall.59 Und es handelt sich dabei, so Armin Adam zu Recht, nicht um ein randständiges politikwissenschaftliches Spezialproblem, sondern um ein zentrales Problem des modernen Staates, „sofern er nämlich Rechtsstaat ist“.60 Gesetz und Urteil gehört für Adam so zum „Fundament der politischen Reflexion Carl Schmitts“ 61. 2.2. Das Problem: Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig? „Die entscheidende Frage ist die: wann ist eine richterliche Entscheidung richtig“ (GU 1)?

Schmitt sucht nicht nach der absoluten, zeitlosen Richtigkeit einer Entscheidung, sondern nach der leitenden Idee der heutigen Rechtspraxis (GU 2): „Das Ziel ist also, die Methode der modernen Rechtspraxis auf eine Formel zu bringen, die ausdrückt: Wann haben wir heute von einer richterlichen Entscheidung zu sagen, daß sie richtig sei“ (GU 4)?

58 59 60 61

56

Adam (1994, S. 30). Vgl. ebd. S. 28. Ebd. S. 30. Ebd.

II. Gesetz und Urteil (1912).

Die formale Geltung eines positiven Gesetzes bedeutet nicht, dass die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung ohne Weiteres deren Richtigkeit impliziert. Denn zwischen der Richtigkeit der Entscheidung und dem „geltenden Recht“, das aus dem verarbeiteten Rechtsstoff resultiert, handle es sich, so Schmitt, „um den Gegensatz zweier Geltungen innerhalb desselben Wissensgebietes, von denen die eine Geltung, die der Praxis, gefunden werden soll“ (GU 4).62

Unabhängig davon wird eine richterliche Entscheidung von der h.M. dann für richtig gehalten, wenn sie gesetzmäßig ist, d.h. wenn sie dem geltenden positiven Recht entspricht. Am einfachsten schiene die Richtigkeit also gewährleistet, „wenn das Gesetz dem Richter eindeutig vorschreibt, einen ganz bestimmten Tatbestand in bestimmter Weise zu beurteilen“, in der Form etwa, „sich streng an den Wortlaut des Gesetzes und den Sprachgebrauch des täglichen Lebens zu halten und keinen Fall zu entscheiden, der nicht zweifellos durch ein Gesetz geregelt wird (…)“ (GU 5),

Dies laufe aber nur darauf hinaus, dem Richter zu befehlen, nur dann zu entscheiden, wenn er sich der richtigen Entscheidung sicher ist, ansonsten aber nicht zu entscheiden (GU 5). Die Folge wäre, dass die Zweifelsfälle als nicht entscheidungsfähig gerichtsanhängig blieben,– auch wegen des Rechtsverweigerungsverbotes, ein schlicht nicht darstellbarer Zustand. Die einzige positivrechtliche Bestimmung, die das Verhältnis von Gesetz und Richter regelt, argumentiert Schmitt weiter, sei der § 1 GVG63: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“ (GU 6).

Der Richter soll also nur dem Gesetz unterworfen sein. Aber beschränkt die Norm den Richter auch, nur das klare Gesetz anzuwenden, dem er unterworfen ist? – Ja, so Schmitt, „worin aber die Unterwerfung besteht, ja was als Gesetz und sein Inhalt zu betrachten ist, darüber sagt der § 1 GVG

62 Emanuele Castrucci: „Manchmal erscheinen in den Frühwerken eines Autors, in denen die Entwicklung seines Denkens erst am Anfang steht, seine Intuitionen in einer reineren Form. (…) In dieser Abhandlung (Gesetz und Urteil, w.a.m.) geht der junge Schmitt von folgender Intuition aus: „Es ist ein Fehler zu glauben, daß dank eines formalistischen Verfahrens die normativen Inhalte eines Gesetzes grundsätzlich unverändert wieder im Urteil vorkommen können, in dem typischerweise die konkrete Bestimmung des Rechts erfolgt“ (Castrucci 2017, S. 11). 63 GVG=Gerichtsverfassungsgesetz.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

nichts“ (GU 7). Mittels einer historischen Herleitung kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber den Richter an den klaren Sinn der Gesetze binden wollte: „Der Richter sollte weiter nichts tun, als unter Gesetze zu subsumieren“ (ebd.). Daraus sei vernünftigerweise zu folgern, dass für den Richter nur der manifeste Inhalt des Gesetzes maßgebend ist, „alles andere kümmert ihn nicht“ (GU 7/8). Mit dieser Beschränkung auf den klaren Inhalt des Gesetzes ist es aus Schmitts Sicht jedoch nicht möglich, „das vielgestaltige Leben“ mittels weniger oder gar fehlender Rechtsnormen erschöpfend zu erfassen. Der Richter könne sich also nicht mit dem positiven Recht begnügen (vgl. GU 8). Unter der Gesetzesnorm des § 1 GVG sei folglich „etwas anderes zu verstehen, als sein klarer Wortlaut“ (GU 9). Umfangreiche Bearbeitungen der Rechtsnormen, die unzähligen Fachbücher, Kommentare und Bibliotheken von Präjudizien lasten für Schmitt oft auf einem einzigen Gesetzeswort und führen zu Abweichungen „des in der Rechtsprechung heraustretenden Rechts vom Gesetzesrecht“64. So verlieren die Postulate der „Gesetzmäßigkeit“ und der „Bindung ans Gesetz“ erheblich an Stringenz. Wer, so Schmitt, vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit gleichwohl nicht ablasse, müsse zu Methoden greifen, die geeignet sind, den eigentlichen Inhalt des Gesetzes zu erfassen. Das werfe jedoch die Frage auf, ob ein so ermittelter Gesetzesinhalt „überhaupt noch als ‚Gesetz‘ und das auf ihn gebaute Urteil noch als gesetzmäßig“ gewertet werden könne. Ob der Richter diesen Interpretationsmethoden unterworfen ist, sage der § 1 GVG nicht (vgl. GU 9), weshalb sich auch die traditionelle Hermeneutik nicht auf ihn berufen könne (GU 10). Ein anderer Ansatz fordere, dass mit den Methoden der extensiven und restriktiven Interpretation, der Analogie und dem Beweis aus dem Gegenteil – argumentum ex contrario – der wahre Inhalt des Gesetzes ermittelt werden soll. Diese ohne jeglichen Nachweis gestellte Anforderung setzt nach Schmitt einmal voraus, dass die genannten Methoden sich als fähig erweisen müssen, den wahren Inhalt des Gesetzes freizulegen und zum andern festlegen, dass eine richterliche Entscheidung dann als richtig anzusehen sei, wenn das Gesetz richtig interpretiert wurde. Eine derartige Identifikation sei aber falsch (vgl. GU 10 f.). Schmitt wird, wir greifen etwas vor, noch öfter ausführen, es sei etwas gänzlich anderes, ob ein Gesetz richtig interpretiert oder ob es in richtiger Weise angewendet werde, weil

64 O. Bülow. Gesetz und Richteramt. Leipzig 1885. S. IX, zit. nach (GU 9).

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es durch seine Anwendung schlicht in eine „andere Sphäre“ eintritt (GU 29; s.u.). 2.3. Der Wille des Gesetzes. Die herrschende Lehre der Rechtsanwendung greift auf den „Willen des Gesetzgebers“ bzw. den „Willen des Gesetzes“ zurück.65 Eine richterliche Entscheidung wäre demnach richtig, „wenn sie vom Gesetzgeber im positiven Recht vorgesehen ist; wenn so entschieden wird, wie die maßgebende gesetzgeberische Instanz es bestimmt hat oder wenigstens (fügt man unbedenklich hinzu, als ob das nicht etwas ganz anderes wäre) bestimmt haben würde, wenn sie den Fall vorausgesehen hätte. (…) aus dem Quell des Gesetzes ist die Entscheidung geschöpft“ (GU 21).

Da nunmehr alles von einem theoretisch konstruierten „Willen“ abhänge, wäre der reale Wille des Gesetzesverfassers oder des empirisch konkreten Gesetzgebers das maßgebliche Kriterium (GU 22).66 Diese Auffassung weist Schmitt als nicht möglich zurück, indem er sie mit der Philosophie Hans Vaihingers als „Fiktion“ dekonstruiert.67 Die subjektive Lehre68 vom „Willen des Gesetzgebers“ scheitere bereits an der faktischen Unmöglichkeit, „den realen, psychologischen Willensinhalt eines bestimmten Menschen (…) in irgendeinem bestimmten Zeitraum zu ermitteln (…)“ (GU 25/26). Für eine gesetzgebende, vielköpfige Versammlung gelte dies erst recht. Die objektive Lehre vom „Willen des Gesetzes“ verkenne, dass das Gesetz eine „konstante lebendige Kraft“ und der Gesetzesinhalt keineswegs unabänderlich und statisch seien (GU 26). Beide Ansichten, so Schmitt, beträfen nur die „Richtigkeit der Interpretation, nicht die der Entscheidung in der Praxis, was sie fälschlich für ‚selbstverständlich dasselbe‘ hielten“ (GU 27). Schmitt weiter (GU 27/28): „Der als geltend anzunehmende Inhalt des Gesetzes tritt dadurch, daß der Richter ihn anwendet, in eine andere Sphäre, seine Funktion wird eine andere, wie denn auch tatsächlich der abstrakt geltende Gesetzesinhalt durch die Bezugnahme auf einen konkreten Fall sofort ein anderer wird“ (GU 28).

65 „Die neue Wendung ‚Wille des Gesetzes‘ ist der vom ‚Willen des Gesetzgebers‘ nachgebildet und formal wie inhaltlich ohne diese undenkbar“ (GU 25). 66 Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 17). 67 Mehring (2009, S 39). 68 Siehe dazu Habfast (1998, S. 9 f.).

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Die Verbindung zwischen dem vom wirklichen Leben unberührten Rechtssatz und der konkreten Anwendung auf den Einzelfall fehle jedenfalls, „sobald Richtigkeit der Interpretation (…) und Richtigkeit der konkreten Entscheidung für ein und dasselbe erklärt werden“ (GU 28).

Für Schmitt gilt es nun zu prüfen, ob die richtige Interpretation und die richtige Entscheidung dasselbe sind, oder ob nicht etwa die Richtigkeit der Interpretation eine Voraussetzung für die Richtigkeit der Entscheidung ist, zu der allerdings noch andere Momente hinzutreten müssten, um sie als eine „richtige“ qualifizieren zu können (GU 28). In der Theorieentwicklung wurde die Maßgeblichkeit des „Willens des Gesetzgebers“ – wie auch die der Materialien eines Gesetzes – als Richtigkeitskriterium verneint. Man präferierte dann als Ansatz die Theorie vom „Willen des Gesetzes“, um den Willensbegriff und seine Problematik – „das schlimmere Gespenst“ (GU 29) – juristisch am Leben zu lassen (vgl. GU 28 f.). Trotz dieser entpersonalisierenden Volte sollte – Kann es ohne einen persönlichen „Gesetzgeber“ einen „Willen des Gesetzes“ geben, es sei denn als Fiktion (vgl. GU 26, FN 1)? – das Desiderat einer Interpretation nach wie vor dem wahren Willen des Gesetzgebers entsprechen. Beide Willenstheorien endeten – „wenn die Kompetenz eines ‚Willens‘ überhaupt noch nicht klar ist“ (GU 30) – für Schmitt ohnehin bei der „Konstruktion des vernünftigen Gesetzgebers“ (GU 29 f.). Denn im Ergebnis suchte man den Befehl, den „feststehenden Willen“, dem ein Richter zu gehorchen hatte, wenn er denn richtig entscheiden wollte (GU 30). Zu einer richtigen Entscheidung gehörten aber zwei Arbeitsschritte: das richtige Gesetz für den Tatbestand zu finden, sowie den Inhalt dieses Gesetzes richtig aufzufassen (GU 30 f.). So habe denn der Richter in jedem Arbeitsschritt einem Befehl zu gehorchen, dessen Inhalt er aber meistens selbst zu eruieren habe. Jeder Interpretationsakt aber „ist ein Akt selbständig schaffender Synthese eines ‚Gesetzgebers‘“ (GU 31). Ein systembildender Jurist führe durch die Umformung alter zugleich neue Gedanken ein und jede Auslegung kreiere deshalb einen neuen Rechtssatz, der die Bedeutung des Wortlauts des Gesetzes infrage stellt (vgl. ebd.). Weiterhin sei ungeklärt, welcher Zeitpunkt für die Willensermittlung der maßgebende sei und welcher feststehende Inhalt eine Subsumption überhaupt erlaube (GU 33).69 Dem lebendigen 69 Für weitere anzuzweifelnde Kriterien siehe (GU 33 f.).

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Organismus des Rechts entspreche ein Gesetzeswillen, der sich dem Fortschritt der Zeit anpasst: „Nur ist zu bedenken, daß man unter einen ‚lebendigen Organismus‘ nicht subsumieren kann“ (GU 34).

Schmitts Ziel war es, gezeigt zu haben, dass (1) das Kriterium des „Willens“ nicht ausreicht, um die Richtigkeit einer Entscheidung zu ermitteln, dass (2) der zur Entscheidung konkreter Fälle angewandte Rechtsstoff und die Regeln seiner Benutzung nicht identisch sind, dass (3) für das Kriterium der Richtigkeit weitere Geltungen heranzuziehen sind (vgl. GU 35) und dass (4) die Bindung des Richters an das Gesetz als ein Kriterium der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung „logisch unmöglich“ ist (vgl. GU 36), um den Erfordernissen der Rechtspraxis gerecht werden zu können (vgl. GU 35). Welches sind nun aber – neben der Richtigkeit der Interpretation – die weiteren Elemente („Geltungen“) einer Richtigkeitsprüfung? Ein Element, expliziert Schmitt weiter, könnte die „Gesetzmäßigkeit“ sein.70 Eine Entscheidung wäre demnach dann richtig, wenn sie unter einen – „relativ“ – feststehenden Inhalt von Gesetzesnormen subsumiert werden kann (GU 37). Allerdings erweist sich dieses Richtigkeitskriterium unter den Einflüssen der „Wirksamkeit des Rechtsgefühls, der Verkehrsverhältnisse usw.“ praktisch als zu eng, und dies zu leugnen oder Rechtsabweichungen als Ausnahmefälle zu deklarieren, löse das Problem nicht (ebd.). Nun habe aber die jahrhundertealte Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung dazu geführt, das Gesetz weiter zu fassen, um eine größere Subsumierbarkeit zu gewährleisten. Ergebe die Subsumption trotzdem kein richtiges Ergebnis, müsse das offenbar fehlerbehaftete Gesetz geändert werden, um damit zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Diese leitende Idee der Freirechtsbewegung, die neben dem positiven ein überpositives, freies Recht platziert und so zu einem erweiterten Gesetzesbegriff gelangt, beraube, so Schmitt, den Begriff der Gesetzmäßigkeit seines Merkmals der richtigen Entscheidung: die Subsumierbarkeit unter das Gesetz wird wertlos (ebd.), „wir geben die Gesetzmäßigkeit als Kriterium der Richtigkeit auf“ (GU 38; vgl. GU 40). In dieser Lage werde immer häufiger die These gesetzt; „Der Richter soll so entscheiden, wie der Gesetzgeber entschieden habe“ (GU 41). Aber diese Forderung verschleiere nur, dass man das Richtigkeitskriterium der Gesetzmäßigkeit aufgegeben 70 Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 17).

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hat, weil es nicht „einen Schatten von Rechtsbestimmtheit“ herstellen könne (GU 42): „Aber zum Glück ist die Methode der Praxis besser als das, was die Praxis für die Methode hält“ (GU 43). Folglich muss ein anderes Kriterium gefunden werden. 2.4. Das Postulat der Rechtsbestimmtheit. Schmitt wechselt nun die Perspektive, weg von der richterlichen Praxis und hin zur Gesetzgebung.71 Folgen wir Schmitts Gedankengang. Ein Gesetz habe inhaltlich „in den letzten Jahren“ meistens nichts Neues gebracht, habe sich an Inhalten wie der bestehenden Lebensordnung und Verkehrsgewohnheit orientiert, an moralischen und kulturellen Werten von Zeit und Volk, es habe kurzum schlicht Anschauungen geordnet (vgl. GU 44 f.). Diese Gruppe vorjuristischer Inhalte konnte einmal direkt in Rechtsnormen einfließen, oder sie wurde zur Interpretation von Gesetzen herangezogen, so dass die Wertanschauungen des Volkes gleichsam in den Willen des Gesetzes einflossen und insoweit maßgebend wurden, als man unterstellte, das Gesetz wolle bei Auslegungszweifeln diese im Volk verankerten Werturteile in juristischer Form verwirklicht sehen (vgl. GU 45). Für alle Gesetze gelte dies aber nicht, fehle doch einem Teil der Gesetze jede inhaltliche Bestimmtheit, entweder weil der Materie solche außerordentlichen Elemente fremd (z.B. Verjährungsfristen) oder weil derartige Elemente so unbestimmt seien, dass sie eine Antwort unmöglich machten (z.B. das gesetzliche Strafmaß bei den einzelnen Delikten) (vgl. GU 45 f.): „Diese Fälle machen eine wichtige Entscheidung des Rechtslebens deutlich: daß es häufig nicht so sehr auf die Art und Weise der Regelung, als auf eine Regelung überhaupt ankommt. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, enthält jedes Gesetz ein solches Moment, das ein Zivilist vielleicht als aleatorisches72 bezeichnen würde. Bis zu einem gewissen Grad ist es immer notwendiger, daß überhaupt etwas Gesetz, als daß ein bestimmter Inhalt Gesetz ist“ (GU 45/46).

71 Habfast (2010, S. 17). 72 Aleatorisch = eigentlich „zufällig“ oder „vom Zufall abhängig“; das Gegenwort ist: determiniert; im Sinne Schmitts hier wohl am besten: „unbestimmt“ oder „willkürlich“.

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Hier greift also das dezisionistische Element. Als Beispiel benennt Schmitt eine Polizeiverordnung, die bestimmt, Fuhrwerke hätten nach rechts auszuweichen. Sie hätte ebenso gut bestimmen können, Fuhrwerke hätten nach links auszuweichen. Allein entscheidend sei, dass man weiß und sich darauf verlassen kann, es wird nach rechts oder nach links ausgewichen. Die Entscheidung für eine bestimmte Richtung beruhe jedenfalls nicht auf Erwägungen nützlicher, gerechter oder moralischer Natur, sondern allein auf der Tatsache, dass entschieden ist. „Ein solches Moment inhaltlicher Willkür ist in allem Recht enthalten“ (GU 46). Gegen das Dogma von der Geschlossenheit der Rechtsordnung „setzt Schmitt die Theorie der Lückenfüllung durch die Entscheidung“.73 Der dezisionistische Weg bei Carl Schmitt hat hier seinen Anfang. Mit der bloßen richterlichen Entscheidung tritt eine Funktion der Rechtsordnung zutage, deren Bedeutung laut Schmitt vordem wohl nur Hegel gesehen habe:74 Die Bedeutung des Rechts liege darin, überhaupt eine Regelung zu treffen (vgl. GU 47 f.). Unter diesem Gesichtspunkt ist das geschriebene, positive und publizierte Gesetz das Ideal eines Gesetzes. Das Gesetzesrecht hat vor dem Gewohnheitsrecht den „Vorzug der Rechtsbestimmtheit“ (GU 48). Das für die Rechtsordnung wesentliche Erfordernis der Rechtsbestimmtheit tritt gleichsam zwischen die substantielle Gerechtigkeit des konkreten Falls und deren Realisierung im wirklichen Leben. Da sich das Kriterium der Rechtsbestimmtheit aber gerade auf die Gerechtigkeit beruft, kann sich ein Richter „nicht leicht über den Wortlaut eines klaren Gesetzes hinwegsetzen“ und durch Nichtbeachtung des Gesetzes die Rechtssicherheit gefährden(vgl. GU 49): „Alle diese Erwägungen gehen von dem Gedanken aus, daß das Gesetz in erster Linie überhaupt festsetzen will. Wie und was es festsetzt, ist die zweite Frage. So wird ein Moment in den Vordergrund geschoben, das scheinbar den ‚Inhalt‘ der Rechtsordnung zur Seite drängt, in Wahrheit aber gerade zu ihrem Inhalt gehört“ (GU 49/50).75

So wohnt jeder juristischen Entscheidung – unabhängig von Kriterien ihrer Richtigkeit – ein Eigenwert inne, „weil sie Rechtsbestimmtheit und Rechtssicherheit herbeiführt“.76 Als Zwischenergebnis ist für Schmitt nunmehr widerlegt,

73 74 75 76

Kiefer (1990, S. 481). Näher dazu s. Habfast (2010, S. 19 ff.). Siehe auch (GU 106 ff.). Vgl. Castrucci (2017, S. 11, FN 2). Neumann (2015, S. 18).

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„daß man von irgendeinem substantiellen Gerechtigkeitsideal oder einer inhaltlichen Zweckmäßigkeit her, das Kriterium der richtigen richterlichen Entscheidung gewinnen könne“ (GU 53).

Vielmehr gehe es „ausschließlich um die Gewinnung eines der Praxis spezifischen Kriteriums der Richtigkeit von Entscheidungen (…)“ (GU 109). Carl Schmitt beginnt jetzt erstmals, sich mit der Rechtstheorie Hans Kelsens auseinanderzusetzen und „die erste ernstzunehmende Kelsen-Kritik in der deutschen Staatsrechtslehre“ zu formulieren.77 Und zugleich setzt er an, das gesuchte, der Rechtspraxis eigene, Kriterium der Richtigkeit, aus dem Postulat der Rechtsbestimmtheit zu entwickeln: „Seine Legitimation dazu kann ein derartiger Gesichtspunkt nur dadurch beweisen, daß er in sich widerspruchslos und auf alle Erscheinungen der Rechtspraxis anwendbar ist“ (GU 57).

2.5. Die richtige Entscheidung. Nach dem bisher Ausgeführten sieht sich Schmitt in der Lage, „ein der Rechtspraxis autochthones Kriterium“ für die Richtigkeit einer juristischen Entscheidung – „Die Lösung ist kühn.“78 – zu formulieren: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ‚Ein anderer Richter‘ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen“ (GU 68).

Mit dieser Formel rückt Schmitt die institutionellen und verfahrensmäßigen Bedingungen der Rechtspraxis für die Frage nach der Richtigkeit juristischer Entscheidungen in das Zentrum und zeigt, dass die Rechtspraxis das Erfordernis der Richtigkeit mittels eigener institutioneller Einrichtungen sicherstellen kann.79 Das Kollegialprinzip (GU 69 ff.), der Instanzenzug (GU 72 ff.), die Urteilsbegründung (GU 78 ff.) und die Berufsausbildung des „modernen rechtsgelehrten Juristen“ sollen sicherstellen, dass „die Entscheidung voraussehbar und berechenbar gemacht werden soll und auf die Gesamtheit der Rechtspraxis Bezug genommen wird“ (GU

77 Ebd. S. 21. 78 Hofmann (1964, S. 34). 79 Vgl. Habfast (2010, S. 28); s. Neumann (2015, S. 18).

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70). Somit ergibt sich die Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung aus ihrer Voraussehbarkeit und ihrer Berechenbarkeit.80 Die Schmittsche Richtigkeits-Formel werde einmal durch Erscheinungen der modernen Rechtspraxis: das Kollegialsystem und die Entscheidungsgründe, bestätigt und löse zum anderen widerspruchslos jene Komplikationen, die daraus resultierten, dass die Autorität des Gesetzes nicht durch zwar richtige Entscheidungen beeinträchtigt werde, die aber … „… praeter und zuweilen (…) contra legem ergehen müssen, obwohl sie kaum noch ‚quellenmäßig‘ zu nennen sind – mögen sie nun durch Präjudizien der höchsten Gerichte und deren konstante Praxis gedeckt sein oder nicht“ (GU 68).

Erkläre die Formel zuletzt noch widerspruchslos die Bedeutung der Präjudizien „so hat sie ihre Berechtigung als maßgebendes Prinzip der heutigen Rechtspraxis bewiesen“ (GU 69) – was sie, wie Schmitt in der Folge ausführt, auch tut. Insgesamt rechtfertigt sich mit dem Maßstab eines „anderen Richters“ die Rechtspraxis durch die Rechtspraxis (vgl. GU 82).81 Gegen die hypothetische Formulierung der Formel Schmitts wurde die mannigfaltige Verschiedenheit von Urteilen ins Feld geführt: Undurchführbar sei es, festzustellen, wie ein anderer Richter entschieden hätte, und im Übrigen beweise schon eine unrichtige Entscheidung, dass nicht jeder Richter so entschieden hätte (vgl. GU 74). – Es sei, erwidert Schmitt, natürlich nicht von jedem einzelnen Richter die Rede. Die hypothetische Formulierung habe nicht den Sinn, auf etwas Faktisches hinzudeuten, wolle keineswegs das Tun anderer Richter bestimmen oder diese unter massenpsychologische Beobachtung stellen (vgl. ebd.): „Die vorgeschlagene Formel hat auch nichts mit einem Gesetzesbefehl an den Richter zu tun. Sie liefert nur ein methodisches Prinzip der heutigen Rechtspraxis. Der Hinweis auf den anderen Richter als empirischer Typus ist nur ein Ausdruck für die konstitutive Bedeutung des Postulats der Rechtsbestimmtheit in der Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung“ (GU 75).

Der Richter hat sich nur zu bemühen, dass seine Entscheidung „der tatsächlich geübten Praxis entspricht“ und – weicht er von der herrschenden Meinung ab – auf einer Ebene der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit zu argumentieren. Schmitts formale Maxime verweist den Richter nicht

80 Neumann (2015, S. 19). 81 Vgl. Kiefer (1990, S. 482).

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auf eine vorgegebene inhaltliche Bestimmung. Aber sie fordert vom Richter, für seine Entscheidung alle Faktoren beizuziehen, „unter denen die positiven Rechtsregeln nur einen Teil ausmachen und denen etwa noch die Verkehrsauffassung, das Gerechtigkeitsgefühl, Billigkeitserwägungen und Präjudizien gehören, zu berücksichtigen und deren motivatorische Kraft für den durchschnittlichen Richter unter gegenseitiger Abwägung abzuschätzen, um damit trotz der Nicht-Ableitbarkeit der Entscheidung und des daraus resultierenden Moments inhaltlicher Indifferenz ein Höchstmaß von inhaltlicher Vorausberechenbarkeit der Judikatur zu erzielen“.82

In keiner Entscheidung aber dürfe er in seiner Subjektivität einem absolut freien Ermessen folgen, denn der andere Richter „ist eben der normale juristisch gebildete Richter“ und kein Idealtypus, präzisiert Schmitt (GU 75). Und an diesen gelehrten Juristen und Kollegen, nicht etwa an die Verfahrensparteien, richte sich deshalb auch die Urteilsbegründung; der andere Richter soll überzeugt werden: Die Praxis rechtfertige sich schließlich durch sich selbst (vgl. GU 82), das Buch wende sich an die Praxis, die es zum Gegenstand habe (vgl. GU VIII) und die Praxis habe die „objektiven Kriterien“ (GU 103) der Rechtsbestimmtheit entwickelt: „Schmitts Ziel ist es, diese Kriterien zu analysieren und so die richterliche Dezision an den „empirischen Typus“ des Richters zurückzubinden.“83

Eine rationale Entscheidung fordert eine Begründung und die Begründung braucht ein Kriterium. Dieser Anforderung will Schmitt durch den „anderen Richter“ gerecht werden, der den mit der gleichen professionellen Rationalität arbeitenden und urteilenden84 Kollegen bindet, weil er nicht gegen ihn judizieren kann. Denn: „Das Postulat der Rechtsbestimmtheit, für welches die auf den ‚anderen Richter‘ bezugnehmende Formulierung nur eine Umschreibung ist, kann als die Grundlage jeder Wertung des richterlichen Tuns betrachtet werden“ (GU 86).

Das von Schmitt erarbeitete Richtigkeitskriterium bringe, so er selbst, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit, Begründbarkeit, Gleichmäßigkeit, kurz: die „Rationalität richterlicher Entscheidung“85 in die Rechtspraxis. Diese Rationalität jedoch bewegt sich in den engen Grenzen der Normalität, die sie voraussetzen muss. Begründen kann sie die Normalität nicht und gegen

82 83 84 85

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Hofmann (1964, S. 35). Mehring (2009, S. 40). Vgl. ebd. Kiefer (1990, S. 483).

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den kritischen Ausnahmefall verbleibt sie gleichgültig. Dies spricht Schmitt auch direkt an: „Es kann bei plötzlich eintretenden Änderungen des Rechtslebens, bei einer ‚stürmischen Entwicklung des Rechtslebens‘ (…) die Bestimmung darüber, wie ein anderer Richter entscheiden würde, sehr schnell sich ändern“ (GU 112).

Hier ist vorformuliert, was von Schmitt in seinen folgenden Schriften grundlegend vertieft und in einer anderen politischen wie historischen Lage aufgerufen werden wird, dass Rechtsnormen nur für normale Situationen gelten „und die vorausgesetzte Normalität der Situation ein positivrechtlicher Bestandteil ihres ‚Geltens‘ ist“ (LuL 71/72). In der Politischen Theologie wird Schmitt dies so ausdrücken: „Jede generelle Normierung verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse (…). Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre“ (PT 19).

Gesetz und Urteil vollzieht eine einschneidende Scheidung von Theorie und Praxis, die sich in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen und auch in Die Diktatur fortsetzen wird. Schmitt unterscheide scharf, so Schneider, „zwischen Recht, Naturrecht, Gerechtigkeit, Wert, Norm und abstrakten Gedanken einerseits und Wirklichkeit, Tatsache, menschlichen Zwecken, der empirischen Welt der einzelnen Konfliktfälle, der Vielfalt der Parteiziele, des Wollens, der Realität und der Macht andererseits“.86

Eines ist bereits in dieser frühen Schrift Schmitts, in der Mehring einen „Paradigmenwechsel“ von der Theorie zur Praxis erkennt,87 deutlich gemacht: Ausgangslage der Problematik ist die Kluft, die sich zwischen der Rechtsidee und der Rechtswirklichkeit auftut. Die Überbrückung dieser Kluft in Gesetz und Urteil ist das Postulat der Rechtsbestimmtheit oder – synonym – der „andere Richter“.88

86 Schneider (1957, S. 259). 87 Vgl. Mehring (2009, S. 40). 88 Kiefer (1990, S. 483); vgl. (GU 49).

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2.6. Die Frage nach der Legitimation der legitimierenden Autorität. Die Frage, wann denn eine richterliche Entscheidung richtig sei, greift bei Schmitt tiefer, als bisher dargestellt, denn die vollständige Begründung eines richterlichen Urteils kann es, wie gezeigt, nicht geben, da dieses „immer mehr als bloße Explikation eines gesetzgeberischen Willens ist“.89 Denn der Richter setzt mit seinem Urteil für einen konkreten Fall Recht, aber nicht indem er positivistisch eine höhere oder allgemeinere Norm konkretisiert, „sondern indem er für den konkreten Fall (…) in der individuellen Entscheidung selbst allererst die allgemeine Regel autoritativ setzt, also nicht zum Zwecke späterer Subsumption juristisch konstruierend ermittelt“.90

Andererseits und scheinbar widersprüchlich schaffe der Richter dadurch nach Schmitt aber kein Recht, sondern berufe sich auf das Recht, das aber auf den Satz von der Rechtsbestimmtheit reduziert sei (s. GU 99). Diese Antithetik legt für Hofmann das sachliche Problem frei, um das es Schmitt bei seiner methodologischen Untersuchung für die Rechtspraxis eigentlich geht: „(…) um den Geltungsgrund des inhaltlich nicht ableitbaren Staatsaktes als einen Rechtsakt schlechthin. In der Antinomie von konkreter, subjektiver, lebensgestaltender Norm und objektiver Allgemeinverbindlichkeit liegt – um mit Hermann Heller zu sprechen – ‚die tiefste Problematik unserer Staatsund Rechtslehre beschlossen‘“.91

Habe der staatsrechtliche Positivismus die Frage nach dem Rechten zur Frage nach der logischen Richtigkeit verkehrt, so erscheine aus Schmitts Frage nach der Richtigkeit der richterlichen Entscheidung wiederum die Frage nach dem Rechten, also nach dem Geltungsgrund des Rechtes überhaupt. Weil Schmitt die positive Setzung als Geltungsgrund für die richterliche Entscheidung nur für die wenigen Fälle anerkennt, in denen die Rechtsbestimmtheit und eine eindeutige Praxis garantiert sind, operiere er methodisch am Ausnahmefall. Dieser trete für ihn ein, sobald außerhalb des positiven Gesetzesinhaltes gelegene Elemente diese Praxis erschütterten:

89 Kiefer (1990, S. 279). 90 Hofmann (1964, S. 36; nachst. s. ebd. S.. 36 f. 91 Ebd. S. 36/37.

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III. Referendariat in Düsseldorf (2).

„Damit ist bereits hier das Leitmotiv der Problematik von Ausnahmezustand und Norm angeschlagen, welches das Werk Schmitts bis zum Jahr 1933 durchzieht“.92

Wir werden noch sehen, dass Schmitt dem Ausnahmefall als der Indetermination von speziellen Staatsakten grundsätzliche Bedeutung zumisst. Damit greift er das Problem der Rechtsgeltung von Staatsakten – „die Legitimität der ihrerseits legitimierenden Autorität“ – generell auf.93 So steht hinter dem Problem der richtigen richterlichen Entscheidung die fundamentale Frage: „Was macht einen Staatsakt, der hinsichtlich seines Inhalts zu seiner Rechtfertigung prinzipiell nicht aus vorgegebenen Normen abgeleitet werden kann, eigentlich zu einem Rechtsakt des Staates“?94

Der Wille des Gesetzes bzw. des Gesetzgebers ist es, wie gezeigt, nicht, auch, weil die „Kompetenz eines Willens“ in diesem Bereich grundsätzlich fraglich ist.95 Schmitt will sich ja nach eigener Vorgabe auf eine Methodologie der Rechtspraxis beschränken und gegen den Normativismus Kelsens versuchen, „die radikale neukantische Antithese von Sein und Sollen zu unterlaufen, im Akte der Rechtspraxis, welche sich (…) aus sich selbst rechtfertigen soll, dialektisch überwinden“.96

Der Begriff der „Rechtspraxis“ wird dann in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen der zentrale rechtsphilosophische Begriff der „Rechtsverwirklichung“.97 III. Referendariat in Düsseldorf (2). Die wichtigste Quelle für die Zeit in Düsseldorf sind Schmitts Jugendbriefe (JB) und die Tagebücher 1912-1915 (TB I): „[Sie] schildern ein desparates, exaltiertes Leben als Rechtsreferendar zwischen äußersten Geldsorgen, Liebesektasen (Carita (von) Dorotic), Abhängig-

92 93 94 95 96 97

Hofmann (1964, S. 37). Ausführlich dazu vgl. ebd. S. 37 f. Ebd. S. 38. Ebd. Ebd. S. 39. Ebd.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

keiten von einem dämonischen ‚Geheimrat‘ (Hugo am Zehnhoff), kafkaesker Wahrnehmung des juristischen Ausbildungsbetriebs, Hass auf das konfessionelle und familiäre Herkunftsmilieu“.98

So komprimiert Reinhard Mehring die Tagebuchaufzeichnungen Schmitts. 1. Ein Dichterfreund: Theodor Däubler. Literatur und Musik spielten in Schmitts Leben eine große Rolle. Für die Düsseldorfer Zeit wissen wir dies auch aus den Briefen an seine Schwester Auguste (JB).99 Er gehe in die Oper, schreibt er ihr. Und wir erfahren, dass musikalisch Mozart, Wagner und Richard Strauss in hohem Rang stehen. An Literatur wählt er für sie Raabe, Mörike und Thomas Mann – ein vorveröffentliches Stück aus Felix Krull – und Auszüge aus Büchners Fragment Woyzeck (die „Jahrmarktsausruferrede“ der dritten Szene) aus. Auch Grabbe, in Düsseldorf als „Trunkenbold“ (JB 103) verkommen, sendet er ihr und auch darin ist mit Mehring eine „anthropologische Skepsis“ auszumachen. Literarisch neigte Schmitt „früh schon zur ‚tragischen‘ Literaturgeschichte“ von Büchner, Krabbe, Hebbel, musikalisch zur Achse Mozart und Wagner: „Hinter Mozart geht er nicht zurück und über Wagner, Richard Strauss und Hans Pfitzner kaum hinaus. Und auch Mahler, Schönberg und die zweite Wiener Schule, die aus dem weiten Mantel Wagners schlüpfte, erwähnt Schmitt kaum“.100

Überhaupt ist Schmitt Richard Wagner der Inbegriff der Moderne, und indem Wagners Theorie Musik als Dichtung auffasst, ermöglicht es dieser Ansatz Schmitt, eine Alternative zwischen Wagner und Theodor Däubler zu entwickeln. Schmitt lernt Däubler 1912 wahrscheinlich über seinen Freund Eisler kennen, wie aus einem Brief zu schließen ist: „Nächstens krieg ich Besuch von Eisler und dann von Däubler. Auf diesen bin ich besonders gespannt. Er ist beinahe 2 m groß, dick, hat einen langen schwarzen Bart und ist immer heftig gestikulierend am Reden“ (JB 127).101

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Mehring (2014, S. 3/4). Mehring (2009, S. 41; nachst. S. 41 ff.). Mehring (2009, S. 50; nachst. S. 50 ff.). Siehe zur Person Däublers auch Kennedy (1988).

III. Referendariat in Düsseldorf (2).

Im Juni vertieft sich das Kennenlernen. Däubler, der jetzt ein „berühmter Mann geworden“ sei, besucht Schmitt erneut und bleibt für sechs Wochen (JB 153). Zusammen mit Eisler plant Schmitt eine Däubler-Schrift, die parallel zu den Schattenrissen hätte verfasst werden müssen.102 Dieses Vorhaben kommt aber nicht zum Tragen, sodass Schmitt die DäublerSchrift103 alleine verfasst. Eine Veröffentlichung scheitert aber trotz zweier Anläufe. Trotzdem wird Schmitt als erster Däubler-Interpret in die Literaturkritik eingehen, „entdeckt“ jedoch hat er ihn durch und mit Eisler: „Ganz eindeutig ist die Däubler-Deutung ein affirmatives, emphatisches Gegenstück zur Schattenrisse-Satire. Dem verpönten ‚Gemeingut der Gebildeten‘ stellen beide den großen Dichter entgegen. Nur vom hohen Begriff der dichterischen Aufgabe her hat die satirische Polemik ihren Stand“.104

2. Carita („Cari“) von Dorotic Es ist nur ein Brief an seine Schwester, aber er kündigt private Verstrickungen an, die Schmitt lange und schmerzhaft umtreiben werden. Er schreibt über sein neues Liebesglück: „Ich habe jetzt eine entzückende Freundschaft mit einer spanischen Tänzerin, die auch dir gefallen würde“ (JB 151).

Die Varieté-Bekanntschaft Carita von Dorotic – „Cari“ – ist weder Spanierin, noch „von“, und sie präsentiert Schmitt ein Leben, „wie die Männer es lieben“: Sie, die in Wien geborene Tochter des adeligen Gutsbesitzers Karl von Dorotic, beschreibt sich als „jung, adelig und unglücklich“.105 Nach dem frühen Tod der Eltern sei sie bei einer in München lebenden Tante untergekommen, von dieser aber so schlecht behandelt worden, dass sie als Tänzerin zum Theater entfloh. – Erst 1922 wird das Scheidungsverfahren die ganze Wahrheit über Cari offenlegen.106 102 Siehe hier Carl Schmitt und die Literatur. 103 Schmitts Nordlicht-Schrift von 1912 besprechen wir hier nicht (s. dazu Mehring (2009, S. 53 f.). 104 Mehring (2009, S. 53). 105 Ebd. S. 57; nachst. s. ebd.). 106 Sie ist in Wien als uneheliche Tochter einer Augusta Maria Franziska Schachner geboren. Die Mutter heiratet später den Spenglergehilfen Johann Dorotic. Mit den Eltern kommt sie 1889 nach München, geht 1907 für ein Jahr nach Wien. In München zurück reist sie mit einem Königsberger Pass nach Prag, um dann erneut einige Monate in München zu leben „und dort den Behörden im März 1910

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

Obwohl ihm zum Beispiel der geheime Justizrat Hugo am Zehnhoff107, sein damaliger Förderer, abrät, heiratet Carl Schmitt „eine Tänzerin: eine Demimonde, Femme fatal und Betrügerin. (…) Es war ein halsbrecherisches Kunststück, sein Leben auf Cari zu stellen. Die Passion hat aber ihr eigenes Recht an sich. Was Schmitt ihr verdankt, ist schwer zu ermessen“.108

Es überrascht, aber beruflich übersteht Schmitt die Cari-Affäre ohne Einbruch.109 Eine Bemerkung Zehnhoffs über den Carl Schmitt dieser Periode soll nicht unerwähnt bleiben: „Ich habe in meinem langen Juristenleben keinen Menschen kennengelernt, der mehr Ordnung in seinen Gedanken und Begriffen hatte als Sie, aber auch keinen, der mehr Unordnung und Durcheinander in seinem Privatleben gehabt hätte“ (GL 168).

Privat hatte sich Schmitt umgehend von Helene Bernstein getrennt, nachdem er Cari kennengelernt hatte und nachgerade besessen von ihr war:110 „O Cari, Du bist mir so rein, Du hast keinen Vorgänger und keinen Nachfolger, und dieses widrige Scheusal ist so wenig Dein Vorgänger wie ein Affe, der sich im Königsmantel versteckt hat und die Leute eine Minute täuschte, Vorgänger des Königs wird“ (I 43).

Schmitt plagen – zu dieser Zeit ein Normal- und kein Ausnahmezustand – Geldsorgen ernstester Art, deren Ursache er jetzt in sozialen Ungerechtigkeiten ausmacht und ihn dazu zwingt, den Kontakt zu seinem reichen Onkel André zu reintensivieren. Zusätzlich absolviert er ein Praktikum, was ihm hilft, alte Schulden abzubauen. Der Schwester schreibt er tröstend:

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aus den Akten zu kommen. Eigentlich ist sie Münchnerin“ (Mehring 2009, S. 57). Mit dem „Geheimrat“ und Zentrumspolitiker Hugo am Zehnhoff, Rechtsanwalt und späterer preußischer Justizminister, hatte Schmitt ab 1913 fast täglich geschäftlichen wie privaten Umgang. Schmitt ist auf seine gutachterlichen Aufträge ebenso angewiesen wie auf Zehnhoffs Beziehungen. Die Abhängigkeit von ihm seit Kriegsbeginn belastet ihn aber, so dass Schmitt die Beziehung – wohl maßgeblich wegen Zehnhoffs Einmischung in die Cari-Affäre und ob des Versuches, Schmitt mit seiner Nichte zu verheiraten (s. TB I, E. 2) – nach langem Abnabelungsprozess sogar förmlich abbricht. Nach 1919 wird die Beziehung wieder aufgenommen (s. Mehring.2009, S. 66 ff.). Mehring (2009, S. 58). Siehe ebd.. Siehe dazu ebd.2009, S. 57 ff.

III. Referendariat in Düsseldorf (2).

„Hoffentlich bin ich in einigen Jahren ein reicher Mann und helfe Euch allen. Aber jetzt bin ich noch ein sehr kleiner Lump, der sich durchbeißt“ (JB 166).

Trotzdem holt er Cari im Dezember nach Köln, wo sie gemeinsam Weihnachten feiern. So drängt sich die Frage auf, was denn Cari so zu Schmitt hinzog, Geld konnte zu diesem Zeitpunkt kaum ein Motiv gewesen sein. Im Oktober 1913 feiert man schließlich Verlobung und Schmitt beginnt umgehend mit der Erledigung der notwendigen Formalien für die Hochzeit. Erstmals bezieht man eine gemeinsame Wohnung – kurz nur, denn Cari hat ihren Pass „verloren“. Schmitt schickt sie stante pede nach Plettenberg, die Heirat, die dann erst die Ausnahmebedingungen des Weltkriegs ermöglichen werden, wird um ein Jahr verschoben.111 Der Aufenthalt Caris in Plettenberg jedoch gestaltet sich schwierig: „Sie ist in Plettenberg in der Umgebung der abscheulichen, gemeinen, lasterhaften und bösen Mutter und der verzogenen kleinen Anna. Nur der Vater macht ihr das Leben leicht. Ich weiß nicht, was aus mir wird“ (TB I 114).

Nach weiteren gegenseitigen Anwürfen beruhigt sich die Situation in Plettenberg aber wieder. Trotzdem wird Cari in einem Kölner Kloster untergebracht und Schmitt setzt seinen Alltag in Düsseldorf – „zwischen Mansarde und Cari, Gericht und Geheimrat“ – fort: „Was werde ich für ein Mensch? Esse bei dem Millionär Josten, dem schwerreichen Fabrikbesitzer, zu Mittag als gehörte ich zur Familie, gehe zu Lamberts, zum Geheimrat, wie es mir paßt, habe eine Braut in Köln, die aus einer alten adeligen kroatischen Familie stammt und heiße Schmitt und bin aus Plettenberg und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll“ (TB I 2).

Das Tagebuch reißt Mitte Februar 1914 ab.112 Seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen wird er seiner „Pabla von Dorotic“ widmen.

111 Siehe Mehring (2009, S. 68). 112 Siehe ebd. S. 70.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

Neben seinen Schwerpunkten Jurisprudenz, Rechtsphilosophie und Politik beschäftigte sich Schmitt auch mit geisteswissenschaftlichen und theologischen Fragen. Auf dem Gebiet der Literatur profilierte sich Schmitt aktiv als Schriftsteller und passiv als Kritiker, Betätigungen, die jüngst wieder stärker beleuchtet werden.113 Der Schwerpunkt dieser Arbeit befasst sich hauptsächlich mit dem Literaturkritiker Schmitt und seinem Essay Theodor Däublers „Nordlicht“. Auf seine eigenen schriftstellerischen Arbeiten werden wir wenn auch knapp eingehen, weil sie das Bild von Schmitts Kultur- und Zeitkritik der Moderne vervollständigen.114 Carl Schmitt entpuppt sich als Vielschreiber. Zwischen 1910 und 1916 veröffentlich er fünf Monographien, viele Gutachten und Abschlussarbeiten sind wohl verloren. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit publiziert er kleinere Texte, in denen er vor allem die literarischen Formen von Rezension und Miszelle erprobt und mit denen er seine Position zu Philosophie und Kunst thematisiert. Wichtig für unsere Betrachtungen der literarischen Werke Schmitts ist, dass er sie von der Wirkung auf den Adressaten her bewertet.115 Publikationsforum wird zunächst die Kulturzeitschrift Die Rheinlande, für die er zwischen 1911 und 1913 sechs kleinere Artikel verfasst. Schmitts literarische Frühschiften wurden von der Kritik meist pauschal und mit wenigen Sätzen als „skurril“ abgewertet.116 I. Drei Tischgespräche (1911). Die Drei Tischgespräche117 schreibt Schmitt in der literarischen Form der Anekdote. Ernst Jünger schreibt Schmitt am 31.3.1976: 113 Siehe Linjing Jiang (2013). 114 Angemerkt sei, dass sich Schmitts literarische Ader schon in seinem ersten Berufswunsch verriet, er wollte zunächst Philologie studieren. 115 Siehe dazu auch Carl Schmitts Aufsatz Don Qujiote und das Publikum (Die Rheinlande, 1912, Heft 10, S. 348-350). 116 Villinger (1995, S. 138). 117 Die Rheinlande, 1911, Heft 7, S. 250.

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II. Der Spiegel (1911).

„In diesen Tagen habe ich eine Trouvaille gemacht: „Die Rheinlande/Herausgeber Wilhelm Schäfer“, 1911, Heft 7. Darin: Carl Schmitt „Drei Tischgespräche“. Eine charmante kleine Trilogie, die Sie vielleicht selbst schon vergessen haben. Schien mir auch insofern verwunderlich, als Schäfer, wie ich mich zu entsinnen glaube, ungefähr um dieselbe Zeit in Ihren „Schattenrissen“ nicht gut weggekommen ist. Ein glänzender Titel übrigens für Negativbeleuchtungen“.118

Die Anekdoten gehen von autobiographischen Erlebnissen aus, ihre Pointe liegt jeweils in einer überraschenden Schlusswendung, in der der gesunde Menschenverstand über die vorangegangene Intellektualisierung obsiegt.119 II. Der Spiegel (1911). Eine andere Qualität als die „charmante kleine Trilogie“, hat die Novelle Der Spiegel120. Ein Ich-Erzähler – „Ich bin ein wissenschaftlich denkender Mensch, so gut wie mein Kritiker“.121 – unternimmt den Versuch, „etwas seltsame Theorien“ durch eine wahre Geschichte zu unterstützen. Diese seltsame Theorie behauptet eine „Identität der sogenannten geistigen Welt mit der sogenannten Wirklichkeit“:122 „Ich verlange von niemandem, daß er auf diese theoretischen Behauptungen hin meine Überzeugung teilt. Zufällig kenne ich eine Geschichte, die meine, wie ich gern gestehe, etwas seltsamen Theorien zu stützen geeignet ist“.123

Schmitt erzählt folgende Geschichte: „Franz Morphenius bekam als Kind viele Schläge und war schon früh davon überzeugt, daß er sie verdiene“.124

Die warmherzige Mutter aber ließ schlagen, der Vater, dessen Intelligenz außerhaus in seinem Büro verblieb, hatte zu exekutieren. Fünf Jahre alt,

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https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=urn:nbn:de:bsz:16-diglit-264941 |log00090&physid=phys00275#navi. Jünger (1999, S. 418). Siehe Mehring (2009, S. 43). Die Rheinlande, 1911, Heft 2, S. 61-62. Ebd. S. 61. Ebd.; s. Mehring (2009, S. 43; nachst. s. ebd.). Die Rheinlande, 1912, Heft 12, S. 61. Ebd.; nachst. Zitate ebd. S. 61-62.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

schenkte Franz der vierjährigen Rosalie Blöing Schokolade, was die Mutter scheltend unterbindet. Da Rosalie seiner Mutter in keinster Weise – nicht an körperlicher Kraft, Intelligenz, Sprachgewandtheit, Schönheit – gewachsen war, beschloss Franz der Mutter immer zu gehorchen – und hielt Wort. Aber Franz verliebte sich endlich, und immer wenn er Rosalie Blöing sah, glaubte er auf die übrige Welt verzichten zu können, was er Rosalie auch wissen ließ. Andererseits hing er den unwidersprechlichen Ansichten der Mutter „über das ganze Verhältnis“ an. Dieser Zwiespalt, Körper und Seele rissen auseinander, schien zugunsten der Mutter aufgelöst, als sich „ein Jurist in fester Position“ um Rosalie bemühte: „Da aber wurde es der Instanz, die Körper und Seele in prästabilierter Harmonie und Korrespondenz hält, zu viel. Der Körper des Franz Morphinius blieb bestehen und wurde mit der Seele eines Referendars bevölkert, die durch ein Automobilunglück frei geworden war. Niemand bemerkte eine Veränderung. Die Seele des Franz Morphinius aber wurde in einen Spiegel gesteckt.“

Diesen Spiegel hatte ein Möbelhändler just zur Zeit des Autounfalls in ein Schaufenster gestellt: „Die Seele des Referendars fand sich in den neuen Verhältnissen sofort zurecht“. Fortan ließ er Menschen wie Dinge an sich vorbeifließen, nahm sie in sich auf, um sie wieder freizugeben „und wunderte sich über seine Vielseitigkeit und Rezeptivität“.125 An eine Familie verkauft, stand der Spiegel nun zwar in einem Empfangszimmer, aber ansonsten lief alles ab wie bisher. Das änderte sich, als Rosalie Blöing jene Familie besuchte, und an ihm vorbeiging. Der Spiegel geriet darüber in Aufregung, nur die Pflicht allem gerecht zu werden, dämmt sie. „Sie stand da und drehte sich vor ihm herum. Sie bemühte sich offenbar um ihn. Das beruhigte ihn. Ein junger Mensch in einem schwarzen Gehrock kam ins Zimmer. Auch er schien sich um Spiegels Gunst zu bewerben.“

Als der junge Mann Rosalie plötzlich küssen wollte, stieß er den Ellenbogen in den Spiegel, „so daß niemand sich über den zerbrochenen Spiegel wunderte und die Rationalisten scheinbar recht behielten. Aber was weiß so ein Rationalist denn vom wirklichen Wesen?“

Der Spiegel war darob in viele Teile zerbrochen, die – bis auf einen – alle den „Weg normaler Entwicklung“ gingen und sie „hatten jeder sein

125 Ebd. S. 62; nachst. Zitate ebd..

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III. Schattenrisse (1913).

Schicksal für sich“. Sie fanden zu einem Flickschneider, einem Lehrer, einem Philosophen und einer zu einem Quintaner, der sich darüber belustigte, ihn Grimassen schneiden zu lassen, der Sonne ins Gesicht zu sehen, sie in sich aufzunehmen „und sie dann bloß zu seinem Spaß, einem berühmten Gelehrten ins Gesicht zu werfen“. Ein anderer mahnte einen Ziegenbock zur Selbsteinsicht, der darüber aber irrsinnig wurde und den Spiegel in nicht mehr lebensfähige Splitter zerstieß. Er war tot. Die anderen Spiegel aber lösten sich allmählich von der Welt des Scheins und der Körperlichkeit los, erkannten die Richtigkeit der Welt und Dinge, „auch die Richtigkeit ihrer selbst. Sie gaben das falsche Sichdünken ‚Ich bin‘ auf. Der Quecksilberbeschlag löste sich; durchsichtiges Glas blieb zurück. Ihre Seele ging auf in der Weltseele, wo jede Individualität verschwindet.“

Die Identität war damit zerschlagen, das geprügelte Kind war zum unglücklich Liebenden geworden und hatte sich selbst vernichtet: „Schmitt skizziert eine bittere Entbildungsnovelle mit autobiographischem Unterton. Eine Rosalie war eine Sudentenliebe aus Saarburg (…)“.126

Das mag genügen. III. Schattenrisse (1913). „Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um einen ersten Versuch. Um eine provisorische Zusammenstellung, die – falls sie den Beifall der Gebildeten finden sollte – fortgesetzt werden wird. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis dürfte genügen, um, worauf es uns ankam, darzutun: in zwangloser Reihenfolge den überquellenden Reichtum westeuropäischer Kultur und deutscher Geschichte im Zusammenhang mit dem tiefen Ernst nordischen Wesens (vgl. Nr. 5), sowie gallischer Leichtigkeit (vgl. Nr. 10) zu bannen. Auf und nieder steigen die Eimer der Gegenwart und Zukunft (vgl. Nr. 7, verbunden mit Nr. 9), und da gilt es, den seelenlosen Menschen des mechanistischen Zeitalters wieder mit der Gewißheit zu

126 Mehring (2009, S. 43).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

erfüllen, daß der Wellenschlag der Kultur auch über uns Gegenwärtige hinwegbraust und jedes Ding seine Zeit hat“.127

Carl Schmitts mit Fritz Eisler unter dem Pseudonym Johannes Negelinus verfasste Schattenrisse – „weit mehr als ein bloßer ‚Studentenulk‘128 – wollen zeigen, dass der Relativismus nicht tot ist und der Naturalismus lebt, aber „gezielt das Gegenteil tun“.129 Sie erörtern „neuere literarische Tendenzen der ‚Überwindung‘ des Naturalismus im Spiegel grotesker Portraitskizzen“.130 Heinrich Muth attestiert den zwölf „Negativbeleuchtungen“131 eine Mischung von geistvoller Gesellschaftskritik und geschmacklosem Unsinn. Ingeborg Villinger hält dagegen: „Er übersieht dabei allerdings, daß Schmitts ‚Unsinn‘ ein Unsinn mit Methode ist: Er bildet damit den aus seiner Sicht um 1900 herrschenden Unsinn ab“.132

Stilmittel, um „die Umrisse und Konturen der Kultur um 1900 abzubilden“, sind eine absichtsvoll banale Sprache, „mit der sie aus ihrer Sicht ebensolche, bis an den völligen Unsinn reichende, Inhalte wiedergeben. Deshalb hat dieser Unsinn, wie im Fall der Dunkelmännerbriefe, Methode: die polemische Zuspitzung der zentralen Strömungen der Kultur um 1900 mit deren eigenen Mitteln, läßt ihre Kohärenz hervortreten“.133

Schmitts „Unsinn“ sei ebenso kalkuliert wie durchkomponiert, die Struktur sei mit der der Dunkelmännerbriefe identisch.134 Das Pseudonym Johannes Nigelinus setzt sich zusammen aus dem Vornamen des eigentlichen Verfassers, Johannes Reuchlin und dem Nachnamen des Absenders des 18. Dunkelmännerbriefes, Magister Petrus Negelinus. Dem Pseudonym folgt das satirische Programm der Briefe, sollten die satirisch Gezeichne-

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Vorwort der Schattenrisse (zeilenidentisch) in Villinger (1995, S. 15). Villinger (1995, S. 7). Mehring (2009, S. 55). Ebd. Jünger (1999, S. 418). Porträtiert werden u.a.: Walter Rathenau, Gottfried von Bouillon (steht für Kaiser Wilhelm II.), Herbert Eulenberg, Pipin der Kleine, Wilhelm Schäfer, Thomas Mann. 132 Villinger (1995, S. 138). 133 Ebd. S. 143; s.a. ebd. S. 7). 134 Ebd. S. 143 f.). Die sog. „Dunkelmännerbriefe“ bezeichnen eine Serie gefälschter, satirischer lateinischer Briefe aus dem Jahr 1515, die sich – verfasst von deutschen Humanisten – über das Lehrgebäude der Scholastik, und damit Rom, lächerlich machten und im Oktober 1515 anonym veröffentlicht wurden.

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III. Schattenrisse (1913).

ten sich doch durch ihren eigenen Tonfall selbst „als materialistisch, positivistisch, relativistisch und nihilistisch entlarven“.135 Damit ergibt sich ein Pandämonium all dessen was der Katholik Schmitt als modernistisch verwarf: Naturalismus, Positivismus und Monismus, die Verabsolutierung der Naturwissenschaften, die Überhöhung des Individuums zum Persönlichkeitskult, Fortschrittsdenken und Bildungsverflachung sowie eine „Idolatrie des Übermenschen“.136 Während aber die Dunkelmännerbriefe mit ihrer Scholastik-Kritik den römischen Katholizismus angriffen, kämpften die Schattenrisse gerade gegen den „anti-römischen Affekt“137 an. Schmitt verfasste die Schattenrisse zu einer Zeit, in der er schon fasziniert zu dem Dichter Theodor Däubler aufblickte und ihn zum größten deutschen Dichter der Moderne erhob. Wir werden sehen, dass Däublers Nordlicht für das Verständnis des jungen Carl Schmitt eine Schlüsselschrift ist: „Am Gegenbild dieser wunderlich-gewaltigen kosmogonisch-gnostischen Phantasmagorie, damals von Schmitt noch christlich gedeutet, entfaltete er seine Zeitkritik. Die drei Jahre zuvor entstandenen ‚Schattenrisse‘ verhalten sich zu den ‚Nordlicht‘-Studien wie der Schatten zum Licht; sie sind das satirische Abbild jener Zeit und Kultur, von der sich Däublers weltenschaffende Phantasie abgewandt hatte“.138

Für Mehring sind die Schattenrisse eine „Generalabrechnung mit der Wilhelmischen Kultur“.139 Für Ostermann hingegen spricht Schmitt mit seinem sprachlichen Bombast und den Phrasen und Floskeln seiner Zeit wie ein wilhelminischer Oberlehrer. „Kulturkritische Impulse, der Hochmut eines intellektuellen Dandys gegenüber der misera plebs, die sich mit geistigen Surrogaten zufriedengibt, und das reine Vergnügen an Sprachwitz und Blödsinn sind in den ‚Schattenrissen‘ eine merkwürdige Mischung eingegangen“.140

135 Martin Stingelin in(Meuter/Otten Hg. 1999, S. 67). 136 Osterkamp (1995, S. 2). 137 Siehe den ersten Satz von Schmitts Katholizismusschrift Römischer Katholizismus und politische Form (1923). 138 Osterkamp (1995, S. 1). 139 Mehring (2009, S. 56). 140 Osterkamp (1995, S. 2).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918). In der Agonie des Wilhelminischen Kaiserreichs verfasste Carl Schmitt seine literarische Satire Die Buribunken (1918), veröffentlicht in der von Franz Blei und Jakob Hegner herausgegebenen Zeitschrift Summa.141 In satirischer Form zeichnet Schmitt sein Bild über die Inhaltslosigkeit der westlichen Zivilisation142 und parodiert mit Wortwitz und Anspielungen den Historismus und die Fortschrittsgläubigkeit, wie sie in wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Organisationen dieser Zeit programmatisch vertreten werden.143 Dabei liegt dieser Satire „die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert ebenso zugrunde wie die nüchterne politische und soziale Realität des zusammenbrechenden Kaiserreichs und die zeitgenössisch inhaltsleere bürgerliche Rechtsstaatlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts“.144

Sie kritisiert eine Moderne, die ihre eigene Sinnleere bzw. Sinnlosigkeit nicht nur durchschaut, sondern zugleich durch „reflexive, rhetorische, literarische und publizistische Formgebung zu überspielen versucht“.145 Der Jurist Schmitt – als Intellektueller eigentlich für jede Anregung dankbar – überzieht eine leerlaufende wissenschaftliche Betriebsamkeit mit beißendem Spott.146 Schmitts Buribunke ist der fiktive Prototyp des modernen Menschen, der dem wahren, wirklichen Leben durch sein autobiographisches, exzessives Tagebuchschreiben entflieht, wie dies in Reinform ein Mensch namens Schnekke praktiziert:147 „Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch, er lebt in und vom Tagebuch“ 148

Der Buribunke zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, er schreibt Tagebuch und hat ein – physiologisch wie chrakterisierend betrachtet – „großes Maul“.

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Die Buribunken, in: Summa I (1917/18), Heft 4 (1918), S. 89-106). Noack (1993, S. 36). S. Koselleck (2000, S. 141). Pfeiffer/Schnell (2008, S. 11). Ebd. S. 12. Vgl. Mehring (2011, S. 142). Vgl. Mehring (2017, S. 45). Die Buribunken (S. 100).

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

Reinhart Koselleck charakterisiert Die Buribunken als eine negative Utopie, wobei das Utopische darin bestehe, dass der Mensch glaubt, Geschichte nicht nur erfassen, sondern vollstrecken und beherrschen zu können: „Diese Bewußtseinsphilosophie erstreckt sich auf alle drei zeitlichen Dimensionen, die gegeneinander relativiert und zugleich progressiv ausgelegt werden“.149

Woraus für Koselleck zu schließen ist, dass die Kritik Carl Schmitts auf die gesamte geistige Fundierung der Neuzeit ziele, sofern sie als geschichtlicher Fortschritt entworfen und vollzogen werde.150 Die Existenz der Buribunken resultiert aus der Existenz der „Buribunkologie“, was heißt, dass sich die Wissenschaft ihren eigenen Gegenstand produziert, „so daß auf diese Weise die Konvergenz zwischen der Buribunkologie und dem wirklichen Buribunkentum erzeugt wird“.151 Aus literarischer Sicht besteht die Pointe darin, dass die Verzeitlichung der fortlaufenden Geschichte „als eine Vollzugsweise des Schreibens ironisiert wird“.152 Jeder Mensch soll in buribunkologischer Absicht Tagebuch führen, sein Innerstes nach außen tragen und so eine Kontrolle ermöglichen, die perfektioniert wird bis zum vollendeten Kontroll-Terror. Der philosophische Grundsatz der Buribunkologie lautet: „Ich denke, also bin ich; ich rede, also bin ich; ich schreibe, also bin ich; ich publiziere, also bin ich“.153

Die Identitäten steigern sich in logischer Gesetzmäßigkeit: “Ich schreibe, daß ich mich selbst schreibe. Was ist der große Motor, der mich aus diesem selbstgenügsamen Kreis der Ichheit hinaushebt? Die Geschichte! (…) Ich bin also ein Buchstabe auf der Schreibmaschine der Geschichte. (...) Aber in mir erfaßt, schreibend, der Weltgeist sich selbst, so daß ich, mich

149 Koselleck (2000, S 142). Um seinem satirischen Aufsatz den Schein der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, bietet Schmitt bedeutende Persönlichkeiten auf, die aber meist nur aus Anspielungen herauszulesen sind: Descartes, Adam Smith, Hegel und Marx, Richard Wagner und Nietzsche, Lamprecht, Haeckel oder Ostwald, – möglicherweise schon Lenin und die kommunistische Partei, Wilson und den amerikanischen Kapitalismus (Koselleck 2000, S. 148). 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Die Buribunken (S. 103).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

selbst erfassend, gleichzeitig den Weltgeist erfasse. (…) Das heißt: Ich bin nicht nur Leser der Weltgeschichte, sondern auch ihr Schreiber“.154

Und weiter: „Erst in der Sekunde, in welcher der einzelne Buchstabe aus der sinn- und bedeutungslosen Gleichgültigkeit der Tastatur auf die belebte Zusammenhangsfülle desweißen Blattes schlägt, ist eine historische Realität gegeben, erst diese Sekunde ist die Geburtsstunde des Lebens. Das heißt der Vergangenheit, denn die Gegenwart ist nur die Hebamme, die aus dem dunklen Leib der Zukunft die lebensvolle geschichtliche Vergangenheit entbindet. Solange sie nicht erreicht ist, liegt die Zukunft stumpf und gleichgültig da wie die Tastatur der Schreibmaschine, wie ein dunkles Rattenloch, aus dem eine Sekunde nach der andern wie eine Ratte nach der andern ins Licht der Vergangenheit tritt“.155

Schmitt folgt „der in logischer Folge aufsteigenden Entwicklung des Buribunkentums“156 und benennt ihre Vorläufer wie Marc Aurel, Augustinus, den älteren Plinius bis zu Richard Wagner. „Die Buribunken sind das tagebuchschreibende Kollektivgewissen der Geschichte“.157 Den geschichtlichen Betrachtungen – Wirklichkeit werdend erst mit dem geschriebenen Tagebuch – wird die Figur des „denkbar unwissenschaftlichen“, dagegen „lebensstrotzenden“ Kavaliers Don Juan entgegengestellt. Zwar wird über dessen amouröse Eroberungen durch seinen Diener Leporello ein Register geführt, die entscheidende Frage aber sei, „wem das geistige Eigentum an dieser Idee zuzusprechen ist“.158 Mit dem Führen einer Registratur für einen anderen aber kann Leporello noch keine Geschichtlichkeit erlangen. Er nimmt mit, was an amourösen Brotsamen vom Tisch seines Herrn fällt. „Das tut ein Buribunke nicht, denn der Buribunke ist unbedingt und absolut sein eigener Herr, er ist er selbst“.159

Doch wächst der Wunsch des Dieners, durch das Aufschreiben an den Erlebnissen seines Herrn teilzunehmen „und in diesem Augenblick beginnt die Morgendämmerung des Buribunkentums“.160 Don Juan kann Leporel-

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Ebd. S. 103/104. Ebd. S. 104 . Ebd. S. 95. Koselleck (2000, S. 143). Die Buribunken (S. 92). Ebd. S. 93. Ebd. S. 94.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

lo nicht werden, aber sich über ihn erheben, indem er zu seinem Biographen wird. „Er wird Historiker, er schleppt ihn vor die Schranken der Weltgeschichte, das heißt des Weltgerichts, um dort als Advokat oder Ankläger aufzutreten, je nach dem Ergebnis seiner Beobachtungen und Deutungen“.161

Doch Leporello selbst, ist sich dieser „riesenhaften Entwicklung“ nicht bewusst – und deshalb auch kein echter Buribunke: „Es fehlt ihm das Bewußtsein der höheren Bewußtheit des Schreibenden, das Bewußtsein, Verfasser eines Stücks Weltgeschichte geworden zu sein, ja, das Urteil dieses Weltgerichts in der Hand zu haben (…)“.162

Zudem ist Leporellos Registerführung völlig unzulänglich. Sie verbleibt bei den singulären aufeinanderfolgenden Verführungen und ist nicht in der Lage, ein homogenes Kontinuum der Entwicklung zu gestalten sowie den Nachweis gesetzmäßiger Zusammenhänge zu erbringen. Es fehlen in der Darstellung die sozialen, klimatischen, wirtschaftlichen und soziologischen Bedingtheiten der einzelnen Abenteuer und damit die Individualität des einzelnen Falls. Nirgends gehe er den tieferen Zusammenhängen der einzelnen Verführungen nach, nirgends fänden sich sozialwissenschaftliche Angaben – Stand, Herkunft, Alter – der Opfer. Auch über eine mögliche gemeinschaftliche Massenaktion der Opfer schweige das Register.163 Weiter fehlten statistische Angaben, unerlässlich bei der Zahl von 1003 Opfern. Die Frage nach einer sozialen Fürsorge der verlassenen Mädchen werde ebenso wenig behandelt, wie die Frage des Frauenwahlrechts ob der „brutalen Ausbeutung der sozialen Überlegenheit des Mannes gegenüber den wehrlosen Frauen“.164 So stoße eine Unmenge dringendster wissenschaftlicher Fragen bei Leporello auf taube Ohren: „Mit einem Wort, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis“.165 So verbleibe Leporello der Diener seines Herrn, weshalb auf den Werbeplakaten der Theater immer noch stehe: „Don Juan, der bestrafte Wüstling und nicht: Leporellos Erzählungen“.166

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 95. Ebd. Ebd. Ebd.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

Derart komme das Buribunkentum erst zur Erscheinung, wenn all die Versäumnisse Leporellos behoben sind. Dieser Aufgabe nahm sich der „Stifter und Führer der buribunkologischen Bewegung bzw. des wahren Buribunkentums“ an, ein Mann namens Ferker: „Erst Ferker machte das Tagebuch zu einer ethisch-historischen Möglichkeit, ihm gebührt das Erstgeburtsrecht im Reiche des Buribunkentums. Sei ihr selbst Geschichte; Lebe, daß jede deiner Sekunden in deinem Tagebuch eingetragen werden und deinem Biographen in die Hände fallen kann:“.167

Ferkers Lebensweg verlief „sensationell“.168 Der Sohn kleiner Leute, ausgebildet nur in der lateinlosen Realschule, ergriff nacheinander folgende Berufe: Dentist, Buchmacher, Redakteur, Tiefbauunternehmer in Tiflis, Sekretär der Zentralstelle internationaler Vereine zur Hebung des Fremdenverkehrs an der Adria, Kinobesitzer in Berlin, Reklamechef in San Franzisko und Dozent für Reklamewesen und Arrivistik an der Handelshochschule in Alexandria.169 Unter dem Motto: „Sei dir selbst Geschichte“170, entstand der Weltbund zur Verbreitung seiner Ideen, der mit großem Geschick organisiert war und „dem eine intelligente Presse zur Verfügung stand“171 und sich schon dadurch auszeichnete, daß er bereits über 400.000 buribunkologische Dissertationen zugelassen hat und dessen Kontrolle vom Internationalen Buribunkologischen Institut für Ferker und verwandte Forschung (Ibiffuff) ausgeübt wird. „Gerade diese gewaltige Realität ist von imponierender Beweiskraft“.172 Für den Fall seines Ablebens hatte Ferker eine Feuerbestattung in Alexandria verfügt. Ein kleiner Teil seiner Asche war an alle Druckereien der Erde zur Herstellung von Druckerschwärze zu versenden, „daß in jedem der Milliarden Buchstaben, die das Auge im Laufe der Jahre treffen, ein Atom der Asche des unsterblichen Mannes enthalten sei“.173

Aber auch der große Ferker war aus zwei Gründen für die „Edelburibunken nur ein Vorläufer“, hat er doch kurz vor seinem Ableben seine „gänz-

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Ebd. S. 96. Ebd. S. 97. Ebd. Ebd. S. 96. Ebd. Ebd. S. 90. Ebd. S. 97.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

lich ungebildete, ja analphabetische“ Haushälterin geheiratet, ohne dies in Tagebuchnotizen festzuhalten174 und hat sich, zweitens, „den ‚Giftträumen atavistischer Todesangst hingegeben (…)‘, ohne sie in produktive Schöpfung umzusetzen“.175

So blieb Ferker trotz aller Verdienste im Vorhof des wahren Buribunkentums stecken und der Weg zum wahren Fortschritt versperrt. Diese Inkonsequenzen hat erst Schnekke überwunden: „Als vollausgereifte Frucht edelsten Buribunkentums fiel dieser Genius vom Baum seiner eigenen Persönlichkeit. Bei Schnekke finden wir auch nicht das leiseste Straucheln mehr, keine noch so geringe Abweichung von der edelgeschwungenen Linie des Ur-Buribunkischen. Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch, er lebt in und vom Tagebuch, und wenn er endlich auch Tagebuch dar-über führt, daß ihm nichts mehr einfällt, was er ins Tagebuch schreiben könnte“.176

Schnekke ist – im Gegensatz zu Ferker – frei von jeder partikulären Besonderheit, „sein in extremster Eigengesetzlichkeit schwingendes Ich ruht in einer unausgeprägten Allgemeinheit, in einer gleichmäßigen Farblosigkeit, die das Resultat desopferwilligsten Willens zur Macht ist“.177

Als Nachfolger Ferkers wird Schnekke zum neuen Führer, „der die Identität von Allgemeinheit und Ich zwanglos durchsetzt“.178 Ein Rückfall wie bei Ferker steht nicht mehr zu befürchten, das Reich des Buribunkentums ist errichtet.179 Schauen wir uns die Organisation dieses Reiches an. Jeder Buribunke hat jede Sekunde seines Lebens im Tagebuch festzuhalten, damit sie geschichtsfähig werden kann. Schnekke hat durchgesetzt, dass die Individualtagebücher täglich kopiert werden und jeder Instanz zur Verfügung stehen und in der groß angelegten Hierarchie „ein obligatori-

174 Ebd. S. 99. „Die einzig denkbare Lösung der Frage enthält wiederum den Keim zu neuen Fragen. Denn ob Ferker die Haushälterin in einer auf seine neuro-psycho-pathologische Veranlagung zu-rückzuführenden Depression geheiratet hat, oder ob die neuropsychopathologische Erkrankung die Folge seiner Ehe ist, darüber sind wir wegen des beklagenswerten Mangels jeglicher Tagebucheintragung auf bloße Vermutungen angewiesen“ (ebd.). 175 Koselleck (2000, S. 145); s. Die Buribunken (S. 99 f.). 176 Die Buribunken (S. 100). 177 Ebd. 178 Koselleck (2000, S. 145). 179 Die Buribunken (S. 100).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

sches Kollektivtagebuch der Menschheit herstellt“, das nach Art eines Sachregisters und nach dem Personalprinzip organisiert und damit vom Distrikt bis zur Zentrale leicht kontrollierbar ist:180 „Wollte zum Beispiel ein Psychopathologe sich dafür interessieren, welche Träume eine bestimmte Klasse von Buribunken während ihrer Pubertätszeit gehabt hat, so könnte das einschlägige Material an der Hand der Zettelkataloge in kürzester Zeit zusammengestellt werden. Die Arbeit des Psychopathologen würde ihrerseits aber ebenfalls wieder der Registrierung unterliegen, so daß etwa ein Historiker der Psychopathologie in wenigen Stunden zuverlässig ermitteln kann, welche Art psycho-pathologischer Studien bisher betrieben wurde“.181

Die so gesichteten und ausgewerteten Tagebücher werden dem Präsidenten des Buribunkenparlaments zur Kontrolle vorgelegt, der wiederum der Zentralinstanz berichtet und so in der Lage ist, „das gesamte Buribunkentum buribunkologisch zu erfassen“.182 Damit das Interesse des Buribunken an sich selbst und am Buribunkentum nicht erstarrt, werden „regelmäßige gegenseitige photographische Aufnahmen und Filmdarstellungen, ein reger Tagebuchaustauschverkehr, Vorlesungen aus Tagebüchern, Atelierbesuche, Konferenzen, Zeitschriftengründungen Festspielaufführungen mit vorhergehen-den und nachfolgenden Huldigungen für die Persönlichkeit des Künstlers [organisiert]“.183

Das oberste Gebot der Kontrolle im Buribunkologenreich aber ist „eine unbegrenzte, alles verstehende, nie sich entrüstende Toleranz und der höchste Respekt vor der persönlichen Freiheit“.184

Das Toleranzgebot senkt die Hemmschwellen der Individuen, alles von sich preiszugeben, was eine effektive Kontrolle erst möglich macht. Dem Buribunken steht es auch frei, eine opponierende Haltung gegen das Tagebuchschreiben einzunehmen – wenn sie nur dokumentiert wird. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist der unantastbare Lebensnerv der Buribunken:

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Koselleck (2000, S. 146). Die Buribunken (2000, S. 101). Ebd. Ebd. S. 101/102. Ebd. S. 102.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

„Der Gipfelpunkt dieser Freiheitlichkeit liegt jedoch darin, daß es keinem Buribunken verboten ist, in sein Tagebuch zu schreiben, daß er sich weigere, Tagebuch zu führen“.185

Wer aber tatsächlich aufhört, Tagebuch zu führen, missbraucht die allgemeine Geistesfreiheit „und wird wegen seiner antisozialen Gesinnung ausgemerzt. Das Rad der Entwicklung geht schweigend über den Schweigenden hinweg, es ist von ihm nicht mehr die Rede, er kann sich infolgedessen auch nicht mehr zur Geltung bringen“.186

Er sinkt dann herab in die Klasse derer, die nur mehr die äußeren Bedingungen produzieren. Da er nicht mehr schreibt, kann er sich gegen Falschdarstellung gegenüber seiner Person nicht mehr wehren und ist am Ende seines Abstufungsprozesses „nicht mehr vorhanden“, denn „das eherne Gesetz kennt keine Schonung gegen den Unwürdigen, der sich selbst ausgestoßen hat“.187 Durch diese Sicherungen verschwindet jede Opposition. „Die Gegner werden vereinnahmt, die Progressiven werden gesteuert, nur die Tagebuchunfähigen und damit Unkontrollierbaren werden ausgestoßen. Sie verwandeln sich in eine Nichtexistenz. Derartige Techniken der Negation führen dazu, daß die Buribunken die List der Weltgeschichte selber überlisten“.188

Die Buribunken aber hoffen, dass ihr arbeitsfreudiges Schaffen wenn auch vielleicht erst in Hunderten von Generationen eine unerhörte Veredelung erreicht. Infolge der nie endenden Höherentwicklung könnten neue Kommunikationsmittel es den Buribunkenfoeten ermöglichen, „Tagebuch zu führen“, ja „sich gegenseitig über ihre einschlägigen Wahrnehmungen unterrichten und somit, die letzten Geheimnisse der Sexualforschung entschleiernd, die notwendige tatsächliche Grundlage für eine verfeinerte Sexualethik liefern“.189

Wenn dies auch in weiter Ferne liegt, ist es gleichwohl historische Tatsächlichkeit,

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 103. Koselleck (2000, S. 147). Die Buribunken (S. 103).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

„daß es bereits heute ein gewaltiges, in kompakter Masse organisiertes, aber gerade dadurch zum intensivsten Genuß der ureigensten Persönlichkeit gedrungenes, redendes, schreibendes, betriebmachendes Buribunkentum gibt, das triumphierend in die Morgenröte seiner Geschichtlichkeit schreitet“.190

Selbst die Angst vor dem Tode, die noch den großen Ferker katastrophal beeindruckt hatte, verschwindet, da das wirkliche Leben nur in seiner niedergelegten Schriftform Bestand hat: „In der Erkenntnis, daß nur in der Geschichte die wahre Realität sei, suchen wir die reale Unsterblichkeit in der Geschichte. Nicht in irgendeiner Jenseitigkeit. (…) Wir geben daher den Köpfen die rechte Richtung aufs Reale wieder, indem wir die Unsterblichkeit da suchen, wo sie wirklich ist: hinter uns, nicht vor uns“.191

Die klassischen Hindernisse einer traditionellen Utopie, der individuelle Tod und die private Liebe, sind in Schmitts Buribunkologie überwunden und münden im „reinen Bewußtsein allgemeiner Selbstbestimmung“: „Hinter dieser freilich verbirgt sich die absolute Knechtschaft im Namen der Wissenschaft und der Toleranz“.192

Und so bleiben doch Tod und Liebe die einzigen Gegeninstanzen, die verhindern könnten, „daß der Fortschritt in einem rassisch legitimierten Zweiklassenstaat endet, dessen herrschende Klasse aus selbstbewußten Ideologen besteht und dessen andere in das Nichts der geistigen Vergessenheit versenkt wird“.193

Carl Schmitt setzt sein eigenes Tagebuchschreiben wahrscheinlich bis 1921 aus.194

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Ebd. Ebd. S. 105. Koselleck (2000, S. 148). Ebd. Siehe Mehring (2017, S. 46).

Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

„Sinn dieses Buches ist, daß es den Sinn des Staates ausschließlich in der Aufgabe findet, Recht in der Welt zu verwirklichen, wodurch der Staat zu Mittelpunkt der Reihe: ‚Recht, Staat und Individuum‘ wird.“ Carl Schmitt195

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 1. Vorbemerkungen. Carl Schmitts spätere Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, die er von Januar bis Mai 1913 verfasste (TB II, VII), erörtert rechtsphilosophisch das Verhältnis des Staates zum Recht mit dem Ziel, „eine rechtsphilosophische Theorie des Staates zu geben“ (GU 21). Die Untersuchung konzentriert sich dabei, so Schmitt selbst, auf folgende Fragen: „die nach dem Verhältnis von Recht und Staat, nach der Definition des Staates und den Konsequenzen, die sich für das Individuum im Staat ergeben“ (WdS 21).

Mit Gesetz und Urteil hatte sich Schmitt weit von den zentralen Dogmen des Rechtspositivismus und dessen Postulat der Geschlossen- und Lückenlosigkeit des Rechts entfernt, hatte sich auf die Methode der Rechtspraxis beschränkt und diese streng vom wissenschaftlichen Umgang mit dem Recht unterschieden (vgl. GU 54).196 Er war in Gesetz und Urteil auch zu 195 (WdS 10.). Im Text verkürzen wir auf Der Wert des Staates (Sigle = WdS). 196 Vgl. Breuer (2012, S. 14). Schmitts Blick auf die Theorie des geltenden Rechts offenbart Überraschendes: Er schließt sich der neukantianischen Rechtslehre an. Alles, was aus dem Gesetz begrifflich nicht abzuleiten ist und deshalb dem Wesen nach mit einer Methode der Praxis nichts gemein haben kann, betrachtet Schmitt mit den Neukantianern als ein autonomes – von Faktizität, Moral und Ethik – streng geschiedenes, vollendet-geschlossenes Normensystem. Offen

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

der Einsicht gekommen, dass es Recht erst im Urteil – geleitet auch vom Konsens der Praxis – geben kann, womit erstmals die „Dezision“ als Geltungsgrund und als Normerzeugungsfaktor in das Recht eingeführt wurde.197 An dieser Auffassung hält Schmitt im Wert des Staates fest, nur tritt an die Stelle des Richters nunmehr der Staat, dem es obliegt, das Recht zu verwirklichen, um die Kluft zwischen der Rechtsidee und der Rechtsverwirklichung zu schließen.198 Schmitt sucht jetzt den Begriff der juristischen Entscheidung im Bereich des Staatshandelns.199 Explizit betont er, Der Wert des Staates sei eine „prinzipielle, nicht politische Untersuchung, der es auf die philosophische Erkenntnis, nicht Parteiziele und -zwecke ankommt“ (WdS 45).

Die herrschende Strömung der Staatsrechtslehre200 war sich 1913, als Schmitt gerade begann, die Schrift Der Wert des Staates zu verfassen, bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Recht darüber einig, dass der Staat dem Recht historisch wie kategorial vorausgehe, das Recht mithin eine Emanation des Staatswillens darstelle. So begründete Georg Jellinek in seiner „Zwei-Seiten-Lehre“ die Auffassung, dass das Recht politisch bedingt sei und die soziale Staatslehre der Staatsrechtslehre vorgehe.201 Dieser Auffassung trat energisch Kelsen entgegen, für den es eine methodische Unmöglichkeit war, ein- und denselben Gegenstand „Staat“ von zwei unterschiedlichen Erkenntnisrichtungen aus zu analysieren. Denn der Staat könne, da „allrechtlicher Natur“,202 nur normativ betrachtet werden. In seiner Allgemeinen Staatslehre (1925) wird er den Staat als den „Ausdruck für die Einheit eines Systems“, der Rechtsordnung nämlich, bestimmen.203 Dies ist grob skizziert aus staatsrechtlicher Sicht the state oft the art, den Schmitt am Beginn seiner Arbeit vorfand.

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bleibt hingegen der Übergang des Rechts vom Sollen ins Sein. Hierzu bedarf es der Vermittlung des Staates, der „als Übergangspunkt der einen Welt zur anderen“ (WdS 56) agiert (vgl. Breuer ebd.). Stolleis (2002, S. 52). Siehe Mehring (2009, S. 59). Vgl. Kiefer (1990, S. 484). Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 21 f.). Siehe Antar (1998, S. 517). Kelsen (1911, S. 253). Kelsen (1925, S. 76).

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

Schon in der Einleitung präsentiert Schmitt das Resultat seiner Untersuchung. Der Staat steht für ihn im Mittelpunkt der Reihe: „Recht, Staat und Individuum“, liege doch der Sinn des Staates „ausschließlich in der Aufgabe, Recht in der Welt zu verwirklichen“ (WdS 10). 2. Recht und Macht. Seine Theorie des Verhältnisses von Staat und Recht bzw. seine rechtsphilosophische Begründung des Staates beginnt Schmitt mit einem Blick auf die „Theorie des geltenden Rechts, die bei einer Nichtbeachtung all dessen, was nicht aus dem Gesetz begrifflich zu deduzieren ist, ihrem Wesen nach mit der Methode einer Praxis nichts zu tun haben kann“ (GU 54).

Da das „reine, wirklichkeitsentwurzelte“204 Recht seinem Wesen nach Norm ist, nach deren Richtigkeit unabhängig von ihrer Tatsächlichkeit gefragt werden könne (WdS 44), heißt das Anliegen des ersten Teils der Schrift, das Recht von allem Empirischen zu lösen, es „rein“ zu machen.205 Zur Begründung seiner strikten Trennung der Sphären von Recht und Wirklichkeit, von Sollen und Sein, bedient sich Schmitt der Argumentation der neukantianischen Rechtslehre, die das Recht als ein autonomes – von Faktizität, Moral und Ethik streng geschiedenes – vollendet-geschlossenes Normensystem versteht. Da das Recht den Übergang vom Sollen zum Sein selbst nicht bewältigen kann, bedarf es der Hilfe des Staates, der als „Übergangspunkt der einen Welt zur anderen“ (WdS 56) dienen soll. 206 Die Trennung von Recht und Wirklichkeit besagt zunächst, dass die Geltung des selbstständigen und unabhängigen Rechts nicht von realen Begründungsprozessen, nicht von empirischen Anschauungen und nicht

204 Kiefer (1990, S. 484). 205 Vgl. ebd. 206 Vgl. Breuer (2012, S. 14). Schmitts Argumentation kann schwerlich als Bekenntnis zur neukantianischen Philosophie verstanden werden (s. Habfast 2010, S. 45 FN 30, mit weiteren Nachweisen). Aber Schmitt stand ursprünglich in der Tat in der Nähe des Neukantianismus und Kelsens Ausgangspunkt, entfernte sich aber bald vom klassischen Positivismus (Stolleis 2002, S. 178; siehe auch Kiefer 1990, S. 484).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

von der Zustimmung der Menschen abhängen darf.207 Gleiches gilt zum anderen für das Verhältnis von Recht und Macht. Weil das Recht für die Machttheoretiker nur ein Teil des Seins ist (WdS 24), „unterliegt es dem Gesetze der Kausalität wie alles, was da ist“ (WdS 25). Da auch die Anerkennung des Rechts durch die Menschen lediglich eine Tatsache darstellt, wird klar, dass der Rechtsbegriff Schmitts auf einem Dualismus basiert. Verneine man nämlich die Frage, ob Tatsachen ein Recht begründen könnten, „so ist der Gegensatz zweier Welten gegeben. Wird das Recht der Macht gegenüber selbständig und unabhängig, so folgt daraus ein Dualismus, der den Antithesen von Sollen und Sein, von normativer und genetischer, kritischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung entspricht“ (WdS 26).

Schmitts Argumentation folgt der Absicht, mit der Machttheorie auch alle Positionen, die zur Machttheorie vereinigt wurden, gleichzeitig zu widerlegen, so da sind: die Rechtslehre Ernst Zitelmanns, der die normative Verbindlichkeit des Rechts in der wachsenden Gewöhnung an das tatsächliche Verhalten verortet, weiter die Interessenjurisprudenz (s. WdS 32 ff.), der Rechtspositivismus (s.o.; s. WdS 27) und die These von der demokratischen Legitimation des Rechts (WdS 35). Sie alle gewinnen das Recht aus psychischen, sozialen oder ethischen Tatsachen.208 In logischer Konsequenz des Schmittschen Dualismus verbietet es sich dann auch, dem Recht zur Realisierung eines bestimmten Zweckes eine normativ orientierte Einwirkung auf die Realität – wie dies die sog. Rechtszwecklehre tut – zuzusprechen.209 Denn eine Implementierung des Zwecks im Sinne einer Zielerreichung durch das Recht, würde die „Hereinziehung der Verwirklichung des Rechts in seine Definition“ bedeuten, „womit ein Moment der Realität und, um die Formulierung der Antithese zu gebrauchen, ein Moment der Macht in die Definition einer reinen, von jeder Tatsache und Erfahrung unabhängigen Norm gelangt. Die Norm kann kein Wollen, keinen Zweck tragen; Träger eines Zwecks kann nur eine Realität sein (…)“ (WdS 39).

Die entscheidende Frage sei deshalb nicht, ob das Recht oder die Macht in der Welt vorgeht, sondern die, ob das Recht aus Tatsachen abgeleitet wer207 Vgl. Neumann (2015, S. 22); vgl. Habfast (2010, S. 38 f.). Das beinhaltet auch die Ablehnung der These, dass das Recht ein fluktuierendes Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist (so Habfast 2010, S. 39). 208 Vgl. Habfast (2010, S 42 f.). 209 Neumann (2015, S. 22); s. a. Habfast (2010, S. 39).

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

den kann. Auch die Anerkennung des Rechts durch die Menschen sei lediglich eine Tatsache und es frage sich, ob Tatsachen ein Recht zu begründen vermögen. Werde diese Frage verneint, sei der Gegensatz zweier Welten gegeben (WdS 26). „Wird das Recht der Macht gegenüber selbständig und unabhängig, so folgt daraus ein Dualismus, der den Antithesen von Sollen und Sein, von normativer und genetischer, kritischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung entspricht. Die Sphäre des Rechts kann dabei nicht mit dem Gebiet des positiven, tatsächlich geltenden Rechts, abgeschlossen sein, sondern wenn die tatsächliche Geltung zum Recht hinzukommt, um seine Positivität zu konstruieren, so kommt sie als etwas Äußerliches, in diesem Betracht Unwesentliches hinzu“ (WdS 26/27).

Denn wer auf dem Standpunkt steht, alles Recht sei notwendig positiv, wer die Begründung des Rechts mit den Vorgängen, die aus dem positiven Recht resultieren, abschließt, steht auf dem Boden der Machttheorie und verneint den unvereinbaren Gegensatz von Recht und Tatsache (s. WdS 27). Damit verwirft Schmitt die „landläufige Methode“ (WdS 27), die das Recht auf den nur faktischen Willen des Staates gründet, dann aber juristisch den richtigen Willen einer nur tatsächlich begründeten Norm zu ermitteln sucht (vgl. ebd.) – womit sich Schmitt erneut vom staatrechtlichen Positivismus Labands abgrenzt.210 Das Recht ist für Schmitt eine eigene Welt, „ist abstrakter Gedanke, der nicht aus Tatsachen abgeleitet und nicht auf Tatsachen einwirken kann, Subjekt des auf die ‚Verwirklichung‘ des Rechts gerichteten Wollens kann nur eine Realität sein. Das Problem besteht darin, die beiden Reiche miteinander zu verbinden, den Punkt zu ermitteln, von dem aus – unter Wahrung des Primates des Rechts vor der Macht – auf das Sein eine Einwirkung im Sinne rechtlicher Normen bewerkstelligt wird“ (WdS 42).

Das Subjekt, „das seinem Wesen nach Aufgabe wird“ (WdS 43) und die zwei Reiche verknüpfen soll, ist der Staat.

210 Vgl. Neumann (2015, S. 22).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

3. Der Staat. Es ist sinnvoll und hilfreich, mit Neumann noch einmal das Problem zu benennen, das Schmitt zu lösen hat: „Einerseits darf das Recht kein einziges Molekül sozialer Wirklichkeit enthalten, andererseits muss es gleichwohl auf seine Verwirklichung drängen“.211

Der Staat sei deshalb ein „normativ-empirisches Zwitterwesen“, will heißen, dass er einerseits irgendwie in der empirischen Wirklichkeit steht, aber andererseits ein „in seiner Idee erfaßter Staat“ ist (WdS 45). 212 Der ideelle Staat „verdankt seine Würde einer Gesetzlichkeit, die nicht aus ihm sich herleitet“. Diese Gesetzlichkeit ist nach Schmitt nur im Recht zu finden, was heißt, „daß das Recht nicht aus dem Staat, sondern der Staat aus dem Recht zu definieren, der Staat nicht Schöpfer des Rechts, sondern das Recht Schöpfer des Staates ist: das Recht geht dem Staate vorher“ (WdS 50).

So gefasst ist der Staat notwendig und immer Rechtsstaat: „Darum gibt es keinen anderen Staat als den Rechtsstaat und jeder empirische Staat empfängt seine Legitimation als erster Diener des Rechts“ (WdS 57).

Der Primat des Rechts vor dem Staat – ein weiterer Fehdehandschuh wider die Hauptströmung der Staatsrechtslehre – ist letztlich in einem eigenartigen Konstrukt zu sehen. Der Staat ordnet sich bei Schmitt dem Recht unter, ohne völlig im Recht aufzugehen – also nicht, wie bei Kelsen, in Normativität gänzlich verschwindend213 – und das Recht will zu einer Wirklichkeit werden, die nicht die seine ist: beide wollen, doch beide können nicht. Um diesem Dilemma zu entkommen, bürdet der Staat den beiden Welten je die Leistung auf, die sie für sich selbst nicht erfüllen können. So ist der Staat für Schmitt der „Übergangspunkt der einen Welt in die andere“ (WdS 56). „In ihm als Konstruktionspunkt, wird das Recht als reiner Gedanke zum Recht als irdischem Phänomen. Der Staat ist danach das Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen (…)“ (ebd.)214.

211 Ebd. S. 23. 212 So Axel-Johannes Korb, hier zit. nach Neumann (2015, S. 24 FN 118): Kiefer (1990, S. 484) spricht von „Zwitterexistenz“. 213 Siehe ebd. S. 24. 214 Herv. im Original.

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

In diese Definition ist der Zweck des Staates – als „ein Instrument der Einwirkung des Rechts auf die Wirklichkeit“ (ebd.) – eingeflossen, „hört aber nicht auf, eine Konstruktion des Rechts zu sein, wenn er als die einzige Konstruktion des Rechts einen Zweck in seinen Begriff aufnimmt“ (ebd.). Diese einzige Ausnahme verletzt für Schmitt den Grundsatz, dass ein Zweck jeder Rechtsnorm und jeder juristischen Konstruktion feindlich ist, nicht, denn „das Recht setzt vielmehr in demselben Moment, da es Zweck werden soll, den Staat als Träger dieses Zweckes“ (WdS 56/57). Derart erfüllt der Zweck den Staat und die Zweckrichtung konstituiert als ein besonderes Gebilde den Staat (WdS 57): „Darum gibt es keinen anderen Staat als den Rechtsstaat und jeder empirische Staat empfängt seine Legitimation als erster Diener des Rechts (…). Er wird seiner Idee nach Träger einer Aufgabe, seine Größe ruht darin, daß er nichts ist, wie diese Aufgabe, seine Würde deriviert vom Recht und besteht in der Ausschließlichkeit, mit der er vom Recht umfaßt und ergriffen ist“ (ebd.).

Als Wirklichkeit bloße Gewalt, veredelt das Recht den Staat zu einer legitimierten Gewalt, zur höchsten – aber nicht zur größten – Gewalt:215 „Der Sinn des Staates besteht demnach in der Aufgabe, Recht in der Welt zu verwirklichen und auf sie in dieser Richtung einzuwirken. Warum er die höchste Gewalt ist, folgt aus dieser Aufgabe; warum er die höchste Gewalt sein muß. ergibt sich aus der Richtung seiner Aufgabe, da die Einwirkung auf die Welt der Phänomene eine faktische Macht zur Voraussetzung hat (WdS 58).

Die Lösung des Problems Recht und Wirklichkeit zu verbinden, sei Schmitt, so Neumann, „nicht überzeugend gelungen“.216 Spüren wir seiner Begründung kurz nach. Recht sei bei Schmitt nur ein abstrakter Gedanke, der nie in die empirische Wirklichkeit eingehen könne, Zwang und Macht hingegen gehörten nur zum Begriff des Staates. Seine Autorität verleiht ihm das Recht, das allein der Staat zur Wirkung bringen kann. „Damit scheint nur die Alternative zu bestehen“217: die staatliche Rechtsverwirklichung ist entweder nur Zwang und Gewalt, oder sie hat das Recht verwirklicht, seine Abstraktheit verloren und hört damit auf, Recht zu sein.218 Schmitt geht einen anderen Weg. Er dualisiert das gesamte empirische Recht in das ursprüngliche, abstrakte Recht und „in das staatliche, das die-

215 216 217 218

Vgl. Habfast (2010, S. 49). Neumann (2015, S. 25). Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

nende, zweckbestimmte, vermittelnde Recht“.219 Ob seiner Verbindungsfunktion zwischen Recht und empirischer Welt modifiziert sich die vom Medium Staat proklamierte Rechtsnorm, weil ein „Moment des Empirischen“ in sie einfließt (vgl. WdS 75): „Der Staat, der Mittler des Rechts, tritt handelnd in die Welt ein und muß sich dort nach deren Mechanismus von Mittel und Zweck einrichten. In demselben Augenblick, in dem er die empirische Welt benutzt, um etwas bestimmtes aus ihr zu machen, wirkt diese auf ihn zurück mit der Macht, wie sie das Material über den Künstler, die gegebenen Eigenschaften des Dieners über den Herrn haben“ (WdS 75/76).

Um in der empirischen Welt Wirkung zu erzielen, bedarf es empirischer Mittel, und das stärkste in Betracht kommende Mittel ist der Zwang. Das Moment der Erzwingbarkeit wird also durch den Staat ins Recht gebracht (WdS 76). Die beiden Rechtskomplexe sind aber nicht derart, „daß sich zwei abgeschlossene Massen inhaltlich bestimmter Satzungen gegenüberständen“ (WdS 77), sondern beide seien in jedem einzelnen empirischen Rechtssatz gegenwärtig und zu scheiden (vgl. ebd.). Damit, so Neumann, werde die Brücke zum Dezisionismus geschlagen: „Der Staat kann in jedem Rechtsakt eine Autorität beanspruchen, die nicht aus der inhaltlichen Zweckmäßigkeit der Regelung, sondern aus dem festgestellten, gleichwohl aber unsichtbar-abstraktem Recht folgt.“220

Es steckt also in jedem positiven Gesetz ein Moment des „bloßen Festgestelltseins“, der zur Geltung kommt, weshalb es wichtiger sein könne, „daß überhaupt etwas positive Bestimmung wird, als welcher konkrete Inhalt dazu wird“ (WdS 80)221. Die Dezision ist der „mangelnden Reichweite der normativen Sphäre“222 geschuldet, oder in der Formulierung Kiefers: „Die Begründungsmöglichkeit bleibt hinter der Verwirklichungspflicht zurück; in die Lücke tritt die Dezision“223. Die Realisierung des Rechts – mittels Kategorien der Wirklichkeit – fasst Schmitt „als eine Positivierung, als ein Festsetzen und Bestimmen des Normgehalts“:224

219 220 221 222 223 224

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Ebd. S. 25; s.a. die Argumentation bei Kiefer (1990, S. 485 f.). Neumann (2015, S. 26). Herv. im Original. Habfast (2010, S. 56). Kiefer (1990, S. 490). Ebd. S. 54.

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

„Der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, muß positiv werden, (…) er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen (WdS 79/80). (…) weil das Recht vom Staate als seinem exactor zwangsweise verwirklicht werden soll, muß alles staatliche Recht exakt ‚formuliert‘ und ‚bestimmt‘ werden, um der konkreten Verwirklichung fähig zu sein“ (WdS 81).

Der Umschlag des idealen zum verwirklichten Recht erfolgt in der staatlichen Praxis allein mittels einer normativ indifferenten Entscheidung des staatlichen Souveräns.225 Vollendet wird die Rechtsverwirklichung durch die direkte Übertragung der theoretischen Lösung ins Praktische. Schmitt erläutert den Rechtsverwirklichungsprozess am Vorbild der katholischen Kirche. So wie die bloße Bestimmung des Rechtsinhalts die Metamorphose des Rechtsgedankens in das positive Recht bewirkt, so „soll der das Recht verwirklichende Staat diese Metamorphose durch die Bestimmtheit und die Einheit seiner Institutionen unterstützen“. 226 „(…) sobald irgendwo das Bestreben einer Verwirklichung von Gedanken, einer Sichtbarmachung und Säkularisierung auftritt, erhebt sich gleich, neben dem Bedürfnis nach einer konkreten Entscheidung, die vor allem, und sei es auf Kosten des Gedankens, bestimmt sein muß, das Bestreben nach einer in derselben Weise bestimmten und unfehlbaren Instanz, die diese Formulierung gibt“ (WdS 81/82).

Bei dieser Aufgabe biete „die katholische Kirche mit ihrer Lehre ein Beispiel in typischer Reinheit“ (WdS 82). Einmal, so Schmitt, erfüllt die Kirche die juristischen Anforderungen, da sie das jus divinum in der Wirklichkeit durchsetzt. Ihre Mittel sind dabei die Prinzipien der Sichtbarmachung und der Repräsentation.227 Mit der Institution des Papstes, eines Mittlers von Recht und Wirklichkeit, als Oberhaupt der Kirche, sei zum anderen auch die Frage nach der letzten Instanz vorbildlich geklärt. Von der Seite des Rechtes her sei der Papst der unfehlbare Interpret des natürlichen Sittengesetzes und des Offenbarungsinhalts, während er auf der Seite der wirklichen Welt als die Institution gelte, die „mit den Mitteln weltlicher Macht verbindlich Recht verwirklicht“:228 „Die Konsequenz der Unfehlbarkeit von Entscheidungen ex cathedra liegt auf der Hand, und wer die Prämisse, ein jus divinum und eine Rechtsordnung der

225 226 227 228

Ebd. S. 59. Ebd. S. 57. Siehe hierzu das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form. Habfast (2010, S. 58).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Kirche zugibt, wird dieser Konsequenz seine Bewunderung nicht versagen können“ (WdS 82).

Schmitt weiß um die Gefahr seiner Theorie, die darin liegt, dass die staatliche Rechtsverwirklichung in eine reine Machtentfaltung umschlagen kann, weil sie das Recht der staatlichen Macht (Verfügungsgewalt) aussetzt. Doch sei mit diesem Risiko zu leben, weil mit keiner irgendwie gearteten Norm das Muss der Rechtsverwirklichung kontrolliert oder umgangen werden könne: „Kein Gesetz kann sich selbst vollstrecken, es sind immer nur Menschen, die zu Hütern der Gesetze aufgestellt werden können, und wer selbst den Hütern nicht traut, dem hilft es nichts, ihnen wieder neue Hüter zu geben (WdS 83). (…) Es gibt einen Punkt, an dem das Richtige sich nicht mehr erzwingen läßt“ (WdS 84).

Schmitt selbst vertraut seiner Konzeption, was auf seine positive Einschätzung des Staates zurückzuführen ist: „Vom Recht bis in jedes Element beherrscht, kann der Staat nur das Recht wollen (WdS 57). Er würde sich selbst aufgeben und ausliefern, wenn er sich auf seine bloße Macht berufen wollte (…)“ (WdS 57).

4. Der Einzelne. „Das Individuum aber als empirisches Einzelwesen ist zunächst nichts wie Tatsache“ (WdS 98).

Das Individuum „Mensch“, so Schmitt, sei zunächst nur materielle Körperlichkeit, „eine gänzlich zufällige Einheit“ von Atomen aus Staub (WdS 101). Erst durch die Aufgabe seiner bloßen Individualität und seiner Sudordination unter das staatlich verwirklichte Recht erhebe sich das Individuum über seine nur natürliche Existenz: „Die objektiv gültige Norm erfüllen heißt, vom Einzelnen aus gesehen, die eigene subjektive empirische Wirklichkeit verneinen“ (WdS 89).

Der einzelne Mensch, als Faktum ein Nichts, muss erst etwas werden, erklärt Schmitt, „was in einer anderen Sphäre liegt“ (ebd.). Rechtlich erhöhe sich das Individuum, indem es sich den vorgängig existierenden Normen

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

des Rechts unterwerfe, ethisch, indem es sich dem Sittengesetz unterwerfe.229 „(…) das Individuum aber, als empirisches Einzelwesen, verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe, Recht zu verwirklichen, erfaßt zu werden und selbst seinen Sinn in einer Aufgabe und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren Normen zu empfangen“ (WdS 10).

Dies geschehe aber nicht, um den Einzelnen zu vernichten, „sondern um etwas aus ihm zu machen, von dem eine Bewertung unter den Gesichtspunkten des Rechts erst möglich ist. Das ist der Sinn der Gleichheit aller vor dem Recht, wenn es in der Tat keinen Unterschied der Personen kennen soll“ (WdS 10/11).

Erst das Recht also gibt dem Einzelnen eine Würde und so unterscheidet Schmitt – Kant folgend – zwischen der autonomen Gesetzgebung der Vernunft, mit der sich der Mensch ein sittliches Gesetz gibt und den heteronomen Gesetzen, unter dessen Normen der Mensch gestellt wird. Entgegen Kant aber trennt Schmitt mit Feuerbach und Fichte Ethik und Recht, denn sie seien „nicht auf dasselbe Prinzip zurückzuführen“ (WdS 70).230 Das Recht und der Staat, dessen Diener er ist, rangieren in dieser Reihenfolge vor dem Individuum. So wie die Kontinuität des Staates nur aus dem Recht fließt, so fließt die Kontinuität des Individuums nur aus dem Staat. Der Staat ist der Einzige, dem eine Pflicht zum Recht im eminenten Sinne inne ist, das Individuum hingegen „wird vom Staat gezwungen, und seine Pflicht wie seine Berechtigung sind nur der Reflex eines Zwanges“ (WdS 86). Es besteht die Antithese von Recht und Staat und das positive Recht ist die Einheit zwischen der überempirischen Norm und dem Staate – „das empirische Individuum scheidet ganz aus“ (ebd.). Aus dieser Sicht wird das Individuum – der Staat ergreift es und fügt es in seinen Rhythmus ein (WdS 94) – letztlich zur Norm,231 denn es gilt: „Kein Individuum hat im Staat Autonomie“ (WdS 101). Es ist eine tiefe Kluft, die die menschlichen Zwecke und Bedürfnisse vom Staat trennt:232 „Der Zweck ist so wenig ein Schöpfer des Rechts oder des Staates, wie die Sonne damit definiert ist, dass sie ein Feuer sei, von frierenden Wilden angezündet, um die Glieder daran zu wärmen“ (WdS 93/94).

229 230 231 232

Vgl. Habfast (2010, S. 62). Vgl. zu Einzelheiten ebd.. So im Ergebnis wohl auch Habfast (2010, S. 64). Neumann (2015, S. 27).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Derart gefasst wird allen liberalen Rechtstheorien, die auf individualistischen Rechts- und Staatsbegriffen basieren, der Boden entzogen,233 liege doch das Imponierende des Staates in seiner überindividuellen Organisation faktischer Kräfte und in seiner Totalität, die jedes Individuum – „auch den mächtigsten Despoten“ (WdS 86) – als Werkzeug benutzt. Der Recht verwirklichende Staat ist für Schmitt „eine überindividuelle, nicht interindividuelle Instanz, die ihre Würde keiner Schilderhebung der Einzelnen verdankt, sondern ihnen mit originärer Autorität entgegentritt“ (ebd.)“.

Für Neumann ist der Begriff der „Aufgabe“ in der Reihe „Recht – Staat – Individuum“ ein durgehendes Strukturelement.234 Aufgabe des Staates ist die Rechtsverwirklichung, Aufgabe des Einzelnen ist die Wahrnehmung staatlich angeordneter Aufträge (vgl. WdS 87). Im Übrigen, betont Schmitt durchaus überraschend, lasse sich „von dieser allgemeinen Erscheinung des Funktionärs, der fungiblen Persönlichkeit, vom Beamten aus“ (…) der Sinn des Staates viel tiefer erklären, als durch seine Herabwürdigung zum negotiorum gestor235 der allein wichtigen Persönlichkeit“ (ebd.). Carl Schmitts Antiindividualismus wirft ob der Subordination des Individuums unter den Staat zwingend die Frage nach der Freiheit des Einzelnen auf. Die individuelle Freiheit ist für ihn – in Anwendung seiner Zweiweltenlehre – ein Begriff aus der empirischen Sphäre. Ihre Bedeutung oder ihre Bedrohung kann deshalb nicht aus der Sphäre des Rechts rühren und auch nicht aus der des Staates, der rechtsverwirklichend nur im Sinne des Rechts auftreten kann, sondern nur aus der Sphäre des Wirklichen. Geht eine Gefahr für die Freiheit hingegen vom empirischen, dem Machkomplex „Staat“ aus, so muss dies hingenommen werden: „Die Frage, wie hier dem empirischen Individuum zu helfen wäre, ist keine rechtsphilosophische mehr, ebenso wenig wie die Frage, auf welchem Wege es zu bewerkstelligen ist, daß die Machthaber sich stets an das Recht halten“ (WdS 107).

233 „Somit ist nicht der Staat eine Konstruktion, die Menschen sich gemacht haben, er macht im Gegenteil aus jedem Menschen eine Konstruktion. Die große überpersönliche Organisation ist nicht von Einzelnen als ihr Werk geschaffen; (…)“ (WdS 93). 234 Neumann (2010, S. 26; nachst. vgl. ebd., S. 26 f.). 235 Negotiorum gestor: Geschäftsführung ohne Auftrag, bzw. ohne besonders ermächtigt zu sein.

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

Abseits dieser methodologischen Überlegungen ist festzuhalten, dass für Schmitt die alltäglichen Interessen der Menschen, die nur bestrebt seien „voll Hast ihr Einzelglück zu retten“ (WdS 85), keine große Bedeutung haben.236 In der Hingabe an den Staat, in der Identifizierung mit seiner Aufgabe erweist sich für Schmitt die Würde des Einzelnen, wie sich am Leben großer Staatsmänner zeige: Ein Caesar, ein großer Friedrich und ein Bismarck hätten ihre Ziele nicht in der „harmonischen Ausbildung ihrer Persönlichkeit“ gesehen (WdS 90): „Aber die Größe dieser Männer liegt in der Größe ihrer Aufgabe und deren Erfüllung; (…) Nur die Identifikation mit der Aufgabe, die maßlose Hingabe an die Sache, das Aufgehen in der Aufgabe, der Stolz, Diener des Staates und somit einer Aufgabe zu sein, die Selbstvergessenheit, mit der sie projectissimi waren ad rem, das allein macht die großen und bewundernswerten Augenblicke ihres Lebens aus. Der Wert lag in der Sache (…)“ (WdS 90/91).

Der Einzelne aber könne die Norm zur Tat werden lassen und so am Rechtsverwirklichungsprozess teilhaben. „Jeder Wert, der mit dem einzelnen Menschen verknüpft werden kann, besteht in der Hingabe an den überindividuellen Rhythmus einer Gesetzlichkeit. In der Welt des Staates ist dieses Grundprinzip aller Erscheinung des Wertes am klarsten zur Tat geworden“ (WdS 93).

Somit sei nicht der Staat eine Konstruktion durch Menschen, sondern der Staat mache vielmehr aus jedem Menschen eine Konstruktion, eine juristische Konstruktion,237 seine Individualität ist dem Recht untergeordnet: „Der Staat ergreift das Individuum und fügt es in seinen Rhythmus ein“ (WdS 94).

Selbst der absolute Herrscher ist demnach nur der erste Diener des Staates (ebd.): „(…) der absolute Herrscher ist über alle Relativitäten des Zeitlichen erhaben, er kommt als Mensch überhaupt nicht mehr in Betracht, er hat keine Launen

236 Dies wird sich bei der nachfolgenden Behandlung von Theodor Däublers: Nordlicht noch verdeutlichen. 237 Siehe dazu auch die Vorüberlegungen zu Der Wert des Staates in (TB I 62 ff. u. 67 ff.). „Was immer die Persönlichkeit ist, bestimmt sich durch die Rechtsordnung selber und ist nicht ein abgegrenzter Raum. Denn Persönlichkeit ist zu Gesetzmäßigkeit ‚verpflichtet‘, und alle Definitionen von der Einschränkung durch das Recht, verraten eine bedenkliche oberflächliche und utilitaristische Auffassung des Rechts der Persönlichkeit“ (TB I 63).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

und Ergötzungen mehr, er ist eben ganz ‚Gesetz‘ geworden; er steht nicht über dem Recht, so wenig wie über der Grammatik“ (WdS 95).

Größte methodische Klarheit bietet für Schmitt auch hier wieder die katholische Kirche. Der infallible Papst, obwohl das Absoluteste auf der Erde, „ist nichts für seine Person, ist nur Instrument, Statthalter Christi auf Erden, servus servorum Dei“ (ebd.) und der Fürst als Mensch ist genauso belanglos wie ein Individuum im Staate, weshalb auch die Würde, die er einfordere, nur seinem Amt gelte: „Durch die Art Gottähnlichkeit, die der Monarch als ‚lebendiges Gesetz‘ erhält, wird er sofort dem Recht unterworfen, wie der Gott der Theologie, dessen allmächtiger Wille nichts Böses und nichts Unvernünftiges wollen kann“ (WdS 96).

Hier scheint prima facie der Einwurf berechtigt, der Staat zerstöre die Freiheit des Individuums. Dieser These widerspricht Schmitt jedoch mit seiner Zweiweltenlehre. Freiheit ist ihm danach nur ein Begriff der empirischen Sphäre: „Von der Freiheit des Individuums kann nur in dem Sinne gesprochen werden, daß der Staat nicht als Erscheinung des Rechtsgedankens, sondern als Machtkomplex aufgefaßt wird, das Individuum aber (…) als Träger berechtigter Forderungen (…). Die Freiheit des Individuums wäre dann die Formel für konkrete politische Forderungen, die zur Voraussetzung haben, daß der Staat gegen den sie sich richten, kein reiner Rechtsstaat ist, sondern eine Mittel für materielle Zwecke (…)“ (WdS 99).

Eine rechtsphilosophische Konstruktion des Staates oder des Individuums müsse jedoch davon abstrahiert werden. Die eigentliche Bedrohung des Individuums ist der Machtkomplex des Staates: „Die Vernichtung des Individuums (…) kommt nicht vom Recht und dem ganz in der Verwirklichung des Rechts aufgehenden Staate her, sondern von dem Machtkomplex Staat, von der Tatsächlichkeit, der durch einen Kampf der Macht mit der Macht zu begegnen ist“ (WdS 106/107).

Eine Hilfestellung für das empirische Individuum kann vonseiten der Rechtsphilosophie nicht kommen. Dies gelte auch für die Frage, wie sichergestellt werden könne, dass der Machthaber sich stets an das Recht hält: „Alles, was die Rechtsphilosophie tun kann, ist, darauf hinzuweisen, wie alle Macht ohne Recht sinnlos und auch der mächtigste Einzelne als solcher belanglos ist“ (WdS 107).

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II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn.

Alles was darüber hinausgeht, fällt bei Schmitt in die Sphäre der technischen Fragen von Politik. II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn. Der Kriegsschuldparagraph 231 des Versailler Vertrags befeuerte ab 1919 die politisch-historische Debatte und die Revision des Friedensdiktats von Versailles und der von ihm geschaffenen Machtbalance wurde zum handlungsleitenden Ziel des Deutschen Reiches. Die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs stand lange Zeit im Zentrum der historischen und politischen Forschung. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg kann von einer gezielten Entfesselung durch die politisch-militärische Führung des Deutschen Reiches nicht gesprochen werden. Zu fragen ist vielmehr, warum im Verlauf der „Julikrise“ weder in Deutschland, in Frankreich und in Großbritannien keine Bereitschaft vorhanden war, mäßigend auf den eskalierenden Konflikt der serbischen, österreichisch-ungarischen und russischen Diplomatie einzuwirken. Mit anderen Worten: Der Erste Weltkrieg kann nicht einfach mit divergierenden Interessen der europäischen Großmächte erklärt werden.238 Diese waren schon vor dem Ersten Weltkrieg gegeben, bis dato aber alle friedlich beigelegt worden. Vorhanden war aber in politisch-militärischer Führung und großen Teilen der öffentlichen Meinung eine gesteigerte Risikobereitschaft, Krieg zu führen. Kriegsfördernd waren überdies die Bündnismechaniken und der Glaube an einen feldzugartigen, kurzen Kriegsverlauf. Zum Tag der deutschen Mobilmachung am 1. August 1914 finden wir bei Carl Schmitt folgenden Tagebuch-Eintrag: „Vielleicht siegen die Slawen, weil die Germanen das Gebiet östlich der Elbe germanisiert haben. Da sind die Slawen in den Germanen aufgegangen und zu Preußen geworden. Sie haben das übrige Deutschland unterworfen, und der Preußengeist, diese knarrende, schneidige und gänzlich intellektlose und gefühllose Maschinerie wird es verhindern, daß die Deutschen mit den Russen fertig werden. Das wäre auch eine Art metaphysische Gerechtigkeit“ (TB I 173).

