Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation 978385476-615-5

Caliban und die Hexe ist eine Geschichte des weiblichen wie auch des kolonialisierten Körpers während des Übergangs zum

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German Pages 320 Year 2012

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Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation
 978385476-615-5

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kritik & Utopie ist die politische Edition

im mandelbaum vertag. Darin finden sich theoretische Entwürfe ebenso wie Reflexionen aktueller sozialer Bewegungen, Originalausgaben und auch Übersetzungen fremdsprachiger Texte, populäre Sachbücher sowie akademische und außeruniversitäre wissenschaftliche Arbeiten. Nähere Informationen zu Beirat, Neuerscheinungen und Terminen unter www.kritikundutopie.net

Silvia Federici

CALIBAN UND DIE HEXE Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkum ulation aus dem Englischen von M ax Henninger herausgegeben von Martin Birkner

m andelbaum kritik & Utopie

Gedruckt mit Unterstützung durch MA 7 - Kulturabteilung der Stadt Wien, Referat Wissenschafts- und Forschungsförderung

© mandelbaum kritik & Utopie, wien 2012 alle Rechte Vorbehalten Lektorat: Paula Bolyos Satz 6c Umschlaggestaltung: Michael Baiculescu Druck: Primerate, Budapest

Inhalt

7 i2

25

Vorwort E in l e it u n g

„E s IST GANZ UNMÖGLICH, DASS DIE GANZ WELT MUSS d e n P u f f h a l t e n .“

Soziale Bewegungen und die politische Krise im mittelalterlichen Europa 75

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Die Konstruktion der „Differenz“ im „ Übergang zum Kapitalism us“ 163

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Der K am pfgegen den rebellischen Körper 201

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Caliban und Hexen in der Neuen Welt 293

L it e r a t u r

Vorwort

Caliban und die Hexe stellt die Hauptergebnisse eines Forschungspro­ jekts zu Frauen im „Übergang“ vom Feudalismus zum Kapitalismus vor, das ich Mitte der 1970er Jahre mit der italienischen Feministin Leopoldina Fortunati begonnen habe. Die ersten Ergebnisse dieses Forschungsprojekts fin­ den sich in einem Buch, das 1984 im Mailänder Franco-Angeli-Verlag auf Italienisch erschienen ist: II Grande Calibano. Storia del corpo sociale ribelle nella prim a fase del capitale („.Der Große Caliban. Geschichte des rebellischen Körpers in der ersten Phase des Kapitalismus“). Mein Interesse an diesem Forschungsvorhaben wurde durch die Debat­ ten um die Ursachen der Frauen-„Unterdrückung“ geweckt, die die Ent­ wicklung der US-amerikanischen Frauenbewegung begleitet haben; in diesen Debatten ging es auch um die Frage, welche politischen Strategien die Bewe­ gung in ihrem K am pf um die Frauenemanzipation wählen sollte. Die damals vorherrschenden theoretischen und politischen Sichtweisen auf die Realität der Geschlechterdiskriminierung gingen auf die beiden Hauptströmungen der Frauenbewegung zurück: die radikalen Feministinnen und die sozialis­ tischen Feministinnen. Meiner Ansicht nach bot jedoch keiner der beiden Ansätze eine befriedigende Erklärung für die Ursprünge der sozialen und wirtschaftlichen Ausbeutung der Frauen. Den Ansatz der radikalen Feminis­ tinnen lehnte ich aufgrund seiner Tendenz ab, Geschlechterdiskriminierung und patriarchale Herrschaft aus überhistorischen kulturellen Strukturen zu erklären, die ihre Wirkung unabhängig von den Produktions- und Klassen­ verhältnissen entfalten würden. Die sozialistischen Feministinnen erkannten dagegen an, dass die Geschichte der Frauen nicht von der Geschichte spezifi­ scher Ausbeutungssysteme zu trennen ist. In ihren Analysen wurden Frauen vor allem als Arbeiterinnen in einer kapitalistischen Gesellschaft betrachtet. So, wie ich ihn damals verstand, wies dieser Ansatz jedoch das Defizit auf, die Reproduktionssphäre als Quelle von Wertschöpfung und Ausbeutung auszu­ sparen. Das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern wurde somit auf den Ausschluss der Frauen aus der kapitalistischen Entwicklung zurückge­ führt. Dieser Standpunkt warf uns, wenn wir den Fortbestand des Sexismus im Kosmos kapitalistischer Verhältnisse erklären wollten, erneut auf kultu­ relle Schemata zurück. In diesem Kontext entstand die Idee, die Geschichte der Frauen im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zu rekonstruieren. Die These, von der sich das Forschungsprojekt leiten ließ, wurde erstmals von Maria­ rosa Dalla Costa, Selma James und anderen Frauen aus der Lohn-für-Haus-

arbeit-Bewegung in einer Reihe von Texten formuliert, die in den 1970er Jahren sehr umstritten waren, den Diskurs über Frauen, Reproduktion und Kapitalismus aber letztlich stark prägten. Die einflussreichsten dieser Texte waren D ie Frauen und der Umsturz der Gesellschaft von Mariarosa Dalla Costa (1971) und Sex, Race and Class von Selma James (1975). Gegen die marxistische Orthodoxie, die die „Unterdrückung“ der Frauen und ihre Unterordnung unter die Männer als Residuum feudaler Ver­ hältnisse erklärte, vertraten Dalla Costa und James die Position, die Ausbeu­ tung der Frauen habe im Prozess kapitalistischer Akkumulation insofern eine zentrale Rolle gespielt, als Frauen die Produzentinnen und Reproduzentinnen der grundlegendsten kapitalistischen Ware gewesen sind: der Arbeitskraft. In Dalla Costas Worten: Die unbezahlte Hausarbeit der Frauen ist der Sockel gewesen, auf dem die Ausbeutung der Lohnarbeiter (die „Lohnsklaverei“) errichtet worden ist, und das Geheimnis von deren Produktivität (1973: 40). Das Machtgefälle, das in der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Frauen und Männern besteht, lässt sich also nicht der vermeintlichen Bedeutungs­ losigkeit der Hausarbeit für die kapitalistische Akkumulation zuschreiben gegen die Behauptung einer solchen Bedeutungslosigkeit spricht ja bereits das strenge Regelwerk, das das Leben der Frauen beherrscht hat. Es handelt sich auch nicht um einen Rest zeitloser kultureller Schemata. Vielmehr ist dieses Machtgefälle als Auswirkung eines gesellschaftlichen Produktionssystems zu begreifen, das die Produktion und Reproduktion des Arbeiters nicht als sozioökonomische Tätigkeit und Quelle der Kapitalakkumulation anerkennt; es mystifiziert sie vielmehr als Naturressource oder persönliche Dienstleistung und profitiert vom nicht entlohnten Charakter der damit einhergehenden Arbeit. Indem sie die Ausbeutung der Frauen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft auf die geschlechtliche Arbeitsteilung und die unbezahlte Arbeit der Frauen zurückführten, zeigten Dalla Costa und James die Möglichkeit auf, die Dichotomie von Patriarchat und Klasse zu überwinden; gleichzeitig verliehen sie dem Patriarchat einen spezifischen historischen Gehalt. Damit war der Weg frei für eine Neuinterpretation der Geschichte des Kapitalismus und des Klassenkampfes aus feministischer Sicht. Im Sinne dieser These begannen Leopoldina Fortunati und ich mit dem Studium dessen, was sich nur euphemistisch als „Übergang zum Kapitalis­ mus“ bezeichnen lässt. Wir begaben uns auf die Suche nach einer Geschichte, die man uns nicht auf der Schule gelehrt hatte, die sich aber als maßgeb­ lich für unsere Bildung erweisen sollte. Diese Geschichte bot nicht nur ein theoretisches Verständnis der Genese der Hausarbeit und ihrer wichtigsten strukturellen Komponenten: der Trennung der Produktion von der Repro­ duktion; des spezifisch kapitalistischen Gebrauchs des Lohnes als Mittel, um die Arbeit von Nicht-Entlohnten zu kommandieren; der Abwertung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen während des Aufstiegs des Kapitalis-

Vorwort

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mus. Sie bot auch eine Genealogie moderner Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die die postmoderne Annahme in Frage stellte, es gebe in der „westlichen Kultur“ eine geradezu ontologische Prädisposition, Gender in Begriffspaaren (binären Oppositionen) aufzufassen. Wir entdeckten, dass Geschlechterhierarchien stets im Dienst eines Herrschaftsprojekts ste­ hen, das sich nur insofern zu verstetigen vermag, als es die zu Beherrschen­ den stets aufs Neue spaltet. Das aus diesem Forschungsprojekt hervorgegangene Buch, II Grande Calibano. Storia del corpo sociale ribelle nella prim a fase del capitale (1984), war ein Versuch, Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumulation aus femi­ nistischer Perspektive neu zu reflektieren. Dabei erwiesen sich jedoch die tra­ dierten Marxschen Kategorien als unzulänglich. Als unhaltbar erwies sich unter anderem die Marxsche Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Auf­ stieg der Lohnarbeit und des „freien“ Arbeiters, die weiterhin dazu beiträgt, die Reproduktionssphäre zu verbergen und zu naturalisieren. II Grande Cali­ bano kritisierte auch Michel Foucaults Theorie des Körpers: Wir vertraten die Position, Foucaults Analyse der Machttechniken und Disziplinierungen, denen der Körper unterworfen worden sei, ignoriere den Reproduktionspro­ zess, verschmelze Frauen- und Männergeschichte zu einem unterschiedslosen Ganzen und interessiere sich so wenig für die „Disziplinierung“ der Frauen, dass sie einen der monströsesten Angriffe auf den Körper, zu dem es in der Neuzeit gekommen ist, nie erwähnt: die Hexenverfolgungen. Die Hauptthese von II Grande Calibano lautet, dass wir die Verände­ rungen analysieren müssen, die der Kapitalismus im Prozess der gesellschaft­ lichen Reproduktion und insbesondere in der Reproduktion der Arbeits­ kraft herbeigeführt hat, wenn wir die Geschichte der Frauen im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus verstehen wollen. Das Buch untersucht also, wie Hausarbeit, Familienleben, Kindererziehung, Sexualität, Geschlech­ terverhältnisse und das Verhältnis von Produktion und Reproduktion im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts neu geordnet wurden. Diese Analyse findet sich auch in Caliban und die Hexe. Allerdings setze ich mich im vor­ liegenden Buch auch mit einem breiteren Spektrum von Fragen auseinander, da dieses Buch auf einen veränderten sozialen Kontext und auf unsere verbes­ serte Kenntnis der Frauengeschichte reagiert. Kurz nach der Veröffentlichung von II Grande Calibano verließ ich die USA und nahm eine Lehrstelle in Nigeria an, wo ich fast drei Jahre lang lebte. Vor meiner Abreise hatte ich meine Unterlagen im Keller vergraben, denn ich hatte nicht damit gerechnet, sie in absehbarer Zeit wieder zu benö­ tigen. Doch die Umstände meines Aufenthalts in Nigeria erlaubten es mir nicht, diese Arbeit zu vergessen. Die Jahre zwischen 1984 und 1986 waren für Nigeria ebenso wie für die meisten afrikanischen Länder ein Wendepunkt. Es waren die Jahre, in denen die nigerianische Regierung infolge der Schul­ denkrise Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der

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Weltbank aufnahm. Diese Verhandlungen mündeten schließlich in der A uf­ lage eines Strukturanpassungsprogramms; die so bezeichneten Maßnahmen­ pakete sind das Universalrezept der Weltbank für wirtschaftliche Erholung in Ländern der ganzen Welt. Erklärtes Ziel des Programms war es, Nigeria auf dem Weltmarkt wett­ bewerbsfähig zu machen. Es wurde jedoch bald deutlich, dass dies eine Neu­ auflage der ursprünglichen Akkumulation beinhaltete. Gleichzeitig wurde die gesellschaftliche Reproduktion derart rationalisiert, dass die letzten Reste gemeinschaftlichen Eigentums und gemeinschaftlicher Verhältnisse zerstört und damit intensivere Formen der Arbeitsausbeutung durchgesetzt wurden. So spielten sich vor meinen Augen Vorgänge ab, die denen, die ich im Zuge der Vorarbeiten für II Grande Calibano studiert hatte, stark ähnelten. Dazu zählten Angriffe auf gemeinschaftlich verwaltete Ländereien und eine ent­ scheidende (von der Weltbank angeordnete) Intervention des Staates in die Reproduktion der Arbeitskraft, bei der es um die Regulierung der Geburten­ rate ging. Im spezifischen Fall Nigerias ging es um die Verkleinerung einer Bevölkerung, die als zu anspruchsvoll und undiszipliniert galt, um sie wie geplant in die Weltökonomie einzugliedern. Außer diesen Maßnahmen, die treffend als „Krieg gegen die Disziplinlosigkeit“ bezeichnet wurden, beob­ achtete ich auch, wie eine frauenfeindliche Kampagne angestiftet wurde, die die vermeintliche Eitelkeit und die vermeintlich überzogenen Forderun­ gen der Frauen geißelte. Darum entspann sich eine hitzige Debatte, die in vielerlei Hinsicht an die quereile des femmes des 17. Jahrhunderts erinnerte. Dabei wurden sämtliche Aspekte der Reproduktion der Arbeitskraft berührt: Familie (polygame versus monogame Familie, Kernfamilie versus Großfami­ lie), Kindererziehung, Frauenarbeit, männliche bzw. weibliche Identität und Geschlechterverhältnisse. Vor diesem Hintergrund nahm meine Auseinandersetzung mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus eine neue Bedeutung an. In Nigeria wurde mir bewusst, dass der Kam pf gegen Strukturanpassung Teil eines längeren Kampfes gegen Landprivatisierung und die „Einhegung“ nicht nur von gemeinschaftlich verwaltetem Land, sondern auch von gesellschaftli­ chen Beziehungen ist, der bis zu den Ursprüngen des Kapitalismus im Europa und Amerika des 16. Jahrhunderts zurückreicht. Mir wurde auch bewusst, wie beschränkt der Triumph der kapitalistischen Arbeitsdisziplin auf diesem Planeten ausgefallen ist, da viele Menschen ihr Leben immer noch auf eine Weise wahrnehmen, die sich radikal antagonistisch zu den Erfordernissen der kapitalistischen Produktion verhält. Für die Entwicklungsplaner, die multi­ nationalen Agenturen und die ausländischen Investoren war und bleibt dies das Problem mit Orten wie Nigeria. Für mich war es jedoch eine Quelle großer Kraft, denn es bewies, dass sich auf der ganzen Welt immer noch beeindruckende Kräfte der Durchsetzung der kapitalistischen Lebensweise widersetzen. Die Kraft, die ich schöpfte, ging auch auf meine Begegnung mit

Vorwort

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Women in Nigeria (WIN) zurück, der ersten feministischen Organisation des Landes. W IN half mir, die Kämpfe zu verstehen, die nigerianische Frauen geführt haben, um ihre Ressourcen zu verteidigen und das ihnen verordnete Patriarchat neuen Typs, für das sich die Weltbank einsetzte, zurückzuweisen. Ende 1986 hatte die Schuldenkrise die akademischen Institutionen erreicht. Nicht mehr in der Lage, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ver­ ließ ich Nigeria - körperlich, doch nicht im Geiste. Der Gedanke an die Angriffe auf die Menschen Nigerias hat mich nie verlassen. Daher hegte ich, als ich wieder in die USA zurückkehrte, den Wunsch, den „Übergang zum Kapitalismus“ aufs Neue zu studieren. Mein Blick auf die Ereignisse in Nige­ ria war von meinem Wissen um das Europa des 16. Jahrhunderts geprägt. In den USA war es das nigerianische Proletariat, das mich zurückführte zu den Kämpfen um Commons und die kapitalistische Disziplinierung der Frauen, innerhalb wie außerhalb Europas. Nach meiner Rückkehr begann ich auch im Rahmen eines interdisziplinären Lehrprogramms für Studierende vor dem ersten akademischen Grad zu unterrichten, wodurch ich mit einer neuen Art von „Einhegungen“ konfrontiert wurde: der Einhegung des Wissens, d. h. dem bei den jüngeren Generationen zunehmend zu verzeichnenden Verlust an historischem Wissen über unsere gemeinsame Vergangenheit. Deswegen rekonstruiere ich in Caliban und die Hexe die antifeudalen Kämpfe des Mit­ telalters und die Kämpfe, durch die sich das europäische Proletariat dem Auf­ stieg des Kapitalismus widersetzt hat. Dabei verfolge ich nicht nur das Ziel, Nicht-Spezialisten die Evidenz zugänglich zu machen, auf der meine Analyse beruht, sondern ich wollte den jüngeren Generationen auch die Erinnerung an eine lange Geschichte des Widerstands zurückgeben, eine Erinnerung, die heute ausgelöscht zu werden droht. Der Erhalt dieses historischen Gedächt­ nisses ist ausschlaggebend, wenn wir eine Alternative zum Kapitalismus ent­ wickeln wollen. Denn die Möglichkeit einer solchen Alternative wird von unserer Fähigkeit abhängen, die Stimmen derer zu vernehmen, die vor uns ähnliche Wege beschritten haben.

Einleitung

Seit Marx ist das Studium der Genese des Kapitalismus für all diejenigen Aktivistinnen und Forscher obligatorisch, die überzeugt sind, dass der A uf­ bau einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft für die Menschheit von oberster Priorität ist. Es überrascht daher nicht, dass sich jede neue revoluti­ onäre Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst und dabei die Sichtweise neuer gesellschaftlicher Subjekte beigetragen, neue Terrains der Ausbeutung und des Widerstands aufgedeckt hat.1 Der vorliegende Band versteht sich als dieser Tradition zugehörig. Diese Arbeit ist darüber hinaus jedoch noch von zwei weiteren Überlegungen motiviert. Erstens ist da der Wunsch, die Entwicklung des Kapitalismus aus femi­ nistischer Perspektive neu zu reflektieren, allerdings unter Vermeidung der Beschränkungen einer „Frauengeschichte“, die sich von der Geschichte des männlichen Teils der Arbeiterklasse absetzt. Der Titel, Caliban und die Hexe, der von Shakespeares Sturm inspiriert ist, drückt dieses Bemühen aus. In mei­ ner Interpretation steht Caliban jedoch nicht für den antikolonialen Rebel­ len, dessen K am pf noch in der zeitgenössischen karibischen Literatur nach­ hallt, sondern er ist Symbol des Weltproletariats, genauer: des proletarischen Körpers als Terrain und Mittel des Widerstands gegen die Logik des Kapita­ lismus. Am wichtigsten ist, dass die Figur der Hexe, die im Sturm weit in den Hintergrund gedrängt wird, im vorliegenden Band im Mittelpunkt steht. Sie verkörpert einen Kosmos weiblicher Subjekte, den der Kapitalismus zerstören musste: die Ketzerin, die Heilerin, die ungehorsame Ehefrau, die Frau, die allein zu leben wagte, die Obeah-Frau, die die Speisen des Herren vergiftete und die Sklavinnen zum Aufstand anstiftete. Die zweite Motivation für die Niederschrift dieses Bandes ist die welt­ weite, mit der globalen Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse einherge­ hende Wiederkehr einer Reihe von Erscheinungen, die gemeinhin mit der Genese des Kapitalismus in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören eine neue Runde von „Einhegungen“, durch die Millionen von landwirtschaftli­ chen Produzentinnen ihres Bodens beraubt worden sind, und die massen­ hafte Pauperisierung und Kriminalisierung von Arbeitern vermittels einer Politik der Masseninhaftierung, die an die von Michel Foucault in seiner Studie zur Geschichte des Wahnsinns geschilderte „Große Einsperrung“ erin­ nert. Wir haben auch die weltweite Entstehung diasporischer Bewegungen erlebt, begleitet von der Verfolgung migrantischer Arbeiterinnen; auch das erinnert an die „Blutgesetzgebung“, die im Europa des 16. und 17. Jahrhun­

Einleitung

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derts eingeführt wurde, um „Vagabunden“ für die lokale Ausbeutung verfüg­ bar zu machen. Für dieses Buch am bedeutendsten war die Intensivierung der Gewalt gegen Frauen, einschließlich der Wiederkehr von Hexenverfolgungen in manchen Ländern (z. B. Südafrika und Brasilien). Warum werden Arbeiter und Arbeiterinnen nach fünfhundert Jahren kapitalistischer Herrschaft, am Beginn des dritten Jahrtausends, immer noch massenhaft als Arme, Hexen und Gesetzlose definiert? In welchem Verhältnis stehen Landenteignung und massenhafte Pauperisierung zu dem anhalten­ den Angriff auf Frauen? Und was lernen wir über die historische und aktuelle Entwicklung des Kapitalismus, wenn wir sie aus feministischer Perspektive untersuchen? Eingedenk dieser Fragen habe ich mich in der vorliegenden Arbeit dem „Übergang“ vom Feudalismus zum Kapitalismus neuerlich zugewandt, und zwar aus der Perspektive der Frauen, des Körpers und der ursprünglichen Akkumulation. Jeder dieser Begriffe verweist auf einen begrifflichen Rah­ men, auf den diese Arbeit Bezug nimmt: auf den feministischen, den mar­ xistischen und den von Foucault. Ich beginne meine Einleitung daher mit einigen Bemerkungen über das Verhältnis meiner Analyse zu diesen unter­ schiedlichen Ansätzen. „Ursprüngliche Akkumulation“ ist der Begriff, den Marx im ersten Band des K apital verwendet, um den historischen Prozess zu charakterisieren, der der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse zugrunde lag. Es ist ein nütz­ licher Begriff, denn er bietet einen gemeinsamen Nenner, vermittels dessen wir die Veränderungen analysieren können, die der Aufstieg des Kapitalis­ mus innerhalb der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ausgelöst hat. Seine Bedeutung liegt aber vor allem in der Tatsache, dass die „ursprüngliche Akkumulation“ von Marx als grundlegender Vorgang behandelt wird, in dem die strukturellen Bedingungen für die Existenz einer kapitalistischen Gesell­ schaft erkennbar werden. Das erlaubt es uns, die Vergangenheit als etwas in der Gegenwart Fortbestehendes zu interpretieren. Diese Überlegung ist von wesentlicher Bedeutung für die Art, auf die ich den Begriff in der vorliegen­ den Arbeit verwende. Meine Analyse weicht jedoch auf zwei bedeutende Weisen von Marx ab. Marx untersucht die ursprüngliche Akkumulation vom Standpunkt des entlohnten männlichen Proletariats und der Entwicklung der Warenproduk­ tion, ich dagegen vom Standpunkt der Veränderungen, die die ursprüngli­ che Akkumulation hinsichtlich der Stellung der Frauen und hinsichtlich der Produktion der Arbeitskraft bewirkt hat.2 Daher geht meine Darstellung der ursprünglichen Akkumulation auch auf eine Reihe von historischen Erschei­ nungen ein, die bei Marx nicht Vorkommen, die jedoch für die kapitalistische Akkumulation ausgesprochen wichtig waren. Dazu gehören: (1) die Entwick­ lung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung, die die Frauenarbeit und die reproduktive Funktion der Frauen der Reproduktion der Arbeiterschaft

14 unterordnet; (2) der Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung auf Grund­ lage des Ausschlusses der Frauen von der Lohnarbeit sowie der Unterordnung der Frauen unter die Männer; (3) die Mechanisierung des proletarischen Kör­ pers sowie, im Falle der Frauen, seine Umwandlung in eine Maschine zur Pro­ duktion neuer Arbeiter. Vor allem habe ich die Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts in den Mittelpunkt meiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation gestellt. Dabei vertrete ich die These, dass die Verfolgung der Hexen, sowohl in Europa als auch in der Neuen Welt, für die Entwicklung des Kapitalismus ebenso bedeutend war wie die Kolonisierung und die Ent­ eignung der europäischen Bauern. Auch in ihrer Bewertung des Erbes und der Funktion der ursprüngli­ chen Akkumulation weicht meine Interpretation von Marx ab. Marx war sich zwar des mörderischen Charakters kapitalistischer Entwicklung schärfstens bewusst - er schrieb, ihre Geschichte sei „in die Annalen der Menschheit ein­ geschrieben mit Zügen von Blut und Feuer —, doch es kann keinen Zwei­ fel daran geben, dass er diese Entwicklung zugleich als notwendige Etappe im Prozess menschlicher Emanzipation begriff. Er glaubte, dass sie den klei­ nen Landbesitz abschaffe und das produktive Vermögen der Arbeitskraft (in einem aus keinem anderen Wirtschaftssystem bekannten Ausmaß) steigere; dadurch würden die materiellen Bedingungen für die Befreiung der Mensch­ heit von Mangel und N ot geschaffen. Marx nahm außerdem an, die Gewalt, die die frühesten Phasen kapitalistischer Expansion kennzeichnet, werde im Zuge der Reifung kapitalistischer Verhältnisse zurückgehen, da sich die Aus­ beutung und Disziplinierung der Arbeit dann vor allem durch das Wirken ökonomischer Gesetze vollziehen würden (Marx 1962: 765). Darin täuschte er sich zutiefst. Eine Rückkehr der gewaltsamsten Aspekte ursprünglicher Akkumulation hat jede Phase der kapitalistischen Globalisierung begleitet, einschließlich der gegenwärtigen, was zeigt, dass die fortlaufende Vertrei­ bung der Bauern von ihrem Land, Krieg und Ausplünderung im Weltmaß­ stab sowie die Erniedrigung der Frauen in jeder Epoche zu den notwendigen Voraussetzungen der Existenz des Kapitals zählen. Ich sollte hinzufügen, dass Marx niemals angenommen haben würde, der Kapitalismus ebne der menschlichen Emanzipation den Weg, wenn er die Geschichte aus der Perspektive der Frauen betrachtet hätte. Denn diese Geschichte zeigt, dass Frauen auch dann als gesellschaftlich minderwertige Wesen behandelt und wie Sklaven ausgebeutet worden sind, wenn Män­ ner einen bestimmten Grad an formeller Freiheit erlangt hatten. Das Wort „Frauen“ steht im Kontext dieses Bandes also nicht nur für eine verborgene Geschichte, die es sichtbar zu machen gilt, sondern auch für eine besondere Form der Ausbeutung, und somit auch für eine einzigartige Perspektive, aus der sich die Geschichte kapitalistischer Verhältnisse neu betrachten lässt. Das Vorhaben ist nicht neu. Frauen haben sich seit Anbeginn der femi­ nistischen Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst, auch

Einleitung

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wenn sie ihn nicht immer als solchen erkannt haben. Eine Zeit lang war der Rahmen, an dem sich bei der Rekonstruktion der Frauengeschichte orientiert wurde, ein chronologischer. Die von feministischen Historikerinnen am häu­ figsten verwendete Bezeichnung für die Übergangszeit ist „frühe Neuzeit“, womit aber - je nachdem, mit welcher Autorin man es zu tun hat - einmal das 13. und einmal das 17. Jahrhundert gemeint sein kann. In den 1980er erschienen jedoch mehrere Werke, die einen kritischeren Ansatz verfolgten. Dazu zählten Joan Kellys Aufsätze über die Renaissance und die querelles des femmes, Carolyn Merchants Tod der N atur (1987), Leo­ poldina Fortunatis L ’arcano della riproduzione (1981, als The Arcane o f Reproduction 1995 auch in englischer Übersetzung erschienen), Merry Wiesners Working Women in Renaissance Germany (1986) und Patriarchat und Kapi­ tal von Maria Mies (1988). Weiter sind die zahlreichen Monographien zu erwähnen, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die Präsenz der Frauen in den ländlichen und städtischen Ökonomien des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa rekonstruiert haben, sowie die umfangreiche Literatur und die dokumentarischen Arbeiten zu den Hexen Verfolgungen und dem Leben der Frauen im vorkolonialen Amerika sowie in der Karibik. Aus der letzten Gruppe von Texten möchte ich besonders an Irene Silverblatts The Moon, the Sun and the Witches erinnern (1987), die erste Darstellung der Hexenverfolgungen im kolonialen Peru. Auch NaturalRebels: A SocialHistory of Barbados von Hilary Beckles (1995) sei hier genannt; dieses Buch ist neben Slave Women in Caribbean Society; 1650—1838 von Barbara Bush (1990) einer der wichtigsten Texte zur Geschichte versklavter Frauen auf den Plantagen der Karibik. Diese Forschungsarbeiten haben bestätigt, dass es auf eine fundamen­ tale Neubestimmung gängiger historischer Kategorien sowie auf das Aufzei­ gen verborgener Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen hinausläuft, die Geschichte der Frauen zu rekonstruieren oder die Geschichte von einem feministischen Standpunkt aus zu betrachten. So hat Kellys Aufsatz D id Women Have a Renaissance1 (1984) die klassische historische Periodisierung unterlaufen, die die Renaissance als herausragenden Fall kultureller Errun­ genschaften zelebriert. Carolyn Merchants Tod der N atur (1987) hinterfragt den Glauben an den gesellschaftlich progressiven Charakter der wissenschaft­ lichen Revolution und vertritt die These, der Aufstieg des wissenschaftlichen Rationalismus habe den kulturellen Übergang von einem organizistischen zu einem mechanizistischen Paradigma ausgelöst, über den die Ausbeutung der Frauen und der Natur legitimiert worden sei. Als besonders bedeutend hat sich Patriarchat und K apital von Maria Mies (1988) erwiesen: eine mittlerweile klassische Arbeit, die die kapitali­ stische Akkumulation aus nicht-eurozentrischer Perspektive neu untersucht. Mies stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Schicksal der Frauen in Europa und den kolonialen Subjekten Europas; damit ermöglicht sie ein

16 neues Verständnis der Rolle der Frauen im Kapitalismus und im Globalisie­ rungsprozess. Caliban und die Hexe baut auf diesen Arbeiten ebenso auf, wie es die in II:Grande Calibano enthaltenen Studien weiterentwickelt (vgl. zu II Grande Calibano meine Bemerkungen im Vorwort). Caliban und die Hexe behandelt jedoch einen längeren historischen Zeitraum. Das Buch verbindet die Ent­ wicklung des Kapitalismus zum einen mit den sozialen Kämpfen und der Reproduktionskrise des Spätfeudalismus, zum anderen mit dem, was Marx als die „Entstehung des Proletariats“ definiert. Dabei wird eine Reihe von historischen und methodologischen Fragen berührt, die für die Debatten über Frauengeschichte und feministische Theorie zentral gewesen sind. Die wichtigste historische Frage, die in dem Buch berührt wird, ist, wie die zu Beginn der Neuzeit vollstreckten Hinrichtungen hunderttausender von „Hexen“ zu erklären seien: Warum fiel der Aufstieg des Kapitalismus zeitlich mit einem Krieg gegen Frauen zusammen? Es herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Hexenverfolgungen darauf abzielten, der Kon­ trolle, die Frauen bis dahin über ihre reproduktive Funktion ausgeübt hat­ ten, ein Ende zu setzen, was der Entwicklung eines repressiveren patriarcha­ len Regimes den Weg ebnete. Es wird zuweilen auch die Ansicht vertreten, die Hexenverfolgungen seien in den sozialen Veränderungen begründet gewe­ sen, die mit dem Aufstieg des Kapitalismus einhergingen. Die spezifischen historischen Umstände, unter denen es zur Entfesselung der Hexenverfol­ gungen kam, sind jedoch ebenso wenig untersucht worden wie die Gründe, aus denen der Kapitalismus nach einem genozidalen Angriff auf die Frauen verlangte. Dies ist die Aufgabe, der ich mich in Caliban und die Hexe stelle. Ich beginne damit, die Hexenverfolgungen im Kontext der demographischen und Wirtschaftskrise des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der Boden- und Arbeitspolitik des merkantilistischen Zeitalters zu analysieren. Dabei kann ich nur skizzieren, welche Untersuchungen noch erforderlich wären, um die von mir erwähnten Zusammenhänge zu klären, insbesondere den Zusam­ menhang zwischen den Hexenverfolgungen und der zeitgleichen Entwick­ lung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung, durch die Frauen auf die Reproduktionsarbeit festgelegt wurden. Es genügt jedoch der Nachweis, dass die Verfolgung der Hexen (wie der Sklavenhandel und die Einhegungen) ein zentraler Aspekt der Akkumulation und Entstehung des neuzeitlichen Prole­ tariats war, und zwar sowohl in Europa als auch in der „Neuen Welt“. Caliban und die Hexe geht noch auf andere Weise auf die „Frauenge­ schichte“ und die feministische Theorie ein. Erstens bestätigt das Buch, dass es sich beim „Übergang zum Kapitalismus“ um einen Gegenstand handelt, an dem sich die feministische Theorie hervorragend überprüfen lässt. Die Neube­ stimmung produktiver und reproduktiver Aufgaben sowie der Geschlechter­ beziehungen, auf die wir in dieser Epoche stoßen, und die mit einem Höchst­ maß an Gewalt und Staatsintervention bewerkstelligt wurden, lassen keinen

Einleitung

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Zweifel am konstruierten Charakter der für die kapitalistische Gesellschaft typischen Geschlechter rollen. Die von mir vorgeschlagene Analyse erlaubt es uns auch, über die Dichotomie von „Gender“ und „Klasse“ hinauszugehen. Wenn es stimmt, dass die Geschlechtsidentität in der kapitalistischen Gesell­ schaft zur Trägerin bestimmter Arbeitsfunktionen wurde, dann sollte Gender nicht als rein kulturelle Angelegenheit betrachtet werden, sondern als spe­ zifische Ausprägung von Klassenverhältnissen. Von diesem Standpunkt aus erscheinen die unter postmodernen Feministinnen geführten Debatten um die vermeintliche Notwendigkeit, „Frauen“ als analytische Kategorie zu ver­ abschieden und den Feminismus rein gegensätzlich zu bestimmen, als fehl­ geleitet. Um das bereits Gesagte noch einmal anders zu formulieren: Wenn ..Weiblichkeit“ in der kapitalistischen Gesellschaft als Arbeitsfunktion konsti­ tuiert worden ist, die die Produktion der Arbeiterschaft unter dem Deckman­ tel eines vermeintlichen biologischen Schicksals verschwinden lässt, dann ist - Frauengeschichte“ zugleich auch „Klassengeschichte“. Dann gilt es zu fra­ gen, ob die geschlechtliche Arbeitsteilung, die diesen bestimmten Weiblich­ keitsbegriff hervorgebracht hat, überwunden worden ist. Wird diese Frage verneint (und sie muss angesichts der gegenwärtigen Organisation der Repro­ duktionsarbeit verneint werden), dann ist „Frauen“ eine legitime analytische Kategorie, und die mit der „Reproduktion“ zusammenhängenden Tätigkei­ ten bleiben für Frauen ein wesentliches Kampfterrain, wie sie es auch für die feministische Bewegung der 1970er Jahre waren, für die sich die Geschichte der Hexen auf dieser Grundlage erschloss. Eine weitere von Caliban und die Hexe berührte Frage ergibt sich aus den kontrastierenden Perspektiven der feministischen und der von Foucault ausgehenden Körperanalysen, einschließlich ihrer Anwendung auf die Geschichte kapitalistischer Entwicklung. Seit Beginn der Frauenbewegung haben feministische Aktivistinnen und Theoretikerinnen dem Begriff des -Körpers“ hinsichtlich des Verständnisses der Ursprünge männlicher Herr­ schaft, aber auch der Konstruktion weiblicher Geschlechtsidentitäten, eine Schlüsselrolle zugewiesen. Über alle ideologischen Differenzen hinweg haben Feministinnen begriffen, dass eine hierarchische Klassifizierung menschlicher Fähigkeiten und die Identifizierung der Frauen mit einem abgewerteten Ver­ ständnis der Realität des Körpers historisch als Mittel gedient haben, um die patriarchale Macht und die männliche Ausbeutung der Frauenarbeit zu festigen. Analysen der Sexualität, der Zeugung und der Mutterschaft haben daher im Mittelpunkt der feministischen Theorie und der Frauengeschichte gestanden. Feministinnen haben insbesondere die Strategien und die Gewalt aufgedeckt und denunziert, vermittels derer männlich dominierte Ausbeutungssysteme versucht haben, die Körper der Frauen zu disziplinieren und sich diese Körper anzueignen. Dabei ist es möglich gewesen zu zeigen, dass Frauenkörper Hauptgegenstand und bevorzugter Schauplatz der Anwendung von Machttechniken und Machtverhältnissen gewesen sind. Seit den 1970er

i8 Jahren sind zahlreiche feministische Studien zur Kontrolle der reprodukti­ ven Funktion der Frauen vorgelegt worden, aber auch zu den Auswirkungen, die Vergewaltigung, Gewalt und die Durchsetzung der Schönheit als Bedin­ gung gesellschaftlicher Akzeptanz auf Frauen haben. Als Beiträge zum Kör­ perdiskurs unserer Zeit sind diese Studien von monumentaler Bedeutung. Sie widerlegen die unter Akademikern verbreitete Annahme, dieser Diskurs sei von Michel Foucault entdeckt worden. Ausgehend von der Analyse der „Körperpolitik“ haben Feministinnen nicht nur die zeitgenössischen philosophischen und politischen Diskurse revolutioniert, sondern sie haben auch damit begonnen, den Körper wie­ der aufzuwerten. Das war ein notwendiger Schritt, sowohl um der negativen Bewertung entgegenzuwirken, die mit der Gleichsetzung von Weiblichkeit und Körperlichkeit einhergeht, als auch um eine ganzheitlichere Sicht des­ sen zu ermöglichen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.3 Diese Aufwertung hat verschiedene Formen angenommen, von der Suche nach nicht-dualisti­ schen Wissensformen bis hin zu dem (von Feministinnen, die sexuelle „D if­ ferenz“ als positiven Wert ansehen, unternommenen) Versuch, eine neue Art von Sprache zu entwickeln und die „körperlichen Grundlagen menschlicher Intelligenz“ neu zu reflektieren.4 Der wieder anzueignende Körper ist, wor­ auf Rosi Braidotti aufmerksam gemacht hat, niemals als biologische Gege­ benheit zu verstehen. Nichtsdestotrotz sind Losungen wie „Wiederaneignung des Körpers“ oder „den Körper sprechen“ von poststrukturalistischen,5 an Foucault orientierten Theoretikerinnen kritisiert worden, da diese jegliche Forderung nach instinktmäßiger Befreiung als illusionär ablehnen. Femini­ stinnen haben wiederum Foucaults Sexualitätsdiskurs dafür kritisiert, dass er die sexuelle Differenz nicht zur Kenntnis nehme, sich aber zugleich viele Einsichten der feministischen Bewegung aneigne. Diese Kritik ist durchaus zutreffend. Hinzu kommt, dass Foucault derart vom „produktiven“ Charak­ ter der auf den Körper angewandten Machttechniken fasziniert ist, dass seine Analyse letztlich keine Kritik von Machtverhältnissen erlaubt. Der beinahe apologetische Charakter von Foucaults Körpertheorie wird dadurch akzen­ tuiert, dass sie den Körper als ausschließlich durch diskursive Praktiken kon­ stituiert wahrnimmt und sich stärker für die Anwendung der Macht als für die Bestimmung ihres Ursprungs interessiert. So erscheint die Macht, durch die der Körper produziert wird, als eigenständige, metaphysische Instanz: all­ gegenwärtig, abgekoppelt von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ver­ hältnissen und in ihren Permutationen so mysteriös wie eine göttliche erste Bewegungsursache. Kann uns eine Analyse des Übergangs zum Kapitalismus und der ursprünglichen Akkumulation helfen, über diese Alternativen hinauszuge­ langen? Ich glaube ja. Was den feministischen Ansatz angeht, so sollten wir als erstes die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen dokumentie­ ren, unter denen der Körper zu einem zentralen Element und zur bestim-

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menden Tätigkeitssphäre der Konstitution von Weiblichkeit geworden ist. In diesem Sinne zeigt Caliban und die Hexe, dass der Körper für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen ist, was die Fabrik für männli­ che Lohnarbeiter gewesen ist: der Hauptschauplatz ihrer Ausbeutung und ihres Widerstands. Denn der weibliche Körper ist vom Staat und von Män­ nern angeeignet und gezwungen worden, als Mittel der Akkumulation und Reproduktion von Arbeit zu fungieren. So ist die Bedeutung, die der Kör­ per in all seinen Aspekten - Mutterschaft, Niederkunft, Sexualität - inner­ halb der feministischen Theorie und der Frauengeschichte angenommen hat, durchaus angemessen. Caliban und die Hexe bestätigt auch die feministische Einsicht, dass der Körper nicht mit der Privatsphäre gleichzusetzen ist - wes­ halb von „Körperpolitik“ die Rede ist. Darüber hinaus erklärt Caliban und die Hexe, wie der Körper für Frauen sowohl eine Identitätsquelle als auch ein Gefängnis sein kann und weshalb es für Feministinnen so wichtig, zugleich aber auch so problematisch ist, ihn aufzuwerten. Was Foucaults Theorie angeht, so bietet die Geschichte der ursprüng­ lichen Akkumulation viele Gegenbeispiele zu ihr und zeigt, dass sich diese Theorie nur um den Preis grober historischer Auslassungen aufrechterhal­ ten lässt. Die offenkundigsten dieser Auslassungen sind die der Hexenver­ folgungen und des Diskurses der Dämonologie; weder auf das eine noch auf das andere geht Foucault in seiner Analyse der Disziplinierung des Körpers ein. Zweifellos wäre er zu anderen Schlussfolgerungen gelangt, wenn er sie mitberücksichtigt hätte. Denn beide offenbaren den repressiven Charakter der gegen die Frauen entfesselten Macht. In seiner Beschreibung mikropoli­ tischer Machtdynamiken nimmt Foucault eine Komplizenschaft und einen Rollentausch von Opfern und Verfolgern an; die Hexenverfolgungen und der Diskurs der Dämonologie lassen diese Annahme wenig plausibel erscheinen. Durch die Auseinandersetzung mit den Hexenverfolgungen wird auch Foucaults Theorie der Entwicklung einer „Biomacht“ in Frage gestellt; das Rätselhafte, mit dem Foucault die Entwicklung eines solchen Regimes umgibt, verschwindet. Foucault beobachtet einen - ihm zufolge im Europa des 18. Jahrhunderts stattfmdenden - Übergang von einem Typus der Macht, der auf dem Recht zu töten gründet, zu einem anderen Typus, der durch die Verwaltung und Förderung von Lebenskräften wie etwa Bevölkerungswachs­ tum verfährt. Foucault bietet uns aber keinerlei Hinweise auf die diesem Übergang zugrundeliegenden Motive. Wenn wir den Übergang jedoch in den Kontext des Aufstiegs des Kapitalismus stellen, löst sich das Rätsel auf, denn die Förderung der Lebenskräfte entpuppt sich als Ergebnis des neuen Interesses an der Akkumulation und Reproduktion von Arbeitskraft. Wir erkennen auch, dass die Förderung des Bevölkerungswachstums durch den Staat mit der massenhaften Vernichtung von Menschenleben einhergehen kann. Denn unter vielen historischen Umständen - man denke nur an die Geschichte des Sklavenhandels - bedingt eines das andere. Tatsächlich kann

20 die Akkumulation von Arbeitskraft in einem System, in dem das Leben dem Profit untergeordnet wird, nur durch ein Höchstmaß an Gewalt erreicht wer­ den, so dass die Gewalt selbst eine Produktivkraft wird, wie Maria Mies es ausdrückt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Hätte Foucault sich in Sexualität und Wahrheit (1977a, 1986, 1986a) nicht auf das pastorale Geständnis konzen­ triert, sondern die Hexenverfolgungen studiert, dann hätte er erkannt, dass sich deren Geschichte nicht aus der Perspektive eines universellen, abstrakten, geschlechtslosen Subjekts schreiben lässt. Darüber hinaus hätte er erkannt, dass sich Folter und Tod in den Dienst des „Lebens“ stellen lassen, besser: in den Dienst der Produktion von Arbeitskraft, besteht doch das Ziel der kapi­ talistischen Gesellschaft in der Verwandlung des Lebens in Arbeitsvermögen und „tote Arbeit“. So gesehen ist die ursprüngliche Akkumulation in jeder Phase kapitali­ stischer Entwicklung ein universeller Vorgang gewesen. Nicht zufällig hat ihr historischer Musterfall Strategien hinterlassen, die im Zuge jeder größeren kapitalistischen Krise auf verschiedene Weise neu aufgegriffen worden sind, um die Kosten der Arbeit zu senken und die Ausbeutung der Frauen sowie kolonialer Subjekte zu verschleiern. Das war es, was im 19. Jahrhundert geschah, als der Sozialismus, die Pariser Kommune und die Akkumulationskrise von 1873 mit dem „Wett­ lauf um Afrika“ und der gleichzeitigen Schaffung der Kernfamilie in Eur­ opa beantwortet wurden. Die Kernfamilie basierte auf der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frauen von den Männern - vorausgegangen war ihr der Ausschluss der Frauen von der Lohnarbeit. Eben das geschieht auch heute, da über eine neue, globale Ausweitung des Arbeitsmarktes versucht wird, die Uhr zurückzustellen und die Errungenschaften des antikolonialen Kampfes sowie der Kämpfe anderer rebellischer Subjekte —etwa der Studierenden, der Feministinnen und der Fabrikarbeiter - rückgängig zu machen. Diesen Sub­ jekten war es in den 1960er und 1970er Jahren gelungen, die geschlechtliche und die internationale Arbeitsteilung zu zersetzen. Es überrascht daher nicht, dass Gewalt und Versklavung in großem Ausmaß an der Tagesordnung sind, ganz so, wie sie es auch in der Epoche des „Übergangs“ waren. Der Unterschied besteht darin, dass die Konquista­ doren von heute die Beamten der Weltbank und des Internationalen Wäh­ rungsfonds sind. Sie belehren jene Bevölkerungen, die von den herrschenden Weltmächten über Jahrhunderte hinweg ausgeraubt und pauperisiert worden sind, noch immer über den Wert des Pfennigs. Ein Großteil der entfesselten Gewalt richtet sich auch diesmal wieder gegen Frauen. Denn die Eroberung des weiblichen Körpers ist auch im Computer-Zeitalter noch eine Vorbedin­ gung der Akkumulation von Arbeit und Wohlstand, wie die institutionellen Investitionen in die Entwicklung neuer reproduktiver Technologien zeigen - Technologien, die Frauen mehr denn je auf ihre Gebärmutter reduzieren.

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Darüber hinaus erlangt die „Feminisierung der Armut“, die den Fort­ schritt der Globalisierung begleitet hat, eine neue Bedeutung, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass dieses Phänomen die erste Auswirkung der Ent­ wicklung des Kapitalismus auf das Leben der Frauen war. Die politische Lektion, die wir Caliban und die Hexe entnehmen kön­ nen, lautet in der Tat, dass der Kapitalismus als sozio-ökonomisches System zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist. Denn der Kapita­ lismus muss die Widersprüche, die seinen gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnen, rechtfertigen und mystifizieren: Seinem Freiheitsversprechen steht die Realität weitverbreiteten Zwangs, seinem Wohlstandsversprechen die ebenso weitverbreiteten Elends gegenüber. Der Kapitalismus rechtfertigt und mystifiziert solche Widersprüche, indem er die „Natur“ derjenigen, die er ausbeutet, verunglimpft, also die der Frauen, der kolonialen Subjekte, der Nachkommen afrikanischer Sklaven und der von der Globalisierung entwur­ zelten Migranten und Migrantinnen. Den Kern des Kapitalismus macht nicht nur die symbiotische Bezie­ hung zwischen vertraglich geregelter Lohnarbeit und Versklavung aus, son­ dern auch die damit einhergehende Dialektik von Akkumulation und Ver­ nichtung der Arbeitskraft. Dafür haben Frauen einen hohen Preis gezahlt: mit ihren Körpern, ihrer Arbeit und ihrem Leben. Es ist daher ausgeschlossen, den Kapitalismus mit irgendeiner Form der Befreiung in Verbindung zu bringen oder die Langlebigkeit des Systems aus seiner Fähigkeit zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu erklären. Wenn der Kapitalismus in der Lage gewesen ist, sich zu reproduzieren, dann nur aufgrund der Ungleichheit, die er in den Körper des Weltproletariats integriert hat, sowie aufgrund seiner Fähigkeit, die Ausbeutung zu globalisie­ ren. Dieser Vorgang entfaltet sich noch heute vor unseren Augen, wie er es die letzten fünfhundert Jahre lang getan hat. Der Unterschied besteht darin, dass der Widerstand dagegen heute ein globales Ausmaß angenommen hat. Anmerkungen 1.

2.

Das Studium des Übergangs zum Kapitalismus hat eine lange Geschichte, die nicht zufällig mit den bedeutendsten politischen Bewegungen dieses Jahrhunderts zusam­ menfällt. Marxistische Historiker wie Maurice Dobb, Rodney Hilton und Chris­ topher Hill wandten sich in den 1940er und 1950er Jahren dem „Übergang“ zu. Das geschah vor dem Hintergrund der Debatten um die Konsolidierung der Sow­ jetunion, des Aufstiegs neuer sozialistischer Staaten in Europa und Asien sowie des­ sen, was sich damals als bevorstehende kapitalistische Krise darstellte. In den 1960er Jahren beschäftigten sich Theoretiker der Dritten Welt (Samir Amin, André Gunder Frank) mit dem „Übergang“, diesmal im Kontext der damaligen Debatten um Neo­ kolonialismus, „Unterentwicklung“ und „ungleichen Tausch“ zwischen der „Ersten“ und der „Dritten Welt“. Beides hängt in meiner Analyse eng miteinander zusammen, da die generative Reproduktion der Arbeiter und Arbeiterinnen ebenso wie die tägliche Reproduk­

tion des Arbeitsvermögens im Kapitalismus zu „Frauenarbeit geworden sind — wobei diese Arbeit allerdings durch ihren nicht entlohnten Charakter mystifiziert wird und als persönliche Dienstleistung oder gar als Naturressource erscheint. Es überrascht nicht, dass sich fast die Gesamtheit der aus der „zweiten Welle“ des Feminismus hervorgegangenen Literatur durch eine Aufwertung des Körpers aus­ zeichnet. Dieselbe Aufwertung charakterisiert auch die aus der antikolonialen Revolte hervorgegangene sowie die von Nachkommen versklavter Afrikaner und Afrikanerinnen verfasste Literatur. In dieser Hinsicht nimmt Virginia Woolfs Ein Zimmerßr sich allein (1929), über beträchtliche geographische und kulturelle Gren­ zen hinweg, Aimé Césaires Notizen von der Rückkehr in die Heimat (1938) vorweg: Woolf scheltet spöttisch ihr weibliches Publikum und die umfassendere, dahinter­ liegende Welt der Frauen, dafür, dass es ihnen nicht gelungen sei, etwas anderes als Kinder herzustellen: „Junge Frauen, [...] Sie haben nie eine Entdeckung von irgendeiner Bedeutung gemacht. Sie haben nie ein Weltreich erschüttert oder ein Heer in die Schlacht geführt. Shakespeares Dramen sind nicht von Ihnen [...]. Was haben Sie für eine Entschuldigung? Natürlich können Sie sagen und dabei auf die Straßen und Plätze und Wälder des Erdballs verweisen, wo es von schwarzen und weißen und kaffee­ braunen Einwohnern wimmelt, [...] wir haben anderes zu tun gehabt. Ohne unser Werk wären diese Meere unbesegelt und diese fruchtbaren Landstriche nur Wüste. Wir haben die eintausendsechshundertdreiundzwanzig Millionen Menschen, die laut Statistik gegenwärtig auf der Welt leben, geboren und bis zum Alter von viel­ leicht sechs oder sieben Jahren erzogen und gewaschen und belehrt, und das, selbst wenn manche dabei Hilfe hatten, braucht Zeit.“ (Woolf 2001: 110) In dieser Fähigkeit, jenes abgewertete Bild der Weiblichkeit zu unterwandern, das durch die Gleichsetzung der Frauen mit Natur, Materie und Körperlichkeit kon­ struiert worden ist, liegt die Macht des feministischen „Körperdiskurses“, der sich bemüht, das zu Tage zu fördern, was die männliche Kontrolle über unsere Körper­ wirklichkeit verdeckt hat. Es wäre allerdings illusionär, Frauenbefreiung als „Rück­ kehr zum Körper“ zu begreifen. Wenn der weibliche Körper, wie ich im vorliegen­ den Buch zeigen will, als Signifikant auf ein Feld reproduktiver Tätigkeiten verweist, die von Männern und dem Staat angeeignet worden sind, und wenn man aus ihm ein Mittel zur Produktion von Arbeitskraft gemacht hat (einschließlich all dessen, was daraus an sexuellen Verordnungen und Regelungen, an ästhetischen Kanons und Strafen folgt), dann ist er Schauplatz einer grundlegenden Entfremdung, die sich nicht eher überwinden lässt, als der ihn definierenden Arbeitsdisziplin ein Ende gesetzt worden ist. Diese These gilt auch für Männer. Marxens Darstellung des Arbeiters, der sich nur bei der Ausübung seiner Körperfunktionen wohl fühlt, enthält bereits eine Ahnung davon. Marx hat jedoch niemals einen Eindruck vom Ausmaß des Angriffs vermittelt, dem der männliche Körper beim Aufstieg des Kapitalismus ausgesetzt wurde. Ironi­ scherweise hat Marx, wie Michel Foucault, die Produktivität der Macht betont, der die Arbeiter unterworfen werden - eine Produktivität, die bei ihm zur Vorbedingung der späteren Beherrschung der Gesellschaft durch die Arbeiter wird. Marx erkannte nicht, dass der Preis für die Entwicklung des industriellen Vermögens der Arbeiter in der Unterentwicklung ihres Vermögens als gesellschaftliche Individuen besteht, obwohl er anerkannte, dass die Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft von ihrer Arbeit, ihren Beziehungen zu anderen und ihrem Arbeitsprodukt derart entfremdet werden, dass sie von ihnen beherrscht werden wie von einer fremden Macht.

Einleitung 4.

5.

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Braidotti (1991: 219). Vgl. zu feministischen Körpertheorien Salleh (1997), insbe­ sondere Kapitel 3-5, sowie Braidotti (1991), insbesondere den Abschnitt ,Repossessing the Body: ATimely Project* (219-224). Ich beziehe mich hier auf das Projekt einer écritureféminine. Es handelt sich um eine Literaturtheorie und Bewegung, die sich in den 1970er Jahren in Frankreich ent­ wickelte, ausgehend von feministischen Anhängern der Lacanschen Psychoanalyse, die bestrebt waren, eine Sprache zu schaffen, die die Besonderheiten des weiblichen Körpers und der weiblichen Subjektivität ausdrückt (Braidotti 1991).

Eine Frau mit einem Korb voller Spinat. Mittelalterliche Frauen hatten häufig eigene Gärten, in denen sie medizinische Kräuter anbauten. Ihr Wissen um die Eigenschaften der Kräuter war eines der Geheimnisse, die sie von Generation zu Generation weiterreichten. Italieni­ sche Darstellung, um 1385.

„Es ist ganz unmöglich, dass die ganz Welt muss den Puff halten.“ Soziale Bewegungen und die politische Krise im mittelalterlichen Europa

„Ja, es ist ganz unmöglich, zu unsern Zeiten viel mehr denn vom Anbe­ ginn des verkehrten Regiments, daß die ganz Welt muß den Puff halten. Ja, es dünkt, unzählige Leute mächtig groß Schwärmerei sein. Sie kön­ nen nicht anderst urteilen, denn daß es unmöglich sei, daß ein solches Spiel sollte angerichtet und vollführt werden, die Gottlosen vom Stuhl der Urteil zu stoßen und die Niedrigen, Groben erheben.“ - Thomas Müntzer, Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens der unge­ treuen Welt durch Zeugnis des Evangeliums Lukas vorgetragen, der elenden, erbärmlichen Christenheit zur Innerung ihres Irrsais, 1524 „Es ist nicht zu leugnen, dass die Ausbeutung nach Jahrhunderten des Kampfes fortbesteht. Nur ihre Form Tat sich geändert. Die Mehrar­ beit, die die Herren der heutigen Welt hier und dort abpressen, ist im Verhältnis zur Gesamtarbeit nicht geringer als die vor langer Zeit abge­ presste. Der Wandel der Ausbeutungsbedingungen ist meiner Ansicht nach jedoch nicht zu vernachlässigen. [...] Wichtig ist die Geschichte, das Streben nach Befreiung.“ - Pierre Dockes, Medieval Slavery and Liberation

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Jede Geschichte der Frauen und der Reproduktion im „Übergang zum Kapitalismus“ muss bei den Kämpfen ansetzen, die das mittelalterliche Pro­ letariat - Kleinbauern, Handwerker, Tagelöhner - gegen die feudale Macht in all ihren Formen führte. Nur, wenn wir uns diese Kämpfe mit ihrem reichhal­ tigen Fundus an Forderungen, sozialen und politischen Bestrebungen sowie antagonistischen Praktiken in Erinnerung rufen, können wir verstehen, wel­ che Rolle Frauen in der Krise des Feudalismus gespielt haben und warum ihre Macht zerschlagen werden musste, damit der Kapitalismus sich entwikkeln konnte, wie es dann durch die drei Jahrhunderte währenden Hexen­ verfolgungen auch geschah. Aus der Perspektive dieses Kampfes können wir erkennen, dass der Kapitalismus nicht das Ergebnis einer evolutionären Ent­ wicklung war, bei der wirtschaftliche Kräfte im Schoß der alten Ordnung heranreiften. Der Kapitalismus war die Antwort der Feudalherren, der patri-

26 zischen Kaufleute, der Bischöfe und Päpste auf einen jahrhundertelangen sozialen Konflikt, der ihre Macht schließlich erschütterte, so dass die „ganze Welt“ tatsächlich „den Puff nicht mehr hielt“. Der Kapitalismus war eine Konterrevolution, die die aus dem antifeudalen K am pf hervorgegangenen Möglichkeiten zerstörte: Möglichkeiten, die uns, wenn sie verwirklicht wor­ den wären, jene ungeheure Vernichtung menschlichen Lebens und der natür­ lichen Umwelt erspart hätten, die den Vormarsch kapitalistischer Verhält­ nisse auf der ganzen Welt gekennzeichnet hat. Das muss auf jeden Fall betont werden, denn der Glaube, der Kapitalismus habe sich aus dem Feudalismus „entwickelt“ und stelle eine höhere Form gesellschaftlichen Lebens dar, hält sich noch immer. Wie sich die Geschichte der Frauen mit der kapitalistischer Entwicklung überschneidet, lässt sich jedoch nicht begreifen, solange wir uns nur mit den klassischen Terrains des Klassenkampfes beschäftigen - also mit Frondien­ sten, Lohnraten, Pachten und dem Zehnten - , dabei die neuen Visionen des gesellschaftlichen Lebens sowie die Verwandlung der Geschlechterverhält­ nisse ignorierend, die aus diesen Konflikten hervorgingen. Diese neuen Visio­ nen des gesellschaftlichen Lebens und diese Verwandlung der Geschlechter­ verhältnisse waren nicht unbedeutend. Im Verlauf des antifeudalen Kampfes begegnen wir den ersten Hinweisen der europäischen Geschichte auf eine basisdemokratische Frauenbewegung, die sich der etablierten Ordnung widersetzte und zum Aufbau alternativer Modelle gemeinschaftlichen Lebens beitrug. Aus dem Kam pf gegen die Feudalmacht gingen auch die ersten orga­ nisierten Versuche hervor, die vorherrschenden geschlechtlichen Normen in Frage zu stellen und egalitärere Beziehungen zwischen Frauen und Männern zu schaffen. In Verbindung mit der Verweigerung der Fronarbeit sowie kom­ merzieller Beziehungen schufen diese bewussten Formen gesellschaftlicher Regelverletzung eine Alternative nicht nur zum Feudalismus, sondern auch zur kapitalistischen Ordnung, die ihn ersetzen sollte. Sie zeigen, dass eine andere Welt möglich war und fordern uns dazu auf, der Frage nachzugehen, weshalb diese andere Welt nicht verwirklicht wurde. Dieses Kapitel sucht nach Antworten auf diese Frage und untersucht dabei, wie die Beziehungen zwischen Frauen und Männern und die Reproduktion der Arbeitskraft durch den Widerstand gegen die Feudalherrschaft neu bestimmt wurden. Die sozialen Kämpfe des Mittelalters müssen auch deswegen in Erinne­ rung gerufen werden, weil sie ein neues Kapitel in der Geschichte der Befrei­ ung schrieben. In ihren besten Momenten forderten sie eine egalitäre, auf geteiltem Wohlstand und der Ablehnung von Hierarchien und autoritärer Herrschaft beruhende Gesellschaftsordnung. Das sollten Utopien bleiben. Anstelle des Himmelreichs, dessen Ankunft in den Predigten der Häretiker und der millenaristischen Bewegungen prophezeit wurde, gingen aus dem Niedergang des Feudalismus Krankheit, Krieg, Hungersnot und Tod hervor: die vier apokalyptischen Reiter, die im berühmten Holzschnitt von Dürer

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Bauern bereiten den Boden für die Aussaat vor. Der Zugang zu Land war Grundlage der Macht der Leibeigenen. Englische Miniatur, um 1340. zu sehen sind, wahrhaftige Vorboten des neuen kapitalistischen Zeitalters. Nichtsdestotrotz müssen die Versuche des mittelalterlichen Proletariats, „die Welt auf den K opf zu stellen“, ernst genommen werden. Trotz ihres Scheiterns trieben sie das Feudalsystem in die Krise. Für ihre Zeit waren sie „genuin revolutionär“, denn sie hätten nicht anders gelingen können als durch „eine radikale Umgestaltung der Gesellschaftsordnung“ (Hilton 1973: 223-224). Wenn wir den „Übergang“ aus der Perspektive des antifeudalen Kampfes im Mittelalter interpretieren, dann hilft uns das auch, die soziale Dynamik zu rekonstruieren, die hinter den englischen Einhegungen und der Eroberung der Amerikas liegt. Vor allem hilft es uns, einige der Gründe aufzudecken, weshalb die Vernichtung der „Hexen“ und die Ausweitung der staatlichen Kontrolle auf jeden Aspekt der Reproduktion im 16. und 17. Jahrhundert zu Ecksteinen der ursprünglichen Akkumulation wurden. Leibeigenschaft als Klassenverhältnis

Die antifeudalen Kämpfe des Mittelalters werfen zwar einiges Licht auf die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse, doch bleibt uns ihre eigene politische Bedeutung verborgen, solange wir sie nicht in den breiteren Zusammenhang der Leibeigenschaft stellen. Diese war das vorherrschende Klassenverhältnis der Feudalgesellschaft und bis zum 14. Jahrhundert der Hauptangriffspunkt des antifeudalen Kampfes. Die Leibeigenschaft entwickelte sich in Europa zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert nach Christus, in Reaktion auf den Zusammenbruch des Systems der Sklaverei, auf dem die Ökonomie des römischen Reiches beruht hatte. Bis zum 4. Jahrhundert sahen sich die Lehnsherren in den römi­ schen Gebieten sowie in den neuen germanischen Staaten gezwungen, den Sklaven das Recht zuzugestehen, über eigene Flurstücke und eigene Familien zu verfügen. Unterbunden werden sollten durch dieses Zugeständnis sowohl

28 die Revolten der Sklaven als auch ihre Flucht in die „Wildnis“, wo an den Rändern des Imperiums Maroon-Gemeinschaften entstanden.1 Gleichzeitig begannen die Lehnsherren die freien Bauern zu unterjochen. Diese sahen sich, zunächst aufgrund der Ausweitung der Sklavenarbeit und später au f­ grund der germanischen Invasionen, mit dem wirtschaftlichen Ruin kon­ frontiert, weshalb sie die Herren um Schutz ersuchten, freilich um den Preis ihrer Unabhängigkeit. Die Sklaverei wurde zwar nie vollständig aufgehoben, doch es entwickelte sich ein neues Klassenverhältnis, das eine Angleichung der Bedingungen bewirkte, unter denen die ehemaligen Sklavinnen und die freien Landarbeiter lebten und arbeiteten (Dockès 1982: 151). Die Bauern­ schaft wurde in eine untergeordnete Stellung versetzt, so dass die Begriffe für „Bauer“ (rusticus, villanus) drei Jahrhunderte lang (vom 9. bis zum 11. Jahrhundert) synonym mit dem für „Leibeigener“ (servus) verwendet wurden (Pirenne 1956: 63). Als Arbeitsverhältnis und rechtlicher Status war die Leibeigenschaft eine ungeheure Belastung. Die Leibeigenen waren an die Lehnsherren gebunden: Ihre Person und ihr Besitz waren Eigentum des Herrn, und ihr Leben unter­ stand in jeder Hinsicht dem Gesetz des Herrenhauses. Dennoch wurde das Klassenverhältnis durch die Leibeigenschaft auf eine für die Arbeiterinnen vorteilhafte Weise neubestimmt. Die Leibeigenschaft bedeutete das Ende der Kolonnenarbeit und des Lebens in der ergastula2 sowie eine Minderung der grausamen Strafen (Eisenkrägen, Verbrennungen, Kreuzigungen), auf die das System der Sklaverei angewiesen gewesen war. Die Leibeigenen unterstanden auf den feudalen Gutshöfen zwar dem Gesetz des Herrn, doch ihre Verstöße wurden auf der Grundlage „gewohnheitsrechtlicher“ Einigungen beurteilt; später wurde sogar ein Geschworenensystem eingeführt. Hinsichtlich der Veränderung des Herr-Knecht-Verhältnisses bestand der wichtigste Aspekt der Leibeigenschaft darin, dass die Leibeigenen unmit­ telbaren Zugang zu ihren Reproduktionsmitteln erhielten. Als Gegenleistung für die Arbeit, die sie auf dem Land des Herrn (der Domäne, demesne) zu leisten verpflichtet waren, erhielten die Leibeigenen ein eigenes Flurstück {mansus, hide), das sie zu ihrer Selbstversorgung verwenden und „wie ein richtiges Erbe, einfach durch Zahlung einer Erbgebühr“ an ihre Kinder ver­ machen konnten (Boissonnade 1974: 134). Pierre Dockès weist in La libé­ ration médiévale (1982) daraufhin, dass dieses Arrangement die Autonomie der Leibeigenen ausweitete und ihre Lebensbedingungen verbesserte, da sie ihrer Reproduktion mehr Zeit widmen und ihre Verpflichtungen aushandeln konnten, anstatt wie bewegliches, unbeschränkter Herrschaft unterliegendes Eigentum behandelt zu werden. Vor allem bedeuteten die effektive Nutzung und der Besitz eines Flurstücks, dass sich die Leibeigenen stets selbst versor­ gen konnten. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit den Lehnsherren konnten sie nicht durch die Drohung des Hungertods in die Knie gezwungen werden. Der Lehnsherr konnte zwar widerspenstige Leibei-

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gene seiner Ländereien verweisen. Er tat dies jedoch nur selten, da es inner­ halb einer relativ geschlossenen Ökonomie schwierig war, neue Arbeitskräfte zu rekrutieren, und da die bäuerlichen Kämpfe einen kollektiven Charakter hatten. Das ist der Grund, weshalb die Ausbeutung der Arbeit auf der feuda­ len Domäne - wie Marx bemerkt —stets auf unmittelbarem Zwang beruhte.3 Die Erfahrung der Selbständigkeit, die der Zugang zu Land den Bäue­ rinnen verschaffte, barg auch ein politisches und ideologisches Potential. Im Laufe der Zeit begannen die Bauern das von ihnen besetzte Land als ihr eige­ nes anzusehen, und sie begannen die Beschränkungen, die die Aristokratie ihrer Freiheit auferlegte, als unerträglich zu empfinden. „Das Land denen, die es bestellen“ - eine Forderung, die bis ins 20. Jahrhundert nachhallt, von den mexikanischen und russischen Revolutionen bis hin zu den gegenwärtigen Kämpfen gegen Landprivatisierung - ist ein Schlachtruf, mit dem sich die mittelalterlichen Leibeigenen zweifellos identifiziert hätten. Die Macht der Leibeigenen rührte allerdings daher, dass sie bereits Zugang zu Land hatten. Mit dem Gebrauch des Bodens ging der Gebrauch der „Allmende“ ein­ her. Es handelte sich um Wiesen, Wälder, Seen und wildes Weideland, aus denen die bäuerliche Ökonomie wesentliche Ressourcen bezog: Brennholz, Nutzholz, Fischweiher, Weidegrund für das Vieh. Zugleich beförderte die Allmende den Zusammenhalt der Gemeinschaft und die Kooperation inner­ halb ihrer (Birrell 1987: 23). In Norditalien war die Verfügung über sol­ che Ressourcen sogar Grundlage der Entwicklung von Formen kommunaler Selbstverwaltung (Hilton 1973: 76). Die „Allmende“ war für die politische Ökonomie und die Kämpfe der mittelalterlichen Landbevölkerung derma­ ßen bedeutend, dass die Erinnerung an sie noch immer die Fantasie anregt: Die „Allmende“ stellt sich als Vorschein einer Welt dar, in der Güter geteilt werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung.4 Die Gemeinschaft der mittelalterlichen Leibeigenen fiel hinter diese Ziele zurück und sollte nicht als Beispiel des Kommunalismus idealisiert werden. Tatsächlich erinnert sie uns daran, dass weder „Kommunalismus“ noch „Lokalismus“ Garanten egalitärer Verhältnisse sein können, solange die Gemeinschaft nicht über ihre eigenen Subsistenzmittel verfügt und solange nicht sämtliche Gemeinschaftsmitglieder gleichen Zugang zu diesen Subsi­ stenzmitteln haben. Das war bei den Leibeigenen auf den feudalen Dom ä­ nen nicht der Fall. Trotz der Vorherrschaft sowohl kollektiver Arbeitsformen als auch kollektiver „Verträge“ mit den Lehnsherren und trotz des lokalen Charakters der bäuerlichen Ökonomie war das mittelalterliche D orf keine Gemeinschaft gleicher Menschen. Ein umfangreicher Fundus an Dokumen­ ten aus sämtlichen Ländern Westeuropas belegt, dass innerhalb der Bauern­ schaft eine ausgeprägte soziale Ungleichheit herrschte: Es gab freie Bauern und Leibeigene, reiche Bäuerinnen und arme, Bauern mit festen Pachtver-

30 hältnissen und landlose Arbeiterinnen, die gegen Lohn auf der Domäne des Herrn arbeiteten, und es gab Frauen und Männer.5 Das Land ging in der Regel an Männer und wurde über die männliche Erbfolge weitervermacht, obwohl es auch häufig vorkam, dass Frauen Land erbten und es in ihrem eigenen Namen bestellten.6 Frauen waren auch von den Ämtern ausgeschlossen, zu denen die bessergestellten männlichen Bau­ ern berufen wurden; faktisch war ihr Status ein nachrangiger (Bennett 1988: 18-29; Shahar 1983). Das ist womöglich der Grund, weshalb ihre Namen nur selten in den Akten der Gutshöfe verzeichnet sind, mit Ausnahme der Gerichtsakten, in denen die Verstöße der Leibeigenen dokumentiert wur­ den. Weibliche Leibeigene waren nichtsdestotrotz weniger von ihren männli­ chen Verwandten abhängig als es „freie“ Frauen später, in der kapitalistischen Gesellschaft, sein sollten. Die weiblichen Leibeigenen unterschieden sich in körperlicher, sozialer und psychologischer Hinsicht wenig von ihren männ­ lichen Verwandten und waren männlichen Bedürfnissen nicht im gleichen Ausmaß unterworfen wie spätere Frauen. In der Gemeinschaft der Leibeigenen war die Abhängigkeit der Frauen von den Männern dadurch beschränkt, dass der Autorität der Ehemänner und Väter die der Herren übergeordnet war. Die Herren erhoben einen Eigen­ tumsanspruch auf Person und Besitz der Leibeigenen und waren bemüht, jeden Aspekt des Lebens ihrer Untertaninnen zu kontrollieren, von der Arbeit über die Ehe bis hin zum sexuellen Verhalten. Es war der Herr, der über die Arbeit und die gesellschaftlichen Bezie­ hungen der Frauen verfügte, indem er etwa beschloss, ob eine Witwe erneut heiraten sollte oder nicht, und wenn ja wen. In manchen Gebieten bean­ spruchte er sogar das iusprim ae noctis: das Recht, in der Hochzeitsnacht mit der Frau seines Leibeigenen zu schlafen. Eine weitere Begrenzung der Auto­ rität der männlichen Leibeigenen über ihre weiblichen Verwandten bestand darin, dass das Land in der Regel der Familie als ganzer überlassen wurde. Frauen arbeiteten nicht nur auf dem Land, sondern sie verfügten auch über ihr Arbeitsprodukt und waren daher nicht auf die Unterstützung ihres Ehe­ mannes angewiesen. Dass die Frau gleichrangige Miteigentümerin des Lan­ des war, galt in England als so selbstverständlich, dass „der Leibeigene, wenn er heiratete, das Land an den Lehnsherrn zurückgab, damit dieser es dann ihm und seiner Frau überlassen konnte“ (Hanawalt 1986b: 155).7 Darüber hinaus war die Arbeit auf den Höfen der Leibeigenen an der Subsistenz aus­ gerichtet, so dass die geschlechtliche Arbeitsteilung dort weniger ausgeprägt und weniger diskriminierend war als auf kapitalistischen Höfen. Im feuda­ len D orf gab es keine gesellschaftliche Trennung zwischen der Produktion von Gütern und der Reproduktion der Arbeitskraft; jede Arbeit trug zum Lebensunterhalt der Familie bei. Frauen leisteten Feldarbeit, zusätzlich zur Kindererziehung, zum Kochen, Waschen und Spinnen sowie zur Pflege des Kräutergartens. Ihre häuslichen Tätigkeiten wurden nicht abgewertet und

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beinhalteten keine gesellschaftlichen Beziehungen, die sich von denen der Männer unterschieden hätten, anders als es später in der Geldökonomie der Fall sein sollte, in der Fiausarbeit nichrlänger als wirkliche Arbeit angesehen wurde. Wenn wir darüber hinaus auch zur Kenntnis nehmen, dass kollektive Beziehungen in der mittelalterlichen Gesellschaft gegenüber Familienbezie­ hungen vorrangig waren und dass die von den weiblichen Leibeigenen über­ nommenen Aufgaben (Waschen, Spinnen, Ernten, das Hüten der Tiere auf der Allmende) gemeinsam mit anderen Frauen erledigt wurden, dann erken­ nen wir, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung weit davon entfernt war, die Frauen zu isolieren. Sie war ihnen vielmehr eine Quelle von Macht und Schutz. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war Grundlage einer ausgeprägten weiblichen Gesellschaftlichkeit und Solidarität, die es den Frauen erlaubte, sich gegen die Männer zu behaupten, obwohl die Kirche die Unterordnung der Frauen predigte und das Kirchenrecht es dem Mann erlaubte, seine Frau zu schlagen. Die Lage der Frauen auf der feudalen Domäne darf jedoch nicht als stati­ sche Realität betrachtet werden.8 Denn die Macht der Frauen und ihre Bezie­ hungen zu Männern waren zu jedem Zeitpunkt von den Kämpfen bestimmt, die ihre Gemeinschaften gegen die Grundherren führte, sowie von den Ver­ änderungen, die diese Kämpfe im Herr-Knecht-Verhältnis herbeiführten. Der Kampf auf der Allmende

Ende des 14. Jahrhunderts war die Revolte der Bäuerinnen gegen die Lehnsherren endemisch, massenhaft und oft auch bewaffnet. Die organisa­ torische Stärke, die die Bauern in dieser Zeit aufwiesen, war jedoch Ergebnis eines langen Konflikts, der sich mehr oder weniger offen durch das gesamte Mittelalter zieht. Im Gegensatz zu dem Bild von der feudalen Gesellschaft als einer stati­ schen Welt, das man in Schulbüchern findet, war das mittelalterliche D orf Schauplatz eines alltäglichen Krieges (Hilton 1966; Hilton 1985: 158-159). Zeitweilig spitzte sich dieser Krieg extrem zu, etwa wenn die Dorfbewohner den Gutsverwalter töteten oder das Schloss des Lehnsherrn angriffen. Mei­ stens nahm der Krieg jedoch den Charakter eines endlosen Rechtsstreits an, durch den die Leibeigenen die Übergriffe der Herren zu beschränken, ihre eigenen „Lasten“ genau zu bestimmen und die vielen Tribute zu verringern versuchten, die sie im Gegenzug für die Landnutzung zu entrichten hatten (Bennett 1967; Coulton 1955: 35-91; Hanawalt 1986a: 32-35). Das Hauptziel der Leibeigenen bestand darin, ihre Mehrarbeit und ihr Mehrprodukt einzubehalten und gleichzeitig ihre wirtschaftlichen und recht­ lichen Ansprüche auszuweiten. Diese beiden Aspekte des Kampfes der Leib­ eigenen hingen eng miteinander zusammen, da sich viele Verpflichtungen aus dem rechtlichen Status der Leibeigenen ergaben. So wurden männliche

32 Leibeigene im England des 13. Jahrhunderts, und zwar sowohl auf weltli­ chen als auch auf kirchlichen Domänen, häufig mit einer Buße belegt, wenn sie behaupteten, nicht Leibeigene sondern freie Männer zu sein. Eine sol­ che Herausforderung des Besitzanspruchs des Lehnsherrn konnte zu erbit­ terten Rechtsstreitigkeiten führen, bei denen mithin sogar beim Königshof Beschwerde eingelegt wurde (Hanawalt 1986a: 31). Die Bauern wurden auch mit Bußen belegt, wenn sie sich weigerten, im Ofen des Herrn Brot zu bakken beziehungsweise Getreide oder Oliven in seinen Mühlen zu verarbeiten, eine Weigerung, die es ihnen erlaubte, die schweren Gebühren zu vermeiden, die die Herren für die Nutzung dieser Anlagen erhoben (Bennett 1967: 130131; Dockes 1982: 176-179). Das bedeutendste Kampfterrain der Leibeige­ nen war jedoch die Arbeit, die sie an bestimmten Wochentagen auf dem Land des Lehnsherrn zu leisten hatten. Diese „Arbeitsdienste waren die Last, die sich am unmittelbarsten auf das Leben der Leibeigenen auswirkte. Sie waren das gesamte 13. Jahrhundert hindurch der zentrale Streitpunkt im Freiheits­ kam pf der Leibeigenen.9 Die Einstellung der Leibeigenen zur Fronarbeit, wie diese Arbeitsdien­ ste genannt wurden, lässt sich aus den Einträgen in den Gerichtsbüchern der Domänen erschließen; dort wurden die den Pächtern auferlegten Strafen ver­ merkt. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts weist die historische Evidenz auf eine „massenhafte Veweigerung“ von Arbeit hin (Hilton 1985: 130—131). Die Pächter gingen weder selbst auf dem Land der Lehnsherren arbeiten, noch schickten sie ihre Kinder dorthin, wenn sie zur Erntezeit dazu aufgeru­ fen wurden.10 Oder aber sie erschienen erst so spät auf den Feldern, dass die Ernte verdarb. Manchmal arbeiteten sie auch einfach nachlässig: Sie gönnten sich lange Pausen und legten durchgehend eine renitente Einstellung an den Tag. Daher waren die Lehnsherren auf die dauerhafte und sorgfältige Über­ wachung ihrer Leibeigenen angewiesen, wie etwa aus dieser Empfehlung her­ vorgeht: „Lass den Gutsverwalter und den Aufseher immer bei den Pflügern sein und darauf achten, dass sie ihre Arbeit gut und gründlich erledigen, und lass sie am Ende des Tages ermitteln, wie viel Arbeit geleistet worden ist. [...] Und weil gemeine Leibeigene ihre Arbeit vernachlässigen, ist es not­ wendig, sich vor ihrem Betrug zu schützen; weiter ist es notwendig, sie oft zu überwachen; außerdem muss der Gutsverwalter alle überwachen, damit sie tüchtig arbeiten, und wenn sie sich nicht gut verhalten, dann sollen sie gescholten werden.“ (Bennet 1967: 113) Eine ähnliche Situation wird in Piers Plowman (ca. 1362—70) dargestellt, William Langlands allegorischem Gedicht. In einer Episode verbringen die Arbeiterinnen, nachdem sie den Morgen über gearbeitet haben, den Nach­ mittag, indem sie herumsitzen und singen. In einer anderen Episode finden sich Menschen zur Erntezeit ein, „um nichts zu tun außer zu trinken und zu schlafen“ (Coulton 1955: 87).