Und am 4. August 1914 stellt er lapidar fest: „Der Krieg hat begonnen.“ Öffentliche Stellungnahmen zum Krieg außerhalb der unverbindlichen Welt seiner Tagebücher finden wir 1914 wie später auch nach Kapitulation 238 Vgl. Raphael (2014, S. 38-41); siehe (Clark 2013).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

und Revolution von 1918/19 nicht.239 Helmut Quaritsch bemerkt zu dem späteren Nationalisten: „Carl Schmitts Nationalismus hatte eine eher unauffällige Vorgeschichte. Als 1914 und danach viele Professoren und Schriftsteller den Feind mit Druckerschwärze bekämpften, hat Carl Schmitt geschwiegen. Seine nichtjuristischen Aufsätze und Abhandlungen, die er zwischen 1914 und 1918 verfaßte, erscheinen seltsam zeitabgewandt“.240

Schmitts zu dieser Zeit depressive Grundstimmung lässt offenbar keinen Platz für eine große Siegeszuversicht. Die Vorstöße französischer Truppen auf deutsches Reichsgebiet, insbesondere der Vormarsch auf Straßburg, wecken aber Betroffenheit (s. TB II E. 14)241. Erst den Versailler Vertrag und darin speziell den Kriegsschuldartikel wird Schmitt als ungerechte und persönliche Schmach empfinden.242 In den ersten Kriegswochen jedenfalls belegen seine privaten wie beruflichen Probleme den ersten Rang seiner Prioritätenliste. Das Schmittsche Schweigen erstaunt auch, weil seine Kulturkritik und sein Kulturpessimismus, wie er sie aus Däublers Nordlicht liest, einer breiten gesellschaftlichen Strömung der Zeit entsprechen, die – wie Kruse treffend herausarbeitet – eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs spielt.243 Die geistige Strömung des Kulturpessimismus – rührend aus ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen der modernen Gesellschaft, Naturzerstörung, die anonyme Unwirtlichkeit der großen Städte mit ihrer Künstlichkeit der sozialen Beziehungen und in einer freiheitsrestringierenden wohlanständigen Bürgerlichkeit – hatte die „Generation von 1914“ erfasst und mündete in Kriegsbegeisterung. Denn auch ein Krieg war ja ein Bruch mit der bürgerlichen Welt. Carl Schmitt schreibt wenig zum Kriege, greift allerdings nach Kapitulation und Revolution 1918 auch nicht zur „Friedensschalmei, er beschwor nicht den ‚Geist von Weimar‘, und er rechnete nicht mit den Hohenzollern ab. Opportunist war er weder 1914 noch 1918, der Zeitgeist konnte ihn nicht beflügeln und schon gar nicht fortreißen“.244

239 So jüngst Wacker (2016, S. 312). 240 Quaritsch (1991, S. 58 f.). 241 Die Einfügung „E“ – (TB I E.) – bezieht sich auf Belegstellen in der Einführung in die Tagebücher von Ernst Hüsmert. 242 Quaritsch (1991, S. 60). 243 Siehe Kruse (2009, S. 8; nachst. S. 8 f.). 244 Quaritsch (1991, S. 59).

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III. Referendariat in Düsseldorf (3).

Dass Schmitt trotzdem von der deutschen Niederlage tief betroffen war, schließt Quaritsch aus einer Tischrede Schmitts, die er am Vorabend seines 50. Geburtstages im Jahr 1938 hielt. Die Monate des Zusammenbruchs seien die Zeit „schlimmster Verzweiflung und aussichtsloser Depression“ gewesen.245 Die deutsche Niederlage, so Quaritsch, wurde von Schmitt als eigene empfunden, „die Schuldzuweisung im Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages als ungerechte, persönliche Schmach“.246 III. Referendariat in Düsseldorf (3). 1. Am Rand von Selbstmord und Wahnsinn.247 Das Tagebuch (TB I) setzt mit Juni 1914 wieder ein. Von nervösem Gefühlschaos getrieben arbeitet Schmitt – nach eigenem Bekunden nunmehr verheirateter Junggeselle und unbezahlter Referendar – unter finsterem depressivem Gemütszustand selbstinquisitorisch Vergangenes ab, bzw. er versucht es zumindest.248 Dem nicht genug, stirbt sein Referendarskollege Wülfing im Krankenhaus, den er tags zuvor noch besucht hatte. Wie schon 1912 wühlt Schmitt die Frage nach der Determiniertheit seiner Existenz wieder auf. Cari hatte er am 24. Oktober 1912 geschrieben: „Was Du morgen tust, hat vielleicht vor 500 Jahren einer aufgeschrieben, mit allen Kleinigkeiten.249 Es gibt keinen Zufall und gibt kein Entrinnen vor der Schuld. Es bleibt nichts, als ein guter Mensch zu sein. Wir sind hilflos verloren in einer brutalen Maschinerie, wenn wir uns nicht selbst mit einem ernsten Entschluß zur Selbstachtung bestimmen. Es handelt sich immer um einen Kampf des Selbst mit der Außenwelt; um die Frage, ob man selbst sein Schicksal bestimmt oder sich ihm hingibt“ (TB I 26).

Deutschland leistet Österreich den unbedingten Treueschwur, der drohende Weltkrieg klopft immer hörbarer an, und Schmitt treiben zuvörderst weiterhin private Sorgen um: „Angst vor der Ehe mit Cari“, Angst vor ihrer „Subjektivität“:

245 246 247 248 249

Ebd. S. 60; s. dort auch S. 60 FN 110. Ebd. So Mehring (2009, S. 57). Siehe ebd. S. 70 f.. Gemeint ist Michel de No(s)tredame („Nostradamus“) (1503-1566).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

„Es geht doch nicht ohne Objektivität und gesunden Menschenverstand im Leben. In der Philosophie wohl, auch in der Liebe, aber nicht in der Ehe“ (TB I 167). 250

Auch die Sorge um das tägliche Brot zermürbt. Schmitt hatte ja nunmehr auch noch Entgelt für Kost und Logis für die nach Plettenberg ausgesiedelte Cari aufzubringen – und Mutter Schmitt überschätzte offensichtlich die finanziellen Verhältnisse des Sohns bei weitem. Der Umzug Caris nach Köln in die Pension eines Nonnenklosters hinterließ schließlich ein langanhaltendes Zerwürfnis Schmitts mit dem Elternhaus, den Vater ausgenommen (TB I, E. 11)251. Der Umgang mit Zehnhoff belastet Schmitt zunehmend. Er empfindet seine Situation als entwürdigend. Finanziell hält ihn der Geheimrat knapp, und gleichzeitig lockt er ihn mit seiner Nichte. Eine Heirat würde für Schmitt auch das Ende materieller Not bedeuten, doch Zehnhoff erreicht das Gegenteil: „Carl Schmitt, der an sich selbst fast verzweifelt, macht seine Cari zur Richtschnur und Erfüllung seines Lebens. Er zwingt sich zu blindem Vertrauen und weiß nicht, welchem unerhörten Glücksfall er es verdankt, dass er ihre Liebe gewonnen hat“ (TB I, E. 12).

Doch Schmitt ist zerrissen: „In Wirklichkeit befällt ihn ein abgrundtiefes, unerklärbares und unwiderlegbares Misstrauen gegen seine Braut. Doch er ringt den Zweifel in seiner Brust nieder (…)“ (TB I, E. 13).

Schmitt reist nach Lothringen zu Onkel André, weil er finanzieller Unterstützung für das Examen bedarf und besucht im Anschluss mit Vetter André die Konfliktregion des Elsass mit Straßburg, wo er van Calker aufsucht. Den Kriegsbeginn am 4. August 1914 notiert er nüchtern: „Der Krieg hat begonnen. Wir fürchten eine Belagerung von Köln“, aber eingehende politische Betrachtungen fehlen weiterhin. Schmitt muss sich zum Landsturm melden. Kriegsangst befällt ihn, zudem sorgt er sich um sein Examen.252 Prophetisch notiert er:

250 „Damit ist Cari der Prototyp des Romantikers, den Schmitt später beisetzt“ (Mehring 2004). In (TB I 298) notiert Schmitt bereits: „Merkmal der spezifischen Romantik: die Unfähigkeit zur Objektivität, zum Abstrakt von sich selbst.“. 251 „E“ zeigt, dass es sich um die Einleitung von Ernst Hüsmert zu (TB II) handelt. 252 Mehring (2009, S. 71).

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III. Referendariat in Düsseldorf (3).

„Ich fühle deutlich den Finger des Schicksals. (…) Von Eisler habe ich eine Karte aus Namur bekommen. Wenn er nur nicht fällt, der liebe, gute Kerl“ (TB I 200).

Doch Eisler fällt. Am 7. Oktober erschüttert Schmitt die Nachricht vom Tode seines besten Freundes: „Wir waren seit über 6 Jahren in einer Freundschaft verbunden, wie sie nur jahrelange gemeinsame Stunden und gleiche geistige Interessen und Ziele begründen können. Ich habe jetzt im Laufe eines Vierteljahres meine beiden Freunde verloren und nichts erscheint mir in der Fassungslosigkeit meiner gegenwärtigen Stimmung natürlicher, als daß ich nunmehr an die Reihe kommen muß“ (TB I 222).

Trost sucht er in der Beschäftigung mit Sören Kierkegaard. Als letzten Freundschaftsdienst veröffentlicht er die Einleitung zu Fritz Eislers begonnener Habilitationsschrift. Später wird er ihm seine Verfassungslehre (1928) widmen. 2. Wendepunkte? Die Unterbringung Caris im Kölner Kloster wird unhaltbar, auch weil sie des Diebstahls bezichtigt wird. Sie zieht in eine Wohnung um. Obwohl Schmitts Assessorhausarbeit nur mühsam in Gang kommt, hilft er parallel seinem Freund Heinrich Gross: „In Wahrheit diktiere ich ihm die ganze Arbeit“ (TB I 257). Die Beziehung zu Geheimrat Zehnhoff wechselt zwischen Dankbarkeit – Zehnhoff bezahlt die Prüfungsgebühr für das Assessorexamen – und Mordgedanken und beschränkt sich vonseiten Schmitts auf das Notwendigste. Diese Distanz tut Schmitt und damit seinen Prüfungsvorbereitungen gut. Sogar finanziell, denn aus einem Kommissionsgeschäft verdient er 2000 Reichsmark, ein guter Grundstock für eine gemeinsame Wohnung.253 Am 18. und 19. Dezember schreibt Schmitt die Prüfungsexamen, obwohl Däubler ihn mit Beschlag belegt. Anschließend ist er mit Däubler und Möller van den Bruck unterwegs und „pflegt das Gespräch mit Avantgarde und Literaturwissenschaft“ (TB I E. 14). Weihnachten verbringt er bei der jüdischen Familie Eisler – wohl nicht ganz ohne Hintergedanken, denn Eislers hatten Schmitt schon früher finanziell unter die Arme gegrif-

253 Siehe näher Mehring (2009, S. 73); s. (TB I E: 14).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

fen und mit Georg, dem Bruder des gefallenen Fritz Eisler, hatte sich eine engere Freundschaft entwickelt.254 Schmitt selbst beschreibt seinen physischen und psychischen Zustand nach den Auseinandersetzungen mit Zehnhoff, dem Tod seines engsten Freundes Fritz Eisler, dem Familienzwist wegen der Unterbringung Caris sowie deren Diebstahlaffäre und nicht zuletzt dem Assessorexamen – mit den Worten: „Ich bin fertig. Ich kann nur noch Tagebücher schreiben“ (TB I 286). Im Januar beziehen die Verlobten die erste gemeinsame, für Schmitts Verhältnisse sehr kostspielige Wohnung, woraus neue Zahlungszwänge erwachsen. Cari drängt auf eine schnelle Hochzeit255, auch wenn in der Strafsache wegen Diebstahl neu gegen sie ermittelt wird. Was Wunder, dass seine „wahnsinnige Überreizung“ bleibt. Erst ein Besuch Georg Eislers normalisiert Schmitts Gemütslage (s. TB I E. 17). Anfang Februar 1915 erhält Schmitt die befürchtete Aufforderung, seinen Wehrdienst anzutreten. Beruhigend wirkt, dass umgehend das Angebot seines Doktorvaters, des nunmehrigen Majors Fritz van Calkers, eintrifft, ihm einen Posten beim Leibregiment – dem Hausregiment des Bayerischen Königs – in München zu verschaffen. Umgehend fährt Schmitt am 7. Februar nach München, wo er nach einer ärztlichen Untersuchung nur für garnisonsdienstfähig, nicht für felddiensttauglich eingestuft wird. Seinen Stellungsbefehl erhält er für den 15. Februar. Seine Einberufung ermöglicht ihm eine Kriegstrauung. Am 13. Februar 1915 heiratet Schmitt seine Cari in Köln. Trauzeugen sind zwei unbekannte Invaliden. Für die kirchliche Trauung am 20. Februar und die mündliche Assessorprüfung am 25. Februar in Berlin – die Note ist ein für ihn ungewohntes „Befriedigend“ – hatte er Urlaub erhalten.256 In München erwartet ihn schon sein Freund Georg Eisler, der für Schmitt bereits ein privates Zimmer angemietet hatte.

254 Vorst. s. Mehring (2009, S. 73 f.); s. (TB I E. 14). 255 Cari hatte sich wegen der Neuausstellung ihrer Personalpapiere direkt an den Kaiser von Österreich gewandt und damit tatsächlich Erfolg gehabt (s. Mehring 2009, S. 74). 256 Zu Details s. Mehring (2009, S. 75); s. (TB I E. 18); s. (TB II E. 6).

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IV. München zum Zweiten.

IV. München zum Zweiten. „Seltsamer Affekt, Wut auf das Militär und diesen menschenunwürdigen und bestialischen Zwang. O, würde doch einmal dieses Tagebuch gelesen, das wäre etwas anderes als die gedruckten Heldenverehrungen“. Carl Schmitt257

1. Beim Militär: Schmitts Kampf an der „Heimatfront“. Nach dem einsemestrigen Kurzgastspiel im Sommer 1908 führten Krieg und Militär Carl Schmitt zum zweiten Mal nach München. Hier wird der Jurist und (Gelegenheits-)Literat in den nahezu sieben Jahren von Februar 1915 bis Oktober 1921 in den schwierigen Zeiten von Krieg, Revolution und Gegenrevolution seine politische Prägung erfahren und sich zum politischen Denker entwickeln. Und er wird sein Verständnis vom Katholizismus und sein Verhältnis zur katholischen Kirche zu klären suchen. Eine wesentliche Quelle für diese Zeit sind die 2006 erstmals veröffentlichten Tagebücher: Die Militärzeit 1915 bis 1919 (TB II). Mehring formuliert ihre Bedeutung: „Das Tagebuch zeigt Schmitt am neuen Ort, in neuer Funktion und Tätigkeit. Wir lernen den Stabssoldaten in den prägenden Jahren seiner Absage an Boheme und Romantik und des Scheiterns seiner ersten Ehe genauer kennen. Man könne von einer formativen Phase oder auch Inkubationsjahren sprechen. Hier lebte Schmitt seine Neigung zur Boheme aus. Hier wurde er zu dem gegenrevolutionären Etatisten, den wir aus der Weimarer Zeit kennen“.258

Am 26. Februar beginnt für Schmitt mit der Einkleidung die „Hölle“ des Militärlebens: „Das Leben in der Kaserne, meine gänzliche Verunstaltung durch die Uniform, das Kommando der Unteroffiziere, alles erscheint mir als ein Traum, ein Spuk, eine Verzauberung, eine Hölle; Swedenborgs Hölle“ (TB II 23).259

257 (TB II 97). 258 Mehring 2006 b, S. 2 pdf). Siehe auch Mehring (2014, S. 4). 259 Gemeint ist die Schrift „Himmel und Hölle“ von Emanuel Swedenborg (1758), Schmitt bezieht sich auf den Dritten Teil: „Von der Hölle.“.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Schmitt bekommt gleich zu Beginn seiner Militärzeit die Gelegenheit, die in Der Wert des Staates idealisierte „Vernichtung des Einzelnen“ durch den Staat im Alltag der Militärverwaltung praktisch zu erfahren. Er reflektiert: „Wie wird der Weltkrieg ausgehen. Deutschland wird das Land der Gerechtigkeit, der Vernichtung des Einzelnen, es verwirklicht genau das, was ich in meinem Buch über den Staat als Ideal des Staates aufgestellt habe“ (TB II 24).

Aus dem Anti-Individualismus des Frühwerks, so Mehring, ist eine negative Utopie geworden260: „Sein Dienst beim Militär wird zur Strafe für die Überhöhung des Staates in seiner Schrift ‚Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen‘ und die extravagante Ehe mit einer vermeintlich adeligen Dame zum entwürdigenden Gefängnis des Minderprivilegierten“ (TB II E: 1).

Ende März 1915 holt Calker Carl Schmitt ins Stellvertretende Generalkommando. Er wird „Freigänger“, kann also die Kaserne verlassen und in seiner Wohnung schlafen, – und ist weit davon entfernt, im Krieg etwas Heroisches sehen zu können. Im Gegenteil, er fasst ihn als Unrecht auf und lehnt den Staatsdienst im Weltkrieg und damit seine Tätigkeit im Generalkommando grundsätzlich ab: „Ich war wahnsinnig vor Wut über die Preußen, den Militarismus, hätte die ostentativsten Befehlsverweigerungen begehen können. Wie scheußlich, als Individuum in einem solchen Gefängnis zu sitzen“ (TB II 77).

„Angst“ wird zum bestimmenden Thema dieser Tage: Angst vor dem Militär, vor der Nachmusterung, vor dem Sog des Preußentums, vor dem Staat, vor der Willkür, vor dem Militärregime. Die Teilnahme am Leben der Bohème bot kaum Ablenkung und war zudem wohl gering. Das Café Stefanie, der wichtigste Szenetreff, mied er, war es doch Treffpunkt der Anarchisten-Szene Münchens mit Mühsam, Gross261, Jung und anderen. Schmitt arbeitet in der Abteilung P 6 unter Hauptmann Christian Roth. Dabei lebt er in der ständigen Angst vor weiteren Musterungen und der damit verbundenen Gefahr, als frontdiensttauglich eingestuft zu werden. Am 7. September findet die Untersuchung in der Kaserne statt:

260 Mehring (2009, S. 77). 261 Zum Verhältnis Schmitt – Groß siehe die kurze Anmerkung bei Omiya (2008, S. 132).

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IV. München zum Zweiten.

„Felddiensttauglich; ein Prolet von Stabsarzt. Ich bin ein armer Tropf. Zerknickt und ziemlich trübselig zum Generalkommando“ (TB II 125).

Ab sofort begleitet Schmitt die Furcht, ins Feld geschickt zu werden, nur die Karriere im Generalkommando kann ihn davor bewahren. Im Büro hat er meist nichts zu tun und erschrickt doch „vor dem schauerlichen Mechanismus des täglichen Berufslebens“(s. TB II 64). Er verfasst Gutachten, wie über die Entwicklung des Belagerungszustandes, erteilt Passierscheine und andere Genehmigungen, zensiert Briefe und verfolgt beobachtend literarische Pazifistenkreise. Schmitts Krieg ist der Papierkrieg: „Jenseits allgemeiner Schmähungen des ‚Militarismus‘ finden sich keine politischen Bemerkungen. Der Frontverlauf existiert in diesen Aufzeichnungen nicht. Von den ‚Ideen von 1914‘ oder glühendem Nationalismus und Etatismus findet sich in den frühen Tagebüchern fast keine Spur“.262

Was Schmitt als „Gefängnis“ oder „Tretmühle“ wahrnimmt, erschließt sich dem Leser der Tagebücher so nicht. Schmitt – die meiste Zeit wohl nur vormittags im Büro – ist oft unterwegs, verabredet sich zum Essen und zum Kaffee und pflegt neben dem Privatleben seine kulturellen Interessen. Zur Linderung der chronischen Geldnot, verwendet er dienstliche Erkenntnisse für journalistische Beiträge, die pseudonym in der Hamburger Woche – sie gehört Eislers – erscheinen.263 Vom Generalkommando erhält er den Auftrag, einen Bericht über das Belagerungszustandsgesetz zu verfassen. Dieser wird unter dem Titel „Diktatur und Belagerungszustand“ veröffentlicht ein Erfolg: „Das Thema bahnt ihm den weiteren Weg. Die Diagnose einer Verschiebung der Gewaltenverhältnisse wird seine wichtigste verfassungspolitische Einsicht“.264

Außerdem findet er Zeit, Teile seiner Nordlicht-Studie im Büro zu verfassen (TB II E. 7). Ende April zieht Cari nach München, das Ehepaar Schmitt-Dorotic in eine gemeinsame Wohnung und das eheliche Zusammenleben veralltäglicht das Charisma der Liebe265, ja die Misshelligkeiten der Ehe bringen ihm Wahnsinn und Verzweiflung zurück (TB II E: 7).

262 263 264 265

Mehring (2006 b, S. 3 pdf). Siehe Mehring (2009, S. 81). Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

2. Antisemitische Gefühle und jüdische Freunde.266 Schon zu dieser Zeit ist bei Schmitt ein ständig bleibender Antisemitismus auszumachen, auch wenn er in seinen Schriften selbst erst ab 1933 hervortritt.267 Allerdings zeigen die Tagebücher eine vorhandene antisemitische Einstellung, die – siehe Ex Captivitate Salus (ECS) und Glossarium (GL) – eine lebenslängliche war. Schmitt attestierte sich selbst einen „jüdischen Komplex“. Diese Selbstdiagnose lässt sich vielleicht als inneren Kampf zwischen antisemitischen und philosemitischen Strebungen erklären.268 Denn u.a. durch die Tagebücher weiß man auch, wie teils eng er mit Juden befreundet war.269 Sein bester Freund, Fritz Eisler, war Jude, mit dem er die „Judenfrage“ wohl auch diskutierte.270 Biologistisch äußert sich Schmitt nicht271, strikt konfessionell und assimilatorisch aber auch nicht: „Auch ein getaufter Jude ist ihm ein Jude“.272 Schmitt habe im Rahmen seiner Politischen Theologie die jüdische Identität nicht zuletzt als „politischen Schicksalszusammenhang“ angesehen.

266 Zum Thema s. Gross (2005). 267 Mehring (2009, S. 82; nachst. S. 82 f.). Zur Thematik grundsätzlich s. Gross (2005) und hier insb. Kap. I 1: Die Juden in Schmitts Frühwerk (2005, S. 31 bis 41), mit n.u.E. nicht immer nachvollziehbarer „Beweisführung“. 268 Vgl. Mehring (2014, S. 4). 269 Zu nennen sind: Fritz und Georg Eisler, sein Verleger Ludwig Feuchtwanger, Jakob Taubes. Freundschaftliche Beziehungen unterhielt Schmitt auch zu dem Nationalökonomen Moritz Julius Bonn, dem Schriftsteller Hermann Broch, zu dem Juristen und Journalisten Waldemar Gurian. In engerem Kontakt stand er mit dem Berufskollegen, dem sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer Hermann Heller und dem Staatsrechtler Erwin Jakobi, den Juristen Albert Hensel und Gerhard Lassar, dem konservativen Juristen Erich Kaufmann und wichtigsten Gegenspieler dem Juristen und Rechtsphilosophen Hans Kelsen. Den späteren Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz schätzte Schmitt sehr, intellektuellen Austausch pflegte er mit Karl Löwith, Karl Mannheim und Walter Benjamin, nach dem Kriegt zu Francis Rosenstiel, Raymond Aron, Alexander Kojève. Zu seinen Schülern oder Bewunderern zählten Leo Strauss, Otto Kirchheimer und Franz Neumann. Die Aufzählung ist keineswegs erschöpfend. 270 Mehring (2015, S. 82; nachst. s. ebd.). 271 Vgl. aber Gross (2005, S. 127). 272 Mehring (2009, S. 82).

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IV. München zum Zweiten.

„Vor 1918 denkt er über diese Fragen aber noch nicht starr, reflektiert auf das Judentum weniger in der Absicht auf antisemitische Trennung als auf Selbstidentifikation seines problematischen Charakters“.273

Schmitt sehe vielmehr, so Mehring, im Judentum seine „eigne Frage als Gestalt“: „Sehr wichtig ist ihm dabei der soziale Ehrgeiz und die psychische Disposition, sich mit den Augen der Anderen zu sehen und vom Urteil der Anderen abhängig zu machen. Diese Einstellung ist ihm zutiefst verhasst“.274

Er empfindet sich als Prolet, rätselt über seinen problematischen Charakter, empfindet selbstinquisatorisch den „Instinkt sich zu ducken und sich zu strecken, wie es kommt“, und was er an sich entdeckt, „rechnet er immer wieder Richard Wagner und dem Judentum zu, die ‚Abhängigkeit von der Meinung anderer“ (s. TB II 124 u. 173).275 „Braucht immer fremde Menschen (Richard Wagner wartete immer nach seinem Tagebuch auf Briefe und Zeitungen!), frisst sie, untersucht sie auf ihre Nützlichkeit, beutet sie aus, geschickt, heuchlerisch, verlogen, läßt sie kaltblütig sitzen; all sein Tun ist für die Sekunde, was er gerade braucht“ TB II 124).

Den Prior des modernen, postchristlichen Antisemitismus, Richard Wagner, parodiert er seinerseits als einen „Juden“ (TB II 115): „Man sollte über Wagner weder schimpfen, noch sollte man ihn loben, sondern ganz allgemein als eine rein interne jüdische Angelegenheit behandeln“ (TB II 164).

Ein geistiges Deutschland ohne Juden aber erschreckt ihn (s. TB II 178). So analysiert Mehring: „Viel Literatur steckt in diesem Antisemitismus. Schmitt vertritt ihn als Spiegelgefecht in der literarischen Tradition Heines, Wagners, Nietzsches und Weiningers. Er findet für seine antisemitischen Affekte keine klare Deutung. Sie speisen sich nicht zuletzt aus dem Ressentiment gegenüber seiner Herkunft, unter der der Aufsteiger ständig leidet. Die wilde Melange von philosemitischen und antisemitischen Affekten, Diskrepanz zwischen persönlicher Freundschaft und abstraktem und diffusen Antisemitismus vermag Schmitt kaum zu thematisieren, geschweige denn zu lösen“.276

273 274 275 276

Mehring (2015, S. 83). Ebd. Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Schmitt sei deshalb in den Katholizismus geflüchtet, fährt Mehring fort, aber schon durch sein Tagebuchschreiben habe er allmählich Distanz von seinen Leiden erlangt: „Das Psychogramm der Wirrnis endet vorerst in einer reflexiven Objektivation der eigenen Lage und Problematik: in der Romantikkritik“.277

3. Erster Weltkrieg und die Bohème Münchens. Am 30. November 1926 zeichnete Thomas Mann ein Bild des kulturellen Niedergangs seit Beginn des Jahrhunderts, als München noch das Zentrum der künstlerischen Avantgarde war: „Erinnern wir uns, wie es in München war vorzeiten, an seine Atmosphäre, die sich von der Berlins so charakteristisch unterschied! Es war eine Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus, der Maskenfreiheit sozusagen; eine Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum (…). Hier genoß man eine heitere Humanität, während die harte Luft der Weltstadt im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte“.278

Für Mann hat der kulturelle Niedergang Münchens dieses Verhältnis nahezu umgedreht: „Wir mußten es erleben, daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mußten hören, daß man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte“.279

Carl Schmitt hatte 1908 die Stadt München ein kurzes Sommersemester lang kennengelernt280, in seiner Glanzzeit als Kunststadt, „als Schwabing das Zentrum der künstlerischen Avantgarde war, ein jedem Genie und jedem Verrückten offenstehendes Experimentierfeld der Kunst und des Lebens“.281

277 Ebd. 278 Aus dem Vortrag von Thomas Mann der von der Deutschen Demokratischen Partei veranstalteten Kundgebung „Kampf um München als Kulturzentrum“ am 30. November 1926, hier zit. nach Görl (2014). 279 Ebd. 280 Mehring (2009, S. 25). 281 Görl (2014).

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IV. München zum Zweiten.

München war neben Berlin und Wien ein Zentrum der kulturellen Moderne und damit des neuen Subjektivismus, dessen Manifestationen man sich, so Breuer, nicht heterogen genug vorstellen könne: „Avantgardistisch ging es vor allem in der Malerei zu, wo sich zunächst die Neue Künstlervereinigung München mit Kandinsky, Jawlensky, Münter, Marc und Kubin, später der ‚Blaue Reiter‘ der radikalen Moderne verschrieben hatten“.282

Im Kreis der Literaten ragten die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann heraus, daneben wirkten Frank Wedekind und andere moderate Moderne, aber auch die Lyriker Stefan George und Rainer Maria Rilke, auch wenn sie nicht ständig anwesend waren. Als Verleger wären zu nennen Georg Müller, der – sicher ein Wagnis – Däublers Nordlicht herausbrachte und später auch Schmitts Nordlicht-Studie, Albert Langen und Reinhard Piper, der Moeller van den Brucks Dostojewskij-Ausgabe verlegte. Auch an Literaten- und Malertreffs sowie an Szene-Cafés und Gaststätten bot München eine vielzählige und bunte Palette, in der auch Schmitt verkehrte.283 Darüber hinaus führten die Bechsteins, Bruckmanns und Schnitzlers großbürgerliche Salons, „in denen sich die Crème de la Crème des Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsbetriebs die Klinke in die Hand gab“.284 Natürlich leuchtete die Kunststadt München zu Kriegszeiten nicht mehr so hell wie vor 1914, aber auch während des Krieges war es die Hauptstadt der Bohème und selbst der „Krieg entflammte neue künstlerische Energien“. 285 Schon bald nach seiner Ankunft kontaktiert Schmitt Freunde und Verwandte Theodor Däublers, die ihn in den Kreis um die Maler Otto Th. W. Stein, Willi Nowak und Hugo Troendle einführen (TB II E. 6). Außerdem ist der Literat Schmitt „ein ausgewiesener Kenner der Szene, der etwas zu sagen hat“.286 Die täglichen Mittags- und Abendtische – Cari kocht nicht – mit Kollegen287 und über den Th. W. Stein-Kreis hinaus mit dem Maler Walter Einbeck, den Kunstmäzen Albert Kollmann und dem Museumskurator Dr. Hans Rupé, der Schriftstellerin Alice Berend und an-

282 Breuer (1912, S. 23; nachst. s. ebd.). 283 Siehe (TB II 536 f.). Zu München selbst s. schön Gunna Wendt: Münchner Boheme im Kaffeehaus. Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek. (www.literaturportal-bayern.de). 284 Breuer (2010, S. 23). 285 Mehring (2009, S. 83). 286 Ebd. S. 84. 287 Dr. Georg von Schnitzler, Baron von Freyberg, Dr. Alexander Münch.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

deren aus der Schwabinger Bohème bringen ebenso Ausgleich vom leidigen Ehealltag wie Opern-, Theater- und Ausstellungsbesuche (TB II E. 8). Allerdings verändert sich sein Verhältnis zu diesen Kreisen wegen seiner Aufgaben im Generalkommando, zu denen auch die Observation bestimmter Schriftsteller und Künstlerkreise gehört und Schmitt so zu einem doppelten Spiel getrieben wird: „Er schaut den Literatenkreisen in die Eingeweide der Korrespondenz und schämt sich dessen“.288

Der Kontakt mit Däubler bleibt eng, schon wegen dessen in München lebender Verwandtschaft. Ab Juni schreibt Schmitt seine Nordlicht-Studie im Juli in zehn Tagen fertig und schickt das Manuskript auch dem Münchner Verleger Georg Müller mit positivem Ergebnis. Am 15. Oktober kommt Däubler mit seiner Geliebten und Mäzenin Ina Bienert für mehrere Wochen nach München. Sie gehen für Schmitt mit der vollkommenen Entzauberung Däublers einher (s. TB II 142-155)289, und Schmitt denkt sogar daran, die Studie zurückzuziehen, weil Schmitt sich als Reklametrommel missbraucht fühlt: „Frau Bienert und Däubler honorieren aber die Schrift. Sie qualifiziert zwar nicht den Staatsrechtler, schließt aber eine längere Auseinandersetzung ab und verstärkt die Kontakte in Literaturkreise“.290

Das Däubler-Fiasko wird für Schmitt noch aus einem anderen Grund bedeutsam. Es löste den Impuls aus, „hinsichtlich der Aufhebung der Entzweiung nicht länger auf Kunst, Mythos oder Glauben zu vertrauen, sondern stärkere Mächte ausfindig zu machen, die auch eine institutionelle Basis besaßen“.291

Da Schmitts sehr reservierte Haltung – Der Wert des Staates hin oder her – gegenüber dem kriegführenden Staat und seiner drohenden Einberufung nach wie vor bedrückend existent war, rückte die Kirche wieder stärker in sein Blickfeld, von der er durch sein katholisches Herkunftsmilieu geprägt war.292

288 289 290 291 292

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Mehring (2009, S. 84). Siehe Breuer (2012, S. 32). Ebd. Ebd.. Siehe hier: Zweiter Teil.

IV. München zum Zweiten.

Das unveröffentlichte Nordlicht-Essay des Jahres 1912 geht in die schmale Nordlicht-Schrift ein. Neu an Schmitts Däubler-Interpretation sollten drei Akzente werden. Schmitt arbeitet stärker die zeitkritischen Züge des Nordland-Epos heraus, die sich gegen bestimmende Merkmale der Moderne richteten. Zweitens, betont er die Momente, die das Nordlicht von einem gnostischen Fundamentalismus abheben und die Welt im Ganzen zu einem Werk des Teufels erklären, und drittens, stellte er das Nordlicht konsequent in die Tradition der Romantik und damit in die Ästhetik.293

293 Siehe Breuer (2009, S. 26 ff.).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916). „Drei Studien über „die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes“.294

„Ihr Heuchler, die Gestalt des Himmels und der Erde könnt ihr prüfen, wie prüfet ihr aber diese Zeit nicht? Lukas 12, 56

I. Theodor Däublers „Nordlicht“. Die mangelnde Aufmerksamkeit, die Carl Schmitts Schrift Nordlicht295 zunächst fand und wohl noch findet, steht in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung für sein Werk. In expressionistischer Diktion entwickelt sie eine Kritik der Moderne, die – erstmals grundgelegt – Schmitts Werk als ein Leitmotiv durchziehen wird. Ellen Kennedy attestiert Schmitt, dem Grenzgänger zwischen Recht und Politik296, er sei der Einzige gewesen, der die Rechtswissenschaft als Teil einer größeren geistigen Bewegung, begriffen habe. Über Däubler sei er sich der Kulturproblematik seiner Zeit – für den jungen Schmitt einer „Offenbarung“297 gleich – bewusst geworden und mehr noch: „Ohne das Buch über Däubler hätten weder ‚Politische Romantik‘ noch ‚Die Diktatur‘ noch ‚Politische Theologie‘ geschrieben werden können“.298

Die These Kennedys, die Nordlicht-Abhandlung sei zugleich Schmitts „eigene Kritik der Zeit“ gewesen,299 die ihn auf den Weg zu einem „politi-

294 Gewidmet ist die Studie seinem gefallenen Studienkollegen und Freund: „Im Andenken an Fritz Eisler“. 295 Sigle = N. 296 Neumann (1985, S. 304-306). 297 Kennedy (1988, S. 241). 298 Ebd. 299 Siehe Motschenbacher (2000, S 29). Linjiing Jiang argumentiert ähnlich: „Dennoch bleiben Schmitts große Faszination und hohe Wertschätzung an dessen

118

I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

schen Staatsrechtslehrer“ gebracht habe, ist treffend.300 Noch kurz vor seinem Tod postulierte Schmitt gegenüber Nicolaus Sombart: „Kein Mensch darf über mich schreiben, der mein ‚Nordlicht‘-Buch nicht gelesen hat“.301 Ein verständliches Postulat, da Schmitt in diesem Triptychon seine Weltanschauung vor allem im zweiten Kapitel grundgelegt hat. In diesem bestimmt er die abendländische Metaphysik als Glauben an den „Geist“ (N 49), den er im ersten Teil gegen den alten Orient und im dritten Teil gegen die Gegenwart abgrenzt.302 Bereits im ersten Teil stimmt Schmitt Metaphysisches an: „Was interessiert ist der Geist der Menschheit und das Schicksal des Sterns, der diese Menschheit trägt, kein Problem irgendeines Einzelnen, etwa eines Künstlers oder stud. phil. oder Ingenieurs, der ‚sich‘ findet oder zu seiner ‚Persönlichkeit‘ durchringt“ (N 38)303.

Das Essay verdeutlicht die Kulturkritik wie auch die Zeitdiagnose und Zeitkritik Schmitts anhand der Interpretation eines Versepos. 1. Historische und ästhetische Elemente. Nach der Art des Denkens und Betrachtens, so Schmitt, gehöre die Nordlicht-Dichtung in die Nachklassik, inhaltlich in die Romantik, ansonsten zeige sie „ungewöhnliche Traditionslosigkeit und Originalität“ (N 17). Schmitt deklariert Däubler so als unvergleichbar, als eine ganz aus dem Rahmen fallende Erscheinung. Seine Dichtung stehe in der Nachfolge von Hegel, Schelling und des „jungen, noch nicht reflektierten Schiller“ (ebd.). Aber auch die Zeit der mittelalterlichen Mystik lebe in Däublers Werk, wie sie in den nachfolgenden Versen zum Ausdruck gelange: „Erblicke ich die eigenstillen Dinge, So bin ich nimmer ein Gemüt auf Erden, Sondern der Geist, als der ich uns durchdringe. So bin ich alle, die noch kommen werden!

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Dichtung bestehen, er findet in Däublers Nordlicht eine Wurzel seines eigenen Denkens“ Jiang (2013, S. 37, Herv. im Original.) Vgl. ebd. Sombart (1991, S. 123). Vgl. Mehring (1989, S. 42 f.). Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

Die Dichter und Erdichteten der Tiefen: So bin ich Pan und auch der Schreck der Herden. Virgil und alle Wiesen, die ihn riefen.“304

In der Persönlichkeit Däublers sieht Schmitt die ganze Kultur und die ganze Schönheit der Mittelmeerländer aufgenommen und er schreibt ihm weiterhin zu, er sei „vielleicht der erste, in dem die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist“ (N 18). Weiter schwärmt Schmitt von Däublers Sprachgewalt, der Musikalität der Sprache, dem Reichtum an Metaphern und Bildern und empfindet es als „höchst bemerkenswert (…)“, „daß auch in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedanken entstehen, wo die Sprachgewalt nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt“ (N 44/45).

Der Gnostiker Däubler wird von Schmitt gänzlich als Lyriker und nicht als ein philosophischer, gelehrter Dichter verstanden, denn er lasse die Dinge mit ihrem Eigenwert für sich selbst sprechen,305 auch weil er glaube, dass jedes Ding einen Geist besitzt.306 Die Sprache in der Däubler dies tut – „von den Lesern allgemein als ungenießbar bewertet“307 – ist ebenso wenig jedermanns Sache, wie die ungeheure Dimension dieses Epos mit über 30.000 Versen auf ca. 1.200 Seiten. Selbst der Bewunderer Schmitt erklärt mit Däublers Sprachstil, „daß ihm heute viele fernbleiben“ (N. 40).308 Auch „Banalitäten“, „sprachliche Härten“ und „Geschmacklosigkeiten“ (ebd.) gesteht Schmitt zu (vgl. N 40 f.), schränkt aber umgehend ein, dass sich das Werk Däublers derartiger Kategorisierung entziehe, habe doch „Däubler überhaupt kein Verhältnis zu einem Publikum“ (N 41). Und schon gar nicht, darf man ergänzen, zu der anspruchsloseren, „nur“ Unterhaltungsliteratur kon-

304 305 306 307 308

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Däubler „Das Nordlicht“, Zweiter Teil: Der Ararat speit! Der Ausbruch, S. 520. Jiang (2013, S. 40). Ebd. S. 44. Ebd. „Von allen“ sicher nicht, aber durchaus von vielen. Ulrich Klappstein („Nordlichter“) kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung der Lesergemeinde Arno Schmidts und auch der Schmidt-Forschung bei der Beschäftigung mit Däubler und seinem Werk dürfte in der Einschätzung Däublers als sperrigem Autor zu suchen sein: seine Lyrik gilt als schwierig und findet deshalb heutzutage nicht mehr viele Leser“ (Klappstein 2012, S. 9).

I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

sumierenden Masse der Leser.309 Jedenfalls habe der „bildnerische Drang im ‚Nordlicht‘ (…) die Umschaffung der Sprache zu einem rein künstlerischen Mittel“ geleistet (N 40). Was Schmitt auch für Richard Wagner gelten lässt, der in der Theorie die Dichtung über die Musik gestellt habe. Beide gingen gewaltsam310 mit der Sprache um. Wagner untermalte und verstärkte seine Verse mit dem fremden Mittel der Musik, Däubler hingegen „holt vielmehr alles, Farbe, Klang, inhaltliche Beziehung, aus der immanenten Fülle der Sprache heraus. Oft löst er sie vollständig in Klangwerte auf, neben denen der Inhalt nur adminikulierend in Betracht kommt. Die absolute Musik der Sprache, die Farben der Vokale und Konsonanten wirken sich selbst das lebendige Kleid dichterischer Schönheit“ (N 42).

Mit seiner eigenartigen Art zu dichten311 − „vom Erlebten in ein Bild und vom Bild in Dichtung“312 – verfolge Däubler das Ziel, die Alltagssprache zu überwinden, die von dem Zweck beherrscht sei, zwischenmenschliche Kommunikation zu ermöglichen. Gerade diese utilitaristische Absicht sei es, die die Alltagssprache hässlich mache und bewirke, dass sich mit ihr – im Gegensatz zur Musik – kein Mythos dichten lasse, „nicht einmal ein schönes Gedicht; es wird entweder Banalität oder eine kunstgewerbliche Leistung“ (N 43). Däubler lässt für Schmitt deshalb den Naturalismus der Sprache hinter sich – so wie er überhaupt das naturwissenschaftliche Wirklichkeitsverständnis überwinden will313 – und erhebt sie zum rein ästhetischen Mittel, ohne Rücksicht auf ihre umgangssprachliche Kommunikationsfähigkeit (vgl. ebd.), ein Faktum, das die Vorwürfe der Sperrigkeit im Sinne einer Nichtverstehbarkeit von Däublers Sprache ein Stück weit plausibler macht. Im Glossarium314 wird Schmitt später die Botschaft Däublers als „die Auflösung alles Gegenständlichen im Klang des Gedichts“315 interpretieren:

309 Vgl. Jiang (2013, S. 40). 310 Wobei für Däubler gelte: „Aber seine Gewaltsamkeit ist nur vollkommene Hingabe“ (N 47). 311 Darauf ist im Rahmen dieser Arbeit ebenso wenig näher einzugehen (s. dazu Jiang 2013, S. 43-48) wie auf die Frage des dichterischen Rangs Däublers. 312 Jiang (2013, S. 44). Siehe auch Nienhaus (1996, S. 88). 313 Vgl. Werner (1996, S. 59). 314 Sigle: GL. 315 Nienhaus (1996, S. 92).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Däubler: die Dinglichkeit ist tot; das Wort erfüllt den Raum! Nein, der Ton erfüllt die Räume, hebt sie sogar auf. Das ‚Nordlicht‘ Däublers ist nicht Wort, sondern Ton, ist Tonalität“ (GL 89).

Noch aber ist in der Nordlicht-Schrift die Sprache das wirkmächtigste und einzige Mittel des Dichters und, so verstehen wir Schmitt, er bedarf offenbar auch keines anderen, denn der Reichtum der künstlerischen Elemente ist in der Sprache bereits vorhanden.316 Bei Däubler konstatiert Schmitt, „daß auch in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedanken entstehen, wo die Sprache nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt“ (N 44/45).

Jiang hebt die besondere Bedeutung des Begriffs der „Demut“ für den Literaturkritiker Schmitt hervor. Sie sei der Schlüssel für die Größe Däublers wie auch für die Shakespears. Bei beiden sehe Schmitt den Glauben an die Offenbarung, d.i. der „Glauben an die von Gott geschenkte Sprache und den Glauben an die von Gott zugelassene Geschichte“:317 „In gläubigem Schauen wird die Welt erkannt. Bei einem Künstler, dessen Wesen Intuition ist, kann es nicht anders sein. Soviel die schöne Form bedeutet, soviel an ihr bewußt erarbeitet werden kann, das Wesentliche ist Offenbarung, Geschenk, Gnade. Der Dichter ist nur die Feder eines Andern, der schreibt, eine ‚Adlerfeder‘, ein Werkzeug. Er vollzieht, was ihm befohlen“ (N 55).

Diese dichterische Demut unterscheide sich vom Romantiker, der sich als auserwähltes Werkzeug eines Höheren fühle, als ein freidenkender, genialischer, intellektueller Künstler, der sich in einer Gesellschaft bewegt, die es dem privaten Individuum überlässt, „sein eigener Priester zu sein, aber nicht nur das, sondern, wegen der zentralen Bedeutung und Konsequenz des Religiösen, infolgedessen auch der eigene Dichter (…)“ (PR 26).

316 „Für den, der im Ernst alle künstlerische Wirkung aus der Sprache herausholen will, werden Assonanzen, Reime, Alliterationen das Ein und Alles, der Ausdruck ihrer wesentlichen Schönheit, eine herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels“ (N 47). 317 Jiang (2013, S. 43).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

2. Zur Kritik der Moderne. 2.1. Zu Inhalt und Interpretationsansatz von Däublers „Nordlicht. In seinem Vorwort zur Genfer Ausgabe seines Nordlicht-Epos von 1921 stellt Däubler den Inhalt desselben als seine eigene „Privatkosmologie“, als seine persönliche mythologische Deutung von der Entstehung und Entwicklung der Welt vor. Das Nordlicht-Symbol, so Jiang, verkörpere „eine innerseelische Erscheinung des Daseinszustandes“318, dessen „seelischgeistige“319 Aneignung die Menschheit der Moderne auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung hebt: „Angeregt von diesen Seelenregungen beginnt der Mensch allmählich das Denken zu ergreifen“.320 Und weiter: „Diese Kraft des Denkens führt den Menschen über eine Schwelle, die in kosmische Bereiche hineinführt“.321

Für Däubler überschreitet der bewusste Mensch die Schwelle, die die Erdenwelt von der kosmischen trennt. So beginnt denn auch das Vers-Epos mit folgenden Zeilen: „Es sind die Sonnen und Planeten alle, Die hehren Lebensspender in der Welt, Die Liebeslichter in der Tempelhalle, Der Gottheit, die sie aus dem Herzen schwellt.“

Das Nordlicht, so leitet Schmitt den ersten Teil seines Essays ein, das am Pol aus dem Innersten der Erde ausströme, sei ein Symbol: „Es ist also gesiebtes Sonnenlicht und das Eigenlicht der Erde“ (N 11/12). In Däublers Versepos herrsche ein „romantischer Deutungsdrang“ und insbesondere die Figur der Ellipse als räumliches, aus dem Bereich der bildenden Kunst entstandenes Ordnungsprinzip322, sei Gegenstand zahlreicher Reflexionen bei Däubler (N 16). Die Figur der Ellipse, die bekanntlich auch den Lauf der Planeten beschreibt, finde sich als die „Grundhieroglyphe der Schöpfung“ (N 12/13) nahezu überall wieder. Das Auseinanderstehen ihrer beiden Brennpunkte drücke den „allgemeinen Dualismus der sichtbaren Welt“ aus. Ihr Bestreben aber, das Zentrum des göttlichen Kreises zurück-

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Jiang (2013, S. 48); inneres Zitat Falck-Ytter (1996, S. 53.) Falck-Ytter (1996, S. 53.) Ebd. S. 54. Ebd. Nienhaus (1996, S. 88).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

zuerobern, „ist die Erklärung für alles Leben“ (N 13).323 So kartographiert sich die elliptische Form auch in den Wanderungen des „Ich“ im ersten Teil des Werkes: „Mittelmeer“, von Venedig nach Neapel, von Rom nach Florenz und Venedig, „um so die Linie der Gedanken und Träume zu einer schönen Schleife zu machen“ (N 16). Am Ende jedes Entwicklungsfortschritts stürzt die Menschheit aber in den Schlund des Ararat und jedes Mal speit sie dieser auf ihrem Weg zu ihrer historischen Bestimmung, der „Erdvergeistigung“,324,wieder aus, bis zur Nacht des Tartarus, nach der das Nordlicht erscheint (N 67, Anm. 1). Nach „schaurigen Kämpfen“ erreicht das Volk das „Nordlicht“ und es „wird der ‚Geist‘ gewonnen, der Same der Erde und ihrer Menschheit“ (N 49). Dieser Weg nach Norden gleicht einem „Zum-Geist-Kommen der Menschheit als alternatives Ziel“325, an dem die Offenbarung der geistigen Rettung der Menschheit steht, wobei der Weg dorthin nicht nur ein christlicher sein kann.326; „Aber der Erfolg ist eine neue Erde. Das Ende ist weder ein Totentanz noch eine Gerichtsszene; die Verklärung liegt im Geist. Die Erde ist vollendet, weil sie ein leuchtender Stern geworden ist; die Menschheit ist vollendet, weil sie den Geist errungen hat. Beides ist Eins, getreu der erdentreuen Gesinnung, die das große Gedicht trägt“ (N 49).

Jedoch mache Däublers Nordlicht-Epos keinen sozialen Anspruch geltend und seine Weltbetrachtung sei keine kritische, analytische, psychologische und keine polemische, es negiere aber das mechanistische Zeitalter und den Materialismus der modernen Zivilisation in Gänze. Ohne dadurch ins politisch-polemische oder in eine Zeitkritik nach Rathenau abzugleiten, biete es geistige Zuflucht vor Utilitarismus und Materialismus und kompensiere so als ein „Buch des Aeons“ das „Zeitalter der Geistlosigkeit“ (N 64 f.):327 „Es bedeutet die in einem großen Kunstwerk inkarnierte Polarität einer geistund kunstlosen Welt. Es trägt in sich das ganze Gewicht des geistigen Ausgleichs einer Welt, die der Geist verließ“ (N 65).

323 Schmitt hatte Rathenau bereits am 12. April 1912 per Brief auf Däublers Nordlicht-Epos hingewiesen, Rathenau hatte geantwortet, woraufhin sich Schmitt in einem zweiten Schreiben näher vorstellte (s. dazu Mehring 2009, S. 45 f.). 324 Siehe Motschenbacher (2000, S. 31). 325 Nienhaus (1996, S. 90). 326 Vgl. ebd. 327 Vgl. Jiang (2013, S. 48 f.).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

Hier, so Schmitt, zeige sich auch die Aktualität des Werkes, die auf dem Verhältnis zum innersten Wesen der Zeit beruhe, und dessen großartige Verneinung dieses Werk ist“, (ebd.). Es sei, so Jiang, „die Verneinung der Verneinung der Transzendenz“328. Im Gegensatz dazu fehlt der Zeitkritik der Skeptiker, der direkte Gegenpol zur Geistlosigkeit einer gottlosen Welt, weshalb sie in der bloßen Verneinung des Hier und Jetzt gefangen bleibe; der Weg zu einer Problemlösung ist so verstellt. Deshalb verliert sich der moderne Skeptizismus – der Romantik ähnlich – alibiheischend in endlosen Diskussionen, nur um der Erfordernis der Dezision zu entgehen.329 Bei aller zeitlosen Aktualität erkennt Schmitt gleichwohl Abschnitte im Nordlicht, die – wenn auch von „nebensächlichem Interesse“ (N 66) – ein „deutlich kritisches Bewußtsein der Gegenwart“ (ebd.) zeichnen, dann aber „ergreifender als ein kritischer Historiker das vermochte. Es durchschaut die Gegenwart mit der intuitiven Klarheit einer hellsehenden Vision“ (ebd.) und macht es zu einem wertvollen Element für das Verständnis der Moderne. 2.2. Rathenaus „Zur Kritik der Zeit“. Carl Schmitts Kritik der Moderne setzt mit der Rezeption von Walther Rathenaus Buch Zur Kritik der Zeit ein, das er im Jahr des Erscheinens (1912) in der Zeitschrift Rheinlande auch rezensiert hat.330 Rathenau, der im öffentlichen Leben stehende, politisch ambitionierte Topmanager, Macher und Literat, erregte als „Ingenieur und Industriekapitän zugleich als Gesellschaftskritiker und Philosoph“331 aufsehenerregende Resonanz.332 Rathenau wollte nichts weniger, als Ursprung und Weg des technisch-industriellen Zeitalters geschichtsphilosophisch in kritischer Absicht zu analysieren. Damit traf er auf eine Zeitstimmung,

328 Ebd. S. 50. 329 Vgl. ebd. 330 Das Buch Rathenaus erlebte im Erscheinungsjahr sieben Auflagen und mehr als fünfzig Rezensionen, bis 1925 achtundzwanzig Auflagen (Heimböckel 1996, S. 182 f.). 331 Stefan Zweig 1912, hier zit. nach Heimböckel (1996, S. 183). 332 Vgl. ebd.

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„die auf dem allgemein verbreiteten Gefühl gründete, der Gleichförmigkeit des Daseins hoffnungslos ausgeliefert und nur noch Rad im Getriebe einer von Industrie und Technik beherrschten Weltmaschinerie zu sein“.333

Als Ursache des technizistischen Zeitalters sah er nicht den Kapitalismus, sondern die Bevölkerungsexplosion. Wirtschaftstheoretisch formulierte er deshalb, dass eine Gesamtwirtschaft bei geringer Bevölkerungszahl ebenso undenkbar sei, wie eine Einzelwirtschaft bei großer Bevölkerungsdichte:334 „Gesamtwirtschaft muß daher mit Naturnotwendigkeit eintreten, sobald eine gewisse Verdichtung stattgefunden hat“.335 Als Erklärung bietet Rathenau seine „spekulative und rassentheoretisch durchsetzte Zweischichten- und Umschichtungstheorie“, die schon zu seiner Zeit als sehr befremdlich angesehen wurde.336 In seiner Rezension kritisierte Schmitt heftig, dass offen bleibe, von welcher Warte aus Rathenau seine Kritik bestreitet, etwa von einem historischen, soziologischen, wissenschaftlichen oder religiösen Standpunkt aus. Er hingegen gehe von der Fundamentalvorstellung einer mystischtranszendenten Seele aus,337 eine Wertzumessung, die ja gerade vermieden werden sollte338: „Wer aber ‚Seele‘ gegen die ‚Zeit‘ aufbietet, lastet sich ein stärkeres Begründungspensum auf. Schmitt entzieht Rathenaus Fundmentalkritik so den Boden (…)“.339

Methodologisch kritisiert Schmitt das Fehlen eines leitenden Wertgesichtspunkts und damit der Wissenschaftlichkeit bei Rathenau, seine pessimistische Zeitsicht aber teilt er.340

333 Ebd.(S. 184). 334 „Einzelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nachbarlosigkeit. Gesamtwirtschaft bedeutet enge Berührung, Zusammenschluß. Einzelwirtschaft kann nur aus dem vollen schöpfen (…). Gesamtwirtschaft lebt von Ersparnis; Ersparnis an Zeit, Kraft. Material, Lagerverlust, Reibungsverlust“ (Rathenau 1912, S. 24). 335 Ebd. 336 Heimböckel (1995, S. 185). 337 Siehe dazu auch (N 63): „Ein kluger Kritiker der Zeit fand den Gegensatz von Mechanik und Seele.“ Der „kluge Kritiker“ ist Rathenau. 338 Vgl. Mehring (1989, S. 41 f.). 339 Mehring (2009, S. 46/47). 340 Mehring (1989, S. 42).

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2.3. Schmitts Kritik der Moderne im „Nordlicht“. Die geschichtliche Entwicklung von der Reformation und der Renaissance über die Aufklärung und die Französische Revolution markieren für Schmitt den Zerfall der mittelalterlichen Ordnung durch die Spaltung des einen341 Glaubens und in der Folge als eine zerstörerische Entwertung der „wichtigsten und letzten Dinge“342. Zentral für seinen Begriff der Moderne ist die Herausbildung des modernen Staates in Europa. In Der Begriff des Politischen benennt er die Moderne vom 16. bis zum 19. Jahrhundert als die „Epoche der europäischen Staatlichkeit“(BP 17), die ein europäisches Völkerrecht – jus publicum Europaeum – nach sich gezogen habe. 343 Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem universellen Individualismus im 19. Jahrhundert und mit ihrer Antistaatlichkeit, habe dann die Auflösung des Staates nach den Begriffen Schmitts eingeleitet. Analog universalisierte sich auch das europäische Völkerrecht.344 „Die Menschen sind arme Teufel geworden, sie wissen alles und glauben nichts“ (N 60) – in einem Zeitalter, das „sich selbst als das kapitalistische, mechanistische, relativistische bezeichnet, als das Zeitalter des Verkehrs, der Technik der Organisation. In der Tat scheint der ‚Betrieb‘345 ihm die Signatur zu geben, der Betrieb als das großartig funktionierende Mittel zu irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck, (…) der Betrieb, der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht einmal fühlt (…) (N 59).

Schmitt eröffnet mit einem wahren Feuerwerk der Zeitkritik: „Sie interessieren sich für alles und begeistern sich für nichts. Sie verstehen alles, ihre Gelehrten registrieren in der Geschichte, in der Natur, in der eigenen Seele. Sie sind Menschenkenner, Psychologen und Soziologen und schreiben schließlich eine Soziologie der Soziologie. Wo irgendetwas nicht ganz glatt sich entwickelt, weiß eine scharfsinnige und flinke Analyse oder eine zweckmäßige Organisation den Mißstand zu beheben. Selbst die Armen dieser Zeit, die Menge Elender, die nichts ist, als ‚ein Schatten, ‚der zur Arbeit hinkt‘, Millionen, die sich nach der Freiheit sehnen, erweisen sich als Kinder dieses Geistes, der alles auf die Formel seines Bewußtseins bringt und keine Geheimnisse und keinen Überschwang der Seele gelten läßt. Sie wollen

341 342 343 344 345

Herv. w.a.m. Vgl. Motschenbacher (2000, S. 30). Zur Europazentriertheit der Moderne siehe Heuer (2010). Ebd. S. 47. Die Wahrnehmung der Moderne als „Betrieb“ ist ein offensichtlicher Bezug auf Max Weber (siehe dazu später Politische Theologie).

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den Himmel auf der Erde, den Himmel als Ergebnis von Handel und Industrie, der tatsächlich hier auf der Erde liegen soll, in Berlin, Paris und New York, einen Himmel mit Badeeinrichtungen, Automobilen und Klubsesseln, dessen heiliges Buch der Fahrplan wäre. Sie wollen keinen Gott der Liebe und Gnade, sie hatten so viel Erstaunliches ‚gemacht‘, warum sollten sie nicht den Turmbau eines irdischen Himmels ‚machen‘. Die wichtigsten und letzten Dinge waren ja schon säkularisiert. Das Recht war zur Macht geworden, Treue zur Berechenbarkeit, Wahrheit zur allgemein anerkannten Richtigkeit, Schönheit zum guten Geschmack, das Christentum zu einer pazifistischen Organisation. Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen. An die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit“ (N 60/61).

Wir haben so ausführlich zitiert, weil in dieser zentralen Stelle des Nordlicht-Essays die wichtigsten Kritikpunkte aus der Weltsicht Schmitts verdichtet wiedergegeben sind. Die Welt tritt als ein durchorganisierter Betrieb auf, der nur scheinbar mit seiner Technizität zu einem Himmel auf Erden verhelfen kann und nur vorgeblich Freiheit bringt. Das irdische Paradies, das einem kapitalistischen Wirtschaftssystems aus Handel und Industrie entwachsen soll, bringt nur einem kleinen Teil der Menschen Freiheit, denen die große „Menge Elender und Unfreier“ gegenübersteht. Alles scheint technisch machbar, weshalb in fataler Konsequenz jedes Problem nur unter technischen Aspekten untersucht wird und der Glauben durch ein nur vermeintliches Wissen abgelöst ist. Das „heilige Buch“ ist zum Fahrplan als dem Inbegriff technischer Präzision und Vorausberechnung mutiert und es herrscht der Glaube an einen – diesmal erfolgreichen zweiten – „Turmbau eines irdischen Himmels“. Motschenbacher hat recht, wenn er diese Gemengelage gerade auch unter den Aspekt der „Säkularisierung“ subsumiert sieht.346 Dieses Gefühl des haltlosen Ausgeliefertseins in einer monströs technisierten Welt hat Hugo Ball, der 1924 die erste Abhandlung über die Schriften Schmitts verfassen wird − Carl Schmitts politische Theologie347 – 1917 so beschrieben: „Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. (…) Die Welt zeigt sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. (…) Maschinen entstanden und traten anstelle der Indi-

346 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 30). 347 Ball (1924).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

viduen (…) Turbinen, Kesselhäuser, Eisenhämmer, Elektrizität ließen Kraftfelder und Geister entstehen. (…) Die Welt wurde monströs (…) Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander“.348

Diese apokalyptischen Zeilen Balls trafen, wie Blom zu Recht betont, auf die Zeit nach 1918 zu, hätten aber eigentlich diejenige vor 1914 beschreiben sollen, waren doch zu dieser Zeit „die großen Metropolen zu Schlachtfeldern der Moderne geworden“349. Balls Zeit- und Gesellschaftskritik ist wie die Schmitts nichts Originäres, sondern gründet auf einem vor allem unter Intellektuellen weitverbreiteten Kulturpessimismus.350 Der „homo catholicus“351 Carl Schmitt hat seine Sicht auf dieses Bild einer geistlosen und öden Industriegesellschaft der Moderne mit dem verhängnisvollen Sieg der Technik, die er als das Resultat der fortschreitenden Säkularisierung begriff, substantiell nie geändert. 2.4. Antichrist und Apokalypse. Schmitt hatte – „Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen.“ – für seine Gegenwart einen Wertewandel352 diagnostiziert, in dem er eine Entwertung der heiligen und letzten Dinge sah, was aus seiner Sicht verhängnisvolle Folgen zeitigte: „Die Verwechslung war schauerlich. Für den, der die verheerende Macht erkennt, scheint die Erde zur knirschenden Maschine geworden. Ein Bild, das in anderen Zeiten aus der unbeschreiblichen Angst vor der unentrinnbaren Macht des Bösen geboren ist, taucht auf wie eine Prophezeiung, die sich nunmehr erfüllt: der Antichrist“ (N 61).

Der Begriff des Antichristen (d.i. der Gegenmessias) ist für Schmitt ein zentraler, denn er „ist der Angelpunkt für alles Weitere zum Verständnis

348 Hugo Ball (1917): Kandinsky: Vortrag, gehalten in der Galerie Dada, zit. nach Blom (2015, Epigramm u. S. 14). 349 Vgl. Blom (2015, S. 14). 350 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 32); grds. dazu. Ringer (1983); Stern (1986). 351 Tommissen (1975, S 179). 352 „Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen. An die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit“ (N 61).

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seiner politischen Theologie“353 und die Zeitkritik erhält mit dieser apokalyptischen Figur einen starken religiösen Impetus. Der Antichrist wird uns in Schmitts Werk noch öfter begegnen und bedarf deshalb kurzer Erläuterung. Der Terminus „Antichrist“ begegnet uns in den frühchristlichen Schriften nur bei 1Joh 2, 18, 1Joh 2, 22 und 1Joh 4, 3 sowie 2Joh 7. Er bezeichnet die Vertreter gegnerischer theologischer Positionen und steht so parallel zu den Begriffen „falscher Prophet“ und „Pseudoapostel“. Die Bedeutung von „anti“ als „anstelle von“ weist zur Figur des Gegenspielers Christi in der Apokalypse, der als falscher Messias auftreten und falsche Lehren verbreiten wird. Hinter den verschiedenen Antichrist-Figuren – Teufel, Satan, Fürst dieser Welt, Beliar – steht mit ihm das Böse schlechthin.354 Das „Grausige“ an ihm, das ihn über alle anderen Tyrannen – Timur Lenk und Napoleon benennt Schmitt – erhebt, ist seine Fähigkeit, Christus so zu imitieren, „daß er allen die Seele ablistet. (…) alles wird ihn als Glück der Menschheit preisen und sagen: ein großartiger und gerechter Mensch“ (N 61). Die derart Überlisteten aber … „… sehen nur den fabelhaften Effekt; die Natur scheint überwunden, das Zeitalter der Sekurität bricht an; für alles ist gesorgt, eine kluge Voraussicht und Planmäßigkeit ersetzt die Vorsehung; die Vorsehung ‚macht‘ er, wie irgendeine Institution“ (N 62).

Die religiösen, kulturellen und philosophischen Verheißungen einer gesicherten Existenz unter der Formel: „Pax et securitas“ lässt der Antichrist durch seine Conferenciers vortragen, „deren geschickter Analyse kein Heiliger und kein Held, auch nicht Christus am Kreuz entgeht …“ (ebd.). und schon gar nicht „der arme Mensch dieser gottlos und irrsinnig arbeitenden Zeit“ (N 69). Und dennoch herrsche gerade unter „vielen der Besten“ (N 70) eine Stimmung, die in Däublers Vers-Epos nicht aufkommen könne: „das menschen- und weltkennerische Mißtrauen gegen die Welt und jeden Menschen; dann das bange Gefühl ewigen Betrogenseins und schließlich der Zweifel, ob Christus und der Antichrist überhaupt noch zu unterscheiden sind“ (ebd.).

In einer Zeit, in der vermeintlich alles als rational, plan- organisier- und realisierbar gilt, sei den Menschen die Fähigkeit zur elementarsten Unter-

353 Jiang (2013, S. 54). 354 Vgl. Pratscher (2010).

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scheidung abhanden gekommen, auf die allein es aber ankomme (vgl. N 71. F.). In der Nordlicht-Exegese, so Motschenbacher, zeige sich schon früh Schmitts Affinität zur Apokalyptik, die ein wesentliches Element seines Denkens bildet.355 Auch seine Befassung mit der Gnostik wird deutlich: „Wer die moralische Deutung der Zeit ahnte und gleichzeitig sich als Kind der Zeit wußte, konnte nur Dualist werden“ (N 63). Aber Schmitt beschreitet nicht den Weg des Marcion im 2. Jahrhundert, der – die Gnosis noch radikalisierend – zwei Götter unterschied.356 Den Schöpfergott („Demiurg“), der ob seiner eigenen schweren charakterlichen Mängel eine mangelhafte Welt schuf, sie als Urheber des alttestamentlichen Gesetzes beherrscht und nicht der Vater Christi ist. Dieser habe einen vollkommenen, guten und barmherzigen Gott verkündet, der die Menschen in seiner Gnade erlöst. Der Demiurg aber wisse von ihm nicht.357 Der Welt der Geistlosigkeit, die nur aus den Reihen der Skeptiker kommen könne, „deren Verstand jeder Apokalyptik fremd ist“, (N 48) begegnet Schmitt mit Däublers Nordlicht, mit dem „Geist“ als „Ziel und Vollendung“ (N 48). Aber er erkennt den Antichrist im Kriegsjahr 1916 nicht etwa im Anwerfen der menschenverachtenden und technisch hochgerüsteten Todesmaschinerie, sondern im Kapitalismus der modernen Bourgeoisie, „dieser in Angst um Geld und Besitz verkommenen, durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht“,

die ihn verkörpert (PuB 11). Es ist „der typisch konservative, katholische Antikapitalismus“, auf dem Schmitts Argumentation hier beruht, wenn er die christliche Ontologie durch die apokalyptische Macht des Rationalismus zerstört sieht358 „und endlich über die Erde reitet wie einer der apokalyptischen Reiter“ (N 67). Schmitt sieht in der Nordlicht-Dichtung eine Erlösungsfunktion, durch die bei Däubler, „die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist“ (N 18). Mehring sieht so bereits im Nordlicht impli-

355 Motschenbacher (2000, S. 34). 356 „So hätte nur eins bleiben können: mit dem Gnostiker Marcion die Welt restlos als Werk des Teufels zu erklären, in der ewig die Geistlosigkeit über den Geist triumphieren wird“ (N 63). 357 Vgl. May (2005, S. 3-12).Siehe hier das Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form. 358 Mehring (1988, S. 44).

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zit eine für Schmitts Gesamtwerk wichtige „Leitfrage“ aufgerufen, die explizit dann 1950 in der Donoso-Cortés-Schrift ausgesprochen wird und fragt, „ob der christliche Äon zu Ende ist oder nicht“ (DC 93).359 Denn mit der „Sinnlosigkeit“ seines Zeitalters stellt sich für Schmitt das Problem, „in Millionen Sekunden den Sinn zu finden, der in keiner einzigen von ihnen ist und trotz der Sinnlosigkeit des einzelnen Zeitabschnittes an die Fülle der Zeiten zu glauben“ (N 53),

Däubler finde im Nordlicht diesen Sinn und begründe so die Bedeutung der Universalität der Dichtung, die mit der Neuschaffung der Erde zwar anhebe, aber in Wirklichkeit „mit nichts als dem Glauben, daß alles gut sei und einen Sinn habe“, und dass die Natur wie der Mensch auch von Natur aus gut sind (N 53). So erfüllt sich – wohl erstmals – die geistige Einheit des Okzidents (vgl. N 18): „Am Ende aller Dinge steht der Geist, die Erkenntnis, die Gnosis, die Visio Dei. Die Zeit und die Weltgeschichte hören auf, das Irdische versinkt nach dem Sprung ins Metaphysische. Die Erde bleibt, sie wird sogar verklärt, aber die nichtigen Wichtigkeiten der Haupt- und Staatsaktionen sind zu Ende. Es gibt keine Weltgeschichte mehr, sobald die Welt erkannt ist“ (N 56)360.

Schmitts Nordlicht-Studie ist, wie Mehring geltend macht, vor allem auch eine Antwort auf das Weltkriegsgeschehen“ und „vermutlich ein zentrales Motiv ihrer Wiederaufnahme“:361 „In den Tagen, da die europäische Welt sich selbst zerfleischt, wird diese Dichtung bekannt; in den Jahren, die materiell und metaphysisch die Verwüstung ermöglichten, ist sie entstanden“ (N 59).

II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus. Schmitts Däubler-Schrift betrachtet den Weltkrieg als ein apokalyptisches Geschehen. Die über zwanzig anonym verfassten Zeitungsartikel für die Hamburger Woche bis Februar 1916 dagegen „überraschen durch ihre Beiläufigkeit und Banalität. Sie machen nicht den Versuch, den militärischen und politischen Fragen des Weltkriegs auf den

359 Ebd. 360 Herv. im Original. 361 Mehring (2009, S. 85).

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II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

Grund zu gehen, beteiligen sich nicht an Kriegszieldiskussionen und Friedenstrategien, reflektieren nicht auf die Strukturwandlungen des Wilhelminismus und die Zukunft. (…) Man glaubt kaum an Schmitts Autorschaft“.362

Meist handelte es sich um ankommentierte Übersetzungen von Artikeln englischer und französischer Zeitschriften. Wir erwähnen dies nur deshalb und knapp, weil es zeigt, dass der Carl Schmitt dieser Jahre noch keineswegs der homo politicus war, der er werden sollte. Noch suchte er nicht, den Systemgrenzen von Universität und Wissenschaft „durch seine starke politische Adressierung und Funktionalisierung seiner Wissenschaft zu entkommen“.363 1. Das Thema des Belagerungszustandes. Wie bereits erwähnt, war Schmitt vom Generalkommando beauftragt worden, eine Studie über die juristische Problematik eines Belagerungszustandes zu verfassen, der auch für die Nachkriegszeit rechtens bleiben sollte: „Nachmittags: Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz machen. Begründen, daß man den Belagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat“ (TB II 125).

Nun, die Vorsehung hatte offenbar bestimmt, dass die außerordentliche Ausweitung der exekutiven Maßnahmebefugnisse zulasten der Legislative und der Jurisdiktion für Schmitt eine zentrale Thematik wurde und blieb, die sein Werk von nun an durchziehen wird. Man wird mit Mehring davon ausgehen dürfen, dass Schmitt zu dieser Zeit nicht zu den Gegnern der liberalen Gewaltenunterscheidung zählte: „Was so ein Mensch doch fertig bringt364 und wie berechtigt es ist, vor dem Militärregime Angst zu haben und eine Trennung der Gewalten und gegenseitigen Kontrollen einzuführen. Aber das alles ist zweckloses Ressentiment“ (TB II 135).

362 Ebd., S. 86; zu Einzelheiten s.ebd. (S. 86 f.). 363 Mehring (2014, S. 3). 364 Gemeint ist General Falkenhayn, der telefonisch anordnete, die gesamte Korrespondenz nach Österreich zu überwachen (TB II 135).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

Aber Schmitt erkannte auch bzw. ahnte mindestens, dass diese Problematik „Zukunft“ haben würde – und so denkt er bereits über ein Buch zu diesem Thema nach: „Die rechtliche Problematik des Instituts sieht Schmitt dabei sehr wohl. Die Ausweitung der Diktaturgewalt wünscht er nicht“.365

Die Machtverhältnisse schätzt Schmitt richtig ein: „Aber vor dem Militarismus gibt es keine Rettung und keine Hilfe; nach dem Krieg wird es immer schlimmer werden. Der Einzelne ist nichts; schauerlich“ (TB II 130).

Gedanklich ist er bereits so weit, dass er sein Buchprojekt mit van Calker bespricht. 2. Straßburg: Universitäre Weihen. 2.1. Diktatur und Belagerungszustand. Calker unterbreitet Schmitt unerwartet den Vorschlag, sich in Straßburg zu habilitieren. Ende des Kriegsjahres 1915 rechnete kaum jemand mit einer deutschen Niederlage, geschweige denn mit dem Gebietsverlust des Elsass. Schmitt ist begeistert und schickt sein Habilitationsgesuch umgehend nach Straßburg. Schon am 16. Februar hält Schmitt eine Probevorlesung: Die Einwirkungen des Kriegszustandes auf das ordentliche strafprozessuale Verfahren. Schmitt sieht beim Übergang der vollziehenden Gewalt an den Militärbefehlshaber die richterliche Unabhängigkeit gefährdet. Zwar beruhigt er, die exekutive Einwirkung finde ihre Grenze an der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, doch die Formulierung der Militärbefehlshaber „kann trotz seiner weitgehenden Befugnisse nicht über den Strafanspruch des Staates verfügen, sondern nur dessen Durchführung fördern oder hemmen“ (TB II 429)366,

kann durchaus sowohl – „nur“ – als Beschwichtigung aber auch als rechtspolitische Warnung verstanden werden. Wir werden sehen, dass er mit die-

365 Mehring (2009, S. 89). 366 Herv. w.a.m.

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II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

ser Bestandsaufnahme die wissenschaftliche Theorie der „kommissarischen Diktatur“ einleiten wird.367 Noch Ende 1916 erscheint Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie. Sie ist das staatswissenschaftliche Hauptwerk der Münchner Militärzeit. Schmitt analysiert die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Belagerungszustandes ab der Französischen Revolution 1789. Das Jahr 1848 markiert für ihn eine wichtige Wende. Damals sei es um Aufruhr im Inneren gegangen und das Prinzip der Gewaltenteilung – ursprünglich ein praktisch-technisches Mittel – habe sich in ein „absolutes Axiom“ gewandelt, an das fortan mit Pathos geglaubt worden sei.368 Schmitt sieht den maßgeblichen rechtlichen Unterschied der beiden Institute darin, dass beim Belagerungs- oder Kriegszustand die Trennung von Gesetzgebung und Exekutive aufrechterhalten wird und nur eine Konzentration von Befugnissen innerhalb der Exekutive erfolgt (s. SGN 16). Der Militärbefehlshaber erhält also stärkere Exekutivbefugnisse, die ihre Grenzen in der richterlichen Unabhängigkeit finden, aber keine legislativen Vollmachten:369 „bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug der Gesetze in der Hand hat“ (SGN 16)370.

Mehring weist darauf hin, dass Schmitt im Belagerungszustand eine „Rückkehr zum Urzustand“ der Staatstätigkeit sehe, wie er vor der Gewaltenteilung gegeben war: „Insoweit besteht die Trennung der Gewalten nicht mehr; innerhalb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums ist die Rechtslage so, als hätte es eine Teilung nie gegeben. Bei der Diktatur aber bleibt die Teilung bestehen“ (SGN 19).

Damit wechselt die Rechtsstaatlichkeit vom Belagerungszustand zur Diktatur. Der Belagerungszustand aber hebelt die Gewaltenteilung aus, was allerdings umgehend die Frage aufwirft, ob ein solches Staatshandeln mit den rechtsstaatlichen Kategorien des Verfassungsstaates überhaupt noch gefasst werden könne. Sei man dieser Auffassung, käme dies einer Negation der Rechtlichkeit des gegenwärtigen Zustandes gleich:

367 368 369 370

Mehring (2009, S. 90). Siehe ebd. S. 91. Vgl. Neumann (2015, S. 30). Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Dann wäre seine Darstellung mit dem apokalyptischen Grundzug seiner Kriegspublizistik vereinbar. Sie machte diskret deutlich, dass Deutschland nicht mehr in staatlich geordneten „Zeiten der Mittelbarkeit“, sondern in apokalyptischen Zeiten lebt, wo jeder Einzelne sein individuelles Verhalten zur Idee finden muss“.371

Schmitt erörtert in Diktatur und Belagerungszustand das Verhältnis der Gewalten Gesetzgebung und Verwaltung. Wir bemerken dazu nur, dass Verwaltung nicht nur der bloße Vollzug von positiven Gesetzesbestimmungen ist, sondern auch Rechtsschöpfung, weil das Gesetz nur einen Rahmen darstellt, innerhalb dessen die Verwaltung schöpferisch tätig wird. Historisch betrachtet, sei die Verwaltung der Gesetzgebung sogar vorgeordnet, weil sie am Anfang aller Staatstätigkeit stehe, von der sich Gesetzgebung und Jurisdiktion dann abgesondert hätten. Folglich sei der Belagerungszustand letztlich nur die Rückkehr zum staatlichen Urzustand.372 2.2. Franz Blei und die Zeitschrift Summa. Ab dem 1. Oktober 1917 ist Schmitt zu einem höheren Militärbeamten (Assessor) im Generalkommando befördert worden und leitet nunmehr eine eigene Abteilung. Sie ist zuständig für die Überwachung der Friedensbewegung, der USPD, der Alldeutschen Bewegung, der Einfuhr von Druckzeitschriften, von ausländischen Zeitungen und feindlichen Propagandaschriften sowie der Genehmigung von Vorträgen und Versammlungen.373 In dieser Zeit lernt er den Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer, Literaturkritiker und promovierten Nationalökonomen Franz Blei kennen: es ist der Beginn einer 15-jährigen Freundschaft, die 1933 an politischen Differenzen endet. 1940 wird Blei über Schmitt sinnieren: „Wie konnte dieser römische, rheinländische, gänzlich unromantische Katholik (…) dem Leviathan Staat unterliegen?“374

371 372 373 374

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Mehring (2009, S. 91 f.). Neumann (2015, S. 30 f.). Mehring (2009, S. 93). Franz Blei in Zeitgenössische Betrachtungen (1040), hier zit. n Mehring (2009, S. 95).

II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

Schmitt veröffentlicht in Bleis Zeitschrift Summa drei größere Beiträge, die, so Mehring, als Triptychon zusammenpassen: Die Sichtbarkeit der Kirche375, Schmitts einzige explizit theologische Veröffentlichung, Macht und Recht376 und Die Buribunken. Carl Schmitt war sicher kein orthodoxer Katholik mit Katechismusfestigkeit und regelmäßigem – zumindest sonn- und feiertäglichem – Kirchgang. Er war aber ein religiöser Mensch, der sich die Freiheit und das Recht zu einem eigenen privatisierten Katholizismus nahm und die religiöse Auseinandersetzung in Literatur und Dichtung suchte – so bei Däubler, Dostojewskij und Kierkegaard. Vor 1914 von religiös pessimistischer Grundstimmung, wie er sie bei Wagner, Schopenhauer und Strindberg finden konnte, erfuhr er in der Beschäftigung mit Kierkegaard, „dass die Frömmigkeit auch im Zweifel besteht. Wir sehen eine doppelte Fluchtbewegung: eine Flucht aus der Zeit und in die Zeit. Schmitt flieht in die Zeit, indem er sich dem gegenrevolutionären Staat verschreibt. Und er flieht aus der Zeit: zum Katholizismus, wie es Hugo Ball in seinen Tagebüchern Flucht aus der Zeit damals beschreibt“.377

Schmitt hatte nach dem Tod Fritz Eislers in seinen Tagebüchern Gott, Mensch und Welt radikal verworfen. Mit der Nordlicht-Studie findet er – vorerst – wieder zu einer positiveren Sicht von Mensch und Welt. In Die Sichtbarkeit der Kirche schreibt er: „Wer die Sünde der Menschen noch so tief erkennt, wird durch die Menschwerdung Gottes wieder zu dem Glauben gezwungen, daß der Mensch und die Welt ‚von Natur gut‘ sind. Denn Gott will nichts Böses“ (TB II 451).

Schmitt unterstreicht die urchristliche Erwartung des Weltendes. Er vertritt die katholische Lehre – eine Kirche, ein Gott – von der Einzigkeit und Universalität der sichtbaren Kirche, die Schmitt vom Mittlertum durch Christus her konstruiert: „Solange Kirche existiert, sieht er sich in ‚Zeiten der Mittelbarkeit‘. Damit verschiebt er den Garanten der ‚Zeiten der Mittelbarkeit‘, von dem schon Der Wert des Staates sprach, vom Staat auf die Kirche“.378

So konstruiert Schmitt erstmals einen institutionellen Dualismus von Staat und Kirche und positioniert die Kirche als Gegenspieler des Staates:

375 376 377 378

Siehe hier auch das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form. Macht und Recht ist das erste Kapitel aus Der Wert des Staates. Mehring (2009, S. 97). Ebd. S. 98.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Wenn der Christ der Obrigkeit gehorcht, weil sie – Grund und Grenze – von Gott ist, so gehorcht er Gott und nicht der Obrigkeit. Das ist die einzige Revolution der Weltgeschichte, die das Prädikat einer großen verdient: das Christentum hat der weltlichen Obrigkeit durch seine Anerkennung eine neue Grundlage unterschoben“ (TB II 447).

Für Schmitt leben die Menschen durch die Menschwerdung Christi in Gemeinschaft, und diese Gemeinschaft ist die Kirche. Wie aber der christliche Vorbehalt für Kirche und Staat gilt, so gilt er auch für den Einzelnen gegenüber der Kirche: „Schmitt nimmt sich das Recht zur Staats- und Kirchenkritik“.379 Schmitts Beiträge zur Zeitschrift Summa sind durchaus ein religiöses Credo. Bedeutungsvoll ist ihr religiöser Vorbehalt gegen Kirche und Staat. So hält Schmitt am Universalitätsanspruch der katholischen Kirche fest, legitimiert aber gleichzeitig die Kirchenkritik: „Mit seinem christlichen Credo negiert er den metaphysischen Pessimismus und Gnostizismus. Dessen Konsequenzen für die Lebensführung zeigt er an der Gestalt des Buribunken auf“:380

Zunächst setzt Schmitt das Tagebuch aus.

379 Ebd. S. 99. 380 Ebd. S. 101.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Carl Schmitt schreibt seine erste längere Monographie – Politische Romantik – in die beiden letzten Kriegsjahre hinein. Am 16. Juli 1918 bietet er sein Manuskript dem Verlag Duncker&Humblot an, im August geht die Politische Romantik in Druck, Anfang 1919 erscheint sie. Warum Schmitt dieses Buch, zwischen München und Straßburg pendelnd, schrieb, ist einigermaßen unklar.381 Beschäftigen wir uns zunächst mit dieser Zeitspanne. I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front: vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“ Paul v. Hindenburg.382

Als Schmitt die Politische Romantik verfasste, waren die Kriegslage und die politischen Aussichten für das Deutsche Reich noch nicht katastrophal. Ende 1916 schien sich die diplomatische Tür für einen Verständigungsfrieden noch einmal zu öffnen, 1917 aber wollten beide Parteien nur noch einen Siegfrieden erreichen.383 Auch Vertretern der sozialistischen Parteien und Abgesandten des Vatikans gelang es nicht, einen europäischen Friedensprozess in Gang zu setzen. Politisch aktuelle öffentliche Meinungsbekundungen von Schmitt fehlen zwar weiterhin. Doch werden wir uns mit dem Ende des Krieges und dem Beginn der Weimarer Republik näher befassen, weil Schmitts Schriften nach dem Kriegsende im Zusammenhang mit realpolitischen Themen zu lesen sind wie die Gefahr des Bolschewismus, die sogenannte „Dolchstoß-

381 Näher s. Mehring (2017, S. 72). 382 Paul v. Hindenburg (1919): Aus meinem Leben. Leipzig 1929, S. 403, hier zit. n. Kraus (2014, S. 18).Der Satz ist gleichsam die literarische Quintessenz der auch von. v. Hindenburg maßgeblich inszenierten „Dolchstoßlegende“. 383 Zu den Einzelheiten s. Kruse (2009; insb. 2009, S. 29-31).

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Legende“, der Vertrag von Versailles, das Krisenjahr 1923 und andere. Seine völkerrechtlichen Positionen sind von diesen Entwicklungen stark beeinflusst. Er wird später, wir greifen kurz vor, im neugeschaffenen Völkerbund vor allem eine Institution zur Aufrechterhaltung des Status quo sehen. 1. Eine kurzer Aufriss des Kriegsverlaufs. Den erhofften militärischen Sieg durch schnelle und umfassende Angriffsaktionen erringen zu können, wie es der militärstrategisch brillante Schlieffen-Plan versprochen hatte, war spätestens im November 1914 gescheitert:384 Im Westen war der Bewegungs- in einen Stellungskrieg übergegangen. Damit stellte sich der militärischen Führung die Frage, ob im Westen oder Osten, an den stärkeren oder schwächeren Fronten anzugreifen sei.385 Aber auch das Anrennen der Ententetruppen gegen die mittlerweile gut ausgebauten Verteidigungsstellungen an der Westfront brachte nur riesige Verluste. So gewannen Überlegungen an Gewicht, die mit der Türkei zunächst einen wichtigen Verbündeten der Mittelmächte ausschalten wollten. Aber die vom Persischen Golf ausgehende Landoffensive britischer und französischer Einheiten blieb immer wieder stecken und der Versuch mit einem groß angelegten Flotten- und anschließendem Landemanöver die Dardanellen zu erobern, scheiterte auf der türkischen Halbinsel Gallipoli.386 An der Ostfront kam es zu keinem Stellungskrieg. Im Frühjahr und Sommer 1915 waren große Teile Polens und des Baltikums erobert worden. Der Plan v. Hindenburgs und v. Ludendorffs den fliehenden russischen Truppen nachzusetzen und eine militärische Entscheidung herbeizuführen, widersetzte sich die Oberste Heeresleitung unter General Falkenhayn. Diese sah die Entwicklung an der Westfront als entscheidend an.

384 Siehe Kruse (2009, S. 23). Die erste Schlacht an der Marne fand vom 5. bis 12. September 1914 entlang der Marne östlich von Paris statt. Die Schlacht markiert den ersten Wendepunkt des Ersten Weltkrieges und das Scheitern des Schlieffen-Plans. 385 Kruse (2009, S. 53; nachst. s. ebd.). 386 Von ca. 700.000 Soldaten auf beiden Seiten verloren 350.000 Soldaten das Leben.

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1916 setzten sich die verlustreichen, gleichwohl nicht kriegsentscheidenden Angriffsbemühungen fort. Als schreckliches Sinnbild steht dafür der Angriff auf Verdun,387 der am 21. Februar begann und am 19. Dezember 1916 ohne eine nennenswerte Frontverschiebung endete. Angriffe der Ententemächte im Westen blieben an der Somme stecken, russische Angriffe in Galizien konnten erst durch die Verlegung von deutschen Einheiten gestoppt werden.388 War damit der Krieg für das Deutsche Reich und seine Verbündeten – wie oft betont wird – bereits verloren? Für den Fall eines Stellungs- bzw. Abnutzungskrieges „schätzte die deutsche Militärführung ihre Siegeschancen ausgesprochen gering ein“.389 Trotzdem hielten die Mittelmächte eine militärstrategisch keineswegs aussichtslose Stellung, konnten doch die Eroberungen im Westen lange Zeit verteidigt und im Osten große militärische Erfolge erzielt werden. Und auch der später entscheidende Kriegseintritt der USA, der am 6. April 1917 erfolgte, musste vordem keineswegs als selbstverständlich einkalkuliert werden. Der Krieg sollte so erst im Jahr 1918 entschieden werden.390 2. Die Politik des Krieges. Mit dem Kriegseintritt Englands hielt das ganze Empire Einzug in die europäische Auseinandersetzung.391 Die Grundkonstellationen der Kriegsdiplomatie wurden umgehend nach Beginn des Krieges festgelegt. Im „Londoner Abkommen“ vom 5. September 1914 einigten sich England, Frankreich und Russland darauf, prinzipiell keine separaten Friedensverhandlungen zu führen. Die Mittelmächte und insbesondere das Deutsche Reich präferierten dagegen von Anfang an separate Friedensabkommen. Dies wird aus der Logik einer Auseinandersetzung verständlich, die einen Zweifrontenkrieg vermeiden will.392 Die Kriegsdiplomatie sah als weiteres Ziel vor, neue Verbündete zu gewinnen. Im Mai 1915 trat Italien auf Seiten der Entente in den Krieg ein, 387 Die französischen Truppen sollten sich bei der Verteidigung „weißbluten“, was bedeutete, sie sollten langsam aufgerieben werden (Kruse 2009, S. 53). 388 Zur Technisierung bzw. Industrialisierung des Kriegsführung, zu Handelskrieg und Seeblockade s. Kruse (2009, S. 54-57). 389 Kruse (2009, S. 23). 390 Siehe ebd. S. 24. 391 Zu Einzelheiten s. Kruse (2009, S. 25). 392 Siehe ebd. S. 25.

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dem man territoriale Gewinne in Südtirol, Istrien, Dalmatien und Triest auf Kosten Österreich-Ungarns zugestanden hatte. Bulgarien hingegen band sich im Oktober 1915 an die Mittelmächte, weil ihm Territorium zu Lasten Serbiens versprochen war. Nach den militärischen Siegen über Serbien 1915 und Rumänien 1916 verfügten die Mittelmächte über ein verbundenes Territorium von der Nord- und Ostseeküste bis zu Mittelmeer und Schwarzem Meer bis nach Arabien.393 Kriegsziele des Deutschen Reiches waren die Zerstörung Frankreichs als Großmacht, das zudem – wie auch Belgien und Holland – von Deutschland wirtschaftlich abhängig werden sollte. Die Herrschaft Russlands sollte gebrochen werden, kurzum, Deutschland strebte die hegemoniale Stellung auf dem europäischen Kontinent an. Über das „Wie“ stritten gemäßigte Kräfte mit radikalen Annexionisten. Das gemeinsame Kriegszielprogramm der Mittelmächte präzisierte als Hauptziele die Sicherung der militärischen Eroberungen und die Errichtung eines Kolonialreiches in Afrika. Das Kriegsziel im Osten war mit dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk bereits umgesetzt.394 Auf Seiten der Entente wurden ebenso ausgreifende Kriegsziele verfolgt. 3. Der Kriegseintritt der USA und Wilsons 14-Punkte Plan. Am 6. April 1917 erklärten die USA nach der Zustimmung von Repräsentantenhaus und Senat dem Deutschen Reich den Krieg. Die USA waren Partei geworden, um nach eigener Diktion die Freiheit und die Demokratie zu verteidigen. Als die britische Flotte im Frühjahr 1915 den Blockadering um Deutschland fast geschlossen hatte, kündigte die deutsche Seekriegsleitung im Februar 1915 an, künftig jedes Handelsschiff in britischen Gewässern mit U-Booten anzugreifen. Die britische wie die deutsche Position verstießen gegen internationales Seekriegsrecht. In der Öffentlichkeit wur393 Ebd. S. 26; nachst. ebd.. 394 Ebd. S. 27. Die einzelnen Kriegsziele sind bei Wolfgang Steglich formuliert (s. ebd.). In den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk wurde dem bolschewistischen Russland – begleitet von einem umfangreichen militärischen Vormarsch, einem Feldzug per Eisenbahn – im Ergebnis ein Siegfrieden mit riesigen Gebietsabtretungen in Mittel- und Osteuropa aufgezwungen. Mit dem Rücken zur Wand unterzeichnete die bolschewikische Delegation den Friedensvertrag (s. Münkler 2014, S. 666 ff.: s. Kraus 2014, S. 15).

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de die Tötung unschuldig ertrinkender ziviler Passagiere allerdings weit schärfer verurteilt als das Erleiden von Hunger. Betroffen wurden vom UBoot-Krieg auch die USA, die aus ökonomischen Gründen großes Interesse hatten, England zivile und militärische Güter zu verkaufen. Nachdem am 7. Mai 1915 ein deutsches U-Boot den Passagierdampfer „Lusitania“ – er hatte allerdings auch Waffen und Munition in großer Menge geladen – versenkt hatte, stellten die USA das Deutsche Reich vor die Alternative, den U-Boot-Krieg zu beenden, oder den Kriegseintritt der USA in Kauf zu nehmen. Nach intensiven Debatten, zog die Reichsleitung die U-Boote zurück. Als im Sommer 1916 dann endgültig klar war, dass ein Landkrieg nicht gewonnen werden könne, gewannen die Befürworter eines unbeschränkten U-Boot-Kriegs so schnell an Boden, dass Reichskanzler BethmannHollweg als Ausweg nur noch forcierte Friedensgespräche unter Vermittlung der USA für zielführend hielt. Diese kamen jedoch nicht zustande. Daraufhin nahm das Deutsche Reich den unbeschränkten U-Boot-Krieg wieder auf und versenkte allein im Kriegsjahr 1917 über 1000 alliierte Schiffe. Die Konsequenz war der Kriegseintritt der USA.395 Mit dem Frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 war – nach dem inneren Zusammenbruch – Russland aus dem Krieg ausgeschieden.396 Nunmehr schienen wieder bessere Voraussetzungen gegeben, ein schnelleres Kriegsende durch einen Ausgleich zwischen der Entente und den Mittelmächten herbeizuführen. An diesem Punkte griffen die Friedensinitiativen des amerikanischen Präsidenten Wilson in die Kriegsdiplomatie ein. In seinen Umrissen für eine europäische Friedensordnung Anfang Januar 1918 – ein liberaldemokratischer Gegenentwurf zu den Vorstellungen der autokratischen Mittelmächte wie zu den Prinzipien der bolschewistischen (Welt-)Revolution Lenins – waren Abrüstung, Freihandel und Rückgabe aller besetzten Gebiete sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Grundpfeiler. Der aus dem Ausscheiden Russlands resultierende Machtzuwachs für das Deutsche Reich ließ kurzzeitig einen Frieden ohne Sieger und Besiegte als möglich erscheinen. Allerdings richtete sich das Angebot

395 Siehe Herbert (2014, S. 146-149). 396 Für Lenin machte es nach der siegreichen Oktoberrevolution Sinn, mit den Entente-Mächten zu brechen und einen sofortigen Friedensschluss anzustreben, um den Rücken frei zu bekommen für die Stabilisierung der jungen und ungesicherten Sowjetmacht (s. Kruse 2009, S. 31).

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an die Kräfte der deutschen Friedenresolution vom Juli, nicht aber an die militärische Führung des Deutschen Kaiserreiches.397 Das von Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker richtete sich zwar explizit gegen die Weltmachtposition Englands und die Kolonialmacht Frankreich, „war aber so vage formuliert, dass sich daraus nicht zwangsläufig ein politischer Konflikt zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten ergab“. 398

Wilsons Ansage an die Mittelmächte war weit deutlicher. Deutschland müsste die von ihm besetzten Gebiete in Belgien, Russland und Frankreich räumen und das 1871 annektierte Elsass-Lothringen zurückgeben. Die Grenzen Italiens müssten entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner korrigiert werden, den Völkern des Habsburgischen und des Osmanischen Reiches müsse das Recht auf nationale Selbstbestimmung garantiert werden. Serbien, Montenegro, Rumänien sowie Polen seien als eigene Staaten wiederherzustellen, Polen sei zudem ein unbeschränkter Zugang zum Meer einzuräumen: „(…) je konkreter aber die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten wurden, desto deutlicher zeigte sich, dass er als Vertreter einer Kriegspartei sprach und sowohl im wilhelminischen Deutschland als auch in der Donaumonarchie in erster Linie Störenfriede der internationalen Gemeinschaft sah. Für die USA bekam der Krieg durch Wilsons Erklärung den Charakter eines Kreuzzugs, mit dem eine neue Weltordnung durchgesetzt werden sollte, die gegen die Mittelmächte und deren politische Ordnung gerichtet war“.399

Ob Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm nur ein Deckmantel für den Aufstieg der USA zur Weltmacht war, ist in der Literatur umstritten.400 Carl Schmitt sprach später in seinen völkerrechtlichen Aufsätzen und in Der Begriff des Politischen unmissverständlich aus, was er in Wilsons liberaldemokratischer Weltordnung mit dem neuen Völkerbunde sah: eine Institution zur Erhaltung des Status quo eines niedergedrückten und gedemütigten Deutschen Reiches.401

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Siehe Herbert (2014, S. 157 f.). Münkler (2014, S. 653; nachst. s. 653 ff.). Ebd. S. 654. Ablehnend Münkler (2014, S. 655, mit weiteren Nachweisen); zustimmend Kruse (2009, S. 30). 401 So ist für Günter Maschke Der Begriff des Politischen eine „Ideologie des Widerstandes (…) gegen die so friedlich und menschenfreundlich anmutenden Schlag-

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Außenpolitisch hatte der Vierzehn-Punkte-Plan zudem einen Propagandacoup der Bolschewiki zu parieren. Diese hatten nach ihrer Machtergreifung umgehend eine ganze Anzahl von Geheimdokumenten der Entente veröffentlicht, wie das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, das die Aufteilung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches festlegte. Die Entente als der moralisch überlegene Verteidiger der Demokratie und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung war damit enttarnt und verfolgte offensichtlich die gleichen geopolitischen und wirtschaftlichen Ziele wie die „bösen Mittelmächte“. Lenin verkündete umgehend: „Wenn beide Seiten imperialistische Kriegsziele verfolgten, (…) dann müsse das europäische Proletariat diesen Krieg der Imperialismen in einen Krieg der Klassen verwandeln und seinen wahren Feind bekämpfen – die Bourgeoisie und deren Verbündete“.402

Auch Lenin hatte verbal ein Recht auf nationale Selbstbestimmung eingeräumt, sah darin allerdings nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zur sozialistischen Revolution, auf dem das Nationale dann ohnehin an Bedeutung verlieren würde. Trotz unterschiedlicher Auffassungen von Trotzki und Lenin – Lenin setzte sich bekanntlich durch – waren die russischen und die deutschen Interessen kooperationsfähig. Auch wenn jede Partei sich am Ende obsiegen sah, brauchten sie sich: „Die Deutschen die Bolschewiki, um im Osten Ruhe zu bekommen und das Gros ihrer dortigen Truppen abziehen zu können, und die Bolschewiki die Deutschen, um die politischen Verhältnisse reif zu machen für die Ausdehnung der sozialistischen Revolution nach Westen“.403

4. Offensive, Gegenoffensive und der Zusammenbruch im Westen. Die territoriale Kriegsbeute im Osten überdehnte zwar die Front und band rund eine Million deutscher Soldaten, die im Westen fehlen würden.404

worte und Begriffe des Völkerbundes (…) eine Organisation zur Sicherung der Beute der Sieger von 1918, zur Wahrung des durch Versailles geschaffenen, ungerechten und konfliktiven status quo, (…)“ (Maschke 2012, S 186/187). 402 Münkler (2014, S. 656); s. auch Kruse (2009, S. 30 f.). 403 Münkler (2014 S. 659). 404 Trotz des Friedensvertrages setzten die Deutschen ihren Vorstoß fort. 30 Divisionen rückten von der Ukraine kommend bis zum Donezbecken, der Krim und Transkaukasien in Südrussland vor. Im August 1918 musste die russische Regierung einen Zusatzvertrag – gleichsam das russische Versaille – annehmen: Abtre-

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Gleichwohl forderte vor allem v. Ludendorff im Einvernehmen mit einem depressiv-schweigenden v. Hindenburg nach Brest-Litowsk nunmehr einen Siegfrieden im Westen, der jetzt wieder möglich schien.405 Nach dem Diktatfrieden im Osten war aber an einen Verhandlungsfrieden im Westen sowieso nicht mehr zu denken.406 Im Reichstag stimmte nur die USPD gegen den Vertrag von Brest-Litowsk, die SPD enthielt sich, alle anderen Parteien stimmten zu. Die deutsche Militärführung setzte deshalb alles auf eine Karte, bevor die Hauptmasse der amerikanischen Truppen auf dem Kriegsschauplatz eintreffen würde.407 Am 21 März 1918 starteten die sog. Frühjahrsinitiativen an wechselnden Frontabschnitten („Michaeloffensive“), die zwar große territoriale Gewinne brachten, aber keinen entscheidenden Erfolg – auch weil die Truppe erschöpft war, der Nachschub fehlte und die Verluste (bis Ende Mai ca. 300.000 Solodaten) nicht ausgeglichen werden konnte. Die letzte deutsche Offensive erfolgte am 15. Juli an der Marne.408 Nun begannen im Gegenzug die Entente-Mächte mit zunehmender Unterstützung amerikanischer Verbände ihre Gegenoffensive. Als erstes rückten am 18. Juli 1918 französische Verbände vor, am 8. August – v. Ludendorff bezeichnete ihn als den „schwarzen Tag des deutschen Heeres“ – folgten die Briten gemeinsam mit imperialen Truppen; ihnen gelang ein entscheidender Durchbruch bei Amiens. Die Front begann zusammenzubrechen, deutsche Soldaten ergaben sich massenhaft dem Feind.409 Die deutsche Armee war geschlagen – die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon nichts.410

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tung des Baltikums, Ausscheiden Georgiens aus dem russischen Staatenverband, Ablieferung aller Goldvorräte an Deutschland, fünf Milliarden Mark Reparationszahlungen und Ausbeutungsrecht für die Kohlevorkommen im Donezbecken: „So bot die Herrschaft im Osten auch eine Perspektive für einen möglichen deutschen Sieg in ganz Europa“ (vgl. Herbert 2014, S. 158). Hindenburg war bei der Entscheidung für die Operation wie bei deren Durchführung völlig abgetaucht und repräsentierte letztlich die OHL nur noch nach außen. Das Duo v. Hindenburg und v. Ludendorff hatte sich schon aufgelöst, ehe es im Herbst 1918 offiziell auseinanderbrach (Münkler 2014, S 686). So Herbert (2014, S. 159). Ebd. S. 161. Ebd. S. 161; s. Kruse (2013; 2009, S. 121 ff.); vgl. Münkler (2014, S. 674 ff.). Zu den Einzelheiten der militärischen Operationen s. Münkler (2014, S. 687-703). Zu den militärischen Operationen des Gegenangriffs s. (Münkler 2014, S. 703-726). Herbert (2014, S. 162). Die militärisch hoffnungslose Lage wurde auch von den Verbündeten erkannt. Mitte/Ende September 1918 boten Österreich-Ungarn, die

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Am 29. September 1918 wiederholte Generalquartiermeister Erich von v. Ludendorff in einer Versammlung der Obersten Heeresleitung (OHL) in Spa vor ranghohen Offizieren, was er kurz zuvor den wichtigsten Männern des Reiches – Kaiser Wilhelm II., Generalfeldmarschall Paul v Hindenburg, Staatssekretär des Auswertigen Amtes Paul von Hintze, Reichskanzler Georg v. Hertling – bereits eröffnet hatte: Der Krieg sei verloren, ein Waffenstillstandsabkommen müsse unverzüglich angeboten werden, das in Respektierung der Vierzehn-Punkte-Erklärung Wilsons von einer schnell zu bildenden parlamentarischen Regierung verabschiedet werden müsse.411 Es gehe nunmehr nur noch darum, mit einer Revolution von oben eine drohende Revolution von unten zu verhindern.412 Was v. Ludendorff und seine Entourage an Außenwirkung wollten, lag auf der Hand: Die Bürde der Niederlage wäre so parlamentarischer Natur, das Heer aber stünde unbesiegt im Felde. Die meisten Teilnehmer dieser Versammlung waren – nach vier Jahren Krieg und nahezu zwei Millionen deutschen Gefallenen – allerdings außer sich hören zu müssen, dass „das OHL und das deutsche Heer (…) [seien] am Ende: der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidlich bevor. Bulgarien sei abgefallen, Österreich und die Türkei, am Ende ihrer Kräfte, würden wohl bald folgen. Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlass mehr“.413

Für seine Einschätzung, dass der Krieg verloren sei, führte v. Ludendorff vor allem zwei Gründe an: die aussichtslose militärische Lage an der Westfront und die Angst vor dem Bolschewismus, der in Deutschland unter Anwendung barbarischer Gewalt, wie sie – durch unterschiedliche Quellen belegt – im russischen Bürgerkrieg zu Tage getreten war, revolutionär obsiegen könnte.414 Nach der Parlamentarisierungsforderung der OHL und der Zustimmung des Kronrats, trat die Regierung v. Hertling zurück und in zäheren Verhandlungen konnte man sich als Kompromiss auf den Prinzen Max v. Baden als Reichskanzler einigen. Am 3. Oktober wurde er vom Kaiser er-

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Türkei und Bulgarien den Alliierten Friedenverhandlungen an (Grevelhörster 2002, S. 10). Kruse (2009, S. 121). Nipperdey (1998, Bd. II, S. 863). General Albrecht von Thaer, hier zit. nach Jones (2017, S. 19). Siehe die Nachweise in Jones (2014, S. 21, FN 11).

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nannt. Er führte die erste Regierung, der die deutsche Sozialdemokratie angehörte. Zwar ein dezidierter Vertreter von Reformen und Befürworter eines Verständigungsfriedens blieb er gleichwohl „der Mann der untergehenden Monarchie“.415 In der Nacht vom 3. zum 4. Oktober erging das Waffenstillstandsangebot an Wilson. Unter dem Druck der Entente-Mächte folgte nun ein langer und verzögernder Notenaustauch.416 5. Friedensschluss oder Kapitulation: Strategisch-taktische Scheinverhandlungen. In der von der Niederlage völlig überraschten und ungläubig-entsetzten Öffentlichkeit allerdings häuften sich – unterstützt von Prominenten wie dem Industriellen und Intellektuellen Walther Rathenau – bald die Stimmen, die ein Ende des Austausches diplomatischer Noten mit Wilson verlangten. Ihr Hauptargument, das bis in die Reihen der SPD hinein vertreten wurde, war, dass kein feindlicher Soldat auf deutschem Boden stand,417 dass im Gegenteil deutsches Militär weite Teile Europas kontrollierte. Auf dem Feld jedoch ging es für die ausgelaugten deutschen Truppen weiter rückwärts, die Nachschubprobleme blieben ungelöst. Trotzdem begann sogar v. Ludendorff seine bisherige Meinung zu überdenken. Mit der zweiten Wilson-Note vom 14. Oktober 1918 spitzten sich die Entscheidungsalternativen auf die Frage zu: Unterwerfung oder letzter nationaler Widerstandskampf. Denn die neue, verschärfte Note Wilsons forderte nichts weniger als die bedingungslose Kapitulation, die sofortige Preisgabe der besetzten Gebiete und die Verfassungsrevision. Zudem zeigte sich unverhohlen, dass die alliierte Führungsmacht USA nur mit einer wirklich demokratischen Regierung verhandeln würde, nicht mit den Militärs:

415 Nipperdey (1998, Bd. II., S. 864). 416 Zu Einzelheiten s. ebd. 417 Ein erst später erkannter Fehler der Alliierten sei es gewesen, so MacMillan, dass die große Mehrheit der Deutschen wegen der Waffenstillstandsbedingungen die Niederlage ihres Landes „nicht selbst unmittelbar erlebten. Außer im Rheinland bekamen sie keine Besatzungssoldaten zu Gesicht“. Vielmehr seien die zurückkehrenden Soldaten jubelnd begrüßt worden. Reichspräsident Friedrich Ebert begrüßte sie mit den Worten: „Kein Feind hat euch überwunden“ (MacMillan 2015, S. 220 f.).

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„Das war die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation und der Verfassungsrevision, dem Sturz des Monarchen als Bedingung eines Friedens. Der Hauptgrund für Wilsons Verhärtung war, daß England und Frankreichs solche Verzögerung wünschten, die deutsche Lage sollte sich so verschlechtern, daß statt Verhandlungen nur Kapitulation blieb“.418

Die Taktik der Scheinverhandlungen ging weiter. Mit einer dritten Note vom 23. Oktober forderte Wilson, dass ein Waffenstillstand nur geschlossen werden könne, wenn die deutsche Kampffähigkeit vernichtet und die Wiederaufnahme von Kampfhandlungen unmöglich sei. Nach dieser Kapitulationsforderung dachten v. Ludendorff und die Oberste Heeresleitung wieder in den Kategorien eines „Endkampfes“ und der „militärischen Ehre“. In einer Kundmachung an die Truppe betonten sie, der Kampf sei nunmehr mit allen Mitteln fortzusetzen. Von der Regierung wurde verlangt, die Verhandlungen abzubrechen. Die Regierung lehnte aber ab, weil sie hoffte, eine entschieden parlamentarische Regierung könne immer noch mit einem Verhandlungsfrieden rechnen: „(…) sie wollte sich gegen die OHL durchsetzen, den Vorrang der politischen Gewalt gegen das Hineinregieren der OHL, das jede Friedensaussicht zerstöre; sie forderte die Entlassung der OHL und drohte andernfalls mit Rücktritt“.419

Der Machtkampf endete am 26. Oktober mit der Entlassung von v. Ludendorffs durch den Kaiser.420 Unter dessen Nachfolger Groener stabilisierte sich die Stellung des OHL nochmals, aber die Alternative eines Endkampfs war vom Tisch. Am 27. Oktober erhielt die Regierung Vorschläge für den Waffenstillstand, am 5. November forderte Wilson die Regierung auf, eine Delegation zur Entgegennahme der Waffenstillstandsbedingungen zu entsenden. Im Inneren setzte sich die konstitutionelle Bewegung durch: Der Reichskanzler war fortan vom Vertrauen des Parlaments abhängig, und selbst das Preußische Wahlrecht sollte binnen Wochen geändert werden.

418 Nipperdey (1998, Bd. II, S. 865). MacMillan weist darauf hin, dass sich auch die Situation der Alliierten verschlechterte, deren Streitkräfte von 198 Divisionen im November 1918 auf 39 Divisionen im Juni 1919 geschrumpft waren. Tatsächlich hätten die alliierten Befehlshaber im Frühjahr 1919 gezweifelt, ob sie in einem erneuten Waffengang gegen Deutschland obsiegen könnten (s. MacMillan 2015, S. 221). 419 Ebd. S. 865. 420 „Damit war die einflussreichste Figur der heimlichen Militärdiktatur gestürzt“ (Herbert 2014, S. 167).

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6. „Im Felde unbesiegt“: Zur Genese der Dolchstoßlegende. An der „Heimatfront“ waren die inneren Konflikte des Reichs – schon im Verlauf des Kriegsjahres 1917 war es etwa wegen der Lebensmittelknappheit zu zahlreichen Streiks gekommen – im Januar 1918 bei Massenstreiks in Wien und Berlin offen aufgebrochen. Man fürchtete, ein Friedensschluss mit Russland werde an den immer weiter reichenden Annexionsforderungen der deutschen Militärs scheitern. Organisiert von der USDP und kleinen linken Zellen wurden die großen Rüstungsbetriebe bestreikt. Etwa eine halbe Million Arbeiter beteiligten sich an den Ausständen, die sich am Vorbild der Oktoberrevolution orientierten und die SPD und die Freien Gewerkschaften völlig überrascht hatten. Sie beteiligten sich eher notgedrungen am Arbeiterrat „Berlin“, um einen Einfluss auf die Bewegung nicht gänzlich zu verlieren. Denn die Forderungen waren eindeutig politischer Natur: Frieden ohne Annexionen, Mitwirkung der Arbeiterschaft bei Friedensverhandlungen, Aufhebung des Belagerungszustands, Verbesserung bei der Lebensmittelversorgung und Reform des Wahlrechts. Das waren klare Ansagen an Reichtagsmehrheit, Regierung und Militärführung. Auch deshalb wurden die Streiks schnell und brutal niedergeschlagen. Innenpolitisch war diese Entwicklung von großer Bedeutung, bot sie doch Entschuldigungsargumentation für einen verlorenen Krieg: „Nicht die Armee und die Führung hätten dann versagt. Vielmehr hätten die streikenden Arbeiter und darüber hinaus SPD, Gewerkschaften und Reichtagsmehrheit die Front im Stich gelassen. Bereits im Januar 1918 war diese Argumentation vorbereitet, die man später die ‚Dolchstoß-Legende‘ nennen sollte“.421

Auch kurz vor der Kapitulation hatte die Handlungsweise der Militärs keineswegs nur militärische Funktion. Ihr ging es seit den Forderungen vom 29. September auch darum, für die Verantwortung der unabwendbar bevorstehenden Niederlage zivile politisch Verantwortliche zu finden: Das war schon der militärischen Ehre geschuldet. V. Ludendorff hatte deshalb gefordert, die bisherige Opposition müsse eingebunden werden, vor allem SPD und Zentrum, die zwar seit August 1914 die Politik der Reichsleitung überwiegend unterstützt hatten, seit 1917 aber im sog. Interfraktionellen Ausschuss des Parlaments mit der liberalen Fortschrittspartei auf einen Verständigungsfrieden hingearbeitet hatten. Von einem Primat des Militä-

421 Herbert (2014, S. 159 f.; zu Einzelheiten der Niederschlagung s. ebd.).

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rischen vor der zivilen Politik aber hatten der General und die OHL im Angesicht der Niederlage nichts mehr wissen wollen. Unbedingt vermieden werden sollte, dass die OHL und die Politiker der Rechten mit Niederlage und Waffenstillstandsverhandlungen belastet würden.422 Die angebliche Verseuchung der Truppe durch linkssozialistische und bolschewistische Propaganda gehörte zur Mär der „Dolchstoß-Legende“, auch wenn die Realität ein gänzlich anderes Bild bot: „Die Soldaten waren tödlich erschöpft, kriegsmüde und kriegsunwillig. Von den 760.000 Mann Verlusten der letzten vier Kriegsmonate entfielen 350.000 auf Gefangene (und Vermißte) (…) Im Hinterland gab es Mengen von Deserteuren und – absichtlich – Versprengten. (…) Der harte Kern der kämpfenden Front hat bis November ohne Auflösungsprobleme durchgehalten. Einen ‚Dolchstoß‘ hat es nicht gegeben“.423

Parallel und unabhängig zu diesen Vorgängen wurde an der Verfassungsreform gearbeitet. Ohne die Parteien und ihre vorbereitende Tätigkeit im Interfraktionellen Ausschuss – eine Art Koalitionsausschuss – wäre diese nicht zu realisieren gewesen. Insoweit handelte es sich nicht nur um eine Revolution von oben. Am 26. Oktober wurden gegen die Stimmen von Konservativen und Unabhängigen zwei Gesetze verabschiedet, die den Übergang zur parlamentarischen Monarchie markierten. Wesentlich ist, dass die Regierung nunmehr an den Reichstag gebunden war: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages." Ein ganzes Bündel von Maßnahmen wurde zum Verhältnis von Militär und politischer Gewalt paraphiert. Wichtige und politisch bedeutsame Akte der militärischen Kommandogewalt und die Aufsicht über das Militär standen jetzt in der Verantwortlichkeit der politischen Führung. Für den Kriegszustand waren nunmehr Minister verantwortlich.424 Trotzdem war die Kommandogewalt noch nicht gänzlich parlamentarisiert, war die Monarchie noch mit der Militärmacht verbunden, blieb die Nominierung des Kanzlers in der Sphäre des Monarchen und die Stellung des Bundesrates

422 Ebd. S. 164 f.. Die Verhandlungen, so v. Ludendorff, sollten von den Parteien der Reichstagsmehrheit geführt werden, um „jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir soweit gekommen sind. Wir werden also diese Herren in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe essen, die sie uns eingebrockt haben“ (v. Ludendorff zit. n. Herbert 2014, S. 165). 423 Nipperdey (1998, Bd. II, S. 866). 424 Siehe ebd. S. 867.

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war noch unklar. Auch war die Frage offen, ob Kaiser und Militär die Parlamentarisierung auf Dauer und endgültig akzeptieren würden. All diese Fragen aber wurden von der Wirklichkeit eingeholt, weil sich die innenpolitische Lage zuspitzte: „Die Oktoberreformen hatten keine eigenständige Wirkung mehr, sondern gingen auf in der Radikalisierung der Novemberrevolution“.425

7. Novemberrevolution. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches war während dieser Entwicklungen unaufhaltsam fortgeschritten. Einen letzten Anstoß zur Revolution gab die Meuterei von Marinesoldaten in Kiel, die sich weigerten, der Marineführung in eine letzte „ehrenvolle“ Schlacht zu folgen. Als die Anführer des Matrosenstreikes gefangengenommen wurden, solidarisierten sich weitere Matrosen und Soldaten, Arbeiter der Werften und Großbetriebe folgten. Am Abend des 4. November 1918 befand sich Kiel in den Händen der Aufständischen, die für den nächsten Tag einen Generalstreik ausriefen. Der Aufstand setzte sich in Hamburg, Bremen und Lübeck (6. November), Hannover (7. November), Braunschweig, Münster, Köln und Düsseldorf (8. November) und am 9. November in Berlin fort, ohne auf Widerstand durch Militär, Polizei oder Bevölkerung zu stoßen.426 Die Schnelligkeit und die Gewaltlosigkeit dieser Entwicklung zeigt, wie weit der Legitimationsverlust der staatlichen Institutionen bereits fortgeschritten war.427 Die reichspolitisch entscheidenden Weichenstellungen ereigneten sich am 9. November in Berlin. Einmal versuchte Reichskanzler Max von Baden Kaiser Wilhelm II. davon zu überzeugen, seinen Thron aufzugeben, weil nur so die seit Oktober geltende Staatsform der parlamentarischen Monarchie erhalten werden könne. Die MSPD hatte ihre weitere Mitarbeit von diesem Schritt abhängig gemacht. Auf der anderen Seite hatten linke Kräfte aus dem Spektrum der USPD, die über einen starken Rückhalt in der Berliner Arbeiterschaft verfügte, eine „Sozialistische Republik“ gefordert und erfolgreich zu Massenkundgebungen aufgefordert. Riesige Demonstrationszüge bewegten sich am Vormittag des 9. November durch die 425 Ebd., S. 868. 426 Grevelhörster (2002, S. 15 f.). 427 Herbert (2014, S. 169).

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Stadt, eine so eindrucksvolle Machtdemonstration, dass der Reichskanzler von sich aus die – noch nicht vorliegende – Abdankung des Kaisers bekannt machte und gleichzeitig – verfassungswidrig – sein Amt dem Parteivorsitzenden der MSPD, Friedrich Ebert, übertrug, der – sich der Fülle der vor ihm liegenden Aufgaben voll bewusst428 – einen politischen Umsturz für unnötig, ja gefährlich, hielt.429 Ein parlamentarisches System war seit Oktober installiert – eine parlamentarische Monarchie war für Ebert bis zum 9. November durchaus denkbar – und bei einem revolutionären Umsturz nach russischem Vorbild fürchtet er den unkalkulierbaren Verlauf. Die Stärke der Anhängerschaft der revolutionären Obleute und des „Spartakusbundes“ unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war zudem schwer einzuschätzen.430 Ebert, der zunächst und primär Ordnung, Sicherheit und Versorgung gesichert sehen wollte, schwebte dazu eine Regierung auf Basis der bestehenden bürgerlich-sozialdemokratischen Oktoberregierung unter Einschluss von Politikern der USPD bis zu einer Nationalversammlung vor. Auf die Ausrufung der „Deutschen Republik“ durch Philipp Scheidemann vom Gebäude des Reichstags zu den demonstrierenden Massen reagierte Ebert deshalb äußerst ungehalten. Scheidemanns Absicht war es, die Massen zu beruhigen und Karl Liebknecht zuvorzukommen, dessen Ziel eine „Rätediktatur“ nach bolschewistischem Vorbild war. Revolutionäre Obleute und Spartakisten konnten einen Beschluss erreichen, wonach am 10. November in den Betrieben und Garnisonen Arbeiter- und Soldatenräte zu wählen waren, die am gleichen Tag im Zirkus Busch zu einer Vollversammlung zusammentreten und eine neue, vorläufige Regierung einsetzen sollten. Der Ebert-Plan einer bürgerlich-sozialdemokratischen Übergangsregierung war damit obsolet. Jetzt musste schnell eine Verständigung alleine mit der USPD gefunden werden. MSPD und USPD einigten sich auf eine sechsköpfige paritätisch besetzte Regierung mit Ebert als Vorsitzendem.431 428 Zu nennen sind: die Rückholung der Fronttruppen, die Verbesserung der Versorgungslage für die Bevölkerung, die Umstellung der Wirtschaft auf eine Friedensproduktion, die rasche Wiederherstellung des Transport- und Verkehrswesens, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Kriegsheimkehrer. Zudem galt es einen Waffenstillstandsvertrag vorzubereiten und den Übergang zu einer neuen politischen Ordnung sicherzustellen (Grevelhörster 2002, S. 19). 429 Siehe Herbert (2014, S. 178). 430 Siehe Grevelhörster (2002, S. 16 ff.). 431 Siehe ebd. S. 21 f..

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Gleichwohl versammelten sich am 9./10. November 3000 Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte. Sie bestätigten einerseits die vorläufige MSPD/USPD-Regierung und wählten andererseits einen sogenannten „Vollzugsrat“, der nach Auffassung der Linksradikalen um Liebknecht die Regierung beaufsichtigen, letztlich aber als Gegenregierung mit eigenem Machtanspruch agieren sollte. Dieser Plan scheiterte am Widerstand der gemäßigten, der MSPD nahestehenden Soldatenvertreter, die analog der Regierung einen paritätisch mit Vertretern der MSPD und der USPD besetztes Gremium durchsetzten.432 Damit war nach der Ein-Tag-Revolution die Entscheidung für eine parlamentarische Demokratie in Deutschland gefallen.433 Deutschland war bereits zu industrialisiert und zu demokratisch434 gewesen, fasst Winkler die Argumentation Eduard Bernsteins zusammen. 8. Revolution und konstitutionelle Bewegung: Das Ringen um die künftige politische Ordnung. Die deutsche Revolution hatte sich in allen politischen Lagern vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Russland vollzogen. Antirevolutionäre Kräfte verschiedenster Richtung, unterstützt von Truppen der Westmächte, bekämpften das neue System. Die Wirtschaft versank bei dramatischen Rückgängen der Produktion und galoppierender Inflation im Chaos, Hungersnöte forderten zwei Millionen Opfer und die herrschenden Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte herrschten nur nominell. Denn die Bolschewiki entmachteten die Rätebewegung, verhinderten die Abhaltung von Wahlen und errichteten eine Ein-Parteien-Diktatur.435

432 Für eine Abgrenzung vom Bolschewismus sprachen innen- wie außenpolitische Überlegungen. Als der Führer der Spartakusgruppe Liebknecht versuchte die USPD-Reichstagsfraktion auf die Formel „Alle Macht den Räten“ festzulegen, „zuckte es dem anwesenden Eduard Bernstein‚ wie ein Blitz durch den Kopf: ‚Er bringt uns die Konterrevolution‘“. Ein kommunistischer Umsturz hätte aber, so Heinrich August Winkler, zu einem erneuten militärischen Eingreifen der Entente geführt (Winkler 2000 Bd. 1, S. 379). 433 Siehe Grevelhörster (2002, S. 22 f.). 434 Der Verwaltungsstaat war bereits so entwickelt, dass wichtige Positionen mit Arbeitervertretern besetzt waren und so ein großer Schritt in Richtung Sozialismus getan war, zitiert Winkler Eduard Bernstein (Winkler 2000 Bd. 1, S. 380). 435 Siehe Herbert (2014, S. 177; nachst. s. ebd. S. 178 ff.).

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Die extreme Linke zog daraus den Schluss, dass eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sei, würde sie nur konsequent betrieben und die alten Gewalten völlig entmachtet. Allgemeine Wahlen galten ob der Möglichkeit bürgerlicher Mehrheiten als revolutionsgefährdend und waren folglich abzulehnen. Instrument zur Umwälzung industrialisierter Gesellschaften war die neu geschaffene Kommunistische Internationale. Die Wahrnehmung der Revolution bei Eberts MSPD war eine gänzlich andere. Die unkalkulierbare Eigendynamik revolutionärer Kräfte gefährdete in ihren Augen Wirtschaft und Versorgung der Bevölkerung, könnte in einen Bürgerkrieg umschlagen und zur Diktatur führen. Deshalb waren größte Anstrengungen nötig, um eine schnelle Demobilisierung des Heeres und die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft zu erreichen, die Versorgungslage für Millionen von Kriegsversehrten und Hinterbliebenen sicherzustellen und Arbeitsplätze zu schaffen. Grundbedingungen dafür waren eine starke Wirtschaft, eine funktionierende Verwaltung und stabile politische Verhältnisse in der parlamentarischen Demokratie. Nur so könnten die schwierigen außenpolitischen Herausforderungen und ein akzeptabler Friedensvertrag bewältigt werden.436 Die Entscheidung über die Rätebewegung fiel – wieder vor der Entwicklung in Russland – auf dem Allgemeinen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. – 18. Dezember 1918 in Berlin. Schon zu Beginn war klar, dass die MSPD über die Mehrheit der Delegierten verfügte.437 Zu einer Grundentscheidung wurde die Frage, weniger „Ob“ als „Wann“ die verfassunggebende Nationalversammlung stattfinden sollte, sobald als nötig wie es die MSPD wegen der fehlenden demokratischen Legitimierung der aktuellen Regierung für nötig erachtete, oder ob durch eine „Diktatur auf Zeit“ die sozialistischen Ziele – Verstaatlichung der Großindustrie, Demokratisierung von Heer und kaiserlicher Verwaltung durch personellen Austausch – bereits vor der verfassunggebenden Nationalversammlung umzusetzen waren, wie dies die Mehrheit der USPD wollte und deshalb für einen späteren Termin eintrat.438 Die MSPD begründete ihre Forderung durch den Abgeordneten Max Cohen-Reuß. Er argumentierte, dass die Bolschewiki das Rätesystem nur eingeführt hätten,

436 Siehe zu den daraus resultierenden Grundsatzentscheidungen Herbert (2014, S. 179-181). 437 Siehe Winkler (2000 Bd. 1, S. 385). 438 Vgl. Grevelhörster 2002, S. 23 f.); vgl. Winkler (2000 Bd. 1, S. 386).

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um freie Wahlen zu verhindern und die Ein-Parteien-Diktatur einzuführen, habe sich bestätigt. Die sozialistische Umgestaltung hätte dazu geführt, dass Russland friere und hungere. Für eine Industriegesellschaft seien radikalsozialistische Experimente noch gefährlicher und unkalkulierbarer. Sei die Industrie aber einmal vernichtet, stehe sie nie wieder auf. Der Rätekongress beschloss im Dezember 1918 mit 400 zu 50 Stimmen, nicht am reinen Rätemodell festzuhalten und die Nationalversammlung möglichst früh, am 19. November 1918, abzuhalten. Damit war ab sofort der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie frei, weil es Ebert und der MSPD gelungen war, die Revolution zu kanalisieren und zum großen Teil in die konstitutionelle Bewegung zu reintegrieren 439 Kurzfristig nahmen die Spannungen, wie sich bei den sogenannten „Weihnachtsunruhen“ zeigte, wieder zu. Eine linke „Volksmarinedivision“ – zum Schutz der Revolutionsregierung aus Cuxhaven nach Berlin gekommen – belagerte in erpresserischer Absicht am 23. Dezember 1918 die Reichskanzlei.440 Da die MSPD diese linksradikale Bewegung als eine bolschewistische wahrnahm, schreckte sie vor einem Waffeneinsatz – wie mit Generalquartiermeister Gerhard Groener, der von Ebert Blankovollmacht erhalten hatte, vereinbart – nicht zurück. Am Morgen des 24. Dezember nahmen Reichstruppen die Quartiere der revolutionären Matrosen unter Beschuss – ein Vorgang von hoher symbolischer Bedeutung.441 Auf Druck des linken Flügels zog die USPD am 28. Dezember ihre Volksbeauftragten aus der Regierung zurück. Damit regierten Ebert und die MSPD alleine: „Neben der konstitutionell und parlamentarisch orientierten Sozialdemokratie stand nun die revolutionäre, auf die Errichtung der proletarischen Diktatur orientierte kommunistische Bewegung“.442

Am 31. Dezember 1918 gründete sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), neben der linken USPD Auslöser des „Januaraufstandes“ 1919 in Berlin. Wieder konnte die MSPD dem Umsturzversuch nur begegnen, indem sie regierungstreue Truppen unter dem Oberbefehl des MSPD-Volksbeauftragten Gustav Noske einsetzte, die den Aufstand blutig niederschlugen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden am

439 440 441 442

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Vgl. Herbert (2014, S. 181 f.). Grevelhörster (2002, S. 25). Herbert (2014, S. 183). Ebd. S. 183.

I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen.

15. Januar 1919 von Freikorpsoffizieren schlicht ermordet – was nichts daran änderte, dass sie wider alle Vernunft (Liebknecht) und bessere Einsicht (Luxemburg) zum Sturz der Regierung aufgerufen hatten: „Der Berliner Januaraufstand war der Putschversuch einer radikalen Minderheit“.443 In Bremen dauerte es bis zum 4. Februar, ehe die Freikorpsgruppen die Hansestadt nach blutigen Straßenkämpfen zurückerobert hatten. Vergleichbare Aufstände mit militärischer Niederschlagung ereigneten sich auch im Ruhrgebiet, in Sachsen und in München. Ebert war so für viele Sozialisten zum „Arbeiterverräter“ geworden. Die Vorgänge in München sind für uns von besonderer Bedeutung, weil Carl Schmitt sie vor Ort erlebte. Diese revolutionären Wirrnisse hatten starken Einfluss auf seine Theorieentwicklung (s. hier Zweiter Teil). Am 19. Januar 1919 setzte sich mit Ebert und der MSPD die konstitutionelle Bewegung in den Wahlen zur Nationalversammlung endgültig durch. Die MSP erhielt 37,9 Prozent, die USPD 7,6 Prozent, das waren ca. 10 Prozent mehr als bei der Wahl 1912, trotzdem weit von einer Mehrheit entfernt, was das erklärte Ziel der bürgerlichen Parteien war.444 Die linksliberale DDP erreichte 18,5 Prozent (+ 6,2), das Zentrum 19,7 (+ 3,3) – aus Sicht der Konstitutionalisten ergab dies eine Dreiviertelmehrheit. Die Wähler gaben also den Parteien den Vorzug, so Grevelhörster, „welche sich im Wahlkampf rückhaltlos zum demokratischen politischen Neubeginn bekannt hatten“, den „Weg eines bruchlosen Übergangs zu Demokratie und Republik“.445 Seinen parlamentarischen Ausdruck fand dieser Weg in der sogenannten „Weimarer Koalition“ von MSPD, DDP und Zentrum unter dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 13. Februar 1919, ernannt von Friedrich Ebert, den die Nationalversammlung bereits am 11. Februar zum ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt hatte.

443 Winkler (2000 Bd. 1, S. 391). 444 Vgl. ebd. S. 393. 445 Grevelhörster (2002, S. 32; nachst. s. ebd.).

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

II. Politische Romantik (1919). „Wo die politische Aktivität beginnt, hört die politische Romantik auf.“ Carl Schmitt446

1. Die Politische Romantik Carl Schmitts und ihr Umfeld. Die in den letzten Kriegsjahren 1917/1918 begonnene Politische Romantik geht im August 1918 in den Druck und erscheint Anfang 1919 mitten in den revolutionären Anfangswirrnissen einer neuen politischen Staatsform. Sie ist Carl Schmitts erste längere Monographie, die seinen „Ruhm begründete, deren Bedeutung heute noch diskutiert wird. Die Schrift war für ihn – so sah er es selbst – der Abschluss seiner wissenschaftlichen ‚Jünglingsjahre‘“447.

Die Politische Romantik steigert nicht nur Schmitts Bekanntheit und Reputation in weiteren Kreisen der Wissenschaft, sie macht ihm erstmals auch einem breiteren Publikum bekannt. Das Buch wird mannigfach besprochen, unter den Rezensenten befinden sich bekannte Namen wie Friedrich Meinecke und Hugo Ball448, der sie als ein Pamphlet gegen die deutsche politische Romantik und als ein Unikum in der neudeutschen Literatur bezeichnet449. Schmitt polarisiert mit seinen radikalen Thesen, die er zudem stilistisch virtuos formuliert ausbreitet: „Schmitts Thesen bilden ab 1919 den unumstrittenen Horizont aller Auseinandersetzungen mit der ‚politischen Romantik‘ in der Weimarer Republik“.450

Die Romantik-Schrift ist, hier Paul Noack folgend, eher im Zusammenhang mit den Däubler-Interpretationen (1916) und der staatsphilosophischen Schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) gesehen worden, wogegen Schmitt mit Die Diktatur (1921) ein neues und politischeres Kapitel seiner Werkgeschichte beginnt.451 Aber die Romantik-Schrift ist keineswegs nur von literaturwissenschaftlich-un446 447 448 449 450 451

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(PR 224.) Noack (1993:, S. 48). Ball (1925, S. 266 ff.). Ebd. (S. 266). Roque (2007, S. 111). Vgl. Noack (1993, S. 48); s. a. Ball (1924).

II. Politische Romantik (1919).

politischem und gerade-noch-historischem Wert oder gar nur von psychologischem Interesse, wie zu zeigen ist. Schmitt lässt die Arbeit an der Diktatur und damit auch den aktuellen Verfassungsfragen zunächst ruhen und bringt mit der Politischen Romantik „seine ältere, fortdauernde Individualitätskritik zum geistesgeschichtlichen Abschluss“452. Schmitt habe, weist Mehring den Weg, Die Diktatur wohl als das Werk verstanden, „das er sofort geplant hatte“, weil er intuitiv sein zentrales Lebensthema erfasst und ab diesem Zeitpunkt gewusst habe, was seine Aufgabe als Staatsrechtler zukünftig sein würde, nämlich die „Gegenwart als Rechtsgeschehen“ aufzufassen, weil die Geschehnisse der Kriegsjahre wie auch die der revolutionären Nachkriegsphase mit den normalen Kategorien eines Verfassungsstaates nicht mehr gefasst werden konnten.453 Mit seiner Arbeit zur politischen Romantik behandelte Schmitt nicht etwa ein Randthema dieser Zeit. Unter dem Leitthema einer Krise der Moderne nahm die Debatte um die politische Romantik einen aktuellen wie bevorzugten Platz ein.454 Das romantische Paradigma zählte jedenfalls zu den grundlegenden Ideologemen der Weimarer Republik.455 Gegen 1920 setzte zudem eine Adam Müller-Renaissance ein: „Daß Müller ‚den Typus politischer Romantik in seltener Reinheit darstellt‘456, scheint eine allgemeine Überzeugung gewesen zu sein. Es darf somit postuliert werden, daß eine intensive Beschäftigung mit Adam Müller auch Ausdruck eines größeren Interesses an der ‚politischen Romantik‘ war.457

Die verschiedenen Diskurse um die „politische Romantik“ widersetzen sich dabei allen vereinfachenden Einteilungen und Ordnungskategorien – links-rechts, konservativ-fortschrittlich, modern-antimodern – der politisch-geistigen Ebene.458 „Politische Romantik“ ist deshalb „immer eine Konstruktion innerhalb eines bestimmten Denkens, weshalb Aussagen zu ihr immer in ihren historischen Wirkungszusammenhang eingeschrieben werden [müssen]“459.

452 453 454 455 456 457 458 459

Mehring (2009, S. 102). Ebd. S. 92. Vgl. ebd. S. 115. Roque (2007, S. 107). Ebd. S. 106. Ebd. S. 106. Ebd. S. 107 f.. Vgl. ebd. S. 108.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Dies gilt gerade für eine Werkanalyse des Zeitdiagnostikers Carl Schmitt, der wie Karl Mannheim („Das konservative Denken“, 1927) eine „gleichsam strukturierende Rolle“460 im Romantik-Diskurs gespielt hat. Allerdings gewann die eigentliche Welle des Diskurses über die „politische Romantik“ im Veröffentlichungsjahr von Schmitts Schrift im Jahr 1919 erst richtig Fahrt, weshalb Roque sie als „erstaunlich unzeitgemäß“ klassifiziert. Dies berücksichtigend sei es nur verwirrend, die heftigen Angriffe gegen die Person Adam Müllers überzubewerten. Zudem behandle Schmitt nicht „Die politische Romantik“, sondern allgemeiner die „Politische Romantik“. Der eigentliche Sinn der Schrift ist für Roque „(…) die Auseinandersetzung mit einer intellektuellen Tradition unter den deutschen Gebildeten, deren Einfluß Schmitt für besonders aktuell und schwerwiegend hält. [Sie ist (…)] „die Abrechnung mit einer Denktradition, mit einer Weltanschauung, die 1918 als noch aktuell betrachtet wird“461.

Dies bedenkend kann Roque zugestimmt werden, wenn er es als „sinnlos“ deklariert, eine einheitliche Definition der „Romantik“ für die Republik von Weimar zu formulieren, weil die „politische Romantik wie die ‚Romantik‘ selbst immer eine Konstruktion innerhalb eines bestimmten Denkens [ist]“ 462. Bohrer identifiziert dies als einen Angriff, welcher „der Romantik als Paradigma der gefährlichen Moderne [gilt]“463. Es wird geltend gemacht, dass die Titulierung und Behandlung als „Politische“ Romantik keine Begrenzung der Thematik zur Folge habe, sondern als eine inhaltliche Zuspitzung gesehen werden müsse, welche die Mängel der Romantik deutlicher hervortreten lassen soll. Nach der epochalen Zäsur des Jahres 1933 wird die Perspektive vor allem zu der Frage wechseln, inwiefern die politische Romantik als Ursprung und Wurzel der völkischen bzw. nationalsozialistischen Ideologie infrage kommt. „Die Romantik wird zur tragischen Etappe eines dunklen Sonderwegs in den deutschen Abgrund“.464 460 461 462 463 464

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Ebd. S. 110. Ebd. S. 115. Ebd. S. 109. Siehe auch Fritsche (1977, S. 72-74). Bohrer (1989, S. 288). Roque (2007, S. 141). Der lutherische Theologe Adolf von Harnack formuliert 1923: „Über unser Vaterland, ja über die europäische Kulturwelt, geht zur Zeit wieder einmal eine romantische Welle (…). Statt ‚Wissenschaft‘ will man ‚Leben‘, statt der ‚Ratio‘ die ‚Intuition‘, und ein Weltbild voll geheimnisvoller Kräfte und seelenstärkender Elemente soll den Geist für den angeblichen Zusammenbruch aller rationalen Erkenntnis entschädigen“ (zit. nach Roque 2007, S. 105).

II. Politische Romantik (1919).

Eine Position gegen die Politische Romantik Carl Schmitts zeichnen wir hier knapp mit Henning Ottmann.465 Wer den Romantischen Konservatismus verstehen wolle, müsse sich erst einmal von billiger Polemik befreien.466 Schmitt habe in seiner Politischen Romantik die Romantik als „subjektivierten Occasionalismus“ abgetan. Die Phantasie des Romantikers könne sich an beliebigen Gelegenheiten entzünden: Krieg oder Frieden, Revolution oder Restauration, einem König wie einem nihilistischen Verschwörer. Zudem wolle die Romantik die Gegensätze vereinen, ohne sich zu entscheiden. Für Schmitt sei „Politische Romantik“ ein ironischer Titel: „Aber er war es zu Unrecht. Schmitt ordnete die Romantik ein bei der bürgerlichen, der ‚diskutierenden‘ Klasse. Er maß sie an seinem extremen Dezisionismus und er übersah alles, was in der Romantik gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet war“.467

Ottmanns Ausführungen zu Adam Müller behandeln wir in den entsprechenden Passagen dieses Textes.468 2. Carl Schmitts Romantikkritik als Selbstinquisition. Die Politische Romantik, „der Kulminationspunkt in Schmitts jugendlichintellektueller Entwicklung“469, und „zugleich die Zurückweisung der Welt, in der er bis dahin in München gelebt hatte“470, schrieb Schmitt nicht allein gegen eine Epoche und eine historisch-politische Bewegung, sondern in psychologischer Deutung auch gegen seine eigenen romantischen Neigungen,471 und darüber hinaus gegen „einen existenziellen Habitus, den er historisch-soziologisch am Bürgertum festmachte“472. In seiner Fronstellung gegen das „lange“ bürgerliche Zeitalter machten Kritiker in

465 Ottmann (2008, S. 20-28). 466 Ottmann (2008, S. 20; nachst. s ebd.). Kritik kam von den Linkshegelianern (Heinrich Heine, Arnold Ruge, Theodor Echtermeyer), die sich gegen den Romantischen Konservatismus stellten, weil er ihnen nicht fortschrittlich genug war (ebd.). 467 Ebd. S. 20. 468 Ebd. S. 22-28. 469 Kennedy (1988 b, S. 153). 470 Noack (1993, S. 48). 471 Vgl. Breuer (2012, S. 28). 472 Mehring (2006, S. 125).

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

der Romantik-Schrift schnell auch ein Stück Selbstinquisition aus.473 Belegt werde dies durch die Publikation von Schmitts Tagebüchern 1912 bis 1919 (TB I; TB II; Mehring 2014), mit denen auch weitere Materialien aus diesen Jahren zugänglich wurden. Noack hatte Schmitts Kampf wider den inneren Feind seiner selbst 1993 wie folgt beschrieben: „Er mußte sich frei machen von der eigenen Unentschiedenheit, von den intellektuellen Verführungen folgenloser Diskussionen als Vorwand für Politik. Und er tat das in der Art, die seinem Charakter entsprach: Er machte sich von seinen subjektiven Gefährdungen frei, indem er sie zu geschichtlichen Konstanten deklarierte. (…) Das Vehikel, das er damals benutzte, um den eigenen Subjektivismus zu bekämpfen, war sein Buch über die ‚Politische Romantik‘“.474

Die erhoffte Immunisierung gegen diese romantisch-bürgerlichen Anfälligkeiten habe aber, so Mehring, der die Politische Romantik „im autobiographischen Kontext als Selbstkritik“ rekonstruiert, nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt.475 Anknüpfend bei Helmut Quaritschs vier Grundprägungen, die dieser bei Schmitt ausmacht – Ästhetizismus, Katholizismus, Etatismus und Nationalismus476 − sieht er den Sprung in den Katholizismus als den Fluchtpunkt Schmitts. Anhand der Tagebücher sei nunmehr sogar eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung möglich, „die der literarischen Selbstkritik folgt. Sein Werk wurde Schmitt zur Form der Objektivation, Reflexion und Distanzierung seiner Leiden. Er hielt Gerichtstag über sich, exekutierte seinen frühen ‚Ästhetizismus‘ und entschied sich allmählich für Staat und Kirche, Etatismus und Katholizismus“.477

In den Schattenrissen und in Der Wert des Staates bereits aufflackernd, ist erst mit den beiden längeren Monographien – Politische Romantik aber auch Die Diktatur – „die Jugendkrisis entschieden“478. Schmitts Schrift sei so nicht nur als Kritik an einem romantischen Ästhetizismus und Subjektivismus zu lesen, sondern – wie vor allem auch die Buribunken – als „eine Art geistesgeschichtliche Abrechnung mit dem juristisch-politischen Denken der Neuzeit“479. Denn auch für die Romantik gelte:

473 474 475 476 477 478 479

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Ebd. Noack (1993, S. 47). Mehring (2006, S. 125). Quaritsch (1989; insb. III. Kapitel). Mehring (2006, S. 126). Ebd. Beneyto (1983, S. 65).

II. Politische Romantik (1919).

„Man muß jede geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst nehmen, aber nicht als Exempel für einen abstrakten Satz, sondern als konkrete geschichtliche Wirklichkeit im Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses“ (PR 7).

Eine Abwendung von seinem eigenen Romantizismus und ein Verdikt gegen das Bildungsbürgertum, das in den Fängen der deutschen Klassik und damit auch der deutschen Romantik in Tatenlosigkeit verharrte, sieht auch Joseph W. Bendersky in Schmitts Romantikkritik: „Schmitt’s increasing political awareness was quite evident in the book he published early in 1919 entitled Politische Romantik (Political Romanticisms).Before World War I, romanticism had been one of the strongest apolitiocal currents in German intellectual life. Most German intellectuals had been profoundly influence by the romantic tradition, which from the beginning had fostered a subjektiv perception of reality wherein the fulfillment of the self was paramount“.480

Bendersky sieht dies in einem Zusammenhang mit einer Tendenz zum Unpolitischen innerhalb des deutschen Intellektualismus, „to stress inner moral and intellectual development rather than public life and polical affairs“.481

Derart lässt sich im Ergebnis eine zunehmende Politisierung Schmitts wider einen Geist des Unpolitischen feststellen. 3. „Romantik“ vs. „Gegenrevolution“: Schmitts Kritik der „Romantik“ als Kritik des „Liberalismus“.482 Die politische Romantik ist seit den 1920er Jahren durch zwei berühmte theoretische Abhandlungen präsent. Einmal ist dies die Habilitationsschrift Altkonservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens von Karl Mannheim aus dem Jahr 1925,483 und zweitens, die Politische Romantik Carl Schmitts (1919; 1925). In beiden Abhandlungen steht die Per-

480 Bendersky (2014, S. 25). 481 Ebd. S. 23. 482 Wir übernehmen hier die Kapitelüberschrift in dem Aufsatz von Christian E. Roque (2007, S. 210), die einem Merksatz zu Schmitts Romantik-Schrift nahekommt. 483 Sie wurde vollständig erst 1984 unter dem Titel Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (Mannheim 1984) veröffentlicht.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

son des Philosophen, Ökonomen, Diplomaten und Staatstheoretikers Adam Müller im Zentrum. Während es Mannheim darum ging, den „Altkonservatismus“ als Denkrichtung zu untersuchen, geht es Schmitt darum, die politische Romantik von den Theoretikern der Gegenrevolution – de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés – abzugrenzen, und herauszuarbeiten, dass nur die gegenrevolutionäre Form konservativen Denkens ein wirkliches Ordnungskonzept zu begründen vermag,484 das zu klaren politischen Entscheidungen fähig ist. Müller wird bei Schmitt zum Idealtypus eines haltlosen und opportunistischen bürgerlichen Intellektuellen, dem „alle religiösen, moralischen, politischen oder wissenschaftlichen Angelegenheiten nur zufälliger Anlaß für seine ästhetische Produktivität [ist]. Romantik ist ‚subjektivierter Occasionalismus‘, ein ästhetisches Spiel ohne Substanz, ein Ordnungszusammenhang ohne klare Entscheidung“.485

3.1. Die Politische Romantik als konservativer Grundtypus. Die politische Romantik ist ein Grundtypus des Konservatismus,486 der Romantische Konservatismus mithin und zuallererst, „eine auf Realität bezogene, aus konkreten Interessen sich herleitende Konstruktion des Politischen“.487 Gesellschaftspolitisch und historisch betrachtet hat der Konservatismus klaren wie festen Grund und Funktion. Die Basis, auf der er wachsen konnte, war die Französische Revolution,488 die das bürgerliche Zeitalter einläutete, indem sie den bis dahin bestimmenden Gruppen von adeligen und klerikalen Großgrundbesitzern und patrizischem Handelsbürgertum ihre Stellung und ihre Existenz streitig machten. Die geistig-ideologische Gegenwehr gegen diese revolutionären Prozesse war der Konser-

484 Mannheim hat sich mehr für den Denkstil des Altkonservatismus interessiert, weniger für die politische Ausprägung (näher dazu s. Göhler/Klein (1993, S. 321 f.). 485 Göhler/Klein (1993, S. 321). 486 Wir unterscheiden mit Ottmann (2008, S. 3): 1) Liberaler Konservatismus (Burke, v. Genz, Brandes, Rehberg, Hegel), Romantischer Konservatismus (v. Baader, Novalis, v. Schlegel, Müller, Carlyle, Disraeli, Coleridge, de Chateaubriand), Gegenrevolutionärer Konservatismus (de Bonald, de Maistre, Donoso Cortés, v. Haller) und Sozialkonservatismus (v. Stein, Wagner, Wagener, Huber, RodbertusJagetzow). 487 Fritsche (1995, S. 186). 488 Siehe Ottmann (2008, S. 1).

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II. Politische Romantik (1919).

vatismus,489 der insoweit als Ideologie erscheint, als er eine Theorie gesellschaftlicher Ordnung zum Zwecke der Durchsetzung eigener Interessen war.490 Von konservativer Seite gesehen, war die Französische Revolution die praktische Konsequenz des rationalistischen, aufklärerischen Individualismus, mit dem die autonome menschliche Vernunft sich zum Maßstab aller gesellschaftlichen Ordnung erhob, die göttliche Ordnung säkularisierte und sich anmaßte, Verfassungen nach dem Vernunftpostulat zu konstruieren.491 Derart kann der Konservatismus als der Versuch zur Rehabilitierung der monarchischen Herrschaft begriffen werden, die unter der Infragestellung des Adels und dem Druck liberaler Kräfte ins Wanken geraten war.492 Reflections on the Revolution in France (1790), die Schrift des Stammvaters des klassischen Konservatismus, Edmund Burke,493 war eine unmittelbare Antwort auf die Französische Revolution und „breitete einen ganzen Fächer von Vorstellungsmustern und Argumentationen aus, mit denen sie zur klassischen Bekenntnisschrift des Konservatismus bis heute wurde“.494

Burke vertrat das Prinzip der historischen Kontinuität.495 Die herrschenden Eigentumsverhältnisse und die bestehenden Institutionen, Konventionen und Traditionen sichern für ihn Ordnung und Bestand der Gesellschaft. Dagegen habe die Französische Revolution unter dem revolutionären Vorwand der Freiheit „den Staat als die auf Ewigkeit berechnete Gemeinschaft aller Tugenden und aller toten, lebenden und künftigen Generationen in ein regelloses Chaos [gestürzt]“.496

Insbesondere beschwört Burke an mehreren Stellen seines Buches die Gefahr einer instrumentalisierbaren, besitzlosen und unberechenbaren Masse:

489 Auf die Konkurrenz des Konservatismusbegriffs zu Tradition, Reaktion und Restauration muss hier nicht eingegangen werden (S: Ottmann 2008, S. 1). 490 Göhler/Klein (1993, S. 318). 491 Ebd. S. 317. 492 Lenk (1989, S. 71). 493 Ebd. S. 271. Ausführlich zu Burke s. Ottmann (2008, S. 4-15; insb. S. 8-12). 494 Fritsche (1995, S. 186). 495 Göhler/Klein (1993, S. 317). 496 Fritsche (1995, S. 186).

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„Thron, Kirche, Adel, Volk heißt die Rangordnung, gegen deren Wahrheitsanspruch und geschichtliche Gültigkeit die aufklärerischen Hoffnungen und Apelle, die Forderungen nach Egalität und Menschenrechten ‚nur betrügerische Träume und Schattenbilder sind‘“.497

Allerdings hatte in England ebenfalls eine fundamentale Umwälzung stattgefunden, die Kontinuität, Traditionen und Institutionen – einschließlich der Köpfung des Monarchen – erschüttert hatte, wenn auch einhundert Jahre früher als in Deutschland. Burke rettete sich aus seiner Begründungsmalaise, indem er ausführte, in England sei nur der kranke Teil der Staatswirklichkeit beseitigt, deren Kern, die Erbmonarchie, aber erhalten worden – eine gewagte Interpretation der Geschichte. 498 Es wäre aber eine restringierte Interpretation, sähe man in Burke ausschließlich einen literarischen Gegenrevolutionär. Denn ein Staat, so warnt er, müsse auch die Mittel der Veränderung einsetzen;499 fehlten diese, fehlten auch die Mittel zu seiner Erhaltung. Auch müssten die freien Bürger ein Stück Gewalt in Händen halten, sollte ihre Freiheit gesichert sein. Über allem aber habe das Recht als Schutz gegen Willkür zu stehen. Insoweit ist Fritsches Charakterisierung Burkes als „weitsichtiger Realpolitiker und konzeptiver Ideologe der Eigentümergesellschaft“ zuzustimmen, an dessen Positionen viele konservative Konzepte anknüpfen konnten.500 Burkes Buch war Auftakt einer Reihe ähnlicher Schriften, insbesondere in Deutschland, das durch die Nachwirkungen des verheerenden Dreißigjährigen Krieges, wegen seiner Zerstückelung in Kleinstaaten und dem Fehlen ergiebiger Kolonien der sozioökonomischen Entwicklung in England und Frankreich weit hinterherhinkte: „Aus diesen Gründen nahm auch der deutsche Konservatismus besonders spekulative, wirklichkeitsfremde Züge an. Eine seiner einflußreichsten Ausprägungen wird seit Carl Schmitt (1919) allgemein als Politische Romantik bezeichnet. Ihr exemplarischster Vertrete ist Adam Müller (1779-1829), insbesondere mit seinem 1809 erschienenen Hauptwerk ‚Die Elemente der Staatskunst‘. Dieses ist inhaltlich weitgehend abhängig von Burke“.501

497 498 499 500 501

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Ebd. S. 187 (inneres Zitat Burke). Siehe ebd. Siehe Ottmann (2008, S. 4). Siehe ebd. Fritsche (1993, S. 188).

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3.2. Politische Romantik: Das Vorwort zur zweiten Auflage von 1925.502 Carl Schmitt nutzt das Vorwort zur zweiten Auflage der Politischen Romantik von 1925, um zentrale Thesen der Erstauflage und deren Herleitung wie Begründung zu erneuern, zu klären oder zu verschärfen.503 Abseits aller als romantisch bezeichneten Personen, Objekte und Situationen fordert Schmitt ein, „daß die Definition des Romantischen nicht von irgendeinem als romantisch empfundenen Gegenstand oder Thema ausgehen darf, vom Mittelalter oder der Ruine, sondern vom romantischen Subjekt. (…) Auf das eigentümliche Verhalten des Romantikers ist zu achten und von der spezifisch romantischen Beziehung zur Welt auszugehen, nicht von dem Ergebnis dieses Verhaltens und von all den Dingen und Zuständen, die sich in bunter Menge als Folge oder Symptom einstellen“ (PR 5).

„Romantisch“ ist aus der Sicht Schmitts eben nicht eine idyllisch gelegene und waldumsäumte mittelalterliche Ruine, sie kann nur das Objekt eines romantischen Denkens sein.504 Das Entscheidende ist demnach das romantische Subjekt, das sich durch bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata in Bezug auf die Welt und auf sich selbst auszeichnet, durch seinen romantischen „Habitus“, um einen Begriff Pierre Bourdieus aufzugreifen. Das Ergebnis dieses romantischen Verhaltens ist zunächst nicht von Interesse (vgl. PR 5). Die vielfältigen Bemühungen, die „Romantik“ mit der Beifügung eines Prädikats, oder durch die Beifügung von als „romantisch“ geltenden Gegenständen näher zu definieren und zu charakterisieren, verfehlten hingegen ihre Absicht, weil sie zeigten, „daß die Definition des Romantischen nicht von irgendeinem als romantisch empfundenen Gegenstand oder Thema ausgehen darf, vom Mittelalter oder der Ruine (…)“ (PR 5).

Schmitt geht hier insbesondere auf die Beifügung nationaler Prädikate wie „deutsch“, „germanisch“ oder „romanisch“ ein, die schon deshalb fehlliefen, weil die Romantik im 19. Jahrhundert eine große durch die europäischen Nationen hindurchgehende Strömung gewesen sei (s. PR 6). Da über die Romantik noch keine klare Erkenntnis vorliege, seien solche Beifügungen zudem willkürlich und verfehlten die „geschichtliche Besonder-

502 Das Vorwort selbst ist datiert mit „September 1924“. 503 Siehe Mehring (2015, S. 72). 504 Siehe die Aufzählung (PR 3/4).

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heit der Bewegung“, was „zu einer ungerechten Ablehnung sympathischer und wertvoller Erscheinungen und Leistungen“ führe (PR 7): „Man muß jede geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst nehmen, aber nicht als Exempel für einen abstrakten Satz, sondern als konkrete geschichtliche Wirklichkeit im Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses“ (ebd.).

Für eine solche geschichtliche Betrachtung, die eine geistige Bewegung in ihrem Zentrum erkennen will, wäre es ein durchaus richtiges Verfahren, am Gegensatz der romantischen Bewegung zu Aufklärung und Klassizismus anzusetzen. Was aber umgehend zu großer Verwirrung führen würde, behandelte man dieses Wesensmerkmal als erschöpfend und bezöge zahlreiche Bewegungen – religiöse, mystische und irrationale Tendenzen aller Art, Plotins Mystik, die Franziskanische Bewegung, den deutschen Pietismus, Sturm und Drang – auf die Romantik. Zudem verbiete sich eine antithetische Betrachtung wie, alles ist Romantik, was nicht Klassik ist, oder alles ist Romantik, was nicht Rationalismus oder Aufklärung ist (s. PR 8 f.). Es führt für Schmitt kein Weg daran vorbei, dass über das Zentrum einer geistigen Bewegung Klarheit gewonnen werden muss, „sei es auch nur Klarheit darüber [zu gewinnen], warum eine Bewegung objektiv unklar erscheint und aus der Unklarheit ein Prinzip zu machen sucht“ (PR 10).

Wenn die Romantik den Anspruch erhebe, für Menschenworte „unfaßbar und mehr zu sein“, so gehöre dies nun mal zur Romantik und brauche einen folglich nicht zu beirren: „Denn meistens ist die logische Taktik ihres Anspruchs allzu armselig. Es ist nämlich nur darauf zu achten, wie der Romantiker alles durch sich zu definieren sucht und jede Definition seiner selbst durch anderes vermeidet. Es ist romantisch, sich mit allem zu identifizieren, doch niemandem zu erlauben, sich mit dem Romantischen zu identifizieren“ (ebd.).

Romantisch sei es zu sagen, „der Occasionalismus ist Romantik“, nur nicht umgekehrt, „wie das hier vorgeschlagen wird, Romantik ist eine Form des Occasionalismus; denn damit wäre die Romantik selbst in ihrer zentralen Undefinierbarkeit berührt“ (PR 11).

Die Romantik wird derart – „grammatisch-logisch gesprochen“ – nur noch zum Prädikat, niemals zum Subjekt, und mit diesem einfachen Handgriff zaubere sie „ihr geistesgeschichtliches Labyrinth ins Dasein“ (ebd.). 168

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Verschwenderisch gleichsam gehe die Romantik oft mit einem „erstaunlichen Reichtum differenzierten Geschmacks und subtiler Analyse“ um, nur bleibe das alles im Bereich eines „bloß ästhetischen Feingefühls und dringt niemals zu einem Begriffe vor“ (ebd.). Aber erst wenn sie geschichtlich einer der großen historischen Konstruktionen der letzten Jahrhunderte eingefügt werde, gewinne sie eine bedeutendere Tiefe, wie das die gegenrevolutionären Schriftsteller versucht hätten. Die Romantik war für sie die Konsequenz einer Auflösung, „die mit der Reformation beginnt, im 18. Jahrhundert zur französischen Revolution führt und sich im 19. Jahrhundert in Romantik und Anarchie vollendet. So entsteht das ‚Monstrum mit den drei Köpfen‘: Reformation, Revolution, Romantik“ (ebd.).

Die Verbindung von Reformation und Revolution zieht sich durch das ganze gegenrevolutionäre Denken Europas und die Romantik tritt in den deutschsprachigen Ländern schon während der Restaurationszeit ab Metternichs Wiener Kongress (1815-1830) in diese Reihe. Überhaupt sei man sich damals in der intellektuellen Szenerie der engen Verbindung von politisch-sozialen und literarisch-künstlerischen Bewegungen bewusst gewesen. Auch Donoso Cortes benannte die Literatur als einen Reflex der ganzen Gesellschaft und ist davon ausgegangen, die Kunst sei immer „das notwendige Resultat des sozialen, politischen und religiösen Zustandes der Völker“ (PR 12; nachst. s. ebd.). Die Romantik galt ihm als eine revolutionäre Bewegung gegen die Traditionen wie die sozialen Zustände, „wie es sich damals in Frankreich, Italien und Spanien von selbst verstand“. Deshalb war die Romantik für die Gegner der Revolution „Anarchie“, ihre Bewunderer priesen ihre Kraft und Energie. Ergebnis war die Reihe: Reformation, Revolution und Romantik. „Die Auffassung ist im Kern politisch“ (PR 12), auch wenn sie die charakteristischen Widersprüche der Romantik auf politischem Terrain nicht erklärt, sondern summarisch als „Rebellion und Anarchie“ behandelt (PR 13). Damit wirft Schmitt die Frage auf, wie es komme, dass man in Deutschland, England und anderen Ländern den Eindruck gewinnen könne, die Romantik wäre ein natürlicher Bundesgenosse konservativer Ideen? „Politische Romantik verbinde sich in Deutschland mit der Restauration, mit Feudalität und ständischen Ideen gegen die Revolution“, erscheine als „Flucht in die Vergangenheit“ und Rückkehr zur Tradition (ebd.). Konsequenz sei eine andere Verallgemeinerung: Wer die Gegenwart nicht für besser, freiheitlicher und fortschrittlicher halte als die Vergangenheit, wird zum rückwärtsgewandten Romantiker. 169

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Die Romantik erscheint so in Schmitts Deutung als eine vielköpfige Bewegung505, die in konträrste Richtungen weisen und verdammt oder verherrlicht werden kann. Schmitt folgert daraus, dass eine „nur politisch interessierte Betrachtung (…) die politische Romantik niemals richtig erfassen“ [wird], sei sie doch „nicht einfach eine politisch-revolutionäre Bewegung; sie ist ebensowenig konservativ oder reaktionär“ (PR 14). Darob gerate auch die politische Auffassung der Gegenrevolutionäre ins Polemische, müsse sie doch letztlich einen Teil der romantischen Bewegung ignorieren. Sie leide an dem Mangel, dass sie nicht von der sozialen Eigenart der Menschen, den Trägern der Bewegung spreche. Darauf komme es für eine geschichtliche Betrachtung aber wesentlich an. Schmitt macht spöttelnd das neue Bürgertum als Träger der romantischen Bewegung aus (PR 16), auch wenn der liberale Bürger niemals lange Revolutionär geblieben sei (PR 17/18): „Seine Epoche beginnt im 18. Jahrhundert; es hat 1789 mit revolutionärer Gewalt über Monarchie, Adel und Kirche triumphiert; es stand im Juni 1848 bereits wieder auf der anderen Seite der Barrikade, als es sich gegen das revolutionäre Proletariat verteidigte“ (PR 16).

Eine klare geschichtliche Antwort auf das romantische Problem hat für Schmitt Hippolyte Taine gegeben, für den die Romantik eine bürgerliche Bewegung dargestellt habe, die sich im 18. Jahrhundert gegen die herrschende aristokratische Bildung durchgesetzt hat:506 „Mit der Demokratie, mit dem neuen Geschmack des neuen bürgerlichen Publikums entsteht die neue romantische Kunst. Sie empfindet die überlieferten aristokratischen Formen und die klassische Rhetorik als künstliches Schema und geht in ihrem Bedürfnis nach dem Wahren und Schönen oft bis zur völligen Vernichtung jeder Form“ (PR 17).

Allerdings bleibe Taine in seinen Aussagen widerspruchsvoll, weil ihm die Romantik bald Kraft und Energie, bald die Krankheit des Jahrhunderts ge-

505 Schmitt führt eine ganze Reihe von politisch-romantischen Möglichkeiten auf: „„Restaurations- und Revolutionsromantik, romantische Konservative, romantische Ultramontane, romantische Sozialisten, Völkische und Kommunisten usf. (…)“ (PR 13). 506 Schmitt nennt als Quelle Kathrin Murray: Taine und die englische Romantik. 1924. Beide hatten eine Liebesbeziehung schwankender Intensität. Schmitt wollte Kennedy zeitweise sogar heiraten (ausführlich zu dieser Beziehung siehe Mehring (2009, S. 131 ff. u.a.). Schmitt soll an dieser Dissertation nicht nur korrigierend und ratgebend mitgewirkt haben.

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wesen sei. Widerlegt sei Taine trotzdem nicht, weil er von der liberalen bürgerlichen Demokratie und damit von einer selbst höchst widerspruchsvollen Sache spreche. Er verstehe darunter „die politische Herrschaft des liberalen Mittelstandes, der „classes moyennes“, bürgerlicher Bildung und bürgerlichen Besitzes“ (PR 17).

Mit großer Schnelligkeit habe sich dann im 19. Jahrhundert die Auflösung der alten Gesellschaft des liberalen Bildungsbürgertums zur heutigen Massendemokratie moderner, industrialisierter Großstaaten vollzogen (vgl. ebd.). Dieser Entwicklung sei der liberale Bürger in Zeiten der Krise in starker Unsicherheit – schwankend zwischen überlieferter Monarchie und sozialistischem Proletariat – gegenübergestanden. Diese Pendelausschläge hätten auch das Urteil Taines verwirrt: hier intelligenter und kraftvoller Bildungsbürger, da der Typus eines platten wie ordinären und entmoralisierten Geldverdieners, der den Begriff des „Bourgeois“ zum Schimpfwort habe werden lassen (s. PR 18). Diese widerspruchsvolle Gemengelage machte es Taine oft schwierig, seine Definition der Romantik als der Kunst des revolutionären Bürgertums durchzuhalten, weil die Frage naheliege, „was denn der revolutionäre Bürger mit der Kunst (…) zu tun habe“ (ebd.). Die Romantik jedenfalls habe den Anspruch erhoben, „wahre, echte, natürliche universale Kunst zu sein. Niemand wird den eigenartigen ästhetischen Reiz ihrer Produktivität leugnen (PR 19).

Sie bleibe aber Ausdruck einer Zeit, die wie auf anderen geistigen Gebieten, „auch in der Kunst keinen großen Stil aufbringt und, im prägnanten Sinne, keiner Repräsentation mehr fähig ist“ (PR 20).

Vor allem aber, so Schmitt, werde Einigkeit im Urteil über die Aussage bestehen: „die romantische Kunst ist nicht repräsentativ“ (ebd.) – was allerdings auffallen müsse, weil die Romantik ihre geistige Produktivität ins Ästhetische verlegt und von diesem Ästhetischen aus alle anderen Gebiete kolonialisiert habe. Nunmehr aller Fesseln ledig, habe dies zu einem riesigen künstlerischen Selbstbewusstsein geführt. Die Verabsolutierung der Kunst werde nunmehr proklamiert, und eine Universalkunst werde gefordert und alles Geistige, Religion, Kirche, Nation und Staat, fließe in den Strom, „der von dem neuen Zentrum, dem Ästhetischen, ausgeht“ (ebd.). Aber umgehend vollzieht sich für Schmitt eine überaus romantisch-typische Verwandlung:

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

„Die Kunst wird verabsolutiert, aber gleichzeitig problematisiert. Sie wird absolut genommen, aber durchaus ohne die Verpflichtung zu einer großen und strengen Form oder Sichtbarkeit. Das alles wird vielmehr gerade aus Kunst abgelehnt (…)“ (ebd.).

Diese Leerstelle ermögliche es romantischer Kunst, sich in „tumultuarischer Buntheit“ aller Formen zu bemächtigen und diese trotzdem als belangloses Schema zu behandeln, aber, bei täglich wechselnder Kunstkritik und Kunstdiskussion, nach dem Wahren und Echten zu schreien: „Die auf den ersten Blick so ungeheure Steigerung bleibt in der Sphäre unverantwortlichen Privatgefühls, und ihre schönsten Leistungen liegen in der Intensität des Gemüts“ (PR 20/21).

So fragt Schmitt, was die Kunst seit der Romantik sozial denn bedeute, und kommt zu dem Verdikt, entweder ende sie in der Polarität von Snobismus und Bohème, oder sie werde zu einer Angelegenheit privater Kunstproduzenten für private Kunstkonsumenten. Die allgemeine Ästhetisierung diene aus soziologischer Sicht nur dazu, auch die anderen Gebiete geistigen Lebens zu privatisieren. Löse sich aber die Hierarchie der geistigen Sphäre auf, könne alles zum Zentrum des geistigen Lebens werden. Darin liegt für Schmitt die erste und einfachste Erklärung der scheinbaren Widerspruchsfülle des Romantischen: „Aber alles Geistige, auch die Kunst selbst, wird in ihrem Wesen verändert und sogar gefälscht, wenn das Ästhetische verabsolutiert und zum Mittelpunkt erhoben wird. (…) Weder religiöse, noch moralische, noch politische Entscheidungen, noch wissenschaftliche Begriffe sind im Bereich des NurÄsthetischen möglich“ (PR 21).

Derart aber könne jeder Gegensatz – gut vs. böse, Freund vs. Feind, Christ vs. Antichrist – zu ästhetischen Kontrasten und zu Mitteln der Intrigen in einem Roman werden und sich ästhetisch in ein Kunstwerk einfügen. Dann seien sie aber nur noch auf der tiefsinnigen und geheimnisvollen Ebene, dem der romantische Gegenstand selbst angehört (ebd.) – in unserem Beispiel dem Roman. Womit für Schmitt die verwirrende Buntheit der romantischen Szenerie in ihrem einfachen Prinzip erkannt ist (s. PR 22). Verbleibt die wichtigere Frage, welche geistige Struktur dieser Ausweitung des Ästhetischen zugrunde liege und warum die Bewegung gerade im 19. Jahrhundert so erfolgreich auftrete. Bester Prüfstein jeder echten Erklärung sei auch hier die „metaphysische Formel“ (ebd.): „Jede Bewegung beruht einmal auf einer bestimmten, charakteristischen Haltung zur Welt und zweitens auf einer bestimmten, wenn auch nicht immer bewußten Vorstellung von einer letzten Instanz, einem absoluten Zentrum. Die

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romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio“ (PR 22; s. nachst. ebd.).

„Occasio“ – Anlass, Gelegenheit, Zufall – erhalte seine eigentliche Bedeutung als Gegenteil von „causa“, denn er verneine den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit und einer jeden Bindung an eine Norm; er sei mithin ein „auflösender Begriff“, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt, (…) ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar. Wo das Gelegentliche und das Zufällige zum Prinzip wird, entsteht eine große Überlegenheit über solche Bindungen“ (ebd.).

In den als occasionalistisch identifizierten metaphysischen Systemen besetzt das bloß Occasionelle den entscheidenden Punkt. Bei Malebranche „ist Gott die letzte, absolute Instanz und die ganze Welt und alles, was in ihr vorgeht, bloßer Anlaß seiner alleinigen Wirksamkeit. Das ist ein großartiges Bild der Welt und steigert Gottes Überlegenheit zu einer ungeheuerlichen, phantastischen Größe“ (ebd.).507

Die charakteristische occasionalistische Haltung könne nun bestehen bleiben, zugleich an die Stelle Gottes aber eine andere höchste Instanz oder gar ein maßgebender Faktor treten, der Staat, das Volk – oder auch ein einzelnes Subjekt. Letzteres sei in der Romantik der Fall. Deshalb schlägt Schmitt die Formel vor: „Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romanistischen Produktivität“ (PR 23).508

Heute existierten für den modernen Menschen viele Arten metaphysischer Haltung in säkularisierter Gestalt: die Menschheit, die Nation, das Individuum, die geschichtliche Entwicklung oder das Leben als Leben seiner selbst, ohne dass die metaphysische Haltung aufhöre, weil Metaphysik et-

507 Nicolas de Malebranche (1638-1715) baut auf die Gedankenführung Descartes auf, dessen mathematische Klarheit und Methodik ihn stark beeinflussten. Er denkt dessen Philosophie mithilfe der christlichen Lehre weiter und sieht, Descartes abwandelnd, in Gott die wirkliche Ursache aller Ideen, wo hingegen der Mensch nur die gelegentliche – occasionelle – Ursache sein kann (kursiv, w.a.m.). Menschliche Empfindungen sind für die Wahrheitsfindung nicht von Bedeutung, Denn allein Gott ist der Urheber aller Naturphänomene und – neu – auch der menschlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen: „Wir sehen alle Dinge in Gott“ (‚en dieu‘) (Prill 1995: 554 f.; siehe Hirschberger 1991: 128-129). 508 Siehe auch (PR 96, 138 u. weitere).

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was Unvermeidliches sei. Was die Menschen als letzte und absolute Instanz betrachten, kann durch irdische und diesseitige Faktoren ersetzt werden: „Das nenne ich Säkularisierung und davon ist hier die Rede (…)“ (ebd.). Denn unter Beibehaltung der metaphysischen Struktur und Haltung treten immer neue Faktoren als absolute Instanzen auf (PR 24). Schmitt definiert: „Die Romantik ist subjektivierter Individualismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht“ (PR 24).

Das Occasionelle in Reinkultur tritt jetzt zutage und entfaltet „die ganze Konsequenz seiner Ablehnung jeder Konsequenz“, nunmehr kann „wirklich alles zum Anlass für alles werden“ (ebd.). Irgendeinen beliebigen Punkt kann der Romantiker zum Anlass nehmen, um ins Grenzenlose und Unfassbare zu schweifen, und zeigen, wie sehr das Occasionelle die Relation des Phantastischen ist, die Relation von Rausch, Traum, Abenteuer oder Märchen. Aus immer neuen Anlässen entsteht eine immer neue, aber eben nur occasionelle Welt, „eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance“ (PR 25; Herv. im Orig.).

Was jeder anderen geistigen Sphäre und der Wirklichkeit als lächerlich erschiene, wird im Romantischen zu einer ästhetischen Leistung. Alles werde im Romantischen zum „Anfang eines unendlichen Romans“, wie dies selbstverständlich auch für Märchen oder lyrische Gedichte und Weiteres gelte (PR 26). Und trotzdem verändert diese romantisch-flüchtige Welt die wirkliche Gesellschaft, denn nur in einer individualistisch aufgelösten Gesellschaft, nur in einer bürgerlichen Welt, die das Individuum im Geistigen isolierte, auf sich selbst verwies und ihm die ganze Last aufbürdete, die in einer sozialen Ordnung ansonsten hierarchisch verteilt war, „ist es dem privaten Individuum überlassen, sein eigener Priester zu sein, (…) wegen der zentralen Bedeutung und Konsequenz des Religiösen, infolgedessen auch sein eigener Dichter, Philosoph, der eigene Dombaumeister an der Kathedrale seiner Persönlichkeit. Im privaten Priestertum liegt die letzte Wurzel der Romantik und der romantischen Phänomene“ (ebd.).

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Und doch, warnt Schmitt, solle man nicht nur auf die guten Idylliker schauen, sondern auf die Verzweiflung und den Weltschmerz, die auch hinter der romantischen Bewegung stehen können (s. PR 26 f.). 3.3. Einleitung (PR 31-49). Als der „publizistische Gehilfe“ und Vertraute Metternichs und Freund bekannter Romantiker, Friedrich von Gentz – Schriftsteller, Staatstheoretiker, Übersetzer Burkes und Politiker – 1832 verstorben war und die bürgerliche Revolutionsbewegung ab dem Gründungsjahr der Heiligen Allianz (1815) bis zum Kulminationsjahr 1848 sich bereits abzuzeichnen begann, wurde die Romantik die Ideologie des „reaktionären Absolutismus“ (PR 31; nachst. ebd.). Gentz selbst – „der ‚sardanapalische‘509 Held der liederlichen Genialität“ – begriff man nun als die Inkarnation eines politischen Romantikers, der die „bequeme Ruhe des reaktionären Polizeistaats“ einem Kampf für die Freiheit vorgezogen hatte. Schmitt teilt diese schroffe Charakterisierung nicht (PR 32; nachst. vgl. PR 32 ff.). Ihm steht Gentz für das klassische Wesen des 18. Jahrhunderts, dem in staatstheoretischen Fragen eine begriffsauflösende Romantik im Übrigen unverständlich geblieben sei.510 Zudem subsumierten die revolutionären Protagonisten des Vormärz eigentümliche und in der Folge widersprüchliche liberal-humanitäre Begriffe unter das Signum der Romantik. Grund dafür sei „das unruhige, aufsässige Gemüt“511 des protestantischen „freien Selbst“ gewesen (PR 34; nachst. vgl. PR 34 f.). Die Romantik offenbart so etwas Protestantisches. Dass sie zugleich „trübe Gärung und Willkür sei, exzessive Freiheit des Individuums, das sich die Welt unterwerfen will“ (PR 34), war für Schmitt eine Verschärfung, die aus der Reihe der Vormärz-Revolutionäre gekommen sei. Um die Beziehung mit der politischen Reaktion erklären zu können, hätten sie freilich zur dialektischen Methode greifen müssen, um zu erklären,

509 „sardanapalisch“ = verweichlicht. 510 Für Metternich habe sich bei Gentz in den letzten Lebensjahren „eine Art von Romantik“ bemerkbar gemacht (PR 33). Metternich habe allerdings, so Schmitt, wie die Aristokraten der Restauration auch darunter vornehmlich liberale Neigungen verstanden (ebd.). 511 Arnold Ruge, zit. nach (PR 34).

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„daß die Romantik zwar als Negation ein revolutionäres Prinzip enthalte, aber gerade als subjektive Willkür Gegner der ‚Schranken der wahren Freiheit sei und die aus der Aufklärung hervorgehende Revolution ablehne‘“ (PR 34/35).

Solche hegelianischen Konstruktionen enthielten aber Verwirrungspotenzial, würden doch Kriterien wie „äußerster Individualismus und vegetative Dumpfheit nebeneinander“ genannt. Außerdem warfen die Hegelianer der naturalistischen Romantik vor, sie sei eine transzendente und abstrakte Abkehr vom wirklichen Leben; außerdem wecke sie Wünsche, die das wirkliche Leben nicht gewähren könne. Die Romantik, erklärte man, entstamme „den elenden politischen Verhältnissen Deutschlands“, woraus der Realismus der Hegelianischen Revolutionäre folgerte, die romantische Bewegung sei umso stärker, je unseliger der wirkliche Zustand eines Volkes sei. Aber begrifflich richtig zu fassen bekam man die vieldeutige Romantik nicht (s. PR 35 f.).512 Unsicherheit rief vor allem hervor, dass die kommenden Revolutionäre die Französische Revolution bewunderten, aber für Deutschland jeden Zusammenhang von Romantik und Revolution bestreiten mussten. Als Gemeinsamkeit betrachtete man einen charakteristischen Individualismus (PR 36).513 Die ersten Romantiker bezeichneten sich als „geistige Revolutionäre“, obwohl sie mit der politischen Reaktion verbunden waren, aber es mit der Revolution ebenso hätten sein können (PR 39). Auch in der Nachfolge der Französischen Revolution wurden sie einmal als Revolutionäre und dann wieder als Gegenrevolutionäre begriffen (PR 42 f.). Kurzum, über der Frage, was Romantik sein oder nicht sein – oder gar beides zugleich – kann, herrscht heillose Verwirrung: „Wollte man bei dieser Verwirrung überhaupt darauf verzichten, das Wort zu gebrauchen, so wäre das wohl ein praktischer Ausweg, aber keine Lösung“ (PR 43).

Aber die Schwierigkeit einer Definition resultiert für Schmitt schon aus dem Faktum, dass „romantisch“ nicht zu einer akzeptierten parteipolitischen Bezeichnung geworden (ebd.) und zudem ein leeres Gefäß gewesen sei, das seit einem Jahrhundert mit den verschiedensten Inhalten gefüllt wurde. Versuchen wir uns einer Romantik-Definition zu nähern, indem wir uns dem Zweck Schmitts zuwenden, den seine Politische Romantik verfolgt. Die Aussage Hugo Balls deckt das zentrale Motiv Schmitts auf:

512 Zur Positionierung der Romantik in Frankreich siehe (PR 36 ff.). 513 Näher dazu (PR 36 ff.).

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„Letzten Endes war die ganze Untersuchung in ‚Politische Romantik‘ unternommen, um die großen politischen Theologen Burke, Bonald und de Maistre vor einer ferneren Verwechslung mit Talmipolitikern514 und Adapteuren wie Adam Müller und Fr. Schlegel zu schützen“.515

Den wirr-schillernden Begriff der „Romantik“ einfach aus dem Vokabular zu entfernen ist für Schmitt gleichwohl keine Lösung, weil er die Auffassung vertritt, dass es unter Bezug auf die historischen und geistigen Zusammenhänge des Romantik-Komplexes möglich ist, dasjenige Moment herauszuarbeiten, „was berechtigterweise politische Romantik genannt werden muß“ (PR 43; vgl. nachst. PR 43 f.). Jedoch fehle dem Begriff eine parteipolitische Zuordnung wie eine etymologische Analyse: „Leider ist aber in einer grauenhaften Verwirrung das Wort Romantik seit fast einem Jahrhundert ein leeres Gefäß, das mit verschiedenem, von Fall zu Fall sich änderndem Inhalt gefüllt wird“ (PR 44).

Zur Verwirrung hatten für Schmitt auch die Historiker „in ihrer Abneigung gegen begriffliche Trennungen“ beigetragen, für die jede Meinung eines als Romantiker ausgemachten Subjekts dann auch eine „romantische“ war (PR 45). Ohne dies vertiefen zu wollen, fiel ob dieser Gemengelage des Begriffsdurcheinanders ein Vertreter nach dem anderen aus der Riege der politischen Romantiker. Übrig blieben mit Adam Müller, Friedrich Schlegel und Karl Ludwig von Haller nur noch die eigentlichen Schriftsteller der politischen Restauration. So verblieb für Schmitt zunächst nur noch der norddeutsche protestantische Philosoph, Staatstheoretiker, Ökonom, Diplomat und Literat Adam Heinrich Müller als Beispiel eines politischen Romantikers, an dem deshalb die Praxis eines politischen Romantikers „in concreto“ (PR 49) dargestellt werden müsse: „In Deutschland zeigt Adam Müllers politische Betätigung das typische Bild politischer Romantik. Es wird sich schon daraus ergeben, wie unrichtig die heute übliche Darstellung ist, die Männer wie Burke, de Maistre und Bonald mit Adam Müller und Friedrich Schlegel unter dieselbe Kategorie politischer Geistigkeit bringt“ (PR 49).

So liest sich die Rechtfertigung für die oben zitierte These Hugo Balls bei Carl Schmitt.

514 Talmi = Falschgeld. 515 Ball (1924, S. 269).

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3.4. Die äußere Situation (PR 50–76). Die romantische Bewegung in Deutschland bezeichnete sich selbst als Revolution und stellte deshalb einen Bezug zu den politischen Entwicklungen in Frankreich her. Das Potenzial der Gefährdung für eine stabile bürgerliche Gesellschaftsordnung wurde aber als so gering angesehen, dass in den Reihen des bürgerlichen Lagers sogar Sympathien für die Vorgänge in Frankreich zu beobachten waren (vgl. PR 50; nachst. s. PR 50 ff.). Selbst die hohe Bürokratie und der Adel – „die politisch maßgebliche Schicht“ (PR 52) – vertrauten unbeirrt auf ihre Überlegenheit. Erst nach den Napoleonischen Freiheitskriegen wuchs die Furcht vor einer revolutionären Infizierung und der Staat ergriff repressive Polizeimaßnahmen. Selbst Friedrich Schlegel, anfänglich ein Sympathisant der französischen Ereignisse, fügte sich in dieses polizeilich gesicherte bürgerliche Schema. Wenig später ließ er das revolutionäre Frankreich nur noch „als einen ganz erfreulichen Versuch gelten“: „Die Revolution der Romantiker selbst aber bestand darin, eine neue Religion, ein neues Evangelium, eine neue Genialität, eine neue Universalkunst zu versprechen. Von ihren Manifestationen in der gewöhnlichen Wirklichkeit gehörte kaum etwas in ein Forum externum. Ihre Taten waren Zeitschriften“ (PR 51).

Als die weitgereiste Deutschlandkennerin Madam de Stael erstaunt feststellte, dass in Deutschland die kühnsten revolutionären Gedanken frei geäußert werden könnten, lieferte sie die Erklärung gleich mit: „im Ernst kümmerte sich niemand darum“ (PR 52). Den Schreibtisch- und Vortragsrevolutionären schlug aus den Reihen einer sich überlegen fühlenden Aristokratie und herrschaftsbewussten Bürokratie sogar eine gewisse Verachtung entgegen. „Wichtiger ist die Antwort auf eine solche Überlegenheit und das tatsächliche Verhalten des politischen Romantikers, dem Gelegenheit zu politischer Betätigung gegeben wird“ (PR 54; nachst. vgl. PR 54 ff.).

Schlegel aber betrachtete jede praktische Arbeit im politischen Feld als unwürdig – und doch ließ ihn sein Ehrgeiz nach diplomatischen Geschäften und Aufträgen geradezu heischen. Aber sein Versuch, am Bundestag in Frankfurt politisch eine Rolle zu spielen, blieb erfolglos. Von seinen politischen Zeitgenossen wurde er mitsamt seinem Ideenpool über Papsttum,

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Kirche und Adel als Politiker schlicht nicht ernst genommen, und konnte, ätzt Schmitt, „nicht einmal neben Adam Müller bestehen (PR 56/57).516 Adam Müller war mit seinem Hauptwerk Die Elemente der Staatskunst (1924) für Schmitt der exemplarischste Vertreter der „Politischen Romantik“.517 Für die Bestellung zum Generalkonsul in Leipzig und die spätere Erhebung in den Adelsstand,518 für die er „Gott und dem Fürsten“ (PR 57) dankte, war Müller für Schmitt doch immer nur das „unbedingte Werkzeug“ Metternichs (PR 58), der differierende Ansichten nur in der Theorie seiner Schriften angedeutet hatte. Das Zeitfenster für eine politische Entscheidung, für eine eigene bedeutende politische Idee, habe für Müller in den Jahren 1808 bis 1814 gelegen. „Am Schlusse seines Lebens war er einfach ein guter, frommer Katholik, oft so demütig, daß er für eine menschliche Beurteilung damit wohl ein Jahrzehnt bedenklicher Zweideutigkeit ausgeglichen hat“ (PR 58;519 nachst. vgl. PR 58 ff.).

Der 1779 in Berlin geborene Müller hatte als romantischer Empörer begonnen, „spielte“ aber schon als zwanzigjähriger Student und „gelehriger Jünger von Gentz“ in Göttingen bereits den anglophilen Revolutionsgegner.520 Er befasste sich mit Nationalökonomie, Naturphilosophie, Medizin, Literatur und Astrologie und später auch Meteorologie – seine Interessen und Aktivitäten blieben „von romantischer Buntheit“ (PR 60). Von Geldsorgen und schweren Depressionen gedrückt, lebte Müller lange bei zwei polnischen Gutsbesitzern und folgte im Februar 1805 einer Einladung von Gentz nach Wien, wo er am Tag seiner Rückreise zum Katholizismus konvertierte (PR 61). Als Privatgelehrter hielt er in Dresden, in das er gezogen war, Vorlesungen über Literatur, Wissenschaft und Sprachen und schrieb für Zeitschriften (PR 62; nachst. vgl. PR 62 f.). In dieser Lage schlug Gentz dem bürgerlichen Müller vor, ein Buch zur Verteidigung des Adels zu verfassen, der sich in Preußen nach der Niederlage von 1806 nicht nur einer schlechten öffentlichen Reputation, sondern

516 517 518 519 520

Weitere Nachweise für ein politisches Tätigwerden Schlegels siehe (PR 55-57). Fritsche (1977, S. 72). Adam Müller von Nitterdorf. Herv. w.a.m. Die Göttinger hatten sich auch wegen der Verwandtschaft zwischen dem Englischen und dem Hannoveraner Herrscherhaus der Französischen Revolution gegenüber reserviert verhalten. Der florierende kulturelle Austausch habe sich bei Müller zur „Anglomanie“ gesteigert (PR 60).

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auch der wachsenden Gefahr liberaler Reformbestrebungen zu erwehren hatte. Im Winter 1808/9 hielt er Vorlesungen über Staatskunst, aus denen dann die Aufsatz- und Vorlesungssammlung „Elemente der Staatskunst“ hervorging. Schmitt spottet: „Auch hier beschränkte sich der Erfolg auf den engeren Kreis der Verwandtschaft“ (PR 63). Dresden musste er 1809 aus privaten und nach dem Einrücken der Franzosen auch aus politischen Gründen verlassen. Müller hatte die österreichischen Interessen zu stark vertreten und entfloh nach Berlin. Der preußischen Regierung schlug er vor, eine Ministerial- und Oppositionszeitung zugleich zu schreiben, wenn ihm eine gehobene gesellschaftliche Position verschafft werde (s. PR 65; nachst. vgl. 66 ff). Der Plan eines Regierungsblattes wurde aufgegriffen, Müller als Redakteur genannt, aber der neue Staatskanzler Hardenberg verweigerte ihm die Position eines höheren preußischen Regierungsbeamten, auch weil Müller bereits gute Beziehungen zur agrar-konservativen Opposition geknüpft und antiliberale Vorlesungen in deren Sinn gehalten hatte. Hardenberg, weiß Schmitt, habe den „unzuverlässigen und oberflächlichen Literaten“ gekannt (PR 66), der in der Tat schnell für die Opposition Partei ergriff, um zugleich „ohne jedes Gefühl für seine politische Charakterlosigkeit und Achselträgerei“ die Beziehung zu Hardenberg aufrechtzuerhalten, ohne aber etwas zu erreichen (PR 67). Müller wechselte daraufhin wohl nur nach Wien, weil Gentz ihm weiterhelfen konnte, nicht jedoch aus einem anti-revolutionären Instinkt zum katholischen Österreich. Seinen Übertritt zum Katholizismus hatte er in Preußen wohlweislich verschwiegen (PR 68). Schmitt charakterisiert Müller gnadenlos als einen charakter- und rückgratlosen politischen Opportunisten, indem er Wilhelm Grimm zitiert, der seinem Bruder Jacob über Müller geschrieben habe: „Fühlst Du nicht auch, daß eine gewisse Lüge sich durch alle seine Schriften verbreitet“ (PR 70). Auch als Gehilfe und publizistischer Beirat des provisorischen Tiroler Landeschefs schwenkte Müller in den Jahren 1813 bis 1815 zur herrschenden Meinung der siegenden Macht und sagte von sich, er sei überhaupt der geistige Leiter der „Austriacisierung“521 Tirols gewesen, auch wenn es weiterhin „ständische Gelüste“ hege. In seiner Denkschrift, die sich mit

521 „Austriacisierung“ meint die Eingliederung Tirols in das zentralistische System des Gesamtstaats (PR 71).

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seiner Rückberufung nach Wien kreuzte, hatte er scharfe Maßnahmen gegen Tirol gefordert (vgl. PR 71 f.).522 Schmitt personifiziert die „merkwürdigen charakteristischen Widersprüche, welche die romantische Bewegung gerade auf politischem Gebiete zeigt“ (PR 13) anhand Müller, der „in allem nur der eifrige Diener eines beliebigen Systems war, immer bereit, den Teil seiner Ideen, der einem ungehinderten Funktionieren im Wege stehen konnte, beiseite zu stellen und den andern zu assimilieren“ (PR 74)

Nur in seinem Katholizismus der späten Jahre habe Müller sich gefestigt gezeigt, konzediert Schmitt, auch wenn dies in der Zeit der Restauration keinen ungewöhnlichen Entschluss erfordert habe. Hier erwies sich für Schmitt die katholische Kirche „als der Felsen, an dem die romantische Eitelkeit, die alles über sein wahres Wesen belehren wollte, zerbrach“ (PR 76; nachst. s. ebd.). Die starke religiöse Bewegung, die nach den Napoleonischen Kriegen aufgetreten sei, habe auch Müller erfasst und „trug ihn innerlich an die letzten Konsequenzen seiner Richtung, zu einer orthodoxen Religiosität“. Hier hörte er allmählich auf, sich als Romantiker zu zeigen. Aber unrichtig sei, „ihn einen Romantiker zu nennen, weil er Katholik war“. Diese „beliebte Auffassung“, expliziert Schmitt, erkläre sich nur aus der dilettantischen Verwechslung des romantischen Objekts mit der Romantik: „Der Katholizismus ist nichts Romantisches. Sooft die katholische Kirche das Objekt romantischen Interesses war und sooft sie auch romantische Tendenzen in ihren Dienst zu stellen wußte, sie selbst ist nie, sowenig wie eine andere Weltmacht, Subjekt und Träger einer Romantik gewesen“ (PR 76).

Nachdem Schmitt an der Person Adam Müllers, die politische Offenheit der Romantik zwischen Revolution und Restauration gezeigt hat, geht er im Hauptteil seiner Romantikschrift daran, die Struktur des romantischen Geistes freizulegen.

522 Einzelheiten zur Tirol-Politik s. (PR 70 ff.).

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3.5. „Die Struktur des romantischen Geistes“523 oder „das antimetaphysische Subjekt“524 als Prinzip. Der Demiurg der Gesellschaft. „Die Wurzellosigkeit des Romantikers, seine Unfähigkeit, aus freiem Entschluß eine bedeutende politische Idee festzuhalten, seine innere Widerstandslosigkeit gegen den jeweils nächsten und stärksten Eindruck haben ihre individuellen Gründe“ (PR 77).

Wolle man die genannten Gründe zu einer Definition der politischen Romantik heranziehen, müssen sie in den Zusammenhang mit der geistigen Situation der Zeit gestellt werden. Dann, erläutert Schmitt sein Ziel, zeige sich, was fremdes Element und was wesentlich an der politischen Romantik ist. Um die Besonderheit ihrer geistigen Situation aufzubereiten, müsse wie bei jeder wichtigen Situation der modernen Geistesgeschichte, mit der Philosophie von René Descartes begonnen werden (PR 77/78). Am Anfang der Moderne, repetiert Schmitt, stünden zwei große Veränderungen.525 Wurde die Erde durch das Kopernikanische Planetensystem aus dem Mittelpunkt der Welt verwiesen, so wurde das alte ontologische Denken durch die rationalistische Philosophie Descartes erschüttert. Der Mensch konnte sich dadurch von den metaphysischen Autoritäten lösen und den Mittelpunkt in sich selbst suchen, und Descartes „cogito ergo sum“, „wird zur letzten und einzigen Quelle von Sicherheit in einem Strom von Ungewissem und Zweifelhaftem“.526 Das philosophische Denken, formuliert Schmitt, „wurde egozentrisch und suchte den Mittelpunkt in sich“ (PR 78).527 Nunmehr galt: „Die moderne Philosophie ist von einem Zwiespalt zwischen Denken und Sein, Begriff und Wirklichkeit, Geist und Natur, Subjekt und Objekt beherrscht, den auch die transzendentale Lösung Kants nicht behoben hat“ (PR 78).

Kants Philosophie habe dem denkenden Geist die Außenwelt nicht wiedergegeben, legt Schmitt dar, weil das Wesen der empirischen Wirklich-

523 (PR 77). 524 Bohrer (1989, S. 286). 525 Wann der Übergang zwischen Mittelalter und Moderne historisch anzusetzen ist, ist auch heute noch umstritten (Schaal/Heidenreich 2017, S. 37). Zur Genese der Moderne s.(ebd. S. 37 ff.). 526 Schaal/Heidenreich (2017, S. 45). 527 Siehe auch Bohrer (1989, S. 286).

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keit, das Ding an sich, gar nicht erfasst werden soll bzw. kann (ebd.).528 Erst die nachkantische Philosophie habe dann bewusst nach dem Wesen der Welt gegriffen, „um die Irrationalität des wirklichen Seins aufzuheben“ (ebd.). Die Romantik kann als Oppositionsbewegung begriffen werden, die sich gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und eine als mechanistisch begriffene Welt richtete, wenn auch nicht alles, was moderner Rationalismus ist, romantisch sei (PR 79).529 Mit dem philosophischen Streben nach der dem abstrakten Rationalismus unzugänglichen Realität erkennt Schmitt weitere Gegenbewegungen, die sich gegen den durch Descartes inaugurierten Rationalismus richten: (1) die philosophische, 530 (2) die mystisch-religiöse, (3) die historisch-rationalistische und (4) die gefühlsmäßig-ästhetizistische (lyrische) (PR 82; s. nachst. PR 82 f.). Letztere bringt zwar den Dualismus nicht zur Einheit, löst aber die Gegensätze in ästhetische oder gefühlsmäßige Kontraste auf, um sie dann wieder zu verschmelzen. Im Ergebnis bewirkt diese ästhetische Verschmelzung die Suspendierung jeder Entscheidung, und „namentlich in dem Rest des Rationalismus, den sie bei allem irrationalen Gebaren sich vorbehält, liegt der Ursprung der romantischen Ironie“ (PR 83).

Die deutsche Romantik vom Anfang des 19. Jahrhunderts zählt Schmitt zur antirationalistischen, gefühlsmäßig-ästhetizistischen Gegenbewegung (PR 84), die wie auch die anderen drei in der historischen Wirklichkeit selten in Reinkultur vorhanden sind (s. PR 85), aber gleichwohl gut unterscheidbar bleiben (PR 86). Noch wichtiger für die geistesgeschichtliche Bestimmung der Romantik sieht Schmitt in der Änderung, die dadurch eintrat, „daß die metaphysische Entwicklung vom 17. zum 19. Jahrhundert zu ganz neuen Vorstellungen von Gott und dem Absoluten führte“ (ebd.):

528 Anders formuliert: Kant sind „die transzendentalen Gesetze des Erkennens wichtiger (…) als die transzendentalen Gegenstände an sich, die er für unerkennbar hält“ (Hirschberger 1991, S. 329). 529 Siehe auch Bohrer (1989, S. 286); s. Motschenbacher (2000, S. 40). 530 Die einzelnen philosophischen Strömungen und anderen Gegenbewegungen, die Schmitt abhandelt, können im Rahmen einer Einführung nur soweit für das Verständnis des Zusammenhanges der Schmittschen Ausführungen notwendig und vereinfacht angesprochen werden. Zur Philosophie Fichtes und Schellings siehe (PR 78 ff.), zu Hegel und Spinoza siehe (PR 80 ff.) und zu weiteren Gegenbewegungen siehe (PR 82 ff.). Eine gut lesbare Darstellung der romantischen Philosophie, insbesondere auch Fichtes, findet sich bei Safranski (2015: 70 ff.).

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„Die höchste und sicherste Realität der alten Metaphysik, der transzendente Gott, war beseitigt. Wichtiger als der Streit der Philosophen war die Frage, wer seine Funktionen als höchste und sicherste Realität und damit als letzter Legitimationspunkt in der historischen Wirklichkeit übernahm. Zwei neue diesseitige Realitäten traten auf und setzten eine neue Ontologie durch, ohne auf die Beendigung der erkenntnistheoretischen Diskussion zu warten: die Menschheit und die Geschichte“ (PR 86).

An die Stelle Gottes traten zwei diesseitige, neue Realitäten; zwei überindividuell geltende Demiurgen ergriffen die Herrschaft über das Denken der Menschen. Der erstgenannte Demiurg, die menschliche Gesellschaft, wirkte in verschiedenen Gestalten als Volk, Gemeinschaft und Menschheit, aber immer in derselben revolutionären Funktion (PR 87). Bereits Rousseau hatte ja in seinem Contrat social die Allmacht der Gesellschaft proklamiert.531 Die individualistischen Elemente des Gesellschaftsvertrags seien dann in der Französischen Revolution praktisch beiseite geworfen worden: „Die Politik wird eine religiöse Angelegenheit, das politische Organ ein Priester der Republik, des Gesetzes, des Vaterlands. Gegen jeden politischen Dissidenten, jede abweichende Meinung wütete das Jakobinertum mit blutigem Eifer“ (PR 87).

Der politische Feind – wie Danton oder Hébert – rebellierte nun gegen den einzigen und höchsten, den priesterlichen Souverän und wurde infolgedessen zum geächteten „Atheisten“, weil der Souverän sich erfolgreich auf die neue Religion berufen konnte und seine Person dem Staat „unterschiebt“: „je mehr er selbst sein will, um so mehr muß er seine Privatperson verstecken und immer laut betonen, daß er ja nur der Funktionär des allein mächtigen und maßgebenden, überpersönlichen Wesens sei“ (PR 88).

Wäre der Funktionär allein von egoistischen Interessen getrieben, seiner privaten Vorteile – Macht, Ehre, Reichtum – könnte er sich nur heimlich und diebisch erfreuen: „Er ist nichts für sich und alles in seiner Funktion als Organ der wahren Macht, des Volkes oder der Gesellschaft. Sie hatte man gefunden, als man zur Natur zurückkehren wollte. Die Realität war die menschliche Gesellschaft, aus welcher der sentimentale Individualist zu fliehen glaubte“ (ebd.).

531 „(…) die grenzenlose Gemeinschaft [ist] ein revolutionärer Gott, der alle sozialen und politischen Schranken beseitigt und allgemeine Brüderlichkeit der ganzen Menschheit proklamiert“ (PR 90/91).

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3.6. Der Demiurg der Geschichte: „Die Vergangenheit ist Negation der Gegenwart“ (PR 102). Das Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit verortet Schmitt im zweiten Demiurgen, der Geschichte (PR 91): „Sie ist der konservative Gott, der restauriert, was der andere revolutioniert hat, sie konstituiert die allgemeine menschliche Gemeinschaft zum historisch konkretisierten Volk, das durch diese Begrenzung zu einer soziologischen und historischen Realität wird und die Fähigkeit erhält, ein besonderes Recht und eine besondere Sprache als Äußerung seines individuellen Nationalgeistes zu produzieren“ (ebd.).

Auch das Volk ist demnach das Ergebnis geschichtlicher Entwicklung, „der Gedanke einer willkürlichen Herrschaft über die Geschichte ist der eigentlich revolutionäre Gedanke“.532 Der hemmungslose Fanatismus der Jakobiner aber ist „unhistorisches“ Denken – was die Geschichte getan, jedoch ist wohlgetan: „Die voluntas Dei in ipso facto, die früher alles rechtfertigen konnte, hatte der geschichtlichen Rechtfertigung ex ipso facto weichen müssen“ (PR 92).

Hinzutreten müsse allerdings die „Dauer“; sie ist das gegebene konservative und traditionalistische Argument, aber nicht in dem Sinne, dass man hinsichtlich politischer Ereignisse erst einmal die Zeit abwarten müsse (s. PR 92). Nein, jetzt werde die Zeit als Geschichte eine schöpferische Macht, die Völker und Familien zu weltgeschichtlicher Größe bringe; „sie bildet Nationen und Individuen, in ihr wächst die Menschheit“ (PR 93). So habe auch Burke immer wieder auf die über Generationen sich überstreckende Gemeinschaft der Nation hingewiesen, was bei ihm allerdings praktische Erwägung geblieben sei: „die Vorstellung der neuen Macht, die als solche etwas rechtfertigen kann, fehlt bei ihm“, sein Pathos über die von menschlicher Willkür unabhängige, nationale Wirklichkeit sei umso nachhaltiger (PR 93/94). Neu war: „jetzt wird das Volk die objektive Wirklichkeit, die geschichtliche Entwicklung aber, die den Volksgeist produziert, wird zum übermenschlichen Schöpfer“ (PR 94).

Erst Hegel habe die beiden Realitäten zu einer Synthese gebracht, erst mit ihm war die Entthronung des Gottes der alten Metaphysik vollzogen. Er

532 Er hat zum Inhalt, etwas beliebig machen, schaffen zu können (PR 91).

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habe, so Schmitt, das Volk zum Staat rationalisiert, und mit der Geschichte, dem dialektisch sich entwickelnden Weltgeist, vereinigt. Dem Volksgeist, bei Hegel nur mehr Instrument des Weltgeistes, blieb gleichwohl der Spielraum, um eine revolutionäre neben einer reaktionären Richtung ausweisen zu können. Die Gesellschaft blieb – zum Marxismus weiterentwickelt – der revolutionäre Part, mit dem Proletariat als Träger der marxistischen Geschichtsphilosophie. Zum alten Gott der christlichen Metaphysik aber führte kein Weg mehr (vgl. PR 94 f.). Wo nun steht der Romantiker in diesem Kampf der Gottheiten? Der Macht der beiden Realitäten Gesellschaft und Geschichte unterlagen sie sofort, hatten sich unter der Philosophie Fichtes des absoluten Ichs aber stark genug gefühlt, die Rolle des Weltschöpfers selbst zu übernehmen – was alles aber nur dazu diente, als „ein geistiges Mittel die Souveränität des Ich zu steigern“ (PR 96).533 Der Entscheidung selbst wich der idealtypische Romantiker elegant aus: „Sie ließen es instinktiv unklar, wie weit das romantische Ich mit den neuen Mächten sich identifizierte oder sich ihrer als Mittel seiner Macht bediente. Das geniale Subjekt ertrug, wenn es mit seiner göttlichen Autarkie praktisch Ernst machte, keine Gemeinschaft mehr; die Einbeziehung des Subjekts in Gemeinschaft und Geschichte bedeutete die Entthronung des weltschöpferischen Selbst“ (PR 96).

Diese Malaise machte für die Romantiker die katholische Kirche höchst attraktiv. Sie bot „eine große irrationale Gemeinschaft, eine weltgeschichtliche Tradition und den persönlichen Gott der alten Metaphysik“ (ebd.). Daraus zogen sie zunächst den Fehlschluss, gute Katholiken werden und geniales Subjekt zugleich bleiben zu können: „Aber als sie auch innerlich von ihm534 überwältig wurden und im Ernst fromme Katholiken sein wollten, mußten sie ihren Subjektivismus aufgeben. Sie taten es, nachdem sie eine Zeitlang versucht hatten, auch der Kirche gegenüber das geniale Subjekt zu spielen (…). Mit dem definitiven Verzicht und der Perzeption eines Entweder-Oder war die romantische Situation beendet“ (PR 96/97).

Der romantische Konflikt zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit wirft ein weiteres Problem auf. Die Romantik begann als Bewegung der Jungen gegen die Alten. „Die Alten“ am Ende des 18. Jahrhunderts war die Generation der Klassiker mit Goethe an ihrer Spitze. Was aber konnten sie die533 Inneres Zitat von S. Elkuß (PR 96) ohne weiteren Nachweis. 534 Dem Katholizismus (w.a.m).

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sem Heroen entgegensetzen denn bloße Möglichkeiten, Pläne und Versprechungen auf die Zukunft? „Die romantische Lösung dieser Schwierigkeit besteht darin, daß die Möglichkeit als die höhere Kategorie hingestellt wird. Die Rolle des weltproduzierenden Ich konnten sie nicht in der gewöhnlichen Wirklichkeit spielen; den Zustand ewigen Werdens und nie sich vollendender Möglichkeiten zogen sie der Beschränktheit konkreter Wirklichkeit vor“ (PR 98).

Jetzt also, ironisiert Schmitt, kehre sich das Verhältnis um, nicht die Möglichkeit ist leer, sondern die Wirklichkeit, nicht die abstrakte Form, sondern der positive Inhalt, was auch philosophisch eine Umkehrung bedeutet: „Das Zeitalter suchte die Realität, um die rätselhafte Irrationalität des wirklichen Seins aufzuheben. Wenn das durch eine Rationalisierung geschehen sollte, war die Unendlichkeit des Lebens wieder beseitigt. Der Sinn alles Scharfsinns der Philosophen wie der erhitzte Zerebralismus mancher romantischen Äußerung liegt darin, daß sie das Dasein erklären und erfassen wollen, ohne auf die Schauer der unberührten Möglichkeiten zu verzichten“ (PR 99).

Das Ziel allen philosophischen Bemühens, fazitiert Schmitt, das Irrationale philosophisch zu erreichen, war nicht erreicht. Die neue Gesellschaft hatte in besonderer Form „den Romantiker überwunden und gezwungen, an sie zu appellieren (ebd.). 4. Das subjektive Prinzip der Romantik. „Der Gegensatz von Möglichem und Wirklichem wird mit dem Unendlichem und Endlichem, Intuitivem und Diskursivem verschmolzen“ (PR 99).

Der Mystiker des Mittelalters fand die Lösung dieses Konflikts in Gott, der unendliche Möglichkeit und konkrete Wirklichkeit zugleich ist. Das sei, so Schmitt, eine mystische Auflösung, aber nicht Romantik. Denn diese sei „auch hier wieder die des sich selbst reservierenden Subjekts“, das anstrebte, selbst zu übernehmen, was der Mystiker des Mittelalters in Gott gesucht und gefunden hatte (PR 100; nachst. s. ebd.). An der Möglichkeit, den beiden Demiurgen die Aufgabe dieser Vereinigung zuzuweisen, hielt der Romantiker gleichwohl fest. Das große, übermenschliche Gesamtindividuum, bei dem Denken und Leben eins sind, wird für den Romantiker das Volk und das „gute, edle, großmütige, instinktsichere Volk“ erhielt die Aufgabe zugewiesen, Träger der Naivität zu werden, die der „ungeduldige, nervöse, anspruchsvolle Intellektualist“ für seine Person verloren hatte. 187

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Adam Müller habe aus politischen Gründen anstelle von „Volk“ immer von „Staat“ gesprochen und „zum Urgrund aller Möglichkeiten“ erhoben: „sein Wille ist Gesetz, Stimme der Wahrheit, nicht nur juristische, sondern eben in Wahrheit“ (PR 101). Aber, hebt Schmitt mit Nachdruck hervor, die Romantiker seien nicht die Entdecker des neuen Stolz- oder Nationalgefühls, „weil sie die Realität eilig zu romantisieren suchten“. Denn das Volk stehe ja bereits im Dienst des romantischen Subjekts, habe die Aufgabe, die Quelle unerschöpflicher Möglichkeiten zu sein und die Gedanken der Aufklärung fernzuhalten, „weil Lesen und Schreiben und der ganze Bildungsschwindel das große Unbewußte vernichten würden“ (ebd.).535

Der Demiurg „Geschichte“ ist romantisch gut verwertbar. Weil die Zeit den Menschen in jeder Sekunde determiniert und jeder Moment die Vernichtung unzähliger Möglichkeiten bedeutet, weicht der Romantiker vor dieser Macht in die Geschichte zurück. Das vergangene Faktum ist real und konkret, übt aber nicht den Druck gegenwärtiger Realität aus. So ist dem Romantiker um die Wende des 18. Jahrhunderts die Flucht in das Mittelalter möglich, aber „das zeitlich oder räumlich entfernte romantische Objekt (…) ist nicht seiner selbst wegen Objekt des Interesses; es ist ein Trumpf, der gegen die gewöhnliche, real gegenwärtige Wirklichkeit ausgespielt wird und soll die Gegenwart widerlegen. (…) Seine romantische Funktion liegt in der Negation des Heute und Hier“ (PR 103).

„Auf der Flucht“ sieht Schmitt den Romantiker trotzdem nicht, denn er weiche zwar der Wirklichkeit aus, „aber ironisch und mit der Gesinnung der Intrige“. Das aber seien Mittel, um die eine Wirklichkeit gegen eine andere auszuspielen, „denn in der Ironie liegt der Vorbehalt aller unendlichen Möglichkeiten. So wahrt er sich seine innere, geniale Freiheit, die darin besteht, keine Möglichkeit aufzugeben“ (PR 105).

Das Angriffsziel romantischer Ironie sei eben nicht das Subjekt, „sondern die objektive Realität, die sich um das Subjekt nicht kümmert. Nur soll die Ironie die Realität nicht vernichten, sondern, unter Beibehaltung der Qualität realen Seins, dem Subjekt als Mittel zur Verfügung geben und es ihm ermöglichen, jedem Definitivum auszuweichen“ (PR 107).

535 Zum romantischen Potenzial von Kindern – „Auch Kinder sind solche Träger irrationaler Fülle, über welche der Romantiker verfügt.“ – siehe (PR 101 f.).

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So kommt Schmitt zu dem Ergebnis, „dass der Romantiker wegen seiner subjektivistischen Vorbehalte die gesuchte Realität weder in sich selbst, noch in der Gemeinschaft, noch in der weltgeschichtlichen Entwicklung, noch, solange er Romantiker war, im Gott der alten Metaphysik finden konnte“ (ebd.).

Die Sehnsucht nach der Realität aber sucht die Erfüllung. Mithilfe der Ironie konnte sich der Romantiker nur vor der einzelnen Realität schützen, doch war diese Ironie nur die Waffe, mit der das Subjekt sich verteidigte: „Die Realität war subjektivistisch nicht zu erringen“ (ebd.). Darum unterschob sich ihr etwas scheinbar noch Größeres, die Totalität, weshalb das Subjekt sich nunmehr des ganzen Universums, der gesamten Wissenschaft, der gesamten Kunst „in complexo“ bemächtigen konnte. Den Hebel entnahm man dem Arsenal der Naturphilosophie. Die philosophische Konstruktion sei aber auch da nicht romantisch (ebd.) – auch wenn sie ebenso wie die geschichtliche und die psychologische Konstruktion, romantisiert werde, „weil man sich nicht von der Vorstellung befreien kann, alles, was einen Romantiker interessiert und zu romantischer Produktivität reizt, selber auch in der Sache für romantisch zu halten (PR 108).

Im Romantischen diene eben alles, selbst die beiden neuen Realitäten, die Demiurgen der Gesellschaft und der Geschichte, Weltall und Menschheit, nur der Produktion des romantischen Ich, selbst der Umgang mit der Natur sei dem Romantiker nur Umgang mit sich selbst (PR 110).536 So zerstiebt die Realität zu einer nur mehr substanzlosen punktualisierten Wirklichkeit und jeder Punkt wird zum Anknüpfungspunkt für einen Roman (PR 109). Das Ergebnis ist eine „romantische Anarchie“, es „kann jeder sich seine Welt gestalten“ (PR 112).537 In einer frei gestaltbaren eigenen Welt aber – Schmitt demonstriert dies an Novalis – wird alles beliebig und jeder ist austauschbar: „In einer allgemeinen Vertauschung und Vermengung der Begriffe, einer ungeheuerlichen Promiskuität der Worte, wird alles erklärlich und unerklärlich,

536 „Was man als romantischen Rationalismus und Intellektualismus empfunden hat, ist diese ironische Entwicklung der Welt in eine phantastische Konstruktion. Dadurch wurden auch die beiden neuen Realitäten – Menschheit und Geschichte – zu Figuren, die man handhaben konnte (PR 109). 537 Siehe a. Motschenbacher (2000, S. 43).

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identisch und gegensätzlich, und kann allem alles unterschoben werden“ (PR 113).

Aber Welt oder Universum ist dies nicht, „sondern nur noch eine kleine Kunstfigur. Der Wille zur Realität endet im Willen zum Schein“ (ebd.). Die Romantiker hatten nach der Wirklichkeit der ganzen Welt gegriffen und erhielten stattdessen „einen beseelten, d.h. subjektivierten ludus globi“ (ebd.). Schmitt erinnern sie manchmal an die Verdammten in Swedenborgs Hölle: „sie sitzen in einer engen Tonne, sehen über sich wunderbare Figuren, die sie für die Welt halten, und glauben, sie hätten diese Welt zu regieren“ (PR 114).

5. Die occasionalistische Struktur der Romantik. Die Realität, die sich jeden Tag faktisch erwies, verbleibt nun als eine irrationale Größe im Dunkeln, das ontologische Denken gab es nicht mehr (PR 115). Im ganzen von der Romantik beeinflussten Jahrhundert über den Unterschied von Optimismus und Pessimismus hinweg macht Schmitt eine ganz eigene Stimmung aus, die Angst des einzelnen Individuums, sein Gefühl betrogen zu sein: „Wir sind hilflos in der Hand einer Macht, die mit uns spielt“, „einer unsichtbaren Macht freier Subjektivität“ (PR 115). In diese „Phantasien über die Macht geheimer Bünde“ mische sich, so Schmitt, ein rationalistischer Glaube an die bewusste Herrschaft des Menschen über die Geschichte – für den Romantiker „ein Thema für seinen intriganten und ironischen Realitätsdrang: die Freude an geheimer, verantwortungsloser und spielerischer Macht über die Menschen“ (PR 116).538

Hegel hatte dem sich fragenden Menschen – „Wer ist das seltsame Ich, das so mit mir herumzankt (PR 116)?“ – seinen Platz bereits zugewiesen: „der einzelne Mensch ist ein Instrument der im dialektischen Prozeß sich entwickelnden Vernunft. Über der nur vermeintlichen Freiheit des einzelnen Menschen schwebt eine unbewußte höhere Notwendigkeit (…)“ und un-

538 Siehe auch Safranski (2015, S. 53 ff.). Schmitt nennt Ludwig Tiecks zehn Bücher umfassenden Briefroman „Die Geschichte des Herrn William Lovell“. Lovell – vermeintlich seine Umgebung mit ironischer Überlegenheit beherrschend – muss erkennen, dass er selbst durch die Ironie des Andrea beherrscht wurde, der sich wiederum selbst fragt, wessen Werkzeug er eigentlich sei.

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willkürlich realisiert sich die Geschichte (PR 116/117). Die Völker sind nur Instrumente des Weltgeistes, der Einzelne nur Opfer dieser „List der Vernunft“ (PR 117).539 So zitiert Schmitt Arthur Schopenhauer: ihm ist „das Leben ein fortgesetzter Betrug“ (ebd.). Für Burke, de Maistre und de Bonald liegt der „Grund“540 allen politischen Geschehens in einer überindividuellen Macht und äußert sich in Abscheu „vor den künstlichen, von einem findigen Individuum berechneten Verfassungen, vor den Konstitutionsfabrikanten und den politischen Geometern“ (PR 119).

Die Romantiker kombinierten diesen Gedankengang mit ihrer subjektivistischen Weltkonstruktion und „empfanden sich gern als Glieder eines höheren Organismus“ (ebd.), die tanzen, essen, sprechen, arbeiten, sich hören, sehen, fühlen usw., weil all das bereits Funktionen der Wirksamkeit eines „höheren, zusammengesetzten Menschen, des Genius“ seien (Novalis): „Wie in dem Zwiespalt von Wirklichkeit und Möglichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit die Gemeinschaft und die Geschichte Funktionen wahrgenommen hatten, die in der christlichen Metaphysik Gott zustanden, so wurden sie hier zur wahren Ursache, für welche alles nur ein Anlaß ist.

Doch es waren nicht die beiden Demiurgen, sondern das romantische Subjekt selbst, das absolute Ich Fichtes, das alles zum Anlass nimmt und zum romantischen Subjekt wurde. „Die Welt, das ‚Nicht-Ich‘, wird bei Fichte zur Materie, die verarbeitet werden muß“ und in „absoluter Kausalität und absoluter Aktivität“ umzugestalten ist (PR 120). Dadurch begibt sich dieses Eingreifen in die Materie allerdings in die äußere Realität der Kausalzusammenhänge, in der für Ursache und Wirkung ein adäquater Zusammenhang gefordert ist: „Hier liegt allerdings der entscheidende Punkt. Wenn nämlich etwas die Romantik total definiert, so ist es der Mangel jeglicher Beziehung zu einer causa“ (ebd.)541.

539 Im Marxismus sind die Menschen und Klassen gleichzeitig Werkzeug und Wirkung des Produktionsprozesses (PR 117). 540 „Grund“, erläutert Schmitt, bedeute bei ihnen sowohl die kausale Erklärung als auch die normative Rechtfertigung, die Legitimierung“ (PR 119). 541 Herv. im Original.

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Sie wehrt sich gegen die absolute Kausalität von Ursache und Wirkung, sie wehrt sich auch gegen den organischen Zusammenhang von Reiz und Wirkung. Das Verhältnis von occasio und Wirkung aber ist „absolut inadäquat“ (ebd.) – „völlig inkommensurabel, jeder Sachlichkeit sich entziehen, a-rational, die Relation des Phantastischen“ (PR 121). Wie, fragt sich Schmitt, ist es dieser Relation möglich, die Welt umzugestalten? – Und antwortet, durch „Poetisierung“ (ebd.). d.h. indem Phantasien produziert werden (PR 122) und auf ein adäquates Verhältnis zur äußeren Realität bewusst verzichtet wird (PR 123). Für Schmitt liefert Novalis in seinem Fragment (Nr. 66) „die eigentliche Formel des Romantischen“: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen, alles ist erstes Glied in einer unendlichen Reihe, (…) Anfang eines unendlichen Romans“ (PR 121).

Wird aber jedes Gespräch, jede interessante Begegnung, jede sensuelle Wahrnehmung zum möglichen Anlass eines Romans, kommt es auch im Romantischen zu einer Umgestaltung der Welt: „So erklären sich die scheinbar verwickelten romantischen Phänomene: Fichtes absolutes Ich, ins Gefühlsmäßig-Ästhetizistische umgebogen, ergibt eine nicht durch Aktivität, sondern in Stimmung und Phantasie veränderte Welt“ (PR 122).

Die Romantik produziert also Phantasien. Soll ihr Wesen erkannt werden, muss vom romantisierenden Subjekt ausgegangen werden. Das Objekt, „das gegebene Faktum“, ist nur „Gegenstand ästhetisch-gefühlmäßigen Interesses, an dem der „romantische Enthusiasmus sich entzündet“, aber so sehr im Subjektiven liegt, dass von „Objekt oder Gegenstand nicht mehr gesprochen werden kann“ (s. PR 122): „Das Objekt ist substanzlos, wesenlos, funktionslos, ein konkreter Punkt, um den das romantische Phantasiespiel schwebt. (…) Daher fehlt jede Möglichkeit, ein romantisches Objekt klar vom andern – (…) – zu unterscheiden, weil eben nicht Objekte, sondern nur noch occasiones vorhanden sind“ (PR 123)542.

Auf eine tief gehende Betrachtung der philosophischen Entwicklung bzw. Probleme des Occasionalismus verzichtend halten wir nur Folgendes fest: Der Begriff der occasio entstammt den Systemen des philosophischen Oc-

542 Herv. im Original.

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casionalismus bei de Cordemoy, Geulinex und Malbranche. Die occasio, als ein neuer, besonderer Typus metaphysischer Haltung steht dabei im Gegensatz zum Begriff der causa. Bei den genannten Philosophen wurde der Gott der christlichen Metaphysik beibehalten (s. PR 123 f.). Die Welt war so zwar Anlass, „aber ein Anlaß für Gott, in welchem sich Ordnung und Gesetz wiederfinden“ (PR 124). „Das Problem der wahren Ursache ist das Ausgangsproblem des Occasionalismus“, der in Gott die wahre Ursache für alle psychischen und physischen Vorgänge dieser Welt fand. „In Wahrheit handelt nicht der Mensch, sondern Gott“ (PR 125). Schreibt der Mensch, führe Gott die Feder, war ein beliebtes Beispiel für diese These. Das Entscheidende aber liegt, wie wir bereits im Vorwort der RomantikAusgabe von 1925 ausgeführt haben, in der strukturellen Besonderheit des Occasionalismus, der einen Dualismus nicht erklärt, sondern bestehen lässt, ihn aber illusioniert, „indem er in ein umfassendes Drittes ausweicht. (…) Das Interesse gleitet einfach vom dualistischen Ausgang in eine allgemeinere ‚höhere‘ und ‚wahre‘ Einheit“ (PR 126/127).

Der Gott-Gläubige werde diese Beziehung als höchst „organisch“ empfinden, denn im Wesentlichen, in Gott, gebe es keinen Dualismus. Der Gott im System des Occasionalismus „hat wesentlich diese Funktion, wahre Realität zu sein, in welcher der Gegensatz von Leib und Seele ins Wesenlose verschwindet“ (PR 127).

Sobald aber, wie bei den Romantikern, der „Organismus“ die Gegensätze nicht nur polarisiert, hebt ein „höheres Drittes“ die Gegensätze auf, indem die Gegensätzlichkeiten „im ‚höheren Dritten‘ verschwinden, und der Gegensatz zum Anlaß dieses ‚höheren Dritten‘ wird“, so wie der Gegensatz der Geschlechter im „Gesamtmenschen“ aufgehoben ist (ebd.) „Das, was die Kraft hat, den Gegensatz als Anlaß seiner höheren, alleinigen Wirksamkeit zu benutzen, ist die wahre und höhere Realität“ (ebd.).

Auch für Adam Müller treffe dies zu. Er begann, so Schmitt, mit einer Lehre vom Gegensatz, die eine absolute Identität ausdrücklich ablehnt und als letztes Prinzip den Gegensatz – eine Art „antithetische Synthesis“ – proklamierte: „jedes Ding ist nichts anderes als sein Gegensatz“ (PR 127/28). Eine Überwindung des Gegensatzes könne aber nur durch ein Höheres, die „Idee“, gelingen (PR 128), alles werde bei Romantikern dadurch erklärt, „daß die konkrete Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit

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derart im Höheren aufgeht“ (PR 129). Dieses Höhere könne die Gemeinschaft sein, dann werde aber auch alles in „Geselligkeit“ gedacht. Das höhere Dritte ist dem Romantiker die wahre Realität, in der sich alle Gegensätze aufheben. Augenscheinlich wird diese Struktur des romantischen Geistes, wenn Romantiker wie Friedrich Schlegel zum Gott der christlichen Metaphysik und damit der katholischen Kirche zurückfinden (nachst. s. PR 129 ff.).543 Das Dilemma des Katholiken Schlegel war die Beziehung von Natur und Mensch: „entweder vernichtet der Mensch (der Geist) die Natur (die Körperlichkeit), oder die Natur vernichtet den Menschen; (…)Die Rettung geschieht unmittelbar durch Gott“ (PR 129/130).

Müller folgt Schlegels Philosophie und gelangt so zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der Staatswissenschaft: „der Mensch kann keinen Schritt tun, ohne daß sich eine Kluft öffnet, auch der ewige Widerstreit zwischen Legitimismus und Liberalismus kann daher nur durch das Eingreifen Gottes geschlichtet werden. Gott allein bewegt die Geschichte“ (PR 130).

Mit diesem Ansatz wehrte Müller u.a. den Freiheitsanspruch der Völker ab. Sie beriefen sich auf die unzähligen Opfer, die sie in den Freiheitskriegen mit Napoleon hatten erbringen müssen. Diesem Argument hielt Müller entgegen, der Sieg über Napoleon sei nur auf das Wirken Gottes, nicht aber auf Menschenwerk zurückzuführen. Folglich waren für Müller politische Forderungen aus diesen Ereignissen nicht abzuleiten:544 „Immer kam es (…) darauf an, daß die Gegensätzlichkeit konkreten Geschehens die allein wahre Wirksamkeit der allein wahren Realität auslöst“ (PR 131).

Zur romantischen Situation gehört es, nach Schmitt, sich mehrerer Realitäten – „Ich, Volk, Staat, Geschichte“ – zu bedienen, was aber verwirrend die einfache Struktur des Wesens der Romantik verdeckt, weil die „wahren Ursachen“ durcheinander spielen und so

543 Motschenbacher (2000, S. 45). 544 „Früher, als er noch unter dem Einfluß der Naturphilosophie stand, hätte er gesagt, sie wären das Werk der nationalen ‚Lebenskraft‘, die in dem Gegensatz von Fürst und Volk allein produziere (…) oder das Ergebnis organischen geschichtlichen Wachstums, weil so große Dinge überhaupt nicht von Menschen ‚gemacht‘ werden könnten“ (PR 131).

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„das Andere und Fremde mit dem Wahren und Höherem Eins wird. Erst damit ist die Romantik vollendet“(PR 131).

Die Frage nach der wahren Ursache tangierte den Romantiker solange nicht, als er selbst der Schöpfer in seiner eigenen Welt war (ebd.). Die Situation des Romantikers stützt sich nun darauf, sich die Identifikation mit dem Weltschöpfer zwar vorzubehalten, „ohne sie jedoch auszuhalten, weil das eben vom einzelnen empirischen Subjekt aus, eine phantastische Unmöglichkeit ist (PR 132).545

Konsequenz war, dass die Romantiker von einer Realität zur anderen glitten, „vom Ich zum Volk, zur ‚Idee‘, zum Staat, zur Geschichte, zur Kirche, immer, solange sie Romantiker blieben, die eine Realität gegen die andere ausspielend, niemals sich entscheidend in diesem Intrigenspiel der Realitäten“ (ebd.).

Die Realität des Romantikers steht immer im Gegensatz zu einer anderen, das Wahre, Echte bedeutet Ablehnung des Wirklichen und Gegenwärtigen, wird zum anderen schlechthin, und die Worte, die sie gebrauchten, „waren substanzlos, weil sie immer nur von sich selbst, nicht von den Gegenständen sprachen“ (ebd.). Den Traum vom Weltschöpfer aufgebend, fühlte der Romantiker sich nunmehr „als Objekt der Ironie zahlreicher wahrer Realitäten“, (…) die ihn „ironisch durcheinander spielten“ (PR 133). Man möchte meinen, merkt Schmitt an, ein solcher Zustand würde einen Menschen geistig wie physisch vernichten: „Statt dessen endete die Romantik als Gesamtphänomen im Biedermeier, vielleicht kein schimpfliches, aber auch kein tragisches Ende. Die revolutionäre Zerrissenheit wurde zur Idylle, der Bourgeois schwärmte von der Romantik und sah in ihr sein Kunstideal und seine Erholung.“ (PR 133).

Damit, so Schmitt, war der Kreislauf der Gegensätze von Revolution zu Idylle geschlossen, war „der ironische Romantiker das Opfer einer bösen Ironie geworden. (…) Es war die Erfüllung der Romantik“ (PR 134): „Mit Satiren gegen die Philister hatte die Romantik begonnen, (…). Der Romantiker haßte den Philister. Aber es stellte sich heraus, daß der Philister den Romantiker liebte, und in einem solchen Verhältnis war die Überlegenheit offenbar auf der Seite des Philisters“ (PR 134).546

545 Man unterschied das „wahre Ich“ und das „empirische Ich“ (s. PR 132). 546 Das Problem des Occasionalismus ist nicht nur metaphysischer, sondern ebenso sehr ethischer Natur, weil es die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen, d.h. nach dem Grad und dem Inhalt seiner Aktivität, aufwirft: „worin besteht die

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Die Besonderheit des romantischen Occasionalismus liegt für Schmitt also in der Subjektivierung Gottes, des Hauptfaktors des occasionalistischen Systems (PR 140 f.). Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum mit seiner Illusion, Gott zu sein, beanspruchte immer, dass allein sein Erlebtes von Interesse sei. Bestand könne dieser Anspruch aber nur in einer geregelten Gesellschaftsordnung haben. Deshalb gelte: „Die Romantik ist psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität“ (PR 141; s. nachst. ebd.). Verkennen konnte das nur, wer romantisierte Objekte fälschlich wieder zur Romantik selbst zählte: Ein Raubritter könne zwar eine romantische Figur sein, aber er ist doch kein Romantiker: „Nur das romantisierende Subjekt und seine Tätigkeit sind für die Begriffsbestimmung von Bedeutung“ (ebd.). Dass nun das geniale Subjekt Gott entthronte war zwar eine Revolution, „aber da der Romantiker Occasionalist blieb, nur eine ‚geistige‘, d.h. in Wahrheit ästhetische. (…) Die Möglichkeit einer wirklichen politischen Revolution, an der er persönlich beteiligt sein könnte, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Mochte seine Phraseologie revolutionär oder reaktionär sein, kriegerisch oder pazifistisch, heidnisch oder christlich, niemals war er entschlossen, die Welt seines stimmungsmäßigen Erlebens zu verlassen und an dem, was sich in der gewöhnlichen Wirklichkeit ereignete, etwas zu ändern“ (PR 141/142).

Wie kann aber eine in Eigenstimmungen schwelgende Romantik zu einer Bewertung der realen Ereignisse in einer gewöhnlichen Welt kommen (PR 142)? Weil, so Schmitt, der Romantiker der historischen Entwicklung nur mit „Begleitaffekten“ folgt, weil Zustimmung oder Ablehnung nur als eine lust- oder unlustbetonende Antithese auf einen Reiz hin zu werten sind und nicht als eine aktive Parteinahme, die in die Außenwelt eingreifen will: „Der Romantiker will nichts tun als erleben und sein Erlebnis stimmungsvoll umschreiben“ (PR 143).547 Dem Subjekt, auf sein Erleben beschränkt, verbleiben gleichwohl sein Geltungsbedürfnis und sein Wille zur Produktivität (vgl. PR 146; nachst. PR 146 f.). Der Weg zu diesem Ziel ist die künstlerische Ausgestaltung seines Erlebnisses, für Schmitt, der psychische Sachverhalt, der einem ansonsten nur ästhetischen Interesse zugrunde liege, werde doch das kunst-

Tätigkeit des Menschen? Nach der Ethik occasionalistischer Systeme nur in einer Gemütsbewegung“ (PR 134 f.). Wir vertiefen dies nicht weiter (s. dazu PR 135 ff.). 547 Näher dazu s. PR 143-146.

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schaffende, geniale Subjekt mit dem christlichen Schöpfergott identifiziert. Eine Aufgabe der occasionalistischen Grundstruktur war damit nicht verbunden, wenn sie auch von der Ethik des historischen Occasionalismus abwich. Blieb bei Malebranche Gott der absolute Faktor, konnte der dem subjektiven Occasionalismus verhaftete Romantiker „nur in höchstem Drang urteilen. (…) Die einzige Produktivität, die das Subjekt in dieser Situation entwickeln kann, ist ästhetischer Art“ (PR 147). Im Kunstwerk ist dann auch die gewöhnliche Realität der Kausalzusammenhänge außer Kraft gesetzt (ebd.).548 Die Fragen von Romantik und Ästhetik verlassend wendet sich Schmitt erneut Friedrich Schlegel und Adam Müller zu. Auch sie suchten ihre Produktivität aus dem Widerhall fremder Aktivität zu gewinnen (PR 149). Schmitts Verdikt ist gnadenlos, polemisch und partiell sicher auch ungerecht:549 „Sozial und geistig ohne jeden Halt, unterlagen sie jedem starken Komplex, der in ihrer Nähe mit dem Anspruch auftrat, als wahre Realität genommen zu werden. Sie konnten sich daher, ohne ein moralisches Bedenken, ohne ein anderes Verantwortungsgefühl als das eines diensteifrigen, servilen Funktionärs, für jedes politische System benutzen lassen, wie man das an Adam Müllers administrativer Tätigkeit feststellen kann“ (PR 149/150).

Selbst eine künstlerische Gestaltung im eigentlichen Sinne spricht Schmitt ihnen ab. Während sie als Occasionalisten zustimmen oder ablehnend begleiteten, versuchten sie als Romantiker „gerade darin die Produktivität des genialen Subjekts zu erreichen“ (PR 150). Und wieder verstärkt Schmitt seine Kritik durch einen Vergleich mit den „großen Occasionalisten“,550 deren wahre und auch private Standhaftigkeit in der Festigkeit ihres Gottesbegriffes gefunden ist. Die zwei Romantiker Schlegel und Müller hingegen unterlegten ihren Affekt mit intellektuellem Material aus Philosophie, Rechtswissenschaft, Historie und Literatur, was zu romantischen Mischprodukten geführt habe. Für kurze Zeit erscheinen diese als von einem ungeheuren geistigen und intellektuellen Reichtum getragen – und sind in Wahrheit doch, so lesen wir Schmitt, nur intellektuelle Hochstapelei.

548 Auf Schmitts Ausführungen zur Beziehung von Romantik und Musik gehen wir nicht ein. 549 Siehe nur Mehring (2017, S. 72 ff.). 550 Malebranche und Geulineux.

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„Das Ganze ist eine räsonnierende (!) Resonanz, in der Worte und Argumente zu einer lyrischen Staatsphilosophie, einer poetischen Finanzwissenschaft, einer musikalischen Agronomik verschmelzen, alles determiniert durch den Zweck, den großen Eindruck, der den Romantiker bewegt, nicht zu artikulieren, sondern in einem Ausdruck zu umschreiben, der einen entsprechend großen Eindruck macht“ (PR 151).

6. Politische Romantik. Im Jahr 1796 liegen für Carl Schmitt – fernab jeder Tagespolitik – alle prinzipiellen Argumente offen, die gegen die Französische Revolution vorgebracht worden waren. Burke (1790), Rehberg (1790 bis 1793), Gentz (1793), Bonald (1796), de Maistre (1796) einte in ihren Analysen die Ablehnung der Vorstellung, dass Staat, Recht und insbesondere Verfassungen aus der planmäßigen Tätigkeit einzelner Menschen geschaffen werden können (vgl. PR 153; nachst. PR 153 ff.): „Alle wichtigen staatlichen Institutionen, namentlich die während der Französischen Revolution so oft geänderten Verfassungen, sollen sich im Lauf der Zeit von selbst aus der Lage der Verhältnisse, aus der Natur der Sache, ergeben, deren vernünftiger Ausdruck, nicht aber Urheber sie sind“ (PR 153/154).

Die genannten Autoren eint die Überzeugung, dass Nation und Gemeinschaft nicht durch rationales und doktrinäres „Machen“, sondern nur in langen Zeiträumen entstehen können. (PR 154) Menschliches Wirken halte auf und störe nur den natürlichen Lauf der Dinge. In Deutschland hingegen glaubte man 1796 noch an die Revolution und an die Vorstellung eines vom Einzelnen ausgehenden rationalen Naturrechts.551 Das Recht und der Staat erklärten sich aus dem Zusammenleben der Menschen, „aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung, die sich ergibt, wenn freie und selbständige Wesen zusammenleben wollen (…)“ (PR 155).