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Es gab auch heftigen Widerstand gegen die Pflicht, in Kriegszeiten W af­ fendienst zu leisten. H. S. Bennett berichtet, dass Soldaten in den englischen Dörfern stets nur durch Zwang rekrutiert werden konnten. Auch gelang es den Befehlshabern mittelalterlicher Heere nur selten, ihre Männer zu behal­ ten: Die Rekruten desertierten bei der erstbesten Gelegenheit, nachdem sie ihren Sold empfangen hatten. Beispielhaft sind die Soldlisten aus dem schot­ tischen Kriegszug des Jahres 1300: Aus ihnen geht hervor, dass zwar im Juni 16.000 Soldaten rekrutiert wurden, sich aber Mitte Juli nur noch 7.600 ein­ fanden - und das sei nur „der Anfang gewesen. [...] Im August blieben kaum mehr als 3.000 Soldaten.“ Die Folge war, dass der König zunehmend auf begnadigte Verbrecher und Gesetzlose angewiesen war, um sein Heer zu ver­ größern (Bennett 1967: 123-125). Eine weitere Quelle des Konflikts war der Gebrauch nicht bewirtschafte­ ten Bodens. Dabei konnte es sich um Wälder, Seen oder Hügel handeln, die die Leibeigenen als Kollektiveigentum betrachteten. ,,[W]ir können in den Wald gehen“, erklärten die Leibeigenen in einer englischen Chronik aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, „und uns nehmen, was wir brauchen. Wir kön­ nen uns Fische aus dem Fischweiher und Wild aus dem Wald nehmen. Wir werden in den Wäldern, in den Gewässern und auf den Feldern tun, was uns beliebt“ (Hilton 1973: 71). Die erbittertsten Kämpfe galten jedoch den Steuern und Lasten, die sich aus der rechtsprecherischen Macht des Adels ergaben. Dazu gehörten die manomorta oder der Todfall (eine Steuer, die der Lehnsherr erhob, wenn ein Leibeigener starb), die mercheta oder Ehesteuer (die höher ausfiel, wenn ein Leibeigener jemanden aus einer anderen Domäne heiratete), das Heergewedde (eine Erbschaftssteuer, die der Erbe eines verstorbenen Leibeigenen entrichtete, um Zugang zu dessen Flurstück zu erhalten; die Steuer bestand meistens in dem besten Vieh des Verstorbenen) und, von allen am schlimm­ sten, die Taille: ein willkürlich festgesetzter Geldbetrag, den die Lehnsherren fordern konnten, wann immer es ihnen gefiel. Zu guter Letzt gab es noch den Zehnten. Es handelte sich, wie der Name sagt, um ein Zehntel des bäu­ erlichen Einkommens. Es wurde vom Klerus eingefordert, aber in der Regel von den Lehnsherren im Namen des Klerus eingetrieben. Neben den Frondiensten zählten diese „der Natur und der Freiheit widersprechenden“ Steuern zu den am meisten verhassten feudalen Pflich­ ten. Denn da sie nicht durch Landzuteilungen oder andere Begünstigungen kompensiert wurden, offenbarten sie die ganze Willkür der Feudalmacht. So widersetzten sich die Leibeigenen ihnen auch unermüdlich. Typisch war die Einstellung der Leibeigenen, die im Dienst der Mönche von Dunstable stan­ den. Sie erklärten im Jahr 1299, „dass sie lieber zur Hölle fahren wollten, als in dieser Angelegenheit der Taille einq Niederlage zu erleiden.“ Nach „hefti­ gen Auseinandersetzungen“ gelang es ihnen, sich von der Taille freizukaufen Bennett 1967: 139). Ähnlich ist der Fall der Leibeigenen von Hedon, einem

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D orf in Yorkshire: Sie gaben im Jahr 1280 zu verstehen, dass sie, sofern die Taille nicht abgeschafft werde, lieber in die nahegelegenen Orte Revensered und Hüll ziehen wollten, „wo es gute, täglich sich ausdehnende Häfen und keine Taille gibt“ (Bennett 1967: 141). Das waren keine leeren Drohungen. Die Flucht in Städte oder Marktflecken11 war ein ständiger Bestandteil des Kampfes der Leibeigenen, so dass in manchen englischen Domänen immer wieder „über Männer berichtet wird, die geflohen seien und nun in Nachbar­ orten hausen würden; und obwohl befohlen wird, sie zurückzubringen, fahrt die Ortschaft darin fort, sie zu schützen“ (Bennett 1967: 295-296). Diesen Formen offener Konfrontation müssen wir die vielen unsichtba­ ren Widerstandsformen hinzufügen, für die unterjochte Bauern zu jeder Zeit und an jedem Ort berühmt gewesen sind: „Bummelei, Täuschung, gespiel­ tes Wohlverhalten, vorgetäuschtes Unwissen, Desertion, kleine Diebstähle, Schmuggel, Wilderei“ (Scott 1989: 5). Diese „alltäglichen Widerstandsfor­ men“, an denen über die Jahre hinweg stur festgehalten wurde und ohne deren Berücksichtigung keine zutreffende Darstellung der Klassenverhält­ nisse möglich ist, grassierten im mittelalterlichen Dorf. Das mag die Akribie erklären, mit der die Lasten der Leibeigenen in den Aufzeichnungen der Domänen festgelegt wurden: „Oft stellen [die Aufzeichnungen der Domänen] nicht einfach fest, dass ein Mann einen Morgen des Landes seines Lehnsherrn pflügen, säen und eggen soll. Sie halten fest, dass er das Land mit so vielen Ochsen pflügen soll, wie zu seinem Pflug gehören, und dass er mit seinem eigenen Pferd und seinem eigenen Sack eggen soll. [...] Wir müssen uns die Männer von Elton in Erinnerung rufen, die zwar zugaben, dass sie gehalten seien, das Heu ihres Herrn auf seiner Flur und dann wieder in seiner Scheune zu stapeln, aber darauf bestanden, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht dazu verpflichtet seien, es auf Wägen zu laden, um es von einem Ort zum anderen zu transportieren.“ (Homans 1960: 272) In einigen deutschen Gebieten, wo die Leibeigenen zu jährlichen Eier- und Geflügelabgaben verpflichtet waren, wurden Qualitätsprüfungen eingeführt, um sicherzustellen, dass die Leibeigenen ihren Lehnsherren nicht einfach die schlechtesten Hühner überließen: „Die Henne wird vor einen Zaun oder ein Tor gestellt. Ist sie, wenn man sie erschrickt, kräftig genug, um drüber zu fliegen oder zu klettern, dann muss der Gutsverwalter sie annehmen. Eine junge Gans muss angenom­ men werden, wenn sie alt genug ist, um Gras zu pflücken, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und auf schmähliche Weise zu Boden zu stür­ zen.“ (Coulton 1955: 74—75) Solche peinlich genauen Regelungen belegen die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des mittelalterlichen „Gesellschaftsvertrags“ und die vielen Kampfterrains, die einem kämpferischen Pächter oder D orf offenstanden. Die Pflichten und Rechte der Leibeigenen wurden „gewohnheitsrechtlich“

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bestimmt, doch wurde auch über ihre Auslegung heftig gestritten. Die „Erfin­ dung von Traditionen“ war eine in der Auseinandersetzung zwischen Lehns­ herren und Bauern weiterverbreitete Praxis: Beide Seiten versuchten, Traditi­ onen neu zu bestimmen oder vergessen zu machen, bis dann gegen Mitte des 13. Jahrhunderts die Zeit anbrach, zu der sie schriftlich festgelegt wurden. Freiheit und soziale Spaltung

In politischer Hinsicht bestand das erste Ergebnis der Kämpfe der Leib­ eigenen darin, dass vielen Dörfern (vor allem Norditaliens und Frankreichs) „Privilegien“ und „Satzungen“ zugestanden wurden, in denen die Lasten bestimmt und „der Dorfgemeinschaft gewisse Grade an Autonomie über­ lassen“ wurden. Zuweilen entstanden dabei Formen genuiner Selbstverwal­ tung. Die Satzungen legten die Bußen fest, die die Gerichtshöfe der Domäne verhängen konnten. Sie bestimmten auch die Regeln gerichtlicher Verhand­ lungen. Damit wurde die Möglichkeit willkürlicher Festnahmen und ande­ rer Übergriffe ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt (Hilton 1973: 75). Auch die Verpflichtung der Leibeigenen zum Waffendienst wurde abge­ schwächt, während die Taille abgeschafft oder genau bestimmt wurde. Oft wurde den Leibeigenen die „Freiheit“ zugestanden, ihre Güter auf dem loka­ len Markt zu verkaufen; seltener erhielten sie das Recht, Land zu veräußern. Zwischen 1177 und 1350 wurden allein in Loraine 280 Satzungen verab­ schiedet (Hilton 1973: 83). Die wichtigste Folge der Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht war jedoch, dass die Frondienste in Geldleistungen (Geldpacht, Geldsteu­ ern) umgewandelt wurden, was das Feudalverhältnis auf eine eher vertragliche Grundlage stellte. Durch diese folgenschwere Entwicklung wurde die Leib­ eigenschaft praktisch beendet. Doch bedeutete diese Umwandlung —wie so oft, wenn ein „Triumph“ der Arbeiter und Arbeiterinnen die ursprünglichen Forderungen nur teilweise erfüllt - auch eine Kooptierung der ursprüngli­ chen Kampfziele. Sie fungierte als Mittel sozialer Spaltung und beförderte den Zerfall des feudalen Dorfes. Die besser gestellten Bäuerinnen, die über größere Ländereien verfügten, konnten genug Geld verdienen, um „ihr Blut zu kaufen“ und andere Arbei­ ter anzustellen. Für sie muss sich die Umwandlung als bedeutender Schritt in Richtung wirtschaftlicher und persönlicher Unabhängigkeit dargestellt haben, denn die Lehnsherren kontrollierten ihre Pächter nicht mehr so sorg­ fältig, sobald sie nicht mehr unmittelbar auf deren Arbeit angewiesen waren. Doch die meisten ärmeren Bauern, die nur wenige Morgen Land besaßen, gerade einmal genug, um ihren Unterhalt zu sichern, verloren auch noch das Wenige, was sie hatten. D a sie gezwungen waren, ihren Pflichten durch Geld­ zahlungen nachzukommen, gerieten sie in einen Zustand chronischer Ver­ schuldung. Sie beliehen zukünftige Ernten: eine Praxis, die in vielen Fällen zum Verlust des Bodens führte. Die Folge war, dass sich soziale Spaltungen

36 bis zum 13. Jahrhundert, als sich die Umwandlung der Fronarbeit in Geldlei­ stungen in ganz Westeuropa ausbreitete, in ländlichen Gebieten verschärften. F.in Teil der Bauernschaft durchlief einen Proletarisierungsprozess. Bronislaw Geremek schreibt dazu: „In Dokumenten aus dem 13. Jahrhundert ist immer häufiger die Rede von landlosen Bauern, die eine marginale Viehhaltung betreiben [...]. [...] In dieser Zeit wächst die Zahl verschiedener Arten von ,Gärtnern1, Bau­ ern, die kein Land oder kaum noch Land besitzen und gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, daß sie ihre Arbeitskraft anbieten [...]. Innerhalb der dörflichen Struktur Südfrankreichs konnten sich die brassten nur noch durch die Vermietung ihrer Arme (bras) erhal­ ten, indem sie sich tageweise bei reicheren Bauern und Grundbesitzern verdingten. Vom Beginn des 14. Jahrhunderts an tauchen in den Steuer­ listen immer häufiger Dorfbewohner auf, die als Elende, Arme oder gar Bettler bezeichnet werden [...].“ (Geremek 1998: 72)12 Der Übergang zur Geldpacht hatte noch zwei andere nachteilige Folgen. Ers­ tens erschwerte er es den Produzentinnen, das Ausmaß ihrer Ausbeutung zu ermessen. Denn sobald der Frondienst durch Geldzahlungen ersetzt wurde, waren die Bauern nicht mehr in der Lage, zwischen der Arbeit, die sie für sich selbst, und der, die sie für den Grundherrn leisteten, zu unterscheiden. Die Umwandlung der Fronarbeit in Geldzahlungen ermöglichte es den nun­ mehr freien Pächtern auch, andere Arbeiterinnen anzustellen und auszubeu­ ten: An die Stelle des „alten bäuerlichen Besitzers“ trat damit der „kapitalisti­ sche Pächter“ (Marx 1983: 807). Von der Monetarisierung des wirtschaftlichen Lebens profitierten also keineswegs alle, anders als es die Fürsprecher der Marktwirtschaft behaup­ ten. Sie zelebrieren die Entwicklung als die Schaffung eines neuen „Gemein­ samen“ , das die Bindung an den Boden ersetzt und die Kriterien der Objekti­ vität, der Rationalität und sogar der persönlichen Freiheit ins gesellschaftliche Leben eingeführt habe (Simmel 1900). Sicherlich kam es infolge der Verbrei­ tung monetärer Verhältnisse zu einem Wertewandel. Ein solcher Wandel war sogar im Klerus zu verzeichnen: Dieser begann, die aristotelische Lehre von der „Sterilität des Geldes“ (Kaye 1998) zu hinterfragen, was nicht zufällig mit einer Revision seiner Ansichten über den erlösenden Charakter der Mild­ tätigkeit einherging. Die Auswirkungen der neuen monetären Verhältnisse waren jedoch zerstörerisch und polarisierend. Geld und Markt begannen, die Bauernschaft zu spalten, indem sie aus Einkommensunterschieden Klassen­ unterschiede machten, und indem sie eine Masse von Armen erzeugten, die nur auf der Grundlage regelmäßiger Spenden überleben konnten (Geremek 1998: 72-80). Dem wachsenden Einfluss des Geldes müssen wir auch den systematischen Angriff zuschreiben, dem die Juden ab dem 12. Jahrhundert ausgesetzt waren. Auch die ständige Verschlechterung des rechtlichen und sozialen Status der Juden geht darauf zurück. Es gibt tatsächlich eine auf-

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schlussreiche Korrelation zwischen der Verdrängung der Juden durch ihre christlichen Konkurrenten, die sie als Geldleiher der Könige und Päpste sowie des höheren Klerus ersetzten, und den neuen, diskriminierenden Regeln, die der Klerus den Juden auferlegte (etwa das Tragen auffälliger Kleidung). Die Verdrängung der Juden aus dem Geschäft des Geldleihens korreliert darüber hinaus auch mit ihrer Vertreibung aus England und Frankreich. Von der Kir­ che degradiert, noch stärker als bisher von der christlichen Bevölkerung abge­ grenzt und gezwungen, ihre Tätigkeit als Geldleiher (es handelte sich um eine der wenigen Tätigkeiten, die Juden offenstanden) auf das D orf zu beschrän­ ken, wurden die Juden ein leichtes Opfer verschuldeter Bauern. Diese ließen ihre Wut auf die Reichen oft an den Juden aus (Barber 1992: 76). Auch die Frauen gehörten, unabhängig von ihrer Klassenlage, zu denen, auf die sich die wachsende Kommerzialisierung des Lebens am ungünstigsten auswirkte, denn sie hatten nun noch weniger Zugang zu Eigentum und Ein­ kommen als zuvor. In den italienischen Handelsstädten verloren die Frauen das Recht, ein Drittel des Eigentums ihres Ehemannes zu erben (die tertia). In den ländlichen Gebieten wurden sie noch stärker vom Landbesitz ausgeschlossen, insbesondere wenn sie alleinstehend oder verwitwet waren. Die Folge war, dass sie bis zum 13. Jahrhundert die Land-Stadt-Migration anführten: Die meisten Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, waren Frauen (Hilton 1985: 212). Im 15. Jahrhundert stellten Frauen bereits einen Großteil der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen lebten dort unter ärmlichen Bedingungen. Ihre Arbeit als Dienstmädchen, Krämerinnen, Ein­ zelhändlerinnen (als solche mussten sie oft Bußgelder entrichten, da sie keine Lizenz besaßen), Spinnerinnen, Mitglieder niederer Zünfte und Prostituierte war schlecht bezahlt.13 Dadurch, dass sie in den städtischen Zentren lebten, inmitten des kämpferischsten Teils der mittelalterlichen Bevölkerung, verfüg­ ten sie jedoch auch über eine neue gesellschaftliche Autonomie. Die städti­ schen Gesetze bedeuteten für Frauen keine Befreiung: Nur wenige konnten sich die „städtische Freiheit“ kaufen, wie die mit dem Stadtleben verbunde­ nen Privilegien genannt wurden. Doch wurde die Vormundschaft der Män­ ner über die Frauen in den Städten abgeschwächt, denn die Frauen konn­ ten nun allein oder mit ihren Kindern leben, als Familienoberhäupter. Sie konnten auch neue Gemeinschaften gründen; oft teilten sie ihre Unterkünfte mit anderen Frauen. Sie waren zwar in der Regel die ärmsten Mitglieder der städtischen Gesellschaft, doch erhielten sie im Laufe der Zeit Zugang zu vie­ len Berufen, die später als Männerberufe gelten sollten. Frauen arbeiteten in den mittelalterlichen Städten als Schmiedinnen, Fleischerinnen, Bäckerin­ nen, Kerzenmacherinnen, Hutmacherinnen, Bierbrauerinnen, Wollkämmerinnen und Einzelhändlerinnen (Shahar 1983: 189-200; King 1991: 64-67). J n Frankfurt gab es zwischen 1300 und 1500 ungefähr 200 von Frauen aus­ geübte Berufe“ (Williams und Echols 2000: 53). In England hatten 72 von 85 Zünften weibliche Mitglieder. Manche Zünfte, darunter auch die der Sei-

38 denmacherinnen, waren von Frauen dominiert; andere Zünfte hatten etwa genauso viele weibliche wie männliche Mitglieder.14 Bis zum 14. Jahrhundert hatten die Frauen begonnen, Berufe wie den der Lehrerin, der Ärztin und der Chirurgin auszuüben. Sie konkurrierten mit Männern, die an den Uni­ versitäten ausgebildet worden waren, und genossen zuweilen hohes Ansehen. Sechzehn Ärztinnen - darunter mehrere jüdische Frauen, die sich auf Chirur­ gie oder Augenbehandlung spezialisiert hatten —wurden im 14. Jahrhundert von der Frankfurter Stadtverwaltung angestellt, die ihren Einwohnern (wie andere Stadtverwaltungen auch) ein öffentliches Gesundheitssystem anbot. Die auch als Flebammen oder sagefemmes bekannten Ärztinnen dominierten die Geburtshilfe, wobei sie entweder im Sold der Stadtverwaltung standen oder von der Bezahlung durch ihre Patientinnen lebten. Als im 13. Jahrhun­ dert der Kaiserschnitt eingeführt wurde, wurde er ausschließlich von weibli­ chen Geburtshelferinnen praktiziert (Opitz 1996: 370-371). In dem Ausmaß, in dem die Frauen ihre Autonomie ausweiteten, wurde auch ihre Präsenz im öffentlichen Leben häufiger dokumentiert: etwa in den Predigten der Priester, die ihre Disziplinlosigkeit verurteilten (Casagrande 1978), in den Aufzeichnungen der Tribunale, vor denen sie jene denun­ zierten, die sie misshandelt hatten (S. Cohn 1981), oder in den städtischen Verordnungen zur Regulierung der Prostitution (Henriques 1966). Frauen tauchten auch unter den tausenden von Nicht-Kombattanten auf, die den Fleeren folgten (Hacker 1981), vor allem aber als Mitglieder der neuen Volks­ bewegungen, insbesondere der häretischen. Wir werden später noch sehen, welche Rolle die Frauen in den häreti­ schen Bewegungen spielten. Hier möge der Hinweis genügen, dass sich in der Reaktion auf die neue weibliche Unabhängigkeit die Anfänge eines frauen­ feindlichen Backlash zu erkennen geben. Besonders erkennbar ist er in den Satiren der fabliaux, wo wir die ersten Spuren dessen finden, was Historiker als „Kam pf um die Hosen“ bezeichnet haben. Die millenaristischen und häretischen Bewegungen

Das wachsende landlose Proletariat, das aus der Umwandlung der Fron­ dienste in Geldleistungen hervorgegangen war, wurde (im 12. und 13. Jahr­ hundert) Protagonist der millenaristischen Bewegungen, in denen wir neben den verarmten Bäuerinnen allen Elenden der Feudalgesellschaft begegnen: Prostituierten, aus dem Amt verstoßenen Priestern, städtischen und länd­ lichen Tagelöhnern (N. Cohn 1970). Der kurze Auftritt der Millenaristen auf der historischen Bühne hat nur wenige Spuren hinterlassen: Sie erzählen die Geschichte kurzlebiger Revolten und einer Bauernschaft, die brutalisiert worden war von Armut und jenen aufwieglerischen Reden des Klerus, die mit dem Beginn der Kreuzzüge einhergingen. Die Bedeutung ihrer Rebel­ lion besteht jedoch darin, dass sie einen neuen Kampftypus hervorbrachte, der bereits über die Grenzen der Domäne hinauswies und vom Streben nach

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totaler Veränderung motiviert war. Es überrascht nicht, dass der Aufstieg des Millenarismus mit der Verbreitung von Prophezeiungen und apokalyptischen Visionen einherging, die das Ende der Welt und das unmittelbare Bevorste­ hen des Jüngsten Gerichts ankündigten. Es handelte sich „nicht um Visionen einer mehr oder weniger fernen Zukunft, sondern um unmittelbar bevorste­ hende Ereignisse, an denen sich viele der Lebenden unmittelbar aktiv betei­ ligen konnten“ (Hilton 1973: 223). Ein typisches Beispiel des Millenarismus war die Bewegung, die der Auf­ tritt des Pseudo-Balduin in Flandern in den Jahren 1224 bis 1225 auslöste. Dieser Mann, ein Einsiedler, behauptete, er sei der beliebte Balduin IX., den man 1204 in Konstantinopel getötet hatte. Die Behauptung ließ sich nicht beweisen, doch sein Versprechen einer neuen Welt löste einen Bürgerkrieg aus, in dem die Tucharbeiter zu seinen leidenschaftlichsten Unterstützern wurden (Nicholas 1992: 155). Diese Armen (Weber, Walker) schlossen um ihn die Reihen; vermutlich waren sie überzeugt, dass er sie mit Silber und Gold versorgen und eine umfangreiche Gesellschaftsreform herbeiführen würde (Volpe 1992: 155). Vergleichbar waren die Bewegungen derpastoreaux (Schafhirten) - Bauern und städtische Arbeiter, die um 1251 durch Nord­ frankreich zogen, die Häuser der Reichen niederbrannten und ausplünder­ ten und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen forderten15 - und die Bewegung der Geißler, die sich 1260 von Umbrien (Italien) in verschiedene Länder ausbreitete: 1260 war das Jahr, in dem der Prophezeiung des Abts Joachim von Fiore zufolge die Welt zu Ende gehen sollte (Russell 1972: 137). Die Suche des mittelalterlichen Proletariats nach einer greifbaren Alter­ native zu den feudalen Verhältnissen und der wachsende Widerstand dieses Proletariats gegen die Geldökonomie kamen jedoch weniger in den millenaristischen Bewegungen als vielmehr in der volkstümlichen Häresie zum Aus­ druck. Häresie und Millenarismus werden oft als ein und dasselbe verhandelt. Auch wenn sich keine präzise Unterscheidung treffen lässt, so gab es doch bedeutende Unterschiede zwischen diesen beiden Bewegungen. Die millenaristischen Bewegungen waren spontan, ohne organisatori­ sche Struktur oder Programmatik. Normalerweise wurden sie durch ein spe­ zifisches Ereignis oder ein charismatisches Individuum ausgelöst. Sie kolla­ bierten jedoch, sobald ihnen mit Gewalt begegnet wurde. Dagegen war die häretische Bewegung der bewusste Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaf­ fen. Die bedeutendsten häretischen Sekten hatten eine soziale Programmatik, die auch die religiöse Tradition neu interpretierte, und sie waren gut organi­ siert, was ihre Reproduktion, die Verbreitung ihrer Ideen und ihre Selbstver­ teidigung anging. Es überrascht daher nicht, dass sie lange fortbestanden, trotz der nachdrücklichen Verfolgung, der sie ausgesetzt waren. Sie spielten im antifeudalen Kam pf eine ausschlaggebende Rolle.

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Eine Prozession von Geißlern zur Zeit der Pest. Über die zahlreichen häretischen Sekten (Katharer, Waldenser, Arme von Lyon, Spirituale, Apostoliker), die mehr als drei Jahrhunderte lang in den „Unterklassen“ Italiens, Frankreichs, Flanderns und Deutschlands gediehen, ist heute nur wenig bekannt. Es handelte sich zweifellos um die bedeutend­ ste oppositionelle Bewegung des Mittelalters (Werner 1974; Lambert 2001). Dass so wenig über sie bekannt ist, ist weitgehend der Grausamkeit geschul-

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det, mit der sie von der Kirche verfolgt wurden. Die Kirche ließ nichts unver­ sucht, um jede Spur ihrer Lehren zu tilgen. Kreuzzüge wurden nicht nur zu Befreiung des Heiligen Landes von den „Ungläubigen“ ausgerufen, sondern auch gegen die Häretiker - etwa gegen die Albigenser.16 Häretiker wurden zu tausenden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Papst schuf, um sie auszulöschen, eine der perversesten Institutionen in der gesamten Geschichte staatlicher Repression: die Heilige Inquisition (Vauchez 199: 162-170).17 Nichtsdestotrotz können wir uns, wie (neben anderen) Charles H. Lea in seiner monumentalen Geschichte der Häretiker-Verfolgung gezeigt hat, auch auf der Grundlage der eingeschränkten Quellenlage ein eindringli­ ches Bild von den Aktivitäten und Lehren der Häretikerinnen machen, und ebenso von der Rolle, die der häretische Widerstand innerhalb des antifeuda­ len Kampfes spielte (Lea 1985). Die volkstümliche Häresie war zwar von orientalischen Religionen beeinflusst, die Händler und Kreuzritter nach Europa gebracht hatten, doch es handelte sich bei ihr weniger um eine Abweichung von der orthodoxen Lehre als um eine Protestbewegung, die eine radikale Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens anstrebte.18 Die Häresie war die dem mittelalterli­ chen Proletariat eigene Entsprechung zur „Befreiungstheologie“. Sie verlieh den Forderungen der Menschen nach spiritueller Erneuerung und sozialer Gerechtigkeit einen Rahmen und berief sich, indem sie sowohl die Kirche als auch die weltliche Autorität herausforderte, auf eine höhere Wahrheit. Sie denunzierte soziale Hierarchien, das Privateigentum und die Akkumulation von Wohlstand. Dabei verbreitete sie unter den Menschen einen neuen, revo­ lutionären Begriff von Gesellschaft, der zum ersten Mal seit dem Mittelalter sämtliche Aspekte des Alltagslebens (Arbeit, Eigentum, generative Reproduk­ tion und die Stellung der Frauen) neu bestimmte. Die Frage der Emanzipa­ tion wurde somit auf genuin universelle Weise aufgeworfen. Die häretische Bewegung bot auch eine alternative Gemeinschaftsstruk­ tur, die eine internationale Dimension aufwies. Sie erlaubte es den Sekten­ mitgliedern, ein selbstbestimmteres Leben zu führen und von einem umfang­ reichen Unterstützungsnetzwerk zu profitieren. Dieses Netzwerk bestand aus persönlichen Kontakten, Schulen und Verstecken, von denen die Sektenmit­ glieder in Zeiten der Not Hilfe und Inspiration erhielten. Es ist tatsächlich keine Übertreibung zu sagen, dass es sich bei der häretischen Bewegung um die erste „proletarische Internationale“ handelte. Die Reichweite der Sekten (insbesondere der Katharer und der Waldenser) und die Verbindungen, die sie über Handelsmessen, Pilgerfahrten und die Reisetätigkeit ihrer Verfolg­ ten untereinander herstellten, belegt die Angemessenheit dieser Bezeichnung. Am Anfang der volkstümlichen Häresie stand der Glaube, Gott spreche nicht mehr durch den Klerus, der sich nunmehr nur noch durch Habgier, Korruption und skandalöses Verhalten auszeichne. So verstanden sich die beiden bedeutendsten Sekten als die „wahren Kirchen“. Doch forderten die

42. Häretiker den Klerus vor allem politisch heraus. Denn wer die Kirche heraus­ forderte, konfrontierte sich gleichzeitig mit dem ideologischen Eckstein der Feudalmacht, mit dem größten Grundherrn Europas und mit der Institution, die am meisten Verantwortung für die Ausbeutung der Bauernschaft trug. Bis zum 11. Jahrhundert war die Kirche zu einer despotischen Macht geworden, die ihren vorgeblich heiligen Auftrag nutzte, um mit eiserner Faust zu regie­ ren und ihre Kasse durch zahllose Formen räuberischer Erpressung zu füllen. Der Verkauf von Sündenerlässen, Ablässen und religiösen Ämtern war ebenso wie das Predigen der Heiligkeit des Zehnten und die Vermarktung sämtlicher Sakramente gängige Praxis, vom Papst bis zum Dorfpriester. Die Korruption des Klerus war in allen christlichen Gebieten sprichwörtlich. Sie ging so weit, dass der Klerus sich weigerte, Verstorbene zu beerdigen, Taufen vorzunehmen oder Ablässe zu erteilen, sofern er nicht dafür bezahlt wurde. Sogar die Kom­ munion wurde zum Anlass der Geschäftemacherei. „Wer einer ungerechten Forderung sich widersetzte, wurde exkommuniziert und hatte alsdann nicht nur die unrechtmäßig eingeforderte Summe, sondern eine weitere für die Aufhebung der Exkommunikation zu zahlen“ (Lea 1985: 38). In diesem Kontext kanalisierte die Verbreitung häretischer Lehren nicht nur die Verachtung der Menschen für den Klerus. Sie bestärkte die Men­ schen auch in ihren Ansichten und trieb sie zum Widerstand gegen die kle­ rikale Ausbeutung an. Unter Verweis auf das Neue Testament lehrten die Häretiker, Christus habe kein Eigentum besessen. Wenn die Kirche ihre spi­ rituelle Macht wiedererlangen wolle, dann müsse sie alle ihre Besitztümer aufgeben. Die Häretiker lehrten außerdem, dass die Sakramente nicht heilig seien, wenn sie von sündhaften Priestern erteilt würden, und dass das äußere Zubehör der Gottesverehrung - Gebäude, Bilder, Symbole - abzuwerfen sei, da nur der innere Glaube zähle. Sie forderten die Menschen dazu auf, den Zehnten nicht zu zahlen und leugneten die Existenz des Fegefeuers, dessen Erfindung dem Klerus über bezahlte Messen und den Verkauf von Ablässen viel Geld eingebracht hatte. Die Kirche wiederum benutzte den Vorwurf der Häresie, um jegliche Form sozialer und politischer Aufsässigkeit anzugreifen. Als die Tucharbeiter von Ypern (Flandern) im Jahr 1377 bewaffnet gegen ihre Arbeitgeber vorgin­ gen, wurden sie nicht nur als Rebellen gehängt, sondern auch von der Inqui­ sition als Häretiker verbrannt (N. Cohn 1998: 114). Dokumentiert ist auch, dass Weberinnen mit der Exkommunizierung gedroht wurde, wenn sie ihr Arbeitsprodukt nicht zeitig bei den Kaufleuten ablieferten oder ihre Arbeit nicht angemessen erledigten (Volpe 1971: 31). Um seine bäuerlichen Pächter zu bestrafen, die sich weigerten, den Zehnten zu zahlen, rief der Bischof von Bremen 1234 einen Kreuzzug gegen sie aus, „als ob sie Ketzer wären (Lam­ bert 2001: 110). Häretiker wurden jedoch auch von weltlichen Autoritäten verfolgt, vom Kaiser bis zu den städtischen Patriziern. Denn die weltlichen

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Autoritäten begriffen, dass die Bezugnahme auf den „wahren Glauben“ sub­ versive Folgen hatte und die Grundlage ihrer Macht in Frage stellte. Die Häresie war ebenso eine Kritik sozialer Hierarchien und ökonomi­ scher Ausbeutung wie eine Denunziation klerikaler Korruption. Gioacchino Volpe weist daraufhin, dass die Ablehnung sämtlicher Formen von Autorität und eine ausgeprägte antikommerzielle Haltung gemeinsame Eigenschaften aller Sekten waren. Viele Häretiker trafen sich in ihrer Orientierung am Ideal apostolischer Armut19 sowie in ihrem Wunsch nach einer Rückkehr zu dem einfachen gemeinschaftlichen Leben, durch das sich die frühe Kirche ausge­ zeichnet hatte. Einige, wie die Armen von Lyon und die Brüder und Schwes­ tern des Freien Geistes, lebten von Almosen. Andere bestritten ihren Lebens­ unterhalt durch körperliche Arbeit.20 Wieder andere experimentierten mit dem „Kommunismus“, etwa die frühen Taboriten in Böhmen, denen an der Gütergemeinschaft ebenso viel lag wie an religiösen Reformen.21 Auch über die Waldenser berichtete ein Inquisitor, sie würden sämtliche Formen des Handels meiden, um ohne „Lügen, Betrug und Schwüre“ auszukommen. Er berichtete weiter, dass sie barfuß gingen, wollene Kleider trugen und nichts besaßen; wie die Apostel würden sie alles Eigentum teilen (Lambert 2001: 66). Am besten kommt der soziale Gehalt der Häresie jedoch in den Worten von John Ball zum Ausdruck, des intellektuellen Anführers des englischen Bauernaufstandes von 1381. Ball verurteilte den Sachverhalt, „dass wir im Ebenbild Gottes geschaffen sind, aber wie Tiere behandelt werden.“ Er fügte hinzu: „Nichts wird in England gut von statten gehen [...], solange es Herren und Knechte gibt“ (Dobson 1983: 371).22 Die einflussreichste der häretischen Sekten, die der Katharer, sticht aus der Geschichte europäischer Sozialbewegungen hervor, weil sie den Krieg (einschließlich der Kreuzzüge) verabscheute, die Todesstrafe verurteilte (was das erste explizite Bekenntnis der Kirche zu dieser Praxis nach sich zog)23 und sich anderen Religionen gegenüber tolerant zeigte. Bis zum Kreuzzug gegen die Albigenser war Südfrankreich ihre Hochburg. Die Region galt „als ein sicherer Zufluchtsort für Juden, in einer Zeit, da der Antisemitismus in Europa auf dem Vormarsch war; aus der Verquickung katharischen und jüdischen Denkens entstand [hier] die Kabbala, die mystische Tradition des Judentums“ (Spencer 1995b: 171). Die Katharer lehnten auch Ehe und Zeu­ gung ab. Außerdem waren sie strikte Vegetarier, da sie sich zum einen weiger­ ten, Tiere zu töten, und zum anderen Nahrungsmittel wie Eier und Fleisch, die das Ergebnis geschlechtlicher Zeugung sind, meiden wollten. Diese ablehnende Haltung gegenüber der körperlichen Geburt ist dem Einfluss dualistischer Sekten aus dem Orient zugeschrieben worden. Zu die­ sen Sekten zählten die Paulikianer, eine ikonoklastische Strömung, die die Zeugung als den Akt ablehnte, durch den die Seele in der stofflichen Welt gefangen werde (Erbstösser 1987: 20-46), vor allem aber die Bogomilen, die ihre Anhänger im 10. Jahrhundert unter den Bauern des Balkans rekrutier-

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Bauern erhängen einen Mönch, der Ablässe verkauft hat. Niklaus Manuel Deutsch, 1525. ten. Die Bogomilen waren eine volkstümliche Bewegung, „die unter Bauern entstand, deren materielles Elend ihr Bewusstsein für die Schlechtigkeit der Dinge geschärft hatte“ (Spencer 1995b: 15). Sie lehrten, die sichtbare Welt sei das Werk des Teufels (denn in einer von Gott geschaffenen Welt komme

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das Gute an erster Stelle) und weigerten sich, Kinder zu zeugen, um keine neuen Sklaven in dieses „Reich der Trübsal“ zu bringen, wie sie die Welt in einem ihrer Traktate nannten (Wakefield und Evans 1991: 457). Der Einfluss der Bogomilen auf die Katharer ist gut belegt,24 und die Ablehnung von Ehe und Zeugung seitens der Katharer geht wahrschein­ lich auf eine ähnliche Verweigerung gegenüber einer „auf das bloße Überle­ ben reduzierten Existenz“ zurück (Vaneigem 1998: 72), und nicht auf einen „Todeswunsch“ oder auf Verachtung des Lebens. Dafür spricht die Tatsache, dass der Anti-Natalismus der Katharer nicht mit einer abschätzigen Sicht auf Frauen und Sexualität einherging, wie es bei Philosophien, die das Leben und den Körper verachten, häufig der Fall ist. Frauen spielten in den Sek­ ten eine wichtige Rolle. Was die Einstellung der Katharer angeht, so scheint es, dass sich die „Vollkommenen“ des Geschlechtsverkehrs enthielten, von den übrigen Mitgliedern aber keine sexuelle Abstinenz erwartet wurde. Man­ che äußerten sich auch abfällig über die Bedeutung, die der Keuschheit von der Kirche zugewiesen wurde; sie vertraten die Ansicht, dass darin eine Überbewertung des Körpers angelegt sei. Manche Häretiker schrieben dem Geschlechtsakt eine mystische Bedeutung zu. Sie behandelten ihn sogar wie ein Sakrament (Christeria) und predigten, der Zustand der Unschuld sei eher über sexuelle Praxis als über sexuelle Enthaltsamkeit zu erreichen. So wurden die Häretiker ironischerweise sowohl ob ihrer extremen Askese als auch ob ihrer Freizügigkeit verfolgt. Die sexuellen Lehren der Katharer waren offenkundig eine feinsinnige Weiterentwicklung bestimmter Themen, auf die sie durch ihre Begegnung mit den häretischen Religionen des Orients gestoßen waren. Die Beliebtheit, derer sie sich erfreuten, und der Einfluss, den sie auf andere Häresien ausüb­ ten, bezeugen aber auch einen breiteren, in den Ehe- und Reproduktionsver­ hältnissen des Mittelalters verankerten Erfahrungshorizont. Wir wissen, dass es im Mittelalter aufgrund der Knappheit an verfüg­ barem Boden sowie aufgrund der protektionistischen Maßnahmen, mit denen die Zünfte den Zugang zu den Gewerken beschränkten, weder für Bauern noch für Handwerker möglich oder wünschenswert war, viele Kin­ der zu zeugen. Tatsächlich bemühten sich Gemeinschaften von Bauern und Handwerkern, die Geburtenzahl zu beschränken. Das am weitesten verbrei­ tete Mittel bestand im Hinauszögern der Ehe. Auch strenge Christen heira­ teten, wenn überhaupt, erst spät. Es galt der Grundsatz: „Ohne Land keine Ehe“ (Homans 1969: 37-39). Daher war eine große Zahl junger Menschen gezwungen, entweder sexuell enthaltsam zu leben oder aber gegen das kirch­ liche Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs zu verstoßen. Man kann sich vorstellen, dass die häretische Ablehnung der Zeugung unter diesen Menschen einigen Anklang fand. Mit anderen Worten: Es ist denkbar, dass die sexuellen und reproduktiven Kodizes der Häretiker Spuren eines mit­ telalterlichen Versuches der Geburtenkontrolle enthalten. Das würde erklä-

46 ren, warum die Häresie im 14. Jahrhundert mit reproduktiven Verbrechen in Verbindung gebracht wurde, insbesondere mit „Sodomie“, Kindestötung und Abtreibung: Das Jahrhundert war von einer schweren demographischen Krise sowie von Arbeitskräfteknappheit geprägt, und das Bevölkerungswachs­ tum wurde zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Frage. Ich möchte damit nicht behaupten, dass die reproduktiven Lehren der Häretiker entscheidende demographische Auswirkungen gehabt hätten. Doch entstand in Italien, Frankreich und Deutschland für mindestens zweihundert Jahre ein politi­ sches Klima, in dem jede Form der Verhütung (einschließlich der „Sodo­ mie“, also des Analverkehrs) mit Häresie in Verbindung gebracht wurde. Die Bedrohung, die die sexuellen Lehren der Häretiker für die Orthodoxie dar­ stellten, muss auch in den Kontext kirchlicher Bemühungen um die Kon­ trolle der Ehe und der Sexualität gestellt werden. Diese Kontrolle erlaubte es der Kirche, jeden und jede - vom Kaiser bis zur ärmsten Bäuerin - unter ihre Aufsicht und Disziplinarherrschaft zu stellen. Die Politisierung der Sexualität

In The Serpent and the Goddess (1989), einer Studie über das Vordrin­ gen des Christentums ins keltische Irland, weist Mary Condren auf die lange europäische Vorgeschichte der kirchlichen Bemühungen um die Regulierung des Sexualverhaltens hin. Der Klerus erkannte bereits sehr früh (im 4. Jahr­ hundert, als das Christentum zur Staatsreligion wurde) die aus dem sexuel­ len Begehren erwachsende Macht der Frauen über die Männer, und bemühte sich hartnäckig, diese Macht zu brechen, indem er Heiligkeit mit der Ver­ meidung von Frauen und Sexualität in Verbindung brachte. Der Ausschluss der Frauen aus sämtlichen Momenten der Liturgie sowie aus der Verabrei­ chung der Sakramente; der Versuch, sich durch das Tragen weiblicher Klei­ dung die lebensspendende, magische Macht der Frauen anzueignen - dies waren die Mittel, durch die eine patriarchale Kaste versuchte, Macht und erotische Anziehungskraft der Frauen zu brechen. Im Zuge dieser Entwick­ lung „wurde der Sexualität eine neue Bedeutung verliehen. [...] Sie wurde zum Gegenstand des Bekenntnisses, in dem die kleinsten Einzelheiten der intimsten Körperfunktionen zum Diskussionsthema wurden“, während „die verschiedenen Aspekte der Sexualität aufgeteilt wurden in Gedanken, Worte, Absichten, unfreiwillige Triebe und tatsächliche Sexualhandlungen, um auf diese Weise eine Wissenschaft der Sexualität zu begründen“ (Condren 1989: 86-87). Die Bußbücher sind für die Rekonstruktion des kirchlichen Sexual­ kanons besonders nützlich: Diese Handbücher wurden ab dem 7. Jahrhun­ dert als praktische Leitfäden für die Beichtväter herausgegeben. Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit (1977a) betont Foucault die Rolle, die diese Handbücher bei der Entstehung der Sexualität als Diskurs spielten, sowie bei der einer vielgestaltigeren Auffassung von Sexualität im 17. Jahr­ hundert. Die Bußbücher waren jedoch bereits im Mittelalter ausschlagge-

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bend für die Entstehung eines neuen sexuellen Diskurses. Diese Texte zeigen, dass die Kirche versuchte, einen genuinen sexuellen Katechismus durchzu­ setzen, der bis ins kleinste Detail die beim Geschlechtsverkehr erlaubten Stel­ lungen vorschrieb (tatsächlich war nur eine erlaubt), aber auch die Tage, an denen Geschlechtsverkehr praktiziert werden durfte, sowie die Personen, mit denen er erlaubt war oder nicht. Diese sexuelle Beaufsichtigung erreichte im 12. Jahrhundert einen Höhe­ punkt, als die Laterankonzile der Jahre 1123 und 1139 einen neuen Kreuzzug gegen die weitverbreitete Praxis klerikaler Eheschließung und klerikalen Konkubinats ausriefen.25 Die Ehe wurde zu einem Sakrament erklärt, dessen Schwüre durch keine irdische Macht aufzuheben seien. Bei dieser Gelegen­ heit wurden auch die in den Bußbüchern festgelegten Beschränkungen des Sexualakts wiederholt.26 Vierzig Jahre später, anlässlich des Dritten Lateran­ konzils von 1179, verstärkte die Kirche dann ihren Angriff auf die „Sodo­ mie“, der sowohl auf Homosexuelle als auch auf nicht an der Kinderzeugung ausgerichteten Geschlechtsverkehr abzielte (Boswell 1980: 277-286). Die Homosexualität wurde (als „widernatürliche Unzucht“, vitium contra naturarri) erstmals von der Kirche verurteilt (Spencer 1995: 114). Mit der Verabschiedung dieser repressiven Vorschriften wurde die Sexua­ lität restlos politisiert. Noch haben wir es nicht mit der morbiden Besessen­ heit zu tun, mit der die Katholische Kirche sexuelle Angelegenheiten später verhandeln sollte. Doch ist im 12. Jahrhundert bereits zu erkennen, wie die Kirche nicht nur in die Schlafzimmer ihrer Gemeindemitglieder linst, son­ dern die Sexualität darüber hinaus auch zur Staatsangelegenheit macht. Die heterodoxen sexuellen Entscheidungen der Häretiker müssen also auch als antiautoritäre Positionsbestimmung gesehen werden: als Versuch der Häreti­ ker, ihre Körper dem Zugriff des Klerus zu entziehen. Ein deutliches Beispiel für diese antiklerikale Rebellion bietet der im 13. Jahrhundert zu verzeich-

Eestrafung des Ehebruchs. Die aneinander gefesselten Liebhaber werden durch die Straße erführt. Aus einem Manuskript desJahres 1 2 9 6 aus Toulouse, Frankreich.

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nende Aufstieg neuer pantheistischer Sekten wie der Amalrikaner und der Brüder und Schwestern des Freien Geistes. Gegen die kirchlichen Versuche, das Sexualverhalten zu reglementieren, predigten diese Sekten, dass Gott uns allen innewohne, weshalb es uns unmöglich sei zu sündigen. Frauen und Häresie

Einer der bedeutendsten Aspekte der häretischen Bewegung ist der hohe Status, den sie Frauen zusprach. Um es mit Gioacchino Volpe zu sagen: In der Kirche waren Frauen nichts, hier jedoch galten sie als gleich; sie hatten dieselben Rechte wie Männer und genossen ein gesellschaftliches Leben und eine Mobilität (Wandern, Predigen), die ihnen im Mittelalter sonst nirgends offenstanden (Volpe 1971: 20; Koch 1983: 247). In den häretischen Sekten, vor allem bei den Katharern und Waldensern, waren Frauen berechtigt, die Sakramente zu verabreichen, zu predigen und zu taufen; sie konnten sogar priesterliche Ränge erwerben. Berichten zufolge brach Petrus Valdes mit der Orthodoxie, weil sich sein Bischof weigerte, Frauen predigen zu lassen. Von den Katharern heißt es, sie hätten eine weibliche Gestalt verehrt, die Herrin des Geistes; sie soll Dantes Darstellung der Beatriz beeinflusst haben (Taylor 1977: 86). Die Häretiker erlaubten es Männern und Frauen, auch außerhalb der Ehe zusammen zu leben, da sie nicht die Befürchtung hegten, dass dies notwendigerweise zu promiskuitivem Verhalten führen würde. Häretische Männer und Frauen lebten oft frei zusammen, wie Brüder und Schwestern, ganz wie in den agapistischen Gemeinden der Frühkirche. Frauen gründeten auch ihre eigenen Gemeinschaften. Ein typischer Fall war der der Beginen. Es handelte sich um nichtgeistliche Frauen aus der städtischen Mittelschicht, die gemeinschaftlich lebten (vor allem in Deutschland und Flandern) und ihren Unterhalt durch ihre Arbeit bestritten, ohne von Männern kontrol­ liert zu werden oder sich der monastischen Herrschaft zu fügen (McDonnell 1954; Neel 1989).27 Es überrascht nicht, dass die Frauen in der Geschichte der Häresie prä­ senter sind als in irgendeinem anderen Bereich des mittelalterlichen Lebens (Volpe 1971: 20). Gottfried Koch zufolge stellten sie bereits im 10. Jahrhun­ dert einen Großteil der Bogomilen. Im 11. Jahrhundert waren es wiederum die Frauen, die die häretischen Bewegungen Frankreichs und Italiens beleb­ ten. Zu dieser Zeit stammten die Häretikerinnen aus der niedrigsten Schicht der Leibeigenen. Sie bildeten eine genuine Frauenbewegung, die sich im Rah­ men der verschiedenen häretischen Gruppen entwickelte (Koch 1983: 246— 247). Häretikerinnen finden sich auch in den Aufzeichnungen der Inqui­ sition. Wir wissen, dass einige von ihnen verbrannt, andere lebenslänglich „eingemauert“ wurden. Lässt sich sagen, dass die „sexuelle Revolution“ der Häretiker auf diese deutliche weibliche Präsenz innerhalb der häretischen Sekten zurückgeht? Oder sollten wir eher annehmen, dass es sich beim R uf nach „freier Liebe“

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Eine Häretikerin, die zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden ist. Frauen waren in den häretischen Bewegungen aller Länder stark vertreten. um ein männliches Kalkül handelte, bei dem es darum ging, sich leichten Zugang zu den sexuellen Gefälligkeiten der Frauen zu verschaffen? Diese Fra­ gen sind nicht leicht zu beantworten. Wir wissen jedoch, dass Frauen ver­ suchten, ihre generative Funktion zu regulieren, denn in den Bußbüchern



finden sich zahlreiche Hinweise auf Abtreibungen und die Verwendung von Verhütungsmitteln durch Frauen. Denkt man an die spätere Kriminalisie­ rung solcher Praktiken im Zuge der Hexenverfolgungen, dann ist es bezeich­ nend, dass Verhütungsmittel als „Unfruchtbarkeitstränke“ oder maleficia bezeichnet wurden (Noonan 1969: 186-193), und dass angenommen wurde, dass es die Frauen waren, die von ihnen Gebrauch machten. Im frühen Mittelalter behandelte die Kirche diese Praktiken noch mit einer gewissen Nachsicht, denn es wurde anerkannt, dass Frauen ökonomi­ sche Gründe haben konnten, um ihre Fruchtbarkeit einzuschränken. Im Decretum von Burchard, des Bischofs von Worms (ca. 1010), steht die rituell vorgetragene Frage: „Hast du das getan, was manche Frauen zu tun pflegen, wenn sie Unzucht treiben und ihre Leibesfrucht töten wollen, nämlich mit ihren maleficia und ihren Kräutern so zu handeln, daß sie den Embryo töten oder beseitigen, oder, wenn sie noch nicht empfangen haben, es so ein­ zurichten, daß sie nicht empfangen?“ (Noonan 1965: 192-193) Danach heißt es, die Schuldigen sollten zehn Jahre lang büßen. Es wird jedoch auch festgehalten, dass es „ein großer Unterschied“ sei, „ob sie eine arme Frau ist und solches tut, weil sie Not hat, ihre Kinder zu ernähren, oder ob sie es tut, um ein Verbrechen der Unzucht zu verbergen“ (Noonan 1965: 193). Die Lage änderte sich jedoch drastisch, sobald die Kontrolle der Frauen über die Reproduktion die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität zu bedrohen schien. Dies war nach der demographischen Katastrophe der Fall, die der „Schwarze Tod“ auslöste, jene apokalyptische Seuche, die zwischen 1347 und 1352 mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung auslöschte (Ziegler 1969: 230). Wir werden später noch sehen, welche Rolle dieses demographische Desaster in der „Arbeitskrise“ des späten Mittelalters gespielt hat. Hier genügt es festzuhalten, dass infolge der Ausbreitung der Pest die Verfolgung der Häre­ sie stärker auf deren sexuelle Aspekte fokussierte, wobei es zu grotesken Ver­ zerrungen kam, die spätere Darstellungen des Hexensabbats vorwegnahmen. Bis Mitte des 14. Jahrhunderts begnügten sich die Berichte der Inquisitoren nicht länger damit, die Häretiker der Sodomie oder der sexuellen Freizügig­ keit zu beschuldigen. Jetzt wurde den Häretikern vorgeworfen, Tiere zu ver­ ehren, etwa durch den berüchtigten bacium sub cauda (Kuss unterhalb des Schwanzes), sowie orgiastische Rituale, Nachtflüge und Kinderopfer zu ver­ anstalten (Russell 1972). Die Inquisitoren berichteten auch von der Existenz einer Sekte von Teufelsverehrern, die Luziferaner genannt wurden. Entspre­ chend dieser Entwicklung, die den Übergang von der Verfolgung der Häresie zur Hexenverfolgung markiert, wurde die Figur des Häretikers immer häufi­ ger die einer Frau. So zielte die Verfolgung der Häretiker bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts vor allem auf Hexen ab.

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Das war jedoch nicht das Ende der häretischen Bewegung. Einen letzten Höhepunkt erreichte sie im Jahr 1533, als die Wiedertäufer in der deutschen Stadt Münster einen Gottesstaat einzurichten versuchten. Der Versuch wurde in einem Blutbad erstickt. Es folgte eine Welle gnadenloser Repressalien, die sich auf die proletarischen Kämpfe in ganz Europa auswirkte (Po Chia Hsia 1988a: 51-69). Bis dahin hatte weder die strenge Verfolgung noch die Dämonisierung der Häresie der Verbreitung der häretischen Glaubenssätze Einhalt gebieten können. Antonino di Stefano schreibt, Exkommunizierung, die Beschlag­ nahme von Eigentum, Folter, der Tod auf dem Scheiterhaufen und das Aus­ rufen von Kreuzzügen gegen die Häretiker hätten „die ungeheure Vitalität und Beliebtheit“ der haereticapravitatis (des häretischen Übels) sämtlich nicht unterbinden können (di Stefano 1950: 769). „Es gibt nicht eine Gemeinde“, schrieb Jakob von Vitry zu Beginn des 13. Jahrhunderts, „in der die Häre­ sie über keine Unterstützer, Verteidiger und Anhänger verfügt.“ Selbst nach dem Kreuzzug gegen die Albigenser im Jahr 1215, bei dem die Festungen der Katharer zerstört wurden, blieb die Häresie (neben dem Islam) für die Kir­ che die Hauptfeindin und die Hauptbedrohung. Die Anhänger der Häresie stammten aus allen Gesellschaftsschichten: aus der Bauernschaft, den niede­ ren Rängen des Klerus (die sich mit den Armen identifizierten und die Spra­ che des Evangeliums beisteuerten), den Bürgern der Städte und sogar dem niederen Adel. Die volkstümliche Häresie war jedoch vor allem ein Unterklassen-Phänomen. Das Umfeld, in dem sie gedieh, war das des städtischen und ländlichen Proletariats: Bauern, Schuster und Tucharbeiter, „denen sie Gleichheit predigte, und deren Widerstandsgeist sie durch prophetische und apokalyptische Prophezeiungen anstachelte“ (di Stefano 1950: 776). Einen Eindruck von der Beliebtheit der Häretiker vermitteln uns die Prozesse, die noch in den 1330er Jahren in der Gegend um Trient (Nordi­ talien) von der Inquisition geführt wurden. Angeklagt waren Menschen, die Apostoliker aufgenommen hatten, als sich deren Anführer Fra Dolcino drei­ ßig Jahre zuvor in der Gegend aufgehalten hatte (Orioli 1993: 217-237). Bei seiner Ankunft hatten viele ihre Türen geöffnet, um Dolcino und seinen Anhängern Unterkunft zu bieten. Auch als Fra Dolcino 1304 das Kommen eines heiligen Reiches der Armut und Liebe ankündigte und in den Bergen des Vercellese (im Piemont) eine Gemeinde einrichtete, wurde er von den lokalen Bauern, die sich bereits in einem Aufstand gegen den Bischof von Vercelli befanden, unterstützt (Mornese und Buratti 2000). Drei Jahre lang hielten die Dolcinianer den Kreuzzügen und der vom Bischof gegen sie ver­ hängten Blockade stand. Dabei kämpften Frauen in Männerkleidung Seite an Seite mit Männern. Letztlich wurden sie vom Hunger und der überwältigen­ den Überlegenheit der gegen sie mobilisierten kirchlichen Heere besiegt (Lea 1985: 499-505; Hilton 1973: 108). An dem Tag, an dem die vom Bischof von Vercelli gegen sie rekrutierten Truppen schließlich obsiegten, „starben

5* mehr als tausend Häretiker in den Flammen, oder im Fluss, oder durch das Schwert, auf die grausamste Art.“ Dolcinos Gefährtin Margherita wurde vor seinen Augen langsam lebendig verbrannt, da sie sich abzuschwören weigerte. Dolcino selbst wurde langsam über die Bergstraßen gefahren und nach und nach in Stücke gerissen, als abschreckendes Beispiel für die Lokalbevölkerung (Lea 1985: 505). Städtische Kämpfe

Nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Bauern und städtische Arbeiterinnen entdeckten in der häretischen Bewegung ihre gemeinsame Sache. Die Interessenidentität von Menschen, denen man ansonsten unter­ schiedliche Anliegen und Bestrebungen zuschreiben würde, hatte verschie­ dene Gründe. Erstens gab es im Mittelalter eine enge Beziehung zwischen Stadt und Land. Viele Bürger waren ehemalige Leibeigene, die in die Stadt gezogen oder dorthin geflohen waren, weil sie auf ein besseres Leben hoff­ ten. Sie übten zwar ein Handwerk aus, betätigten sich aber auch weiterhin im Landbau, insbesondere zur Erntezeit. Ihre Gedanken und Wünsche waren weiterhin stark vom dörflichen Leben und von ihrer anhaltenden Beziehung zum Land geprägt. Bauern und städtische Arbeiter verband außerdem die Tatsache, dass sie den gleichen politischen Herrschern unterstanden, da sich Landadel und städtische Kaufleute im 13. Jahrhundert wechselseitig assi­ milierten (insbesondere in Nord- und Mittelitalien); sie stellten eine ein­ heitliche Machtstruktur dar. Diese Situation führte unter den Arbeitern zu gemeinsamen Anliegen und zu Solidarität. Wann immer die Bauern rebel­ lierten, standen ihnen die Handwerkerinnen und Tagelöhner zur Seite, und die wachsende Masse der städtischen Armen ebenso. Das war etwa bei dem Bauernaufstand an der flandrischen Küste der Fall, der 1323 ausbrach und im Juni 1328 zu Ende ging, nachdem der König von Frankreich und der flä­ mische Adel die Rebellen 1327 in Kassel geschlagen hatten. David Nicholas schreibt: ,,[D]ie Fähigkeit der Rebellen, den Konflikt fünf Jahre lang fortzu­ setzen, ist nur durch die Beteiligung der Stadt zu erklären“ (Nicholas 1992: 213-214). Nicholas fügt hinzu, dass sich die Handwerker von Ypern und Brügge bis zum Ende des Jahres 1324 den aufständischen Bauern angeschlos­ sen hatten: „Brügge stand nun unter der Kontrolle der Weber und Walker, die sich der Revolte der Bauern anschlossen. [...] Es begann ein Propaganda­ krieg: Mönche und Prediger verkündeten den Massen den Anbruch eines neuen Zeitalters und sagten ihnen, sie seien den Adeligen eben­ bürtig.“ (Ebd.) Ein weiteres Bündnis zwischen Bauern und Arbeitern war das der Tuchiner, einer Bewegung von „Banditen“, die in den Bergen Zentralfrankreichs aktiv waren. Dort schlossen sich Handwerker einer für die ländliche Bevölkerung typischen Organisation an (Hilton 1973: 128).

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Was die Bäuerinnen und Handwerker einte, war ihr gemeinsames Stre­ ben nach der Aufhebung sozialer Unterschiede. Dies geht, wie Norman Cohn schreibt, aus Dokumenten verschiedener Art hervor: „In dieser neuen Welt eines ungeahnten Wohlstands Seite an Seite nicht nur mit großer Armut, sondern auch schrecklicher und ungewohnter Unsicherheit ließen sich die Armen mit häufigen und lauten Protes­ ten vernehmen. Sie sind uns in Dokumenten von vielerlei Art erhalten geblieben - wie in den von den Armen selber geschaffenen Sprichwör­ tern: ,Der Arme arbeitet immer, sorgt sich und schuftet und weint, und nie lacht er herzhaft; der Reiche aber lacht und singt../ [...] - und auch in den am meisten gelesenen und wirksamen Satiren: ,Magistratspersonen, Bürgermeister, Profosse, Büttel - leben fast alle vom Raub... Sie saugen der Armen Blut, sie alle wollen sie ausplün­ dern... sie schinden sie bei lebendigem Leib. Der Stärkere beraubt den Schwächeren../ Oder aber: - ,Ich möchte die Edelleute und Priester erwürgen, jeden einzelnen von ihnen... Brave Arbeitsleute backen das Weizenbrot, aber sie werden es nie kauen; nein, sie bekommen nur die Spreu, und vom guten Wein bekommen sie nichts als den Bodensatz, und vom schönen Tuch nur den Abfall. Alles, was gut schmeckt und schön ist, bekommen die Edelleute und Priester... ‘“ (N. Cohn 1998: 107-108) Diese Klagen belegen den tiefsitzenden volkstümlichen Unmut über die Ungleichheit der „großen“ und der „kleinen Vögel“, oder der „dicken“ und der „mageren Menschen“, wie die Reichen und die Armen in der politischen Ausdrucksweise der Florentiner des 14. Jahrhunderts genannt wurden. „Gute Leute, die Dinge können und werden sich in England niemals gut gestalten, bis alles allen gehört und es weder Herrscher noch Leibeigene gibt und wir alle eines Standes sind“, erklärte John Ball bei der Organisierung des engli­ schen Bauernaufstands von 1381 (N. Cohn 1998: 220). Wie wir gesehen haben, drückte sich dieses Streben nach einer egalitärer verfassten Gesellschaft in der Begeisterung für die Armut und die Güterge­ meinschaft aus. Die Bekräftigung einer egalitären Perspektive spiegelte sich jedoch auch in einer neuen Einstellung zur Arbeit, die nirgends so erkenn­ bar war wie in den häretischen Sekten. Einerseits haben wir es mit einer Stra­ tegie der „Arbeitsverweigerung“ zu tun: Die französischen Waldenser (die Armen von Lyon) und die Mitglieder einiger Orden (Franziskaner, Spirituale) bestritten ihren Unterhalt durch Bettelei und verließen sich auf die Mildtätig­ keit ihrer Mitmenschen, da sie von irdischen Sorgen frei zu sein wünschten. Andererseits begegnen wir auch einer neuen Aufwertung der Arbeit, insbe­ sondere der Handarbeit. Dieser Ansatz wurde am bewusstesten von den eng­ lischen Lollarden formuliert, die ihre Anhängerinnen daran erinnerten, dass die Adeligen schöne Häuser, die Armen jedoch nur Arbeit und Mühsal hät-

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ten, obgleich es doch die Arbeit sei, die alles schaffe (ebd.; Christie-Murray 1976: 114-115). Die Bezugnahme auf den „Wert der Arbeit“ - ein Novum in dieser von einer militärischen Klasse dominierten Gesellschaft - fungierte in erster Linie als Erinnerung an den willkürlichen Charakter der feudalen Macht. Das neue Bewusstsein verweist aber auch auf die Entstehung neuer gesellschaftlicher Kräfte, die beim Niedergang des Feudalsystems eine entscheidende Rolle spielten. In dieser Aufwertung der Arbeit spiegelt sich die Entstehung eines städ­ tischen Proletariats. Es bestand zum Teil aus Gesellen und Lehrlingen, die für Handwerksmeister arbeiteten, die wiederum für den lokalen Markt produ­ zierten. Vor allem aber bestand es aus Tagelöhnern, die von den reichen Kauf­ leuten der exportorientierten Industrien beschäftigt wurden. An der Wende zum 14. Jahrhundert waren in den Tuchindustrien von Florenz, Siena und Flandern Agglomerationen von bis zu 4.000 solcher Tagelöhner (Weber, Wal­ ker, Färber) zu verzeichnen. Für sie war das Leben in der Stadt nur eine Leibeigenschaft neuen Typs; diesmal unterstanden sie der Herrschaft der Tuchhändler, die ihre Tätigkeit aufs strengste kontrollierten und eine aus­ gesprochen despotische Klassenherrschaft ausübten. Städtischen Lohnarbei­ tern war es nicht möglich, sich in irgendeiner Form zusammenzuschließen. Es war ihnen verboten, sich an irgendeinem Ort zu irgendeinem Zweck zu treffen. Sie durften keine Waffen bei sich tragen, noch nicht einmal ihr Werk­ zeug, und sie unterlagen einem Streikverbot, dessen Übertretung mit dem Tod geahndet wurde (Pirenne 1956: 132). In Florenz verfügten sie über kei­ nerlei Bürgerrechte; anders als die Gesellen waren sie in keiner Zunft Mit­ glied, und sie waren den grausamsten Misshandlungen durch die Kaufleute ausgesetzt. Letztere regierten nicht nur die Stadt, sondern sie verfügten auch über ihr eigenes Tribunal. Die Kaufleute konnten die Arbeiter ungestraft aus­ spionieren, verhaften und foltern; beim leisesten Anzeichen von Unruhe wur­ den die Arbeiter gehängt (Rodolico 1971). Unter diesen Arbeiterinnen finden wir die extremsten Formen des Sozi­ alprotestes und die breiteste Zustimmung zu den Ideen der Häretiker (Rodo­ lico 1971: 56-59). Durch das gesamte 14. Jahrhundert hindurch rebellier­ ten die Tucharbeiter, vor allem in Flandern, ständig gegen den Bischof, den Adel, die Kaufleute und sogar gegen die größeren Handwerkszünfte. Als letz­ tere 1348 in Brügge die Macht übernahmen, fuhren die Wollarbeiter darin fort, gegen sie zu rebellieren. In Gent wurde eine Revolte des lokalen Bür­ gertums 1335 von einem Weberaufstand überflügelt; die Weber versuch­ ten, eine „Arbeiterdemokratie“ durchzusetzen, die auf der Unterdrückung aller Autoritäten beruhen sollte, mit Ausnahme derer, die von ihrer Hände Arbeit lebten (Boissonnade 1927: 310-311). Besiegt von einer eindrucksvol­ len Koalition (Fürst, Adel, Klerus und Bürgertum), unternahmen die Weber 1378 einen erneuten Versuch. Diesmal gelang ihnen der Aufbau dessen, was

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(möglicherweise leicht übertrieben) als die erste „Diktatur des Proletariats“ der Geschichte bezeichnet worden ist. Ihr Ziel bestand Prosper Boissonnade zufolge darin, „die Gesellen gegen die Meister, die Lohnarbeiter gegen die großen Unternehmer und die Bauern gegen die Herren und den Klerus auf­ zubringen. Es ist gesagt worden, dass sie die Vernichtung der gesamten bür­ gerlichen Klasse ins Auge gefasst hätten, mit Ausnahme der Kinder unter sechs Jahren, und das gleiche für den Adel“ (Boissonnade 1927: 311). Sie wurden erst durch eine Schlacht auf offenem Feld besiegt, 1382 in Roosebeke, wo 26.000 von ihnen ihr Leben ließen (ebd.). Bei den Vorfällen in Brügge und Gent handelte es sich nicht um isolierte Ereignisse. Auch in Deutschland und Italien rebellierten die Handwerker und Arbeiter bei jeder Gelegenheit und zwangen das lokale Bürgertum, in einem Zustand ständiger Furcht zu leben. In Florenz ergriffen sie 1379 die Macht, angeführt von den Ciompi, den Tagelöhnern der florentinischen Textilindu­ strie.28 Auch sie etablierten eine Arbeiterregierung, doch konnte sich diese nur wenige Monate halten, bis sie dann 1382 endgültig besiegt wurde (Rodolico 1971). Die Arbeiter im niederländischen Lüttich waren erfolgreicher. Im Jahr 1384 kapitulierten dort der Adel und die Reichen („die Großen“, wie sie genannt wurden), da sie den Widerstand, den sie über ein Jahrhundert lang geleistet hatten, nicht mehr aufrechterhalten konnten. Von da an „war die Stadt vollständig von den Zünften beherrscht“; sie wurden die Lenker der Stadtverwaltung (Pirenne 1937: 201). Die Handwerker hatten auch die auf­ ständischen Bauern an der flandrischen Küste während ihres von 1323 bis 1328 dauernden Kampfes unterstützt; Pirenne beschreibt diesen Kam pf als „genuinen Versuch einer sozialen Revolution“ (Pirenne 1937: 195). Ein flä­ mischer Zeitgenosse, dessen Klassenzugehörigkeit offenkundig ist, sagte, dort sei „die Plage des Aufstands so weit gediehen, dass die Menschen des Lebens überdrüssig geworden sind“ (Pirenne 1937: 196). So ersuchten die „guten Leute“ von Ypern zwischen 1320 und 1332 den König, den inneren Stadt­ wall, hinter dem sie lebten, nicht der Zerstörung anheim zu geben, schütze er sie doch vor den „gemeinen Menschen“ (Pirenne 1937: 202-203). Der Schwarze Tod und die Arbeitskrise

Der Schwarze Tod war ein Wendepunkt der mittelalterlichen Kämpfe. Er tötete im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Prozent der europäischen Bevölkerung (Ziegler 1969: 230). Dieser präzedenzlose demographische Kol­ laps folgte auf die Große Hungersnot von 1315 bis 1322, die die gesundheit­ lichen Abwehrkräfte der Menschen geschwächt hatte (Jordan 1996), und ver­ änderte das soziale und politische Leben Europas zutiefst; im Grunde läutete der Schwarze Tod ein neues Zeitalter ein. Soziale Hierarchien wurden auf den K opf gestellt, denn die weitverbreitete Morbidität wirkte gleichmache­ risch. Die Vertrautheit mit dem Tod unterminierte auch die soziale Disziplin. Angesichts der Möglichkeit ihres plötzlichen Todes kümmerten sich die Men-

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Jacquerie. Die Bauern griffen in Flandern 1323, in Frankreich 1 3 5 8 , in England 1381 und in Florenz, Gent und Paris 1370 sowie 1380 zu den Waffen. sehen nicht mehr darum, zu arbeiten und sich an gesellschaftliche und sexu­ elle Regelungen zu halten. Sie versuchten, ihre Lebenszeit zu genießen, so gut es ging, und feierten, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Die wichtigste Folge der Pest bestand jedoch in der Verschärfung der vom Klassenkonflikt erzeugten Arbeitskrise. Die Dezimierung der arbeitsfä­ higen Bevölkerung führte zu extremer Arbeitskräfteknappheit, steigerte den Preis der Arbeit empfindlich und bestärkte die Menschen in ihrer Entschlos­ senheit, die Ketten der Feudalherrschaft zu sprengen. Christopher Dyer weist darauf hin, dass die von der Epidemie hervor­ gerufene Arbeitskräfteknappheit die Machtverhältnisse zugunsten der Unter­ klassen veränderte. Als das Land knapp gewesen war, hatte man die Bäuerin­ nen kontrollieren können, indem man ihnen mit Verbannung drohte. Doch nachdem die Bevölkerung dezimiert worden und Land im Überfluss vorhan­ den war, zeigten die Drohungen der Herren keine nennenswerte Wirkung mehr, denn die Bauern konnten sich nun frei bewegen und ohne weiteres neues Land finden (Dyer 1968: 26). So wurden die Bauern und Handwer­ ker, während die Ernten verdarben und das Vieh frei über die Wälder zog, plötzlich die Herren des Geschehens. Ein Symptom dieser neuen Entwick­ lung war die Zunahme an Pachtstreiks, die mit der Drohung eines Massene­

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xodus auf neue Ländereien oder in die Stadt bekräftigt wurden. In den Auf­ zeichnungen der Domänen wird lakonisch festgehalten, die Bauern würden „die Zahlung verweigern“ {negant solvere). Die Unterlagen erklären auch, die Bauern würden „sich nicht länger an die Sitten halten“ (negant consuetudines): Die Befehle der Herren, Häuser zu reparieren, Gräben auszuheben und ent­ flohene Leibeigene zu jagen, würden ignoriert (Dyer 1968: 24). Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Verweigerung der Pacht und der von den Lehnsherren geforderten Dienste zu einer kollektiven Erschei­ nung geworden. Ganz Dörfer organisierten sich, um die Zahlung von Bußen, Steuern und der Taille einzustellen. Die in Geldleistungen verwandelten Frondienste wurden ebenso wenig anerkannt wie die Aufrufe der Domänen-Gerichtshöfe, die das Hauptinstrument der Feudalmacht waren. In die­ sem Kontext war das Ausmaß der einbehaltenen Pacht und der verweigerten Dienste weniger bedeutsam als die Tatsache, dass das Klassenverhältnis zer­ setzt wurde, auf dem die Feudalordnung gegründet hatte. Ein Autor des frü­ hen 16. Jahrhunderts, der den Standpunkt des Adels wiedergibt, fasste die Lage folgendermaßen zusammen: „Die Bauern sind zu reich [...] und wissen nicht, was Gehorsam ist; sie bedenken das Gesetz nicht und wünschen sich eine Welt ohne Adelige. [...] Und sie würden gern darüber bestimmen, was für eine Pacht wir für unsere Ländereien erhalten.“ (Dyer 1968: 33) In Reaktion auf die gestiegenen Arbeitskosten und den Zusammenbruch der Feudalrente wurden verschiedene Versuche unternommen, die Ausbeu­ tung der Arbeit zu steigern: durch die Wiedereinführung von Arbeitsdiensten sowie in einigen Fällen durch die Wiederbelebung der Sklaverei. In Florenz wurde 1366 die Einfuhr von Sklaven genehmigt.29 Solche Maßnahmen ver­ schärften jedoch nur den Klassenkonflikt. In England war es ein Versuch des Adels, die Arbeitskosten durch ein die Lohnhöhe beschränkendes Arbeitssta­ tut einzudämmen, die den Bauernaufstand von 1381 auslöste. Der Aufstand breitete sich von Region zu Region aus, bis schließlich tausende von Bau­ ern von Kent nach London marschierten, „um mit dem König zu sprechen“ (Hilton 1973; Dobson 1983). In Frankreich kam es ebenfalls, zwischen 1379 und 1382, zu einem „revolutionären Sturm“ (Boissonnade 1927: 314). Pro­ letarische Aufstände brachen in Béziers aus, wo vierzig Weber und Schus­ ter gehängt wurden. In Montpellier erklärten die aufständischen Arbeiter, sie würden „bis Weihnachten Christenfleisch für sechs Pence das Pfund ver­ kaufen.“ Revolten brachen in Carcassonne, Orléans, Amiens, Tournai und Rouen, schließlich auch in Paris aus, wo 1413 eine „Arbeiterdemokratie“ die Macht übernahm.30 In Italien war der bedeutendste Aufstand der der Ciompi. Er begann im Juli 1382, als florentinische Tucharbeiter das Bürger­ tum eine Zeit lang zwingen konnten, sie an der Regierung zu beteiligen und ein Moratorium aller von Lohnempfängern gemachten Schulden zu erklä­ ren. Im Anschluss proklamierten sie eine Herrschaft, die im Wesentlichen

58 eine „Diktatur des Proletariats“ war (des „Volkes Gottes“), obgleich sie schon bald durch einen gemeinsamen Angriff des Adels und Bürgertums zerschla­ gen wurde (Rodolico 1971). „Nun ist die Zeit“: Dieser in den Briefen von John Ball wiederholt gebrauchte Satz gibt Einblick in die Haltung des europäischen Proletariats am Ausgang des 14. Jahrhunderts. Damals begann in Florenz das Motiv des Glücksrads auf den Wänden der Tavernen und Werkstätten zu erscheinen: Es symbolisierte die bevorstehende Schicksalswende. Im Zuge dieser Entwicklung erweiterten sich der politische Horizont und die organisatorische Reichweite der bäuerlichen und handwerklichen Kämpfe. Ganze Regionen revoltierten; sie riefen Versammlungen ein und rekrutierten Heere. Mitunter organisierten sich die Bauern in Banden, um die Schlösser der Herren anzugreifen und die Archive zu zerstören, wo sich die schriftlichen Spuren ihrer Knechtschaft befanden. Bis zum 15. Jahr­ hundert nahm die Auseinandersetzung zwischen den Bäuerinnen und dem Adel die Form regelrechter Kriege an, etwa des Krieges der Schollenknechte {Guerra dels Remences), der von 1462 bis i486 in Spanien wütete.31 Im deut­ schen Reichsgebiet begann 1476 mit der von Hans Böheim von Niklashau­ sen (dem „Pfeiferhänslein“) angeführten Verschwörung ein Zyklus von „Bau­ ernkriegen“ . Dieser eskalierte in vier blutigen Rebellionen, die zwischen 1493 und 1517 vom sogenannten „Bundschuh“ angeführt wurden, bis es schließ­ lich 1522 zu einem größeren, bis 1525 anhaltenden und sich über vier Län­ der erstreckenden Krieg kam (Engels 1960; Blickle 1975). In all diesen Fällen begnügten sich die Rebellen nicht mit der Forderung nach einer Beschränkung der Feudalherrschaft; sie verhandelten auch nicht lediglich um bessere Lebensbedingungen. Das Ziel bestand darin, der Macht der Herren ein Ende zu setzen. Wie die englischen Bauern im Bauernaufstand von 1381 erklärten: „Das alte Gesetz muss abgeschafft werden.“ Tatsächlich war bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, zumindest in England, die Leibei­ genschaft so gut wie verschwunden, obgleich die Revolte politisch und mili­ tärisch besiegt worden war und man ihre Anführer brutal hingerichtet hatte (Titow 1969: 58). Was folgte, ist als „goldenes Zeitalter des europäischen Proletariats“ beschrieben worden (Braudel 1985: 197 ff.). Das ist weit entfernt von der kanonischen Darstellung des 15. Jahrhunderts, das ikonographisch als eine im Zeichen des Totentanzes und des memento mori stehende Welt verewigt worden ist. Thorold Rogers hat in seiner berühmten Studie der Löhne und Lebens­ bedingungen im mittelalterlichen England ein utopisches Bild dieser Epoche gezeichnet. „In keiner Zeit“, schrieb er, „waren die Löhne verhältnißmäßig so hoch und niemals die Lebensmittel so wohlfeil“ (Rogers 1906: 257). Die Arbeiter erhielten mitunter für jeden Tag des Jahres einen Lohn, obgleich am Sonntag und an den wichtigsten Feiertagen die Arbeit ruhte. Sie wurden auch

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Der Schwarze Tod vernichtete ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Er war ein Wende­ punkt der europäischen Geschichte, sowohl sozial als auch politisch. von ihren Arbeitgebern ernährt und erhielten in Form des viaticums ihren Arbeitsweg meilenweise bezahlt. Sie verlangten zusätzlich, in Geld bezahlt zu werden, und wollten nur fünf Tage die Woche arbeiten. Wie wir noch sehen werden, besteht Anlass, diesem Bild des Überflus­ ses skeptisch zu begegnen. Für einen großen Teil der westeuropäischen Bau­ ernschaft war das 15. Jahrhundert jedoch, ebenso wie für städtische Arbeiter, eine Zeit nie dagewesener Macht. Nicht nur, dass die Arbeitskräfteknapp­ heit ihnen die Oberhand gab, sondern das Spektakel der um ihre Dienste konkurrierenden Herren bestärkte sie auch in ihrem Selbstwertgefühl und löschte Jahrhunderte der Erniedrigung und Untergebenheit aus. Dem „Skan­ dal“ der hohen Lohnforderungen entsprach aus Sicht der Arbeitgeber nur die neue Arroganz der arbeitenden Bevölkerung: ihre Weigerung zu arbeiten oder weiterzuarbeiten, nachdem sie ihre Bedürfnisse befriedigt hatte (was sie nun rascher tun konnte, aufgrund der höheren Löhne); die Sturheit, mit der sie sich weigerte, sich für etwas anderes als befristete Aufgaben zur Verfügung zu stellen; ihre Forderung nach zusätzlichen Vergünstigungen, über die hohen Löhne hinaus; ihre prahlerische Kleidung, die sie, wie zeitgenössische Sozial­ kritiker bemerkten, von den Herren ununterscheidbar machte. „Diener sind nun Herren und Herren Diener“, klagte John Gower in Mirour de l ’omme (1378): „Der Bauer maßt sich an, die Gepflogenheiten des Freien nachzu­ ahmen, und nimmt mit seiner Kleidung dessen Erscheinung an“ (Hatcher 1994: 17). Auch die Lebensverhältnisse der Landlosen verbesserten sich nach dem Schwarzen Tod (Hatcher 1994). Dieses Phänomen war nicht auf England beschränkt. Im Jahr 1348 klagten die Domherren der Normandie, es finde sich niemand, der ihre Ländereien für weniger als das sechsfache dessen

6o bestellen wolle, was man zu Beginn des Jahrhunderts gezahlt habe. Die Löhne verdoppelten und verdreifachten sich in Italien, Frankreich und Deutschland (Boissonnade 1927: 316-320). In der Gegend um Rhein und Donau ent­ sprach der Tageslohn eines ländlichen Arbeiters dem Preis eines Schweines oder Schafes, und diese Löhne galten auch für Frauen, da sich das Gefälle zwischen Männer- und Frauenlöhnen im Gefolge des Schwarzen Todes dra­ stisch verringert hatte. Für das europäische Proletariat bedeutete das nicht nur einen Lebens­ standard, der bis zum 19. Jahrhundert einzigartig blieb, sondern auch den Niedergang der Leibeigenschaft. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft so gut wie verschwunden (Marx 1968: 744). Die Leibeigenen wichen überall freien Bauern —Zinslehen- oder Pachtbauern —, die nur gegen eine beträchtliche Vergütung zu arbeiten bereit waren. Sexualpolitik, der Aufstieg des Staates und die Konterrevolution

Ende des 15. Jahrhunderts war jedoch bereits auf allen Ebenen des sozi­ alen und politischen Lebens eine Konterrevolution in Gang gekommen. Zunächst bemühten sich die politischen Autoritäten um die Kooptierung der jüngsten und aufsässigsten männlichen Arbeiter. Dabei bedienten sie sich einer niederträchtigen Sexualpolitik, die den jungen Männern Zugang zu freiem Geschlechtsverkehr verlieh und den Klassenantagonismus in einen gegen die proletarischen Frauen gerichteten Antagonismus verwandelte. Wie Jacques Rossiaud in MedievalProstitution (1988) gezeigt hat, wurde die Verge­ waltigung durch die französischen Gemeindeverwalter faktisch entkrimindisiert, sofern es sich bei den Opfern um Frauen aus den Unterklassen handelte. Im Venedig des 14. Jahrhunderts führte die Vergewaltigung einer unverhei­ rateten proletarischen Frau selten zu mehr als einer Verwarnung, auch in den zahlreichen Fällen, in denen es sich um Gruppenvergewaltigungen handelte (Ruggiero 1989: 91-108). In den meisten französischen Städten war die Lage dieselbe. Dort wurde die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen eine weitverbreitete Praxis, der die Vergewaltiger nachts ganz offen und für alle vernehmbar nachgingen: Sie brachen in Gruppen von zwischen zwei und fünfzehn Männern in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die Frauen durch die Straße, ohne jeglichen Versuch zu unternehmen, sich zu verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Diesem „Sport“ gingen junge Handwerksgesellen und männliche Hausangestellte ebenso nach wie die zeit­ weilig mittellosen Söhne wohlhabender Familien. Bei den Opfern handelte es sich dagegen um Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die als Dienstmägde oder Wäscherinnen arbeiteten, wobei es hieß, dass sie von ihren Herren „aus­ gehalten“ würden (Rossiaud 1988: 22). Im Durchschnitt beteiligte sich etwa die Hälfte der männlichen Jugend einer Stadt zumindest einmal an einem dieser Angriffe. Rossiaud stellt die Vergewaltigungen als eine Form des Klas­ senprotests dar: Proletarische Männer, die durch ihre wirtschaftlichen Ver-

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hältnisse zum jahrelangen Aufschub der Ehe gezwungen gewesen seien, hät­ ten zu diesem Mittel gegriffen, um sich „zu nehmen, was ihnen zusteht“ und um sich an den Reichen zu rächen. Die Folgen waren jedoch für alle Arbeiter und Arbeiterinnen destruktiv, denn die staatlich unterstützte Vergewaltigung armer Frauen unterminierte die Klassensolidarität, die eine Errungenschaft des antifeudalen Kampfes gewesen war. Es überrascht nicht, dass die Autori­ täten die aus dieser Politik erwachsenden Belästigungen (die Prügeleien, die Rotten von Jugendlichen, die nachts auf der Suche nach Abenteuer durch die Straßen zogen und dabei die öffentliche Ruhe störten) in K auf nahmen. Sie betrachteten diese Belästigungen als geringen Preis für die Milderung der sozialen Spannungen, waren sie doch besessen von der Furcht vor städ­ tischen Aufständen und von dem Glauben, dass die Armen, so sie die Ober­ hand bekamen, ihre Frauen rauben und die Weibergemeinschaft einführen würden (Rossiaud 1988: 13). Für die von Herren und Knechten gleichermaßen leichtfertig geopfer­ ten proletarischen Frauen war der Preis ungeheuer. Einmal vergewaltigt, gab es für sie keine einfache Rückkehr zu ihrer früheren gesellschaftlichen Stel­ lung. Ihr R uf war vernichtet. Sie verließen die Stadt oder wurden Prostitu­ ierte (ebd.; Ruggiero 1985: 99). Doch sie waren nicht die einzigen, die zu leiden hatten. Die Legalisierung der Vergewaltigung schuf ein Klima heftiger Frauenfeindlichkeit, das alle Frauen abwertete, unabhängig von ihrer Klas­ senzugehörigkeit. Außerdem stumpfte die Bevölkerung gegenüber frauen­ feindlicher Gewalt ab. Damit wurde der Boden für die in eben dieser Zeit beginnenden Hexenverfolgungen bereitet. Ende des 14. Jahrhunderts kam es zu den ersten Hexenprozessen, und die Inquisition protokollierte erstmals die Existenz einer rein weiblichen Häresie, einer Sekte von Teufelsverehrerinnen. Ein weiterer Aspekt dieser entzweienden Sexualpolitik, die von den Prin­ zen und Stadtverwaltern betrieben wurde, um die Proteste der Arbeiter und Arbeiterinnen zu entschärfen, war die Institutionalisierung der Prostitution. Sie wurde durch die Eröffnung städtischer Bordelle betrieben, die sich bald in ganz Europa ausbreiteten. Die staatlich verwaltete Prostitution, die durch das damalige Hochlohnsystem ermöglicht wurde, galt als nützliches Hilfsmit­ tel gegen die Unruhe der proletarischen Jugend. In der „Grande Maison“ - so hießen die staatlichen Bordelle in Frankreich - erfreuten sich die proletari­ schen Jugendlichen eines Privilegs, das bis dahin nur ältere Männer genossen hatten (Rossiaud 1988). Das städtische Bordell wurde auch als Mittel gegen Homosexualität begriffen (Otis 1985), die in mehreren europäischen Städ­ ten (etwa Padua und Florenz) weitverbreitet war und öffentlich praktiziert wurde, im Gefolge des Schwarzen Todes jedoch als Ursache weiterer Entvöl­ kerung angesehen zu werden begann.32 So wurden zwischen 1350 und 1450 öffentlich verwaltete, mit Steuer­ geldern finanzierte Bordelle in allen Städten und Dörfern Italiens und Frank­ reichs eröffnet; die Zahl dieser Bordelle war höher, als sie es im 19. Jahrhun-

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Bordell, aus einem deutschen Holzschnitt des 15. Jahrhunderts. Bordelle galten als Gegen­ mittel zu Sozialprotest, Häresie und Homosexualität. dert sein sollte. Allein im Amiens des Jahres 1453 gab es 53 Bordelle. Hinzu kam, dass sämtliche Beschränkungen und Strafen abgeschafft wurden, durch die man zuvor versucht hatte, die Prostitution einzudämmen. Prostituierte konnten nun in jedem Teil der Stadt um Freier werben, selbst vor Kirchen, in denen gerade die Messe abgehalten wurde. Sie mussten sich nicht mehr an bestimmte Kleidungskodizes halten oder besondere Kennzeichen tragen, denn die Prostitution wurde als Dienst am Gemeinwesen angesehen (Rossiaud 1988: 9-10). Selbst die Kirche begann die Prostitution als legitime Tätigkeit zu akzep­ tieren. Staatsverwaltete Bordelle galten als Gegenmittel zu den orgiastischen Sexualpraktiken der häretischen Sekten, als Heilmittel gegen die Sodomie und als Maßnahme zum Schutz des Familienlebens. Es ist schwierig, rückblickend festzustellen, inwiefern das Ausspielen die­ ses „Sexualitäts-Trumpfes“ es dem Staat erlaubte, das mittelalterliche Prole­ tariat zu disziplinieren und zu spalten. Sicher ist, dass dieser neue sexuelle „Pakt“ Teil einer weitreichenderen Entwicklung war, die eine Reaktion auf die Zuspitzung des sozialen Konflikts darstellte und zur Zentralisierung des Staates führte. Dieser war schließlich als einziger Akteur dazu in der Lage, sich der Verallgemeinerung des Kampfes entgegenzustellen und das Klassen­ verhältnis abzusichern. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Staat, wie wir im Laufe dieser Untersuchung noch sehen werden, der ultimative Verwalter der Klassenver-

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hältnisse sowie Aufseher der Reproduktion der Arbeitskraft - eine Funktion, die er bis heute ausübt. In dieser Eigenschaft verabschiedeten die Staatsfunk­ tionäre vieler Länder Gesetze, die den Preis der Arbeit beschränkten (indem sie einen Höchstlohn festsetzten), das Vagabundentum zu einem (nunmehr streng bestraften) Verbrechen erklärten (Geremek 1988: 77 ff) und die Arbei­ ter dazu ermunterten, sich generativ zu reproduzieren. Letztlich führte der anwachsende Klassenkonflikt zu einem neuen Bünd­ nis zwischen Bürgertum und Adel; ohne dieses Bündnis wären die proleta­ rischen Revolten möglicherweise nicht besiegt worden. Es fällt tatsächlich schwer, die von Historikerinnen oft formulierte Aussage zu akzeptieren, diese Kämpfe hätten keine Aussicht auf Erfolg gehabt, da ihr politischer Hori­ zont zu beschränkt und ihre Forderungen „verworren“ gewesen seien. Die Wahrheit ist, dass die Ziele der Bauern und Handwerker durchsichtig genug waren. Sie forderten, „dass jeder Mann so viel besitzen sollte wie jeder andere“ (Pirenne 1937: 202). Um dieses Ziel zu erreichen, schlossen sie sich mit all denjenigen zusammen, die „nichts zu verlieren hatten“. Sie handelten in den verschiedensten Regionen einheitlich und scheuten sich trotz ihres Mangels an militärischen Fertigkeiten nicht, es mit den gut ausgebildeten Heeren des Adels aufzunehmen. Wenn sie besiegt wurden, dann weil die feudalen Mächte - Adel, Kirche und Bürgertum - geschlossen gegen sie vorgingen, trotz aller traditionellen Zwistigkeiten. Was die feudalen Mächte einte, war die Furcht vor einer pro­ letarischen Rebellion. Tatsächlich ist das Bild des Bürgertums, das man uns vermittelt hat, eine Verzerrung: Das Bürgertum befand sich keineswegs in einem dauernden Streit mit dem Adel und schrieb sich keineswegs durchweg die Forderungen nach Gleichheit und Demokratie auf die Fahnen. Gegen Ende des Mittelalters hatte sich das Bürgertum - ganz gleich, wohin wir blicken: ob in die Toskana, nach England oder in die Niederlande - mit dem Adel verbündet, um die niederen Klassen zu unterdrücken.33 Denn das Bürgertum erkannte in den Bauern und den demokratischen Webern und Schustern seiner Städte einen Feind, der weitaus bedrohlicher war als der Adel: einen Feind, der es für die Bürger sogar erstrebenswert machte, ihre geschätzte politische Autonomie zu opfern. So war es das städtische Bürger­ tum, das die Macht des Adels wiederherstellte, nachdem es zwei Jahrhunderte lang um uneingeschränkte Souveränität innerhalb der Stadtmauern gekämpft hatte. Die Bürger fügten sich willentlich der Herrschaft des Prinzen. Es war der erste Schritt zum absolutistischen Staat. Anmerkungen 1.

Das beste Beispiel für eine Maroon-Gesellschaft sind die Bacaude, die sich um das Jahr 300 nach Christus Galliens bemächtigten (Dockes 1982: 87). Es ist lohnens­ wert, sich ihrer Geschichte zu entsinnen. Die Bacaude waren freie Bauern und Skla­ ven, die sich ob der Schwierigkeiten, unter denen sie aufgrund der Scharmützel zwischen den Anwärtern auf den römischen Kaiserthron zu leiden hatten, mit land-

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wirtschaftlichen Geräten bewaffneten und mit gestohlenen Pferden aus rüsteten, um als wandernde Banden von dannen zu ziehen (daher auch ihr Name, der „Bande von Kämpfern“ bedeutet) (Randers-Pehrson 1983: 26). Stadtbewohner schlossen sich ihnen an. Die Bacaude gründeten selbstverwaltete Gemeinschaften, prägten eigene Münzen (auf denen das Wort „Hoffnung“ stand), bestimmten ihre Anfüh­ rer im Wahlverfahren und praktizierten eine eigene Rechtsprechung. Nachdem Maximilian, der Mitstreiter des Kaisers Diokletian, sie auf offenem Feld besiegt hatte, griffen sie zu „Guerilla“-Taktiken, um dann im 3. Jahrhundert wieder in alter Stärke aufzutreten, wodurch sie zum Hauptziel wiederholter militärischer Kampag­ nen wurden. Im Jahr 407 nach Christus waren sie die Protagonisten eines „heftigen Aufstands“. Kaiser Konstantin besiegte sie in der Schlacht von Aremorica (Bretagne) (Randers-Pehrson 1983: 124). Die Bacaude sind ein Beispiel dafür, wie „aufständi­ sche Sklaven und Bauern eine autonome staatliche Organisation schufen, römische Funktionäre auswiesen, die Grundherren enteigneten, die Sklavenhalter versklavten und ein eigenes Rechtssystem sowie ein eigenes Heer aufbauten (Dockes 1982. 87). Trotz der zahlreichen Versuche, sie zu unterdrücken, wurden die Bacaude nie vollständig besiegt. Die römischen Kaiser mussten Stämme „barbarischer Eroberer damit beauftragen, sie zu bezwingen. Konstantin hieß die Westgoten aus Spanien zurückkehren und überließ ihnen großzügig gallische Ländereien, in der Hoffnung, dass die Westgoten die Bacaude in Zaum halten würden. Selbst Hunnen wurden rekrutiert, um die Bacaude zu jagen (Randers-Pehrson 1983: 189). Später kämpf­ ten die Bacaude jedoch gemeinsam mit den Westgoten und Alanen gegen den näher rückenden Attila. Die ergastula waren die Unterkünfte der Sklaven in den römischen Villen. Es han­ delte sich um „unterirdische Gefängnisse“, in denen die Sklaven angekettet schlie­ fen. Die Fenster waren (der Beschreibung eines zeitgenössischen Grundherrn zufolge) so hoch, dass die Sklaven nicht an sie herankamen (Dockes 1982: 69). Ergastula „fanden sich [...] fast überall“ in den von den Römern eroberten Regio­ nen, „wo die Zahl der Sklaven die der Freien weit übertraf‘ (Dockes 1982: 208). Im italienischen Strafrecht ist der Begriff „ergastolo“ noch in Gebrauch: Er bedeutet „lebenslange Freiheitsstrafe“. So schreibt Marx im dritten Band des Kapital,, wo er die Leibeigenschaft mit der Sklavenwirtschaft sowie mit der kapitalistischen Wirtschaft vergleicht: „Wieweit der Arbeiter (self-sustaining serfi hier einen Überschuß über seine unentbehrlichen Sub­ sistenzmittel gewinnen kann, [...] dies hängt bei sonst gleichbleibenden Umstän­ den ab von dem Verhältnis, worin seine Arbeitszeit sich teilt in Arbeitszeit für ihn selbst und Fronarbeitszeit für den Grundherrn. [...] Unter diesen Bedingungen kann ihnen [den Leibeigenen] die Mehrarbeit für den nominellen Grundeigentü­ mer nur durch außerökonomischen Zwang abgepreßt werden, welche Form dieser auch immer annehme“ (Marx 1983: 798—799). Die Bedeutung der Allmende (commons) und der Allmende-Ländereien diskutieren Thirsk (1964), Birrell (1987) und Neeson (1993). Die ökologischen und ökofemi­ nistischen Bewegungen haben der Allmende eine neue politische Bedeutung ver­ liehen. Eine ökofeministische Perspektive auf die Bedeutung der Allmende bietet Shiva (1989). Die soziale Schichtung der europäischen Bauernschaft wird bei Hilton (1985: 116— 117, 141-151) sowie beiTitow (1969: 56-59) verhandelt. Von besonderer Bedeu­ tung ist die Unterscheidung zwischen persönlicher Freiheit und freier Pacht. Im ers­ ten Fall war der Bauer kein Leibeigener, obwohl er dennoch verpflichtet sein konnte,

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Arbeitsdienste zu leisten. Im zweiten Fall verfügte der Bauer über Land, auf dem keine leibeigenschaftlichen Verpflichtungen „lasteten“. In der Praxis fielen diese bei­ den Fälle oft zusammen. Dies änderte sich jedoch nach der Umwandlung der Fron­ dienste in Geldleistungen, als die freien Bauern ihren Boden dadurch ausweiteten, dass sie Ländereien erwarben, auf denen leibeigenschaftliche Lasten anfielen. Daher „stoßen wir auf Bauern, deren Status der von Freien (liberi) war, die aber über Leibeigenen-Land verfügten, so wie wir auch auf Leibeigene (villani, nativi) stoßen, die über freies Grundeigentum verfügten, obgleich beide Fälle selten waren und miss­ billigt wurden“ (Titow 1969: 56-57). 6. Aus Barbara Hanawalts Untersuchung der Testamente, die im 15. Jahrhundert in Kibworth (England) verfasst wurden, geht hervor, dass „Männer in 41 Prozent der Fälle ihre erwachsenen Söhne begünstigten, während sie ihren Besitz in 29 Prozent der Fälle ihrer Frau oder ihrer Frau und ihrem Sohn vermachten“ (Hanawalt 1986b: 155). 7. Hanawalt betrachtet das Eheverhältnis der mittelalterlichen Bauern als „Partner­ schaft“. „Die Bodengeschäfte, die an den Gerichtshöfen der Domänen abgewickelt wurden, verweisen auf eine ausgeprägte Praxis wechselseitiger Verantwortung und gemeinsamer Entscheidungsfindung. [...] Es gab auch Fälle, in denen die Ehefrau und der Ehemann Land kauften oder pachteten, entweder für sich selbst oder für ihre Kinder“ (Hanawalt 1986a: 16). Den Beitrag der Frauen zur landwirtschaftli­ chen Arbeit und die Verfügung der Frauen über das Mehrprodukt beschreibt Shahar (1983: 239-242). Die außerrechtlichen Beiträge der Frauen zum Haushalt erwähnt Hanawalt (1986a: 12). In England „war das illegale Ährenlesen unter Frauen, die zusätzliches Getreide für ihre Familien benötigten, die am weitesten verbreitete Pra­ xis“ (ebd.). 8. Hierin besteht das Defizit einiger ansonsten hervorragender »Studien über mittel­ alterliche Frauen, die eine neue Generation feministischer Historikerinnen in den letzten Jahren vorgelegt hat. Die Schwierigkeit, ein Thema, dessen empirische Kon­ turen erst noch vollständig rekonstruiert werden müssen, zusammenfassend darzu­ stellen, führt nachvollziehbarerweise zu einer Vorliebe für deskriptive Analysen, die auf die wichtigsten Kategorien des gesellschaftlichen Lebens der Frauen fokussieren („die Mutter“, „die Arbeiterin“, „Frauen in ländlichen Gebieten“). Beim Gebrauch solcher Kategorien wird oft vom sozialen und wirtschaftlichen Wandel sowie von den sozialen Kämpfen abstrahiert. 9. J. Z. Titow schreibt über die englischen Leibeigenen: „Es ist nicht schwer zu erken­ nen, warum der persönliche Aspekt der Leibeigenschaft die Bauern oft weniger beschäftigte als das Problem der Frondienste. [...] Behinderungen, die auf den eige­ nen Status als Leibeigene zurückgingen, ergaben sich nur sporadisch. [...] Anders verhielt es sich mit den Frondiensten, insbesondere mit den wöchentlichen Diens­ ten. Sie zwangen Männer, jede Woche an vielen Tagen für ihre Lehnsherren zu arbeiten, und zwar zusätzlich zu weiteren, bei bestimmten Anlässen anfallenden Diensten“ (Titow 1969: 59). 10. „Nehmen wir zum Beispiel die ersten Seiten des Registers von Abbots Langley: Männer wurden mit Bußen belegt, weil sie nicht zur Ernste erschienen, oder weil sie nicht in ausreichender Zahl erschienen; sie kamen zu spät, und als sie dann kamen, erledigten sie die Arbeit schlecht oder auf müßiggängerische Weise. Manchmal war es nicht bloß ein Mann, der nicht erschien, sondern eine ganze Gruppe, so dass die Ernte des Lehnsherrn nicht eingeholt wurde. Andere erschienen zwar, machten sich durch ihr Verhalten aber sehr unbeliebt“ (Bennett 1967: 112).

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Die Unterscheidung zwischen „Stadt“ und „Marktfleck“ ist nicht immer eindeutig. Für unsere Zwecke ist eine Stadt eine Siedlung mit königlichem Stiftungsbrief, Bis­ tum und Markt, wogegen ein Marktfleck eine Siedlung mit einem regelmäßig abge­ haltenen Markt ist; Marktflecken hatten in der Regel weniger Einwohner als Städte. Die folgenden Statistiken vermitteln einen Eindruck von der ländlichen Armut in der Picardie des 13. Jahrhunderts: Bedürftige und Bettlerinnen: 13 Prozent; Besit­ zer kleiner Parzellen, deren wirtschaftliche Bedingungen derart prekär waren, dass eine schlechte Ernte ihr Überleben bedrohte: 33 Prozent; Bauern mit mehr Boden aber ohne Zugtiere: 36 Prozent; wohlhabende Bauern: 19 Prozent (Geremek 1988: 73_74). In England machten Bauern mit weniger als drei Morgen Land - zu wenig, um eine Familie zu ernähren —46 Prozent der Bauernschaft aus (ebd.). Das Lied einer Seidenspinnerin vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der Armut, in der ungelernte Arbeiterinnen in den Marktflecken lebten: ,Allezeit wer­ den wir Seide wirken und deshalb doch nicht besser gekleidet leben. Wir werden allezeit arm und entblößt sein und allezeit Plunger und Durst leiden (Geremek 1988: 84). In französischen Stadtarchiven werden Spinnerinnen und andere Lohn­ arbeiterinnen mit Prostitution in Verbindung gebracht, möglicherweise weil sie allein lebten und über keine Familienstruktur verfügten, die ihnen den Rücken frei­ hielt. In den Marktflecken litten die Frauen nicht nur an der Armut, sondern auch am Verlust ihrer Verwandten, der sie für Misshandlungen anfällig machte (Hughes 1973: 21; Geremek 1988: 84—85; Otis 1985: 18—20; Hilton 1985: 212—213). Vgl. zu Frauen in den mittelalterlichen Zünften Kowaleski und Bennett (1989), Herlihy (1995) sowie Williams und Echols (2000). Russell (1972: 136); Lea (1961: 126-127). Die Bewegung der pastoreaux wurde auch durch Ereignisse im Osten ausgelöst, in diesem Fall durch die 1249 in Ägyp­ ten erfolgte Gefangennahme von König Louis IX. von Frankreich durch Muslime (Hilton 1973: 100-102). Eine Bewegung „niedriger und armer Menschen“ wurde organisiert, um ihn zu befreien, nahm jedoch rasch einen antiklerikalen Charakter an. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1320 tauchten die pastoreaux in Frankreich wieder auf. Sie standen nach wie vor „unmittelbar unter dem Eindruck der Kreuz­ züge. [...] Da sie keinerlei Aussicht darauf hatten, als Kreuzritter in den Osten zu ziehen, lenkten sie ihre Kräfte auf die Verfolgung jüdischer Gemeinden im Süd­ westen Frankreichs, in Navarra und Aragon, wobei sie oft die Zustimmung lokaler Konsule genossen, bevor sie von den königlichen Beamten vernichtet oder zerstreut wurden“ (Barber 1992: 135-136). Der Kreuzzug gegen die Albigenser (Katharer aus der Ortschaft Albi in Südfrank­ reich) war der erste größere Angriff auf die Häretiker und der erste Kreuzzug gegen Europäer. Papst Innozenz III. rief den Kreuzzug nach 1209 in den Regionen von Toulouse und Montpellier aus. In der Folge steigerte sich die Verfolgung der Häre­ tiker dramatisch. Im Jahr 1215 ergänzte Innozenz III. anlässlich des vierten Late­ rankonzils den Kanon des Konzils um eine Reihe von Maßnahmen, die Häretiker zum Exil verurteilten, die Beschlagnahme ihres Eigentums erlaubten und sie vom bürgerlichen Leben ausschlossen. Später, im Jahr 1224, schloss sich Kaiser Fried­ rich II. der Verfolgung an, indem er das Edikt Cum ad conservandum veröffentlichte. Darin wurde die Häresie als crimen laesae maiestatis definiert: als durch den Feuer­ tod zu bestrafendes Verbrechen der Majestätsbeleidigung. Im Jahr 1229 wurde auf dem Konzil von Toulouse verfügt, Häretiker seien als solche zu identifizieren und zu bestrafen. Wer sich erwiesenermaßen der Häresie schuldig gemacht habe, sei auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen; gleiches gelte für Personen, die Häretiker zu

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schützen versuchten. Das Haus, in dem ein Häretiker aufgefunden werde, sei zu zerstören, der Boden zu beschlagnahmen. Häretiker, die ihrem Glauben abschwo­ ren, sollten eingemauert werden; Rückfälle seien durch das Feuer zu bestrafen. Zwi­ schen 1231 und 1233 richtete Gregor IX. schließlich ein Sondertribunal ein, des­ sen Mandat in der Ausmerzung der Häresie bestand: die Inquisition. Im Jahr 1232 autorisierte Papst Innozenz IV. unter Zustimmung der bedeutendsten Theologen der Epoche den Gebrauch der Folter gegen Häretiker (Vauchez 1990: 163-165). 17. André Vauchez führt den „Erfolg“ der Inquisition auf deren Vorgehensweise zurück. Die Verhaftung Verdächtiger wurde unter größtmöglicher Geheimhaltung vorbe­ reitet. Die Verfolgung bestand zunächst in Razzien gegen die Versammlungen der Häretiker; diese Razzien wurden gemeinsam mit den öffentlichen Behörden orga­ nisiert. Später, als die Waldenser und Katharer bereits in die Klandestinität getrie­ ben worden waren, wurden Verdächtige ohne Angabe von Gründen vor ein Tri­ bunal zitiert. Die gleiche Geheimhaltung charakterisierte auch die Untersuchung. Den Verteidigern wurde nicht mitgeteilt, wessen sie beschuldigt wurden, und ihre Denunzianten blieben anonym. Verdächtige wurden entlassen, wenn sie ihre Mit­ täterinnen denunzierten und versprachen, niemandem über ihr Geständnis Mittei­ lung zu machen. So konnten Häretiker, wenn sie verhaftet wurden, nie wissen, ob nicht jemand aus ihrer Gemeinde gegen sie ausgesagt hatte (Vauchez 1990: 167— 168). Italo Mereu weist daraufhin, dass die Tätigkeit der römischen Inquisition in der Geschichte der europäischen Kultur tiefe Narben hinterlassen hat. Sie schuf ein Klima der Intoleranz und des institutionalisierten Verdachts, das das Rechtssystem bis auf den heutigen Tag verdirbt. Das Erbe der Inquisition besteht in einer Kultur der Argwohns, die auf anonymen Beschuldigungen und „Sicherheitsverwahrung“ beruht, und die Verdächtige behandelt, als sei ihre Schuld bereits erwiesen (Mereu 1979). 18. Erinnern wir uns an die von Friedrich Engels gezogene Unterscheidung zwischen dem häretischen Glauben der Bauern und Handwerkerinnen, der mit ihrer Opposi­ tion gegen die feudale Autorität zusammenhing, und dem häretischen Glauben des städtischen Bürgertums, bei dem es sich in erster Linie um einen Protest gegen den Klerus handelte (Engels I960: 344). 19. Die Politisierung der Armut führte, zusammen mit dem Aufstieg der Geldökono­ mie, zu einem entscheidenden Bruch in der kirchlichen Haltung gegenüber den Armen. Bis zum 13. Jahrhundert pries die Kirche die Armut als heiligen Zustand und verteilte Almosen, wobei sie die Bauern dazu aufforderte, sich in ihre Lage zu fügen und die Reichen nicht zu beneiden. Priester sparten in ihren Sonntagspredig­ ten nicht mit Erzählungen wie der vom armen Lazarus, der im Himmel an der Seite Jesu sitze und seinen reichen aber geizigen Nachbarn zusehe, wie sie im Höllenfeuer schmorten. Das Anpreisen der sancta paupertas (der „heiligen Armut“) diente auch dazu, die Reichen die Wohltätigkeit als notwendiges Mittel zum Seelenheil ansehen zu lassen. Diese Taktik bescherte der Kirche umfangreiche Boden-, Gebäude- und Geldspenden, von denen die Spender annahmen, dass sie an die Bedürftigen wei­ terverteilt werden würden. So konnte die Kirche zu einer der mächtigsten Instituti­ onen Europas werden. Als jedoch die Zahl der Armen anwuchs und die Häretiker die Habsucht und Korruption der Kirche anprangerten, gab der Klerus seine Moral­ predigten über die Armut auf und führte zahlreiche neue „Unterscheidungen“ ein. Ab dem 13. Jahrhundert lehrte er, nur die freiwillige Armut sei in den Augen Gottes ein Verdienst, da sie ein Zeichen der Demut und der Verachtung materieller Güter sei. In der Praxis bedeutete dies, dass fortan nur noch die „verdienten Armen“ mit

Unterstützung rechnen konnten, also verarmte Adelige, nicht aber jene, die auf den Straßen oder an den Stadttoren bettelten. Letztere wurden zunehmend beargwöhnt und des Müßiggangs oder Betrugs verdächtigt. Die Waldenser diskutierten kontrovers darüber, wie man seinen Lebensunterhalt bestreiten solle. Der Streit führte im Jahr 1218 auf der Versammlung von Ber­ gamo zu einer Spaltung in zwei Hauptströmungen. Die französischen Waldenser (die Armen von Lyon) entschlossen sich, von Almosen zu leben, während die lom­ bardischen Waldenser zu dem Ergebnis gelangten, dass man von der eigenen Hände Arbeit leben müsse. Die lombardischen Waldenser gründeten in der Folge Kol­ lektive und Kooperativen (congregationes laborantium) (di Stefano 1950: 775). Sie behielten auch das Privateigentum (etwa an Häusern) bei; außerdem akzeptierten sie Ehe und Familie (Little 1978: 125). Holmes (1975: 202); N. Cohn (1998: 237-240); Hilton (1973: 124). DieTaboriten waren, wie von Engels beschrieben, der revolutionäre, demokratische Flügel der nationalen Befreiungsbewegung gegen den deutschen Adel in Böhmen (der Hussiten). Engels verrät uns über sie nur, dass „die Kämpfe der freien Bauern gegen die sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft“ zusammengeflossen seien „mit den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feu­ dalherrschaft“ (Engels 1960: 347). Eine vollständigere Darstellung ihrer erstaunli­ chen Geschichte bietet H. C. Lea (1985: 523-540). Bei ihm ist zu lesen, dass es sich um Bauern und Arme handelte, die keine Adeligen oder Männer von Stand in ihren Reihen wünschten und zum Republikanismus tendierten. Sie wurden Tabo/iten genannt, weil sie sich 1419, als es in Prag zum ersten militärischen Angriff auf die Hussiten kam, auf den Berg Tabor zurückzogen. Dort gründeten sie eine neue Gemeinde, die zu einem Zentrum sowohl des Widerstands gegen den deutschen Adel als auch kommunistischer Experimente wurde. Angeblich stellten die Taboriten nach ihrer Ankunft aus Prag große, offene Truhen auf, in die alle ihren Besitz legen sollten, damit dieser anschließend geteilt werden konnte. Dieses kollektive Arrangement war vermutlich kurzlebig, doch der darin zum Ausdruck kommende Geist lebte noch lange fort (Demetz 2000: 241-244). DieTaboriten unterschieden sich von den moderateren Kalixtinern dadurch, dass sie auch die Unabhängigkeit Böhmens sowie die Einbehaltung des von ihnen beschlag­ nahmten Eigentums anstrebten (Lea 1985: 530). Einig waren sich die Taboriten und die Kalixtiner allerdings über die vier Glaubensartikel, die die Bewegung der Hussiten gegenüber ihren ausländischen Feinden einten: I. Freies Predigen des Wortes Gottes; II. Kommunion (sowohl des Brotes als auch des Weins); III. Aufhebung der klerikalen Verfügung über weltliche Besitztümer und Rückkehr des Klerus zum evangelischen Leben Christi und der Apostel; IV Bestrafung aller Verbrechen gegen das göttliche Gesetz, ohne Rücksicht auf die Person oder ihre Verhältnisse. Einigkeit war sehr vonnöten. Um die Revolte der Hussiten auszumerzen, entsandte die Kirche 1421 ein Heer von 150.000 Mann gegen die Taboriten und die Kalixti­ ner. „Fünf Mal“, schreibt Lea, „eroberten die Kreuzritter 1421 Böhmen, und fünf Mal wurden sie zurückgedrängt.“ Zwei Jahre später beschloss die Kirche auf dem Konzil von Siena, die böhmischen Häretiker sollten, sofern sie nicht militärisch zu besiegen seien, isoliert und durch eine Blockade ausgehungert werden. Doch auch dies gelang nicht, und die Ideen der Hussiten breiteten sich weiter durch das Deut­ sche Reich, Ungarn und die slawischen Territorien im Süden aus. Im Jahr 1431

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Jan Hus stirbt in Gottlieben am Rhein 1413 den Märtyrertod. Nach seinem Tod wurde seine Aschein den Fluss geworfen. wurde ein zweites Heer, diesmal 100.000 Mann stark, gegen sie entsandt, auch dies­ mal ohne Erfolg. Dieses Mal flohen die Kreuzritter noch vor Beginn der Schlacht, „sobald sie das Kampfgeschrei des gefürchteten Hussiten-Heers vernahmen“ (ebd.). Was die Taboriten schließlich vernichtete, waren die Verhandlungen zwischen der Kirche und dem gemäßigten Flügel der Hussiten. Die kirchlichen Diplomaten vertieften klugerweise die Spaltung zwischen den Kalixtinern und den Taboriten. So kam es, dass sich die Kalixtiner den im Sold des Vatikans stehenden katholi­ schen Baronen anschlossen, als der nächste Kreuzzug gegen die Hussiten ausgeru­ fen wurde. Auf der Schlacht bei Lipan ermordeten die Kalixtiner am 30. Mai 1434 ihre Brüder. An jenem Tag starben 13.000 Taboriten auf dem Schlachtfeld. Frauen waren in der Bewegung der Taboriten sehr aktiv, wie in allen häretischen Bewegungen. Viele Frauen kämpften 1420 in der Schlacht um Prag. Dort hoben die Frauen einen langen Graben aus, den sie mit Steinen und Heugabeln verteidig­ ten (Demetz 1977).

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Tatsächlich wurden diese Worte - „der ergreifendste Aufruf zur sozialen Gleich­ heit in der Geschichte der englischen Sprache“, wie der Historiker R. B. Dobson gesagt hat - John Ball in den Mund gelegt, um ihn zu kriminalisieren und einfältig erscheinen zu lassen. Die Zuschreibung des Zitats erfolgte durch den französischen Chronisten Jean Froissart, der ein strenger Gegner des englischen Bauernaufstands war. Der erste Satz einer von John Ball angeblich oft gehaltenen Predigt lautet: „Ach, ihr braven Leute, es steht nicht gut um England, noch wird es gut um England ste­ hen, bis nicht alles zum Gemeineigentum wird und es keine Leibeigenen und keine Lehnsherren mehr gibt, so dass wir miteinander vereint und die Herren nicht mäch­ tiger sind als wir“ (Dobson 1983: 371). 23. Im Jahr 1210 bezeichnete die Kirche die Forderung nach Abschaffung der Todes­ strafe als eine häretische „A b w e ic h u n g “ , die sie den Waldensern und Katharern zuschrieb. Die Kirche hielt so hartnäckig an der Annahme fest, dass es sich bei ihren Gegnerinnen auch um Gegnerinnen der Todesstrafe handeln müsse, dass jeder reu­ ige Häretiker beteuern musste, die weltliche Macht könne, „ohne eine Todsünde zu begehen, die Blutgerichtsbarkeit praktizieren, sofern sie gerecht straft und nicht aus Hass, besonnen und nicht überstürzt“ (Megivern 1997: 101). J. J. Megivern weist darauf hin, dass die Häretiker hier moralisch überlegen waren und „die Orthodo­ xen4 ironischerweise zwangen, eine sehr fragwürdige Praxis zu verteidigen“ (Megi­ vern 1997: 103). 24. Zu den Belegen für den Einfluss der Bogomilen auf die Katharer gehören zwei Werke, die „die Katharer Westeuropas von den Bogomilen übernahmen.“ Es han­ delt sich um Die Vision Jesajas und Das geheime Abendmahl; Wakefield und Evans nennen sie beide in ihrer Übersicht über die Literatur der Katharer (1969: 447463). Die Bogomilen verhielten sich zur Ostkirche wie die Katharer zur Lateinischen Kir­ che. Abgesehen vom Manichäismus und Anti-Natalismus der Bogomilen schreck­ ten die byzantinischen Autoritäten vor allem deren „radikaler Anarchismus“, zivi­ ler Ungehorsam und Klassenhass auf. Presbyter Cosmas schrieb in seiner gegen die Bogomilen gerichteten Predigt: „Sie lehren ihre eigenen Leute, den Herren nicht zu gehorchen, sie schmähen die Reichen, hassen den König, verspotten die Alten, ver­ urteilen die Bojaren, sagen von den Königsdienern, sie seien Gott ein Gräuel und verbieten jedem Leibeigenen, für seinen Herrn zu arbeiten.“ Die Häresie übte über lange Zeit einen ungeheuren Einfluss auf die Bauern des Balkans aus. „Die Bogomi­ len predigten in der Volkssprache, und das Volk verstand ihre Botschaft. [...] Ihre lose Organisationsform, ihre verlockende Lösung des Problems des Bösen und ihr Einsatz für den Sozialprotest machten die Bewegung nahezu unschlagbar“ (Brow­ ning 1975: 164-166). Der Einfluss der Bogomilen auf die Häresie zeigt sich noch in dem bis zum 13. Jahrhundert geläufig gewordenen englischen Begriff »buggeryj mit dem erstens Häresie und zweitens Homosexualität bezeichnet wurde (Bullough 1976: 76 ff.). 25. Das von der Kirche ausgesprochene Verbot der klerikalen Ehe sowie des klerika­ len Konkubinats war weniger durch das Bedürfnis motiviert, den Ruf der Kirche zu verbessern, als vielmehr durch den Wunsch, das kirchliche Eigentum zu schüt­ zen, drohte dieses doch immer weiter aufgeteilt zu werden; auch die Sorge, die Frauen der Priester könnten sich auf ungebührliche Weise in kirchliche Angelegen­ heiten einmischen, spielte eine Rolle (McNamara und Wemple 1988: 93—95). Der Beschluss des zweiten Laterankonzils bekräftigte eine noch im vorigen Jahrhundert verabschiedete Resolution, die man angesichts des offenen Widerstands, den diese

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Neuerung damals hervorgerufen hatte, nie umgesetzt hatte. Seinen Höhepunkt hatte der Protest im Jahr 1061 erreicht, als eine „organisierte Rebellion“ die Wahl des Bischofs von Parma zum Gegenpapst (Honorius II.) nach sich gezogen hatte. Der nachfolgende Versuch des Gegenpapstes, Rom einzunehmen, war gescheitert (Taylor 1977: 36). Das Laterankonzil von 1123 verbot nicht nur die klerikale Ehe, sondern erklärte auch die bereits geschlossenen Ehen für aufgehoben, was die Fami­ lien der Priester und insbesondere ihre Frauen und Kinder in Schrecken und bittere Not versetzte (Brundage 1987: 216—217). 26. Die kirchlichen Reformgesetze des 16. Jahrhunderts wiesen verheiratete Paare an, sich des Geschlechtsverkehrs während der drei Fastenzeiten zu Ostern, Pfings­ ten und Weihnachten ebenso zu enthalten wie sonntags, an den Festtagen vor der Kommunion, in der Heiratsnacht, während der Schwangerschaft, der Stillzeit und der Menstruation sowie in Zeiten der Buße (Brundage 1987: 198-199). Diese Beschränkungen waren nicht neu. Sie bekräftigen lediglich kirchliche Weisheiten, die bereits in dutzenden von Bußbüchern standen. Neu war, dass sie nun ins Kir­ chengesetz Eingang fanden, das „im 12. Jahrhundert zu einem wirksamen Instru­ ment kirchlicher Herrschaft und Disziplin wurde.“ Sowohl die Kirche als auch der Laienstand erkannten, dass eine gesetzliche, mit ausdrücklicher Strafandrohung ein­ hergehende Forderung einen anderen Charakter haben würde als eine vom Beicht­ vater angeregte Buße. In dieser Zeit wurden die intimsten aller zwischenmenschli­ chen Beziehungen zu einem Gegenstand für Juristen und Strafrechtler (Brundage 1987: 378). 27. Das Verhältnis der Beginen zur Häresie ist unklar. Einige ihrer Zeitgenossen, etwa Jakob von Vitry - den Carol Neel als „bedeutenden kirchlichen Funktionär“ beschrieben hat -, unterstützten zwar ihre Initiative als Alternative zur Häresie, doch sie „wurden schließlich im Jahr 1312 vom Wiener Konzil aufgrund des Ver­ dachts der Häresie verurteilt, was wahrscheinlich auf die klerikale Unduldsamkeit gegenüber Frauen zurückging, die sich männlicher Kontrolle entziehen.“ Anschlie­ ßend lösten sich die Beginen auf; sie waren „durch kirchliche Maßregelung zum Verschwinden verurteilt“ (Neel 1989: 324—327, 329, 333, 339). 28. Die Ciompi waren diejenigen, die die Wolle wuschen, kämmten und fetteten, damit sie bearbeitet werden konnte. Sie galten als ungelernte Arbeiter und hatten den niedrigsten sozialen Status. „Ciompo“ ist eine abwertende Bezeichnung und meint einen schmutzigen und schlecht gekleideten Menschen; dies geht vermutlich dar­ auf zurück, dass die Ciompi halb entblößt arbeiteten und stets mit Fett und Fär­ bemitteln beschmutzt waren. Ihre Revolte begann im Juli 1382. Auslöser war die Nachricht, ein Ciompo namens Simoncino sei verhaftet und gefoltert worden. Scheinbar hatte man ihn gezwungen auszusagen, die Ciompi hätten eine geheime Versammlung abgehalten, auf der sie sich auf den Mund geküsst und versprochen hätten, sich gegenseitig vor den Übergriffen ihrer Arbeitgeber zu schützen. Als sie von Simoncinos Verhaftung hörten, eilten die Arbeiter zur Zunfthalle der Wollin­ dustrie, dem Palazzo dellarte, und forderten die Freilassung ihres Kollegen. Nach­ dem diese Forderung erfüllt worden war, besetzten sie die Zunfthalle, schickten eine Patrouille auf den Ponte Vecchio und hängten das Emblem der „kleineren Zünfte“ (arti minori) aus den Fenstern der Zunfthalle. Sie besetzten auch das Rathaus, wo sie später behaupteten, einen Raum voller Galgenstricke gefunden zu haben, die für sie bestimmt gewesen seien. Scheinbar die Herren des Geschehens, legten die Ciompi eine Petition vor, in der sie ihre Beteiligung an der Stadtverwaltung forderten. Wei­ ter forderten sie, nicht mehr durch das Abschneiden einer Hand bestraft zu werden,

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wenn sie ihre Schulden nicht bezahlten. Sie forderten schließlich auch eine höhere Besteuerung der Reichen sowie die Umwandlung von Körperstrafen in Geldbu­ ßen. In der ersten Augustwoche bildeten die Ciompi eine Miliz und gründeten drei neue Handwerkszünfte. Derweil wurden Wahlen vorbereitet, an denen sich erstmals auch Ciompi beteiligen sollten. Ihre neue Macht hielt jedoch nur einen Monat an, da die Wollmagnaten eine Aussperrung organisierten, aufgrund derer die Ciompi hungern mussten. Nach ihrer Niederlage wurden viele Ciompi verhaftet, gehängt und geköpft. Viele weitere Ciompi mussten die Stadt verlassen: ein Exodus, der den Niedergang der florentinischen Wollindustrie einläutete (Rodolico 1971: passim). Im Gefolge des Schwarzen Todes ging jedes europäische Land dazu über, den Müßiggang zu verurteilen sowie das Vagabundentum, die Bettelei und die Arbeits­ verweigerung zu bestrafen. England machte mit dem Statut von 1349 den Anfang: Darin wurden hohe Löhne und Müßiggang verurteilt, und es wurde verfügt, dass diejenigen, die nicht arbeiteten und keinerlei Mittel besaßen, um ihren Unterhalt zu bestreiten, jede Arbeit anzunehmen hatten. Ähnliche Verordnungen gab es 1331 in Frankreich: Dort wurde empfohlen, gesunden Bettlern und Vagabundinnen Kost und Unterkunft zu verweigern. Eine weitere Verordnung aus dem Jahr 1354 ver­ fügte, dass diejenigen, die ihre Zeit in Tavernen, beim Würfelspiel oder mit Bet­ telei verbrachten, jede Arbeit annehmen oder aber sich den Konsequenzen stellen sollten: Wer die Arbeit einmal verweigerte, kam ins Gefängnis und wurde auf Brot und Wasser gesetzt; wer sie ein zweites Mal verweigerte, kam in den Schandstock, und wer ein drittes Mal bei Müßiggang oder Bettelei angetroffen wurde, wurde auf der Stirn gebrandmarkt. In der französischen Gesetzgebung tauchte ein neues Element auf, das Teil der neuzeitlichen Bekämpfung des Vagabundentums werden sollte: die Zwangsarbeit. In Kastilien wurde es Privatleuten 1387 durch eine Ver­ ordnung erlaubt, Vagabunden festzuhalten und einen Monat lang zu beschäftigen, ohne ihnen einen Lohn zu zahlen (Geremek 1988: 68-92). Es mag abstrus erscheinen, solche Regierungsformen als ,Arbeiterdemokratie“ zu bezeichnen. Wie sollten jedoch bedenken, dass in den USA, die ja oft als demokrati­ sches Land angesehen werden, bislang noch kein einziger Industriearbeiter das Präsi­ dentenamt ausgeübt hat; die höchsten Ebenen des Regierungsapparats sind sämtlich von Vertretern einer wirtschaftlichen Aristokratie besetzt. Die remensas war eine Steuer, die leibeigene Bäuerinnen in Katalonien entrichten mussten, wenn sie ihre Ländereien verließen. Nach dem Schwarzen Tod wurden den der remensas unterliegenden Bauern noch weitere Steuern auferlegt, die als die „fünf üblen Bräuche“ (los malos usos) bezeichnet wurden. Diese Steuern hatten frü­ her für die gesamte Bevölkerung gegolten (Hilton 1973: 117—118). Die neuen Steu­ ern und die Auseinandersetzungen um die Nutzung verlassener Ländereien führten zu einem langwierigen Regionalkrieg, im Zuge dessen die katalonischen Bauern aus jedem dritten Haushalt einen Soldaten rekrutierten. Außerdem stärkten sie ihre Bande durch Schwurbündnisse, trafen Entscheidungen auf Bauernversammlungen und stellten auf den Feldern Kreuze und andere bedrohliche Symbole auf, um die Grundherren einzuschüchtern. Während der letzten Phase des Krieges forderten sie die Abschaffung der Pacht und die Einführung bäuerlicher Eigentumsrechte (Hil­ ton 1973: 120-121, 133). So ging die Ausbreitung öffentlicher Bordelle mit einer Kampagne gegen Homo­ sexuelle einher, die sich sogar bis nach Florenz ausbreitete, wo die Homosexualität ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens war, „zu dem sich Männer jeglichen Alters, Ehestands und sozialen Hintergrunds hingezogen fühlten.“ Die Homosexu-

Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa

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alität war in Florenz so beliebt, dass weibliche Prostituierte sogar Männerkleidung trugen, um Freier anzulocken. Erste Anzeichen des Wandels waren in Florenz zwei von den Autoritäten im Jahr 1403 beschlossene Initiativen: Die Stadt schloss „Sodomiten“ von öffentlichen Ämtern aus und gründete zweitens eine Überwachungskommission, die sich der Ausmerzung der Homosexualität widmete: das Büro für Anständigkeit. Bezeichnenderweise bestand jedoch der wichtigste von diesem Büro unternommene Schritt in den Vorbereitungen für die Eröffnung eines neuen städti­ schen Bordells. Bis zum Jahr 1418 waren die Autoritäten somit noch immer auf der Suche nach geeigneten Mitteln, um die Sodomie „in Stadt und Land“ zu beseitigen (Rocke 1997: 30-32, 33). Vgl. zur Förderung der staatlich subventionierten Prosti­ tution als vermeintlichem Mittel gegen Bevölkerungsrückgang und „Sodomie“ auch Richard C. Trexler: „Wie in anderen italienischen Städten des 13. Jahrhunderts war man auch in Flo­ renz der Ansicht, die von offizieller Seite geförderte Prostitution trage zur Bekämp­ fung zweier weiterer Übel von weitaus größerer moralischer und gesellschaftlicher Tragweite bei: männlicher Homosexualität - von deren Praxis man dachte, dass sie die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern undeutlich mache, und damit auch alle anderen Unterscheidungen und jeglichen Anstand - und des auf eine unzureichende Anzahl von Heiraten zurückgehenden Bevölkerungsrückgangs.“ (Trexler 1993: 32) Trexler weist darauf hin, dass sich die gleiche Korrelation zwischen Ausbreitung der Homosexualität, Bevölkerungsrückgang und staatlicher Förderung der Prostitution während des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts auch in Lucca, Venedig und Siena findet. Darüber hinaus hätten die steigende Zahl und die Ausweitung der gesellschaftlichen Macht der Prostituierten auch zu einem Backlash geführt, so dass „Prediger und Staatsmänner [im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts] fest davon überzeugt waren, dass keine Stadt lange bestehen konnte, solange Frauen und Män­ ner gleich schienen. [...] [Ein] Jahrhundert später fragten sie sich, ob die Stadt bestehen konnte, wenn sich Frauen aus der Oberschicht nicht mehr von den Pros­ tituierten aus den Bordellen unterscheiden ließen.“ (Trexler 1993: 65) 33.

In der Toskana, wo die Demokratisierung des öffentlichen Lebens weiter fortge­ schritten war als in irgendeiner anderen europäischen Region, waren bis zur zwei­ ten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Umkehr dieser Tendenz und eine Wieder­ herstellung der Macht des Adels zu verzeichnen. Diese Entwicklung wurde vom Handelsbürgertum befördert, um dem Aufstieg der Unterklassen Einhalt zu gebie­ ten. Mittlerweile waren die Händlerfamilien durch Eheschließung und geteilte Vor­ rechte derart mit den Adelsfamilien verschmolzen, dass beide eine organische Ein­ heit bildeten. Das setzte der sozialen Mobilität, die die Haupterrungenschaft der städtischen Gesellschaft und des Gemeinschaftslebens der mittelalterlichen Toskana gewesen war, ein Ende (Luzzati 1981: 187, 206).

Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen Die Konstruktion der „Differenz" im „Übergang zum Kapitalismus"

„Ich frage, ob nicht alle Kriege, alles Blutvergießen und alles Elend die Schöpfung befallen haben, als ein Mann sich anschickte, eines anderen Mannes Herr zu werden? [...] Und ob dieses ganze Elend nicht weichen wird, [...] wenn alle Zweige der Menschheit die Erde als den gemeinsa­ men Schatz aller ansehen?“ - Gerrard Winstanley, The New Law o f Righteousness, 1649 „Für ihn war sie eine fragmentierte Ware, deren Gefühle und Entschei­ dungen selten zur Kenntnis genommen wurden: Ihr K opf und ihr Herz waren von ihrem Rücken und ihren Händen getrennt, von ihrer Gebär­ mutter und ihrer Vagina abgeteilt. Ihr Rücken und ihre Muskeln wur­ den zur Feldarbeit gezwungen. [...] Ihre Hände wurden benötigt, um den weißen Mann zu hegen und zu pflegen. [...] Ihre Vagina, die zum sexuellen Genuss verwendet wurde, war das Tor zu ihrer Gebärmutter, welche der Ort seiner Kapitalinvestition war: Der Geschlechtsakt war die Kapitalinvestition und das aus ihm resultierende Kind der akkumu­ lierte Überschuss.“ - Barbara Omolade, Heart ofDarkness, 1983

Einleitung

Die Entwicklung des Kapitalismus war nicht die einzig mögliche Reak­ tion auf die Krise der Feudalmacht. In ganz Europa hatten riesige kommunalistische Sozialbewegungen das Versprechen einer neuen, egalitären, auf sozialer Gleichheit und Kooperation beruhenden Gesellschaft geboten. Bis zum Jahr 1525 war jedoch ihr kraftvollster Ausdruck, der deutsche „Bauern­ krieg“ , den Peter Blickle als „Revolution des gemeinen Mannes“ bezeichnet hat, unterdrückt worden.1Hunderttausend Rebellen wurden im Vergeltungs­ schlag massakriert. Im Jahr 1535 endete dann das „neue Jerusalem“ - der von den Wiedertäufern in Münster unternommene Versuch, das Gottesreich auf Erden zu verwirklichen —ebenfalls in einem Blutbad. Wahrscheinlich war dieser Versuch zunächst von der patriarchalen Wende seiner Vorden­ ker unterlaufen worden: Indem sie die Polygamie verordneten, trieben sie die Frauen aus der Bewegung in die Revolte.2 Durch diese Niederlagen, zu

denen noch die Ausbreitung der Hexenverfolgungen und die Auswirkungen der kolonialen Expansion hinzukamen, endete der revolutionäre Prozess in Europa. Militärische Macht genügte jedoch nicht, um die Krise des Feuda­ lismus abzuwenden. Im späten Mittelalter war die Feudalwirtschaft zum Untergang verur­ teilt. Sie war mit einer Akkumulationskrise konfrontiert, die sich mehr als ein Jahrhundert lang hinzog. Das Ausmaß dieser Krise können wir einigen basa­ len Schätzungen entnehmen, die daraufhinweisen, dass es zwischen 1350 und 1500 zu einer größeren Verschiebung in den Machtverhältnissen zwi­ schen Arbeitern und Herren kam. Die Reallöhne stiegen um 100 Prozent, die Preise fielen um 33 Prozent, die Pachtpreise sanken ebenfalls, der Arbeits­ tag wurde kürzer und es zeigte sich eine Tendenz zur lokalen Selbstversor­ gung.3 Als Belege für den chronischen Desakkumulationstrend dieses Zeit­ raums sind auch der Pessimismus der damaligen Kaufleute und Grundherren sowie die Maßnahmen zu werten, die europäische Staaten ergriffen, um ihre Märkte zu schützen, die Konkurrenz zu unterdrücken und die Menschen zu zwingen, sich in die gegebenen Arbeitsbedingungen zu fügen. Die Einträge in den Registern der feudalen Domänen dokumentieren, dass „die Arbeit das Frühstück nicht wert war“ (Dobb 1963: 54). Die Feudalwirtschaft war nicht in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Es hätte sich auch keine kapi­ talistische Gesellschaft aus ihr „entwickeln“ können, denn Selbstversorgung und das neue Hochlohnregime erlaubten zwar „Volksreichtum [...], aber sie schlossen den Kapitalreichtum aus“ (Marx 1968: 745). In Reaktion auf die Krise läutete die herrschende Klasse Europas jene globale Offensive ein, die im Laufe von mindestens drei Jahrhunderten die Geschichte des Planeten verändern sollte, indem sie - durch unermüdliche Versuche, neue Wohlstandsquellen zu erschließen, die ökonomische Basis auszuweiten und neue Arbeiter unter ihr Kommando zu bekommen —die Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems schuf. Wie wir wissen, waren „Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt“ die tragenden Säulen dieser Entwicklung (Marx 1968: 742). Inso­ fern ist die Rede vom „Übergang zum Kapitalismus“ in vielerlei Hinsicht eine Fiktion. In den 1940er und 1950er Jahren wurde diese Formulierung von britischen Historikern verwendet, um eine - von etwa 1450 bis etwa 1650 dauernde - Epoche zu bezeichnen, in der sich der Feudalismus im Nie­ dergang befand, ohne dass es bereits ein neues sozio-ökonomisches System gegeben hätte, auch wenn sich bereits einige Elemente der kapitalistischen Gesellschaft abzeichneten.4 Der Begriff des „Übergangs“ hilft uns also bei der Konzeptualisierung einer langwierigen Veränderung sowie jener Gesell­ schaften, in denen die kapitalistische Akkumulation mit politischen Forma­ tionen koexistierte, die noch nicht überwiegend kapitalistisch waren. Der Begriff ruft allerdings die Vorstellung einer allmählichen, linearen histori­ schen Entwicklung hervor, wo doch die Zeit, auf die er verweist, zu den blu-

D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen

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tigsten und diskontinuierlichsten der Weltgeschichte zählt. Es war eine Zeit apokalyptischen Wandels, die Historiker nur mit drastischen Bezeichnungen zu beschreiben vermögen: als eisernes Zeitalter (Kamen), Zeitalter des Raubes (Hoskins) oder Zeitalter der Peitsche (Stone). Der Begriff des „Übergangs“ ist also nicht in der Lage, die dem Kapitalismus den Weg ebnenden Verände­ rungen und die diese Veränderungen gestaltenden Kräfte zu evozieren. Daher verwende ich den Begriff in diesem Buch in erster Linie in einem chronologi­ schen Sinn. Zur Bezeichnung der Sozialprozesse, die die „feudale Reaktion“ charakterisierten, verwende ich ebenso wie zur Bezeichnung der Entwick­ lung kapitalistischer Verhältnisse den Marxschen Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ , obgleich ich den Kritikern dieses Begriffs darin zustimme, dass wir die Deutung, die Marx ihm gegeben hat, neu reflektieren müssen.5 Marx führt den Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ am Ende des ersten Bandes des K apital ein, um die soziale und wirtschaftliche Neuord­ nung zu beschreiben, die die herrschende Klasse Europas in Reaktion auf die Akkumulationskrise einleitete. Marx verwendet den Begriff auch in polemi­ scher Absicht,6 um gegen Adam Smith festzuhalten, dass (1) sich der Kapi­ talismus ohne eine vorausgegangene Konzentration von Kapital und Arbeit nicht hätte entwickeln können und (2) die Scheidung der Arbeiter von den Produktionsmitteln, und nicht etwa die Abstinenz der Reichen, die Quelle kapitalistischen Reichtums war. Der Begriff der ursprünglichen Akkumu­ lation ist also nützlich, weil er die „feudale Reaktion“ zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in Beziehung setzt und die historischen und logi­ schen Bedingungen der Entwicklung des kapitalistischen Systems benennt, so dass „ursprünglich“ sowohl als Verweis auf die Vorbedingungen der Exi­ stenz kapitalistischer Verhältnisse als auch auf ein spezifisches geschichtliches Ereignis zu verstehen ist.7 Marx analysierte die ursprüngliche Akkumulation allerdings so gut wie ausschließlich vom Standpunkt des entlohnten Industrieproletariats aus: Die­ ses war in seinen Augen Protagonist des revolutionären Prozesses seiner Zeit und Grundlage der kommenden kommunistischen Gesellschaft. So bestand die ursprüngliche Akkumulation in Marxens Darstellung im Wesentlichen in der Enteignung der europäischen Bauern, die ihres Bodens beraubt wur­ den, sowie in der Herausbildung des „freien“, unabhängigen Arbeiters. Marx erkannte allerdings an, dass „ [d] ie Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrot­ tung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung [Ame­ rikas] in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handels­ jagd auf Schwarzhäute [...] Hauptmomente der ursprünglichen Akku­ mulation [waren]“. (Marx 1968: 779) Marx erkannte ebenfalls an, dass ,,[m]anch Kapital, das heute in den Ver­ einigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, [...] erst gestern in England

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kapitalisiertes Kinderblut“ war (Marx 1968: 784). Dagegen finden die weit­ reichenden Veränderungen in der Reproduktion der Arbeitskraft und der sozialen Stellung der Frauen, die der Kapitalismus hervorrief, in Marxens Werk keinerlei Erwähnung. Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumu­ lation erwähnt auch die „Große Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts nicht, obgleich diese staatlich geförderte Terrorkampagne für die Niederlage der europäischen Bauern von zentraler Bedeutung war, da sie die Vertreibung der Bauern von den vormals gemeinschaftlich genutzten Ländereien erleich­ terte. Ich gehe in diesem Kapitel und in den darauf folgenden Kapiteln auf die genannten Entwicklungen ein, wobei ich mich vor allem auf Europa beziehe. Ich argumentiere dabei wie folgt: 1.

2.

3.

4.

Die Enteignung der europäischen Arbeiter und Arbeiterinnen, also deren Trennung von den Subsistenzmitteln, und die Versklavung der amerika­ nischen und afrikanischen Ureinwohner auf den Minen und Plantagen der „Neuen Welt“ waren nicht die einzigen Mittel, durch die ein Weltp­ roletariat herausgebildet und „akkumuliert“ wurde. Dieser Vorgang erforderte vielmehr auch die Verwandlung des Körpers in eine Arbeitsmaschine und die Unterordnung der Frauen unter die Erfordernisse der Arbeitskraftreproduktion. Vor allem erforderte er die Zerschlagung der Macht der Frauen; sie wurde, sowohl in Europa als auch in Amerika, durch die Vernichtung der „Hexen“ erreicht. Die ursprüngliche Akkumulation bestand also nicht allein in der Kon­ zentration von Kapital und für die Ausbeutung verfügbaren Arbeitern. Es handelte sich vielmehr auch um eine Akkumulation von Unterschieden und Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, so dass Hierarchien, die auf dem Geschlecht, aber auch auf der „Rasse“ und auf dem Alter beruhen, für die Klassenherrschaft und die Herausbildung des modernen Proleta­ riats konstitutiv wurden. Wir können die kapitalistische Akkumulation daher nicht mit der Befreiung des Arbeiters oder der Arbeiterin gleichsetzen, wie es (neben anderen) viele Marxisten getan haben. Im Gegenteil: Der Kapitalismus hat brutalere und listigere Formen der Versklavung hervorgebracht, da er im Körper des Proletariats tiefe Spaltungen geschaffen hat, die der Verschärfung und dem Verschleiern der Ausbeutung dienlich gewesen sind. Es ist weitgehend auf diese erzwungenen Spaltungen - insbeson­ dere auf die zwischen Männern und Frauen - zurückzuführen, dass die kapitalistische Akkumulation bis heute darin fortfährt, in jedem Win­ kel des Planeten das Leben zu verwüsten.

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Kapitalistische Akkumulation und die Akkumulation der Arbeit in Europa

Das Kapital, schrieb Marx, kommt „von K opf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ auf die Welt (Marx 1968: 788). Betrachten wir die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung, so haben wir tatsächlich den Eindruck, uns in einem riesigen Konzentrationslager zu befinden. In der „Neuen Welt“ finden wir die Unterjochung der Ureinwohner durch die Regime der mita und des cuatelchiH Große Massen von Menschen wurden vernutzt, um in den Minen von Huancavelica und Potosi Silber und Queck­ silber zu fördern. In Osteuropa stoßen wir auf eine „zweite Leibeigenschaft“, durch die eine bäuerliche Bevölkerung, die nie zuvor die Erfahrung der Leib­ eigenschaft gemacht hatte, an die Scholle gebunden wurde.9 In Westeuropa gab es die Einhegungen, die Hexenverfolgungen sowie das Brandmarken, Auspeitschen und Einkerkern der Vagabunden und Bettler in neu errichte­ ten Arbeits- und Zuchthäusern, die die Blaupause für zukünftige Gefängnis­ systeme liefern sollten. Am Horizont erkennen wir den Aufstieg des Sklaven­ handels. A uf den Meeren transportieren die Schiffe bereits Schuldknechte und Sträflinge von Europa nach Amerika. Wir können diesem Szenario entnehmen, dass die Gewalt der Haupt­ hebel, die wichtigste wirtschaftliche Kraft im Prozess der ursprünglichen Akkumulation war,10 da die kapitalistische Entwicklung eine sprunghafte Steigerung sowohl des von der herrschenden Klasse Europas angeeigneten Reichtums als auch der Zahl der von dieser Klasse kommandierten Arbeits­ kräfte erforderte. Mit anderen Worten: Die ursprüngliche Akkumulation bestand in einer ungeheuren Akkumulation von Arbeitskraft - und zwar sowohl „toter Arbeit“ (in Form geraubter Güter) als auch „lebendiger Arbeit“ (in Form für die Ausbeutung verfügbar gemachter Menschen) - , und das in einem Maßstab, den es in der Geschichte bis dahin nie gegeben hatte. Es ist bezeichnend, dass die kapitalistische Klasse in den ersten drei Jahr­ hunderten ihrer Existenz dazu tendierte, die Sklaverei und andere Formen unfreier Arbeit als dominantes Arbeitsverhältnis durchzusetzen. Gebremst wurde diese Tendenz nur durch den Widerstand der Arbeiterinnen sowie durch die Gefahr einer Erschöpfung der Arbeiterschaft. Das war nicht nur in den amerikanischen Kolonien der Fall, wo im 16. Jahrhundert auf unfreier Arbeit gründende Ökonomien im Entstehen begrif­ fen waren, sondern auch in Europa. Ich werde später noch die Bedeutung der Sklavenarbeit und des Plantagensystems für die kapitalistische Akkumu­ lation untersuchen. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die (nie rest­ los abgeschaffte) Sklaverei auch im Europa des 15. Jahrhunderts wiederbe­ lebt wurde.11 Der italienische Historiker Salvatore Bono, dem wir die umfangreich­ ste Studie zur Sklaverei in Italien verdanken, berichtet, dass es im Mittel­ meerraum des 16. und 17. Jahrhunderts zahlreiche Sklaven gab; nach der Seeschlacht von Lepanto (1571), die die feindselige Haltung zur muslimi-

8o sehen Welt verschärfte, stieg ihre Zahl noch an. Bono berechnet, dass in Nea­ pel mehr als 10.000 Sklaven lebten; im gesamten neapolitanischen König­ reich waren es 25.000 (ein Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Zahlen für andere italienische Städte sowie für Südfrankreich sind ähnlich. In Italien ent­ wickelte sich ein System der staatlichen Sklaverei: Tausende entführter Frem­ der - die Vorfahren der papierlosen migrantischen Arbeiter unserer Tage wurden von den Stadtverwaltungen bei staatlichen Bauvorhaben eingesetzt, oder aber sie wurden an Privatbürger weitergereicht, die sie in der Landwirt­ schaft beschäftigten. Viele wurden als Ruderer eingesetzt, etwa in der vatika­ nischen Flotte (Bono 1999: 6—8). Die Sklaverei ist „die Form der Ausbeutung, die der Herr stets anstrebt“ (Dockes 1982: 2). Europa war keine Ausnahme. Das muss betont werden, um die Annahme auszuräumen, dass es eine besondere Beziehung zwischen der Sklaverei und Afrika gegeben habe.12 Allerdings blieb die Sklaverei in Europa eine beschränkte Erscheinung, da ihre materiellen Vorbedingungen fehlten, obgleich sich die Arbeitgeber die Sklaverei sehr gewünscht haben müssen, dauerte es doch bis zum 18. Jahrhundert, bis dieses Arbeitsverhält­ nis in England für ungesetzlich erklärt wurde. Der Versuch, die Leibeigen­ schaft wiedereinzuführen, scheiterte ebenfalls, außer im Osten, wo der Bevöl­ kerungsmangel den Grundherren die Oberhand gab.13 Im Westen wurde die Wiedereinführung der Leibeigenschaft durch den im „deutschen Bau­ ernkrieg“ gipfelnden bäuerlichen Widerstand verhindert. Es handelte sich um eine beträchtliche organisatorische Leistung, die sich über drei Länder erstreckte (Deutschland, Österreich und die Schweiz) und Arbeiter aus allen Bereichen zusammenführte (Bauern, Bergarbeiterinnen und Handwerker, wobei sich unter letzteren auch die hervorragendsten deutschen und öster­ reichischen Künstler der Zeit befanden).14 Diese „Revolution des gemeinen Mannes“ war ein Wendepunkt der europäischen Geschichte. Wie die bol­ schewistische Revolution im Russland des Jahres 1917, so traf auch der deut­ sche Bauernkrieg ins Herz der Macht. In der Vorstellung der Mächtigen ver­ schmolz er mit der Einnahme Münsters durch die Wiedertäufer und schien damit die Befürchtung zu bestätigen, dass es eine internationale Verschwö­ rung gebe, die sich den Sturz der europäischen Machthaber zum Ziel gesetzt habe.15 A uf die Niederlage der Bauern, die sich im gleichen Jahr ereignete wie die Eroberung Perus, und an die Albrecht Dürer mit seiner „Bauern­ säule“ erinnern wollte (Thea 1998: 65, 134—135), folgte gnadenlose Vergel­ tung. „Tausende von Leichen lagen zwischen Thüringen und dem Eisass auf dem Boden: auf den Feldern, in den Wäldern und in den Gräben tausender zerstörter, abgebrannter Schlösser“; die Bauern wurden „ermordet, gefoltert, aufgespießt, gemartert“ (Thea 1998: 153, 146). Aber die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen. In verschiedenen Teilen Deutschlands und anderer Regionen, die im Mittelpunkt des „Krieges“ gestanden hatten, blieben Gewohnheits­ rechte und sogar Formen territorialer Selbstverwaltung erhalten.16

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Das war jedoch eine Ausnahme. Wo der Widerstand der Arbeiterin­ nen gegen die Wiedereinführung der Leibeigenschaft nicht gebrochen wer­ den konnte, dort bestand die Antwort in der Enteignung der bäuerlichen Ländereien und in der Erzwingung von Lohnarbeit. Arbeiter, die sich auf eigene Faust zu verdingen versuchten oder ihre Arbeitgeber verließen, wurden mit Freiheitsentzug und im Wiederholungsfall sogar mit dem Tod bestraft. Ein „freier“ Arbeitsmarkt sollte in Europa erst im 18. Jahrhundert entste­ hen; selbst dann konnte die vertraglich geregelte Lohnarbeit nur um den Preis eines heftigen Kampfes durchgesetzt werden und betraf nur einen engen Kreis meist männlicher und erwachsener Arbeiter. Nichtsdestotrotz hatte die Tatsache, dass die Leibeigenschaft nicht wiederhergestellt werden konnte, zur Folge, dass sich die für das Spätmittelalter charakteristische Arbeitskrise in Europa bis ins 17. Jahrhundert hinein verlängerte. Verschärft wurde die Lage noch dadurch, dass die Bemühungen um eine Maximierung der Ausbeu­ tung die Reproduktion der Arbeiterschaft gefährdeten. Dieser - für die kapi­ talistische Entwicklung bis heute charakteristische17 - Widerspruch spitzte sich in den amerikanischen Kolonien am deutlichsten zu. Dort vernichte­ ten Arbeit, Krankheit und Disziplinarstrafen in den Jahrzehnten unmittelbar nach der Conquista zwei Drittel der indigenen Bevölkerung.18 Der gleiche Widerspruch machte auch den Kern des Sklavenhandels sowie der Ausbeu­ tung der Sklavenarbeit aus. Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen starben aufgrund der grausamen Lebensbedingungen, denen sie während der „Mittelpassage“ sowie auf den Plantagen ausgesetzt waren. In Europa hat die Ausbeutung der Arbeiterschaft zu keinem Zeitpunkt ein solch genozidales Ausmaß erreicht, die nationalsozialistische Herrschaft ausgenommen. Doch führten Landprivatisierung und die Kommodifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse (die Antwort der Herren und Kaufleute auf ihre Wirtschafts­ krise) auch dort im 16. und 17. Jahrhundert zu weitverbreiteter Armut und Mortalität sowie zu einem heftigen Widerstand, der die sich entwickelnde kapitalistische Ökonomie Schiffbruch erleiden zu lassen drohte. Das ist mei­ ner Ansicht nach der historische Kontext, in den die Geschichte der Frauen und der Reproduktion während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapi­ talismus eingeordnet werden sollte. Denn die Veränderungen, die der Auf­ stieg des Kapitalismus hinsichtlich der sozialen Stellung der Frauen bewirkte - und zwar insbesondere innerhalb des Proletariats, sei es in Europa, sei es in Amerika - , waren in erster Linie Ergebnis der Suche nach neuen Arbeits­ quellen sowie nach neuen Formen der Reglementierung und Spaltung der Arbeiterschaft. Um diese These zu belegen, zeichne ich die wichtigsten Entwicklun­ gen nach, die den Aufstieg des Kapitalismus in Europa geprägt haben: die Landprivatisierung und die Preisrevolution. Ich behaupte, dass keine dieser beiden Entwicklungen hinreichend war, um einen dauerhaften Proletarisie­ rungsprozess einzuleiten. Anschließend untersuche ich, in groben Umrissen,

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die Politik, die die kapitalistische Klasse einführte, um das europäische Pro­ letariat zu disziplinieren, zu reproduzieren und zu vergrößern. Ich beginne mit dem Angriff der kapitalistischen Klasse auf die Frauen, der zum Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung führte, die ich als „Patriarchat des Loh­ nes“ bezeichne. Schließlich untersuche ich die Herstellung rassistischer und sexistischer Hierarchien in den Kolonien und frage, inwiefern sie in der Lage waren, ein Terrain der Konfrontation oder der Solidarität von indigenen, afri­ kanischen und europäischen Frauen, sowie von Frauen und Männern, her­ zustellen. Die Landprivatisierung in Europa, die Produktion des Mangels und die Trennung von Produktion und Reproduktion

Seit Beginn des Kapitalismus hat die Verelendung der Arbeiterklasse in Krieg und Landprivatisierung ihren Ursprung gehabt. Es handelte sich dabei schon immer um ein internationales Phänomen. Bis zur Mitte des 16. Jahr­ hunderts hatten europäische Kaufleute einen Großteil der Ländereien auf den Kanarischen Inseln enteignet und in Zuckerplantagen umgewandelt. Zum umfangreichsten Prozess der Landprivatisierung und der Einhegung kam es in den Amerikas, wo sich die Spanier mittels ihres encomienda-Systems bis zum Beginn des 17. Jahrhundert ein Drittel der gemeinschaftlich genutzten indigenen Ländereien angeeignet hatten. Landverlust war auch eine der Fol­ gen des Sklavenhandels in Afrika, der viele Gemeinschaften des wertvollsten Teils ihrer Jugendlichen beraubte. In Europa begann die Landprivatisierung im späten 15. Jahrhun­ dert, zeitgleich mit der kolonialen Expansion. Sie nahm verschiedene For­ men an: die Vertreibung von Pächtern, Pachtsteigerungen und eine Erhö­ hung staatlicher Steuern, die Verschuldung und Landverkäufe nach sich zog. Ich bezeichne all diese Formen als Landenteignung, da es auch dann, wenn keine Gewalt eingesetzt wurde, gegen den Willen des Individuums oder der Gemeinschaft zum Landverlust kam, was die Subsistenzfähigkeit der Men­ schen unterminierte. Zwei Formen der Landenteignung müssen besonders hervorgehoben werden: Krieg —dessen Charakter sich in diesem Zeitraum veränderte, da er nunmehr als Mittel zur Verwandlung territorialer und öko­ nomischer Arrangements verwendet wurde - und religiöse Reform. ,,[V]or 1494 bestand die Kriegsführung in Europa hauptsächlich aus Kleinkriegen, die sich durch kurze und unregelmäßige Kampagnen auszeich­ neten“ (Cunningham und Grell 2000: 95). Diese Kampagnen fanden oft im Sommer statt, um den Bauern, die das Gros der Soldaten stellten, Zeit für die Aussaat zu lassen. Heere standen sich über längere Zeit gegenüber, ohne dass es zu nennenswerten Gefechtshandlungen kam. Im 16. Jahrhundert wurde allerdings häufiger als vorher Krieg geführt, und es entstand eine neue Form der Kriegsführung. Diese ging teilweise auf technologische Neuerungen zurück, vor allem aber darauf, dass europäische Staaten sich der territorialen

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Jacques Callot, Die Schrecken des Krieges (1633). Stich. Die von den Militärautoritäten gehängten Männer waren ehemalige, zur Räuberei übergegangene Soldaten. Entlassene Soldaten stellten einen Großteil der Vagabunden und Bettler, die sich im 1?. Jahrhundert auf den Straßen Europas drängten. Expansion zuzuwenden begannen, um ihre ökonomischen Krisen zu bewälti­ gen. Wichtig war auch, dass wohlhabende Finanziers in den Krieg zu investie­ ren begannen. Militärkampagnen dauerten nun viel länger. Die Heere vergrö­ ßerten sich um das Zehnfache, und es entstand das stehende Berufsheer.19 Es wurden Söldner angeheuert, die keinerlei Beziehung zur Lokalbevölkerung hatten. Ziel der Kriegsführung wurde die Auslöschung des Feindes, so dass Kriege nun verlassene Dörfer, mit Leichen übersäte Felder, Hungersnöte und Epidemien zurückließen, wie in Albrecht Dürers Holzschnitt D ie vier apoka­ lyptischen Reiter (1498) dargestellt.20 Dieses Phänomen, dessen traumatische Auswirkungen auf die Bevölkerung in zahlreichen künstlerischen Darstel­ lungen ihren Ausdruck fanden, veränderte das landwirtschaftliche Panorama Europas. Hinzu kommt, dass viele Pachtverträge annulliert wurden, nachdem es im Zuge der Reformation zur Konfiszierung kirchlicher Ländereien gekom­ men war. Die Reformation begann mit einer gewaltigen Aneignung von Land durch die Oberklasse. In Frankreich einte das gemeinsame Interesse an kirch­ lichen Ländereien zunächst die Unter- und Oberklassen innerhalb der pro­ testantischen Bewegung. Als das Land dann aber (ab 1563) auf Auktionen verkauft wurde, wurden die Erwartungen der Handwerker und Tagelöhner enttäuscht, obgleich diese Handwerker und Tagelöhner die Enteignung der Kirche „mit einer aus Bitterkeit und Hoffnung gespeisten Leidenschaftlich­ keit“ gefordert und sich aufgrund des Versprechens mobilisiert hatten, dass auch sie ihren Anteil erhalten würden (Le Roy Ladurie 1974: 173-176). Auch die Bauern, die zum Protestantismus konvertiert waren, um sich vom Zehnten zu befreien, wurden enttäuscht. Als sie auf ihre Rechte bestanden und erklärten, „das Evangelium verspreche Freiheit und Übertragung des Landeigentums“, wurden sie der Aufwiegelung beschuldigt und schonungs­ los attackiert (Le Roy Ladurie 1974: 192).21 Auch in England wechselten