Vor allem aber seien Recht und Staat „etwas bewußt zu Machendes“ (PR 155). Auch bei Fichte konstituierten im Jahr 1793 die Einzelnen den Staat, „der ihnen erst nach dieser Konstituierung als eine selbständige Einheit, wie Rousseau sagt, „moi“ entgegentritt“ (PR 155).552. So habe Fichte –

551 Zu den Veröffentlichungen der Genannten siehe (PR 155 f.). 552 Herv. im Original.

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unbeschadet zahlreicher Widersprüche – an der naturrechtlichen Begründung des Staates durch Vertrag festgehalten (PR 156). In den folgenden Jahren, bemerkt Schmitt, „schien ein Strom neuen Lebens durch Deutschland zu gehen“.553 Ein erhabener Geist der Schönheit und der Liebe hielt Einzug in die geistige Welt der Zeit, „der die Gerechtigkeit der Pflichtlinge die Unmenschlichkeit des jüdischen Gottesglaubens und alles ‚Mechanische‘ überwindet“ (ebd.). Schleiermacher und Schlegel treten der juristischen Ethik Kants und der Herabwürdigung des Staates zum notwendigen Übel, zum bloßen „Maschinenwerk“, entgegen. Sei dies auch noch keine neue Staatsphilosophie gewesen, kam es doch der Französischen Revolution zugute, die als ein ungeheures Ereignis bewundert worden sei. Eine neue Staatstheorie wurde als Aufriss zunächst nur von Schelling theoretisiert (nachst. vgl. PR 157). Dieser hatte – wie Fichte – die ganze Rechtslehre als Mechanik aufgefasst, in der freie Wesen in Wechselwirkung agierten. Unter dem Einfluss Hegels und in Abkehr von Fichte fasste er 1803 den wahren Staat554 als einen Organismus, wobei er den kantschen Naturrechtlern vorwarf, dass sie einen Staat kreieren wollten, aber nur einen endlosen Mechanismus geschaffen hätten. 1804 räumt er auch diese Position. Der Staat sei ihm nunmehr etwas Seiendes, ein „Kunstwerk“, ein „geistiger Weltkörper“, „in dem Wissenschaft, Religion und Kunst sich zu einem einheitlichen, geistigen Organismus durchdringen“ (PR 157). Hatte die Romantik an Schellings Staatsidee, ihre „liebeleere Weisheit“ kritisiert,555 ernannte zu gleicher Zeit Schlegel „Liebe und Treue“ zu den elementaren Stützen staatlichen Lebens (vgl. PR 158; nachst. vgl. PR 158 f.). Auf dieses gefühlsmäßige Diffusum sollte sich eine vier-ständische Monarchie stützen können, wie sie ähnlich Schelling, Hegel und Jo-

553 1797 erschien Hölderlins „Hyperion“, 1798 Novalis „Glaube und Liebe“ und „Europa und die Christenheit (s. PR 156). 554 Der wahre Staat im Gegensatz zum „privatrechtlichen“ wandelt alles Private in öffentliches Recht, „den objektiven Organismus der Freiheit, die ‚Naturseite der Kirche‘“ (PR 157). Schmitt bietet eine etwas eigenwillige Analyse des Schelling‘schen Staatsverständnisses. Zutreffend scheint zu sein, dass Schelling den Staat nur als Funktionalität bejaht, der existiert, solange er Mittel zur Freiheit der Individuen ist (Schmiljun/Thiel 2017, S. 48). Aber Schelling bietet Interpretationsspielraum: „Kritik am Staat und der Ruf nach dem Staat stehen bei Schelling, so scheint es, unvermittelt nebeneinander“ (ebd. S. 54). 555 Schleiermacher, zit. in (PR 158).

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hann Jacob Wagner diskutiert hatten. Bei Fichte findet sich gar die Kombination feudaler und wirtschaftssozialistischer Elemente. Auch in Müllers Staatskomposition finden sich gefühlsmäßige Tönungen, wenn er den Staat als Idee gegen den Staat als Mechanismus definiert. Im Ergebnis sollen Schellings „‘Organismus‘, „der schon seiner Idee nach Leben ist, aber noch nicht gefühlvolles Leben“, „die Gefühle von Liebe und Treue eingehaucht werden“ (PR 159), ausgebildet in einer halb feudalen, halb ständischen Monarchie (ebd.). 1799 lernt Schlegel Burke kennen, seine Revolutionsbegeisterung schwindet und die Wende zur feudal-konservativen Staatstheorie nimmt ihren Anfang. Ab 1810 rezipiert Müller die traditionalistischen Schriften de Bonalds, verwirft die Naturphilosophie als atheistischen Schwindel und übernimmt de Bonalds Traditionalismus, in den er später noch Ansätze von Hallers und de Maistres Staatsphilosophie einfließen lässt, denen selbst aber das Gefühlsmoment wenig bedeutendes Beiwerk war (s. ebd.). In den Zeiten der Restauration zeigt sich die Romantik dann als noch flexibler, denn es wird ihr sogar „Metternichs zentralistischer Polizeistaat organisch, dauernd, erhaltend, fest, friedlich und legitim“ (PR 160). Die Fähigkeit der Romantik sich mit den verschiedensten politischen Ideen und philosophischen Positionen arrangieren zu können, beweist für Schmitt, dass sie in Zeiten der Revolution revolutionär und in Zeiten der Restauration konservativ, ja reaktionär, auftreten konnte: „Diese Wandelbarkeit des politischen Inhalts ist nicht zufällig, sondern eine Folge der occasionellen Haltung und tief im Wesen des Romantischen begründet, dessen Kern Passivität ist“ (ebd.).

Scheine es nahezuliegen, die Ablehnung des bewussten Machens oder dem Quietismus einer Legitimitätstheorie mit der politischen Passivität des Romantischen zu identifizieren, bleibe jedoch ein gravierender Unterschied: Alle „Begründer der gegenrevolutionären Theorie, Burke, Maistre und Bonald, waren aktive Politiker mit eigener Verantwortung“, die sich nicht über den politischen Kampf erhaben fühlten, „sondern es als Verpflichtung ansahen, „für das, was sie als Recht betrachteten, sich zu entscheiden“ (PR 161). Die organische Passivität des subjektiven Occasionalismus von etwaigen hemmenden Widrigkeiten zu unterscheiden, denen ein Staatsmann in der Praxis ausgesetzt ist, hält Schmitt für unproblematisch: „Das Kriterium liegt darin, ob die Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht sich zu entscheiden, vorhanden ist oder nicht. Sie ist das Prinzip jeder politi-

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schen Energie, der revolutionären, die sich auf das Natur- oder Menschheitsrecht, wie der konservativen, die sich auf das historische Recht beruft“ (PR 161).556

Die organische Staatsauffassung des Romantischen beruht Schmitt zufolge auf ihrer Unfähigkeit zu normativer Bewertung (PR 162). Sie sucht den über Recht und Unrecht erhabenen Staat, d.h. einen Anknüpfungspunkt für Gefühle, „der zugleich die Projektion des romantischen Subjekts ins Politische ist. Die Wurzel der romantischen Erhabenheit ist die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, das ‚höhere Dritte‘, von dem sie immer sprechen, nicht ein höheres, sondern ein anderes Drittes, d.h. immer der Ausweg vor dem Entweder-Oder“ (PR 162).

Selbst Schlegel, der in seinem Essay Signatur des Zeitalters (1820) unter dem Beifall Schmitts der Frühromantik gesellschaftskritisch „Unwahrheit und Phrasenhaftigkeit“ vorwirft (ebd.), ist im Kern aber trotzdem romantisch, ansonsten „bis zur Banalität unoriginell“ (PR 163) – im Gegensatz zu einem de Bonald, der in Frankreich während der Restauration als Führer der Ultras politisch aktiv war. Schlegels Ansichten und Ideale entsprächen zwar denen de Bonalds, aber der gesellschaftlich-politischen Entwicklung wollte Schlegel „in teilnehmendem Mitdenken folgen“, das Zeitalter nur intellektuell erklären und erörtern, keineswegs aber in wissenschaftlicher Neutralität (s. PR 165): „Politische Leidenschaft, politische Polemik sind für ihn etwas Unchristliches, der ‚Ultrageist‘ ist böse wie jeder Parteigeist, ein Christ darf keiner Partei angehören, und gar eine katholische Partei zu bilden, wäre eine ‚frevelhafte Entweihung des Katholizismus“ (PR 165/166).

Schmitt fragt und antwortet zugleich: „Was sollen wir also tun? Eiverstanden sein mit dem, was die Regierung tut. Darin besteht unsere Aktivität, im consentement“ (PR 167).

Im Gegensatz zu den politischen Parteien, ist die Regierung das höhere, umfassende Dritte, vor ihrer Kraft sollten die Parteien verschwinden, so wie die Kraft Napoleons sie zermalmt habe. Ein Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit gebe es bei de Bonald nicht. Schlegel müsse ob des Grundsatzes, man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen, einen berechtigten Widerstand zulassen, ob die Voraussetzungen dafür vorlägen, könne 556 In Der Begriff des Politischen ist dies später die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterschieden.

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aber nur die Kirche entscheiden. Im Ergebnis gelte für die Kirche das Gleiche wie für den Einzelnen: „sie soll nicht „wirken wollen‘, sondern im Rhythmus des gesetzmäßigen Geschehens schwingen. Geschichte, Entwicklung, schließlich die Vorsehung Gottes sind die Instanzen, denen auch die Regierung alle wirkliche Tätigkeit überlassen muß“ (PR 168).

So formiert sich für Schmitt in der Romantik lediglich ein Verschiebebahnhof der Verantwortlichkeiten: „Geschichte, Entwicklung, schließlich die Vorsehung Gottes sind Instanzen, denen auch die Regierung alle wirkliche Tätigkeit überlassen muss. – So wird alle Aktivität von einem zum andern geschoben. Vom Einzelnen zur Regierung, von der Regierung zu Gott, und bei Gott ist Vorsehung und Gesetzmäßigkeit“ (PR 168/69).

Gleich, wie nun am Ende das letzte und umfassende Element in dieser Reihe lautet, alle Aktivitäten des Menschen verharren in seinem „teilnehmenden Mitdenkenden“ (PR 169; nachst. s. PR 169 f.), ein Eingriff in den staatlichen Prozess ist verpönt. Die Bewertung eines Staates als „böse“ oder „gut“ durch den Romantiker dürfe deshalb nicht als eine moralische Entscheidung aufgefasst werden, wie dies bei jedem der Fall sei, der von „gut“ und „böse“ in moralischem Sinne spricht und Recht von Unrecht unterscheidet. So hätten Burke, de Maistre und de Bonald, die gegen die Französische Revolution Partei ergriffen, weil sie Unrecht in ihr sahen. Schmitts Gegenbeispiel ist wieder Adam Müller, der 1810 in seinen Vorlesungen die Französische Revolution „als Äußerung unterdrückten und eingespannten Lebens bezeichnet hatte“, später aber offen erklärt habe, „ob sie berechtigt oder unberechtigt gewesen sei, interessiere ihn nicht“ (PR 170): „Konkret bedeutet das: Revolution und Restauration können in gleicher Weise romantisch genommen d.h. zum Anlaß romantischen Interesses gemacht werden, und es ist falsch und irreführend, die Gedanken oder auch nur die Stimmungs- und Gefühlswelt des Legitimismus im besonderen Sinne als ‚politische Romantik‘ zu bezeichnen. Ganz verschiedenartige, entgegengesetzte Vorgänge und Gestalten können vom romantischen Subjekt als Anfang des romantischen Romans betrachtet werden“ (PR 170).

Alles kann also Thema einer Romantisierung sein, aber jedes Thema muss poetisiert worden sein. Vorher wäre es tot, romantisch belanglos, gleich welcher Art seine politische Bedeutung auch sein möge. Ob ein Drama romantischer sein könne als ein anderes, lasse sich, so Schmitt, nicht nach Gesichtspunkten der Legitimität entscheiden (vgl. PR 171). 202

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Jede Beziehung zu einem rechtlichen oder moralischen Urteil wäre demnach disparat, jede Norm erschiene als antiromantische Tyrannei: „Der Romantiker ist deshalb nicht in der Lage, aus bewußtem Entschluß Partei zu ergreifen und sich zu entscheiden“, weil es immer möglich bliebe, auch eine ‚Bestie‘ zu romantisieren. Beim Romantischen handele es sich eben eher um Höheres als um eine Entscheidung. (PR 172; nachst. s. ebd.) Die selbstbewusste Frühromantik, getragen vom absoluten, weltschöpferischen Ich, habe dies noch als Überlegenheit empfunden. Erst als Romantiker wie Schlegel und Müller begannen, sich trotzdem theoretisch und praktisch mit politischen Fragen zu befassen, hätten sie nach Schmitts Befunden „Burke, de Bonald, de Maistre und Haller wiederholten, mit anderen Worten, daß es eine politische Produktivität im Romantischen nicht gibt“. Weshalb sie nunmehr völlige Passivität gepredigt hätten, um unter der Benutzung von mystischen, theologischen und traditionalistischen Vorstellungen mit Metternichs Polizei zu einem romantischen, höheren Dritten zu verschmelzen. „Das also ist der Kern aller politischen Romantik“: der Staat ist ein Kunstwerk, nur eine occasio, die durch den schöpferischen Geist des Romantikers zu einem Artefakt wird (PR 128). Wenn Novalis und Müller das Preußen Friedrichs II. als öde Maschine ansahen, das Preußen Friedrich Wilhelms III., wegen seiner liebreizenden Gattin Luise hingegen als ein wahres Königtum, so zeigt sich dieses – auch Friedrich II. könnte ja romantisiert werden – letztendlich als eine ästhetische, die Realität bewusst ausblendende idyllische Staatsphilosophie.557 Der Staat Adam Müllers in seiner Schrift „Elemente der Staatskunst“ sei ebenfalls „eine Projektion des romantischen Subjekts ins Politische, ein Über-Individuum“, „eine romantische Auftreibung der gesuchten Realität“ (PR 174) und seine Produktivität „ist rein ästhetisch zu werten“ – sofern sie nicht purer Opportunismus ist (PR 175), den Schmitt Müller freilich grundsätzlich unterstellt. „Der Staat war ihm, wie Novalis, die Geliebte, Sofie, die sich in alles verwandeln und in die man alles verwandeln kann (…)“ (PR 175).

Speziell für Müller gelte: „Er kann alles verstehen und beliebig gutheißen, weil ihm alles zum Material seiner ästhetischen Gestaltung werden kann“

557 So bewertet Schmitt auch den berühmten Aufsatz von Novalis „Die Christenheit oder Europa“ in „seinem Inhalt, seiner Stimmung und seinem Tonfall“ als ein Märchen (PR 174).

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(PR 177), ein nachgerade „amoralisches Verständnis für alles und sein Gegenteil“ (PR 176), seine „weltumfassende Toleranz“, vor der Gentz erschrak (ebd.) und die Unfähigkeit des Lehrers vom Gegensatz, „einen anderen Gegenstand als den eines ästhetischen Kontrastes zu sehen“ (PR 177). Wir beenden an dieser Stelle Schmitts Befassung mit Adam Müller, weil er ab jetzt mehr Stil558 und opportunistische Biographie des formidablen Rhetorikers Müllers behandelt, denn dessen Staatsauffassung559. Überhaupt gelte: „Nur als oratorische Leistung darf man Müllers Argumentation beurteilen“ (PR 191), seine „Staatstheorie aber anders als ästhetischstilistisch zu schätzen, ist unmöglich“ (PR 196). 8. Schluss (PR 222-228). Carl Schmitt schließt“: „Wo immer ein ernstes politisches Interesse politischer Romantik begegnet, wird die politische Romantik entweder als willkommenes Mittel politischer Suggestion in den Dienst der Politik gestellt, oder aber es kommt zu moralischen Vorwürfen gegen die innere Verlogenheit des Romantikers“ (PR 222).

Jede politische Aktivität widerspricht zunächst der wesentlich ästhetischen Art des Romantischen. Ein politisch oder moralisch denkender Mensch durchschaue schnell die Vertauschung der Kategorien, und wisse, das romantische Interesse für eine Sache von der Sache selbst zu unterscheiden. Da der konkrete Punkt, der Anlass für einen romantischen Roman ist, immer occasionell sei, könne grundsätzlich alles romantisch werden. In einer solchen Welt lösten sich aber alle politischen und religiösen Unterscheidungen in nebulöser Vieldeutigkeit auf:560 „Hier lässt sich alles mit Allem vertauschen“ (PR 222). Da die romantische Behandlung politischer Figuren bei einem ehrlichen Gegner leicht den Eindruck der Unsachlichkeit begründen könne, seien

558 Mehring (2006, S. 135). Ein Feuerwerk rhetorischer Fabulierkunst Schmitts bietet (PR 176-181). 559 Zu Adam Müller siehe Ottmann (2008, S. 22-28); s. Müller-Schmid (2002, S. 109-138). 560 „Der König ist eine romantische Figur wie der anarchistische Verschwörer, und der Kalif von Bagdad nicht weniger romantisch als der Patriarch von Jerusalem“ 222).

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II. Politische Romantik (1919).

Adam Müller und andere Romantiker als Sophisten benannt worden.561 Genugtuung für den sophistischen Rhetor sei die gelungene Form – die rhetorische Ästhetik – seiner Rede gewesen (s. PR 223). 562 Allein, es fehle bei diesen Sophisten das spezifisch Romantische: „das occasionalistische Ausweichen in ein ‚höheres Drittes‘“ (ebd.). Der entscheidende Widerspruch des Romantischen aber, der besonders in der politischen Romantik den Eindruck von Unwahrhaftigkeit erwecke, sei darin zu sehen, „daß der Romantiker in der organischen Passivität, die zu seiner occasionellen Struktur gehört, produktiv sein will, ohne aktiv zu werden“ (PR 223).

Es bleibe der Kern der politischen Romantik, dass sie wegen ihres subjektivierten Occasionalismus auch sich selbst gegenüber nie zu der Kraft gefunden habe, eine eigene Theorie zu objektivieren (s. PR 223 f.). Vielmehr habe sie ihren Subjektivismus zu einer Art lyrischer oder glossierender Umschreibung des Erlebnisses verwiesen, „[immer aber] „ohne eignen Entschluß, eigne Verantwortung und eigne Gefahr. Politische Aktivität ist so nicht möglich, wohl aber Kritik, die alles diskutieren und ideologisch auftreiben kann, die Revolution so gut wie die Restauration (…)“ (PR 224).

Auch hier sei es die Methodik des Romantischen gewesen, von dem Gebiet, dem der streitige Gegenstand angehört, vom Politischen, in ein Höheres occasionalistisch abzuweichen: „Wo die politische Aktivität beginnt, hört die politische Romantik auf (…)“ (ebd.). Es fehle der Romantik, konstatiert Schmitt, nicht nur der spezifische Zusammenhang mit der – in Deutschland fälschlich als politische Romantik bezeichneten – Restauration, auch mit der Revolution bestehe keine notwendige Beziehung: „Das isolierte, absolute Ich ist über beides erhaben und benutzt beides als Anlaß“ (PR 225). Die anspruchsvolle Expansion des Ästhetischen, die der romantischen Bewegung zugrunde liege, dürfe nicht mit politischer Macht verwechselt werden,

561 Der Begriff der Sophistik sei leeres Schimpfwort. Denn die Verbindung von Subjektivismus und Sensualismus habe alle Gegenständlichkeit aufgehoben und aus der sachlichen Argumentation eine willkürliche Produktivität des Subjekts gemacht (PR 223). 562 „Der Rhetor fühlte kein anders Verpflichtungsgefühl als das, schön zu reden und kannte keine andere Genugtuung als die Freude an der gelungenen, künstlerischen Form seiner Rede“ (PR 223). Romantiker waren die Sophisten für Schmitt gleichwohl nicht, weil sie nicht occasionell in ein höheres Drittes auswichen (vgl. PR 223).

205

Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

„ebensowenig das von der politischen Tagespolitik des deutschen Vormärz am meisten bemerkte Akzidentale, den Zusammenhang mit der damals stärksten Macht, der katholischen Restauration, zum Wesensmerkmal machen“ (PR 225/226).

Ein im Subjektiven verbleibender Affekt vermöge keine Gemeinschaft zu begründen, der Rausch der Geselligkeit keine dauernde Verbindung und Ironie und Intrige seien keine sozialen Kristallisationspunkte. Keine Gesellschaft könne eine Ordnung finden, ohne einen Begriff von dem, was normal und was Recht ist. Das Normale ist aber seinem Begriff nach unromantisch, denn jede Norm zerstört die occasionalistische Ungebundenheit des Romantischen. „So löst sich die tumultuarische Buntheit des Romantischen in ihr einfaches Prinzip eines subjektiven Occasionalismus auf, und der geheimnisvolle Widerspruch der verschiedenartigen politischen Richtungen der sogenannten politischen Romantik erklärt sich aus der moralischen Unzulänglichkeit eines Lyrismus, der jeden beliebigen Inhalt zum Anlaß ästhetischen Interesses nehmen kann“ (PR 227).

Jeder politische Ansatz kann romantisiert werden und ist damit politisch gleichwertig, weil er nur ein occasionalistischer Anknüpfungspunkt für die romantische Produktivität des schöpferischen Ichs ist: „Aber im Kern dieser phantastischen Überlegenheit des Subjekts steckt der Verzicht auf jede aktive Änderung der wirklichen Welt, ein Passivismus, der zur Folge hat, daß nunmehr die Romantik selbst als Mittel unromantischer Aktivität benutzt wird. Trotz ihrer subjektiven Überlegenheit ist die Romantik schließlich nur die Begleitung der aktiven Tendenzen ihrer Zeit und ihrer Umgebung (…)“ (ebd.).

Während Rousseaus geschichtliche Bedeutung darin liege, die Begriffe seiner Zeit romantisiert und damit die Revolution begünstigt zu haben, weil sie zu seiner Zeit die siegreiche Strömung seiner Zeit befördert habe, gelte für Deutschland Gegenteiliges: „Die deutsche Romantik romantisierte erst die Revolution, dann die herrschende Restauration und seit 1830 wurde sie wieder revolutionär (PR 227/228).

Carl Schmitts geistesgeschichtliches Interesse wendet sich nunmehr der Staatsphilosophie der Gegenrevolution, der Ideengeschichte des Vormärz und der Staatstheorie der frühen Neuzeit zu.

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Zweiter Teil: Staat, Politik und Theologie.

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921). I. Der Versailler Frieden. Das erste Halbjahr 1919 forderte von der Weimarer Koalition die Lösung von zwei grundlegenden politischen Projekten: die Schaffung eines Verfassungsentwurfes und die Vorbereitungen für den Abschluss eines Friedensvertrages.1 Wie wichtig der Themenkomplex des Versailler Friedens für Schmitt war, zeigt sich schon daran, dass er eine von ihm zusammengestellte Aufsatzsammlung, die 1940 erschien, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939 benannte. Weltpolitisch siedelte Deutschland 1918 ideologisch zwischen dem westlichen liberalen Demokratiemodell mit der „Weltfriedensordnung“ Wilsons und dem universalistischen Anspruch der kommunistischen Weltrevolution. Allein die Gefahr eines Übergreifens des Bolschewismus in das Zentrum Europas sollte eigentlich eine rationale Handhabung von Waffenstillstand und Friedensvertrag erwarten lassen. Schon bevor am 11. November 1918 das Waffenstillstandabkommen in einem Eisenbahnwaggon in Compiègne unterzeichnet wurde, hatte sich am 9. November der politische Umsturz in Deutschland vollzogen.2 Die neue demokratische Republik als ein künftiges Bollwerk gegen den Bolschewismus versprach, wie man in Deutschland dachte, einen gerechten Frieden.3 Die Ergebnisse aber lassen sich selbst aus heutiger Sicht schwerlich als rational bewerten. Sie siedelten irgendwo zwischen „Bestrafung, Entschädigungs-

1 Wir behandeln die Weimarer Reichsverfassung (WRV) in diesem Text wo immer nötig, insbesondere aber im Kapitel der Darstellung von Carl Schmitts Verfassungslehre (1928). 2 Siehe hier Erster Teil: Die Kriegsjahre 1916-18: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. 3 Im Waffenstillstandabkommen vom 11. November war deshalb festgelegt, dass deutsche Truppen einstweilen im Baltikum verbleiben sollten (s. Winkler 2000 Bd. 1, S. 379).

207

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

zahlungen und Vorbeugung“ – darüber bestand Einigkeit, nicht aber darüber welches dieser Ziele Priorität haben sollte.4 1. Ausgestoßen in Versailles. Seit dem 18. Januar 1919 wurde in Paris über die Bedingungen eines Friedenschlusses verhandelt. An der Konferenz nahmen Delegierte aus 32 Staaten auch außerhalb Europas teil. Deutschland war von den Verhandlungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss war der äußere Ausdruck einer neuen völkerrechtlichen Haltung, die seit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert darauf ausgerichtet gewesen war, den Kriegsverlierer nicht zu diskriminieren und nicht so zu schwächen, dass das Mächtegleichgewicht gefährdet war. Diese Haltung wurde aufgegeben, weil vornehmlich Frankreich Deutschland politisch, militärisch und ökonomisch in der Zukunft schwach sehen wollte. Der zweite Grund ist in Wilsons Ziel einer vermeintlich demokratischen und grundsätzlich friedlichen „one world“ mit dem Völkerbund am der Spitze zu sehen. Diese neue Welt schien nur erreichbar, wenn man das bisherige europäische Völkerecht verabschiedete. Verlauf wie Ausgang der Verhandlungen bestimmten die drei Vertreter der Großmächte: der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der britische Premierminister Lloyd George sowie der Vorsitzende der Konferenz, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau. Nach monatelangen, heftig und konträr geführten Verhandlungen einigte man sich auf ein detailliertes Vertragswerk, das man der deutschen Delegation – in den Verhandlungen nie angehört – am 7. Mai 1919 in Versailles – befeuert von der Provokation Clemenceaus: „Die Stunde der Abrechnung ist da.“ – übergab. Der deutsche Außenminister BrockdorffRantzau wies in seiner Antwortrede den Vorwurf der deutschen Kriegsschuld entschieden zurück und verwies auf die Regelungen des Waffenstillstandvertrags. Deutschland war nur das Recht eingeräumt worden, innerhalb von vierzehn Tagen schriftlich Stellung zu nehmen.5 Im Inneren wurde das Friedensdiktat von allen Parteien abgelehnt. Am 16. Juni überreicht man der deutschen Delegation die Antwort auf ihre Gegenvorschläge „im Tenor einer geradezu hasserfüllten ‚Mantelnote‘“6. 4 Vgl. Mac Millan (2015, S. 224 f.). 5 Vgl. Kraus (2014, S. 23 ff.). 6 Ebd. S. 26.

208

I. Der Versailler Frieden.

Nach Ablauf von fünf Tagen, so das Ultimatum, werde der Waffenstillstand beendet sein, akzeptiere Deutschland den Vertrag nicht. Das war nichts anderes als die Drohung mit einer Wiederaufnahme des Krieges. Nach dramatisch verlaufenden Kabinettssitzungen trat die deutsche Regierung am 20. Juni 1919 zurück. Die neue Regierung Bauer – getragen nur noch von MSPD, USPD und Zentrum – erhielt mit 237 zu 138 Stimmen die Zustimmung der Nationalversammlung zur Unterzeichnung des „Friedensvertrages von Versailles“.7 2. Der Versailler Friedensvertrag. Der Versailler Vertrag war ein Buch mit ca. 260 Druckseiten und umfasste 440 Artikel, die alles enthielten, „was man aus dem unterlegenen Deutschland aus Anlass dieser überaus günstigen Gelegenheit abpressen wollte“.8 Wir unterteilen mit Kraus in acht Hauptaspekte:9 (1) Der Kriegsschuldartikel 231: Er bildetet die Grundlage, auf der das ganze Werk aufbaute, auch wenn er von den USA und Frankreich unterschiedlich interpretiert wurde und vom vereinbarten Wilsonprogramm abwich. Er wurde in Deutschland allgemein als fundamentale Diskriminierung empfunden. Er lautete: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben“.10

(2) Die Höhe der Reparationszahlungen – vor allem an das stark zerstörte Frankreich – war in Zahlen nicht festgelegt. Die Höhe der „Wiedergutmachung“ sollte bis zum 1. Mai 1921 von einer interalliierten Kommission festgelegt werden. Unabhängig davon sollte das Reich sofort 20 Milliarden Goldmark bezahlen. (3) Gebietsabtretungen: Uneingeschränkt und sofort sollten Elsaß-Lothringen an Frankreich, die überwiegenden Gebiete der ehemals preußi7 Ebd. S. 26 f. 8 Ebd. S. 27; zu den acht Hauptaspekten des Vertrages s. ebd. S. 27-31). 9 Wir gehen an dieser Stelle nicht in Details dieser Hauptaspekte. Wo sie für diese Arbeit notwendig sind, werden sie im Kontext genauer behandelt. 10 Zit. n. Kraus (2014, S. 28 f.).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

schen Provinzen Westpreußen und Posen an das neu entstandene Polen, das Memelland an Litauen, die Stadt Danzig – nominell dem Völkerbund unterstehend – faktisch an Polen sowie sämtliche Kolonialgebiete – zumeist unter britische und französische Kontrolle – abgetreten werden. In weiteren deutschen Grenzgebieten sollten Volksabstimmungen durchgeführt werden (u.a. Oberschlesien und das Saargebiet). Deutschland büßte ein Siebtel seines Territoriums und ein Zehntel seiner Bevölkerung ein. (4) Entwaffnungsbestimmungen: Die entsprechenden Artikel verlangten die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Beschränkung auf ein Berufsheer von 100.000 Soldaten. Stärksten Restriktionen wurden allen Waffengattungen auferlegt. Die Ausrüstung des Berufsheers mit Panzern, schweren Geschützen war untersagt, der Bau von U-Booten war gänzlich verboten, die Luftwaffe wurde abgeschafft. (5) Sanktionsbestimmungen: Ein Fehlverhalten Deutschlands konnte mit Einfuhrverboten, mit wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaßnahmen sowie „überhaupt in allen Maßregeln, die den betreffenden Regierungen durch die Umstände geboten erscheinen können“11 bestraft werden. Bald würde sich zeigen, dass darunter auch die militärische Besetzung deutscher Gebiete verstanden werden konnte – und zwar „für die ganze Laufzeit der Reparationsschuld, also voraussichtlich für viele Jahrzehnte“.12 (6) Auslieferungsartikel: Hierin wurde festgelegt dass sich der frühere Kaiser Wilhelm II. wegen Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge vor einem internationalen Gerichtshof verantworten sollte. Später zu benennende deutsche Staatsmänner und Militärangehörige sollten wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden. Die besondere Bedeutung dieser Sanktionsartikel lag darin, dass „hiermit eine ‚schwerwiegende, grundsätzliche Änderung‘ vorgenommen [wurde], die ein ‚Ur-Institut des Rechts, die Amnestie‘ betraf. Bis dahin war die Amnestie immanenter Bestandteil jedes Friedensvertrags gewesen – damit wurde jetzt, im Jahr 1919, ausdrücklich ‚durch Diskriminierung des Besiegten‘ gebrochen“.13

(7) Annullierung der Ostfriedenverträge: Die Verträge des Kaiserreichs mit Sowjetrussland im März und Mai 1918, mit Finnland und Rumä-

11 Teil VIII, Anlage II, §§ 17-18, hier zit. n. Krause (2014, S. 30). 12 Ebd. 13 Ebd. S. 30 f.; innere Zitate aus Schmitt (NE 235).

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I. Der Versailler Frieden.

nien wurden annulliert. Keiner dieser Staaten war am Zustandekommen des Friedenvertrags beteiligt. Für Russland wurde ausdrücklich das Recht vorbehalten, Reparationen von Deutschland auf der Grundlage des Friedenvertrages zu verlangen. (8) Völkerbundakte: Der Zutritt zu dieser Weltorganisation, die die Funktion eines universalen Friedenswächters einnehmen sollte, war Deutschland schon vor Vertragsabschluss verwehrt worden. Bei Wohlverhalten wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Es muss hier nicht weiter ausgeführt werden, wie dieser Vertrag in Deutschland aufgenommen wurde. Ohnmächtige Wut, Hass und grenzenlose Enttäuschung zeigten sich in allen Bevölkerungsschichten und allen Parteiungen. Auf die Philippika des britischen Ökonomen John Maynard Keynes ist gleichwohl einzugehen. Auch für Keynes, der der britischen Delegation als Vertreter des britischen Schatzamtes angehörte, hatte die deutsche Nation die Grundlage eines prosperierenden Europa umgestürzt. Aber er zog andere Konsequenzen, wenn er ausführt: „Doch die Wortführer der französischen und der britischen Nation gehen nun das Risiko ein, das von Deutschland begonnene Werk der Zerstörung zu vollenden – durch einen Frieden, der, sollte er in der vorgesehenen Form in Kraft treten, das komplexe, empfindliche politische System, (…), noch weiter beschädigen würde, anstatt es wiederherzustellen; jenes System, durch das allein die Völker Europas arbeiten und existieren können“.14

Für Keynes hatten bei den Verhandlungen in Versalles zwei alternative Pläne für eine künftige Weltpolitik vorgelegen: der 14-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten und „der karthagische Friede von Monsieur Clemenceau: Doch war nur der eine wirklich legitim, denn der Feind hatte nicht bedingungslos kapituliert, sondern unter ganz bestimmten Bedingungen, mit welchen der allgemeine Charakter des Friedensschlusses festgelegt wurde“.15

Das war hinsichtlich des Friedensschlusses die deutsche Position, die sich immer auf den wilsonschen Frieden bezogen hatte. Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages wertete Keynes in seiner furiosen Abhandlung, die an manchen Stellen der polemischen Kraft Schmitts nicht nachstand als schlicht verheerend; er sah sie den ganzen Kontinent auch politisch ruinieren:

14 Keynes (2014, S. 39). 15 Ebd. S. 78.

211

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

„Keynes prophezeite nichts weniger als ‚einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution (…) der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird“.16

So ist Keynes furioses Pamphlet eine Kampfansage gegen Versailles und zugleich die frühe Anregung für eine europäische Integration.17 II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921. Am 11. August 1919 unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung18, die eine parlamentarische Demokratie konstituierte. Die Gesetzgebung lag nunmehr in den Händen des Reichstags, der die Regierung tragen und kontrollieren sollte. Allerdings wurde ihm ein Reichspräsident gegenübergestellt, der den Reichskanzler ernannte und entließ, der den Reichstag auflösen konnte, den Oberbefehl über die Reichswehr innehatte und mittels Referendum direkt den Volkswillen abrufen konnte – „ein dem klassischen liberalen Parlamentarismus fremdes Element“19. Das so gewichtige wie gefährliche Potenzial des Art. 48 WRV („Ausnahmezustand“), der den Reichspräsidenten ermächtigte im Wege von Notverordnungen gegen ein – schon jetzt mit dem Makel des Misstrauens versehenes – Parlament zu regieren, wurde von der Parlamentsmehrheit – mit Ausnahme der USPD – nicht erkannt.20 Dass der „Ersatzkaiser“21 direkt vom Volk gewählt wurde, verlieh seiner ohnehin schon übergroßen Machtfülle weitere Autorität und Legitimität.

16 17 18 19 20

Hauser (2014, S. 9/10). Vgl. ebd. S. 10. Abkürzung = WRV. Mommsen (2009, S. 81/82). Siehe dazu Kolb/Schumacher (2013, S. 19 f.). Ausführlich zur WRV s. siehe hier die Kapitel (…) Verfassungslehre, Der Hüter der Verfassung (…) und Die Diktatur des Reichspräsidenten (…). 21 „Wir brauchten eine starke Zentralgewalt, die auch gegenüber dem Parteitreiben festen Kurs steuern könnte, wir brauchten (…) ein ‚Ersatzkaisertum‘ und nicht die französische oder englische, sondern die nordamerikanische Verfassung mit ihrer starken plebiszitären Präsidentschaft“ (Friedrich Meinecke, zit. nach Longerich 1995, S. 95/96).

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II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

1. Die belogene Nation: „Diktatfrieden“, „Kriegsschuldlüge“ und „Dolchstoßlegende“. 1.1. Die „Zäsur-Wahl“ von 1920. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch und die nachfolgenden Kämpfe hatten die junge Republik erschüttert. Die Regierung ließ sich von den Putschisten dazu zwingen, die für Herbst geplante Reichstagswahl auf den 6. Juni 1920 vorzuziehen: „Die ‚Weimarer Koalition‘22 verlor bei dieser ersten regulären Reichstagswahl die absolute Mehrheit und gewann sie nie wieder zurück“.23

Sie hatte für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie eine Außenpolitik der Verständigung gestanden, aber für diese Politik keine Mehrheit mehr gefunden – eine tiefe Zäsur für die Weimarer Republik: „Bei ihr bildete sich jene politische Kräftekonstellation heraus, die in der Folgezeit die Berufung stabiler Regierungen im Reich verhinderte. Einer insgesamt zu schwachen Mitte stand eine starke Fundamentalopposition gegenüber, die den demokratischen Staat und seine Regierungen mit allen Mitteln bekämpfte (…)“.24

Es konnten nur Minderheitsregierungen, Beamtenkabinette, zeitweise „Bürgerblockregierungen“ (DDP bis DNVP) mit knappen Mehrheiten oder Regierungen der Großen Koalition gebildet werden. Letztere waren wegen nahezu antagonistischer Gegensätze zwischen den Flügelparteien SPD und DNVP genauso labil wie Minderheitsregierungen ohne feste Mehrheit.25 Erst nach zähen Verhandlungen gelang es 1920 dem Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach eine Minderheitsregierung aus Zentrum, DDP und DVP zu installieren. Ihr wurde von der SPD, die eine Regierungsbeteili-

22 Die Weimarer Koalition war ein Bündnis aus der gemäßigt-linken SPD, der Katholischen Zentrumspartei und der linksliberalen DDP. 23 Büttner (2010, S. 147). 24 Die SPD schrumpfte zugunsten der USPD (7,6% auf 17,9%) von 37,9% auf 21,7%. Die DDP wurde mehr als halbiert (18,6% auf 8,3%), das Zentrum (19,7% auf 13,6%) verlor 4,2% zugunsten ihrer Regionalabspaltung, der Bayerischen Volkspartei (s. Büttner 2010, S. 148). 25 Ebd.

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

gung wegen der Teilnahme der DVP26 abgelehnt hatte, eine Tolerierung bis zur Konferenz von Spa27 zugesichert. DNVP und BP hatten keinerlei Interesse, mit der Installierung des Versailler Vertrags-„Diktats“ identifiziert zu werden und verharrten lieber in der zweifelsohne bequemeren Opposition – mit dem Ergebnis, dass die SPD aus außenpolitischen Erwägungen und letztlich aus Staatsräson in einer Art indirekter Regierungsunterstützung verantwortlich blieb.28 In der Legislaturperiode von 1920-1924 sollte es dann sechs verschiedene Reichsregierungen und fünf Reichskanzler geben. 1.2. Reparationsfrage und Teilung Oberschlesiens. Die Regierung Fehrenbach sah sich zwei Problemfällen gegenüber, die friedensvertraglich nicht geregelt waren. Dies war, erstens, die Aufteilung Oberschlesiens und, zweitens, die Höhe der Reparationszahlungen. In der für Oberschlesien vereinbarten Volksabstimmung votierten 60 Prozent für einen Verbleib in Deutschland, 40 Prozent für Polen, wobei auf dem Lande durchaus polnische Mehrheiten zu finden waren. Jedenfalls forderte die Reichsregierung ganz Oberschlesien für Deutschland, die Polen im Verbund mit den Alliierten bestanden auf Trennung.29 Nach einem „Gutachten“ des Völkerbundrates wurden dann vier Fünftel des oberschlesischen Industriegebietes unter partieller Missachtung des Selbstbestimmungs-

26 Die DVP steigerte ihr Ergebnis von 4,4% auf 13,9%, trotz oder gerade wegen ihrer ambivalenten Haltung zum Kapp-Lüttwitz-Putsch. Da die radikalere DNVP mit ihrer positiven Haltung zu diesem Putsch ihr Ergebnis ebenfalls deutlich von 10,3% auf 15,1% steigern konnte, scheint es kaum vermessen zu schlussfolgern, dass „wegen“ die wahrscheinlichere Antwort ist (s. Büttner 2010, S. 147; nachst. s. ebd.). 27 Dies war die erste Konferenz (5. bis zum 16. Juli 1920) nach dem Krieg, bei der neben Frankreich (52) Großbritannien (22), Italien (10), Belgien (8) und Japan (8) erstmals wieder die deutsche Regierung teilnahm. Auf ihr wurde festgelegt, welches Land in welcher Höhe an den von Deutschland aufzubringenden Reparationsleistungen partizipieren würde (Zahlen in Prozent in Klammern). 28 Vgl. Mommsen (2009, S. 119); Longerich (1995, S. 118). 29 Nach bürgerkriegsähnlichen Scharmützeln zwischen polnischen Insurgenten und oberschlesischen Selbstschutzgruppen, jeweils von Polen und Deutschland unterstützt, bewirkte eine Interalliierte Abstimmungskommission den Abzug beider bewaffneter Parteien (s. Winkler 2000, S. 416 f.).

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II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

rechts zum 15. Mai 1922 Polen zugeschlagen.30 Es ist dies einer der Fälle, die zweifeln lassen, dass die Stärke des Rechts dem Recht des Stärkeren vorgeht. Der zweite Problemfall betraf die Höhe der Reparationszahlungen. Es wurden 23 Konferenzen mit dieser Frage befasst.31 Ein Angebot von 100 Milliarden Goldmark zuzüglich einer Mitwirkung beim Wiederaufbau zerstörter Gebiete hatten die – unter sich selbst nicht einigen – Siegermächte abgelehnt. Die Reparationskommission, die ohne Beteiligung Deutschlands konferierte, legte am 5. Mai 1921 als sogenanntes Londoner Ultimatum eine Schuld von 132 Milliarden Goldmark ohne künftig anfallende Zinsen fest, die laut Londoner Zahlungsplan in Raten von zwei Milliarden Goldmark plus 26 Prozent der deutschen Exporteinnahmen32 jährlich zu leisten waren.33 Dieser Zahlungsplan traf am 6. Mai 1921 in Berlin ein, das Ultimatum zur Annahme betrug sechs Tage. Bei einer Ablehnung dieser Forderung durch das Reich wurde die Besetzung des Ruhrgebietes – also für den 12. Mai 1921 – angedroht.34 Parallel hatte die Regierung Fehrenbach versucht, die USA zu einer Vermittlungsaktion in der Reparationsfrage zu bewegen und trat, als diese Initiative erfolglos blieb, am Tag vor der Übergabe des Londoner Ultimatums zurück. Sie führte so eine unselige Kombination von Reparations- und Regierungskrise herbei, die nach Lage der Dinge auch nur gemeinsam zu lösen war. Da die gespaltene DVP das unumgängliche Ultimatum nicht mittragen wollte, übernahm am 10. Mai 1921 eine „Weimarer Koalition“ von SPD, Zentrum und DDP die Regierungsverantwortung, die aber schon nach fünf Monaten am 22. Oktober 1921 aus Protest gegen die Entscheidung des Völkerbunds über Oberschlesien zurücktrat. DNVP, CDVP und KPD stimmten gegen die Annahme des Ultimatums, wohl wissend, dass dies den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands zur Folge hätte. Doch konnten

30 31 32 33

Vgl. Winkler (2000, S. 417); vgl. Longerich (1995, S. 123). Zu Abfolge und Inhalten s. Longerich (1995, S. 119). Das war geschätzt: eine Milliarde pro Jahr (Longerich 1995, S. 120). Weiterhin wurden für das 1914 überfallene Belgien sechs Milliarden in Rechnung gestellt und weitere zwölf Milliarden, die nach dem Versailler Vertrag am 1. Mai 1921 fällig gewesen wären. Abzuschließen waren die von den Alliierten geforderten Entwaffnungen und die Auslieferung von Kriegsverbrechern (Winkler 2000, S. 417). 34 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 46). Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort waren schon am 8. März 1921 besetzt worden, weil Deutschland das vorrangegangene Ultimatum nicht eingehalten hatte (Winkler 2000, S. 417).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die Rechtsparteien wie schon beim Versailler Vertrag davon ausgehen, „daß es auch ohne sie eine Mehrheit für das kleinere Übel geben werde“.35 1.3. Erfüllungs- vs. Illusionspolitik. Die Rechte hatte mit ihrer Flucht aus der Verantwortung aus ihrer Sicht richtig taktiert. SPD, Zentrum und DDP organisierten aus staatspolitischer Notwendigkeit – unter dem als „Zentrumslinker“ und als „leidenschaftlicher Republikaner“ angesehenen Joseph Wirth36 als Kanzler – als Erstes eine Parlamentsmehrheit für die Annahme des Londoner Ultimatums. Mit dem Namen der Regierung Wirth ging fortan der Begriff der „Erfüllungspolitik“, der von den deutschen Nationalisten umgehend pejorativ vereinnahmt wurde, in die Geschichte Weimars ein. Diese 1921/1922 verfolgte Erfüllungspolitik war ein politisches Mittel, das den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben suchte.37 In dem Wissen, den Reparationsforderungen auf Dauer keinesfalls nachkommen zu können, unternahm Deutschland gleichwohl die äußersten Anstrengungen, diese bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu erfüllen, um sie derart „ad absurdum zu führen“38. Diese Art der Erfüllung, so glaubte man in Weimar, musste derart katastrophale Folgen zeitigen, dass die Alliierten zur Revision schlicht gezwungen sein würden. Dieser Logik folgten 220 Abgeordnete, 172 nicht. Das Ultimatum war angenommen, Reparationszahlung, Entwaffnung und Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher hatten zu folgen. Letztere wurde „praktisch nicht erfüllt“39, die Entwaffnung erfolgte formell im Frühsommer 192140. Allerdings hatte die breite Streuung des Waffenbesitzes infolge der Waffenausgabe an die Freikorps, Einwohner- und Bürgerwehren durch die Reichswehr Bestand, „um den Geist am Leben zu erhalten, der sich den Körper bauen sollte: ein militärisch starkes, zur Revanche für 1918 fähiges Deutschland“.41

35 36 37 38 39 40 41

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Vgl. Winkler (2000, S. 417 f.; Zitat ebd. S. 418). Ebd. S. 418. Eine Kurzbiographie Wirths bietet Büttner (2010, S 149 f.). Vgl. Mk 3, 22 u. 3, 23, 26 EU. Winkler (2000, S. 418). Ebd.; zu Einzelheiten s. Longerich (1995, S. 122 f.). Winkler (2000, S. 419). Ebd. Ob Schmitts damaligen Wohnorts München, lohnt ein kurzer Blick auf die „Ordnungszelle“ Bayern: sie „blieb das Eldorado zahlreicher ‚Vaterländischer Ver-

II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

Diese Haltung weist auf ein „grundlegendes psychologisches Hindernis“, denn weite Teile der Nation verharrten in der Erwartung einer illusionären Politik der Revanche und einer inneren Verweigerung des Friedensschlusses.42 Die Ergebnisse einer „machbaren“ Realpolitik konnten die Erbitterung so nur verstärken. „Der harte Kern des Londoner Ultimatums ließ sich nicht aufweichen: Deutschland mußte bereits 1921 3,3 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen, von denen 1 Milliarde bereits am 30. Mai fällig war“.43

Die Alliierten folgten der deutschen Logik einer Erfüllungspolitik nämlich nicht, wenn ihr nicht eine Währungssanierung, eine radikale Kürzung der Ausgaben und eine Erhebung neuer Steuern vorhergingen.44 Nach dem Rücktritt der Wirth-Regierung vom 22. Oktober 1921 wurde erneut Wirth mit der Regierungsbildung beauftragt. Seine parlamentarische Stütze war aber schwächer als vorher, weil die DDP der Regierung nicht beigetreten war. Nach dem Zusammenschluss von SPD und USPD schien mit 289 von 459 Stimmen das Fundament der Regierung solider geworden zu sein. Aber die ideologisch bedingten Kontroversen der beiden Flügelparteien SPD und DVP konnte Wirth nicht zur Deckung bringen. Am 22. November 1922 war auch die zweite Regierung Wirth am Ende.45 1.4. Radikalisierung auf der Linken wie der Rechten. Die äußere Linke hatte sich noch unter der Regierung Fehrenbach konsolidiert, nachdem sich die USPD im Oktober 1920 im Zuge eines Auflösungsprozesses gespalten hatte. Die Minderheit verblieb unter dem alten Namen, die Mehrheit schloss sich im Dezember 1920 der mitgliedermäßig deutlich schwächeren KPD an. Grund der Trennung war der Beitritt der USPD zur Kommunistischen Internationalen, die zu dieser Zeit eine „Of-

42 43 44 45

bände‘, die die (aufgelösten, w.a.m.) Einwohnerwehren an Radikalität weit übertrafen“ (ebd.). Mommsen (2009, S. 122). Diese illusionäre Erwartung „beruhte auf einem an die wilhelminische Tradition anknüpfenden politischen Wunschdenken und auf dem mangelnden Einverständnis der militärischen Niederlange“ (Ebd. S. 123). Winkler (2000, S. 419). Kolb/Schumacher (2013, S. 47). Büttner (2010, S. 149).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

fensivtheorie“ vertrat, was nichts anderes hieß, als die Revolution zu erzwingen; in Deutschland war diese Strategie im Februar 1921 ein völliger Fehlschlag. Ein am 17. März 1921 inszenierter, aber weitgehend unvorbereiteter Aufstand im mitteldeutschen Industriegebiet scheiterte an einer gut vorbereiteten Polizeiaktion und an der Verweigerungshaltung der Masse der Industriearbeiter schon Ende März; 145 Zivilisten und 35 Polizeibeamten wurden getötet.46 Für die politische Rechte waren die „Erfüllungspolitik-Marxisten“ von SPD und USPD schon deshalb Verräter, weil sie dem Londoner Ultimatum und der oberschlesischen Teilung nachgegeben hatten. Das Verdikt zu großer „Nachgiebigkeit“ war geeignet, auch die politische Mitte zu erfassen. Mit beispiellosen Hasskampagnen gegen die Republik wie gegen ihre Repräsentanten schürte die Rechte eine Atmosphäre, die Gewaltbereitschaft einschloss, was sich alsbald zeigen sollte. Am 9. Juni 1921 wurde der Fraktionsvorsitzende der Bayern-USPG, Karl Garais, erschossen. Der 26. August 1921 sah die Ermordung des „Erfüllungspolitikers“, „Novemberverbrechers“ und „Volksverräters“, des ehemaligen Reichsfinanzministers Mathias Erzberger, der von zwei Mitgliedern der „Organisation Consul“47 und des Münchner „Germanenordens“ auf einem Spaziergang erschossen wurde. Die Täter entflohen über München nach Ungarn. Für den „Berliner Lokalanzeiger“ aber hätte jedes andere Land den Attentätern „unbegrenztes Verständnis“ entgegengebracht.48 Selbst die mit Entsetzen aufgenommene Ermordung Walther Rathenaus – „die zweite herausragende Persönlichkeit im Kabinett Wirth“49 – am 24. Juni 1922, erneut durch Mitglieder der „Organisation Consul“, führte nicht dazu, der Nachfolgeregierung unter Wilhelm Cuno eine breitere parlamentarische Basis zu verschaffen.50 Zu der von den Attentätern erhofften Gewalteskalation durch

46 Vgl. Longerich (1995, S. 120 f.). 47 Die „Organisation Consul“ war eine terroristische, geheim operierende Gruppe, die der ehemalige Anführer des Kapp-Putsches, Kapitän Erhard, leitete (Longerich 1995, S. 122). 48 Siehe Winkler (2000, S. 420 f.). Die Mörder – von Hitler 1933 amnestiert – wurden erst 1950 zu zwölf bzw. fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt – zwei Jahre hatten sie zu verbüßen (ebd.). 49 Büttner (2010, S. 150); zur Person Rathenaus siehe die Kurzbiographie (ebd. S. 150 f.). 50 Ebd. S. 151.

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II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff.

einen kommunistisch befeuerten, proletarischen Massenaufstand, kam es nicht.51 II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff. Bayern befand sich bis Anfang Mai 1919 in einem revolutionären Ausnahmezustand. Schmitt hatte in seiner Stellung bei der Stadtkommandantur München, zu der er am 1. April 1919 versetzt worden war, die „blutigsten Tage der Revolutionsdiktatur“ bereits erlebt: „die Reichsexekution und den militärischen Widerstand der Revolutionsregierung“.52 Diese blutigen Tage griffen ihn gesundheitlich derart an, dass er zur Gesundung beurlaubt und am 30. Juni aus dem Wehrdienst verabschiedet wurde. Von einer Normallage jedoch konnte in Bayern, das auf seiner eigenen substantiellen Staatlichkeit beharrte, noch lange keine Rede sein. Denn auch nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 bestand Bayern auf seiner eigenständigen Militärgewalt, seinem Notstandsrecht und seiner Verfassungsschutzgewalt. Treffend pointiert Mehring: „Bayern verwandelte sich in eine gegenrevolutionäre Zelle. Politische Justiz und Gewalt bestimmten das Klima“.53

Nach dem rasch gescheiterten Kapp-Putsch vom März wurde Gustav v. Kahr Ministerpräsident, umgehend begann er, eine irreguläre Miliz zu formieren. Erst sein Nachfolger Hugo Graf Lerchenfeld beendete im September 1921 den seit 1914 ununterbrochen währenden Ausnahmezustand in Bayern. Das Kriegsende aber, die Revolutionserfahrungen, die Räterepublik, so Noack, „stellen eine radikale Zäsur im Denken Schmitts dar. Von nun an leidet er an der Erblast der nationalen Niederlage, vor allem seit dem Versailler Vertrag“.54

Nach seiner Entlassung aus dem Heeresdienst setzte sich Schmitt umgehend mit Geheimrat Hugo am Zehnhoff – jetzt schon preußischer Justizminister – in Verbindung. Durch dessen Hilfe bekommt Schmitt umgehend

51 52 53 54

Siehe Winkler (2000, S. 426). Mehring (2009, S. 114). Ebd. Noack (1993, S. 40).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die Stelle eines Regierungsrats im Volkswohlfahrtsministerium angeboten. Dieses Angebot kreuzt sich mit der Zusage für eine Dozentenstelle des öffentlichen Rechts an der Handelshochschule München. Von Zehnhoff rät zur Annahme – und Schmitt, gerade 31 Jahre alt, kann seine akademische Laufbahn, formal weiterhin als Privatdozent wie ehedem in Straßburg, fortsetzen.55 Vom 1. September 1919 bis 30. September 1921 lehrt Schmitt in München Öffentliches Recht, hat den Verlust der Dozentur in Straßburg kompensiert und sich akademisch positioniert. Die Existenz der Hochschule ohne Promotions- und Habilitationsrecht war allerdings alles anders als gesichert. Trotzdem zeigt sich Schmitt ambitioniert, er liest über die neuzeitliche „Idee des Einheitsstaates“ und betrachtet die Klassiker Bodin, Montesquieu und Rousseau. Seine Analysen finden wir in seiner ersten großen Schrift Die Diktatur wieder, die er im Sommer 1920 abschließt.56 Direktor der Handelshochschule München ist bei Schmitts Dienstantritt Moritz Julius Bonn, der sich später, bis 1933 Schmitt freundschaftlich verbunden, für Schmitts Ruf an die Handelshochschule Berlin einsetzen wird: „Der begabteste meiner Kollegen war unzweifelhaft Dr. Carl Schmitt. (…) Seine Unausgeglichenheit war mir zwar bekannt, aber ich vertraute seiner hohen Begabung“.57

Schmitt steht in München in einer wohl relativ engen Verbindung mit Max Weber, hört seine Reden und Vorlesungen 58 und nimmt am Dozentenseminar teil. In der Erinnerung hält er Weber für einen Revanchisten, „ein Revanchist, das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe, wenigstens an starken Redensarten, neben denen auch Scheidemanns ‚verdorrte Hand‘ harmlos klingt“.59

Im Oktober 1919 liest Schmitt über die Geschichte der politischen Ideen seit der Reformation und die „Idee des Einheitsstaates“, Ausarbeitungen,

55 56 57 58

Siehe Mehring (2009, S. 115);s. Noack (1993, S. 42). Siehe Mehring (2009, S. 118). Siehe ebd. S. 117); Bonn, zit. nach Mehring (ebd.). Wissenschaft als Beruf (7.11.1917) und Politik als Beruf (18.1.1919); Vorlesung: Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (s. Mehring 2009, S. 118). 59 Tommissen in CO (1988, S. 79).

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III. Die Diktatur (1921).

die in sein erstes Hauptwerk Die Diktatur (1921) eingehen werden60, die er „in die Wirren der Münchner Revolutions- und Bürgerkriegslage und seiner Ehekrise hinein schreibt“.61 Die Zeit literarischer Selbstversuche war abgeschlossen, die Jurisprudenz war Mittelpunkt seines Schaffens geworden, doch auch sie wird sich verändern, sie wird politischer. III. Die Diktatur (1921). „Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus. Carl Schmitt62

Der Begriff der Diktatur – wie er bis zum 20. Jahrhundert verstanden und gebraucht wurde – geht auf das außerordentliche Amt des Diktators in der Römischen Republik zurück.63 Es bezieht sich auf einen politischen Führer, der in Zeiten der Krise – Krieg oder innere Rebellion – für einen begrenzten Zeitraum mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattet wurde: „Die Diktatur wurde konzipiert als Ordnung der Unordnung“64, für den Fall, dass die gewöhnlichen Institutionen und Verfahren in einer Krisenlage versagen.65 Von diesem verfassungsmäßigen und legitimen Amt sind 60 Mehring (2009, S. 118). Ab dem Sommersemester bietet er spezifische rechtswissenschaftliche Veranstaltungen: die Verfassung des Deutschen Reiches, das Betriebsrätegesetz, Grundzüge der Sozialversicherung an, aber auch Politische Ideen seit 1789 (ebd. S. 118 f., mit weiteren Einzelheiten). 61 Mehring (2009, S. 120). 62 (DD XVII). 63 Nachst. s. Behrends (2009, S. 41 f.); s. a. Nippel (2004). 64 Münkler (2010, S. 15). 65 Im Normalzustand, einem System der Gewaltenteilung, kontrollierten sich Senat, Konsulat und Tribunat gegenseitig. Die Mehrfachbesetzung dieser Institutionen trug Sorge, dass keinem Einzelnen zu große Macht zuwuchs. Dieses System war über mehrere Jahrhunderte erfolgreich. Erst mit den Bürgerkriegen 133-30 v.Chr. wandelte sich das erfolgreiche Instrument der Krisenbewältigung in eine konfliktverschärfende „Diktatur“. Der Begriff der Diktatur ist seit dieser Zeit pejorativ besetzt (s. Münkler 2010, S. 16).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die illegitimen Herrscher zu unterscheiden, die als Tyrannen oder Despoten bezeichnet wurden. Mit dem Sturz legitimer Monarchien nach der Französischen Revolution 1789 wurde der Begriff in der politischen Fachsprache wieder aktuell. Von Karl Marx – Diktatur des Proletariats – wurde der Begriff auf eine soziale Gruppe als Träger autoritärer Herrschaft ausgedehnt. Seine gegenwärtige Bedeutung erhielt der Begriff im Ergebnis der russischen Revolution. Lenin führt in Staat und Revolution aus: „Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur, d.h. einer mit niemandem geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützende Macht“.66

Nur wenige Jahre nach Lenin wandte sich Carl Schmitt dem Begriff der Diktatur zu. 1. „Diktatur und Belagerungszustand“ (1916). Carl Schmitt befasst sich erstmals mit dem für ihn zentralen Thema der Diktatur in dem 1916 erschienenen Aufsatz Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie.67 Als entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Instituten Diktatur und Belagerungszustand macht er aus, dass beim Belagerungszustand die Trennung von Gesetzgebung und Vollzug gewahrt bleibt und nur eine Konzentration der Befugnisse bei der Exekutive stattfindet.68 So erhält der Militärbefehlshaber zwar größere Exekutivbefugnisse aber keine legislativen Vollmachten. Zudem erreichen seine Exekutivbefugnisse ihre Grenze da, wo die richterliche Unabhängigkeit anfängt. Die Trennung von Gesetzgebung und Vollzug bleibt erhalten, was aber in der Praxis kaum eine Rolle spielt, wird doch die Trennung beseitigt, weil dieselbe Stelle den Erlass wie auch den Vollzug von Gesetzen in der Hand behält – „sei es, daß die Exekutive auch die Legislative oder daß die Legislative die Exekutive übernimmt“ (DuB 156). Schmitt wendet sich nun umgehend grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis der beiden Gewalten: Gesetzgebung und Verwaltung, zu. Darauf zu achten ist, dass „Verwaltung“ hier mehr ist als der nur bloße Voll66 Lenin, hier zit. n. Behrends (2010, S. 41). 67 Sigle DuB, in: ZgStrW 38 (1916). S. 138-161. 68 Nachst. s. Neumann (2015, S. 30 f.).

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III. Die Diktatur (1921).

zug positiver Rechtsnormen. Schmitt betrachtet das Gesetz als einen Rahmen, innerhalb dessen die Verwaltung schöpferisch tätig werden könne und somit Rechtsschöpfung betreibt. Deshalb sieht er die Wertigkeit der Verwaltung derjenigen der Gesetzgebung nicht nur als gleichgestellt, sondern – aus einer historischen Betrachtung heraus – sogar als vorgängig und höher an, sei doch der Anfang aller Staatstätigkeit „Verwaltung“ gewesen, aus der sich dann die Legislative wie auch die Exekutive abgesondert hätten. „Belagerungszustand“ sei deshalb nur die Rückkehr zum staatlichen Urzustand. In der Diktatur bleibe die Gewaltenteilung bestehen, Gesetzgebung und Vollzug würden jedoch von der gleichen Zentralstelle ausgeübt (DuB 157, 159). Hier entstünde deshalb auch kein rechtsfreier Raum, würde er doch durch die gesetzlichen Anordnungen des Diktators gefüllt (DuB 160). 2. Zur Werkgeschichte. Mit seiner im Herbst 1920 abgeschlossenen und 1921 erschienenen Arbeit: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf69, erhebt Carl Schmitt den Anspruch, für „die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts“ aus anderen Zusammenhängen einen Begriff der Diktatur zu gewinnen und zu zeigen, „welche für die Erkenntnis der Sache wesentlichen Momente im politischen Sprachgebrauch enthalten sind, wodurch in die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts eine vorläufige, nicht nur rein terminologische Orientierung gebracht und ein Hinweis auf den Zusammenhang mit weiteren Begriffen der allgemeinen Rechts- und Staatslehre möglich wird“ (DD XIII).

In den Mittelpunkt der Darstellung rückt das Institut der „Diktatur“ als „ein zentraler Begriff der Staats- und Verfassungslehre“ (DD XIII). Schmitt gelangt durch seine Explikationen der historischen Diktaturbegriffe zu seiner berühmten Unterscheidung von „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur, die für seine Schrift zentral ist (DD XIX; DD 3).70 Mehring hat gewiss nicht Unrecht, wenn er Schmitts Darstellung der Entwicklung der Diktaturformen als „sehr breit“ einordnet und kritisiert, dass

69 Sigle = DD; wir zitieren aus der achten, korrigierten Auflage 2015. 70 Siehe Ottmann (2010, S. 228); s. Nippel (2011, S. 106).

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die Stoffmenge die Linienführung bedränge und den Leser belaste.71 Denn eingebettet ist Schmitts Anliegen in eine weit ausholende ideengeschichtliche, verfassungsrechtliche, politiktheoretische wie geschichtswissenschaftliche Abhandlung, die sich auf die Neuzeit beschränkt.72 Denn Schmitt war „Staatsrechtler und Staatsrechtstheoretiker, aber er ist ebenso auch Kulturkritiker und Geschichtsphilosoph mit katholischer Tradition“73,

und pflegte sein Wissen und seine Belesenheit nicht unter den Scheffel zu stellen. So werden auch staatstheoretische Institute und Begriffe wie Souveränität, Repräsentation, Gewaltenteilung, Arcana und pouvoir constituant erörtert.74 Nach einem Rückblick auf das römische Staatsrecht diskutiert Schmitt nahezu alle Theorien der Staatsphilosophie der Neuzeit: Machiavelli, Hobbes, Pufendorf, Locke, Grotius, Thomasius, Wolff, Montesquieu, Mably, Hobbes und – vor allem – Rousseau. Da die Diktatur-Schrift die theoretischen Bausteine seiner eigenen Staats- und Verfassungstheorie enthält, die er in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird, werden wir diesen Theorien nachspüren. So werden behandelt: Souveränität und Ausnahmezustand (DD 16 ff.), die Lehre von den intermediären Gewalten (DD 99 ff.; 102), die Feinderklärung (DD 3 Anm. 2; 57 ff.; 175 f.), das rechtsstaatliches Verteilungsprinzip (DD 105 f.), der materielle Gesetzesbegriff (DD 105 f.) und die verfassunggebende Gewalt des Volkes (DD 141 ff.). Die Diktatur ist weiterhin eine geschichtliche Betrachtung der Praxis der kaiserlichen Kommissare bei der Ausübung staatlicher Autorität im 16. und 17. Jahrhundert, der vermeintlichen Diktatur Wallensteins, die Herrschaft Cromwells und die Praxis der Volkskommissare während der Französischen Revolution. Aus diesen historischen Betrachtungen entwickelt Schmitt den Begriff der Diktatur und in der Folge die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur.

71 Mehring (1988, S. 60). Wir folgen in unserer Darstellung der Linienführung Schmitts, weil sie ein Stück weit die Ursprungsgeschichte des modernen Staates expliziert. 72 Die Untersuchung weist aber einen für Carl Schmitt ungewöhnlich umfangreichen Verweisapparat auf, der u.a. Verbindungen zur römischen Diktatur vertieft (s. DD 1 ff., Anm. 1 ff.; s. Nippel 2011). 73 Voigt (2015:, S. 35.) 74 Nachst. s. Neumann (2015, S. 31 f.).

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Die Stellung der Diktatur-Schrift in seinem bis dahin vorgelegten Werk sieht Schmitt wie folgt: Gesetz und Urteil (1912) habe den „Rechtswert der Entscheidung als solcher, unabhängig von ihrem materiellen Gerechtigkeitsinhalt“ zur Grundlage einer Untersuchung der Rechtspraxis gemacht. Mit der Weiterführung dieses Ansatzes habe sich der Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm aufgetan, der in Der Wert des Staates (…)“ (1914) untersucht worden sei. Nach der teilweisen Verkennung dieser Abhandlung habe es nahe gelegen, „den kritischen Begriff der Rechtsverwirklichung, also die Diktatur, gesondert zu betrachten“ (DD XX), wie für Schmitt überhaupt der Gegensatz von Recht und Rechtsverwirklichung „das juristische Grundproblem der Staatslehre“ (DD 191) darstellt. Die Diktatur kann einmal als Vorarbeit zum Begriff der Souveränität in der Politischen Theologie gelesen werden. Aber es greift andererseits bereits die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV auf, mit der sich Schmitt noch auf intensivste Weise beschäftigen wird. Die Erörterung ist der zweiten Auflage Der Diktatur als Anhang (215-261) beigefügt. 3. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von 1921. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von Die Diktatur bietet neben einem Blick auf den Gang der Untersuchung und Ausführungen zu Quellenlage wie zu Quellenauswahl bereits eine Oszillation um den Begriff der Diktatur. Thematisch zentral bleibt das Problem der staatlichen Rechtsverwirklichung, jetzt allerdings in dem besonderen Fall der Diktatur. Ist die Geltung des Rechts durch eine innen- und/oder außenpolitische Ausnahmesituation in Teilen oder im Ganzen gefährdet, so rechtfertigt sich die Diktatur, weil sie das Recht ignoriert, jedoch nur mit dem Ziel, es zu verwirklichen (DD XVIII).75 Die Negierung des Rechts ist aber rein faktischer, nicht normierender Natur.76 Diese Form der Rechtsverwirklichung, eine „konkrete Ausnahme“, nennt Schmitt „Diktatur“:

75 Diese Rechtfertigung hat wohl inhaltliche Bedeutung, „ist aber noch keine formale Ableitung und daher keine Rechtfertigung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche oder vorgebliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begründen“ (DD XVIII). 76 Habfast (2010, S. 73).

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„ Das formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d.h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten (…) “ (DD XVIII).

Eine weitere Eigenart der Diktatur liegt darin, dass sie zu allem berechtigt ist, was für den konkret zu erreichenden Erfolg als erforderlich angesehen wird.77 „[Deshalb] bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung unbedingt und ausschließlich nach Lage der Sache; daraus entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen und Ermächtigung, Kommission und Autorität. Bei einer solchen Identität ist jeder Diktator in einem besonderen Sinne Kommissar“ (DD XIX).

In Carl Schmitts Überlegungen zur Diktatur trennen sich die Normen des Rechts von den Normen der Rechtsverwirklichung78, damit sie nach dem Erfolg der richtigen Maßnahmen – das sind die zweckmäßigen, diktatorischen − und damit dem Ende der Diktatur79 wieder zusammengeführt werden können, der Status quo ante wieder erreicht und der Primat des Rechts wiederhergestellt ist (vgl. DD XVII).80 Dies bedenkend wird man formulieren können, dass die Diktatur Carl Schmitts ein notwendiges Mittel der Realpolitik ist, um einen Gegner der bestehenden Rechtsordnung durch „die Entfesselung des Zwecks vom Recht“ erfolgreich ausschalten zu können (s. DD XVIII).

77 Die Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit der Mittel, die Sachtechnik der Diktatur, betont Schmitt immer wieder: „Einen konkreten Erfolg bewirken, bedeutet aber, in den kausalen Ablauf des Geschehens eingreifen mit Mitteln, deren Richtigkeit in ihrer Zweckmäßigkeit liegt und ausschließlich von den tatsächlichen Zusammenhängen des Kausalverlaufs abhängig ist“ (DD XVII f.). Noch ausführlicher siehe DD 11. 78 Siehe dazu auch (DD 191). 79 „Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (DD XVII). 80 Hingegen sucht die souveräne Diktatur „einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht“ (DD 134).

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4. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre. 4.1. Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie. Carl Schmitt geht in der Tat „einen verschlungenen Gang durch die politische Theorie seit Machiavelli“, um zu erläutern, dass es zwei verschiedene Typen der Diktatur gegeben hat.81 Bis ins 19. Jahrhundert aber sei die Institution der Diktatur nur eine gleichbleibende „Angelegenheit der Altertumskunde“ geblieben und kein Begriff „von allgemeiner staatsrechtlicher Bedeutung“ (DD 1). Der Grund hierfür sei, so Schmitt, dass man die „auffällige Verschiedenheit“ des älteren republikanischen römischen Modells der Diktatur des 5. bis 2. Jahrhunderts v.Chr. und dem späteren Typus der sullanischen und caesarischen (Missbrauchs-)Diktatur entweder ignoriert oder nicht erkannt habe: „Der Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur, der im folgenden als die grundlegende Entscheidung entwickelt werden soll, ist hier bereits in der politischen Entwicklung selbst angedeutet und liegt eigentlich in der Natur der Sache“ (DD 3).82

Im 16. und 17. Jahrhundert betrachtete sich das Fürstentum als absolut von Gottes Gnaden und nicht von der Zustimmung des Volkes abhängig und setzte sich so gegen die Stände – die damalige Auffassung von „Volk“ – durch (DD 4). Bei den staatsrechtlichen und politischen Schriftstellern dieser Zeit hingegen wurden zwischen dem Institut der römischen Diktatur und den Einrichtungen anderer Staaten Vergleiche angestellt, was als ein erster Versuch zu werten sei, die Diktatur als einen Begriff der allgemeinen Staatslehre zu entwickeln.

81 Nippel (2004: Abs. 3). 82 Die römische Diktatur des 3. Jh. diente zur Bewältigung innen- wie außenpolitischer Krisenlagen. Der Diktator, auf Antrag des Senats vom Konsul ernannt, verfügte über höchste Gewalt jedoch nur für sechs Monate. Er konnte den Ausnahmezustand nicht selbst ausrufen, seine 6-Monats-Befristung nicht verlängern. Dieser Typus der Diktatur wurde von den großen Heerführern in den Bürgerkriegen des 1. Jh. revolutionär ausgeweitet und letztlich zum Sturz der Republik missbraucht. Der grundlegende Wandel zeigte sich in der Ernennung Cäsars zum Diktator auf Lebenszeit (44 v.Chr.): die diktatorische Überbrückungszeit der Republik war zur scheinlegalen Führerherrschaft (Prinzipat) der römischen Kaiserzeit mutiert (Bracher 1995, S. 56).

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Schmitt benennt als Referenzautor Machiavelli83, obwohl dieser nie eine Staatstheorie im eigentlichen Sinn aufgestellt hat (DD 5).84 4.2. Niccolò Machiavelli.85 Die Bewertungen Machiavellis in Der Diktatur sind auf den ersten Blick nicht aus einem Guss, ordnet Schmitt ihn doch den Traditionsdenkern zu, die auf das überkommene römisch-republikanische Institut der Diktatur fokussiert waren und an ihm festhielten. Staatstheoretisch böte sich demnach kaum ein Erkenntnisgewinn, zumal Machiavelli ja keine Staatstheorie ausgearbeitet hätte (DD 5). Sein Bild der Diktatur sei das des Titus Livius und damit das der „alten Diktatoren“ (DD 6). Gleichwohl zeigten aber Machiavellis Bemerkungen zur Diktatur ein „selbständiges politisches Interesse und Unterscheidungsvermögen“ (ebd.). Er habe nämlich die Probleme eines normal geregelten Ablaufs von Verwaltungstätigkeit aufgedeckt, „dessen Umständlichkeit und kollegiale Beratungsweise in dringenden Fällen gefährlich werden und eine schnellen Entschluß unmöglich machen können. Gerade für die Republik soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren“ (DD 6).

Machiavelli sei es darum gegangen, so Schmitt, die institutionelle Schwerfälligkeit der gewaltenteilend wirkenden Mischverfassung einer Republik86 um die Vorteile einer monarchischen, also alleinentscheidenden Regierungsweise zu ergänzen, in erster Linie also um Schnelligkeit und Effizienz. So habe die venezianische Republik – für Machiavelli die beste moderne Republik – über ein solches Notstandsinstitut verfügt. Hieran wird

83 Machiavelli erreichte bei Schmitt nicht die Bedeutung von Hobbes und Bodin. Schmitt zeigte aber eine hohe persönlich-biographische Verbundenheit, indem er seinen Rückzugsort in Plettenberg mit San Casciano benannte, den Landsitz, auf dem Machiavelli 1513 sein Exil antreten musste (Saracino 2013, S. 22 f.). Rudolf Augstein bezeichnete Schmitt in Anlehnung als „Machiavelli im Sauerland“ (Der Spiegel, Nr. 45, S. 75). 84 Einen prägnanten Einstieg zu Machiavelli bietet Reinhard (2003, S. 241-255). 85 Grundsätzlich s. Ottmann (2006, S. 11-62); Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 244-253); Münkler (1995); Deppe (1987). 86 Siehe Saracino (2013, S. 28).

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deutlich, dass Machiavellis Augenmerk vor allem dem casus necessitatis, dem Not- und Ausnahmefall, und dessen Überwindung gilt.87 „In der Tat ist die Diktatur eine der römischen Institutionen, welche besondere Beachtung verdient; denn sie war eine der Ursachen der Größe des Imperiums. Ohne eine ähnliche Einrichtung übersteht ein Staatswesen nur schwer außergewöhnliche Ereignisse. Der gewöhnliche Gang der Geschäfte in den Freistaaten ist langsam; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles erledigen, in vielen Dingen brauchen sie sich gegenseitig. Durch den notwendigen Ausgleich der verschiedenen Willensrichtungen vergeht die Zeit, und so entsteht die größte Gefahr, wenn man einer Sache abhelfen soll, die keinen Zeitverlust erlauben. Die Freistaaten müssen daher in ihren Verfassungen eine der Diktatur ähnliche Einrichtung haben“.88

Das 34. Kapitel der Discorsi – „Die diktatorische Gewalt brachte der römischen Republik nur Vorteil, keinen Schaden.“ – wendet sich gegen den Vorwurf, dass die Institution der Diktatur in Rom die Entstehung einer Tyrannis gefördert habe. Gegen diese Fehleinschätzung will Machiavelli die Diktatur in Schutz nehmen, sei doch der Diktator kein Tyrann und die Diktatur keine Form der absoluten Herrschaft, „sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren“ (DD 6): „Der Diktator wird definiert als ein Mann, der, ohne an die Mitwirkung irgendeiner anderen Instanz gebunden zu sein, Anordnungen treffen und sie sofort, d.h. ohne das weitere Rechtsmittel gegeben wären, vollstrecken kann (…)“ (ebd.).

„Darum ist die Diktatur ein verfassungsmäßiges Institut der Republik (…)“ (DD 7) für den Not- und Ausnahmefall, sie ist die Antwort auf das Unerwartete, die gesetzlich legitimiert ungesetzliche Mittel anwenden können muss, um den freiheitlichen Status der Republik zu verteidigen. Schmitt: „Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffs liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. (…)

87 Zu Machiavellis Lebzeiten fanden in Florenz drei gescheiterte Verschwörungen (1478, 1513, 1522) gegen die herrschenden Medici und zwei erfolgreiche Verfassungsumstürze (1513, 1522) statt. Im Gegensatz zum Diskurs über die Staatsräson ging es in den Discorsi thematisch primär um die Erhaltung der Freiheit und weniger um die Erhaltung des Staates. 88 Machiavelli 1977, S. 96.

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Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (DD XVII).

Aber, kann in der großen Machtfülle des dittatori nicht doch der Keim für eine Tyrannis angelegt sein? Diese Gefahr sieht auch der Florentiner. Deshalb sei es maßgeblich, so paraphrasiert Schmitt Machiavelli89, dass die Diktatur verfassungsmäßig eingehegt ist. Folgende vier Prämissen sollen diese Einhegung gewährleisten: Das Amt muss, erstens, zeitlich beschränkt sein. Zweitens, kann der Diktator Gesetze weder ändern, die Verfassung und die Behördenorganisationen aufheben, noch neue Gesetze machen. Ebenso lässt Machiavelli, drittens, die ordentlichen Verfassungsorgane und Gewalten, die er als eine Art Kontrollorgan sieht, unangetastet: 90 Sie sollen allein durch ihre Existenz wirken, denn ihre verfassungsmäßige Gewalt ist ja suspendiert. Und als Viertes soll Bürgertugend, für Friedrich eine lebenswichtige Voraussetzung, vorhanden sein.91 „Doch er (der Diktator, w.a.m.) konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden können; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem Volk die Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staates nicht abschaffen und neue einführen“ (Machiavelli 1977: 95).

Zur Untermauerung seiner Einhegungsthese vergleicht Machiavelli den dittatore mit den decemviri. Letztere waren mit unbestimmten Vollmachten ausgestattet und für einen längeren Zeitraum ernannt worden. Dies versetzte sie in die Lage, Autorität über ihr Mandat hinaus zu usurpieren, was letztlich zur Tyrannis führte. Den Diktatoren war dieser Zeitrahmen verschlossen.92 Insofern verharrten Machiavelli und die nachfolgende Zeit in der altrepublikanischen Denkweise, seine Diktatur verblieb „als ein der freien römischen Republik wesentliches Institut“ (DD 7). Eine Scheidung

89 Ebd. S. 95. 90 „Machiavelli hat gerade darin, daß die Magistrate bestehen bleiben, eine Garantie gegen Mißbrauch der Diktatur gesehen“ (DD 114). 91 Siehe Machiavelli (1977, S. 95); s. Friedrich (1961, S. 40; s. Saracino (2013, S. 31):. 92 Friedrich (1961, S. 41).

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der Diktatur in den kommissarischen und souveränen Typus sei deshalb gar nicht in den Blick geraten.93 Was aber macht Machiavelli dann zu einem von Schmitt so geschätzten Staatsdenker der Neuzeit? Einmal entdeckt Schmitt in der auf Livius basierenden Auseinandersetzung mit der Diktatur eine „dezisionistische Pointe“, weil die Ermächtigung des Diktators mit der Aufhebung der gewaltenund aufgabenteilenden Mischverfassung einhergegangen sei. Zweitens betont Schmitt die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung des Principe für die neuzeitliche Staatslehre. Drittens, und am wichtigsten aber, gilt Machiavelli als der wesentliche und frühe Begründer eines technischen Politikverständnisses, einer neuen politischen Sachtechnik, die er durch die Analysen in den Discorsi und im Principe gewonnen hat.94 Der Principe beschreibt die Mittel und Wege, wie man als absoluter Fürst die politische Macht erlangen bzw. in seinen Händen behalten kann. Ging es in dieser Schrift – mit allen Amoralitäten – um die Alleinherrschaft, drehten sich die Erörterungen in den Discorsi um die Freiheit in einer Republik. Für Schmitt sind alle Missverständnisse und Vorwürfe aus dem Nebeneinander von Principe und Discorsi allerdings nicht relevant, „weil ein rein technisches Interesse herrscht, wie es für die Renaissance charakteristisch war (…). Aus der absoluten ‚Technizität‘ folgt die Indifferenz gegenüber dem weiteren politischen Zweck (…)“ (DD 8).

Die normativen Gehalte95 der beiden Staatsformen verblassen hinter Machiavellis sachtechnischem Neutralismus, seiner Technik des erfolgreichen Machterhalts:

93 Aus dem genannten Grund erschließt sich, dass der absolute Fürst niemals Diktator ist und die im Principe dargestellte Regierungsweise keine Diktatur: „Der Diktator ist immer ein zwar außerordentliches, aber doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan (…). Der Principe dagegen ist souverän (…)“ (DD 7). 94 Siehe Saracino (2013, S. 24 f.). „Das grundsätzlich Neue an Machiavellis politischer Theorie ist dagegen seine prinzipielle Rechtfertigung einer technizistischen Politikbetrachtung sowie eine pessimistische Anthropologie, die bei ihm erstmals zu einer diesseitig begründeten Legitimation des Staates avanciert“ (Münkler 1990: 37). 95 Normative Anforderungen, die die Realität übersteigen, werden von Machiavelli „schroff zurückgewiesen“ (Münkler 1995, S. 251): „Es ist ein so außerordentlicher Unterschied zwischen der Art, wie man wirklich lebt und wie man leben sollte, daß alle, welche bloß darauf sehen, was geschehen sollte, und nicht auf das, was wirklich geschieht, eher ihren Untergang als ihre Erhaltung erleben. Es ist daher unvermeidlich, daß ein Mann, der überall rein moralisch handeln will, unter so

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„Die politische Machtorganisation und die Technik ihrer Erhaltung und Erweiterung ist bei den verschiedenen Staatsformen verschieden, aber immer etwas, das sachtechnisch herbeigeführt werden kann (…)“ (DD 8)96.97

Und Münkler expliziert: „Es kommt also darauf an, sich den jeweiligen Umständen möglichst gut anzupassen, um Erfolg zu haben. Machiavelli hat damit die Bedeutung, die moralische Normen mit universellem Gültigkeitsanspruch für sich in der Politik beanspruchen können, deutlich relativiert; statt dessen hat er gefordert, politisches Handeln müsse sich mehr als an allgemeinen Normen an den jeweiligen Umständen als Voraussetzung des Erfolgs orientieren“.98

Schmitts Erhöhung einer rationalen, kühlen wie abwägenden Technizität stand konträr zu der Dämonisierung machiavellistischer politischer Theorie.99 Denn die Fixierung Machiavellis auf die Zielerreichung, also den bestimmten Erfolg, ließ verbrecherische Methoden als Mittel der Zwecker-

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vielen anderen, die nicht so handeln, früher oder später zugrunde gehen muß“ (Machiavelli 1990, S. 91). Fixpunkte dieser Sachtechnik sind die geographische Lage, der Charakter des Volkes, die religiösen Anschauungen, soziale Machtgruppierungen und Traditionen. Aus der Verschiedenartigkeit dieser Parameter rühren unterschiedliche Methoden (DD 8 f.): „In den römischen Discorsi rühmt Machiavelli die guten Instinkte des Volkes, im Principe wiederholt er, daß der Mensch von Natur aus böse, Bestie, Pöbel ist. Das hat man als anthropologischen Pessimismus bezeichnet, aber es hat theoretisch eine ganz andere Bedeutung“ (DD 9). Schmitt macht nämlich die unterschiedliche moralische Verfasstheit der Bürgerschaft zum Konstruktionsprinzip einer Verfassung (s. dazu auch Friedrich 1961, S. 39). Der Principe gehe davon aus, dass der Mensch eine moralisch minderwertige Qualität aufweist, „um sich als Material für diese Staatsform zu eignen“. Menschen hingegen, die über die virtú, das Konstruktionsprinzip einer Republik verfügten, könnten eine Monarchie nicht ertragen: „Die Art politischer Energie, die sich in der virtú äußert, verträgt sich eben nicht mit absolutistischen Regierungsformen, sondern läßt nur eine Republik zu. Je nachdem nun die Aufgabe gestellt wird, ein absolutes Fürstentum oder eine Republik zu konstruieren, muß das Menschenmaterial, mit der das technische Verfahren zu rechnen hat, verschieden sein, da sonst der gewünschte Erfolg nicht erreicht werden kann“ (DD 9). Zur Persönlichkeit des Staatsgründers s. auch Friedrich (1961, S. 31 ff.). Vgl. Habfast (2010, S. 76 f.). Münkler (1990, S. 37). Weiter dazu siehe Saracino (2013, S. 25 f.).

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reichung ja zu. 100 Schmitt setzt dem Moralismus ungerührt das sachtechnische Ethos entgegen: „Auch Machiavelli selbst hat sich am liebsten mit rein technischen wie militärwissenschaftlichen Problemen beschäftigt. Bei diplomatischen und politischen Angelegenheiten nimmt ihn die Frage, wie man etwas ‚macht‘, am meisten in Anspruch, und wo sich im Principe ein ehrlicher Affekt verrät, ist es Haß und Verachtung für den Dilettanten, den Stümper des politischen Lebens, der eine Sache halb macht, mit halben Grausamkeiten und halben Tugenden“ (DD 8).101

Entscheidend für Schmitt ist, dass „diese technische Auffassung (…) für die Entstehung des modernen Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung“ ist (DD 9). „Im Verlauf der weiteren Untersuchung wird sich immer wieder zeigen, daß der Inhalt der Tätigkeit des Diktators darin besteht, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, etwas ‚ins Werk zu richten‘; der Feind soll besiegt, der politische Gegner beruhigt oder niedergeschlagen werden. Immer kommt es auf die ‚Lage der Sache‘ an. Weil ein konkreter Erfolg herbeigeführt werden soll, muß der Diktator mit konkreten Mitteln in den kausalen Ablauf des Geschehens unmittelbar eingreifen. (…) Er kann daher, wenn es sich wirklich um den äußeren Fall handelt, keine allgemeinen Normen beobachten. (…) Hier wird also nicht mehr nach rechtlichen Rücksichten gefragt, sondern nur nach dem im konkreten Fall geeigneten Mittel zu einem konkreten Erfolg. (…) Daher herrscht gerade in der Diktatur ausschließlich der Zweck, von allen Hemmungen des Rechts befreit und nur durch die Notwendigkeit bestimmt, einen konkreten Zustand herbeizuführen. (…) Der absolut technischen Staatsauffassung bleibt ein unbedingter, von der Zweckmäßigkeit unabhängiger Eigenwert des Rechts unzugänglich“ (DD 11).

Schmitt kommt so zu dem Schluss, dass Rationalismus, Technizität und Exekutive den Weg zur Diktatur weisen, dass diese Gemengelage am Anfang des modernen Staates steht und dieser mithin aus einer politischen Sachtechnik entstanden ist. Und mit ihm beginnt als ein theoretischer Reflex des modernen Staates auch die Lehre von der Staatsräson,

100 Siehe Machiavelli (1990: Kapitel XVII.–XIX.). Sehr oft wird in der Literatur Machiavellis Bewunderung für Cesare Borgia Bezug genommen, der rücksichtslos seine Condottiere liquidieren ließ, als es ihm dienlich erschien. 101 Ausführlich dazu siehe Münkler (1995, S. 243 f.): „Mehr als moralisch verwerfliches hat er politisch ineffizientes oder gar falsches Handeln kritisiert und verurteilt, und man kann ihn mit einem gewissen Recht als den geistigen Vater jenes Satzes bezeichnen, wonach Irrtum und Versehen die der Politik eigentümlichen Verbrechen seien“ (Münkler 1990, S. 36).

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„d.h. einer über den Gegensatz von Recht und Unrecht sich erhebenden, nur aus den Notwendigkeiten der Behauptung und Erweiterung politischer Macht gewonnenen soziologisch-politischen Maxime“ (DD 12).

Der Imperativ der Staatsräson ist die politische Selbsterhaltung des neuen Staatstypus, dessen Kern eine die Staatsziele umsetzende Exekutive ist (DD 12).102 Es ist aber festzuhalten, dass für Machiavelli, dem der Staat das höchste und allumfassende Gut war, die Notwendigkeiten und Erfordernisse des Staatswesens keiner Rechtfertigung bedurften, das zugespitzte Problem der Staatsräson sich ihm eigentlich nicht stellte.103 Schmitt befasst sich im Anschluss mit einem Theoretiker der Staatsräson intensiver, dem Bremer Juristen Arnold Clapmar. 4.3. Arnold Clapmar.104 Arnold Clapmars bedeutendste und posthum erschienene Schrift De Arcanis Rerumpublicarum wurde eines der wichtigsten Werke der sog. Arcanliteratur und der politischen Publizistik des 17. Jahrhunderts.105 In ihr wurden die Aspekte der Staatsklugheit und Herrschaftspraxis – im Anschluss an Machiavelli und Bodin – als arkane (geheime) Wissenschaft vermit-

102 Der Exekutive, so Schmitt, sei es gleichgültig, „in welchem Dienst sie funktioniert“, weil die Regeln guten Funktionierens auf einer „soziologisch-praktischen Sachtechnik beruhen“, die Eigenart des Auftraggebers mithin gleichgültig sei (DD 12/13). 103 Friedrich (1961, S. 35). Carl Schmitts „Principe-lastige“ Begegnungen mit Machiavelli, so Saracino, seien insgesamt „flüchtig“ gewesen. Die Diktatur bilde insoweit eine Ausnahme: „Schmitt möchte sich als der missverstandene Machiavelli der Gegenwart verstanden wissen“ (Saracino 2013, S. 41). Er habe auch beabsichtigt, den Vorwurf des Machiavellismus abzuwehren, den die Alliierten im Ersten Weltkrieg Deutschland machten: „Schmitt betont den Techniker der Macht, den Realisten und die tragische rezeptionsgeschichtliche Gestalt in Machiavelli. Seinen Republikanismus nimmt er – wenn auch am Rande – zur Kenntnis“ (Saracino 2013, S. 42). 104 Arnold Clapmar oder Clapmarius wurde 1574 in Bremen geboren und in calvinistischem Geiste erzogen. Nach dem Studium der Rechte übernahm er mit sechsundzwanzig Jahren eine Professur für Politik und Geschichte an der Universität Altdorf (Nürnberg), veröffentlichte mehrere Bücher und verstarb 1604 mit nur dreißig Jahren. 105 Siehe Münkler (1987, S. 285).

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telt.106 „Geheim“ sind diese Ratschläge107, weil sie an Wirkung verlieren würden, wären sie publik und somit ein Gegenstand der öffentlichen Diskussion. In der Auslegung Clapmars sind diese Arcana Ratschläge zur Herrschaft und zur Sicherung des Gemeinwohls sowie zur Sicherstellung des Friedens.108 Clapmar definiert: „Staatsgeheimnisse sind meiner Definition nach innerste und geheime Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschaft innehaben, und dienen teils der Erhaltung der Ruhe und demselben, teils aber auch der bestehenden Staatsverfassung bzw. dem öffentlichen Wohl“.109

Die Arcantheoretiker zielten auf pragmatische, am Zweck orientierte, Lösungen: „Der Gegensatz zwischen der mitunter amoralischen Politik der Regierung und dem moralischen Leben der Bürger, das durch diese Politik ermöglicht werden sollte, war, so der Arcanismus, nur zu überwinden, indem die amoralischen Praktiken der Politiker dem Blickfeld der Bürger entzogen wurden, damit sie durch die Kenntnis der politischen Methoden moralisch nicht korrumpiert würden“.110

Das Spezifische bei Clapmar ist die Unterbauung dieser Arcana mit Rechtsgrundlagen sowie ihre Methodisierung und Systematisierung. Er entwickelte ein System, mit dem das Instrumentarium zur Herrschaftsausübung in erlaubte und unerlaubte Praktiken eingeteilt werden konnte, „wobei kräftig gegen Machiavelli, den Propagandisten der verbotenen, polemisiert wird. So kann, wie bereits in den Staatsraison-Theorien, die utilitaristische Politikauffassung Machiavellis rezipiert werden, ohne daß man gezwungen ist, seine politische Theorie im ganzen gutzuheißen“.111

Innerhalb der Arcana wird zwischen den arcana imperii, und den ancara dominationis unterschieden. Zu den arcana imperii gehören die verschiedenen Staatsformen und darauf abgestellt die Techniken zur Sicherung des 106 Im Übrigen, habe jede Wissenschaft, die Theologie, die Jurisprudenz, der Handel, die Malerei, die Kriegführung, die Medizin ihre Arcana“ (D 14). 107 „Ich definiere Staatsgeheimnisse (arcana rerum publicarum) als die innersten und geheimsten Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschaft innehaben, und sie dienen teils zur Aufrechterhaltung der Ruhe (tranquilitas), teils zur Erhaltung der bestehenden Staatsverfassung und zwar des öffentlichen Wohle wegens“ (De Arcanis I, 1, S. 9, zit. nach Münkler 1987, S. 285). 108 Siehe Llanque (2008, S. 196). 109 Clapmar, zit. n. Hausteiner (2017, S. 91, Anm. 1). 110 Münkler (1987, S. 291). 111 Ebd. S. 284.

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innerstaatlichen Friedens, wie es etwa in Monarchie und Aristokratie die Rede- und die Pressefreiheit sind. „Der ganze durch Machiavelli inaugurierte Katalog von Rezepten, wie man es anzufangen hat, um sich im Besitz der politischen Macht zu erhalten, fehlt hier ebenso wenig wie die Vorstellung von dem Volk als dem großen, bunten Tier, das mit bestimmten Praktiken behandelt werden muß“ (DD 15).

Die arcana imperii und die arcana dominationis werden begrifflich den jura imperii und jura domiationis entgegengestellt (DD 15).112 Unter den jura imperii werden in der Nachfolge von Bodin113 die verschiedenen öffentlichen und unveränderlichen staatlichen Souveränitätsrechte gefasst, insbesondere das Recht Gesetze zu erlassen; die Souveränitätsrechte sind die Grundlage der Arcana. Die jura dominationis hingegen sind das öffentliche Ausnahmerecht, das vom Machthaber zur Verteidigung seiner Herrschaft und im Interesse der staatlichen Existenz in außergewöhnlichen Situationen – Krieg und Aufruhr – ausgeübt werden kann; es darf vom jus commune abweichen und hat nur noch das jus divinum zu respektieren. Erst das jura dominationis, so Schmitt, offenbart die ganze Fülle der Staatsgewalt (DD 16).114 Aber Carl Schmitt hat offensichtlich wenig Vertrauen in die Rechtsbeziehung von arcana und jura, weil die außerordentlichen Souveränitätsrechte rechtlich letztlich nicht zu binden sind. Denn die Weisung, dass der Herrscher das jus commune nur zur Selbstverteidigung in Extremsituationen verletzen darf, stelle zwar eine Begrenzung dar – nur für durchführbar hält Schmitt sie nicht. Wenn jura dominiationis aufgezählt werden, sei dies der Versuch, die unbegrenzte Machtvollkommenheit auf einzelne Beziehungen zu begrenzen, es bleibe aber die allgemeine Befugnis, alles zu tun, was nach Sachlage erforderlich ist. Scheinbar, so Schmitt, sei das Ausnahmerecht noch Recht, weil es eine Begrenzung zu haben scheine,

112 Wir müssen an dieser Stelle im Rahmen einer Einführung die Schmittschen Ausführungen etwas vereinfacht und geraffter darstellen. 113 Der französische Jurist Jean Bodin (1530–1596) hatte die Souveränität zum Wesensmerkmal des Staates erklärt (Bodin o.J.: I Kap. 1). Angelpunkt war für ihn das Recht, „allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze aufzuerlegen“ (Bodin o.J.: I Kap. 8). 114 Siehe auch Münkler (1987, S. 285/286). Der Raub der Sabinerinnen half dem Frauenmangel ab, unter dem die Römer seit der Staatsgründung litten. Dieser Raub erfolgte wegen einer dringenden öffentlichen Lage (publica necessitas) und fiel somit unter das jus dominationis, „während ein aus „privata libido“ begangener Frauenraub ein Kapitalverbrechen bleibt“ (Münkler 1987, S. 286;

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„in Wahrheit ist die Frage nach der Souveränität dieselbe wie die nach den jura extraordinaria. Der von Stände- und Klassenkämpfen erschütterte Staat ist seiner Konstitution nach in einem fortwährenden Ausnahmezustand und sein Recht bis ins letzte Element Ausnahmerecht. Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintreten soll, und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist. So endet alles Recht in dem Hinweis an die Lage der Sache“ (DD 17/18).115

Derart aber werde das Recht diffus: „Wo alles auf die konkrete Sachlage und den zu erreichenden konkreten Erfolg ankommt, wird die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine unbrauchbare Formalität (…)“ (DD 18).

Die Arcana systematisieren das Thema der Staatsräson nach der Staatsformenlehre des Aristoteles. Diese mit Bodins Souveränitätslehre verbunden zu haben, ist das Besondere bei Clapmar. Die mit ethischen Argumenten unterfütterte Staatsräsondebatte wurde so systematisiert „und ansatzweise auch juridifiziert“.116 Im Ergebnis ist die Unterscheidung von jura arcana und jura dominationis keine befriedigende Antwort auf das Problem der Machtvollkommenheit und Souveränität des modernen Staates, weil einmal die Rechtsbindung des Herrschers leerläuft und zweitens, die Frage der Rechtmäßigkeit hinsichtlich der ausschließlich am Sacherfolg ausgewählten Machtmittel unbeantwortet bleibt.117 Insoweit scheitert letztlich auch der Versuch der Arcanliteratur und der Vertreter der Staatsräson, den bei ihnen erkennbaren Impetus der Herrschaftstechnik normativ einzubinden.118

115 Wir finden hier eine Vorwegnahme des berühmten Satzes aus der Politischen Theologie: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (PT 13). 116 Stolleis (1988, S. 100). 117 Habfast (2010, S. 83). 118 Münkler (1987, S. 289).

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4.4. Monarchomachen.119 Die Ideen der Monarchomachen120 – der „Königsbekämpfer“ – entstammen vorwiegend den hugenottischen, calvinistischen Kreisen121 in Frankreich Mitte des 16. Jahrhunderts, die sich nach der Bartholomäusnacht formiert hatten.122 Sie formulierten ein Widerstandsrecht der Stände und, falle diese aus, der unteren Magistrate gegen Entscheidungen des Monarchen, wenn sie zu der Auffassung gekommen waren, dass dieser seine Rechte und Befugnisse überschritten habe. Im Brennpunkt standen Fragen der Glaubensfreiheit im grausam-harten französischen Bürgerkrieg, in dem sich die Römische Kirche und der französische Hof sowie der calvinistische Protestantismus gegenüberstanden. Dieser vertrat die theologische Auffassung: hindere die weltliche Herrschaft einen Christen an der Ausübung seines Glaubens im Sinne der Gebote Gottes, mache sie ihm gar sein Eigentum streitig, dann könne Gottes Willen nicht mehr gut und richtig sein. Diese calvinistische These123 zwingt den Gläubigen in die

119 Grundsätzlich s. Ottmann (2006, S. 90-93); s. Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 276-281; 285-287); 120 Ihre bedeutendsten Vertreter sind die Franzosen Francois Hotman, Theodor Beza (eigentlich Theodore de Beze und der Anonymus Brutus)sowie die schottischen Reformatoren George Buchanan und John Knox (Schwan 1993, S. 174; Höntsch 2013, S. 82). 121 Es finden sich aber auch katholische Vertreter beispielsweise unter den spanischen Jesuiten. Unter den entsprechenden Umständen galt: War ihr Bezugspunkt ein katholischer Monarch, vertraten sie in der Regel eine monarchische Position und die Protestanten eine monarchomachische – und vice versa (s. Reinhard 1996, S. 281). 122 Der Begriff „Monarchomachen“ ist ein politischer Kampfbegriff und geht zurück auf den politischen Schriftsteller William Barclay (1546-1608), der ihn zuerst im Titel einer 1600 erschienenen Schrift verwendete. Diese war insoweit eine polemische, weil die Monarchomachen keine Könige, sondern Tyrannen bekämpfen (s. Höntsch 2013, S. 82). 123 Für Calvin hat ein Herrscher sein Amt nur inne, um das Reich Gottes auf Erden zu errichten und zu verteidigen. Kommt er diesen Verpflichtungen nicht nach, ist er ein ungerechter Herrscher, ein Räuber und Tyrann. An diese Auffassung schließt die Widerstandstheorie der Monarchomachen an. Zudem preist Calvin die reformierte Kirche als „staatserhaltend“ an (Münkler 1987: 98). Für Friedrich hat Calvin damit die Staatsräson geheiligt (Friedrich 1961, S. 66; 72). (Zur Theologie Calvins s. Friedrich 1961, S. 66-84).

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Entscheidung für die Herrschaft Gottes oder für den weltlichen Herrscher, den Monarchen.124 Diese Zwangslage führte „zwangsläufig zu einer generellen Problematisierung der Legitimität der bestehenden politischen Ordnung. Das Recht auf Widerstand wird so zum konstitutiven Element der Herausbildung moderner Staatlichkeit“.125

Für Carl Schmitt sind die Monarchomachen zuvörderst Gegner der „absolutistischen Staatsraison“, der sie mit „rechtsstaatlichen Argumenten“ entgegentraten, auch um den nach eigenem Verständnis „machiavellistischen Geist“ zu bekämpfen (DD 19). Die Mittel hierzu waren das Recht auf aktiven Widerstand und im äußersten Fall das Recht auf den Tyrannenmord, der theologisch begründet wurde. Nur die Repräsentanten des Volkes, nicht das Volk selbst, schließen einen Bund (foedus) mit dem omnipotenten Herrscher analog zum alttestamentlichen Bundesschluss Gottes mit dem Volk Israels und seinen Königen. Diesem Bund ist der Herrscher verpflichtet und verantwortlich, womit er alle angemaßte absolute Souveränität verliert. Seine Friedenspflicht und -funktion rührt stattdessen aus den bestehenden Bindungen von Bund und Vertrag (foedus und pactum).126 Da das Widerstandsrecht aus obiger Begründung auf die Stände beschränkt bleibt, schätzt Schmitt deren Widerstand als vergeblich ein, weil er dem sachtechnischen Machtvolumen in Händen der Herrscher schlicht nicht gewachsen ist. Seine Auffassung erschließt er vor allem aus den Vindiciae contra tyrannos (1579) des pseudonymen Protestanten Junius Brutus127. Dieses Werk richte sich eigentlich – wie die verwandte Literatur auch – vor allem gegen die pestifera doctrina („verpestete Lehre“), obgleich, so Schmitt, die Diktatur im Gegensatz zur Arcanliteratur in diesen Schriften kaum erwähnt werde (vgl. DD 19). Brutus, der den absoluten Herrscher als Tyrannen bezeichnet, stellt die Frage nach den Bedingungen, die den Widerstand gegen einen Herrscher rechtfertigen und klassifiziert zu diesem Zweck zwei Typen der Tyrannis: „Der Tyrann wird nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten definiert: Tyrann ist derjenige, der entweder mit Gewalt oder bösen Künsten die Herrschaft an sich

124 Siehe Münkler 2014, S. 147 Anm. 20; s. Bermbach 1985, S. 107-124; s. Hartmann u.a. (2002, S. 50). 125 Bermbach (1985, S. 104; Herv. im. Original.). 126 Schwan (1993, S. 174). 127 Schwan vermutet zwei führende Hugenotten – Hubert Languet (1518-1581) und Philippe Du Plessis-Mornay (1549-1623) – hinter diesem Pseudonym (Schwan 1993, S. 174).

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reißt (tyrannus absque titulo) oder die ihm rechtmäßig übertragene Herrschaft unter Verletzung des Rechts und der von ihm beschworenen Verträge mißbraucht (tyrannos ab exercitio)“ (DD 20).

Die Amtsführung des Herrschers ist rechtmäßig, wenn er Gesetze, die von das Volk repräsentierenden Ständen erlassen sind, beachtet. Hieraus resultiert eine einfache Teilung der Gewalten in die legislativen Stände und den exekutiven Herrscher, der dadurch zum ersten Diener des Staates wird. Aber selbst diese schon begrenzte Herrschermacht soll noch unter der Kontrolle eines Senats stehen. Unter allen ständischen Beauftragten („officiarii Regni“), die zusammen mehr sind als der Herrscher, ist dieser nur der Erste (vgl. DD 20). „Die unrechtmäßige Machterweiterung des Fürsten beginnt gewöhnlich damit, daß sie diese ständischen Beauftragten beiseite schieben und nur noch zu außerordentlichen Versammlungen einberufen“ (DD 20).

Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung Monarchomachen vs. Herrscher ist der Gegensatz zwischen absolutistischer Bürokratie und ständischen Beauftragten. Der Herrscher soll nach den Vindiciae ebenfalls officiarii haben, deren Auftrag aber mit dem Tod des Herrschers erlischt, während die officiarii Regni bleiben. Sie sind bloße Diener des Herrschers. Aber Schmitt hebt hervor: „Damit haben die Vindiciae in der Tat einen entscheidenden Punkt getroffen, aber nicht erkannt: gerade diese servi haben, wie in den nächsten Kapiteln gezeigt werden soll, als fürstliche Kommissare den ständischen Rechtsstaat beseitigt“ (DD 20).

Ein weiterer Problempunkt stellt dar, dass die Vindiciae das Volk als den dominus und den Herrscher als den officiarius ansehen, der König soll also herrschen, „aber das heißt für das allgemeine Wohl sorgen“ (DD 21). Schmitt insistiert: „Stillschweigend und als etwas von selbst Verständliches wird vorausgesetzt, daß das öffentliche Interesse ebenso wie das Recht etwas Eindeutiges, keinem Zweifel Unterliegendes und allgemeiner Übereinstimmung Gewisses ist“ (DD 21).

Dem ist aber nicht so, weil ja gerade strittig ist, was rechtens ist, und sich, zweitens, letztlich zwei unterschiedliche Naturrechtsauffassungen gegenüberstehen. Gingen die Monarchomachen davon aus, dass es ein inhaltlich vorgegebenes Recht als vorstaatliches Recht gibt, macht Hobbes klar, dass es vor dem Staat und außerhalb des Staats kein Recht gibt und der Wert

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des Staates ja gerade darin liegt, dass er das Recht schafft, weil er den Streit um das Recht entscheidet (DD 21): „Der Staat kann kein Unrecht tun, weil irgendeine Bestimmung nur dadurch Recht werden kann, daß der Staat sie zum Inhalt eines staatlichen Befehls macht und nicht dadurch, daß sie irgendeinem Gerechtigkeitsideal entspricht. Autoritas, non Veritas facit Legem (Leviathan, cap. 26). (…) Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen im Naturrecht wird am besten dahin formuliert, daß das eine System (…) von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem andern ein Interesse nur daran besteht, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird“ (DD 21; 22)128.

So lässt sich fazitieren, dass Carl Schmitt das Problem der Machtvollkommenheit weder von der Handlungstheorie „machiavellistischer Technizität“ noch vom „monarchomachischen Rechtsstaat“ angemessen gelöst sieht: „Das schwierige Problem des öffentlichen Rechts, das im Begriff der Souveränität und seiner Verbindung von höchstem Recht und höchster Macht liegt, konnte weder mit den Mitteln einer politisch-technischen Theorie gelöst werden, noch war es damit erledigt, daß man es, wie die Monarchomachen, ignoriert“ (DD 25).

Auch aus juristischer Sicht versagen beide Ansätze. Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern fürstlicher Machtvollkommenheit und denen des ständischen Rechtsstaats haben die ersteren für sich entschieden. Denn Schmitt sieht am Anfang des neuzeitlichen Staates die arcan-sachtechnisch geschulte Macht der Herrscher gegenüber der noch naturrechtlich geprägten ständischen Opposition klar im Vorteil. Realpolitisch wie politiktheoretisch hat sich eine sachtechnische Handlungslehre durchgesetzt. Mit der Souveränitätslehre ist ein Mittel der Schmittschen Diktatur in die Staatslehre eingezogen. Das Recht aber hatte sich in dieses Umfeld erst noch zu integrieren.129

128 Herv. im Original. 129 Siehe a. Habfast (2010, S. 86).

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4.5. Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Jean Bodin.130 Mit dem 1576 im Kontext der Religionskriege erschienenen Werk: Les six livres de la republique hat der französische Staatsrechtler Jean Bodin den modernen Souveränitätsbegriff grundgelegt und steht damit an der Schwelle zum neuzeitlichen Staat.131 Bodin gehörte einer Gruppierung von Juristen und Politikern an, die – meist gemäßigte Katholiken – im französischen Bürgerkrieg zwischen den Katholiken und den Hugenotten standen und nach Mitteln und Wegen suchten, diesen zu beenden.132 Ihre Grundüberlegung war es, die Monarchie zur absoluten Gewalt zu erheben, um es dem Monarchen zu erlauben, unabhängig von seiner eigenen Konfession über den Religionsparteien zu stehen. Als einen weiteren Bestandteil ihrer Lehre sahen sie eine „Politik der Toleranz“ als eine pragmatische Notwendigkeit an: „Der Frieden soll Vorrang haben vor erzwungener Homogenität“.133 Dies fügt sich in das Gesamtbild von Bodins Staatszweck, den er in erster Linie in der Sicherung von Leib, Leben, Freiheit, Eigentum und der „Sicherung der Voraussetzungen einer glücklichen Existenz“ sieht.134 Für Carl Schmitt steht Bodin „politisch als Gemäßigter“ („politicien“), zwischen „der machiavellistischen Technizität und dem monarchomachischen Rechtsstaat“ (DD 25): „Demgegenüber hat Bodin nicht nur den Verdienst, den Souveränitätsbegriff des modernen Staates begründet zu haben, er hat auch den Zusammenhang des Problems der Souveränität mit dem der Diktatur erkannt und – freilich nur durch die Beschränkung auf eine kommissarische Diktatur – eine Definition gegeben, die auch heute noch als grundlegend anerkannt werden muss“ (DD 25).

130 Siehe. dazu (Mayer-Tasch 2011); Ottmann (2006, S. 213-230); Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 296-301). 131 Er glaubte zugleich an Dämonen und den Einfluss der Planeten, was – wie Ottmann betont – seine Leser oftmals verwirrt (Ottmann 2006, S. 215 f.). 132 1588 vollzieht er eine überraschende Wendung und schließt sich der vom Adelsgeschlecht der Guise geführten Liga an, vermutlich um sich weiterer Verfolgung zu entziehen. 1593 wendet er sich wieder von der Liga ab und stellt sich auf die Seite Heinrichs IV. (vgl. Ottmann 2006, S. 215 f.). 133 Ottmann (2006, S. 214). 134 Mayer-Tasch (2011, S. 26).

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Diese berühmte Formulierung lautet: „Der Begriff Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates, die im Lateinischen majestas heißt (…) Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt“ 135.136

Das Wesen der Souveränität zeigt sich in der absoluten Machtkonzentration und Machtvollkommenheit des Staates, die einfach festgestellt, aber nicht begründet und legitimiert wird – nicht naturrechtlich, nicht vertragsrechtlich und nicht theologisch. Bodins Souveränität ist kein „Gegenstand konstitutiver Akte, sondern empirisch-rationaler Feststellungen und deren juristische Subsumption“.137

Derart gerät das traditionelle Problem der Rechtfertigung von höchster Gewalt erst gar nicht in den Diskurs und auch die Frage, welche substantiell souveränen Rechte diese Machtvollkommenheit denn ausmachten, entfällt.138 Der Begriff der Souveränität wird aber auch juristisch gefüllt; so beinhaltet er das Recht zur Gesetzgebung: „Aus all dem wird deutlich, daß das Hauptmerkmal der souveränen Majestät und absoluten Gewalt vor allem darin besteht, allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze auferlegen zu können. (…) Der souveräne Fürst muß die Gesetze nach seinem Ermessen und gemäß den jeweiligen Umständen ändern können“.139

Aus diesem hierarchisch an der Spitze stehenden Recht sind alle anderen Souveränitätsrechte ableitbar: „Diese Gewalt, Gesetze zu machen oder aufzuheben, umfaßt zugleich alle anderen Rechte und Kennzeichen der Souveränität, so daß es streng genommen nur dieses eine Merkmal der Souveränität gibt. Alle anderen Souveränitätsrechte sind darunter subsumierbar“.140

135 In der lateinischen Fassung lautet sie: „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“. Aus ihr leitet sich die Epochenbezeichnung „Absolutismus“ ab (Bodin 1976, S. 19; Anm. 9). 136 Bodin (1976: 19 [205]). Wir zitieren aus dem Reclam-Auswahlband Über den Staat (1976), weil er leicht verfügbar ist. In [ ] finden Sie die zitierte Stelle in der genutzten Ausgabe Sechs Bücher über den Staat (München 1981). Diese Ausgabe verwenden wir auch für Textstellen, die im Auswahlband nicht enthalten sind. 137 Quaritsch (1970, S. 253). 138 Siehe ebd., S. 260. 139 Bodin (1976, S. 31/32; [222]). 140 Ebd. S. 43, [294].

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Die wichtigsten Hoheitsrechte, die erfasst werden, sind: das Recht der Kriegserklärung und des Friedensschlusses, das Recht, die höchsten Beamten einzusetzen, die höchstrichterliche Entscheidungsgewalt, das Begnadigungsrecht u.a..141 Ein weiteres wichtiges Kriterium des Souveräns ist es, dass er delegierte Aufgaben „auf jeden Fall“ zurücknehmen und in ihre Behandlung eingreifen kann. Bodin schließt daraus, dass aus diesem Grund der Diktator des klassischen Roms kein Souverän war, sondern nur „Kommissar“ mit begrenzter Aufgabe, etwa um Krieg zu führen. Gleiches gilt für die Decemvirn, die zwar „die absolute Vollmacht hatten, eine neue Verfassung einzuführen“, ihre Macht aber mit der Erledigung dieses Auftrags erloschen war (DD 25/26). Kurz: nicht souverän ist auch der, dessen delegierte Aufgabe und dessen Macht einer zeitlichen Begrenzung unterliegen, „denn sie leitet sich von einer anderen ab, und der wahre Souverän erkennt keinen anderen über sich als Gott.142 Der noch so mächtige Beamte oder Kommissar einer demokratischen Republik oder eines Fürsten hat immer nur abgeleitete Befugnisse, souverän ist das Volk oder in der Monarchie der Fürst“ (DD 26).

Bodin macht keinen Unterschied zwischen der Souveränität des Staates und der des Trägers der Staatsgewalt. In seiner Souveränität fallen die faktische und die rechtliche höchste Gewalt zusammen und bilden eine Einheit: „Wer die absolute Macht hat, ist eben der Souverän, und wer das ist, muß im einzelnen Fall festgestellt werden, aber nicht auf Grund bloß tatsächlicher Feststellung des politischen Einflusses (…). Eine Rechtsbeziehung, nämlich Ableitbarkeit der tatsächlich noch so starken Macht, ist das Entscheidende. Damit ist für ihn die Frage nach der Diktatur beantwortet“ (DD 27).143

141 Siehe ebd. S. 43-46; [295-313]. 142 „Die Staatsgewalt ist dann absolut und souverän, wenn sie nur dem göttlichen Gebot und dem Naturrecht unterworfen ist“ (Bodin 1976, S. 22 [129]). Und: „Was allerdings die Gesetze Gottes und der Natur betrifft, so sind alle Fürsten dieser Erde an sie gebunden“ (Bodin 1976, S. 26 [133]). 143 Dagegen macht Hugo Grotius keinen wesentlichen Unterscheid zwischen Diktatur und Souveränität. Er gesteht dem Volk das Recht zu, seine Souveränität übertragen zu können. Diese Übertragung sei bei der Diktatur gegeben, so dass es für ihn unerheblich ist, auf welche Zeitspanne sich diese beläuft. Für diese wäre der Diktator dann Souverän und nicht nur Magistrat, wie Bodin meint. Für Grotius darf der Diktator in der gewährten Zeitspanne allerdings nicht beliebig abberufen werden können. Zum Kern der Debatte wird dann die Frage, wieweit der Diktator ein Recht an seinem Amt hat: „Wird das bejaht, kann der Diktator nicht mehr wie

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Diese These setzte aber eine Debatte darüber in Gang, ob die Diktatur wirklich kein Fall der Souveränität sei (nachst. s. DD 29 ff.). Das Problem der zeitweiligen Übertragung der vollen politischen Gewalt hat für Schmitt Thomas Hobbes klar beantwortet. Überträgt die Gesamtheit des Volkes einem Einzelnen die Herrschaft, ist eine Monarchie gegründet. Wird die Herrschaft nur auf Zeit übertragen, bemisst sich der rechtliche Charakter der so entstandenen politischen Gewalt danach, ob der populus – d.i. die als staatsrechtliches Subjekt handelnde Gesamtheit der Bürger – während der zeitlich begrenzten Herrschaft das Versammlungsrecht hat. Kann es sich ohne oder gegen die Zustimmung des Inhabers der politischen Gewalt versammeln, „so ist dieser kein Monarch, sondern nur primus populi minister“ (DD 30).144 In seinem Leviathan (1651) nennt Hobbes den Diktator einen „zeitweiligen Monarchen“, weil der Machtumfang beider gleich sei. Hinzugefügt wird aber umgehend, der Diktator sei gleichwohl nur „Minister“ einer herrschenden Demokratie oder Aristokratie, wenn er etwa nicht selbst seinen Nachfolger bestimmen könne. Schmitt erkennt in dieser Konstruktion „das Problem der souveränen Diktatur“: „Aber Hobbes unterscheidet zwischen der Souveränität selbst und ihrer Ausübung und entgeht dadurch der letzten Konsequenz. Er bemerkt, daß in der Demokratie häufig einem Minister oder Beamten die Ausübung der Souveränität übertragen wird, wobei das Volk nur die Autorität, nicht aber deren Ministerium hat und sich mit der Ernennung der Amtsträger begnügt“ (DD 31).

Namentlich im Kriege soll immer eine absolute Form der Herrschaftsausübung ausgeübt werden, „woraus (…) die Vorzüglichkeit der monarchischen Staatsform folgen soll, da ja nach Hobbes die Staaten im beständigen Natur-, d.h. Kriegszustand leben“ (DD 31).

Die Kontroverse, ob der Diktator als nur zeitweiliger Gewaltinhaber ein Monarch ist, habe, so Schmitt, in Wahrheit den Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur betroffen (s. DD 32). Bodin beschränkte sich auf die kommissarische Diktatur als einen Fall der kommissarischen Erledigung öffentlicher Aufgaben145, die er auf die Unterscheidung des ein Kommissar (im Gegensatz zum ordentlichen Amtsträger) beliebig zurückgerufen werden, so wird die Gleichstellung mit dem Souverän diskutabel, was sie sonst allerdings nicht ist“ (DD 29). 144 Dies gilt wieder für den römischen Diktator, der jederzeit durch das Volk, das immer Souverän bleibt, abberufen werden kann (DD 30). 145 Bodin (Buch III, Kapitel II).

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Beamten (officier) vom Kommissar (commissaire) gründete, sei doch die Diktatur durch die Existenz der souveränen Gewalt quasi zu einem faktisch wie rechtlich abhängigen, nicht jedoch zu einem normalen Staatsamt,mutiert.146 „Der ordentliche Beamte ist eine mit gesetzlich umschriebenen Aufgabenkreis betraute ‚öffentliche Person‘(…); der Kommissar ist ebenfalls öffentliche Person, hat aber eine außerordentliche, nur durch Auftrag bestimmte Aufgabe. (…) Beide haben eine öffentliche Funktion, (…) im Gegensatz zum Privatmann, aber der Kommissar ist für Bodin kein Magistrat; diesen bezeichnet er (...) immer als officier“ (DD 32/33).147

Es gibt also ganz allgemein betrachtet zwei Arten staatlicher Machtausübung, die sich „als ordentlich-amtliche oder kommissarische Tätigkeit bezeichnen lassen“ und sich durch folgende Merkmale unterschieden lassen: (1) Die Tätigkeit des Beamten beruht auf Grundlage eines Gesetzes und ist durch die Dauer und ein Recht auf das Amt charakterisiert; überdies hat er einen gewissen Ermessens- und Interpretationsspielraum. (2) Der Kommissar wird durch Ordonnanz für einen bestimmten Auftrag eingesetzt, hat keinen Ermessens- und einen ganz engen Interpretationsspielraum, ist immer und in allen Einzelheiten vom Willen des Auftraggebers abhängiges „Werkzeug“ und seine Ordonnanz endet mit der Erledigung des Auftrags (s. DD 33/34: 35; 36).148 Die rechtlichen Grundlagen von Magistraten und Kommissaren sind also in Gegensatzpaaren „Gesetz auf der einen, Ordonnanz auf der anderen Seite“ (DD 34), „ordentlich und außerordentlich, dauernd und vorübergehend“ (DD 35). Nun benennt Bodin eine ganze Anzahl verschiedener Begriffe des Kommissars (DD 37/38), ohne sie nach Arten zu differenzieren, weil für ihn unterschiedslos alles auf dem jederzeit widerrufbaren Auftrag (commission) beruht. Schmitt präzisiert in der Folge Bodin, indem er nach dem Dienstverhältnis und dem Inhalt der amtlichen Tätigkeit unterscheidet (DD 35).149 Für Schmitt sind der „Geschäfts- oder Verhandlungskommissar“ und der bei Bodin selbst nicht fassbare „Aktionskommissar“ von Bedeutung. Während ersterer ein nur mit speziellen Vollmachten ausgestatte-

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Siehe Habfast (2010, S. 88.) Siehe Bodin (1981: 428). Siehe Bodin (1981, S. 430, 433, 441). Für das Dienstverhältnis gilt: „Nach außen hin kann die Befugnis des Kommissars noch so groß sein, er bleibt immer das unmittelbare Werkzeug eines konkreten fremden Willens“ (DD 36).

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tes „Werkzeug“ für festgelegte Geschäfte sei, wäre der Diktator „ein absoluter Aktionskommissar“ (ebd.). Die Unterschiede zu anderen Kommissarsarten beginnen bei der Vollmacht. Es rückt hier der angestrebte Erfolg der Aktion derart stark in den Fokus, dass sich der Diktator mit seiner Vollmacht – nach Lage der Sache und eigenem Entscheid – zur Zielerreichung über die Rechte Dritter hinwegsetzen darf (s. ebd.). Der Diktator nach Bodin, könne also „begriffsnotwendig“ nur Kommissar sein (DD 39), weil der Souverän nicht mehr zwischen Gesetz und Ordonnanz, zwischen Beamtem und Kommissar, wählen kann. Ihre Grenzen findet die Diktatur nur in ihrem Auftrag, aber nie gelangt sie zu eigener Machtvollkommenheit durch ein Amt (s. ebd.). 5. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert. Schmitt spürt nunmehr dem von ihm präzisierten Begriff der „kommissarischen Diktatur“ in verschiedenen Institutionen und geschichtlichen Abschnitten nach. Der erste dieser Abschnitte umfasst den Kirchenstaat des 13. und 14. Jahrhunderts. Der Begriff der päpstlichen Amtsgewalt, der plenitudo potestatis, war Ausgangspunkt und Grundlage einer revolutionären Umgestaltung der kirchlichen Organisation (DD 42; nachst. s. 42 f.). Die päpstliche Souveränität innerhalb der Kirche hat für Schmitt den mittelalterlichen Lehnsstaat bereits im 13. Jahrhundert überwunden, indem sie die mittelalterliche Vorstellung einer feststehenden Ämterhierarchie auch vor der höchsten Instanz beseitigte und delegierte Kommissare des Papstes – für seine Gegner tyrannisch150 – in den wohlgegliederten Bau der Kirche und des wohlerworbenen Amtes eingriffen. So entsandte Papst Innozenz III. Spezialbevollmächtigte unabhängig von ihrer Rangstelle in der Kirchenamtshierarchie zur richterlichen Behandlung von Streitigkeiten an Ort und Stelle: „Wo der päpstliche Legat war, verfügte er über die Ämter, (…) entschied in Sachen des Glaubens und der Disziplin und erließ allgemeine Statuten“ (DD 44). Alles, was er tat, wurde als vom Papst selbst vorgenommen betrachtet – vorbehaltlich eines päpstlichen Widerrufs: „Der Papst ist durch den Legaten überall“ (ebd.). 150 Schmitt bezieht sich auf Marsilius von Padua, der in seiner Schrift Defensor Pacis heftig gegen die plenitudo potestatis des Papstes polemisiert hatte und von dem auch der „Tyrannei“-Vergleich stammt (s. DD 43).

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Gleichwohl beruht die Tätigkeit des rechtsprechenden und rechtsverwirklichenden Legaten auf einem Auftrag, einer commissio (DD 45).151 Da das Erkenntnisverfahren zu Maßnahmen führen kann, deren Umfang nicht vorherzusehen ist, kam es zu der Wendung, dass das Nähere des Vollzugs dem Exekutionskommissar überlassen blieb (DD 46). Der päpstliche Legat wird so zum kommissarischen Diktator im Sinne Schmitts. Danach kam es zu immer weiteren Ausdehnungen der kommissarischen Kompetenzen, alles Erforderliche nach Lage der Sache zu tun, und die Befugnis weitere Kommissionen – ausgenommen die hohe Gerichtsbarkeit – zu erteilen (s. ebd.).152 Schon beim kirchlichen Legaten ging die Tätigkeit teils weit über die Anwendung von Rechtssätzen hinaus, indem zusätzlich ein bestimmter Zweck das Ziel der commissio war. Deutlicher noch tritt dies auf weltlicher Staatsebene zutage, wenn Fürsten „Sendlinge mit besonderen Aufgaben und Befugnissen“ ausschicken (DD 47).Wie auch in England und Frankreich war es eine typische Entwicklung, dass aus den „Sendlingen“ Sesshafte werden und aus der Kommission ein ständiges Amt (DD 48). Im Italien des 14. Jahrhunderts treten dann spezielle „Heereskommissare“ auf – andere Länder folgen dieser Entwicklung, die den Heerführer zu kontrollieren und staatliche Funktionen auszuüben hatten, die man dem militärischen Führer aus welchen Gründen auch immer nicht überlassen wollte.153 Die Wandlung des frühen neuzeitlichen Staates zum absolutistischen Staat brachte dem Kommissarwesen gravierende Einschnitte (nachst. s. DD 73 f.). Die fürstlichen Kommissare waren von Geschäfts- zu Dienstkommissaren „degradiert“ und in eine bürokratische Organisation eingegliedert worden; der Kommissar wird zum „Staatsdiener“, zum abhängigen Funktionär mit einer geregelten Zuständigkeit. Wegen dieser funktio-

151 „Das Wort committere ist bereits im kanonischen Recht ein technischer Ausdruck und bezeichnet (…) die Übertragung einer Jurisdiktionsbefugnis an jemand, der sie sonst nicht haben würde, also an einen andern als den ordentlichen Richter“ (DD 46). 152 „Dem Legaten konnte allgemein eine Provinz zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und des Friedens der Bevölkerung (pax, quies populorum) und zur Säuberung von schlechten Elementen (purgare malis hominibus) übergeben werden“ (DD 46). 153 Zur Ausformungen der Heereskommission und deren Vollmachten s. (DD 49-54) zur Entwicklung des Heerkommissars zum Beamten in Deutschland s. (DD 66-72).

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nellen Abhängigkeit kann die Stellung eines Diktators nicht mehr – wie bei Bodin – mit der dieses „Staatsdiener“-Kommissars verglichen werden. Der einzelne Kommissar – Schmitt zeigt dies an der Entwicklung in Preußen – wird zum Mittel eines Systems mit einem bestimmten sachtechnischen Zweck: „der Souverän konnte seinen Absolutismus nur zugleich mit der Konsolidierung und Formierung seines Beamtenapparats einrichten. Dadurch wurde aus dem Kommissar ein ordentlicher Beamter. Mit der Souveränität des Fürsten stabilisiert sich seine Bürokratie“ (DD 74).

Zudem setzte Bodins Unterscheidung zweier Arten staatlicher Tätigkeit eine klare Trennung von „Gesetz“ und „Ordonnanz“ voraus. Wenn nun in einem absolutistischen Staatswesen jede staatliche Machtäußerung nur auf dem alleinigen und unabhängigen Willen des Fürsten beruht, wird diese Unterscheidung gegenstandslos: „Wegen der funktionellen Abhängigkeit kann aber nicht mehr, wie das Bodin tut, die Stellung eines Diktators mit der dieses Kommissars verglichen werden“ (DD 75).

6. Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts. 6.1. Die Kommissare der französischen Zentralregierung und die intermediären Gewalten. Der absolute König von Frankreich regierte durch Kommissare, und der Träger der königlichen Verwaltung, der Einheitlichkeit und der Zentralisation, der Intendant, war der jederzeit abberufbare Chef einer Generalität, einer Provinz oder eines Departements. 31 von ihnen gab es im 18. Jahrhundert, dazu kamen weitere 6 in den Kolonien, und ihre Aufgaben und Befugnisse waren durchaus verschieden (DD 95).154 Als Agent der Zentralgewalt stand der Intendant ohnehin in natürlichem Gegensatz zu den provinzialen und lokalen Körperschaften, die sich eine weitgehende Selbstständigkeit mit eigener Gerichtsbarkeit bewahrt hatten. Je stärker sich bestimmte Intendanturen verselbstständigten, desto größer wurde das Konfliktpotenzial, und die Beschwerden der intermediären In-

154 Zu den einzelnen Befugnissen s. (DD 96 f.).

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stanzen über „die dreißig Tyrannen“ häuften sich (DD 98; nachst. 98 f.). Wie die konziliare Theorie gegen die Machtvollkommenheit des Papstes und die deutschen Reichsstände, die die Auffassung vertraten, das Reich und nicht der Kaiser hätten die „majestas“, so argumentierten andererseits die französischen Parlamente, der König sei selbst nur ein Teil des Königsreichs. Schmitt verdeutlicht diese Gegensätze mit Montesquieu. Dessen Staatslehre sei nur verständlich, wenn man die Bedeutung des realpolitischen Streits zwischen der konservativen ständischen Selbstregierung, der intermediären Staatsgewalt also, und der jeden Punkt erfassenden zentralisierten Bürokratie beachte (DD 99), den Montesquieu dann auch theoretisch zum Ausdruck brachte. Er sah die „pouvoirs intermédiaires“ gleichsam als institutionelle Filter, „durch welche die Staatsgewalt hindurchfließt, so daß willkürliche und plötzliche Äußerungen des staatlichen Willens verhindert werden. Der Adel, die seigneuriale und patrimoniale Gerichtsbarkeit des Klerus und die (…) unabhängigen Gerichtshöfe, also die französischen Parlamente sind solche intermediären Hemmungen für die staatliche Allgewalt (…) (DD 100).

Montesquieu sah diese Konstruktion als eine „balance“, als ein System gegenseitiger Kontrolle, Hemmung und Bindung155 und steht damit „in größtem Gegensatz zur Aufklärung, zu Voltaire sowohl wie zu den Physiokraten, denen die überlieferten Korporationen und erblichen Ämter eine barbarische (…) Sinnlosigkeit und Störung ihres rationalen Schemas waren“ (ebd.).

Das Bild von der Balance steht für eine Einigung im Wege des Ausgleichs und gegen jede unverhältnismäßige politische Übermacht, und indem Montesquieu sie mit der Lehre von den intermediären Gewalten verbindet, stellt er sich in die Reihen der ständischen Tradition gegen die Übermacht des königlichen Absolutismus, „der mit einem Griff die ganze Maschine des Staates dirigieren kann“ (DD 102). Und so versteht denn Montesquieu unter „Despotismus“ einmal die Aufhebung der richtigen Balance, die – wenn intakt − die bürgerliche Freiheit schützt, und zum anderen das unmittelbare Auftreten der „staatlichen Allgewalt“ (DD 103). Das Wort

155 Schmitt präferiert das Bild der Balance gegenüber der gebräuchlicheren Wendung von der Teilung der Gewalten, die für ihn „nichts weniger als ein doktrinäres Schema“ ist (s. DD 100; 101). Noch besser wäre es, so Schmitt an anderer Stelle, von einer „Mediierung“ der plenitudo potestas“ zu sprechen (DD 102).

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„Diktatur“ hingegen ist als eine kommissarische an die Tradition der klassischen römischen Republik gebunden: „In Übereinstimmung mit der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts (…) betrachtet er die Diktatur als den der aristokratischen Staatsform wesentlichen Ausnahmezustand: eine in ihrer Herrschaft bedrohte Minderheit überträgt einem einzelnen Mitbürger grenzenlose Befugnisse, une autorité exorbitante“ (DD 103/104).

Montesquieu empfiehlt, die Diktatur nach römischem Vorbild verfassungsmäßig vorzusehen, der Gefahr einer drohenden Tyrannis, mit einer kurzen Amtszeit zu begegnen und er lobt die hemmende kluge Verteilung der öffentlichen Gewalten in Rom, die bekanntlich unter Sulla und Pompejus endete. Als Beispiele für Usurpationen führt er Ludwig XIII., und Ludwig XIV. von Frankreich, Cromwell in England und den Absolutismus der deutschen Fürsten nach dem Dreißigjährigen Krieg an (s. DD 104). Als zweite Schiene erwächst eine Oppositionsbewegung gegen die Souveränität, die nicht die Machtvollkommenheit an sich attackiert, sondern sie – allerdings in entpersonalisierter Form – erhalten will, um eine natürliche und moralische Ordnung zu entwickeln und zu etablieren. Zu dieser Bewegung zählt Schmitt Voltaire, weitere Vertreter der philosophes, die Physiokraten und vor allem die politische Philosophie Jean Jacques Rousseaus. 6.2. Die Physiokraten und die Anfänge einer souveränen (Revolutions-) Diktatur bei Gabriel Bonmot de Mably. Voltaire steht – auch wenn er „die Lehre von der Diktatur der aufgeklärten Vernunft noch nicht konsequent entwickelt“ (DD 107) – im Kampf des königlichen Absolutismus gegen die Parlamente auf der Seite der Zentralgewalt. Das Bild von einer zentral gesteuerten „Verwaltungsmaschine“ passte zu seinem deistischen Weltbild, obgleich er schon um die guten Seiten einer Demokratie wusste und deshalb kein „bedingungsloser Absolutist“ mehr sein konnte (DD 107).

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Die Physiokraten156 eint die Gegnerschaft gegen die historischen intermediären Gewalten und der Glaube an die Macht einer aufgeklärten Bürokratie sowie der Grundgedanke (DD 107 f.): „durch natürliches, d.h. rationalistisch-abstraktes Denken läßt sich eine allgemein gültige politische und soziale Ordnung und Gerechtigkeit entwickeln, die von Staats wegen durchgeführt werden muß“ (DD 108).

Schmitt rezipiert vor allem zwei Punkte: Die Physiokraten verstanden ihre Wissenschaft als eine physikalische und die Wirtschaft damit als in die natürliche Ordnung integriert, und sie setzten das Axiom, dass diese Ordnung – durch Vernichtung der intermediären Gewalten – von der Staatsmacht herbeigeführt werden müsse.157 Die Herrschaft einer aufgeklärten Autorität sei solange nötig, bis die Menschen diese natürliche Ordnung erkannt hätten. Die Mittel hierfür seien Aufklärung und Bildung. Am konsequentesten sieht Schmitt die physiokratischen Leitlinien durch Le Mercier de la Rivière ausformuliert, auch weil er das System eines legalen Despotismus – „despotisme légal“ – aus allgemeinen Vernunftprinzipien entwickelt und diese Leitlinien mit der Theorie einer absoluten Staatsmacht verschmolzen habe (DD 109; nachst. ebd.). Der größte Gegner einer Herrschaft der Vernunft sind die menschlichen Leidenschaften, die notfalls mit Gewalt zu unterjochen seien; die Gesetze seien ohne physische Gewalt nicht durchzusetzen. Jede Teilung der Gewalten von Legislative und Exekutive diente nur der Schwächung der Staatsmacht und sei deshalb verwerflich. Auch die Lehre von der Balance „ist eine Chimäre“: „Im Interesse einer durchgreifenden Aktion werden alle entgegenstehenden Hemmungen beseitigt und wird eine unwiderstehliche Macht (…) geschaffen. Das große Wort dieser Gedankenwelt ist Einheit, (…) eine Einheit von Evidenz, Macht und Autorität, deren Despotismus auf der Erkenntnis der wahren Gesetze sozialer Ordnung beruht, bei dem infolgedessen das wahre Interesse des Souveräns mit dem wahren Interesse der Beherrschten gleich ist (…)“ (DD 109).

156 Die Physiokraten gelten als die Begründer einer eigenständigen Wirtschaftstheorie (s. Pribram 199, S. 205-225). In dem von Francois Quesnay konstruierten Wirtschaftskreislauf – tableau économique (1758) – rangiert die allein produzierende Klasse der Bauern und Pächter vor den Grundeigentümern; danach folgt die sterile Klasse der nur konsumierenden Zweige von Industrie, Handwerk und Handel (ebd. S. 208). 157 Dabei hat sich der Staat der wirtschaftlichen Entwicklung zu unterwerfen (DD 108).

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„Legaler“ bezeichnet hier nicht einen an positive Gesetze gebundenen Despotismus, sondern meint einen Zustand äußerst konzentrierter politischer Macht (ebd.). Hinter diesem Gedankengebäude steht der Glaube an den allmächtigen „Pädagogen“ Staat und an die unbegrenzten Möglichkeiten politischer Mittel. Gabriel Bonmot de Mably hingegen setzt auf eine Theorie der „Gegengewichte“, um der absoluten Machtvollkommenheit der Fürsten zu begegnen.158 Den starken Staat aber will er benutzen, um das Privateigentum abzuschaffen. Das Mittel dafür erkennt er gegen de la Rivière nicht in der Diktatur. Denn – zweifelnd an der philosophischen Evidenz – sieht er in den schlechten Affekten der menschlichen Natur die Kraft, die den Verstand der Menschen verwirren und letztlich das Privateigentum stützten. Schmitt resümiert Mablys anthropologischen Pessimismus: „Der Mensch ist kein Engel, der darauf wartet, die Wahrheit zu hören“ (DD 111). Daraus zieht Mably die Folgerung, und kehrt so die traditionelle Ansicht um, dass auch die Regierenden von diesen Affekten beherrscht werden, und setzt deshalb auf institutionelle politische Hemmnisse: „Aus der Umkehrung, wie sie sich bei Mably ausspricht, folgt die Auffassung, daß Regierung und Staat notwendige und daher auf ein Minimum zu beschränkende Übel sind“ (DD 111).

Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive sieht er als Lösung an und erkennt im Bereich der Exekutive ein weiteres Problem, weil diese in der Lage sei, die anderen Gewalten zu überwältigen (DD 112): „Die Exekutive muss immer wieder geteilt werden nach den verschiedenen Zweigen der Verwaltung, weil sonst eine Anhäufung der Kräfte entsteht, (…) ein Despot. Regelmäßige Kontrolle der Regierung durch besondere Kommissionen der Legislative ist notwendig: Es wird sogar ein periodisch wiederkehrendes ‚Reformjahr‘ empfohlen, in dem eine besonders strenge Kontrolle durchgeführt wird“ (DD 113).159

158 Der Abbé Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) ist Kommunist, für den die Verschmelzung von Tugend und Politik in Platons Staat und dem antiken SpartaMythos verwirklicht ist. Den Bürgerkrieg als Mittel der Befreiung bejahend zieht er gleichwohl einen Weg der Reformen vor und präferiert – anders als Rousseau – zum Repräsentativsystem (Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 347). 159 Natürlich hat Schmitt Recht, wenn er insistiert, dass in dem Augenblick, in dem die Kontrolle zu einer effektiven Zweckkontrolle wird, sie selbst zur Exekutive wird und wiederum eine despotische Machtanhäufung eintritt, was sich in der Französischen Revolution, wie Schmitt zeigt, beweisen wird (DD 113).

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Mably sieht den Diktator machtvoller als einen König, weil mit seinem Amt die Funktionen der Magistrate enden. So sieht Schmitt bei Mably den Anfang eines neuen Begriffes der Diktatur: „Sie wird zu einer absoluten Vollmacht, vor der alle bestehenden Zuständigkeiten verschwinden“ (DD 114). Somit erübrigen sich Einzelaufzählungen diktatorischer Befugnisse. Mably verortet die Notwendigkeit einer Diktatur wegen der Abnutzung von Gesetzen und einer Zunahme der Korruption: „Ihm erscheint der Diktator offenbar als eine Art Reformationskommissar mit unbegrenzten Vollmachten gegenüber der gesamten konstituierten staatlichen Organisation. Verbindet man das mit der Äußerung Mablys, daß während der Revolution die Repräsentanten des Volkes die Exekutive selbst in die Hand nehmen müssen, so ist das bereits die neue im Namen des Volkes ausgeübte Diktatur des Nationalkonvents, d.h. keine kommissarische Reformdiktatur mehr, sondern eine souveräne Revolutionsdiktatur“ (DD 114).

6.3. Die Diktatur bei Jean-Jacques Rousseau.160 Jean-Jacques Rousseau hat der Diktatur in seinem Buch Vom Gesellschaftsvertrag (Contrat social)161 ein eigenes Kapitel eingeräumt (IV. Buch, Kap. 6), das aber, so Schmitt, erst bei systematischer Untersuchung und in Verbindung mit der ganzen Schrift einen neuen Diktaturbegriff andeute: „An dem widerspruchsvollen Buch läßt sich am besten zeigen, wie kritisch die Situation des kontinentalen Individualismus war und wo der Punkt ist, an dem er in den Staatsabsolutismus und seine Forderung der Freiheit in die des Terrors umschlägt“ (DD 114).

Rousseau stelle „mit großer Geste“ die Beantwortung einer bisher nie beantworteten Frage in Aussicht: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt, wie zuvor“ (I, 63; 17).

160 Siehe dazu. Ottmann (2006, S. 462-510); Reinhard, in. Fenske et al. (2003, S. 339-346). 161 Wir zitieren Buch, Kapitel und Seite, die kleine hochgestellte Ziffer bei der Kapitelangabe bezeichnet den Abschnitt des Kapitels (I, 6; 17); die Seitenangabe wird nach Rousseau (2011) angegeben.

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Die Antwort ist, für Schmitt, nicht überraschend: Wenn jeder sich nur aufgrund seines freien Einverständnisses mit anderen vereinige, seien die genannten Bedingungen erfüllt (s. DD 115; nachst. ebd.). Wesentlich sei immer, dass der Einzelne nur sich selbst gehorcht, weshalb der Grundvertrag nur einstimmig geschlossen werden kann (IV, 27; 119).162 „In der Konstruktion des Staates formuliert sich das so, daß der Staat nicht mehr durch die Unterwerfung unter irgendeine Macht und einen Vertrag mit dieser Macht, den Herrschaftsvertrag, begründet wird, sondern der pacte social enthält nur eine Einigung“ (DD 115).

Der Wille des Volkes kann dabei nicht repräsentiert werden, weshalb das durch Parlament regierte englische Volk in den Augen Rousseaus keineswegs frei ist. In Rousseaus Individualismus lösen sich alle Bindungen in ständischen oder intermediären Körperschaften vollständig auf und der Einzelne „steht nur und unmittelbar dem Gemeinwillen gegenüber“ (ebd.). Diese individuelle Staatsableitung betrifft auch die Bedeutung des Einzelnen im Staat (DD 116; nachst. ebd.). Rousseau formuliert sein Prinzip: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf“ (I, 610; 18).

So wird deutlich, dass es bei allem Individualismus doch darauf ankommt, was aus dem von den Einzelnen gebildeten Ganzen, dem gemeinsamen „Ich“,163 wird. Saugt es alle soziale Inhaltlichkeit auf, verbleibt dem Individuum noch eine konkrete Substanz? Zunächst absorbiert dieses „Ich“ alles, was der Einzelne besitzt, gibt es ihm aber zurück, damit er es dadurch zu Recht besitzt (I, 6): „Entschieden wird die Frage, ob das gemeinsame staatliche Ich eine die Individuen absorbierende Bedeutung erhält, mehr als durch solche Äußerungen durch die Idee der volonté générale, deren Träger kein Einzelner, sondern die umfassende Einheit ist“ (DD 117).

„Volonté générale“ ist der zentrale Begriff in der Staatsphilosophie Rousseaus. Als der Wille des Souveräns konstituiert sie den Staat als eine Ein-

162 Ansonsten aber verpflichtet die Mehrheit die Minderheit (IV, 27; 119). 163 Das gemeinsame „Ich“, diese öffentliche Person, trug früher den Namen Polis, heute Republik, „die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen“ (I, 79; 19).

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heit. Ihre begriffliche Qualität unterscheidet sie von jedem partikulären Einzelwillen, denn „bei ihr fällt das, was ist, mit dem, was richtigerweise sein soll, immer zusammen“ (DD 117/118). Sie ist durch ihre bloße Existenz, was immer schon ist (I, 75; 21), „der Gemeinwille ist immer richtig“ (II, 610; 43) und kann nicht irren (II, 3; 31-33), sie ist die Vernunft selbst, denn es „geschieht nichts ohne Grund, ebenso wenig wie unter dem der Natur“ (II, 44; 34) und sie ist unvergänglich, unveränderlich und rein (IV, 1; 115-117). Jeder Einzelwille (volonté particulière), jeder partikuläre Akt ist vor ihr an sich bedeutungslos, wird die volonté générale doch „zu göttlicher Würde erhoben und vernichtet jeden Sonderwillen und alles Sonderinteresse“ (DD 118).164 Damit, so Schmitt, stelle sich die Frage nach den unveräußerlichen Rechten des Individuums und einer Freiheitssphäre, die der volonté générale entzogen ist, nicht mehr: „Sie wird durch die einfache Alternative beseitigt, daß das Individuelle entweder mit dem Generellen übereinstimmt und dann wegen dieser Übereinstimmung einen Wert hat oder daß es nicht übereinstimmt und dann eben null und nichtig, böse, korrupt und überhaupt kein beachtlicher Wille im moralischen oder rechtlichen Sinne ist“ (ebd.).

Womit der Gesellschaftsvertrag die Freiheit des Einzelnen letztendlich doch beseitigt hat. Unter der allumfassenden Ägide der volonté générale kann die Exekutive gar nichts anderes sein als der Vollzug der volonté générale; eine Teilung der Gewalten oder eine Ausbalancierung wird – obwohl Rousseau den Begriff mehrfach verwendet – davor sinnlos. Souveränität ist nichts anderes als Ausübung des allgemeinen Willens (II, 12; 28). Die Regierung hat die Gesetze zu vollziehen, sie ist der Arm des Gesetzes. Ist die Gesetzgebung (volonté générale) immer die unveräußerliche Sache des ganzen Volkes, kann dagegen die Exekutive einem Einzelnen, mehreren oder auch der Gesamtheit zustehen, und die Regierungsform mithin eine Monarchie, eine Aristokratie oder eine Demokratie sein (vorst. s. DD 118 f.). Die bereits genannten Attribute der volonté générale verbinden sich mit anderen notwendigen Voraussetzungen und verleihen ihr eine vielfältige Bedeutung (DD 119; nachst. ebd.) Sie ist hinsichtlich ihres Subjekts allgemein, geht als Wille der Gesamtheit von allen aus, die Summe aller Privatwillen ist sie nicht. Vielmehr ist der Gesamtwille etwas, das jeder als Bürger, nicht als Privatmann, hat. Der Gesamtwille bezweckt das Allgemeine,

164 Weitere Attribute der volonté générale führt Schmitt auf Seite (DD 119) auf.

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das – bei vergleichbaren Lebenslagen – mit dem Interesse aller Einzelnen gewöhnlich zusammenfallen wird. Durch Parteiungen und Gruppeninteressen wird der Gesamtwille entstellt. Der Gesamtwille ist generell, kann keinen Einzelfall betreffen und erkennt keine Sonder- und Ausnahmefälle an. Liegen diese Eigenschaften vor, „ist der Wille sowohl in seinem Subjekt wie seinem Objekt und seinem Tatbestand generell, so ist er damit als Recht begründet“ und er ist „das Prinzip, das den Rechtscharakter einer Anordnung erst konstituiert und aus einem bloß tatsächlichen Befehl einen Rechtssatz mit Rechtsverbindlichkeit schafft“ (DD 119).

Fehlen die genannten Eigenschaften, gibt es kein Recht, das Ziel, die Macht zum Recht zu erheben, ist nicht erreicht (ebd.) und auch durch eine Repräsentation des Gesamtwillens nicht erreichbar (DD 120; nachst. ebd.). Denn die volonté générale hat eben bestimmte vorhandene Wertqualitäten, oder sie hat sie nicht. „Die Konsequenz dieses Satzes kann die Demokratie vernichten“, ist doch die volonté générale unabhängig von einer bestimmten Regierungsform (DD 120). Und sie ist zwar der Wille der Gesamtheit, das Individuum aber kann sich über seinen eigenen Willen täuschen und er kann von Leidenschaften beherrscht und deshalb kein freier Wille sein. Da dies auch eine Mehrheit betreffen kann, kann eine Minderheit oder auch nur ein Einziger allein den richtigen Willen haben. Für die ideale Regierungsform der unmittelbaren Demokratie gelten nach Rousseau Voraussetzungen – einfache Übersichtlichkeit aller Verhältnisse, einfache Sitten und Bedürfnislosigkeit – die so selten anzutreffen seien, dass „diese vollkommene Regierungsform sich für ein Volk von Göttern, aber nicht von Menschen eignet (III 48)“ (DD 120). Die ganze Missverständlichkeit von Rousseaus Contrat social beruhe darauf, expliziert Schmitt, dass „vom Willen aller und der Einstimmigkeit die Rede ist (IV 28), vom Willen der Mehrheit und von einem Gesamtinteresse, welches man durch eine Ausbalancierung der gegensätzlichen Interessen ermitteln soll (II 32), daß aber trotzdem der Wille, das Interesse, das Volk, moralische und nicht einfach tatsächliche Größen sind. In einem sklavischen Volk beweist auch die Einstimmigkeit nicht, daß eine volonté générale vorhanden ist (IV 23)“ (DD 120).

Die Freiheit bei Rousseau, so Schmitt, trage „das moralische Pathos der vertu“, und nur wer dieses trage, dürfe in politischen Dingen mitentscheiden (DD 121; nachst. ebd.). Sei die Mehrheit korrupt, könne die „tugendhafte Minorität alle Gewaltmittel anwenden, um der vertu zum Siege zu verhelfen“ (ebd.). Der ausgeübte Terror ist derart nicht Zwang, sondern le257

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

diglich Mittel, um dem unfreien Egoisten zu seinem wahren Willen zu verhelfen: „Die Rechtfertigung liegt in dem Satz, den Rousseau selbst ausgesprochen hatte: unter Umständen muß man den Menschen zwingen, frei zu sein: on la forcera d’être libre“ (I 78).

Diese Herrschaft nennt Rousseau nicht Diktatur, denn er reserviert den Begriff unter Verwendung aller bekannten Begrifflichkeiten und unter Rückgriff auf das römische Institut für eine verfassungsmäßig vorgesehene, nur für kurze Zeit erteilte außerordentliche Ermächtigung zur Beseitigung eines staatlichen Notstands (s. DD 121). Die Ausführungen Rousseaus im Diktatur-Kapitel (IV, 6; 138-142) zeigen, dass er von zwei Arten der Diktatur ausgeht: einer eigentlichen Diktatur, bei der die Gesetze schweigen, und eine zweite, in der alle Zuständigkeiten der Exekutive zusammengefasst und konzentriert werden (s. DD 122; nachst. ebd.). Der letztere Fall belässt die Rechtslage und die volonté générale ohnehin, während „nur innerhalb der Exekutive eine Beschleunigung und Verstärkung der nach wie vor dasselbe Gesetz vollziehenden Kraft eintritt“ (DD 122). Die echte Diktatur beruht dagegen auf einer zeitweiligen Suspendierung des ganzen Rechtssystems, auf welcher Rechtsgrundlage die Ermächtigung für sie beruht, bleibt unklar, eine Suspension der volonté générale steht nicht zur Debatte. So schließt Schmitt, dass die Ernennung des Diktators ein Akt der Exekutive sei, und dass Rousseau die Formulierung „intention du peuple“ wohl die Bedeutung der volonté générale habe und dahin gehe, die Existenz des Staates zu sichern: „Weil nach Rousseau der Inhalt der Tätigkeit des Diktators etwas rein Faktisches ist, so hat sie mit der Gesetzgebung nichts zu schaffen. Ihre rechtliche Grundlage wird nicht konstruiert, es ist aber wichtig, daß sie als eine ‚Kommission‘ bezeichnet wird“ (DD 123).

Die Diktatur bezeichnet Rousseau als eine „importante commission“. Schmitt erhebt den Begriff der Kommission in der Staatslehre Rousseaus in den Rang einer „Fundamentalvorstellung“, die ausdrückt, dass der Einzelne gegenüber dem Staat nur Pflichten aber keine Rechte habe „und daß namentlich jede Betätigung staatlicher Hoheitsrechte nur kommissarisch geschehen kann“, dürfe doch in einer wahren Demokratie das Amt weder Recht noch Vorteil gewähren (DD 123). Zudem könne der Amtsinhaber jederzeit abberufen werden: „Nichts beweist den Staatsabsolutismus Rousseaus so sehr wie diese, alle seine Vorstellungen beherrschende Verwandlung der gesamten staatlichen Or-

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gantätigkeit in ein beliebig widerrufliches, unbedingt abhängiges, kommissarisches Funktionieren“ (DD 125).

In Rousseaus Staatstheorie sind der Fürst, der Abgeordnete des Volkes und der Diktator Kommissare und so völlig von der volonté générale abhängig:165 „Der Diktator diktiert nach außen, aber weil er Kommissar ist, muß ihm (im Innenverhältnis) selbst wieder diktiert werden“ (ebd.).

An dieser Stelle gilt es, auf eine weitere zentrale Figur bei Rousseau einzugehen, den „législateur“ (II, 7; 44-49). Rousseaus Verdikt partikulärer Einzelwillen kommt auch in der Wahl einer besonderen Art dieses Legislators zum Ausdruck: „Der Gesetzgeber ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Mann im Staat“; Eingang in die Verfassung findet er gleichwohl nicht (II, 74; 45), steht er doch außerhalb und vor der Verfassung, ist kein Kommissar und der Name „Gesetzgeber“ führt eigentlich irre (DD 125). Er hat nämlich nur ein Gesetzesinitiativrecht für ein „weises Gesetz“; „Die Entscheidung liegt beim Volk, und zwar nicht nur in einem äußerlich juristischen Sinne, sondern auch die Entscheidung darüber, ob eine volonté générale mit allen ihren konstitutiven Qualitäten vorliegt“ (ebd.).

Da die Menschen im Allgemeinen egoistisch und auf ihren pekuniären Vorteil bedacht sind, sollen sie durch das weise Gesetz erst gut werden, über das sie aber abstimmen. Deshalb kann sich der Legislator bei Rousseau auf eine „göttliche Mission“ berufen, das den Erfolg und die Dauer seines Gesetzes garantiert. Von einer Volksabstimmung ist nun keine Rede mehr. Diesen Widerspruch löst Rousseau nicht (s. DD 126). „Der Inhalt der Tätigkeit des Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne Gesetz, rechtlose Macht“ (ebd.).

Der Gegensatz zwischen machtlosem Recht und rechtloser Macht, dessen Rousseau sich, so Schmitt, selbst nicht bewusst war, sei hier so extrem, dass er umschlagen müsse: „Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des

165 Siehe Habfast (2010, S. 101).

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Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassunggebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden“ (ebd.).

Diese Verbindung bewirkt die volonté générale – auch wenn sie den Contrat social noch nicht als eine besondere Gewalt nennt (ebd.). 7. Der Begriff der souveränen Diktatur. Die Allmacht des Diktators bei Rousseau beruht auf der Ermächtigung durch ein bestehendes, verfassungsmäßig konstituiertes Organ. Das ist die kommissarische Diktatur, die von ihm als ein Regierungs- nicht als ein Souveränitätsproblem behandelt wird (DD 127). Sie hebt die Verfassung in concreto auf mit dem Ziel, dieselbe Verfassung in ihrem Bestand zu sichern. Sie schützt eine bestimmte Verfassung gegen einen Angriff, der sie aufzuheben droht. Hier zeige sich am deutlichsten die „methodische Selbstständigkeit des Problems der Rechtsverwirklichung als eines rechtlichen Problems“ (DD 133). Der Diktator muss einen Zustand schaffen, in dem Recht verwirklicht werden kann, weil jede Rechtsnorm einen normalen Zustand als homogenes Medium voraussetzt, in dem sie gilt: „Infolgedessen ist die Diktatur ein Problem der konkreten Wirklichkeit, ohne aufzuhören, ein Rechtsproblem zu sein. Die Verfassung kann suspendiert werden, ohne aufzuhören zu gelten, weil die Suspension nur eine konkrete Ausnahme bedeutet“ (DD 134)166.

Die souveräne Diktatur beseitigt hingegen die bestehende Ordnung, um eine neue zu schaffen: „Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung“ (ebd.).167

Die beiden Diktaturformen unterscheiden sich also in der Art der Rechtsordnung, auf die sie sich jeweils berufen: eine bestehende im Fall der kommissarischen, eine ideelle, noch zu verwirklichende, im Fall der souveränen Diktatur. Und doch beruhen beide Arten auf derselben juristi-

166 Herv. im Original. 167 Herv. im Original.

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schen Grundstruktur, sind beide Aktionskommissionen, die mittels einer bestimmten Sachtechnik einen bestimmten Zweck verfolgen, nämlich im ersten Fall die Beseitigung einer Gefahr für die Rechtsordnung bzw. im zweiten Fall die Beseitigung einer Rechtsordnung, die als Gefahr wahrgenommen wird, um eine neue zu installieren. Im Fall der kommissarischen Diktatur liegt ihre Ermächtigung in einer Instanz der zu verteidigenden Rechtsordnung selbst. Das Problem liegt in der Frage, wie sich die souveräne Diktatur durch eine Rechtsordnung ermächtigen lassen kann, die noch gar nicht existiert. Ist die Entscheidung zwischen der alten und der neuen Rechtsordnung so nur eine bloße Machtfrage? Nein, so Schmitt, denn dies sei „dann nicht der Fall, wenn eine Gewalt angenommen wird, die, ohne selbst verfassungsmäßig konstituiert zu sein, trotzdem mit jeder bestehenden Verfassung in einem solchen Zusammenhang steht, daß sie als die begründende Gewalt erscheint, auch wenn sie selbst niemals von ihr erfaßt wird, so daß sie infolgedessen auch nicht dadurch negiert werden kann, daß die bestehende Verfassung sie etwa negiert. Das ist der Sinn des pouvoir constituant“ (DD 134).

Die souveräne Diktatur sieht sich also durch den „nichtkonstituierten und niemals konstituierbaren“ (DD 135) pouvoir constituant168 des Volkes ermächtigt, der durch keine entgegenstehende Verfassung beseitigt werden kann (DD 136). Die Vorstellung eines pouvoir constituant ist durch den Abbé und politischen Theoretiker Emmanuel Joseph Sieyès und seiner vorrevolutionären Schrift Qu'est-ce que le tiers état?169 (Sieyès 1988) aufgekommen.170 Der pouvoir constituant fungiert in ihr als der Kernbestandteil einer Dreistufentheorie, die die Gründung jeder politischen Gemeinschaft – Sieyès spricht von der „Nation“ – entschlüsselt. Am Beginn jeder Gemeinschaft steht in der naturrechtlichen Epoche eine bestimmte Anzahl von Menschen, von Einzelwillen, die sich vergemeinschaften wollen. In der nächsten Epoche ist die Gemeinschaft gegründet und aus den Einzelwillen ist die Einheit des gesellschaftlichen Willens entstanden: das Bürger-Ganze.171 Als Drittes formiert sich durch die Übertragung des gemeinschaftli-

168 Pouvoir constituant = verfassunggebende Gewalt. 169 Qu'est-ce que le tiers état? = Was ist der Dritte Stand? 170 Grundsätzlich zu Sieyès s. Fenske, in: Fenske et al. Hg. (2003, S. 383-386). Siehe nachst. Habfast (2010. S. 104-107). 171 Siehe Sieyès (1988, S. 78).

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chen Willens auf eine kleinere Zahl von Mitgliedern die Regierung. Das verfassungsorganisatorische Prinzip der Repräsentation wird für Sieyès notwendig, weil die Anzahl der Gemeinschaftsmitglieder und die Fläche, die sie bewohnen, schlicht zu groß geworden sind. Dies geschieht durch die Übertragung des nationalen Willens, d.h. der nationalen Macht auf einige wenige.172 Die konkrete Ausgestaltung relativiert das Gewaltenteilungsprinzip, weil Sieyès eine organisierte Einheit der drei Gewalten verlangt, die als gemeinsames Ziel die Glückseligkeit der Menschen verfolgen.173 Im Dreistufenmodell bestehen auch nach Erreichung der dritten alle drei Stufen mit ihren Rechten weiter. Sieyès kennt wie Rousseau keinen Herrschaftsvertrag, die verfassunggebende Gewalt und deren verfasste Repräsentation bestehen nebeneinander. Die Nation, zitiert Schmitt Sieyès, sei immer im Naturzustand. Dabei handelt es sich „um das Verhältnis der Nation zu ihren eigenen verfassungsmäßigen Formen und allen in ihrem Namen auftretenden Funktionären. Die Nation ist einseitig im Naturzustande, sie hat nur Rechte, keine Pflichten, der pouvoir constituant ist an nichts gebunden, die pouvoirs constitués haben umgekehrt nur Pflichten und keine Rechte“ (DD 140).

Hiermit wird die notwendige Zulässigkeit einer Repräsentation verbunden (s.o.), auch weil die Arbeitsteilung im modernen Staat dazu führe, dass sich mangels Zeit und Fähigkeit nur wenige mit Politik beschäftigen können und die anderen „einfach Arbeitsmaschinen“ geworden sind (ebd.). Daraus entstehe eine „seltsame Beziehung zu der Allmacht des konstituierenden Willens“, weil der Repräsentant von dem erst durch die Repräsentation zu konstituierenden Willen kommissarisch abhängig und in einem prekären Status bleibt. Denn Sieyès betont, „daß alle staatliche Organtätigkeit nur kommissarischer Natur ist und die staatliche Substanz, die Nation, jederzeit in der Unmittelbarkeit ihrer Machtfülle auftreten kann. Die Korrelation von größter Macht nach außen und größter Abhängigkeit nach innen bleibt demnach bestehen, aber nur formal“ (DD 141).

Denn der Wille betreffe nur die Person des Repräsentanten und die Entscheidung, ob eine Repräsentation bestehen soll, dürfe aber keineswegs

172 Ebd. S. 78 f.. 173 Fenske, in: Fenske et al. Hg. (2003, S. 385). .

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präzise sein, „denn sobald er sich irgendwie formiert hat, hört er auf konstituierend zu sein und ist selber konstituiert“ (ebd.). Die im Namen des pouvoir constituant beauftragten Repräsentanten sind also, so Schmitt, formal unbedingte Kommissare, deren Auftrag inhaltlich nicht zu begrenzen ist. Eigentlicher Inhalt ist „die allgemeinste, grundlegende Formierung des konstituierenden Willens, also der Entwurf einer Verfassung“, die sie – je nach Auslegung ihres Auftrags – selbst beschließen oder dem Volk als Referendum vorlegen können (ebd.). Für die Fälle, dass die Ausübung des pouvoir constituant des Volkes zunächst die Beseitigung eines Hindernisses verlangt, oder der freie Wille durch irgendein äußeres Ereignis unfrei geworden ist, gilt: „Die Aufgabe, den Weg freizumachen durch die revolutionäre Beseitigung der bestehenden Ordnung, würde sich dann ebenfalls auf den pouvoir constituant berufen und von ihm abhängig machen. In beiden Fällen liegt eine Aktionskommission vor, wie bei der kommissarischen Diktatur, und in beiden Fällen bleibt der Begriff funktionell abhängig von der Vorstellung einer richtigen Verfassung (…). Aber während die kommissarische Diktatur von einem konstituierten Organ autorisiert wird und in der bestehenden Verfassung einen Titel hat, ist die souveräne (…) aus dem formlosen pouvoir constituant abgeleitet. Sie ist eine wirkliche Kommission, (…) appelliert an das immer vorhandene Volk, das jederzeit in Aktion treten und dadurch auch rechtlich unmittelbare Bedeutung haben kann. Ein ‚Minimum an Verfassung‘ ist immer noch da, solange der pouvoir constituant anerkannt ist“ (DD 142).

Diese diktatorische Macht ist souverän, aber nur für einen Übergang: „Die kommissarische Diktatur ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant“ (DD 142).

Und sowohl die kommissarische wie die souveräne Diktatur haben einen rechtlichen Zusammenhang (DD 136).174 8. Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand). In diesem Kapitel geht es Schmitt darum, die Diktatur durch positiv-rechtliche Bestimmungen in den liberalen Verfassungsstaaten – wie sie sich

174 Wir verzichten auf Schmitts vorwiegend historische Darstellung Die Praxis der Volkskommissare während der Französischen Revolution (DD 150-167).

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nach der Französischen Revolution konstituiert hatten – zu erfassen. Er eröffnet die Darstellung dieser Problematik mit einem historischen Rückgriff auf das englische Martial Law.175 Das eigentliche rechtliche Problem war, wie bei Unruhen durch das notwendige Eingreifen des Militärs die unmittelbaren Verletzungen von Leib und Leben sowie von Eigentum der Aufrührer und unbeteiligter Dritter rechtlich zu erklären sind. Die Unversehrtheit persönlicher Freiheitsrechte war ja durch die Bill of Rights staatlich garantiert. Für diesen ganzen Komplex tatsächlicher und sachlich orientierter, militärischer Aktionen trat das Martial Law ein: „Es ist eine Art gesetzlosen Zustandes, bei dem die Exekutive, das heißt das eingreifende Militär ohne Rücksicht auf gesetzliche Schranken so vorgehen darf, wie es die Sachlage im Interesse der Unterdrückung des Gegners erfordert“ (DD 169).

Es handelt sich – trotz des Begriffes Kriegsrecht – um ein Verfahren, das von einem tatsächlichen Zweck beherrscht ist. Rechtsgrund ist, dass die anderen staatlichen Gewalten wirkungslos geblieben sind und das Gerichtswesen außer Kraft gesetzt ist. Die deshalb zulässige und einzig wirksame staatliche Gewalt, das sachorientierte Handeln des Militärs, ist „eine Art Ersatz (…) und seine Aktion soll Urteil und Vollstreckung in einem sein“ (DD169/170). Auf dem Kriegsschauplatz sind alle Maßnahmen vom martial law beherrscht, die Teilung der Gewalten ist aufgehoben und durch den militärischen Befehl ersetzt (DD 170): „Das martial law bezeichnet demnach einen der sachtechnischen Durchführung einer militärischen Operation freigegebenen Raum, in dem geschehen darf, was nach Lage der Sache notwendig ist“ (DD 171).

Der wahre Kern des martial law, so Schmitt, zeige sich im Ernstfall, als eine von allen rechtlichen Rücksichten befreite, zweckgerichtete Tathandlung: „Diese ist in ihrer effektiven Tatsächlichkeit, also in ihrem Kern, einer Rechtsförmigkeit nicht zugänglich“ (DD 172). Aus rechtlichem Interesse seien für das martial law Formvorschriften gesucht worden, wenn auch nur im Staatsinneren, im Kampf gegen die eigenen Bürger. Diese hätten aber immer nur die Voraussetzungen, nie die Aktion selbst betroffen. Denn, stellt Schmitt klar: „Jede rechtliche Normierung bedeutet gegenüber der unbedingten Zweckmäßigkeit eine Ein-

175 Das Martial Law zählt man zum innerstaatlichen Kriegsrecht. Mit der Militärgerichtsbarkeit hat es nichts zu tun. (s. DD 169).

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schränkung“ (DD 175). Schiebe man Machtmittel gegen die eigene Bevölkerung immer weiter hinaus, bis der Ernstfall wirklich eingetreten ist, und komme es dann zur Anwendung äußerster Mittel, hört die rechtliche Regelung des Inhalts der Aktion auf. Deshalb müsse eine Normierung genau angeben, unter welchen tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Ernstfall eintritt, oder es werde analog einer Gewaltenteilung eine weitere Kraft neben dem Militär geschaffen, die über die Voraussetzungen des Ernstfalls entscheidet. Doch diese Teilung versagt nach Schmitt im Notfall, weil dann der Angriff zweckorientiert mit allen Mitteln abzuwehren ist. Es kann in diesem Falle derjenige, der die Nothandling ausführt, nicht von dem unterschieden werden, der darüber entscheidet, ob der Notfall vorliegt (DD 176).176 Zur weiteren Erforschung der rechtsstaatlichen Diktatur zieht Schmitt das Institut des Belagerungszustandes heran. Der Belagerungszustand – eine militärische Institution – ist der tatsächliche Zustand einer dringenden Notlage mit tatsächlich umschriebenen Voraussetzungen: „sobald der befestigte Platz von allen Verbindungen nach außen abgeschlossen ist (das Gesetz gibt die tatsächlichen Einzelheiten an), ist der Belagerungszustand ipse facto vorhanden“ (DD 181).

Später kann auch für andere zivile Orte außer den befestigten der Belagerungszustand im Sinne einer rechtlichen Fiktion „erklärt“ werden (DD 182). Der formale Akt einer Regierungserklärung ersetzt die tatsächliche Notlage: „Der Begriff erhält einen politischen Sinn, das militärtechnische Verfahren wird in den Dienst der inneren Politik gestellt“ (DD 183).

Napoleon hat dann den Inhalt der Institution des Belagerungszustands per Dekret vom 24. Dezember 1811 erweitert. Er wird bestimmt durch ein kaiserliches Dekret oder eine Belagerung oder einen gewaltsamen Angriff oder einen Überfall oder inneren Aufruhr oder unerlaubte Ansammlungen im Bereich eines Festungsgebiets: „Wichtig ist an dieser Regelung, daß die formale Erklärung durch Dekret als Entstehungsgrund neben die faktische Sachlage (Belagerung, Angriff) tritt“ (DD 185).

176 Schmitt behandelt den gleichen Problemkomplex auch am französischen loi martiale, worauf wir hier nicht eingehen.

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Das Dekret schafft folgende Lage: „Der Belagerungszustand (…) bewirkt, daß der Militärbefehlshaber Vorgesetzter aller Zivilbehörden wird, welche eine Tätigkeit ausüben, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Polizei in Betracht kommt, und daß er ferner die gesamte diesen Behörden zustehende Autorität für sich selber erhält“ (DD 186).

Im Ergebnis soll der Militärbefehlshaber den gesamten Dienst der militärischen wie der zivilen Stellen regeln – berücksichtigen muss er bei seinen Entscheidungen nur „seine geheimen Instruktionen, die Bewegungen des Feindes und die Tätigkeit des Belagerers“. Er wird kommissarischer Chef der gesamten Behörden. Der Übergang der Exekutivgewalt ist kein Recht, sondern nur ein verwaltungstechnisches Mittel. Deshalb gehen auch die richterlichen Befugnisse auf ihn über: an die Stelle ordentlicher Gerichte rücken Militärgerichte (ebd.). Anno 1815 bis in den Verfassungsrang aufgerückt (DD 187), durfte der Belagerungszustand gegen eigene Staatsbürger nur durch Gesetz, also unter Einbeziehung des Parlaments in Kraft gesetzt werden (DD 188). In der Verfassung vom 14. August 1830 ist der Belagerungszustand nicht mehr erwähnt, wird aber während der Unruhen von 1832 trotzdem durch königliche Ordonnanz mehrfach in Kraft gesetzt, am 6. Juni 1832 in Paris. In der Instruktion hieß es, der Kommandant könne alle Befugnisse der Zivilbehörden, administrative wie richterliche, ausüben. In den Geschäftsgang der ordentlichen Behörden solle aber nicht eingegriffen werden. Die Zielsetzung war, „den Ausnahmezustand auf den Aufruhr zu beschränken (DD 193). „Hier ist deutlich zu erkennen, daß aus dem Mittel unbedingter militärischer Aktion, aus der kommissarischen Diktatur, das Rechtsinstitut des Belagerungszustandes werden sollte. Entsprechend dem rechtsstaatlichen Charakter des Bürgerkönigtums wurde versucht, die Zuständigkeit des Militärbefehlshabers nicht nur nach ihrem Inhalt rechtlich zu beschränken“ (ebd.).

Die Beeinträchtigung des Rechtsschutzes der Bürger enthielt die offensichtlichste Beseitigung eines verfassungsmäßigen Rechts und der Kassationshof erklärte die Auffassung, dass nunmehr eben der militärische Richter der gesetzliche sei, als nicht verfassungsgemäß: „Ein verfassungsmäßig garantiertes Recht erscheint hier als unbedingtes Hindernis der militärischen Aktion. Die Konsequenz mußte dazu führen, ihr auch andere verfassungsmäßige Rechte entgegenzuhalten“ (DD 194).

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Die revolutionären Ereignisse von 1848 führten dann zu einer endgültigen Regelung des – sog. politischen oder fiktiven – Belagerungszustandes. Zwei Fragen wurden behandelt: die Zuständigkeit und die Voraussetzung seiner Erklärung (Parlament oder Regierung) und der Inhalt der Befugnisse des Militärbefehlshabers (DD 195; nachst. s. 195 f.). Als zentrale Frage wurde die Aufhebung verfassungsmäßiger Freiheiten gesehen. Einmal sollte aufgezählt werden, welche Rechte suspendiert sind. Die rechtliche Regelung geht aber über diese bloße Negation hinaus und beschreibt die Befugnisse des Militärbefehlshabers auch positiv. Bei der hoch umstrittenen Frage der Militärgerichtsbarkeit kann der verfassungsmäßig garantierte natürliche Richter weiterhin suspendiert werden, aber für die Zusammensetzung und die Zuständigkeit der Militärgerichte ergehen nähere Bestimmungen. Ebenso werden die weiteren Befugnisse des Militärbefehlshabers aufgezählt: Haussuchungen vorzunehmen, verdächtige Personen auszuweisen, Waffen und Munition zu beschlagnahmen, gefährliche Veröffentlichungen und Versammlungen zu verbieten. Zulässig sind Eingriffe in die persönliche Freiheit, die „Preßfreiheit“, die Versammlungsfreiheit, und hinsichtlich Waffen und Munition auch in das Privateigentum durfte eingegriffen werden. In andere durch die Verfassung von 1848 gewährleistete Freiheitsrechte wie Privateigentum, Gewissen- und Kulturfreiheit, Freiheit der Arbeit und Steuerbewilligungsrecht durfte der Militärbefehlshaber nicht eingreifen. Mit diesem Gesetz, so Schmitt, ist die Entwicklung der grundlegenden Gesichtspunkte abgeschlossen: „Entscheidend ist, daß an die Stelle einer Ermächtigung zu der nach Lage der Sache erforderlichen Aktion eine Reihe von umschriebenen Befugnissen tritt und nicht mehr die Verfassung als Ganzes suspendiert wird, sondern eine Anzahl bestimmter verfassungsmäßiger Freiheitsrechte und auch diese nicht schlechthin, sondern unter Angabe der zulässigen Eingriffe“ (DD 196).

Im Ergebnis werden dem Militärbefehlshaber einige weitgehende sicherheitspolitische Befugnisse zugestanden, „die im Übergang der vollziehenden Gewalt noch nicht enthalten waren. Die unmittelbare Aktion ist dagegen nicht erfaßt“ (ebd.).

Der politische Belagerungszustand war als fiktiv bezeichnet worden, um zu verdeutlichen, dass er – entgegen der militärischen Operation – keine unbedingte Aktionsfreiheit einräumt. Man nahm deshalb in Konsequenz zuerst das „juge naturel“, dann persönliche Freiheit und Pressefreiheit he-

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raus, ohne in Rechnung zu stellen, dass die Aktion des Militärbefehlshabers von der des Gegners abhängt „und in Leben und Eigentum der politischen Gegner eingreift, die doch nach der heutigen Rechtsauffassung mit der Erklärung des Belagerungszustands nicht aufhören, Staatsbürger zu sein und verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte zu haben, dass er ferner auch unbeteiligte Bürger (…) in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen muß“ (ebd.).

Bemängelt wird, dass von diesen „oft furchtbaren Eingriffen“ in die Freiheitsrechte keine Rede sei, die Befugnis, eine Zeitung zu unterdrücken, hingegen ausführlich erörtert werde (DD 196/197). Zudem sei versucht worden, die Befugnisse des Militärbefehlshabers einzuhegen, die Befugnisse der verfassunggebenden Versammlung, des Trägers der pouvoir constituant, aber „grenzenlos und auch an verfassungsmäßig garantierte Freiheiten nicht gebunden waren“ (DD 197). Es existierte so eine Stelle, an der eine prinzipiell grenzenlose Macht auftreten konnte, und wofür der pouvoir constituant die Grundlage bildete. Ihr Träger konnte sie einem Militärbefehlshaber mittels Auftrag übertragen: „Die Diktatur, von der man so viel sprach, war keine Diktatur des Militärbefehlshabers, sondern ein Fall der souveränen Diktatur einer konstituierenden Versammlung. Der Militärbefehlshaber war ihr kommissarischer Beauftragter“ (ebd.).

Beginnend mit dem römischen Recht und weiter über Locke war die wichtigste Ausprägung einer grenzenlosen Befugnis immer das Recht über Leben und Tod. Werde im 19. Jahrhundert von Diktatur gesprochen, verstehe man darunter den fiktiven Belagerungszustand. Man erörtert die Preßfreiheit und schweigt über die – keineswegs fiktiven – Toten: „Der Grund hierfür liegt in der eigenartigen Unfähigkeit, den Inhalt einer Aktionskommission von einem rechtlich geregelten Verfahren zu unterscheiden“ (ebd.).

Als Beispiel expliziert Schmitt den in Art. 48 WRV geregelten Ausnahmezustand, „den durchaus klaren Fall einer kommissarischen Diktatur“ (DD 198). Diesen Problemkreis haben wir an anderer Stelle dieser Arbeit behandelt.177 Betont sei hier nur, dass für Schmitt das Problem in Abs. 2 im Verhältnis der Sätze 1 und 2 liegt – eine für ihn „sonderbare Regelung“

177 Siehe hier das Kapitel Die Diktatur des Reichspräsidenten.

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(ebd.).178 Erteilt Satz 1 eine grenzenlose Befugnis, begrenzt Satz 2 aber die Befugnis, indem er Grundrechte aufzählt, die suspendiert werden dürfen „Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Preßfreiheit explicite erteilt“ (DD 200).

Diese Widersprüche in der deutschen Verfassung seien nicht auffällig, weil sie auf der Kombination einer souveränen und einer kommissarischen Diktatur beruhen und der ganzen Entwicklung entsprechen. Für Habfast ist nicht zu übersehen, „dass Schmitt die kommissarische Diktatur für das eigentliche Meisterstück juristischer Arbeit hält . Die souveräne Diktatur hingegen, die in einer Mischung aus Faszination und Schaudern vorgestellt wird, verbleibt in einem eigentümlichen Zwielicht“.179

Jedenfalls ist Ottmann zuzustimmen, dass Schmitt 1921 die Gefahr im Blick hatte, was einen kommissarischen Diktator eigentlich daran hindere, sich zu einem souveränen zu wandeln: „In manchem ist der Caesar schon angelegt“.180

178 Art. 48 Absatz 2 WRV: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Mahnahmen treffen, erforderlichenfalls mithilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“. 179 Habfast (2010, S. 115). 180 Ottmann (2010, S. 229).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

I. Ein Karriereintermezzo. 1. Das ungeliebte Greifswald. Zum Wintersemester 1921/22 wechselt Carl Schmitt von München ins ostpommersch-protestantische Greifswald an die damals kleinste Universität Preußens, 1456 gegründet, und als Einstiegsuniversität zum Start einer wissenschaftlichen Karriere – es ist seine erste ordentliche Professur – offensichtlich eine gute Wahl. Nicht aber für Schmitt. Er fühlt sich in Greifswald nicht wohl181 und betrachtet es als „eine möglichst schnell zu überwindende Zwischenstation“182. Im Oktober 1921 trennt sich Schmitt von seiner ersten Frau und legt seinen – allerdings nie formalisierten – Doppelnamen „Schmitt-Dorotic“ ab. Schon im August desselben Jahres hatte er eine Liaison mit der australischen Studentin Kathleen Murray begonnen, die er bei ihrem Promotionsverfahren wohl mehr als erlaubt unterstützt: „ein sehr weitreichender autorschaftlicher Einfluss Schmitts ist nicht auszuschließen“183. Er beendet die Beziehung im November 1921, weil er annimmt, dass Kathleen ihm untreu gewesen ist, per Brief – trifft sie aber weiterhin, bis Murray, noch vor Erhalt der Promotionsurkunde, nach Australien zurückkehrt.184 Ganz los von ihr – er erwägt sogar ihre Heirat nach seiner Scheidung – kommt er nicht, wie sie nicht von ihm.185

181 Vgl. Mehring (2009, S. 129). Unterstützung erhält er durch ein Empfehlungsschreiben des Staatsrechtlers Rudolf Smends (ebd. S. 130). 182 Noack (1993, S. 55). 183 Mehring (2009, S. 133; vgl. ebd. S. 130). 184 Vgl. ebd. S. 133 u. 136. Ihre Dissertation, die sie Schmitt widmet, wird 1924 bei Duncker & Humblot verlegt (ebd. S. 137). 185 Ebd. (S. 139). Sie erkundigt sich noch 1971 über das Pfarrhaus von Plettenberg nach ihm (ebd.).

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II. Die Bonner Jahre.

2. Erlösung von Greifswald. Die Erlösung von Greifswald jedoch erfolgt schnell. Als Schmitt am 1. April 1922 die Nachfolge von Rudolf Smend mit Beginn des Sommersemesters in der Bonner Universität antritt 186, der nach Berlin gewechselt war, ist er als ein das Recht auslegender Staatsrechtswissenschaftler kaum hervorgetreten aus dem Kreis der etwa 50 Professoren des Öffentlichen Rechts in Deutschland, von denen die meisten „Unpolitische“ waren, weil man zwischen politischer Meinung und Rechtsauslegung strikt zu trennen hatte. Unter dem Eindruck der ökonomischen wie politischen Verwerfungen nach „Versailles“ entwickelte sich eine „allgemeine Nationalisierung der Fragestellung“187, die eine politische Abstinenz des Staats- und Verfassungsrechts nicht länger zuließ. Auch Schmitt politisiert sich wegen der national bedeutenden Streitfragen um den Versailler Vertrag und seine Auswirkungen erst in seiner Bonner Zeit, und wird zu dem Autor, der das Recht des Staates zunehmend auch als ein politisches begreift. Auch darin sieht Maschke einen Grund für die Verfolgung, der jeder politische Denker von Rang ausgesetzt sei. Schmitt habe eine allgemeine Theorie des Politischen formuliert, mit dieser aber zugleich in die konkrete Politik eigegriffen.188 Bereits seine Schrift Die Diktatur war ja ein starker Reflex auf eine Reallage, die revolutionären Ereignisse in München. II. Die Bonner Jahre. 1. Schmitt politisiert sich. Schmitts Bonner Jahre, er liest Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Politik und politische Ideengeschichte, gelten als seine fruchtbarste und ertragreichste Zeit. Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre,

186 Zu Rudolf Smend, der eine wichtige Rolle im Weimarer Staatsrechtsstreit besetzte, siehe den einführenden Überblicksaufsatz in: (Hartmann/Meyer (2005, S. 39-45). 187 Michael Stolleis, zit. nach Mehring (2009, S. 140). 188 Maschke (2012, S. 53).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

die Ausarbeitung seiner Verfassungslehre und seine öffentliche Positionierung als Katholik fallen in diese produktive und erfolgreiche Zeit.189 „Mit der ‚Politischen Romantik‘ hatte er sich freigeschrieben. Mit ‚Der Diktatur‘ hatte er einem Denken vom Ausnahmezustand her Eingang in die Staatsrechtslehre verschafft. Diesen Schriften folgten im Jahre seines Amtsantritts in Bonn seine ‚Politische Theologie‘ und ein Jahr darauf – 1923 – das Hohelied auf die katholische Kirche, ‚Römischer Katholizismus und politische Form‘, sowie ‚Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus‘ – nach dem Sollen also das Sein“ (N 64).190

Die steigende Hoffnung auf eine Beruhigung der politischen Lage stand im Einklang mit Schmitts persönlicher – durch seine Verbeamtung erstmals auch monetär sichereren – Lage, so Noack, und attestiert ihm eine synchrone Entwicklung „seines persönlichen Befindens, seiner Produktion und der politischen ‚Lage‘“, ein Symptom, das auch zu anderen Zeiten beobachtbar gewesen wäre.191 Über die Beziehung zwischen „Zeitbezogenheit und überzeitlichem Denken“ bei Schmitt lasse sich zwar streiten, nicht aber über das Faktum, dass Schmitts Beurteilungen der politischen Lagen Weimars für „eine ganze Generation“ faszinierend gewesen seien, abzulesen an den Neuauflagen seiner ja fachspezifischen Schriften:192 „Among the most attractive aspects of Schmitt’s writings and lectures was their relevance to the contemporary political situation. Schmitt was one of the few law professors involved in studying politics; most of the courses he taught at Bonn were not in jurisprudence but in what would today be called political science”. 193

So gründet Schmitt, Benderskys Urteil bestätigend, ein „Politisches Seminar“ neben dem bereits bestehenden „Seminar für wissenschaftliche Politik“ von Erich Kaufmann, die aber 1923 einvernehmlich „fusionieren“.194

189 190 191 192 193 194

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Vgl. Mehring (2009, S. 142). Noack (1993, S. 64). Ebd. S. 65. Ebd. Bendersky (1983, S. 54).. Vgl. Mehring (2009, S. 141).

II. Die Bonner Jahre.

2. Katholizismus als Lebensmaxime. Nach seinem Wechsel nach Bonn exponiert sich Schmitt als Katholik in einer Zeit, in der der Katholizismus um eine Neubestimmung seines Verhältnisses zur Moderne und um die Integration der literarischen Moderne ringt. Der Einfluss Søren Kierkegaards erfasste auch Schmitt und seinen Bekanntenkreis aus Münchner Zeiten, u.a. Theodor Haecker195, Franz Blei196 und Konrad Weiß197. Ziel war eine Überwindung des Ästhetizismus und eine erneuerte religiöse Bindung, die aber vornehmlich außerhalb der klerikalen Organisationen gesucht wurde.198 Starke Einflüsse aus der französischen Bewegung Renouveau catholique beeinflussten den diskursierenden deutschen Katholizismus: „Im breiten Strom katholischer Publizistik wurde damals Verschiedenes vertreten: Laienreligiosität und Mystik am Rande der Kirche ebenso, wie Ästhetizismus, autoritärer Etatismus und Anarchismus“.199

Die Hinwendung Schmitts zum ist zugleich eine – manchmal sogar zweifelnde – Wegsuche im Katholizismus, der sich zu dieser Zeit so vielfältig präsentiert.200 Ein katholizismusspezifisches Phänomen dieser Zeit ist dies nicht, „denn auch die protestantische Theologie radikalisierte sich damals“.201 Adolf von Harnacks antijudaistische Ablehnung des Alten Testaments als ein „Buch des minderwertigen jüdischen Gottes“202 wurde von Papst Benedikt XVI. als Vollstreckung der Häresie Marcions verstanden, der das Christentum vom Alten Testament zu trennen suchte203.

195 Haecker (1879-1954) war Schriftsteller, Kulturkritiker und Übersetzer, der Werke und Tagebücher von Søren Kierkegaard und des engl. Kardinals John Henry Newman übertrug. 196 Blei (1871-1942) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift Summa. 197 Weiß (1880-1940) war ein deutscher Dichter und Teil der Münchner Kulturszene, der zum Umfeld des politischen Katholizismus gerechnet wurde. In seinem Traktat Der christliche Epimetheus (1933) berief er sich auch auf Carl Schmitt. 198 Mehring (2009, S. 143). 199 Ebd. 200 Siehe dazu Mehring (2009, S. 144 f.). 201 Ebd. S. 144. 202 Ebd. 203 Benedikt XVI. (2007, S. 80 ff.). Dass Schmitt sich mit dem Marcionismus beschäftigte, sehen wir bei der Erörterung seiner Römischer-Katholizismus-Schrift.

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

III. Politische Theologie (1922). „Recht ist dort, wo entschieden wird; wo inappelativ entschieden wird, ist der Souverän, und wo Entscheidungen des Souveräns hervortreten, ist der Ausnahmezustand.“ Hugo Ball.204

Carl Schmitt hat die Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität im Jahr 1922 als Monographie veröffentlicht. 1923 wird diese – gekürzt um das vierte Kapitel Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution (De Maistre, Bonald, Donoso Cortés) – als Beitrag einer Erinnerungsgabe205 für Max Weber, jetzt unter dem Titel Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie erneut veröffentlicht.206 Beruhend auf einer Sammelrezension von fünf Neuerscheinungen zur Staatslehre207 lasse bereits der Obertitel erkennen, dass Schmitts Schrift eine Antwort auf die Herausforderung Kelsens ist, der die Verwendung theologischer Begrifflichkeiten und Denkfiguren kritisiert hatte208. Schmitt wendet diese Kritik: „Nur ein theologisch inspiriertes Denken, findet Zugang zu zentralen staatsrechtlichen Begriffen wie Souveränität, Staat und Recht“.209

1. Politische Theologie: Begriff und Inhalt. 1.1. Zum Begriff der Politischen Theologie. Der Begriff „Politische Theologie“ scheint eine Schöpfung des römischen Gelehrten Terentius Varro (116-127 v.Chr.) zu sein. Varro unterschied drei abzugrenzende Theologietypen: „die theologia fabulosa der Dichter, welche Mythen und Geschichten erfinden, die theologia naturalis der Philosophen, die sich auf Vernunft gründet,

204 Ball (1924, S. 281). 205 Siehe Palyi (2010). 206 Wir zitieren nach der zugänglicheren zweiten Ausgabe von 1934 (2009). Zu Abweichungen gegenüber der Erstauflage siehe Neumann (2015, S. 42 FN 196). 207 Einzelheiten siehe Neumann (2015, S. 42 FN 194). 208 Kelsen (1922). 209 Neumann (2015, S. 42).

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III. Politische Theologie (1922).

und die theologia civilis, die ‚bürgerliche‘ oder ‚politische‘ Theologie, die eine Stadt oder ein Reich prägt“.210

Der Begriff der theologia civilis wurde dann im deutschen Sprachraum gewöhnlich mit Politische Theologie wiedergegeben. Sie weist über das Römische Reich bis in die griechische Polis zurück, die durch einen bestimmten Kultus – etwa den Kult der Stadtgöttin Athene – Identität und Legitimität gewannen. Das Christentum füllte den Begriff mit einem anderen Sinngehalt, zumal es als Universalreligion „von vorneherein reichskompatibel“ war.211 Schon mit dem Lukas-Evangelium wurde versucht, die Pax Romana mit Bezug auf die Geburt Christi als ein universales Friedensreich zu bestimmen. Mit der Konstantinischen Wende im Jahr 313 wurde das Christentum Reichsreligion. Mit Augustinus wird die Unterscheidung zweier Reiche – civitas terrena und civitas divina – für die politische Theologie zentral, was Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre fortführte.212 „Bis zum Beginn der Neuzeit wird Politik immer in irgendeiner Form theologisch gedeutet“. Mit dem tiefen Einschnitt der Reformation wird die Frage nach der einen Religion virulent – und wird mit den schrecklichen konfessionellen Bürgerkriegen beantwortet. Sie belegen, „dass die Religion nicht mehr nur der Befriedung, sondern auch der Zerstörung der Gemeinschaft dienen konnte“213.

Als Mittel der Befriedung sollten einmal das Cuius-regio-eius-religioPrinzip oder die Entwicklung einer Zivilreligion helfen, deren Dach verschiedenen Konfessionen Platz böte. Letztere Alternative wählten Hobbes und Rousseau.214 Eigentlich, so zumindest Schmitt, sollte seine Schrift nur eine „Soziologie“ der Begriffe leisten. Sie enthält aber darüber weit hinausgehend auch „eine Theologie der Politik und eine Säkularisierungsgeschichte der Neuzeit“.215

210 211 212 213 214 215

Ottmann (2010, S. 229); s. a, Hartmann/Offe (2011, S. 283 f.). Ottmann (2010, S. 229). Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Ottmann (2015, S. 230). Ebd.

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1.2. Inhalt und Bedeutung. Vier Kapitel gilt es zu durchwandern in einer Abhandlung, die um die Beziehungen von Theologie, Politik, Jurisprudenz und Soziologie oszilliert. Teil I und II erörtern die Definitionen und die Probleme der „Souveränität“, Teil III trägt die titelgebende Überschrift „Politische Theologie“. Teil IV, eine ursprünglich selbstständige Abhandlung, reflektiert die „Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ mit ihren Vertretern de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés. Schmitt fasst, wie wir sehen werden, die Souveränität als Entscheidungsmonopol oder Monopol der Dezision (vgl. PT 19). Es geht ihm in der Politischen Theologie um die Gewinnung der Bedingungen, die Staat oder Staatlichkeit sichern können, bzw. um deren Rückgewinnung da, wo sie ausgehöhlt werden oder gar schon sind. Politische Theologie ist bei Schmitt ein durchaus säkulares Programm, welches das Religiöse – wie auch in Römischer Katholizismus und politische Form – ausschließt, weil es das Theologische in den politischen Diskurs einbringt.216 2. „Definition der Souveränität“. Carl Schmitt stimmt mit dem berühmten, apodiktischen Satz an: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (PT 13). „Souveränität“ ist ihm ein „Grenzbegriff“, dem allein seine eigene Definition gerecht werden kann (PT 13). Dieser Grenzbegriff217 ist zudem ein „Begriff der äußersten Sphäre“, woraus zu schließen ist, dass eine Definition der Souveränität am „Grenzfall“ oder „Ausnahmefall“ anknüpfen muss. Der Ausnahmefall – ein allgemeiner Begriff der Staatslehre – entzieht sich der geltenden Rechtsordnung, da er tatbestandsmäßig nicht umschrieben werden kann und inhaltlich leer ist. Er bezeichnet unbestimmt den „Fall äußerster

216 Vgl. Adam (1992, S. 24 u. 26). 217 Zu dem Themenkomplex: „Carl Schmitt als Sprachdenker“ siehe Michaela und Thilo Rissing (2009; insb. S. 35-50). Sie rekurrieren dabei „auf das sprachtheoretisch und metaphysikkritisch ansetzende Denken von Jacques Derrida. Ihre Ausgangsthese: „Das politisch-theologische Denken von Carl Schmitt ist wesentlich geleitet von einer Reflexion auf Sprache und die sprachliche Konstitution von Welt“ (ebd.). Wir können auf diesen Ansatz im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingehen.

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III. Politische Theologie (1922).

Not“ oder der „Gefährdung der Existenz des Staates“ (PT 13 f.):218 Im Ausnahmefall geraten Ordnung und Rechtsordnung in Konflikt.219 In einem solchen Moment höchster Gefährdung bedarf es, um handlungsfähig zu bleiben, einer Entscheidung, die sich nicht durch Rechtsnormen legitimieren kann. Doch sind „Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz (…) notwendig unbegrenzt“ (PT 14),220 ist doch im Ausnahmezustand die gesamte Rechtsordnung durch den Staat „kraft eines Selbsterhaltungsrechts“ suspendiert (PT 18/19).221 Die im Ausnahmezustand zu treffenden bzw. getroffenen Entscheidungen sind frei von jeder normativen Gebundenheit. Der Souverän allein entscheidet, ob ein Ausnahmefall vorliegt, und er allein entscheidet über die Maßnahmen, die für die Wiederherstellung der Normalität ergriffen werden müssen: „Die Entscheidung über die Ausnahme ist nämlich im eminenten Sinne Entscheidung. Denn eine generelle Norm, wie sie der normal geltende Rechtssatz darstellt, kann eine absolute Ausnahme niemals erfassen“ (PT 13).

218 Vgl. Neumann (2015, S. 42 f.). Bielefeldt sieht im Schmittschen Ausnahmefall ein „Grundphänomen“, das die politische Lebenswirklichkeit als Ganzes beleuchtet (Bielefeldt 1994, S. 24; Herv. im Original), Hofmann eine Entsprechung zum Begriff der „Grenzsituation“ bei Jaspers, in der sich der Mensch schlagartig des Grundes seiner Existenz bewusst wird (Hofmann 1964, S. 66). 219 Adam (1992, S. 3). 220 In der historischen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs, so Schmitt, habe sich schon Bodin am Ausnahmefall orientiert (PT 14 f.; ausführlicher dazu siehe Campagna (2004, S. 67 ff.). Die Vordenker Bodin – wie auch Hobbes – vereinen alle Hoheitsrechte und Herrschaftsbefugnisse in einer einzigen Position, die zudem tendenziell eine unbegrenzte Handlungsvollmacht hat (Münkler/Straßenberger 2016, S. 127) und von allen gesetzlichen Bindungen und gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen frei ist, wenn kein Verstoß gegen das göttliche und das natürliche Recht vorliegt (Münkler/Straßenberger 2016, S. 129). Für Schmitt liegt Bodins Bedeutung darin, dass er die Souveränität als eine unteilbare Einheit auffasste „und die Frage nach der Macht im Staate endgültig entschied. Seine wissenschaftliche Leistung und der Grund seines Erfolges liegen also darin, daß er die Dezision in den Staatsbegriff hineingetragen hat“ (PT 15). Das mag an dieser Stelle genügen (näher dazu s. das Kapitel: Die Diktatur). 221 Es kann die Rechtsordnung „wenn es hart auf hart kommt, gegenüber dem Souverän keine verbindliche Kompetenzschranke mehr darstellen. Vielmehr werden sie nun auch ihrerseits möglicher Gegenstand souveräner Entscheidung und erweisen sich damit als ein nur sekundäres Phänomen. (…) Er (Schmitt, w.a.m.) betont das dezisionistische Moment des Rechts, stellt es den abstrakten Regeln entgegen und behauptet zugleich den Vorrang der Dezision gegenüber der Norm, weil letztere nur durch Entscheidung entsteht und aufrechterhalten wird“ (Bielefeldt 1994, S. 25/26).

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Im Ausnahmefall der Staatskrise erweist sich der Souverän als Souverän:222 „Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann“ (PT 14).

Während Max Weber den neuzeitlichen Staat durch das Gewaltmonopol bestimmt sieht, erfasst ihn Schmitt durch das Monopol der Dezision (vgl. PT 19).223 Es ist die Dezision „in absoluter Reinheit“ (PT 19), die sich im Ausnahmefall bewährt,224 der in „absoluter Gestalt“ dann eingetreten ist, „wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können“ (ebd.). Denn jede Norm – „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre.“ (ebd.) – bedarf zu ihrer Geltung des Vorliegens normaler Lebensverhältnisse, und eine Rechtsordnung macht nur dann Sinn, wenn Ordnung herrscht bzw. wiederhergestellt ist (ebd.). Es gibt mithin Ordnung ohne Recht, nie aber Recht ohne eine tatsächliche Ordnung,225 denn „auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“ (PT 16).

Das Außerkraftsetzen der Rechtsordnung im Ausnahmezustand führt nicht zu chaotischen Zuständen, denn der Staat bleibt bestehen und der Souverän ist mit seinem Entscheidungsmonopol der Herr über die Krise: „Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“ (PT 19).

222 Rissing (2009, S. 54; Herv. w.a.m.) 223 Für Hofmann hat sich der Inhalt des Dezisionsbegriffs verändert, da die Dezision, die als ein „voluntaristisches Element“ der richterlichen Rechtsprechung begann, „dann zu einem determinierenden Moment allen Rechtes wuchs, nunmehr frei von jeder normativen Gebundenheit (…) im eigentlichen Sinne absolut“ ist (Hofmann 1964, S. 68). 224 Aber es ist eben nicht der Nominalismus Kelsens, der die Verfassung als ein geschlossenes Normensystem betrachtet (Ottmann 2010, S. 230/231). 225 Vgl. Hofmann (1964, S. 63.)

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III. Politische Theologie (1922).

Diese offensichtliche Überlegenheit des Staates beruht „auf seiner bloßen Existenz als faktische Machtorganisation“226 und bestätigt Hobbes Diktum: Auctoritas, non veritas facit legem. Die besondere Bedeutung des Ausnahmezustands im Denken Carl Schmitts, der für ihn eben keineswegs nur heuristischer Natur ist, zeigen folgende Sätze: „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur dir Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“ (PT 21).

Es geht Schmitt auch um mehr, denn nur um die Enthüllung der Struktur eines Staates.227 Weil in Carl Schmitts Philosophie der Rechtsverwirklichung die Priorität eindeutig auf der Erhaltung der faktischen Normalität liegt, wird in Konsequenz die Frage der Diktatur zum eigentlich kritischen Punkt des Problems der Rechtsverwirklichung: „Das ursprünglich polemisch gegen den Normativismus Kelsenscher Prägung gerichtete Interesse Schmitts am Ausnahmefall beginnt, sich selbstständig zu machen und die Ausgangsproblematik weit überschreitende Konsequenzen zu zeitigen“.228

Schmitt besteht darauf, dass der Ausnahmefall der juristischen Erkenntnis zugänglich und die Norm wie auch die Entscheidung im Feld des Juristischen verbleiben (PT 19). Die Ausnahme, generell zwar nicht fassbar, behält juristische Bedeutung, denn „gleichzeitig offenbart sie ein spezifischjuristisches Formelement, die Dezision“ (PT 19). Was die Frage aufwirft, woraus sich dieses Formelement ergeben soll. Die „Zuständigkeit“ – was nahe läge229 – kann es nicht sein, da sie sich im Ausnahmezustand aus dem ja suspendierten positiven Recht nicht ergeben kann. „Und doch soll der Rechtswert der Entscheidung aus der Zuständigkeit des Subjekts der

226 Ebd. S. 68: „An dieser Stelle deutet sich erstmals klar der existenz-philosophische Vorrang der Existenz- vor der Essenzfrage an“. 227 Ebd. S. 67. 228 Ebd. S. 66. In den Entwicklungen des modernen Rechtsstaats, bedauert Schmitt, wiesen alle Tendenzen auf die Beseitigung eines derartigen Souveräns (PT 14). 229 Für Kelsen ist eine Rechtsnorm gültig, wenn sie von der zuständigen Stelle erlassen wurde (Neumann 2015, S. 43).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Souveränität folgen“230. So zeigt sich das problematische Verhältnis von Recht und Staat im Ausnahmefall.231 3. „Das Problem der Souveränität als Problem der Rechtsform und der Entscheidung“. Carl Schmitt untersucht im zweiten Kapitel die Umgestaltung staatsrechtlicher Begriffe und Theorien unter dem Eindruck realpolitischer Verhältnisse (PT 25).„Von allen juristischen Begriffen ist der Begriff der Souveränität am meisten von aktuellen Interessen beherrscht“, diktiert Schmitt, obwohl diese Begrifflichkeit seit Bodin keine logische Entwicklung oder Fortbildung erfahren habe (ebd.). Vielmehr werde immer wieder nur die alte Definition variiert: „Souveränität ist höchste, rechtlich unabhängige, nicht abgeleitete Macht“ (PT 26). Derart definiert, ist sie auf die „verschiedensten politisch-soziologischen Komplexe“ anwendbar, für die „verschiedensten politischen Interessen“ brauchbar und „unendlich vieldeutig“ und ist situationsabhängig „außerordentlich brauchbar oder gänzlich wertlos“ (ebd.). Eine „höchste Macht“ als Bezeichnung einer realen Größe, so Schmitt, gebe es nicht: „die Macht beweist nichts für das Recht (…)“ (ebd.).232 In der Verbindung der faktischen und der rechtlich höchsten Macht problematisiert sich der Begriff der Souveränität: „Hier liegen alle seine Schwierigkeiten, und es handelt sich darum, eine Definition zu finden, die nicht mit allgemeinen tautologischen Prädikaten, sondern durch die Präzisierung des juristisch Wesentlichen diesen Grundbegriff der Jurisprudenz erfaßt“ (ebd.).

Die Lösung dieses Problems durch Kelsen ist für Schmitt ungenügend. Dieser habe eine „einfachere Lösung“ versucht, indem er das „Entweder“ einer reinen Soziologie dem „Oder“ einer reinen Rechtswissenschaft gegenüberstellte. Er habe derart das Ziel angestrebt, „alle soziologischen Elemente (…) aus dem juristischen Begriff fernzulassen“ und so mit

230 Siehe Neumann (2015, S. 43/44). 231 Ebd. 232 Schmitt hatte bereits 1917 ausgeführt, dass Recht nicht aus der Macht abgeleitet werden darf: Die beiden Welten (von Recht und Macht, w.a.m.) stehen einander gegenüber; daß der Satz, alles Recht sei Macht, genau umgekehrt werden kann in die These, alle Macht sei nur Recht, beweist nicht einen Zusammenhang und eine Ableitbarkeit, sondern die Unvereinbarkeit“ (Summa I (1917) 37-52, S. 46/47).

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einem „simplistischen Entweder-Oder“ eine „Disjunktion: Soziologie – Jurisprudenz“ aufgestellt (PT 26). Nach der Liquidierung alles Soziologischen wird so unverfälscht und rein „ein System von Zurechnungen und Normen auf eine letzte einheitliche Grundnorm“ gewonnen (PT 26). So verfahrend komme Kelsen „zu dem keineswegs überraschenden Resultat, daß für die juristische Betrachtung der Staat etwas rein Juristisches sein müsse, etwas normativ Geltendes, also nicht irgendeine Realität oder ein Gedachtes neben und außer der Rechtsordnung, sondern nichts anderes als eben diese Rechtsordnung selbst, freilich (…) als Einheit“ (PT 27).

Nach Kelsens normativistischer Auffassung vom Staat ist dieser nicht Urheber und nicht Quelle der Rechtsordnung, sondern „der Staat, das heißt, die Rechtsordnung, ist ein System von Zurechnungen auf einen letzten Zurechnungspunkt und eine letzte Grundnorm. (…) Der Staat ist der Endpunkt der Zurechnung“ und „zugleich eine ‚nicht weiter ableitbare Ordnung‘“ (PT 27). Es besteht, cum grano salis, ein durchgehend hierarchisches Normensystem. Jedem wissenschaftlichen Einwand werde dasselbe Argument entgegengestellt: „der Grund für die Geltung einer Norm kann wiederum nur eine Norm sein; der Staat ist daher für die juristische Betrachtung identisch mit seiner Verfassung, das heißt der einheitlichen Grundnorm“ (PT 27).

Die Einheit der Rechtsordnung, d.h. der Staat, verbleibt im Rahmen des Juristischen rein von allem Soziologischen (PT 28). „Kelsen löst das Problem des Souveränitätsbegriffs dadurch, daß er es negiert“, und fordert: „Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden“ (PT 29). Die liberale Verneinung des Staates, so Schmitt, negiere den Staat gegenüber dem Recht und blende aus, dass das Recht auch verwirklicht werden muss (ebd.). „Die ‚eigentliche Schwierigkeit‘ (…) ist das selbständige Problem der Rechtsverwirklichung“.233 Denn die Rechtsidee kann sich selbst nicht durchsetzen und bedarf „einer besonderen Gestaltung und Formung“, damit sie Rechtswirklichkeit werden kann (vgl. PT 35).234

233 Neumann (2015, S. 45). 234 „Die Rechtsform wird beherrscht von der Rechtsidee und der Notwendigkeit, einen Rechtsgedanken auf einen konkreten Tatbestand anzuwenden, das heißt von der Rechtsverwirklichung im weitesten Sinne“ (PT 35).

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Zugleich sind die Vertreter einer liberalen Staatsauffassung bemüht den Souveränitätsbegriff zu entpersonalisieren. Krabbe,235 für den nicht der Staat, sondern das Recht „souverän“ ist, ersetzt den persönlichen oder institutionalisierten Souverän durch eine „geistige Macht“.236 Sein Staat produziert nur noch Recht, wendet es aber nicht mehr an. Gierke237 wiederum wertet Staat und Recht als „ebenbürtige Mächte“ (PT 32), sieht aber den Staat wie den Herrscher nicht mehr als die letzte Quelle des Rechts an, sondern das vom Volksleben hervorgebrachte Rechtsbewusstsein (PT 31). Der Staat besiegele das gesetzte Recht nur noch. Für Krabbe wie Gierke gilt Schmitts Urteil: „Wird der Staat auf diese Weise in die Rolle des bloß deklarierenden Herolds gedrängt, so kann er nicht mehr souverän sein“ (PT 32).238

Wolzendorff239geht davon aus, dass der Staat das Recht und das Recht den Staat braucht, aber „das Recht als das tiefere Prinzip hält letzten Endes den Staat in Banden“ (PT 32). Der Staat wird ihm zu einer reinen Ordnungsmacht, und so kommt dieser Ansatz – gegen die Intention seines Schöpfers – einer „autoritären Staatsidee“ sehr nahe (vgl. PT 33). Insgesamt sieht Schmitt in der modernen Staatslehre das Bestreben, die Form aus dem Subjektiven ins Objektive zu verlegen. Für Kelsen aber erschöpfe sich diese Objektivität darin, „daß er alles Personalistische vermeidet und die Rechtsordnung auf das Gelten einer unpersönlichen Norm zurückführt“ (PT 35), also auf ein „reines“ abstrakt-normatives Rechtssystem. Für Kelsen ist deshalb das persönliche Befehlsrecht der eigentliche

235 Hugo Krabbe (1857-1936) war ein niederländischer Staatsrechtler. 236 „Wir leben jetzt nicht mehr unter der Herrschaft von Personen, seien es natürliche oder konstruierte (Rechts-)Personen, sondern unter der Herrschaft von Normen, geistigen Kräften. Darin offenbart sich die moderne Staatsidee“ (Krabbe 1919: Die moderne Staatsidee, hier zit. nach PT 30). 237 Otto von Gierke (1841-1921) war ein deutscher Rechtshistoriker und Politiker, der vor allem wegen seiner Konzeption eines Genossenschaftsrechts und seiner Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit bekannt ist. 238 Das genossenschaftlich von unten aufgebaute Gemeinwesen ist für seine Protagonisten bei geeigneter Organisation in der Lage, ohne Herrschaftsmonopol und ohne Souveränität auszukommen, die mit der Genossenschaftstheorie als ein „Residuum des Obrigkeitsstaates“ verworfen werden kann (vgl. PT 32). 239 Kurt Wolzendorff (1882−1921) war ein deutscher Staatsrechtler.

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Irrtum der Souveränitätslehre (PT 36).240 Schmitt hält konsequent dagegen: „Alle diese Einwendungen verkennen, daß die Persönlichkeitsvorstellungen und ihr Zusammenhang mit der formalen Autorität einem spezifischen juristischen Interesse entsprungen ist, nämlich einem besonders klaren Bewußtsein dessen, was das Wesen der rechtlichen Entscheidung ausmacht“ (ebd.; Herv. w.a.m.).

Denn der „Eigenwert der Form“ (PT 33) und damit das Wesen der rechtlichen Entscheidung zeigt sich für Schmitt gerade in der Personalität und im Befehl, überführt dieser doch die Rechtsidee – die niemals in ihrer Reinheit wirklich werden kann – „in einen anderen Aggregatzustand und fügt ein Moment hinzu, das sich weder aus dem Inhalt der Rechtsidee“ noch aus dem Inhalt einer positiven Rechtsnorm entnehmen lässt (PT 36). Es liegt also bei jeder juristischen Entscheidung eine Transformation vor: „In jeder Umformung liegt eine auctoritatis interpositio“ (PT 37).241 Eine Eigenumsetzung der Rechtsidee scheitert auch, weil sie nichts über die Zuständigkeit aussagt. Denn es muss die je „zuständige“ Stelle sein, welche die Entscheidung trifft. Die Konsequenz: Erst die „Zuständigkeit“ für die Entscheidung macht diese „relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhalts und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab“ (ebd.).

240 Krabbe fasst die zwei gegensätzlichen Ansichten bereits 1906 prägnant: „Die Theorie der Staatssouveränität hat ihren Grund in der Vorstellung, daß die Gewalt in einem persönlichen Befehlsrecht wurzelt. Die Theorie der Rechtssouveränität beruht auf dem Gedanken einer unpersönlichen, den Rechtsnormen, eben weil sie Rechtsnormen sind, eigene Gewalt. Letztere Theorie ist die Frucht einer höheren Kultur und setzt die Fähigkeit abstrakten Denkens voraus“ (Krabbe, zit. n. Neumann 2015, S. 46 FN 207). 241 Für das Verständnis der richterlichen Entscheidung gibt es zwei Thesen, fassbar unter den Begriffen Kognition und Dezision. Einmal wird das richterliche Urteil als eine Erkenntnis aufgefasst, die aus den Rechtsquellen abzuleiten ist. Die zweite, „von u.a. Carl Schmitt der juristischen Elite vorbehaltene Alternative entscheidet sich dafür, die Entscheidung als Willensakt zu konzipieren, dessen Inhaltsbestimmung normativ einer creatio ex nihilo entspricht“ (Fischer-Lescano/ Christensen 2007, S. 2). In diesem Sinne gilt für Schmitt die auctoritatis interpositio: „Es ist in der Eigenart des Normativen begründet und ergibt sich daraus, daß ein konkretes Faktum konkret beurteilt werden muß, obwohl als Maßstab der Beurteilung nur ein rechtliches Prinzip in seiner generellen Allgemeinheit gegeben ist“ (PT 37).

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Damit sind wir wieder zum Ausgangspunkt von Schmitts Überlegungen zurückgekehrt. Durch die Zuständigkeit erhält die Entscheidung einen „selbständigen Wert“ und ist „normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“. „Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mithilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist“ (PT 37/38).

4. Politische Theologie. 4.1. Säkularisierung und Strukturanalogie. „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (PT 43).242

Für seine Kernthese gibt Schmitt zwei Begründungen: Einmal, weil die Begriffe historisch von der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden – der „allmächtige Gott“ wurde zum „omnipotenten Gesetzgeber“ – und zweitens, wegen ihrer systematischen Struktur, deren Kenntnis für die von Schmitt angestrebte soziologische Betrachtung243 unerlässlich ist (PT 43). So habe der Ausnahmezustand für die Rechtswissenschaften eine „analoge“244 Bedeutung, wie es das Wunder für die Theologie habe. Erst das Erkennen dieser analogen Systematiken offenbare, welche Entwicklung die staatsphilosophischen Ideen in den letzten Jahrhunderten genommen hat (ebd.).245

242 Schmitt betont, dass er seit Langem „auf die fundamentale systematische und methodische Bedeutung solcher Analogien hingewiesen habe“ und benennt als Belege Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), Politische Romantik (1919) und Die Diktatur (1921) (PT 43). 243 Hugo Ball beschreibt die soziologische Betrachtung der Rechtsbegriffe so: „Es ist das Bestreben, die geschichtlichen Formen der Rechtsbegriffe zu ihrer Herkunft zurückzuverfolgen und daraus Schlüsse zu ziehen auf die absolute Rechtsform. Es ist der Versuch, von der geschichtlichen Wirklichkeit aus und nicht abstrakt, zum Absoluten zu gelangen“ (Ball 1924, S. 281). 244 Als Bürgen dieser spezifischen Analogie benennt Schmitt den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, der die systematische Verwandtschaft von Jurisprudenz und Theologie betont hatte (PT 44). 245 Kritisch zum Analogiemodell Kodalle (1973, S. 44-48, insb. S. 45).

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III. Politische Theologie (1922).

Die Idee des modernen Rechtsstaats setzte sich mit dem Deismus durch, der mit seiner Theologie bzw. Metaphysik eines Gottes aus Verstandesgründen das Wunder, als die ausnahmsweise Durchbrechung eines Naturgesetzes, aus der Welt verwies, so wie er analog einen unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung abgelehnt hatte. Der Rationalismus der Aufklärung habe den Ausnahmezustand dann in jeder Form verworfen (ebd.). Schmitt betont, wer die staatsrechtliche Literatur der positiven Jurisprudenz auf ihre letzten Begriffe und Argumente untersuche, erkenne, dass an allen Stellen der „Staat“ eingreift: „immer dieselbe unerklärliche Identität, als Gesetzgeber, als Exekutive, als Polizei, als Gnadeninstanz, als Fürsorge (…)“ (PT 44). Dies zeige, dass die Omnipotenz des modernen Gesetzgebers staatsrechtlicher Lehrbücher nicht nur sprachlich aus der Theologie rührt (vgl. PT 44 f.). Werde mit theologischen Reminiszenzen argumentiert, geschehe dies aber meist in polemischer Absicht, werde doch dem wissenschaftlichen Widerpart gerne unterstellt, „Theologie oder Metaphysik“ zu betreiben (PT 45).246 4.2. Berufstypologie oder Strukturidentität. Bevor Schmitt seine Methodologie weiterführt, gilt es für ihn, noch Missverständnisse auszuräumen, die wir hier in knapper Form nachzeichnen, auch weil sie Schmitts Ansichten zum marxistischen Materialismus erhellen. Zunächst, führt Schmitt ein, sei zu bedenken, dass jede Soziologie juristischer Begriffe eine „konsequente und radikale Ideologie voraussetzt. Es wäre ein arges Mißverständnis, zu glauben, darin liege eine spiritualistische im Gegensatz zu einer materialistischen Geschichtsphilosophie“ (PT 47/48).

Max Weber habe aber recht, wenn er argumentiere, dass man einer radikal materialistischen eine ebenso radikale spiritualistische Geschichtsphilosophie gegenüberstellen könne (PT 48). Gemeinsam sei beiden, dass sie ursächliche Zusammenhänge ermitteln wollen. Die Spiritualisten führen realpolitische Verwerfungen auf Philosophien und Weltanschauungen zurück, wie dies die gegenrevolutionären Schriftsteller taten, die für den

246 Weiterführend s. Neumann (2015, S. 47 f.).

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Ausbruch der Französische Revolution die Philosophie der Aufklärung als ursächlich betrachteten, während „radikale Revolutionäre“ für politische Umbrüche die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse zur Erklärung heranziehen, wie dies die marxistische Geschichtsphilosophie tut (vgl. PT 48). Die materialistische Erklärung, die alles Denken als „Funktion und Emanation vitaler Vorgänge“ auffasst, laufe aber Gefahr, sich zu einer isolierten Betrachtung ideologischer Konsequenzen als unfähig zu erweisen, weil sie „überall nur ‚Reflexe‘, ‚Spiegelungen‘, ‚Verkleidungen‘ ökonomischer Beziehungen sieht, also konsequent mit psychologischen Erklärungen, Deutungen und, wenigstens in ihrer vulgären Fassung, mit Verdächtigungen arbeitet“ (ebd.).

Für Schmitt komme es weiterhin einer „Karikatur“ gleich, wenn auf der Suche nach den obigen ursächlichen Zusammenhängen die spiritualistische Theorie die Wirklichkeit aus der Idee und die materialistische Theorie die Idee aus der Wirklichkeit gewinnen. Beide Male würde zunächst der Gegensatz zweier Sphären konstruiert, um ihn dann „durch die Reduzierung des einen auf den anderen wieder in ein „Nichts“ aufzulösen“ (vgl. PT 48/49). Aber auch die soziologische Methode Max Webers erfährt nicht die ungeteilte Zustimmung Schmitts. Die Zurückführung von bestimmten Ideen, Ansichten und intellektuellen Gestaltungen auf einen berufstypischen Personenkreis – Schmitt wählt als Beispiel geschulte Rechtskundige als Träger der Rechtspflege – ist für Schmitt zwar ein soziologisches Problem, aber keine Soziologie eines juristischen Begriffes in seinem Sinne (PT 49). Wenden wir uns seiner Methodik etwas näher zu. Schmitts Soziologie juristischer Begriffe greift tiefer: Er setzt die staatsrechtlichen Begriffe einer bestimmten Epoche mit den theologischen und philosophischen Begriffen derselben Epoche in Beziehung. Denn es geht ihm darum, „zwei geistige, aber substantielle Identitäten nachzuweisen“ (ebd.). Deshalb habe die Soziologie des Souveränitätsbegriffs der Monarchie im 17. Jahrhundert zu zeigen, „daß der historisch-politische Bestand der Monarchie der gesamten damaligen Bewußtseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprach und die juristische Gestaltung der historischen-politischen Wirklichkeit einen Begriff finden

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III. Politische Theologie (1922).

konnte, dessen Struktur mit der Struktur metaphysischer Begriffe übereinstimmte“ (ebd.).247

Hier wird auch deutlich, dass sich die Legitimität einer bestimmten Staatsform aus seinem theologischen Hintergrund bestimmt.248 In Schmitts Systemdenken finden die metaphysische und die politische Ordnung einer Epoche in einem strukturgemäßen Weltbild zusammen:249 „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffs“ (PT 50/51).

Dies ist eine wichtige, dem historischen Materialismus konträre, Erkenntnis. Denn politische Theologie bedeutet nun: Die Metaphysik ist „der intensivste und klarste Ausdruck einer Epoche“ (PT 51). Sie ist somit der Schlüssel zum Verständnis des – in heutiger Diktion – gesellschaftlichen und politischen Systems einer Epoche. Und dieser Schlüssel böte die Möglichkeit zum Wiedereintritt Gottes in das politisch-theologische Denken – „als politischer Personalismus“.250

4.3. Die Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs. Die rekonstruierte Kongruenz von politischer und theologischer Ordnung, so fazitieren wir an dieser Stelle Schmitts Methodik, zeichnet das Bild einer Epoche. Dies wird demonstriert anhand der neuzeitlichen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs, indem er staatliche und metaphysische Begriffe gegenüberstellt.251

247 Herv. w.a.m. 248 Vgl. Rissing (2009, S. 41 f.). 249 Vgl. ebd. S. 58. Rissing erkennt auch hier das Denken eines „radikalen Ideologen“, „insofern er konsequent in politisch-theologischen Sinnbildern bzw. Konstellationen denkt“ (ebd.). 250 Vgl. Adam (1992, S. 24). 251 Siehe dazu Habfast (2010, S. 130 ff.).

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4.3.1. Theismus und Monarchie. Das erste systematische Analogon bilden die Begriffe Theismus und Monarchie. Im 17. und 18. Jahrhundert sieht Schmitt ein einheitliches Nebeneinander des epochalen Weltbildes mit der politischen Realität des Staates, weil er im vormodernen Repräsentationsdenken metaphysisch durch die Theologie legitimiert war.252 Es habe, so Neumann, „die Monarchie der gesamten damaligen Bewusstseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprochen (…)“.253 Denn die Staatslehre des 17. Jahrhunderts identifiziert den Monarchen mit Gott und positioniert ihn genau an der Stelle des Staates, „die dem Gott des kartesianischen Systems in der Welt zukommt“ (PT 51). Die Weltsicht dieses Zeitalters begriff auf der weltlichen Seite „den Souverän als eine persönliche Einheit und letzten Urheber“ und glaubte auf der religiösen Seite an eine strenge Gottesherrschaft: „ein einziger Gott regiert die Welt“ (ebd.). Der Weltbaumeister ist Urheber wie auch Gesetzgeber, er ist die legitimierende Autorität – bis zur Französischen Revolution (vgl. PT 52). 4.3.2. Repräsentations- und Immanenzdenken. Die zweite Analogie findet sich im 19. Jahrhundert, als die Naturwissenschaften eine Welt proklamierten, die nur nach rein sachlichen Gesetzen funktionierte. Das bisherige Repräsentations- hatte einem Immanenzdenken zu weichen, in dem transzendentale und theistische Vorstellungen keinen Platz mehr hatten. Auch wird die „generelle Geltung eines Rechtssatzes (…) mit der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit identifiziert“ und das juristisch-ethische Denken der Aufklärung damit verdrängt (PT 52). Die Parallelität offenbart sich hier in der Vorstellung eines Staatswesens, das mittels unpersönlicher Rechtsprinzipien alleine funktioniert: „Die generelle Geltung eines Rechtssatzes wird mit der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit identifiziert. Der Souverän, der im deistischen Weltbild, wenn auch außerhalb der Welt, so doch als Monteur der großen Maschine geblieben war, wird radikal verdrängt. Die Maschine läuft jetzt von selbst“ (PT 52).

252 Vgl. Rissing (2009, S. 56). 253 Neumann (2015, S. 49). .

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4.3.3. Deismus und konstitutionelle Monarchie. Das theistische Weltbild verfällt mit der Französischen Revolution zu einer Theologie des Deismus, die Gott „radikal“ aus der Welt drängt und jedes Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen negiert. Der staatsrechtlich analoge Begriff zum Deismus ist für Schmitt die konstitutionelle Monarchie. Sie versuche, „den König durch das Parlament zu paralysieren, ihn aber doch auf dem Thron zu lassen, also dieselbe Inkonsequenz, die der Deismus begeht, wenn er Gott aus der Welt ausschließt, aber doch an seiner Existenz festhält“ (PT 64).

Diese tiefgreifende parlamentarische Entsouveränisierung des Monarchen eröffne durch das rechtlich zulässige Eingreifen Dritter den Weg zum Rechtsstaat: „Denn die Idee des modernen Rechtsstaats setzt sich mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung“ (PT 43).

Mit dem Rationalismus der Aufklärung verschwindet jede denkbare Form des Ausnahmezustandes und damit der wesentliche Bestandteil des Begriffs der echten Souveränität im Sinne Schmitts. Bei Rousseau sei zwar die volonté générale identisch mit dem Willen des Souveräns, jedoch wird dieser quantitativ neu bestimmt. Souverän ist jetzt das Volk: „Dadurch geht das dezisionistische und personalistische Element des bisherigen Souveränitätsbegriffs verloren. Der Wille des Volkes ist immer gut (…)“ (PT 52).

Aber, wendet Schmitt ein, die Richtigkeit einer Entscheidung des Volkes entspricht nicht der Richtigkeit, die einem persönlichen Befehl des persönlichen Souveräns innewohne (vgl. ebd.). Die absolute Monarchie begründete durch die dezisionistische Lösung von Konflikten die staatliche Einheit. Hingegen fehlt der organischen Einheit des Volkes gerade dieser dezisionistische Charakter. Das Volk stellt sich als eine organische Einheit dar, das mit wachsendem Nationalismus die Vorstellung von einem „organischen Staatsganzen“ entwickelt (PT 53). Dadurch werde der theistische wie der deistische Gottesbegriff „für die politische Metaphysik unver-

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ständlich“ (ebd.). Wegen dieser Entwicklung im 19. Jahrhundert könne ein Staatsphilosoph wie Kelsen „die Demokratie als den Ausdruck relativistischer, unpersönlicher Wissenschaftlichkeit auffassen“ (ebd.). 4.3.4. Sozialismus und Anarchismus. Das vierte und letzte systematische Analogon macht Schmitt in den revolutionären Bewegungen des Sozialismus und Anarchismus aus. Im 19. Jahrhundert wird die Dominanz der Immanenzvorstellungen immer größer. Alle Identitäten in der politischen und staatsrechtlichen Doktrin dieser Zeit gründen auf ihnen, „die demokratische These von der Identität der Regierenden mit den Regierten, die organische Staatslehre und ihre Identität von Staat und Souveränität (…)“ (PT 53).

Für Schmitt waren die Schriftsteller der Restaurationszeit die ersten politischen Theologen. Sie hätten „mit Analogien aus einer theistischen Theologie versucht, die persönliche Souveränität des Monarchen ideologisch zu stützen“254 Aber der Kampf der Radikalen gegen jegliche Ordnung und den Gottesglauben, als „dem extremsten fundamentalen Ausdruck des Glaubens an eine Herrschaft und eine Einheit“, wurde immer substantieller (PT 53/54). Pierre Joseph Proudhon begann unter dem Einfluss Auguste Comtes den Kampf gegen Gott, den der Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin „mit einer skythischen Wucht“ fortgesetzt habe (PT 54). Beide sind im Verständnis Schmitts extrem radikale politische Theologen, die auf der Grundlage eines konsequenten Atheismus prophezeiten, dass sich die Menschheit an die Stelle Gottes setzen und selbstbewusst zur anarchistischen Freiheit drängen werde. Marx und Engels hätten dies klar erkannt. Schmitt zitiert den hier „intuitiven jungen“ Engels: „Das Wesen des Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich selbst“ (PT 54.). Die staatstheoretische Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist also durch zwei Momente charakterisiert: die Tilgung aller theistischen und transzendenten Vorstellungen und die Herausbildung eines neuen Legitimitätsbegriffs, da der traditionelle monarchistische alle Evidenz verloren hatte (vgl. PT 54/55). Es wird, zweitens, seit der Revolution von 1848 die

254 Neumann (2015, S. 49).

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Staatslehre positiv und an die Stelle des monarchistischen ist der demokratische Legitimitätsgedanke getreten.255 Der für Schmitts Denken wichtige katholische Staatsphilosoph und Gegenrevolutionär Donoso Cortés, der den metaphysischen Kern aller Politik geradezu verinnerlicht habe, hätte mit der Revolution von 1848 sofort erkannt, „daß die Epoche des Royalismus zu Ende ist. Es gibt keinen Royalismus mehr, weil es keine Könige mehr gibt. Es gibt daher auch keine Legitimität im überlieferten Sinne. Demnach bleibt für ihn nur ein Resultat: die Diktatur“ (PT 55).

Der Ausweg der Diktatur habe sich aus denselben Konsequenzen eines dezisionistischen Denkens auch Hobbes eröffnet: „Auctoritas, non veritas facit legem“ (PT 56). 5. Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution. Die Französische Revolution von 1789 wurde weit radikaler und bedrohlicher wahrgenommen, als die Glorreiche Revolution in England oder die Amerikanische Revolution von 1776. Sie änderte die Gesellschaftsordnung, setzte die Etablierung eines radikal neuen Systems der politischen Ordnung ins Werk und brach mit der Kontinuität der Vergangenheit – all dies im Zentrum Europas, das von Frankreich auch noch mit den Revolutionskriegen überzogen wurde.256 Diese Revolution war für Schmitt die Konsequenz der im 16. und 17. Jahrhundert einsetzenden Säkularisierung, des aufklärerisch-individualistischen Denkens, das Verfassungen nach dem Vernunftprinzip und damit gegen die göttliche Ordnung entwarf: „(…) wohl aber hat der Konservatismus seine moderne, bis heute weiterreichende Ausprägung erst als antirevolutionäre Gegenbewegung erhalten, vornehmlich und zuallererst gegenüber der Französischen Revolution von 1789“.257

255 Hinter dem Wort Positivismus verstecke die Staatsrechtslehre ihre „Verlegenheit“, oder sie gründe alle Gewalt auf den pouvoir constituant des Volkes (PT 55). 256 Vgl. Göhler/Klein (1993, S. 279). 257 Ebd. S. 317.

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Die gegenrevolutionäre Staatsphilosophie – in Person von de Maistre, de Bonald und bei Schmitt vor allem Donoso Cortés258 – habe vor allem das zwischen den beiden Revolutionen 1789 und 1848 gewachsene Bewusstsein ausgezeichnet, dass die Zeit nach einer Entscheidung verlange, weil sie eine Vermittlung für ausgeschlossen und das „ewige Gespräch“ der Romantiker Novalis und Adam Müller „wohl eher für ein Phantasieprodukt von grausiger Komik“ hielten (PT 59). Auch in der katholischen Philosophie des 19. Jahrhunderts rücke der Begriff der Entscheidung immer stärker in den Mittelpunkt (ebd.). Das gegenrevolutionäre Denken wollte die Revolutionserrungenschaften einfach rückgängig machen:259 „Alle formulieren ein großes Entweder-Oder, dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt, als nach einem ewigen Gespräch“ (PT 59).

Die Philosophie de Bonalds260, des Begründers des Traditionalismus, ist der französischen Restauration (1814–1838) zuzuordnen.261 Schmitt sieht ihn nicht als einen Traditionalisten, doch sei der Begriff der Tradition „für ihn die einzige Möglichkeit, den Inhalt zu gewinnen, den der metaphysische Glaube des Menschen akzeptieren kann, weil der Verstand des Einzelnen zu schwach und elend ist, um von sich aus die Wahrheit zu erkennen“ (PT 60).

De Bonalds Geschichtsphilosophie zeichne den Weg der Menschheit durch die Geschichte als den einer Herde von Blinden, angeführt von einem Blinden, der sich selbst an einem Stock weitertastet. Auch für ihn gelte: „Es sind die Gegensätze von Gut und Böse, Gott und Teufel, zwischen denen auf Leben und Tod ein Entweder-Oder besteht, das keine Synthese und kein ‚höheres Drittes‘ kennt“ (ebd.).

Für de Maistres Denken sei der Begriff der Souveränität zentral, „die bei ihm wesentlich Entscheidung bedeutet“ (ebd.). Den Wert des Staates sieht 258 Die genannten katholischen Staatsphilosophen (vgl. Göhler/Klein 1993, S. 279) wurden, da sie konservativ und reaktionär waren, in Deutschland als Romantiker angesehen (PT 59) – eine für Schmitt irrige Ansicht. Bereits in seiner Politischen Romantik (1919) hatte er die Theoretiker der Gegenrevolution von den deutschen Romantikern insbesondere von Novalis, Müller und Schelling strikt geschieden. 259 Im Gegensatz dazu versuchte das nachrevolutionäre Denken, die Revolution und ihre Neuerungen zu reflektieren, wenngleich auch hier die Kritik überwog (Göhler/ Klein 1993, S. 279). 260 Zu de Bonald grundsätzlich siehe Spaemann (1998) und Langendorf (2002). 261 Spaemann (1998, S. 13 f.).

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er darin, dass er entscheidet, den Wert der Kirche darin, dass sie die letzte inappellable Entscheidung ist, deren Wesen die Infallibilität ausmacht: „(…) die beiden Worte Unfehlbarkeit und Souveränität sind ‚parfaitement synonymes“ (du Pape, ch. 1) (…). Jede Souveränität handelt, als wäre sie unfehlbar, jede Regierung ist absolut (…)“ (PT 60).262

Dieser Satz, so Schmitt, hätte – wenn auch in anderer Absicht – ebenso von einem Anarchisten ausgesprochen werden können, weil in ihm die „klarste Antithese, die in der ganzen Geschichte der politischen Idee überhaupt auftritt“, enthalten sei (ebd.). Denn alle Theorien des Anarchismus – „von Babeuf bis Bakunin, Kropotkin und Otto Groß“ – beruhten auf dem Axiom, dass die Menschen gut, der Magistrat aber verdorben ist263, während de Maistre in totaler Entgegensetzung die Obrigkeit allein ihrer Existenz wegen als „gut“ proklamiert264 (PT 60/61). Begründet wird diese provozierende These mit dem Postulat, dass in der bloßen Existenz einer obrigkeitsstaatlichen Autorität eine Entscheidung liege, die wertvoll sei, „weil es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird. (…) In der Praxis ist es für ihn dasselbe: keinem Irrtum unterworfen zu sein und keines Irrtums angeklagt werden zu können; das Wesentliche ist, daß keine höhere Instanz die Entscheidung überprüft“ (PT 61).

Die Entscheidungen der Obrigkeit dürfen nicht weiter hinterfragt werden, sie haben inappellabel zu sein. Schmitt sieht in der „proletarischen Revolution von 1848“ einen tieferen und konsequenteren revolutionären Radikalismus, als in der „Revolution des dritten Standes von 1789“ (PT 61). Parallel radikalisiere sich die gegenrevolutionäre „Intensität der Entscheidung“ von de Maistres „Legitimität“ zu Donoso Cortés „Diktatur“, belegbar mit der steigenden Bedeutung der Ansicht über die gute oder böse Natur des Menschen, die jede politische Theorie voraussetzt (ebd.).265 Pädagogische oder ökonomische Ausweicherklärungen machen für Schmitt die Beantwortung dieser Frage nicht obsolet. Gilt der Mensch der rationalistischen Aufklärung als potenziell gut und „von Natur dumm und roh, aber erziehbar“, ist er

262 263 264 265

Siehe auch Gross (2005, S. 137-181; hier S. 171). (…): „le peuple est bon et le magistrat corruptible” (PT 60). (…): „tout gouvernement est bon lorsqu‘il est établi” (PT 61). Siehe hier das Kapitel Der Katholizismus des Carl Schmitt sowie das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 8).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

„für die bewußt atheistischen Anarchisten der Mensch entschieden gut und alles Böse die Folge theologischen Denkens und seiner Derivate, zu denen alle Vorstellungen von Autorität, Staat und Obrigkeit gehören“ (ebd.)