84 viele Ländereien im Namen religiöser Reformen die Hände. W. G. Hoskins hat dies als „die größte Landübereignung der englischen Geschichte seit dem normannischen Eroberungszug“ beschrieben, oder auch, etwas konziser, als den „Großen Raubzug“ .22 In England wurde die Landprivatisierung jedoch vor allem durch „Einhegungen“ betrieben: ein Phänomen, dass so sehr mit der Enteignung des „gemeinschaftlichen Wohlstands der Arbeiter in Verbin­ dung gebracht wird, dass antikapitalistische Aktivistinnen den Begriff heute verwenden, um jeglichen Angriff auf gesellschaftlich verbriefte Ansprüche zu bezeichnen.23 Im 16. Jahrhundert war „Einhegung ein Fachbegriff. Er bezeichnete eine Reihe von Strategien, derer sich die englischen Herren und wohlhaben­ den Bauern bedienten, um das gemeinschaftliche Landeigentum abzuschaf­ fen und ihre eigenen Ländereien zu vergrößern.24 Meistens ging es dabei um die Abschaffung des sogenannten Gewanns, eines Arrangements, unter dem Dorfbewohner Ackerstücke besaßen, die nicht aneinander angrenzten und sich auf einem nicht eingezäunten Landstück befanden. Zur Einhegung gehörten auch das Umzäunen der Allmende und das Abreißen der Schuppen armer Häusler oder Kätner, die über kein eigenes Land verfügten, dank ihrer Gewohnheitsrechte aber dennoch ihren Lebensunterhalt bestreiten konn­ ten.25 Größere Landstücke wurden auch eingehegt, um Wildparks einzurich­ ten, und ganze Dörfer wurden abgerissen, um Platz für Weideland zu schaf­ fen. Die Einhegungen dauerten bis ins 18. Jahrhundert an (Neeson 1993). Doch bereits vor der Reformation wurden auf diese Weise mehr als zweitau­ send ländliche Siedlungen zerstört (Fryde 1996: 185). Die Zerstörung der Dörfer ging so weit, dass der Königshof 1518 und 1548 Untersuchungen anordnete. Zwar wurden mehrere königliche Ausschüsse gebildet, doch es wurde wenig unternommen, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten. Stattdessen kam es zu einem heftigen Konflikt, der in zahlreichen Aufständen gipfelte. Begleitet wurde er von einer langwierigen Debatte um die Vorzüge und Nachteile der Landprivatisierung, die bis heute anhält, hat sie doch der Angriff der Weltbank auf die letzten planetarischen Allmenden Wiederaufle­ ben lassen. Kurz gesagt vertreten die „Modernisieret“, unabhängig von ihrer jeweili­ gen politischen Ausrichtung, die Ansicht, Einhegungen würden die Effizienz der Landwirtschaft steigern. Die durch Einhegungen verursachten Verwer­ fungen würden durch eine bedeutende Anhebung der landwirtschaftlichen Produktivität mehr als kompensiert. Es wird behauptet, das Land sei ausge­ zehrt gewesen und hätte, wenn es im Besitz der Armen verblieben wäre, bald nicht mehr produktiv genutzt werden können (eine Behauptung, die Gar­ rett Hardins „Tragik der Allmende“ vorwegnimmt);26 indem die Reichen es übernommen hätten, habe das Land ruhen können. In Verbindung mit land­ wirtschaftlicher Innovation hätten die Einhegungen das Land produktiver

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gemacht, so dass sich die Lebensmittelversorgung verbessert habe. Aus dieser Sicht ist jegliche Anpreisung der gemeinschaftlichen Landnutzung als „Nost­ algie“ abzulehnen. Es wird angenommen, der landwirtschaftliche Kommu­ nalismus sei rückständig und ineffizient. Wer ihn verteidige, hänge auf unan­ gemessene Weise der Tradition nach.27 Diese Argumente halten kritischer Prüfung jedoch nicht stand. Landpri­ vatisierung und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft verbesserten die Lebensmittelversorgung der Armen nicht, obgleich mehr Lebensmittel für den Markt und den Export zur Verfügung standen. Für die Arbeiter läute­ ten diese Entwicklungen zwei Jahrhunderte des Hungers ein, ganz so, wie die Unterernährung heute selbst in den fruchtbarsten Gebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas grassiert, und zwar infolge der Aufhebung gemeinschaft­ lichen Landbesitzes sowie der durch die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank forcierten Politik eines „Exports um jeden Preis“. Auch in England wurden die aufgrund der Landprivatisierung und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft erlittenen Verluste nicht durch die Einführung neuer land­ wirtschaftlicher Techniken kompensiert. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Agrar-Kapitalismus ging mit der Verelendung der ländlichen Bevölkerung „Hand in Hand“ (Lis und Soly 1979: 102). Das durch die Landprivatisierung erzeugte Elend wird durch die Tatsache bezeugt, dass sechzig europäische Ortschaften kaum ein Jahrhundert nach der Entstehung des Agrar-Kapita­ lismus Formen der Sozialhilfe einführten oder deren Einführung erwogen, während das Vagabundentum zu einem internationalen Problem wurde (Lis und Soly 1979: 87). Das Bevölkerungswachstum mag zu diesen Entwicklun­ gen beigetragen haben, doch hat man dessen Bedeutung überbetont. Ende des 16. Jahrhunderts war das Bevölkerungswachstum in den meisten Gebie­ ten Europas ein stagnierendes oder sogar rückläufiges. Diesmal brachte dies den Arbeitern jedoch keinerlei Vorteile. Auch hinsichtlich der Effizienz des Gewanns als eines landwirtschaft­ lichen Systems sind Fehlannahmen weitverbreitet. Neoliberale Historiker haben das Gewann als unökonomisch beschrieben, doch selbst ein Befür­ worter der Landprivatisierung wie Jean De Vries erkennt an, dass die gemein­ schaftliche Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen viele Vorteile hatte. Sie schützte die Bauern vor den Folgen des Ernteausfalls, da jede Familie Zugriff auf mehrere Ackerflächen hatte. Außerdem war der Arbeitsaufwand überschaubar, da die Ackerflächen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander bestellt wurden. Und schließlich beförderte das Gewann eine demokratische Lebensweise, die auf Selbstverwaltung und Eigenständigkeit beruhte, wur­ den doch sämtliche Entscheidungen - wann gesät und geerntet werden sollte, wann die Moore trockengelegt werden sollten, wie viele Tiere auf die All­ mende zu lassen seien - auf Bauernversammlungen getroffen.28 Dieselben Überlegungen gelten auch für die „Allmende“. Im 16. Jahr­ hundert wurde sie als Quelle von Trägheit und Unordnung verunglimpft,

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Ländliches Fest. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft wurden auf der Allmende abgehalten. Stich von Daniel Hopfer, 16. Jahrhundert. doch die Allmende war ausschlaggebend für die Reproduktion vieler Klein­ bauern und Häusler, die nur zu überleben in der Lage waren, weil sie Zugang zu Feldern hatten, auf denen ihre Kühe weiden, zu Wäldern, in denen sie Holz, wilde Beeren und Kräuter sammeln konnten, zu Jagdgebieten oder Fischereien sowie zu offenen Stellen, an denen sich Versammlungen abhal­ ten ließen. Die Allmende beförderte nicht nur Formen kollektiver Entschei­ dungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämdiche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der Allmende statt.29 Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen beson­ ders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesell­ schaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen. Eine Bemerkung Alice Clarks über die Bedeutung der Märkte für die Frauen des vorkapitalistischen Europas paraphrasierend, können wir sagen, dass die All­ mende im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Frauen stand: Die

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Allmende war der Ort, an dem Frauen zusammentrafen, Nachrichten aus­ tauschten und Ratschläge erhielten, und sie war der Ort, an dem sich eine weibliche Sicht auf die Gemeinschaft betreffende Ereignisse herausbilden konnte, unabhängig von der Sicht der Männer (Clark 1968: 51). Dieses Netzwerk kooperativer Beziehungen, das R. D. Tawney als den „Urkommunismus“ des feudalen Dorfes bezeichnet hat, zerfiel mit der Auf­ lösung des Gewanns und der Einhegung vormals gemeinschaftlich bestellter Ländereien (Tawney 1967). Als das Land privatisiert und kollektive Arbeits­ verträge durch individuelle ersetzt wurden, war es nicht nur mit der Koope­ ration vorbei, die die landwirtschaftliche Arbeit bis dahin geprägt hatte. Es vertieften sich auch die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Landbe­ völkerung. Es stieg die Zahl armer, illegaler Siedler, die nur noch über eine Hütte und eine Kuh verfügten und keine andere Wahl hatten, als „gebeug­ ten Knies und mit dem Hut in der Hand“ um Arbeit zu betteln (Seccombe 1992). Der soziale Zusammenhalt ging verloren.30 Familien zerfielen, und die Jugend verließ die Dörfer, um sich jenen Vagabunden und Wanderar­ beitern anzuschließen, die bald zum bedeutendsten sozialen Problem der Epoche werden sollten, während die älteren Menschen zurückblieben und sich allein durchschlagen mussten. Altere Frauen waren besonders benach­ teiligt: D a sie nicht mehr von ihren Kindern unterstützt wurden, wurden sie ins Armenregister aufgenommen oder überlebten durch Leihgaben, kleine Diebstähle und Zahlungsaufschub. Das Ergebnis war eine Bauernschaft, die nicht nur durch die sich verschärfende wirtschaftliche Ungleichheit polari­ siert wurde, sondern auch durch ein Geflecht des Hasses und des Ressenti­ ments, das Dokumente aus der Zeit der Hexenverfolgungen gut belegen. Diesen Dokumenten ist zu entnehmen, dass Streitereien um Hilfegesuche, streunende Tiere oder ausstehende Pachtzahlungen oftmals Hintergrund der Beschuldigungen waren.31 Die Einhegungen unterminierten auch die wirtschaftliche Situation der Handwerker. A uf die gleiche Weise, auf die sich multinationale Konzerne die von der Weltbank enteigneten Bauern zunutze machen, indem sie „freie Export­ zonen“ einrichten, wo Waren kostengünstiger produziert werden als irgendwo sonst, bedienten sich die Handelskapitalisten des 16. und 17. Jahrhunderts der in den ländlichen Gebieten verfügbar gewordenen billigen Arbeitskräfte, um die Macht der städtischen Zünfte zu brechen und der Unabhängigkeit der Handwerker ein Ende zu setzen. Das war insbesondere in der Textilindustrie der Fall, die als ländliches Heimgewerbe reorganisiert wurde, auf der Grundlage des Verlagssystems, des Vorläufers der - ebenfalls auf Frauen- und Kinderar­ beit beruhenden - „informellen Wirtschaft“ unserer Tage.32Textilarbeiterinnen waren jedoch nicht die einzigen, deren Arbeit verbilligt wurde. Sobald sie den Zugang zum Land verloren hatten, wurden alle Arbeiter in einen Zustand der Abhängigkeit versetzt, der im Mittelalter unbekannt gewesen war. Die Landlo­ sigkeit der Arbeiter ermöglichte es den Arbeitgebern, die Löhne zu senken und

88 den Arbeitstag zu verlängern. In protestantischen Gebieten geschah dies unter dem Vorwand religiöser Reform: Dort wurde die Länge des Arbeitsjahres durch Abschaffung der Heiligentage verdoppelt. Es überrascht nicht, dass die Landenteignungen eine veränderte Ein­ stellung der Arbeiter zum Lohn nach sich zogen. Im Mittelalter hatte man den Lohn noch als Mittel der Freiheit ansehen können (im Gegensatz zum Zwang der Frondienste), doch sobald die Arbeiter keinen Zugang zum Land mehr hatten, begannen Löhne, als Mittel der Versklavung aufgefasst zu wer­ den (Hill 1975: 181 ff.).33 Der Hass der Arbeiter auf die Lohnarbeit war derart ausgeprägt, dass Gerrard Winstanley, der Anführer der Diggers, erklärte, es mache keinen Unterschied, ob man unter Feinden oder Brüdern lebe, solange man für einen Lohn arbeite. Das erklärt, warum es im Gefolge der Einhegungen (im weiteren Sinne aller Formen von Landprivatisierung) zu einem Anstieg in der Zahl der „Vagabunden“ und „herrenlosen“ Männer kam, die lieber über die Straßen zogen und Versklavung und Tod riskierten - wie in der gegen sie verordneten „Blutgesetzgebung“ vorgesehen - , als Lohnarbeit zu leisten.34 Es erklärt auch den unermüdlichen Kampf, den die Bauern führten, um die Ent­ eignung ihrer Landstücke zu verhindern, ganz gleich, wie klein diese Land­ stücke waren. In England begannen die Kämpfe gegen die Einhegungen im späten 15. Jahrhundert und dauerten durch das 16. und 17. Jahrhundert hindurch an. Damals wurde die Entfernung der um die eingehegten Felder gepflanz­ ten Hecken zu der „am weitesten verbreiteten Form von Sozialprotest“ und zum Symbol des Klassenkonflikts (Manning 1988: 311). Unruhen anlässlich der Einhegungen wurden oft zu Massenaufständen. Der berüchtigtste dieser Aufstände war die nach ihrem Anführer Robert Kett benannte Kett-Rebellion, die 1549 in Norfolk stattfand. Es handelte sich dabei nicht etwa um eine kleinere, nächtliche Angelegenheit. A uf dem Höhepunkt des Aufstands waren die Aufständischen 16.000 an der Zahl. Sie verfügten über ihre eigene Artillerie, besiegten ein 12.000 Mann starkes Regierungsheer und nahmen sogar Norwich ein, damals die zweitgrößte Stadt Englands.35 Sie verfassten auch ein Programm, das der Entwicklung des Agrar-Kapitalismus, so es denn umgesetzt worden wäre, Einhalt geboten und zugleich alle Reste der Feu­ dalmacht beseitigt hätte. Das Programm bestand aus 29 Forderungen, die Kett, ein Bauer und Gerber, dem Vogt vorlegte. Die erste Forderung lautete, „dass von nun an kein Mann mehr einhegen soll.“ Gefordert wurde außer­ dem das Absenken der Pachten auf das Niveau von vor 65 Jahren, „dass alle Landsassen und Zinslehensbauern sich des Überschusses sämtlicher Allmen­ den bedienen können“ sowie „dass alle Hörigen befreit werden, denn Gott hat durch das Vergießen seines kostbaren Blutes alle frei gemacht“ (Fletcher 1973: 142-144). Diese Forderungen wurden in die Praxis umgesetzt. In ganz Norfolk wurden die um eingehegte Felder gepflanzten Hecken entwurzelt.

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Die Rebellen wurden erst durch den Angriff eines zweiten Regierungsheers aufgehalten. In dem Massaker, zu dem es anschließend kam, wurden 3.500 von ihnen getötet und hunderte verwundet. Kett und sein Bruder William wurden vor der Stadtmauer von Norwich gehängt. Die Kämpfe gegen die Einhegungen hielten jedoch durch die ganze Herrschaftszeit James’ VI. hindurch an, und die Zahl der beteiligten Frauen stieg merklich.36 Zur Zeit der Herrschaft von James I. waren Frauen an etwa zehn Prozent der Unruhen beteiligt, zu denen es anlässlich von Ein­ hegungen kam. Manche Proteste wurden auch gänzlich von Frauen getra­ gen. Beispielsweise griff 1607 eine Gruppe von 37 Frauen, angeführt von einer „Captain Dorothy“, Bergarbeiter an, die auf der ehemaligen Dorf-All­ mende von Thorpe Moor in Yorkshire Kohle förderten. Im Jahr 1608 zogen vierzig Frauen los, „um die Zäune und Hecken einzureißen“, die ein einge­ hegtes Landstück in Waddingham (Lincolnshire) umgaben. Im Jahr 1609 wurde aus einer Domäne in Dunchurch (Warwickshire) berichtet, „fünfzehn Frauen, darunter Ehefrauen, Witwen, unverheiratete alte Frauen, unverhei­ ratete Töchter und Dienstbotinnen“ hätten „sich nachts versammelt, um die Hecken auszugraben und die Gräben zuzuschütten“ (Fletcher 1973: 97). Im Mai 1624 zerstörten Frauen in der Gegend von York eine Einhegung und gingen dafür ins Gefängnis; es hieß, sie hätten „nach ihrer Tat dem Tabakund Biergenuss gefrönt“ (Fraser 1984: 225-226). Im Jahr 1641 verschaffte sich dann eine überwiegend aus Frauen bestehende, von einigen kleinen Jun­ gen unterstützte Gruppe Zutritt zu einem eingehegten Moor bei Buckden (ebd.). Dies sind nur einige Beispiele für eine Auseinandersetzung, bei der sich mit Heugabeln und Sensen bewaffnete Frauen der Einzäunung der Län­ dereien und der Trockenlegung der Moore widersetzten, da ihr Lebensunter­ halt auf dem Spiel stand. Die starke Beteiligung von Frauen an diesen Protesten ist auf die Ansicht zurückgeführt worden, Frauen stünden über dem Gesetz, denn rechtlich ver­ antwortlich waren ihre Ehemänner. Männer hätten sich sogar als Frauen ver­ kleidet, um die Zäune einzureißen. Diese Erklärung sollte jedoch nicht über­ strapaziert werden, denn die Regierung schaffte dieses weibliche Privileg rasch ab und begann Frauen, die sich an den anlässlich von Einhegungen ausgebro­ chenen Unruhen beteiligt hatten, zu verhaften und einzusperren.37 Wir soll­ ten auch nicht davon ausgehen, dass Frauen kein eigenständiges Interesse am Widerstand gegen die Landprivatisierung hatten. Das Gegenteil war der Fall. Wie bei der Umwandlung von Frondiensten in Geldleistungen, so waren es auch beim Landverlust und beim Zerfall der Dorfgemeinschaft die Frauen, die am meisten unter den veränderten Umständen zu leiden hatten. Das lag teilweise daran, dass es für sie viel schwieriger war, Vagabundinnen oder Wan­ derarbeiterinnen zu werden. Schließlich setzte sie ein Leben als Nomadinnen männlicher Gewalt aus, und das umso mehr, als damals die Frauenfeindlich­ keit auf dem Vormarsch war. Schwangerschaften und die Erfordernisse der

90 Kinderpflege schränkten die Mobilität der Frauen ebenfalls ein: eine Tatsa­ che, die von Forschern, die die (durch Migration oder andere Formen des Nomadismus bewerkstelligte) Flucht vor der Leibeigenschaft als paradigma­ tische Kampfform ansehen, oft übersehen wird. Frauen stand es auch nicht frei, Soldatinnen zu werden und für einen Sold zu kämpfen. Einige von ihnen schlossen sich zwar als Köchinnen, Wäscherinnen, Prostituierte oder Ehe­ frauen den Heeren an.38 Bis zum 17. Jahrhundert war ihnen jedoch auch dies nicht mehr möglich, denn die Heere wurden stärker reglementiert und die Frauentrosse, die den Soldaten einmal gefolgt waren, wurden des Schlacht­ feldes verwiesen (Kriedte 1983: 55). Die Einhegungen wirkten sich auch deswegen besonders unvorteilhaft auf Frauen aus, weil es für Frauen, sobald man das Land privatisiert hatte und monetäre Beziehungen das Wirtschaftsleben zu dominieren begannen, schwerer war als für Männer, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Frauen wurden zunehmend auf die Reproduktionsarbeit festgelegt, und das zu eben dem Zeitpunkt, als diese vollends abgewertet zu werden begann. Dieses mit dem Übergang von der Subsistenz- zur Geldwirtschaft einhergehende Phä­ nomen, das in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung zu verzeichnen gewesen ist, lässt sich, wie wir noch sehen werden, auf verschiedene Fakto­ ren zurückführen. Es ist jedoch klar, dass die Kommerzialisierung des Wirt­ schaftslebens die materiellen Bedingungen dafür schuf. Mit dem Niedergang der Subsistenzwirtschaft, die im vorkapitalistischen Europa vorgeherrscht hatte, wurde jener Einheit von Produktion und Repro­ duktion ein Ende gesetzt, die typisch für alle Gesellschaften ist, in denen die Produktion am Eigenbedarf ausgerichtet ist. Produktive und reproduktive Tätigkeiten wurden Trägerinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhält­ nisse und auf geschlechtlicher Grundlage ausdifferenziert. Unter dem neuen monetären Regime galt nur die Produktion für den Markt als wertschöpfende Tätigkeit, während die Reproduktion des Arbeiters als eine Tätigkeit aufge­ fasst wurde, die wirtschaftlich wertlos ist; sie hörte sogar auf, als Arbeit ange­ sehen zu werden. Die Reproduktionsarbeit wurde weiterhin bezahlt, wenn auch schlechter, sofern sie für die Herrenklasse oder außerhalb des Hauses geleistet wurde. Die wirtschaftliche Bedeutung der im Haushalt geleisteten Reproduktion der Arbeitskraft wurde jedoch, ebenso wie ihre Funktion für die Akkumulation des Kapitals, unsichtbar gemacht und als natürliche Beru­ fung oder „Frauenarbeit“ mystifiziert. Hinzu kam, dass Frauen von vielen entlohnten Tätigkeiten ausgeschlossen wurden. Wenn sie gegen Lohn arbei­ teten, dann erhielten sie - im Vergleich zum durchschnittlichen männlichen Arbeiter - nur einen Hungerlohn. Diese historischen Veränderungen - die ihren Höhepunkt im 19. Jahr­ hundert erreichen sollten, als es zur Entstehung der Vollzeit-Hausfrau kam führten zu einer Neubestimmung sowohl der gesellschaftlichen Stellung der Frauen als auch des Verhältnisses von Frauen und Männern. Die geschlecht­

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liehe Arbeitsteilung, die daraus hervorging, legte Frauen nicht nur auf die Reproduktionsarbeit fest, sondern steigerte auch ihre Abhängigkeit von Män­ nern, was es dem Staat und den Arbeitgebern erlaubte, den Männerlohn als Mittel zur Kommandierung von Frauenarbeit einzusetzen. So ermöglichte die Trennung von Warenproduktion und Arbeitskraft-Reproduktion auch die Entwicklung eines spezifisch kapitalistischen Gebrauchs des Lohnes und der Märkte; beide wurden zu Mitteln der Akkumulation unbezahlter Arbeit. Am wichtigsten war jedoch, dass die Trennung der Produktion von der Reproduktion eine Klasse proletarischer Frauen hervorbrachte, die ebenso eigentumslos waren wie die Männer, im Unterschied zu diesen aber in einer zunehmend monetarisierten Gesellschaft fast keinerlei Zugang zu einem Lohn hatten. Sie gerieten so in einen Zustand, der geprägt war von chro­ nischer Armut, wirtschaftlicher Abhängigkeit und ihrer Unsichtbarkeit als Arbeiterinnen. Die Abwertung und Feminisierung der Reproduktionsarbeit war, wie wir noch sehen werden, auch für männliche Arbeiter ein Desaster. Denn die Abwertung der Reproduktionsarbeit zog unweigerlich die Abwertung des Produkts dieser Arbeit, also der Arbeitskraft, nach sich. Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass Frauen im Zuge des „Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus“ einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung erlitten, der für die Akkumulation des Kapitals von grundlegender Bedeutung war und dies bis heute geblieben ist. Angesichts dieser Entwicklungen können wir also nicht sagen, die Tren­ nung des Arbeiters vom Boden und der Aufstieg der Geldwirtschaft: hätten den von den Leibeigenen des Mittelalters aufgenommenen K am pf um die Aufhebung der Knechtschaft vollendet. Es waren nicht die - männlichen oder weiblichen - Arbeiter, die durch die Landprivatisierung befreit wurden. Was „befreit“ wurde, war das Kapital, denn das Land war nun „frei“ verfüg­ bar, als Mittel der Akkumulation und Ausbeutung (anstatt als Subsistenzmit­ tel). Befreit wurden die Landeigentümer, die den Großteil der Reprodukti­ onskosten auf die Arbeiter abwälzen konnten und ihnen nur im Fall eines Beschäftigungsverhältnisses Zugang zu Subsistenzmitteln gewähren mussten. Wenn es keine Arbeit gab oder wenn sie nicht hinreichend profitabel war, etwa in Zeiten von Handels- oder Agrarkrisen, konnten die Arbeiter entlas­ sen und dem Hungertod überlassen werden. Die Trennung der Arbeiter von ihren Subsistenzmitteln und ihre neue Abhängigkeit von Geldverhältnissen bedeuteten auch, dass der Reallohn gesenkt und die Frauenarbeit dadurch, d. h. über die umfassende monetäre Manipulation der Männer, noch weiter entwertet werden konnte. Es ist also kein Zufall, dass die Lebensmittelpreise, die zwei Jahrhunderte stagniert hat­ ten, wieder zu steigen begannen, sobald die Landprivatisierung anhob.39

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Die Preisrevolution und die Verelendung der europäischen Arbeiterklasse

Diese „Inflations“-Erscheinung, die aufgrund ihrer verheerenden gesell­ schaftlichen Auswirkungen als „Preisrevolution“ bezeichnet worden ist (Ramsey 1971), ist von zeitgenössischen und späteren Ökonomen (etwa Adam Smith) auf das Gold und Silber aus Amerika zurückgeführt worden, „das in einem gigantischen Strom [über Spanien] nach Europa floss“ (Hamilton 1965: vii). Es ist allerdings daraufhingewiesen worden, dass die Preise bereits zu steigen begonnen hatten, bevor diese Edelmetalle auf den europäischen Märkten zu zirkulieren begannen.40 Hinzu kommt, dass Gold und Silber an und für sich kein Kapital sind, so dass man sie auch für andere Zwecke hätte nutzen können, etwa um Schmuck und goldene Kuppeln herzustellen, oder um Kleider zu verzieren. Wenn sie als Mittel der Preisregulierung fungier­ ten, die sogar aus dem Weizen eine kostbare Ware machen konnten, dann lag dies daran, dass sie in eine sich entwickelnde kapitalistische Welt einge­ gliedert wurden, in der ein wachsender Bevölkerungsteil - in England ein Drittel (Laslett 1971: 53) - keinerlei Zugang zu Land hatte und die Men­ schen Geld benötigten, um jene Lebensmittel zu erwerben, die sie einmal selbst produziert hatten. Ein weiterer Grund war, dass die herrschende Klasse gelernt hatte, von der magischen Macht des Geldes Gebrauch zu machen, um die Arbeitskosten zu senken. Mit anderen Worten: Die Preise stiegen auf­ grund der Entwicklung eines nationalen und internationalen Marktsystems, das den Export und Import landwirtschaftlicher Produkte beförderte, sowie aufgrund des Verhaltens von Kaufleuten, die Güter horteten, um sie später zu einem höheren Preis verkaufen zu können. Im September 1565 brach in Antwerpen ein Lagerhaus unter dem Gewicht des dort gelagerten Getreides zusammen, „während die Armen auf der Straße buchstäblich verhungerten“ (Hackett Fischer 1996: 88). Dies waren die Umstände, unter denen das Eintreffen der amerikani­ schen Schätze eine gewaltige Umverteilung des Wohlstands und einen neuen Proletarisierungsprozess auslöste.41 Steigende Preise ruinierten die Kleinbau­ ern, die ihr Land aufgeben mussten, um Getreide oder Brot zu kaufen, wenn die Ernte nicht ausreichte, um ihre Familien zu ernähren. Es entstand eine Klasse ländlicher Unternehmer, die Vermögen anhäuften, indem sie in die Landwirtschaft und den Geldverleih investierten —zu einer Zeit, da es für viele Menschen eine Frage von Leben und Tod war, ob sie über Geld verfüg­ ten oder nicht.42 Die Preisrevolution löste auch einen historischen Einbruch der Real­ löhne aus, der sich mit dem vergleichen lässt, zu dem es unserer Tage in den von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds „strukturangepassten“ Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gekommen ist. Bis 1600 hatten die Reallöhne in Spanien gegenüber dem Jahr 1511 nicht weni­ ger als 30 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt (Hamilton 1965: 280). In ande­ ren Ländern war der Einbruch ebenso dramatisch. Die Lebensmittelpreise

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stiegen um das Achtfache, die Löhne nur um das Dreifache (Hackett Fischer 1996: 74). Hier war nicht die unsichtbare Hand des Marktes am Werk, son­ dern diese Entwicklung war Ergebnis einer staatlichen Politik, die die Arbei­ ter daran hinderte, sich zu organisieren, während sie den Kaufleuten bei der Preisfestsetzung und beim Güterverkehr die größtmögliche Freiheit ließ. Es war durchaus vorhersehbar, dass die Reallöhne innerhalb weniger Jahrzehnte zwei Drittel ihrer Kaufkraft einbüßten. Der Einbruch lässt sich an der Ent­ wicklung des - in Kilogramm Getreide ausgedrückten - Lohnes eines engli­ schen Tischlers zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert ablesen (Slicher Van Bath 1963: 327): Zeitraum

Kilogramm Getreide

1351-1400

121,8

1401-1450

155,1

1451-1500

143,5

1501-1550

122,4

1551-1600

83

1601-1650

48,3

1651-1700

74,1

1701-1750

94,6

1751-1800

79,6

Es dauerte Jahrhunderte, bevor die Löhne in Europa wieder das Niveau des späten Mittelalters erreichten. Die Entwicklung spitzte sich derart zu, dass männliche Handwerker im England des Jahres 1550 vierzig Wochen arbeiten mussten, um so viel zu verdienen, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts in fünfzehn Wochen verdient hatten. In Frankreich fielen die Löhne zwischen 1470 und 1570 um 60 Prozent (Hackett Fischer 1996: 78; vgl. Schaubild).43 Der Einbruch der Löhne war für Frauen besonders verheerend. Im 14. Jahr­ hundert hatten Frauen für die gleiche Arbeitsaufgabe halb so viel erhalten wie Männer, bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts erhielten sie jedoch nur noch ein Drittel des (verringerten) Männerlohnes, so dass sie ihren Lebensunterhalt nicht länger durch Lohnarbeit bestreiten konnten, weder in der Landwirt­ schaft noch im Fertigungsgewerbe - eine Tatsache, die zweifellos die gewal­ tige Ausbreitung der Prostitution in diesem Zeitraum erklärt.44 A uf den Lohneinbruch folgte die absolute Verelendung der europäischen Arbeiter­ klasse. Dieses Phänomen war so weitverbreitet und allgemein, dass Arbeiter ab etwa 1550 lange Zeit schlichtweg als „Arme“ bezeichnet wurden. Einen Beleg für diese dramatische Verelendung bietet die veränderte Ernährung der Arbeiter. Fleisch verschwand, bis auf ein gelegentliches Stück Schmalz, von ihren Esstischen, ebenso wie Bier, Wein, Salz und Olivenöl

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(Braudel 1985: 201 ff.; Le Roy Ladurie 1974). Vom 16. bis zum 18. Jahrhun­ dert ernährten sich Arbeiter im Wesentlichen von Brot, das auch den Haupt­ posten ihrer Ausgaben bildete. Das war (unabhängig davon, was wir über Ernährungsgewohnheiten denken) im Vergleich zu dem ausgiebigen Fleisch­ verzehr, der das späte Mittelalter ausgezeichnet hatte, ein historischer Rück­ schlag. Peter Kriedte schreibt: „Damals hatte der jährliche Fleischverbrauch bei 100 Kilo pro K opf gelegen, eine auch im Vergleich zu heute unglaub­ liche Menge. Bis zum 19. Jahrhundert sank der jährliche Fleischverbrauch auf weniger als zwanzig Kilo pro K opP (Kriedte 1983: 52). Braudel spricht ebenfalls vom Ende des „fleischessenden Europa“ und zitiert als Zeugen den Schwaben Heinrich Müller: „In Schwaben hat sich laut Heinrich Müller (1550) die Ernährung des Landvolks drastisch verschlechtert. Anstelle der reichlichen Mahlzeiten von einst, die täglich Fleisch umfaßten und an Festtagen wie Kirchweih zur Schlemmerei ausarteten, machen sich überall Teuerung und M an­ gel bemerkbar. Selbst die Kost der reichsten Bauern, so der Autor, ist fast schlechter als die der Tagelöhner und Knechte von anno dazumal. (Braudel 1985: 201) Es verschwand nicht nur das Fleisch, sondern Ernährungsengpässe wur­ den auch zu einer weitverbreiteten Erscheinung. Eine verschärfende Wir­ kung hatten Ernteausfälle: Die Getreidepreise schossen aufgrund der knap­ pen Reserven in die Höhe und verurteilten Stadtbewohner zum Hungertod (Braudel 1990, Bd. 1: 350). Dies geschah etwa während der Hungerperio­ den der 1540er und 1550er sowie der 1580er und 1590er Jahre. Diese Jahre waren einige der schlimmsten in der Geschichte des europäischen Proleta­ riats; in sie fielen weitverbreitete Unruhen und eine Rekordzahl an Hexen­ verfolgungen. Die Unterernährung grassierte jedoch auch zu gewöhnlichen Zeiten, so dass Lebensmittel zu einem wichtigen Statussymbol wurden. Der Wunsch nach Lebensmitteln nahm unter den Armen geradezu epische Aus­ maße an und inspirierte Träume von pantagruelischen Orgien wie denen, die Rabelais in Gargantua undPantagruel (1552) beschreibt. Es kam auch zu alptraumhaften Zwangsvorstellungen wie etwa der (unter den Bauern Nord­ italiens weitverbreiteten), Hexen würden nachts durchs Land ziehen und das Vieh verschlingen (Mazzali 1988: 73). Tatsächlich war eben jenes Europa, das sich gerade anschickte, Weltver­ änderungen prometheischen Ausmaßes einzuleiten und die Menschheit zu neuen Höhen des (vermeintlichen) technischen und kulturellen Fortschritts zu führen, ein Ort, an dem die Menschen zu keinem Zeitpunkt genug zu essen hatten. Lebensmittel wurden derart begehrt, dass man glaubte, die Armen würde ihre Seele dem Teufel verpfänden, um etwas zu essen zu bekommen. Europa war auch ein Ort, an dem sich die Landbevölkerung, wenn die Ernte schlecht ausfiel, von Eicheln, wilden Wurzeln oder Baum­ rinde ernährte. Gewaltige Menschenmengen zogen klagend durch die Land-

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Eisass

Frankreich

Die Preisrevolution und der Einbruch der Reallöhne (Wage Index), 1 4 8 0 - 1 6 4 0 . Die Preisre­ volution löste einen historischen Einbruch der Reallöhne aus. Innerhalb weniger Jahrzehnte büßten sie zwei Drittel ihrer Kaufkraft ein. Erst im 19. Jahrhundert erreichten die Reallöhne wieder das Niveau des 15 . Jahrhunderts (Phelps-Brown und Hopkins 1981).

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175 150 125 100 75 50 25

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Die sozialen Folgen der Preisrevolution gehen aus diesen drei Kurven hervor. Sie zeigen den Anstieg der Getreidepreise in England zwischen 1 4 9 0 und 1 6 5 0 , den damit einhergehenden Anstieg der Preise und Eigentumsdelikte in Essex (England) zwischen 1566 und 1 6 0 2 sowie den in Millionen Menschen bemessenen Bevölkerungsanstieg in Deutschland, Österreich, Italien und Spanien zwischen 1 5 0 0 und 1750 (Hackett Fischer 1996).

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schaft, „so hungrig, dass sie die Bohnen auf dem Feld verschlangen“ (Le Roy Ladurie 1974), oder aber sie fielen in die Städte ein, um von der Getreideaus­ gabe zu profitieren oder die Häuser und Getreidespeicher der Reichen anzu­ greifen, die dann zu den Waffen eilten oder die Stadttore schlossen, um die Hungernden auszusperren (Heller 1986: 56-63). Dass der Übergang zum Kapitalismus für die Arbeiter in Europa eine lange Ernährungskrise einläutete - die, wie sich plausibel behaupten lässt, erst durch die von der Kolonisierung bewirkte wirtschaftliche Expansion beendet wurde - , zeigt sich auch an der Tatsache, dass der proletarische Kampf, der sich im 14. und 15. Jahrhundert noch um die Forderungen nach „Freiheit“ und weniger Arbeit gedreht hatte, im 16. und 17. Jahrhundert vor allem vom Hunger angetrieben wurde und die Form von Angriffen auf Bäckereien und Getreidespeicher sowie von Aufständen anlässlich des Exports lokaler Ernten annahm.45 Die Autoritäten beschrieben diejenigen, die sich an solchen Auf­ ständen beteiligten, als „zu nichts gut“, als „arm“ oder als „einfache Leute“, doch es handelte sich meist um Handwerker, die nunmehr von der Hand in den Mund lebten. Die Lebensmittelrevolten wurden in der Regel von Frauen begonnen und angeführt. An sechs der 31 französischen Lebensmittelaufstände des 17. Jahrhunderts, die Ives-Marie Bercé untersucht hat, waren ausschließ­ lich Frauen beteiligt. Im Fall der übrigen Aufstände war die Beteiligung der Frauen so auffällig, dass Bercé von „Frauenaufständen“ spricht.46 Sheila Rowbotham hat mit Bezug auf das England des 18. Jahrhunderts bemerkt, dass die wichtige Rolle, die Frauen in Protesten dieser Art spielten, auf die Verant­ wortung der Frauen für ihre Familien zurückging. Doch Frauen waren auch diejenigen, auf die sich die hohen Preise am ruinösesten auswirkten. Sie hat­ ten weniger Zugang zu Geld und Beschäftigungsmöglichkeiten als Männer, so dass sie am stärksten auf billige Lebensmittel angewiesen waren, um ihr Überleben zu sichern. Das war der Grund, weshalb sie, trotz ihrer unterge­ ordneten Stellung, rasch auf die Straße gingen, wenn die Lebensmittelpreise stiegen oder Gerüchte aufkamen, dass Getreidevorräte aus dem Ort entfernt werden sollten. So war es auch im Fall des Aufstands von Cordoba im Jahr 1652: Er begann „in der Früh, als eine arme Frau weinend durch die Stra­ ßen des Armenviertels lief, mit dem Körper ihres verhungerten Sohnes in den Armen“ (Kamen 1971: 364). Ebenso spielte es sich auch 1645 in Montpellier ab: Dort zogen Frauen auf die Straße, „um ihre Söhne vor dem Hungertod zu bewahren“ (Kamen 1971: 365). In Frankreich belagerten Frauen die Bäkkereien, da sie überzeugt waren, das Getreide werde unterschlagen, oder weil sie erfahren hatten, dass das beste Brot von den Reichen aufgekauft worden und das übrige leichter oder teurer war. Dann versammelten sich Mengen armer Frauen an den Ständen der Bäcker, forderten Brot und beschuldigten die Bäcker, ihre Vorräte zu verstecken. Zu Unruhen kam es auch auf den Plät­ zen, wo die Getreidemärkte abgehalten wurden, oder entlang der Strecken,

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auf denen Wägen das zu exportierende Getreide transportierten, sowie „ent­ lang der Flussufer, an denen [...] Schiffer beim Aufladen der Säcke beobach­ tet wurden.“ Die Aufständischen „überfielen die Wägen [...] mit Heugabeln und Stöcken. [...] Die Männer trugen die Säcke fort, während die Frauen so viel Getreide, wie sie konnten, in ihren Röcken forttrugen“ (Bercé 1990: 171-173). Der K am pf um die Lebensmittel wurde auch mit anderen Mitteln geführt, etwa durch Wilderei auf den Feldern und Diebstahl in den Häusern des Nachbarn; auch zu Überfällen auf die Häuser der Reichen kam es. In Troyes ging 1523 das Gerücht um, die Armen hätten die Häuser der Reichen angezündet und seien im Begriff, dort einzudringen (Heller 1986: 55-56). In Malines, in den Niederlanden, wurden die Häuser der Spekulanten von wütenden Bauern mit Blut gekennzeichnet (Hackett Fischer 1996: 88). Es überrascht nicht, dass „Lebensmitteldelikte“ ein häufiger Gegenstand der Disziplinarverfahren des 16. und 17. Jahrhunderts waren. Es ist auch bezeich­ nend, dass das Thema des „Teufelsbanketts“ in den Akten der Hexenverfol­ gungen wiederholt vorkommt, als sei der Verzehr von gebratenem Hammel­ fleisch, Weißbrot und Wein durch die „gemeinen Leuten“ nunmehr zu einem diabolischen Akt geworden. Die Hauptwaffen, derer sich die Armen in ihrem Überlebenskampf bedienten, waren jedoch ihre eigenen ausgehungerten Kör­ per. In Zeiten der Hungersnot umringten Horden ausgehungerter Vagabun­ den und Bettler die Wohlhabenden. Halbtot vor Hunger und Krankheit, griffen die Armen nach den Wohlhabenden. Sie entblößten ihre Wunden und zwangen ihr Gegenüber, in ständiger Angst vor Ansteckung und Revolte zu leben. „Man kann keine Straße hinuntergehen und auf keinem Platz ste­ henbleiben“, schrieb ein Venezianer Mitte des 16. Jahrhunderts, „ohne von großen Mengen um Almosen bettelnder Menschen umgeben zu sein. Ihre Gesichter sind vom Hunger gezeichnet, ihre Augen wie schmucklose Ringe, und der Haut ihrer elenden Körper verleihen nur ihre Knochen noch eine Form“ (Hackett Fischer 1996: 88). Noch ein Jahrhundert später spielte sich in Florenz mehr oder weniger dieselbe Szene ab, wie aus der Klage eines gewissen G. Baldinucci hervorgeht, der im April 1650 bemerkte, man könne nicht einmal mehr in Ruhe die Messe hören, dermaßen werde man von den „nackten und schorfigen (ignudi epieni di scabbia)“ Elenden belagert (Brau­ del 1990, Bd. 2: 522).47 Der Staat interveniert in die Reproduktion der Arbeitskraft: Armenhilfe und die Kriminalisierung der Arbeiterklasse

Der K am pf um Lebensmittel war nicht die einzige Front in der Schlacht um die Ausbreitung des Kapitalverhältnisses. Überall leisteten Massen von Menschen Widerstand gegen die Zerstörung ihrer bisherigen Existenzweise. Sie kämpften gegen die Landprivatisierung, die Abschaffung von Gewohn­ heitsrechten, die Einführung neuer Steuern, die Abhängigkeit vom Lohn und

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die ständige Anwesenheit der Heere in den Stadtvierteln. Die Soldaten waren derart verhasst, dass die Menschen loseilten, um die Stadttore zu schließen, wenn sich Soldaten näherten. Die Soldaten sollten sich nicht in den Städten niederlassen. In Frankreich ereigneten sich zwischen den 1530er und den 1670er Jahren mehr als tausend „emotions“ (Aufstände). Oft waren ganze Provinzen beteiligt, und die Intervention des Heeres erwies sich als notwendig (Goubert 1986: 205). England, Italien und Spanien bieten ein ähnliches Bild.48 Das zeigt, dass die vorkapitalistische Welt des Dorfes, die Marx in die Rubrik der „Idiotie des Landlebens“ verbannte, zu einem Kampfniveau fähig war, das dem des späteren Industrieproletariats nicht nachsteht. Im Mittelalter waren Migration, Vagabundentum und der Anstieg von „Eigentumsdelikten“ Teil des Widerstands gegen Verelendung und Enteig­ nung: Diese Phänomene nahmen nun ein gewaltiges Ausmaß an. Wenn wir den Klagen der zeitgenössischen Autoritären Glauben schenken, dann waren Vagabunden überall in Schwärmen unterwegs. Sie wechselten die Stadt, über­ traten Grenzen, schliefen in Heuschobern und drängten sich um die Stadt­ tore: eine gewaltige Menschenmenge, die ihre eigene Diaspora durchlebte und sich der Kontrolle der Autoritäten jahrzehntelang entzog. Allein im Venedig des Jahres 1545 waren 6.000 Vagabunden unterwegs. „In Spanien bevölkern Landstreicher die Straßen und verweilen in allen Städten“ (Braudel 1990, Bd. 2: 529).49 In England, dem in diesen Dingen stets eine Pio­ nierrolle zugekommen ist, wurden die ersten neuen und weitaus strengeren Vagabundengesetze verabschiedet. Im Wiederholungsfall wurden der Land­ streicherei überführte Menschen nun durch Versklavung und Tod bestraft. Die Repression erwies sich jedoch nicht als effektiv. Die europäischen Stra­ ßen des 16. und 17. Jahrhunderts blieben Orte der Mobilität, der Unruhe und der Begegnung. Dort bewegten sich Häretiker auf der Flucht vor ihren Verfolgern, entlassene Soldaten, Handwerksgesellen und andere Arbeit suchende „gemeine Menschen“, außerdem fremde Handwerker, vertriebene Bauern, Prostituierte, Krämer, Gelegenheitsdiebe und professionelle Bettler. Vor allem transportierten die Straßen Europas die Erzählungen, Geschichten und Erfahrungen eines entstehenden Proletariats. Derweil stiegen auch die Kriminalitätsraten, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass wir von einer massenhaften Rückforderung und Wiederaneignung des geraubten gemein­ schaftlichen Eigentums sprechen können.50 Heute könnten diese Aspekte des Übergangs zum Kapitalismus (jeden­ falls im Fall von Europa) als abgetane Sache oder - wie Marx in den Grund­ rissen (1983a: 372) formuliert - als „historische Voraussetzungen“ der kapi­ talistischen Entwicklung erscheinen, die mittlerweile von reiferen Formen des Kapitalismus ersetzt worden seien. Die wesentliche Ähnlichkeit dieser Phä­ nomene mit den sozialen Folgen jener neuen Phase der Globalisierung, die wir heute erleben, belehrt uns jedoch eines Besseren. Verelendung, Rebellion

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Ein Landstreicher wird mit der Peitsche durch die Straße getrieben. und der Anstieg der „Kriminalität“ sind strukturelle Bestandteile der kapita­ listischen Akkumulation, da der Kapitalismus die Arbeiterschaft ihrer Repro­ duktionsmittel berauben muss, um seine Herrschaft durchzusetzen. Diese Aussage ist nicht durch den Hinweis zu widerlegen, dass die extremsten Formen proletarischen Elends und proletarischer Rebellion in den sich industrialisierenden Regionen Europas bis zum 19. Jahrhunderts verschwunden waren. Proletarisches Elend und proletarische Rebellionen waren nicht vorbei: Sie ließen nur in dem Ausmaß nach, in dem man die Überausbeutung der Arbeiter exportierte, zunächst durch die Institutionali­ sierung der Sklaverei und später durch die anhaltende Expansion der Kolo­ nialherrschaft. Was die Zeit des „Übergangs“ angeht, so blieb sie in Europa eine Zeit heftiger sozialer Konflikte und bereitete den Boden für eine Reihe von staat­ lichen Initiativen, die, ihren Folgen nach zu urteilen, drei Hauptziele hat­ ten: erstens die Schaffung einer disziplinierteren Arbeiterschaft, zweitens die Entschärfung der Sozialproteste und drittens die Festlegung der Arbeiter auf die ihnen aufgezwungene Arbeit. Betrachten wir diese Ziele der Reihe nach. Um die soziale Disziplin zu sichern wurden sämtliche Formen kollek­ tiver Gesellschaftlichkeit und Sexualität angegriffen. Dazu gehörten Sport, Spiele, Tänze, Bierfeste und andere Feierlichkeiten und Gruppenrituale, die den Arbeitern eine Quelle wechselseitiger Verbundenheit und Solidarität waren. Der Angriff erfolgte durch eine Flut von Gesetzen: Allein zur Regu­ lierung der Bierschenken wurden in England zwischen 1601 und 1606 nicht weniger als 25 Gesetze verabschiedet (Underdown 1985: 47—48). Peter Burke (1978) spricht in seiner Arbeit zu diesem Thema von einer Kampagne gegen

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die „Populärkultur“. Wir können jedoch erkennen, dass es um die Entsozialisierung und Entkollektivierung der Reproduktion der Arbeiterschaft ging, sowie um den Versuch, einen produktiveren Gebrauch der Freizeit durchzu­ setzen. In England erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt im Macht­ antritt der Puritaner nach dem Bürgerkrieg von 1642-49, als die Furcht vor sozialer Disziplinlosigkeit zu einem Verbot sämtlicher proletarischen Ver­ sammlungen und Festlichkeiten führte. Die „moralische Reformation“ war jedoch in nicht-protestantischen Gebieten ebenso ausgeprägt. Dort wurden die Tänze und Gesänge, zu denen es bis dahin innerhalb und außerhalb der Kirchen gekommen war, im gleichen Zeitraum durch religiöse Prozessionen ersetzt. Selbst das individuelle Verhältnis zu Gott wurde privatisiert: in pro­ testantischen Gebieten durch die Einführung einer direkten Beziehung des Individuums zur Gottheit, in katholischen durch die Einführung der persön­ lichen Beichte. In der Kirche selbst als Gemeinschaftszentrum wurden kei­ nerlei gesellschaftliche Veranstaltungen mehr abgehalten, die nicht unmittel­ bar mit dem religiösen Kult zu tun hatten. Die Folge war, dass die physische Einhegung der Allmende durch einen Prozess gesellschaftlicher Einhegung potenziert wurde. Die Reproduktion der Arbeiter verlagerte sich vom offenen Feld in den Haushalt, von der Gemeinschaft in die Familie, vom öffentlichen Raum (der Allmende, der Kirche) in den privaten.51 Zweitens wurde in den Jahrzehnten zwischen 1530 und 1560 in min­ destens 60 europäischen Städten ein System staatlicher Fürsorge eingerich­ tet, teilweise auf Initiative der Lokalregierung und teilweise aufgrund direk­ ter Interventionen des Zentralstaats.52 Die genauen Ziele, die damit verfolgt wurden, sind noch umstritten. In einem Großteil der Literatur zu diesem Thema wird die Einführung der staatlichen Fürsorge als Antwort auf eine humanitäre Krise interpretiert, die die soziale Kontrolle gefährdet habe. In seiner umfangreichen Studie zur unfreien Arbeit besteht der französische Marxist Yann Moulier Boutang darauf, das Hauptziel sei „die Große Fixie­ rung“ des Proletariats gewesen; es habe sich also um einen Versuch gehandelt, die Flucht der Arbeitskräfte zu verhindern.53 Wie dem auch sei: Die Einrichtung eines Systems staatlicher Fürsorge war für die staatliche Vermittlung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital sowie hinsichtlich der Funktionsbestimmung des Staates ein Wendepunkt. Erstmals wurde der nicht nachhaltige Charakter eines kapitalistischen Systems anerkannt, das ausschließlich durch Hunger und Terror herrscht. Es handelte sich auch um den ersten Schritt zur Rekonstruktion des Staates als Garant des Klassenverhältnisses und Hauptaufseher der Reproduktion und Diszipli­ nierung der Arbeiterschaft. Vorläufer dieser Funktion finden sich im 14. Jahrhundert. Angesichts der Verallgemeinerung des antifeudalen Kampfes hatte sich der Staat damals als der einzige Akteur hervorgetan, der einer regional vereinten und bewaff­ neten Arbeiterklasse entgegenzutreten vermochte, die sich in ihren Forderun­

102 gen nicht mehr auf die politische Ökonomie der Domäne beschränkte. Als 1351 in England das Arbeiterstatut mit seiner Bestimmung des Höchstlohnes verabschiedet wurde, nahm der Staat jene Regulierung und Repression der Arbeit, die die Lokalherren nicht mehr zu garantieren vermochten, formell in die Hand. Doch erst mit Einführung der staatlichen Fürsorge begann der Staat die Arbeiterschaft als sein „Eigentum“ zu reklamieren. Innerhalb der herrschenden Klasse etablierte sich eine kapitalistische „Arbeitsteilung“: Die Arbeitgeber konnten sich jeglicher Verantwortung für die Reproduktion der Arbeiter entledigen, denn sie konnten sicher sein, dass der Staat mit Zucker­ brot oder Peitsche intervenieren würde, wenn es zu den unvermeidbaren Kri­ sen kam. Diese Neuerung bedeutete für die Verwaltung der gesellschaftlichen Reproduktion einen Entwicklungsschub: Es kam zur Registrierung demo­ graphischer Sachverhalte (Volkszählungen, Aufzeichnungen über Mortalität, Natalität und die Zahl der Eheschließungen) und zur Anwendung der Buch­ haltung auf gesellschaftliche Verhältnisse. Exemplarisch ist die Arbeit der Ver­ walter des Bureau despauvres in Lyon (Frankreich). Sie hatten bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gelernt, die Zahl der Armen zu berechnen, konnten ein­ schätzen, welche Menge an Lebensmitteln jedes Kind und jeder Erwachsene benötigte, und führten über Todesfälle Buch, um sicherzustellen, dass nie­ mand im Namen eines Verstorbenen Anspruch auf Fürsorgeleistungen erhob (Zemon Davis 1968: 244-246). Zusätzlich zu dieser neuen „Sozialwissenschaft“ entwickelte sich auch eine internationale Diskussion über den Einsatz staatlicher Fürsorge, die wie ein Vorschein auf gegenwärtige Debatten um den Wohlfahrtstaat wirkt. Soll­ ten nur die Arbeitsunfähigen unterstützt werden, die „verdienten Armen“, oder sollten „körperlich gesunde“ Arbeiter, die keine Beschäftigung finden konnten, ebenfalls unterstützt werden? Und wie viel oder wie wenig sollten sie erhalten, um sicherzustellen, dass sie die Arbeitssuche nicht einstellten? Vom Standpunkt der sozialen Disziplin aus betrachtet waren diese Fragen ausschlaggebend, denn ein Hauptziel der staatlichen Fürsorge bestand darin, die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden. Doch ließ sich in diesen Angelegenhei­ ten selten ein Konsens erreichen. Während humanistische Reformer wie Juan Luis Vives54 und Sprecher der wohlhabenden Bürger die wirtschaftlichen und disziplinierenden Vor­ züge einer liberaleren und zentralisierteren (gleichwohl nicht über das Vertei­ len von Brot hinausgehenden) Wohlfahrt anerkannten, widersetzte sich ein Teil des Klerus heftig dem Verbot individueller Spenden. Die Gewährung staatlicher Fürsorgeleistungen zeichnete sich jedoch, bei aller Verschieden­ heit der Systeme und Meinungen, durch eine solche Knauserigkeit aus, dass sie ebenso oft Konflikte erzeugte, wie es ihr gelang, die Armen zu beschwich­ tigen. Die Unterstützten hassten die demütigenden Rituale, die man ihnen aufzwang, etwa das Tragen des (bis dahin Leprakranken und Juden vorbehal­ tenen) „Schandmals“ , oder auch (in Frankreich) die Teilnahme an Armen­

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prozessionen, bei denen sie Hymnen singend und Kerzen haltend zur Parade aufziehen mussten. Sie protestierten auch heftig, wenn die Almosen nicht zeitig ausgegeben oder ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurden. In Reak­ tion darauf wurden in einigen französischen Städten zum Zeitpunkt der Lebensmittelausgabe oder dann, wenn die Armen als Gegenleistung für die Lebensmittel arbeiten sollten, Galgen aufgestellt (Zemon Davis 1968: 249). In England wurde die Gewährung von Fürsorgeleistungen - auch im Fall von Kindern und älteren Menschen - im Laufe des 16. Jahrhunderts an die Bedingung geknüpft, dass sich die Empfänger in „Arbeitshäuser“ einsperren ließen, wo verschiedene Arbeitsmodelle an ihnen erprobt wurden.55 So führte der Angriff auf die Arbeiter, der mit den Einhegungen und der Preisrevolu­ tion begonnen hatte, innerhalb eines Jahrhunderts zur Kriminalisierung der Arbeiterklasse, d. h. zur Entstehung eines riesigen Proletariats, das entweder in den neu errichteten Arbeits- und Zuchthäusern eingesperrt war oder aber sein Überleben auf außergesetzliche Weise bestritt und in einem offen ant­ agonistischen Verhältnis zum Staat stand - stets nur einen Schritt von Peit­ sche und Galgen entfernt. Hinsichtlich der Formierung einer arbeitsamen Arbeiterklasse versagten all diese Bemühungen. Die Sorge um die gesellschaftliche Disziplin, die die politischen Kreise des 16. und 17. Jahrhunderts ständig umtrieb, weist dar­ aufhin, dass sich die zeitgenössischen Staatsmänner und Unternehmer völlig darüber im Klaren waren. Darüber hinaus wurde die soziale Krise, die auf die verallgemeinerte rebellische Haltung der Arbeiter zurückging, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch einen neuerlichen Einbruch der Wirt­ schaftsleistung verschärft. Dieser Einbruch war vor allem auf den dramati­ schen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen, zu dem es nach der Conquista in Spanisch-Amerika kam, und der die Kolonialökonomien schrumpfen ließ. Der Bevölkerungsrückgang, die Wirtschaftskrise und die Disziplinierung der Frauen

Kein Jahrhundert, nachdem Kolumbus auf dem amerikanischen Konti­ nent angelegt hatte, war der Kolonisatoren-Traum von einem unbeschränk­ ten Angebot an Arbeitskräften (ein Traum, der an die Schätzung der Ent­ decker erinnert, in den Wäldern Amerikas gebe es eine „unendliche Anzahl Bäume“) dahin. Die Europäer hatten den Tod nach Amerika getragen. Die Schätzun­ gen des Bevölkerungseinbruchs, den die Region nach der kolonialen Inva­ sion erlitt, variieren. Die meisten Forscher stimmen jedoch darin überein, dass man die Folgen des Bevölkerungsrückgangs als „amerikanischen Holo­ caust“ bezeichnen kann. Nach David Stannard (1992) ging die Gesamtbe­ völkerung Südamerikas in dem Jahrhundert nach der Conquista um 75 Mil­ lionen zurück, entsprechend 95 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung 1992: 268-305). Auch André Gunder Frank gelangt zu dieser Schätzung. Er

104 schreibt: „In kaum mehr als einem Jahrhundert ging die Bevölkerungszahl in Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 oder sogar um 95 Prozent zurück“ (1978: 43). In Mexiko fiel die Bevölkerungszahl „von 11 Millionen im Jahre 1519 auf 6,5 Millionen im Jahre 1600“ (Wallerstein 1986: 164). Bis 1580 hatten „Seuchen, [...] unterstützt durch die Brutalität der Spanier, den Großteil der Einwohner der Antillen, des neuspanischen Tieflandes, Perus und der karibischen Küstengebiete getötet oder vertrieben“ (Crosby 1972: 38); bald darauf sollten in Brasilien noch viele weitere Menschen sterben. Der Klerus deutete diesen „Holocaust“ rationalisierend als göttliche Strafe für das „bestialische“ Verhalten der Indios (Williams 1986: 138); über die ökonomischen Folgen war man sich dennoch im Klaren. Hinzu kam, dass in den 1580er Jahren auch in Westeuropa ein Bevölkerungsrückgang einsetzte, der bis ins 17. Jahrhundert hinein anhalten und in Deutschland, das mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung verlor, seinen Höhepunkt erreichen sollte.56 Dieser Bevölkerungsrückgang war, sieht man einmal vom Schwarzen Tod (1345-1348) ab, präzedenzlos, und die Statistik klärt uns, so grauenvoll sie ist, nur teilweise darüber auf. Der Tod traf „die Armen“. Es waren über­ wiegend nicht die Reichen, die starben, wenn es in den Städten zu Pest- oder Pockenepidemien kam, sondern Handwerker, Tagelöhner und Vagabunden (Kamen 1972: 32-33). Sie starben in so hoher Zahl, dass ihre Körper die Straßen säumten und die Autoritäten von einer Verschwörung ausgingen und die Bevölkerung dazu aufriefen, die Übeltäter ausfindig zu machen. Der Bevölkerungsrückgang wurde jedoch auch den niedrigen Geburtenraten und der mangelnden Neigung der Armen zur generativen Reproduktion zuge­ schrieben. Inwiefern diese Beschuldigung zutraf, lässt sich schwer sagen, da es für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert nur bruchstückhafte demographi­ sche Daten gibt. Wir wissen jedoch, dass sich das Heiratsalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Klassen erhöhte, und dass im gleichen Zeitraum immer mehr Kinder ausgesetzt wurden (eine bis dahin unbekannte Praxis). Überliefert sind auch die Klagen von Predigern, die die Jugendlichen von der Kanzel herab beschuldigten, sie würden die Eheschlie­ ßung und Kinderzeugung vernachlässigen, um nicht mehr Kinder ernähren zu müssen, als ihnen möglich sei. Ihren Höhepunkt erreichte die demographische und wirtschaftliche Krise in den 1620er und 1630er Jahren. In Europa kam es, ebenso wie in den Kolonien, zum Schrumpfen der Märkte, zum Zusammenbruch des Handels und zu weitverbreiteter Erwerbslosigkeit. Eine Zeit lang schien ein Kollaps der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft möglich, war die Verschränkung der kolonialen und der europäischen Ökonomien doch bereits so weit gediehen, dass sich lokale Krisen wechselseitig verstärkten. Die Krise dieser Jahre war die erste Weltwirtschaftskrise. Sie war eine „Gene­ ralkrise“ , wie die Historiker gesagt haben (Kamen 1972: 307 ff; Hackett Fischer 1996: 91).

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Dies war der Kontext, innerhalb dessen das Verhältnis von Arbeit, Bevöl­ kerung und Wohlstandsakkumulation in den Mittelpunkt der politischen Diskussionen und Strategiebildungsprozesse rückte, um so die ersten Ele­ mente einer Bevölkerungspolitik und eines „Biomacht“-Regimes hervorzu­ bringen.57 Wir sollten uns nicht täuschen lassen von der Grobschlächtigkeit der dabei verwendeten Begriffe - beispielsweise kam es häufig zur Verwech­ selung von „Bevölkerungsdichte“ und „Bevölkerung“ - oder der Brutalität, mit der der Staat jegliches Verhalten zu bestrafen begann, das das Bevölke­ rungswachstum zu drosseln drohte. Ich behaupte, dass es die Bevölkerungs­ krise des 16. und 17. Jahrhunderts war, und nicht (wie Foucault schreibt) das Ende der europäischen Hungersnot im 18. Jahrhundert, die Reproduktion und Bevölkerungswachstum zu Staatsangelegenheiten sowie zu den bevor­ zugten Gegenständen intellektueller Diskurse werden ließ.58 Ich behaupte weiter, dass die sich zuspitzende Verfolgung der „Hexen“ und die neuen Disziplinarmethoden, die der Staat in dieser Zeit anzuwenden begann, um die Kinderzeugung zu regulieren und die Macht der Frauen über die Reproduk­ tion zu brechen, ebenfalls auf diese Krise zurückzuführen sind. Es gibt für die Triftigkeit dieser These nur Indizien, keine Beweise, und es ist wichtig anzuerkennen, dass es noch andere Faktoren gab, die ebenfalls zur Entschlos­ senheit der europäischen Machtstruktur beitrugen, die reproduktive Funk­ tion der Frauen strenger zu kontrollieren. Dazu zählen die zunehmende Pri­ vatisierung des Eigentums und wirtschaftliche Verhältnisse, die (innerhalb des Bürgertums) zu Besorgnis um die Frage der Vaterschaft und das Verhal­ ten der Frauen führten. Auf ähnliche Weise können wir die Beschuldigung, Frauen würden dem Teufel Kinderopfer bringen - ein Leitmotiv der „gro­ ßen Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts - , als Ausdruck nicht nur der Sorge um den Bevölkerungsrückgang deuten, sondern auch der Angst der besitzenden Klassen vor ihren Untergebenen und insbesondere vor Frauen aus den Unterklassen, die ja als Dienerinnen, Bettlerinnen oder Heilerinnen zahlreiche Möglichkeiten hatten, sich Zutritt zu den Häusern ihrer Arbeit­ geber zu verschaffen, um dort Schaden anzurichten. Es kann jedenfalls kein bloßer Zufall sein, dass die europäischen Gesetzbücher zu eben dem Zeit­ punkt, als sich die Bevölkerung verkleinerte und eine Ideologie entstand, die die Zentralität der Arbeit im Wirtschaftsleben betonte, um schwere Strafen ergänzt wurden, die jene Frauen treffen sollten, die sich reproduktiver Verge­ hen schuldig machten. Die zeitgleiche Entwicklung einer Bevölkerungskrise, einer expansioni­ stischen Bevölkerungstheorie und einer am Bevölkerungswachstum ausge­ richteten Politik ist gut belegt. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war die Vorstellung, die Zahl der Bürger entscheide über den Wohlstand der Nation, zu einer Art gesellschaftlichem Axiom geworden. „Mir scheint“, schrieb der französische Staatstheoretiker und Dämonologe Jean Bodin, „man sollte sich nie davor fürchten, zu viele Untertanen oder zu viele Bürger zu haben, denn

io 6 die Macht eines Gemeinwesens liegt in seinen Menschen“ {Sechs Bücher über den Staat, Buch VI). Der italienische Ökonom Giovanni Botero (15331617) vertrat einen komplexeren Ansatz, denn er erkannte die Notwendig­ keit eines ausgewogenen Verhältnisses von Bevölkerungszahl und Menge der Subsistenzmittel. Nichtsdestotrotz erklärte er, „der Ruhm einer Stadt“ hänge nicht von ihrer räumlichen Größe oder dem Umfang ihrer Stadtmauern ab, sondern ausschließlich von ihrer Einwohnerzahl. Exemplarisch für die demo­ graphischen Ansichten der Zeit ist die von Heinrich VI. getätigte Aussage, Stärke und Wohlstand eines Königs seien in der Anzahl und Fülle seiner Bür­ ger begründet. Die Sorge um Bevölkerungsfragen kommt auch im Programm der Refor­ mation zum Ausdruck. Indem sie das traditionell-christliche Lob der Keusch­ heit zurückwiesen, werteten die Reformatoren die Ehe, die Sexualität und sogar Frauen auf (wobei dies im Fall der Frauen allerdings nur aufgrund von deren reproduktiven Fähigkeiten geschah). Luther schrieb in DasJungkfrawen Kloster göttlich verlassen mugen von 1523: „eyn weybs bild ist nicht geschaffen iungfraw zu seyn, sondern kinder zu tragen“ (zit. n. King 1993: 121). Die Befürwortung des Bevölkerungswachstums erreichte ihren Höhe­ punkt im Merkantilismus, dem zufolge eine große Bevölkerung für Nationen den Schlüssel zu Wohlstand und Macht darstellt. Der Merkantilismus ist von Mainstream-Ökonomen oft als krudes Denksystem abqualifiziert worden, aufgrund seiner Annahme, der Wohlstand der Nationen stehe im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter sowie zur Menge des diesen Arbeitern zur Verfügung stehenden Geldes. Auch die brutalen Mittel, zu denen die arbeitshungrigen Merkantilisten griffen, um die Menschen zur Betriebsamkeit zu zwingen, haben dem R uf des Merkantilismus Abbruch getan, sind die meisten Ökono­ men doch bestrebt, die Illusion aufrechtzuerhalten, der Kapitalismus beför­ dere die Freiheit, und nicht etwa den Zwang. Es war eine merkantilistische Klasse, die die Arbeitshäuser erfand, Vagabunden jagte, Kriminelle in die amerikanischen Kolonien verschickte und in den Sklavenhandel investierte. Dabei sprach diese Klasse ständig vom „Nutzen der Armut“ und erklärte den „Müßiggang“ zur gesellschaftlichen Pathologie. Es ist also nicht zur Kenntnis genommen worden, dass Theorie und Praxis der Merkantilisten die Erfor­ dernisse der ursprünglichen Akkumulation am unmittelbarsten ausdrücken. Der Merkantilismus war die erste kapitalistische Politik, die sich explizit mit dem Problem der Reproduktion der Arbeiterschaft auseinandersetzte. Diese Politik hatte, wie wir gesehen haben, eine „intensive“ Seite, die in der Durch­ setzung eines totalitären Regimes bestand, das sich aller verfügbaren M it­ tel bediente, um aus jedem Individuum, unabhängig von dessen Alter oder Lebensumständen, die größtmögliche Arbeitsleistung herauszupressen. Sie hatte jedoch auch eine „extensive“ Seite, die in der Bemühung bestand, die Bevölkerungsgröße zu steigern, und damit auch die Größe des Heeres und der Arbeiterschaft.

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Eli Heckscher schreibt: „Zur Blütezeit des Merkantilismus, also im spä­ ten 17. Jahrhundert, war in allen Ländern ein geradezu fanatischer Wunsch nach Bevölkerungswachstum zu verzeichnen“ (Heckscher 1966: 158). Hinzu kam, dass sich ein neues Menschenbild durchsetzte: Menschen wurden schlichtweg als Rohstoffe wahrgenommen, die für den Staat arbeiteten und Kinder zeugten (Spengler 1965: 8). Doch selbst vor der Blütezeit der merkantilistischen Theorie griff der Staat in Frankreich und England zu einer Reihe pro-natalistischer Maßnahmen, die in Verbindung mit der staatlichen Fürsorge zur Keimzelle der kapitalistischen Reproduktionspolitik wurden. Es wurden Gesetze verabschiedet, die die Eheschließung belohnten und die Ehelosigkeit bestraften, nach dem Vorbild entsprechender Gesetze aus dem Römischen Reich. Der Familie wurde eine neue Bedeutung beigemessen: Sie wurde hinsichtlich der Eigentumsübertragung und der Reproduktion der Arbeiterschaft zur Schlüsselinstitution. Gleichzeitig begann man mit der Registrierung demographischer Grunddaten, und der Staat begann, Sexuali­ tät, Zeugung und Familienleben zu überwachen. Die wichtigste Initiative, die der Staat ergriff, um die gewünschte Bevöl­ kerungsgröße herzustellen, bestand jedoch in einem genuinen Krieg gegen die Frauen. Er zielte darauf ab, der Kontrolle, die Frauen über ihre Körper und die Reproduktion ausgeübt hatten, ein Ende zu setzen. Wie wir später noch sehen werden, wurde dieser Krieg hauptsächlich durch Hexenverfol­ gungen betrieben. Dabei wurden sämtliche Formen der Verhütung und der nicht-generativen Sexualität buchstäblich dämonisiert, während den Frauen zugleich vorgeworfen wurde, dem Teufel Kinderopfer zu bringen. Der Krieg gegen die Frauen beruhte auf der Neubestimmung reproduktiver Vergehen. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts, als portugiesische Schiffe mit ihren ersten menschlichen Frachten aus Afrika zurückkehrten, begannen sämtliche euro­ päische Regierungen, Verhütung, Abtreibung und Kindestötung aufs Schärf­ ste zu bestrafen. Die zuletzt genannte Praktik war im Mittelalter mit einer gewissen Nachsicht behandelt worden, jedenfalls dann, wenn es sich bei der Kindes­ töterin um eine arme Frau handelte. Nun wurde die Kindestötung jedoch zu einem Kapitalverbrechen, das noch strenger bestraft wurde als die meisten von Männern begangenen Verbrechen: „Im Nürnberg des 16. Jahrhunderts wurden Mütter, die ihre Kinder töteten, ertränkt. Im Jahr 1580, als die Köpfe dreier der Kindestötung überführter Mütter ans Schafott genagelt und den Einwohnern zur Schau gestellt wurden, wurde die Strafe geändert; fortan wurden der Kindestötung überführte Mütter enthauptet.“ (King 1991: 10)60 Es wurden auch neue Formen der Überwachung eingeführt, um sicherzustel­ len, dass Schwangere keinen Schwangerschaftsabbruch Vornahmen. In Frank­ reich forderte ein königlicher Erlass des Jahres 1556, dass jede Frau eine etwa­ ige Schwangerschaft zu melden habe; Frauen, deren Kinder vor der Taufe,

io8 nach einer geheim gehaltenen Niederkunft starben, wurden durch den glei­ chen Erlass zum Tode verurteilt, unabhängig davon, ob ihnen irgendein Fehl­ verhalten nachgewiesen werden konnte. Zu ähnlichen Verordnungen kam es 1624 und 1690 in England und Schottland. Ein Spitzelsystem wurde aufge­ baut, um unverheiratete Mütter zu beobachten und ihnen jegliche Unterstüt­ zung vorzuenthalten. Es wurde sogar gesetzeswidrig, unverheiratete Schwan­ gere im eigenen Haushalt aufzunehmen, da sich solche Schwangere auf diese Weise der öffentlichen Beobachtung hätten entziehen können. Wer sich mit einer solchen Frau anfreundete, wurde öffentlich kritisiert (Wiesner 1993: 51-52; Ozment 1983: 43). Eine Folge war, dass Frauen in großer Zahl verfolgt zu werden begannen. Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts wurden mehr Frauen wegen Kin­ destötung hingerichtet als wegen irgendeines anderen Verbrechens, mit Aus­ nahme der Hexerei. Doch auch die Beschuldigung der Hexerei beinhaltete den Vorwurf, Kinder getötet oder sich auf sonst eine Weise über reproduktive Normen hinweggesetzt zu haben. Es ist bezeichnend, dass die Bestimmun­ gen, die die Strafmündigkeit der Frauen beschränkten, mit Bezug auf Kindes­ tötung und Hexerei aufgehoben wurden. So betraten Frauen nun zum ersten Mal als vollgültige Rechtssubjekte und in ihrem eigenen Namen die Gerichts­ höfe Europas, weil sie beschuldigt wurden, Kindestöterinnen und Hexen zu sein. Auch der Argwohn, mit dem Hebammen in dieser Zeit betrachtet wur­ den - was dem männlichen Arzt Zutritt zum Entbindungsraum verschaffte - , geht eher auf die Angst der Autoritäten vor der Kindestötung zurück als auf irgendwelche Sorgen um die vermeintliche medizinische Unfähigkeit der Hebammen. Mit der Marginalisierung der Hebamme begann eine Entwicklung, ' durch die Frauen die Kontrolle verloren, die sie bis dahin über die Zeugung ausgeübt hatten, und beim Gebären auf eine passive Rolle festgelegt wurden. Männliche Ärzte begannen, als die wirklichen „Lebensspender“ angesehen zu werden (wie in den alchemistischen Träumen der Renaissance-Magier). Auf­ grund dieser Verschiebung konnte sich eine neue medizinische Praxis durch­ setzen, bei der im Falle etwaiger Komplikationen das Leben des Kindes über das der Mutter gestellt wurde. Das stand im Gegensatz zur traditionellen Gebärpraxis, die unter der Kontrolle der Frauen gestanden hatte. Damit sich die neue Praxis durchsetzen konnte, musste die Gruppe von Frauen, die sich traditionellerweise um das Bett der werdenden Mutter versammelt hatte, aus dem Entbindungsraum vertrieben werden. Hebammen mussten der Aufsicht des Arztes unterstellt oder aber beauftragt werden, ihrerseits Frauen zu beauf­ sichtigen. In Frankreich und Deutschland mussten sich Hebammen zu Spionen des Staates machen, wenn sie ihren Beruf weiterhin ausüben wollten. Von ihnen wurde erwartet, dass sie sämtliche Geburten meldeten, die Väter außer­ ehelicher Kinder ausfindig machten und der geheimen Niederkunft verdäch­

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tige Frauen untersuchten. Sie hatten auch verdächtige Frauen aus der Gegend auf ihre Stillfähigkeit zu untersuchen, wenn ausgesetzte Kinder auf den Stu­ fen der Kirche entdeckt wurden (Wiesner 1993: 52). Die gleiche Art der Kollaboration wurde auch von Verwandten und Nachbarn erwartet. In pro­ testantischen Ländern und Städten sollten Menschen ihren weiblichen Nach­ barn nachspionieren und etwaige sexuelle Einzelheiten berichten: ob etwa eine Frau männlichen Besuch empfing, wenn ihr Ehemann außer Haus war, oder ob sie das Haus eines Mannes betrat und die Tür hinter sich schloss (Ozment 1983: 42-44). In Deutschland ging der pro-natalistische Kreuzzug so weit, dass Frauen bestraft wurden, wenn sie sich bei der Niederkunft nicht genug Mühe gaben oder wenig Zuneigung zu ihrem Kind zeigten (Rublack 1996: 92). Das Ergebnis dieser Politik, die zwei Jahrhunderte währte (noch Ende des 18. Jahrhunderts wurden der Kindestötung überführte Frauen in Europa hingerichtet), war, dass Frauen zu Sklavinnen der Kinderzeugung wurden. Im Mittelalter war es Frauen möglich gewesen, verschiedene Formen der Verhü­ tung einzusetzen, und ihre Kontrolle über den Vorgang der Niederkunft war unangefochten. Nun wurde ihre Gebärmutter ein öffentlicher Ort, von Män­ nern und dem Staat kontrolliert, und die Zeugung wurde unmittelbar in den Dienst der kapitalistischen Akkumulation gestellt. In diesem Sinne war das Schicksal der westeuropäischen Frauen zur Zeit der ursprünglichen Akkumulation dem der Sklavinnen auf den amerikani­ schen Kolonialplantagen vergleichbar, die insbesondere nach der Abschaf­ fung des Sklavenhandels im Jahr 1807 von ihren Herren gezwungen wurden, neue Arbeitskräfte zu zeugen. Ein solcher Vergleich stößt natürlich schnell an Grenzen. Europäische Frauen wurden nicht in aller Offenheit sexuellen Angriffen ausgesetzt —obgleich proletarische Frauen vergewaltigt und dafür bestraft werden konnten, während ihre Vergewaltiger unbestraft blieben. Westeuropäischen Frauen blieb auch die Pein erspart, ihrer Kinder beraubt zu werden, damit diese auf dem Auktionsstand feilgeboten werden konn­ ten. Der wirtschaftliche Nutzen, der sich aus den ihnen aufgezwungenen Geburten ergab, war auch weitaus weniger offenkundig. In diesem Sinne ist es die Lage der versklavten Frau, aus der die Wahrheit und Logik kapita­ listischer Akkumulation am deutlichsten spricht. Trotz dieser Unterschiede wurde der weibliche Körper in beiden Fällen in ein Mittel zur Reproduk­ tion der Arbeitskraft und Vergrößerung der Arbeiterschaft verwandelt und als natürliche Gebärmaschine behandelt, deren Arbeitsrhythmus sich der Kon­ trolle der Frauen entzog. Dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation fehlt in Marxens Ana­ lyse. Abgesehen von seinen im M anifest der kommunistischen Partei nachzu­ lesenden Bemerkungen über den Gebrauch der Frauen in der bürgerlichen Familie (Frauen als Produzentinnen zukünftiger Erben und Garantinnen der Eigentumsübertragung) hat Marx niemals erkannt, dass die Zeugung zu

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einem Terrain der Ausbeutung, damit aber auch zu einem Terrain des Wider­ stands werden kann. Er kam nie auf die Idee, dass Frauen sich weigern könn­ ten, sich zu reproduzieren, oder dass eine solche Weigerung Teil des Klas­ senkampfes werden könnte. In den Grundrissen (1983a: 508) behauptet er, die kapitalistische Entwicklung vollziehe sich unabhängig von der Bevölke-

Die Vermännlichung der medizinischen Praxis wird in dieser englischen Illustration darge­ stellt. Sie zeigt, wie ein Engel eine Heilerin vom Bett eines Kranken fortdrängt. Das Spruch­ band beschuldigt sie der Unfähigkeit.

D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen

in

rungsgröße, da die steigende Produktivität der Arbeit dazu führe, dass sich die Masse der vom Kapital ausgebeuteten Arbeit im Verhältnis zum „kon­ stanten Kapital“ (also zu dem in Maschinen und andere Produktionsmittel investierten Kapital) beständig verringere. Damit entstehe eine „Surplusarbei­ terpopulation“. Doch diese Dynamik, die Marx als „der kapitalistischen Pro­ duktionsweise eigentümliches Populationsgesetz“ bezeichnete (1968: 660), könnte sich nur durchsetzen, wenn es sich bei der Zeugung um einen rein biologischen Prozess handelte, um eine Tätigkeit, die gleichsam automatisch auf ökonomische Veränderungen reagiert, wenn Staat und Kapital sich also nicht darum sorgen müssten, dass die Frauen einen „Gebärstreik“ durchfüh­ ren könnten. Das waren tatsächlich Marxens Annahmen. Er erkannte an, dass die kapitalistische Entwicklung mit einem Bevölkerungsanstieg einher­ gegangen war und ging gelegentlich auch auf die Ursachen dieses Anstiegs ein. Doch er sah darin, wie Adam Smith, nur eine „natürliche Auswirkung“ der wirtschaftlichen Entwicklung. Im ersten Band des K apital stellt er dar­ über hinaus die Entstehung einer „Surplusarbeiterpopulation“ beständig in einen Gegensatz zum „natürlichen Wachstum“ der Bevölkerung. Warum es sich bei der Zeugung um eine „Naturtatsache“ handeln soll, und nicht um eine gesellschaftliche, historisch determinierte Tätigkeit, in die verschie­ dene Interessen und Machtverhältnisse hineinspielen, ist eine Frage, die sich Marx nie vorgelegt hat. Er kam auch nicht auf die Idee, dass Männer und Frauen unterschiedliche Interessen haben könnten, was die Kinderzeugung angeht. Marx behandelte die Zeugung als einen einfachen, geschlechtsneu­ tralen Vorgang. Tatsächlich handelt es sich bei Zeugung und Bevölkerungsentwicklung so wenig um etwas natürliches oder „automatisches“, dass der Staat in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung gezwungen gewesen ist, auf Regulie­ rung und Zwang zurückzugreifen, um die Arbeiterschaft zu vergrößern oder zu verkleinern. Dies war zur Zeit des kapitalistischen Take-off, als die Mus­ keln und Knochen der Arbeiter die wichtigsten Produktionsmittel waren, in besonderem Maße der Fall. Doch auch später —und bis auf unsere Zeit — hat der Staat keine Mühen gescheut, um den Frauen die Kontrolle über die Reproduktion zu entreißen: um bestimmen zu können, welche Kinder wann, wo und in welcher Zahl geboren werden. Daher sind Frauen oft gezwungen worden, gegen ihren Willen Kinder zu zeugen; ihre Entfremdung von ihren Körpern, ihrer „Arbeit“ und sogar ihren Kindern ist stärker als die von ande­ ren Arbeitern erfahrene (Martin 1987: 19-21). Niemand vermag das Leid und die Verzweiflung einer Frau zu beschreiben, die beobachten muss, wie sich ihr Körper gegen sie kehrt, was im Fall einer ungewollten Schwanger­ schaft unweigerlich geschehen muss. Das gilt insbesondere in jenen Situa­ tionen, in denen außereheliche Schwangerschaften bestraft werden, so dass Frauen durch das Gebären eines Kindes der Ausgrenzung und sogar dem Tod ausgesetzt werden.

112 Die Abwertung der Frauenarbeit

Die Kriminalisierung der weiblichen Kontrolle über die Zeugung ist ein Phänomen, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Auswirkungen auf Frauen als auch mit Bezug auf seine Folgen für die kapitalistische Arbeitsorganisation. Es ist gut dokumentiert, dass Frauen im gesamten Mittelalter über zahlreiche Ver­ hütungsmittel verfügten. Es handelte sich überwiegend um Kräuter, die zu Tränken und „Pessaren“ (Zäpfchen) verarbeitet wurden, um die Menstrua­ tion herbeizuführen, eine Abtreibung einzuleiten oder einen Zustand der Unfruchtbarkeit herzustellen. In Eves Herbs: A History o f Contraception in the West (1997) hat der amerikanische Historiker John Riddle einen umfangrei­ chen Katalog der am häufigsten verwendeten Substanzen und der von ihnen erwarteten Wirkungen vorgelegt.61 Durch die Kriminalisierung der Verhü­ tung wurden Frauen dieses Wissens enteignet, das von Generation zu Gene­ ration weitergereicht worden war und ihnen hinsichtlich des Kindergebärens eine gewisse Autonomie verliehen hatte. Es scheint, dass dieses Wissen in einigen Fällen nicht verloren ging, sondern im Geheimen tradiert wurde. Als jedoch die Geburtenkontrolle wieder die Bühne der Gesellschaft betrat, waren die Verhütungsmethoden nicht mehr solche, die Frauen verwenden können, sondern sie waren ausdrücklich für den männlichen Gebrauch ent­ wickelt worden. Welche demographischen Folgen diese Verschiebung zei­ tigte, ist eine Frage, die ich zunächst übergehen will, obgleich ich an dieser Frage Interessierte auf Riddles Buch verweisen kann. An dieser Stelle möchte ich lediglich anmerken, dass der Staat die Frauen, indem er ihnen die Kon­ trolle über ihre Körper verweigerte, zugleich der wichtigsten Voraussetzung körperlicher und psychischer Integrität beraubte und die Mutterschaft zu einer Form der Zwangsarbeit degradierte. Hinzu kam, dass er die Frauen in einem aus früheren Gesellschaften unbekannten Ausmaß auf die Reproduk­ tionsarbeit festlegte. Dass die Frauen gezwungen wurden, gegen ihren Wil­ len zu zeugen oder (wie es in einem feministischen Lied der 1970er Jahre formuliert wurde) „Kinder für den Staat zu produzieren“,62 bestimmte die Funktion der Frauen innerhalb der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung allerdings nur zum Teil. Ein ergänzender Aspekt war, dass Frauen als NichtArbeiterinnen definiert wurden: eine Entwicklung, mit der sich feministische Historikerinnen ausgiebig beschäftigt haben, und die bis zum Ende des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war. Bis dahin befanden sich die Frauen selbst in denjenigen Berufen, deren Ausübung einst als ihr Vorrecht gegolten hatte, auf dem Rückzug. Dazu gehörten etwa die Berufe des Bierbrauens und der Geburtshilfe. In diesen und anderen Berufen wurde die Beschäftigung von Frauen neuerlich einge­ schränkt. Insbesondere proletarische Frauen taten sich schwer, andere Arbei­ ten als die mit dem niedrigsten Status versehenen zu finden: Sie arbeiteten als Hausdienerinnen (der Beruf eines Drittels aller arbeitenden Frauen), als

Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen

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Die Prostituierte und der Soldat. Prostituierte folgten oft dem Heer. Sie erledigten für die Soldaten und andere Proletarier die Aufgaben einer Ehefrau. Zusätzlich zu sexuellen Diens­ ten kochten und wuschen sie auch für die Männer. Landarbeiterinnen, Spinnerinnen, Näherinnen, Stickerinnen, Straßenhänd­ lerinnen und Ammen. Merry Wiesner macht uns (neben anderen) darauf aufmerksam, dass sich (in den Gesetzestexten, den Steuerregistern und den Verordnungen der Zünfte) die Annahme durchsetzte, dass Frauen nicht außer­ halb des Haushalts arbeiten und sich nur dann der „Produktion“ widmen sollten, wenn sie damit ihren Ehemännern helfen. Es wurde sogar behauptet, sämtliche Arbeiten, die eine Frau im Haushalt erledige, seien „Nicht-Arbeit“ und wertlos, selbst wenn dabei für den Markt produziert werde (Wiesner 1993: 83 ff). Wenn eine Frau also Kleider nähte, handelte es sich dabei um „Hausarbeit“ oder „Haushaltspflege“, selbst wenn die Kleider gar nicht für

die Familie bestimmt waren. Wurde dieselbe Tätigkeit von einem Mann erle­ digt, dann galt sie als „produktiv“. Die Abwertung der Frauenarbeit ging so weit, dass die Stadtregierungen die Zünfte sogar anwiesen, die von Frauen (insbesondere Witwen) im Haushalt betriebene Produktion zu ignorieren, da es sich dabei nicht um wirkliche Arbeit handle, und da die Frauen sol­ che Tätigkeiten benötigen würden, um nicht von der Armenhilfe abhängig zu werden. Wiesner fügt hinzu, dass Frauen diese Fiktion akzeptierten und sich sogar dafür entschuldigten, dass sie nach Arbeit suchten; wenn sie um Beschäftigung baten, verwiesen sie auf die Notwendigkeit, ihren Unterhalt zu bestreiten (Wiesner 1993: 84-85). Bald wurde alle Frauenarbeit, sofern sie im Haushalt erledigt wurde, als „Haushaltspflege“ definiert. Selbst wenn die Arbeit außerhalb des Haushalts erledigt wurde, wurde sie schlechter ent­ lohnt als Männerarbeit, und der Lohn war nie ausreichend, um den Frauen ein Auskommen zu gewähren. Die Ehe wurde nun als die eigentliche Frau­ enkarriere angesehen, und die Unfähigkeit der Frauen, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten, galt als so selbstverständlich, dass alleinstehende Frauen, wenn sie sich in einem D orf niederzulassen versuchten, vertrieben wurden, selbst wenn sie einer Lohnarbeit nachgingen. Dieser Machtverlust auf dem Gebiet der Lohnarbeit bewirkte in Verbin­ dung mit der Landenteignung eine massenhafte Ausbreitung der Prostitu­ tion. Le Roy Ladurie berichtet, der Anstieg in der Zahl der Prostituierten sei in ganz Frankreich unübersehbar gewesen: „Von Avignon über Narbonne bis Barcelona standen ,Lustweiber‘ (femmes de débauche) vor den Stadttoren, auf den Straßen der Rotlicht­ viertel [...] und auf Brücken [...], [so dass] das schändliche Gewerbe* bis 1594 aufblühte wie nie zuvor.“ (Le Roy Ladurie 1974: 112—113) In England und Spanien war die Lage ähnlich. Dort verdienten arme Frauen vom Land und selbst die Frauen von Handwerkern in den Städten Tag für Tag das Familieneinkommen. Eine 1631 in Madrid von den politischen Autori­ täten herausgegebene Erklärung denunzierte das Problem und klagte, dass viele weibliche Vagabunden nunmehr durch die Straßen, Gassen und Wirts­ häuser ziehen und Männer einladen würden, mit ihnen zu sündigen (Vigil 1986: 114-115). Die Institutionen änderten ihre Haltung zur Prostitution jedoch, sobald sie für einen Großteil der weiblichen Bevölkerung die wich­ tigste Subsistenzform geworden war. War die Prostitution im späten Mittelalter von offizieller Seite noch als notwendiges Übel akzeptiert worden, und hatten die Prostituierten damals noch vom Hochlohnregime profitiert, so kehrte sich die Situation im 16. Jahrhundert um. In einem Klima ausgepräg­ ter Frauenfeindlichkeit, das sich durch den Vormarsch der Reformation und der Hexenverfolgungen auszeichnete, wurden der Prostitution zunächst neue Beschränkungen auferlegt, bevor sie dann vollends kriminalisiert wurde. Zwi­ schen 1530 und 1560 wurden die städtischen Bordelle allerorten geschlossen. Die Prostituierten, insbesondere die auf den Straßen arbeitenden, wurden

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Eine Prostituierte umwirbt einen Freier. Viele bäuerliche Frauen wurden aufgrund von Land­ privatisierungen und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft von ihrem Boden vertrie­ ben. In der Folge stieg die Zahl der Prostituierten dramatisch. streng bestraft: durch Verbannung, die Prügelstrafe und durch andere grau­ same Formen der Züchtigung. Dazu gehörte auch der „Tauchstuhl“ (accabussade)> von Nickie Roberts als ein „Stück düsteres Theater“ beschrieben. Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann

ii 6 wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank (Roberts 1992: 115-116). Derweil wurde in Frankreich verfügt, dass es kein Verbre­ chen mehr sei, eine Prostituierte zu vergewaltigen.63 In Madrid beschloss der Gesetzgeber, dass es weiblichen Vagabunden und Prostituierten nicht erlaubt sein sollte, auf den Straßen oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie dort aufgefunden, dann wurden sie mit hundert Peitschenhieben bestraft: und sechs Jahre aus der Stadt verbannt; außerdem wurden ihre Kopfhaare und Augenbrauen geschoren. Wie ist dieser drastische Angriff auf Arbeiterinnen zu erklären? Und wie verhält sich der Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der gesellschaftlich aner­ kannten Arbeit und der Geldbeziehungen zur Durchsetzung der Zwangsmut­ terschaft und zur zeitgleichen Ausbreitung der Fiexenverfolgungen? Wenn wir diese Erscheinungen von heute aus betrachten, vor dem Hin­ tergrund von vier Jahrhunderten kapitalistischer Disziplinierung der Frauen, dann scheinen sich diese Fragen geradezu von selbst zu beantworten. Weibli­ che Lohnarbeit, Hausarbeit und (bezahlte) Sexarbeit werden noch immer viel zu oft unabhängig voneinander untersucht, doch wir sind nun eher dazu in der Lage, zu erkennen, dass die von Frauen im Bereich der Lohnarbeit erfah­ rene Diskriminierung unmittelbar zurückgeht auf ihre Funktion als unbe­ zahlte Hausarbeiterinnen. Wir können somit das Prostitutionsverbot und den Ausschluss der Frauen aus der organisierten Arbeitswelt in Beziehung setzen zur Entstehung der Hausfrau sowie zur Rekonstruktion der Familie als Ort der Produktion von Arbeitskraft. Theoretisch und politisch lauten die grundlegenden Fragen jedoch, unter welchen Bedingungen eine solche Abwertung möglich wurde und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beförder­ ten oder an ihr mitwirkten. Die Antwort lautet, dass eine von Handwerkern initiierte Kampagne ein wesentlicher Faktor bei der Abwertung der Frauenarbeit war. Ab dem späten 15. Jahrhundert setzten sich Facharbeiter für den Ausschluss der Frauen aus ihren Werkstätten ein. Ihre Absicht war dabei mutmaßlich, sich gegen einen Angriff der kapitalistischen Kaufleute zu wehren, die Frauen zu niedrige­ ren Löhnen beschäftigten. Die Bemühungen der Handwerker haben zahlrei­ che dokumentarische Spuren hinterlassen.64 Ob in Italien, Frankreich oder Deutschland: Gesellen legten den Autoritäten Petitionen vor, in denen sie darum ersuchten, nicht der Konkurrenz der Frauen ausgesetzt zu werden. Sie streikten, wenn es nicht zum Ausschluss der Frauen kam, und weiger­ ten sich sogar, mit Männern zusammenzuarbeiten, die ihrerseits mit Frauen gearbeitet hatten. Es hat den Anschein, dass die Handwerker auch aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein Interesse daran hatten, Frauen auf die Hausarbeit festzulegen, denn „die umsichtige Haushaltsplanung durch eine Ehefrau“ wurde ausschlaggebend, wenn der Bankrott verhindert und die unabhängige Werkstatt erhalten bleiben sollte. Sigrid Brauner (von der die zitierten Worte stammen) geht auf die Bedeutung ein, die deutsche Hand-

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Eine Prostituierte wird durch den „Tauchstuhl" (a c c a b u s s a d e ) gefoltert. „Sie wird mehrfach in den Fluss getaucht und dann lebenslänglich eingesperrt werden." werker diesem gesellschaftlichen Grundsatz zuschrieben (Brauner 1995: 96-97). Die Frauen versuchten, sich diesem Angriff zu widersetzen, versag­ ten aber angesichts der Einschüchterungstaktiken, die die Männer gegen sie einsetzten. Diejenigen, die es wagten, außerhalb des Haushalts, im öffentli­ chen Raum und für den Markt zu arbeiten, wurden als sexuell aggressive Dra­ chen oder sogar als „Huren“ und „Hexen“ dargestellt (Howell 1986: 182— 183).65 Es gibt in der Tat Belege dafür, dass die Welle der Frauenfeindlichkeit, die Ende des 15. Jahrhunderts in den europäischen Städten im Anschwellen begriffen war - und die in der männlichen Zwangsvorstellung eines „Kamp­

n8 fes um die Hosen“ sowie im Bild der ungehorsamen Ehefrau zum Ausdruck kam, wobei letztere in der populären Literatur meist als ihren Mann schla­ gend oder auf seinem Rücken reitend dargestellt wurde unter anderem auf diesen (auch für die Handwerker kontraproduktiven) Versuch zurückging, die Frauen von den Arbeitsstätten und Märkten zu vertreiben. Andererseits ist es auch unstrittig, dass dieser Versuch gescheitert wäre, wenn sich die Autoritäten nicht kooperativ gezeigt hätten. Sie gingen aber offenbar davon aus, dass es in ihrem Interesse war, die Bemühungen der Handwerker zu unterstützen. Denn der Ausschluss der Frauen aus dem Handwerk befriedete nicht nur die rebellischen Gesellen, sondern er bot auch die nötige Grundlage sowohl für die Festlegung der Frauen auf die Reproduk­ tionsarbeit als auch für den Einsatz weiblicher Arbeitskräfte im gering ent­ lohnten Heimgewerbe. Frauen als neue Allmende und Ersatz für den verlorenen Boden

Aus diesem Bündnis zwischen den Handwerkern und den städtischen Autoritäten ging, ebenso wie aus der anhaltenden Landprivatisierung, eine neue geschlechtliche Arbeitsteilung hervor. Genauer gesagt wurde, wie Carol Pateman (1988) es ausgedrückt hat, ein neuer „Geschlechtervertrag“ geschlossen. Darin wurden Frauen als Mütter, Ehefrauen, Töchter und Wit­ wen definiert, d. h. ihr Status als Arbeiterinnen wurde verschleiert, während den Männern zugleich der Zugriff auf die Körper und die Arbeit sowohl der Frauen als auch der Kinder ermöglicht wurde. Gemäß diesem neuen Gesellschafts- und Geschlechtervertrag wurden proletarische Frauen für männliche Arbeiter zum Ersatz für das infolge der Einhegungen verlorene Land. Sie wurden zum grundlegendsten Reproduk­ tionsmittel und zu einem öffentlichen Gut, dessen sich jeder zu jeglichem Zeitpunkt bemächtigen konnte. Ein Nachhall dieser „ursprünglichen Aneig­ nung“ findet sich im Begriff der „gemeinen Frau“ (Karras 1989), mit dem im 16. Jahrhundert diejenigen bezeichnet wurden, die sich prostituierten. Unter dem neuen System der Arbeitsorganisation wurde jedoch jede Frau (abgese­ hen von den durch bürgerliche M änner privatisierten) zum Gemeingut. Denn sobald man weibliche Tätigkeiten als Nicht-Arbeit definiert hatte, begann die Arbeit der Frauen als Naturressource zu erscheinen, die allen zur Verfügung steht, wie Luft und Wasser. Für die Frauen war das eine historische Niederlage. Durch den Aus­ schluss der Frauen aus dem Handwerk und die Abwertung ihrer Reproduk­ tionsarbeit kam es zu einer Feminisierung der Armut. Um die „ursprüngli­ che Aneignung“ der Frauenarbeit durch die Männer zu befördern, wurde eine neue patriarchale Ordnung entwickelt, die die Frauen zu einer doppel­ ten Abhängigkeit verurteilte: Abhängigkeit sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Mann. Die Tatsache, dass es auch vor dem Aufstieg des Kapitalismus ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gab, so wie es

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Wie der „Kampf um die Hosen", so war auch das Bild des herrischen Weibes, das die sexuelle Hierarchie in Frage stellt und seinen Ehemann schlägt, ein berühmtes Motiv der soziale Fra­ gen verhandelnden Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. auch eine diskriminierende geschlechtliche Arbeitsteilung gab, tut der Triftig­ keit dieser Einschätzung keinen Abbruch. Denn im vorkapitalistischen Eur­ opa war die Unterordnung der Frauen unter die Männer durch die Tatsache gemildert worden, dass die Frauen Zugang zur Allmende und zu anderen gemeinschaftlich genutzten Gütern hatten. Unter dem neuen kapitalistischen Regime wurden dagegen die Frauen selbst zur Allmende, da man ihre Arbeit als eine außerhalb der Sphäre von Marktbeziehungen angesiedelte Naturres­ source definierte.

120 Das Patriarchat des Lohnes

Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Veränderungen, die sich innerhalb der Familie ereigneten. Die Familie begann, sich von der Öffent­ lichkeit abzusondern und ihren neuzeitlichen Charakter als Hauptort der Reproduktion der Arbeitskraft anzunehmen. Als Gegenstück zum Markt und Mittel zur Privatisierung gesellschaftli­ cher Beziehungen, vor allem aber zur Propagierung kapitalistischer Disziplin und patriarchaler Herrschaft, wird die Familie im Zeitalter der ursprüngli­ chen Akkumulation zudem auch die wichtigste Institution für die Aneignung und Verschleierung der Frauenarbeit. Wir erkennen dies insbesondere, wenn wir die Arbeiterfamilie betrach­ ten. Es handelt sich um ein Thema, das nicht ausreichend erforscht worden ist. In früheren Debatten stand die Familie des besitzenden Mannes im M it­ telpunkt; sie sei zur der Zeit, auf die wir uns hier beziehen, die dominierende Familienform gewesen, an der sich elterliche und eheliche Beziehungen ori­ entiert hätten. Das Interesse an der Familie als politische Institution hat auch das Interesse an ihr als Arbeitsort überwogen. Es ist also betont worden, dass der Ehemann in der neuen, bürgerlichen Familie zum Statthalter des Staates wurde. Ihm oblag es, die „untergeordneten Klassen“ zu disziplinieren und zu überwachen, und zur Kategorie der „untergeordneten Klassen“ zählten für die Staatstheoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts (etwa Jean Bodin) aus­ drücklich auch Ehefrau und Kinder (Schochet 1975). Daher die Definition der Familie als Mikro-Staat oder Mikro-Kirche, und daher auch die Forde­ rung der Autoritäten, dass einzelne Arbeiter unter einem Dach und unter der Herrschaft eines Herrn leben sollten. Es ist auch daraufhingewiesen worden, dass Frauen in der bürgerlichen Familie einen beträchtlichen Teil ihrer Macht einbüßten; in der Regel wurden sie von den Geschäften der Familie ausge­ schlossen und auf die Beaufsichtigung des Haushalts festgelegt. Was in dieser Darstellung jedoch fehlt, ist der Hinweis darauf, dass es in den höheren Klassen das Eigentum war, das dem Ehemann Macht über seine Frau und seine Kinder verlieh, während Männer aus der Arbeiterklasse eine vergleichbare Macht über Frauen ausüben konnten, weil Frauen von der Lohnarbeit ausgeschlossen wurden. Exemplarisch für diesen Trend waren die Familien der im Verlagssystem beschäftigten Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen. Männliche Heimarbei­ ter waren weit davon entfernt, die Familiengründung zu meiden; sie waren vielmehr auf sie angewiesen, denn die Ehefrau konnte ihnen bei der Arbeit, die sie für die Kaufleute erledigen mussten, „helfen“, während sie sich gleich­ zeitig um die körperlichen Bedürfnisse ihres Mannes kümmerte und ihm Kinder gebar, die bereits in jungen Jahren am Webstuhl arbeiten oder Hilfs­ tätigkeiten ausführen konnten. So scheint es, als hätten sich die Heimarbei­ ter selbst zu Zeiten des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs weiter vermehrt. Ihre Familien waren derart groß, dass im 17. Jahrhundert ein österreichi­

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scher Zeitgenosse von den in seinem D orf lebenden Heimarbeitern sagte, sie würden hausen wie Spatzen auf einem Dachbarren. Auffällig ist an diesem Arrangement, dass die Frau zwar Seite an Seite mit ihrem Mann arbeitete und ebenso wie er für den Markt produzierte, es aber nur der Mann war, der einen Lohn erhielt. Gleiches galt für andere Arbeiterinnen, sobald sie gehei­ ratet hatten. In England hatte „ein verheirateter Mann [...] einen rechtlich verbrieften Anspruch auf die Einnahmen seiner Ehefrau“, selbst wenn sie als Kindermädchen oder Amme arbeitete. Wenn eine Gemeinde also Frauen anheuerte, um solche Arbeiten zu erledigen, verschleierten die Register „häu­ fig die Anwesenheit dieser Arbeiterinnen“, denn die Bezahlung wurde unter dem Namen des Ehemannes verbucht. „Ob das Geld dem Ehemann oder der Ehefrau ausgezahlt wurde, hing von der Laune des Buchhalters ab“ (Mendelson und Crawford 1998: 287). Diese Politik, die es den Frauen unmöglich machte, über eigenes Geld zu verfügen, schuf die materiellen Bedingungen für die Unterordnung der Frauen unter die Männer und die Aneignung weiblicher Arbeit durch männ­ liche Arbeiter. In diesem Sinne spreche ich vom Patriarchat des Lohnes. Wir müssen auch den Begriff der „Lohnsklaverei“ neu reflektieren. Wenn es stimmt, dass männliche Arbeiter unter dem neuen Lohnarbeitsregime nur formell frei waren, dann waren Frauen aus der Arbeiterklasse die Gruppe, die der Situation der Sklaven während des Übergangs zum Kapitalismus am nächsten kam. Gleichzeitig war - aufgrund der elenden Bedingungen, unter denen Lohnarbeiter hausten - die Hausarbeit, die Frauen leisteten, um ihre Fami­ lien zu reproduzieren, notwendig begrenzt. Ob sie verheiratet waren oder nicht: Proletarische Frauen mussten etwas Geld verdienen, und sie taten dies, indem sie mehrere Arbeiten annahmen. Hinzu kommt, dass die Hausarbeit ein gewisses reproduktives Kapital voraussetzt: Einrichtungsgegenstände, Geräte, Kleidung, Geld für Lebensmittel. Lohnarbeiter lebten jedoch unter ärmlichen Bedingungen und „mussten Tag und Nacht arbeiten wie Sklaven“ (so die Klage eines Nürnberger Handwerkers im Jahr 1524), wenn sie dem Hunger entgehen und ihre Frauen und Kinder ernähren wollten (Brauner 1995: 96). Die meisten hatten gerade einmal ein Dach über dem Kopf. Die Hütten, in denen sie lebten, beherbergten auch andere Familien sowie Vieh, und von hygienischen Bedingungen (auf die auch die Wohlhabenden keinen besonderen Wert legten) konnte nicht die Rede sein. Ihre Kleider waren zer­ fetzt, und ihre Kost bestand bestenfalls aus Brot, Käse und ein wenig Gemüse. Daher begegnen wir in der Arbeiterklasse dieser Zeit nicht der klassischen Gestalt der Vollzeit-Hausfrau. Erst im 19. Jahrhundert wurde - in Reaktion auf den ersten Zyklus heftiger Kämpfe gegen die Industriearbeit - die auf der unbezahlten Reproduktionsarbeit der Vollzeit-Hausfrau beruhende „neuzeit­ liche Familie“ zum allgemeinen Familienmodell der Arbeiterklasse, zunächst in England und später auch in den USA.

122 Die Entwicklung dieses Familienmodells setzte nach der Verabschie­ dung der Fabrikgesetze ein, die der Beschäftigung von Frauen und Kindern in den Fabriken Einhalt geboten. Sie ist Ausdruck der ersten langfristigen Investition der kapitalistischen Klasse in eine über rein quantitative Steige­ rung hinausgehende Reproduktion der Arbeiterschaft. Und sie war Ergebnis eines Kompromisses, dem eine Aufstandsdrohung zugrunde lag. Die kapi­ talistische Klasse konzedierte den Arbeitern höhere Löhne - hoch genug, um eine „nicht arbeitende“ Frau zu unterhalten - , und im Gegenzug wurde die Ausbeutungsrate erhöht. Marx hat dies als Übergang vom „absoluten“ zum „relativen“ Mehrwert beschrieben, also als Übergang von einem Typus der Ausbeutung, der auf größtmöglicher Verlängerung des Arbeitstages und größtmöglicher Senkung des Lohnes beruht, zu einem Regime, unter dem höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten durch eine gesteigerte Produktivität der Arbeit und ein gesteigertes Produktionstempo kompensiert werden. Aus Sicht des Kapitals war dies eine soziale Revolution, denn es wurde Abstand genommen von dem lange Zeit geltenden Prinzip des Niedriglohns. Die Ent­ wicklung war Ergebnis einer neuen Übereinkunft zwischen Arbeitern und Arbeitergebern, die auch diesmal wieder auf dem Ausschluss der Frauen von der Lohnarbeit beruhte - und damit der in der Frühphase der industriel­ len Revolution zu verzeichnenden Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte ein Ende setzte. Gleichzeitig war die Entwicklung auch Ausdruck eines neuen kapitalistischen Wohlstands. Dieser war wiederum Ergebnis einer zwei Jahr­ hunderte währenden Ausbeutung der Sklavenarbeit, zu der schon bald eine neue Phase kolonialer Expansion hinzukommen sollte. Im 16. und 17. Jahrhundert war dagegen, allen zwanghaften Sorgen um die Bevölkerungsgröße und die Zahl der „arbeitenden Armen“ zum Trotz, das Ausmaß tatsächlicher Investitionen in die Reproduktion der Arbeiter­ schaft sehr gering. Daher leisteten proletarische Frauen den Großteil ihrer Reproduktionsarbeit nicht für ihre eigenen Familien, sondern für die ihrer Arbeitgeber oder für den Markt. In England, Spanien, Frankreich und Italien arbeitete durchschnittlich ein Drittel der weiblichen Bevölkerung als Dienst­ botinnen. Im Proletariat bestand eine Tendenz zum Aufschub der Ehe und zum Zerfall der Familie (in den englischen Dörfern des 16. Jahrhunderts war eine jährliche Einwohnerfluktuation von 50 Prozent zu verzeichnen). Oft war es den Armen sogar verboten zu heiraten, da befürchtet wurde, dass ihre etwaigen Kinder Armenhilfe in Anspruch nehmen würden. Trat dieser Fall tatsächlich ein, dann wurden den Armen ihre Kinder genommen und der Gemeinde als Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt. Schätzungen zufolge blieb mindestens ein Drittel der Bevölkerung des ländlichen Europas ledig. In den Städten war die Zahl der Ledigen noch höher, insbesondere unter den Frauen: In Deutschland handelte es sich bei vierzig Prozent von ihnen entwe­ der um „alte Jungfern“ oder um Witwen (Ozment 1983: 41—42).

D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen

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Die von proletarischen Frauen geleistete Hausarbeit blieb also auf ein Minimum beschränkt, und diese Frauen mussten stets auch für*den Markt arbeiten. Dennoch gibt sich in der Arbeiterklassen-Community der Über­ gangszeit bereits die Entstehung jener geschlechtlichen Arbeitsteilung zu erkennen, die für die kapitalistische Arbeitsorganisation typisch werden sollte. Im Mittelpunkt stand dabei die wachsende Kluft zwischen Män­ ner- und Frauenarbeit. Die von Frauen und Männern erledigten Aufgaben unterschieden sich zusehends und wurden vor allem Träger unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse. So verarmt und entmachtet sie auch sein mochten, männliche Lohnar­ beiter konnten immer noch von der Arbeit und den Löhnen ihrer Ehefrauen profitieren, oder aber sie konnten die Dienstleistungen von Prostituierten erwerben. Durch die ganze erste Phase der Proletarisierung hindurch war die Prostituierte häufig diejenige, die für männliche Arbeiter die Rolle einer Ehe­ frau übernahm, denn Prostituierte boten nicht nur sexuelle Dienste, sondern kochten und wuschen auch für Männer. Hinzu kam die Kriminalisierung der Prostitution, durch die die Prostituierte belangt wurde, selten jedoch der Mann; auch dies weitete die Macht der Männer aus. Es war nun jedem Mann möglich, eine Frau einfach dadurch zu vernichten, dass er sie als Prostituierte denunzierte oder öffentlich machte, dass sie seiner sexuellen Begierde nachge­ kommen war. Frauen mussten Männer darum bitten, ihnen nicht „ihre Ehre zu rauben“ (das einzige Eigentum, über das sie noch verfügten) (Cavallo und Cerutti 1980: 346 ff). Dem lag die Annahme zugrunde, ihr Schicksal liege in den Händen von Männern, die (wie Feudalherren) über Leben und Tod entscheiden könnten. Die Domestizierung der Frauen und die Neubestimmung von Weiblichkeit und Männlichkeit: Frauen als die Wilden Europas

Angesichts dieser Abwertung der Frauenarbeit und des Statusverlustes der Frauen überrascht es nicht, dass die Aufsässigkeit der Frauen und die Mittel, durch die sie „gezähmt“ werden konnten, zu den Hauptthemen der Literatur und Sozialpolitik der „Übergangszeit“ gehören (Underdown 1985a: 116—136).70 Es wäre nicht möglich gewesen, Frauen als Arbeiterinnen rest­ los abzuwerten und ihnen jegliche Autonomie gegenüber Männern abzu­ sprechen, wenn man sie nicht einem intensiven Prozess gesellschaftlicher Abwertung ausgesetzt hätte. Tatsächlich verloren die Frauen im 16. und 17. Jahrhundert in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens an Boden. Ein Bereich, in dem es zu diesbezüglich außerordentlich wichtigen Ver­ änderungen kam, war die Rechtsprechung. Dort beobachten wir in diesem Zeitraum einen konstanten Abbau der Frauenrechte.71 Eines der bedeu­ tendsten Rechte, die Frauen verloren, war das Recht im Alleingang, als femmes soles, einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. In Frankreich ver­ loren Frauen auch das Recht, Verträge abzuschließen oder sich vor Gericht

124 selbst zu vertreten: Sie wurden zu juristischen „Idioten“. In Italien zogen sie immer seltener vor Gericht, um gegen ihnen widerfahrenes Unrecht zu kla­ gen. In Deutschland wurde es gebräuchlich, einer verwitweten Frau aus der Mittelschicht einen Vormund zuzuteilen, der sich um ihre Angelegenheiten kümmerte. Deutschen Frauen war es auch untersagt, allein oder mit ande­ ren Frauen zu leben. Armen Frauen war es sogar verboten, mit ihren eigenen Familien zu leben, da man davon ausging, dass sie diese nicht hinreichend beaufsichtigen würden. Kurzum: Zusätzlich zu ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abwertung wurden Frauen auch juristisch infantilisiert. Der gesellschaftliche Machtverlust fand auch in einer neuen geschlecht­ lichen Differenzierung des Raumes seinen Ausdruck. In den Mittelmeerlän­ dern wurden Frauen nicht nur von vielen entlohnten Berufen ausgeschlos­ sen, sondern auch von den Straßen. Eine unbegleitete Frau lief dort Gefahr, verspottet oder sexuell attackiert zu werden (Davis 1998). Auch in England („einem Paradies für Frauen“ , wie einige italienische Besucher meinten) begann man die Präsenz der Frauen im öffentlichen Raum zu beargwöh­ nen. Englische Frauen wurden aufgefordert, sich nicht vor ihre Häuser zu setzen oder in Fensternähe aufzuhalten. Sie wurden auch angehalten, keine Zeit mit ihren weiblichen Bekannten zu verbringen (damals erhielt das eng­ lische Wort „(gossip“, Tratsch, das zunächst eine weibliche Bekannte bezeichnete, einen abwertenden Beigeschmack). Frauen wurde sogar empfohlen, ihre Eltern nach der Eheschließung nicht zu häufig zu besuchen. Wie die neue geschlechtliche Arbeitsteilung die Beziehungen zwischen Männern und Frauen veränderte, lässt sich an der breiten, sowohl in der gelehrten als auch in der populären Literatur geführten Debatte um das Wesen weiblicher Tugenden und Laster erkennen. Es handelte sich um eines der Hauptvehikel der ideologischen Neubestimmung der Geschlechterver­ hältnisse im Übergang zum Kapitalismus. Die Debatte wurde bereits früh als „quereile des femmes“ bezeichnet. In ihr zeigt sich eine neuartige Neu­ gier gegenüber Frauen, was darauf hinweist, dass alte Normen in Auflösung begriffen waren und die Öffentlichkeit sich darüber im Klaren war, dass die Grundelemente der Sexualpolitik im Begriff waren, neu zusammengesetzt zu werden. Innerhalb dieser Debatte lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden. Einerseits wurden neue kulturelle Kanons konstruiert, die die Differenz von Frauen und Männern maximierten und weiblichere und männlichere Proto­ typen hervorbrachten (Fortunati 1984). Andererseits wurde auch festgehal­ ten, dass Frauen Männern unterlegen seien - sie seien übermäßig emotional und wollüstig, außerdem unfähig zur Selbstbeherrschung - , weshalb sie unter männliche Aufsicht zu stellen seien. Wie bei der Verurteilung der Hexerei, so etablierte sich auch hier, über alle religiösen und intellektuellen Differenzen hinweg, ein Konsens. A uf der Kanzel und auf der bedruckten Seite wirkten Humanisten, Protestanten und Katholiken der Gegenreformation beständig und zwanghaft zusammen, um Frauen zu verunglimpfen.

Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen

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Eine zänkische Frau wird mit einem „Zaum" versehen durch den Ort geführt. Bei dem „Zaum" handelte es sich um ein eisernes Gerät, das verwendet wurde, um Frauen mit spitzer Zunge zu bestrafen. Bezeichnenderweise wurde ein ähnliches Gerät in Afrika von europäischen Sklavenhändlern verwendet, um ihre Gefangenen zu bändigen, während diese auf Sklaven­ schiffe verladen wurden. Frauen wurden beschuldigt, unvernünftig, eitel, wild und verschwende­ risch zu sein. In besonderem Maße kritisiert wurde die weibliche Zunge, das Instrument der Aufsässigkeit. Die Hauptschurkin war jedoch die ungehor­ same Ehefrau. Sie war, neben dem „zänkischen Weib“, der „Hexe“ und der „Hure“, Hauptgegenstand der Kritik von Dramatikern, populären Schrift­ stellern und Moralisten. In diesem Sinne war Der widerspenstigen Zähmung (1593) von Shakespeare das Manifest des Zeitalters. Die Bestrafung weib­

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licher Aufsässigkeit gegenüber der patriarchalen Autorität wurde in zahllo­ sen frauenfeindlichen Theaterstücken und Traktaten gefordert und zelebriert. Die englische Literatur der Regierungszeiten von James VI. und Elizabeth I. weidete sich an diesen Themen. Typisch für diese Gattung ist ‘ Tis Pity Sh es a Whore (1633) von John Ford, ein Stück, das seinen didaktischen Abschluss in der Ermordung oder Hinrichtung dreier der vier weiblichen Figuren findet. Andere klassische Werke, in denen die Disziplinierung der Frauen behandelt wird, sind John Swetnams Arraignment o f Lewed, Idle, Forward, Inconstant Women (1615) und The Parliament o f Women (1646), eine Satire, in der Frauen aus der Mittelschicht umtriebig Gesetze verabschieden, um sich die Vorherrschaft über ihre Ehemänner zu sichern.72 Derweil wurden neue Gesetze verabschiedet und neue Formen der Folter eingeführt, um das Verhalten der Frauen innerhalb und außerhalb des Haushaltes zu kontrol­ lieren. Das bestätigt, dass die literarische Verunglimpfung der Frauen Teil eines genau bestimmten politischen Projekts war, bei dem es darum ging, die Frauen jeglicher Autonomie und jeglicher gesellschaftlichen Macht zu berauben. Im Europa der Aufklärung wurden der Zankhaftigkeit beschul­ digte Frauen wie Hunde mit einem Maulkorb versehen und durch die Stra­ ßen geführt. Prostituierte wurden ausgepeitscht oder in Käfige gesperrt und ihr Tod durch Ertrinken simuliert. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass des Ehebruchs überführte Frauen mit dem Tod zu bestrafen seien (Underdown 1985a: 117 ff). Es ist keine Übertreibung, dass Frauen mit der gleichen Feindseligkeit und als ebenso fremdartig behandelt wurden wie die „indianischen Wilden“ in der dieses Thema behandelnden, nach der Conquista entstehenden Litera­ tur. Die Parallele ist nicht beliebig. In beiden Fällen stand die literarische und kulturelle Verunglimpfung im Dienst eines Enteignungsprojekts. Wie wir noch sehen werden, diente die Dämonisierung der amerikanischen Urein­ wohner dazu, ihre Versklavung und den Raub ihrer Ressourcen zu rechtfer­ tigen. In Europa rechtfertigte der Angriff auf die Frauen die Aneignung ihrer Arbeit durch Männer und die Kriminalisierung weiblicher Kontrolle über die Reproduktion. Wer den Widerstand aufnahm, tat dies stets um den Preis sei­ ner oder ihrer Vernichtung. Keine der gegen europäische Frauen und Kolo­ nialsubjekte angewandten Taktiken hätte erfolgreich sein können, wären sie nicht durch eine Terrorkampagne gestützt worden. Im europäischen Fall war es die Hexenverfolgung, die bei der Konstruktion der neuen gesellschaftli­ chen Funktion der Frauen sowie bei der Abwertung ihrer sozialen Identität die Hauptrolle spielte. Die Definition der Frauen als dämonische Wesen und die grausamen und demütigenden Praktiken, denen so viele von ihnen ausgesetzt wurden, hinterließen unauslöschliche Spuren in der weiblichen Psyche sowie im weib­ lichen Möglichkeitssinn. Die Hexenverfolgung war in jeder Hinsicht - sozial, ökonomisch, kulturell, politisch - ein Wendepunkt im Leben der Frauen;

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Frontispiz von The P a rlia m e n t o f W om en ( D as P a rla m e n t d e r F ra u en ,

1646). Das Werk ist typisch für die frauenfeindlichen Satiren, die zur Zeit des englischen Bürgerkriegs für die englische Literatur prägend waren.

sie entsprach der historischen Niederlage, von der Engels in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) andeutet, sie habe den Niedergang der matriarchalen Welt verursacht. Denn die Hexenverfolgung zerstörte eine ganze Welt von weiblichen Praktiken, kollektiven Verhältnis­ sen und Wissenssystemen, die im vorkapitalistischen Europa Grundlage der Macht der Frauen und Vorbedingung weiblichen Widerstands im K am pf gegen den Feudalismus gewesen war. Aus dieser Niederlage ging ein neues Modell der Weiblichkeit hervor: die ideale Frau und Gattin - passiv, fügsam, sparsam, wortkarg, stets beschäf­ tigt und keusch. Dieser Wandel begann Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem man Frauen mehr als zwei Jahrhunderte lang dem Staatsterrorismus ausge­ setzt hatte. Sobald die Frauen besiegt waren, wurde das im „Übergang“ kon­ struierte Weiblichkeitsbild als unnötiges Mittel wahrgenommen, aufgegeben und durch ein neues, abgemildertes ersetzt. Hatte man die Frauen zur Zeit der Hexenverfolgung als wilde Wesen dargestellt, geistig minderwertig, unersätt­ lich lüstern, rebellisch, aufsässig, zur Selbstbeherrschung unfähig, so wurde der Kanon im 18. Jahrhundert umgekehrt. Nun wurden Frauen als passive, asexuelle Wesen dargestellt, fügsamer und moralischer als Männer und fähig, auf diese einen positiven moralischen Einfluss auszuüben. Selbst ihre Irratio­ nalität ließ sich nun aufwerten, wie der holländische Philosoph Pierre Bayle

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in seinem Dictionnaire historique et critique (1697) erkannte. Bayle pries die Macht des „mütterlichen Instinkts“ der Frauen. Er sei als genuines Mittel der Vorsehung anzusehen, da er gewährleiste, dass Frauen sich trotz der Nachteile des Gebärens und der Kinderaufzucht weiter reproduzieren. Die Kolonisierung, die Globalisierung und die Frauen

Bestand die Antwort auf die Bevölkerungskrise in Europa in der Unter­ ordnung der Frauen unter die Reproduktion, so bestand sie in den amerika­ nischen Kolonien, wo die Kolonisierung 95 Prozent der indigenen Bevölke­ rung vernichtete, im Sklavenhandel, der die herrschende Klasse Europas mit Unmengen von Arbeitskraft versorgte. Etwa eine Million afrikanische Sklaven und indigene Arbeiterinnen produzierten bereits im 16. Jahrhundert in den amerikanischen Kolonien Mehrwert für Spanien. Die Ausbeutungsrate war viel höher als die der euro­ päischen Arbeiter. Die Arbeit der Sklaven und indigenen Arbeiter trug zur Entwicklung derjenigen Sektoren der europäischen Wirtschaft bei, die sich in Richtung Kapitalismus entwickelten (Blaut 1992a: 45-46).73 Bis zum Jahr 1600 betrug allein der Wert des aus Brasilien exportierten Zuckers das D op­ pelte der gesamten Wollexporte Englands (Blaut 1992a: 42). Die Akkumu­ lationsrate der brasilianischen Zuckerplantagen war derart hoch, dass diese ihre Produktionskapazität alle zwei Jahre verdoppeln konnten. Gold und Silber spielten bei der Bewältigung der kapitalistischen Krise ebenfalls eine Schlüsselrolle. Handel und Industrie Europas wurden durch das aus Brasilien importierte Gold wiederbelebt (De Vries .1976: 20). Bis 1640 wurden mehr als 17.000 Tonnen importiert, was der kapitalistischen Klasse hinsichtlich des Zugriffs auf Arbeiter, Waren und Land einen außerordentlichen Vorteil ver­ schaffte (Blaut 1992a: 38-40). Der wahre Wohlstand bestand jedoch in der durch den Sklavenhandel akkumulierten Arbeit. Sie ermöglichte eine Pro­ duktionsweise, die sich in Europa nicht durchsetzen ließ. Es ist mittlerweile unstrittig, dass das Plantagensystem die industri­ elle Revolution beförderte, wie Eric Williams dargelegt hat. Williams hat bemerkt, dass es in Liverpool oder Bristol kaum einen Ziegelstein gab, der nicht mit afrikanischem Blut zementiert wurde (1944: 61-63). Möglicher­ weise wäre der Kapitalismus ohne die „Annektierung Amerikas“ und ohne das „Blut“ und den „Schweiß“, die zwei Jahrhunderte lang von den Planta­ gen nach Europa flössen, überhaupt niemals in Gang gekommen. Das muss betont werden, denn es hilft uns zu begreifen, welch wesentliche Bedeutung die Sklaverei für die Geschichte des Kapitalismus hat, und weshalb die kapi­ talistische Klasse immer dann, wenn das kapitalistische System von einer grö­ ßeren Wirtschaftskrise bedroht wird, periodisch aber durchaus systematisch einen Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ lancieren muss, also einen Pro­ zess großmaßstäblicher Kolonisierung und Versklavung, wie wir ihn auch heute erleben (Bales 1999).

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Wenn das Plantagensystem für die kapitalistische Entwicklung aus­ schlaggebend war, dann nicht nur wegen der ungeheuren Mengen von Mehrarbeit, die dadurch akkumuliert werden konnten, sondern auch weil es ein Modell der Arbeitsorganisation, der exportorientierten Produktion, der wirtschaftlichen Integration und der internationalen Arbeitsteilung eta­ blierte, das seitdem für die kapitalistischen Klassenverhältnisse paradigma­ tisch geworden ist. Mit ihrer ungeheuren Arbeiterkonzentration und ihren unfreien, ent­ wurzelten und ohne jegliche lokale Unterstützung existierenden Arbeitern nahm die Plantage nicht nur die Fabrik vorweg, sondern auch den späte­ ren Gebrauch der Einwanderung und der Globalisierung zur Senkung der Arbeitskosten. Die Plantage war insbesondere auch ein wesentlicher Schritt zur Schaffung einer internationalen Arbeitsteilung, die (vermittelt über die Produktion von „Konsumgütern“) die Arbeit der Sklaven in die Reproduk­ tion der europäischen Arbeiterschaft eingliederte, dabei aber die geographi­ sche und soziale Trennung der Sklavenarbeiter von den Lohnarbeitern auf­ rechterhielt. Die koloniale Produktion von Zucker, Tee, Tabak, Rum und Baum­ wolle - der Waren, die neben dem Brot für die Produktion von Arbeits­ kraft in Europa am wichtigsten waren —kam erst nach den 1650er Jahren in einem größeren Maßstab in Gang, also nachdem es zur Institutionalisierung der Sklaverei und (bescheidenen) Lohnzuwächsen in Europa gekommen war (Rowling 1987: 51, 76, 85). Die Kolonialproduktion muss dennoch an die­ ser Stelle erwähnt werden, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in Gang kam, zwei Mechanismen eingeführt wurden, die eine bedeutende internationale Neuordnung der Reproduktion der Arbeit nach sich zogen. Einerseits wurde ein „globales Fließband“ geschaffen, das die Preise der für die Reproduk­ tion der Arbeitskraft in Europa erforderlichen Waren senkte. Dabei wur­ den Sklavenarbeiter und Lohnarbeiter auf eine Art und Weise zueinander in Beziehung gesetzt, die den gegenwärtigen kapitalistischen Gebrauch asiati­ scher, afrikanischer und lateinamerikanischer Arbeiter als Lieferanten billi­ ger „Konsum“-Güter für die „entwickelten“ kapitalistischen Länder vorweg­ nimmt (wobei es Todesschwadronen und militärische Gewalt sind, die diese Güter verbilligen). Andererseits wurde der metropolitane Lohn das Mittel, durch das die von den versklavten Arbeitern produzierten Güter marktgängig gemacht wurden, so dass der Wert der Produkte der Sklavenarbeit realisiert wer­ den konnte. A uf diese Weise wurde, wie bei der weiblichen Hausarbeit, die Eingliederung von Sklavenarbeit in die Produktion und Reproduktion der metropolitanen Arbeiterschaft etabliert, und der Lohn wurde als Instrument der Akkumulation neubestimmt: als Hebel zur Mobilisierung nicht nur der von den Entlohnten geleisteten Arbeit, sondern auch der Arbeit einer Viel­ zahl weiterer, nicht entlohnter Arbeiter und Arbeiterinnen. Diese nicht ent-

130 lohnte Arbeit konnte, eben weil sie nicht entlohnt wurde, im Verborgenen gehalten werden. Wussten die Arbeiter in Europa, dass sie Produkte kauften, die das Ergebnis von Sklavenarbeit waren, und wenn ja, störten sie sich daran? Das ist eine Frage, die wir ihnen gern stellen würden, die ich aber nicht beantwor­ ten kann. Fest steht, dass die Geschichte von Tee, Zucker, Rum, Tabak und Baumwolle viel bedeutender ist, als wir aus dem Beitrag, den diese Waren als Rohstoffe oder Tauschmittel im Sklavenhandel - zum Aufstieg des Fabrik­ systems geleistet haben, schließen können. Denn was mit diesen „Exporten“ reiste, war nicht nur das Blut der Sklaven, sondern der Keim einer neuen Wissenschaft der Ausbeutung und einer neuen Spaltung der Arbeiterklasse, durch die die Lohnarbeit, anstatt eine Alternative zur Sklaverei darzustellen, von dieser existenziell abhängig gemacht wurde, als (der unbezahlten Frau­ enarbeit vergleichbares) Mittel zur Ausweitung des unbezahlten Teils des ent­ lohnten Arbeitstages. A uf den karibischen Inseln erhielten die Sklaven Flurstücke für den Eigenanbau („Versorgungsländereien“). Wie eng die Leben der versklavten Arbeiterinnen Amerikas und der europäischen Lohnarbeiter miteinander ver­ bunden waren, lässt sich daran ersehen, dass die Größe dieser Flurstücke und die Zeit, die den Sklaven für deren Bestellung gelassen wurde, mit dem Weltmarktpreis für Zucker korrelierten (Morrissey 1989: 51-59) - der wie­ derum, wie sich plausibel behaupten lässt, von der Dynamik der Löhne und der Arbeiterkämpfe um die Reproduktion bestimmt war. Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu schließen, die Eingliederung der Skla­ verei in die Produktion des entlohnten europäischen Proletariats habe eine auf dem gemeinsamen Wunsch nach billigen Importgütern gegründete Inter­ essengemeinschaft europäischer Arbeiter und metropolitaner Kapitalisten geschaffen. Tatsächlich war der Sklavenhandel, wie schon die Conquista, für die europäischen Arbeiter ein epochales Unglück. Wie wir gesehen haben, war die Sklaverei (ebenso wie die Hexenverfolgungen) ein wichtiges Experimen­ tierfeld für die Erprobung neuer Methoden der Arbeitskontrolle; diese wur­ den später nach Europa importiert. Die Sklaverei wirkte sich auch auf die Löhne und den rechtlichen Status der europäischen Arbeiter aus. Denn es kann kein Zufall sein, dass es erst nach der Abschaffung der Sklaverei zu bedeutenden Lohnsteigerungen kam und den Arbeitern auch dann erst das Recht zugesprochen wurde, sich zu organisieren. Es ist auch schwer vorstellbar, dass die Arbeiter in Europa von der Con­ quista profitierten. Das gilt mindestens für die Frühphase der Conquista. Rufen wir uns in Erinnerung, dass es die Heftigkeit des antifeudalen Kamp­ fes war, die den niederen Adel und die Kaufleute dazu trieb, nach koloni­ aler Expansion zu streben, und dass sich die Konquistadoren aus den Rän­ gen der am meisten verhassten Feinde der Arbeiterklasse rekrutierten. Es ist

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auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Conquista der herrschenden Klasse Europas das Gold und Silber verschaffte, mit dem sie die Söldner­ heere bezahlte, die die städtischen und ländlichen Revolten niederschlugen, und dass die Jahre, in denen Arawaken, Azteken und Inkas unterjocht wur­ den, dieselben waren, in denen in Europa Arbeiter und Arbeiterinnen aus ihren Häusern vertrieben, wie Tiere gebrandmarkt und als Hexen verbrannt wurden. Wir sollten also nicht annehmen, dass das europäische Proletariat immer schon als Komplize in die Ausplünderung der Amerikas eingebunden war, obgleich das bei einzelnen Proletarier sicherlich der Fall war. Der Adel erwar­ tete von den Angehörigen der „Unterklassen“ so wenig Zusammenarbeit, dass die Spanier zunächst nur wenige von ihnen auf ihre Schiffe ließen. Im gesam­ ten 16. Jahrhundert migrierten nur 8.000 Spanier legal in die Amerikas, und 17 Prozent von ihnen gehörten dem Klerus an (Hamilton 1965: 299; Wil­ liams 1944: 38-40). Auch später wurde es Angehörigen der „Unterklassen“ verboten, sich in Ubersee unabhängig niederzulassen, da befürchtet wurde, sie könnten mit der Lokalbevölkerung gemeinsame Sache machen. Für die meisten Proletarier war die Neue Welt in den 17. und 18. Jahr­ hunderten nur auf dem Wege der Schuldknechtschaft oder des „Transports“ zu erreichen. Der „Transport“ war die Strafe, mittels derer die englischen Autoritäten das Land seiner Verbrecher und politischen oder religiösen Dis­ sidenten sowie der enormen, durch die Einhegungen produzierten Masse von Vagabunden und Bettlern zu entledigen suchten. Peter Linebaugh und Mar­ cus Rediker haben in Die vielköpfige Hydra (2008) darauf hingewiesen, dass die Furcht der Kolonisatoren vor unbegrenzter Migration wohlbegründet war. Denn zu den elenden Lebensbedingungen, die in Europa vorherrschten, kam der besondere Reiz jener Berichte über die Neue Welt hinzu, die diese als Wunderland darstellten, in dem es weder Mühsal noch Tyrannei, weder Herren noch Raffgier gebe, wo „mein“ und „dein“ keine Bedeutung hätten und alles Gemeinbesitz sei (Linebaugh und Rediker 2008; Brandon 1986: 6-7). Die Anziehungskraft der Neuen Welt war derart stark, dass die von ihr gebotene Vision einer neuen Gesellschaft offenbar das politische Denken der Aufklärung beeinflusste, indem sie zur Entwicklung eines neuen Begriffs von „Freiheit“ als Herrenlosigkeit beitrug: eine Vorstellung, die es in den politischen Theorien Europas bis dahin nicht gegeben hatte (Brandon 1986: 23-28). Es überrascht nicht, dass einige Europäer versuchten, sich in dieser utopischen Welt „zu verlieren“, wo sie, wie Linebaugh und Rediker eindrück­ lich sagen, die verlorene Erfahrung der Allmende wiederherstellen konnten (Linebaugh und Rediker 2008: 34). Manche lebten jahrelang mit indiani­ schen Stämmen, den Einschränkungen, die den Siedlern in den amerika­ nischen Kolonien auferlegt wurden, zum Trotz. Sie nahmen auch das hohe Risiko in Kauf, gefangen zu werden; Flüchtige wurden wie Verräter behandelt und getötet. Dies war das Schicksal einiger junger englischer Siedler in Virgi­

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nia. Nachdem sie zu fliehen versucht hatten, um mit den Indianern zu leben, wurden sie von den Ratsherren der Kolonie dazu verurteilt, „verbrannt, gerä­ dert [...] [und] gehängt oder erschossen“ zu werden (Koning 1993: 61). „Der Terror schuf Grenzen“, bemerken Linebaugh und Rediker dazu (2008: 44). Und doch bereitete es den Engländern noch im Jahr 1699 erhebliche Schwie­ rigkeiten, von den Indianern gefangen genommene Menschen zu überreden, die indianische Lebensweise wieder aufzugeben: „Viele von ihnen ließen sich [so ein Zeitgenosse] durch kein Argument, keine Beschwörungen, keine Tränen [...] dazu überreden, ihre indiani­ schen Freunde zu verlassen. Andererseits sind viele indianische Kinder von den Engländern sorgfältig aufgezogen, gekleidet und unterrichtet worden, und doch gibt es nicht ein solches Kind, das geblieben wäre. Sie sind alle zu ihren eigenen Völkern zurückgekehrt.“ (Koning 1993: 60) Was die europäischen Proletarier angeht, die sich als Schuldknechte ver­ pflichteten oder infolge einer Zuchthausstrafe in die Neue Welt gelangten, so unterschied sich ihr Schicksal, jedenfalls zunächst, nicht sehr von dem der afrikanischen Sklaven, mit denen sie oft Seite an Seite arbeiteten. Ihre Feind­ seligkeit gegenüber den Herren war oft ebenso heftig, weshalb die Planta­ genbesitzer sie für einen gefährlichen Haufen hielten und bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen hatten, weniger Gebrauch von ihnen zu machen; außerdem wurden Gesetze verabschiedet, die darauf abzielten, sie von den Afrikanern zu trennen. Unwiderruflich eingezogen wurden ras­ sistische Grenzen jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts (Moulier Boutang 1998). Bis dahin war die Möglichkeit von Bündnissen zwischen Weißen, Schwarzen und Indigenen stets gegeben, und ebenso, in der Fantasie der herrschenden Klasse, sowohl zuhause als auch auf den Plantagen, die Angst vor einer solchen Einheit. Shakespeare verlieh dieser Angst in seinem Sturm (1612) Ausdruck. In dem Stück wird eine Verschwörung dargestellt, die von Caliban, einem rebellischen Ureinwohner und Sohn einer Hexe, organisiert wird, und an der sich Trinculo und Stephano, zwei seefahrende europäische Proletarier, beteiligen. Angedeutet wird damit die Möglichkeit eines fatalen Bündnisses der Unterdrückten: ein dramatischer Kontrapunkt zur Magie, durch die Prospero die Zerwürfnisse der Herrschenden beseitigt. Im Sturm geht die Verschwörung wenig ruhmreich aus. Die europä­ ischen Proletarier erweisen sich als Gelegenheitsdiebe und Trinker, und Cali­ ban bittet seinen Kolonialherrn um Vergebung. Als die besiegten Rebellen Prospero und seinen ehemaligen Gegenspielern Sebastian und Antonio (die sich inzwischen mit ihm versöhnt haben) vorgeführt werden, schlagen ihnen Verachtung und Vorstellungen von Besitz und Spaltung entgegen: „SEBASTIAN. Ha, ha; was für Dinge sind das, Antonio? Kan man die um Geld haben? A N TO N IO . Ich denk’ es; einer davon ist ein Fisch wie sich’s gehört, und vermuthlich feil.

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PROSPERO. Beobachtet nur die Physionomie dieser Bursche, meine Herren, und sagt dann, ob sie nicht die Wahrheit redt? Dieses mißge­ schaffnen Schurken seine Mutter war eine Hexe, und eine so mäch­ tige, daß sie den Mond beherrschen, Ebbe und Fluth erregen, und ihre Befehle über die Grenzen ihrer Macht ausdehnen konnte. Diese drey haben mich beraubt; und dieser Halb-Teufel, (denn er ist ein Bastard von einem Teufel,) machte mit ihnen einen Anschlag wider mein Leben; zween von diesen Gesellen werdet ihr für die eurige erkennen; was dieses Geschöpf der Finsterniß betrift, so muß ich bekennen, daß es mir zuge­ hört.“ {Der Sturm, 5. Aufzug, 1. Szene) Jenseits der Bühne hielt die Bedrohung jedoch an. „Sowohl auf Bermuda als auch auf Barbados wurden gemeinsame Verschwörungen weißer Dienstboten und afrikanischer Sklaven entdeckt. Damals, in den 1650er Jahren, wurden tausende von Sträflingen von den britischen Inseln dorthin verschifft“ (Rowling 1987: 57). In Virginia erreichte das Bündnis schwarzer und weißer Die­ ner seinen Höhepunkt in der Virginia-Rebellion („Bacons Rebellion“) von 1675/76, als afrikanische Sklaven und britische Schuldknechte sich gemein­ sam gegen ihre Herren verschworen. Dies war der Grund, weshalb die Akkumulation eines versklavten Pro­ letariats in den südamerikanischen Kolonien und der Karibik ab den 1640er Jahren mit der Konstruktion rassistischer Hierarchien einherging, die solche Zusammenschlüsse verhindern sollten. Es wurden Gesetze verabschiedet, die Afrikanerinnen vormals gewährte Bürgerrechte wieder absprachen, etwa das Recht auf Staatsbürgerschaft, das Recht Waffen zu tragen und das Recht, eine eidesstattliche Erklärung zu machen oder vor Gericht eine Entschädigung für erfahrenes Unrecht zu erstreiten. Der Wendepunkt war erreicht, als verfügt wurde, dass der Sklavenstatus fortan vererbt werden sollte, und als Sklaven­ herren das Recht erhielten, ihre Sklaven zu schlagen und zu töten. Hinzu kam ein Verbot von Ehen zwischen „Schwarzen“ und „Weißen“. Später, nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wurde die (als Überrest der britischen Herrschaft angesehene) Schuldknechtschaft abgeschafft. Die Folge war, dass die amerikanischen Kolonien bis zum späten 18. Jahrhundert den Übergang „von einer Gesellschaft mit Sklaven zu einer Sklavengesellschaft“ vollzogen hatten (Moulier Boutang 1998: 189); die Möglichkeiten afrikanisch-weißer Solidarität hatten sich erheblich verringert. „Weiß“ wurde in den Kolonien nicht nur die Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen mit sozialen und wirtschaftlichen Privilegien, „jene, die man bis 1650 als ,Christen4und später a ls,Engländer4oder,freie Männer4bezeichnet hatte“ (Moulier Boutang 1998: 194), sondern bezeichnet wurde damit nun auch eine moralische Eigenschaft. So wurde die gesellschaftliche Hegemonie naturalisiert. Dagegen wurden die Worte „Schwarzer44 oder „Afrikaner44 zu Synonymen für „Sklave44. Das ging so weit, dass freie schwarze Menschen - von denen es im Amerika des frühen

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1"\ Jahrhunderts noch eine beträchtliche Anzahl gab - später dazu angehal­ ten wurden, Beweise für ihren freien Status vorzulegen. Geschlecht, „Rasse" und Klasse in den Kolonien

Hätte Calibans Verschwörung ein anderes Ergebnis gezeitigt, wenn es sich bei ihr um eine Verschwörung von Frauen gehandelt hätte? Wenn sie nicht von Caliban angestiftet worden wäre, sondern von seiner Mutter Sycorax, jener mächtigen algerischen Hexe, die Shakespeare im Hintergrund seines Stückes verbirgt, und wenn sich anstelle von Trinculo und Stephano die Schwestern jener Frauen befunden hätten, die, zeitgleich mit der Conquista, in Europa am Scheiterhaufen verbrannt wurden? Die Frage ist rhetorisch, richtet das Augenmerk aber auf den Charakter der geschlechtlichen Arbeitsteilung in den Kolonien sowie auf die Bande, die sich dort zwischen europäischen, indigenen und afrikanischen Frauen knüpfen ließen, vermittelt über die gemeinsame Erfahrung sexueller D is­ kriminierung. In /, Tituba, Black Witch o f Salem (1992) bietet Maryse Conde uns einen Einblick in die Art von Situation, aus der solche Bande hervorgehen konnten. Sie beschreibt, wie Tituba und ihre neue Herrin, die junge Gattin des Puri­ taners Samuel Parris, sich angesichts von dessen mörderischem Frauenhass zunächst gegenseitig unterstützen. Ein noch herausragenderes Beispiel stammt aus der Karibik, wo engli­ sche Frauen aus den Unterklassen, als Verbrecherinnen oder Schuldknechte aus Großbritannien „transportiert“, ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsko­ lonnen auf den Zuckerplantagen wurden. Landlose weiße Frauen wurden aufgrund ihrer Frechheit und ihrer aufrührerischen Veranlagung von „weißen Männern mit Eigentum als untauglich für Ehe und Haushaltsdienste angese­ hen“. Sie wurden „zur Handarbeit auf Plantagen, bei öffentlichen Bauvorha­ ben und im städtischen Dienstleistungssektor eingesetzt. In diesen Kontexten verkehrten sie aufs Engste mit der Community der Sklaven und mit versklav­ ten schwarzen Männern“. Mit diesen Männern gründeten sie Haushalte und zeugten sie Kinder (Beckles 1995: 131-132). Mit Sklavinnen kooperierten und konkurrierten sie als Verkäuferinnen von landwirtschaftlichen Erzeug­ nissen und Diebesgut. Die Lage änderte sich jedoch drastisch, als die Sklaverei institutionali­ siert wurde, was mit einer verringerten Belastung der weißen Arbeiter einher­ ging, und als weniger Frauen aus Europa anreisten, um von den Plantagenbe­ sitzern geehelicht zu werden. Weiße Frauen erhielten einen höheren Status, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Oder sie heirateten in die weiße Elite hinein und wurden, wann immer es ihnen möglich war, selbst Besitze­ rinnen von Sklaven, meistens von Sklavinnen, die sie Hausarbeit verrichten ließen (ebd.).74

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Eine Sklavin wird gebrandmarkt. Die Brandmarkung von Frauen durch den Teufel war ein markantes Thema der europäischen Hexenprozesse: Die Brandmarkung war das Symbol tota­ ler Unterwerfung. In Wirklichkeit waren die weißen Sklavenhändler jedoch die wahren Teu­ fel. Gleich den Männern in diesem Bild zögerten sie nicht, die von ihnen versklavten Frauen wie Vieh zu behandeln.

136 Dies war jedoch kein automatischer Vorgang. Wie der Sexismus, so mus­ ste auch der Rassismus durch eine entsprechende Gesetzgebung verordnet und durchgesetzt werden. Zu den besonders bezeichnenden Verboten zählt das bereits erwähnte Verbot der Ehe zwischen Schwarzen und Weißen. Weiße Frauen, die schwarze Sklaven heirateten, wurden verurteilt, und die in sol­ chen Ehen geborenen Kinder wurden lebenslänglich versklavt. Diese in den 1660er Jahren in Maryland und Virginia verabschiedeten Gesetze bewei­ sen, dass die segregierte, rassistische Gesellschaft von oben herab geschaffen wurde. Sie beweisen auch, dass intime Beziehungen zwischen „Schwarzen und „Weißen“ recht weitverbreitet gewesen sein müssen, wenn man meinte, auf lebenslängliche Versklavung zurückgreifen zu müssen, um sie zu verhin­ dern. Die neuen Gesetze dämonisierten, als würden sie dem von den Hexen­ verfolgungen vorgegebenem Muster folgen, die Beziehungen zwischen wei­ ßen Frauen und schwarzen Männern. Als sie in den 1660er Jahren verab­ schiedet wurden, gingen die Hexenverfolgungen in Europa zu Ende. Doch wurden sämtliche Tabus um die Hexe und den schwarzen Teufel in Amerika wiederbelebt, diesmal auf Kosten schwarzer Männer. „Teile und herrsche“ wurde auch in den spanischen Kolonien die offizi­ elle Politik. Eine Zeit lang hatte die zahlenmäßige Unterlegenheit der Kolo­ nisten eine liberalere Haltung gegenüber interethnischen Beziehungen ratsam erscheinen lassen, und Bündnisse mit lokalen Häuptlingen waren über Ehe­ schließungen besiegelt worden. Als dann aber die steigende Anzahl Mestizen in den 1540er Jahren koloniale Privilegien zu unterminieren begann, wurde „Rasse“ bei der Eigentumsübertragung zu einem Schlüsselfaktor gemacht, und es wurde eine rassistische Hierarchie entwickelt, um Indigene, Mesti­ zen und Mulatten voneinander und von der weißen Bevölkerung zu trennen (Nash 1980).75 Auch hier dienten auf die Ehe und die weibliche Sexualität bezogene Verbote dazu, die soziale Ausgrenzung zu befördern. In SpanischAmerika gelang es jedoch nur zum Teil, eine entlang rassistischer Unter­ scheidungen organisierte Segregation durchzusetzen. Migration, Bevölke­ rungsrückgang und indigene Revolten wirkten dem ebenso entgegen wie die Entstehung eines städtischen weißen Proletariats, das jeglicher Aussicht auf wirtschaftlichen Aufstieg entbehrte und sich daher eher mit den Mestizen und Mulatten als mit der weißen Oberschicht identifizierte. Während sich die Unterschiede zwischen Europäern und Amerikanern in den Plantagenge­ sellschaften der Karibik im Laufe der Zeit vergrößerten, wurde in den süd­ amerikanischen Kolonien eine „Neuzusammensetzung“ möglich, und zwar insbesondere unter Europäerinnen aus den Unterklassen, Mestizen und afri­ kanischen Frauen. Abgesehen von ihrer prekären Wirtschaftslage waren die­ sen Gruppen auch die Nachteile gemeinsam, die ihnen aus dem gesetzlich verankerten Doppelstandard erwuchsen, denn dieser setzte sie alle gleicher­ maßen der Misshandlung durch Männer aus.

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Anzeichen für diese „Neuzusammensetzung“ finden sich in Aufzeich­ nungen, die die Inquisition im 18. Jahrhundert in Mexiko hinterlassen hat, wo sie magische und häretische Vorstellungen untersuchte und auszumer­ zen versuchte (Behar 1987: 34-51). Das Unterfangen war aussichtslos, und die Inquisitoren verloren bald wieder das Interesse daran; sie waren über­ zeugt, dass die populäre Magie für die politische Ordnung keine Bedrohung mehr darstelle. Die von ihnen gesammelten Aussagen zeigen jedoch, dass sich Frauen häufig über Fragen austauschten, die mit magischen Ffeilmitteln und Liebeszaubern zusammenhingen. Damit schufen sie im Laufe der Zeit eine neue kulturelle Realität, die sich aus der Begegnung der afrikanischen, der europäischen und der indigenen Magietraditionen speiste. Ruth Behar schreibt: „Indio-Frauen gaben spanischen Heilerinnen Schwirrvögel, mit denen sich die sexuelle Attraktivität steigern ließ; Mulattinnen erklärten Mestizinnen, wie sie ihre Ehemänner bändigen sollten; eine Loba-Zauberin stellte eine Coyota dem Teufel vor. Dieses ,populärec Glaubenssystem existierte parallel zum kirchlichen Glaubenssystem, und es breitete sich in der Neuen Welt ebenso rasch aus wie das Christentum, so dass es bald unmöglich wurde, innerhalb seiner ,indigene',,spanische' oder,afrikani­ sche' Elemente zu unterscheiden.“ (Ebd.)76 Für die Inquisitoren waren diese Frauen sämtlich Menschen „ohne Vernunft“. Doch die vielfältige weibliche Welt, die Ruth Behar beschreibt, ist ein vielsa­ gendes Beispiel für die Bündnisse, die Frauen über koloniale und ethnische Spaltungen hinweg bilden konnten, dank ihrer gemeinsamen Erfahrungen und ihrem Wunsch, sich über traditionelles Wissen und traditionelle Prak­ tiken auszutauschen, durch die sie ihre Reproduktion kontrollieren und die sexuelle Diskriminierung bekämpfen konnten. Wie bei der auf Grundlage der „Rasse“ erfolgenden Diskriminierung ging es dabei um mehr als nur um kulturellen Ballast, den die Kolonisatoren mit ihren Piken und Pferden aus Europa mitgebracht hatten. Nicht weni­ ger als bei der Zerstörung des Kommunalismus handelte es sich um eine Strategie, die von spezifischen ökonomischen Interessen vorgegeben wurde, sowie vom Bedürfnis, die Vorbedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft zu schaffen. Insofern wurde diese Strategie stets auch der jeweiligen Aufgabe angepasst. In Mexiko und Peru legte der Bevölkerungsrückgang es nahe, Anreize zur Frauenarbeit im Haushalt zu schaffen. Dort führten die spanischen Auto­ ritäten eine neue Geschlechterhierarchie ein, die indigene Frauen aller Auto­ nomie beraubte und ihren männlichen Angehörigen mehr Macht über sie verlieh. Unter den neuen Gesetzen wurden verheiratete Frauen das Eigen­ tum ihrer Ehemänner, und sie wurden (entgegen dem traditionellen Brauch) gezwungen, ihren Ehemännern in deren Heimat zu folgen. Es wurde auch ein compadrazgo-Sjsttm eingerichtet, das die Rechte der Frauen weiter beschnitt,

138 indem es das Verfügungsrecht über Kinder an Männer übertrug. Um sicher­ zustellen, dass indigene Frauen die Arbeiter reproduzierten, die zur mitaArbeit in den Minen rekrutiert wurden, erklärten die spanischen Autoritäten darüber hinaus, dass niemand einen Ehemann von seiner Frau trennen dürfe. Damit waren die Frauen gezwungen, ihren Männern zu folgen, ob sie woll­ ten oder nicht - selbst in Gebiete, die aufgrund der durch die Minenarbeit produzierten Abgase als Todeslager galten (Cook Noble 1981: 205—206).77 Die von den französischen Jesuiten zwecks Disziplinierung und Anleh­ nung der Montagnais-Naskapi Mitte des 17. Jahrhunderts in Kanada vorge­ nommen Interventionen sind ein vielsagendes Beispiel dafür, wie Geschlech­ terdifferenzen akkumuliert wurden. Die Anthropologin Eleanor Leacock erzählt die Geschichte in ihrem Myths ofM ale Dominance (1981), wo sie das Tagebuch eines der Protagonisten untersucht. Es handelt sich um den Pfar­ rer Paul Le Jeune, einen jesuitischen Missionar, der sich in typisch koloni­ aler Manier einem französischen Handelsposten angeschlossen hatte, um die Indianer zu christianisieren und aus ihnen Bürger des „neuen Frankreichs“ zu machen. Die Montagnais-Naskapi waren ein nomadischer Indianerstamm, dessen Mitglieder in ausgesprochener Harmonie gelebt und sich durch Jagd und Fischerei auf der östlichen Labrador-Halbinsel ernährt hatten. Zum Zeitpunkt von Le Jeunes Ankunft wurde ihre Gemeinschaft jedoch bereits durch die Anwesenheit von Europäern und die Verbreitung des Fellhandels zersetzt. Einige Männer brannten darauf, ein Handelsbündnis mit den Fran­ zosen zu schließen und ließen sich von diesen ihre Regierungsform vorschrei­ ben (Leacock 1981: 39 ff.). Die Franzosen waren, wie so oft, wenn Europäer mit amerikanischen Ureinwohnerinnen in Berührung kamen, von der Großzügigkeit der M on­ tagnais-Naskapi, ihrer Kooperationsbereitschaft und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Statusfragen beeindruckt. Sie waren aber auch empört über die „Unmoral“ der Naskapi, die keine Begriffe von Privateigentum oder männ­ licher Überlegenheit hatten und sich sogar weigerten, ihre Kinder zu bestra­ fen (Leacock 1981: 34-38). Die Jesuiten beschlossen, dem ein Ende zu set­ zen und die Indianer mit den Grundelementen der Zivilisation vertraut zu machen; dies erschien ihnen als notwendiger Schritt, um aus ihnen verlässli­ che Handelspartner zu machen. In diesem Geiste lehrten sie zunächst, dass „der Mann Herr ist“, dass „französische Frauen nicht über ihre Ehemänner herrschen“ und dass nächtliches Freien, einvernehmlich beschlossene Schei­ dungen sowie die sexuelle Freizügigkeit beider Eheleute, sowohl vor als auch nach der Ehe, zu verbieten seien. Über diese Dinge führte Le Jeune ein auf­ schlussreiches Gespräch mit einem männlichen Naskapi: „Ich sagte ihm, dass es für eine Frau unehrenhaft sei, irgendwen ande­ res als ihren Ehemann zu lieben, und dass er sich aufgrund dieses Übels selbst nicht sicher sein könne, ob sein Sohn, der dabeistand, auch wirk­ lich sein Sohn sei. Er antwortete: ,Du hast keinen Verstand. Ihr Fran-

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zosen liebt nur eure eigenen Kinder, aber wir lieben alle Kinder unseres Stammes/ Ich musste lachen, da er so naiv philosophierte.“ (Leacock 1981: 50) Mit der Unterstützung des Gouverneurs von Neufrankreich gelang es den Jesuiten, die Naskapi davon zu überzeugen, dass sie sich einige Häuptlinge zulegen und „ihre“ Frauen zur Ordnung rufen sollten. Ein typisches Mittel, dessen sich die Jesuiten bedienten, war die Andeutung, übermäßig unabhän­ gige Frauen, die ihren Männern nicht gehorchen, seien Kreaturen des Teufels. Als die Naskapi-Frauen sich über die Maßregelungsversuche ihrer Männer empörten und fortliefen, überzeugten die Jesuiten die Männer, den Frauen nachzulaufen und ihnen mit Gefangenschaft zu drohen: ,„Solche Akte der Gerechtigkeit/ bemerkte Le Jeune voller Stolz zu einem bestimmten Fall, ,rufen in Frankreich keinerlei Erstaunen her­ vor, weil es dort üblich ist, auf diese Weise zu verfahren. Unter diesem Volk jedoch [...], wo jeder von sich denkt, er sei von Geburt an so frei wie die wilden Tiere, die ihre gewaltigen Wälder durchstreifen [...], ist es erstaunlich, oder vielmehr ein Wunder, wenn einem mit Bestimmtheit ausgesprochenen Befehl gehorcht oder irgendeine strenge oder gerechte Handlung vorgenommen w ird/“ (Leacock 1981: 54) Der größte Triumph der Jesuiten bestand jedoch darin, die Naskapi von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Kinder zu schlagen. Die übermä­ ßige Zuneigung der „Wilden“ zu ihren Nachkommen erschien den Jesuiten als Haupthindernis der Christianisierung. Le Jeunes Tagebuch berichtet von dem ersten Fall, in dem ein Mädchen öffentlich geschlagen wurde. Einer ihrer Verwandten hielt den Umstehenden einen erschütternden Vortrag über die historische Bedeutung des Ereignisses: „Dies ist die erste Prügelstrafe (sagte er), die wir an irgendeinem Angehörigen unseres Stammes vollstrecken“ (Lea­ cock 1981: 54-55). Die Montagnais-Naskapi verdankten ihre Ausbildung in Sachen männ­ licher Überlegenheit der Tatsache, dass die Franzosen ihnen einen „Instinkt“ für das Privateigentum einimpfen wollten, um aus ihnen verlässliche Fell­ handelspartner zu machen. Die Situation auf den Plantagen war eine ganz andere. Dort wurde die geschlechtliche Arbeitsteilung unmittelbar von dem Bedürfnis der Plantagenbesitzer nach Arbeitskraft diktiert, sowie von den Weltmarktpreisen der von den Sklaven produzierten Waren. Bis zur Abschaffung des Sklavenhandels wurden, wie Barbara Bush und Marietta Morrissey dokumentiert haben, sowohl Männer als auch Frauen im gleichen Ausmaß ausgebeutet. Die Plantagenbesitzer fanden es profitabler, die Sklaven zu Tode zu arbeiten und zu „verbrauchen“, als sie zur Reproduk­ tion zu ermutigen. So war die geschlechtliche Arbeitsteilung ebenso wenig ausgeprägt wie geschlechtliche Hierarchien. Afrikanische Männer bestimm­ ten nicht über das Schicksal ihrer Gefährtinnen und weiblichen Verwandten. Was die Frauen anging, so waren sie weit davon entfernt, besonders berück­

140 sichtigt zu werden; von ihnen wurde vielmehr erwartet, dass sie ebenso Feld­ arbeit leisteten wie die Männer. Das war insbesondere dann der Fall, wenn die Nachfrage nach Zucker und Tabak stark war. Frauen wurden auch den glei­ chen grausamen Strafen ausgesetzt, selbst wenn sie schwanger waren (Bush 1990: 42-44). Ironischerweise hat es also den Anschein, dass die Frauen in der Skla­ verei eine ungefähre Gleichstellung mit den Männern ihrer Klasse „erreich­ ten“ (Momsen 1993). Sie wurden jedoch nie gleich behandelt. Frauen erhiel­ ten weniger zu essen; anders als Männer waren sie den sexuellen Übergriffen ihrer Herren ausgeliefert; und sie wurden grausamer bestraft, denn zusätzlich zur körperlichen Agonie hatten sie die sexuelle Demütigung zu ertragen, die stets mit ihrer Bestrafung einherging, und den Schaden, den (so sie schwan­ ger waren) ihre Föten davontrugen. Außerdem wurde 1807, als der Sklavenhandel abgeschafft wurde und die karibischen und amerikanischen Plantagenbesitzer zu einer Politik der „Skla­ venzucht“ übergingen, ein neues Kapitel eröffnet. Hilary Beckles weist mit Bezug auf die Insel Barbados darauf hin, dass Plantagenbesitzer bereits seit dem 17. Jahrhundert versucht hatten, das reproduktive Verhalten der Skla­ vinnen zu kontrollieren, indem sie diese „dazu ermutigten, in einem gewis­ sen Zeitraum weniger oder mehr Kinder zu bekommen“, je nachdem, wie viele Arbeitskräfte auf dem Feld gerade benötigt wurden. Die Regulierung der sexuellen Beziehungen und des reproduktiven Verhaltens der Frauen nahm jedoch erst, als der Zustrom afrikanischer Sklaven zurückging, einen systema­ tischeren und intensiveren Charakter an (Beckles 1989: 92). In Europa hatten die Bemühungen, Frauen zur Kinderzeugung zu zwin­ gen, zur Bestrafung des Gebrauchs von Verhütungsmitteln durch die Todes­ strafe geführt. A uf den Plantagen, wo die Sklaven zu einer kostbaren Ware wurden, steigerte der Übergang zu einer Politik der Sklavenzucht die Schutz­ losigkeit der Frauen gegenüber sexuellen Übergriffen, obgleich er auch einige „Verbesserungen“ in den Arbeitsbedingungen der Frauen nach sich zog: eine Verringerung der Arbeitsstunden, den Bau von Wochenbetthäusern, die Beschäftigung von Hebammen und eine Ausweitung sozialer Rechte (Reiseund Versammlungsfreiheit) (Beckles 1989: 99-100; Bush 1990: 135). Diese Änderungen vermochten jedoch nicht den Schaden zu mindern, den die Feldarbeit den Frauen zufügte, und sie wirkten auch nicht der Verbitterung entgegen, die Frauen aufgrund der ihnen vorenthaltenen Freiheiten empfan­ den. Mit Ausnahme von Barbados scheiterte der Versuch der Plantagenbe­ sitzer, die Zahl ihrer Arbeitskräfte durch die „generative Reproduktion“ zu steigern; die Geburtenraten auf den Plantagen blieben „unnatürlich niedrig“ (Bush 1990: 136-137; Beckles 1989: 99-100). Ob dieses Phänomen Ergeb­ nis offenen Widerstands gegen die Aufrechterhaltung der Sklaverei war oder Folge der körperlichen Schwächung durch die harschen Bedingungen, denen Sklavinnen ausgesetzt waren, ist noch umstritten (Bush 1990: 143 ff). Doch

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gibt es, worauf Bush hinweist, gute Gründe anzunehmen, dass der Haupt­ grund für das Scheitern in der Weigerung der Frauen bestand, Kinder zu zeugen. Denn sobald die Sklaverei abgeschafft wurde, begannen die Gemein­ schaften befreiter Sklaven sich zu vergrößern, obwohl sich ihre wirtschaftli­ chen Bedingungen in mancherlei Hinsicht verschlechterten (Bush 1990).78 Die Weigerung der Frauen, sich ungerecht behandeln zu lassen, führte auch zu Veränderungen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Das war etwa auf den karibischen Inseln der Fall. Dort wurden versklavte Frauen zu halb­ freien Verkäuferinnen der Lebensmittel, die sie auf den (auf Jam aika,,polinks“ genannten) „Versorgungsländereien“ anbauten, die ihnen die Plantagenbe­ sitzer für ihre Reproduktion überlassen hatten. Die Plantagenbesitzer über­ ließen den „Sklavinnen“ die „Versorgungsländereien“, um die Kosten der Arbeitskraftreproduktion zu senken. Die Verfügung über die Ländereien erwies sich jedoch auch für die Sklaven als vorteilhaft, verlieh sie ihnen doch mehr Mobilität und konnte doch die für die Bebauung der Ländereien vorge­ sehene Zeit auch zu anderen Zwecken genutzt werden. Die Möglichkeit, eine kleine Menge Lebensmittel anzubauen, die verzehrt oder verkauft werden konnten, steigerte die Unabhängigkeit der Frauen. Die Frauen waren dieje­ nigen, die sich am meisten für die erfolgreiche Nutzung der Versorgungslän­ dereien einsetzten. Sie brachten die angebauten Lebensmittel auf den Markt und eigneten sich damit wieder an beziehungsweise reproduzierten inner­ halb des Plantagensystems das, was in Afrika eine ihrer Hauptbeschäftigun­ gen gewesen war. Die Folge war, dass sich versklavte Frauen in der Karibik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts einen eigenen Platz innerhalb der Plantagen­ wirtschaft geschaffen und zur Ausweitung, wenn nicht gar zum Aufbau des Lebensmittelmarktes der Insel beigetragen hatten. Sie taten das zum einen als Produzentinnen der von den Sklaven und Sklavinnen sowie von der wei­ ßen Bevölkerung konsumierten Lebensmittel, zum anderen als Hökerinnen und Marktverkäuferinnen des von ihnen angebauten Obstes und Gemüses. Zusätzlich verkauften sie auch Waren, die sie dem Geschäft ihres Herrn ent­ nommen, von anderen Sklaven und Sklavinnen im Tauschhandel erhalten oder von ihren Herren zum Verkauf ausgehändigt bekommen hatten. Durch diese Tätigkeit kamen die Sklavinnen auch mit weißen prole­ tarischen Frauen zusammen, die oft die Erfahrung der Schuldknechtschaft durchgemacht hatten, auch wenn sie mittlerweile aus ihrer Arbeitskolonne entlassen und für frei erklärt worden waren. Das Verhältnis zu diesen Frauen war mitunter ein feindseliges: Proletarische europäische Frauen, die ebenfalls in erster Linie vom Anbau und Verkauf von Lebensmitteln lebten, stahlen zuweilen die von den Sklavinnen auf den Markt gebrachten Produkte oder versuchten das Geschäft der Sklavinnen zu schädigen. Dennoch arbeiteten die beiden Gruppen von Frauen auch zusammen, um ein überaus umfangrei­ ches Netzwerk von Kauf- und Verkaufsbeziehungen aufzubauen, das die von den Kolonialautoritäten erlassenen Gesetze umging. Die Autoritäten sorg­

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ten sich immer wieder, dass sich die Sklavinnen durch diese Tätigkeiten ihrer Kontrolle entziehen könnten. Durch die Gesetze sollten die Verkaufstätigkeiten versklavter Frauen ein­ geschränkt und die Zahl der Orte, an denen verkauft werden durfte, ver­ ringert werden. Dennoch fuhren die versklavten Frauen fort, ihre Markt­ aktivitäten und ihren Lebensmittelanbau auszuweiten. Sie begannen, die Versorgungsländereien als ihr Eigentum anzusehen, so dass sie bis zum späten 18. Jahrhundert im Begriff waren, eine Proto-Bauernschaft zu bilden, die auf den Inselmärkten praktisch über eine Monopolstellung verfügte. Daher war die Epoche der Sklaverei in der Karibik einigen Historikern zufolge bereits vor der Emanzipation vorbei. Die Sklavinnen waren, allen Widrigkeiten zum Trotz, dabei ein ausschlaggebender Faktor. Sie waren diejenigen, die durch ihre Entschlossenheit die Entwicklung der Sklavengemeinschaft und der Inselwirtschaften prägten, obwohl die Autoritäten immer wieder versuchten, ihre Macht einzuschränken. Karibische Sklavinnen übten auch einen entscheidenden Einfluss auf die Kultur der weißen Bevölkerung aus, insbesondere auf die Kultur der weißen Frauen. Sie taten dies durch ihre Tätigkeit als Heilerinnen, Wahrsagerinnen und Expertinnen für magische Praktiken sowie durch ihre „Beherrschung“ der Küchen und Schlafzimmer ihrer Herren (Bush 1990). Es überrascht nicht, dass sie als das Herzstück der Sklavengemeinschaft angesehen wurden. Reisende zeigten sich beeindruckt von ihrem Gesang und ihren Kopftüchern und Kleidern sowie von ihrer extravaganten Redeweise, die mittlerweile als Mittel, ihre Herren zu persiflieren, begriffen wird. Afrika­ nische und kreolische Frauen beeinflussten die Sitten armer weißer Frauen, von denen ein Zeitgenosse sagte, sie würden sich wie Afrikanerinnen verhal­ ten, beim Gehen ihre Kinder um die Hüfte binden und mit Gütern beladene Tabletts auf dem K opf balancieren (Beckles 1989: 81). Die Haupterrungenschafi: der Sklavinnen bestand jedoch darin, eine Politik der Selbstversorgung zu entwickeln, die auf Überlebensstrategien und Frauennetzwerken gründete. Diese Praktiken und die mit ihnen verbundenen Werte, in denen Rosalyn Terborg Penn die Hauptprinzipien des afrikanischen Feminismus erkannt hat, bewirkten eine Neubestimmung der afrikanischen Diaspora (Terborg Penn 1995: S. 3-7). Die Sklavinnen schufen nicht nur die Grundlagen einer neuen weiblich-afrikanischen Identität, sondern auch die einer neuen Gesell­ schaft, die —entgegen dem kapitalistischen Versuch, Mangel und Abhängig­ keit als strukturelle Lebensbedingungen durchzusetzen —an der Wiederan­ eignung der wichtigsten Subsistenzmittel sowie an deren Konzentration in den Händen der Frauen orientiert war. Zu diesen Subsistenzmitteln zählte in erster Linie das Land, aber auch die Lebensmittelproduktion und die inter­ generationelle Weitergabe von Wissen und Kooperation sind dazuzurechnen.