So steht dem atheistischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon266 der Gegenrevolutionär Donoso Cortés gegenüber, der seine Ansichten auf das Dogma der katholischen Erbsündenlehre267 gründete, die er zudem – so konzediert Schmitt zunächst – in dogmatisch zu kritisierender Weise polemisch radikalisiert habe, um sogleich mildernd fortzufahren, dass dies Kritik übersehe „daß es sich für Cortés um eine religiöse und politische Entscheidung von ungeheurer Aktualität handelte, nicht um die Ausarbeitung eines Dogmas“ (PT 62).268

Diese nun als strategisch zu fassende Aussage Donosos,269 so verstehen wir Schmitt, unterscheide sich von der Martin Luthers nur noch, weil er eine andere Haltung zur weltlichen Herrschaft einnehme als der Reformator, „der sich jeder Obrigkeit beugt; er (Cortés, w.a.m.) behält auch hier die selbstbewußte Größe eines geistigen Nachfahren von Großinquisitoren“ (ebd.).270

Die Auffassung Donosos, so Schmitt, „ist schrecklicher als alles, was jemals eine absolutistische Staatsphilosophie zur Begründung eines strengen Regiments vorgebracht hat“ (ebd.), kenne doch seine Verachtung des Menschen keine Grenzen mehr (PT 63).271 In Donosos „Geschichtsphilosophie ist der Sieg des Bösen selbstverständlich und natürlich und nur ein Wunder Gottes wendet ihn ab“ (ebd.).

266 „Die höchste Vollkommenheit der Gesellschaft findet sich in der Vereinigung von Ordnung und Anarchie“ (Proudhon 1840 in: Was ist Eigentum). 267 Ausführlicher hierzu s. Der Großinquisitor Dostojewskijs und Der Katholizismus des Carl Schmitt und das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 8). 268 Kodalle schließt daraus: „Theologische Inhalte also sind total fungibel, ihre Formulierung orientiert sich am politischen Bedürfnis, d.h. an der konkreten FreundFeind-Auseinandersetzung. Sie ist die anthropologische Konstante“ (Kodalle 1973, S. 47; Herv. im Original). 269 Vgl. Rissing (2009). 270 Siehe hier das Kapitel Der Katholizismus des Carl Schmitt. 271 Schmitt zitiert Donoso: „Wäre Gott nicht Mensch geworden – das Reptil, das mein Fuß zertritt, wäre weniger verächtlich als ein Mensch“ (PT 63).

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Das typische Bild seines objektivierten Eindrucks der menschlichen Geschichte ist „die blutige Entscheidungsschlacht, die heute zwischen dem Katholizismus und dem atheistischen Sozialismus entbrannt ist“ (ebd.). Donosos Hauptvorwurf gegen den Liberalismus brandmarkt die Bourgeoisie als eine „diskutierende Klasse“, die für Schmitt deshalb auch sofort „gerichtet“ ist (ebd.). Das Lavieren und Balancieren des Liberalismus unterliegt der Kritik Donosos, wie 60 Jahre später der Schmitts.272 Wir haben die Vorwürfe gegen den Liberalismus wie gegen die Inkonsequenzen des liberalen Konstitutionalismus bereits erörtert und zitieren hier Donoso, der für Schmitt von de Bonald die „unermeßlich fruchtbare Parallele von Metaphysik und Staatstheorie“ übernommen habe (PT 64), in den Worten Schmitts, dessen Bourgeoisiekritik, um sie mit derjenigen Schmitts – teils auf Hegel rückbezogen – im Begriff des Politischen vergleichen zu können:273 „Die liberale Bourgeoisie will also einen Gott, aber er soll nicht aktiv werden können; sie will einen Monarchen, aber er soll ohnmächtig sein; sie verlangen Freiheit und Gleichheit und trotzdem Beschränkung des Wahlrechts auf die besitzenden Klassen, als ob Bildung und Besitz ein Recht gäben, arme und ungebildete Menschen zu unterdrücken; sie schafft die Aristokratie des Blutes und der Familie ab und läßt doch die unverschämte Herrschaft der Geldaristokratie zu, die dümmste und ordinärste Form einer Aristokratie; sie will weder Souveränität des Königs noch die des Volkes. Was will sie also eigentlich“ (PT 64)?

Schmitt betont mit Recht, dass die Widersprüche dieses Liberalismus nicht nur Reaktionären oder Revolutionären wie Marx und Engels aufgefallen seien (ebd.). Selbst F. J. Stahl hatte für diese Ungereimtheiten eine einfache aber prägnante Erklärung: der Hass gegen die Monarchie und die Aristokratie treibe den liberalen Bourgeois nach links, die Angst um seinen Besitz wiederum „nach rechts zu einem starken Königtum, dessen Militär ihn schützen kann; so schwankt er zwischen seinen Feinden und möchte beide betrügen“ (PT 65).

Der Liberalismus der „Rede- und Preßfreiheit“ sowie der ökonomischen Handels- und Gewerbefreiheit sind für Schmitt „nur Derivate eines metaphysischen Kerns“, für Donoso nur ein kurzes Interim,

272 Schindler/Scholz (1983, S. 163). . 273 Siehe hier das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 9).

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„in dem es möglich ist, auf die Frage: Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission zu antworten“ (ebd.).

Die Überbetonung der Preßfreiheit sei nur eine weitere Methode der Liberalen, sich der Entscheidung zu entziehen und „auch die metaphysische Wahrheit“ mittels Diskussion aufzulösen (PT 67): „Sein Wesen (des Liberalismus, w.a.m.) ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutig Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren“ (ebd.).

Dieser ewig diskutierenden Entschlussfeindlichkeit setzt Donoso die Diktatur entgegen, auch weil der Apokalyptiker und Dezisionist – extrem denkend − stets das Jüngste Gericht erwartet: „Darum verachtet er die Liberalen, während er den atheistisch-anarchistischen Sozialismus als seinen Todfeind respektiert und ihm eine diabolische Größe gibt. In Proudhon glaubt er einen Dämon zu sehen“ (ebd.).274

Die Position einer Auswechslung Gottes für den Satan (s. FN) aber war, so Schmitt, nicht zu halten und Proudhon sei ohnehin nur ein „moralisierender Kleinbürger“ gewesen (ebd.). Erst Michail Alexandrowitsch Bakunin, der wohl nachdrücklichste und einflussreichste Theoretiker und Ideologe des Anarchismus erreicht in der Wahrnehmung Donosos wie Schmitts den personalen Status eines wahren Feindes. Zwar sah auch er in der Verbreitung des Satanismus „die einzig wirkliche Revolution“ (PT 68), seine intellektuelle Bedeutung aber „beruht doch auf seiner Vorstellung vom Leben, das kraft seiner natürlichen Richtigkeit die richtigen Formen von selbst aus sich selbst schafft“ (ebd.).

274 Schmitt betont, dass der Satanismus zur Zeit Donosos als ein „starkes, intellektuelles Prinzip“ galt. Literarisch wurde es u.a. von Baudelaire – Les fleurs du mal/Die Blumen des Bösen – als die Thronbesteigung Satans, des Ziehvaters jener, die Gottvater in schwarzem Zorne aus dem irdischen Garten Eden geworfen hat (Les Litanies de Satan/ Die Satans-Litaneien), und die des Brudermörders Kain, während Abel den Bourgeois verkörpert – umgesetzt (vgl. PT 67). Schmitt zitiert nur das französische Original (ebd.): „Race de Cain, au ciel monte, Et sur la terre jette Dieu!“ (Schwinge zum Himmel dich auf, Stamm Kains, Zur Erde schmettere Gott!) – Wir ergänzen zum besseren Verständnis die kontrastierende Charakterisierung Abels: „Race d’Abel, chauff ton ventre, À ton foyer patriarcal.“ (Stamm Abels, wärm deinen Bauch, In deinem Patrizierhaus. (Aus Baudelaire’s Fleurs du mal: Abel et Cain/Abel und Kain Übersetzung: w.a.m.). Der Vers „Race d’Abel (…)“ steht im Original vor „Race de Cain (…)“.

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III. Politische Theologie (1922).

Negativ sei für ihn nur die theologische Lehre von Gott und der Sünde, die den Menschen als Bösewicht brandmarkt und eine Theologie, die von außen das natürliche und wahre Leben „künstlich oktroyiert“ (ebd.). Wenn hingegen Anarchisten das Patriarchat durch das urzuständliche Matriarchat ersetzen wollen, zeige sich dadurch ein starkes Bewusstsein für tiefe Zusammenhänge, wie die Auflösung der Familie durch den Verlust der väterlichen Autorität belegt. Dessen sei sich Donoso bewusst gewesen, sehend, „daß mit dem Theologischen das Moralische, mit dem Moralischen die politische Idee verschwindet und jede moralische und politische Entscheidung paralysiert wird in einem paradiesischen Diesseits unmittelbaren, natürlichen Lebens und problemloser „Leibhaftigkeit“ (ebd.).

„Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische“ (ebd.), beklagt Schmitt, wolle doch eine große liberalistische, technizistische, marxistische, sozialistische und anarcho-syndikalistische große Koalition „die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens“ beseitigen (vgl. ebd.). So scheine der Staat wirklich ein „Großer Betrieb“ geworden zu sein, wie dies Max Weber sehe (PT 69). Die Konsequenz aus all den vorstehend genannten Anwürfen gegen das Politische ist, dass dessen Kern: „die anspruchsvolle moralische Entscheidung“, umgangen wird. Die Konsequenz der Gegenrevolutionäre sei die starke Zuspitzung des Moments der Dezision, die „schließlich den Gedanken der Legitimität, von dem sie ausgegangen sind, aufhebt (ebd.). Für Donoso hieß dies, seinen Dezisionismus in dem Moment zu vollenden und die politische Diktatur bzw. eine ex nihilo getroffene Entscheidung zu verlangen, als er sah, dass auch die konstitutionelle Monarchie an ihr Ende gelangt war.275 „Das ist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität“ (ebd.). So teilen Revolution und Gegenrevolution die Erkenntnis, dass jede Regierung notwendig absolut ist, nur dass ein Anarchist daraus auf der Basis seines „Der-Mensch-ist-gut-die-Regierung-ist-korrupt-Axioms“ die Folgerung zieht, „daß eben jede Regierung bekämpft werden müsse, weil jede Regierung Diktatur ist“ (ebd.). So ergebe sich für Bakunin

275 „Jetzt gab es für ihn nur noch einen Weg zur Rettung: die Diktatur. Das war ein Begriff, dessen sich der romanische Geist des Spaniers schnell bemächtigen konnte und der seinem Dezisionismus entsprach, dessen eigentliche Energie aber in der Sphäre eines revolutionären Demokratismus liegt und der in ein System konservativer Ideen und Gefühle nur als fremdes Element von außen eintritt"(PB 85, Donoso Cortez in Berlin.).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

„die seltsame Paradoxie, daß er theoretisch der Theologe des Anti-Theologischen und in der Praxis der Diktator einer Anti-Diktatur werden mußte“ (PT 70).

Carl Schmitt stand mit seiner Meinung keineswegs alleine, wenn er schlussfolgerte: „Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlagert, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen“ (PT 64).

Aus dieser Ansicht entwickelte sich die Suche nach einer antiliberalen Theorie, nach einem Gegenkonzept der Begründung des Politischen. Fündig wurde man in Konzeptionen autoritativen Inhalts, weil die Formalität des parlamentarischen Entscheidungsverfahrens „als schwächliche Kapitulation des politischen Willens vor der Rechenhaftigkeit von Ökonomie und Technik galt“.276 Von Schmitt wurde die „Politische Theologie“ Donosos, die sich gegen die bürgerliche Revolution des 19. Jahrhunderts richtete, mittels staatsrechtlicher Termini aktualisiert und so zu einer bürgerlichen Abwehrtheorie gegen eine proletarische Revolution formiert.277 6. Katholizismus als politisches Credo. 278 Seit seinem Wechsel nach Bonn exponiert sich Schmitt als Katholik in einer Zeit, in der der Katholizismus um eine Neubestimmung seines Verhältnisses zur Moderne überhaupt und um die Integration der literarischen Moderne im Besonderen ringt. Der Einfluss Søren Kierkegaards erfasste auch Schmitt und Teile seines Bekanntenkreises aus Münchner Zeiten, wie Theodor Haecker279, Franz Blei280 und Konrad Weiß281. Ein Ziel war die

276 Schindler/Scholz (1983, S. 164). 277 Ebd. 278 Mehring formuliert für die nähere Zukunft Schmitts treffend: Katholizismus als politisches Credo (Mehring 2009: 142). 279 Haecker (1879-1954) war Schriftsteller, Kulturkritiker und Übersetzer, der Werke und Tagebücher von Søren Kierkegaard und des engl. Kardinals John Henry Newman übertrug. 280 Blei (1871-1942) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift Summa. 281 Weiß (1880-1940) war ein deutscher Dichter und Teil der Münchner Kulturszene, der zum Umfeld des politischen Katholizismus gerechnet wurde. In seinem Traktat Der christliche Epimetheus (1933) berief er sich auch auf Carl Schmitt.

298

III. Politische Theologie (1922).

Überwindung eines bloßen Ästhetizismus und eine erneuerte religiöse Bindung, die aber vornehmlich außerhalb der klerikalen Organisationen gesucht wurde.282 Starke Einflüsse aus der französischen Bewegung des Renouveau catholique und der Action française beeinflussten den diskursierenden deutschen Katholizismus und Carl Schmitt: „Im breiten Strom katholischer Publizistik wurde damals Verschiedenes vertreten: Laienreligiosität und Mystik am Rande der Kirche ebenso, wie Ästhetizismus, autoritärer Etatismus und Anarchismus“.283

Schmitt verkehrt in Kreisen des Jungkatholizismus284, seine Schriften erscheinen vor allem in katholischen Zeitschriften und Zeitungen wie dem Hochland, der Germania oder der Kölnischen Volkszeitung. Politisch steht er dem Zentrum nahe und hält Vorträge auf Parteiversammlungen, ohne sich vom politischen Katholizismus vereinnahmen zu lassen. Schon am 11.06.1922 erkennt er: „Ich gehöre wirklich nicht in dieses Zentrumsmilieu“,285 – was nichts daran ändert, dass er inzwischen als ein katholischer Staatsrechtslehrer wahrgenommen wird. Nunmehr in Bonn allein lebend, muss Schmitt sein Leben neu gestalten. Über die juristischen Kreise hinaus, sucht er neue Bekanntschaften und findet sie vor allem bei Theologen.286 Eine neue Bekanntschaft mit einer jungen Münchner Ärztin ist Anfang 1923 schon wieder beendet. Ebenfalls Anfang 1923 lernt er die 19 Jahre junge Philosophiestudentin Dušanka (Duška) Todorović kennen, die serbokroatische Unterlagen seiner Scheidungspapiere übersetzt. Sie treffen sich bereits am nächsten Abend wieder. Als er aber Kenntnis davon bekommt, Kathleen Murray gehe es in ihrer australischen Heimat schlecht, verfasst er vom Gewissen geplagt Liebesbriefe und denkt sogar wieder an Verehelichung. Hart trifft ihn, dass in München seine Noch-Ehefrau Cari seine Möbel verkauft und sich ins

282 Mehring (2009, S. 143). 283 Ebd. 284 Aus Schmitts Beschäftigung mit Fragen der Theologie und des Kirchenrechts ergaben sich vielfältige Kontakte. Wichtig wurden insbesondere seine Freundschaft – bis 1933 – mit dem evangelischen Theologen Erik Peterson, der später – angeblich unter dem Einfluss Schmitts (Noack 1993, S. 40) – zum Katholizismus konvertierte (siehe dazu nur Mehring 2009, S. 182 ff.) und dem Fundamentaltheologen Karl Eschweiler (s. Mehring 2009, S. 180 f.; 254 f.). 285 Mehring (2009, S. 145). 286 Zu Einzelheiten s. ebd. S. 152 f..

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Ausland abgesetzt hat. Anfang April 1923 erscheint der Katholizismus-Essay, während Schmitt schon an seiner Parlamentarismusschrift arbeitet.287 IV. Das Krisenjahr 1923. „Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen ‚1923‘-Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolution, soziale Krisen, Streiks, Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische, groteske Übersteigerung von alledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand.“ Sebastian Haffner 288

Die Erinnerungen Sebastian Haffners unterstreichen, warum man von einem Krisenjahr geradezu sprechen muss. Aufstände, Putschversuche, wachsende politische Gewalt von Extremisten, Reparationsforderungen und Inflation – die junge Republik verliert dramatisch an Legitimität. Wer sehen wollte, konnte sehen, dass trotz des erreichten Zahlungsaufschubs die vorgesehenen Reparationsleistungen von Deutschland nicht mehr zu leisten sein würden. Es muss nicht näher ausgeführt werden, wie stark Schmitt von diesem Katastrophenszenario beeinflusst war. 1. Szenarium einer Staatskrise. Die Ermordung des Erfüllungspolitikers Rathenau war ein tiefer Schock mit weltweiten Auswirkungen für die Republik.289 Es setzte umgehend ein rapider Verfall der Währung ein. Ein Dollar kostete im August 1922 tausend Papiermark, im Oktober dreitausend und im Dezember siebentausend. Die Regierung ersuchte deshalb ein zweites Mal um Stundung der 1922 fälligen Beträge und um Aussetzung der Barzahlungen 1923 und 1924, erreichte aber nur einen vorläufigen Zahlungsaufschub, die laufenden Zahlungen mussten weiter geleistet werden. Da ein erhoffter Auslandskredit nicht zustande kam, war die notwendige Bereitstellung von

287 Vgl. Mehring (2009, S. 153 ff.). 288 Haffner (2001, S. 53). 289 Nachstehend s. Longerich (1995, S. 127-130).

300

IV. Das Krisenjahr 1923.

320 Mio. Goldmark für den Zeitraum vom 15. Juli bis 15. Dezember illusorisch.290 Mit der Reparationsnote vom 14. November 1922 ersuchte man um ein Moratorium für drei bis vier Jahre und sagte rigide Sparmaßnahmen sowie eine Erhöhung der Produktivität zu, um Haushalt und Handelsbilanz sanieren zu können. Dazu sollte auch das Arbeitszeitrecht neu geregelt und der Achtstundentag festgeschrieben werden – eine hochpolitische Zeitbombe, handelte es sich um „eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften des November 1918“291. Sicherheitspolitisch wurden die alte und die neue Verordnung zum Schutz der Republik in ein entsprechendes Gesetzt überführt und mit gleichem Ziel ein Staatsgerichtshof eingerichtet. Das antipreußische wie antisozialistische Bayern aber schlug erneut einen Sonderweg ein, der letztlich in einem zweiten – nur mit süddeutschen Richtern besetzten – Senat nur für süddeutsche Angelegenheiten bei diesem Staatsgerichtshof führte. In Bayern, aber eigentlich in München, hatte sich eine breite Front rechtsextremer Agitatoren gegen das Republikschutzgesetz formiert. Ihr Hauptvorwurf ließ sich unter dem Titel eines Ausverkaufs bayerischer Interessen bündeln und führte zum Rücktritt des Ministerpräsidenten v. Lerchenfeld. Ihm folgte der weiter rechts stehende Eugen Ritter v. Knilling nach. Höhepunkt der rechten Aktionen war eine machtvolle Kundgebung im August 1922, an der ein großes Kontingent der NSDAP teilnahm. Der Konflikt mit dem Reich schuf einen guten Nährboden für einen Agitator wie Adolf Hitler, dessen Reputation nun auch in etablierten rechten Kreisen zu steigen begann.292 Bolschewismus, Internationalismus, die Versailler Siegermächte und „die Juden“ waren die Hauptdrohungen in ihrer Agitation. Damit unterschieden sie sich wenig von den diffusen völkischantisemitischen Prägungen anderer rechtsextremer Gruppierung. Strukturell aber waren sie der nationalsozialistischen Partei schon jetzt unterlegen. Longerich fasst dies prägnant in drei Strukturelementen. Hitler, der unumschränkte „Führer“293 der NSADP, war, erstens, zugleich Hauptinhalt der Parteipropaganda, präsentiert als Lichtgestalt und Werbeikone in dunkelgrauer Gegenwart. Die Propaganda, zugeschnitten auf Hitler, orientierte sich, zweitens, an den Methoden der Geschäftsreklame: Auffallen

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Kraus (2014, S. 53). Winkler (2000, S. 433). Zum Aufstieg der NSDAP siehe hier nur Evans (2005; insb. S. 239-326). Der Ruf nach einem Führer war seit dem Ersten Weltkrieg unter nahezu allen rechten Gruppierungen verbreitet.

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

durch provokantes Auftreten, die Signalfarbe „Rot“ als Parteifarbe, ständige Wiederholung der Kernpunkte, inhaltlich reduziert auf Propagandaparolen, direkter Appell an die Massen und antielitäres Auftreten. Letzteres wurde, drittens, propagandistisch wirksam umgesetzt durch die nationalsozialistische Sturmabteilung, die SA294, die als paramilitärischer Verband von der Reichswehr unterstützt wurde. Parteiintern wurde sie zum Machtelement Hitlers, auf den sie eingeschworen war, nach außen hatte sie Stärke, Geschlossenheit und Gewaltbereitschaft zu demonstrieren. Sie schien „durch ihren zielgerichteten Einsatz im Auftrag einer politischen Bewegung einen entschlossenen politischen Willen zu verkörpern“.295

Das Parteienspektrum änderte sich. Im Juli 1922 bildete sich die „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Reichstagsfraktionen“, im September schloss man sich zur „Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ zusammen. Den Weg dazu hatte schon Ende 1920 die Abspaltung des linken Flügels der USPD bereitet. Im Gegenzug und als Gegengewicht verbanden sich Zentrum und DDP mit der DVP und der BVP zur „Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte“. Hier hatte sich die DVP der Regierung im Oktober 1922 angenähert; sie stimmte dem Republikschutzgesetz und der verfassungsändernden Verlängerung der Amtszeit des Reichpräsidenten bis 1925 zu. Sie wäre im Dezember 1922 ausgelaufen. 2. Die Regierung Cuno: Unvorbereitet und ratlos. Die SPD lehnte in dieser Situation eine Erweiterung der Weimarer Koalition um die DVP ab, womit auch das Regierungsbündnis am Ende war. Der Reichspräsident ernannte in dieser Lage den parteilosen Generaldirektor Wilhelm Cuno zum Reichskanzler und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Die Minderheitsregierung aus überwiegend rechts stehenden „Fachleuten“ und Politikern des bürgerlichen Blocks (Zentrum, BVP,

294 Die SA entstand im Oktober 1921 aus der „Turn- und Sportabteilung“ der NSDAP, der sich im August 1921 die ehemaligen Mitglieder der zwangsweise aufgelösten Brigade „Erhard“ anschlossen. Vermittelt hatte dies Ernst Röhm, der spätere Chef der SA. Röhm verfügte über beste Kontakte zur Reichswehrführung, zu den höheren Kreisen der bayerischen Politik und zu den anderen paramilitärischen Wehrverbänden (s. Evans 2005, S. 270 f.). 295 Longerich (1995, S. 129).

302

IV. Das Krisenjahr 1923.

DDP und DVP) war, da es keine Koalitionsvereinbarung gab, auf die Tolerierung durch die Sozialdemokraten oder Deutschnationale angewiesen.296 Die Regierung Cuno hatte sich als Erstes dem immer akuter werdenden Reparationsstreit zu stellen. Das deutsche Ersuchen um ein Moratorium für drei bis vier Jahre und eine Neufestsetzung der Reparationsleistungen vom 14. November 1922 war von Frankreich abschlägig beschieden worden. Zudem forderte Frankreich „produktive Pfänder“, weil man den deutschen Willen zur Erfüllung der Reparationsleistungen grundsätzlich anzweifelte.297 Dies ist durchaus vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Reich die „Finanzpolitik einer rücksichtslosen Staatsverschuldung“ nach 1918 ungebremst fortführte, um den wirtschaftlichen und sozialen Folgelasten des Krieges überhaupt begegnen zu können. Das sich steigernde Missverhältnis von Einnahmen zu Ausgaben – „die nur zum kleineren Teil von Versailler Lasten verursacht wurde“ – hatte dazu geführt, dass spätestens seit 1921 die Notwendigkeit einer drastischen Währungsreform feststand, weil ein konventioneller Budgetausgleich nicht mehr durchführbar war.298 Diese inflationstreibende Finanzmalaise ließe sich, wie man glaubte, strategisch gegen die Höhe der Reparationsleistungen instrumentalisieren – erfolglos. Die Alliierten forderten eine Stilllegung der Notenpresse und einen Etatausgleich nötigenfalls durch drastische Steuererhöhungen.299 Am 26. Dezember 1922 wurde ein schuldhafter Rückstand bei den Sachlieferungen festgestellt, am 9. Januar bei den Kohlelieferungen. Dieser „vorsätzliche Bruch der Reparationsverpflichtungen“300 lieferte Frankreich – gegen die Stimme Großbritanniens – den Grund für eine Handhabung der „produktiven Pfänder“: Am 11 Januar marschierten französische und belgische Truppen im Ruhrgebiet, Deutschlands wichtigste Industrieregion, ein.301 Es gibt nicht den Grund für die französische Rigidität, aber das Geschehen lässt sich sicher mit dem französischen Primärziel titulieren: für Frankreichs Sicherheitsinteressen muss Deutschland entscheidend

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Longerich (1995, S. 131). Ebd. Siehe Kolb/Schumann (2013, S. 45). Ebd. Ebd. S. 51. Longerich (1995, S. 131). „Poincarés Maxime lautete: ‚Keine Moratorien ohne Pfänder‘“ (Kolb/Schumacher 2013, S. 51).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

geschwächt werden und schwach bleiben.302 Ein logischer Schritt wäre sicher auch in der Autonomisierung der Rheinregion nach saarländischem Modell gewesen. Oder wollte Frankreich Deutschland schlicht in Chaos und Bürgerkrieg versinken lassen, um sich dann als die kontinentale Ordnungsmacht darstellen zu können?303 Winkler fazitiert: „Hinter dem Sicherheitsinteresse aber stand mehr: die Untermauerung des französischen Anspruchs auf die Vormachtstellung in Kontinentaleuropa.“304

Das Reich reagierte „mit einem nahezu einmütigen Aufschrei nationaler Empörung“305, die Reaktionsmöglichkeiten aber waren begrenzt. Erneut dachte man eine Überprüfung der deutschen Leistungsfähigkeit durch eine unabhängige Expertenkommission an, verwarf diesen Plan aber angesichts eines sich steigernden und wütender werdenden Nationalismus306 als unangemessen weich. Die Regierung setzte im Inneren auf „Burgfrieden“ und „Einheitsfront“. Sie stellte mit großer Mehrheit im Reichstag und mit Unterstützung der Gewerkschaften die Reparationszahlungen ein, die man allerdings ohnehin nicht hätte leisten können, rief die Bevölkerung zu schärfstem passivem Widerstand gegen die französisch-belgischen Gewaltmaßnahmen auf, wies die Beamten dazu an, nicht für die Besatzer tätig zu werden und den Zechen verbat man Kohlelieferungen nach Frankreich; die Besatzer unterbanden dafür die Kohlelieferungen ins Reichsgebiet. Eine extreme Haltung präsentierten die Nationalsozialisten. Hitler bezeichnete seine Bewegung als die „Rachearmee des Vaterlandes“ und gab die Parole aus: „Nieder mit den Novemberverbrechern“.307 Bis März 1923 konnten die Besatzer keine Reparationen erzwingen, jetzt aber antworteten sie mit der Schließung von Zechen und Kokereien, übernahmen den Eisenbahnverkehr – die Löhne und Gehälter aber hatte das Reich zu bezahlen. Ebenso mussten der Eisen- und Stahlindustrie hohe Darlehen für die Lohnfortzahlung gewährt werden. Dadurch wurde das Ruhrgebiet finanziell zu einem Fass ohne Boden, die Hyperinflation ging

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Siehe ebd. S. 132. Siehe Kraus (2014, S. 56). Winkler (2000, S. 435). Kolb/Schumacher (2013, S. 51). Siehe Herbert (2014, S. 207). Winkler (2000, S. 435; nachst. vgl. ebd.).

IV. Das Krisenjahr 1923.

ins Crescendo über und der Außenwert der Mark implodierte förmlich.308 Die vage Hoffnung, in diesem Abwehrkampf die Unterstützung Londons zu gewinnen, erfüllten sich trotz aller Kritik an Frankreich nicht. Man riet diskret zur Aufgabe des Widerstands und zu neuen Verhandlungen.309 Das offensichtliche Scheitern des Konzeptes eines passiven Widerstandes verstärkte auf der radikalen Rechten den Drang zum aktiven Widerstand in Form der Sabotage. Insbesondere Sprengstoffattentate auf Eisenbahnanlagen – von der deutschen Regierung anfangs toleriert – wurden verübt. Bei einem dieser Anschläge konnte der Unteranführer und Nationalsozialist Leo Schlageter verhaftet werden. Er wurde von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai erschossen. Der Ruhrwiderstand hatte seinen Märtyrer.310 Der Deutschlandexperte der Komintern, Karl Radek, unternahm den Versuch, mithilfe der Person des „Faschisten“311 Schlageter die nationalrevolutionäre in eine sozialrevolutionäre Bewegung zu wandeln. Um dies zu erreichen, hätten aber die nationalistischen Massen ihren Führern entfremdet werden müssen. In Moskau und bei der Komintern sah man die Chance, bei einem Befreiungskrieg Deutschlands gegen Frankreich die gesamte Nachkriegsordnung umzuwälzen und die Durchbruchsschlacht der Weltrevolution zu gewinnen, sollten sich die faschistisch verführten nationalen Massen zu einer Aktionseinheit mit und unter den Kommunisten bewegen lassen. Diese Bemühungen waren zwar erfolglos, unter den Arbeitern aber hatte die KPD größeren Erfolg bei Betriebsratswahlen, Mitgliederzuwachs und Wahlen.312 In Sachsen trug die Einheitsfronttaktik der KPD erste Früchte; sie stützte die rein sozialdemokratische Regierung, was sie freilich nur als Zwischenschritt auf dem Weg zu einer revolutionären Situation sah.313

308 Die Reichsbank konnte durch Stützungskäufe – finanziert durch den Verkauf von Devisen und Goldreserven – von Februar bis April den Wert der Mark zum Dollar bei etwa 21.000 Mark stabilisieren. Ende Mai fiel der Wert auf 48.000, im Juni auf 110.000 Mark (Winkler 2000, S. 435 f.). 309 Siehe Kraus (2014, S. 57). 310 Siehe Longerich (1995, S. 133); siehe Winkler (2000, S. 436). 311 Seit Mussolinis Marsch auf Rom und insbesondere seit der Machtübernahme war es bei der kommunistischen wie der sozialdemokratischen Linken üblich geworden, die extreme Rechte der kapitalistischen Länder als „Faschisten“ zu bezeichnen (Winkler 2000, S. 436). 312 Vgl. Winkler (2000, S 436 f.; zu Einzelheiten ebd.). 313 Siehe Longerich (1995, S. 134 f.).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Während des Ruhrkampfes gab es Versuche von verschiedensten Seiten, die Reichsregierung weiter zu schwächen. Zu nennen sind: die Unterstützung separatistischer Bewegungen durch Frankreich; das Ausbrechen – insbesondere Hitlers – aus der „Einheitsfront“; die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände“ in Bayern (radikal-völkische Kräfte mit der nationalsozialistischen SA), die in die versteckten Mobilmachungsvorbereitungen der Reichswehr einbezogen war, wodurch die SA den Charakter eines Wehrverbandes erhielt.314 Im Sommer 1923 begann das Kollabieren der Wirtschaft, denn die grassierende Hyperinflation hatte die Inflationskonjunktur zum Versiegen gebracht, die immer schlimmere Geldentwertung war kontraproduktiv geworden. Der Einzelhandel begann Waren zu horten, Hungerdemonstrationen wurden organisiert, Hamsterkäufe und Plünderungen mehrten sich. Die Regierung bekämpfte in ihrer Ratlosigkeit Zweitsymptome wie Alkoholmissbrauch, Wucher und das Zurschaustellen von Luxus – der augenscheinliche Beweis einer immer stärker werdenden Ungleichheit, der Gesellschaftsspaltung und des Sinnverlustes.315 Die einsetzende Verzweiflungsstimmung schaffte sich mit den sog. „Cuno“-Streiks Luft. Die Regierung trat am 13. August 1923 zurück. 3. Scherben einer Ehe. Schmitt hat weiterhin Klärungsbedarf mit Mietanteil und Lebensunterhalt von Cari, die er jetzt nur noch „die Dame“ nennt. Ein offizielles Scheidungsverfahren ist freilich immer noch nicht eingeleitet. Noch immer fehlen tragfähige Beweise. Sein Privatszenario präferiert zu dieser Zeit die Scheidung von Cari und die Hochzeit mit Kathleen. Es ist schon Herbst, als amtlich wird, dass Schmitt einer Hochstaplerin aufgesessen ist. Die adelige Herkunft und das Geburtsdatum sind Erfindungen. Wir wissen, dass alarmierende Verdachtsgründe schon seit Frühjahr 1920 vorlagen. Nachvollziehbar ist aber auch die Deutung, dass Schmitt erst 1922 den wissenschaftlichen Status hatte, einen Skandal zu überstehen. Für seine Heiratspläne mit der katholischen Irin Kathleen Murray wäre eine Nichtigkeitserklärung der Ehe über die Scheidung hinaus von großer

314 Ebd. 315 Vorst. vgl. ebd. S. 136.

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3. Scherben einer Ehe.

Bedeutung gewesen, weil dies ihm gestattet hätte, erneut kirchlich zu heiraten. Dreh- und Angelpunkt des erforderlichen kirchenrechtlichen Verfahrens wird dabei die Frage, ob das Eheversprechen nicht gegeben worden wäre, wenn Cari von nur einfacher Herkunft gewesen wäre, Schmitt also nur eine Adelige hätte heiraten wollen. Der Prozess, inzwischen nach Bonn verwiesen, zieht sich.316 In Bonn sucht Schmitt von Anfang an Kontakte über die eigene Fakultät hinaus.317 Der Musikwissenschaftler Arnold Schmitz wird ihm ein Freund fürs Leben. Im Lehrbetrieb stellen sich erste Promovenden bei ihm vor. Er pflegt verwandtschaftliche Kontakte in der Nähe Bonns, trifft auch alte Bekannte, beispielsweise aus Münchner Tagen Georg von Schnitzler, und er besucht Eislers in Hamburg.

316 Siehe vorst. Mehring (2009, S. 151 f.). 317 Zu Einzelheiten s. ebd. S. 152.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form318 (1923).

I. Einführung. 1923 erscheint Carl Schmitts 1922 verfasstes vielbeachtetes Essay Römischer Katholizismus und politische Form, das von dem Kirchenhistoriker und Schmitt-Freund Hans Barion in den Rang einer „Bekenntnisschrift“ erhoben wird, und jedenfalls in katholischen Kreisen – unterschiedlich gedeutet „als eine Zustandsbeschreibung, ein Idealbild oder als eine Handlungsvorschrift für katholische Politiker“ – weite Beachtung findet.319 Ohne Frage hat Schmitt mit dieser kleinen Schrift die katholische Flagge gehisst und eine eminent politische Stellungnahme abgegeben, „die der katholischen Kirche als Institution und formbildende Kraft in einem Augenblick gerecht zu werden sucht, in dem die politische Form als Wert verschwindet“320.

In dieser Schrift über die „politische Idee“ (RK 14) des Katholizismus, die er, so Mehring, „mit der Brille der Gegenrevolutionäre schreibt“,321l legt Schmitt sein Katholisch-Sein offen.322 Dabei lehnt er sich an de Maistres Preisung der „obrigkeitlichen Autorität“ der Kirche an (ebd.).323 Bereits 1917 hatte Schmitt den Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche (SdK) publiziert, in dem Hernández-Arias bereits den Kern des Katholizismus-Essays

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Sigle = RK. Vgl. Noack (1993, S. 72). Ebd. S. 73. Mehring (2009, S. 14) Seinen privaten Glauben, so Mehring, vertraut er seinem Liebestagebuch an. Persönlicher Hintergrund ist seine Beziehung zu Kathleen Murray (ebd.). 322 Wir vertreten den Standpunkt, dass es sich bei der Katholizismus-Schrift primär um eine juridische und idealtypische Beschreibung der hierarchisch organisierten katholischen Kirche handelt, die auf seinem katholischen Selbstverständnis basiert, und vermeiden deshalb bewusst die Klassifizierung als „Bekenntnisschrift“ (so Eichhorn 1994, S. 57, mit weiteren Nachweisen). 323 De Maistre hatte letztlich einen „Cäsaro-Papismus“, die Einheit von Kirche und Staat, und die Vereinigung der Kirchen unter der Führung des Papstes angestrebt (so v. Beyme 2002, S. 235).

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I. Einführung.

ausmacht.324 Die „Sichtbarkeit“ der Institution der katholischen Kirche rechtfertige sich aus dem Glauben an die Menschwerdung Gottes, die Christologie wird zum Ausgangspunkt des institutionellen Denkens. Auch für Schmitt ist das Mysterium der Menschwerdung Gottes zentral.325 „Weil Gott in Wirklichkeit sichtbarer Mensch geworden ist, darf kein sichtbarer Mensch die sichtbare Welt ihr selbst überlassen“ (SdK 79). Diese beiden Schriften stützen die These von Mathias Eichhorn, „daß der Katholizismus entscheidenden Einfluß auf Carl Schmitt ausgeübt hat, und zwar in jeder Phase seines Denkens“.326

Akzeptiert man diese Ansicht, widerspricht man zugleich dem Irrationalismusverdacht, unter den Schmitt u.a. von v. Krockow (1958), Sontheimer (1983) und Löwith (schon in 1930er Jahren) gestellt worden war.327 Schmitt selbst beschreibt seine Verwurzelung im Katholizismus so: „Für mich ist der katholische Glaube die Religion meiner Väter. Ich bin Katholik nicht nur dem Bekenntnis, sondern auch der geschichtlichen Herkunft, wenn ich so sagen darf, der Rasse nach“ (GL 131).328

Dem Katholizismus bleibt er sein Leben lang treu, auch als ihm die Kirche die Annullierung seiner ersten Ehe versagt und er deshalb von seiner Wiederheirat 1926 bis zum Tod seiner zweiten Frau 1950 von der Sakramentengemeinschaft ausgeschlossen ist. Eine Abwendung erfolgte zwar, so Motschenbacher, aber kein totaler Bruch mit der Kirche und damit seiner Grundorientierung.329 Jedoch folgt seinem Lob des Katholizismus und seiner politischen Idee kein Engagement für den politischen Katholizismus330 (ebd.).

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Hernández-Arias (1998, S. 217). Mehring (1988, S. 57). Eichhorn (1994, S. 48); siehe dazu auch Breuer (2012, S. 34). Vgl. Eichhorn (1994, S. 48 ff.); siehe die Ausführungen von Quaritsch (1991, S. 25- 35; hier, S. 25). 328 Dies hieß für den katholischen Denker Schmitt aber nicht, sich automatisch für den politischen Katholizismus zu engagieren (Motschenbacher 2000, S. 47). Für Günter Maschke war Schmitt nie ein „Vertreter des politischen Katholizismus“, sondern immer dessen Gegner (Maschke 1987, S. 123). 329 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 47). Für diese Position siehe Noack (1992, S. 42-46). Andere Interpretationsansätze bieten Mehring (1989) und Meier (1994). 330 Das Zentrum wurde 1878 als katholische Partei gegründet und verkörperte die religiösen und konfessionellen Konflikte der deutschen Gesellschaft. Die Katholiken standen nicht nur abseits der preußisch-protestantischen Vorherrschaft im

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Will man diese stark katholische Lebensphase Schmitts von 1917 bis 1926 objektiv einwerten, darf die allgemeine Lage der Katholiken bis zur und in der Weimar Republik nicht ausgeklammert werden.331 Die Katholiken waren bis 1918 im kulturellen wie im politischen Leben eine ausgegrenzte, unterrepräsentierte, weitgehend in sich geschlossene Religionsgemeinschaft, die in ihrer großen Mehrheit nach wie vor vom Kulturkampf Bismarcks geprägt war.332 Mit Blick auf Schmitt persönlich ist zu konstatieren, dass auch die Universitätswelt ausschließlich protestantisch geprägt war.333 Angesichts dieser Minderheitenlage wurde Schmitt von manchen als der Repräsentant einer neuen katholischen Staatslehre angesehen, den es für den Katholizismus zu vereinnahmen galt, so dass sich ihm die repräsentativen katholischen Zeitschriften Hochland und Abendland als Publikationsorgane anboten.334 II. Römischer Katholizismus und politische Form. „Gott kann nicht mehr zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat.“ Cyprian335

Carl Schmitts theologische Problemstellung ist ekklesiologisch ausgerichtet, sie fragt: Was ist Kirche?336

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Kaiserreich, sondern wurden auch im „Kulturkampf" unterdrückt und verfolgt. Dieser Druck von außen ließ die junge Partei aus allen Klassen und Schichten besonders eng zusammenhalten, auch mithilfe eines verzweigten Vereins- und Verbandssystems. Bis in die Weimarer Republik hinein war das Zentrum das stabilste Element im Parteiensystem. Und sie wäre durchaus als die erste deutsche Volkspartei zu bezeichnen, wenn sie sich nicht nur allein auf den katholischen Bevölkerungsteil beschränkt hätte (umfassend Morsl. Vgl. Lönne (1994, S. 11). Die soziale Benachteiligung schwand in der Weimarer Republik nur allmählich, das Kultur- und Minderheiten-„Trauma“ prägte bis in das Dritte Reich hinein – auch eine Folge der zahlreichen katholischen Schulen und Vereine, in denen die katholische Jugend neben der Familie mit diesen Zeit- und Lebenserfahrungen sozialisiert wurde (siehe dazu auch die positivere Darstellung bei Büttner (2010, S. 276-282). Motschenbacher (2000, S. 48, mit weiterem Nachweis). Hollerbach (2004, S. 118). Cyprian, zit. nach Adam (1992, S. 18). Adam (1992, S. 17).

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

„Man kann nicht glauben, daß Gott Mensch geworden ist, ohne zu glauben, daß es, solange die Welt bestehen wird, auch eine sichtbare Kirche gebe“ (SdK 75).

Für Carl Schmitt ergibt sich die Sichtbarkeit der Kirche, die „Einbürgerung der Gemeinde in (die) Welt“,337 aus ihrem Wesen, das wesentlich Vermittlung von oben ist. 1. Der antirömische Affekt. „Es gibt einen antirömischen Affekt. Aus ihm nährt sich der Kampf gegen Papismus, Jesuitismus und Klerikalismus, der einige Jahrhunderte europäischer Geschichte bewegt, mit einem riesenhaften Aufgebot von religiösen und politischen Energien“ (RK 5).

Gewohnt markant eröffnet der Impresario der ersten Sätze sein berühmtes Katholizismus-Essay, mit dem er gegen eben jenen „antirömischen Effekt“ anschreibt. Schmitt erläutert 1970 im Rückblick die Zielsetzung seiner Katholizismus-Schrift: „Mein Essay spricht nicht von einer Affinität der Kirche zu bestimmten Formen praktischer Einheit (Monarchie oder Demokratie); er verteidigt die einzigartige politische Form der Römischen Kirche als die weltgeschichtlich sichtbare Repräsentation des in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Christus, die sich in drei Formen ihrer Öffentlichkeit manifestiert: als ästhetische Form in ihrer großen Kunst, als juristische Form in der Ausbildung ihres kanonischen Rechts und als ruhm- und glanzvolle weltgeschichtliche Machtform“ (PT II 27-28; Herv., w.a.m.).

Somit zeigt sich expressis verbis, dass Carl Schmitt die katholische Kirche 1922 als eine – im Wesen politische338 – Weltmacht ansieht.339 Weiterhin eröffnet das Zitat, dass sich der antirömische Affekt gegen drei Formelemente richtet bzw. richten kann: die ästhetische Form der Kirche, ihre Rechtsform sowie ihre weltliche Machtform.340 Der Kern der antirömischen Opposition „bleibt aber immer die Angst vor der unfaßbaren politischen Macht des römischen Katholizismus“ mit seiner ungeheuren – das

337 Harnack, zit. nach Adam (1992, S. 17). 338 „Der Katholizismus ist aber im eminenten Sinne politisch, zum Unterschied von dieser absoluten ökonomischen Sachlichkeit“ (RK 27). 339 Hernández-Arias (1998, S. 218). 340 Ottmann (2010, S. 235).

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

religiöse Leben kontrollierenden – hierarchischen und zölibatären Bürokratie (RK 6). 2. Die katholische Kirche als eine complexio oppositorum. Ein Hauptvorwurf des „parlamentarischen und demokratischen“ 19. Jahrhunderts gegen die Kirche war der eines „grenzenlosen Opportunismus“ der katholischen Politik, die es erlaube, mit den verschiedensten Regierungen und Parteien Koalitionen zu schließen, einerseits das monarchische Bündnis von Thron und Altar zu predigen und andererseits in den schweizerischen Bauerndemokratien und in Nordamerika fest auf dem Boden der Demokratie zu stehen (RK 6 f.): „Mit jedem Wechsel der politischen Situation werden anscheinend alle Prinzipien gewechselt, außer dem einen, der Macht des Katholizismus“ (RK 7/8).

Der politischen Idee des Katholizismus fehlt demnach eine bestimmte Zielvorstellung, besser geschrieben, darf sie eine solche gar nicht haben, wenn sie der institutionellen Fassung der katholischen Kirche als einer complexio oppositorum nicht des Fundaments und damit ihrer Macht berauben will.341 So stellt Hans Barion knapp und unzweideutig klar: „Die Kirche kennt und hat kein politisches Bekenntnis“.342 Und Schmitt befindet: „Unter dem Gesichtspunkt einer Weltanschauung werden alle politischen Formen und Möglichkeiten zum bloßen Werkzeug der zu realisierenden Idee“ (RK 9)

Die Fähigkeit, ob ihres „politischen Universalismus“ (RK 9) alle Gegensätze in sich vereinigen zu können, ist für Schmitt der wesentliche Stützpfeiler der kirchlichen Macht: „Ich glaube, der Affekt (antirömische, w.a.m.) würde sich noch unendlich vertiefen, wenn man es in seiner ganzen Tiefe begriffe, wie sehr die katholische Kirche eine complexio oppositorum ist. Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie nicht erfaßt“ (RK 11).

Ermöglicht wird diese integrierende Kraft der katholischen Kirche, die Kraft der Einheit der Vielheit zu sein, durch das zentrale theologische

341 Vgl. Eichhorn (1994, S. 58). 342 Barion (1965, S. 161).

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Prinzip der dogmatischen Akkommodation, worunter – weit und allgemein gefasst – eine Anpassung der Kirche an eine bestimmte zeitgeschichtliche Kultur zu verstehen ist, in der sie sich artikulieren muss.343 Schmitt wende dieses Prinzip, so Eichhorn, wohl ohne es zu kennen, mit „sicherem Instinkt“ an.344 Im Text folgt nun die Aufzählung der kirchlich vereinigten Gegensätze, – jedoch: „Carl Schmitt führt alle Vorurteile ad absurdum, die gegen die katholische Kirche von ihren Feinden aufgestellt worden sind und verwandelt sie in Tugenden.“345

So walte auch in der Theologie selbst eine complexio oppositorum. Schmitt benennt für diese These den Marcionismus (RK 12), der zwischen einem guten Gott der Liebe im Neuen Testament, wie Jesus ihn verkündete, und einem bösen Gott des Alten Testaments, der für die mangelhafte – „in materieller Grobheit wahrgenommene“ – Schöpfung346, das Gesetz und das Gericht verantwortlich war. Deshalb weist der Marcionismus das Alte Testament vollständig zurück, weil er – gnostisch – den Demiurgen als einen bösen Gott auffasst und für das Schlechte und das Leid dieser Welt verantwortlich macht.347 Die Berufung auf eine „natürliche Theologie“ beruhe so auf einer theologischen Zurückweisung des marcionistischen „Entweder-Oder“ zugunsten eines „Sowohl-Als-Auch“, das aber keineswegs auf einer dialektischen Synthese beruhe. Im Ergebnis gelten so Altes und Neues Testament nebeneinander (RK 13).348 Der Kirche gelingt sogar die Vereinigung kontradiktorischer anthropologischer Ansätze,

343 Vgl. dazu Motschenbacher (1994, S. 59 ff.) „Hintergrund ist die Vorstellung von der Dynamik der christlichen Selbstentfaltung der christlichen Offenbarung. Auch wenn diese als eine überzeitliche Größe betrachtet werden müsse, sei der Vollzug der Wahrheitserkenntnis immer geschichtlich“ (Eichhorn 1994, S. 59/60). 344 Eichhorn (1994, S. 61). Schmitt: „Zu jedem Weltreich gehört nun ein gewisser Relativismus gegenüber der bunten Menge möglicher Anschauungen, rücksichtslose Überlegungen und zugleich opportunistische Toleranz in Dingen, die keine zentrale Bedeutung haben“ (RK 9/10). 345 Hernández-Arias (1998, S. 218). 346 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marcion: „inter urinas et faeces nascimur“ („zwischen Urin und Kot werden wir geboren“). 347 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marcion. 348 Eichhorn (1994, S. 61).

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aber keinesfalls in Form einer romantischen „Synthese“ (vgl. RK 14/15).349 Diese Fähigkeit führt, so Schmitt, zu einer wirklichen Überlegenheit der Kirche, „wie sie bisher kein Imperium gekannt hat“: Gelungen sei dies durch „eine substantielle Gestaltung der historischen und sozialen Wirklichkeit (…), die trotz ihres formalen Charakters in der konkreten Existenz bleibt, lebensvoll und doch in höchstem Maße rational ist. Diese formale Eigenart des römischen Katholizismus beruht auf der strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation“ (RK 14).

Die complexio oppositorum ist ein Mittel des römischen Katholizismus, seine Weltorganisation zu sichern bzw. auszubauen. Laufend infrage gestellt ist sie „Prämisse zugleich für die Steigerung von Katholizität“.350 Das zweite Mittel ist der Mechanismus der Entfaltung mittels Repräsentation „von oben“.351 3. Das Prinzip der Repräsentation. Die substantielle Gestaltung der Wirklichkeit, so Schlee prägnant, gründet auf der Antithetik von Form und Materie, wobei die Form sich über der Materie der menschlichen Existenz behauptet. Diese Überlegenheit der Form – die Gestaltung der Existenz nach Ideen und Prinzipien – beruht auf dem Prinzip der Repräsentation.352 Repräsentation meint dabei in der Katholizismusschrift zunächst: Stellvertretung. „Der Papst ist nicht der Prophet, sondern der Stellvertreter Christi“ (RK 23/24). Da er es qua Amt ist und somit vom Charisma unabhängig, „erhält der Priester eine Würde, die von seiner konkreten Person ganz zu abstrahieren scheint“ (RK 24). Das Amt geht in ununterbrochener Reihe auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi selbst zurück. Keineswegs aber ist er

349 350 351 352

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Schlee (2015, S. 94/95); siehe auch Schindler/Scholz (1983, S. 169). Grünberger (1989, S. 37). Ebd. S. 36. Schlee (2015, S. 95). Die Repräsentation setzt wie jede Darstellung drei Dinge voraus: eine darstellende Person, ein darzustellendes Thema und ein Publikum, das bei der Darstellung anwesend ist (ebd.).

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

„der Funktionär oder Kommissar des republikanischen Denkens und seine Würde nicht unpersönlich wie die des modernen Beamten. Das ist wohl die erstaunlichste complexio oppositorum“ (ebd.).353

Der Begriff der Repräsentation ist für Schmitts Argumentation von großer Bedeutung, da er zugleich ein prägender seiner Staatslehre ist. So definiert er in seiner Verfassungslehre: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen“ (VL 269).354

Für Armin Adam ist bei Schmitt die Problematik der politischen Einheitsbildung zentral, weil diese Einheit – nach dem Vorbild der römisch-katholischen Kirche – erst durch Repräsentation hergestellt wird. Nur wenn der Staat als der Status eines Volkes gefasst werde, gelänge wegen der personalen Qualität des Volkes die Repräsentation.355 Die politische Macht des Katholizismus ist weder ökonomisch noch militärisch begründet, die Kirche ist eine „konkrete persönliche Repräsentation konkreter Persönlichkeit“ und zudem – unbestritten – die wahre Erbin der römischen Jurisprudenz (RK 31). Zwei zentrale Prinzipien tragen also die politische Idee des Römischen Katholizismus: die Repräsentation und die Kraft zur juristischen Form: „Aber sie hat die Kraft zu dieser wie zu jeder Form nur, weil sie die Kraft zur Repräsentation hat. Sie repräsentiert die civitas humana, sie stellt in jedem Augenblick den geschichtlichen Zusammenhang mit der Menschwerdung und dem Kreuzesopfer Christi dar, sie repräsentiert Christus selbst, persönlich, den in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Gott“ (RK 31/32).

Es ist diese Kraft zur Repräsentation, die die Überlegenheit der katholischen politischen Idee im Zeitalter des ökonomischen Denkens sichert, es ist die katholische Kirche mithin die einzig verbliebene Kraft, die fähig

353 Vgl. Schindler/Scholz (1983, S. 170). 354 Zu den Unterschieden der Repräsentation des Staates gegenüber der der Kirche vgl. nur Eichhorn (1994, S. 64 ff.). In der Verfassungslehre wird Schmitt 1928 explizieren: „Repräsentation ist kein normativer Vorgang, (…) sondern etwas Existentielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen“ (…) „In der Repräsentation kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung“(VL 209; 210). 355 Vgl. Adam (1994, S. 93 f.) „Die Annäherung, die die politische Einheit an den Begriff der Kirche erfährt, bildet ein Zentrum der Schmitt‘schen Argumentation“ (ebd. S. 94). Ausführlich dazu siehe hier M. Verfassungslehre.

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zur Repräsentation ist (vgl. RK 31 f.).356 Hat doch die bürgerliche Gesellschaft ihr Vermögen zur Repräsentation verloren und entfaltet dualistisch ihre zwei Polaritäten: den Bourgeois und den Bohemien (vgl. RK 34). Für Carl Schmitt kennt das ökonomische Denken nur ein Formprinzip: die technische Perfektion, „und das ist die weiteste Entfernung von der Idee des Repräsentativen“ (ebd.), weil das ökonomisch-technische Amalgam die Realpräsenz der Dinge erfordert (vgl. RK 35). Der Moderne ging der Sinn für das Transzendentale verloren, sie kann nur noch materielle Surrogate schaffen und als Ersatz anbieten, um diesen Verlust zu verschleiern.357 Mit der fortlaufenden Ökonomisierung des Denkens entschwindet den Menschen dieser Moderne „auch das Verständnis für jede Art der Repräsentation“ (RK 42/43) – eine These, die sich bereits in der Politischen Romantik wie in der Politischen Theologie findet.358 Das Repräsentationsprinzip des heutigen Parlamentarismus entspricht nicht dem der Kirche, denn: „Sie repräsentiert konsequent‚ von oben‘“ (RK 43). Schon in dem frühen Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche hatte Schmitt ausgeführt: „Der Mittler steigt hernieder, weil die Vermittlung nur von oben nach unten, nicht von unten nach oben erfolgen kann, die Erlösung liegt darin, daß Gott Mensch (nicht daß der Mensch Gott) wird“ (SdK 75).

„Von oben“ zu repräsentieren, verleiht dem notwendig personalen Repräsentanten Autorität, und die in ihm personifizierte Idee ist es, die der Macht erst ihre Autorität verleiht359 und die gegenwärtige Einmaligkeit der katholischen Kirche als weltliche Institution begründet360. Das Wesen des Katholizismus unterscheidet nicht zwischen der Kirche im religiösen Sinn und der Kirche im Rechtssinn: „In Römischer Katholizismus wird die Macht des Katholizismus auf die Überlegenheit dieser Tatsache begründet“.361

Ein wesentliches Element der Repräsentation ist die Sprache: „Denn die Fähigkeit zur Form, auf die es hier ankommt, hat ihren Kern in der Fähigkeit zur Sprache einer großen Rhetorik“ (RK 37/38).

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Vgl. Hernández-Arias (1998, S. 218). Vgl. Motschenbacher (2000, S. 53). Siehe (PT 82) und (PR 20). Motschenbacher (2000, S. 54); siehe Mehring (1988, S. 54 f.). Vgl. Hernández-Arias (1998, S. 218). Ebd.

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

Die „repräsentative Rede“, die auf einen Diskurs verzichtet, eine „nichtdiskutierende und nichträsonierende“ Predigt, ist in den Augen Schmitts das Entscheidende (vgl. RK 39). Lebendig gestaltet soll sie durch Antithesen werden, die aber zur complexio gefasst werden. Möglich ist eine Predigt als Repräsentationsmittel nur „vor dem Hintergrund einer imponierenden Autorität“ (RK 40). Diese wieder ist nur denkbar in einer hierarchischen Ordnung, „denn die geistige Resonanz der großen Rhetorik kommt aus dem Glauben an die Repräsentation, die der Redner beansprucht“ (ebd.). Dass die repräsentative und anpassungsfähige Rhetorik eine wesentliche Funktion im Rahmen der complexio oppositorum einnimmt, steht außer Frage.362 4. Autorität und politische Form. Die Figur der – Autorität verleihenden – personifizierten politischen Idee verweist auf den „Gedanken persönlicher Autorität“, der uns in Schmitts Verfassungslehre wieder begegnen wird und der für Armin Adam „zur Basis seiner politischen Formenlehre“363 wird.364 Das Element der personalen Repräsentation in der Kirche365 wirkt im Staatsverständnis Schmitts, indem es einen Weg zur politischen Einheit aufzeigt.366 Um ein politisches System auf Dauer zu stellen, reicht eine reine Technik der Machtbehauptung – im Sinne Machiavellis etwa – nicht aus. Es kann nur bestehen, wenn es der Ausdruck eines geistigen Prinzips bzw. einer Idee ist: „Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung“ (RK 28).

Schon Hugo Ball hatte 1924 in seiner essayistischen Monographie Carl Schmitts politische Theologie erkannt, dass Carl Schmitt sein „persönli-

362 Siehe Grünberger (1989, S. 36). 363 Adam (1992, S. 100). 364 Eichhorn (1994, S. 2) macht darauf aufmerksam, dass er den Katholizismus Schmitts auf die Kirche und ihr Formprinzip beschränkt. 365 Selbst die Würde des Priesters ist im Gegensatz zu einem Beamten nicht unpersönlich, „sondern sein Amt geht, in ununterbrochener Kette, auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi zurück. Das ist wohl die erstaunlichste complexio oppositorum“ (RK 24). 366 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 55).

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ches, fast ein privates System“ auf Dauer stellen will und deshalb seine ganze Erfahrung um die eine Grundüberzeugung gruppiert, „daß Ideen das Leben beherrschen; daß das Leben niemals nach seinen Bedingungen, sondern nur nach freien, unbedingten, ja bedingenden Einsichten, eben nach Ideen, geordnet und aufgebaut werden kann“.367

Denn wird der Staat technizistisch nur als eine „große Maschine“ (RK 33) aufgefasst, „so ist er aus der Welt des Repräsentativen verschwunden“ (RK 36). Transzendenz und Tradition sind Elemente, die der katholischen Kirche Macht und Autorität verleihen. Orientiert sich – der Kirche analog – ein Staat ebenso an der Transzendenz und bezieht aus dieser Autorität Macht und Wahrheit, kann er kein negatives Verhältnis zur Macht haben.368 Weil das Christentum die weltliche Macht anerkennt, hat es dieser „eine neue Grundlage unterschoben“ (SdK 74). Da die katholische Kirche eine machtbewusste Haltung einnimmt, ist es für Schmitt nur natürlich, dass sie diese auch anzuwenden sucht (RK 53): „In der Geschichte der römischen Kirche steht neben dem Ethos der Gerechtigkeit auch das der eigenen Macht. Es ist noch gesteigert zu dem von Ruhm, Glanz und Ehre. Die Kirche will die königliche Braut Christi sein; sie repräsentiert den regierenden, herrschenden, siegenden Christus. Ihr Anspruch auf Ruhm und Ehre besteht im eminenten Sinne auf dem Gedanken der Repräsentation“ (ebd.).

Dass die Kirche Christus und das Christentum als sichtbare Institution inszeniert und nicht im Raum des Privaten belässt, „das ist der große Verrat, den man der römischen Kirche zum Vorwurf macht“ (RK 53). Ob man diesen „Sündenfall“ in der rechtlichen Organisation der Kirche, in ihrer Form, erblickt, wie Rudolf Sohm,369 oder in dem Drang des Katholischen zur Weltherrschaft, bleibt sekundär, denn: „Die Kirche wird, wie jeder weltumfassende Imperialismus, wenn er sein Ziel erreicht, der Welt den Frieden bringen, aber darin erblickt eine formfeindliche Angst den Sieg des Teufels“ (RK 54).

367 Ball (1924, S. 263). 368 Motschenbacher (2000, S. 56). Der Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff formuliert 1933: „Autorität ist nur aus der Transzendenz möglich“ (Forsthoff 1933, S. 30). 369 Siehe Adam (1992, S. 15).

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II. Römischer Katholizismus und politische Form.

5. Katholische Kirche und Kapitalismus. Wir hatten bereits konstatiert, dass mit Einfall und Ausbreitung des ökonomischen Denkens „das Verständnis für jede Art von Repräsentation schwindet“ (RK 42/43). Dem Kapitalismus fehlt im Gegensatz zur Kirche die Fähigkeit zur Form ebenso wie „jenes Pathos der Autorität in seiner ganzen Reinheit“ (RK 31); er ist in seiner ganzen Rechenhaftigkeit nicht dazu in der Lage, eine Idee zu erfassen.370 Denn die instrumentelle Vernunft – bei Schmitt: das „ökonomische Denken“ – kennt nur seine eigene Sachlogik, es kennt nicht Zweck und Norm außerhalb dieser Eigenlogik des Erwerbs von Geld und immer noch mehr Geld371. „Kein großer sozialer Gegensatz lässt sich ökonomisch lösen. Wenn der Unternehmer den Arbeitern sagt: ‚Ich ernähre euch‘, so antworten ihm die Arbeiter: ‚Wir ernähren dich‘, und das ist kein Streit um Produktion und Konsumption, es ist gar nichts Ökonomisches, sondern entsteht aus einem verschiedenen Pathos moralischer und rechtlicher Überzeugung“ (RK 30).

Hingegen ist die Rationalität des Zwecks ein wesentliches Element der katholischen politischen Idee.372 Die Rationalität der Kirche akzeptiert „die moralische, psychologische und soziologische Natur des Menschen“, dem sie eine Richtung gibt und nicht nur auf Manipulation und Nutzbarmachung abstellt.373 Ergo sind Kapitalismus und politische Idee der römischkatholischen Kirche inkompatibel: „Eine Vereinigung der katholischen Kirche mit der heutigen Form des kapitalistischen Industrialismus ist nicht möglich. Der Verbindung von Thron und Altar wird keine von Büro und Altar folgen, auch keine von Fabrik und Altar“ (RK 40/41).

Der Kapitalismus wird von der complexio oppositorum der Kirche nicht erfasst374, sie opponiert im Gegenteil gegen das kapitalistische System375, eben weil der Kirche ihr spezieller Rationalismus eigen ist (vgl. RK

370 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 53). „Die heute herrschende Art ökonomischtechnischen Denkens vermag eine politische Idee gar nicht mehr zu perzipieren. Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb“ (PT 69). 371 Siehe Weber (2005, S. 41); vgl. Schlee (2015, S. 96). 372 Vgl. Eichhorn (1994, S. 68). 373 Schlee (2015, S. 96/97). 374 Siehe dazu auch ebd. S. 94 ff. 375 Vgl. Mehring (2009, S. 147).

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23 ff.).376 An kaum einer anderen Stelle, so v. Waldstein, werde klarer, dass Schmitts „Fronstellung gegen den Kapitalismus auf der einen Seite in seiner tiefen Katholizität, auf der anderen Seite in seiner Überzeugung wurzelt, daß der Herrschaft des Geldes jegliche politische Stiftungskraft abgehe“.377

In der Tat sind der Katholizismus und die katholische Kirche der ökonomischen Sachlichkeit gegenüber unvermeidlich politisch, für Schmitt eine Folge des „In-der-Welt-Seins“ der Kirche aber auch ihres Ethos der Gerechtigkeit. Sie muss auch politisch bleiben, will sie überleben, denn gelänge es dem ökonomischen Denken, den Staat zu entpolitisieren,378 verbliebe nur noch die katholische Kirche als eine gleichsam asylbietende Institution, die das politische Denken und die politische Form aufnehmen und tragen kann.379 Die Kirche hätte in diesem Falle „ein ungeheuerliches Monopol, und ihre Hierarchie wäre der politischen Weltherrschaft näher als jemals im Mittelalter. Nach ihrer eigenen Theorie und ideellen Struktur dürfte sie freilich einen solchen Zustand nicht wünschen, weil sie den politischen Staat, eine ‚societas perfecta‘ und nicht einen Interessenten-Konzern neben sich voraussetzt. Sie will mit dem Staat in der besonderen Gemeinschaft leben, in der zwei Repräsentationen sich als Partner gegenüberstehen“ (RK 42).

Zum Feind der Kirche erhebt sich somit jedes System, das einen herrschaftslosen Zustand herbeiführen will, das alles zur Privatsache degradieren will und in dem nichts mehr repräsentativ ist. Dann herrschen die „Gesetze des Marktes“, es zählen nur noch die Beziehungen der Dinge zueinander und es gibt keine Idee mehr, die mit ihrem unbedingten Geltungsanspruch eine substantielle Gestaltung der Existenz erlaubt:380 „Solange nämlich ein Rest von Idee besteht, herrscht auch die Vorstellung, daß vor der gegebenen Wirklichkeit des Materiellen etwas präexistent ist, transzendent, und das bedeutet immer eine Autorität von oben“ (RK 45).

376 „Dieser Rationalismus liegt im Institutionellen und ist wesentlich juristisch; seine große Leistung besteht darin, daß er das Priestertum zu einem Amte machte (…)“ (RK 23). 377 v. Waldstein (2008, S. 148/149). 378 Aus der Sicht des ökonomischen Denkens sind politische und juristische Form nur Störfaktoren, wenn es auch noch Residuen (privat)rechtlicher Begriffe bedarf, wie Besitz und Vertrag (vgl. RK 46 f.). 379 Vgl. Hernández-Arias (1994, S. 221). 380 Schlee (2015, S. 96).

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Geschichtlich fängt für Schmitt die „Privatisierung“ beim Fundament, der Religion an, war doch das Individualrecht der Religionsfreiheit das erste „im Sinne der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“, war Anfang und Prinzip (RK 47). Das hat Konsequenzen: „Aber wohin man immer das Religiöse stellt, es zeigt überall seine absorbierende, verabsolutierende Wirkung, und wenn das Religiöse das Private ist, so ist infolgedessen auch umgekehrt das Private religiös geheiligt. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Das Privateigentum ist also heilig, gerade weil es Privatsache ist“ (RK 47/48).

Die juristische Formierung der katholischen Kirche ist dagegen ob ihres repräsentativen Wesens publizistisch. 6. Autorität und Anarchismus. Anarchie – das Thema ist uns schon und wird uns wieder begegnen – leuchtet für Schmitt bereits in dem Verlangen der großkapitalistischen Industriemagnaten auf, einen freien und unbeschränkten Markt zu schaffen. Gleiches gilt für den Liberalismus, der den Staat in ein Nichts auflösen will, indem er ihn aus dem Gesellschaftlichen verbannt und „wenn man den Mechanismus des ökonomischen und Technischen seiner immanenten Gesetzmäßigkeit überläßt“ (RK 60). Angesichts dieser Bedrängnis von allen Seiten, denen Politik und Autorität ausgesetzt sind, erscheint Schmitt der größte Anarchist des 19. Jahrhunderts, Bakunin, nur als ein „naiver Berserker“, der gegen Religion, Politik, Theologie und Jurisprudenz „mit skythischer Wucht“ (RK 61) wütet (vgl. RK 60 f.) und, wie wir schon sahen, im Glauben an den einen Gott den Ursprung aller Knechtschaft und allen Übels ausmacht (RK 61).381 Für Schmitt ist es Bakunins „barbarisch ungebrochener Instinkt“ (RK 62), der ihn den „fabelhaften Mut“ (RK 63) aufbringen lässt, gerade das – begrifflich stigmatisierte – „Lumpenproletariat“382 als den eigentlichen Träger eines revolutionären Sozialismus auszumachen:

381 Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. 382 Der Begriff, von Karl Marx geprägt, ist vielschichtig und umstritten und partiell vom Vorurteil geschwängert. Er umfasst eine Vielfalt von unproduktiven Menschen mit unterschiedlicher Klassenherkunft, meistens aber Proletarier, die auf der untersten Stufe der Gesellschaftsschichtung existieren. Das Pariser Lumpenproletariat von 1848, mit dem Bonaparte gegen die Republik revoltierte, be-

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„Ich verstehe unter der Blüte des Proletariats gerade jenes ewige Kanonenfutter der Regierungen, jene große Kanaille, die von der bürgerlichen Zivilisation noch fast unberührt ist und in ihrem Inneren, in ihrem Inneren und Instinkten alle Keime des Sozialismus der Zukunft trägt“ (RK 63).

Das wendet sich explizit auch gegen Karl Marx und dessen Intellektualismus, der im Kommunistischen Manifest das Lumpenproletariat „durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert“ sieht, es aber für bereitwilliger hält, „sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“ (MEW 4, 472). Dieses „klassenkämpferische Proletariat“ nun steht der westeuropäischen Tradition und Bildung genauso fremd gegenüber wie „das von Europa sich abwendende Russentum“, die in der russischen Räterepublik – für Schmitt „eine tiefe ideengeschichtliche Richtigkeit“ – zusammenfanden (RK 63 f.). Mit dem Gottesglauben werden auch die traditionelle westeuropäische Bildung und die Tradition geschliffen. Zwar könne „in dem russischen Haß gegen die westeuropäische Bildung mehr Christentum liegen“, als im Liberalismus oder im deutschen Marxismus, der Liberalismus aus katholischer Sicht ein schlimmerer Feind sein kann als der atheistische Sozialismus „und daß in der Formlosigkeit potentiell die Kraft zu einer neuen, auch das ökonomisch-technische Zeitalter gestaltenden Form liegen könnte“ (RK 64). Dank ihrer alles überlebenden Dauer brauche sich die Kirche in der Frage: Barbarentum oder Liberalismus, nicht zu entscheiden, weil sie auch hier die complexio alles Überlebende sein wird: „Sie ist die Erbin“ (RK 65). Aber dann wird Schmitt zunächst kryptisch: Auch wenn sie sich nicht für eine der kämpfenden Parteien erklären könne, müsse die katholische Kirche gleichwohl „tatsächlich“ auf einer Seite stehen, so wie sie einst auf

schreibt Marx wie folgt: „Neben zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen (…) dieser Auswurf Abfall Abhub aller Klassen (…)“ (Karl Marx: 18. Brumaire. MEW 8, 106 f.). Schmitt versteht darunter „ein ‚Proletariat‘, zu ihm gehören aber auch der Bohemien des bürgerlichen Zeitalters, der christliche Bettler und alle Erniedrigten und Beleidigten“ (RK 62).

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II. Römischer Katholizismus und politische Form.

der gegenrevolutionären Seite gestanden habe. In für Schmitt moderater Diktion macht er aber doch deutlich, „daß sich die Kirche in dem grundlegenden Konflikt zwischen der Aufrechterhaltung des Politischen als Wahrung von Idee und Gedanke gegenüber der Verabsolutierung des Politischen einer Parteinahme nicht enthalten könne“.383

Dann bezieht Schmitt Position: Zwei großen Massen, „zwei große Ströme, die an ihre Dämme stoßen“, sieht er die westeuropäische Tradition und Bildung bedrohen: „das klassenkämpferische Proletariat der großen Städte und das von Europa sich abwendende Russentum. Von der überlieferten westeuropäischen Bildung aus gesehen sind beide Barbaren“ (RK 63/64).

Indem er seine Verteidigung des Politischen mit der katholischen Kirche in Relation setzt, fordert er vom Weimarer Katholizismus zugleich, sich den grundlegenden politischen Fragen zu stellen.384 Carl Schmitt geht es in seiner Katholizismus-Schrift primär um den Staat. Am Beispiel des Katholizismus und dessen Fähigkeit zur Repräsentation und zur Form, die ihm Würde und Autorität verleihen, gemahnt er die gegenwärtige Politik und den Staat an die Kraft zur politischen Einheitsbildung und zur Dezision. Die Kritik, Schmitt habe nur die Institution der katholischen Kirche im Blick gehabt, dabei aber die Religion vergessen, verweisen wir auf die An- und Einsicht von Mathias Eichhorn: „Diese Autorität der Idee des römischen Katholizismus beruht aber nun nicht alleine auf der göttlichen Einsetzung des Petrusamtes und damit auf der Repräsentation Christi. Damit soll auf das zurückgekommen werden, was der römische Katholizismus im eigentlichen Sinne – man ist versucht zu sagen: unabhängig von Christus, dessen Repräsentation eine dogmatische Angelegenheit ist, die im Zusammenhang mit der Sakramentenlehre zu erörtern wäre und Schmitt hier nicht interessiert – was er also noch repräsentiert: Es ist die Kontinuität von katholischer Kirche und römischem Imperium“.385

383 Lönne (1994, S. 14). 384 Ebd. 385 Eichhorn (1994, S. 69) Näher dazu siehe hier Der Großinquisitor Dostojewskijs und der Katholizismus des Carl Schmitt.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts. „Verachtet ihr die Menschheit oder achtet ihr sie, ihr, die ihr ihre künftigen Erretter sein wollt?“ Fjodor M. Dostojewskij386

Ziehen wir zunächst mit Reinhard Mehring ein kleines Zwischenfazit des Frühwerks von Carl Schmitt.387 Es „bot drei Orientierungsanker und Institutionen auf, die zu bestimmten Zeiten – in geordneter Normallage oder chaotisch-unmittelbaren Zeiten – ihre je eigene Ausgabe und Berechtigung haben: Staat, Kirche und den Einzelnen“.388

Der Wert des Einzelnen und die Bedeutung des Staates (1914) hatte noch vor dem Großen Krieg für den Staat als einen „Diener“ des Rechts plädiert. Die mittel- wie unmittelbaren Auswirkungen des Krieges, vor allem der Tod seines Freundes Fritz Eisler, der ihn zuerst Gott, Mensch und Welt verwerfen ließ, bewirkten letztlich – wie das Nordlicht zeigt – eine Neubesinnung auf die katholische Kirche. Davon zeugen seine Schriften Die Sichtbarkeit der Kirche (1917), Politische Romantik (1919), Politische Theologie (1922) und Römischer Katholizismus und politische Form (1923). In Die Sichtbarkeit der Kirche, seine „einzige explizit theologische Veröffentlichung“389, bekennt er: „Wer die Sünde der Menschen noch so tief erkennt, wird durch die Menschwerdung Gottes wieder zu dem Glauben gezwungen, dass der Mensch und die Welt ‚von Natur gut‘ sind. Denn Gott will nichts Böses (SdK 451)“.

Dieses Wiederaufleben des Religiösen beeinflussten Schriftsteller wie Theodor Haecker und Franz Blei.390 Sein „Katholisch-Sein“391 gab Schmitt nie auf, aber unter dem Eindruck seines gescheiterten Antrags auf Annullierung seiner ersten Ehe ist eine gewisse Entfremdung von bzw. Reserviertheit gegenüber der amtskirchlichen Lehre auszumachen, jedoch

386 Brief Dostojewskijs vom 11.6.1879, hier zitiert nach Motschenbacher (2000, S. 314.) 387 Mehring (2009, S. 218 f.) 388 Ebd. S. 218. 389 Ebd. S. 96. 390 Ebd. S. 97. 391 Vgl. hier das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

„institutionelles Unrecht war für die Generation Schmitts kein Grund, an der Kirche zu zweifeln, eher wurde der Glaube gestärkt“392.

Unter dem Einfluss der radikalen Staats- und Kirchenkritik der Freunde Franz Blei und Hugo Ball allerdings näherte er sich einem religiösen Individualismus an. Mehring hält sogar Schmitts „Sprung in den religiösen Individualismus und Anarchismus, in die gnostische Verwerfung des Gesamttableaus“ für möglich.393 Diese Möglichkeit war real, hatte sich Schmitt doch bereits vor seinen Münchner Jahren (Februar 1915 bis Oktober 1921) ab 1912 laut seiner Tagebücher – im Zuge seiner schwärmerischen Beschäftigung mit Däublers Das Nordlicht – mit mystischer Literatur, Astrologie, Okkultismus, Theosophie, Mithraskult und eben auch mit der Gnostik befasst.394 Überhaupt und grundlegend ist davon auszugehen, dass sich Carl Schmitt auf Sinnfragen z.B. mit den üblichen „Priesterphrasen“395 kaum zufriedengeben konnte, denn „die religiöse Auseinandersetzung konzentrierte sich ihm auf Literatur und Dichtung“396, wie sein Befasstsein mit Däubler und Dostojewski zeigen. Seine Neigung zum religiösen Pessimismus überwindet er mit Kierkegaard, weil er sich überzeugen lässt, „dass die Frömmigkeit auch im Zweifel besteht“.397 1. Der Großinquisitor Dostojewskijs. 1.1. Einführung. Die Inquisition war ein kirchenrechtliches Verfahren zur Ermittlung von Häretikern, das sich in Spanien der Folter bediente. Ziel waren dort vor allem die zum Christentum konvertierten Juden, von denen man annahm, im Geheimen weiterhin die jüdischen Bräuche auszuüben. Um sie von öffentlichen Ämtern fernzuhalten, erließ man Statuten zur Reinhaltung des Blutes, die zu einer Trennung von Christen und Juden im sozialen Zusammenleben führen sollten. Diese Blutreinheitsstatuten lehnte sogar der Jesuit

392 393 394 395 396 397

Lauermann (1994, S. 305.) Mehring (2009, S. 218/219.) Siehe Breuer (2012, S. 17 ff.) mit Nachweisen; siehe hier D. Das Nordlicht. Mehring (2009, S. 96). Ebd.; nachstehend ebd. S. 97. Ebd.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Ignatius von Loyola ab. Königin Isabella von Kastilien wandte sich tief besorgt an Rom, um eine Erlaubnis für die Errichtung einer speziellen Inquisition zu erbitten. Geleitet wurde diese durch einen vom König ernannten, vom Papst bestätigten und bevollmächtigten „Großinquisitor“. Der Einfluss der staatlich-weltlichen Monarchen auf die neue Institution war entsprechend groß, wenn der Großinquisitor seine Jurisdiktion auch nur vom Papst empfing. Praktisch war die Inquisition ein Werkzeug des Staates.398 Der Großinquisitor, dessen Geschichte Dostojewskij ein Jahr vor seinem Tod im 5. Kapitel des 5. Buches seines Romans Die Brüder Karamasow durch den Mund seines Protagonisten Iwan erzählen lässt, beschäftigt Carl Schmitt in seinen Schriften immer wieder. Jacob Taubes sieht die Figur des Großinquisitors – Schmitt charakterisierend – gar in dessen Person inkarniert,399 oder, so Mathias Eichhorn, „literarisch auf den Leib geschneidert“400. Wir kennen die Figur u.a. aus der Politischen Theologie, aus der Römischer-Katholizismus-Schrift und sie wird uns etwa im Der Begriff des Politischen erneut begegnen. Welche Bedeutung ihm Schmitt zumisst, zeigt sich in einem Eintrag vom 24.5.1949 in seinem Glossarium: „Der wichtigste Satz des Thomas Hobbes bleibt: Jesus is the Christ. Die Kraft eines solchen Satzes wirkt auch dann, wenn er im Begriffssystem des gedanklichen Aufbaus an den Rand, ja scheinbar sogar außerhalb des Begriffskreises geschoben wird. Diese Abschiebung ist ein der Verkultung Christi analoger Vorgang, wie ihn der Großinquisitor Dostojewskis vornimmt. Hobbes spricht aus und begründet wissenschaftlich, was Dostojewskis Großinquisitor tut: die Wirkung Christi im sozialen und politischen Bereich unschädlich machen; das Christentum ent-anarchisieren, ihm aber im Hintergrunde eine gewisse legitimierende Wirkung zu belassen und jedenfalls nicht darauf zu verzichten. Ein kluger Taktiker verzichtet auf nichts, es sei denn restlos unverwertbar. Soweit war es mit dem Christentum noch nicht“ (GL 243).

1.2. Die Figur des Großinquisitors in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow. Bevor wir uns der Frage zuwenden können, welche Ansichten des Großinquisitors in Schmitts politisch-theologisches Denken eingeflossen sind,

398 Siehe Gross (2005, S. 145 f.). 399 Taubes (1987, S. 15). 400 Eichhorn (1994, S. 83).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

müssen wir uns mit diesem Stück der Weltliteratur selbst befassen.401 Ausgangspunkt des Romans Die Brüder Karamasow, Familienchronik und Kriminalroman zugleich, ist der Mord an dem habgierigen und Orgien feiernden Fjodor Pawlowitsch Karamasow.402 Verdächtigt werden seine drei Söhne: Iwan, ein an sich selbst zweifelnder, seinen Vater hassender, rationaler Intellektueller, Aljoscha, tiefgläubiger Novize in einem Kloster, und der sinnliche und leidenschaftliche Dimitri. Ihre Charaktere spiegeln verschiedene Lebensphasen und Seiten der Persönlichkeit Dostojewskijs.403 In einem Indizienprozess wird Dimitri zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt – der Mörder aber war er nicht. Die eigentliche Legende oder das Poem vom Großinquisitor steht im Mittelpunkt eines Gespräches zwischen den zwei Brüdern Iwan und Aljoscha. Um der Persönlichkeit und der Rolle Iwans gerecht werden zu können, müsse das 4. Kapitel des 5. Buches: „Empörung“, mitgelesen werden. Romano Guardini – vor einer isolierten Betrachtung der Legende warnend – sieht sogar einen Direktzusammenhang. Wir beziehen es in unsere Betrachtung ein.404 Iwan wirft das religionsphilosophische Problem der Theodizee auf, der Rechtfertigung Gottes angesichts allen Übels und Leidens in der Welt, des Leides Unschuldiger, vor allem des Leides von Kindern. „Alt ist die philosophisch-theologische Frage der Theodizee. Aber vielleicht wurde sie nie so eindringlich gestellt wie hier“.405

Wenden wir uns zunächst Iwans Legende zu.406 Sevilla im 16. Jahrhundert, es herrscht strengste Inquisition. Am Vortag waren auf Geheiß des Kardinal-Großinquisitors fast hundert schändliche Ketzer zum Ruhme Gottes „In den Flammen prächtigen Autodafés Böse Häretiker verbrannte“ (Dos 11).

401 Die Brüder Karamasow sind der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Episode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Weltliteratur, kaum zu überschätzen“ (Freud 1928, Kap. 15, Abs. 2; Herv. im Original). 402 Siehe dazu grundsätzlich Goes (2010). 403 Roth (2012, S. 2). 404 Vgl. Doerne (1962; hier, S. 68). 405 Roth (2012, S. 3). 406 Wir zitieren aus Dostojewskij/Müller 1985). Sigle = Dos.

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Da taucht „Er“407, Christus der Erlöser, plötzlich auf dem Domplatz auf, 1500 Jahre nach seiner Geburt in Nazareth, und wandelt in derselben menschlichen Gestalt wie damals schweigend „mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitleids“ (Dos 12) durch die Gassen der mittelalterlichen Stadt.408 „Er ist still, unauffällig erschienen, und siehe, alle – seltsam ist das – erkennen Ihn“ (Dos 12).

Er streckt die Hände zu den Menschen aus, segnet sie, und es geschehen Wunder. Ein Greis wird sehend, ein verstorbenes siebenjähriges Mädchen erweckt er auf flehentliche Bitten der Mutter zum Leben (s. Dos 12 f.). Aus der Ferne wurde die inzwischen jubelnde Volksprozession vom Großinquisitor beobachtet: „Das ist ein fast neunzigjähriger Greis, von hohem Wuchs und ausrechtem Gang, mit vertrocknetem Gesicht, mit eingefallenen Augen, aus denen aber noch wie ein feuriger Funke Glanz leuchtet“ (Dos 13).

Alles hatte er gesehen, und mit einem Finger auf Ihn zeigend befiehlt er seien Schergen, Ihn festzunehmen. So groß ist seine Macht, und schon „so sehr abgerichtet, unterwürfig und ihm zitternd gehorsam ist das Volk“, dass sich dieses augenblicklich vor dem greisen Inquisitor bis zum Boden neigt; „der segnet schweigend das Volk und geht vorüber“ (Dos 13/14). Der Gefangene wird von der Wache in den Kerker gebracht, wo er vom Großinquisitor – „Die Luft duftet nach Lorbeer und Zitrone“ – tief in der Nacht besucht wird (Dos 14). In dem nachfolgenden Gespräch, das verbal nur ein Monolog ist, offenbart der Kardinal-Großinquisitor sein Geheimnis. Iwan spricht: „Hier geht es nur darum, daß der Greis sich aussprechen muß, daß er sich endlich – ein Mal in all den neunzig Jahren – ausspricht und laut das sagt, worüber er die ganzen neunzig Jahre lang geschwiegen hat“ (Dos 15).

Alles habe Er, Petrus und nachfolgend dem Papst übergeben, folglich liege alles beim Papst, „und komm Du jetzt überhaupt nicht mehr, störe wenigstens nicht vor der Zeit“ (ebd.)! So schrieben auch die Jesuiten.

407 „Er“ – wie auch „Ihn“ und „Ihm“ – bezeichnen Jesus, der vom Großinquisitor nie mit Namen angesprochen wird. 408 „Er“ war aber zuvor schon öfter herabgestiegen und hatte manche Gerechte, Märtyrer und heilige Anachoreten zu ihren Lebzeiten besucht, wie diese in ihren Viten berichten (Dos 11).

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Hast Du das Recht, fragt der Großinquisitor, den Menschen Geheimnisse aus der Welt zu verkünden, aus der Du kommst? und antwortet selbst: „Nein, Du hast es nicht.“ – „Alles, was Du von neuem verkünden würdest, wäre ein Anschlag auf die Glaubensfreiheit der Menschen (…). Hast Du nicht damals so oft gesagt: ‚Ich will euch frei machen“ (ebd.).

Teuer zu stehen sei sie dies gekommen, aber nach jetzt fünfzehn Jahrhunderten sei diese Freiheit zu Ende gebracht, und zwar dauerhaft (Dos 16). Jetzt, erläutert Iwan Aljoscha, rechnen es sich der Großinquisitor und die Seinen als Verdienst an, die Freiheit besiegt zu haben. Mit der Inquisition „ist es möglich geworden, zum ersten Mal an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch ist als Empörer gemacht worden; können Empörer etwa glücklich sein“ (ebd.)?

Du bist gewarnt worden, fährt der Großinquisitor fort, aber hast nicht darauf gehört, und hast so den einzigen Weg verworfen, „auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können, aber zum Glück hast Du, als Du fortgingst, die Sache uns übergeben. Du hast uns das Recht zu binden und zu lösen versprochen (…) und kannst natürlich überhaupt nicht mehr daran denken, uns dieses Recht jetzt wegzunehmen“ (Dos 16).

Auf Aljoschas Frage, was es mit besagter Warnung auf sich habe, betont Iwan, dass dies die eigentliche Hauptsache sei, über die der Greis sich aussprechen müsse. Diese „Warnungen und Hinweise“ habe „der furchtbare und kluge Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins“ ausgesprochen, als Jesus in der Wüste fastete. Drei Fragen habe der „schreckliche und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins“ (ebd.) ihm gestellt, Fragen, „die nicht nur der Größe des Ereignisses entsprächen, sondern überdies auch in drei Worten, in nur drei menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Welt und der Menschheit ausdrückten“ (Dos 17),

und zugleich drei Bilder gezeigt, „in denen alle unlösbaren historischen Widersprüche der menschlichen Natur auf der ganzen Erde zusammenkommen“ (ebd.).

Entscheide doch selbst, fragt der Großinquisitor rhetorisch, wer recht hatte: Du oder jener, der Dir die drei Fragen vorlegte. Die erste lautete, wenn auch nicht buchstäblich:

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„Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeinem Versprechen der Freiheit, daß sie in ihrer Einfalt und in ihrer angeborenen Aufsässigkeit nicht einmal begreifen können, vor dem sie sich fürchten und ängstigen; – denn nichts und niemals gab es etwas, was für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen wäre als die Freiheit“ (Dos 17/18)!

Der Freiheit, die Du ihnen einst übereignetest, sind die Menschen nicht gewachsen und lebten darob im Elend. Du selbst hättest das ändern können, hättest Du befolgt, was der Satan, Dir anempfohlen hatte. Die Steine der Wüste hätten in Brot verwandelt werden können, vom Tempel Jerusalems zu springen wäre Dir unbeschadet möglich gewesen, zum Herrn der ganzen Welt hätte Satan Dich gemacht, wenn Du ihn nur angebetet hättest. Verwandle Steine in Brot, und die Menschheit wird Dir nachlaufen. Du aber verschmähtest diesen Vorschlag, und wandtest ein, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber weißt Du, „daß gerade im Namen eben dieses irdischen Brotes der Geist der Erde gegen Dich aufstehen und mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird. (…). Gib zu essen, dann erst verlange von ihnen Tugend!‘ – das ist es, was man auf das Banner schreiben wird, das man gegen Dich erheben und durch das Dein Tempel einstürzen wird. (…) Gib ihnen zu essen, dann erst verlange von ihnen Tugend“ (Dos 18)?

Jahrhunderte werden vergehen, wirft Ihm der Großinquisitor vor, und die Menschheit verkündet, es gebe keine Sünde, keine Verbrechen nur hungernde Menschen gebe es (ebd.). Deshalb, so der Großinquisitor, werden die Menschen an die Stelle von Jesus Tempel einen zweiten Babylonischen Turm erbauen und deswegen 1000 Jahre leiden. Dann wird die Kirche ihn zu Ende bauen, weil sie den Menschen zu essen gibt, und lügend erzählt, dass es in Deinem Namen sei. Das himmlische Brot, das Du ihnen versprichst, kann sich mit dem irdischen Brot für die plebejische Masse des Menschengeschlechts nicht messen. Deshalb werden wir uns an ihre Spitze stellen und einwilligen, „die Freiheit zu ertragen und über sie zu herrschen – so furchtbar wird es ihnen am Ende werden, frei zu sein! Aber wir werden sagen, wir seien Dir gehorsam und herrschten in Deinem Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns lassen. In diesem Betrug wird dann unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen“ (Dos 19).

Das hat die erste Frage in der Wüste bedeutet, Du hast es im Namen der Freiheit verworfen. Hättest Du das Brot erwählt, hättest Du auch die Frage der ganzen Menschheit beantwortet: „Wen anbeten“ (Dos 20). Nichts, so

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der Inquisitor, quält den Menschen mehr als die Freiheit, nicht zu wissen, wen er anbeten soll, und zwar in der Gemeinschaft mit allen zusammen. Deshalb schufen sie sich Götter und um der gemeinsamen Anbetung willen, begannen sie, sich mit dem Schwert selber auszurotten, und so wird es sein bis ans Ende der Welt: „Du kanntest dieses Grundgeheimnis der menschlichen Natur (…), aber Du hast das einzig absolute Banner verworfen, das Dir vorgeschlagen wurde, mit dem Du alle hättest zwingen können, widerspruchslos Dich anzubeten – das Banner des irdischen Brotes, und Du hast es verworfen im Namen der Freiheit und des himmlischen Brotes“ (ebd.).

Du gibst Brot und der Mensch betet Dich an, wenn aber zur gleichen Zeit jemand anders die Gewalt über sein Gewissen gewinnt, dann wird er sogar sein Brot hinwerfen und dem folgen, der sein Gewissen verführt (Dos 20 f.): „Es gibt nichts Verführerischeres für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens, aber es gibt auch nichts Quälenderes. (…) Und was hast Du getan? (…) Anstatt Gewalt zu gewinnen über die Freiheit der Menschen, hast Du diese Freiheit vermehrt“ (Dos 21),

fährt der Großinquisitor fort. Aus freier Liebe sollten die Menschen Dir nachfolgen, „freien Herzens selbst entscheiden, was gut und böse sei, und nur Dein Bild als Richtschnur vor sich haben. (…) Auf diese Weise hast Du ja selbst den Grund gelegt zur Zerstörung Deines Reiches, und so gib niemand anderem mehr die Schuld daran. Aber war es denn dies, was Dir vorgeschlagen wurde?“ (ebd.).

Drei Kräfte gibt es einzig und allein auf Erden, insistiert der Inquisitor, die auf ewig das Gewissen der schwachen Menschheit besiegen und fesseln: „Wunder, Geheimnis und Autorität“ – und alle drei hast Du verworfen (Dos 22). Weiter sagte der schreckliche und hochweise Geist, als er Dich auf die Zinne des Tempels stellte: „Wenn Du erkennen willst, ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab“, denn geschrieben steht, dass Engel Dich auffangen und Du nicht zerschmettert wirst, lehntest Du ab „stolz und großartig“ als Gott ab – aber sind die Menschen etwa Götter (ebd.)? Ist denn, fragt der Greis weiter, die Natur des Menschen so beschaffen, dass er das Wunder ablehnt, konntest Du hoffen, der Mensch werde in Deiner Nachfolge bei Gott bleiben,

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„ohne des Wunders zu bedürfen. Aber Du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder ablehnt, sofort auch Gott ablehnt, denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott als vielmehr Wunder“ (Dos 22/23).

Da der Mensch nicht die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, wird er sich seine eigenen bei Zauberern und Hexen suchen, „mag er auch hundertmal ein Aufrührer, Häretiker und Gottloser sein“ (Dos 23). Selbst vom Kreuz bist Du nicht herabgestiegen, weil Du „den Menschen nicht durch ein Wunder knechten wolltest. Du dürstetest nach freier Liebe: „Aber auch hier hast Du über die Menschen zu hoch geurteilt, denn natürlich sind sie Sklaven, mögen sie auch als Aufrührer geschaffen sein. (…) Indem Du ihn so hoch geachtet hast, hast Du gehandelt, als hättest Du aufgehört mit ihm Mitleid zu haben (ebd.).(…) Also Unruhe, Verwirrung und Unglück – das ist das jetzige Los der Menschen, nachdem Du so viel erduldet hast für ihre Freiheit“ (Dos 24).

Nach ihrem Gewissen zu leben, wir fassen hier zusammen, hielten nur wenige Auserwählte aus (s. Dos 24). „Bist Du etwa wirklich nur zu den Auserwählten und um der Auserwählten willen gekommen?“ – Dann, so der Greis, liegt darin ein Geheimnis, das wir nicht verstehen können. Wenn es aber ein Geheimnis ist, waren wir im Recht, dieses Geheimnis zu predigen und zu lehren, „daß nicht die freie Entscheidung ihrer Herzen wichtig ist und nicht die Liebe, sondern das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssen, sogar gegen ihr Gewissen. Das haben wir denn auch getan“ (ebd.).

„Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf das Wunder, das Geheimnis und die Autorität gegründet“ (Dos 24409). Und, fährt der Inquisitor fort, die Menschen freuten sich, dass sie geführt wurden und die schreckliche Qual der Entscheidung von ihnen genommen war (ebd.). Sogar die Sünde erlaubten wir, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis geschah. Vielleicht – was sollte ich vor Dir verbergen – willst Du unser Geheimnis aus meinem Munde hören, so höre: „Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis! Lange schon sind wir nicht mehr mit Dir, sondern mit ihm, schon acht Jahrhunderte lang. Es ist genau acht Jahrhunderte her, daß wir von ihm das nahmen, was

409 Herv. im Original.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Du mit Unwillen zurückgewiesen hast, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, nachdem er Dir alle Reiche der Welt gezeigt hatte“ (Dos 25410).411

Hättest Du den dritten Rat des mächtigen Geistes angenommen, fährt der Großinquisitor fort, hättest Du alles erfüllt, was der Mensch auf Erden braucht: „wen er anbeten soll, wem er sein Gewissen anvertrauen soll und auf welche Weise sich schließlich alle zu einem unbestreitbaren allgemeinen und einträchtigen Ameisenhaufen vereinigen können, denn das Bedürfnis nach universaler Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen“ (ebd.).

Immer hat die Menschheit erstrebt, sich universal einzurichten, und hättest Du die Welt und den Purpur des Kaisers angenommen, hättest Du das universale Reich gegründet (Dos 25 f.). So aber nahmen wir das Schwert des Kaisers, indem wir Dich verwarfen und ihm gefolgt sind, enthüllt der greise Inquisitor.412 Aber noch ist das Werk nicht vollendet, Jahrhunderte des Aufruhrs des freien Geistes werden noch vergehen, aber dann wird für die Menschen das Reich der Ruhe und des Glücks anbrechen – für alle, nicht nur für Deine Auserwählten. Wir werden sie überzeugen, dass sie wirklich frei nur sind, wenn sie ihrer Freiheit zu unseren Gunsten entsagen (s. Dos 26): ‚„Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßet Sein Geheimnis, und wir kehren zu euch zurück, rettet uns vor uns selbst“ (Dos 27).

Wenn sie von uns Brot erhalten, werden sie sehen, dass wir ihnen das Brot ihrer eigenen Hände Arbeit wegnehmen, um es wieder an sie auszuteilen – „ohne jedes Wunder“ – und sie werden froh sein, dass sie es aus unseren Händen bekommen, denn früher wurde das Brot in ihren Händen zu Stein, dass aber, das Stein wieder zu Brot wurde, als sie zu uns zurückkehrten:

410 Herv. im Original. 411 Siehe (Dos 86 f.); s. Motschenbacher (2000, S. 325). Da die Legende Mitte des 16. Jahrhunderts datiert, beziehe sich Dostojewskij „offenkundig“ auf die Pippinische Schenkung des Jahres 755/56. Mit ihr übergab der Vater Karls des Großen dem Papst die weltliche Herrschaft über Rom und Teile des späteren Kirchenstaates. Der Großinquisitor erläutert den Sündenfall der Kirche: „Wir nahmen von ihm (dem Satan, w.a.m.) Rom und das Schwert des Kaisers und erklärten, daß wir allein die Herren der Welt seien, die einzigen Herren der Welt (…)“ (Dostojewskij/Müller 1985, S. 25). 412 Herv. im Original.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

„Zu sehr, zu sehr werden sie zu schätzen wissen, was es heißt, sich ein für allemal unterzuordnen! Und solange die Menschen dies nicht begriffen haben, werden sie unglücklich sein“ (ebd.).

Sag, fordert der Inquisitor rhetorisch, wer hat die Herde versprengt? Aber die zerstreute Herde wird sich wieder sammeln, sich von neuem unterwerfen ein für allemal, und wir werden ihnen ein stilles, demütiges Glück geben. Du hast sie erhöht, wir werden beweisen, dass wir nur bemitleidenswerte Kinder sind, dass aber das Kinderglück süßer ist als jedes andere Glück“ (ebd.). „Oh wir werden ihnen auch die Sünde gestatten“, werden ihnen sagen, „daß jede Sünde gesühnt werden könne, wenn sie mit unserer Erlaubnis begangen ist“ (…), „die Strafe aber für diese Sünden, werden wir sagen, nehmen wir auf uns“ (Dos 28).

Und alle werden glücklich sein, nur wir, die wir das Geheimnis bewahren, werden unglücklich sein, „die den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse auf sich genommen haben“; still werden die Menschen sterben „und jenseits des Grabes nur den Tod finden. Aber wir werden das Geheimnis bewahren, und um ihres eigenen Glückes willen werden wir sie mit himmlischer und ewiger Belohnung locken“ (Dos 28/29).

Wir aber, so der Inquisitor, die wir ihre Sünden um ihres Glückes willen auf uns genommen haben – man sagt, Du kommst wieder – werden vor Dich hintreten und sagen: „‚Richte uns, wenn Du es kannst und wagst‘. Wisse, daß ich Dich nicht fürchte“ (Dos 29). Wisse, auch ich gehörte einst zu den Jüngern deiner Botschaft, kam aber zur Besinnung, habe dem Wahnsinn nicht mehr dienen wollen, „bin fortgegangen von Stolzen und umgekehrt zu den Demütigen um des Glückes dieser Demütigen willen“ (ebd.).

Was ich Dir sage, wird in Erfüllung gehen, und unser Reich wird erbaut werden. Morgen wirst Du die gehorsame Herde sehen, droht der Großinquisitor, die auf einen Wink von mir die Kohlen zu Deinem Scheiterhaufen trägt, auf dem ich Dich verbrennen werde: „Denn wenn es jemanden gegeben hat, der unseren Scheiterhaufen mehr verdient hat als alle anderen, dann bist Du das. Morgen werde ich Dich verbrennen. Dixi (ebd.)!413

413 „Dixi“, „Ich habe gesprochen“, bekräftigt noch einmal den westlichen, römischen Charakter des Großinquisitors (Dos 99 FN 29, 34.).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Als der Inquisitor verstummt, wartet er einige Zeit auf Antwort. Aber Er schweigt, und das Schweigen bedrückt den Großinquisitor, der wahrgenommen hatte, dass Er ihn die ganze Zweit schweigend zugehört und in die Augen geblickt hatte. Immer noch wartet der Greis auf Antwort. Aber Er nähert sich plötzlich schweigend dem Greis und küsst ihn sanft auf seine blutleeren Lippen. Das ist die ganze Antwort. Dabei hat sich etwas gerührt an den Mundwinkeln des Greises. Dieser geht zur Tür, öffnet sie uns spricht: „Geh und komm nicht wieder … komm überhaupt nicht mehr wieder … niemals, niemals“, (Dos 33).

Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Plätze der Stadt. Der Gefangene geht. 2. Der Katholizismus des Carl Schmitt. 2.1. Der Katholik. Helmut Quaritsch erklärt die „entschiedene Katholizität des jungen Carl Schmitt“ als unbestreitbar414, auch wenn sich diese „gewiß nicht im Rahmen der sonntäglichen Predigt, bischöflicher Hirtenbriefe und den Verlautbarungen der Zentrumspartei“ bewegte, weil er Schmitt „zur intellektuellen Garde des katholischen Renouveau“ zählte, zudem von den Schriften eines Donoso Cortés und Léon Bloy fasziniert war 415. Schmitts geistige Habe wie auch sein Habitus416 erfuhren eine altsprachliche und humanistische Prägung, „er hatte Weisheit und Poesie der Antike ungefiltert aufgenommen“417. Hinzu kam eine kritische, aber nicht religiös filtrierte Vertrautheit mit der europäischen Kultur der Neuzeit – im Ergebnis unterschied sich Schmitts Vorbildung von jener der meisten katholischen Theologen. An dem gezeichneten Idealtypus seiner Katholizismus-Schrift

414 Quaritsch (1991 (S. 25). 415 Ebd. (S. 26.) 416 „Habitus“ ist hier – in Abgrenzung zum bloßen Begriff der „Gewohnheit“ – als soziologischer Begriff i.S. Pierre Bourdieus zu verstehen (siehe nur Schwingel 1998, S. 53-75). 417 Quaritsch (1991, S. 27.)

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

konnte sich der Katholizismus in der Zeit Weimars418 schwerlich messen:419 „Schmitts (stumme) Enttäuschung und Kritik an dieser Wirklichkeit berührten indes niemals sein Bekenntnis zu Glaube und Dogma. Für den Katholiken aber sind Glaube und Dogma untrennbar mit Kirche und Klerus verbunden; (…).“420

So fasst denn auch Günter Maschke prägnant zusammen, dass der Katholizismus Schmitts sich aus drei Quellen speiste: „der gegenrevolutionären politischen Philosophie von Joseph de Maistre, Louis de Bonald und Juan Donoso Cortés; aus der anti-liberalen Polemik von Papst Pius IX, und dessen ‚Syllabus‘ von 1864, der eine langdauernde Tradition begründete; schließlich aus dem französischen und deutschen Renoveau catholique nach der Jahrhundertwende“.421

Hinzutrete seine scharfe Kritik der Moderne422, die sich durch die Begriffe der Säkularisierung, der Selbstinthronisation des Menschen, die Leugnung des Sündenfalls und die Ansicht des Liberalismus, der Mensch sei „gut“, zumindest aber perfektibel, auszeichnet.423 Im Ergebnis kommt Maschke zu der Ansicht, dass allen politischen und politiktheoretischen Schriften Schmitts theologische Überlegungen über- und vorgeordnet sind, und zwar nicht nur im Sinne einer Analogie.424 Carl Schmitt hatte zudem ein „tieferes, weitergehendes Verhältnis zur Kirche“, so Mathias Eichhorn, „m.a.W. er war auf seine Weise ein frommer Mann gewesen“.425 Genügt dafür die Schmitt zugeschriebene Marienverehrung, in der sich die katholische Frömmigkeit vornehmlich zeigt?426 Prüft man seine Marienverehrung – ohne ihm diese als eine religiöse abzusprechen – auf ihren politischen Gehalt, ist zu bedenken, dass in der Toskana die Mutter Gottes auch als politisches Symbol für pax et concordia

418 419 420 421 422 423 424 425 426

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Siehe dazu Lönne (1994.) Vgl. Quaritsch (1991, S. 26 f.) Quaritsch (1991, S. 28.) Maschke (2012, S. 156). Wir haben sie vornehmlich anhand Schmitts Arbeit Das Nordlicht dargestellt. Siehe Maschke (2012, S. 156). Ebd. S. 156 f. Eichhorn (1994, S. 82 f.). Schmitt habe immer wieder seine Studenten in sein Heim eingeladen, wo er sie großzügig bewirtete und diese Gesellschaft sei nie auseinandergegangen, ohne ein Marienlied zu singen – meist „Meerstern ich dich grüße“ (siehe Eichhorn 1994, S. 83; vgl. Motschenbacher 2000, S. 361).

III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

dargestellt wird.427 Und in der Katholizismus-Schrift fragt Schmitt – die „wunderbare Verbindung des Patriarchalischen mit dem Matriarchalischen“ (…) den „Respekt vor dem Vater und der Liebe zur Mutter“ bewundernd – rhetorisch: „(…) gibt es eine Rebellion gegen die Mutter“ (RK 13)? Mit Mehring u.a. gehen wir im Ergebnis davon aus, dass Schmitt „ein religiöser Mensch“ war, aber kein „treuer Sohn der Kirche“, der sonntäglich die Messe besuchte und der sich überdies „das Recht souveräner Definition seines Christentums“ herausnahm.428 2.2. Carl Schmitt, Donoso Cortez und die spanische Inquisition. Dass Carl Schmitt sich auch auf Donoso Cortés berufen hat, haben wir bereits erfahren. Aber was bedeutet es genau, wenn Schmitt in der Politischen Theologie diesem Gegenrevolutionär „die selbstbewußte Größe eines geistigen Nachfahrens von Großinquisitoren“ (PT 62) bescheinigt? Die Formulierung steht textlich in Zusammenhang mit dem lutherischen Dogma von der natürlichen Bosheit des Menschen und seiner Lehre, dass der Mensch sich jeder Obrigkeit zu beugen habe.429 Hernàndez-Arias hält – was Donoso betrifft – zwei Deutungen für möglich. Die erste stellt auf die spanische Inquisition als geschichtlich einmalige politisch-theologische Institution und die politische wie geistige Bedeutung ihrer Großinquisitoren in der Geschichte Spaniens ab430, eine These, die Hernàndez-Arias für „viel überzeugender“ hält.431 Denn das Ziel der Inquisition, die Häresien radikal auszumerzen, sei erfolgreich gewesen: Spanien kannte keine konfessionellen Bürgerkriege und konnte seine – auf religiösem Prinzip fußende – Einheit erhalten432 – auch weil für die Großinquisitoren theologische Fragen immer auch politische waren. In dieser Tradition stehend, war Donoso für Schmitt ein geistiger Nachfahre von Großinquisitoren.433

427 428 429 430 431

Münkler (1987, S. 92 ff.). Mehring (2009, S. 96). Vgl. hier das Kapitel Politische Theologie. Vgl. Hernàndez-Arias (1998, S. 224/225). Ebd. S. 226 Die andere Auslegung stützt sich auf die Legende oder das Poem Der Großinquisitor von Dostojewskij (ebd). 432 „(…) um welchen Preis ist eine andere Geschichte“ (Hernàndez-Arias 1998, S. 228). 433 Ebd.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Und Carl Schmitt, war er selbst ein geistiger Nachfahre von Großinquisitoren, bzw. dachte er als ein solcher? „Vieles deutet darauf hin“, erläutert Mathias Eichhorn, Jacob Taubes zustimmend, man müsse in Schmitt weniger einen gläubigen Christenmenschen als vielmehr einen Großinquisitor sehen.434 „Schon früh hatte ich in Carl Schmitt eine Inkarnation des Dostojewskischen ‚Großinquisitors‘ vermutet. In der Tat in einem stürmischen Gespräch in Plettenberg 1980 sagte mir Carl Schmitt, wer nicht einsehe, daß der ‚Großinquisitor‘ schlechthin Recht hat gegenüber all den schwärmerischen Zügen einer jesuanischen Frömmigkeit, der habe weder kapiert, was Kirche heißt noch was Dostojewski – gegen seine eigene Gesinnung – ‚durch die Gewalt der Problemstellung gezwungen, eigentlich vermittelt‘ habe“.435

Insbesondere die Schlussworte des Großinquisitors bei der Freilassung Jesus werden für Schmitt bedeutsam gewesen sein – „Geh und komme nie wieder (…) komme überhaupt nicht mehr … nie wieder, nie wieder!“436 – verweisen sie uns doch auf ein weiteres, wichtiges Element seiner Religiosität: den Katechon. Aber auch der Großinquisitor ist keine monolithische Figur, lässt er doch Jesus ohne weitere Begründung fliehen, und auch seine Abschiedsworte, „komme niemals wieder“, sind wohl mehr hoffender Erwartung denn kategorischer Sicherheit geschuldet. So sieht Eichhorn den Großinquisitor „nicht ohne Humanität“ – „die complexio oppositorum hat am Ende auch Platz für ihn“.437 Einfacher ausgedrückt: Die katholische Kirche bietet auch Platz für Großinquisitoren. 2.3. Der Großinquisitor in den Schriften Carl Schmitts. Schmitt setzt die Figur des Großinquisitors vor allem in Beziehung zur Macht der Institution „Kirche“. In seiner Katholizismus-Schrift greift er an zwei wichtigen Stellen auf diese Figur zurück. Erstens, weil sich der „antirömische Affekt“ im 19. Jahrhundert mit Dostojewskijs kurzem Poem

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Eichhorn (1994, S. 83); siehe oben Taubes (1987, S. 15). Taubes (1987, S. 15). Dostojewskij (1985, S. 33.) Eichhorn (1994, S. 83 f.)

III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

nochmals zu einer „säkularen Größe“ erhoben habe.438 Und zum Zweiten, wandelt er die Figur des Großinquisitors „in ein affirmatives Symbol für den kirchlichen Willen zur Weltherrschaft“:439 „Dostojewskis Großinquisitor bekennt, den Versuchungen des Satans gefolgt zu sein, in vollem Bewußtsein, weil er weiß, daß der Mensch von Natur aus böse und niedrig ist, ein feiger Rebell, der seines Herrn bedarf, und weil nur ein römischer Priester den Mut findet, die ganze Verdammnis auf sich zu nehmen, die zu solcher Macht gehört“ (RK 54).

Da Schmitt die Legende vom Großinquisitor immer wieder argumentativ heranzieht, ist zu fragen, wie Schmitt sie – vermutlich – interpretierte und wo er seine Ansichten durch sie bestätigt sah, oder auch nicht. So attestiert Schmitt Dostojewskij einen „anarchistischen – und das ist immer atheistischen – Instinkt“, der ihn in „jeder Macht etwas Böses und Unmenschliches“ sehen lässt (RK 54). Zwar konzediert er, dass jede Macht die Versuchung zum Bösen in sich berge, doch wäre es „die schlimmste Unmenschlichkeit“, jeder irdischen Macht abzuschwören (ebd.), sei doch der Römische Katholizismus in der Lage, Notwendigkeit „wie auch Gefahr der Macht zu erkennen und mit seinem Prinzip der Repräsentation zu erfassen (…)“440. Wer derart „Dostojewskis gestaltlose Weite als wahres Christentum“ ansehe, könne nicht einmal erkennen, „wie unchristlich die Vorstellung ist, daß Christus zwischen seinem Erdendasein und seiner glorreichen Wiederkunft am jüngsten Tage noch ein oder mehrere Male, sozusagen experimentierend, unter den Menschen erscheinen könne“ (RK 55).

Übereinstimmung hingegen besteht unstrittig in der Auffassung einer – in der Erbsündenlehre wurzelnden – pessimistischen Anthropologie des Menschen, die die Notwendigkeit von Herrschaft begründet. Diese Herrschaftstheorie wird durch die Elemente der „Autorität“ und des „Wunders“ komplettiert.441 Schmitt hatte schon in Der Wert des Staates das ius divinum im Kirchenrecht ob seiner eindeutigen Bestimmtheit als ein höchst probates Mittel bewertet, den Menschen Klarheit und Sicherheit für seine Entscheidungen zu geben. Seine Begründung:

438 „Nur bei einem russischen Orthodoxen, bei Dostojewski, erhebt sich das anti-römische Entsetzen noch einmal zu der säkularen Größe seiner Schilderung des Großinquisitors“ (RK 5/6). 439 Scholz (1983, S. 159.) 440 Motschenbacher (2000, S. 331). 441 Siehe ebd. S. 331.

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„Wenn nämlich einmal Rücksicht genommen wird auf den Menschen und seine Leiblichkeit, dann muß auch berücksichtigt werden, daß diese Schwachen vor allem wissen müssen und wissen wollen, woran sie sind“ (WdS 82).442

Wie gesehen, finden wir das Motiv der an ihrer Freiheit verzweifelnden, schwachen Menschen, die mit der Aufgabe moralisch zwischen Gut und Böse zu entscheiden, überfordert sind, und die ihre Freiheit zurückgeben würden, wenn sie nur wüssten, woran sie sind, auch an mehreren Stellen im Großinquisitor.443 2.4. Die drei Fragen des Versuchers. Mit den drei Fragen des Versuchers Jesu in der Wüste lassen sich nach Motschenbacher die Hauptpunkte der Politischen Theologie Schmitts bezeichnen.444 Abgelehnt werden Lehren, die sich materialistisch allein auf die Versprechungen „irdischen Brotes“ stützen, sei dies die kapitalistisch-liberalistische oder die marxistische-sozialistische Theorie. Der Weg materialistischer Versprechungen allein ist ein unzureichender Ansatz für die Begründung von Herrschaft über Menschen. Für den Großinquisitor wie auch Schmitt gilt, dass für diese Herrschaft das Gewissen des Menschen nicht außer Acht bleiben darf, was heißt, dass neben dem äußerlichen auch ein innerer Gehorsam erreicht werden muss. Diese Einheit kann nur erreicht werden, wenn Religion und Politik bzw. Staat in einer Hand vereinigt sind. Dies abgelehnt zu haben – „Hättest Du die Welt und den Purpur des Kaisers angenommen, so hättest Du das universale Reich gegründet (…) (Dos 26) – wirft der Inquisitor Jesus vor. So aber musste die Kirche Rom und das Schwert des Kaisers annehmen. Schmitt, voll und ganz „Römer“, lobt die Vereinigung der Kirche mit der Idee Roms schon in seiner Katholizismus-Schrift, der „orthodoxe“ Dostojewskij verurteilt den Abfall der Westkirche von ihrem Stifter.

442 Vgl. dazu Habisch (1994, S. 109 f.); siehe Motschenbacher (2000, S. 331). 443 „Statt sich nach einem festen alten Gesetz zu richten, mußte nun der Mensch mit freiem Herzen selbst entscheiden, was gut und was böse ist, und hatte bei der Wahl nur Dich zum Vorbilde“, dann ist dies eigentlich auch „das Glaubensbekenntnis von Dostojewskij selbst“ (Nikolai Berdjajew, hier zitiert nach Motschenbacher 2000, S. 324). 444 Motschenbacher (2000, S. 332; nachst. s ebd.).

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Den Liberalismus wie den Marxismus bekämpft Schmitt, weil sie eine Welt ohne Repräsentation anstreben und Politik wie das ganze Leben auf rein technische und materielle Fragen beschränken wollen. Für noch gefährlicher freilich hält Schmitt bekanntlich den Anarchismus in der Person Bakunins.445 Zentral ist zudem, dass die geforderte Autorität sich nicht auf rein äußerlichen Gehorsam beschränkt, sondern suchen muss, auch die Seele des Menschen zu dominieren. Was die geforderte Einheit von Staat und Kirche, von Religion und Politik voraussetzt. Insoweit steht Schmitt näher bei der Person des Großinquisitors als bei Jesus.446 Parallelen finden sich bei Dostojewskij und Schmitt bei ihrer Behandlung des Freimaurertums. Iwan spricht: Ihm scheine, die Katholiken hassten das Freimaurertum so, weil sie etwas Ähnliches wie das Geheimnis der Kirche besäßen, „weil sie in ihnen Konkurrenten sehen, eine Zersplitterung der Einheit der Idee, während es doch eine Herde und ein Hirt sein soll“ (Dos 32).

Und Schmitt benennt die Freimaurer in Römischer Katholizismus als den letzten europäischen Gegner der Kirche von Bedeutung (RK 59), und eine Seite vorher lässt sich Schmitt über Geheimnisse und Arcana aus (RK 58), die dem greisen Großinquisitor neben dem Wunder als Mittel dienen, die Herrschaft über die Menschen zu stärken, die ja wiederum für das Glück der Menschen nötig ist, wie wir in Iwans Erzählung erfahren haben. Insoweit hat die Religion bei Schmitt eine dem Staat dienende Funktion.447 2.5. Apokalyptische Geschichtsphilosophie: der Katechon. Der Begriff und die Funktion des Katechons448 sind für die Geschichtsphilosophie Carl Schmitts von weit größerer Bedeutung als für die katholische Glaubenslehre selbst. Er sieht den Katechon als den unabdingbaren Grund einer kirchlichen Geschichtsphilosophie. Für Motschenbacher tritt an die Stelle des Reichsgedankens bei Schmitt der Katechon, den er ab 1942 immer wieder thematisiert.449 Damit würde diese Thematik außer445 Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. 446 Zu einer tiefer gehenden theologischen Deutung s. Motschenbacher (2000, S. 332 f.). 447 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 333 f.). 448 Grundlegend Meuter (1994). 449 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 187).