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Oben: Eine Sklavenfamilie. Versklavte Frauen kämpf­ ten darum, die Tätigkeiten, denen sie in Afrika nachge­ gangen waren, fortzusetzen. Dazu gehörte etwa der Ver­ kauf der von ihnen ange­ bauten Lebensmittel, der es ihnen erlaubte, ihre Familien besser zu ernähren und eine gewisse Selbständigkeit zu erreichen. (Aus: Bush 1 9 9 0 )

Unten: Eine festliche Ver­ sammlung auf einer west­ indischen Plantage. Frauen standen im Mittelpunkt sol­ cher Versammlungen, denn sie waren das Herzstück der versklavten Gemeinschaft und die standhaftesten Ver­ teidigerinnen der aus Afrika mitgebrachten Kultur.

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144 Kapitalismus und die geschlechtliche Arbeitsteilung

Aus dieser kurzen Geschichte der Frauen und der ursprünglichen Akku­ mulation geht hervor, dass der Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung, die Frauen zu den Dienerinnen der männlichen Arbeiterschaft machte, ein wichtiger Aspekt der kapitalistischen Entwicklung war. A uf Grundlage dieser neuen patriarchalen Ordnung sollte eine neue geschlechtliche Arbeitsteilung durchgesetzt werden, die für Frauen und Män­ ner nicht nur unterschiedliche Aufgaben vorsah, sondern auch unterschiedli­ che Erfahrungen, Lebensweisen und Verhältnisse zum Kapital sowie zu ande­ ren Sektoren der Arbeiterklasse. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war also, nicht weniger als die internationale, vor allem ein Machtverhältnis: eine Spal­ tungslinie innerhalb der Arbeiterschaft und zugleich ein enormer Antrieb für die Kapitalakkumulation. Das muss betont werden, denn es besteht eine Tendenz, die vom Kapi­ talismus bewerkstelligte sprunghafte Entwicklung der Arbeitsproduktivität einzig auf die Herausbildung spezialisierter Arbeitsaufgaben zurückzufüh­ ren. Die Vorteile, die dem Kapitalismus aus der Ausdifferenzierung land­ wirtschaftlicher und industrieller Arbeit sowie aus der Binnendifferenzierung letzterer erwuchsen —Vorteile, die Adam Smith in seiner Ode an die Nadel­ herstellung zelebriert - , verblassen gegenüber denen, die ihm die Abwer­ tung der Frauenarbeit und die verschlechterte soziale Stellung der Frauen verschafften. Ich habe die Position vertreten, das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern und die Verdeckung unbezahlter Frauenarbeit unter dem Vor­ wand einer natürlichen Unterlegenheit der Frau hätten es dem Kapitalismus erlaubt, den „unbezahlten Teil des Arbeitstages“ enorm auszuweiten und den (Männer-) Lohn zu verwenden, um Frauenarbeit zu akkumulieren. In vie­ len Fällen haben diese Mittel auch dazu gedient, den Klassenantagonismus in einen Antagonismus zwischen Männern und Frauen zu überführen. So ist die ursprüngliche Akkumulation vor allem eine Akkumulation der Differen­ zen, Ungleichheiten, Hierarchien und Spaltungen gewesen, durch die Arbei­ ter und Arbeiterinnen einander und sich selbst entfremdet worden sind. Wir haben gesehen, dass sich männliche Arbeiter dazu oft als Kompli­ zen verhalten haben. Sie haben versucht, ihre Macht gegenüber dem Kapital zu erhalten, indem sie Frauen, Kinder und die von der kapitalistischen Klasse kolonisierten Bevölkerungen abgewertet und diszipliniert haben. Die Macht, die Männer durch ihren Zugang zur Lohnarbeit sowie durch die Anerken­ nung ihres Beitrags zur kapitalistischen Akkumulation über Frauen ausgeübt haben, haben sie jedoch um den Preis der Selbstentfremdung erlangt, und um den der „ursprünglichen Desakkumulation“ ihrer eigenen individuellen und kollektiven Vermögen. In den folgenden Kapiteln untersuche ich diesen Desakkumulationspro­ zess weiter, indem ich mich mit drei Schlüsselaspekten des Übergangs vom

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Feudalismus zum Kapitalismus auseinandersetze: der Konstitution des prole­ tarischen Körpers als Arbeitsmaschine, der Verfolgung von Frauen als Hexen und der Schaffung von „Wilden“ und „Kannibalen“, sowohl in Europa als auch in der Neuen Welt. Anmerkungen 1.

2.

Peter Blickle lehnt den Begriff „Bauernkrieg“ ab und verweist dabei auf die sozi­ ale Zusammensetzung dieser Revolution, an der sich zahlreiche Handwerker, Berg­ arbeiter und Intellektuelle beteiligten. Der Bauernkrieg verband die intellektuelle Reife, die in den zwölf von den Rebellinnen vorgelegten „Artikeln“ zum Ausdruck kommt, mit machtvoller militärischer Organisation. In den zwölf „Artikeln“ fin­ den sich: die Ablehnung der Knechtschaft, die Forderung nach einer Verringerung des Zehnten, die Zurückweisung der Wilderei-Gesetze, die Bekräftigung des Rech­ tes, Holz zu sammeln, die Forderung nach einer Verringerung der Frondienste, die Forderung nach einer Absenkung der Pachten, die Bekräftigung des Rechtes auf Nutzung der Allmende und die Abschaffung des Todfalls (der bei Todesfällen erho­ benen Steuern) (Blickle 1975: 91—93). Die außerordentlichen militärischen Fähig­ keiten, die die Rebellen unter Beweis stellten, gingen teilweise auf die Beteiligung von Berufssoldaten an der Revolte zurück. Zu diesen gehörten die Landsknechte: berühmte schweizerische Soldaten, die damals die Elite der europäischen Söldner­ truppen stellten. Die Landsknechte führten die Bauernheere an, stellten ihr mili­ tärisches Expertenwissen in deren Dienst und weigerten sich mehrfach, gegen die Rebellen vorzugehen. In einem Fall begründeten sie ihre Verweigerung damit, dass sie ebenfalls aus der Bauernschaft stammen würden und in Friedenszeiten auf die Bauern angewiesen seien, um ihren Unterhalt zu verdienen. Als deutlich wurde, dass ihnen nicht zu trauen war, mobilisierten die deutschen Prinzen die aus entlegene­ ren Regionen stammenden Truppen des Schwäbischen Bundes, um den Bauernwi­ derstand zu brechen. Vgl. zur Geschichte der Landsknechte sowie zu ihrem Beitrag zum Bauernkrieg Baumann (1994). Politisch waren die Wiedertäufer Ausdruck einer Verquickung „der spätmittelalter­ lichen Sozialbewegungen und der neuen antiklerikalen Bewegung, die ihren Anstoß von der Reformation erhalten hatte“. Wie die mittelalterlichen Häretiker verurteil­ ten sie wirtschaftlichen Individualismus und Habgier und sprachen sich für eine Form des christlichen Kommunalismus aus. Zu ihrer Einnahme Münsters kam es im Gefolge des Bauernkrieges, als sich Unruhen und städtische Aufstände von Frankfurt bis Köln sowie in andere norddeutsche Städte ausbreiteten. Im Jahr 1531 übernahmen die Zünfte die Kontrolle über die Stadt Münster. Sie benannten die Stadt in „Neues Jerusalem“ um und installierten unter dem Einfluss eingewander­ ter holländischer Wiedertäufer eine Kommunalverwaltung, die auf dem Prinzip der Gütergemeinschaft beruhte. Po Chia Hsia weist darauf hin, dass die Aufzeichnun­ gen des Neuen Jerusalems vernichtet wurden und die Geschichte dieser Gemein­ schaft von ihren Feindinnen geschrieben worden ist. Wir sollten daher nicht davon ausgehen, dass sich die Ereignisse so zugetragen haben, wie sie erzählt worden sind. Den vorliegenden Dokumenten zufolge genossen die Frauen in der Stadt zunächst ein beträchtliches Ausmaß an Freiheit; beispielsweise „konnten sie sich von ihren ungläubigen Ehemännern scheiden lassen und neue Ehen schließen“. Die Lage änderte sich, als die reformierte Stadtverwaltung 1534 die Einführung der Polyga­ mie beschloss. Der dadurch hervorgerufene „aktive Widerstand“ der Frauen wurde

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vermutlich durch Haftstrafen und sogar durch Hinrichtungen unterdrückt (Po Chia Hsia 1988a: 58-59). Warum diese Entscheidung gefällt wurde, bleibt unklar. Ange­ sichts der ausschlaggebenden Rolle, die die Zünfte im „Übergang“ für die Verän­ derung der Lage der Frauen spielten, verdient die Episode es, näher untersucht zu werden. Wir wissen, dass sich die Zünfte in mehreren Ländern für den Ausschluss der Frauen von der Lohnarbeit einsetzten. Es deutet auch nichts daraufhin, dass sie sich den Hexenverfolgungen widersetzt hätten. Siehe zum Anstieg der Reallöhne sowie zum Preisverfall in England North und Tho­ mas (1973: 74), zu den Löhnen in Florenz Cipolla (1994: 206), zum sinkenden Wert englischer Produkte Britnel (1993: 156-171) und zur Stagnation der land­ wirtschaftlichen Produktion in verschiedenen europäischen Ländern Slicher Van Bath (1963: 160-170). Rodney Hilton vertritt die These, dass es in diesem Zeit­ raum „zu einer Schrumpfung der ländlichen und industriellen Wirtschaft gekom­ men sei, „die sich vermutlich als erstes bei der herrschenden Klasse spürbar machte. [...] Die Einkünfte der Grundherren und die industriellen und Handelsprofite begannen zu sinken. [...] Städtische Revolten störten die Industrieproduktion und ländliche Revolten stärkten den bäuerlichen Widerstand gegen die Pachtzahlungen. So fielen die Pachteinkommen und Profite noch weiter“ (Hilton 1985: 240-241). Zu Maurice Dobb und zur Debatte über den Übergang zum Kapitalismus siehe Kaye (1984: 23-69). Zu den Kritikern des Marxschen Begriffs der „ursprünglichen Akkumulation“ zäh­ len Samir Amin (1974) und Maria Mies (1988). Amin fokussiert auf den Marx­ schen Eurozentrismus, Mies betont Marxens Blindheit für die Ausbeutung der Frauen. Eine andere Kritik findet sich in Moulier Boutang (1998), wo Marx vor­ geworfen wird, den Eindruck zu erwecken, die herrschende Klasse Europas habe sich von einer unerwünschten Arbeiterschaft zu befreien versucht. Moulier Bou­ tang betont, dass das Gegenteil der Fall war: Die Landenteignung zielte darauf ab, die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden, und nicht etwa darauf, die Mobilität zu befördern. Der Kapitalismus ist, wie Moulier Boutang betont, stets in erster Linie darum bemüht gewesen, die Flucht der Arbeitskräfte zu verhindern (Moulier Bou­ tang 1998: 16-27). Michael Perelman weist darauf hin, dass der Begriff „ursprüngliche Akkumulation“ von Adam Smith geprägt und von Marx aufgrund seines ahistorischen Charakters abgelehnt wurde. „Um seine Distanzierung von Smith zu unterstreichen, stellte Marx dem Begriff im abschließenden Abschnitt des ersten Bandes des Kapital dem Abschnitt, der sich mit der ursprünglichen Akkumulation befasst - das Adjek­ tiv ,sogenannt* voran. Im Grunde wies Marx Smiths mythische ,vorangegangene* Akkumulation zurück, um die Aufmerksamkeit auf die tatsächliche historische Ent­ wicklung zu lenken“ (Perelman 2000: 25-26). Zum Verhältnis der historischen und logischen Aspekte der „ursprünglichen Akku­ mulation“ und zu deren Implikationen für heutige politische Bewegungen siehe De Angelis (2001), Perlman (1985) und Cohen (1998). Darstellungen der encomienda-, mita- und catequil-Systeme (sowie weiterer solcher Systeme) finden sich in Frank (1978: 45), Stern (1982) und Clendinnen (1987). Die encomienda war, wie Frank schreibt, „ein System, unter dem die spanischen Grundherren Anrechte auf die Arbeit der indianischen Gemeinschaften erhielten.“ Im Jahr 1548 begannen die Spanier jedoch, „die encomienda de servicio durch den (in Mexiko catequil und in Peru mita genannten) repartimiento zu ersetzen. Dieses neue System sah vor, dass die Häuptlinge der indianischen Gemeinschaft dem spa-

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nischen juez repartidor (Verteilungsrichter) monatlich eine gewisse Anzahl Arbeits­ tage zur Verfügung stellten. [...] Der spanische Funktionär verteilte diese Arbeits­ menge wiederum an qualifizierte Unternehmer, von denen erwartet wurde, dass sie den Arbeitern einen Mindestlohn zahlten“ (Frank 1978: 45). Zu den Bemühungen der Spanier, die Arbeitskräfte in Mexiko und Peru während der verschiedenen Etap­ pen der Kolonisierung zu fixieren, sowie zu dem daraus folgenden katastrophalen Kollaps der indigenen Bevölkerung, siehe Frank (1978: 43-49). Zur Diskussion um die „zweite Knechtschaft“ siehe Wallerstein (1986) sowie Kamen (1971). Es ist wichtig zu betonen, dass die neuerlich in die Knechtschaft getriebenen Bauern nunmehr für den internationalen Getreidemarkt produzierten. Mit anderen Worten: Sie waren unter dem neuen Regime, dem scheinbar rück­ schrittlichen Charakter des ihnen aufgezwungenen Arbeitsverhältnisses zum Trotz, integraler Bestandteil einer sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft sowie einer internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung. Ich spiele hier auf Marxens Aussage im ersten Band des Kapital an, die „Gewalt“ sei „selbst [...] eine ökonomische Potenz“ (Marx 1968: 779). Weitaus weniger überzeu­ gend ist Marxens damit einhergehende Beobachtung, die Gewalt sei „der Geburts­ helfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“ (ebd.). Erstens bringen Hebammen Leben in die Welt, nicht Zerstörung. Zweitens impliziert diese Metapher, der Kapitalismus habe sich aus den im Schoß der feudalen Welt wir­ kenden Kräften „entwickelt“ - eine Annahme, die Marx in seiner Diskussion der ursprünglichen Akkumulation selbst widerlegt. Wird die Gewalt mit dem genera­ tiven Vermögen der Hebamme verglichen, dann wird damit der Prozess kapitalis­ tischer Akkumulation verklärt und verschleiert: als notwendig, unvermeidbar und letztlich progressiv. In Europa war die Sklaverei nie abgeschafft worden, und sie existierte in einigen Enklaven fort, vor allem in Form weiblicher Haussklaven. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts wurden Sklaven jedoch wieder importiert (aus Afrika und von den Portugiesen). Versuche, die Sklaverei wieder einzuführen, hielten in England das gesamte 16. Jahrhundert hindurch an. Sie mündeten (nach der Einführung der Armenhilfe) im Bau von Arbeits- und Zuchthäusern. England übernahm bei der Entwicklung beider Einrichtungen eine Pionierfunktion. Siehe dazu Amin (1974). Es ist auch deswegen wichtig, die Existenz europäischer Sklaverei im 16. und 17. Jahrhundert zu betonen, weil europäische Historiker diese Tatsache oft „vergessen“ haben. Salvatore Bono (1999) zufolge war dieses selbst­ verschuldete Vergessen Ergebnis des „Wettlaufs um Afrika“, denn dieser wurde als Auftrag zur Abschaffung der Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent legitimiert. Bono zufolge konnten die europäischen Eliten nicht zugeben, in Europa, der ver­ meintlichen Wiege der Demokratie, selbst Sklavinnen beschäftigt zu haben. Wallerstein (1986: 126-131); Kriedte (1983: 69-70). Paolo Thea (1998) hat die Geschichte der deutschen Künstler, die sich auf die Seite der Bauern schlugen, eindrucksvoll rekonstruiert: „Während der Reformation verließen einige der besten deutschen Künstler des 16. Jahrhunderts ihre Arbeitsräume, um sich dem Kampf der Bauern anzuschließen. [...] Sie verfassten Dokumente, die von den Prinzipien evangelischer Armut, der Gütergemeinschaft und der Umverteilung des Reichtums inspiriert waren. Mitun­ ter [...] griffen sie selbst zu den Waffen, um ihre Sache voranzutreiben. Auf der end­ losen Liste derer, die sich nach den militärischen Niederlagen im Mai/Juni 1525 mit

148 der Härte des Gesetzes konfrontiert sahen, finden sich berühmte Namen. Zu ihnen zählen etwa [Jörg] Ratgeb, der in Pforzheim (Stuttgart) gevierteilt wurde, [Philipp] Dietman, der in Würzburg geköpft wurde, der - ebenfalls in Würzburg - verstüm­ melte [Tilman] Riemenschneider und der vom H of von Mainz, wo er gearbeitet hatte, vertriebene [Matthias] Grünewald. Holbein der Jüngere war von den Ereig­ nissen derart beunruhigt, dass er aus Basel floh: einer Stadt, die vom religiösen Kon­ flikt zerrissen wurde.“ Künstlerinnen beteiligten sich auch in der Schweiz, in Österreich und im Tirol am Bauernkrieg. Darunter waren sowohl berühmte Künstler wie Lucas Cranach (Cranach der Ältere) als auch zahllose weniger bekannte Maler und Kupferstecher (Thea 1998: 7). Thea weist daraufhin, dass sich die intensive Identifikation der Künstler mit der Sache der Bauern auch in der neuen Beliebtheit ländlicher, das Leben der Bauern thematisierender Motive —Bauerntänze, Tiere und Pflanzen —in der deut­ schen Kunst des 16. Jahrhunderts zeigt (Thea 1998: 12-15, 73, 79, 80). „Das Land war beseelt worden. [...] Im Zuge des Aufstands erhielt es einen eigenständigen Charakter, der der Darstellung wert war“ (Thea 1998: 155). 15. Die europäischen Regierungen unterdrückten im 16. und 17. Jahrhundert jegliche Form des Sozialprotests, war ihr Blick auf solchen Protest doch von den Erfahrun­ gen des Bauernkriegs und der Bewegung der Wiedertäufer geprägt. Die Revolution der Wiedertäufer hallte auch im elisabethanischen England nach und führte zu gro­ ßer Wachsamkeit und Strenge gegenüber jedem Versuch, die bestehende Autorität in Frage zu stellen. „Wiedertäufer“ wurde zu einem Schmähwort, einem Zeichen der Schande und der kriminellen Absichten, ähnlich wie „Kommunistin“ in den Vereinigten Staaten der 1950er Jahre oder „Terrorist“ heute.

Auf diesem deutschen Stich aus dem frühen 17. Jahrhundert wird der Glaube der Wiedertäu­ fer an die kommunistische Gütergemeinschaft verspottet.

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16.

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Die Autorität und die Privilegien des Dorfes blieben im Hinterland einiger Stadt­ staaten erhalten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bauern in mehreren Kleinstaaten „in ihrer renitenten Haltung verharrten, weiterhin Abgaben, Steuern und Dienst­ leistungen verweigerten und nicht im entferntesten daran dachten, mit der militä­ rischen Niederlage auch eine politische in Kauf zu nehmen. ,Es gilt yn eben glich nach der hulgung als vor‘, beschwerte sich der Abt von Schussenried über seine Bauern, ,sy lond mich schriebn und gend mir nuntz“ (Blickle 1975: 226—227). In Oberschwaben wurde die Knechtschaft zwar nicht abgeschafft, doch wurde 1526 im Abkommen von Memmingen einigen der wichtigsten bäuerlichen Klagen über das Erb- und Eherecht entgegengekommen. „Zu ähnlich positiven Vertragsabschlüs­ sen für die Bauern kam es in einzelnen Gebieten des Oberrheins“ (Blickle 1975: 231-234, hier: 231). In einigen Städten der Schweiz (Bern und Zürich) wurde die Knechtschaft abgeschafft. Auch im Tirol und in Salzburg wurden einige Verbesse­ rungen im Los des „gemeinen Mannes“ ausgehandelt (Blickle 1975: 234-236). Das „wahre Kind der Revolution“ war jedoch die nach 1525 in Oberschwaben einge­ führte Territorialversammlung. Sie war Grundlage eines Systems der Selbstverwal­ tung, das bis ins 19. Jahrhundert hinein bestehen blieb. Nach 1525 entstanden neue Formen der Territorialversammlung. „Der landschaftlich verfaßte Staat des 16. bis 18. Jahrhunderts verwirklichte in abgeschwächter Form eine Forderung von 1525, die nämlich, daß Landschaft sich nicht beschränken dürfe auf Adel, Geistlichkeit und Städte, sondern den gemeinen Mann mit umfassen müsse.“ Blickle gelangt zu folgendem Schluss: „Im landschaftlich verfaßten Staat, zumindest dem des 16. Jahr­ hunderts im Süden des Alten Reiches, war es nicht weit her mit der landesfürstli­ chen Obrigkeit - noch war der Landesherr in seiner Staatsführung an den aktiven Konsens des gemeinen Mannes gebunden. Erst auf der Schwelle zum absolutisti­ schen Staat gelang es, sich dieser Konsenspflicht zu entziehen“ (Blickle 1975: 242). 17. Der französische Anthropologe Claude Meillassoux hat in seinem Buch „Die wilden Früchte der Frau “. Uber häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft unter Ver­ weis auf die wachsende Pauperisierung, zur der die kapitalistische Entwicklung in aller Welt geführt hat, behauptet, dieser Widerspruch berge in sich eine zukünftige Krise des Kapitalismus: „Mit der Zeit führt der Imperialismus als Mittel zur Repro­ duktion der billigen Arbeitskraft den Kapitalismus in eine entscheidende Krise, denn obzwar die Weltbevölkerung viele Millionen Individuen zählt, die er noch nicht direkt beschäftigt -: wie viele von ihnen sind aufgrund der sozialen Umwäl­ zungen, der Kriege und Hungersnöte, die er mit sich bringt, noch in der Lage, für ihren Unterhalt zu sorgen und ihre Kinder zu ernähren?“ (Meillassoux 1976: 159) 18. Das Ausmaß der durch den „Kolumbus-Handel“ verursachten demographischen Katastrophe bleibt umstritten, und die Schätzungen über den im ersten Jahrhun­ dert nach Kolumbus zu verzeichnenden Bevölkerungsrückgang Süd- und Zentral­ amerikas gehen weit auseinander. Dennoch sind sich fast alle Forscherinnen heute darüber einig, dass sich mit Bezug auf die Auswirkungen von einem amerikanischen Holocaust sprechen lässt. André Gunder Frank schreibt: „In einem Zeitraum von wenig mehr als einem Jahrhundert verkleinerte sich die indianische Bevölkerung in Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 Prozent oder sogar um 95 Pro­ zent“ (1978: 43). Noble David Cook schreibt ähnlich: „Auf dem heutigen Staatsge­ biet Perus lebten vielleicht neun Millionen Menschen. Die Zahl der ein Jahrhundert nach der europäischen Invasion der Anden-Welt verbliebenen Einwohner betrug noch ungefähr ein Zehntel davon“ (Cook 1981: 116).

1)0 19.

Siehe zu den Veränderungen im frühneuzeitlichen europäischen Kriegswesen Cun­ ningham und Grell (2000: 95-102) sowie Kaltner (1998). Cunningham und Grell schreiben: „In den 1490er Jahren bestand ein großes Heer aus 20.000 Mann. In den 1550er Jahren war es bereits doppelt so groß, und gegen Ende des Dreißigjäh­ rigen Krieges verfügten die führenden europäischen Staaten über Feldheere von fast 150.000 Mann“ (2000: 95). 20. Albrecht Dürers Stich war nicht die einzige Darstellung der „vier apokalyptischen Reiter“. Es gibt auch Darstellungen von Lucas Cranach (1522) sowie von Matthäus Merian (1630). Die Darstellungen von Schlachtfeldern, die das Abschlachten von Soldaten und Zivilistinnen, brennende Dörfer und Reihen aufgehängter Menschen zeigen, sind zu zahlreich, um hier aufgezählt zu werden. Der Krieg ist möglicher­ weise das Hauptthema der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts: ein Thema, das sich in jede Darstellung einschleicht, auch in solche, die vordergründig sakrale The­ men zum Gegenstand haben.

Matthäus Merian, Die apokalyptischen Reiter (1630). 21.

22.

Das Ergebnis verweist auf den Doppelcharakter der Reformation, in der gleicher­ maßen zwei Seelen wohnten, eine volkstümliche und eine elitäre, zwischen denen es bald zur Spaltung kam. Während die konservative Seite der Reformation die Tugen­ den des Fleißes und der Anhäufung von Wohlstand pries, verlangte die volkstüm­ liche Seite eine von „göttlicher Liebe“, Gleichheit und Solidarität geleitete Welt. Siehe zu den Klassendimensionen der Reformation Heller (1986) und Po Chia Hsia (1988). Hoskins (1976: 121-123). In England besaß die Kirche vor der Reformation zwi­ schen 25 und 30 Prozent des Grundbesitzes. Davon verkaufte Heinrich VIII. 60 Prozent (ebd.). Es war nicht der alte Adel, der am meisten von der Konfiszierung

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der kirchlichen Ländereien profitierte und diese am bereitwilligsten einhegte, und es waren auch nicht diejenigen, die für ihren Unterhalt auf die Allmende angewie­ sen waren, sondern es waren die Gentry und die „neuen Männer“, vor allem Juris­ ten und Kaufleute. In der Vorstellungswelt der Bauern waren sie die Verkörperung der Raffsucht (Cornwall 1977: 22-28). Der bäuerliche Unmut neigte dazu, sich gegen diese „neuen Männer“ zu richten. Eine ausgezeichnete Momentaufnahme der Gewinner und Verlierer des großen Landtransfers, den die englische Reformation bewirkte, bietet Tabelle 15 in Kriedte (1983: 60). Die Tabelle zeigt, dass zwischen 20 und 25 Prozent der von der Kirche verlorenen Ländereien Eigentum der Gentry wurden. Es folgen die wichtigsten Zahlenreihen aus der Tabelle. Landverteilung in England und Wales, nach gesellschaftlichen Gruppen: 1436*

1690

Großgrundbesitzer

15-20

15-20

Gentry

45-50

Yeomen/Freisassen

25 20

Kirche und Königshaus

25-33

25-33 5-10

[* außer Wales] Siehe zu den Folgen der Reformation für den Landbesitz in England auch Christopher Hill, der schreibt: „Wir brauchen die Abteien nicht als nachsichtige Grundherren zu verklären, um den zeitgenössischen Vorwürfen an die neuen Käufer, sie würden die Pachtzeiten verkürzen, die Pacht anheben und Pächter vertreiben, eine gewisse Berechtigung zuzugestehen. [...] ,Wisst ihr denn nichf, sagte John Palmer zu einigen Zinslehen­ besitzern, die er gerade von seinem Land räumte, ,dass der König in seiner Güte alle Mönchs-, Klosterbrüder- und Nonnenhäuser niedergerissen hat, so dass nun die Zeit für uns Herren gekommen ist, die Häuser von solch armen Knechten wie euch niederzureißen?‘“ (Hill 1958: 41) 23.

24.

Siehe Midnight Notes (1990); siehe auch The Ecologist (1993) und die laufende Debatte um „Einhegungen“ und „Commons“ in der Online-Zeitschrift The Com­ moner, insbesondere Heft 2 (September 2001) und Heft 3 (Januar 2002). „Einhegung“ bedeutete in erster Linie, „dass ein Stück Land mit Hecken, Grä­ ben und anderen Hindernissen umgeben wurde, die den freien Durchgang von Menschen und Tieren verhinderten, wobei die Hecke das Zeichen ausschließlichen Eigentums sowie der Inbesitznahme des Bodens war. So wurde die kollektive Land­ nutzung durch die Einhegung beendet und in der Regel durch individuelles Eigen­ tum und separate Inbesitznahme ersetzt“ (G. Slater 1968: 1-2). Es gab im 15. und 16. Jahrhundert verschiedene Wege, die kollektive Landnutzung zu beenden. Die legalen Mittel waren: (1) der Kauf aller gepachteten Flurstreifen und der mit ihr ein­ hergehenden Allmende-Rechte durch eine Person; (2) der Erlass einer spezifischen Einhegungslizenz durch den König, oder die Verabschiedung eines Einhegungs­ gesetzes durch das Parlament; (3) eine Einigung zwischen dem Grundherrn und den Pächterinnen, die in einem Dekret festgehalten wurde; (4) die teilweise Einhe­

152 gung unbebauten Landes durch die Herren, entsprechend den Vorgaben der Sta­ tute von Merton (1235) und Westminster (1285). Roger Manning weist allerdings daraufhin, dass diese „legalen Methoden [...] oftmals den Rückgriff auf Gewalt, Betrug und die Einschüchterung der Pächter verschleierten“ (Manning 1998: 25). Auch E. D. Fryde schreibt, die „ständige Gängelung der Pächter, verbunden mit Räumungsdrohungen, die beim geringsten rechtlichen Anlass ausgesprochen wur­ den,“ sei ergänzend zur physischen Gewalt eingesetzt worden, um Massenräumun­ gen durchzufuhren, „insbesondere in den unruhigen Jahren 1450—85 [den Jahren des Rosenkrieges]“ (Fryde 1996: 186). In Utopia (1516) von Thomas Morus kom­ men der Kummer und die Verzweiflung zum Ausdruck, die die Massenvertreibun­ gen hinterließen: Morus schreibt dort von Schafen, die Menschen, Felder, Häuser und Städte verzehren. 25. Michael Perelman hat in The Invention o f Capitalism (2000) die Bedeutung der „Gewohnheitsrechte“ (beispielsweise des gewohnheitsmäßigen Jagdrechtes) betont und darauf hingewiesen, dass sie oft lebenswichtig waren, da sie den Unterschied zwischen dem Überleben und völliger Mittellosigkeit darstellen konnten (Perelman 2000: 38 ff.). 26. Garrett Hardins Aufsatz über die „Tragik der Allmende“ (1968) war einer der Hauptbezugspunkte der ideologischen Kampagne, die in den 1970er Jahren zugun­ sten der Landprivatisierung organisiert wurde. Die „Tragik besteht Hardin zufolge in der Unhintergehbarkeit des Hobbesschen Egoismus als einer Determinante des menschlichen Verhaltens. Seiner Ansicht nach strebt jeder Hirt auf einer hypotheti­ schen Allmende danach, seinen Nutzen zu maximieren, unabhängig von den Folgen seiner Handlungen für andere Hirten. „Indem die Individuen einer Gesellschaft, die an die freie Nutzung der Gemeingüter glaubt, ihre eigenen Interessen verfolgen, bewegen sie sich in Richtung auf den Ruin aller“ (Hardin 1970: 36). 27. Die auf „Modernisierung“ verweisende Rechtfertigung der Einhegungen hat eine lange Geschichte, doch hat sie durch den Neoliberalismus neuen Aufwind erhalten. Am meisten hat sich die Weltbank dieses Arguments bedient. Sie hat die Privati­ sierung gemeinschaftlich genutzter Böden gegenüber Regierungen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien oft zur Vorbedingung der Kreditvergabe erklärt. Eine klassische Verteidigung der aus den Einhegungen resultierenden Produktivitätszu­ wächse findet sich in Bradley (1968, zuerst 1918). In der jüngeren wissenschaftli­ chen Literatur wird ein weniger parteiischer, mit „Kosten/Nutzen-Kalkülen“ ope­ rierender Ansatz verwendet. Typisch dafür sind die Arbeiten von G. E. Mingay (1997) und Robert S. Duplessis (1997: 65-70). Der Streit um die Einhegungen hat sich mittlerweile über Disziplingrenzen hinweg erweitert; auch Literaturwis­ senschaftler beteiligen sich mittlerweile an der Debatte. Ein Beispiel für den disziplinübergreifenden Charakter des Disputs bietet der von Richard Burt und John Michael Archer herausgegebene Sammelband Enclosure Acts: Sexuality, Property and Culture in Early Modern England (1994); siehe darin insbesondere die Aufsätze von James R. Siemon {,Landlord not King: Agrarian Change and Interarticulation) und William C. Carroll (, The Nursery ofBeggary: Enclosure, Vagrancy, and Sedition in the Tudor-Stuart Period). William C. Carroll stellt fest, dass die Sprecher der einhegen­ den Klasse in der Tudor-Zeit eine nachdrückliche Verteidigung der Einhegungen und eine ebenso nachdrückliche Kritik der Allmende formulierten. Ihrem Diskurs zufolge beförderten die Einhegungen das private Unternehmertum; die Allmende sei dagegen „Nährboden und Zuflucht von Dieben, Schurken und Bettlern“ (Car­ roll 1994: 37-38).

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De Vries (1976: 42-43); Hoskins (1976: 11-12). Die Allmende war Schauplatz volkstümlicher Feste und anderer kollektiver Aktivi­ täten; so fanden dort etwa Sportwettkämpfe, Spiele und Versammlungen statt. Als sie umzäunt wurde, unterminierte das die Gesellschaftlichkeit, die die Dorfgemein­ schaft bis dahin ausgezeichnet hatte, beträchtlich. Zu den Ritualen, denen damit ein Ende gesetzt wurde, gehörte etwa die „Bitttags-Flurprozession“: ein jährlicher Rundgang über die Felder, bei dem die Pflanzen in Vorbereitung auf die Ernte gesegnet wurden. Die um die Allmende gepflanzten Hecken verunmöglichten den Rundgang (Underdown 1983: 81). 30. Siehe zum Verlust des sozialen Zusammenhalts (neben anderen) Underdown (1983), insbesondere das dritte Kapitel, das auch die Bemühungen des älteren Adels beschreibt, sich von den Emporkömmlingen unter den Grundbesitzern abzugrenzen. 31. Kriedte (1983: 55); Briggs (1998: 289-316). 32. Das Heimgewerbe war eine Verlängerung der ländlichen Industrie auf der Domäne. Diese ländliche Industrie wurde von kapitalistischen Kaufleuten einer Neuordnung unterzogen, um ihnen den Zugriff auf das große Reservoir von Arbeitskräften zu ermöglichen, die durch die Einhegungen freigesetzt worden waren. Die Kaufleute versuchten damit, die hohen städtischen Löhne und die Macht der Zünfte zu umge­ hen. So entstand das Verlagssystem, unter dem kapitalistische Kaufleute Wolle oder Baumwolle zum Spinnen oder Weben an ländliche Haushalte vergaben. Oft wur­ den auch Arbeitsinstrumente zur Verfügung gestellt. Nach getaner Arbeit holten die Kaufleute das Produkt ab. Die Bedeutung, die dem Verlagssystem und dem Heim­ gewerbe bei der Entwicklung der britischen Industrie zukam, lässt sich an der Tat­ sache erkennen, dass die gesamte Textilindustrie auf diese Weise organisiert wurde; die Textilindustrie war in der ersten Phase kapitalistischer Entwicklung der bedeu­ tendste Wirtschaftssektor. Das Heimgewerbe hatte für die Arbeitgeber vor allem zwei Vorteile: Sie vermieden das Risiko von Arbeitervereinigungen und sie konn­ ten die Arbeitskosten senken. Letzteres war möglich, weil die Arbeiter dadurch, dass sie ihre Arbeit im Haushalt erledigten, über kostenlose Haushaltsdienste sowie über die Zuarbeit ihrer Kinder und Frauen verfügten. Die Kinder und Frauen wur­ den als Helfer beziehungsweise Helferinnen behandelt und erhielten geringfügige „Nebenlöhne“. 33. Die Lohnarbeit wurde so sehr mit Sklaverei gleichgesetzt, dass die Levellers Lohnar­ beitern das Stimmrecht verweigerten: Lohnarbeiter seien nicht hinreichend unab­ hängig von ihren Arbeitgebern, um frei wählen zu können. „Warum sollte sich eine freie Person zum Sklaven machen?“ fragt der Fuchs, eine Figur aus Edmund Spen­ sers Prosopopoia, or Mother Hubberds Tale (1591). Gerrard Winstanley, der Anführer der Diggers, erklärte wiederum, dass es keinen Unterschied mache, ob man unter Feinden oder Brüdern lebe, wenn man für einen Lohn arbeite (Hill 1975). 34. Herzog (1989: 45-52). Die Literatur zu den Vagabunden ist sehr umfangreich. Zu den wichtigsten Werken zählen Beier (1974) und Geremek (1994). 35. Fletcher (1973: 64-77); Cornwall (1977: 137-241); Beer (1982: 82-139). Zu Beginn des 16. Jahrhunderts beteiligten sich viele niedere Mitglieder der Gentry an den Aufständen gegen die Einhegungen. Sie machten sich den volkstümlichen Hass auf die Einhegungen zunutze, wenn sie mit höherrangigen Grundbesitzern im Zwist lagen. Nach 1549 „übernahmen Mitglieder der Gentry in den Auseinandersetzun­ gen um Einhegungen jedoch weniger häufig die Führung. Nun war es wahrschein­ licher, dass Kleinbauern, Handwerker und Häusler beim Anführen von Agrarprote­ sten die Initiative ergriffen“ (Manning 1988: 312). Manning beschreibt das typische

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Opfer eines Einhegungsaufstands als „den Außenseiter“. „Für Kaufmänner, die ver­ suchten, durch Geld in die landbesitzende Gentry aufzusteigen, waren solche Auf­ stände besonders bedrohlich, aber auch für pachtende Farmer. In 24 der insgesamt 75 Sternkammer-Fälle richteten sich die Aufstände gegen neue Eigentümer und Far­ mer. Sechs nicht auf ihrem Fand residierende Herren stellen eine verwandte Kate­ gorie dar“ (Manning 1988: 50). Manning (1988: 96-97, 114-116, 281); Mendelson und Crawford (1998). Die zunehmende Beteiligung der Frauen an den Einhegungsaufständen ging teil­ weise auf den populären Glauben zurück, Frauen stünden „außerhalb des Gesetzes“ und könnten daher straflos Hecken ausreißen (Mendelson und Crawford 1998: 368-387). Der Gerichtshof der Sternkammer tat jedoch sein Äußerstes, um den Menschen diesen Glauben auszutreiben. Im Jahr 1605, ein Jahr nach dem Hexe­ rei-Gesetz James’ I., beschloss die Sternkammer: „Wenn Frauen Fandfriedensbruch begehen, sich an Aufständen oder sonstigem beteiligen, und wenn gegen sie und ihre Ehemänner Klage eingereicht wird, dann haben sie [die Ehemänner] die Bußen und den Schadensersatz zu entrichten, auch wenn der Fandfriedensbruch oder son­ stige Verstöße ohne Einwilligung des Ehemannes begangen wurden“ (Manning 1988: 98). Siehe zu diesem Thema, neben anderen, Mies (1988). Bis zum Jahr 1600 hatten die Reallöhne in Spanien dreißig Prozent der Kaufkraft eingebüßt, über die sie 1511 verfügt hatten (Hamilton 1965: 280). Siehe zur Preis­ revolution vor allem die mittlerweile zum Klassiker avancierte Arbeit von Earl J. Hamilton, American Treasure and the Price Revolution in Spain, 1501—1650 (1965), die den Einfluss der amerikanischen Gold- und Silberbestände auf die Preisrevo­ lution untersucht. Siehe auch Hackett Fischer (1996), ein Werk, das Preisanstiege vom Mittelalter bis zur Gegenwart verhandelt (vor allem Kapitel 2: 66-113). Vgl. auch Ramsey (1971). Braudel (1990, Bd. 2: 252-255). Peter Kriedte (1983) fasst die wirtschaftlichen Entwicklungen dieses Zeitraums fol­ gendermaßen zusammen: „Die Krise verschärfte die Einkommens- und Eigentums­ gefälle. Mit der Pauperisierung und Proletarisierung ging eine gesteigerte Wohl­ standsakkumulation einher. [...] Forschungen zu Chippenham in Cambridgeshire haben gezeigt, dass die schlechten Ernten [des. 16. und 17. Jahrhunderts] eine ent­ scheidende Wende herbeiführten. Zwischen 1544 und 1712 verschwanden die mit­ telgroßen Höfe fast vollständig. Gleichzeitig stieg der Anteil der 90 oder mehr Acker großen Ländereien von drei auf 14 Prozent; der Anteil der landlosen Haushalte stieg von 32 auf 63 Prozent“ (Kriedte 1983: 54-55). Wallerstein (1986: 114); Le Roy Ladurie (1928/29). Das wachsende Interesse der kapitalistischen Unternehmer am Geldverleih motivierte möglicherweise die im 15. und 16. Jahrhundert erfolgende Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus den mei­ sten europäischen Städten und Ländern. Zu solchen Vertreibungen kam es 1488 in Parma, 1489 in Mailand, 1490 in Genf, 1492 in Spanien und 1496 in Österreich. Die Vertreibungen und Pogrome hielten ein Jahrhundert lang an. Bis zur Kehrt­ wende im Jahr 1577, unter Rudolph II., konnten Juden im Großteil Westeuropas nur illegal leben. Sobald der Geldverleih zu einem lukrativen Geschäft wurde, wurde diese Tätigkeit, die bis dahin als eines Christen unwürdig gegolten hatte, rehabili­ tiert. Das zeigt dieser Dialog zwischen einem Bauern und einem wohlhabenden Bürger, der um 1521 von einem deutschen Anonymus verfasst wurde:

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„Bauer: Was führt mich zu dir? Ich würde gern sehen, wie du deine Zeit verbringst. Bürger: Wie soll ich meine Zeit verbringen? Ich sitze hier und zähle mein Geld, siehst du das nicht? Bauer: Sag mir, Bürger, wer hat dir so viel Geld gegeben, dass du deine ganze Zeit damit verbringst, es zu zählen? Bürger: Du willst wissen, wer mir mein Geld gegeben hat? Ich werde es dir sagen. Ein Bauer klopft an meine Tür und bittet mich, ihm zehn oder zwanzig Gulden zu leihen. Ich frage ihn, ob er ein Stück guten Weidelandes oder einen guten Acker besitzt. Er sagt: Ja, Bürger, ich habe eine gute Weide und einen guten Acker, die zusammen hundert Gulden wert sindf Ich antworte: Ausgezeichnet! Verpfände mir deine Weide und deinen Acker als Sicherheit, und wenn du einwilligst, jedes Jahr einen Gulden als Zins zu zahlen, dann bekommst du dein Darlehen über zwan­ zig Gulden/ Erfreut über die gute Nachricht antwortet der Bauer: ,Das gelobe ich gern/ ,Ich muss dir aber sagen/ erwidere ich, ,dass ich mir dein Land nehmen und es zu meinem Eigentum machen werde, wenn du es einmal versäumst, pünktlich zu zahlen/ Das sorgt den Bauern nicht, er verpfändet mir sein Weideland und seinen Acker. Ich leihe ihm das Geld und er zahlt ein oder zwei Jahre lang pünktlich den Zins. Dann kommt eine schlechte Ernte und er gerät schon bald mit seinen Zah­ lungen ins Hintertreffen. Ich konfisziere sein Land und vertreibe ihn, sein Feld und sein Acker gehören jetzt mir. So verfahre ich nicht nur mit Bauern, sondern auch mit Handwerkern. Wenn ein Kaufmann ein gutes Haus besitzt, leihe ich ihm eine Geldsumme, mit dem Haus als Sicherheit, und bald schon gehört das Haus mir. Auf diese Weise gelange ich zu viel Eigentum und Wohlstand, und deswegen verbringe ich meine ganze Zeit damit, mein Geld zu zählen. Bauer: Und ich dachte, nur die Juden würden Wucher treiben! Jetzt erfahre ich, dass auch Christen das tun. Bürger: Wucher? Wer spricht hier von Wucher? Niemand treibt hier Wucher. Was der Schuldner zahlt, heißt Zins!“ (G. Strauss: 110-111) Mit Bezug auf Deutschland schreibt Peter Kriedte: „Aus der jüngeren Forschung geht hervor, dass ein Bauarbeiter in Augsburg [Bayern] in der Lage war, während der ersten drei Dekaden des 16. Jahrhunderts seine Frau und zwei Kinder mit sei­ nem Jahreseinkommen ausreichend zu versorgen. Danach begann sein Lebensstan­ dard zu sinken. Zwischen 1366 und 1575 sowie zwischen 1585 und dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges genügte sein Lohn nicht mehr, um das Subsistenzmi­ nimum seiner Familie abzudecken“ (Kriedte 1983: 51-52). Siehe zur Verarmung der europäischen Arbeiterklasse infolge der Einhegungen und der Preisrevolution auch Lis und Soly (1979: 72-79), die schreiben, dass die Getreidepreise in England „zwischen 1500 und 1600 um das Sechsfache stiegen, während die Löhne um das Dreifache stiegen. Es überrascht nicht, dass Arbeiter und Kätner für Francis Bacon nichts als ,Hausbettlercwaren.“ Die Kaufkraft der Kätner und Lohnarbeiter sank in Frankreich während des gleichen Zeitraums um 45 Prozent. „In Neukastilien [...] galten Lohnarbeit und Armut als gleichbedeutend“ (Lis und Soly 1979: 72-74). Siehe zur Ausbreitung der Prostitution im 16. Jahrhundert Roberts (1992). Manning (1988); Fletcher (1973); Cornwall (1977); Beer (1982); Bercé (1990); Lombardini (1983). Kamen (1971); Bercé (1990: 169-179); Underdown (1985). David Underdown schreibt: „Auf die herausragende Rolle, die Frauen bei den [Brot-] Unruhen spiel­ ten, ist oft hingewiesen worden. Im Jahr 1608 weigerte sich eine Gruppe Frauen in Southampton zu warten, während die Gemeindebehörde darüber debattierte, was

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anlässlich der Verladung von Weizen auf ein nach London reisendes Schiff zu tun sei. Die Frauen enterten kurzerhand das Schiff und nahmen die Fracht an sich. Es wurde auch vermutet, dass die Aufständischen bei dem Zwischenfall in Weymouth 1622 Frauen waren. In Dorchester hielt 1631 eine Gruppe von Frauen (darunter Insassinnen des Arbeitshauses) einen Wagen an, da sie irrtümlicherweise annahmen, er sei mit Weizen beladen. Eine von ihnen beschwerte sich über einen lokalen Kaufmann, der ,die besten Früchte des Landes übers Meer verschickt, etwa Butter, Käse, Weizen und so weiter4“ (1983: 117). Siehe zur Beteiligung der Frauen an den Brotunruhen auch Mendelson und Crawford (1998), die schreiben, Frauen hätten „bei den Weizenunruhen [in England] eine herausragende Rolle gespielt.“ Beispiels­ weise habe „1629 in Maldon eine Gruppe von mehr als hundert Frauen und Kin­ dern Schiffe geentert, um zu verhindern, dass Getreide verschifft wird“. Angeführt wurde die Gruppe von einer „Captain Ann Carter, die später vor Gericht gestellt und gehängt wurde“, da sie den Protest angeführt hatte (Mendelson und Crawford 1998: 383-386). Ähnlich die Bemerkungen eines Arztes aus der italienischen Stadt Bergamo anläs­ slich der Hungersnot von 1630: „Der Abscheu und der Schrecken, den eine wahn­ sinnige Menge halbtoter Menschen verursacht, die sämtliche Passanten auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Kirchen und an den Türschwellen belästigt, so dass das Leben unerträglich wird, ihr übler Gestank und das ständige Spektakel der Ster­ benden [...] sind für einen, der es nicht selbst erlebt hat, kaum zu glauben“ (zit. n. Cipolla 1993: 129). Siehe zu den europäischen Protesten des 16. und 17. Jahrhunderts Kamen (1972: 331-385), wo es heißt: „Die Krise von 1595-97 wirkte sich in ganz Europa aus und zeitigte ihre Folgen in England, Frankreich, Österreich, Finnland, Ungarn, Litauen und der Ukraine. Wahrscheinlich fielen zu keinem früheren Zeitpunkt der euro­ päischen Geschichte so viele Volksrebellionen zeitlich zusammen“ (Kamen 1972: 336). In Neapel kam es 1595, 1620 und 1647 zu Rebellionen (Kamen 1972: 334335, 350, 361-363). In Spanien brachen 1640 in Katalonien, 1648 in Grenada sowie 1652 in Cordoba und Sevilla Rebellionen aus. Zu den Aufständen und Rebel­ lionen im England des 16. und 17. Jahrhunderts siehe Cornwall (1977), Underdown (1985) und Manning (1988). Zu den Revolten in Spanien und Italien siehe auch Braudel (1990, Bd. 2: 527-528). Siehe zum Vagabundentum in Europa, ergänzend zu Beier und Geremek, Braudel (1990, Bd. 2: 529-533); Kamen (1972: 390-394). Siehe zur steigenden Zahl der Eigentumsdelikte im Gefolge der Preisrevolution außer der Tabellen in diesem Kapitel auch Richard J. Evans (1996: 35), Kamen (1972: 397-403) sowie Lis und Soly (1984). Lis und Soly schreiben: ,,[D]ie verfügbaren Zeugnisse weisen darauf hin, dass die Gesamtzahl der Verbrechen im elisabethanischen England sowie während der frühen Stuart-Zeit tatsächlich markant anstieg, insbesondere im Zeitraum zwischen 1590 und 1620“ (Lis und Soly 1984: 218). Zu den Momenten von Gesellschaftlichkeit und kollektiver Reproduktion, denen durch den Verlust des offenen Weidelandes und der Allmende ein Ende gesetzt wurde, zählten in England die Rogationsprozessionen, die man im Frühjahr abge­ halten hatte, um die Felder zu segnen. Dies war nicht mehr möglich, nachdem die Felder eingezäunt worden waren. Auch die am ersten Mai veranstalteten Tänze um den Maibaum konnten nicht mehr stattfmden (Underdown 1985). Lis und Soly (1979: 92). Siehe zur Institution der öffentlichen Wohlfahrt Geremek (1994: 142-177).

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Moulier Boutang (1998: 291-293). Ich bin nur bedingt mit Moulier Boutangs These einverstanden, dass die Armenhilfe weniger eine Antwort auf das durch Land­ enteignungen und die Preisrevolution geschaffene Elend war als eine Maßnahme, um die Flucht der Arbeiter zu unterbinden und einen lokalen Arbeitsmarkt zu schaffen. Moulier Boutang überschätzt, wie bereits erwähnt, den Grad an Mobili­ tät, über den das enteignete Proletariat verfügte, da er die spezifische Situation der Frauen nicht berücksichtigt. Unterschätzt wird von ihm hingegen das Ausmaß, in dem die Armenhilfe Ergebnis eines Kampfes war, und zwar eines, der sich nicht auf die Flucht der Arbeitskräfte reduzieren lässt, sondern Überfälle und die Inva­ sion ganzer Städte durch Massen hungernder Landbewohnerinnen (im Frankreich des 16. Jahrhunderts ein ständiges Phänomen) sowie andere Angriffsformen bein­ haltete. Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass Norwich, das Zentrum der KettRebellion, kurz nach der Niederschlagung der Rebellion zum Zentrum und Vorbild der Armenhilfe-Reformen wurde. Der mit den flandrischen und spanischen Systemen der Armenhilfe gut vertraute spanische Humanist Luis Vives war einer der Hauptbefürworter öffentlicher Wohl­ fahrt. In seinem De subventione pauperum (1526) vertrat er die Ansicht, dass „die weltliche macht, nicht die Kirche, die Verantwortung für die Armenhilfe tragen sollte“ (Geremek 1994: 187). Er betonte auch, dass die Autoritäten Arbeitsgelegen­ heiten für die Gesunden unter den Armen finden sollten, und bestand darauf, dass „die Liederlichen, die Betrügerischen, Diebe und Müßiggänger die schwerste Arbeit erhalten sollten, und die am schlechtesten bezahlte, damit sie ein abschreckendes Beispiel für andere abgeben“ (ebd.). Das Hauptwerk zur Entstehung der Arbeits- und Zuchthäuser ist Melossi und Pavarini (1981). Die Autoren weisen daraufhin, dass der Zweck der Inhaftierung vor allem darin bestand, das Identitätsgefühl und die Solidarität der Armen zu brechen. Siehe auch Geremek (1994: 206-229). Zu den Vorhaben englischer Eigentümer, die die Armen in ihren Gemeinden einzukerkern gedachten, siehe Marx (1968: 749, Fn. 197). Zu Frankreich siehe Foucault (1969), insbesondere das zweite Kapitel. Während Hackett Fischer den Bevölkerungsrückgang in Europa während des 17. Jahrhunderts zu den sozialen Folgen der Preisrevolution in Beziehung setzt (1996: 91-92), bietet Kriedte ein komplexeres Bild. Ihm zufolge war der Bevölkerungsrück­ gang Ergebnis sowohl malthusianischer als auch sozio-ökonomischer Faktoren. Er war seiner Ansicht nach zum einen die Reaktion auf den Bevölkerungszuwachs im frühen 16. Jahrhundert, zum anderen aber auch auf die Aneignung immer größe­ rer Teile des landwirtschaftlichen Einkommens durch die Grundherren (1983: 63). Eine interessante Beobachtung, die meine These eines Zusammenhangs von demo­ graphischem Rückgang und pro-natalistischer Politik stützt, bietet Duplessis (1997), demzufolge sich Europa von der Bevölkerungskrise des 17. Jahrhunderts weitaus rascher erholte als vom Schwarzen Tod. Nach der Epidemie von 1348 dau­ erte es ein Jahrhundert, bis die Bevölkerung wieder zu wachsen begann; im 17. Jahr­ hundert setzte das Wachstum innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert wieder ein (1997: 143). Die Schätzungen von Duplessis weisen daraufhin, dass die Geburtenrate im Europa des 17. Jahrhunderts viel höher war. Dies könnte eine Folge des heftigen Angriffs auf jegliche Form der Verhütung gewesen sein. „Biomacht“ ist der Begriff, den Foucault (1977a) verwendet, um den Übergang von einer autoritären zu einer eher dezentralisierten, an der „Förderung der Lebens­ kraft“ ausgerichteten Regierungsform im Europa des 19. Jahrhunderts zu beschrei­ ben. Der Begriff der „Biomacht“ verweist auf die wachsende Sorge der Regierun-

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gen um die hygienische, sexuelle und strafrechtliche Kontrolle individueller Körper, aber auch um Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsbewegungen, die als öko­ nomisch bedeutsam begriffen wurden. Diesem Paradigma zufolge ging der Aufstieg der Biomacht mit dem des Liberalismus einher und markiert zugleich das Ende des monarchischen Staates. Indem ich diese Unterscheidung ziehe, stütze ich mich auf Überlegungen, die der kanadische Soziologe Bruce Curtis zu Foucaults Konzepten der „Bevölkerung“ und der „Biomacht“ angestellt hat. Curtis kontrastiert den Begriff der „Bevölkerungs­ dichte“, der im 16. und 17. Jahrhundert geläufig war, mit dem der „Bevölkerung“, der im 19. Jahrhundert zur Grundlage der modernen Wissenschaft der Demogra­ phie wurde. „Bevölkerungsdichte“ war, so Curtis, ein organizistischer und hierar­ chischer Begriff. Als die Merkantilisten ihn gebrauchten, ging es ihnen um jenen Teil des Gesellschaftskörpers, der den Wohlstand produziert, also um tatsächliche oder potentielle Arbeitskräfte. Der spätere Begriff der „Bevölkerung“ ist atomistisch. „Die Bevölkerung besteht aus einer gewissen Anzahl undifferenzierter Atome, die in einem abstrakten Raum und einer abstrakten Zeit verteilt sind , schreibt Cur­ tis. „Sie verfügt über ihre eigenen Gesetze und Strukturen.“ Ich vertrete allerdings die These, dass zwischen diesen beiden Vorstellungen eine Kontinuität besteht. Denn der Begriff der Bevölkerung war sowohl in der merkantilistischen als auch in der handelsliberalen Phase des Kapitalismus für die Reproduktion der Arbeitskraft funktional. Die Blütezeit des Merkantilismus fällt in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seine Vorherrschaft im Wirtschaftsleben ist mit den Namen William Pettys (16231687) und Jean Baptiste Colberts, des Finanzministers unter Louis XIV. verbunden. Die Merkantilisten des 17. Jahrhunderts betrieben jedoch nur die Systematisierung und Umsetzung von Vorstellungen, die sich bereits seit dem 16. Jahrhundert entwi­ ckelt hatten. Der Franzose Jean Bodin und der Italiener Giovanni Botero gelten als proto-merkantilistische Ökonomen. Eine der ersten systematischen Formulierun­ gen der merkantilistischen Wirtschaftstheorie findet sich in Thomas Muns Englands Treasure by Forraign Trade (1622). Einschätzungen der neuen Gesetze gegen die Kindestötung bieten (neben anderen) Riddle (1997: 163-166), Wiesner (1993: 52-53) sowie Mendelson und Crawford (1998). Letztere schreiben: „ [B]ei der Kindestötung handelte es sich um ein Verbre­ chen, das alleinstehende Frauen eher begingen als irgendeine andere gesellschaftli­ che Gruppe. Eine Untersuchung der Kindestötung im frühen 17. Jahrhundert hat gezeigt, dass von 60 Frauen 53 alleinstehend und sechs verwitwet waren (Mendel­ son und Crawford 1998: 149). Aus der Statistik geht auch hervor, dass die Kindes­ tötung noch häufiger bestraft wurde als die Hexerei. Margaret King schreibt über Nürnberg: „Die Stadt [...] richtete zwischen 1578 und 1615 vierzehn Frauen wegen dieses Verbrechens [Kindestötung] hin, aber nur eine einzige Hexe“ (King 1993: 20). Merry Wiesner bestätigt diese Schätzungen, indem sie schreibt: „Beispielsweise wurden in Genf im Zeitraum 1595-1712 von 31 Frauen, die man der Kindestötung beschuldigt hatte, 25 hingerichtet; von den 122 der Hexerei beschuldigten Frauen wurden 19 hingerichtet“ (Wiesner 1993: 52). Noch im 18. Jahrhundert wurden Frauen in Europa als Kindestöterinnen hingerichtet. Ein interessanter Artikel zu diesem Thema ist Fletcher (1896). Ich beziehe mich auf ein italienisches feministisches Lied aus dem Jahr 1971 namens ,Aborto di stato“ („Staatsabtreibung“).

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King (1993: 98). Zur Schließung der deutschen Bordelle siehe Wiesner (1986: 194— 209). Ein ausführlicher Katalog der Orte und Jahre, an beziehungsweise in denen Frauen aus den Zünften ausgeschlossen wurden, findet sich in Herlihy (1993). Siehe auch Wiesner (1986: 174-185). Siehe Howell (1986: 174-183). Howell schreibt: „Die Komödien und Satiren der Zeit stellen Marktfrauen und Händlerinnen oft als widerspenstig dar. Die Frauen wurden nicht nur verspottet oder geschmäht, weil sie sich an der Marktproduk­ tion beteiligten, sondern oft auch eines sexuell aggressiven Verhaltens beschuldigt“ (Howell 1986: 182). In ihrer gründlichen Kritik der von Thomas Hobbes und John Focke formulier­ ten Vertragstheorien des 17. Jahrhunderts vertritt Pateman (1988) die These, der „Gesellschaftsvertrag“ habe auf einem grundlegenderen „Geschlechtervertrag“ beruht, der Männern das Recht zugestanden habe, die Körper und die Arbeit der Frauen in Besitz zu nehmen. Ruth Mazo Karras schreibt: „Eine ,gemeine Frau‘ war eine Frau, die allen Män­ nern zur Verfügung stand, wohingegen ein ,gemeiner Mann‘ ein Mann niederer Herkunft war. Die Bezeichnung ,gemeiner Mann‘ konnte im abwertenden oder im lobenden Sinne gebraucht werden und beinhaltete keine Aussage über das Verhalten oder die Klassensolidarität der Person“ (Karras 1996: 138). Siehe zur Familie in der Zeit des „Übergangs“ Stone (1977) sowie Burguiere und Februn (1996, Bd. 2: 95 ff.). Siehe zum Charakter des Patriarchalismus im 17. Jahrhundert sowie zum Begriff patriarchaler Macht in der Vertragstheorie erneut Pateman (1988); siehe auch Eisen­ stein (1981) und Sommerville (1995). Sommerville bietet eine Einschätzung der in England durch die Vertragstheorie verursachten Veränderungen des rechtlichen und philosophischen Umgangs mit Frauen. Sommerville vertritt die These, die Vertragstheoretiker hätten die Unter­ ordnung der Frauen unter die Männer ebenso befürwortet wie die Patriarchalisten, sich aber einer anderen Rechtfertigung bedient. Da sie den Prinzipien „natürlicher Gleichheit“ und der „einvernehmlichen Regierung“ zumindest formell verpflichtet waren, griffen sie zur Rechtfertigung der männlichen Überlegenheit auf die Theorie der „natürlichen Minderwertigkeit“ der Frau zurück. Dieser Theorie zufolge wür­ den Frauen der Aneignung ihres Besitzes und ihres Stimmrechts durch ihre Ehe­ männer zustimmen, sobald sie sich ihrer natürlichen Schwäche und ihrer Abhängig­ keit von Männern bewusst würden. Siehe Underdown (1985a) sowie Mendelson und Crawford (1998: 69-71). Siehe zum Rechteverlust der Frauen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (neben anderen) Wiesner (1993). Wiesner schreibt: „Die Verbreitung des römischen Rechts hatte weitgehend nachteilige Folgen für den bürgerrechtlichen Status frühneuzeit­ licher Frauen: zum einen aufgrund des Frauenbildes, das Juristen diesem Rechts­ system entnahmen, zum anderen aufgrund der strengeren Durchsetzung früherer Gesetze, die seine Verbreitung nach sich zog“ (Wiesner 1993: 33). Underdown berücksichtigt außer den Dramen und Traktaten auch die Gerichtsak­ ten der Zeit. „Die Akten aus der Zeit von 1560 bis 1640 [...] verraten eine ausge­ prägte Sorge um Frauen, die eine sichtbare Bedrohung der patriarchalen Ordnung darstellten. Frauen, die ihre Nachbarn beschimpfen und sich mit ihnen zanken; Ehefrauen, die ihre Männer unter der Fuchtel halten: Sie alle scheinen viel häufiger in Erscheinung zu treten als in den Zeiten unmittelbar davor oder danach. Der Lese-

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rin wird nicht entgangen sein, dass dies auch der Zeitraum war, in dem die Hexen­ verfolgungen ihren Höhepunkt erreichten“ (Underdown 1985a: 119). Blaut (1992a) weist daraufhin, dass sich das „Tempo des Wachstums und der Verän­ derung“ nach 1492 innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten „dramatisch beschleu­ nigte“ und Europa in eine „Phase rascher Entwicklung“ eintrat. Er schreibt: „Aus den kolonialen Unternehmungen ging im 16. Jahrhundert auf verschiedene Weise Kapital hervor. Erstens gab es den Gold und Silber fördernden Bergbau, zweitens die vor allem in Brasilien angesiedelte Plantagenlandwirtschaft. Hinzu kam drittens der Handel mit Asien, bei dem Gewürze, Kleidungsstücke und vieles mehr gehan­ delt wurden. Viertens gab es den Profit, der europäischen Geschäftszentralen aus verschiedenen produktiven und kommerziellen Unternehmungen in den Amerikas zufloss. [...] Fünftens gab es die Sklaverei. Das Ausmaß der sich aus diesen Quellen speisenden Akkumulation war ungeheuer“ (Blaut 1992a: 38). Beispielhaft ist der Fall von Bermuda, auf den Crane (1990) eingeht. Crane zufolge waren auf Bermuda mehrere weiße Frauen Eigentümerinnen von Sklaven oder Skla­ vinnen, meist von Sklavinnen. Aufgrund von deren Arbeitsleistungen waren sie in der Lage, sich einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Autonomie zu bewahren (Crane 1990: 231-258). June Nash schreibt: „Zu einer wesentlichen Veränderung kam es 1549, als die Rasse neben der rechtlich verbrieften Ehe im Erbschaftsrecht zu einem bestimmenden Fak­ tor wurde. Das neue Gesetz schrieb vor, dass kein Mulatte (Kind eines schwarzen Mannes und einer indianischen Frau), kein Mestizo und keine außerehelich geborene Person Indios in der encomienda arbeiten lassen durfte. [...] Die Begriffe ,Mestizo‘ und ,außereheliches Kind‘ wurden nahezu gleichbedeutend“ (Nash 1980: 140). Eine Coyota war eine Frau mit einem Mestizen- und einem Indianer-Elternteil (Behar 1987: 45). Am tödlichsten waren Quecksilberminen wie die in Huancavelica, wo tausende von Arbeitern unter furchtbaren Qualen an allmählicher Vergiftung starben. David Noble Cook schreibt: „Die Arbeiter in der Huancavelica-Mine sahen sich sowohl kurzfristigen als auch langfristigen Bedrohungen ausgesetzt. Einstürzende Schächte, Überflutungen und Stürze waren tägliche Gefahren. Zu den mittelfris­ tigen Gesundheitsrisiken zählten die schlechte Ernährung, die mangelhafte Belüf­ tung der Schächte und der schroffe Temperaturunterschied zwischen dem Inneren der Mine und der sauerstoffarmen Atmosphäre der Anden. [...] Arbeiter, die über längere Zeit in den Minen verblieben, erlitten wohl das schlimmste Schicksal. Die Geräte, mit denen das Erz freigeklopft wurde, setzten Staub und Feinstaubpartikel frei. Die Indianer atmeten den Staub ein. Er enthielt vier gefährliche Substanzen: Quecksilberdampf, Arsen, Diarsenpentaoxid und Zinnober. Wer diesen Substanzen über längere Zeit ausgesetzt war, [...] starb. Die sogenannte Minenkrankheit (mal de mind) war im fortgeschrittenen Stadium unheilbar. In weniger schwerwiegenden Fällen kam es zur Vereiterung und Rückbildung des Zahnfleisches“ (Cook 1981: 205-206). Barbara Bush weist daraufhin, dass Sklavinnen, sofern sie eine Abtreibung vorneh­ men wollten, wussten, was sie zu tun hatten, denn sie hatten das nötige Wissen aus Afrika mitgebracht (Bush 1990: 141).

Frontispiz von Andreas Vesalius, D e H u m a n i C o rp o ris F a b ric a (Padua 1 5 4 3 ). Die männliche, patriarchale Ordnung der Oberklassen hätte in der Entstehung des neuen Anatomie-Hörsaals nicht vollständiger triumphieren können. Über die Frau, die seziert und öffentlich zur Schau gestellt wird, sagt uns der Autor, sie habe sich „aus Angst, gehängt zu werden, für schwan­ ger erklärt." Nachdem sich herausstellte, dass sie nicht schwanger war, wurde sie am Gal­ gen aufgeknüpft. Die weibliche Gestalt im Hintergrund (möglicherweise eine Prostituierte oder Amme) senkt ihren Blick. Vielleicht ist sie von der Obszönität und impliziten Gewalt der Szene beschämt.

Der große Caliban Der Kampf gegen den rebellischen Körper

„[D]as Leben [ist] nur eine Bewegung der Glieder [...]. Denn was ist das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele Stränge und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Kör­ per [...] in Bewegung setzen [...]?“ -T h o m as Hobbes, Leviathan, 1650 „Doch werde ich ein edleres Wesen sein, und in dem Moment, in dem mich meine natürlichen Zwänge in den Zustand eines Tieres herabdrü­ cken, wird sich mein Geist erheben und zu den Engeln emporfliegen.“ - Cotton Mather, Tagebuch, 1680—1708 „Habt etwas Mitleid mit mir [...], denn meine Freunde sind sehr arm, und meine Mutter ist sehr krank, und ich soll am nächsten Mittwoch­ morgen sterben. Daher hoffe ich, dass ihr so gütig sein werdet, meinen Freunden ein klein wenig Geld zu geben, um einen Sarg und ein Lei­ chentuch zu kaufen, um meinen Leib von dem Baum zu entfernen, an dem ich sterben soll. [...] Und seid nicht mutlos. [...] So hoffe ich, dass ihr angesichts meines armen Leibes bedenken werdet, dass auch ihr, wenn es euer Leib wäre, ihn vor den Chirurgen gerettet sehen wolltet.“ - Brief des 1739 in London zum Tode verurteilten Richard Tobin

Eine der Vorbedingungen kapitalistischer Entwicklung war der Vorgang, den Michel Foucault als „Disziplinierung des Körpers“ bestimmt hat, und der meiner Ansicht nach in dem durch Staat und Kirche unternommenen Ver­ such bestand, die Vermögen des Individuums in Arbeitskraft umzuwandeln. Dieses Kapitel untersucht zum einen, wie dieser Vorgang in den philosophi­ schen Debatten der Zeit konzipiert und vermittelt wurde, zum anderen die strategischen Interventionen, die daraus hervorgingen. Im 16. Jahrhundert beobachten wir in den von der Reformation und dem Aufstieg des Handelsbürgertums am stärksten geprägten Gebieten Westeuropas in jedem Bereich - auf der Bühne, auf der Kanzel und in der Welt politischer und philosophischer Vorstellungen - die Entstehung eines neuen Personenbegriffs. Seine ideellste Verkörperung hat dieser Begriff in der Figur des Prospero aus Shakespeares Sturm (1612) gefunden. Prospero ver-

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Holzschnitt, 15. Jahrhundert. „Der Angriff des Teufels auf den Sterbenden ist ein Motiv, das sich durch die gesamte populäre Tradition [des Mittelalters] zieht" (Alfonso M. di Nola 1987). bindet die himmlische Spiritualität Ariels mit der animalischen Materialität Calibans. Doch legt er auch eine gewisse Unsicherheit über das rechte Gleich­ gewicht an den Tag, die jeden Stolz über die einzigartige Stellung „des Men­ schen“ in der Großen Kette des Seins ausschließt.1 Sobald er Caliban besiegt, muss Prospero feststellen: ,,[W]as dieses Geschöpf der Finsterniß betrift, so muß ich bekennen, daß es mir zugehört.“ Damit erinnert er das Publikum daran, dass unsere menschliche Verquickung des Engelhaften und des Tieri­ schen in der Tat problematisch ist. Was bei Prospero eine unterschwellige Ahnung bleibt, wird im 17. Jahr­ hundert als Konflikt zwischen der Vernunft und den körperlichen Leiden­ schaften formalisiert. Dabei wurden klassische jüdisch-christliche Motive rekonzeptualisiert, um ein neues anthropologisches Paradigma hervorzubrin­ gen. Das Ergebnis erinnert an den mittelalterlichen K am pf der Engel und Teufel um den Besitz der den Körper verlassenden Seele. Der Konflikt spielt sich nun jedoch im Inneren der Person ab, die als Schlachtfeld begriffen wird, auf dem einander entgegengesetzte Elemente um die Vorherrschaft ringen.