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halb unseres Betrachtungszeitraums liegen. Allerdings datiert Schmitt selbst seine Theorie des Katechons bereits auf das Jahr 1932 (GL 80).450 Da diese Theorie im Zeitlauf gewachsen ist, sich nicht als plötzliche Eingebung einfand und zudem wichtige Blicke auf Schmitts Weltbetrachtung freilegt, rechtfertigt ihre Bedeutung – für den Katholiken Schmitt wie für dessen Interpreten – die Behandlung dieser Thematik. 2.5.1. Der theologische Hintergrund. Theologischer Hintergrund der Rede vom Katechon ist der zweite Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher (2 Thess 2,1-12), insbesondere (2 Thess 2, 5-7). Paulus warnt vor dem und wendet sich gegen den Glauben der urchristlichen Thessalonicher, dass das Jüngste Gericht bzw. die Apokalypse – „der Tag an dem der Herr kommt“ – unmittelbar bevorstehe. Denn erst müsse der Abfall von Gott kommen und der „Mensch der Gesetzwidrigkeit“ bzw. der „Sohn des Verderbens“ erscheinen, wenn die Zeit, die der Christ jedoch nicht kennt, reif ist. Zwar sei „die Macht der Gesetzwidrigkeit“ bereits am Werk, der Antichrist aber könne erst auftreten, wenn der Katechon, der Aufhalter, nicht mehr existiert:451 „5Erinnert ihr euch nicht, dass ich dies schon gesagt habe als ich bei euch war? 6Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgelegten Zeit offenbar wird.7 Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält“ (2 Thess 2,5-7; Herv. w.a.m.).452

Dieses katechontische Denken bringt den Christen in eine durchaus paradoxe Lage. Denn einerseits ersehnt er die Wiederkunft des Herren, den Jüngsten Tag mit der erhofften Erlösung. Dem steht aber der Katechon im Wege, der ihn andererseits vor dem Bösen im Chaos der Endzeit bewahrt 453, das er bekämpfen soll, wissend, dass dessen vorläufiger Sieg

450 Ebd. 451 Vgl. zum theologischen Komplex und zur historischen Entwicklung von Begriff und Bedeutung Motschenbacher (2000, S. 188-205). 452 Bibleserver.com (Einheitsübersetzung). 453 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 205).

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und die folgende ewige Verstoßung des Bösen bereits feststehen und trotzdem Voraussetzung für die Erlösung bleiben.454 Auch die Kirche muss sich dieser Paradoxie in dreifacher Weise stellen. Sie muss den Glauben an den Jüngsten Tag bestärken, ohne eine apokalyptische Massenhysterie zu befördern und sie muss das Ausbleiben der Parusie mit ihrem Gnadengehalt erklären: „Die Antwort (…) ist die Institutionalisierung der christlichen Religion als Kirche“.455 2.5.2. Das katechontische Geschichtsdenken Carl Schmitts. Schon mit der frühen Kirche rückte der Aspekt der Verhinderung der Endzeitwirrnisse durch das Auftreten des Antichristen zunehmend in den Vordergrund. Deshalb lag es nahe, die katechontische Kraft im Römischen Reich zu sehen.456 Erst das Beten um Aufschub der Apokalypse ermöglicht überhaupt eine christliche Geschichte, wie Schmitt anmahnt: „Die lebendige Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes scheint aller Geschichte ihren Sinn zu nehmen und bewirkt eine eschatologische Lähmung“ (DShS 929).

Diese Lähmung aber kann überbrückt werden, obwohl die Frage, ob eschatologischer Glaube und Geschichtsbewusstsein miteinander möglich sind, meist verneint wird: „Die Brücke liegt in der Vorstellung einer Kraft, die das Ende aufhält und den Bösen niederhält. Das ist der Katechon der geheimnisvollen Paulus-Stelle des 2. Thessalonicher-Briefes“ (DShS 929).

454 Vgl. die schöne Zusammenfassung: „Katechon“ in wikipedia.org. Siehe das letzte Buch der Bibel „Die Offenbarung des Johannes“. 455 Adam (1992, S. 9). 456 „Wir wissen, daß die gewaltige Katastrophe, die dem Erdkreis droht, daß das Ende der Welt, das entsetzliche Leiden heraufbeschwört, nur durch die dem römischen Reich gewährte Frist aufgehalten wird. Daher wollen wir dies nicht erleben, und indem wir um Aufschub beten, tragen wir zum Fortbestand Roms bei“ (Tertullian: Apologeticum 32, 1, hier zitiert nach Motschenbacher (2000, S. 205). Tertullian (150 – 220 n.Chr.) war ein früher christlicher Schriftsteller, der als erster auf Lateinisch schrieb. Ob er gegen Ende seines Lebens zu den Montanisten konvertierte, ist umstritten.

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Gegen Nietzsches zyklisches Geschichtsbild einer ewigen Wiederkehr setzt Schmitt sein christliches Geschichtsdenken mit seiner linearen Zeitvorstellung. Er sieht sich mit Karl Löwith457 in der Auffassung einig, „daß das Heidentum keines geschichtlichen Denkens fähig ist, weil es kyklisch (gemeint wohl „zyklisch“, w.a.m.) denkt. In den Kreisläufen einer ewigen Wiederkehr verliert das Geschichtliche seinen spezifischen Sinn“(DShS 928).

Die Christenheit selbst ist für Schmitt „ein geschichtliches Ereignis von unendlicher, unbesitzbarer, unokkupierbarer Einmaligkeit. Es ist die Inkarnation in der Jungfrau“ (DShS 930). Carl Schmitts Geschichtsdenken ist durchwirkt von christlicher Eschatologie und Linearität und somit von einem langen Interim zwischen der Geburt Jesus und seiner Wiederkehr zum Jüngsten Gericht. Da diese Dauer ungewiss und nicht bestimmbar ist, stellt sich die Frage nach einem „Aufhalter“ bzw. „Verzögerer“, andererseits auch nach einem möglichen „Beschleuniger“.458 Da der apokalyptisch denkende Carl Schmitt das Chaos des Weltenendes als Drohung ansah, rückte für ihn die Frage nach dem Katechon in den Vordergrund, der das Erscheinen dieses endzeitlichen Feindes aufhalten kann.459 So steht gegen das Erscheinen des Antichrist, der auch das alles entscheidende Politische auflösen und somit Staat und Autorität auslöschen will, nur noch der Katechon. Das hat mit der Weltsicht der Urchristen vermutlich wenig gemein, wie Motschenbacher gegen Schmitt opponiert. Und es mag – theologisch gedacht – auch angehen, dass für die um ihr Auserwähltsein Wissenden, die ihr Heil nicht von dieser Welt erwarten, alle irdischen Ordnungen relativiert sind.460 Obwohl wir zu beachten haben, dass der Mensch gleichwohl in eine bestimmte weltliche Ordnung hineingeboren wird und im Laufe seines irdischen Daseins möglicherweise gute wie schlechte Ordnungen zu erleben hat, wird er trotz seiner Heilserwartung höchstwahrscheinlich eine gute Ordnung bevorzugen – eine Haltung, die Carl Schmitt nicht teilen kann. Selbstverständlich nicht, möchte man hinzufügen, denn Schmitt war in erster Linie Staatsrechtswissenschaftler und ein primäres Interesse zielte darauf, „daß

457 Löwith (1953). 458 Motschenbacher (2000, S. 208). Die Verleihung der Kaiserwürde durch den Papst an ein Königtum begreift er so als einen katechontischen Auftrag für einen Christen, den Antichrist mit weltlich-militärischen Mitteln aufzuhalten (ebd.). 459 Eichhorn (2000, S. 222.) 460 So Motschenbacher (2000, S. 222.)

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[die Partei]461, das Chaos nicht nach oben kommt, daß Staat bleibt. Um welchen Preis auch immer“.462 Taubes zeigt für diese Haltung Verständnis, weil für den Juristen gelte: „solange auch nur eine juristische Form gefunden werden kann, mit welcher Spitzfindigkeit auch immer, ist es unbedingt zu tun, denn sonst regiert das Chaos. Das ist es, was er später das Katechon nennt: Der Aufhalter, der das Chaos, das von unten drängt, niederhält“.463

Eigentlich müsste man den Katechon in den Plural setzen, denn so Schmitt: „Man muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden“ (G 63).

2.5.3. Antichrist und Apokalyptik. Die Figur des Antichristus dient Schmitt schon in Däublers Nordlicht und in der Katholizismus-Schrift zur Charakterisierung der Gegenwart. Später findet er ihn – „Der Geist der Technizität (…) ist Geist, vielleicht böser und teuflischer Geist“ (BP 93) – in seiner Schrift Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen – und er sieht ihn hinter dem absoluten Rationalismus, dem radikal-kapitalistischen, den Staat negierenden, Ökonomismus und hinter allen mechanisch-technizistischen Theorien, die nur der Vollendung der Säkularisierung dienen. Am entschiedensten aber

461 Motschenbacher (2000, S. 223) lässt in der teilweisen Wiedergabe dieses Zitats von Jacob Taubes, auf den er sich argumentierend bezieht „die Partei“ – gemeint sind primär die NSDAP und wohl auch die KPD – unter den Tisch fallen. Diese Auslassung ist jedoch u.a. wichtig für die Bewertung der Rolle, die Schmitt in der Endphase Weimars eingenommen hat. Taubes führt vor dem obigen Zitat aus: „Aber ich kann Ihnen nur sagen, wenn wir jetzt zum Politischen kommen, daß Schmitt 32 gewarnt hat. Er wollte die Kommunisten und die Nazis ausschließen und ein Präsidialregime für vier Jahre, nach dem § 48 usw. durchhalten, bis diese radikalen Kräfte, die die Republik unterminieren, verschwinden, oder mindestens ins Abseits geraten. Wissen Sie, also, wenn ich zwischen Demokratie und der Regierung mit dem § 48 um die Nazis zu verhindern zu wählen hätte, da wär ich mir nicht im Zweifel gewesen“ (Taubes 1987, S. 72). 462 Taubes (1987, S. 72; Herv. w.a.m.). 463 Ebd. S. 72/73.

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zeigt sich der Endzeitgegner Gottes im Anarchismus, personifiziert in seinem Hauptvertreter Bakunin.464 2.6. Anthropologisches Glaubensbekenntnis und das Dogma der Erbsünde. Auffallend und zu beachten ist, dass das Gesamtwerk Schmitts – und damit auch diese Darstellung – ein Zwiespalt durchzieht: „Schmitt entscheidet sich nämlich nicht deutlich, ob der Mensch in erster Linie ‚böse‘ oder ‚gefährlich‘ ist. Zwar ist er, wenn er ‚böse‘ ist, auch ‚gefährlich‘, doch der theologische Ansatz könnte dann die Vernichtung des Feindes, als des Vertreters des ‚Bösen‘ nahelegen“.465

Die extrem pessimistische Deutung der Erbsündenlehre übernimmt Schmitt von den Gegenrevolutionären de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés wird dann in enge Verbindung zu einer pessimistischen Anthropologie gebracht.466 Wir schicken also voraus und halten fest, dass in Schmitts Schriften die Einschätzung der wahren Natur des Menschen schwankt. 2.6.1. Die Natur des Menschen: böse oder gut? Es war Heinrich Meier, der in seiner Abhandlung Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden (1988) herausgearbeitet hat, dass das katholische Dogma der Erbsünde ein wesentlicher Bestandteil der politischen Theologie Schmitts ist.467 Die Erbsünde ist für ihn „Dreh- und Angelpunkt des anthropologischen Glaubensbekenntnisses von Carl Schmitt“.468 So macht denn Schmitt gerade die Entwicklungen in der Staatsphilosophie der Gegenrevolutionäre – eine Steigerung der Intensität der Entschei-

464 465 466 467

Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. Maschke (2012, S. 160). Siehe hier die Kapitel Politische Theologie und Der Begriff des Politischen. Man dürfe, so Ottmann, im Hintergrund der Anthropologie vermuten, was bisher verdeckt blieb: die Andeutung von Schmitts religiösem Weltbild (Ottmann 2010, S. 247). 468 Siehe (BP 58); vgl. Quaritsch (1991, S. 38) mit weiteren Nachweisen.

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dung und eine Entwicklung von der Legitimität zur Diktatur – an der „steigenden Bedeutung der axiomatischen Thesen über die Natur des Menschen“ (PT 61) fest, die für ihn dichotomisch angelegt ist: „Jede politische Idee nimmt irgendwie Stellung zur ‚Natur‘ des Menschen und setzt voraus, daß er entweder ‚von Natur gut‘ oder ‚von Natur‘ böse ist“ (PT 61).

Daraus entwickelt Schmitt ein anthropologisches Glaubensbekenntnis, wie es am deutlichsten – wir greifen vor – in Der Begriff des Politischen zum Ausdruck kommen wird und in Der Diktatur bereits angestimmt war: „In jeder Argumentation, die den politischen oder staatlichen Absolutismus rechtfertigt, ist die natürliche Bosheit des Menschen ein Axiom, um die staatliche Autorität zu begründen, und so verschieden die theoretischen Interessen von Luther, Hobbes, Bossuet, de Maistre und Stahl (…) sind, dieses Argument tritt bei allen entscheidend hervor“ (DD).

Für die Dichotomie von guter oder böser menschlicher Natur gebe es zwar zahllose Modifikationen und Varianten, entscheidend aber sei, dass politische Theorien ein problematisches oder unproblematisches Wesen des Menschen „als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung“ unterstellen und dass sie stillschweigend voraussetzen, der Mensch ist gefährlich und riskant oder harmlos und nichtriskant (BP 59). Schmitt diktiert ausgrenzend, alle echten politischen Theorien setzten den Menschen als „böse“ voraus (BP 61).469 Maßgeblicher Grund für diese These ist das katholische Dogma von der Erbsünde.470 2.6.2. Das Dogma von der Erbsünde. Das Erbsündendogma beruht auf der Annahme von der „natürlichen Bosheit“ des Menschen. Schmitt orientiert sich an der radikalen Auslegung der Erbsündenlehre von Donoso Cortés, dessen Verachtung des Menschen keine Grenzen mehr kenne.471 Cortés steht damit allerdings gegen die

469 Zur Begründung dieser These vgl. hier das Kapitel Der Begriff des Politischen, Kernthese 8. 470 Man dürfe, gibt Ottmann theologischer Interpretation Raum, im Hintergrund der Anthropologie vermuten, was bisher verdeckt blieb: die Andeutung von Schmitts religiösem Weltbild (Ottmann 2010, S. 247). 471 Siehe hier in Politische Theologie den Abschnitt Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution.

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Auffassung des Konzils von Trient (1545-1563), das die Erbsünde durch Christus in der Taufe als vollkommen getilgt sieht. Zudem habe die Kirche „immer wieder und zu allen Zeiten den die Sünde übersteigenden universalen Heilswillen Gottes betont, der bei Carl Schmitt freilich keinen Platz hätte“.472

Motschenbacher weist rückblickend darauf hin, dass Schmitt in dem Essay Das Nordlicht und in dem Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche von der natürlichen Güte des Menschen gesprochen habe: „Darum ist für die christliche Auffassung die Gesetzmäßigkeit der sichtbaren Welt ebenfalls von Natur gut; die christliche Regelung menschlicher Beziehungen war vor der Bosheit und der Sünde da und ist nicht ihre Folge“ (DSdK 78; Herv. w.a.m.).

Die Vorgängigkeit der Rechtsordnung vor der Sünde habe sich über eine ganze Hierarchie von Mittelbarkeiten institutionalisiert und dann in der juridischen Form der Kirche verfestigt. Endlich würden nur noch die Institutionen als gut angesehen, hingegen der Mensch als „von Natur aus böse“ und in der Erbsünde verharrend. Diese Sichtweise macht Schmitt auch für den Staat geltend. Auch er geht dem Sündenfall vor, ist nicht etwa die Schöpfung sündhafter Menschen und damit selbst ein Ausfluss der Sündhaftigkeit. Im Gegenteil: Da er vor dem Sündenfall bereits existent, „wird er mehr oder minder indirekt zu einer Stiftung göttlichen Willens. Einem Denken, das den Staat solchermaßen sakralisiert, kann die Säkularisierung und der damit verbundene Wandel der Legitimitätsvorstellungen dann nur als Abfall vom rechten Glauben erscheinen“.473

2.6.3. Die Instrumentalisierung der Kirche zum Kampf gegen den Anarchismus. Für Motschenbacher ist Schmitts Verweis auf das Erbsündedogma kein Ausdruck seines Glaubens.474 In seinem Kampf gegen den Anarchismus folge er diesem auf dessen ureigenstes Schlachtfeld: Dem anarchistischen Grundaxiom: der Mensch ist radikal gut, stellt er das radikalisierte Dogma der Erbsünde mit dem Ziel entgegen, die staatliche Autorität zu begrün-

472 Motschenbacher (2000, S. 87). 473 Ebd. 474 Ebd. S. 88.

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den.475 Wenn Motschenbacher insistiert, Schmitts Argumentation mit der Erbsündenlehre sei „rein taktischer Natur“ und besitze „rein instrumentellen Charakter“, oder – wie in der Katholizismus-Schrift – zwar auf die Menschwerdung Christi verweise, zuvörderst aber die zur autoritären Entscheidung fähige, institutionell verfasste Hierarchie der katholischen Kirche bewundere, mag im Grundsatz recht haben. Aber deshalb kann die Anwendung des kirchlichen Instrumentariums zwar taktischer Natur sein und trotzdem Ausdruck des Glaubens, auch wenn die religiöse Seite „arg zurückgedrängt“476 wirkt. Carl Schmitts politische Theologie dient vor allem der Begründung und Aufrechterhaltung von Herrschaft und Ordnung. Sie agiert gegen Bakunins Theoreme der Anarchie, die, setzten sie sich denn durch, den Tod jeder Ordnung und Autorität mit sich brächten. Wie zentral diese Gefahr für Schmitt zu diesem Zeitpunkt ist, zeigt die Entwicklung seines Denkens von der Politischen Romantik über die Politische Theologie zu seiner Katholizismus-Schrift.477 Dafür betätigte Schmitt sich weniger als Theologe, sondern explizierte eine „Ordnungstheologie“478. 2.6.4. Carl Schmitt, der französische Katholizismus, Charles Maurras und die Action française. In Carl Schmitts Politischer Theologie ist eine prioritäre Befassung mit dem französischen Katholizismus auffällig. Nicht zu Unrecht wird deshalb gefragt, durch welchen Katholizismus Schmitt geprägt ist.479 Für den – von Schmitt bevorzugten – französischen Katholizismus dieser Zeit spricht, dass dieser sich mit dem Liberalismus, der nach den Revolutionen von 1789 und 1848 bestimmend wurde, nie identifiziert hat und den künftigen und wirklichen Feind im atheistischen Sozialismus ausmacht.480 So wird einerseits beklagt, dass Schmitt den deutschen Katholizismus weitgehend beiseitelässt481, andererseits aber, dass in nahezu allen Arbeiten über 475 Vgl. ebd.; s. (DD 9). 476 Motschenbacher (2000, S. 89). 477 Siehe dazu (ebd.). Wir behandeln bzw. haben dieses Problemfeld in den jeweiligen Kapiteln zu den o.g. Schriften behandelt. 478 Begriff bei Kodalle (1973, S. 116). 479 Siehe nur Motschenbacher (2000, S. 91). 480 Ebd. S. 90. 481 Ebd. S. 91.

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den Katholizismus der Weimarer Republik Schmitt nicht oder nur am Rande erwähnt wird482. Für Manfred Lauermann ist es der antideutsche Katholizismus der Action française, den Schmitt in Stil und Gestus „imitiert“ und der sich in Leon Daudet, Maurice Barrès, Charles Maurras bzw. im Renouveau catholique Leon Bloys oder Charles Péguy personifiziert.483 Seine offensichtliche Präferenz für den romanischen Katholizismus zeigt sich in der wiederholten Befassung mit seinen Vertretern de Bonald, de Maistre und Donoso Cortés. Zwei Bewegungen sind es, die in Frankreich zwischen den Weltkriegen reüssieren und nach Deutschland einwirken: der Renouveau Catholique und die Action française. 2.6.4.1. Renouveau Catholique. Die katholische Kulturtradition erlebt am Ende des 19. Jahrhunderts ein Aufblühen katholisch-christlicher Kunst. Kirchliche Architektur, Sakralmusik, liturgische Handlungen und vor allem religiöse Literatur werden als Renouveau Catholique, als katholische Erneuerung, gefeiert. Das Fin de Siècle oder der Dekadentismus hatten das dekadent-morbide Existenzgefühl dieser Generation zur Kunstform gegen den Positivismus der Naturwissenschaften und den Naturalismus in der Literatur erhoben. Die Zeit von 1890 bis zum Beginn des Weltkriegs wiegte zwischen Zukunftseuphorie und Weltuntergangsphobie, zwischen Todessehnsucht und leichtlebigfrivoler Dekadenz, war also nicht zuletzt auch ein Lebensgefühl, das auf einem großen Stilpluralismus gründete.484 Die Hauptimpulse des Renouveau gingen bei aller gesamtgesellschaftlichen Fundierung von der Literatur aus, die neben dem Naturalismus auch vom – aus der Dekadenzstimmung schöpfenden – Symbolismus geprägt war. Er stellt Letztfragen der menschlichen Existenz, deckt die sozialen und kulturellen Probleme des ausgehenden Jahrhunderts auf und diagnostiziert das nationale Leben der Republik als malade, noch immer leidend unter dem verlorenen Krieg 1870/71, dem Sturz der Monarchie und dem Aufstand der Pariser Kommune. Eine hohe Selbstmord- und Verbrechensrate, Krankheiten und Epi-

482 Lauermann (1994, S. 301). 483 Ebd. S. 305. 484 Vgl. Lindhorst (1995, S. 9); zu den Wurzeln des Renouveau catholique (ebd. S. 12-16).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

demien zeugen zudem „vom morbiden Zustand des Landes“.485 Aus diesem gesellschaftlichen Gesamt geht ein neuer – „oft ins Mystisch-Theosophische abschweifender“ – Katholizismus hervor.486 Vor allem der Literat Léon Bloy, vom Nihilisten zum fanatischen Katholiken und Apokalyptiker konvertiert, erregte Schmitts Aufmerksamkeit. Dieser „große Buchhalter des Absoluten“ (GL 39) setzte dem Optimismus auf eine positivistische Zukunft beständig seine Warnungen vor der drohenden Katastrophe entgegen.487 Mit der zunehmenden internationalen Krisenlage und dem Ausbrechen des Ersten Weltkriegs wächst im Renouveau catholique die Gruppe derer, die aus einer chauvinistischen, nationalistisch-konservativen Haltung heraus auch eine militärische Lösung befürworten. Sie sammeln sich in der Action française.488 2.6.4.2. Action française und Charles Maurras. Die Action française489 war im Zuge der Dreyfus-Affäre490 im April 1898 als eine nationalistische, republikanische, antisemitische und populistische politische Bewegung in Frankreich gegründet worden, um dann unter dem maßgeblichen Einfluss des deutschlandfeindlichen Publizisten und Schriftstellers Charles Maurras491 den Antisemitismus, einen militanten Katholizismus sowie einen integralen Nationalismus – der Begriff stammt von ihm selbst – zu vertreten. Gegner sind der Anarchismus, das Judentum und Deutschland: „‚Der Barbar aus der Tiefe, der Barbar aus dem Osten, unser Demos flankiert von seinen beiden Freunden, dem Deutschen und dem Juden.‘ Sie sind die Protagonisten einer europäischen und planetarischen Verschwörung gegen den Katholizismus und Frankreich, in ihrem Zusammenspiel verwirklicht sich ein ‚teuflischer Plan‘“.492

485 Ebd. (S. 18). 486 Hauptvertreter sind Jules-Amédéé Barbey d’Aurevilly, Léon Bloy und Joris-Karl Huysmans. 487 Vgl. Motschenbacher (S. 91). 488 Vgl. Lindhorst (1995, S. 19). 489 Grundsätzlich Nolte (1984; insb. S. 59-190). 490 Ebd. S. 90 ff.. 491 Ebd. S. 91-102. 492 Ebd. S. 168;inneres Zitat Charles Maurras.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Ziel des integralen Nationalismus, der sich chauvinistisch, protofaschistisch, antiparlamentarisch und antidemokratisch gebärdete, war die Rückkehr zur Erbmonarchie. Carl Schmitt kannte die Schriften Maurras und das Organ der Bewegung, L‘Action française, wäre ihm laut Zeitzeugen, die interessanteste Zeitung gewesen, die es heute gibt (LFCS 89).493 Es gibt zwischen Maurras und Schmitt (und Cortés) in einigen Punkten gemeinsame Ansichten. So ist das demokratisch-liberalistische Bürgertum für alle eine „diskutierende Klasse“.494 Ob zwischen beiden aber eine „starke Affinität“ bestand, was sich aus einem Brief Walter Gurians an den Theologen Erik Peterson erschließen könnte,495 bleibt n.u.A. offen. Auch dass Schmitt Gurian zu einer Dissertation über „Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789/1914“ angeleitet hatte, zeigt das vorhandene Interesse Schmitts an dieser Thematik, bleibt für weiterreichende Überlegungen aber nur ein Indiz. Für Maurras rührten alle Übel der Moderne aus der Revolution von 1789. Als ein Ordnung strukturierendes Mittel gilt ihm der Katholizismus – die von ihm idealisierte französische Nation aber ist der eigentliche Zweck aller Politik,496 die für Maurras „zur äußersten und notwendigen ‚Synthese‘“ wurde und aus ihrem Zusammenhang mit Theologie, Metaphysik und Ästhetik nicht herausgelöst werden könne.497 Was aber nichts daran änderte, dass Maurras den Katholizismus zu einer Organisationsform säkularisierte und über sich sagte: „Je suis athée, mais je suis catholique“. „‚Dieser „agnostische Katholizismus von Maurras‘498 kann die Kirche nur als hilfreiches Instrument erfassen, nicht jedoch in ihrem ureigensten Verständnis als Institution der Heilsvermittlung mit der Aufgabe, das Evangelium auszubreiten. Ähnlich urteilt auch Nolte über Maurras: ‚sein Katholizismus ist antichristlich‘499.“

493 Siehe Mehring (2009, S. 143 f.); vgl. Motschenbacher (2000, S. 91 f.); siehe Quaritsch (1989, S. 61). 494 Motschenbacher (2000, S. 95). 495 So Motschenbacher (2000, S. 92). 496 Siehe Nolte (1984, S. 100). 497 Ebd. (S. 102). 498 Gurian zit. in Motschenbacher (2000, S. 97). 499 Nolte (1984, S. 168); s. a. Motschenbacher (2000, S. 97).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Motschenbacher resümiert: „Die Ähnlichkeit, ja mehr noch die Übereinstimmung der Gedanken Maurras‘ mit denen Carl Schmitts in den zentralen Punkten ist frappant und erlaubt es, von Maurras als einem radikaleren Bruder Schmitts zur konservativen Seite hin zu sprechen“.500

Für ihr Ordnungsdenken, für die Bestimmung des gemeinsamen Feindes im anarchistischen Individualismus und anarchistischen Sozialismus und für die Berufung auf die Tradition des römischen Katholizismus mit seiner Hierarchie mag dieser Vergleich – lässt man den „Bruder“ beiseite – angehen. Aber war Carl Schmitt Agnostiker oder gar Atheist, ein „gottloser Kleriker“501? Für Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung. trifft, so völlig zu Recht Mehring, „eher das Gegenteil zu: der christliche Vorbehalt gegen die Kirche“.502

500 Motschenbacher (2000 S. 110). 501 Franz Blei, zit. in Mehring 2009, S. 145). 502 Mehring (2009, S. 145).

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Dritter Teil: Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles.

Erstes Kapitel: München vor dem Putsch. Über München, wo er erfahren muss, dass Cari seine Möbel verkauft hat und außer Landes gegangen ist, reist Schmitt Ende März 1923 nach Bad Tölz. Während sein Katholizismus-Essay erscheint, arbeitet er an seiner Parlamentarismusschrift und liest Reden Mussolinis; im Mai beginnt er, zu schreiben.1 Aus dieser Zeit rührt auch eine der ersten Einschätzungen des deutschen Rechtsextremismus: „Schmitt setzt darauf, dass diese Bewegung letztlich im Rahmen der staatlichen ‚Autorität‘ bleibt und als Antidot gegen ein Versagen des Parlamentarismus vor der Fundamentalaufgabe der Regierungsbildung heilsam sein könnte“.2

Privat schwanken seine Gedanken heftig zwischen Murray und Duska, zumal letztere ihn bis Ende Juli um sich werben lässt.3 Im Herbst reist Schmitt erneut nach München, wohnt bei seinem jüdischen Lektor und Freund Feuchtwanger – all dies wenige Wochen vor dem Münchner Putsch. Es ist ihm eine „sensationelle Situation, der berufsmäßige Beobachter des heutigen politischen Schauspiels zu sein“.4 Es ist insbesondere das von ihm konstatierte Scheitern des Parlamentarismus, mit dem er seinen „Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ einleitet, wie verschiedene Aufsätze zeigen. Bedeutungsvoll ist – wir greifen vor – insbesondere der Aufsatz Reichspräsident und Weimarer Verfassung, der zur Präsidentenwahl 1925 publiziert wird. Schmitt warnt vor einer übergroßen Machtfülle des Reichspräsidenten, die selbst in einer konstitutionellen Monarchie kaum möglich sei, sieht die Gefahr einer verfassungsmäßigen Diktatur. Zwar habe der verstorbene Reichspräsident Ebert sich auf das Präsidentenamt als eine pouvoir neutre verstanden, danach gehandelt und damit sogar einen aus-

1 2 3 4

Siehe Mehring (2009, S. 155). Ebd. S. 156. Ebd. S. 157. Aus dem Briefwechsel Schmitt – Feuchtwanger, hier zit. n. Mehring (2009, S. 162).

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Erstes Kapitel: München vor dem Putsch.

gleichenden neuen „Typus eines republikanischen Staatspräsidenten“ geschaffen (SGN 26). Mit einem neuen Präsidenten aber könne die Verfassung ein völlig neues Gesicht erhalten (SGN 27). „Er [Schmitt; w.a.m.] redet nicht den Diktator herbei, sondern warnt vor seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeit“.5 Ende Oktober 1923 erscheint die Parlamentarismusschrift. Den Jahreswechsel 1923/24 verbringt er mit Duska, die Anfang Januar 1924 zu ihren geschiedenen Eltern reist und erst Anfang Mai lebensbedrohlich erkrankt zurückkehrt. Schmitt selbst hat Angst vor ihrer schweren Tuberkulose. Am 21. Januar erfährt er erfreut, dass die zuständigen Behörden seine Ehe mit Cari für „nichtig“ erklären. Umgehend strengt er auch die kirchliche Nichtigkeitserklärung seiner Ehe an. Caris falsche Identität und die Lüge über ihre adelige Herkunft sind die zentralen Begründungen seines Antrags; sie seien sine qua non-Bedingungen der Heirat gewesen. Das Kirchengericht wird diese beiden Gründe – als nicht überzeugend bewiesen – zurückweisen. Im März 1924 lehnt er die Kandidatur auf einem für die Reichstagwahl sicheren Listenplatz der Zentrumspartei ab und „emigriert“ für einige Zeit nach Berlin, wo er sein Referat für die Staatsrechtslehrertagung verfasst. Die Benennung als Referent stärkte die Position Carl Schmitts in der Zunft der Staatsrechtsprofessoren weiter 6

5 Mehring (2009, S. 162). 6 Siehe ebd. S. 163 ff.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923).7

„Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentarisieren, wobei zunächst noch nicht nach Demokratie gedacht zu werden braucht.“ Carl Schmitt8

I. Einführung und Werkgeschichte. Klaus v. Beyme stellte einmal pragmatisch fest, dass die Kritik am Parlamentarismus so alt sei wie der Parlamentarismus selbst.9 Für die Verfechter parlamentarischer Systeme beweist er somit eine beruhigende Dauerhaftigkeit, wie er zugleich – da nicht naturgegeben – Gegenstand kritischer Analyse war und ist. Die kritischen Perspektiven sind zeitgebunden, weil sie sich in aller Regel auf die Manifestationen des gerade geltenden parlamentarischen Systems beziehen. Die Kritik wird derart schnell „historisch“. Dies gilt auch für die Kritik von Carl Schmitt, die sich am Parlamentarismus der Weimarer Republik und der politischen Kultur und dem politischen System entzündet, in die der eingebettet ist. Die Parlamentarismusschrift Carl Schmitts – nach Der Begriff des Politischen seine wohl bekannteste Publikation – erschien 1923 zunächst als Aufsatz für eine Festschrift. Die erste Buchfassung folgte im selben Jahr, die zweite Auflage 1926. Sie unterscheidet sich von der Erstauflage vor allem durch stilistische Neuerungen und einige erläuternde Weiterungen, die aber den Strang der Argumentation und den Inhalt der Erstauflage nicht veränderten. Neu ist die erweiternde Einfügung des Aufsatzes Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie als

7 Sigle = GLP. Wir zitieren nach dem Nachdruck der zweiten Auflage von 1926. 8 (GLP 43). In dem Zitat sind die beiden Strukturprinzipien: „Öffentlichkeit“ und „Diskussion“ benannt. 9 v. Beyme, hier zit. in Marschall (2017, S. 217; s. nachst. ebd.).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

Vorwort zur Zweitauflage (GLP 5-23), der als Erwiderung auf die Kritik von Richard Thoma (1925) an Schmitts Parlamentarismusschrift zu lesen ist.10 Schmitt verlässt mit der Parlamentarismusschrift das thematische Umfeld der Diktatur und wendet sich der juristischen und politischen Analyse der Weimarer Verfassung zu. Zu Recht wird n.u.E. von einigen Interpreten eine partielle inhaltliche Fortsetzung der Politischen Romantik gesehen, weil Schmitt die – nach seiner Ansicht inzwischen degenerierte – Debatten„kultur“ des Parlaments mit dem unendlichen Gespräch der Romantik analogisiert, das zu keiner Entscheidung mehr fähig ist. Da Schmitt das letzte Kapitel in seine 1940 aufgelegte Aufsatzsammlung Positionen und Begriffe – unter dem Titel Die politische Theorie des Mythus – aufgenommen hatte, folgert Mehring, Schmitt habe damit seinen Kampf gegen Weimar – Genf – Versailles auf das Krisenjahr 1923 festgelegt.11 Vorwärtsschauend wird es interessant werden, die ParlamentarismusSchrift mit Schmitts Broschüre Legalität und Legitimität von 1932 in Beziehung zu setzen, in der der spannungsreiche und gegensätzliche Dualismus von Demokratie und Liberalismus in seiner Wirkung auf die Weimarer Verfassung untersucht wird.12 Mehrings Urteil trifft ins Volle, wenn er der Schrift attestiert: „Schon für sich genommen wirft sie mit ihrer Überfülle an Aspekten und starken Thesen zahlreiche Fragen auf“.13

Schmitt misst im ersten Schritt seiner Betrachtung den Parlamentarismus an dessen eigenem „Wesensgehalt“: kann der Parlamentarismus halten, was er selbst von sich erwartet? Im zweiten Schritt misst er den real existierenden Parlamentarismus an seinen eigenen Vorstellungen von Demokratie und Politik. Damit betätigt sich Schmitt sowohl als Kritiker wie als Theoretiker des Parlamentarismus.14 Dieser stellt sich ihm als „Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen dar, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt“ (GLP 43).

Wir werden sehen, dass Schmitt die sich selbst gestellte Frage, ob denn die existierenden Parlamente dieser ursprünglichen Bestimmung nachkommen

10 11 12 13 14

358

Siehe Neumann (2015, S. 55 f.). Siehe Mehring (2017, S. 57). Ebd. S. 66. Ebd. Siehe Marschall (2017, S. 219).

II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

könnten, verneint.15 So seien die Parlamentarier keine „Träger der Vernunftbruchstücke“ mehr, sondern nur noch Parteiagenten. „Öffentlichkeit“ der Diskussion als Wesensmerkmal sei ebenso nicht mehr gewährleistet, weil die Entscheidungen in Partei- und Fraktionszirkeln bereits gefallen sind. Wicht zu wissen ist, dass Schmitt die parlamentarische Gegenwart am Ideal eines „Honoratiorenparlaments“ misst und so letztlich zu einer Verfallstheorie des Parlamentarismus gelangt. Dass der Dezisionist Schmitt in der „Ewigkeit“ parlamentarischer Diskussion – womöglich noch ohne oder in Hinterzimmern bereits getroffener Entscheidungen – ein Verfallsmerkmal ausmacht, ist nahezu zwangsläufig. Das Wesensmerkmal der öffentlichen Diskussion ist den Parlamenten so entzogen worden. Hinzu tritt als ein weiteres Negativum der Verlust der Entscheidungseffizienz. II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).16 Dass die zweite Auflage im Wesentlichen unverändert aufgelegt worden sei, bedeute keineswegs, so Schmitt einleitend, dass sie sich über jede Kritik, die es gegeben habe, erhaben stelle (GLP 5; nachst. GLP 5 ff.). Er fürchte vielmehr, dass eine streng wissenschaftliche, propagandafreie Veröffentlichung auf mangelnde Resonanz stoßen werde. „Vielleicht geht die Epoche der Diskussion überhaupt zu Ende“ (GLP 5), sinniert er, auch im Hinblick auf seine Parlamentarismusschrift. Eine sachliche Kritik missachte er keineswegs, insbesondere wenn sie von einem hervorragenden Juristen wie Richard Thoma stamme.

15 Marschall (2017, S. 219; nachst. s. S. 219 f.). 16 Wir behandeln diese Vorbemerkung ausführlicher, als gemeinhin zu erwarten wäre, weil sie zentrale demokratietheoretische Probleme und Ansichten Carl Schmitts behandelt bzw. vorwegnimmt. Sie erleichtern das Verständnis der chronologisch folgenden Schriften, bis dann u.a. die Verfassungslehre diese Fragen im Detail bespricht.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

1. Grundprinzipien des Parlamentarismus: Öffentlichkeit und Diskussion. Thoma hatte Schmitt vorgehalten, er habe seine Schlüsse auf der Basis eines veralteten Parlamentarismuskonzepts gezogen, das immer noch „Diskussion“ und „Öffentlichkeit“ für seine wesentlichen Prinzipien halte. Schmitt hält dem entgegen, er sehe nicht, worauf eine neue Parlamentarismustheorie sich gründen könne, wenn diese beiden geistigen Grundlagen entfielen, die auf Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill zurückgingen. Neuerungen seien nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, nicht aus prinzipiellen Erwägungen erfolgt. Schmitt konzediert, dass dies kaum bemerkt worden sei, weil sich Parlamentarismus und Demokratie im Gleichschritt vorwärtsentwickelt hätten und nur unzureichend unterschieden worden seien: „Heute aber, nach dem gemeinsamen Siege, tritt der Gegensatz zutage und kann der Unterschied von liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen nicht länger unbeachtet bleiben“ (GLP 6).

Nur aus der Beschäftigung mit diesen Denkern ist für Schmitt die geistige Grundlage der besonderen Institution „Parlamentarismus“ erschließbar. Dass der Parlamentarismus gegenüber der unmittelbaren Demokratie, dem Bolschewismus wie dem Faschismus eine geistige Überlegenheit wahren kann, besser oder das kleinere Übel oder als Regierungsmethode und politisches System schlicht praktikabler ist, seien geistesgeschichtlich nichtrelevante Nützlichkeitserwägungen, die sich nicht in der Sphäre eines prinzipiellen Interesses bewegen. „Alle spezifischen parlamentarischen Einrichtungen und Normen erhalten erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn“ (GLP 7; nachst. s. GLP 7 ff.).17

Es gibt, so Schmitt, eine „Heterogonie der Zwecke“ und einen Bedeutungswandel in der Praxis, aber man kann nicht, einer Institution beliebig neue Prinzipien verordnen oder einfach durch andere ersetzen, denn eine „Heterogonie der Prinzipien“ (GLP 7/8) gibt es nicht, auch wenn dies der eigentliche Grundgedanke der Einwände Thomas sei. Neue Prinzipien des Parlamentarismus biete Thoma nicht und beschränke sich darauf, nur auf die Schriften von Weber, Preuß und Naumann, somit nur auf deutsche demokratische Liberale, zu verweisen.18 Diese hätten sich vom Parlamenta-

17 Siehe auch (PR 10). 18 Thoma verweise nur auf die Schriften von Max Weber, Hugo Preuß und Friedrich Naumann aus den Jahren 1917 ff.

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

rismus die Beseitigung von Dilettantismus versprochen und eine Elitenbildung erhofft. Eine elitensoziologische Rechtfertigung des Parlamentarismus als Instrument der politischen Führungsauslese19 hielt Schmitt allerdings für illusionär. In manchen Staaten habe es der Parlamentarismus bereits geschafft, „daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist“ (GLP 8; nachst. s. GLP 8 f.).

Die These der Elitenbildung mittels Parlament muss nach Schmitt umgehend aufgegeben werden, wenn sie sich nicht bewährt. Wenn sich andererseits die Überzeugung, der Parlamentarismus garantiere eine politische Elitenbildung mit dem Glauben an die Prinzipien von Diskussion und Öffentlichkeit verbindet, dann gehört sie zur prinzipiellen Argumentation des Parlamentarismus. Aber das Kriterium der öffentlichen Diskussion entspricht hier nicht einfach der üblichen Bedeutung von Verhandeln in einem ökonomischen Zusammenhang. In der modernen parlamentarischen Praxis meint „Diskussion“ einen Meinungsaustausch mit dem Anspruch, den Gegner rational von der Richtigkeit der eigenen Meinung zu überzeugen mit dem Ziel, dass die Gesetze aus einem Kampf der Meinungen – nicht der Interessen20 – hervorgehen. Dies setzt die Bereitschaft des politischen Gegners voraus, sich überzeugen zu lassen, sich von Parteiinteressen und egoistischen Interessen frei zu machen, was die meisten Beobachter heute kaum mehr für möglich halten.21 Schmitt bewertet für seine Zeit den Zustand des Parlamentarismus wegen der modernen Massendemokratie äußerst kritisch. Deren Einflüsse haben eine rationale und argumentative öffentliche Diskussion wie auch die geforderte Unabhängigkeit des Abgeordneten „zu einer leeren Formalität“ (GLP 10; nachst. s. GLP 10 ff.) entwertet. Die Parteien stehen sich als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen gegenüber, die sich in der Berechnung von Marktchancen üben. Es geht nur noch darum, die Wählerstimmen der Masse zu gewinnen und dann zu herrschen. Die Prinzipien

19 Mehring (2017, S. 64). 20 Herv. durch Verf.. 21 Zu Einzelheiten siehe (GLP 9 f.). Somit kann Schmitt den Satz von Bentham satirisch zurückweisen: „Im Parlament treffen sich die Ideen, die Berührung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evidenz“ (GLP 12).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

und Beweisgründe der Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill sind also veraltet, die Definition des Parlamentarismus als „government by discussion“ muss als „verschimmelt“ (Thoma) gelten, die bloßen Verweise auf Weber, Preuß und Naumann reichen nicht mehr aus und ihre soziologische Elitentheorie ist erschüttert. Nahezu vernichtend kritisch resümiert Schmitt seine bisherigen Befunde zu den Prinzipien des Parlamentarismus und deren Abgrenzung von reinen technischen Nützlichkeitserwägungen (GLP 12 f.; nachst. vgl. GLP 13). Und er beharrt darauf, dass auch die tieferen Gründe für diese Malaise freigelegt werden müssen: „Wird das Parlament aus einer Institution von evidenter Wahrheit zu einem bloß praktisch-technischen Mittel, so braucht nur in irgendeinem Verfahren, nicht einmal notwendigerweise durch eine offen sich exponierende Diktatur, via facti gezeigt zu werden, daß es auch anders geht, und das Parlament ist dann erledigt“ (GLP 13; Herv. im Original).

2. Parlamentarismus, Liberalismus und Demokratie: Demokratie als Identität. Es gibt immer wieder Stellen und Gedankengänge bei Schmitt, die man am besten als wörtliches Zitat an den Leser weitergibt. Die nachstehende Jerichonade ist eine solche: „Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Es gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht“ (GLP 13; nachst. GLP 13 ff.).

Schmitt setzt seine demokratietheoretischen Erwägungen fort. Jede „wirkliche Demokratie“ hat sich für ihn auf das Faktum zu stützen, dass Gleiches gleich und – „mit unvermeidlicher Konsequenz“ (GLP 13/14) – Nichtgleiches nicht gleich behandelt wird. Und weiter: Die Gleichheit bzw. die Identität von Regierenden und Regierten macht die Demokratie aus, nicht etwa die Freiheit, auch wenn die Kämpfe um die politische Freiheit seit jeher im Namen der Demokratie geführt worden waren:22

22 Wir greifen an dieser Stelle zur Verdeutlichung vor. In der Verfassungslehre (VL) von 1927 definiert Schmitt: „Demokratie ist eine dem Prinzip der Identität (nämlich des konkret vorhandenen Volkes mit sich selbst als politischer Einheit) entsprechende Staatsform“ (VL 223).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (GLP 14; nachst. GLP 14 f.).

Die „politische Kraft einer Demokratie“ zeigt sich in der Schaffung von Homogenität (ebd.). Als Beispiele dienen Schmitt die „Türkisierung“ der Türkei mit ihrer radikalen Aussiedlung der Griechen sowie Australien mit seiner restriktiven Einwanderungsgesetzgebung. „Gleichheit“ ist dabei ein substantieller Begriff und nur auf einem solchen kann eine Demokratie begründet werden (ebd.; s. auch VL 226). Zu finden ist diese Substanz in bestimmten staatsbürgerlichen und physischen sowie moralischen Tüchtigkeiten, religiösen Überzeugungen und „vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität“ (ebd.).23 Schmitt wird gegen Ende der Parlamentarismus-Schrift die Überlegenheit des Nationalen postulieren. Nur die materiale Auffüllung des Gleichheitsbegriffs macht politische Unterscheidungen wie die Unterscheidung von Freund und Feind überhaupt möglich.24 Dass Gleichheit immer mit Ungleichheit einhergeht und ein Staat Teile der Bevölkerung von der politischen Gewalt ausschließen kann, beseitigt nicht seinen Status als Demokratie. Historisch, so Schmitt, zeige dies die athenische Stadtdemokratie, modern der englische Imperialismus. Letzterer übt Herrschaft über eine heterogene Bevölkerung aus. Er macht diese nicht zu Staatsbürgern und trotzdem gelingt es, sie „vom demokratischen Staate abhängig zu machen und doch gleichzeitig von diesem Staate fernzuhalten“ (GLP 15). Mittel zum Zweck sind Institutionen wie Kolonien, Protektorate u.a. Diese Einwürfe Schmitts gelten erneut Thoma, für den jeder Staat eine Demokratie ist, in dem das allgemeine und gleiche Wahlrecht „zum Fundament des Ganzen“ gemacht ist – was ja für das englische Weltreich gerade nicht gilt; eine Demokratie sei England gleichwohl (GLP 16; nachst. vgl. GLP 16 f.) Schmitt vertritt keinen formalen Gleichheitsbegriff. Nicht jeder erwachsene Mensch soll als Mensch jedem anderen Menschen politisch gleichge-

23 „Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, wobei diese Zugehörigkeit durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein kann“ (VL 227). 24 Siehe dazu Neumann (2015, S. 58). Näher zu dieser Thematik siehe hier die Kapitel Verfassungslehre und Der Begriff des Politischen.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

stellt sein: „Das ist ein liberaler, kein demokratischer Gedanke“ (GLP 16). Die auf substantieller Gleichheit und Homogenität fußende Demokratie mutiert für ihn zur „Menschheitsdemokratie“, die es schon deswegen nicht gibt, weil die Erde in „national homogene Staaten“ (GLP 16) aufgeteilt ist und folglich keineswegs jeden Menschen als gleichberechtigten Bürger behandelt. Im Übrigen hat es noch nie eine Demokratie gegeben, die nicht auch den Begriff des Fremden gekannt hätte. Insbesondere stehen sich die Menschen auf dem Gebiet der Politik als Staatsbürger, Regierende oder Regierte, Verbündete oder Gegner gegenüber, „also jedenfalls in politischen Kategorien“ (GLP 17). In jeder Annäherung an die absolute Menschengleichheit liegt für Schmitt eine Entwertung der politischen Gleichheit und begibt sich so auf den Weg zum Gleichgültigen. Was bleibt, ist eine politische Scheingleichheit, weil sich die substantielle Ungleichheit unvermeidlich auf ein anderes Gebiet – z.B. das ökonomische – verlagern wird; in ihm wird die Ungleichheit dann mit rücksichtsloser Kraft zum Ausbruch drängen.25 „Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist also keineswegs Demokratie, sondern nur eine bestimmte Art Liberalismus, ist auch nicht Staatsform, sondern individualistisch-humanitäre Moral und Weltanschauung. Auf der unklaren Verbindung dieser beiden beruht die moderne Massendemokratie“ (GLP 18/19; nachst. vgl. GLP 19 f.).

Wie gesehen, ist für Schmitt Gleichartigkeit bzw. Homogenität die Voraussetzung für Demokratie. Unterfüttert wird diese These mit Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsvertrag, also der Begründung des wahren Staates – „Die Fassade ist liberal“ (GLP 19). – auf freiem Vertrag, in dem die Einzelwillen mit dem Gemeinwillen verschmelzen.26 Die Homogenität des Volkes muss so groß sein, dass im Wesentlichen Einstimmigkeit herrscht. Nach dem Contrat social darf es keine Parteien, kein Sonderinteressen, keine Religionsunterschiede, nicht einmal ein Finanzwesen geben, habe doch Rousseau geäußert, ein Finanzwesen sei etwas für Sklaven. Interessant ist, dass der Begriff des Sklaven bei Rousseau den Heterogenen, den nicht zum Volk gehörenden abstrakten Menschen meint, „der an der allge-

25 „Das ist ganz unvermeidlich und für eine staatstheoretische Betrachtung der wahre Grund der vielbeklagten Herrschaft des Ökonomischen über Staat und Politik“ (GLP 18). 26 Neumann (2015, S. 61; nachst. vgl. ebd.). Wir fassen hier unsere Ausführungen knapp, da Rousseau hier schon intensiv erörtert wurde (s. hier das Kapitel Die Diktatur).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

meinen Homogenität nicht teilnimmt und deshalb mit Recht ausgeschlossen wird“ (GLP 19). Die geforderte Einmütigkeit und Übereinstimmung der Willen hat so tief zu wurzeln, dass die Gesetze ohne Diskussion Gültigkeit erlangen: „(…) kurz, in der bis zur Identität gesteigerten Homogenität versteht sich alles von selbst“ (ebd.). Damit gewinnt die von Schmitt selbst aufgeworfene Frage natürlich Berechtigung, wozu es bei einer derart umfassenden Einigkeit noch eines Gesellschaftsvertrags bedarf, der doch gerade wegen der ursprünglichen Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten geschlossen werden muss. Die Antwort: „Die volonté générale, wie Rousseau sie konstruiert hat, ist in Wahrheit Homogenität. Das ist wirklich konsequente Demokratie. (…) Aus ihr ergibt sich die demokratische Identität von Regierenden und Regierten“ (GLP 20).27

Nun erschöpft sich der Begriff der demokratischen Gleichheit nicht in der formalen Staatsangehörigkeit. Er bezieht sich vielmehr auf das inhaltliche Substrat der substantiellen Gleichheit, auf der die Staatsangehörigkeit aufruht. Substantielle Gleichheit, so Böckenförde, meint „eine vorrechtliche Gleichartigkeit. Diese begründet die relative Homogenität (…)“.28 Diese Gleichartigkeit kann sich aus gemeinsamen Werten wie Religion, Sprache, Kultur und politischem Bekenntnis ergeben. Schwerlich, skeptiziert Schmitt, kann die politische Substanz in der Sphäre des Ökonomischen liegen, denn eine ökonomische Gleichheit zieht nicht automatisch politische Homogenität nach sich. Allerdings können große ökonomische Ungleichheiten eine bestehende Homogenität aushebeln (s. GLP 14).29 Wir werden sehen, dass das gesuchte materiale Substrat für Schmitt seit der Französischen Revolution mit der nationalen Homogenität gefunden ist.30 Die Probleme des Parlamentarismus verortet Schmitt – ein Zwischenfazit ziehend – in den Zuständen der modernen Massendemokratie, die sich zunächst zu einer Krise der Demokratie selbst auswächst, weil die Grundbedingungen der Demokratie – substantielle Gleichheit und Homogenität – mit dem Konstrukt einer Menschengleichheit nicht zu lösen sind (nachst. s. GLP 21 ff.). Die Auswirkungen der Massendemokratie verstärken ande-

27 Wir gehen auf dieses demokratietheoretisch schwierige Problem im Kapitel Verfassungslehre näher ein:. 28 Böckenförde (1992, S. 332; nachst. vgl. S. 332 f.). 29 Vgl. Neumann (2015, S. 61). 30 Siehe vorerst nur (VL 231). Zum Begriff der Nation in verschiedenen Kulturen und seiner Fundierung s. Neumann (2015, S. 62).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

rerseits die Krise des Parlamentarismus, die von der Demokratie begrifflich und tatsächlich zu unterscheiden ist. Gleichzeitig auftretend aber verschärfen sie sich gegenseitig. Die moderne Massendemokratie trifft auf ihrem Weg zur Identität von Regierenden und Regierten auf die veraltete Institution des Parlaments. Herrscht nämlich demokratische Identität, gibt es kein Verfassungsorgan, das sich im Ernstfall gegen den „geäußerten, unwidersprochenen Willen des Volkes“ (GLP 21) durchsetzen kann. „Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der Diskussion von unabhängigen Abgeordneten beruhende Institution keine selbständige Existenzberechtigung, um so weniger, als der Glaube an die Diskussion nicht demokratischen, sondern liberalen Ursprungs ist“ (ebd.).

Demokratie und Liberalismus sind eine Zeit verbunden gewesen, aber „diese Liberal-Demokratie“ muss sich – einmal an die Macht gelangt – zwischen seinen beiden Elementen entscheiden.31 Da es in der Demokratie nur die Gleichheit der Gleichen gibt und den Willen der zu den Gleichen gehörenden, verwandeln sich alle anderen Institutionen „in wesenlose sozial-technische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendwie geäußerten Willen des Volkes einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen“ (GLP 22).

So beruht die Krisis des modernen Staates für Schmitt auf dem Faktum, dass eine Massen- und Menschheitsdemokratie, keine – auch keine demokratische – Staatsform realisieren kann. „Bolschewismus und Fascismus dagegen sind wie jede Diktatur zwar antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch: „In der Geschichte der Demokratie gibt es manche Diktaturen, Cäsarismen und andere Beispiele auffälliger, für die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts ungewöhnlicher Methoden, den Willen des Volkes zu bilden und Homogenität zu schaffen“ (GLP 22).

Es gehört zu den undemokratischen – nur aus der Vermischung mit liberalen Elementen – entstandenen Vorstellungen, das Volk könne seinen Willen nur einzeln, isoliert und unbeobachtet abgeben, also in einer Wahlkabine. Die Staatslehre hat für Schmitt elementare Wahrheiten vergessen und dabei übersehen, dass „Volk“ ein Begriff des öffentlichen Rechts ist und

31 Gleiches gilt, so Schmitt auch für die „Sozial-Demokratie“, die wegen der Häufung der liberalen Elemente in der modernen Massendemokratie „in Wahrheit eine Social-Liberale-Demokratie ist“ (GLP 21/22).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„nur in der Sphäre der Publizität“ existiert (ebd.). In demokratischerer Weise kann das Volk seinen Willen durch Akklamation äußern: „Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen“ (ebd.).

Das Parlament vergleicht sich dazu „als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können“ (GLP 23).

Auch wenn man konzediert, der Parlamentarismus habe Bolschewismus und Faschismus verhindert, ändert daran nichts, denn die Krisis des heutigen Parlamentarismus ist bereits vorher existent gewesen. Der tiefere Grund dieser Krise ist für Schmitt: „Es ist der in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität“ (ebd.).

3. Einleitung. Schmitt erzählt einleitend eine kleine Geschichte der Kritik des Parlamentarismus (nachst. s. GLP 27-30). Erhoben von den Vertretern reaktionärer und restaurativer Kreise und aus praktischer Erfahrung rührend wurden die Irrungen und Mängel der Parteiherrschaft rasch publik gemacht. Diese Frontstellung einte rechte wie linke, konservative, syndikalistische und anarchistische Kritik ebenso wie sie monarchistische, aristokratische und demokratische Aspekt verband. In Deutschland war schon wegen seiner berufsständischen Traditionen die Parlamentarismuskritik in sinusartig schwankenden Stärke- und Schwächephasen immer gegenwärtig. Seit 1919 wuchs aber ob der offensichtlichen oder vermeintlichen schweren Mängel des liberalen Parlamentarismus eine umfangreiche Literatur. Als solche Mängel seien nur die Parteienherrschaft, eine amateurhafte Parlamentspraxis und die geheimbündlerische Verlagerung von Entscheidungen in Ausschüsse oder Sitzungen der Fraktionsführer sowie der Fraktions-

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

zwang genannt.32 Als Bild bleibt eine Diffusion der Verantwortlichkeiten, so dass „das ganze parlamentarische System schließlich nur eine schlechte Fassade vor der Herrschaft von Parteien und wirtschaftlichen Interessenten ist“ (PR 29).

Die ganze Parlamentarismusdiskussion ist also auf das Engste mit den Auseinandersetzungen über die Rolle der modernen Massenparteien verknüpft. Die wissenschaftliche Avantgarde mit dem Parteienforscher Moissei Ostrogorski und dem politischen Soziologen Robert Michels an der Spitze dient auch Carl Schmitt als Referenz. Auf ihr Konto können sie die Dekonstruktion bzw. Demontage zahlreicher parlamentarischer und demokratischer Illusionen buchen (vgl. GLP 30). 4. Demokratie und Parlamentarismus. „Siegeszug der Demokratie“ – so ist die Geschichte der politischen und staatstheoretischen Ideen des 19. Jahrhunderts in Westeuropa zu betiteln (GLP 30; nachst. s. GLP 30 ff.). Demokratische Institutionen zu propagieren und zu installieren war fortschrittlich und meliorativ, sich zu widersetzen und das Überlebte zu verteidigen war rückständig und von pejorativem Ruf. Wenig bis nichts schien seit 1789 dieser Entwicklung widerstehen zu können. Was aber ist das für eine so unwiderstehliche Demokratie? Schmitt notiert zunächst, dass die demokratische Verwirklichung vor allem verdeutlicht habe, „daß sie vielen Herren diente und keineswegs ein inhaltlich eindeutiges Ziel hatte“ (GLP 32; nachst. vgl. GLP 32 ff.). Das änderte sich, als sie begann, sich zunächst als ein wesentlich polemischer Begriff gegen die herrschende monarchistische Staatsform zu definieren. Mit dem Niedergang ihres monarchischen Antipoden verlor zugleich die Demokratie an Sinn wie inhaltlicher Präzision. Diese inhaltliche Leere brachte aber die Freiheitsgrade, um Verbindungen sowohl mit Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus aber auch der Reaktion einzugehen. Ein Negati-

32 Wir verzichten an dieser Stelle auf eine vollständige Aufzählung der Kritikpunkte (s. GDP 28 f.), da sie uns im Detail im weiteren Verlauf der Parlamentarismusschrift noch begegnen werden. Viele von ihnen finden sich auch noch in der heute geübten Parlamentarismuskritik.

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

vum bleibt: Eine Demokratie ohne Inhalte degeneriert zu einer bloßen Organisationsform.33 Versuche, diese Leerstelle mit ökonomischen Inhalten zu füllen, ohne die Anschlussfähigkeit aufs Spiel zu setzen, war für Schmitt ex nunc zum Scheitern verurteilt: „Eine politische Organisationsform hört aber auf politisch zu sein, wenn sie, wie die moderne Wirtschaft, auf privatrechtlicher Basis aufgebaut wird“ (GLP 33).

Was bleibt also von der Demokratie, fragt Schmitt, und befindet selbst: „Für ihre Definition eine Reihe von Identitäten. Es gehört zu ihrem Wesen, daß alle Entscheidungen, die getroffen werden, nur für die Entscheidenden selbst gelten sollen“ (GLP 34; Herv. w.a.m.).

Das sich dadurch auftuende Problem – die Ignorierung der überstimmten Minderheit – ist für Schmitt kein, und wenn, dann nur ein theoretisches Problem. Denn auch dieser Vorgang, Schmitt beruft sich auf Rousseau, beruht in Wirklichkeit auf der Identität, wenn man sich der wesentlich demokratischen Logik nicht verschließt, „daß der Wille der überstimmten Minderheit in Wahrheit mit dem Willen der Mehrheit identisch ist“ (ebd.).34 Diese Einsicht ist für das demokratische Denken des Contrat social fundamental: Das Gesetz ist die volonté générale, die volonté générale ist der Wille der freien Bürger, woraus folgt: „der Bürger gibt also eigentlich niemals einem konkreten Inhalt seine Zustimmung, sondern in abstracto dem Resultat, dem aus der Abstimmung sich ergebenden Generalwillen, und er gibt diese Stimme nur ab, um die Kalkulation der Stimmen, aus der man diesen Generalwillen erkennt, zu ermöglichen. Weicht das Resultat von dem Inhalt der Abstimmung des Einzelnen ab, so erfährt der Überstimmte, daß er sich über den Inhalt des Generalwillens geirrt hat“ (GLP 34).

Weil der Generalwille bei Rousseau der wahren Freiheit entspricht, waren die Überstimmten bei ihrer Entscheidung also nicht frei. Diese „Jakobiner-

33 „Eine Demokratie kann militaristisch oder pazifistisch sein, absolutistisch oder liberal, zentralistisch oder dezentralisierend, fortschrittlich oder reaktionär, und alles wieder zu verschiedenen Zeiten verschieden, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein. Daß man ihr durch eine Übertragung auf das ökonomische Gebiet keinen Inhalt geben kann, sollte sich bei diesem einfachen Sachverhalt von selbst verstehen (GLP 34). 34 Diese Argumentation findet sich bereits bei John Locke. Der Bürger stimme in einer Demokratie auch dem Gesetz zu, das gegen seinen Willen Geltung erlangt (s. GLP 34).

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logik“ rechtfertigt „bekanntlich“ gar die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit, weil die Identität von Gesetz und Volkswille und damit der Kern des demokratischen Prinzips gewahrt bleiben (GLP 34/35; nachst. vgl. GLP 35 f.). Unter diesem Aspekt ist die Ausdehnung des Wahlrechts auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ein Symptom für das Ziel, die Identität von Staat und Volk zu verwirklichen. Überhaupt, fährt Schmitt fort, beruhen alle demokratischen Argumente logisch auf Identitäten: „Identität von Regierenden und Regierten, Herrscher und Beherrschten, Identität von Subjekt und Objekt staatlicher Autorität, Identität von Staat und jeweilig abstimmenden Volk, Identität von Staat und Gesetz, letztlich Identität des Quantitativen (ziffernmäßige Mehrheit oder Einstimmigkeit) mit dem Qualitativen (Richtigkeit des Gesetzes)“ (GLP 35).35

Bei diesen Identitäten handelt es sich nicht juristisch, nicht politisch und nicht soziologisch um greifbare Wirklichkeiten, sondern um Identifikationen. „Ausdehnung des Wahlrechts, Abkürzung der Wahlperioden, Einführung und Ausdehnung von Volksentscheiden, kurz alles, was man als Tendenzen und Einrichtungen der unmittelbaren Demokratie bezeichnet“ (ebd.), sei vom Gedanken der Identität beherrscht und konsequent demokratisch – eine permanente „in realitate präsente Identität“ (ebd.) könne sie nie erreichen. Zwischen der realen Gleichheit und dem Resultat der Identifikation besteht für Schmitt immer eine Distanz (GLP 35/36; nachst. s. GLP 36 f.). Für den Willen des Volkes hängt alles davon ab, „wie der Wille g e b i l d e t wird“ (GLP 36; Herv. im Original). Dieses „wie“ aber, die uralte Dialektik vom Willen des Volkes steht ungeklärt bei Tatbeständen wie: der wahre Wille des Volkes liegt bei einer Minderheit, das Volk kann – durch eine propagandistisch gesteuerte öffentliche Meinung – getäuscht werden, wie dies seit den Anfängen der Demokratie der Fall war und nicht erst seit Rousseau und den Jacobinern. Schon mit Beginn der demokratischen Bewegung hätten die wahren Demokraten ihre radikale Lehre zu einem Auswahl- und damit Absonderungskriterium erhoben. Es entstand so eine neue, exklusive, radikaldemokratische und damit tief undemokratische Aristokratie.36 Schon die puritanischen Levellers, die ersten Demokraten der Neuzeit, zollten dieser Problematik Tribut. Nur Gutgesinnte

35 Siehe auch (VL 234). 36 Diese Aristokratieformierung ist für Schmitt soziologisch betrachtet ein Tatbestand jeder Revolution (GLP 36).

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hatten das Wahlrecht, nur die von diesen gewählten Vertreter hatten das Gesetzgebungsmonopol und nur die Gutgesinnten hatten die Verfassungsurkunde zu unterzeichnen. „Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst aufzuheben“ (GLP 37; nachst. s. GLP 37 f.), fürchtet Schmitt. Denn für den radikalen Demokraten hat die Demokratie – unabhängig von ihrem Inhalt – einen Wert an sich. Droht aber die Demokratie die Demokratie selbst zu beseitigen, muss der radikale Demokrat auch gegen eine Mehrheit Demokrat bleiben, weil er sich ansonsten selbst aufgibt: „Sobald die Demokratie den Inhalt eines in ihr selbst ruhenden Wertes bekommt, kann man nicht mehr (im formalen Sinne) Demokrat um jeden Preis sein“ (GLP 37).

Seien die Demokraten in der Minderheit, was oft eintrete, so Schmitt, habe die Stunde einer richtigen „Volkserziehung“ geschlagen. Sie habe das Volk in die Lage zu versetzen, seinen eigenen Willen zu erkennen, zu bilden und schließlich zu äußern. Der Erzieher bestimmt, was das Volk wollen wird. „Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie. Das hebt die Demokratie theoretisch nicht auf. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, weil es zeigt, daß Diktatur nicht der Gegensatz zu Demokratie ist. Auch während einer solchen vom Diktator beherrschten Übergangszeit kann die demokratische Identität herrschen und der Wille des Volkes allein maßgebend sein“ (ebd.).

Für Schmitt entscheiden über den politischen Inhalt der Demokratie nunmehr die Inhaber der Definitionsmacht. Überragende Bedeutung komme dabei den Massenmedien zu.37 Freilich zeigt sich dann auch in besonders auffälliger Weise, daß die allein praktische Frage die Identifikation betrifft, nämlich die Frage, wer über die Mittel verfügt, um den Willen des Volkes zu bilden: militärische und politische Gewalt, Propaganda, Herrschaft über die öffentliche Meinung durch Presse, Parteiorganisationen, Versammlungen, Volksbildung,

37 Dies geht aus Schmitts Bemerkungen zur bolschewistischen Regierung Sowjetrusslands hervor: „was in den Staaten westeuropäischer Kultur heute an Demokratie herrscht, ist für sie nur ein Betrug der ökonomischen Herrschaft des Kapitals über Presse und Parteien; d.h. der Betrug eines falsch gebildeten Volkswillens; der Kommunismus soll erst die wahre Demokratie herbeiführen“ (GLP 39).

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Schule. Insbesondere kann die politische Macht den Willen des Volkes, aus dem sie hervorgehen soll, selber erst bilden“ (GLP 37/38). Schmitt zitiert einen royalistisch eingestellten Schriftsteller, der verächtlich äußert, die Dummheit der öffentlichen Meinung sei so groß, dass sie sich bei geschickter Beeinflussung selbst entmachten würde (vgl. nachst. GLP 38 f.). Der bolschewistische Theoretiker suspendiert die Demokratie im Namen der wahren Demokratie und setzt so die Richtigkeit ihrer Prinzipien voraus. Der Feind der Demokratie hingegen sucht, sie zu düpieren und geht dabei von der tatsächlichen Herrschaft demokratischer Prinzipien aus. Diese Gemengelage zeigt für Schmitt, dass das demokratische Prinzip unbestritten und allgemein anerkannt ist. Nur der italienische Faschismus legt keinen Wert darauf, als „demokratisch“ zu gelten. Dieser Theoriestand ist für das öffentliche Recht von Bedeutung. Weder die Demokratietheorie noch das Staats- und Völkerrecht können ohne einen Begriff von „Legitimität“ (GLP 39; Herv. im Original) auskommen. Wenn dem aber so ist, ist es wichtig, dass die heute herrschende Art der Legitimität „tatsächlich demokratisch ist“ (ebd.): „Die Entwicklung von 1815 bis 1918 läßt sich darstellen als die Entwicklung eines Legitimitätsbegriffes: von der dynastischen zur demokratischen Legitimität. Das demokratische Prinzip muß heute eine analoge Bedeutung beanspruchen, wie früher das monarchische“ (ebd.).

Schmitt unterscheidet zwischen „dynastischer“ und „demokratischer“ Legitimität. Letztere hatte trotz der Restaurationsversuche für die dynastische Legitimität durch den Wiener Kongress 1815 längst ihren Siegeszug angetreten.38 Der Begriff der Legitimität kann nicht sein Subjekt wechseln, ohne dass er sich inhaltlich und strukturell verändert. Zu unterscheiden sei eine staatsrechtliche von einer völkerrechtlichen Legitimität; weder Staats- noch Völkerrecht könnten ohne diesen Begriff auskommen. Staatsrechtlich, so Schmitt, müsse jede Regierung durch eine nach demokratischen Grundsätzen zustande gekommene konstituierende Versammlung sanktioniert sein. Jede nicht auf diesen Grundsätzen basierende Macht ist Usurpation. Völkerrechtlich sei relevant, wie eine Intervention in Verfassungsangelegenheiten eines Staates zu beurteilen ist, wenn der Legitimitätsbegriff staatsrechtlich auf einer konstituierenden Versammlung beruht (GLP 39/40). Ohne dies hier näher zu erörtern, hält Schmitt eine Intervention – auch unter der Ägide und den Regeln des Völkerbun-

38 Mehring (2017, S. 60).

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des – für gerechtfertigt, wenn das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes wiederhergestellt werden soll, weil dem Volk vorher eine Verfassung unter Missachtung demokratischer Prinzipien oktroyiert wurde (vgl. GLP 40; nachst. vgl. GLP 40 f.). So kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass viele juristische Untersuchungen demokratische Prinzipien anerkennen, ohne alle Identifikationen vornehmen zu müssen. Kommt es zu einer Identifikation der Minderheit mit dem Volk, steht die Demokratie ohnmächtig vor dem jakobinischen Argument, vor dem Umschlag des Quantitativen ins Qualitative und das Interesse gilt der Bildung und der Formierung des Volkswillens. Der „Glaube“ (Schmitt), alle Gewalt geht vom Volk aus, erlangt dann einen ähnlichen Nimbus wie der Satz, alle obrigkeitliche Gewalt kommt von Gott. „Jeder dieser Sätze läßt für die politische Wirklichkeit verschiedene Regierungsformen und juristische Konsequenzen zu. Eine wissenschaftliche Betrachtung der Demokratie wird sich auf ein besonderes Gebiet begeben müssen, das ich als politische Theologie bezeichnet habe“ (GLP 41).

Diese demokratietheoretischen Vorbemerkungen wurden notwendig, weil im 19. Jahrhundert Parlament und Demokratie als gleichrangig verbunden waren, was sie für Schmitt nicht sind: „Es kann eine Demokratie geben ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt und einen Parlamentarismus ohne Demokratie; und Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur“ (GLP 41).

Die Diktatur, so Mehring, erscheine so als Wirklichkeit der demokratischen Verheißung: „Diktatur als Wirklichkeit der Demokratie“.39 5. Die Prinzipien des Parlamentarismus. Das zweite Kapitel der Parlamentarismusschrift greift tief in die Ideengeschichte, um die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Diskussion“ als Prinzipien des Parlamentarismus zu erörtern. Im Kampf zwischen Volksvertretung und Monarchie benannte man eine maßgeblich vom Parlament (Legislative) beeinflusste Regierung (Exekutive) eine „parlamentarische Regierung“ (GLP 41; nachst. vgl. GLP 41 ff.). Dadurch verändert sich aber für Carl Schmitt der Begriff des „Parlamenta-

39 Ebd. S. 62.

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rismus“. Denn wer eine solche Regierung fordere, setze das Parlament als vorhanden voraus. Diese Annahme gerierte erweiterte Befugnisse. Konstitutionalistisch gesprochen soll die Legislative die Exekutive beeinflussen. Die Beteiligung des Parlaments an der Regierung und die hieraus resultierenden Implikationen können für Schmitt zum Problem des parlamentarischen Prinzips kaum beitragen: „Hier handelt es sich um die letzte geistige Grundlage des Parlamentarismus selbst, nicht um die Erweiterung der Macht des Parlaments“ (GLP 41/42).

Und so fragt er, worauf der Glaube an das Parlament letztlich beruht, warum es für Generationen ein ultimatum sapientiae gewesen war. Denn auf diesem Glauben beruht die parlamentarische Kontrollfunktion. Schmitt geht in zwei Schritten vor: Einmal konfrontiert er die Praxis des Parlamentarismus mit seinem eigenen Wesensgehalt, d.h. er untersucht, ob der Parlamentarismus der auf ihm lastenden Erwartungshaltung, aber auch seinen eigenen Anforderungen, gerecht werden kann. Zweitens misst Schmitt ihn an seinen Vorstellungen von Demokratie und Politik.40 Die älteste Rechtfertigung des Parlamentarismus liegt, führt Schmitt aus, in der Erwägung einer äußerlichen „Expeditivität“41. Das Volk muss in seiner wirklichen Gesamtheit in einer Versammlung entscheiden, was aber – wie auch die Methode der Einzelbefragung – wegen der bekannten praktischen Probleme heute unmöglich sei. Wegen dieser Dilemmata wird ein Ausschuss von Vertrauensleuten gewählt: das Parlament. Dieses wiederum wählt einen Ausschuss von Vertrauensleuten: die Regierung. Dadurch erscheine der Parlamentarismus als etwas wesentlich Demokratisches (GLP 42) – was er für Schmitt aber nicht ist. Denn auch ein einziger Vertrauensmann könne für das Volk entscheiden, was zwar ein antiparlamentarischer, nicht aber undemokratischer Cäsarismus und damit „der Idee des Parlamentarismus nicht spezifisch“ (ebd.) sei. Dass das Parlament ein mit Vertrauensvorschuss ausgestattetes Organ des Volkes ist, „ist nicht das Wesentliche“ (ebd.).

40 Siehe Marschall (2016, S. 219). 41 Der Begriff findet sich, so Schmitt, bei: Egon Zweig, in der Schrift die „Lehre vom pouvoir constituant“, Tübingen 1909 (GLP, S. 42 FN 1).

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5.1. Die öffentliche Diskussion. Die ratio des Parlaments liegt im „Dynamisch-Dialektischen“. Schmitt zitiert diesen Begriff von Rudolf Smend, der den prozessualen Charakter des Parlamentarismus hervorhebt, und er fasst die für ihn maßgeblichen Strukturprinzipien in eine bekannte Formulierung: „Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren, wobei zunächst noch nicht an Demokratie gedacht zu werden braucht. (GLP 43).

Schmitt bezieht sich auf Francois Guizot, wenn er ausführt, das Parlament sei der Ort, in dem sich die ungleich verteilten Vernunftpartikel der Menschen sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen. Diese Hoffnung stützt sich auf die Theoreme von „der freien Konkurrenz und der prästabilierten Harmonie, die allerdings in der Institution des Parlaments, wie überhaupt in der Politik, oft in kaum erkennbaren Verkleidungen auftreten“ (GLP 45; nachst. s. GLP 45 ff.).

Schmitt verortet den Parlamentarismus im Liberalismus, der notwendig „als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System“ (GLP 45) angesehen werden muss. Ihn auf seine ökonomischen Formeln und Schlussfolgerungen zu beschränken, hieße den geistigen Kern seines Denkens zu verfehlen, und damit auch sein Verhältnis zur Wahrheit, die „zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen wird. Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat“ (GLP 46).

Dieser Analogie zum ewigen Gespräch der politischen Romantik stehen die Strukturprinzipien des wahren Parlamentarismus konträr, institutionell verfasst „in einem Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt“ (GLP 43). Schmitt betont also die zentrale Stellung der Diskussion im liberalen System, dem zwei politische Forderungen inhärent sind: „das Postulat der Öffentlichkeit des politischen Lebens“ und „die Lehre von der Balancierung entgegengesetzter Kräfte, aus welcher Balancierung sich das Richtige als Gleichgewicht von selbst ergeben soll“42 (GLP 46).

42 Bekannter in der Formulierung „Lehre von der Gewaltenteilung“ (s. GLP 46).

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5.2. Die Öffentlichkeit der Meinung. Die große Wichtigkeit der öffentlichen Meinung im liberalen Denken zeigt sich Schmitt weniger in der öffentlichen Meinung, denn in der Öffentlichkeit der Meinung (GLP 47; nachst. s. GLP 47 ff.). Die Forderungen nach Öffentlichkeit erwuchsen gegen die im 16./17. Jahrhundert herrschenden Theorie von den Staatsgeheimnissen oder Arkanpolitik („Arcana rei publicae“), die – beginnend bei Macchiavelli – im Zuge des Diskurses über die Staatsraison aufkam. Staat und Politik wurden hier unter dem technischen Gesichtspunkt von Machtbehauptung und Machterweiterung analysiert.43 Dagegen erhob sich eine antimacchiavellistische Lehre, die Politik auf ein moralisches und rechtliches Ethos stützte, wie dies im Ergebnis auch die Monarchomachen taten. Letztlich erwuchsen aus dieser Strömung die Forderungen nach Öffentlichkeit und Gewaltenteilung. Die Öffentlichkeit erhält dann in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts den Status eines Kontrollorgans und die geübte Kabinettspolitik hinter verschlossenen Türen gilt ex nunc als böse, so wie die Öffentlichkeit mit der Pressefreiheit im Gefolge als gut reüssierte, denn „wo Preßfreiheit herrscht, ist ein Mißbrauch der Macht undenkbar“ (GLP 49).44 Die Freiheit der Meinung sei aber eine Freiheit des Privaten, schränkt Schmitt ein. Wo aber die Öffentlichkeit Zwang wird, wie bei der Ausübung des Wahlrechts, wo das Private ins Öffentliche wechsle, erhebe sich die der Öffentlichkeit entgegenstehende Forderung nach dem Wahlgeheimnis (vgl. GLP 50; nachst. vgl. GLP 50 ff.). 5.3. Die Teilung (Balancierung) der Gewalten. Den öffentlichen Wettbewerb der Meinungen begleitet im Parlamentarismus das Prinzip der Gewaltenbalancierung, bei dessen Theoretisierung das liberale Konkurrenzprinzip ebenfalls mitgedacht wird. Seit dem 16. Jahrhundert finden sich Balancen auf allen Gebieten menschlichen Geisteslebens.45 Im Zuge der Ausbalancierung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion habe man für die Parlamentsspezifik vernachlässigt, dass das Parla-

43 Vgl. hier Kapitel Die Diktatur. 44 Schmitt bezieht sich hier auf Condorcet. 45 Siehe die Beispiele in (GLP 50 f.).

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ment in sich, eben weil es Legislative ist, selbst ausbalanciert sein soll. Als geeignete Elemente sah man ein Zweikammersystem, föderalistische Institutionen und natürlich die Opposition in einer Kammer selbst an – „und es gibt tatsächlich eine Metaphysik des Zweiparteiensystems“ (GLP 51; nachst. s. GLP 52 f.). Die ersten Theorien zur Problematik der Gewaltenteilung erwuchsen aus den Erfahrungen, die man 1640 in England mit der Machtkonzentration beim sog. Langen Parlament machte. Mit der Entstehung eines konstitutionellen Gesetzesbegriffs, so Schmitt, gilt auch für Kant und Hegel der Satz als Selbstverständlichkeit, dass eine Verfassung mit Gewaltenteilung identisch ist. In solchem Denken sei eine Diktatur nicht der Gegensatz zu einer Demokratie, „sondern wesentlich Aufhebung der Teilung der Gewalten, d.h. Aufhebung der Verfassung, d.h. Aufhebung der Unterscheidung von Legislative und Exekutive“ (GLP 52).46 „Es sind die beiden Prinzipien47, auf denen in einem überaus konsequenten und umfassenden System konstitutionelles Denken und Parlamentarismus beruhen. Dem Gerechtigkeitsgefühl einer ganzen Epoche erschienen sie wesentlich und unumgänglich“ (GLP 61; nachst. vgl. GLP 61 ff.). Aus dieser Verbindung habe man den Sieg des Rechts über die Macht erwartet. Von dieser Überzeugung sieht Schmitt die Realität des politischen Lebens weit entfernt. Die wichtigen Entscheidungen resultieren keineswegs aus der Balancierung eines öffentlichen Diskurses von Meinungen und parlamentarischer Debatte. Auch wenn Schmitt konzediert, dass die Möglichkeiten einer idealen parlamentarischen Regierung restriktiver Praktikabilitätsrestriktionen unterliegen, müsse man „wenigstens so viel Bewußtsein der geschichtlichen Situation haben, um zu sehen, daß der Parlamentarismus dadurch seine geistige Basis aufgibt und das ganze System von Rede-, Versammlungs- und Preßfreiheit, öffentlichen Sitzungen, parlamentarischen Immunitäten und Privilegien seine ratio verliert“ (GLP 62; Herv. im Original).

Es sei der Glaube an den modernen Parlamentarismus, der mittels Öffentlichkeit und Diskussion aus der Empörung der Menschen gegen die Arkanpraxis absoluter Fürsten erwachsen, „die in geheimen Beschlüssen über das Schicksal der Völker entschied“ (GLP 62/63). Seien aber Öffent-

46 Siehe auch (DD 149). 47 Öffentlichkeit und Diskussion (w.a.m).

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lichkeit und Diskussion – wie geschehen – zu leerer und nichtiger Formalität geworden, „so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren“ (GLP 63). 6. Die Diktatur im marxistischen Denken.48 Guizot, auf den Schmitt sich des Öfteren bezieht, erkannte im Zeitalter des Bürgerkönigs Louis Philippes nach der Julirevolution von 1830 die richtige Mitte zwischen den Antipoden Monarchie und Demokratie in einem konstitutionell-parlamentarischen Bürgerkönigtum, in dem das Parlament soziale und politische Problemlagen öffentlich behandelt und löst (GLP 63). Stütze dieses Regierungsmodells war das liberale Großbürgertum („juste milieu“). Gegenüber diesem parlamentarischen Konstitutionalismus „nicht gegenüber der Demokratie, wird der den Parlamentarismus aufhebende Begriff der Diktatur wieder aktuell“ (GLP 63).

So wird für Schmitt 1848 zugleich ein Jahr von Demokratie und Diktatur, weil beide den bürgerlichen Liberalismus der parlamentarischen Theorie ablehnen (s. GLP 64; nachst. vgl. GLP 64 ff.). 6.1. Die Wissenschaftlichkeit des Marxismus ist Metaphysik. Dass der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ab 1848 reüssierte, hat aber nicht zur Folge, dass er damit der Diktatur abschwört, setzt Schmitt einleitend als These. Der wissenschaftliche Sozialismus sah sich nunmehr im Besitz einer untrüglichen Einsicht und damit im Recht, die soziale und politische Wirklichkeit – auch mit Gewalt – in ihren wissenschaftlich fundierten Notwendigkeiten, nicht aber nach naturwissenschaftlichen Methoden, zu gestalten und zu beherrschen. Schmitt sieht das „philosophisch-metaphysisch Faszinierende der Marxistischen Geschichtsphilosophie und Soziologie“ eben nicht in den Naturwissenschaften, sondern im Festhalten an dem Hegelschen Gedanken der dialektischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte

48 Siehe auch (DD XV f.). Grundlegend Gurland (1981).

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„und diese als einen konkreten, einmaligen, durch immanente organische Kraft sich aus sich selbst produzierenden antithetischen Prozeß betrachtet“ (GLP 66; nachst. GLP 66 ff.).

Die Menschheit wird sich im Marxismus ihrer selbst bewusst, weil sie die soziale Wirklichkeit richtig erfasst. Dadurch gewinnt das Bewusstsein einen absoluten Charakter. „Die Marxistische Wissenschaftlichkeit will den kommenden Dingen nicht die mechanische Sicherheit eines mechanisch berechneten und mechanisch gemachten Erfolges geben, sondern läßt sie im Strom der Zeit und in der konkreten Wirklichkeit des sich aus sich selbst produzierenden geschichtlichen Geschehens“ (GLP 67).

6.2. Diktatur und dialektische Entwicklung. Wie steht nun die Diktatur zur dialektischen Geschichtsphilosophie, deren Fortgang sie doch offensichtlich unterbricht? Nein, so Schmitt, die Entwicklung gehe ununterbrochen weiter, weil der sich in Gegensätzen entwickelnde Weltgeist seinen eigenen Gegensatz, eben die Diktatur, in sich einbezieht „und ihr dadurch ihr Wesen, die Entscheidung“ (GLP 68) nimmt. Sie unterbricht die unbeirrt weitergehende Entwicklung nicht, weil sie eine – dialektische und damit logische – Negation bleibt, solange „niemals von außen her, außerhalb der Immanenz der Entwicklung, eine Ausnahme eintritt“ (ebd.). Der dialektische Prozess Hegels kenne nicht Gut und Böse und habe keine Ethik; gut sei, was in jedem Stadium das Vernünftige und damit Wirkliche ist. „Das Sollen ist ohnmächtig. Was berechtigt ist, macht sich auch geltend (…)“. (GLP 69), auch „im Recht zur Diktatur“ (GLP 71; nachst. vgl. PLG 71 ff.). Hegels Philosophie kann mit seiner praktischen Seite, so Schmitt, zur Diktatur führen; das gelte auch für den Marxismus. Das eigentlich Wesentliche im Marxismus finde sich schon im kommunistischen Manifest, nicht etwa in der materialistischen Geschichtsauffassung oder der Erkenntnis, die Geschichte sei eine von Klassenkämpfen: „Neu und faszinierend war am kommunistischen Manifest etwas anderes: die systematische Konzentrierung des Klassenkampfes zu einem einzigen, letzten Kampf der Menschheitsgeschichte, zu dem dialektischen Höhepunkt der Spannung: Bourgeoisie und Proletariat. Die Gegensätze vieler Klassen werden zu einem letzten Gegensatz vereinfacht. An die Stelle der früheren zahlreichen Klassen, selbst an die Stelle der von Marx in den nationalökonomischen Ausführungen des ‚Kapitals‘ noch anerkannten drei Klassen Ricardos

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(Kapitalisten, Grundbesitzer, Lohnarbeiter) tritt ein einziger Gegensatz. Die Vereinfachung bedeutet eine gewaltige Steigerung der Intensität“ (GLP 71; nachst. vgl. GLP 72 ff.).

Diese logische Vereinfachung birgt die äußerste Steigerung des wirklichen Kampfes wie des gedanklichen Gegensatzes. Der Klassengegensatz muss der absolute Gegensatz werden, damit es zum dialektischen Umschlagen kommt und alle Gegensätze überwunden werden. „Der ungeheuerste Reichtum muß dem ungeheuersten Elend gegenüberstehen, die alles-besitzende Klasse der nichtsbesitzenden, der Bourgeois, der nur besitzt, nur hat und nichts Menschliches mehr ist, dem Proletarier, der nichts hat und nur noch ein Mensch ist. Ohne die Dialektik der Hegelschen Philosophie ließe es sich nach den bisherigen Erfahrungen der Geschichte durchaus denken, daß der Zustand der Verelendung jahrhundertelang besteht und schließlich die Menschheit in allgemeiner Dumpfheit untergeht oder eine neue Völkerwanderung das Antlitz der Erde ändert. Die kommunistische Gesellschaft der Zukunft, die höhere Stufe einer klassenlosen Menschheit, ist also nur dann evident, wenn der Sozialismus die Struktur Hegelscher Dialektik beibehält. Dann allerdings muß die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung notwendig ihre eigene Negation aus sich selbst produzieren“ (ebd.).

Nach Schmitt ist es die Existenzfrage des Sozialismus, die Bourgeoisie analytisch richtig zu fassen. Deshalb habe sich Marx so intensiv mit der bürgerlichen Ökonomie befasst. Der Grund dafür sei aber durch und durch metaphysischer Natur, denn erst das richtige Bewusstsein ermöglicht es, die Bourgeoisie zu erfassen, und dieses Erfassen ist der Beweis, dass ihre Zeit zu Ende geht und die Stunde des Proletariats geschlagen hat: „Die Bourgeoisie kann das Proletariat nicht begreifen, wohl aber das Proletariat die Bourgeoisie. Darum bricht über die Epoche der Bourgeoisie die Dämmerung herein; die Eule der Minerva beginnt ihren Flug, und das soll hier nicht heißen, daß Kunst und Wissenschaft gedeihen, sondern daß die untergehende Epoche das Objekt historischen Bewußtseins einer neuen Epoche geworden ist“ (GLP 75).

So lieferte denn Hegel das intellektuelle Instrumentarium, die Parteien des letzten Kampfes aber „mußten eine konkrete Gestalt bekommen, wie es für einen wirklichen konkreten Kampf notwendig war“ (GLP 76). Gegen den Rationalismus stand nunmehr eine Philosophie des unmittelbaren, konkreten Lebens, eine Theorie unmittelbarer Gewaltanwendung, die nicht nur den Parlamentarismus, sondern „auch die in der rationalistischen Diktatur theoretisch immer noch bewahrte Demokratie war damit in ihrem Fundament angegriffen“ (GLP 77).

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7. Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung. Wir sahen, dass für Schmitt die marxistische Diktatur des Proletariats die Möglichkeit einer rationalistischen Diktatur bot (nachst. s. GLP 77 ff.). Dagegen stützten sich die modernen Lehren direkter Aktion und Gewaltanwendung auf eine Irrrationalitätsphilosophie. Obwohl die Bolschewiki die Anarchisten unterdrückt und gar ausgerottet hatten, fanden sich in ihren Argumentationen anarcho-syndikalistische Gedankengänge. In dieser Ideen-Infiltration liegt für Schmitt auch der Grund, warum gerade in Russland das Industrieproletariat zur Herrschaft gelangte. Irrationalistische Motive wie der Glaube an Intuition und Instinkt seien zur Geltung gekommen – „eine neue Bewertung rationalen Denkens überhaupt“ (GLP 78). 7.1. Sorel und die Entdeckung des Mythos. Schmitt stützt sich für seine folgenden Ausführungen auf George Sorels „Réflexions sur la violence“ („Über die Gewalt“). Die Schrift ist gegen den sozialdemokratischen Revisionismus insbesondere in Frankreich gerichtet und erörtert Sorels Vision der proletarischen Revolution.49 In ihr werde nicht nur der geistesgeschichtliche Zusammenhang am deutlichsten erkennbar, sondern sie zeichnet auch Sorels geistige Ahnen Proudhon, Bakunin und Bergson: „Die Grundlage jener Reflexionen über die Gewalt ist eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens, die von Bergson übernommen und unter dem Einfluß von zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Probleme des sozialen Lebens übertragen wird“ (GLP 79).

Mit Sorel, der uns bei Schmitt schon begegnet ist und noch begegnen wird, treffen wir eine Person auf schillerndem ideengeschichtlichem Parcours: „vom Sozialismus über den Syndikalismus zur nationalen Rechten“.50 Zur Entstehungszeit seines Buches „Über die Gewalt“ war er auf der Seite eines dezidiert revolutionären und antiparlamentarischen Syndikalismus in

49 Kracht (2008, S. 167); Deppe (1999, S. 226). 50 Deppe (1999, S. 216). Überblicke zu Sorel s. Kracht (2008), s. Deppe (1999).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

der Tradition Proudhons51, einem der Begründer des Anarchismus positioniert.52 Sorel entdeckte den Sozialismus mit den Schriften von Marx und zeigte zunächst auch große Sympathie für den Sozialistenführer Jean Jaurès, mit dem er aber ebenso wie dem ganzen Linksliberalismus Ende der 90er Jahre brach, weil er den Klassenkampf des revolutionären Marxismus für einen staatserhaltenden sozialen Reformkurs aufgegeben habe. Die Idee des Klassenkampfes greift Sorel nun mit seiner Theorie vom Generalstreik auf. Jetzt hängt er dem revolutionären Syndikalismus oder Anarchosyndikalismus an. Sein Buch „Über die Gewalt“ versteht sich als dessen ideologische Fundierung (vgl. Deppe 1999, S. 219). Sie übernimmt von Bergson eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens,53 die von den Anarchisten Proudhon und Bakunin auf soziale Problemlagen übertragen wird (GLP 79; nachst. siehe GLP 79 ff.). An diesem ideologischen Lebensabschnitt Sorels setzen Schmitts Reflexionen an. Anarchismus bedeutet Kampf gegen jede systematische Einheit (GLP 79), jede Form menschlicher Organisation mit deren Hilfe ideologischer, politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Zwang ausgeübt werden kann54. Dies gilt für den Einheitsfanatismus der Aufklärung, die Religion ebenso, wie für die Einheit und die Identität der modernen Demokratie. Bakunin weitet diesen Kampf gegen Gott und Staat auf Intellektualismus, Bildung und Wissenschaft aus, weil „sie (…) die individuelle Fülle des Lebens auf dem Altar ihrer Abstraktion [opfert]“ (ebd.). Für das Leben des Menschen ist die Kunst wichtiger. Das sind starke Anleihen Bakunins bei Bergson. Mit ihrer Hilfe entwickelte man aus dem konkreten Leben der Arbeiterschaft die Bedeutung der Gewerkschaften im Allgemeinen und die Bedeutung des Streiks im Besonderen:

51 Pierre-Joseph Proudhon wollte das Eigentum – Was ist Eigentum? (1840) – breiter verteilen, nicht abschaffen. Eine Gemeinschaft der Gleichen lehnte er als stupide Einförmigkeit ab, da sie den Menschen Fesseln anlege. Ökonomisch strebte er eine Art Industriedemokratie an, in der die Arbeiter ihren Arbeitsplatz selbst gestalten würden. In seinen Vorstellungen waren Wirtschafts- und Gesellschaftsaufbau stark dezentralisiert, ein klassisches anarchistisches Anliegen (s. Priestland 2010, S. 49; Ottmann 2008, S. 202-206; s. Deppe 1999, S. 218). Sein Antipode im französischen Sozialismus war Louis Auguste Blanqui, der die Errichtung einer revolutionären Diktatur anstrebte. 52 Kracht (2008, S. 166). 53 Sorel (1969, S. 36 ff.) bekennt sich in „Über die Gewalt“ ausdrücklich zu dessen lebensphilosophischen Denken. 54 Peter Lösche in: Nohlen/Grotz (2015, S 8.).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„So wurden Proudhon und Bakunin die Väter des Syndikalismus und schufen die Tradition, auf welcher, durch Argumente Bergsonscher Philosophie gestützt, die Gedanken von Sorel beruhen. Ihren Kern bildet eine Theorie vom Mythus, die den stärksten Gegensatz zum absoluten Rationalismus und seiner Diktatur bedeutet (…) (GLP 80).

Aber gerade auch der relative Rationalismus im Ideenkomplex von Parlamentarisierung, öffentlicher Diskussion und Ausbalancierung von Gegensätzen gerät in stärkste Opposition zur Idee unmittelbarer aktiver Entscheidung. Die Kraft zum Handeln und zum Heroismus, ja alle weltgeschichtliche Aktivität, so Schmitt, liege für Sorel in der Kraft zum Mythos. Sorel selbst versteht Mythen als Leitideologien, die – unbeschadet ihres Wahrheitsgehaltes – die Massen mobilisieren sollen, wie der Mythos des Generalstreiks das Proletariat.55 Diesen stellt er gegen die politisch-sozialen Gesellschaftsentwürfe der konventionellen sozialistischen Denker: „Mit dem Generalstreik aber verschwinden alle diese schönen Dinge; die Revolution erscheint als eine einfache und reine Empörung, und kein Platz bleibt mehr vorbehalten, weder für die Soziologen noch für die den sozialen Reformen freundlich gesinnten Männer der Gesellschaft, noch auch für die Intellektuellen, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, für das Proletariat zu denken“.56

Schmitt formuliert: „In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärts treibt und ihr sowohl die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur Gewaltanwendung gibt. Nur so wird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte“ (GLP 80).

Wo aber ist eine solche Masse, fähig zum Mythos, heute57 zu finden? Die verkommene, moralisch zerrüttete Bourgeoisie ist es jedenfalls nicht. Für Sorel sei es die Masse des Industrieproletariats mit ihrem Mythos des Generalstreiks, entstanden aus „der Unmittelbarkeit industriepolitischen Lebens“ (GLP 81), nicht aus einer Utopie, die rationalistischem Geist entspringe. So erscheint eine Philosophie friedlicher Verständigung, parlamentarischen Ausbalancierens als Verrat am Mythos, weshalb ihr „die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden Entscheidungsschlacht“ (ebd.)

55 Vgl. Sorel (1969, S. 30 f.). 56 Ebd. S. 160; Herv. im Original). 57 Heute = zur Zeit Schmitts.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

entgegengestellt werde. Deshalb ist der parlamentarische Konstitutionalismus 1848 von beiden Seiten unter Beschuss geraten: von der konservativ tradierten Ordnung in Gestalt von Donoso Cortes und vom Anarchosyndikalismus Proudhons. Beide drängen nach einer Entscheidung, beide verachten den Liberalismus, beide sind die eigentlichen Gegner, „alles andere provisorische Halbheit“ (GLP 83; nachst. GLP 83 ff.).

Die neue Moral ist – Männer kämpfen, ohne zu klagen – soldatisch und sie berechtigt zu neuem Glauben an das höchste moralische Ideal der Menschheit: den Sozialismus.58 Kampf, Schlacht, Krieg – Sorel bestimmt sie als die wahren Impulse intensiven Lebens, „aus denen eine moralische Dezision hervorgeht“ (ebd.). Der Antrieb dazu muss aus der Masse selbst kommen. Die Gewaltanwendung der Irrationalitätsphilosophie, die schöpferische Gewalt der enthusiasmierten Massen sei für Sorel keine Diktatur, die für ihn Zwang, Unterjochung und eine „militärisch-bureaukratisch-polizeiliche Maschine“ (GLP 84) im Gefolge habe. Für das Proletariat droht nur Gefahr, wenn es sich auf den Boden der parlamentarischen Demokratie ziehen lässt, weil es dann, so Sorel, sich seiner eigenen Kampfmittel berauben lässt (GLP 85). In der Diktatur des Proletariats sah Sorel eine Wiederholung der Jacobinischen Diktatur von 1793, die an die Stelle der alten bürokratisch-militärischen Institutionen nur neue gesetzt hätten. Dies wäre aber eine neue Herrschaft von Intellektuellen und Ideologen. So finden sich bei Sorel drei Grundmotive: ein intellektueller Antiintellektualismus und zweitens eine fundamentale Ablehnung aller Formen parlamentarischer Entscheidungsfindung.59 Zum dritten war er ein „Todfeind des Liberalismus“ (Georg Lichtheim)60, dessen Krise er an den Dekadenzerscheinungen seiner Epoche festmachte.61 Bei dieser Ideenkonstellation nimmt es nicht Wunder, dass Schmitt in seiner Parlamentarismus-Schrift mit diesen Gedanken Sorels arbeitet und konstatiert: „Die Theorie vom Mythus ist der stärkste Ausdruck dafür, daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat (GLP 89; nachst. s. GLP 89 f.).

Die Entdeckung des Mythos durch anarchistische Denker habe aber gegen deren Willen die Grundlage für eine neue Autorität gelegt, „eines neuen

58 59 60 61

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Deppe (1999, S. 226). Kracht (2008, S. 169). Hier zit. nach Deppe (1999, S. 222). Ebd.

II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie“ (ebd.; s. hier 7.2). Freilich bestehe immer die ideelle Gefahr eines nicht mehr überschaubaren Mythenpluralismus, Polytheismus für die politische Theologie. Unabhängig davon sei eine starke Tendenz gegenwärtig. Schmitt schließt aber nicht aus, dass ein parlamentarischer Optimismus diese Bewegung aussitzen könne, bis zur Wiederaufnahme der Diskussion. Die Gegenfrage „Parlamentarismus, was sonst?“ reiche aber nicht mehr aus. „Das wäre ein hilfloses Argument und nicht imstande, das Zeitalter der Diskussion zu erneuern“ (GLP 90). 7.2. Die Energie des Nationalen. Die neue Autorität und ordnende Kraft, die Schmitt durch den Mythos geschaffen sieht (s.o.), ist das Nationale62. Dessen Energie sei in neuerer Zeit größer als die des Klassenkampfmythos (GLP 88).63 Die Begeisterung für das Nationale erläutert Schmitt anhand des italienischen Faschismus.64 In Italien sei es zur offenen Konfrontation zwischen beiden Mythen gekommen, der nationale Mythos – verkörpert im Faschismus – habe obsiegt. Schmitt zitiert Mussolini vor dessen Marsch auf Rom: „Wir haben einen Mythus geschaffen, der Mythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine Realität zu sein, er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut. Unser Mythus ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen“ (GLP 89)."

Insbesondere die demokratische und parlamentarisch konstitutionelle Vergangenheit Italiens auf dem Gedankengut des angelsächsischen Liberalismus unterstreiche die Kraft des Mythos des Nationalen (vgl. ebd.). Die Gleichsetzung der Mythentheorie Sorels mit dem Experiment des italieni-

62 Im Nationalgefühl sind verschiedene Elemente auf höchst verschiedenartige Weise bei den verschiedenen Völkern wirksam: die mehr naturhaften Vorstellungen von Rasse und Abstammung, ein anscheinend mehr für kelto-romanische Stämme typischer „terrisme"; dann Sprache, Tradition, Bewußtsein gemeinsamer Kultur und Bildung, Bewußtsein einer Schicksalsgemeinschaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich − alles das bewegt sich heute eher in der Richtung zu nationalen als zu Klassengegensätzen. 63 So habe die proletarische Gewaltanwendung Russland gegen eine Oberschicht, die das eigene Land verachtet, wieder russisch gemacht (GLP 88). 64 Weitere Belege findet Schmitt in den revolutionären Kriegen Frankreichs, den deutschen Freiheitskriegen gegen Napoleon (GLP 88).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

schen Faschismus ist für Kracht „konkretistisch verengt(e)“65. Im Ergebnis setzt sich die Idee „Mussolini“ gegen den Parlamentarismus und den Bolschewismus durch.66 8. Resümee. Carl Schmitts erklärte Absicht seiner Parlamentarismus-Schrift war primär nicht wissenschaftlicher Natur, ihre Absicht war, „den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments zu treffen“ (GLP 30). Der Gegenwartsbezug und die politische Absicht der Schrift liegen somit offen. Zwei zentrale Angriffspunkte macht Schmitt aus. Einmal sei die Vorstellung eines government by discussion mit der „Transzendenz des Souveräns“67 inkompatibel. Und zweitens sei selbst das Prinzip einer rationalen überzeugenwollenden Diskussion unter den Bedingungen der Massendemokratie (s. GLP 21) und dem Ansturm von Interessengruppen und Interessenparteien zur Fassade degeneriert. Damit besteht für Schmitt die – auch anderenorts beschworene – grundsätzliche Gefahr, dass das Ökonomisch-Technische das Politische ablöst und die Welt zu einem großen Betrieb (M. Weber) umformt.68 Im Konzert mit dem ewigen Gespräch der occasionalistischen und dezisionsunfähigen Romantik ist so das Politische, als die Fähigkeit, Freund und Feind zu scheiden, nach einem schleichenden Verfallsprozess erloschen.69 Wir erinnern: Es war eine der wesentlichen Einsichten Carl Schmitts in der Politischen Theologie, dass eine Staatslehre ohne Staat70 das maßgebliche Kriterium von Staatlichkeit verneint: die Entscheidung über den Not65 Kracht (2008, S. 170). Kracht gewinnt diese These aus einem Vergleich der Argumentation Carl Schmitts, mit der Walter Benjamins, der ebenfalls ein erklärter Kritiker des Parlamentarismus seiner Zeit war (Benjamin 2009). Benjamin sei in seiner Abhandlung „Zur Kritik der Gewalt“ (1921) der eschatologischen Zielrichtung des Sorelschen Gewaltbegriffs wesentlich nähergekommen, weil er ihn aller Funktionalität entkleidet und als reine Form begriffen habe (vgl. Kracht 2008, S. 169 f.). 66 Mehring (2017, S. 67). 67 Brokoff (2001, S. 42). 68 Siehe nur (PT 68 f.). 69 So Brokoff (2001, S. 42 f.). Siehe auch „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (BP 79-95). 70 „Die reine Rechtstheorie vom Staat, die den Begriff eines vom Recht verschiedenen Staates auflöst, ist eine Staatlehre – ohne Staat“ (Kelsen 1923, S. 283).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

und Ausnahmezustand. Diese Haltung führt letztlich zu einer Aushöhlung des Kerngehalts der souveränen Entscheidung an sich. Nun werde gar geleugnet, dass in der Situation des Ausnahmezustandes eine Entscheidung überhaupt notwendig ist (vgl. PT 63 ff.). Diese Negation der Entscheidung wirkt par excellence in der Praxis von Liberalismus und Parlamentarismus. Schmitt hatte in klassischer Polemik formuliert, der Liberalismus würde auf die Frage: „Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission antworten“ (PT 66). Und, fährt Schmitt fort, der Liberalismus diskutiere und transagiere jede politische Einzelheit und möchte selbst die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. „Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren“ (PT 67).

Das aber ist nicht die Art von Diskussion, wie sie in der originären Idee des Parlamentarismus grundgelegt war. Eine rationale Diskussion musste dies sein, mit dem Ziel, auf dem Markt der politischen Meinungen zu überzeugen und der Bereitschaft sich überzeugen zu lassen. Gelingen kann dies – nach Schmitt – nur, wenn auch die Gewalten geteilt sind. Ein so verabschiedetes Gesetz erscheint dann als rationales Produkt einer parlamentarischen Diskussion bei geteilten bzw. gleichgewichtigen Gewalten. Vervollständigt man die Prinzipien des Parlamentarismus mit dem Element der Öffentlichkeit der parlamentarischen Handlungen, nimmt man die Rechte der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit hinzu, so kann man mit Ottmann cum grano salis von einem liberalen System der Politik71 sprechen – was Schmitt dem Liberalismus der Idee nach auch gar nicht abspricht.72 Allein, Schmitt misst die geübte parlamentarische Praxis an seiner eigenen idealtypischen Rekonstruktion des klassischen Liberalismus73 und kommt so prima facie zu einem vernichtenden Urteil – nach

71 Nicht aber von einem „Politischen System“ in modernem Sinne (s. nur Andersen/ Woyke 2003, S. 532-538). 72 Vorst. vgl. Ottmann (210, S. 237); s. auch Brokoff (2001, 41 ff.). 73 Mehring (2017, S. 66).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

Meinung Ottmanns „geistreich formuliert“74, doch „maßlos überspitzt“.75 Die Verwerfung des liberalen Parlamentarismus ist aber, so Mehring, nicht automatisch eine Absage an „die zivilisierende und pazifizierende Kraft öffentlicher Debatten und politischer Öffentlichkeiten“.76 Zwar gerät Schmitt – alternativ zu Idealismus und Rationalismus – gelegentlich in die Sphäre unmittelbarer Gewaltanwendung, bekennt sich aber ausdrücklich zu den Prinzipien einer rationalen Politik. Über Schmitts Klassiker-Interpretationen von Rousseau, Marx oder Sorel lässt sich ideengeschichtlich trefflich disputieren, insbesondere seine Rousseau unterlegte antiliberale und nationalistische Ausrichtung der volonté générale hat zum Widerspruch gereizt.77 Spannend ist Schmitts eigene Deutung der bolschewistischen und faschistischen Bewegung im Jahr 1923.78 Er erkennt in ihnen in unterschiedlichen Graden marxistische, anarchistische aber auch nationalistische Elemente, die es für ihn rechtfertigen, sie unter die Kriterien einer irrationalistischen Philosophie „unmittelbaren konkreten Lebens“ (GLP 79) zu subsumieren.

74 Ottmann (2910, S. 238; nachst. Zit. ebd.). 75 Das kann man in der Sache sicher für begründet halten, aber man kann sich n.u.A des Eindrucks manchmal nicht erwehren, dass die Kritik an Schmitt etwas milder ausgefallen wäre, hätte er seine Argumente – unabhängig seiner polemischen Absicht – nicht so geistreich oder nicht so stilistisch geschliffen präsentiert. Es gibt in der Sekundärliteratur und selbstverständlich nicht nur bei Ottmann, dem ein ausgewogenes Urteil über Schmitt und sein Werk in keinster Weise abgesprochen wird, mehrere dieser Stellen, an denen sich dieser Eindruck einstellt. 76 Mehring (2017, S. 67; nachst. vgl. S. 68 f.). 77 Siehe ebd. mit Nachweis. 78 Ebd. S. 67.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

I. Die Regierung Stresemann: Wege aus der Krise. Der Regierung Cuno folgte die „Große Koalition“ – SPD, DDP, Zentrum und DVP als ein „Zusammenschluß aller den demokratischen Staatsgedanken bejahenden Kräfte“ – Gustav Stresemanns.79 Sie stand vor einer unentwirrbar scheinenden Problemgemengelage. Der Beendigung des unfinanzierbaren Ruhrkampfs hatte die Ablösung der französischen Besatzung durch ein Arrangement über die Reparationen zu folgen. Ohne dieses hatte Deutschland keine Aussicht auf die dringend benötigten Auslandskredite. Die Lösung der Reparationsfrage wiederum setzte eine Beendigung der Hyperinflation voraus, der unvermeidlich soziale Verteilungskämpfe folgen mussten.80 Und über allem bedrohten politisch radikale Bewegungen in Bayern, Mitteldeutschland und im Rheinland die junge unsichere Demokratie.81 Am 26. September 1923 brach Stresemann den passiven Widerstand ab und nahm die Reparationszahlungen und Besatzungskosten wieder auf. Am 24. Oktober stellte die Regierung den Antrag, eine Untersuchung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands aufzunehmen. Im November wurde mit der Schaffung der Deutschen Rentenbank und der „Rentenmark“ endlich die Basis für eine stabile Währung gelegt und so auch der Weg zu Verhandlungen über das Reparationsproblem geöffnet. Aufstands- und Putschversuche von links und rechts hielten die Republik in Atem.82 In Sachsen und Thüringen war die KPD taktische Regierungskoalitionen mit der SPD eingegangen, um sich eine bessere Basis für die geplanten revolutionären Erhebungen zu verschaffen. In Überschätzung der Kampfbereitschaft ihrer Anhänger und die schnelle und entschlossene Aktion der Reichsregierung – Verhängung des Ausnahmezu-

79 Kolb/Schumann 2013, S. 53. 80 Heftig wurde über die Frage von Arbeitszeitverlängerungen debattiert, s. dazu Longerich(1995, S. 138 ff.). 81 Longerich (1995, S. 137). 82 Zu den einzelnen Aktionen s. Kolb/Schumann 2013, S. 53-56.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

stands und Reichsexekution gegen Sachsen – hatte die KPD-Führung schon Ende September den Rückzug angetreten. Zeitgleich spitzte sich die Auseinandersetzung Bayerns mit dem Reich zu. In Bayern hatten die Aufgabe des Ruhrwiderstandes und die Bildung linker Regierungsbündnisse in Mitteldeutschland eine nervöse Spannung ausgelöst. Die bayerische Regierung verhängte den Ausnahmezustand und berief den eigentlich „starken Mann“, Ritter v. Kahr, zum „Generalstaatskommissar“, „also zu einer Art Landesdiktator“.83 Im Oktober widersetzte sich die 7. Reichswehrdivision unter General von Lossow Befehlen der Reichsregierung. Die von Ebert am 3. November gewünschte Reichsexekution erklärte der Chef der Heeresleitung Seeckt für unmöglich, da Reichswehr nicht gegen Reichswehr marschiere – die von Seeckt gewünschten Diktaturvollmachten verweigerte Ebert. Seeckt richtete aber auch eine eindringliche Warnung an Kahr und Lossow, „sich von den völkischen und nationalistischen Extremisten nicht zu sehr ins Schlepptau nehmen zu lassen“, die nicht ohne Wirkung blieb: Kahr und Lossow verhielten sich nunmehr gegenüber einem selbstständigen Losschlagen reserviert. Die rechtsextremen Organisationen, Hitler und Ludendorff voran, entschieden sich dazu, den Staatsstreich zu erzwingen. Sie funktionierten eine vom „Triumvirat“ Kahr, Lossow und Seißer84 veranstaltete Versammlung im Bürgerbräukeller um. Hitler umstellte mit SA-Leuten den Versammlungsort, zwang das „Triumvirat“ auf seine Linie, erklärte die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamierte die provisorische Reichsregierung Ludendorff-Hitler-Lossow-Seißer. Die reguläre bayerische Regierung hatte aber schon nach einigen Stunden ihre Handlungsfähigkeit wiedergewonnen und widerrief umgehend ihre Beteiligung. Überspielt setzen Hitler-Ludendorff alles auf eine Karte und ziehen mit ihren Anhängern durch die Münchner Innenstadt. An der Feldherrnhalle wird die „nationale Revolution“ aufgehalten und beschossen, der Putschversuch ist gescheitert. Auch Seeckt, von Ebert mit der vollziehenden Gewalt im Reich und mit dem Oberbefehl der Wehrmacht ausgestattet, nutzt seine „diktatorischen“ Vollmachten nicht. Die NSDAP und die rechtsextremistischen Organisationen wie auch die KPD werden im gesamten Reichsgebiet verboten.

83 Longerich (1995, S. 141). 84 Seißer war der Kommandeur der bayerischen Polizei.

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II. Das Völkerrecht in Weimar.

Die Republik hat sich in der Zerreißprobe des Herbstes 1923 behauptet. Die Inflation war durch die Währungsreform gestoppt worden und die außenpolitische Konfliktlage entspannte sich. Die äußerste Linke spielte bis 1930 kaum mehr eine Rolle, nur vorläufig gedämmt allerdings waren die Rechtsextremen, denn nach wie vor „existierte – in einzelnen Bevölkerungskreisen wie in den Funktionseliten – ein massives antirepublikanisch-antidemokratisches Potential“.85 Auf nur dünnem Boden zeichnete sich gleichwohl die Chance einer Konsolidierung der Republik ab. „Die relativ glatte Lösung der äußerst verwickelten, mehrschichtigen Krisensituation von 1923 durch die Große Koalition unter Stresemann ist wohl das stärkste Argument gegen die These, die Weimarer Republik sei von Anfang an zum Scheitern gewesen“.86

II. Das Völkerrecht in Weimar. 1. Das Völkerrecht der Zwischenkriegszeit in Deutschland. Die Völkerrechtswissenschaft in Deutschland war um 1900 ein akademisches Randgebiet.87 Das Machtstaatsdenken bestärkte die Völkerrechtsleugnung mindestens aber seine Deutung als „Außenstaatsrecht“. Die Zunahme der internationalen Spannungen rückte das bellizistische Völkerrechtsdenken in den Vordergrund, während die Vertreter der Friedensbewegung Randfiguren blieben. Erst 1914 und erst recht nach Versailles wurde die völkerrechtliche Lücke im System der Rechtswissenschaften offenbar. Erst jetzt gelang die Gründung eines Instituts für Internationales Recht in Kiel, das während des Krieges das eigentliche Zentrum des Völkerrechts in Deutschland war. Eine stärkere Hinwendung der deutschen Staatsrechtslehre zum Völkerrecht erfolgte während des Weltkrieges.88 Der Vertrag von Versailles und die neue Institution des Völkerbundes waren schließlich mit den vielfältigen Fragen, die sie aufwarfen, die Initialzündung für das Völkerrecht in Deutschland.

85 86 87 88

Siehe Kolb/Schumann (2013, S. 55 f.). Longerich (1995, S. 144). Stolleis (2002, S. 88; nachst. s. S. 88 f.). 1917 wurde die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht gegründet.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Für die politische Verortung Carl Schmitts ist es wichtig zu wissen, dass es einen wirklich neutralen Standort in diesen Fragen in Deutschland nicht gab. Ohnehin waren die deutschen Wissenschaftler in der Mehrzahl politisch im Spektrum von DVP und DNVP positioniert. Sie sahen sich zum Patriotismus nachgerade verpflichtet und suchten bei der Interpretation des Völkerrechts nach den für Deutschland günstigsten Lösungen. Darüber bestand freilich die Gefahr, „nur noch als Rechtsdisziplin gegen die Sieger und den Völkerbund verstanden zu werden“.89 Aber es gab als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg auch eine internationale Bewegung für eine friedliche Weltordnung. In ihr sollte die Souveränität des Staates gerade nicht mehr zentral gesetzt sein. Als Vertreter der pazifistischen Völkerrechtslehre sind zu nennen Walther A. Schücking und Hans Wehberg.90 und die Wiener Schule mit ihrem Doyen Hans Kelsen. 2. Biographische und werkgeschichtliche Vorbemerkungen. Erst in seinen Bonner Jahren geraten die Problemkreise der internationale Beziehungen und des internationalen Rechts in den Fokus des zusehends politisierten Carl Schmitt.91 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Besetzung des Rheinlandes durch französische und belgische Truppen der konkrete Anlass hierfür war. Mehring datiert Schmitts Franzosenhass und die Mobilisierung seines Nationalismus auf diese Zeit.92 So trat zum Kampf gegen Weimar nunmehr der Kampf gegen den Friedensvertrag von Versailles, den völkerrechtlichen Endpunkt des Weltkriegs, und den Genfer Völkerbund hinzu. Schmitt stand, wie dargelegt, damit keineswegs alleine. Sein Bonner Kollege, der Staatsrechtler Philipp Zorn resümierte: „Der Friedensvertrag ist ein furchtbarer und schreiender Widerspruch zur Rechtsidee“.93 In Bonn lag das Lehramt für Völkerrecht bei Erich Kaufmann. Dieser war aber als völkerrechtlicher Berater des Auswärtigen Amtes und als Vertreter des Reichs vor internationalen Schiedsgerichten so ausgelas89 Stolleis (2002, S. 88). Dieselbe Gefahr bestand für die Geschichtswissenschaften, die sich nur der Widerlegung der Kriegsschuldthese – und partiell einem Nachweis der „Dolchstoßlegende“ – verpflichtet sahen (ebd.). 90 Siehe ebd. S. 88 f. 91 Nachst. s. Neumann (2015, S. 419). 92 „Seinen alten Hass auf den preußischen Militarismus überträgt er damals auf die Franzosen“ (Mehring 2009, S. 158). 93 Zit. n. Stolleis (2002, S. 87).