Der K am pfgegen den rebellischen Körper

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Auf der einen Seite stehen die „Mächte der Vernunft“: Sparsamkeit, Vor­ aussicht, Verantwortungsgefühl, Selbstbeherrschung. A uf der anderen stehen die „niederen Instinkte des Körpers“: Wollust, Müßiggang, die systematische Verschwendung der eigenen Lebenskraft. Die Schlacht wird an vielen Fron­ ten ausgetragen, denn die Vernunft muss wachsam bleiben gegenüber den Angriffen des fleischlichen Selbst und verhindern, dass die „Weisheit unseres Fleisches“ (Luther) die Vermögen des Geistes korrumpiert. Im äußersten Fall wird die Person zum Schlachtfeld eines Krieges aller gegen alle: „Lass mich nichts sein, wenn ich nicht in der Spanne meines eigenen Selbst die Schlacht von Lepanto wiederfinde: Leidenschaft gegen Ver­ nunft, Vernunft gegen Glaube, Glaube gegen Teufel, und mein Gewis­ sen gegen sie alle zusammen.“ (Browne 1928: 76) Im Zuge dieses Vorgangs kommt es zu einem Wandel des metaphorischen Feldes, da sich die philosophische Darstellung der Psychologie des Indivi­ duums der politischen Bilderwelt des Staatskörpers bedient und ein Pano­ rama von „Herrschern“, „rebellischen Subjekten“, „Mengen“ und „Aufruhren“ , „Ketten“ und „zwingenden Befehlen“ entwirft, bis hin zum Henker (so bei Thomas Browne 1928: 72).2 Wie wir noch sehen werden, lässt sich dieser Konflikt zwischen der Vernunft und dem Körper, den die Philoso­ phen als tumultuarische Konfrontation der „Besseren“ mit den „Schlechte­ ren“ darstellen, nicht allein auf die barocke Vorliebe für das Bildliche zurück­ führen, die später einem „männlicheren“ Sprachgebrauch weichen sollte.3 Der Kampf, den der im 17. Jahrhundert gepflegte Diskurs über die Person als sich im Mikrokosmos des Individuums abspielend imaginiert, hatte wohl eine Grundlage in der Realität des Zeitalters. Es handelt sich um einen Aspekt jenes umfassenderen Prozesses gesellschaftlicher Neuordnung, durch den das im Aufstieg begriffene Bürgertum während des „Zeitalters der Vernunft“ ver­ suchte, die unterjochten Klassen entsprechend den Erfordernissen der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft umzugestalten. Der Kam pf gegen den Körper, der das historische Kennzeichen des Bür­ gertums geworden ist, wurde im Kontext des Versuchs aufgenommen, eine neue Art von Individuum hervorzubringen. Max Weber zufolge bildet die Neugestaltung des Körpers den Kern der kapitalistischen Ethik, weil der Kapitalismus den Erwerb zum „Selbstzweck“ macht, anstatt ihn als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu behandeln; der Kapitalismus verlangt also von uns, dass wir allem spontanen Lebensgenuss entsagen (Weber 2004: 104). Der Kapitalismus ist auch insofern um eine Überwindung unseres „natürli­ chen Zustands“ bemüht, als er die Schranken der Natur durchbricht und den Arbeitstag über die durch den Auf- und Untergang der Sonne, den Zyklus der Jahreszeiten und den Körper selbst gesetzten, für die vorindustrielle Gesell­ schaft konstitutiven Grenzen hinaus erweitert. Auch Marx begreift die Entfremdung vom Körper als ein charakteristi­ sches Merkmal des kapitalistischen Arbeitsverhältnisses. Indem er die Arbeit

1 66 zur Ware macht, veranlasst der Kapitalismus die Arbeiter dazu, ihre Arbeit einer ihnen äußerlichen Ordnung zu unterwerfen, über die sie keine Kon­ trolle haben und mit der sie sich nicht identifizieren können. So wird der Arbeitsprozess zum Terrain der Selbstentfremdung: Der Arbeiter „fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu H aus“ (Marx 1973: 514). Hinzu kommt, dass der Arbeiter im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zum „freien Eigentümer“ „seiner“ Arbeitskraft wird (obgleich nur formal); er kann diese Arbeitskraft (anders als der Sklave) ihrem Käufer für eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellen. Das beinhaltet, dass er sich „als Person [...] beständig zu seiner Arbeitskraft [seiner Energie, seinen Fertigkeiten] als seinem Eigentum und daher seiner eignen Ware ver­ halten“ muss (Marx 1968: 182).4 Auch das bewirkt eine gewisse Loslösung vom eigenen Körper, der verdinglicht und auf einen Gegenstand reduziert wird, mit dem sich die Person nicht mehr unmittelbar identifiziert. Das Bild des Arbeiters, der aus freier Entscheidung seine Arbeitskraft entäußert oder seinem Körper als einem Kapital gegenübersteht, das an den Höchstbietenden geht, bezieht sich auf eine Arbeiterklasse, die bereits von der kapitalistischen Arbeitsdisziplin geprägt ist. Diesem Arbeitertypus begegnen wir jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist maßvoll, vorausschauend, verantwortlich, stolz auf den Besitz einer Uhr (Thompson 1987) und in der Lage, die ihm aufgezwungene kapitalistische Produktions­ weise als „selbstverständliche Naturgesetze“ (Marx 1968: 765) anzuerkennen - womit er die kapitalistische Utopie und Marxens eigenen Bezugspunkt ver­ körpert. Im Zeitalter der ursprünglichen Akkumulation war die Situation eine radikal andere. Damals entdeckte das im Entstehen begriffene Bürgertum, dass die „Freisetzung der Arbeitskraft“ - also die Enteignung der Bäuerinnen und Bauern, der Raub ihrer gemeinschaftlich bewirtschafteten Ländereien - nicht genügte, um die enteigneten Proletarier dazu zu bewegen, sich in die Lohnarbeit zu fügen. Anders als Miltons Adam, der nach seiner Vertrei­ bung aus dem Paradies umgehend ein der Arbeit gewidmetes Leben beginnt,5 waren die enteigneten Bauern und Handwerker nicht bereit, sich friedlich darauf einzulassen, gegen Lohn zu arbeiten. Häufiger wurden sie zu Bettlern, Vagabunden oder Kriminellen. Der Hass auf die Lohnarbeit war im 16. und 17. Jahrhundert so ausgeprägt, dass viele Proletarier lieber den Tod am Gal­ gen riskierten, als sich in die neuen Arbeitsverhältnisse zu fügen (Hill 1975: 219-239). Das war die erste kapitalistische Krise, und sie war weitaus gravierender als sämtliche Handelskrisen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems während seiner ersten Entwicklungsphase bedrohten.7 Bekanntlich bestand die Antwort des Bürgertums in der Einrichtung eines genuinen Terrorre­ gimes. Durchgesetzt wurde es durch die Verschärfung der Strafen (besonders

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Eine Lumpenverkäuferin und ein Vagabund. Die enteigneten Bauern und Handwerkerinnen fügten sich nicht friedlich in die Lohnarbeit. Häufiger wurden sie Bettlerinnen, Vagabunden oder Kriminelle. Darstellung von Louis-Léopold Boilly (1761-1845). der Strafen für Eigentumsdelikte), die Einführung einer „Blutgesetzgebung“ gegen Vagabunden, die die Arbeiter an die ihnen aufgezwungene Arbeit bin­ den sollte, wie man die Leibeigenen einmal an den Boden gebunden hatte, und den vermehrten Rückgriff auf Hinrichtungen. Allein in England wurden in den 38 Jahren der Herrschaft Heinrichs VIII. 72.000 Menschen gehängt, und das Massaker wurde im späten 16. Jahrhundert fortgesetzt. In den 1570er Jahren fielen jedes Jahr 300 bis 400 „Schurken“ „an dem einen oder anderen Ort dem Galgen zum Opfer“ (Hoskins 1977: 9). Allein in Devon wurden im Jahr 1598 74 Menschen gehängt (ebd.). Die Gewalt der herrschenden Klasse beschränkte sich jedoch nicht auf die gegen Gesetzesbrecherinnen gerichtete Repression. Sie zielte auch auf eine radikale Transformation der Person ab, die sämtliche Verhaltensweisen des Proletariats, die der Durchsetzung einer strengeren Arbeitsdisziplin entgegen-

i68 standen, ausmerzen sollte. Die Ausmaße dieses Angriffs sind in den Sozialge­ setzen erkennbar, die bis Mitte des 16. Jahrhunderts in England und Frank­ reich eingeführt wurden. Spiele wurden verboten, insbesondere Glücksspiele, die ja nicht nur unnütz waren, sondern auch das Verantwortungsgefühl und die „Arbeitsethik“ des Individuums unterminierten. Wirtshäuser und öffent­ liche Badeanstalten wurden geschlossen. Die Nacktheit wurde ebenso unter Strafe gestellt wie viele andere „unproduktive“ Formen von Sexualität und Gesellschaftlichkeit. Trinken und Fluchen wurden untersagt.8 Im Zuge dieses gewaltigen Prozesses gesellschaftlicher Umgestaltung entstanden allmählich ein neuer Körperbegriff und eine neue Körperpolitik. Neu war, dass der Körper als Quelle allen Unheils angegriffen, zugleich aber mit derselben Leidenschaft studiert wurde, mit der man in eben diesen Jah­ ren auch die Plimmelsbewegungen untersuchte. Warum war der Körper für die Staatspolitik und den intellektuellen Diskurs derart zentral? Man ist versucht zu antworten, dass die zwanghafte Beschäftigung mit dem Körper Ausdruck der Angst war, die das Proletariat der herrschenden Klasse einflößte.9 Es handelte sich um eine vom Bürger und vom Adeligen gleichermaßen verspürte Angst. Wo auch immer sie sich hinbegaben, auf die Straße oder auf Reisen, wurden sie von einer bedrohli­ chen Menge belagert, die bettelte oder sich anschickte, sie auszurauben. Die­ selbe Angst verspürten auch diejenigen, die für die Verwaltung des Staates verantwortlich waren. Die Festigung des Staates wurde durch die Drohung von Aufständen und sozialen Unruhen beträchtlich unterminiert, aber auch bestimmt. Doch war dies nicht alles. Wir dürfen nicht vergessen, dass das bettelnde und aufständische Proletariat - das die Reichen zwang, mit zwei Pistolen unter dem Kopfkissen zu schlafen und im Pferdewagen zu reisen, um sich nicht seinen Angriffen auszuliefern - auch das gesellschaftliche Subjekt war, das zunehmend als Quelle allen Wohlstands erschien. Die Merkantilisten, die ersten Ökonomen der kapitalistischen Gesellschaft, wurden nicht müde dar­ aufhinzuweisen, dass es von eben diesen Proletariern „gar nicht genug“ geben könne. Wenn sie auch gelegentlich die Richtigkeit ihrer Position bezweifel­ ten, so beklagten sie doch immer wieder das sinnlose Ableben so vieler Kör­ per am Galgen.10 Es sollten noch viele Jahrzehnte vergehen, bevor der Begriff des Arbeits­ werts in den Pantheon des ökonomischen Denkens Eingang fand. Dass aber die Arbeit („die Industrie“) die Hauptquelle der Akkumulation sei, mehr noch als der Boden oder der „natürliche Reichtum“, war zu einer Zeit, da der niedrige Entwicklungsstand der Technik die Menschen zur bedeutend­ sten produktiven Ressource machte, eine wohlverstandene Wahrheit. In den Worten von Thomas Mun (dem Sohn eines Londoner Kaufmanns und Ver­ treter der merkantilistischen Position):

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„Wir wissen, dass unsere natürlichen Waren uns nicht so viel Profit einbringen wie unsere Industrie. [...] Denn das Eisen in den Minen ist von kei­ nem besonderen Wert, vergleicht man es mit dem Nutzen und Vorteil, den es bringt, wenn es abgebaut, gewogen, transportiert, gekauft, verkauft, zu Feldwaffen und Musketen verarbeitet wird [...], zu Ankern, Bolzen, Stiften, Nägeln und dergleichen mehr: Dingen, die sich für Schiffe, Häuser, Kar­ ren, Pferdewägen, Pflugeisen und andere Ackerbaugeräte verwenden lassen.“ (Abbot 1946: 2) Selbst Shakespeares Prospero besteht auf dieser wesentlichen Tatsache des Wirtschaftslebens, indem er Miranda, die gerade ihre Abscheu gegenüber Caliban kundgetan hat, eine kurze Rede über den Arbeitswert hält: „Und doch, so wie er ist können wir nicht ohne ihn seyn; er macht uns unser Feuer, schaft unser Holz herbey und thut uns Dienste, die uns zu statten kommen.“ {Der Sturm, 1. Aufzug, 2. Szene) Der Körper rückte also nicht nur in den Mittelpunkt der Sozialpolitik, weil er wie ein Tier erschien, dass auf Anreize zur Arbeit nicht reagierte, sondern auch, weil er als Träger der Arbeitskraft wahrgenommen wurde, als Produkti­ onsmittel und bedeutendste Arbeitsmaschine. Das ist der Grund, weshalb wir in den gegen den Körper zum Einsatz gebrachten Strategien auf viel Gewalt, aber auch auf beträchtliche Neugier stoßen. Das Studium körperlicher Bewe­ gungen und Eigenschaften wurde zum Ausgangspunkt der meisten theoreti­ schen Spekulationen des Zeitalters. Mal ging es darum, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, wie bei Descartes, mal darum, die Voraussetzungen der Regierbarkeit der Gesellschaft zu untersuchen, wie bei Hobbes. Tatsächlich war die Mechanik des Körpers einer der Hauptgegenstände der neuen mechanizistischen Philosophie. Die konstitutiven Elemente des Körpers - vom Blutkreislauf über die Dynamik der Sprache bis hin zu den Auswirkungen von Sinneseindrücken und den willkürlichen und unwillkür­ lichen Muskelbewegungen - wurden in all ihre Komponenten und Möglich­ keiten auseinanderdividiert und anschließend klassifiziert. De homine von Descartes (1644 veröffentlicht)11 ist ein regelrechtes anatomisches Lehrbuch, obgleich die in ihm betriebene Anatomie ebenso sehr eine psychologische wie eine physische ist. Eine der grundlegenden Aufgaben des kartesianischen Unterfangens bestand darin, eine ontologische Grenze zwischen dem rein geistigen und dem rein körperlichen Bereich zu ziehen. So wird jede Verhal­ tensweise, jede Einstellung und jeder Sinneseindruck definiert; ihre Grenzen werden bestimmt und ihre Möglichkeiten derart gründlich abgewogen, dass man den Eindruck hat, das „Buch der menschlichen Natur“ sei zum ersten Mal aufgeschlagen worden, oder vielmehr, ein neues Land sei entdeckt wor­ den und die Konquistadoren würden sich nun auf den Weg machten, seine Wege zu kartographieren, einen Katalog seiner Naturressourcen zu erstellen und seine Vor- und Nachteile einzuschätzen.

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Anatomiestunde an der Uni­ versität von Padua. Der ana­ tomische Hörsaal präsen­ tierte der Öffentlichkeit einen entzauberten, entweihten Körper. Aus: D e fa s c ic u lo d e m e d ic in a , Venedig 1 9 9 4 .

In dieser Hinsicht waren Hobbes und Descartes für ihre Zeit repräsenta­ tiv. Der Sorgfalt, die sie bei ihrer Untersuchung der Einzelheiten der körperli­ chen und der psychologischen Realität an den Tag legen, begegnen wir in der puritanischen Analyse der Neigungen und individuellen Talente aufs Neue.12 Diese Analyse war der Anfang der bürgerlichen Psychologie. Sie widmete sich der Untersuchung aller menschlichen Vermögen und tat dies explizit mit Blick auf deren Arbeitspotential und Beitrag zur Disziplin. Ein weiteres Anzeichen der neuen Neugier gegenüber dem Körper sowie der „Verände­ rung früherer Verhaltensweisen und Sitten, dahingehend, dass der Körper nunmehr geöffnet werden kann“ (so ein Arzt des 17. Jahrhunderts), war die Entwicklung der Anatomie als einer wissenschaftlichen Disziplin. Im Mittelalter war die Anatomie lange Zeit in den intellektuellen Untergrund verbannt geblieben (Wightman 1972: 90-92; Galzigna 1978). Der Körper wurde also auf den Bühnen der Philosophie und Medizin zum Hauptdarsteller. Auffallend an den entsprechenden Untersuchungen ist jedoch die degradierte Vorstellung, die man sich vom Körper bildete. Der Anatomie-Hörsaal (englisch anatomy theatre) 13 präsentierte der Öffentlich­ keit einen entzauberten, entweihten Körper, der sich zwar noch prinzipiell als Haus der Seele auffassen ließ, tatsächlich aber als von dieser unabhän­

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gige Realität behandelt wurde (Galzigna 1978: 163-164).14 In der Sicht des Anatomen ist der Körper eine Fabrik, wie aus dem Titel hervorgeht, den Andreas Vesalius seinem epochalen Werk über die „sezierende Analyse“ gab: De humani corporisfabrica (1543). In der mechanizistischen Philosophie wird der Körper in Analogie zur Maschine beschrieben, wobei oft seine Trägheit betont wird. Der Körper wird als rohe Materie begriffen, die aller rationalen Eigenschaften entbehrt: Er weiß nicht, will nicht, empfindet nicht. Der Kör­ per ist eine reine „Anordnung [von] Organefn]“, behauptet Descartes 1634 in seiner Abhandlung über die Methode (Descartes 1948: 49). Nicolas Malebran­ che spricht ihm das nach: In seinen Dialogen über Metaphysik und Religion (1688) stellt er die entscheidende Frage: „Kann ein Körper denken?“ Er ant­ wortet prompt: „Nein, sicherlich nicht, denn alle Modifizierungen einer sol­ chen Ausdehnung bestehen nur in bestimmten Entfernungsverhältnissen, und es ist offenkundig, dass solche Verhältnisse keine Wahrnehmungen, Überlegungen, Genüsse, Begierden, Gefühle, kurz: Gedanken sind“ (Popkin 1966: 280). Auch für Hobbes ist der Körper ein Konglomerat mechanischer Bewegungen, die sich ohne autonomes Vermögen auf der Grundlage äuße­ rer Ursachen vollziehen, in einem Spiel der Anziehungen und Abneigungen, in dem alles wie in einem Automaten reguliert wird (Hobbes 1966: 40 ff). A uf die mechanizistische Philosophie trifft zu, was Michel Foucault über die Gesellschaftswissenschaften des 17. und des 18. Jahrhunderts schreibt (Foucault 1977: 137). Auch hier stoßen wir auf eine andere Perspektive als die der mittelalterlichen Askese, in der die Abwertung des Körpers eine rein negative Funktion hatte, bei der es darum ging, den zeitlichen und illusori­ schen Charakter irdischer Genüsse aufzuzeigen, und damit die Notwendig­ keit, dem Körper selbst zu entsagen. In der mechanizistischen Philosophie begegnen wir einem neuen bür­ gerlichen Geist, der berechnet, klassifiziert, Unterscheidungen zieht und den Körper nur abwertet, um seine Vermögen zu rationalisieren. Es geht nicht nur darum, die Unterwerfung des Körpers auf die Spitze zu treiben, son­ dern auch darum, seinen gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren (Foucault 1977: 137-138). Weit davon entfernt, dem Körper zu entsagen, waren die Theoretiker des Mechanizismus darum bemüht, ihn so zu konzeptualisieren, dass seine Tätigkeit verständlich und kontrollierbar wird. Daher das Gefühl des Stolzes (und nicht etwa des Mitleids), mit dem Descartes darauf besteht, dass „diese Maschine“ (wie er den Körper in De homine beständig bezeichnet) nur ein Automat ist, und sein Tod daher nicht bedauerlicher als das Zerbre­ chen eines Werkzeugs.15 Natürlich verloren Hobbes und Descartes nicht viele Worte über wirt­ schaftliche Angelegenheiten, und es wäre absurd, in ihre Philosophien die Alltagssorgen der englischen oder holländischen Kaufleute hineinzudeuten. Nicht zu übersehen ist jedoch der bedeutende Beitrag, den ihre Spekulationen über die menschliche Natur zu der im Entstehen begriffenen kapitalistischen

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Arbeitswissenschaft leisteten. Durch die Bestimmung des Körpers als mecha­ nische Materie, bar jeder intrinsischen Teleologie - also der „okkulten Tugen­ den“, die sowohl die Naturmagie als auch der volkstümliche Aberglaube der damaligen Zeit dem Körper zuschrieben - wurde seine Unterordnung unter einen Arbeitsprozess denkbar, der zunehmend auf gleichförmigem und vor­ hersagbarem Verhalten beruhte. Sobald man die Vorrichtungen des Körpers dekonstruiert und ihn selbst auf ein Werkzeug reduziert hatte, stand er für die uneingeschränkte Manipu­ lation seiner Vermögen und Potentiale zur Verfügung. Man konnte die Män­ gel und Defizite der Vorstellungskraft ebenso untersuchen wie die Tugen­ den der Gewohnheit, den Gebrauch der Angst, die Möglichkeit, bestimmte Leidenschaften zu vermeiden oder zu neutralisieren und die Frage, wie diese Leidenschaften einem vernünftigeren Gebrauch zugeführt werden können. In diesem Sinne leistete die mechanizistische Philosophie einen Beitrag zur Ausweitung der Kontrolle der herrschenden Klasse über die natürliche Welt, wobei die Kontrolle über die menschliche Natur den ersten und unentbehr­ lichsten Schritt darstellte. Ganz so, wie die auf eine „große Maschine“ redu­ zierte N atur erobert werden konnte, um „all ihre Geheimnisse zu durchdrin­ gen“ (Bacon), konnte auch der seiner okkulten Vermögen beraubte Körper in „einem System der Unterwerfung erfasst“ werden, um sein Verhalten zu kal­ kulieren, zu organisieren, technisch zu begreifen und mit Machtverhältnissen zu durchsetzen (Foucault 1977: 26). Bei Descartes werden Körper und Natur miteinander identifiziert, denn beide bestehen aus denselben Teilchen und verhalten sich entsprechend den einheitlichen physikalischen Gesetzen, die Gottes Wille in Kraft gesetzt hat. So ist der kartesianische Körper nicht nur ein pauperisierter, jeder magischen Tugend beraubter; in der großen ontologischen Kluft, die Descartes zwischen dem Wesen der Menschheit und ihrem akzidentiellen Zustand eröffnet, ist der Körper auch von der Person geschieden und im Wortsinn entmensch­ licht. „Ich bin nicht dieser Körper“, betont Descartes immer wieder in seinen Meditationen (1641). Tatsächlich fügt sich der Körper in seiner Philosophie in ein Kontinuum uhrwerkartiger Materie ein, das der entfesselte Wille als Gegenstand seiner Herrschaft kontemplieren kann. Wie wir noch sehen werden, kommen bei Descartes und Hobbes, was die körperliche Realität angeht, zwei unterschiedliche Projekte zum Aus­ druck. Bei Descartes erlaubt die Reduzierung des Körpers auf mechanische Materie die Entwicklung von Mechanismen der Selbstführung, die den Kör­ per zum Untergebenen des Willens machen. Bei Hobbes dagegen rechtfertigt die Mechanisierung des Körpers die totale Unterordnung des Individuums unter die Staatsmacht. In beiden Fällen ist das Ergebnis jedoch eine Neube­ stimmung körperlicher Attribute, die den Körper, im Idealfall zumindest, der Regelmäßigkeit und dem Automatismus anpasst, den die kapitalistische Arbeitsdisziplin erfordert.16 Ich sage „im Idealfall“, weil sich die herrschende

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Klasse in den Jahren, in denen Descartes und Hobbes ihre Abhandlungen schrieben, einer Körperlichkeit gegenüber sah, die sich sehr von der durch die Philosophen entworfenen unterschied. Tatsächlich fällt es schwer, die aufsässigen Körper, die durch die gesell­ schaftstheoretische Literatur des „eisernen Zeitalters“ geistern, mit den uhr­ werkartigen Bildern in Einklang zu bringen, durch die der Körper in den Werken von Descartes und Hobbes dargestellt wird. Doch auch wenn sie scheinbar fernab der Alltagserfahrungen des Klassenkampfes angestellt wur­ den: Wir begegnen in den Spekulationen der beiden Philosophen der ersten Konzeptualisierung jener Entwicklung des Körpers zur Arbeitsmaschine, die eine der Hauptaufgaben der ursprünglichen Akkumulation war. Wenn etwa Hobbes erklärt, das Herz sei nichts anderes als „eine Federc und „die Gelenke [...] viele R äder‘ (Hobbes 1966: 5), dann entdecken wir in seinen Worten einen bürgerlichen Geist, demzufolge die Arbeit Zustand und Grund der Exi­ stenz des Körpers ist: ein Geist, aus dem das Bedürfnis spricht, alle körperli­ chen Vermögen in Arbeitsvermögen umzuwandeln. Dieses Projekt bietet einen Hinweis darauf, warum ein so großer Teil der philosophischen und religiösen Spekulationen des 16. und 17. Jahr­ hunderts in einer Vivisektion des menschlichen Körpers besteht, durch die bestimmt wurde, welche Eigenschaften des Körpers weiterzuleben und wel­ che zu sterben hatten. Es handelte sich um eine soziale Alchemie, die nicht unedle Metalle in Gold, sondern körperliche Vermögen in Arbeitsvermögen verwandelte. Denn die Beziehung, die der Kapitalismus zwischen dem Boden und der Arbeit hergestellt hatte, begann nun auch das Verhältnis von Kör­ per und Arbeit zu bestimmen. Die Arbeit begann als dynamische, zu unbe­ grenzter Entwicklung fähige Kraft zu erscheinen, während der Körper als träge, unfruchtbare Materie wahrgenommen wurde, deren Zustand an das von Newton in seiner Physik postulierte Verhältnis von Masse und Bewegung erinnert: Die Masse neigt bei Newton zur Trägheit, es sei denn, sie steht unter dem Einfluss einer Antriebskraft. Wie der Boden, so musste auch der Kör­ per kultiviert werden. Als erstes musste er jedoch zerstückelt werden, damit er seine verbogenen Schätze freigab. Der Körper ist zwar einerseits Bedingung der Existenz von Arbeitskraft, andererseits aber auch Grenze der Arbeitskraft oder Hauptfaktor bei der Verhinderung ihrer Verausgabung. Es genügte also nicht, festzustellen, dass der Körper an und fü r sich keinen Wert habe. Der Körper musste sterben, damit die Arbeitskraft leben konnte. Was starb, war der in der mittelalterlichen Welt vorherrschende Begriff vom Körper als Träger magischer Kräfte. Dieser Begriff wurde tatsächlich zerstört. Denn im Hintergrund der neuen Philosophie erkennen wir eine gewaltige staatliche Unternehmung, bei der alles, was die Philosophen als „irrational“ klassifizierten, zum Verbrechen erklärt wurde. Diese staatliche Intervention war der notwendige „Subtext“ der mechanizistischen Philoso­ phie. „Wissen“ kann nur „Macht“ werden, wenn es ihm gelingt, seine Vorga-

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Die Vorstellung vom Körper als Träger magischer Fähigkeiten ging vor allem auf den Glauben an die Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos des Individuums und dem Makrokosmos des Himmels zurück, wie er in dieser Darstellung des „Tierkreismenschen" aus dem 1 6 . Jahr­ hundert zum Ausdruck kommt.

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ben durchzusetzen. Das bedeutet, dass der mechanische Körper, die KörperMaschine, kein Modell gesellschaftlichen Verhaltens hätte werden können, wenn es nicht zur staatlichen Zerstörung eines breiten Spektrums an vorkapi­ talistischen Glaubensvorstellungen, Praktiken und gesellschaftlichen Subjek­ ten gekommen wäre, deren Existenz zu der von der mechanizistischen Philo­ sophie versprochenen Regelung des körperlichen Verhaltens im Widerspruch stand. Darum kam es auf dem Höhepunkt des „Zeitalters der Vernunft“ des Zeitalters der Skepsis und des methodischen Zweifels - zu einem hefti­ gen Angriff auf den Körper, unterstützt von vielen, die der neuen Doktrin beipflichteten. So ist auch der Angriff auf die Hexerei und das magische Weltbild zu interpretieren, das trotz aller kirchlichen Bemühungen das gesamte Mittelal­ ter hindurch auf volkstümlicher Ebene fortbestand. Der Magie lag ein animistischer Naturbegriff zugrunde, der keine Trennung von Materie und Geist zuließ und den Kosmos somit als lebendigen Organismus imaginierte, bewohnt von okkulten Kräften, in dem jedes Element zu den anderen in einem Ver­ hältnis der „Sympathie“ stand. Aus dieser Perspektive war die Natur ein Uni­ versum von Zeichen und Signaturen. Diese Zeichen und Signaturen markier­ ten unsichtbare Verwandtschaften, die es zu entziffern galt (Foucault 1971: 66 ff). Jedes Element - Kräuter, Pflanzen, Metalle und der Großteil des menschlichen Körpers - verfügte über seine eigenen verborgenen Tugenden und Vermögen. So zielte eine Vielfalt von Praktiken auf die Aneignung der Naturgeheimnisse ab, sowie darauf, die Kräfte der Natur dem menschlichen Willen zu unterwerfen. Vom Handlesen bis zur Wahrsagerei, von Amuletten bis zum Gebrauch sympathetischer Heilverfahren eröffnete die Magie ein ungeheures Spektrum an Möglichkeiten. Die Magie diente dazu, beim Kar­ tenspiel zu gewinnen, unbekannte Instrumente zu spielen, unsichtbar zu wer­ den, die Liebe eines anderen Menschen zu gewinnen, auf dem Schlachtfeld unverwundbar zu werden und Kinder schlafen zu machen (Thomas 1971; Wilson 2000). Die Ausmerzung dieser Praktiken war eine notwendige Vorbedingung der kapitalistischen Rationalisierung der Arbeit, denn die Magie erschien als unerlaubte Machtform und als Mittel, das, was man begehrte, ohne Arbeit zu erlangen: Sie war also praktische Arbeitsverweigerung. „Die Magie tötet die Industrie“ , klagte Francis Bacon und gestand, dass ihn nichts so sehr anwi­ derte wie die Annahme, dass man bereits mit einigen billigen Hilfsmitteln Ergebnisse erzielen konnte, anstatt im Schweiße seines Angesichts (Bacon 1870:381). Hinzu kam, dass die Magie auf einer qualitativen Auffassung von Raum und Zeit beruhte, die eine Regulierung des Arbeitsprozesses ausschloss. Wie konnten die neuen Unternehmer einem Proletariat ihre Arbeitsmuster auf­ zwingen, das noch an dem Glauben festhielt, es gebe glückliche und unglück­ liche Tage, also Tage, an denen man reisen könne und andere, an denen man

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lieber zuhause bleiben solle, Tage an denen man heiraten könne und andere, an denen man gut beraten sei, nichts zu unternehmen? Ebenso unvereinbar mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin war eine Vorstellung vom Kosmos, die dem Individuum besondere Kräfte zuschrieb: den magnetischen Blick und die Macht, sich selbst unsichtbar zu machen, den eigenen Körper zu verlassen oder sich den Willen eines anderen durch Zauberformeln zu unter­ werfen. Es wäre nicht weiterführend, zu untersuchen, ob diese Kräfte real oder imaginär waren. Wir können feststellen, dass in allen vorkapitalistischen Gesellschaften an sie geglaubt wurde, und dass wir in jüngerer Zeit eine Auf­ wertung von Praktiken erlebt haben, die in der in diesem Buch verhandel­ ten Zeit als Hexerei verurteilt worden wären. Erwähnt seien das wachsende Interesse an der Parapsychologie und an Biofeedback-Praktiken, die immer häufiger auch in der Mainstream-Medizin eingesetzt werden. Das Wieder­ aufleben magischer Glaubensvorstellungen ist heute möglich, weil es keine gesellschaftliche Bedrohung mehr darstellt. Die Mechanisierung des Körpers ist für das Individuum derart konstitutiv geworden, dass es zumindest in den Industrieländern keine Gefährdung des geregelten sozialen Verhaltens dar­ stellt, wenn dem Glauben an okkulte Mächte wieder mehr Raum gewährt

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wird. Auch die Rückkehr der Astrologie kann geduldet werden, denn es ist gewiss, dass auch die ergebenste Sterntafelnutzerin auf die Uhr sehen wird, bevor sie zur Arbeit geht. Für die herrschende Klasse des 17. Jahrhunderts war solche Duldsam­ keit jedoch keine Option. In der ersten, experimentellen Phase kapitalisti­ scher Entwicklung hatte es die herrschende Klasse noch nicht zur dem Grad an sozialer Kontrolle gebracht, der erforderlich gewesen wäre, um magische Praktiken zu neutralisieren, und es gab auch keine Möglichkeit, die Magie auf funktionale Weise in die Organisation des gesellschaftlichen Lebens zu inte­ grieren. Für die herrschende Klasse spielte es kaum eine Rolle, ob die Fähig­ keiten, die Menschen zu besitzen behaupteten oder anstrebten, real waren oder nicht, denn die bloße Existenz magischer Glaubensvorstellungen war bereits eine Quelle sozialer Aufsässigkeit. Nehmen wir zum Beispiel den weitverbreiteten Glauben an die Mög­ lichkeit, verborgene Schätze mithilfe von Amuletten zu entdecken (Thomas 1971: 234-237). Dieser Glauben behinderte zweifellos die Durchsetzung einer rigorosen und spontan akzeptierten Arbeitsdisziplin. Ebenso bedrohlich war der Gebrauch, den die Unterklassen von Prophezeiungen machten. Diese dienten insbesondere während des englischen Bürgerkriegs (aber auch schon im Mittelalter) zur Formulierung von Kampfprogrammen (Elton 1972: 142 ff). Prophezeiungen sind nicht bloß Ausdruck fatalistischer Resignation. Plistorisch sind sie das Mittel gewesen, durch das die „Armen“ ihre Wünsche externalisiert, ihre Pläne legitimiert und sich selbst zum Handeln angespornt haben. Hobbes erkannte dies, als er warnte: „Du weißt, daß es nichts gibt, [...] was die Menschen so trefflich in ihren Überlegungen leitet, als das Vor­ aussehen der Folgen ihrer Handlungen; die Prophezeiung ist oft die Haupt­ ursache des bereits vorher gesagten Ereignisses gewesen“ (Hobbes 1927: 273). Abgesehen von den Gefahren, die von ihr ausgingen, musste das Bürger­ tum die Macht der Magie bekämpfen, weil sie das Prinzip individueller Ver­ antwortung unterminierte. Die Magie verlagerte die Ursachen gesellschaft­ lichen Handelns in das Reich der Sterne, also außerhalb der Reichweite und Kontrolle der Menschen. So wurde die Prophezeiung im Zuge der Rationa­ lisierung von Raum und Zeit, die die philosophischen Spekulationen des 16. und 17. Jahrhunderts auszeichnete, durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung ersetzt. Deren Vorteil bestand, vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, darin, dass sich die Zukunft nur insofern antizipieren lässt, als die Regelmäßigkeit und Unveränderbarkeit des Systems angenommen wer­ den, also nur insofern, als die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird und keine bedeutende Veränderung, keine Revolution, die Koordinaten individu­ eller Entscheidungsfindung durcheinander bringt. Auf ähnliche Weise mus­ ste das Bürgertum auch die Annahme bekämpfen, dass es möglich sei, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, denn die Fixierung des Körpers im Raum und in der

i7 » Zeit, also die raumzeitliche Identifizierung des Individuums, ist eine wesentli­ che Bedingung der Regelmäßigkeit des Arbeitsprozesses.17 Ihre Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin und den Erfordernissen sozialer Kontrolle ist einer der Gründe, weshalb der Staat eine Terrorkampagne gegen die Magie lancierte. Der Terror stieß auf die uneinge­ schränkte Zustimmung vieler, die heute als Begründer des wissenschaftlichen Rationalismus gelten. Zu ihnen zählen Jean Bodin, Mersenne, der mechanizistische Philosoph und das Mitglied der Royal Society Richard Boyle sowie Newtons Lehrer Isaac Barrow.18 Selbst der Materialist Hobbes drückte seine Zustimmung aus, obgleich er auch eine gewisse Distanz wahrte. „Denn was Hexen betrifft“, schrieb er, „so glaube ich nicht, daß ihre Zauberei eine wirk­ liche Macht darstellt. Aber dennoch werden sie wegen ihres falschen Glau­ bens, daß sie solches Unheil anrichten können, der mit dem Vorsatz verbun­ den ist, dies nach Möglichkeit zu tun, rechtmäßig bestraft“ (Hobbes 1966: 17). Er fügte hinzu, dass die Menschen, wenn dieser Aberglauben einmal ausgemerzt sein sollte, „viel eher zum bürgerlichen Gehorsam geeignet [sein würden], als sie es jetzt sind“ (ebd.). Hobbes war gut beraten. Die Scheiter­ haufen, auf denen die Hexen und andere Praktiker der Magie starben, waren ebenso wie die Folterkeller, in denen sie gemartert wurden, ein Laboratorium, in dem sich einiges an sozialer Disziplin ablagerte, und in dem einiges Wis­ sen über den Körper erlangt wurde. Dort wurden jene Irrationalismen aus­ gemerzt, die der Verwandlung des Individuums und des Gesellschaftskörpers in einen Zusammenhang vorhersagbarer und kontrollierbarer Mechanismen im Wege standen. Und dort wurde der wissenschaftliche Gebrauch der Fol­ ter geboren, denn Blut und Folter waren erforderlich, um ein „Thier heran­ zuzüchten“ , das zu regelmäßigem, homogenem und gleichförmigem Verhal­ ten fähig und dem die Erinnerung an die neuen Regeln tief eingebrannt war (Nietzsche 1968: 307-308). Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang jene Verurtei­ lung von Abtreibung und Empfängnisverhütung als Formen des maleficiums, durch die der weibliche Körper - die auf eine Maschine zur Reproduktion der Arbeit reduzierte Gebärmutter - in die Hände des Staates und der Berufs­ ärzte übergeben wurde. Ich komme später noch darauf zurück: im Kapitel über die Hexenjagd, wo ich die These vertrete, dass die Verfolgung der Hexen den Höhepunkt der Eingriffe des neuzeitlichen Staates in den proletarischen Körper darstellte. An dieser Stelle sei nur betont, dass die Disziplinierung des Proletariats trotz der vom Staat eingesetzten Gewalt im 17. und bis ins 18. Jahrhundert hinein nur langsam voranschritt, und zwar aufgrund eines starken Wider­ stands, den auch die Angst vor der Hinrichtung nicht brechen konnte. Exem­ plarisch für diesen Widerstand ist ein von Peter Linebaugh in , The Tyburn Riots Against the Surgeons untersuchter Fall. Linebaugh berichtet, dass die Freunde und Angehörigen von Hingerichteten im London des frühen 18.

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Die Folterkammer. Stich aus dem Jahr 1809, aus Joseph Lavallées H is to ire s d e s in q u is it io n s r e lig ie u s e s d 'It a lie , d 'E s p a g n e e t d e P o rtu g a l.

Jahrhunderts versuchten, die Assistenten der Chirurgen davon abzuhalten, die Leiche zwecks anatomischer Studien an sich zu nehmen (Linebaugh 1975). Der K am pf um die Leiche fiel heftig aus, denn die Angst, seziert zu werden, war nicht weniger ausgeprägt als die Angst vor dem Tod. Die Sektion schloss die Möglichkeit aus, den Körper nach einer mangelhaft ausgeführ­ ten Erhängung wiederzubeleben, wozu es im England des 18. Jahrhunderts häufig kam (Linebaugh 1975: 102-104). Im Volk herrschte eine magische Auffassung vom Körper vor, der zufolge der Körper nach dem Tod weiter­ lebte und im Tod durch neue Vermögen bereichert wurde. Man glaubte, die Toten hätten die Macht, „zurückzukehren“ und sich ein letztes Mal an den Lebenden zu rächen. Darüber hinaus glaubte man auch, Leichen würden über heilsame Eigenschaften verfügen. Um den Galgen versammelten sich Mengen von Kranken, in der Erwartung, die Gliedmaßen des Toten wür­ den eine ebenso wundersame Wirkung entfalten, wie die der Berührung des Königs zugeschriebene (Linebaugh 1975: 109-110). So erschien die Sektion als eine weitere Schmach, als zweiter und noch schwerwiegenderer Tod, und die Verurteilen verbrachten ihre letzten Tage damit, sicherzustellen, dass ihr Körper nicht den Chirurgen in die Hände fiel. Dieser Kampf, der sich bezeichnenderweise am Fuße des Galgens abspielte, lässt sowohl die Gewalt erkennen, die über die wissenschaftliche Rationali­ sierung der Welt waltete, als auch den Zusammenstoß zweier einander ent­ gegengesetzter Auffassungen vom Körper, zweier gegensätzlicher Interessen an ihm. Auf der einen Seite erkennen wir einen Körperbegriff, der ihm selbst nach seinem Tod noch Macht zuschreibt: Die Leiche ruft keinen Abscheu hervor und wird nicht als etwas Verfaultes und unüberwindbar Fremdes

i8o behandelt. Dem steht ein Körperbegriff gegenüber, der den Körper bereits zu Lebzeiten als etwas Totes auffasst, insofern, als der Körper als mechanisches Gerät begriffen wird, das in seine Einzelteile zerlegt werden kann wie jedes andere auch. „Am Galgen, der an der Kreuzung der Tyburn- und der Edgware-Straßen stand, stellen wir fest, dass sich die Geschichte der Londoner Armen und die der englischen Wissenschaft kreuzen“, schreibt Linebaugh. Das war kein Zufall, so wie es auch kein Zufall war, dass der Fortschritt der Anatomie von der Fähigkeit der Chirurgen abhing, die Leichen der in Tyburn Gehängten an sich zu reißen.19 Der Verlauf der wissenschaftlichen Rationali­ sierung hing aufs Engste mit dem staatlichen Versuch zusammen, eine unwil­ lige Arbeiterschaft unter Kontrolle zu bringen. Dieser Versuch war als Quelle neuer Einstellungen zum Körper noch bedeutender als die Entwicklung der Technik. David Dickson vertritt die Position, dass sich das neue wissenschaftliche Weltbild nur metaphorisch zur zunehmenden Mechanisierung der Produktion in Beziehung setzen lässt (Dickson 1979: 24). Sicherlich boten die Uhr und die Automaten, die Descartes und seine Zeitgenossen so faszinierten (etwa die durch Hydraulik in Bewegung gesetzten Statuen), eine Vorlage für die neue Wissenschaft sowie für die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie über den Körper. Es ist auch der Fall, dass die Manufakturen ab dem 17. Jahrhundert eine Quelle anatomischer Analogien waren: Die Arme wurden als Hebel beschrieben, das Herz als Pumpe, die Lunge als Balg, die Augen als Linsen, die Faust als H am ­ mer (Mumford 1962: 32). Doch drückt sich in diesen mechanischen Meta­ phern weniger der Einfluss der Technik an sich aus als vielmehr die Tatsache, dass die Maschine zum Modell gesellschaftlichen Verhaltens wurde. Wie inspirierend das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle wirken konnte, zeigt sich selbst noch in der Astronomie. Ein klassisches Beispiel ist das Edmond Halleys (des Sekretärs der Royal Society), der zur Zeit des Erschei­ nens des nach ihm benannten Kometen im Jahr 1695 in ganz England Clubs organisierte, um die Vorhersagbarkeit von Naturphänomenen zu beweisen und den volkstümlichen Glauben zu bekämpfen, Kometen würden soziale Unruhen ankündigen. Dass sich der Pfad der wissenschaftlichen Rationa­ lisierung mit dem der Disziplinierung des Gesellschaftskörpers kreuzte, ist im Bereich der Sozialwissenschaften noch offenkundiger. Es zeigt sich, dass deren Entwicklung nicht nur die Homogenisierung des gesellschaftlichen Verhaltens zur Vorbedingung hatte, sondern auch das Konstrukt eines homo­ genen Individuums, dem alle Menschen zu entsprechen hatten. In Marx­ scher Begrifflichkeit ausgedrückt handelte es sich dabei um ein „abstraktes Individuum“, das auf gleichmäßige Weise verfasst war, als gesellschaftlicher Durchschnitt, und zugleich einem radikalen Charakterverlust unterlag, da sich seine Vermögen nur in ihren am stärksten standardisierten Aspekten begreifen ließen. Dieses Konstrukt des neuen Individuums war Grundlage der Entwicklung dessen, was William Petty später (unter Verwendung der

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Dieser deutsche Stich aus dem ein vielsa­ gendes Beispiel für die neue, mechanizistische Konzeption des Körpers. Der dargestellte Bauer ist nichts weiter als ein Produktionsmittel, dessen Kör­ per einzig aus landwirtschaftli­ chen Geräten besteht. 1 6 . Jahrhundert ist

Begrifflichkeit von Hobbes) als politische Arithmetik bezeichnen sollte: einer neuen Wissenschaft, die sämtliche Formen gesellschaftlichen Verhaltens nach Zahl, Gewicht und M aß untersucht. Verwirklicht wurde Pettys Projekt in der Entwicklung von Statistik und Demographie (Wilson 1966; Cullen 1975). Sie tun für den Gesellschaftskörper dasselbe wie die Anatomie für den Einzelkör­ per: Sie sezieren die Bevölkerung und untersuchen deren Bewegungen - von Geburten- zu Todesraten, von generationellen zu Beschäftigungsstrukturen - in ihren am stärksten vermassten und regelmäßigen Aspekten. Auch mit Bezug auf den Abstraktionsprozess, den das Individuum im Übergang zum Kapitalismus durchlief, können wir also feststellen, dass die Entwicklung der ..menschlichen Maschine“ der wichtigste Technologiesprung war, die bedeu­ tendste Etappe in jener Entwicklung der Produktivkräfte, zu der es im Zeit­ alter der ursprünglichen Akkumulation kam. Wir stellen mit anderen Worten fest, dass der menschliche Körper; und nicht etwa die Dampfmaschine oder gar die Uhr, die erste vom Kapitalismus entwickelte Maschine war. Wenn aber der Körper eine Maschine ist, dann stellt sich sofort ein Pro­ blem: Wie soll er zum Funktionieren gebracht werden? Von den Theorien der mechanizistischen Philosophie leiten sich zwei unterschiedliche Modelle der Körperregierung ab. Zum einen gibt es das kartesianische Modell, dass von der Annahme eines rein mechanischen Körpers ausgeht und die Möglichkeit postuliert, im Individuum Mechanismen der Selbstdisziplin, der Selbstfüh­

182 rung und der Selbstregulierung zu entwickeln, die freiwillige Arbeitsverhält­ nisse und eine auf dem Einvernehmen der Regierten basierende Regie­ rungsform erlauben. Zum anderen gibt es das Modell von Hobbes, das die Möglichkeit einer körperlosen Vernunft leugnet und die Befehlsfunktionen externalisiert, indem es sie der absoluten Autorität des Staates zuschreibt. Die Entwicklung einer Theorie der Selbstführung, die von der Mechani­ sierung des Körpers ausgeht, steht im Mittelpunkt der Philosophie von Descartes, der (woran wir uns erinnern sollten) seine intellektuelle Ausbildung nicht im Frankreich des monarchischen Absolutismus abschloss, sondern in jenem bürgerlichen Holland, das seinem Geist so sehr entsprach, dass er es zu seiner Wahlheimat machte. Die kartesianische Doktrin verfolgt einen dop­ pelten Zweck: Sie soll leugnen, dass das menschliche Verhalten von externen Faktoren beeinflusst werden kann (etwa von den Sternen oder himmlischen Intelligenzen), und sie soll die Seele von jeglicher Form körperlicher Kondi­ tionierung befreien, um sie in die Lage zu versetzen, eine unbeschränkte Sou­ veränität über den Körper auszuüben. Descartes glaubte, dass er beide Zwecke erreichen konnte, indem er den mechanischen Charakter tierischen Verhaltens bewies. Nichts, behauptete er in Le Monde (1633), ist Ursache so vieler Fehlannahmen wie der Glaube, Tiere hätten eine Seele wie wir. In Vorbereitung auf seine Abhandlung Uber den Menschen verbrachte er daher viele Monate mit dem Studium der Anato­ mie tierischer Organe. Jeden Morgen ging er zum Fleischer, um die Viertei­ lung der Tiere zu beobachten.20 Er nahm sogar selbst zahlreiche Vivisektio­ nen vor, wobei ihn wahrscheinlich sein Glaube tröstete, die von ihm sezierten Tiere seien „bar jeder Vernunft“ und könnten daher keinen Schmerz empfin­ den (Rosenfield 1968: 8).21 Den vernunftlosen Charakter der Tiere beweisen zu können war für Descartes wesentlich, denn er war überzeugt, dass er auf diese Weise die Ant­ worten auf seine Fragen nach dem Ort, Wesen und Ausmaß der das mensch­ liche Verhalten beherrschenden Macht finden würde. Er glaubte, das sezierte Tier werde ihm den Beweis liefern, dass der Körper nur zu mechanischen, unwillkürlichen Handlungen fähig und daher für die Person nicht konstitu­ tiv, dass das menschliche Wesen also in rein immateriellen Vermögen ange­ siedelt sei. Auch der menschliche Körper war für Descartes ein Automat. Was aber „den“ Menschen vom Tier unterschied und „ihm“ die Herrschaft über seine Umgebung verlieh, war Descartes zufolge die Existenz des Denkens. So taucht die Seele, die Descartes aus dem Kosmos und der Sphäre des Körper­ lichen entfernt hat, im Zentrum der Philosophie wieder auf, ausgestattet mit unbegrenzter Macht und unter dem Deckmantel der individuellen Vernunft sowie des individuellen Willens. In eine seelenlose Welt und eine Körper-Maschine versetzt, konnte der kartesianische Mensch, wie Prospero, seinen Zauberstab zerbrechen und nicht nur die Verantwortung für seine eigene Handlungen übernehmen, son-

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J. Case, C o m p e n d iu m a n a to m ic u m (1606). Mit dem „mechanischen Men­ schen" kontrastiert dieser „pflanzli­ che Mensch", in dem die Blutgefäße als Zweige dargestellt werden, die aus dem menschlichen Körper herauswachsen.

dem scheinbar auch zum Mittelpunkt sämtlicher Vermögen werden. Indem es von seinem Körper geschieden wurde, ging das rationale Selbst fraglos sei­ ner Solidarität mit der körperlichen Realität und der Natur verlustig. Seine Einsamkeit sollte aber die eines Königs sein: Im kartesianischen Modell der Person gibt es keinen egalitären Dualismus des denkenden Kopfes und der Körper-Maschine, sondern nur ein Verhältnis von Herrschaft und Knecht­ schaft, besteht doch die Hauptaufgabe des Willens darin, den Körper und die natürliche Welt zu beherrschen. Im kartesianischen Modell der Vernunft zeigt sich uns also eben die Zentralisierung der Befehlsfunktionen, die sich im gleichen Zeitraum auch auf der Ebene des Staates vollzog: So, wie die Aufgabe des Staates darin bestand, den Gesellschaftskörper zu beherrschen, wurde der Geist in der neuen Persönlichkeit zum Souverän. Descartes räumt ein, dass die Überlegenheit des Geistes über den Kör­ per nicht leicht zu erreichen sei, da sich die Vernunft ihren inneren Wider­ sprüchen stellen müsse. So bringt er in den Leidenschaften der Seele (1649) die Aussicht auf einen dauerhaften K am pf zwischen niederen und höheren Fakultäten ins Spiel. Der K am pf entscheidet sich auf geradezu militärische Weise: Descartes appelliert an unsere Tapferkeit und besteht darauf, dass wir

184 uns geeignete Waffen zulegen müssen, um den Angriffen unserer Leiden­ schaften standzuhalten. Wir müssten bereit sein, zeitweilige Niederlagen in K auf zu nehmen, da unser Wille nicht unbedingt immer in der Lage sei, die Leidenschaften zu veredeln oder ihnen Einhalt zu gebieten. Der Wille könne die Leidenschaften aber auch neutralisieren, indem er die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkt; außerdem könne er die Bewegungen, zu denen die Leidenschaften den Körper veranlassen, unterdrücken. Mit anderen Worten: Der Wille könne die Leidenschaften daran hindern, Taten zu werden (Descartes 1911: 24-25). Durch die Einführung eines hierarchischen Verhältnisses von Geist und Körper lieferte Descartes die theoretischen Prämissen jener Arbeitsdisziplin, die der sich entwickelnde Kapitalismus benötigte. Denn die Überlegenheit des Geistes über den Körper beinhaltet, dass der Wille (jedenfalls prinzipiell) die Bedürfnisse, Reaktionen und Reflexe des Körpers kontrollieren kann. Er kann den Vitalfunktionen des Körpers Regelmäßigkeit und Ordnung verlei­ hen und den Körper zwingen, unabhängig von seinen Begierden in Überein­ stimmung mit externen Bestimmungen zu arbeiten. Vor allem aber erlaubt die Überlegenheit des Willens die Verinnerlichung von Machtmechanismen. So besteht das Gegenstück zur Mechanisierung des Körpers in der Entwicklung der Vernunft zum Richter, Inquisitor, Leiter und Verwalter. Wir stoßen hier auf die Ursprünge der bürgerlichen Subjektivi­ tät als Selbstführung, Selbstbesitz, Gesetz und Verantwortlichkeit, mitsamt ihrer Korollarien des Gedächtnisses und der Identität. Wir stoßen außerdem auf die Ursprünge jener Ausbreitung von „Mikromächten“, die Michel Foucault in seiner Kritik des juridisch-diskursiven Machtmodells beschrieben hat (Foucault 1977). Das kartesianische Modell zeigt jedoch, dass die Macht nur insofern dezentral sein und durch den Gesellschaftskörper diffundieren kann, als sie in der Person neu zentriert wird, wodurch die Person zu einem MikroStaat wird. Mit anderen Worten: Die Macht verliert dadurch, dass sie diffun­ diert, nicht ihren Vektor - ihren Inhalt und ihre Ziele -, sondern sie profi­ tiert bei der Durchsetzung dieser Ziele lediglich von der Zuarbeit des Selbst. Es lohnt sich, eine These von Brian Easlea vor diesem Hintergrund zu diskutieren. Easlea zufolge bestand der Hauptnutzen des kartesianischen Dualismus für die kapitalistische Klasse in der christlichen Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele sowie in der Möglichkeit, den in der Naturmagie impliziten, mit subversiven Implikationen aufgeladenen Atheismus zu über­ winden (Easlea 1980: 132 ff). Zur Bekräftigung seiner These verweist Easlea darauf, dass die Verteidigung der Religion ein zentrales Thema des Kartesia­ nismus war, der insbesondere in seiner englischen Ausprägung nie vergessen habe, dass es „ohne Geist keinen Gott und ohne Bischof keinen König gibt“ (Easlea 1980: 203). Easleas Argumentation ist anregend, doch ihre Beto­ nung der „reaktionären“ Aspekte des kartesianischen Denkens macht es ihm unmöglich, eine von ihm selbst aufgeworfene Frage zu beantworten: Warum

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blieb der Kartesianismus in Europa so gefestigt, auch nachdem die Physik Newtons den Glauben an eine natürliche Welt voller okkulter Mächte aus­ geräumt hatte, und warum blieb der Kartesianismus auch nach dem Auf­ stieg der religiösen Toleranz für das vorherrschende Weltbild prägend? Mir scheint, dass die Beliebtheit, derer sich der Kartesianismus in den Mittel- und Oberschichten erfreute, unmittelbar mit dem von der Philosophie des Des­ cartes vertretenen Programm der Selbstbeherrschung zusammenhing. Dieses Programm war in seinen sozialen Implikationen für die zeitgenössische Elite ebenso bedeutend wie die hegemoniale Beziehung von Mensch und Natur, die der kartesianische Dualismus legitimiert. Die Entwicklung der Selbstführung (Selbstregierung, Selbstentwick­ lung) wird zum wesentlichen Erfordernis eines kapitalistischen sozio-ökonomischen Systems, in dem der Selbstbesitz als fundamentales gesellschaftli­ ches Verhältnis gilt und die Disziplin nicht mehr nur auf äußerlichem Zwang beruht. Die gesellschaftliche Bedeutung der kartesianischen Philosophie liegt zum Teil darin, dass sie eine intellektuelle Rechtfertigung dieses Systems lie­ ferte. Der von Descartes entwickelten Theorie der Selbstführung gelang es, die aktive Seite der Naturmagie zugleich zu besiegen und zu vereinnahmen. Die unvorhersehbare Macht des Magiers (die auf der subtilen Manipulation astraler Einflüsse und Korrespondenzen beruht) wird durch eine weitaus pro­ fitablere Macht ersetzt: eine Macht, für die niemand seine Seele verpfänden muss, und die einzig aus der Verwaltung und Beherrschung sowohl des eige­ nen Körpers als auch, daran anschließend, der Körper anderer Menschen resultiert. Wir können Easlea also nicht folgen, wenn er (eine von Leibniz formulierte Kritik aufgreifend) behauptet, dem Kartesianismus sei es nicht gelungen, die eigenen Lehrsätze in praktische Vorgaben zu übersetzen. Eas­ lea zufolge ist es dem Kartesianismus nicht gelungen, die Philosophen - vor allem aber die Kaufleute und Manufakturbesitzer - vom Nutzen seines Ver­ suchs zu überzeugen, die Materie der Welt zu kontrollieren (Easlea 1980: 151). Dem Kartesianismus mag es nicht gelungen sein, seine Vorgaben in ein technisches Programm zu übersetzen. Er lieferte nichtsdestotrotz Hin­ weise, die für die Entwicklung einer „Menschentechnik“ wertvoll waren. Seine Einsichten in die Dynamiken der Selbstkontrolle sollten zum Aufbau eines neuen Modells der Person führen, in dem das Individuum als Herr und Knecht zugleich fungiert. Wenn sich die Doktrin des Descartes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in ganz Europa verbreitete und selbst den Aufstieg der vitalistischen Biologie sowie die allmähliche Überholung des mechanizistischen Paradigmas überlebte, dann lag das daran, dass sie die Erfordernisse der kapitalistischen Arbeitsdisziplin so vorzüglich interpretiert hatte. Am deutlichsten geben sich die Gründe für den Triumph des Descar­ tes zu erkennen, wenn wir seine Darstellung der Person mit der seines engli­ schen Rivalen Thomas Hobbes vergleichen. Der biologische Monismus von

i86 Hobbes weist das dem kartesianischen Personenbegriff zugrundeliegende Postulat eines immateriellen Geistes oder einer immateriellen Seele zurück. Damit wird auch die kartesianische Annahme zurückgewiesen, der mensch­ liche Wille könne sich vom Determinismus des Körpers und der Instinkte befreien.22 Nach Hobbes ist das menschliche Verhalten ein Konglomerat von Reflexhandlungen, die präzisen Naturgesetzen folgen und das Individuum dazu antreiben, fortwährend nach Macht und Herrschaft über andere zu stre­ ben (Hobbes 1966: 39 ff.). Daher der Krieg aller gegen alle (ein hypotheti­ scher Naturzustand) und die Notwendigkeit einer absoluten Herrschaft, die durch Furcht und Strafe das Überleben des Individuums in der Gesellschaft garantiert. „Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheiden­ heit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften ent­ gegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähn­ lichem verleiten.“ (Hobbes 1966: 131) Bekanntlich sorgte die politische Doktrin von Hobbes unter seinen Zeitge­ nossen für einen Skandal. Sie wurde für derart gefährlich und subversiv gehal­ ten, dass Hobbes, trotz seiner Zurückweisung dieser Vorwürfe, niemals in die Royal Society aufgenommen wurde (Bowle 1952: 163). Nicht das Modell von Hobbes, sondern das kartesianische setzte sich durch, drückte es doch die bereits wirksame Tendenz aus, die Mechanismen der sozialen Disziplin dadurch zu demokratisieren, dass dem individuellen Willen jene Kommandofunktion übertragen wird, die bei Hobbes einzig und allein dem Staat zukommt. Viele Kritiker von Hobbes bestanden darauf, dass die Grundlagen der öffentlichen Disziplin in den Herzen der Menschen lie­ gen müssten, führe das Fehlen einer inneren Gesetzgebung die Menschen doch unweigerlich zur Revolution (Bowle 1952: 97-98). „Bei H obbes“ , klagte Henry Moore, „gibt es keinerlei Willensfreiheit und daher auch keine Reue des Gewissens oder des Verstandes, sondern nur das, was dem mit dem längsten Schwert gefällt“ (zit. n. Easlea 1980: 159). Deutlichere Worte fand Alexander Ross, der die Beobachtung anstellte, dass es die „Drosselung durch das Gewissen“ sei, die die Menschen „von der Rebellion abhalte. Es gibt kein äußeres Gesetz und keine äußere Macht, die stärker wäre. [...] Es gibt keinen strengeren Richter, keinen grausameren Folterer als ein vorwurfsvolles Gewis­ sen“ (zit. n. Bowle 1952: 167). Die zeitgenössische Kritik am Atheismus von Hobbes ging eindeutig nicht nur auf religiöse Motive zurück. Seine Vorstellung vom Individuum als einer Maschine, die einzig von ihren Begierden und Abneigungen in Bewe­ gung gesetzt wird, wurde nicht etwa abgelehnt, weil sie die Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes verwarf, sondern weil sie die Möglichkeit einer Form sozialer Kontrolle ausschloss, die nicht vollständig auf die eiserne

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Herrschaft des Staates angewiesen ist. Hier liegt meiner Ansicht nach der Hauptunterschied zwischen der Philosophie von Hobbes und dem Karte­ sianismus. Das muss aber solange übersehen werden, wie darauf bestanden wird, die feudalen Elemente der Philosophie von Descartes zu betonen, ins­ besondere ihre Verteidigung der Existenz Gottes, mit allem, was daraus folgt (etwa die Verteidigung der Staatsmacht). Wenn wir das Feudale bei Descartes in den Vordergrund rücken, dann entgeht uns die Tatsache, dass die Besei­ tigung des religiösen Elements bei Hobbes (d. h. die Beseitigung des Glau­ bens an körperlose Substanzen) tatsächlich eine Antwort auf die im kartesianischen M odell implizite Demokratisierung darstellte, der Hobbes zweifellos misstraute. Der Aktivismus der puritanischen Sekten während des englischen Bürgerkriegs hatte gezeigt, dass Selbstbeherrschung leicht in ein subversives Vorhaben Umschlägen konnte. Denn der Appell der Puritaner, die Regulie­ rung des eigenen Verhaltens wieder dem Gewissen des Individuums zu über­ antworten und das eigene Gewissen zur letztgültigen Instanz der Wahrheits­ findung zu machen, war von den Sektenanhängerinnen radikalisiert und zu einer anarchischen Zurückweisung der etablierten Autorität gemacht wor­ den.23 Das Beispiel der Diggers und Ranters, aber auch der zahllosen mecha­ nischen Prediger, die sich im Namen des „Gewissenslichtes“ sowohl gegen die staatliche Gesetzgebung als auch gegen das Privateigentum gewandt hatten, muss Hobbes überzeugt haben, dass es sich beim Appell an die „Vernunft“ um eine gefährliche, zweischneidige Waffe handelt.24 Der Konflikt zwischen dem kartesianischen „Theismus“ und dem „Materialismus“ von Hobbes sollte im Laufe der Zeit durch deren wechsel­ seitige Assimilierung gelöst werden, in dem Sinne, dass (wie immer in der Geschichte des Kapitalismus) die Dezentralisierung der Kommandomecha­ nismen durch ihre Verlagerung ins Individuum schlussendlich nur in dem Ausmaß erreicht wurde, in dem es gleichzeitig auch zu einer Zentralisierung der Staatsmacht kam. Um diese Lösung in der Begrifflichkeit zu formulieren, derer sich die Disputanten im englischen Bürgerkrieg bedienten: Es obsieg­ ten „weder die Diggers noch der Absolutismus“, sondern es kam zu einer sorgfältig abgewogenen Mischung aus beidem. Die Demokratisierung des Kommandos ruhte auf den Schultern eines Staates, der, wie Newtons Gott, stets bereit war, jene Seelen wieder zur Ordnung zu rufen, die auf dem Weg der Selbstbestimmung zu weit gingen. Joseph Glanvil, ein kartesianisches Mitglied der Royal Society, benannte hellsichtig, worauf es ankam: In einer Polemik gegen Hobbes sagte er, die entscheidende Frage sei die Kontrolle des Geistes über den Körper. Das beinhaltete jedoch nicht nur die von der herr­ schenden Klasse (dem Geist p ar excellence) über den Proletariats-Körper aus­ geübte Kontrolle, sondern auch die ebenso wichtige Entwicklung der Fähig­ keit zur Selbstkontrolle innerhalb der Person. Die Mechanisierung des Körpers ging, wie Foucault gezeigt hat, nicht nur mit der Unterdrückung von Wünschen, Emotionen und auszumerzen­

i88 den Verhaltensformen einher. Sie beinhaltete auch die Entwicklung neuer Vermögen innerhalb des Individuums, die sich zum Körper als J9Anderes“ ver­ halten und die Agenten seiner Transformation werden sollten. Das Ergebnis dieser Entfremdung vom Körper bestand mit anderen Worten in der Ent­ wicklung einer individuellen Identität, die gerade als ein „Anderes“ des Kör­ pers aufgefasst wurde, das in einem permanent antagonistischen Verhältnis zu ihm steht. Wir haben es bei der Herausbildung dieses Alter Ego und dem Instaurieren eines historischen Konflikts zwischen Geist und Körper mit der Geburt des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft zu tun. Es sollte zu einem typischen Merkmal des von der kapitalistischen Arbeitsdisziplin geprägten Individuums werden, dass es seinem Körper als einer fremden Realität gegen­ übersteht, die es zu beurteilen, zu entwickeln und in Zaum zu halten gilt, um die von ihr gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Die Entwicklung der Selbstführung als Selbstdisziplin blieb für die „Unterklassen“ wie gesagt lange Zeit ein bloßer Gegenstand der Spekulation. Wie wenig Selbstdisziplin von den „gemeinen Leuten“ erwartet wurde, lässt sich an der Tatsache ersehen, dass es in England bis ins 18. Jahrhundert 160 Verbrechen gab, die mit dem Tod bestraft wurden (Linebaugh 1992). Jedes Jahr wurden tausende von „gemeinen Leuten“ in die Kolonien verschickt oder zum Tod durch den Strick verurteilt. Hinzu kam, dass die Bevölke­ rung, wenn sie selbst Appelle an die Vernunft formulierte, dies nur tat, um antiautoritären Forderungen Ausdruck zu verleihen. Denn auf der populä­ ren Ebene bedeutete Selbstbeherrschung weniger die Verinnerlichung sozialer Herrschaft als vielmehr die Zurückweisung der etablierten Autorität. Tatsächlich blieb die Selbstführung das gesamte 17. Jahrhundert hin­ durch ein Vorrecht des Bürgertums. Easlea weist darauf hin, dass sich die Philosophen, wenn sie vom „Menschen“ als rationales Wesen sprachen, aus­ schließlich auf eine kleine Elite weißer, erwachsener Männer aus der Ober­ schicht bezogen. „Die große Masse der Menschen“, schrieb Henry Power, ein englischer Kartesianer, „gleicht eher den Automaten des Descartes, verfügen sie doch über keinerlei Vernunft, und sie können nur im metaphorischen Sinne als Menschen bezeichnet werden“ (Easlea 1980: 140).25 Die „Besseren“ waren sich darüber einig, dass es sich beim Proletariat um eine andere „Rasse“ handelte als ihre eigene. Aus ihrer von der Angst argwöhnisch gemachten Sicht war das Proletariat ein „großes Tier“, ein „vielköpfiges Ungeheuer“: wild, lärmend und zu allerlei Exzessen neigend (Hill 1975: 181 ff; Linebaugh und Rediker 2008). Auch auf der individuellen Ebene wurden die Massen durch ein gebetsmühlenartig vorgetragenes Vokabular als rein instinkthafte Wesen bezeichnet. So ist der Bettler in der elisabethanischen Literatur stets „herzhaft“. „Rüstig“, „derb“, „hitzköpfig“ und „liederlich“ sind die in Äuße­ rungen zur Unterklasse stets wiederkehrenden Adjektive.

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Der Körper verlor dabei nicht nur alle naturalistischen Konnotationen, sondern es bildete sich auch eine Körperfunktion heraus, das heißt der Kör­ perbegriffwurde rein relational. Er bezog sich nicht mehr auf eine eigenstän­ dige Realität, sondern vielmehr auf etwas, das der Herrschaft der Vernunft im Wege steht. Das bedeutete, dass nicht nur das Proletariat zu einem „Kör­ per“ wurde, sondern der Körper wurde auch „das Proletariat“ . Das galt ins­ besondere für den schwachen, irrationalen weiblichen Körper („Schwachheit, dein N am ‘ ist Weib!“, wie Hamlet sagen sollte) sowie für den „wilden“ afri­ kanischen. Einzig über ihre begrenzende Funktion bestimmt, also über ihren Charakter als „Anderes“ der Vernunft, wurden sie als Agenten des inneren Umsturzes behandelt. Der K am pf gegen dieses „große Tier“ richtete sich jedoch nicht aus­ schließlich gegen die „niedere Sorte von Menschen“. Er wurde auch von den herrschenden Klassen verinnerlicht: als Kampf, den sie gegen ihren eigenen „natürlichen Zustand“ führten. Wie wir gesehen haben, musste das Bürger­ tum, ganz wie Prospero, gestehen: ,,[W]as dieses Geschöpf der Finsterniß betrift, so muß ich bekennen, daß es mir zugehört.“ Das Bürgertum mus­ ste also anerkennen, dass Caliban ein Teil von ihm war (Brown 1988; Tyllard 1961: 34-35). Das Bewusstsein davon durchzieht die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Die dabei verwendete Terminologie ist aufschlussreich. Auch diejenigen, die keine Anhänger von Descartes waren, betrachteten den Körper als Tier, das es beständig in Zaum zu halten galt. Seine Instinkte wur­ den mit „Untergebenen“ verglichen, die es zu „regieren“ galt, und die Sinne galten als Gefängnis der vernunftbegabten Seele. „Oh, wer wird die Seele befreien Aus diesem dunklen Verlies, Gefangen in vielfacher Weise In einem Kerker aus Knochen?“ fragte Andrew Marvell in seinem „Dialog zwischen Körper und Seele“ . „Geblendet von Augen, die sehen, Betäubt von Ohren, die hören. Gefesselt an Händen und Füßen, Die Seele in Ketten gelegt Aus Venen, Arterien und Nerven [...].“ (Zit. n. Hill 1964b: 345) Der Widerstreit von Begierde und Vernunft war ein Schlüsselthema der elisabethanischen Literatur (Tillyard 1961: 75). Unter den Puritanerinnen ver­ breitete sich derweil die Vorstellung, dass jeder Mensch den „Antichrist in sich berge. Gleichzeitig kreisten die von der „mittleren Sorte von Menschen“ geführten Debatten um Bildung und das „Wesen des Menschen“ um den Körper/Geist-Konflikt. Dabei wurde die entscheidende Frage aufgeworfen,

190 ob die Menschen über einen freien Willen verfügen oder einem Determinis­ mus unterliegen. Die Bestimmung eines neuen Verhältnisses zum Körper verblieb jedoch nicht auf rein ideologischer Ebene. Im Alltag zeigten zahlreiche neue Prak­ tiken die weitreichende Veränderung auf, die sich in diesem Bereich ereig­ nete. Dazu gehörten die Verwendung von Tischbesteck, die Entwicklung eines durch Nacktheit ausgelösten Schamgefühls und die „Manieren“, die zu regeln versuchten, wie man lachte, ging, nieste, wie man sich am Tisch ver­ hielt und wann man singen, scherzen, spielen durfte (Elias 1997: Bd. 1, 132 ff). Das Individuum sagte sich zunehmend vom Körper los, und der Körper wurde zum Gegenstand beständiger Überwachung, als handle es sich bei ihm um einen Feind. Der Körper begann, Angst und Abscheu zu erwecken. „Der Körper des Menschen ist voller Schmutz“, erklärte Jonathan Edwards, des­ sen Einstellung typisch für die puritanische Praxis ist, in der der Körper täg­ lich unterworfen wurde (Greven 1977: 67). Als besonders abstoßend galten diejenigen Körperfunktionen, die „Menschen“ unmittelbar mit ihrer „Tierhaftigkeit“ konfrontieren. Ein Beispiel dafür bietet Cotton Mather, der sei­ nem Tagebuch anvertraute, wie gedemütigt er sich gefühlt habe, als er eines Tages gegen eine Mauer uriniert und dabei festgestellt habe, dass ein Hund dasselbe tat: „D a dachte ich: Wie ekelhaft und gemein sind doch die Menschenkin­ der in diesem sterblichen Zustand. Wie sehr werden wir von unseren natürlichen Bedürfnissen erniedrigt, so dass wir in mancher Hinsicht nicht besser als die Hunde sind. [...] So beschloss ich, dass es meine täg­ liche Praxis werden sollte, in meinem Geist immer dann, wenn ich dem R uf des einen oder anderen natürlichen Bedürfnisses folge, einen heili­ gen, noblen und göttlichen Gedanken zu bilden.“ (Ebd.) Die große medizinische Leidenschaft des Zeitalters, die Analyse der Exkre­ mente - aus der zahlreiche Schlüsse über die psychologischen Neigungen des Individuums (seine Tugenden und Laster) gezogen wurden (Hunt 1970: 143-146) - , lässt sich ebenfalls auf diese Vorstellung vom Körper als Gefäß voller Schmutz und verborgener Gefahren zurückführen. In der zwanghaf­ ten Beschäftigung mit den menschlichen Ausscheidungen spiegelte sich frag­ los auch der Ekel, den die Mittelschicht angesichts der nicht-produktiven Aspekte des Körpers empfand - ein Ekel, der in einer städtischen Umgebung unweigerlich noch akzentuiert wird, da Exkremente dort ein logistisches Pro­ blem darstellen, abgesehen davon, dass sie als reiner Abfall erscheinen. Doch gibt sich in dieser zwanghaften Beschäftigung auch das bürgerliche Bedürf­ nis zu erkennen, die Körper-Maschine zu regulieren und von allen Elementen zu befreien, die ihre Tätigkeit stören und die Verausgabung von Arbeitskraft durch „tote Zeit“ unterbrechen könnten. Exkremente wurden deswegen so ausführlich analysiert und so stark abgewertet, weil sie das Symbol der „üblen Säfte“ waren, die man im Körper vermutete, und denen man sämtliche per-

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verse Neigungen der Menschen zuschrieb. Den Puritanern wurden Exkre­ mente zum sichtbaren Zeichen der Korruption der menschlichen Natur: zu einer Art Erbsünde, die bekämpft, unterworfen, exorziert werden musste. Daher die Abführmittel, Brechmittel und Klistiere, die Kindern oder „Beses­ senen“ verabreicht wurden, um sie zur Ausscheidung ihrer Teufeleien zu ver­ anlassen (Thorndike 1958: 553 ff). In diesem zwanghaften Versuch, selbst noch die intimsten Winkel des Körpers zu erobern, zeigt sich uns ein Widerschein der Leidenschaft, mit der das Bürgertum in den gleichen Jahren jenes fremde, gefährliche, unproduk­ tive Wesen zu erobern —wir könnten auch sagen: zu „kolonisieren“ —ver­ suchte, als das ihm das Proletariat erschien. Denn das Proletariat war der große Caliban des Zeitalters. Der Proletarier war das „an sich rohe und unge­ hobelte materielle Wesen“, von dem Petty empfahl, es dem Staat zu überant­ worten, damit der es in seiner Voraussicht „verbessern, verwalten und vorteil­ haft gestalten“ könne (Furniss 1957: 17 ff). Das Proletariat war, ebenso wie Caliban, die Verkörperung jener „üblen Säfte“, die sich im Gesellschaftskörper verbargen, angefangen mit den wider­ lichen Ungeheuern des Müßiggangs und der Trinksucht. Sein Leben war, in den Augen seiner Herrn, reine Trägheit, doch war es zugleich auch unkont­ rollierte Leidenschaft und ungezügelte Fantasie, stets bereit, sich in aufrühre­ rischer Unruhe zu entladen. Vor allem war es Disziplinlosigkeit, Mangel an Produktivität, Zügellosigkeit, Begierde nach sofortiger körperlicher Befriedi­ gung; seine Utopie war nicht ein arbeitsames Leben, sondern das Schlaraffen­ land (Burke 1978; Graus 1987),26 wo die Häuser aus Zucker und die Flüsse aus Milch waren, und wo man nicht nur ohne Mühe das bekam, was man wünschte, sondern fürs Essen und Trinken auch noch bezahlt wurde: „Indem man eine Stunde tief schläft ohne aufzuwachen verdient man sechs Franken; trinkt man reichlich verdient man sich eine Pistole; es ist dies ein lustiges Land in dem man zehn Franken am Tag verdient wenn man sich liebt.“ (Burke 1978: 190) Es muss als aussichtsloses Unterfangen erschienen sein, dieses träge Wesen, das sich das Leben als langen Karneval vorstellte, in einen unermüdlichen Arbeiter zu verwandeln. Das bedeutete nicht geringeres, als „die Welt auf den Kopf zu stellen“, allerdings auf durch und durch kapitalistische Weise. Die Unempfänglichkeit für Befehle sollte zu einem Mangel an Begierde und selb-

192 ständigem Willen, die vis erótica zur vis lavorativa werden, und Bedürfnisse sollten nur als Mangel, Abstinenz und ewige Bedürftigkeit erfahrbar sein. Daher dieser Kam pf gegen den Körper, der die erste Phase der kapitalisti­ schen Entwicklung auszeichnet und in verschiedenen Formen bis auf unsere Tage angehalten hat. Daher die Mechanisierung des Körpers, die das Projekt der neuen Naturphilosophie war und im Mittelpunkt der ersten Experimente in Sachen Staatsorganisation stand. Wenn wir unser Augenmerkt von den Hexenverfolgungen auf die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie und die akribische Untersuchung individueller Talente durch die Puritaner richten, dann erkennen wir den roten Faden, der die scheinbar unzusammen­ hängenden Entwicklungspfade der Sozialgesetzgebung, der religiösen Reform und der wissenschaftlichen Rationalisierung des Universums verbindet. Es ging um den Versuch, die menschliche Natur zu rationalisieren. Ihre Ver­ mögen mussten umgeleitet und der Entwicklung und Herausbildung der Arbeitskraft untergeordnet werden. Wie wir gesehen haben, wurde der Körper im Zuge dieses Prozesses zunehmend politisiert. Er ging seiner Natürlichkeit verlustig und wurde als das „Andere“ bestimmt, als die Außengrenze der gesellschaftlichen Disziplin. So markiert die Geburt des Körpers im 17. Jahrhundert zugleich auch sein Ende, denn der Körperbegriff bezog sich nicht mehr auf eine spezifische orga­ nische Realität, sondern wurde zu einem politischen Signifikanten, der auf Klassenverhältnisse und auf die unsteten, stets neu gezogenen Grenzlinien verwies, die diese Verhältnisse in der Kartographie menschlicher Ausbeutung hervorbrachten. Anmerkungen 1.

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Prospero ist ein „neuer Mensch“. Shakespeare schreibt Prósperos Unglück didakti­ scher Weise einem übermäßigen Interesse an magischen Schriften zu. Schlussend­ lich entsagt Prospero diesem Interesse, um sich aktiver in sein Heimatreich ein­ zubringen und seine Macht nicht mehr aus magischen Quellen, sondern aus der Regierung seiner Untergebenen zu beziehen. Doch deutet sich bereits in den Tätig­ keiten, denen er auf der Insel seines Exils nachgeht, eine neue Weltordnung an, in der die Macht nicht mehr aus einem Zauberstab entspringt, sondern aus der Ver­ sklavung vieler Calibane in entlegenen Kolonien. Durch seinen ausbeuterischen Umgang mit Caliban antizipiert Prospero die Rolle des zukünftigen Plantagenbesit­ zers, der auf keine Folter und keine Qual verzichten wird, um seine Untergebenen zur Arbeit zu zwingen. ,,[J]eder Mensch ist sich selbst der größte Feind, und gleichermaßen sein eigener Henker“, schreibt Thomas Browne. Auch Pascal erklärt in den Pensées: „Der innere Krieg der Vernunft gegen die Leidenschaften hat gemacht, daß die, welche den Frieden haben wollten, sich in zwei Parteien getheilt haben. Die einen wollten den Leidenschaften entsagen und Götter werden, die andern wollten der Vernunft ent­ sagen und Thiere werden. Aber sie haben es nicht gekonnt, weder die Einen noch die Andern; die Vernunft bleibt immer und klagt die Niedrigkeit und Ungerech­ tigkeit der Leidenschaften an und stört die Ruhe derer, die sich hingeben, und die Leidenschaften sind immer lebendig, in denen selbst, die ihnen entsagen wollen“

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(Pascal 1840: 231). Zum Widerstreit der Leidenschaften und der Vernunft sowie zu den Korrespondenzen zwischen dem menschlichen „Mikrokosmos“ und dem „politischen Körper“ in der elisabethanischen Literatur siehe Tillyard (1961: 73-79, 94-99). Die Reform der Sprache - von Bacon bis Locke ein Schlüsselthema der Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts - war eines der Hauptinteressen von Joseph Glanvil. In Vanity o f Dogmatizing (1663) fordert Glanvil, nachdem er sich zu einem Anhänger des kartesianischen Weltbildes erklärt hat, die Entwicklung einer Spra­ che, die geeignet ist, klar unterscheidbare Entitäten zu bezeichnen (Glanvil 1970: xxvi-xxx). In seiner Einleitung zu Glanvils Werk fasst S. Medcalf diese Forderung wie folgt zusammen: Eine zur Beschreibung einer solchen Welt geeignete Sprache würde weitgehend der Mathematik ähneln, über Worte von überaus allgemeiner und deutlicher Bedeutung verfügen, das Universum entsprechend seiner logischen Struktur abbilden, deutlich zwischen Geist und Materie sowie zwischen dem Sub­ jektiven und dem Objektiven unterscheiden und schließlich „Metaphern als Mit­ tel der Erkenntnis und der Beschreibung meiden, da sie auf der Annahme beruhen, das Universum bestehe nicht aus sauber voneinander geschiedenen Entitäten und lasse sich daher in deutlichen und positiven Begriffen nicht vollständig beschreiben“ (Glanvil 1970: xxx). Marx unterscheidet in seinen Ausführungen zur „Freisetzung der Arbeitskraft“ nicht zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Es besteht jedoch Anlass, bei der Beschrei­ bung dieses Vorgangs an der männlichen Form („Arbeiter“) festzuhalten: Frauen wurden zwar aus der Allmende „freigesetzt“, doch sie wurden nicht dem Lohnar­ beitsmarkt zugeführt. ,,[D]aß ich / Im Schweiße nun mein Brod erwerben soll! / Ist dies so arg, der Müßig­ gang wär’ ärger; / Die Arbeit wird mich immerdar erhalten“ (Milton, Das verlorene Paradies, 10. Gesang). Christopher Hill weist daraufhin, dass die Lohnarbeit noch bis zum 15. Jahrhundert als Freiheitsgewinn hätte erscheinen können, da die Menschen weiterhin Zugang zur Allmende und zu eigenem Boden hatten und also nicht vollständig auf Lohneinkom­ men angewiesen waren. Bis zum 16. Jahrhundert waren die Lohnarbeiter jedoch ent­ eignet worden. Hinzu kam, dass die Arbeitgeber darauf bestanden, die Löhne hätten lediglich ergänzenden Charakter. So konnten die Löhne auf dem niedrigsten Niveau gehalten werden. Gegen Lohn zu arbeiten bedeutete also, ans unterste Ende der sozi­ alen Rangordnung hinabzustürzen, und die Menschen kämpften verzweifelt darum, diesem Schicksal zu entgehen (Hill 1975: 220-222). Bis zum 17. Jahrhundert wurde die Lohnarbeit noch als Form der Sklaverei angesehen. Die Levellers schlossen Lohn­ arbeiter sogar vom Wahlrecht aus, weil sie der Ansicht waren, wer auf einen Lohn angewiesen sei, verfüge nicht über die zur Wahl eines politischen Vertreters erforder­ liche Unabhängigkeit (Macpherson 1967: 126-176). Im Jahr 1622 wurde Thomas Mun von James I. beauftragt, die Ursachen der Wirt­ schaftskrise zu erforschen, die England heimgesucht hatte. Mun beschloss seinen Bericht, indem er die Probleme der Nation auf den Müßiggang der englischen Arbeiter zurückführte. Er verwies insbesondere auf die „allgemeine Krankheit unse­ rer Pfeife rauchenden, trinkenden und Feste feiernden Fraktion“ sowie auf den „Missbrauch unserer Zeit für Müßiggang und Genuss“, der England im kommerzi­ ellen Wettstreit mit den arbeitsamen Holländern benachteilige (Hill 1975: 125). Wright (1960: 80-83); Thomas (1971); Van Ussel (1971: 25-92); Riley (1973: 19 ff.); Underdown (1985: 7-72).