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II. Das Völkerrecht in Weimar.

tet, dass Schmitt die Völkerrechtsvorlesungen übernahm und schon bald begann, auf diesem Rechtsgebiet zu publizieren. 3. Carl Schmitts völkerrechtliche Grundposition. Schmitts völkerrechtliche Grundposition, wir müssen hier vorgreifen94, folgt aus seiner Bestimmung des Staates: „Staat ist (…) der politische Status eines in seiner territorialen Geschlossenheit organisierten Volkes“ (BP 20). Das Politische ist bei Schmitt als die Unterscheidung von Freund und Feind bestimmt (s. BP 26). Aus der Freund-Feind-Unterscheidung folgt für ihn der Pluralismus der Staatenwelt, also die Existenz mehrerer Staaten: „Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt‚staat‘ geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum“ (BP 54).95

Die Anerkennung des Pluriversum-Axioms schließt folglich Entwicklungen, die zu einer Verdrängung des Staates aus seiner zentralen Stellung im Völkerrecht führen ebenso aus, wie Entwicklungen, die auf „die Institutionalisierung einer Weltrechtsordnung, auf einen Universalismus hinaus laufen“.96 „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das ius belli (…)“ (BP 45)97. Einer der wesentlichen Kritikpunkte Schmitts am Genfer Völkerbund und an der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sind völkerrechtliche Ansätze, die den Staaten das ius ad bellum entziehen wollen.98

94 Siehe hier Der Begriff des Politischen, Sigle = BP. 95 „Menschheit“ ist keine politische Kategorie, sie kann keinen Feind – wenigstens nicht auf diesem Planeten (BP 54) – unterscheiden und folglich nicht Krieg führen. Kriege, die trotzdem im Namen der Menschheit geführt werden, sind in Wahrheit Kriege zwischen Staaten. „Menschheit“ bedeute dann nur, so Schmitt, dass dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen wird; solche Kriege verlaufen dann besonders unmenschlich. Denn: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (BP 55). 96 Neumann (2015, S. 421). 97 Herv. im Original. 98 Siehe Neumann (2015, S. 421).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925). Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande in Köln am 14. April 1925. Einer der ersten und wichtigsten völkerrechtlichen Arbeiten und der erste große politische Auftritt Carl Schmitts ist die Rede Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik.99 Der Vortrag beschäftigt sich mit dem völkerrechtlichen Status der Rheinlande (PuB 26-33). Den Rheinlande-Aufsatz ergänzt 1928 der Aufsatz Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (PuB 97-108) ebenso wie die Schrift Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (PuB 162-179) von 1932. 1. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik. Schmerzlich sei es, leitet Schmitt ein, von den Rheinlanden als einem „Objekt internationaler Politik“ zu sprechen, jedoch sei diese Gefahr – siehe den Herbst 1923 – immer latent, auch wenn das Schlimmste überwunden scheine (vgl. PuB 26; nachst. s. ebd.). Vorsicht also sei geboten, auch – so Schmitts Hauptthese – weil es heute andere Pläne und Kombinationen gebe, aus den Rheinlanden ein Objekt fremder internationaler Politik zu machen. Denn man höre von Bestrebungen, das in der Folge des Versailler Vertrages entmilitarisierte Gebiet durch besondere Einrichtungen und Kontrollen vom übrigen Deutschland zu trennen, zwischen beiden eine „völkerrechtliche Verschiedenheit“ herbeizuführen und so ein „besonderes Regime zu errichten“, das die deutsche Staatsgewalt beseitige, um „aus den Rheinlanden ein Objekt internationaler Politik zu machen und den Objektcharakter zu organisieren und zu legalisieren, nachdem diese Länder infolge der Besetzung schon zu einer Art Pfandobjekt geworden sind“ (PuB 26).

Mit herkömmlichen völkerrechtlichen Begriffen wie Protektorat100 oder Annexion seien diese anderen Formen und Methoden der Beherrschung nicht mehr zu fassen. Die Vorsicht aus Deutschlands tausendjähriger Geschichte gebiete es bei der althergebrachten Annexion, von der heute nach

99 Mehring (2009, S. 192). 100 Näher dazu (PuB 28).

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925).

vier Jahren Krieg niemand mehr spricht (PuB 27), darüber nachzudenken, ob es sich vielleicht um andere Formen der Beherrschung handelt, „die gerade eine offene politische Unterwerfung vermeiden, und das Land, das beherrscht werden soll, als Staat bestehen lassen, ja, wenn es notwendig ist, einen neuen unabhängigen Staat schaffen, dessen Freiheit und Souveränität ausdrücklich proklamiert wird, so daß scheinbar das Gegenteil dessen geschieht, was man als Herabwürdigung eines Volkes zum Objekt fremder Politik bezeichnet könnte“ (PuB 28).

So sei zwischenzeitlich die Form des Protektorats veraltet und folglich durch ein neues Verfahren ersetzt worden, wie Schmitt am Beispiel des Verhältnisses zwischen England es mit Ägypten expliziert (s. PuB 28 f.). Die Herrschaft Englands beruhe rechtlich auf vier Vorbehalten, die England zur Intervention berechtigen: Verteidigung und Schutz des Suezkanals durch England; Schutz der fremden Interessen in Ägypten durch England; Schutz Ägyptens gegen fremde Angriffe durch England; Verwaltung des Sudans, d.h. des oberen Nillaufes durch England.101 „Ein Begriff wie ‚Schutz fremder Interessen‘ ist wegen seiner Unbestimmtheit besonders geeignet, einem auf ihm aufgebauten Interventionsrecht den Charakter einer wirklichen Herrschaft zu geben“ (PuB 29).

Im Falle der althergebrachten Annexion behielt die Bevölkerung eines beherrschten Gebietes die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates und der annektierende Staat musste die Verbindlichkeiten des annektierten Staates übernehmen (Staatensukzession). Zudem bestand das Problem, dass die Bevölkerung des beherrschten Gebietes die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates erwirbt. Insbesondere für demokratisch verfasste Staaten sei hier Vorsicht geboten, „weil man nicht jeder beliebigen Bevölkerung gleiche Staatsbürgerrechte verleihen kann“ (PuB 30). In juristischer Diktion sollen i.d.R. die rechtlichen Folgen einer Staatensukzession vermieden werden (PuB 30). Nunmehr sichern offene Begriffe wie Kontrolle dem imperialistischen Staat alle wirtschaftlichen Vorteile einer Beherrschung, ohne diese mit dem Beherrschten teilen zu müssen und Begriffe wie Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung verlieren ihre tradierte Bedeutung (s. PuB 30).102 Neben zahlreichen anderen Vorteilen politischer wie wirtschaftli-

101 Gleiches gelte im Ergebnis für das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zu Kuba, Haiti, San Domingo und Panama (vgl. PuB 29). 102 Vgl. Neumann (2002, S. 428).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

cher Art genieße das System der Kontroll- und Interventionsverträge noch den moralischen Vorteil, „daß es sich auf die Heiligkeit der Verträge und den Satz pacta sunt servanda berufen und auf diese Weise den Unterworfenen moralisch paralysieren kann“ (PuB 106).

Als Folgen dieser Methode verlieren Begriffe wie Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung, Souveränität ihren alten Sinn, die politische Gewalt des kontrollierten Staates verfällt und er kann im Konfliktfall sein eigenes politisches Schicksal nicht mehr selbst bestimmen: „Entscheidend ist, daß der beherrschte und kontrollierte Staat nicht mehr in seiner eigenen Existenz die maßgebliche Norm seines politischen Handelns findet, sondern in den Interessen und in der Entscheidung eines Fremden“ (PuB 30).

Dieser Fremde wird dann intervenieren, wenn es in seinem politischen Interesse geboten scheint. Dazu werden in aller Regel offene Begriffe gewählt, die der Fremd inhaltlich selbst ausfüllt; Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Schutz fremder Interessen und des Finanzkapitals, Einhaltung internationaler Verträge. Die Unbestimmtheit dieser Begriffe sichert ihm letztlich „eine grenzenlose Macht“ und „das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes verliert dadurch seine Substanz“ (PuB 31). Bei der politischen Annexion alten Stils war der Annektierte noch inkorporiert worden. „Der Sieger übernahm mit dem Land und seiner Bevölkerung auch eine politische Verantwortung und eine Repräsentation. Das annektierte Gebiet hatte sogar die Möglichkeit, ein Teil des neuen Staates zu werden, mit ihm zusammenzuwachsen und dadurch der entwürdigenden Situation eines bloßen Objekts zu entgehen“ (PuB 31).

Mit den neuen Methoden zerfällt all dieses, der kontrollierende Staat sichert sich alle militärischen und wirtschaftlichen Vorteile einer Annexion, aber ohne alle Lasten, und was als staatliche Autorität auftritt, ist abhängig von den Interessen und der Entscheidung des Fremden (s. ebd.). Schmitt verknüpft seine bisherigen Ausführungen nunmehr mit dem Vertrag von Versailles. Er wolle nicht sagen, dass dieser die Souveränität Deutschlands aufgehoben habe: „Aber wenn das nicht der Fall ist, wenn Deutschland in einem bescheidenen Rahmen immer noch die Möglichkeit einer deutschen Politik hat, so liegt das

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925).

an der Zahl der Gegner, denen es sich unterwirft, und ferner an der Entwicklung der letzten Jahre, aber nicht an dem Vertrage selbst“ (PuB 32).

Die Gefahr für Deutschlands Souveränität sieht Schmitt in der Verwendung von gefährlichen unbestimmten Begriffe,: „Sie können ganz Deutschland in ein politisches Objekt verwandeln“ (ebd.). Schmitt benennt derer vier: Reparation, Sanktion, Investigation und Okkupation. Der Umfang der Reparationen, lange Zeit unbestimmt, gestatte nach dem nun geltenden Dawes-Plans wenigstens einen Überblick über das Ausmaß der Leistungspflicht (PuB 32; nachst. 32 f.). Das Sanktionsrecht gestatte nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages – bei einseitiger und willkürlicher Auslegung – eine immer neue Unterwerfung Deutschlands. Das Investigationsrecht (Nachforschungsrecht) des Völkerbundes berge ebenfalls die Gefahr unabsehbarer Auslegungen, weil es die ganze Industrie und Wirtschaft des Landes umfasst. Für die Okkupation deutschen Gebietes sei weder die Stärke der Besatzungstruppen noch seien die Befugnis der Besatzungsbehörden geregelt. Der unbestimmte Begriff laute hier: „Sicherheit und Würde der Besatzungstruppen“. Auch die Besetzungsfristen unterlägen einseitiger Auslegung, und hätten nach Poincarés Auffassung noch nicht einmal zu laufen begonnen: „Sie zeigt den ganzen Abgrund von Unbestimmtheit, dessen Opfer Deutschland nach diesem Vertrag werden kann. Die Folgen all dieser systematischen Unbestimmtheiten ist furchtbar. Denn ein Friedensvertrag hat doch wohl den Sinn und den Zweck, den Krieg zu beendigen und den Zustand des Friedens zu begründen“ (PuB 33).

So aber bleiben in der Argumentation Schmitts die elementaren Begriffe Krieg und Frieden unbestimmt, verlieren damit ihren einfachen Sinn und lösen sich in einen „quälenden Zwischenzustand“ auf (ebd.). 2. Die moralisierende „pacta-sunt-servanda“-These. Wir hatten bereits erwähnt, dass mit dem heutigen System der Interventionsverträge moralisch auf die Heiligkeit der Verträge – pacta sunt servanda – gepocht werden kann (PuB 106). Diese „pacta-sunt-servanda“-These findet sich in weiteren Beiträgen Schmitts, auf die im Einzelnen einzugehen nicht nötig ist. Schmitt sieht selbst bei sympathischen und vertrauenserweckenden Namen wie Vergleich, Verständigung und Versöhnung die

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Gefahr, dass sie wenig über die Sache aussagen, sondern vielmehr „als Mittel einer justizförmigen Verschleierung“103 eingesetzt werden und „daß schöne und sogar heilige Worte im politischen Kampf gebraucht werden, um den Gegner durch moralische Suggestion zu lähmen (…). Eine Vergleichs- und Verständigungspolitik kann trotz ihres Namens sehr einseitigen politischen Zwecken dienen“ (PuB 103).

Schmitt belegt dies anhand einer eigens für das entmilitarisierte Gebiet eingesetzten Vergleichskommission, die der Entscheidung des Völkerbundrates jedenfalls vorgreift. Sie sei eine internationale Instanz, die für ein abgegrenztes Gebiet des Deutschen Reiches zuständig ist, was heiße: „das entmilitarisierte Gebiet ist bei einer solchen Kommission nicht nur der im Versailler Vertrag vorgesehenen Sonder r e g e l u n g, sondern auch einer Sonder o r g a n i s a t i o n unterworfen. (…) Denn damit ist erreicht, daß ein bestimmter Teil des Deutschen Reiches, und zwar gerade die Rheinlande, geradezu eine besondere Verfassung erhalten“ (PuB 103).104

Damit hätten vierzehn Millionen Deutsche nicht mehr die deutsche Regierung, sondern eine internationale Kommission als höchste Autorität über sich, die den Kompromissinteressen Englands und Frankreichs diene und nicht denen des ganzen Völkerbundrates (PuB 104). Derartige justizförmige Verschleierungen „verdecken eine harte und grausame Art Politik und verschaffen einem ruheund gerechtigkeitsbedürftigen Volk für kurze Zeit den Eindruck einer Stabilisierung und Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse“ (PuB 104/105).

Diese Argumentationsfigur findet sich bei Schmitt noch öfter: „(…) und die Verrechtlichung ist in Wirklichkeit nur eine Methode justizförmiger Politik, die der Ausbeutung und Unterdrückung legale Formen leiht“ (PuB 105).

Den Status quo der Rheinlande sieht Schmitt durch Okkupation (PuB 34) und Entmilitarisierung (PuB 35) und durch die Folgen des Vertrages von Versailles bestimmt, die Idee des Genfer Völkerbundes nichts weiter als den gescheiterten Versuch, den Status quo zu legitimieren.105

103 Neumann (2015, S. 429). 104 Herv. im Original. 105 Siehe Neumann (2015, S. 429). Huber kommentiert die Ausführungen Schmitts: Der Völkerbund sei nur ein Instrument im Dienst der westlichen Großmächte gegenüber den schwachen und entwaffneten Staaten, d.h. hinter der Maske der uni-

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IV. Der Genfer Völkerbund.

IV. Der Genfer Völkerbund. 1. Der Genfer Völkerbund: Werkgeschichtliche Vorbemerkungen. Eine völkerrechtliche Befassung mit der Problematik der Rheinlande muss mit einer Behandlung des Genfer Völkerbundes einhergehen. Die erste völkerrechtliche Publikation hierzu ist eine Sammelrezension von fünf neueren Schriften, die Schmitt 1924 unter dem Titel Die Kernfrage des Völkerbundes (1924) 106 veröffentlichen lässt. Diese erweitert Schmitt 1926 erheblich. Sie erscheint ebenfalls unter dem Titel Die Kernfrage des Völkerbundes (1926), nach der wir zitieren. Die Aktualität und Problematik dieses Problemkreises waren sicherlich der Grund für zwei weitere Aufsätze Schmitts: Völkerbund und Europa (1928)107 – in dem vor allem die Stellung der USA zum Völkerbund und zu Europa erörtert werden – und Der Völkerbund (1931)108, der sich vornehmlich mit der Institution des Völkerbundes selbst befasst.109 Bei der Frage der Entstehung des Völkerbundes schließt sich Schmitt der Auffassung an, „der Völkerbund sei nichts anderes als die Fortsetzung des Bundes der alliierten Mächte des Weltkriegs, „eine Namensänderung des Feindbundes“, wie ein deutscher Kritiker geschrieben hatte (s. KdV 1926, S. 97).110 Anderer Ansicht war Schmitts Kollege Richard Thoma, der zwar ebenfalls die Härten und moralisierende Gehässigkeit im Versailler Vertrag beklagte, aber auch die Mitwirkungsrechte und Ansprüche für Deutschland konzedierte. 2. „Die Kernfrage des Völkerbundes“. 2.1. Die Ausgangsfrage. Die Schrift, leitet Schmitt ein, soll den Kern dieser Genfer Einrichtung erkennen, die für viele Völker, am meisten aber für Deutschland, „zum

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versalen Völkergemeinschaft sei der westlich-demokratische Imperialismus verborgen (Huber ZgStW 101 (1941) S. 28; hier zit. n. Neumann 2015, S. 429 FN 73). Sigle = (KdV 1926). Abgedruckt in PuB S. 88-97. Sigle = DV; abgedruckt in FoP S. 35-47. Vgl. Neumann (2015, S. 403 f.). Ebd. S. 431; nachst. s. ebd.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Schicksal werden kann“ (KdV 1926, S. 74).Die Kernfrage dazu formuliert Schmitt so: „Die Kernfrage des Völkerbundes betrifft aber gerade die Frage nach der Eigenart der in ihm verkörperten rechtlichen Ordnung. Es ist die Frage, ob er überhaupt als die Verkörperung einer, den status quo von Versailles zur Grundlage nehmenden, rechtlichen Ordnung angesehen werden kann, oder nur als ein politisch-praktisches Zweckgebilde“ (KdV 1928, S. 84).

Daran schließe sich die Frage an, ob der Genfer Völkerbund ein wirklicher Bund ist und so eine besondere Art von Legitimität begründet (KdV 1926, S. 86).111 „Das eben ist entscheidend für die Kernfrage des Völkerrechtes: Ob er mehr ist als ein Büro, auch mehr als ein Bündnis, ob er als ein wirklicher Bund betrachtet werden kann. Ist er ein echter Bund, so legitimiert er den status quo von Versailles – eine folgenreiche, unabsehbare Konsequenz“ (KdV 1926, S. 82).

Die Frage ist, wie Neumann urteilt, in der Tat „brisant“.112 Wäre der Völkerbund nämlich ein Bund, dann wäre er nur ein Instrument zum Schutz der Sieger von Versailles und der Legalisierung ihrer Beute (KdV 1926 S. 97).113 Welches sind nun die Kriterien, die einen wirklichen Bund ausmachen? Schmitt gibt eine klare Antwort: „Das Kennzeichen des echten Bundes liegt in einem Mindestmaß bestimmtgearteter Garantie und einem bei allen Mitgliedern vorausgesetzten Mindestmaß von Gleichartigkeit“ (KdV 1926, S. 86).114

Wären diese beiden Kriterien – Garantie und Gleichartigkeit – erfüllt, wäre der Völkerbund ein echter Bund und es wäre der für Deutschland negative Status quo von Versailles legitimiert (s.o.).

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Herv. w.a.m. Neumann (2015, S. 431). Ebd., S. 431/432. Für „Gleichartigkeit“ wird im Text auch das Synonym „Homogenität“ verwendet.

IV. Der Genfer Völkerbund.

2.2. Die Garantie gegen gewaltsame Gebietsänderungen. Schmitt prüft einleitend zu diesem Kapitel eine ganze Anzahl möglicher Gegenstände einer Garantie, und fragt, ob sie unter Art. 10 der Völkerbundsatzung fallen. Er lautet: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht“.115

Diese Garantie sei allerdings viel umstritten gewesen (s. KdV 1926, S. 93 f.), wohingegen es heute überwiegende Meinung sei, „daß Artikel 10 nur eine Garantie gegen gewaltsame Besitzänderungen ausspricht“ (KdV 1926, S. 95).116 Zum Hintergrund der Regelung dürfe nicht vergessen werden, dass bei der Formulierung „der Affekt gegen Deutschland und den preußischen Militarismus wirksam gewesen ist“ (ebd.). Deutsche oder preußische Methode sei es, Gebietsänderungen mit Waffengewalt und militärischen Zwang herbeizuführen. Hingegen seien „weniger deutsche Methoden, z.B. wirtschaftlicher oder finanzieller Zwang, Aushungerung und dergleichen [keineswegs verboten]“ (KdV 1926, S. 96).

Erneut macht hier Schmitt die Methoden des modernen Neoimperialismus geltend, die es den Großmächten erlauben, mit ihrer Finanz- und Wirtschaftsmacht indirekte Herrschaft über schwächere Staaten auszuüben. Damit schwächt Schmitt freilich seine eigene These, die Völkerbundsatzung verewige den Status quo der Friedensverträge nach dem Weltkriege.117 Andererseits stützt Schmitt seine These, indem er anführt, insbesondere französische und belgische Juristen hätten der Garantie des Verbots gewaltsamer Gebietsänderungen durch Art. 10 eine „Garantie der Legitimität des status quo“ abgerungen (KdV 1926, S. 98). Damit sei, so Bülow, die Garantie des Art. 10 lediglich die Kundgebung der Sieger, an ihrem Raubgut festzuhalten – eine in der Literatur äußerst strittige Auslegung.118

115 116 117 118

www.versailler-vertrag.de. Herv. im Original. So Neumann (2015), S. 432). Ebd. S. 433, mit weiteren Nachweisen.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

In der – von Schmitt hoch eingeschätzten – Garantie der Legitimität des Status quo sieht er einen weiteren Schritt zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen: „Die legitimierende Wirkung ist umso stärker, je mehr das Verfahren sich formalisiert und einem Idealzustand allgemeiner Rechtsförmigkeit nahekommt“ (KdV 1926, S. 100).

Ein echter Bund setze es als selbstverständlich voraus, dass der Besitzstand der Mitglieder rechtmäßig ist. Dieser Zustand müsse als „normal“ betrachtet werden: „Ein Bund kann nicht damit beginnen, daß er den Besitzstand eines seiner Mitglieder als unrechtmäßig und dessen politische Situation als abnorm behandelt“ (KdV 1926, S. 100).

Die Voraussetzung von Normalität und Legitimität gehöre schon deshalb zu einem echten Bund, „weil zu jedem echten Bund eine rechtliche Ordnung gehört und (…) diese Vorstellung von der normalen Situation aller rechtlichen Logik wesentlich ist“ (ebd.).

Es frage sich allerdings, wie man in einen „Zustand unbedingter Herrschaft des Rechts“ gelangt, wer also darüber urteilt, was Recht und was Unrecht ist (KdV 1926, S. 101) Die Antwort: in einem die Objektivität garantierenden Verfahren durch eine unparteiische und objektive Instanz des Rechts – wenn es sie denn gebe (ebd.). Dies ändere aber nichts daran, expliziert Schmitt, dass mit geltendem Recht „immer der vertragsmäßig bestehende Besitz als legitim angesehen werden [muss] (KdV 1962, S. 101). Soll ein Besitzstand geändert werden, gebe es zwei Möglichkeiten: Die Änderung erfolgt freiwillig, dann brauche es letztlich keinen Völkerbund.119 Oder, der andere Staat sei zu einer Einwilligung nicht bereit, dann helfe auch kein Richter weiter, denn dieser dürfe nur Recht sprechen und der Besitzende stehe eben im Recht. Es handelt sich also um keine Rechtsfrage, denn ein Richter darf gar nicht tätig werden (vgl. KdV 1926, 101). Gleiches gelte für einen Vermittler. Schmitt folgert: „Die Herrschaft des Rechts ist hier gerade das Gefährliche und die summa injuria“ (ebd.).120

119 Ausgenommen, so Schmitt, dass er die Verhandlungen praktisch erleichtert (KdV 1926, S. 101). 120 Herv. im Original.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Die Konsequenz sei: Je stärker man eine Garantie der Legitimität in Art. 10 verankere, umso stärker fixiere man den bestehenden Status quo. Schmitt verdeutlicht: Wäre der Völkerbund schon 1913 mit Deutschland und Österreich-Ungarn geschlossen worden, wäre die polnische, tschechische und jugoslawische Frage eine interne Angelegenheit dieser Großmächte und keine völkerrechtliche Frage (s. KdV 1926, S. 102). Das Recht bliebe also beim Besitzenden: „Und es wird in Ewigkeit bei ihm bleiben“ (ebd.). „Wenn also Art. 10 den territorialen Besitzstand auf der Grundlage des Versailler Vertrags legitimieren sollte, dann läge die Frage nach Ausnahmen von dieser Legitimationswirkung nahe“.121

Da die Freiwilligkeit eines Besitzverzichts sehr unwahrscheinlich sei, müssten in der Satzung des Völkerbunds Bestimmungen gefunden werden, „wie man unfreiwillige und doch nicht gewaltsame Änderungen ermöglicht“ (KdV 1926, S. 104). Im Schrifttum rekurrierte man deshalb auf den Art. 19 der Völkerbundsatzung: „Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte“.122

Diese Bestimmung hatte die grundsätzliche – nicht spezifisch auf Versailles abgestellte – Diskussion über die friedliche Revision von Völkerrecht („peaceful change“) aufgeworfen.123 Schmitt befragte den Art. 19 darauf, ob „wirklich jene gefährliche Konsequenz, die sich aus der Legitimierung des territorialen Besitzstandes nach Art. 10 ergeben könnte, wenn nicht beseitigt, so doch gemildert und korrigiert“ werde (KdV 1926, S. 104).

Während Thoma dies bejaht, verneint Schmitt dies aus drei Gründen. Das Wort „auffordern“ müsse in der richtigen Übersetzung „einladen“ lauten, zweitens, müsse die Entscheidung wohl einstimmig erfolgen, weshalb auch der betroffene Staat zustimmen müsste. Die Chance auf eine Revision der Friedensverträge 1919/1920 tendiere deshalb gegen null.124 Schmitts drittes Argument geht wieder vom Bund-Charakter des Völker-

121 122 123 124

Neumann (2015, S. 433). www.versailler-vertrag.de. Neumann (2015, S. 434). Siehe Neumann (2015, S. 434).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

bundes aus. Ein echter Bund müsse rechtliche Ordnungsprinzipien bereithalten, nach denen die Notwendigkeit einer Änderung beurteilt werden könne. Für das Vorhandensein solcher Prinzipien fehlten aber die Anhaltspunkte (KdV 1926, S. 107; nachst. s. ebd.). Damit verblieben zwei Alternativen: Sei der Status quo − wie er insbesondere in Versailles festgelegt ist – legitim, wäre jede Änderung Unrecht, stimmte nicht der Betroffene freiwillig zu. Erfolge die Änderung gegen den Willen des Betroffenen, bedarf es eines klaren Prinzips, nach welchem die konkrete Änderung berechtigt ist, sonst herrschte „trotz aller schöner Reden im Völkerbund die tatsächliche geschichtliche Entwicklung und das politische Interesse der Stärkeren“ (KdV 1928, S. 107). Die Gültigkeit dieser zwei einfachen Alternativen zeige jeder Einzelfall (s. KdV 1926, S. 107/108). Würde proklamiert, „daß es von heute nur noch Recht und nicht mehr Gewalt gebe, enthielte eine solche Proklamation den sinnlosen Versuch, „einen status quo dauernd zu legitimieren, oder einfach im Dienst eines Imperialismus stehen, dem seine ökonomischen Machtmittel genügen, und der nun die Anwendung seiner ökonomischen Mittel als Recht und alle anderen Mittel als Gewalt bezeichnet (…)“ (KdV 108).

Die Gewalt, die er selbst ausübe, wäre dabei nur rechtmäßig, bloße Exekution und friedliche Maßnahme (ebd.).125 2.3. Homogenität. Das zweite Kriterium für das Vorliegen eines echten Bundes ist ein Mindestmaß von Gleichartigkeit oder Homogenität seiner Mitglieder (s. KdV 1926, S. 115 ff.).126 Diesem Erfordernis weiche die völkerrechtliche Literatur aber mit zwei Argumenten aus. Ein Völkerbund müsse, erstens, universal angelegt sein und möglichst alle Staaten der Erde umfassen. Zweitens, zeige das Beispiel der Schweiz, die als idealer Zeuge bestätigen könne, „daß trotz nationaler und konfessioneller Verschiedenheiten eine dauernde Staatenverbindung, ein fester Bund möglich ist“ (KdV 1926, S. 115).

125 A. A. Kunz (s. Neumann 2015, S. 435), der die angesprochene Problematik als politische begreift und nicht als juristische. 126 Siehe a. (KdV 1926, S. 86.).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Gegen die These der Universalität wendet Schmitt ein, dass eine Staatenverbindung „auf der Grundlage verschiedener Kulturkreise, Rassen und Religionen zu unüberbrückbaren Gegensätzen führen müsse“.127 Die Lage der Schweiz sei hingen eine besondere, wie schon ihre Verpflichtung zu außenpolitischer Neutralität zeige. Keines dieser zwei Beispiele könne genügen, um es zu rechtfertigen, dass man das Problem der Homogenität ignoriert (KdV 1926, S. 116). Schmitt greift dann nochmals das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika auf. Diese hielten am Prinzip der Nicht-Intervention fest, beanspruchten aber zugleich aufgrund der Monroedoktrin das Recht, „sich für die innerstaatlichen Zustände in den übrigen amerikanischen Staaten zu ‚interessieren‘. Man kann sagen, daß auf der Grundlage dieser Monroelehre der amerikanische Kontinent zu einer völkerrechtlichen Gemeinschaft geworden ist, die einem echten Bunde viel näherkommt als der heutige Genfer Völkerbund § (KdV 1926, S. 121).

Für Schmitt zeigt dies, dass auf dem amerikanischen Kontinent der Zusammenhang von internationaler und innerstaatlicher Ordnung und damit das Prinzip der Homogenität längst anerkannt sind: „Die Praxis der Monroedoktrin zeigt also, daß internationale Ordnung und innerstaatliche Ordnung nicht voneinander getrennt werden können“ (KdV 1926, S. 122).

Schmitt meint damit, auch das Kriterium für eine Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund ausgemacht zu haben (s. KdV 1926, S. 123 f.). Heute stünden die Sowjetunion und der Völkerbund nicht nur aus außenpolitischen Gründen im „schärfsten Gegensatze“ (KdV 1926, S. 125; nachst. s. S. 125 f.). Die Sowjetunion sieht, für Schmitt, klar, „daß eine bundesmäßige Beziehung zwischen Staaten durch ihre innenpolitische Struktur bestimmt ist“ (KdV 1926 S, 125; nachst. s. S. 125 f.).

Mit der innenpolitischen Konstruktion von 1917 bis 1926 sei der Sowjetstaat „kein normaler Staat“. Für die Sowjetunion seien aber die Völkerbundstaaten in einem „abnormen Zustand“, weil sie nur politische Fassade vor der Macht des Kapitals seien und der Völkerbund die Fassade vor diesen Fassaden. Ihm setze die bolschewistische Theorie die Universalität der proletarischen Weltrevolution und des proletarisch-bäuerlichen Sowjetbundes entgegen:

127 Neumann (2015, S. 436).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„In größter Klarheit zeigt sich hier das Problem der sachlichen Universalität und der Gleichartigkeit innerstaatlicher Verhältnisse. Einem Weltpostverein, einer bloß administrativ-technischen Organisation könnte auch ein bolschewistisches Rußland angehören“ (KdV 1926, S. 126).

In einem wirklichen Bund mit bürgerlich demokratischen Verfahren würde der Sowjetstaat die Institution, an der er sich beteiligt, „mit vollem Bewußtsein dazu benutzen, um ihre Grundlagen aufzulösen und zu beseitigen“ (ebd.). 2.4. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes. Wenden wir uns den Einwänden zu, die insbesondere Volker Neumann formuliert.128 Schmitt selbst, führt er aus, sehe die Gefahr, selbst zirkelschlüssig zu werden. Neumann: „Zum einen macht er die Eigenschaft eines Bundes von der Auslegung des Art. 10 der Völkerbundsatzung abhängig, zum anderen die Auslegung eben dieses Art. 10 von dem Bundescharakter des Genfer Völkerbundes“

Um diesen Zirkelschluss zu vermeiden, lasse Schmitt die Frage nach dem Bundescharakter des Völkerbundes offen und die Garantie der Legitimität unbewiesen. Doch habe, so Neumann, Schmitt die Antworten eigentlich schon gegeben. Das Kapitel I Die Garantie (KdV 1926, S. 87-114) führe zu dem Ergebnis, der Völkerbund kenne weder in seiner Satzung noch sonst irgendwo ein konkretes Prinzip, das rechtmäßige Änderungen des Status quo nach Art. 19 Völkerbundsatzung ermöglicht. Der Garantie des Versailler Vertrags nach Art. 10 ist folglich durch Art. 19 Satzung nicht gefährdet. Damit wäre das erste Anforderungskriterium für einen echten Bund erfüllt. Die Argumentation Schmitts für das Kapitel II Die Homogenität (Art. 1926, S. 115-126) lasse keinen Schluss darauf zu, ob die Homogenität auf die Staatsorganisation ziele oder auf die Bürger der Mitgliedsstaaten. Schmitts Ausführungen zur Sowjetunion ließen aber den Schluss zu, „dass der Völkerbund über so etwas wie Homogenität verfügt“.129 Damit wäre auch das zweite, das Homogenitätskriterium, eines Bundes erfüllt,

128 Siehe nachst. Neumann (2015, S. 436-439). 129 Ebd. S. 437.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

woraus folgt: Der Genfer Völkerbund schreibt den Status quo des Versailler Vertrages fest. Nun präsentiert Schmitt im Schluss (KdV 1926, S. 127-128) folgendes Ergebnis: Die Kernfrage des Genfer Bundes sei, ob er den Status quo von Versailles legitimiere, was wiederum davon abhängig sei, ob dieser ein echter Bund ist: „Fragt man nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach Garantie und Homogenität, und nach den konkreten Prinzipien für diese Garantie und für das Mindestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine Antwort“ (KdV 1926, S. 127).

Der Völkerbund trage insofern einen Januskopf, weil „er absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter Bund ist oder nicht und wieweit infolgedessen die unvermeidlichen Konsequenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen“(ebd.).

Daraus resultierten die abweichenden Auslegungen der Art. 10 und 19 Völkerbundsatzung (s.o.). Der Völkerbund zeige den verschiedenen Staaten von Fall zu Fall diesen Januskopf. Den westlichen Großmächten gegenüber präsentiert er sich, so Schmitt, als dienstbereites, bescheidenes Zweckgebilde, vorsichtig und unverbindlich, „während er einem schwachen und entwaffneten Staat das hoheitsvolle Antlitz strengen Rechts zeigt“ (ebd.). Das lockere Gefüge Völkerbund könne die Haltung eines wirklichen Bundes annehmen mit all seinen Konsequenzen, aber auch nur als brauchbare Konferenz- und Vermittlungsgelegenheit. In dieser Lage trete Deutschland nun dem Völkerbund bei, von dem einige viel Nützliches erwarten, andere Schändliches befürchten. Schmitt sieht es als Problem, dass die Kernfrage noch offensteht, der Bundescharakter somit noch nicht bestimmt ist, ein Zustand, der sich schnell zu einem straffen System verändern könne. Als Mitglied müsse Deutschland in der Lage sein, an solchen fundamentalen Veränderungen gleichberechtig mitzuwirken: „Sonst bedeute seine Mitgliedschaft im Völkerbund die Verewigung seiner Niederlage, und sein Eintritt in den Bund wäre nur die Ergänzung zu der horrenden und beispiellosen Ablieferung seiner Waffen: die weniger sinnfällige aber nicht weniger folgenreiche Ablieferung seiner Rechte“ (KdV 1926, S. 128).

1927 wird Schmitt in Der Begriff des Politischen diesen Standpunkt vertiefen und in der Auflage 1932 unverändert wiederholen:

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„In Art. 31 wird das Deutsche Reich gezwungen, seine „Verantwortlichkeit“ für alle Kriegsschäden und -verluste anzuerkennen, wodurch die Grundlage für ein rechtliches und moralisches Werturteil geschaffen ist. Politische Begriffe wie ‚Annexion‘ werden vermieden; die Abtretung Elsaß-Lothringens ist eine ‚désannexion‘, also Wiedergutmachung eines Unrechts; die Abtretung polnischer und dänischer Gebiete dient der idealen Forderung des Nationalitätsprinzips; die Wegnahme der Kolonien wird in Art. 22 sogar als ein Werk selbstloser Humanität proklamiert. Den wirtschaftlichen Gegenpol dieses bürgerlichen Idealismus bilden die Reparationen, d.h. eine dauernde und unbegrenzte wirtschaftliche Ausbeutung des Unterlegenen. Das Ergebnis: ein solcher Vertrag konnte einen politischen Begriff wie ‚Frieden‘ gar nicht realisieren, so daß immer neue Friedensverträge notwendig wurden: das Londoner Protokoll vom August 1924 (Dawes-Plan), Locarno vom Oktober 1925, der Eintritt in den Völkerbund, September 1926 – die Reihe ist noch nicht zu Ende“ (BP 72).130

In dieser humanistisch-idealistisch verbalisierten Entpolitisierung eines ursprünglichen Freund-Feind-Gegensatzes und dessen Ende in einem wirklichen Friedensvertrag sieht Schmitt eine große Gefahr, sollte Deutschland in seiner damaligen Lage diesen „Schleier der Worte und Begriffe, der Juridifizierungen und Moralisierungen“ nicht durchschauen. Die dienstfertige Unterwerfung „unter fremde Begriffe und Forderungen ‚moralischer Abrüstung‘ seien nichts weiter „als Instrumente fremder Macht“. Auch Denkweisen und Begriffe sind für Schmitt Angelegenheiten einer politischen Entscheidung (s. PuB 179). Denn der liberale, ökonomisch-ethische Imperialismus, so Maschke, wie er sich in Genf und Versailles, begleitet von heftigen Diffamierungen der Gewalt und des Krieges, darstellte, „war nur der Terminologie nach unkriegerisch“.131 3. Völkerbund und Vereinigte Staaten von Amerika. In dem Aufsatz Der Völkerbund (1931)132 stellt Schmitt das Völkerbundmitglied „Deutschland“ dem Status-quo-„Deutschland“ gegenüber. Er erklärt: „Ich halte es für gut, daß Deutschland Mitglied dieses Völkerbundes ist, weiß aber auch, daß damit irgend eine wesentliche Änderung der Situation für Deutschland nicht eingetreten ist“ (DV 46).

130 Wir zitieren aus der Buchausgabe von 1962 (1932). 131 Maschke (2012, S. 178). 132 Sigle = DV.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Zugleich wäre aber, führt er aus, die Mitgliedschaft eine Abnormität und ein aufreizender Widerspruch, wenn Deutschland kein gleichberechtigtes Mitglied wäre, sondern weiterhin restlos entwaffnet, entmilitarisiert, dem Einmarsch der Franzosen offenstehend, kontrolliert und reparationspflichtig bliebe (s. DV 46 f.). „Die Beseitigung dieses negativen Zustandes wird nicht als ein in ferner Zukunft zu erreichendes Fernziel formuliert, sondern liest sich als Bedingung für eine gedeihliche Mitarbeit in der Gegenwart“.133

Was aber, fragt Neumann, wäre dann eine Alternative zum Völkerbund für die deutsche Außenpolitik?134 Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten die Gründung des Völkerbundes mit Wilsons 14-Punkte-Programm mit initiiert, waren ihm aber selbst nicht beigetreten. Sie hatten auch den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet, sondern mit Deutschland einen Sonderfrieden geschlossen. Damit, so Schmitt, seien sie in Europa anwesend und abwesend zugleich – das sei nun allerdings alles andere als ein kurioser Zufall. Vielmehr ergebe sich dies aus dem Verhältnis der Monroe-Doktrin zur Satzung des Völkerbundes. Die Verbindung Nordamerikas mit seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten sei, wie wir sahen, durch Interventionsverträge bestimmt und gehörte nach den vorliegenden völkerrechtlichen Verträgen zum politischen System der Vereinigten Staaten. Gleichwohl ragten sie als Mitglieder in das Genfer System des Völkerbundes hinein: „die kontrollierten Staaten sind anwesend, der kontrollierende Oberstaat ist abwesend“ (PuB 91). Ein Weiteres bestimme den Völkerbund von Amerika her, die MonroeDoktrin, der sich der Völkerbund in Art. 21 seiner Satzung ausdrücklich unterwerfe. Er lautet: „Internationale Abreden wie Schiedsgerichtsverträge und Abmachungen über bestimmte Gebiete, wie die Monroedoktrin, welche die Erhaltung des Friedens sicherstellen, gelten nicht als mit einer der Bestimmungen der gegenwärtigen Satzung unvereinbar“.135

Die Monroe-Doktrin geht also der Völkerbundsatzung vor, womit der Völkerbund auf „jede ernsthafte Einwirkungsmöglichkeit gegenüber den amerikanischen Staaten verzichtet“ (PuB 92);

133 Neumann (2015, S. 439). 134 Ebd. 135 www.versailler-vertrag.de.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„Die Entscheidungen des Genfer Völkerbundes sind durch die Beteiligung der amerikanischen Mitglieder beeinflußt, während umgekehrt ein Einfluß des Völkerbundes auf amerikanische Verhältnisse infolge der Monroe-Doktrin ausgeschlossen ist“ (ebd.).

Anwesend seien die Vereinigten Staaten von Amerika auch bei den wichtigsten Fragen der Nachkriegszeit, also in Fragen der Reparationen wie der interalliierten Schulden, obwohl sie offiziell nicht in den Reparationskommissionen vertreten sind (s. PuB 93 f.): „Aber jene wirtschaftlichen Fragen haben eine unvermeidlich politische Bedeutung, und so wird eine wirkliche Abwesenheit doch wieder undurchführbar“ (PuB 93).

Das Verhältnis der USA zu Europa wie zum Völkerbund zeichne sich also durch eine Mischung von Abwesenheit und Anwesenheit aus, dem aber eine „klare geschichtlich-politische Ursache“ zugrunde liege (PuB 94). So hätte der Eintritt der USA den Ersten Weltkrieg entschieden, wie die USA auch bei der Pariser Friedenskonferenz eine „Art schiedsrichterlicher Stellung“ eingenommen habe, die bis heute weiterexistiere. Die Frage nach dem Verhältnis von Völkerbund und Europa finde hier bereits ihre Antwort: „Nicht der Genfer Völkerbund ist der Schiedsrichter der fundamentalen europäischen Fragen, sondern die Vereinigten Staaten, und was der Besiegte des Weltkrieges an Gerechtigkeit und Billigkeit noch zu erwarten hat, das erwartet er nicht vom Genfer Völkerbund, sondern von den Vereinigten Staaten“ (PuB 94).

Damit aber scheide der Völkerbund als unparteiische Instanz für das Gesamtproblem Europas aus, die letztlich die Teilung Europas in Sieger und Besiegte zu überwinden habe (ebd.; s. a. PuB 96). Diese These werde durch die Tatsache gestützt, dass das wenige, was Deutschland an Gerechtigkeit und Objektivität bekommen habe, von den USA gekommen sei (DV 47). An dieser Gemengelage, so lässt sich Schmitt zusammenfassen, hat die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund nichts geändert, und die USA, nicht der Völkerbund, ist der wirkliche Schiedsrichter Europas: „Man kann dieses Ergebnis ‚negativ‘ nennen, aber es ist sicher nicht wertlos. Für das Interesse intellektueller Redlichkeit ist jede zerstörte Illusion ein großer Gewinn“ (PuB 97).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

4. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932). Schmitt geht es auch in seinen außenpolitischen und völkerrechtlichen Analysen um die klare Zuständigkeit und Verantwortlichkeit (potestas directa), „um die konturierte politische Form, um den deutlichen Unterschied zwischen Krieg und Frieden“.136 Der Imperialismus der Vereinigten Staaten von Amerika gelte, so Schmitt, als der moderne Imperialismus, weil er ein vor allem ökonomischer Imperialismus sei. Das Ökonomische stehe dabei derart stark im Vordergrund, dass das Vorliegen eines Imperialismus grundsätzlich geleugnet worden sei, indem man Wirtschaft und Politik gegenüberstellte und die These vertrat, das Wirtschaftliche sei etwas wesensmäßig Unpolitisches und das Politische als etwas wesensmäßig Nicht-Wirtschaftliches. Dieses Argumentationsmuster wurde umso öfter und verstärkter angeführt, je mehr von einem amerikanischen Imperialismus gesprochen wurde. So bemerkte man zur Monroe-Doktrin: „ein europäische Staat darf in Amerika Handel treiben so viel er will, er darf nur nichts Politisches tun“ (PuB 162).137 Wann das Handeltreiben politisch wird, entscheide aber allein Amerika: „Der amerikanische Imperialismus ist allerdings ein ökonomischer Imperialismus, darum aber nicht weniger imperialistisch“ (ebd.).

Amerika entscheide auch über die Anerkennung von neuen Regierungen in den Staaten Lateinamerikas, zu denen es in diesen reichlich durch Revolution, Staatstreichen und Putschen komme. Man verfahre nach dem einfachen Prinzip, revolutionäre Regierungen nicht anzuerkennen und nur legale gelten zu lassen: „Diese sind infolgedessen heute imstande, über das Schicksal der Regierung fast jedes amerikanischen Staates zu befinden „(PuB 173).

Zugrunde liege dem amerikanischen ökonomischen Imperialismus als Legitimationsprinzip die Unterscheidung von Gläubigern und Schuldnern (s. PuB 163 ff.). Ökonomisches Ziel des amerikanischen Imperialismus ist die Expansion seiner kapitalistischen Anlage- und Ausbeutungsmöglichkeiten

136 Maschke (2012, S. 179). 137 Die nach dem damaligen US-amerikanischen Präsidenten benannte Monroe-Doktrin von 1823 wandte sich gegen Interventionen der europäischen Großmächte, sich in die Freiheitskämpfe der lateinamerikanischen Staaten gegen Spanien einzumischen (Stein/v. Buttlar 2012, S. 227 RN 631; zu Einzelheiten s. ebd.).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

(PuB 173). Zur Durchsetzung dieser Interessen ist an die Stelle der Monroe-Doktrin das System der Interventionsverträge getreten, definiert als „eine juristisch formulierte Abmachung, die es dem einen Staat erlaubt, unter typischen Voraussetzungen mit typischen Mitteln in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen“ (PuB 170).

Gesichert wird das Interventionsrecht – die politische Kontrolle und Herrschaft beruht auf dem Recht zur Intervention – „durch Flotten- und Kohlestationen, militärische Besetzung, Landpachtungen usw. (PuB 91). Ein zentraler Kritikpunkt Schmitts an der internationalen Politik der Vereinigten Staaten von Amerika ist das Faktum, kein Mitglied in Genf zu sein, aber den dort selbstetablierten Völkerbund über seine Vasallenstaaten und sein Machtpotenzial als Gläubigerstaat zu dominieren.138 Als Basisbeispiel seiner Kritik erörtert er das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu den lateinamerikanischen Staaten. Kennzeichen dieser Beziehung ist ein ganzes System von Interventionsverträgen (s. PuB 172; s. nachst. ebd.). Aus diesem System sticht der Interventionsvertrag mit Panama heraus. Cum grano salis ist nach ihm der militärische Schutz des Kanals Sache der Vereinigten Staaten, Panama hat das dafür nötige Land abgetreten. Panama hat sich aber weiter verpflichtet, für den Fall, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg führen, ganz gleich wo auf der Erde, sich selbst als kriegführende Partei aufseiten der Vereinigten Staaten zu betrachten – auch wenn Panama nicht selbst oder der Panamakanal angegriffen werden. Dies führe, konstatiert Schmitt, zu einer „besonders intensiven Form der Unterwerfung eines anderen Staates“, die juristische Ausgestaltung dieser Beziehung beruhe aber so auf den Elementen Recht und Koordination, dass der abhängige Staat in dem Spielraum, der ihm bleibt, außenpolitischen Verkehr und außenpolitische Beziehungen unterhalten kann, wie jeder andere souveräne Staat, „und daß sie vor allen Dingen Mitglieder des Genfer Völkerbundes sind, obwohl nach der Völkerbundsatzung nur freie und sich selbst regierende Staaten Mitglied des Völkerbunds sein dürfen“ (PuB 172):

Diese Ausführungen Schmitts, so Neumann zu Recht, hätte auch ein marxistischer Theoretiker schreiben können; sie nehmen Elemente vorweg, wie sie die Theorien des Neokolonialismus bzw. Neoimperialismus formulierten. Danach haben die früheren Kolonialstaaten zwar die direkte Herr-

138 Siehe Maschke (2012, S. 179).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

schaft über die Länder der Dritten Welt aufgegeben. Diese konnten im Ergebnis aber nur eine De-Jure-Unabhängigkeit erreichen, weil die Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas ein vielfältiges System indirekter Abhängigkeiten und Herrschaft auf militärischem, politischem, kulturellem, technologischem und finanziellem Gebiet errichtet hätten, insbesondere aber über die Spielregeln des kapitalistischen Weltmarktes entscheiden.139 Die Konsequenzen einer undeutlichen oder fehlenden Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden demonstriert Schmitt anhand des Kellogpaktes von 1928, der bekanntlich die „Ächtung des Krieges“ enthält. Es heißt: der Krieg werde „verdammt“ (to condemn) (PuB 176; s. nachst.).140 Schlechthin „verurteilt“ oder „abgeschafft“ werde er nicht. Verurteilt werde der Krieg nur „als Instrument der nationalen Politik“, womit sich die Frage erhebe, wann denn Kriege ein Mittel der nationalen Politik und was dann die anderen Kriege seien. Briand habe gegenüber Kellog formuliert: „ein Krieg ist dann ein Instrument nationaler Politik, wenn er aus Willkür, Eigennutz und Ungerechtigkeit geführt wird. Dabei wird ausdrücklich betont, daß Kriege, die ein Instrument internationaler Politik sind, eo ipso gerecht sind“ (PuB 176/177).

Schmitt sieht hier typische Formen verschiedener Imperialismen. Der Imperialismus führe keine nationalen Kriege, da geächtet; er führe höchstens Kriege, die einer internationalen Politik dienen; er führe keine ungerechten, nur gerechte Kriege: „ja wir werden noch sehen, daß er überhaupt nicht Krieg führt, selbst wenn er mit bewaffneten Truppenmassen, Tanks und Panzerkreuzern das tut, was bei einem andern selbstverständlich Krieg wäre“ (PuB 177; s. nachst. ebd.).

Vom Standpunkt Deutschlands aus könne jetzt gefragt werden, welche Art von Kriegen jetzt die gerechtere sei, imperialistisch-internationale oder nationale; nach dem Wortlaut des Kellogpaktes wäre es aber schon ein Irrtum, der Pakt enthalte eine Ächtung aller denkbaren Kriege: „Nach den Erfahrungen der Nachkriegszeit müssen wir vielmehr eine andere Frage stellen: wenn wirklich der Krieg, sei es auch nur der als ‚Instrument

139 Vgl. Neumann (2015, S. 430); s. Ziai (2012). 140 Fast alle Staaten der Erde – auch die Sowjetunion und die Türkei sowie andere Nichtmitglieder des Völkerbundes – hatten sich dem Kellogpakt angeschlossen (PuB 176).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

einer nationalen Politik dienende Krieg‘ geächtet und verdammt wird, was ist dann überhaupt ein Krieg“ (ebd.)?

Schmitt erinnert am Beispiel der Vorgänge in China daran, dass eine solche Frage leider sehr naheliegt, Jahr für Jahr fänden große Truppenlandungen, große militärische Zusammenstöße, Beschießungen von Küsten, Landungen von italienischen Schiffen in Korfu, Landungen amerikanischer Marinetruppen in Panama, Nikaragua usw., Invasionen der Franzosen und Belgier ins deutsche Ruhrgebiet usw. statt: „Das alles galt nicht als Krieg und war daher auch nicht ‚geächtet‘. Was also ist eigentlich Krieg?“

Eine Antwort liefere der Genfer Pazifist und Professor Hans Wehberg in der Zeitschrift Die Friedenswarte (Januar 1932): „Nach geltendem Recht kann man im Falle des chinesisch-japanischen Konflikts nur von einer militärischen Besetzung, nicht von einem Kriege sprechen. An diesem Ergebnis kann auch die Tatsache nichts ändern, daß die sogenannte ‚friedliche Besetzung‘ (occupatio pacifica), mag sie nun als bewaffnete Intervention zum Schutz von Leben und Eigentum japanischer Staatsbürger oder als Repressalie gegenüber chinesischen Völkerrechtsverletzungen begründet werden, von Bombardements, ja sogar von Schlachten größeren oder kleineren Umfanges begleitet war“ (PuB 177; nachst. s. ebd.).

Wie sei, fragt Schmitt entrüstet, eine Jurisprudenz möglich, die angesichts blutiger Kämpfe, angesichts der Zehntausende von Toten immer noch von ‚friedlicher Besetzung zu sprechen wage und dadurch das Wort und den Begriff des ‚Friedens‘ dem grausamen Hohn und Spott ausliefert? Der Gedankengang sei folgender: „entweder ist etwas Krieg oder es ist Frieden. Was ist Krieg? Was nicht friedliches Mittel ist. Was ist ein friedliches Mittel? Was nicht Krieg ist. Ein Zwischending gibt es nicht. Nun ist aber eine friedliche Besetzung, wenn sie auch von Schlachten kleineren und größeren Umfangs begleitet wird, nicht Krieg, ergo ist sie ein friedliches Mittel, ergo hat die Angelegenheit mit dem Kellogpakt nichts zu tun“ (ebd.).

Der Genfer Völkerbund, folgert Schmitt, sehe seine Leistung anscheinend darin, die internationalen Beziehungen zu juridifizieren, d.h. diese Art von Begriffsbildung zu bewirken. Für sich sei die Sache juristisch in bester Ordnung, und sie werde es immer bleiben: „Es sind also grausame Repressalien möglich, menschmörderische Beschießungen, sogar blutig Kämpfe und Schlachten; das alles ist nicht Krieg im juristischen Sinne, und der Friede, auf den die gequälte Menschheit mit Sehn-

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IV. Der Genfer Völkerbund.

sucht wartet, ist ihr längst beschieden; sie hat es nur, mangels juristischen Scharfsinns, nicht bemerkt“ (ebd.).

Wir werden bei Der Begriff des Politischen erneut auf die angesprochene Problematik stoßen, so dass wir hier schließen können.

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung der Weimarer Republik 1924-1929.

Carl Schmitt hatte sich selbst ab 1923 in den „Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ (PuB) gestellt. Diese Selbsteinschätzung wurde in großen Teilen der Literatur gerne aufgenommen, um Schmitt zum Verfassungsfeind und Zerstörer der Weimarer Demokratie zu erklären, der von der Parlamentarismusschrift (1923) über den Hüter der Verfassung und Legalität und Legitimität (1932) gleichsam als Präfaschist dem Nationalsozialismus den Weg bereitet habe.141 Auch die Betrachtung der Geschichte vom Ende des Kaiserreiches bis zum Ende der Weimarer Republik orientiert sich gerne an den gängigen verfassungsrechtlichen Daten. Bedeutsam für Staatswie Völkerrecht sind sie gleichwohl irreführend. Begann Weimar am 9. November 1918 bzw. mit der Verfassung vom 11. August 1919, und datiert sich ihr Ende auf den 30. Januar 1933, so war diese Wegstrecke „eben keine Einbahnstraße, die notwendig zum Nationalsozialismus führen mußte. (…) Das ‚Verhängnis‘, auf das für die Nachgeborenen alles zuzulaufen scheint, wurde meist gar nicht, jedenfalls aber anders wahrgenommen als heute. Das ist methodisch trivial, bedarf jedoch gesonderter Erwähnung (…). Leicht wurde vergessen, daß die geistigen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik vor einem offenen Horizont geführt wurden, an dem (noch) nicht der Flammenschein des Holocaust erschien“.142

Diese These von der Zielgerichtetheit des Schaffens Schmitts lässt sich n.u.E. nicht halten. Schmitt zeigte sich in dieser Phase durchaus als ein Verteidiger der Weimarer Reichsverfassung, der sie allerdings lautstark und teils auch polemisch auf Schwachstellen abklopfte. Wir waren auf seinen Aufsatz Reichspräsident und Weimarer Verfassung und Mehrings Fazit zu diesem – „Er redet nicht den Diktator herbei, sondern warnt vor seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeit“.143 – als ein Beispiel bereits eingegangen. Schmitt selbst habe sich als Freund der Verfassung verstanden, die er zu verteidigen und zu stabilisieren suchte:

141 So u.a. (Fijalkowski 1958); (Schneider 1957), (Krockow 1958); (Koenen 1995); a.A. (Roth 2005, S. 141, mit weiteren Nachweisen). 142 Stolleis (2002, S. 153). 143 Mehring (2009, S. 162).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

„Das ist der Grund, weshalb er 1928 seine Verfassungslehre erscheinen ließ. Er sah in der – rechtverstandenen – Verfassung ein geeignetes Instrument, um der aufgewühlten Massengesellschaft Form, d.h. Struktur und Ordnung zu vermitteln. Dafür mussten aber ihre Antinomien und Paradoxien aufgelöst werden. Schmitt hat sie deshalb in einem eigenwilligen Sinn interpretiert, der vor allem gegen die liberale und sozialdemokratische Lesart gerichtet war“.144

Schauen wir uns den Weg Schmitts zu seiner Verfassungslehre an, eine Zeit, „die in der Schmitt-Diskussion ein wenig unterbelichtet geblieben ist“, die Blütezeit der Weimarer Republik in der Zeit ihrer relativen Stabilisierung.145 Halten wir zunächst nur fest: Der von 1918 bis 1923 tobende Bürgerkrieg war beendet, die ökonomischen Verhältnisse waren wieder handhabbar geworden und Weimar erlebte eine kulturelle Blüte nicht gekannten Ausmaßes. Ein Zusammentreffen günstiger innen- und außenpolitischer Bestimmungsfaktoren führte in der zu Ende gehenden unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer raschen Konsolidierung im Inneren und zum Abbau der außenpolitischen Isolierung.146 1. Sozial- und innenpolitische Folgen der Stabilisierung. Zunächst aber führte die Stabilisierungspolitik innenpolitisch zu erheblichen sozial- und finanzpolitischen Verwerfungen vor allem und zum Teil ausschließlich für die Arbeitnehmer und den Mittelstand.147 Im Inneren wurden drastische Ausgabenkürzungen durchgesetzt, was sich in der weitgehenden Abwehr von Inflationsentschädigungen zeigte. Die Arbeitnehmer sahen sich einem breiten sozialpolitischen Rollback gegenüber, das weitgehend über Arbeitszeitverlängerungen – Untertagearbeit von 7 auf 8 Stunden, in der Eisen- und Stahlindustrie von 48 auf 59 Stunden – erfolgte. Ein weiteres wichtiges Instrument war die Einführung der staatlichen Zwangsschlichtung, mit der die Tarifautonomie durchbrochen wurde, aber auch als Versuch gesehen werden kann, sie in dieser wirtschaftlich desaströsen Lage wenigstens im Prinzip zu erhalten.

144 145 146 147

Roth (2005, S. 142). Ebd. Kolb/Schumann (2013, S. 57). Siehe dazu Longerich (1995, S. 145-153).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

Am 23. November 1923 wurde über einen Misstrauensantrag der SPD die Regierung Stresemann gestürzt, blieb jedoch bis zu seinem Tod am 3.10.1929 in allen folgenden Kabinetten Außenminister und prägte sie.148 Ihm folgte eine Minderheitsregierung unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, die von Zentrum, DVP, DDP und BVP getragen wurde. Die Regierung verlangte, um die Stabilisierungsvorhaben durchführen zu können, ein Ermächtigungsgesetz, das ihr nach heftigen Auseinandersetzungen am 8. Dezember für die Dauer von zwei Monaten erteilt wurde. Sie erließ auf dieser Grundlage etwa 70 Verordnungen. So wurde die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst von 48 auf 54 Stunden angehoben und die Beamtenbesoldung wurde auf 40 Prozent der Besoldung von 1913 gekürzt. Die durchgeführten Steuernotverordnungen belasteten vornehmlich die Verbraucher und den Mittelstand, begünstigt wurden die Besitzer in Industrie und Landwirtschaft: „Dieser Allianz gelang es nicht nur, die Entschädigungsansprüche der Inflationsverlierer zu minimalisieren, sondern auch eine breite Belastung der ‚Inflationsgewinner‘, also derjenigen, die ihre Schulden mit Pfennigbeträgen hatten ablösen können, zu verhindern“.149

Schließlich gelang es Anfang 1924 auch, die Konfliktlage zwischen Reich und Bayern zu bereinigen.150 2. Außenpolitische Folgen der Stabilisierung. Die Bekanntgabe des Dawes-Plans am 9. April 1024 war die Antwort auf die von der Regierung im November 1923 erbetene Überprüfung der Reparationsfrage.151 Das diesen erarbeitende Komitee entwarf einen umfassenden Reparationsplan, für die Gesamthöhe sowie die Dauer der Reparationszahlungen sollten die Londoner Beschlüsse von 1921 weiterhin gel148 Siehe Kolb/Schumann (2013; S. 65). Die Urteile über Stresemann als Politiker und Staatsmann – war er Nationalist oder Europäer, Opportunist oder Idealist, aufrichtiger Verständigungspolitiker oder doppelzüngiger Machtpolitiker – waren konträr. „Nach nahezu einhelliger Auffassung der neueren Forschung war Stresemann ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker“ – wie die anderen europäischen Staatsmänner dieser Zeit auch (Kolb/Schumann 2013, S. 250 f.). 149 Longerich (1995, S. 150). 150 Einzelheiten s. (Longerich (1995, S. 151 f.). 151 Nachst. s. ebd. S. 153 ff.; s. Kolb/Schumann (2013, S. 67 ff.).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

ten. Empfohlen wurden Annuitäten, die sich binnen fünf Jahren von 1 Milliarde Mark auf 2,5 Milliarden steigern sollten. Ein Reparationsagent sollte die Umwandlung der Leistungen in die Währung der Gläubigerstaaten übernehmen. Stünden Devisen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, sollten die Reichsmarkbeträge zunächst auflaufen und die Annuitäten entsprechend sinken. Diese „Devisenklausel“ bedeutete in der Praxis, dass die deutschen Leistungen von einem Exportüberschuss abhängig waren, der allerdings nicht zu erwarten stand. Somit würde die Höhe der Annuitäten von 2,5 Millionen nicht erreicht werden. Vorgesehen war vom Reparationskomitee eine regierungsunabhängige, vor Missbrauch geschützte Notenbank. Die Rentenmark sollte durch eine neue Währung – die spätere Reichsmark – ersetzt und durch Gold und Devisen gedeckt werden. Im Ergebnis wurde auf Betreiben der USA in der Reparationsfrage erstmals die deutsche Leistungsfähigkeit zugrunde gelegt: „Die USA als Hauptgläubiger der Entente mußten ein vitales Interesse danach haben, sowohl die deutschen Reparationsleistungen an ihre Schuldner sicherzustellen als auch einen stabilen Absatzmarkt für ihre Exporte zu schaffen“.152

Der Dawes-Plan wurde am 29.8.1924 mit den Stimmen von DDP, Zentrum, DVP, SPD und – überraschend − etwa der Hälfte der DNVP-Stimmen verabschiedet. 3. Außenpolitische Wegmarken: „Nationale Revisionspolitik als internationale Versöhnungspolitik“.153 Stresemann betrieb eine nationale Außenpolitik und verfolgte eine revisionistische Politik unter dem Leitbild: „Wiederherstellung der früheren Größe eines zu neuer Geltung zwischen Ost und West emporsteigenden souveränen deutschen Nationalstaats“. 154

Diesem Ziel legte er aber eine realistische Einschätzung der europäischen Kräfteverhältnisse zugrunde. Das Ziel der Rückgewinnung der deutschen Machtstellung konnte unter diesem politischen Realismus nur in einem

152 Longerich (1995, S. 154). 153 Karl Dietrich Erdmann, hier zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 65). 154 Kolb/Schumann (2913, S. 65).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

vielstufigen Prozess der kleinen Schritte erreicht werden.155 Für den Wiederaufstieg musste und konnte das entmilitarisierte Deutschland nur sein Wirtschaftspotenzial in die Waagschale werfen: „Ich glaube, die Benutzung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge, um mit dem Einzigen, womit wir noch Großmacht sind, mit unserer Wirtschaftsmacht, Außenpolitik zu machen, ist die Aufgabe, die heute jeder Außenminister zu lösen hätte“.156

Eine Revision des Friedensvertrages war nur dann zu erreichen, wenn im Weg einer konsequenten Politik der Aussöhnung dem französischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung getragen wurde. Dazu musste die deutschfranzösische Zusammenarbeit intensiviert werden, und auch an eine Revision der deutsch-polnischen Grenze konnte nur gedacht werden, wenn sich im Gegenzug das französisch-polnische Bündnis lockerte.157 Die Überwindung des Vertrages von Versailles sollte auch die innenpolitischen Verhältnisse stabilisieren.158 Schon 1925 zeigte sich das neue Klima in den internationalen Beziehungen. Stresemann ließ Frankreich ein Memorandum zur Sicherheitspolitik überreichen, sicher auch eine Reaktion auf einen möglichen englischbelgisch-französischen Garantiepakt. Eine reale Drohung war die Ankündigung der Alliierten, die Räumung der Kölner Besatzungszone auszusetzen, weil Deutschland gegen die Entwaffnungsbestimmungen verstoßen habe. Ein deutsch-französisches Sicherheitsabkommen würde der französischen Politik die Stoßkraft nehmen, weshalb Frankreich auch zögerte. England und die USA intervenierten zugunsten der deutschen Vorschläge. Nach intensivem Notenaustausch kam es zum Treffen der europäischen Staatsmänner in der Konferenz von Locarno (5.–16.10.1925) und zum Abschluss der sog. Locarno-Verträge. Deutschland, Frankreich und Belgien verzichteten auf eine gewaltsame Änderung der bestehenden Grenzen, England und Italien übernahmen ihre Garantie. Ergänzend wurden Schiedsverträge Deutschlands mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei vereinbart:

155 156 157 158

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Siehe den „Stufenplan“ der Revisionsziele in Longerich (1995, S. 155). Stresemann, hier zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 66). Kolb/Schumann (2013, S. 66); s. Longerich (1995, S. 155). Longerich (1995, S. 154).

Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

„Das Deutsche Reich anerkannte im Garantiepakt von Locarno die durch den Versailler Vertrag fixierte Westgrenze, es behielt sich aber den Anspruch auf eine Revision der Ostgrenze vor“.159

Mit den Locarno-Verträgen war die politische wie moralische Isolierung der unmittelbaren Nachkriegsjahre beendet, Deutschland war wieder zurück in den Kreis der europäischen Mächte. Für die neue deutsche Außenpolitik war es konsequent, auf der neuen Basis am 10.9.1926 Mitglied im Völkerbund zu werden. Die Locarno-Papiere wurden von Stresemann durch einen Freundschaftsvertrag (Berliner Vertrag vom 24.4.1926) mit der Sowjetunion ergänzt. Der Sowjetunion wurde im Falle eines Krieges mit Dritten Deutschlands Neutralität zugesichert. Stresemann: „Zuerst der Westen“, hatte mit Polen den ersten Verlierer, und für Deutschland selbst rechnete Stresemann mit schnellen positiven Rückmeldungen, die sich – wenn auch nicht in dem erwarteten Ausmaß – auch zeigten. So wurde die erste Zone des Rheinlands noch 1925 geräumt, die interalliierte Militärkommission abgezogen. Bemerkenswert war vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit der deutschen mit der französischen Schwerindustrie. In den Verhandlungen, die zum Briand-Kellogg-Pakt (27.8.1928) führten, konnte die deutsche Diplomatie schon wieder zwischen den USA und Frankreich vermitteln.160 Am 17.9.1926 fand in Thoiry ein Gespräch zwischen Briand und Stresemann statt, in dem die Chancen über eine Gesamtlösung für die deutsch-französischen Beziehungen erörter wurden. Das Problem der Rheinlandräumung sollte mit der vorzeitigen Ablösung der deutschen Reparationsschulden an Frankreich gekoppelt werden. Die Widerstände in Frankreich waren letztlich zu groß.161 Eine große Belastung für die deutsche Volkswirtschaft brachten 1928/29 die nunmehr laut Dawes-Plan zu zahlenden hohen „Normal“-Annuitäten. Während Deutschland im Völkerbund eine vorzeitige RheinlandRäumung ohne Gegenleistung forderte, bestanden Frankreich und England auf einem Junktim. Letztlich wurde eine neue Expertengruppe von Finanzfachleuten gebildet, die als Ergebnis den Young-Plan präsentierten. Die neue Reparationssumme wurde auf 112 Milliarden festgelegt, die neue Durchschnittsannuität betrug ca. 2 Milliarden (zuvor 2,5 Milliarden). Außerdem wurde die Aufsicht für die deutsche Wirtschafts- und Finanzpoli159 Kolb/Schumann (2013, S. 70; nachst. s. ebd.). 160 Ebd. S. 71. 161 Ebd. S. 71 f.; s. nachst. ebd. S. 72 f..

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

tik beendet. Bei Annahme des Young-Plans wurde zugesichert, bis zum 30.6.1930 – fünf Jahre früher, als im Vertrag von Versailles vorgesehen – das ganze Rheinland zu räumen. Was eigentlich zu einer ruhigeren Innenpolitik hätte führen müssen, weil es sich in der Tat um einen Erfolg deutscher Außenpolitik handelte, beschwor im Gegenteil neue heftige Auseinandersetzungen herauf: „Soviel jedenfalls ist deutlich: Bereits gegen Ende der Ära Stresemann und noch vor Anbruch der Weltwirtschaftskrise zogen drohende innenpolitische Sturmwolken auf; die zügellose nationalistische Agitation der politischen Rechten erzeugte eine aggressiv-revisionistische Welle (…).162

Dies war eine klare Absage an eine auf Verständigung setzende Außenpolitik. 4. Der Young-Plan als Motor der Republikfeinde: Kooperation von NSDAP und DVP. Das vorteilhafte Ergebnis des Young-Plans wurde von der radikalen Rechten als Aufhänger für ihren immer heftiger werdenden Kampf gegen Weimar missbraucht. Im Mittelpunkt der Hetze stand die generationenlange Dauer der finanziellen Belastungen. Der propagandistisch am besten nutzbare Weg, waren die plebiszitären Voten von Volksbegehren und Volksentscheid. Kurz nach Bekanntwerden der Vertragsmodalitäten gründete die von Hugenberg radikalisierte DNVP zusammen mit dem „Stahlhelm“ einen „Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren“, dem sich umgehend die NSDAP anschloss. Hitler konnte als gleichberechtigter Partner Hugenbergs in einer zentralen Frage deutscher Politik politische Reputation erwerben; „die Hemmungslosigkeit der nationalsozialistischen Propagandamethoden und die Brutalität ihrer Kampfesweise wurden für die Bürger salonfähig gemacht und gleichsam akkreditiert“.163

Die Sache an sich endete mit einem völligen Fehlschlag, denn dem mit größter Mühe noch erreichten Volksentscheid stimmten nur 13,8% der Wahlberechtigten zu, die NSDAP aber profitierte. Im Gefolge der Hugen-

162 Kolb/Schumacher (2013, S. 73). 163 Karl Dietrich Erdmann, zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 122; nachst. s. S. 122 f.).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

bergschen Propagandamaschinerie konnte die NSDAP zum Nürnberger Parteitag 200.000 Anhänger, nebst 20.000 SA-Männern aufbieten, die an Hitler vorbeidefilieren. Auch an den Wahlurnen profitierten die Nationalsozialisten: In Thüringen etwa erzielten sie im Dezember 1929 11,3% und kamen wegen einer Patt-Situation dank der Koalitionsbereitschaft der bürgerlichen Parteien erstmals zu einer Regierungsbeteiligung. Die NSDAP hatte den Ruf einer radikalen aber isolierten Splitterpartei schlagartig abgelegt. Ihr Wähleranteil stieg von da ab kontinuierlich.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung. Viele Ausführungen Carl Schmitts lassen sich – nicht nur in seiner Verfassungslehre164 – erst bzw. leichter verstehen, wenn man sie an den Positionen und Entwicklungen der Staatsrechtslehre seiner Zeit misst. 1. Konstitutionelle Monarchie und Rechtsstaat. Das 19. Jahrhundert ist für Deutschland die Zeit der konstitutionellen Staatsform mit ihrem Dualismus zwischen monarchischer und parlamentarischer Gewalt und ihren Verfassungen von 1808 und 1818 bis zum Parlamentarisierungserlass vom 30. September und den Verfassungsänderungen vom 28. Oktober 1818. Das monarchische Prinzip galt, war aber auf dem Rückzug während die politischen Parteien an Bedeutung kontinuierlich zunahmen165 Ob die deutsche konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts eine selbstständige politische Form oder nur ein Kompromiss und eine Übergangserscheinung war und ob gar ein wesenhafter Unterschied zwischen deutscher konstitutioneller und „welscher“, also undeutscher parlamentarischer Monarchie bestand, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet.166 Wir halten hier nur fest, dass Carl Schmitt zuerst in seiner Verfassungslehre (1928) den angeblich wesenhaften Unterschied kritisch infrage stellt. Die konstitutionelle Monarchie ist ihm ein Zwischenzustand, ist ihm der Versuch, „der Entscheidung zwischen Monarchie und Volkssouveränität durch Kompromisse und juristische Konstruktionen auszuweichen“.167 Das 19. Jahrhundert war in Deutschland beherrscht von dem Kampf um „Freiheit“ und „Einheit“, also von der konstitutionellen und nationalen Frage. Der politische Liberalismus hatte sich in Deutschland nur ver-

164 165 166 167

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Sigle = VL. Stolleis (2002, S. 42 f.). Siehe dazu Böckenförde (2013, S. 273-305). Ebd. S. 275/276.

I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

gleichsweise schwach ausgebildet und musste sich – da deshalb überfordert – für eine der zwei Aufgaben, die Schaffung eines Nationalstaates einerseits und seine liberale Formierung andererseits, entscheiden. Am Ende war die nationale Frage gelöst, für die durch die siegreichen Kämpfe Preußens mit Dänemark, Österreich und Frankreich die Grundlage geschaffen worden war.168 Mit der Lösung der nationalen Frage war endlich auch die lange ersehnte Rechtseinheit erreicht.169 Das Kaiserreich war ein hochentwickelter gewaltenteiliger Rechtsstaat geworden. Die Grundrechte waren auf gesetzlicher Ebene und in den meisten Landesverfassungen garantiert und Staats- und Verwaltungsrecht erlebten ihre erste universitäre Blüte.170 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wilhelminische Rechtsstaat obrigkeitsstaatliche Strukturen behalten hatte. Die politische Partizipation der Staatsbürger war nur schwach ausgebildet, das Misstrauen gegen Parteien und Parlamente war erhalten. Aber der sog. Wilhelminismus hatte die Anerkennung der Staatsrechtslehre. Zu beobachten war, dass die Aufgabenverteilung zwischen dem regierenden Reichskanzler und dem repräsentierenden Kaiser unter dem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. fragil geworden war und – verstärkt nach der Daily Telegraph Affaire von 1908 – das Parlament gestärkt war, ohne dass von einer Parlamentarisierung der Regierung gesprochen werden konnte.171 Der Übergang zum parlamentarischen System kann auf die Ernennung des Kabinetts Graf Hertling (1.11.1917) datiert werden. Zum Verschwinden des monarchischen Prinzips hatten neben dem Parlament auch die Oberste Heeresleitung, die Parteien der Linken und die bürgerlichen Liberalen beigetragen.172 Die ungeheuer dynamische wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit einer rasch anwachsenden Bevölkerungszahl stellte das System des Rechts dann vor neue Herausforderungen und der Weltkrieg veränderte die Staatsrechtslehre dann endgültig: „Die vom Positivismus erarbeitete Abdichtung des Rechts gegen politische und wirtschaftliche Zwecke schien im Lichte des Zieles, den Krieg zu gewinnen, plötzlich sinnlos“.173

168 169 170 171 172 173

Mehring (2012, S. 40). Stolleis (2002, S. 43). Ebd. S. 43. Ebd. S. 57. Ebd. S. 59. Ebd. S. 67.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

2. Verfassungsänderungen und Staatsrechtslehre im Krieg. Verfassungsänderungen im Kriege konnten weitgehend positivrechtlich und ohne methodische Grundsatzdebatten vollzogen werden. Neu traten Phänomene des stillen Verfassungswandels und des ungeschriebenen Verfassungsrechts auf. Es gab in der Tat zahlreiche Verfassungsänderungen wie Verfassungsmissachtungen, die aber unter den extremen Bedingungen des Kriegszustandes als „Normalität“ angesehen wurden. Es galt schließlich, nur den Krieg zu gewinnen und so scheiterten scheinbar formale Argumente bereits am patriotischen Argument.174 Grundrechte wurden teils drastisch beschnitten. Betroffen waren die persönliche Bewegungsfreiheit durch die Möglichkeit der Verhängung von „Schutzhaft“, die Einschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Zensur und des Briefgeheimnisses. Schmitt hatte an solchen Maßnahmen ja in seiner Münchner Militärzeit – mit teils schlechtem Gewissen – an verantwortlicher Stelle mitgewirkt. Dass in den Zeiten des „Burgfriedens“ Öffentlichrechtler wie Hans Wehberg und Walther Schücking in ihrem Engagement für den bürgerlichen Pazifismus an den Rand gedrängt wurden, überrascht da nicht.175 Von großer Bedeutung für die Verfassungsordnung war § 3 des KriegsErmächtigungsgesetzes vom 4. August 1914.176 Aber auch hier wurde die tiefgehende Verfassungsänderung dieser Ermächtigung in diesen Anfangstagen der Kriegseuphorie nicht im Ansatz gesehen. Im Gegenteil handelte man nach dem Motto: „inter armis silent leges“ bzw. „necessitas frangit legem“. Insgesamt wurden mit dieser Ermächtigung 825 Bundesratsverordnungen auf allen Gebieten des Rechts erlassen: „Die Staatsrechtslehre interpretierte den Vorgang damals und auch nach Kriegsende eher als Abweichung vom rechten Wege denn als Beginn einer neuen Zeit“.177

Überraschen kann kaum, dass sich um Heinrich Triepel ein Kreis von Öffentlichrechtlern verstärkt dem Völkerecht zuwandte, waren doch alle Kriegshandlungen völkerrechtlich relevant, wobei der nationalistischen

174 Siehe ebd. S. 57. 175 Siehe ebd. S. 58. 176 Mit vollem Titel: Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse, Reichsgesetzblatt 345. 177 Siehe Stolleis (2002, S. 59).

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I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

Perspektive der Vorzug gegeben wurde. Auch setzte sich die Einsicht durch, dass die Zeit der Monarchie sich dem Ende näherte, ohne dass man sich umgehend der Republik verschrieb, ausgenommen eine wichtige Gruppe um H. Preuß, E. Jacobi, F. Stier-Somlo und G. Anschütz. Der linke Flügel des politischen Spektrums war wie der nationalistische verweist: „Der größte Teil der Professoren des öffentlichen Rechts verstand sich wohl aufrichtig als ‚unpolitisch‘. Das Engagement ‚politischer Professoren‘ hatte sich in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs ständig vermindert. Die ‚nationale‘ und die ‚bürgerliche‘ Position waren so selbstverständlich geworden, daß sie kaum noch als politische Optionen wahrgenommen wurden“.178

Das Ende der Monarchie verlangte wohl einen Neuansatz, die Einstellung zum Parlamentarismus und zum Träger der Souveränität konnte freilich umgangen werden, „als man das Problem auf den Wechsel der Staatsform reduzierte. In Wahrheit war jedoch der während des ganzen 19. Jahrhunderts umkämpfte Dualismus der Verfassungsstruktur beendet. Einen prinzipiellen Antagonismus von Exekutive und Parlament gab es theoretisch nicht mehr, da nun alle Staatsgewalt vom Volke ausging“.179

3. Die Gültigkeit der neuen Verfassung und ihre Legitimität. Seit Beginn der Verfassungsberatungen wusste die Staatsrechtslehre, dass sie sich auf ein neues staatsrechtliches Fundament einzustellen hatte und die neue Verfassung den Rahmen künftiger Politik bilden werde.180 Die neue Verfassung war eine „politische Entscheidung“ (VL 23).trotz ihres vielfach beklagten Kompromisscharakters, der an der Struktur der Verfassung abzulesen war, „an der Mischung liberaler und sozialistischer Elemente im Grundrechtsteil oder am potentiellen Gegeneinender von Parlamentarismus und präsidentieller Diktatur. Für die Revolutionäre war die Verfassung das Sigel des Scheiterns der Revolution und des Verrats der Mehrheitssozialisten, für die Monarchisten das Symbol der verhaßten, von den Alliierten aufgezwungenen ‚Republik‘. Die extreme Rechte lehnte das parlamentarische Modell generell ab. Die Föderalisten tadelten die so stark gewordenen unitarischen Tendenzen. Die Unitaristen beklagten den wieder mächtig gewordenen Partikularismus

178 Vorst. s. ebd. S. 63 f.. 179 Ebd. S. 64. 180 Ebd. S. 90.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

und die ungelösten Probleme der Reichsreform. Das Bürgertum sah sich in einer fatalen Zwangsehe mit den Mehrheitssozialisten. Vor die Alternative ‚Räteverfassung oder parlamentarische Demokratie‘ stehend, wählte man selbstverständlich letztere“.181

Hinzu traten innere Vorbehalte gegen die Idee der demokratischen Republik, die auf den Restbeständen monarchischen Legitimitätsdenkens gleichsam aufsaßen, beruhigt nur von der Vorstellung, „der Staat sei ein normatives, prinzipiell unpolitisches Gerüst“. Zudem hatte der Parlamentarismus über ein Rätesystem russischen Vorbilds obsiegt. Kaufmann wählte das Bild, der Parlamentarismus sei eine Planke gewesen, an den sich das deutsche Volk geklammert habe, um nicht zu ertrinken.182 Die Staatsrechtslehre wie die Rechtsprechung akzeptierten fast ausnahmslos die rechtstechnische Gültigkeit der neuen Verfassung. So erkannte das Reichsgericht das Recht der gelungenen Revolution mit dem Satz an: „Die Rechtmäßigkeit der Begründung [ist] kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt“.183 M.a.W.: Die revolutionäre Begründung der Staatsgewalt ist juristisch irrelevant. Tragender Grund dieser Feststellung ist, dass die Rechtfertigung staatlicher Macht kein juristisches Problem ist, dass die effektive und dauerhafte Beherrschung eines bestimmten Gebietes die einzigen Kriterien der Staatsgewalt sind.184 Diese Judikatur des Reichsgerichts vertrat auch die herrschende – aber nicht unangefochtene – Theorie des Rechtspositivismus. Der Rechtsbruch mittels Revolution konnte so zur Rechtsquelle werden, es reichte aus, die Staatsgewalt und die Gewalt zur Verfassungsgebung in Händen zu haben: „Legitimität ist kein Wesensmoment der Staatsgewalt“.185 Diese Position wurde zudem durch die Autorität des Völkerrechts gestützt, das für die Anerkennung eines neuen Staates traditionell die faktische Durchsetzung und Anerkennung der neuen Staatsgewalt als ausreichend ansah.186 Diese Ansicht teilte in § 9 seiner Verfassungslehre auch Carl Schmitt: Eine Verfassung sei als faktischer Zustand und als rechtmäßige Ordnung dann legi-

181 182 183 184 185

Ebd. S. 90. Ebd. S. 91. RGZ Bd. 100 S. 25/28 (27) vom 8. Juli 1920. Hofmann (1964, S. 24). Hans Pohl, zit. n. Stolleis (2002, S 92 FN 112). Anschütz hielt noch 1933 an diesem Satz entschieden fest (Hofmann 1962, S. 24). 186 Stolleis (2002, S. 92).

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I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

tim, wenn die Macht und die Autorität der verfassunggebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruhe, anerkannt ist187 − und konstatiert: „Die Legitimität der Weimarer Verfassung beruht auf der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes“ (VL 92/93).188

Dass ein revolutionärer Verfassungsbruch zur Installierung einer neuen und somit zu einem neuen Staat führen müsse, vertraten erst recht Kelsen und seine Schule.189 4. Die „geistesgeschichtliche Wende“ der Staatsrechtswissenschaft und der „Methodenstreit“. Mit dem Tatbestandsmerkmal der „Anerkennung“ hielt ein subjektives Element Einzug in die Staatsrechtslehre. Die Geltung einer Norm war keine reine Machfrage mehr, sie bedurfte nunmehr der Untermauerung durch objektiv-idealistische Prinzipien: „Das war die vieldiskutierte ‚Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode‘, deren negative Seite, die Stoßrichtung gegen den staatsrechtlichen Positivismus, klarer war, als die positive. (…) die Rechtsordnung müsse zurückgeführt werden ‚auf die Rechtsauffassung der Gesamtheit (…) eingebettet und erklärt aus einer einheitlichen Summe psychologischer, soziologischer, ethischer Wertvoraussetzungen objektiver Art, dem ‚Volksgeist der historischen Schule‘ als einer über und jenseits des positiven Rechts stehenden Gesamtheit‘“.190

Kritisiert wurde dieser Ansatz von den Positivisten als ein „Schrei nach Metaphysik“, der schon vor dem Methodenstreit von 1926 ertönte und unterschwellig auf die Ungültigkeit der Reichsverfassung anspielte. Was dann später gemeinhin „Methoden- oder Richtungsstreit“ genannt wird,

187 „Die über Art und Form der staatlichen Existenz getroffene politische Entscheidung, welche die Substanz der Verfassung ausmacht, gilt, weil die politische Einheit, um deren Verfassung es sich handelt, existiert und das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt Art und Form dieser Existenz bestimmen kann“ (VL 87). 188 Schmitt bejahte sogar die Kontinuitätsfrage zwischen dem Reich von 1871 und der Republik. 189 Stolleis (2002, S. 93). 190 Ebd. S. 93/94; näher dazu ebd. 94 f.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

„war also im Grunde eine Generaldiskussion um den Standort des Faches in einem politisch aufgewühlten Jahrzehnt. Die Teilnehmer waren sich einig, daß es um die Existenz der Republik ging“.191

Seit der Jahrhundertwende hatten sich zwei alternative Ausgangspunkte zur Fortentwicklung der Staatsrechtswissenschaft herauskristallisiert. Die eine strebte an, die Staatsrechtslehre zu einem streng wissenschaftlichen Arbeitsfeld zu entwickeln, indem man es von allen nichtjuristischen Elementen befreite. Die Gegenposition forderte, dass sich die Staatsrechtswissenschaft gegenüber den Sozial- und Geisteswissenschaften zu öffnen habe. Das Staatsrecht fand sich seit 1919 in einer ohnehin offenen Situation: Es gab eine neue Verfassung, aber noch keine Verfassungsrechtsprechung als Wegweiser. Und auch die politische Praxis bewegte sich auf unbekanntem – demokratischem – Terrain. In Teilen der Staatsrechtslehre vollzieht sich nach und nach die Wendung zu einer politischen Betrachtungsweise, einer „geisteswissenschaftlichen Wende“ oder einer „soziologischen“ bzw. „politikwissenschaftlichen“ Wendung zu einer „Wirklichkeitswissenschaft“. Erste Vertreter neben Carl Schmitt sind Erich Kaufmann, Rudolf Smend und Hermann Heller.192 Mitte der 1920er Jahre ist der „Methoden- oder Richtungsstreit“ dann voll und offen im Gange. Durch Gerhard Anschütz‘ bedeutenden positivistischen Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung und vor allem durch Kelsens Allgemeine Staatslehre sah sich das Fach zusätzlich herausgefordert. Diese zusätzliche Motivation hat die Entstehung von Carl Schmitts Verfassungslehre (1928), von Smends Verfassung und Verfassungsrecht (1928) und Hellers Staatslehre (1934) zweifellos gefördert, um nicht zu sagen – von Verlegerseite (Feuchtwanger) – angeheizt: drei Werke, die noch das Staatsrechtsdenken der jungen Bundesrepublik schulen sollten.193 Ein durchaus erstaunliches und unerwartetes Schicksal wiederfuhr der Verfassungslehre Carl Schmitts Ende der 1940er Jahre in Israel. Der damalige israelitische Justizminister hatte es zurate gezogen, um verfassungsrechtliche Probleme des neu gegründeten jüdischen Staates zu lösen.194

191 Ebd. S. 155. 192 Siehe Mehring (2011, S. 41). 193 Siehe Mehring (2002, S. 42). Siehe Stolleis (2002, S. 157). Auch die Nachbardisziplinen – Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaften, Geschichtswissenschaften – hatten ihre Streite (s. Stolleis 2002, S. 157). 194 Siehe Taubes (1987, S. 18 f.).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur“ Carl Schmitt195

1. Einführung. Die Verfassungslehre Carl Schmitts beschränkt sich – so ist vorauszuschicken – keineswegs auf das positive Recht der Weimarer Verfassung, denn „Verfassungslehre“ ist für Schmitt nur ein besonderer Teil der Lehre des öffentlichen Rechts (VL XII).196 Zudem behandelt Schmitt mit einem starken Seitenblick auch die französische Entwicklung.197 Neben rechtstechnischen Überlegungen finden sich in der Verfassungslehre rechtsphilosophische, rechtshistorische, rechtssoziologische, politische und staatsphilosophische Ausführungen.198 All dies entfaltet sich unter dem Spannungsbogen der demokratischen Logik des ersten Hauptteils und der liberalen Logik des zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung.199 Carl Schmitt sieht seine Verfassungslehre, wie er in seinem Vorwort von 1927 betont, als den „Versuch eines Systems“ (VL XI) in einem Deutschland, dem es gegenwärtig an „systematischem Bewußtsein zu fehlen scheint“ (VL XII).200 Für unsystematisch hält er eine Sammlung von Bemerkungen zu einzelnen Artikeln der Verfassung, eine kommentierende oder glossierende Methode aber auch nur einzelproblemzentrierte Darstellungen. Demgegenüber soll in Schmitts Verfassungslehre ein „systematischer Rahmen gegeben werden“ (ebd.). Dies könne durch eine „idealtypische Konstruktion der Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates“201 ge-

195 196 197 198

(GLP 41). Näher dazu Neumann (2015, S. 100). Pilch (1994, S. 13). Diese können wir natürlich bei Weitem nicht alle berücksichtigen. [Wir versuchen die Charakteristika des Schmitt‘schen Textes zusammenfassend aber dem Aufbau folgend, wiederzugeben.]? 199 Siehe Campagna (2004, S. 53). 200 In der Vorbemerkung zur Auflage von 1954 erklärt sich Schmitt die Nachfrage nach seiner Verfassungslehre mit eben dieser „überzeugenden Systematik“ einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung (VL Vorbemerkung). 201 Hofmann (1964, S. 125).

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

lingen, „denn diese Art Staat ist heute im allgemeinen noch vorherrschend und die Weimarer Verfassung entspricht durchaus diesem Typus“ (VL XIII). Damit legt Schmitt offen, dass er weder eine „Allgemeine Staatslehre“ noch eine „Allgemeine Verfassungslehre“ aufbereiten wollte. Weil er zudem den Staat immer an eine bestimmte geschichtliche Epoche gebunden sieht, entwickelt sich seine Verfassungslehre am bürgerlichen Rechtsstaat Weimars als einem Idealtypus, jedoch nicht an der Verfassungswirklichkeit Weimars.202 Die Verfassungslehre Schmitts verstehe sich, so Mehring, als eine „Staatslehre ohne Staat“, weil sie gegen die Krisenhaftigkeit der Staatsidee in Weimar die Idee mobilisiert, dass die Ordnung des Staates durch seine Verfassung wiederhergestellt werden könne:203 „In der Krise des Staates emanzipiert Schmitt die Begriffe des Politischen204 und der Verfassung, um die Idee des Staates zu retten. Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus (…)“.205

Derart werde wieder ein politisches Moment – „die demokratische Legitimität als Geltungsgrund der Legalität“ – in das Staatsrecht eingeführt, was die Weimarer Republik aber auch grundsätzlich zur Disposition stelle.206 Das politische Verfassungsverständnis Carl Schmitts muss aus dem systematischen Zusammenhang seiner Schrift Der Begriff des Politischen und seinem „Begriff der Verfassung“ entwickelt werden. Böckenförde sieht Schmitts Bekenntnisschrift als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“.207 Diese Aufeinanderbezogenheit äußert sich in zwei Thesen. Einmal in der These vom Vorrang des Politischen: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (BP 20). Und zum Zweiten in der These vom Kriterium der Unterscheidung von „Freund und Feind“, als „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung“ (BP 27). Aus diesen Thesen entwickelt Schmitt den Begriff des Staates „als der politischen Einheit eines Volkes“ (VL 3):

202 Mehring (1989, S. 123). 203 Ebd. 204 Die erste Fassung von Der Begriff des Politischen (1927) ist ungefähr gleichzeitig mit der Verfassungslehre verfasst worden. 205 Mehring (1989, S. 124). 206 Ebd. 207 Böckenförde (2013, S. 344; Überschrift).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„Es sind dies die Voraussetzungen für den positiven Verfassungsbegriff der Verfassungslehre, die Verfassung als eine positive ‚Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit (VL § 3)‘ auszulegen“.208

2. Die Verfassungsbegriffe. Schmitt leitet seine Verfassungslehre mit einer ganzen Reihe von Begriffsbestimmungen ein. Wir zeichnen kurz nach. 2.1. Absoluter und relativer Verfassungsbegriff. Der absolute Verfassungsbegriff des (§ 1 VL) stellt auf die Verfassung des Staates – bestimmte als die politische Einheit eines Volkes209 – als Ganzes ab. Sie bezeichnet den konkreten Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates oder ein geschlossenes System von Normen, letzteres gedacht als eine ideelle Einheit (VL 3).210 Hingegen zielt der relative Verfassungsbegriff nicht auf die Verfassung als Ganzes, sondern auf das einzelne Verfassungsgesetz, das „nach äußerlichen und nebensächlichen, sog. formalen Kennzeichen bestimmt wird“ (VL 11), wie es z.B. die Schriftform oder Kriterien der erschwerten Abänderbarkeit von Verfassungsnormen sind.211 2.2. Der positive Verfassungsbegriff. Ein Begriff von Verfassung sei nur möglich, eröffnet Schmitt den zentralen „§ 3 Der positive Verfassungsbegriff“ seiner Verfassungslehre, wenn Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden würden (VL 20): „Für die Verfassungslehre ist die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz vielmehr der Anfang jeder weiteren Erörterung“ (VL 21).

208 Mehring (2011, S. 43 f.). 209 „Staat ist ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit“ (VL 205; s. auch BP 20). Wir werden auf diese Definition noch zurückkommen. 210 Zu dieser Variante des Verfassungsbegriffes und den Gegensätzen von Schmitt und Kelsen s. Neumann (2015, S. 101-103). 211 Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

2.2.1. Staat und Verfassung und die Verfassung als Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. Der positive Verfassungsbegriff ist der Verfassungsbegriff Schmitts, er „wird der Ausgangs- und Kernpunkt der ganzen Lehre“.212 Denn in der Ansicht Schmitts gelten die Verfassungsgesetze nicht aufgrund ihrer normativen Richtigkeit und nicht aufgrund ihrer systematischen Geschlossenheit, sondern nur aufgrund der Verfassung im positiven Sinne, d.h. aufgrund einer bewussten Fundamentalentscheidung über „Form und Art der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird“ (VL 21). Die positive Verfassung wiederum „gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt“ (VL 22). 213 „Das Wort ‚Wille‘ bezeichnet – im Gegensatz zu jeder Abhängigkeit von einer normativen oder abstrakten Richtigkeit – das wesentlich Existentielle dieses Geltungsgrundes“ (VL 76).214

Der politische Wille ist da, oder er ist nicht da. Und Existenzialität des Geltungsgrunds der Verfassung besagt, dass das Recht auf keinen tieferen Grund zurückgeführt werden kann „und bezeichnet damit seine prinzipielle historische Bedingtheit und politische Zufälligkeit“.215 Anders ausgedrückt: der politische Wille einer bestimmten historischen Phase ist kontingent. Dieser politische Wille wird als „politisches Sein“ umschrieben (VL 76), das aber verfassunggebende Gewalt nur „ist“, wenn „dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen, also die Existenz der politischen Einheit im ganzen zu bestimmen“ (VL 75/76).216

Carl Schmitt weist dem Staat die Fähigkeit der Selbsterzeugung zu, nicht der Verfassung.217 Der Staat, über dessen politische Form zu entscheiden ist, wird dabei als existent vorausgesetzt. Das politische Apriori der Staatstheorie Schmitts ist die naturhafte politische Einheit.218 Keinesfalls

212 213 214 215 216 217 218

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Hofmann (1964, S. 125). Siehe ebd. S. 142. Herv. im Original. Hofmann (1964, S. 142). Herv. im Original. Pilch (1994, S. 28). Adam (1992, S. 85).

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

kann nach Schmitt die Verfassungsgebung als konstitutiver Vorgang erst den Staat erzeugen.219 In der klaren Diktion Böckenfördes: „Für Carl Schmitt ist es eine nicht weiter begründete Prämisse, daß der Staat der Verfassung voraus liegt, nicht die Verfassung dem Staat“.220

Wo bei Kelsen die „Grundnorm“ Einheit und Geltung der Verfassung begründet, „erscheint bei Schmitt der Verfassungsbefehl eines autoritativ entscheidenden Willens. Im Akt des Verfassungsbefehls fallen absolute und relative Bedeutung der Verfassung zusammen, die Gesetze erhalten ihren verbindlichen Geltungsgrund, die politische Einheit erhält ihre bewußt gewählte Form“221.

Die Vorgängigkeit des Staates vor der Verfassung hat eine wichtige Konsequenz. Sie ermöglicht staatliche Kontinuität auch dann, wenn eine bestehende Verfassung beseitigt wird. Auch eine fundamentale Änderung der Verfassung führt nicht dazu, dass der Staat, „d.h. die Einheit des Volkes aufhört“, (VL 21): „Wo eine verfassunggebende Gewalt besteht, ist daher immer auch ein Minimum von Verfassung vorhanden, welches von Durchbrechungen der Verfassungsgesetze, Revolution und Staatstreichen nicht berührt zu werden braucht, wenn nur die Grundlage der Verfassung, die verfassunggebende Gewalt, sei es des Königs, sei es des Volkes, bleibt“ (VL 92).

Wo eine verfassunggebende Gewalt besteht, ist immer ein Minimum von Verfassung vorhanden (VL 92).222 Dieses Theorem soll sogar gelten, wenn eine Demokratie zur Diktatur wechselt, weil sie auf den Willen der verfassunggebenden Gewalt einer konkreten politischen Einheit zurückgeführt werden kann, „welcher Art auch immer die Regierung, d.h. die Form der Ausübung dieses Willens sei“ (VL 94 f.): „Immer aber gehört zu dieser Verfassunggebung ein handlungsfähiges Subjekt, das sie mit dem Willen gibt, eine Verfassung zu geben. Eine solche Verfassung ist eine bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt“ (VL 21).223

219 Siehe Pilch (1994, S. 29). 220 Böckenförde (1988, S. 288). 221 Pilch (1994, S. 29). Siehe auch Mehring (1988, S. 126). Bei Kelsen ist „Staat“ nur ein anderer Ausdruck für die Rechtsordnung (Neumann 2015, S. 104). 222 Neumann (2015, S. 105). 223 Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

Dass eine Verfassung „sich selber gibt“, ist für Schmitt „offenbar unsinnig und absurd“, weshalb er kategorisch festlegt: „Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt. Jede Art rechtlicher Normierung, auch die verfassungsgesetzliche Normierung, setzt einen solchen Willen als existierend voraus“ (VL 22).

Diesem Diktum folgend, können Verfassungsgesetze erst aufgrund einer Verfassung gelten und setzen eine Verfassung voraus. Sie bedürfen zu ihrer Gültigkeit im letzten Grund einer vorhergehenden politischen Entscheidung einer politisch existierenden Macht (s. VL 22):224 „Jede existierende politische Einheit hat ihren Wert und ihre ‚Existenzberechtigung‘ nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr ‚Recht auf Selbsterhaltung‘ die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen, sie sucht sich vor allem in der Existenz zu erhalten, ‚in suo esse perseverare‘ (Spinoza); sie schützt „ihre Existenz, ihre Integrität, ihre Sicherheit und ihre Verfassung‘ – alles existentielle Werte“ (VL 22).225

Es ist also nicht irgendeine Macht wert, dass sie existiert, sondern nur die Größe, die „politisch“ existiert. Das aber heißt, dass besagte Größe zur Fähigkeit der Freund-Feind-Unterscheidung in der Lage war und so das Monopol des Politischen errungen hat.226 Stellt sich also die Frage nach der Legitimität der Staatsgewalt nicht mehr?227 Aus dem vorstehenden Zitat wird deutlich, dass es nur noch um die Existenzerhaltung der politischen Einheit geht, die da ist oder nicht da ist. Schmitt selbst lehnt es ab, von einer Legitimität der Staatsgewalt oder des Staates zu sprechen, wie er in der Kommentierung des (RGZ Bd. 100, S. 25) ausführt: „Von Legitimität eines Staates oder einer Staatsgewalt kann man nicht sprechen. Ein Staat, d.h. die politische Einheit eines Volkes, existiert, und zwar in der Sphäre des Politischen; er ist einer Rechtfertigung, Rechtmäßigkeit, Legitimität usw. so wenig fähig, wie in der Sphäre des Privatrechts der einzelne lebende Mensch seine Existenz normativ begründen müßte oder könnte“ (VL 89).

224 225 226 227

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Herv. w.a.m. Herv. im Original. Neumann (2015, S. 106). Zur Entwicklung der unterschiedlichen Legitimitätsbegriffe siehe (Hofmann 1964, S. 129).

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

Alleine durch seine faktische Existenz ist der Staat für Schmitt schon im Recht, „weil der Staat für Schmitt jetzt mit der politischen Einheit eines Volkes identisch ist und, weil ihm das Dasein einer kämpferischen Gesamtheit von Menschen als letzte, unüberholbare Wahrheit des höheren, nämlich des politischen Lebens erscheint“.228

Fassen wir mit Neumann zusammen: Eine Verfassung kommt ausschließlich durch eine Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt zustande, der Geltungsgrund der Verfassung muss ein politischer Wille sein und das Politische muss im Sinne der Freund-Feind-Theorie verstanden werden.229 2.2.2. Rechtsbindung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. Der Träger der verfassunggebenden Gewalt in einer Demokratie ist für Schmitt das Volk, in einer echten Monarchie der Monarch (VL 23).230 Die verfassunggebende Gewalt erschöpfe sich nicht durch einmalige Ausübung, sondern bleibe neben und über der Verfassung bestehen: „Die politische Entscheidung, welche die Verfassung bedeutet, kann nicht gegen ihr Subjekt zurückwirken und dessen politische Existenz aufheben. Neben und über der Verfassung bleibt dieser Wille bestehen“ (VL 77).

Das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt bleibe, so Schmitt weiter, der Urgrund allen politischen Geschehens, „die Quelle aller Kraft, die sich in immer neuen Formen äußert, immer neue Formen und Organisationen aus sich herausstellt, selber jedoch niemals ihre politische Existenz einer endgültigen Formierung unterordnet“ (VL 77).

Nach Sieyès neuer Theorie des pouvoir constituant, erläutert Schmitt, sei für diesen die „Nation“ – da prägnanter und weniger missverständlich – das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, bezeichne es doch

228 Hofmann (1964, S. 130). 229 Siehe Neumann (2015, S. 107 f.). 230 Anders Böckenförde, für den die verfassunggebende Gewalt nicht auf den Monarchen übertragen werden kann. Als Träger der verfassunggebenden Gewalt komme nur das Volk in Betracht (Böckenförde 2011, S. S. 101 f.).

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

„das Volk als politisch-aktionsfähige Einheit mit dem Bewußtsein seiner politischen Existenz“ (VL 79).231

Das nicht als Nation bestehende Volk ist hingegen „nur eine irgendwie ethnische oder kulturell zusammengehörige, aber nicht notwendig politische Verbindung von Menschen: „Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes setzt den bewußten Willen zur politischen Existenz, also eine Nation voraus“ (VL 79).

Auch für das Hervorbrechen der verfassunggebenden Gewalt gebe es kein geregeltes Verfahren, das Volk betätige sie „durch irgendeinen erkennbaren Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens, der auf eine Entscheidung über Art und Form der Existenz der politischen Einheit gerichtet ist“ (VL 82).

In Die Diktatur hatte Schmitt schon früher den pouvoir constituant als das „unorganisierbar Organisierende“ bezeichnet (DD 142). Kann die Verfassung vor irgendwelchen nicht zu kalkulierenden Aktionen der verfassunggebenden Gewalt geschützt werden?232 Im System Schmitts nicht, ist ihm doch die verfassunggebende Gewalt „prinzipiell unbegrenzt und vermag schlechthin Alles, denn sie ist nicht der Verfassung unterworfen, sondern gibt selbst die Verfassung“ (DD 140).

Irgendein Zwang oder auch eine Selbstbindung seien „völlig undenkbar“ (ebd.). 2.2.3. Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision. 2.2.3.1. Die Verfassung als Kompromiss (Verfassungsgesetze). Die Weimarer Verfassung ist eine Verfassung, weil sie die oben angeführten politischen Fundamentalentscheidungen des deutschen Volkes enthält. In den Verfassungsgesetzen hingegen fänden sich, erläutert Schmitt, insbesondere im zweiten Teil unter der Überschrift „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“

231 „Volk“, so Adam, bedeute selbst immer schon ein „individualisiertes Volk“. Der Begriff der Nation funktioniere bei Schmitt „als Überhöhung gegenüber den soziologischen Residuen im Begriff des Volkes (Adam 1992, S. 69). 232 Siehe dazu Böckenförde (2011, S. 105-108).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„ein Nebeneinander von Programmen und positiven Bestimmungen, dem die verschiedenartigsten politischen, sozialen und religiösen Inhalte und Überzeugungen zugrunde liegen. Bürgerlich-individualistische Garantien von persönlicher Freiheit und Privateigentum, sozialistische Programmsätze und katholisches Naturrecht sind in einer oft etwas wirren Synthese miteinander vermengt“ (VL 29 f.).

Kompromisse und Unklarheiten, die etwa wegen der unterschiedlichen Haltung von Koalitionsparteien bewusst nicht entschieden wurden oder entschieden werden, können freilich nicht umgangen werden, weil sonst keine Verfassung vorläge. Fälle eine „verfassunggebende“ Versammlung keine Entscheidung, so falle sie außerhalb dieser, notfalls auf gewaltsamen Weg. Grundlegende Gegensätze wie sie bei echten Klassengegensätzen und den letzten Gegensätzen echter religiöser Überzeugungen wirkten, seien nur kompromissfähig, wenn der Wille zur politischen Einheit diese Gegensätze stark und entscheidend überwiegt (VL 30; nachst. VL 30 f.). Die grundlegenden politischen Fragen des Revolutionsjahres 1919: Monarchie oder Republik, konstitutionelle Demokratie oder Rätediktatur mussten also entschieden werden und sie wurden es (s.o.).233 Schmitt macht aber geltend, dass trotzdem nicht alle grundlegenden politischen Fragen des Jahres 1919 in die Verfassung eingegangen seien. Als Folge werde deshalb behauptet, dass der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung einen „Mischcharakter“ aus bürgerlichen und sozialistischen Anschauungen aufweise – eine irrige Ansicht für Schmitt, weil spezifisch politische Folgerungen aus sozialistischen Prinzipien nicht gezogen worden seien: „Die fundamentale Entscheidung ist durchaus für den bürgerlichen Rechtsstaat und die konstitutionelle Demokratie gefallen“ (VL 30). Die Muss-Entscheidung zwischen bürgerlichem Rechtsstaat oder proletarischem Klassenstaat war für Schmitt 1919 unumgänglich für den bürgerlichen Rechtsstaat entschieden worden (VL 31). Die Weimarer Verfassung enthalte weiterhin „unechte Kompromisse“ oder „Scheinkompromisse“, deren Grundzug es sei, Entscheidungen hinauszuzögern (VL 31) und den Streit um unvereinbare Inhalte unentschieden zu halten (VL 32; nachst s. VL 32 f.). Schmitt bezeichnet eine solche

233 A.A. Anschütz, für den die Weimarer Verfassung ein „mit achtunggebietender, ja imponierender Mehrheit beschlossener Kompromiss zwischen großen staatsbildenden Kräften, zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft ist“ (zit. In Neumann 2015, S. 111).

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Übereinkunft als „dilatorischen Formelkompromiß“ (VL 32). Im Sommer 1919 sei es wegen der starken kirchlichen und sozialen Gegensätze234 geboten gewesen, diese mithilfe dilatorischer Formelkompromisse offenzulassen. Aber gleichwohl wäre es ein Ausdruck mangelnder juristischer Unterscheidung, sie mit echten Sachkompromissen zu verwechseln und anzunehmen, sie könnten auf Dauer gestellt sein. Alle Verfassungsnormen, die keine Entscheidung treffen, nennt Schmitt Verfassungsgesetze; aber nicht alle Verfassungsgesetze haben Kompromisscharakter.235 Für den Linksschmittianer Otto Kirchheimer ist die Weimarer Verfassung nicht der Ausdruck eines echten Kompromisses, weil es sich um eine bisher einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung verschiedener Wertsysteme handle. Das Fehlen eines inhaltlichen Organisationssystems mache aus der Verfassung eine bloß „formelle Spielregel“, über die der sozial Mächtigere verfügen könne.236 War also die Alternative zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaftsordnung nur ein dilatorischer Formelkompromiss? Schmitt rigoros: „Die Entscheidung musste für den bisherigen status quo, d.h. für die Beibehaltung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung fallen, weil die andere Entscheidung, eine konsequent durchgeführte sozialistische Revolutionierung nach Art einer Sowjetverfassung, auch von den Sozialdemokraten ausdrücklich abgelehnt wurde“ (VL 30 f.).

Spezifisch politische Folgen aus den Prinzipien des Sozialismus seien nicht gezogen worden. Verfassungsrechtlicher Ausdruck dieser Entscheidung sei: „Das Deutsche Reich ist eine konstitutionelle Demokratie“ (VL 35). 2.2.3.2. Inhalte der positiven Verfassung. Schmitts positiver Verfassungsbegriff suche, so Hofmann, die letzte Realität, von der aus sich eine Verfassung einheitlich konstruieren lässt. Dies sei für den Idealisten und Ideologen Carl Schmitt etwas Geistiges:

234 Siehe dazu die Erörterungen zu den Beziehungen von Staat u. Kirche sowie Staat u Schule (VL 32-34). 235 Siehe Neumann (2015, S. 111 u. 111 FN 172). 236 Widersprechend s. Neumann (2015, S. 111 f.).

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„die prinzipiierende, bewußte und bewußt einheitliche (d.h. in sich widerspruchsfreie) Gesamt-Entscheidung eines – freilich sehr individualistisch gedachten – Kollektivs über Art und Form der eigenen politischen Einheit“237

Für die Weimarer Reichsverfassung sind dies (nachst. s. VL 23 f.): • die Entscheidung für die Demokratie,238 die Entscheidung für die Republik und gegen die Monarchie, • die Entscheidung für die Beibehaltung der Länder,239 • die Entscheidung für eine grundsätzlich parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung und Regierung, • die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat mit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunterscheidungen.240 Eine andere Qualität denn Gesetzesqualität zeichnet folgende Aussagen aus: • „Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben.“ • „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ • „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Diese Feststellungen sind für Schmitt weit bedeutender als Gesetze. Sie sind „nämlich die konkreten politischen Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben und die grundlegenden Voraussetzungen für alle weiteren Normierungen, auch diejenigen der Verfassungsgesetze, bilden. (…) Sie machen die Substanz der Verfassung aus“ (VL 24).

Die wichtigste politische Entscheidung der Weimarer Verfassung ist für Schmitt in den Sätzen – „Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben“, und „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“. – enthalten: „Diese Sätze bezeichnen als konkrete politische Entscheidungen die positivrechtliche Grundlage der Weimarer Verfassung, nämlich die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes als einer Nation, d.d. einer ihrer politischen Existenz bewußten, handlungsfähigen Einheit“ (VL 60).

237 Hofmann (1964, S. 126/127). Siehe (VL 23). 238 „… die das deutsche Volk kraft seiner bewußten politischen Existenz als Volk getroffen hat“ (VL 23). 239 „… also einer bundesstaatlichen (wenn auch nicht bündischen) Struktur des Reichs“ (VL 24; Herv. im Original). 240 „Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d.h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundestaatlicher Struktur“ (VL 24).

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Schmitt bezeichnet sie an anderer Stelle auch als „existentielle(n) Totalentscheidungen des deutschen Volkes“ (ebd.), die überdies bewirkten, dass die Verfassung keine Summe zusammenhangloser Einzelbestimmungen ist. Ihre wahre Bedeutung und Wirkung habe die Staatslehre der Vorkriegszeit, die diese Totalentscheidungen als bloße Proklamationen behandelt habe, völlig verkannt. Alle weiteren Normierungen seien ihnen gegenüber nur mehr relativ und sekundär (vgl. VL 24/25). Ersichtlich sei dies auch daran, dass für sie die erschwerten Abänderungsregeln des Art. 76 WRV gälten. 2.2.3.3. Rechtsfolgen der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz. Die Rechtsfolgen aus Schmitts Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz sind erheblich. Wir gehen auf die wichtigsten kurz ein.241 Die Verfassung selbst ist unantastbar änderungsfest. Hingegen sind Verfassungsgesetze im Wege der Zwei-Drittel-Mehrheit in Reichstag und Reichsrat veränderbar: „Das ist die Lehre von den materiellen Schranken der Verfassungsrevision, die untrennbar mit seinem Namen verbunden ist“.242

Ein Gegenargument bietet der Wortlaut der Verfassung in Art. 76 Abs. 1 S1 WRV: „Diese Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden.“ Dagegen wendet Schmitt ein, dass das Deutsche Reich auch nicht mit Zwei-Drittel-Mehrheit in eine absolute Monarchie oder eine Sowjet-Republik verwandelt werden könne. Dagegen wendet Neumann ein: Es gebe, wenn die von der WRV erforderlichen Mehrheiten erreicht seien, im Verfassungsrecht kein einziges Argument, das sich dagegen anführen ließe.243 Auch für den Reichspräsidenten ist die Verfassung unantastbar. Verfassungsgesetze aber darf er suspendieren und durchbrechen. Verfassungsgesetze können aber während eines Ausnahmezustandes vom Reichspräsi-

241 Vgl. nachst. Neumann (2015, S. 113 f.). 242 Ebd. S. 113. Zu Kritik und Rezeption dieser Lehre und ihre mögliche Auswirkung auf Art. 79 Abs. 3 GG s. ebd., S. 114-118). 243 Ebd., S. 113 f.).

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denten gem. Art 48 WRV suspendiert bzw. durchbrochen werden.244 Die darin aufgeführten Maßnahmen stehen dabei gerade im Dienste der Sicherung der grundlegenden politischen Entscheidungen, der politischen Existenzform (s. VL 26 f.). Die Verfassung gewährt eine Reihe von sog. Grundrechten. Die verfassungsgesetzliche Einzelregelung solcher grundrechtlichen Garantien sei von der Garantie selbst zu unterschieden. Durch verfassungsrechtliche und gesetzliche Normierungen können weitgehende Eingriffe in die garantierten Grundrechte zugelassen werden, die Vernichtung eines Grundrechts hingegen verletzt die Verfassung (VL 27). 3. Der bürgerliche Rechtsstaat. Der politische Kampf bringe es mit sich, dass jede der kämpfenden Parteien nur die Verfassung als „wahr“ oder „echt“ anerkenne, die ihrem politischen Programm entspricht. Sind die Gegensätze zu stark, kann der Verfassung von den oppositionellen Gruppen ihr Name gänzlich abgesprochen werden. Insbesondere das liberale Bürgertum habe aus seiner Frontstellung gegen die absolute Monarchie einen bestimmten „Idealbegriff von Verfassung aufgestellt und ihn mit dem Begriff der Verfassung schlechthin identifiziert“ (VL 36). Diesen bürgerlichen Rechtsstaat sah Schmitt als den Idealbegriff einer Verfassung seiner Zeit (VL 40 f.). Allerdings ist er für ihn „keine Staatsform, sondern enthalte nur Schranken und Kontrollen des Staates im Interesse des Schutzes bürgerlicher Freiheiten“ (VL 36).

244 Art. 48 Abs. 2 WRV besagt: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Mahnahmen treffen, erforderlichenfalls mithilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“.

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3.1. Die rechtsstaatlich-unpolitischen Bestandteile der Verfassung. Der bürgerliche Rechtsstaat ist auf die Zurückdrängung des Politischen und auf die rechtliche Begrenzung der ganzen Staatsverfassung ausgerichtet und macht deshalb nur den rechtsstaatlich-unpolitischen Teil der Staatsverfassung im Ganzen aus, während der andere Teil die positive Entscheidung über die Form der politischen Existenz enthält, und in dem die eigentliche Staatsform – Monarchie, Aristokratie, Demokratie oder ein status mixtus245 – bestimmt ist: „In der Verbindung dieser beiden Bestandteile liegt die Eigenart der heutigen bürgerlich-rechtstaatlichen Verfassungen. Diese Doppelheit bestimmt ihre Gesamtstruktur (…)“ (VL 41).

Diese Doppelheit rechtstaatlich-unpolitischer mit politischen Bestandteilen in gemischten Verfassungen ist für Schmitt also die Eigenart der heutigen bürgerlich-rechtlichen Verfassungen. Trotz aller Rechtlichkeit und Normativität bleibe der Rechtsstaat doch Staat, weil er immer noch einen „spezifisch politischen Bestandteil“ enthält: „Das Politische kann nicht vom Staat – der politischen Einheit eines Volkes – getrennt werden, und das Staatsrecht entpolitisieren, hieße nichts anderes als das Staatsrecht zu entstaatlichen (VL 125).246.

Zum rechtsstaatlichen Bestandteil jeder modernen Verfassung gehören das Verteilungs- und das Organisationsprinzip. Das Verteilungsprinzip, das die Freiheitssphäre des Einzelnen als etwas vom Staat Gegebenes voraussetzt: „und zwar ist die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist“ (VL 126).247

Das Organisationsprinzip dient der Durchführung dieses Verteilungsprinzips: „die (prinzipiell begrenzte) staatliche Macht wird geteilt und in einem System umschriebener Kompetenzen erfaßt“ (VL 126).248

245 246 247 248

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In Anlehnung an die Staatsformenlehre von Platon und Aristoteles. Herv. im Original. Herv. im Original. Herv. im Original.

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Das Verteilungsprinzip findet seinen Ausdruck in einer Reihe von Grundoder Freiheitsrechten, das Organisationsprinzip in der Lehre von der sog. Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Justiz (s. VL 126 f.): „Grundrechte und Gewaltenteilung bezeichnen demnach den wesentlichen Inhalt des rechtsstaatlichen Bestandteils der modernen Verfassung“ (VL 127).

Das grundle