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Die Furcht, die die Unterklassen (im damaligen Jargon: die „niedere“ oder „gemei­ nere Sorte“) den herrschenden Klassen einflößte, lässt sich an dieser in Social Eng­ land Illustrated (1903) nacherzählten Geschichte ermessen: Im Jahr 1380 machte Francis Hitchcock in einem Pamphlet mit der Überschrift „New Years Gifi to Eng­ land'‘ („Neujahrsgeschenk an England“) den Vorschlag einer Zwangsrekrutierung der Armen in die Marine. Er schrieb: „Die ärmere Sorte von Leuten neigt dazu [...], Rebellionen zu unterstützen oder sich denjenigen anzuschließen, die es wagen, unsere noble Insel anzugreifen. [...] Den Soldaten oder Kriegsleuten geben sie dann willkommene Hinweise darauf, wo sich der Wohlstand des Landes befindet. Denn sie können mit dem Finger zeigen und sagen: ,Dort ist er4, oder: ,Dort drüben ist ef, oder: ,Er hat ihn.4Auf diese Weise verschulden sie das Martyrium oder die Ermor­ dung vieler wohlhabender Menschen, aufgrund von deren Wohlstand. Hitchcocks Vorschlag wurde jedoch abgelehnt. Gegen ihn wurde eingewandt, dass die Armen, zöge man sie in die Marine ein, die Schiffe stehlen oder sich der Piraterie widmen würden {Social England Illustrated 1903: 83—86). Eli F. Heckscher schreibt: „In seinem bedeutendsten Werk, A Treatise o f Taxes and Contributions [„Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben“] (1662), schlug [Sir William Petty] vor, sämtliche Strafen durch Zwangsarbeit zu ersetzen, ,da dies die Arbeit und den öffentlichen Wohlstand vermehren4würde.“ „Warum [fragte er] soll­ ten zahlungsunfähige Diebe nicht eher durch Sklaverei als durch den Tod bestraft werden? Als Sklaven könnten sie zu so viel Arbeit gezwungen und auf so geringe Kost gesetzt werden, wie die Natur zulässt. So wäre es, als würden dem Gemeinwe­ sen zwei Menschen hinzugefügt, anstatt dass ihm einer entzogen wird4“ (Heckscher 1962, Bd. II: 297). In Frankreich rief Colbert den Gerichtshof dazu auf, so viele Sträflinge wie möglich zum Galeerendienst zu verurteilen, ,„um diesen Bestand zu erhalten, auf den der Staat angewiesen ist444 (Heckscher 1962, Bd. II: 298-299). Die Abhandlung über den Menschen ( Traité de l’Homme) wurde zwölf Jahre nach dem Tod von Descartes als LHomme de René Descartes (1664) veröffentlicht. Die Schrift eröffnet die „reife Phase“ des Philosophen. Descartes wendet die Physik Galileos auf die Attribute des Körpers an und versucht, sämtliche physiologische Funktio­ nen als bewegte Materie zu interpretieren. „Ich bitte zu bedenken“, schrieb Descar­ tes am Ende der Abhandlung, „dass sich alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, [...] auf natürliche Weise [...] aus der Anordnung der Organe ergeben - ganz so, wie sich die Bewegungen eines Uhrwerks oder eines anderen Automaten aus der Anordnung seiner Gegengewichte und Räder ergeben“ (Descar­ tes 1972: 113). Es war ein puritanischer Lehrsatz, dass Gott jedem Menschen bestimmte „Gaben“ verliehen habe, die der besonderen Berufung dieses Menschen entsprächen. Daher die Notwendigkeit einer akribischen Selbstuntersuchung: Durch sie sollte die Beru­ fung, für die man geschaffen war, ermittelt werden (Morgan 1966: 72-73; Weber 2004: 96 ff.). Wie Giovanna Ferrari gezeigt hat, bestand eine der wichtigsten Innovationen, die die Anatomie im Europa des 16. Jahrhunderts bewirkte, in der Erfindung des ana­ tomischen Hörsaals (englisch anatomical theatre). Dort wurden Sektionen als öffent­ liche Zeremonie veranstaltet, und es galten Regeln, die denen von Theaterauffüh­ rungen ähnelten: „Sowohl in Italien als auch im Ausland entwickelten sich öffentliche Anatomielek­ tionen in der Neuzeit zu ritualisierten Zeremonien, die an eigens dafür geschaffe­

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nen Orten abgehalten wurden. Die Ähnlichkeit zu Theateraufführungen liegt auf der Hand, wenn man sich einige Eigenschaften dieser Lektionen bewusst macht: die Aufteilung der Lektion in verschiedene Etappen [...], die Einführung einer kosten­ pflichtigen Eintrittskarte, die Musikeinlagen zur Unterhaltung des Publikums, die Verhaltensregeln für Besucher und die Sorgfalt, die bei der Aufführung an den Tag gelegt wurde. W. S. Heckscher hat sogar die These vertreten, viele allgemeine Thea­ tertechniken seien ursprünglich für öffentliche Anatomielektionen entwickelt wor­ den.“ (Ferrari 1987: 82-83) Mario Galzigna zufolge hat das mechanizistische Paradigma seinen Ursprung in der durch die Anatomie des 16. Jahrhunderts herbeigeführten epistemologischen Revolution. Der anatomische Einschnitt (coupure) durchtrennte das Band zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos und machte den Körper sowohl zu einer eigen­ ständigen Realität als auch zu einem Ort der Produktion —zu einer Fabrik (fabrica), wie Vesalius sagt. Im sechsten Abschnitt der Leidenschaften der Seele minimiert Descartes „den Unter­ schied eines lebendigen und eines toten Körpers“: ,,[D]er Körper eines lebendi­ gen Menschen [unterscheidet sich] von dem eines toten ebenso, wie eine Uhr oder ein anderer Automat, d. h. eine selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und damit in sich das körperliche Prinzip der Bewegungen, für die sie bestimmt ist und alles zu ihrer Tätigkeit Nötige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist, und in der das Prinzip ihrer Bewegung nicht mehr wirkt“ (Descartes 1911: 3). Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang der Angriff auf die „Vor­ stellungskraft“ (vis imaginativa), die in der Naturmagie des 16. und 17. Jahrhun­ derts als machtvolles Mittel galt, durch das der Magier auf seine Umgebung einwir­ ken und „Krankheit oder Tod herbeiführen konnte, nicht nur im eigenen Körper, sondern auch in den Körpern anderer Menschen“ (Easlea 1980: 94 ff). Hobbes widmete ein Kapitel des Leviathan (Teil 1, Kapitel 2) dem Nachweis, die Vorstel­ lungskraft sei nur ein „im Verfall begriffener Sinneseindruck“, der, wie das Gedächt­ nis, durch die Entfernung des ursprünglich wahrgenommenen Gegenstands all­ mählich abklinge. Eine Kritik der Vorstellungskraft findet sich auch in Sir Thomas Brownes Religio Medici (1642). Hobbes schreibt: „Deshalb kann man sich ein Ding nur vorstellen als an einem bestimmten Ort befindlich [...]. [M]an [kann] sich nicht vorstellen, daß ein Ding zur gleichen Zeit ganz an zwei verschiedenen Orten sein kann oder daß zwei oder mehrere Dinge zugleich an demselben Ort sein können“ (Hobbes 1966: 23). Zu den Befürwortern der Hexenverfolgungen zählte auch Sir Thomas Browne, ein Arzt, der als früher Verteidiger der „Freiheit der Wissenschaften“ gilt und des­ sen Werk in den Augen seiner Zeitgenossen „einen gefährlichen Beigeschmack von Skeptizismus hatte“ (Gosse 1905: 25). Thomas Browne trug persönlich zum Tod zweier der „Hexerei“ beschuldigter Frauen bei. Ohne seine Intervention wäre ihnen der Tod durch den Strick erspart geblieben, so absurd waren die gegen sie erhobenen Vorwürfe (Gosse 1905: 147-149). Eine ausführliche Analyse des Prozesses findet sich bei Geis und Bunn (1997). Die Autoritäten erließen im 16. Jahrhundert in jedem Land, in dem die Anatomie florierte, Statute, die es erlaubten, die Körper der Hingerichteten für anatomische Studien zu verwenden. In England „begab sich das Kolleg der Arzte im Jahr 1565 auf das Feld der Anatomie, als Elisabeth I. ihm das Recht verlieh, Anspruch auf die Körper gehängter Sträflinge zu erheben“ (O’Malley 1964). Vgl. zur Zusammenar­ beit der Autoritäten mit den Anatomen im Bologna des 16. und 17. Jahrhunderts

196 Giovanna Ferrari (1987: 59-60, 64, 87-88), die daraufhinweist, dass den Anato­ men nicht nur Hingerichtete, sondern auch die „gemeinsten“ der im Krankenhaus verstorbenen Menschen zur Verfügung gestellt wurden. In einem Fall wurde eine lebenslängliche Haftstrafe in die Todesstrafe umgewandelt, um den Bedürfnissen der Forscher nachzukommen. 20. Seinem ersten Biographen Adrien Baillet zufolge besuchte Descartes bei den Vorbe­ reitungen zu seiner Abhandlung Über den Menschen 1629 die Schlachthäuser von Amsterdam und sezierte verschiedene Körperteile von Tieren: „Er begab sich an die Umsetzung seines Vorhabens, indem er Anatomie studierte; ihr widmete er den ganzen in Amsterdam verbrachten Winter. Mersenne gegenüber erklärte er, sein Verlangen nach Wissen um diesen Gegenstand habe ihn beinahe täglich einen Fleischer aufsuchen lassen, um der Schlachtung beizuwohnen. Außer­ dem habe er veranlasst, dass die tierischen Organe, die er mit mehr Ruhe zu sezieren gedachte, von dort in seine Wohnung gebracht wurden. Dasselbe tat er oft an ande­ ren Orten, an denen er sich aufhielt, nachdem er in einer Praxis, die an sich unschul­ dig war und ziemlich nützliche Ergebnisse zeitigen konnte, nichts entdeckt hatte, wofür er sich hätte schämen müssen oder was seiner Position unwürdig gewesen wäre. So verspottete er einige böswillige und neidische Personen, die [...] versucht hatten, ihn als Verbrecher darzustellen, und die ihn beschuldigt hatten, ,durch die Dörfer zu ziehen, um den Schweinen beim Sterben zuzusehen‘. [...] Er versäumte es nicht, die Schriften des Vesalius und der erfahrensten anderen Autoren, die über Anatomie geschrieben haben, einzusehen. Doch unterrichtete er sich selbst auf viel sicherere Weise, indem er selbst Tiere verschiedener Gattungen sezierte.“ (Descartes 1973: xiii-xiv) In einem Brief an Mersenne aus dem Jahr 1633 schreibt Descartes: J'anatomize maintenant les têtes de divers animaux pour expliquer en quoi consistent l'imagination, la memoire [Ich seziere nun die Köpfe verschiedener Tiere, um zu erklären, worin die Vorstellungskraft und die Erinnerung bestehen]“ (Cousin 1824-1826: Bd. 4, 255). In einem Brief vom 20. Januar geht er detailliert auf seine Vivisektions-Expe­ rimente ein: ,,Apres avoir ouverte la poitrine d'un lapin vivant [...] en sort que le tron et le coeur de l'aorte se voyentfacilement [...]. Poursuivant la dissection de cet anim al vivant je lui coupe cette partie du coeur qu'on nomme sa pointe [Nachdem ich die Brust eines lebendigen Hasen geöffnet hatte, so dass der Rumpf, das Herz und die Hauptschlagader gut zu sehen waren, fuhr ich mit der Sektion des lebendigen Tiers fort und durchschnitt jenen Teil des Herzens, den man als die Spitze bezeichnet]“ (Cousin 1824—1826: Bd. 7, 350). In Antwort auf Mersennes Frage, warum Tiere Schmerz empfinden, wenn sie keine Seele haben, versicherte Descartes im Juni 1640 seinem Korrespondenzpartner, sie würden tatsächlich keinen Schmerz empfinden, da es Schmerz nur in Verbindung mit dem Verstand gebe; Tiere würden des Ver­ stands jedoch entbehren (Rosenfield 1968: 8). Dieses Argument ließ viele wissenschaftlich gesonnene Zeitgenossen des Descar­ tes gegenüber dem Schmerz, der Tieren durch die Vivisektion zugeführt wird, abstumpfen. Nicholas Fontaine beschreibt die Atmosphäre, die der Glaube an den Automatismus der Tiere in Port Royal schuf, wie folgt: „Es gab kaum einen solitaire, der nicht von Automaten sprach. [...] Sie prügel­ ten Hunde mit der größten Gleichgültigkeit und verspotteten diejenigen, denen

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die Tiere Leid taten. Sie sagten, Tiere seien Uhrwerke. Die Geräusche, die sie von sich geben, wenn sie geschlagen werden, seien nur das Lärmen einer kleinen Feder, die berührt worden sei, aber der ganze Körper sei empfindungslos. Sie nagelten die armen Tiere an ihren Pfoten auf Brettern fest, um die Vivisektion vorzunehmen und die Blutzirkulation zu beobachten, die ein wichtiger Gesprächsgegenstand war.“ (Rosenfield 1968: 54) 21. Die Doktrin des Descartes, bei Tieren handle es sich um mechanische Geschöpfe, stellte die im Mittelalter und bis ins 16. Jahrhundert vorherrschende Auffassung von Tieren auf den Kopf. Vor Descartes waren Tiere als intelligente, verantwor­ tungsbewusste, mit besonders ausgeprägter Vorstellungskraft und Sprachvermögen ausgestattete Wesen angesehen worden. Edward Westermarck hat, wie in jüngerer Zeit auch Esther Cohen, nachgewiesen, dass Tiere in verschiedenen europäischen Ländern vor Gericht gestellt und zuweilen sogar öffentlich hingerichtet wurden, als Strafe für von ihnen begangene Verbrechen. Die Tiere erhielten einen Verteidiger und die gesamte Prozedur - Gerichtsverhandlung, Urteil und Urteilsvollstreckung - wurde entsprechend den üblichen rechtlichen Vorgaben durchgeführt. Beispiels­ weise ersuchten im Jahr 1565 die Einwohner von Arles um den Ausschluss aller Eleuschrecken aus ihrer Stadt. In einem anderen Fall wurden Würmer, die sich im Gemeindegebiet verbreitet hatten, exkommuniziert. In Frankreich wurde 1845 das letzte Mal ein Tier vor Gericht gestellt. Tiere wurden vor Gericht auch als Zeugen der compurgatio akzeptiert. Ein Mann, den man des Mordes für schuldig befunden hatte, erschien mit seiner Katze und seinem Hahn im Gerichtssaal und schwor in ihrer Anwesenheit, dass er unschuldig sei, woraufhin er freigesprochen wurde (Wes­ termarck 1924: 254 ff; Cohen 1986). 22. Zuweilen ist die Ansicht vertreten worden, die extrem mechanizistische Perspek­ tive von Hobbes habe dem Körper mehr Macht und Dynamik zugesprochen als die Darstellung von Descartes. Hobbes weist die dualistische Ontologie des Descar­ tes und insbesondere die Vorstellung vom Geist als einer immateriellen, körper­ losen Substanz zurück. Indem er Körper und Geist als monistisches Kontinuum betrachtet, erklärt er geistige Vorgänge auf der Grundlage physikalischer und phy­ siologischer Prinzipien. Doch entmachtet er den menschlichen Organismus nicht weniger als Descartes, denn er leugnet die eigenständige Bewegung dieses Organis­ mus und reduziert körperliche Veränderungen auf Mechanismen der Wirkung und Rückwirkung. Beispielsweise betrachtet Hobbes die Sinneswahrnehmung als Ergeb­ nis eines solchen Mechanismus: Das Sinnesorgan leistet Widerstand gegen die ato­ maren Impulse, die von einem äußeren Gegenstand ausgehen; die Vorstellung ist ein abklingender Sinneseindruck. Auch die Vernunft ist nichts als eine Rechenma­ schine. Körperliche Vorgänge werden bei Hobbes ebenso wie bei Descartes anhand einer mechanizistischen Kausalität erklärt; sie unterstehen denselben universellen Gesetzen wie die Welt unbeseelter Materie. 23. Wie Hobbes im Behemoth klagte: „Denn nachdem die Bibel ins Englische übersetzt war, glaubte jedermann, ja sogar jeder Junge und jedes Mädchen, die lesen konnten, sie sprächen mit Gott dem All­ mächtigen und verstünden, was er sagte, wenn sie eine Anzahl Kapitel pro Tag aus der Heiligen Schrift ein- oder zweimal gelesen hätten. Damit wurde die Ehrfurcht und der Gehorsam der reformierten Kirche gegenüber den Bischöfen und der Geist­ lichkeit darin vernichtet, und jeder wurde jetzt selbst Richter der Religion und ein Ausleger der Heiligen Schrift für sich selbst.“ (Hobbes 1927: 121)

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Er fügte hinzu, die mechanischen Prediger seien „zu solchem Ansehen [gelangt], daß Scharen von Menschen an den Werktagen aus ihren eigenen Gemeinden zu kom­ men pflegten, ihre Gewerbe und an Sonntagen ihre eigenen Kirchen verließen, um sie in anderen Städten und Orten predigen zu hören“ (Hobbes 1927: 123). Beispielhaft ist Gerrard Winstanleys New Law o f Righteousness (1649), wo der berüchtigtste Digger fragt:

„Schuf das Licht der Vernunft die Welt vielleicht, damit manche Menschen in Säcken und Scheunen horten können, während andere unter dem Joch der Armut leben? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass sich ein Mensch, wenn er nicht so viel Boden hat, dass er anderen etwas davon abgeben könnte, Boden leiht? Und dass der Leihende den Anderen einkerkern und seinen Körper in einem ver­ schlossenen Raum darben lässt? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass ein Teil der Menschheit einen anderen, der ihm nicht auf Schritt und Tritt folgt, tötet und erhängt?“ (Winstanley 1941: 197) 23. Es liegt nahe, diese Mutmaßungen über den nichtmenschlichen Charakter der „Unterklassen“ als den Grund anzusehen, weshalb sich kaum einer der ersten Kriti­ ker des kartesianischen Mechanizismus gegen die mechanizistische Auffassung vom menschlichen Körper aussprach. L. C. Rosenfield schreibt: „Dies ist einer der merk­ würdigsten Aspekte des ganzen Disputs: In der ersten Phase machte keiner von denen, die inbrünstig die These vom beseelten Charakter der Tiere verteidigten, irgendwelche Anstalten, auch den menschlichen Körper vor dem Makel des Mecha­ nischen zu bewahren“ (Rosenfield 1968: 23). 26. F. Graus (1967) schreibt: „Der Name ,Cockaigne [englisch für ,Schlaraffenland*] taucht erstmals im 13. Jahrhundert auf (Cucaniensis leitet sich vermutlich von Kucken ab) und scheint zu Zwecken der Parodie verwendet worden zu sein“, denn das Wort wird erstmals in der satirischen Darstellung eines Klosters aus der Zeit Edwards II. gebraucht (Graus 1967: 9). Graus geht auf den Unterschied zum mit­ telalterlichen Begriff des „Wunderlands“ sowie zum neuzeitlichen Begriff der Utopie ein: „In der Neuzeit beinhaltet die Grundidee von der Möglichkeit, eine Idealwelt aufzu­ bauen, dass Utopia von Idealwesen bevölkert sein muss, die sich ihrer Makel entle­ digt haben. Die Einwohner von Utopia zeichnen sich durch ihre Gerechtigkeit und Intelligenz aus. [...] Dagegen gehen die utopischen Visionen des Mittelalters vom Menschen aus, wie er ist, und sie versuchen, seine jetzigen Wünsche zu erfüllen. (Graus 1967: 6) Beispielsweise gibt es im Schlaraffenland Speis und Trank in Hülle und Fülle. Nie­ mand hat dort den Wunsch, sich vernünftig zu „ernähren“, sondern nur den, zu schlemmen, ganz, wie man es sich im Alltag immer gewünscht hatte. „In diesem Cockaigne [...] gibt es auch den Jungbrunnen, den Männer und Frauen an einer Seite betreten, um auf der anderen Seite als hübsche Jungen und Mädchen wieder herauszutreten. Den Fortgang der Erzählung prägt dieselbe Einstellung des ,Wünsch dir was‘, die die einfachen Vorstellungen vom idealen Leben so getreu widerspiegelt.“ (Graus 1967: 7-8)

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Mit anderen Worten: Das Ideal des Schlaraffenlandes verkörpert kein rationales Schema und keine Vorstellung von „Fortschritt“; es ist viel „konkreter“. Es „stützt sich weitgehend auf das dörfliche Umfeld“ und „stellt einen Zustand der Vollen­ dung dar, dem in der Neuzeit keine weitere Entwicklung Vorbehalten war“ (ebd.).

{

Jan Luyken, H in ric h tu n g d e r a ls H e x e v e ru rte ilte n A n n e H e n d ric k s ,

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in Amsterdam.

Die große Hexenjagd in Europa

Une bête imparfaicte, sans foy, sans crainte, sans costance. - sprichwörtliche Beschreibung der Frau im Frankreich des 17. Jahrhunderts Vom Gürtel nieder sind s Centauren, Wenn auch von oben Weib; nur bis zum Gürtel Sind sie den Göttern eigen: jenseit alles Gehört den Teufeln, dort ist Hölle, Nacht, Dort ist Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch, Verwesung [...]. - Shakespeare, König Lear, 4. Aufzug, 6. Szene „Ihr seid die wahren Hyänen, die uns mit der Zartheit ihrer Haut verlo­ cken, und hat die Torheit uns einmal in eure Nähe gebracht, dann stürzt ihr euch auf uns. Ihr seid die Verräter der Weisheit, der Hemmschuh der Industrie, [...] die Fessel der Tugend, und treibt uns alle ins Laster, in die Gottlosigkeit und in den Ruin. Ihr seid das Paradies des Narren, die Plage des weisen Mannes und der Große Fehler der Natur.“ - Walter Charleton, Ephesian M atron, 1659 Einleitung

Die Hexenverfolgungen werden in der Historiographie des Proletariats nur selten erwähnt. Sie bleiben bis heute eine der am wenigsten erforschten Episoden der europäischen Geschichte1 - oder vielmehr der Weltgeschichte, denn der Vorwurf der Teufelsverehrung wurde von den Missionarinnen und Konquistadoren in die „Neue Welt“ getragen, als Mittel zur Unterwerfung der dortigen Bevölkerungen. Die Gleichgültigkeit, die Historiker diesem Genozid gegenüber bis­ lang an den Tag gelegt haben, mag sich daraus erklären, dass die europä­ ischen Opfer der Hexenverfolgungen vor allem bäuerliche Frauen waren. Die Gleichgültigkeit der Historiker grenzt an Komplizenschaft, denn die Tilgung der Hexen aus den Geschichtsbüchern hat dazu beigetragen, ihre physische Vernichtung auf dem Scheiterhaufen zu trivialisieren, als handle es sich dabei um eine unbedeutende Erscheinung, wenn nicht gar um Folklore. Auch diejenigen, die zu den Hexenverfolgungen geforscht haben (es han­ delte sich bei ihnen früher fast ausschließlich um Männer), haben sich oft als würdige Erben der Dämonologen des 16. Jahrhunderts erwiesen. Sie haben zwar die Verhöre der Hexen verurteilt, die Hexen selbst aber zugleich als

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elende, von Halluzinationen heimgesuchte Närrinnen dargestellt. So konn­ ten die Hexenverfolgungen als „gesellschaftliche Therapie“ erklärt werden, die den nachbarschaftlichen Zusammenhalt gestärkt habe (Midelfort 1972: 3), oder aber sie konnten in medizinischer Begrifflichkeit geschildert werden, als „Panik“, „Wahn“ und „Epidemie“: sämtlich Charakterisierungen, die die Hexenjäger freisprechen und deren Verbrechen entpolitisieren. Es fehlt nicht an Beispielen für die Frauenfeindlichkeit, die die wissen­ schaftliche Auseinandersetzung mit den Hexenverfolgungen geprägt hat. Noch 1978 stellte Mary Daly fest, ein Großteil der Literatur sei von einem „Frauen verurteilenden Standpunkt“ aus verfasst, der die Opfer der Verfol­ gungen diskreditiere, indem er sie als soziale Versagerinnen darstelle (als „ent­ ehrte“ oder in ihrem Liebesieben frustrierte Frauen), wenn nicht gar als Per­ verse, die es genossen hätten, die männlichen Inquisitoren mit ihren sexuellen Fantasien zu reizen. Daily zitiert The History o f Psychiatry von F. G. Alexander und S. T. Selesnick als Beispiel, wo Folgendes zu lesen ist: „[Angeklagte Hexen arbeiteten ihren Verfolgern oft in die Hände. Hexen legten ihre Schuldgefühle ab, indem sie ihre sexuellen Fantasien in öffentlichen Gerichtssitzungen beichteten. Gleichzeitig verschaffte es ihnen eine gewisse erotische Befriedigung, in Anwesenheit ihrer männ­ lichen Beschuldiger auf alle Einzelheiten einzugehen. Diese emotional extrem gestörten Frauen waren für den Hinweis, sie könnten D äm o­ nen und Teufel beherbergen, besonders empfänglich. Sie gestanden dann, dass sie mit bösen Geistern lebten, ganz so, wie gestörte Indivi­ duen unter dem Eindruck von Zeitungsschlagzeilen fantasieren, sie seien gesuchte Mörder.“ (Daly 1978: 213) Es hat Ausnahmen von dieser Tendenz gegeben, die Opfer zu beschuldigen, sowohl in der ersten als auch in der zweiten Generation der Forscher, die sich mit den Hexenverfolgungen befasst haben. Zu nennen sind beispiels­ weise Alan Macfarlane (1970), E. W. Monter (1969, 1976, 1977) und Alfred Soman (1992). Doch das Thema der Hexenverfolgungen verließ den unter­ gründigen Bereich, in den man es verbannt hatte, erst in Folge der feminis­ tischen Bewegung, da sich die Feministinnen mit den Hexen identifizierten und diese bald schon als Symbol weiblicher Revolte übernahmen (Bovenschen 1978: 83 ff.).2 Feministinnen erkannten auch rasch, dass niemals hun­ derttausende von Frauen massakriert und den grausamsten Foltern ausgesetzt worden wären, wenn sie für die Machtstruktur keine Bedrohung dargestellt hätten. Feministinnen begriffen darüber hinaus, dass dieser Krieg gegen die Frauen, der sich über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahrhunderten hinzog, ein Wendepunkt der europäischen Frauengeschichte war. Er war gewissermaßen der „Sündenfall“ im Prozess gesellschaftlicher Abwertung, den die Frauen beim Aufstieg des Kapitalismus durchliefen. Daher handelt es sich bei den Hexenverfolgungen auch um ein Phänomen, mit dem wir uns beständig aufs Neue auseinandersetzen müssen, wenn wir die Frauenfeind­

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lichkeit verstehen wollen, die nach wie vor die institutioneile Praxis und die Geschlechterbeziehungen prägt. Dagegen haben marxistische Historiker selbst dann, wenn sie den „Über­ gang zum Kapitalismus“ erforschten, die Hexenverfolgungen von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen dem Vergessen anheimgegeben, als handle es sich um ein für den Klassenkampf bedeutungsloses Ereignis. Das Ausmaß des Massakers hätte einige Zweifel aufkommen lassen müssen, wurden doch in weniger als zwei Jahrhunderten hunderttausende von Frauen verbrannt, gehängt und gefoltert.3 Es hätte auch bedeutsam erscheinen müssen, dass sich die Hexenverfolgungen zeitgleich mit der Kolonisierung der Neuen Welt und der Vernichtung der dortigen Bevölkerungen ereigneten, damit auch zeitgleich mit den Einhegungen in England, den Anfängen des Sklavenhan­ dels, der „Blutgesetzgebung“ gegen Vagabunden und Bettlerinnen, und dass sie ihren Höhepunkt im Interregnum zwischen dem Ende des Feudalismus und dem kapitalistischen Take-off erreichten, als die Bauernschaft in Europa einerseits mächtiger war als je zuvor, andererseits aber auch ihre historische Niederlage erlitt. Bis jetzt ist dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation allerdings ein regelrechtes Rätsel geblieben.4 Staatliche Initiative in der Zeit der Hexenverbrennungen

Nicht erkannt worden ist, dass die Hexenverfolgungen eines der für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und die Entstehung des moder­ nen Proletariats bedeutendsten Ereignisse sind. Die Entfesselung einer Ter­ rorkampagne gegen Frauen, die ihresgleichen sucht, schwächte den Wider­ stand, den die europäischen Bauern dem Angriff der Gentry und des Staates entgegenbrachten, und das zu einer Zeit, da die bäuerliche Gemeinschaft bereits von den kombinierten Auswirkungen der Landprivatisierung, höherer Steuern und einer ausgeweiteten staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens betroffen und im Verfall begriffen war. Die Hexen­ verfolgungen vertieften die Spaltungen zwischen Männern und Frauen. Sie lehrten Männer, die Macht der Frauen zu fürchten, und sie zerstörten ein ganzes Universum von Praktiken, Glaubensvorstellungen und sozialen Sub­ jekten, dessen Existenz mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin unverein­ bar war, so dass die Grundelemente der gesellschaftlichen Reproduktion neu bestimmt wurden. In diesem Sinne waren die Hexenverfolgungen, ebenso wie der Angriff auf die „Populärkultur“ und die „Große Einschließung“ der Armen und Vagabunden in Arbeits- und Zuchthäusern, ein wesentlicher Aspekt der ursprünglichen Akkumulation und des „Übergangs“ zum Kapi­ talismus. Wir werden später noch sehen, von welchen Ängsten die Hexenverfol­ gungen die europäische herrschende Klasse befreiten und wie sie sich auf die Lage der europäischen Frauen auswirkten. An dieser Stelle möchte ich beto­ nen, dass die Hexenverfolgungen, im Gegensatz zu der von den Aufklärern

204 verbreiteten Ansicht, nicht die letzte Regung einer sterbenden feudalen Welt waren. Es ist hinlänglich belegt, dass im „abergläubischen“ Mittelalter keine Hexen verfolgt wurden. Der Begriff der „Hexerei“ entstand erst im Spätmit­ telalter, und zu keinem Zeitpunkt des „finsteren Zeitalters“ gab es Massen­ prozesse und -hinrichtungen, obwohl das Alltagsleben von Magie durchsetzt war und obwohl die herrschende Klasse in dieser Magie bereits seit dem spä­ ten römischen Reich ein bedrohliches Mittel der Aufsässigkeit ihrer Sklaven gesehen hatte.5 Im 7. und im 8. Jahrhundert wurde das Verbrechen des maleficium in die Gesetzeskodizes der neuen teutonischen Reiche aufgenommen, wie man es einst auch ins römische Recht aufgenommen hatte. Es war die Zeit der arabischen Eroberungen, die die europäischen Sklaven offenbar auf Freiheit hoffen ließen und sie inspirierten, zu den Waffen zu greifen und sich gegen ihre Herren aufzulehnen.6 Diese rechtliche Neuerung mag also auch eine Reaktion auf die Angst dargestellt haben, die der Vormarsch der „Sarazenen“ den Eliten einflößte, denn den Invasoren wurden hervorragende Kenntnisse der magischen Künste nachgesagt (Chejne 1983: 115—132). Doch wurden damals nur solche magische Praktiken als maleficium verfolgt, die Menschen oder Dingen Schaden zufügten. Gleichzeitig kritisierte die Kirche diejenigen, die an magische Handlungen glaubten.7 Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Lage geändert. In diese Zeit der volkstümlichen Revolten, der Epidemien und der beginnenden Krise des Feudalismus fallen die ersten Hexenprozesse (in Südfrankreich, Deutsch­ land, der Schweiz und Italien), die ersten Beschreibungen des Sabbats8 und die Entwicklung einer Doktrin der Hexerei, in der die Zauberei zu einer Form der Häresie sowie zum schlimmsten Verbrechen gegen Gott, die Natur und den Staat erklärt wurde (Monter 1976: 11-17). Zwischen 1435 und 1487 wurden 28 Abhandlungen über Hexerei verfasst (Monter 1976: 19). Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung, am Vorabend der Entdekkungsreise des Kolumbus, mit der Veröffentlichung des berüchtigten Maliern Maleficarum oder Hexenhammers. Vorher hatte bereits eine päpstliche Bulle zum Thema, Summis Desiderantes (1484) von Innozenz VIII., darauf hin­ gewiesen, dass die Kirche die Hexerei als neue Bedrohung ansah. Doch das intellektuelle Klima, das während der Renaissance, vor allem in Italien, vor­ herrschte, zeichnete sich nach wie vor durch Skepsis gegenüber allem aus, was mit dem Übernatürlichen zusammenhing. Die italienischen Intellektuellen, von Ludovico Ariosto über Giordano Bruno bis hin zu Niccolö Macchiavelli, betrachteten die klerikalen Erzählungen über die Taten des Teufels mit Ironie. Dagegen betonten sie (insbesondere Bruno) die schändlichen Auswirkungen von Gold und Geld. „Non incanti ma contanti“ („nicht Zaubersprüche son­ dern bare Münze“) ist das Motto einer der Figuren aus Brunos Komödien: Es fasst die Sichtweise der damaligen intellektuellen Elite sowie der aristokrati­ schen Kreise zusammen (Parinetto 1998: 29-99).

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Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, in eben den Jahrzehnten, in denen die spanischen Konquistadoren die Bevölkerungen Amerikas unterjochten, stieg die Zahl der Frauen, die als Flexen angeklagt wurden. Die Initiative ging dabei von der Inquisition zu den weltlichen Gerichten über (Monter 1976: 26). Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenverfolgungen in der Zeit zwischen 1580 und 1630: einer Zeit, da die feudalen Verhältnisse bereits den wirtschaftlichen und politischen Institutionen wichen, die für den Handels­ kapitalismus typisch sind. Während dieses langen, „eisernen Jahrhunderts“ vervielfachte sich, wie durch ein stilles Abkommen, die Zahl der Scheiter­ haufen, auch in Ländern, die gegeneinander Krieg führten. Der Staat begann, die Existenz von Hexen zu verurteilen und übernahm bei ihrer Verfolgung die Initiative. Im imperialen Gesetzeskodex, den der katholische Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. im Jahr 1532 verabschiedete, wurde verfügt, dass Hexerei mit dem Tod zu bestrafen sei. Im protestantischen England wurden die Hexenverfolgungen durch drei Parlamentsakte legalisiert, die 1542, 1563 und 1604 verabschiedet wurden; der letzte führte die Todesstrafe auch für sol­ che Fälle ein, in denen keine Menschen oder Dinge zu Schaden gekommen waren. Nach 1550 kam es auch in Schottland, der Schweiz, Frankreich und den Spanischen Niederlanden zu Gesetzen und Verordnungen, die Hexerei zum Kapitalverbrechen erklärten und die Bevölkerung dazu aufriefen, der Hexerei verdächtige Frauen anzuzeigen. Diese Gesetze und Verordnungen wurden in späteren Jahren revidiert, um die Zahl der Angeklagten, die hin­ gerichtet werden konnte, zu vergrößern, und um die Hexerei als solche (im Gegensatz zu dem ihr zugeschriebenen Unheil) zum Hauptverbrechen zu machen. Die Mechanismen der Verfolgung bestätigen, dass die Hexenverfolgun­ gen kein spontaner Vorgang waren, oder gar „eine Bewegung von unten, auf die zu reagieren die herrschenden und verwaltenden Klassen gezwungen waren“ (Larner 1983: 1). Christina Larner hat am Beispiel von Schottland gezeigt, dass einzelne Hexenverfolgungen einiges an offizieller Organisations- und Verwaltungsarbeit voraussetzten.9 Bevor ein Nachbar den anderen denunzierte oder ganze Gemeinschaften von einer „Panik“ erfasst wurden, fand eine beharrliche Indoktrinierung statt. Die Autoritäten äußerten öffent­ lich ihre Sorge um die Verbreitung der Hexerei, und sie reisten von D orf zu Dorf, um den Menschen zu erklären, woran Hexen zu erkennen seien. In einigen Fällen führten sie sogar Listen verdächtiger Frauen mit sich und drohten denjenigen, die die Verdächtigen versteckten oder unterstützten, mit Strafen (Larner 1983: 2). In Schottland wurden die Pfarrer der Presbyterianischen Kirche auf der Synode von Aberdeen (1603) aufgefordert, ihre Gemeindemitglieder unter Eid erklären zu lassen, ob sie irgendwen der Hexerei verdächtigten. In die Kirchen wurden Kisten gestellt, um den Informantinnen die Möglichkeit zu

20 6 geben, anonym zu bleiben. War dann der Verdacht auf eine bestimmte Frau gefallen, forderte der Pfarrer die Gläubigen von der Kanzel aus auf, gegen sie auszusagen und allen zu verbieten, ihr zu helfen (Black 1971: 13). Auch in anderen Ländern wurde zur Denunziation aufgerufen. In Deutschland fiel diese Aufgabe den „Visitanten“ zu, die von der Lutherischen Kirche unter Zustimmung der deutschen Fürsten ernannt wurden (Strauss 1975: 54). In Italien waren es die Geistlichen und die Autoritäten, die Verdächtigun­ gen schürten und dafür sorgten, dass diese zu Denunziationen führten. Sie stellten außerdem sicher, dass die Beschuldigten vollständig isoliert wurden, indem sie sie unter anderem zwangen, Zeichen auf ihren Kleidern zu tragen, damit sich die Leute von ihnen fernhielten (Mazzali 1988: 112). Die Hexenjagd war auch die erste europäische Verfolgung, die von multimedialer Propaganda Gebrauch machte, um in der Bevölkerung eine Massenpsychose zu erzeugen. Eine der ersten Aufgaben der Druckerpresse bestand darin, die Öffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von den Hexen ausging, etwa durch Flugschriften, die die berühmtesten Prozesse und die Einzelheiten der grauenhaftesten Handlungen publik mach­ ten (Mandrou 1968: 136). Zu diesem Zweck wurden auch Künstler ange­ heuert, unter ihnen der Deutsche Hans Baidung, von dem die unvorteilhaf­ testen Hexendarstellungen stammen. Es waren jedoch die Juristen, Richter und Dämonologen, die, oft in Personalunion, am meisten zur Verfolgung beitrugen. Sie waren es, die die Argumente systematisierten, auf die Kriti­ kerinnen antworteten und eine rechtliche Maschinerie perfektionierten, die den Prozessen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine standardisierte, fast schon bürokratische Struktur verliehen hatte, woraus sich die Ähnlichkeit der Geständnisse aus verschiedenen Ländern erklärt. Die Gesetzesmänner konn­ ten sich bei ihrer Arbeit auf die Zuarbeit einiger der namhaftesten Intellek­ tuellen ihrer Zeit verlassen, einschließlich einiger Philosophen und Wissen­ schaftler, die noch heute als Gründungsväter des neuzeitlichen Rationalismus gepriesen werden. Einer von ihnen war der englische Politikphilosoph T ho­ mas Hobbes, der die Verfolgungen trotz seiner Zweifel an der Realität der Hexerei als Mittel sozialer Kontrolle billigte. Ein erbitterter Feind der Hexen, dessen Hass und Aufrufe zum Blutvergießen geradezu zwanghaft waren, war Jean Bodin, der berühmte französische Jurist und Staatstheoretiker, den der Historiker Trevor Roper als den Aristoteles und Montesqiueu des 16. Jahr­ hunderts bezeichnet hat. Bodin, der als Verfasser der ersten Abhandlung über Inflation gilt, beteiligte sich an zahlreichen Prozessen und schrieb einen Band der „Beweise“ {De magorum daemonomania, 1580), in dem er darauf besteht, dass Hexen lebendig verbrannt werden sollten, anstatt vor dem Verbrennen „gnädig“ erwürgt zu werden, dass man sie beizen sollte, damit ihr Fleisch bereits vor dem Tod zu verfaulen beginnt, und dass auch Kinder verbrannt werden sollten.

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Bodin war kein Einzelfall. Im „Jahrhundert der Genies“ - Bacon, Kep­ ler, Galileo, Shakespeare, Pascal, Descartes - , einem Jahrhundert, das den Triumph der kopernikanischen Revolution, die Geburt der neuzeitlichen Wissenschaft und die Entwicklung des philosophischen und wissenschaft­ lichen Rationalismus mit sich brachte, wurde die Hexerei in der intellektu­ ellen Elite Europas zu einem der beliebtesten Diskussionsthemen. Richter, Rechtsanwälte, Staatsmänner, Philosophen, Wissenschaftler und Theologen beschäftigten sich sämtlich mit dem „Problem“, verfassten Flugschriften und Dämonologien, stimmten einander zu, dass es sich bei der Hexerei um das abscheulichste Verbrechen handle, und riefen nach seiner Bestrafung.10 Es steht also außer Zweifel, dass es sich bei der Hexenjagd um eine bedeutende politische Initiative handelte. Das zu betonen bedeutet nicht, die Rolle der Kirche zu minimieren. Die römisch-katholische Kirche lieferte den ideologischen Rahmen für die Hexenjagd und stiftete die Hexenverfolgun­ gen an, wie sie zuvor die Verfolgung der Häretikerinnen angestiftet hatte. Die Hexenjagd wäre nicht möglich gewesen ohne die Inquisition und die zahlreichen päpstlichen Bullen, die die weltlichen Autoritäten aufforderten, „Hexen“ ausfindig zu machen und zu bestrafen, und vor allem ohne Jahrhun­ derte frauenfeindlicher kirchlicher Kampagnen. Im Gegensatz zu einer gängi­ gen Auffassung war sie jedoch nicht das Ergebnis des päpstlichen Fanatismus oder der Machenschaften der Römischen Inquisition. Auf ihrem Höhepunkt wurden die meisten Prozesse von weltlichen Gerichten organisiert, wohinge­ gen die Zahl der Hinrichtungen in den Regionen, in denen die Inquisition aktiv war (Italien und Spanien) vergleichsweise niedrig blieb. Nach der Refor­ mation, die die Macht der katholischen Kirche unterminiert hatte, begann die Inquisition sogar, den Eifer, mit dem die Autoritäten sich der Hexenver­ folgung widmeten, zu zügeln; gleichzeitig verschärfte sie die Verfolgung der Juden (Milano 1963: 287-289).11 Hinzu kam, dass die Inquisition stets auf die Zusammenarbeit des Staates angewiesen war: Dieser organisierte die Hin­ richtungen, da der Klerus nicht in die Lage kommen wollte, eigenhändig Blut vergießen zu müssen. Die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat war in den Reformationsgebieten noch enger, denn dort war der Staat (wie in Eng­ land) zur Kirche geworden, oder die Kirche war (wie in G enf und in gewisser Hinsicht auch in Schottland) zum Staat geworden. Dort sprach eine Sektion der Macht Urteile aus und organisierte Hinrichtungen, während die religiöse Ideologie ihre politischen Konnotationen offen zeigte. Ein weiterer Beweis für den politischen Charakter der Hexenjagd ist die Tatsache, dass katholische und protestantische Nationen, die in jeder anderen Hinsicht verfeindet waren, Waffen und Argumente teilten, wenn es darum ging, Hexen zu verfolgen. Es ist daher keine Übertreibung, dass die Hexenjagd das erste vereinheitlichende politische Terrain der neuen europäischen National­ staaten war, das erste a u f das Schisma der Reformation folgende Beispiel euro­ päischer Vereinigung. Sämtliche Ländergrenzen überquerend, breitete sich die

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Hexenjagd von Frankreich und Italien nach Deutschland, in die Schweiz sowie nach England, Schottland und Schweden aus. Welche Ängste führten zu dieser konzertierten Genozidpolitik? Warum wurde so viel Gewalt entfesselt? Und warum waren die Hauptopfer Frauen? Teufelsglaube und Veränderungen der Produktionsweise

Es muss gleich zu Anfang gesagt werden, dass es bis auf den heutigen Tag keine verlässlichen Antworten auf diese Fragen gibt. Ein Haupthinder­ nis auf dem Weg zu einer Erklärung hat darin bestanden, dass die gegen die Hexen erhobenen Vorwürfe so grotesk und unglaublich sind, dass sie mit keinem Motiv oder Verbrechen in Einklang zu bringen sind.12 Wie soll erklärt werden, dass hunderttctusende von Frauen über mehr als zwei Jahrhun­ derte hinweg in verschiedenen europäischen Ländern vor Gericht gestellt, gefoltert, lebendig verbrannt oder gehängt wurden, beschuldigt, Leib und Seele dem Teufel verkauft und durch magische Mittel Dutzende von Kin­ dern ermordet, ihr Blut ausgesaugt, Zaubertränke aus ihrem Fleisch gefer­ tigt, den Tod von Nachbarn verursacht, Vieh und Ernten vernichtet, Stürme heraufbeschworen und viele andere Gräuel begangen zu haben? (Und doch erwarten einige Historiker selbst heute noch von uns, die Hexenjagd als eine im Kontext damaliger Glaubensvorstellungen durchaus vernünftige Erschei­ nung zu akzeptieren.) Hinzu kommt noch das Problem, dass wir nicht über die Perspektive der Opfer verfügen. Alles, was von ihren Stimmen bleibt, sind die von den Inqui­ sitoren gestalteten, meist unter Folter abgelegten Geständnisse. Ganz gleich, wie sorgfältig wir - wie Carlo Ginzburg (1991) - auf die Elemente traditio­ neller Folklore achten, die sich durch die schriftlichen Aufzeichnungen hin­ durch zu erkennen geben: Wir haben keinerlei Möglichkeit, ihre Authenti­ zität zu ermitteln. Die Vernichtung der Hexen lässt sich auch nicht einfach als Ergebnis von Habgier erklären, denn durch die Konfiszierung der Güter überwiegend sehr armer Frauen ließen sich keine den Reichtümern Amerikas vergleichbaren Schätze anhäufen.13 Aus diesen Gründen verzichten einige Historiker, etwa Brian Levack, auf jegliche erklärende Theorie und begnügen sich damit, die Vorbedingun­ gen der Hexenjagd zu bestimmen - beispielsweise den Übergang von einer auf privater zu einer auf öffentlicher Anklage beruhenden Verfahrensform, zu dem es im Spätmittelalter kam, die Zentralisierung der Staatsmacht sowie die Auswirkungen von Reformation und Gegenreformation auf das gesellschaft­ liche Leben (Levack 1987). Zu solchem Agnostizismus besteht jedoch kein Anlass. Wir müssen uns auch nicht entscheiden, ob die Hexenverfolger die Beschuldigungen, die sie gegen ihre Opfer erhoben, tatsächlich glaubten oder ob es sich bei diesen Beschuldigungen um zynisch eingesetzte Mittel gesellschaftlicher Repression handelte. Wenn wir den historischen Kontext der Hexenjagd betrachten, das

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Geschlecht und die Klasse der Beschuldigten und die Auswirkungen der Ver­ folgung, dann können wir nur zu dem Schluss gelangen, dass die europä­ ischen Hexenverfolgungen ein Angriff auf den Widerstand der Frauen gegen die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse waren, und ein Angriff auf die Macht, die Frauen durch ihre Sexualität, ihre Kontrolle über die Reproduk­ tion und ihre Heilfähigkeit erlangt hatten. Die Hexenverfolgungen dienten auch dem Aufbau einer neuen patri­ archalen Ordnung, unter der die Körper der Frauen, ihre Arbeit und ihre reproduktiven Vermögen unter staatliche Kontrolle gestellt und in ökono­ mische Ressourcen verwandelt wurden. Daraus folgt, dass die Hexenverfol­ ger weniger an der Bestrafung bestimmter Verstöße als an der Ausmerzung verallgemeinerter weiblicher Verhaltensweisen interessiert waren, die nicht mehr toleriert wurden und von der Bevölkerung nunmehr als Gräuel ange­ sehen werden sollten. Dass die in den Prozessen erhobenen Beschuldigungen sich oft auf Ereignisse bezogen, die Jahrzehnte zurücklagen, dass die Hexerei zum crimen exceptum erklärt wurde - also zu einem Verbrechen, das durch besondere Mittel aufzuklären war, einschließlich der Folter - und dass man Hexen auch dann bestrafte, wenn ihnen keine Verursachung menschlichen oder materiellen Schadens nachzuweisen war - all das deutet daraufhin, dass das Ziel der Hexenjagd - wie so oft im Fall von politischer Repression, die in Zeiten ausgeprägter sozialer Veränderungen und Konflikte erfolgt - nicht darin bestand, gesellschaftlich als solche anerkannte Verbrechen zu bestrafen, sondern darin, bislang akzeptierte Praktiken und Gruppen anzugreifen, sie durch Terror und Kriminalisierung aus der Gemeinschaft zu entfernen. In diesem Sinne hatte die Hexerei eine ähnliche Funktion wie der „Hochverrat“ (ein Verbrechen, das in England bezeichnenderweise in denselben Jahren ins Gesetzbuch aufgenommen wurde) oder der „Terrorismus“ heute. Schon die Unbestimmtheit der Anschuldigung - die Tatsache, dass es unmöglich war, sie zu beweisen, während sie zugleich größten Schrecken auslöste - bedeutete, dass sie angewandt werden konnte, um jegliche Form des Protests zu bestra­ fen und den Argwohn gegenüber den gewöhnlichsten Aspekten des Alltags­ lebens zu schüren. Eine erste Einsicht in die Bedeutung der europäischen Hexenjagd lässt sich der von Michael Taussig in seiner klassischen Arbeit The Devil and Com­ modity Fetishism in South America (1980) formulierten These entnehmen. Taussig ist der Ansicht, dass Teufelsvorstellungen in jenen historischen Epo­ chen aufkommen, in denen eine Produktionsweise durch eine andere ersetzt wird. In solchen Zeiten verändern sich die materiellen Lebensbedingungen radikal, und das Gleiche gilt für die metaphysischen Fundamente der Sozial­ ordnung - beispielsweise die Vorstellungen davon, wie Wert geschaffen wird, was Leben und Wachstum erzeugt, was „natürlich“ ist und was sich den alt­ hergebrachten Sitten und gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber antago­ nistisch verhält (Taussig 1980: 17 ff.). Taussig entwickelte seine Theorie,

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indem er die Glaubensvorstellungen untersuchte, die kolumbianische Land­ arbeiter und die Bergarbeiter in den bolivianischen Zinnminen zu einer Zeit hegten, da sich Geldbeziehungen etablierten, die in den Augen der Men­ schen tödlich und sogar teuflisch waren, verglichen mit den früheren, noch fortbestehenden Formen subsistenzorientierter Produktion. In den von Taussig untersuchten Fällen waren es also die Armen, die die Bessergestellten der Teufelsverehrung verdächtigten. Die Art und Weise, in der er den Teufel mit der Warenform in Verbindung bringt, erinnert uns jedoch auch daran, dass sich im Hintergrund der Hexenjagd die Ausbreitung des ländlichen Kapita­ lismus vollzog, der die Abschaffung von Gewohnheitsrechten beinhaltete, während es zugleich zur ersten Inflationswelle des neuzeitlichen Europa kam. Diese Erscheinungen führten nicht nur zum Anstieg von Armut, Hunger und sozialer Deklassierung (Le Roy Ladurie 1974: 208); sie bewirkten auch eine Machtübertragung zugunsten einer neuen Klasse von „Modernisierern“, die mit Angst und Abscheu auf die gemeinschaftlichen Lebensformen blickten, die für das vorkapitalistische Europa prägend gewesen waren. Die Hexenjagd setzte dank der Initiative dieser proto-kapitalistischen Klasse ein und diente dabei zum einen als „Plattform, auf der ein breites Spektrum an volkstüm­ lichen Glaubensvorstellungen und Praktiken [...] verfolgt werden konnte“ (Normand und Roberts 2000: 65), zum anderen als Waffe, durch die sich der Widerstand gegen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuordnung brechen ließ. Es ist bezeichnend, dass die meisten englischen Hexenprozesse in Essex stattfanden, wo der Großteil des Bodens bis zum 16. Jahrhundert eingehegt worden war.14 Es gibt keine Belege für Hexenverfolgungen aus jenen Regio­ nen der britischen Inseln, wo die Landprivatisierung weder vollzogen war noch anstand. Die herausragendsten Beispiele sind in diesem Zusammen­ hang die Irlands und der Westlichen Highlands in Schottland. Dort fin­ det sich keine Spur von Hexenverfolgungen, wahrscheinlich weil in beiden Gebieten ein System kollektiven Landbesitzes sowie starke verwandtschaft­ liche Bande vorherrschten, was die Spaltung der Gemeinschaft sowie jene Komplizenschaft mit dem Staat verhinderte, die die Hexenjagd anderswo ermöglichten. In den anglifizierten und privatisierten schottischen Lowlands, wo die Subsistenzwirtschaft unter dem Einfluss der presbyterianischen Refor­ mation dahinschwand, forderte die Hexenjagd mindestens 4.000 Opfer, ent­ sprechend einem Prozent der weiblichen Bevölkerung, doch in den High­ lands und in Irland waren Frauen in den Zeiten der Hexenverbrennungen ihres Lebens sicher. Dafür, dass die Ausbreitung des ländlichen Kapitalismus samt all ihrer Folgen (Landenteignung, Vertiefung sozialer Abstände, Zusammenbruch kollektiver Beziehungen) ein entscheidender, im Hintergrund der Hexen­ jagd wirkender Faktor war, spricht auch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Beschuldigten arme, bäuerliche Frauen - Kätnerinnen und Lohnarbeiterin­

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nen - waren, wogegen es sich bei den Klägern um wohlhabende, angese­ hene Mitglieder der Gemeinschaft, oft auch um die Arbeitgeber oder Grund­ herren der Angeklagten handelte: um Individuen also, die Teil der lokalen Machtstrukturen waren und oft auch enge Beziehungen zum Zentralstaat pflegten. Erst im Fortgang der Verfolgung, als die Furcht vor Hexen (aber auch die Furcht, selbst der Hexerei oder „subversiven Umgangs“ beschul­ digt zu werden) in der Bevölkerung verbreitet worden war, begannen Frauen auch von ihren Nachbarinnen angeklagt zu werden. In England handelte es sich bei den Hexen in der Regel um ältere Frauen, die von der öffentlichen Wohlfahrt lebten, oder um Frauen, die von Haus zu Haus zogen und um etwas Essen, Wein oder Milch bettelten; waren sie verheiratet, dann waren ihre Ehemänner Tagelöhner, doch meistens waren sie verwitwet und lebten allein. Die Armut dieser Frauen sticht aus ihren Bekenntnissen hervor. Der Teufel erschien ihnen in Zeiten der Not, um ihnen zu versichern, dass ihnen von nun an „nichts mehr fehlen“ werde, obgleich das Geld, das er ihnen dann gab, später zu Asche wurde - ein Detail, das vielleicht mit der damals weit­ verbreiteten Erfahrung der Hyperinflation zusammenhängt (Larner 1983: 95; Mandrou 1968: 77). Was die teuflischen Verbrechen der Hexen angeht, so stellen sie sich schlichtweg als Klassenkampf auf der Ebene des Dorfes dar: das „böse Auge“, der Fluch einer Bettlerin, der man ein Almosen verweigert hat, eine überfällige Pachtzahlung, die Forderung nach öffentlicher Unter­ stützung (Macfarlane 1970: 97; Thomas 1971: 565; Kittredge 1929: 163). Die vielfältigen Weisen, auf die der Klassenkampf zur Entstehung einer eng­ lischen Hexe beitrug, zeigen sich an den Anschuldigungen gegen Margaret Harkett, eine 65 Jahre alte Witwe, die 1585 in Tyburn gehängt wurde: „Sie hatte ohne Erlaubnis auf dem Feld ihres Nachbarn einen Korb Bir­ nen gepflückt. Als sie aufgefordert wurde, die Birnen zurückzugeben, warf sie diese wütend zu Boden. Seitdem wuchsen auf dem Feld keine Birnen mehr. Später verweigerte William Goodwins Diener ihr Hefe, woraufhin seine Brauvorrichtung austrocknete. [Harkett] wurde von einem Gutsverwalter geschlagen, der sie dabei erwischt hatte, wie sie Holz vom Grund des Herrn stahl; der Gutsverwalter wurde wahnsin­ nig. Ein Nachbar verweigerte ihr ein Pferd; all seine Pferde starben. Ein anderer zahlte ihr für ein Paar Schuhe weniger, als sie gefordert hatte; er starb später. Ein Herr befahl seinem Diener, ihr Buttermilch zu verwei­ gern; danach waren die beiden nicht mehr in der Lage, Butter oder Käse herzustellen.“ (Thomas 1971: 556) Demselben Muster begegnet man in den Fällen der Frauen, die in Chelmsford, Windsor und Osyth dem Gericht „präsentiert“ wurden. Mutter Waterhouse, die 1566 in Chelmsford gehängt wurde, war eine „sehr arme alte Frau“ , von der es heißt, sie habe um etwas Kuchen oder Butter gebettelt und sich mit vielen ihrer Nachbarn „entzweit“ (Rosen 1969: 76-82). Auch Eliz­ abeth Stile, Mutter Devell, Mutter Margaret und Mutter Dutton, die 1570

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Eine klassische Darstellung der englischen Hexe: Alt, schwächlich und umgeben von ihren Tieren und Vertrauten, behält sie dennoch eine trotzige Haltung. Aus: The W o n d e rfu l D is c o ­ v e rie s o f the W itc h cra fts o f M a rg a re t a n d P h illip F lo w e rs (1619). in Windsor hingerichtet wurden, waren arme Witwen; Mutter Margaret lebte im Armenhaus, wie die angebliche Anführerin der Gruppe, Mutter Seder, und sie gingen alle betteln und rächten sich vermutlich an denen, die ihnen etwas verweigerten (Rosen 1969: 83-91). Nachdem man Elizabeth Francis, einer der Hexen von Chelmsford, etwas alte Hefe verweigert hatte, verfluchte sie ihre Nachbarin, die später starke Kopfschmerzen bekam. Mutter Staunton murmelte beim Gehen verdächtig vor sich hin, nachdem ihre Nachba­ rin ihr Hefe verweigert hatte, woraufhin das Kind der Nachbarin ernsthaft erkrankte (Rosen 1969: 96). Die 1582 in Osyth gehängte Ursula Kemp ließ eine gewisse Grace erlahmen, nachdem diese ihr etwas Käse vorenthalten hatte; außerdem ließ sie den Hintern von Agnes Letherdales Kind anschwel­ len, nachdem diese ihr Scheuersand verweigert hatte. Alice Newman plagte den Armenkollektor Johnson zu Tode, nachdem er ihr zwölf Pence verwei­ gert hatte; sie bestrafte auch einen gewissen Butler, nachdem dieser ihr ein Stück Fleisch verweigert hatte (Rosen 1969: 119). Einem ähnlichen Muster begegnen wir in Schottland, wo die Angeklagten ebenfalls arme Kätnerinnen waren, die zwar noch über ein wenig eigenes Land verfügten, aber kaum noch über die Runden kamen und die Feindseligkeit ihrer Nachbarn auf sich zogen, nachdem sie ihr Vieh auf deren Land grasen lassen oder ihre Pacht nicht bezahlt hatten (Larner 1983).

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Hexenjagd und Klassenrevolte

Wie wir an diesen Fällen sehen können, gedieh die Hexenjagd in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die „Besseren“ in ständiger Furcht vor den „Unterklassen“ lebten, von denen man gewiss erwarten konnte, dass sie böse Gedanken hegten, verloren sie in dieser Zeit doch alles, was sie besaßen. Es überrascht nicht, dass sich diese Furcht in einem Angriff auf die volks­ tümliche Magie entlud. Der Kam pf gegen die Magie hat die Entwicklung des Kapitalismus stets begleitet, bis auf den heutigen Tag. Die Magie beruht auf dem Glauben, dass die Welt beseelt ist, unvorhersehbar, und dass allen Din­ gen eine Kraft innewohnt, „dem Wasser, den Bäumen, den Substanzen, den Worten“ (Wilson 2000: xvii), so dass jedes Ereignis als Ausdruck einer okkul­ ten Macht gedeutet wird, die entziffert und dem eigenen Willen unterworfen werden muss. Was dies im Alltag beinhaltete beschreibt, wahrscheinlich etwas übertrieben, der Brief, den ein deutscher Pfarrer im Jahr 1594 nach seinem Amtsbesuch auf dem D orf verfasste: „Die Verwendung von Beschwörungen ist derart verbreitet, dass hier kein Mann und keine Frau irgendetwas unternimmt, [...] ohne vor­ her zu einem Zeichen, einer Beschwörung, magischen oder heidnischen Mitteln zu greifen. Zum Beispiel bei den Geburtswehen, beim Aufheben oder Absetzen des Kindes, [...] wenn die Tiere aufs Feld geführt wer­ den, [...] wenn sie einen Gegenstand verloren haben oder nicht finden können, [...] beim nächtlichen Schließen des Fensters, wenn jemand erkrankt oder eine Kuh sich merkwürdig verhält - dann laufen sie sofort zum Wahrsager und fragen, wer sie bestohlen habe, wer sie verzaubert habe, oder um sich ein Amulett geben zu lassen. Der Alltag dieser Men­ schen zeigt, dass der Gebrauch des Aberglaubens keine Grenzen kennt. [...] Jeder hier beteiligt sich an abergläubischen Handlungen, mit Wor­ ten, Namen, Reimen, unter Verwendung des Gottesnamens, oder der Heiligen Dreifaltigkeit, oder der Jungfrau Maria, oder der zwölf Apos­ tel. [...] Diese Worte werden sowohl öffentlich als auch im Geheimen gesprochen; sie werden auf Papierstücke geschrieben, geschluckt, als Amulette getragen. Sie machen auch merkwürdige Zeichen, Geräusche und Gesten. Außerdem praktizieren sie Magie mit Kräutern, Wurzeln und den Zweigen eines bestimmten Baumes; für all diese Dinge haben sie einen besonderen Tag und Ort.“ (Strauss 1975: 21) Stephen Wilson weist in The M agical Universe (2000) darauf hin, dass es sich bei den Menschen, die diese Rituale praktizierten, überwiegend um Arme handelte, die um ihr Auskommen kämpften, stets bemüht waren, Katastrophen abzuwenden und daher danach strebten, „die herrschenden Mächte zu beschwichtigen, ihnen zu schmeicheln und sie sogar zu manipu­ lieren, [...] um Unheil und Böses fern zu halten und jenes Gute zu erlan­ gen, das in Fruchtbarkeit, Wohlbefinden, Gesundheit und Leben bestand“ (Wilson 2000: xviii). Der neuen kapitalistischen Klasse war diese anarchi-

214 sehe, molekulare Auffassung von einer in der Welt diffundierten Macht ein Gräuel. Indem sie auf die Kontrolle der Natur abzielt, muss die kapitalistische Arbeitsorganisation die in der magischen Praxis implizite Unvorhersehbarkeit ebenso ablehnen wie die Möglichkeit einer privilegierten Beziehung zu den natürlichen Elementen und den Glauben an Mächte, die nur bestimmten Individuen zur Verfügung stehen, sich also nicht ohne Weiteres verallgemei­ nern und ausbeuten lassen. Die Magie behinderte also die Rationalisierung des Arbeitsprozesses und bedrohte die Durchsetzung des Prinzips individu­ eller Verantwortung. Vor allem erschien die Magie als Form der Arbeitsver­ weigerung, der Aufsässigkeit, und als Mittel eines von der gesellschaftlichen Basis ausgehenden Widerstands gegen die Macht. Um beherrscht werden zu können, musste die Welt „entzaubert“ werden. Bis zum 16. Jahrhundert war dieser Angriff auf die Magie bereits in vol­ lem Gange, und Frauen liefen am meisten Gefahr, ihm ausgesetzt zu werden. Selbst wenn sie keine kundigen Zauberinnen oder Magierinnen waren: Sie waren diejenigen, die man rief, um erkrankte Tiere mit einem Zeichen zu versehen, um Nachbarn zu heilen, um beim Finden verlorener oder gestoh­ lener Gegenstände zu helfen, um Amulette oder Liebestränke anzufertigen oder bei der Vorhersage der Zukunft mitzuwirken. Die Hexenjagd richtete sich zwar gegen ein breites Spektrum weiblicher Praktiken, doch die Frauen wurden vor allem in ihrer Rolle als Zauberinnen, Heilerinnen, Aufsagerinnen von Beschwörungen und Wahrsagerinnen verfolgt.15 Denn ihr Anspruch auf magische Fähigkeiten unterminierte die Macht der Autoritäten und des Staa­ tes. Er verlieh den Armen Zutrauen in die eigene Fähigkeit, die natürliche und gesellschaftliche Umwelt zu manipulieren und vielleicht sogar die kon­ stituierte Ordnung umzustürzen. Andererseits ist es zweifelhaft, ob man die von Frauen über Generatio­ nen hinweg ausgeübten magischen Künste zu einer dämonischen Verschwö­ rung hätte aufbauschen können, wenn dies nicht vor dem Hintergrund einer gravierenden gesellschaftlichen Krise sowie von sozialen Kämpfen gesche­ hen wäre. Henry Kamen hat auf die Koinzidenz der sozio-ökonomischen Krise und der Hexenverfolgungen aufmerksam gemacht und die Beobach­ tung angestellt, dass „die größte Zahl von Beschuldigungen und Verfolgun­ gen exakt in die Zeit der höchsten Preissteigerungen fällt (vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts)“ (Kamen 1972: 249).16 Noch bedeutender ist die Koinzidenz der verstärkten Verfolgungen mit dem Ausbruch ländlicher und städtischer Revolten. Dies waren die „Bauern­ kriege“ gegen Landprivatisierungen, einschließlich der Aufstände gegen die „Einhegungen“ in England (1549, 1607, 1628, 1631), bei denen hunderte von Männern, Frauen und Kindern, mit Heugabeln und Spaten bewaffnet, die um die Allmende errichteten Zäune einrissen und erklärten: „Von nun an müssen wir nicht mehr arbeiten.“ In Frankreich kam es 1593-95 zum Auf­ stand der Croquants gegen den Zehnten, überzogene Steuerforderungen und

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Dieses Schaubild, das die Entwicklung der Hexenprozesse zwischen 1505 und 1650 zeigt, bezieht sich auf die Gebiete von Namur und Lorraine in Frankreich, ist aber auch für die Ver­ folgung in anderen europäischen Ländern repräsentativ. Die bedeutendsten Jahrzehnte waren überall jene von den 1 5 5 0 er bis zu den 1630er Jahren, als die Lebensmittelpreise stark anstiegen. (Aus: Kamen 1 9 7 2 ) den steigenden Brotpreis; letzterer führte in weiten Teilen Europas zu mas­ senhaftem Hunger. Bei diesen Revolten waren es oft die Frauen, die die Unternehmung begannen und anführten. Exemplarisch waren die Revolten von Montpel­ lier (1645) und Cordoba (1652). Erstere wurde von Frauen begonnen, die ihre Kinder vor dem Hungertod zu bewahren suchten, und auch in Cor­ doba machten die Frauen den Anfang. Es waren überdies Frauen, die (nach der Niederschlagung der Revolte, die mit der Einkerkerung oder dem Nie­ dermetzeln vieler Männer einherging) zurückblieben, um den Widerstand fortzusetzen, wenn auch auf eher untergründige Weise. Das ist es, was mög­ licherweise in Südwestdeutschland geschah, wo es zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bauernkriegs zu einer Hexenjagd kam. Erik Midelfort hat zu die­ sem Thema geschrieben und den Zusammenhang der beiden Erscheinungen geleugnet (Midelfort 1972: 68). Er hat sich jedoch nicht die Frage gestellt, ob es zwischen den tausenden von Bauern, die von 1476 bis 1525 fortlaufend die Waffen gegen die Feudalmacht erhoben und auf so brutale Weise nieder-

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geschlagen wurden, und den Dutzenden von Frauen, die zwei Jahrzehnte später in derselben Region und in denselben Dörfern auf den Scheiterhaufen geführt wurden, familiäre oder gemeinschaftliche Beziehungen von der Art gab, auf die Le Roy Ladurie in den Cevennen gestoßen ist.17 Es ist jedenfalls nicht schwer, sich vorzustellen, dass die grausame Repression durch die deut­ schen Fürsten und die vielen hundert oder tausend gekreuzigten, geköpften und lebendig verbrannten Bauern unstillbaren Hass und geheime Rachepläne hinterließen, insbesondere unter jenen älteren Frauen, die alles beobachtet hatten, sich daran erinnerten und der Elite ihre Feindseligkeit auf vielfältige Weise mitgeteilt haben dürften. Die Verfolgung der Hexen gedieh auf diesem Boden. Sie war ein Klas­ senkrieg mit anderen Mitteln. In diesem Zusammenhang können wir nicht umhin, den Zusammenhang zwischen der Furcht vor Aufständen und der ständigen Rede der Ankläger vom Hexensabbat oder von der Synagoge18 zu bemerken: jener berühmten nächtlichen Zusammenkunft, auf der sich angeblich tausende von Menschen versammelten, oft von weither anreisend. Ob die Autoritäten, indem sie die Gräuel des Sabbats beschworen, tatsächli­ che Organisationsformen im Sinn hatten, lässt sich nicht feststellen. Es steht jedoch außer Zweifel, dass in der zwanghaften Beschäftigung der Richter mit diesen teuflischen Versammlungen nicht nur die Verfolgung der Jüdinnen nachhallte, sondern auch die geheimen Treffen, die die Bauern nachts auf ein­ samen Hügeln und in den Wäldern abhielten, um ihre Revolten zu planen.19 Die italienische Historikerin Luisa Muraro hat in La signora del gioco („Die Spieldame“, 1977), einer Studie der Hexenverfolgungen in den italienischen Alpen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, darüber geschrieben: „Während des Prozesses von Val di Fiemme erzählte eine der Beschuldig­ ten den Richtern spontan, dass sie eines Nachts, als sie mit ihrer Schwie­ germutter in den Bergen war, in der Ferne ein großes Feuer sah. ,Lauf fort, lauf fort‘, hatte ihre Großmutter gerufen, ,das ist das Feuer der Spieldame/ ,SpieF (gioco) ist in vielen norditalienischen Dialekten die älteste Bezeichnung für den Sabbat. (In den Unterlagen des Prozesses von Val di Fiemme ist noch von einer Frau die Rede, die das Spiel gelei­ tet habe.) [...] In der gleichen Region gab es 1525 einen gewaltigen Bau­ ernaufstand. Die Bauern forderten die Abschaffung des Zehnten und der Abgaben, die Jagdfreiheit, weniger Klöster, Unterkünfte für die Armen, das Recht eines jeden Dorfes, seinen Priester selbst zu wählen. [...] Sie verbrannten Schlösser, Klöster und die Häuser des Klerus. Doch sie wur­ den besiegt, massakriert, und die Überlebenden wurden noch jahrelang von den Rache fordernden Autoritäten verfolgt.“ Muraro schließt daraus: „Das Feuer der Spieldame verblasst in der Ferne, im Vordergrund erscheinen die Feuer der Revolte und die Scheiterhaufen der Repres­ sion. [...] Uns scheint jedoch, dass zwischen der Bauernrevolte, die in

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Vorbereitung war, und den Erzählungen über die mysteriösen nächt­ lichen Versammlungen ein Zusammenhang besteht. [...] Wir können nur annehmen, dass sich die Bauern nachts im Geheimen um ein Feuer versammelten, um sich zu wärmen und um sich miteinander zu verstän­ digen, [...] und dass diejenigen, die davon wussten, das Geheimnis die­ ser verbotenen Versammlungen hüteten, indem sie auf die alte Legende anspielten. [...] Wenn die Hexen Geheimnisse hatten, dann könnte die­ ses eins davon gewesen sein.“ (Muraro 1977: 46-47) Die Klassenrevolte war, ebenso wie sexuelle Verstöße, ein zentrales Element in Schilderungen des Sabbats, der zum einen als monströse sexuelle Orgie, zum anderen aber auch als subversive politische Versammlung dargestellt wurde, deren Höhepunkt darin bestand, dass die Anwesenden die von ihnen began­ genen Verbrechen schilderten und der Teufel die Hexen anwies, sich gegen ihre Herren aufzulehnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Pakt zwischen der Hexe und dem Teufel conjuratio genannt wurde, wie die Pakte, die Skla­ ven und Arbeiter häufig in ihrem Kam pf schlossen (Dockès 1982: 222; Tigar und Levy 1977: 136), und dass der Teufel aus Sicht der Kläger ein Verspre­ chen von Liebe, Macht und Reichtümern darstellte, für das Menschen bereit waren, ihre Seele zu verkaufen, also jedes natürliche und gesellschaftliche Gesetz zu übertreten. Die Bedrohung des Kannibalismus, ein weiteres zentrales Thema in der Morphologie des Sabbats, erinnert nach Henry Kamen an die Morpholo­ gie der Revolten, da rebellierende Arbeiter ihrer Verachtung für diejenigen, die ihr Blut verkauften, zuweilen durch die Drohung Ausdruck verliehen, sie aufzuessen.20 Kamen erwähnt die Ereignisse in der Stadt Romans (Dau­ phiné, Frankreich) im Winter 1580, als die gegen den Zehnten revoltieren­ den Bäuerinnen erklärten, dass man „binnen dreier Tage Christenfleisch ver­ kaufen“ werde; während des Karnevals habe der Anführer der Rebellen dann, „in ein Bärenfell gekleidet, Delikatessen gegessen, die Christenfleisch dar­ stellten“ (Kamen 1972: 334; Le Roy Ladurie 1981: 189, 216). In Neapel verstümmelten die Rebellinnen während eines Aufstands gegen den hohen Brotpreis im Jahr 1585 den Körper des für den Preisanstieg verantwortlichen Magistrats und boten Stücke seines Fleisches zum Verkauf an (Kamen 1972: 335). Kamen weist daraufhin, dass der Verzehr menschlichen Fleisches eine völlige Umkehr gesellschaftlicher Werte darstellte; dies entspricht dem Bild der Hexe als Verkörperung moralischer Perversion, das die vielen mit der Pra­ xis der Hexerei in Verbindung gebrachten Rituale vermitteln, etwa die rück­ wärts zelebrierte Messe und die Tänze gegen den Uhrzeigersinn (Clark 1980; Kamen 1972). Tatsächlich war die Hexe das lebendige Symbol der „verkehr­ ten Welt“, eines in der mittelalterlichen Literatur häufig anzutreffenden Sym­ bols, das mit dem millenaristischen Streben nach der Subversion der Gesell­ schaftsordnung verbunden war.

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Der subversive, utopische Aspekt des Hexensabbats wird auch, wenn­ gleich aus einer anderen Perspektive, von Luciano Parinetto betont, der in Streghe epotere (1998) eine moderne Interpretation dieser Versammlung bie­ tet und ihre grenzüberschreitenden Eigenschaften zu der sich herausbilden­ den kapitalistischen Arbeitsdisziplin in Beziehung setzt. Parinetto macht dar­ auf aufmerksam, dass der nächtliche Aspekt des Sabbats einen Verstoß gegen die kapitalistische Regulierung der Arbeitszeit darstellte und das Privateigen­ tum sowie die sexuelle Orthodoxie herausforderte, denn die nächtliche Dun­ kelheit verwischte die Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern sowie zwischen „mein und dein“. Parinetto vertritt auch die These, dass das Motiv der Flucht, der Reise, ein wichtiges Element der gegen die Hexen erhobenen Beschuldigungen, als Angriff auf die Mobilität von migrantischen und Wan­ derarbeitern gedeutet werden sollte: auf eine neue Erscheinung also, die sich in der Furcht vor jenen Vagabundinnen niederschlug, die die Autoritäten in dieser Zeit so sehr beschäftigten. Parinetto gelangt zu dem Schluss, dass der nächtliche Sabbat, in seiner historischen Spezifizität betrachtet, eine Dämonisierung jener Utopie darstellt, den die Rebellion gegen die Herren und der Kollaps der Geschlechterrollen verkörperten; außerdem stelle er einen der neuen kapitalistischen Arbeitsdisziplin entgegengesetzten Gebrauch von Raum und Zeit dar. In diesem Sinne besteht eine Kontinuität zwischen der Hexenjagd und den früheren Verfolgungen der Häretiker, bei denen ebenfalls bestimmte For­ men gesellschaftlicher Subversion unter dem Vorwand der Durchsetzung reli­ giöser Orthodoxie bekämpft wurden. Bezeichnenderweise entwickelte sich die Hexenjagd als erstes in Gebieten, wo die Verfolgung der Häretikerinnen am heftigsten verlaufen war (Südfrankreich, der Jura, Norditalien). In einigen Regionen der Schweiz wurden die Hexen anfangs als „herege“ (Häretikerin­ nen) oder „waudois“ (Waldenserinnen) bezeichnet (Monter 1976: 22; Rus­ sell 1972: 34 ff.).21 Hinzu kommt, dass die Häretiker ebenfalls als Verräter an der wahren Religion auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Verbre­ chen, derer sie beschuldigt wurden, fanden auch in den Dekalog der Hexerei Eingang: Sodomie, Kindestötung, Tierverehrung. Zum Teil handelte es sich dabei um rituell vorgetragene Vorwürfe, die die Kirche immer schon gegen rivalisierende Religionen erhoben hatte. Doch war, wie wir bereits gesehen haben, eine sexuelle Revolution auch ein wesentlicher Bestandteil der häre­ tischen Bewegung, von den Katharern bis zu den Adamiten. Insbesondere die Katharerinnen hatten die kirchliche Geringschätzung der Frauen her­ ausgefordert und sich für die Ablehnung der Ehe sowie sogar der Zeugung ausgesprochen, begriffen sie letztere doch als Gefangennahme der Seele. Sie hatten sich auch eine manichäische Religion zu eigen gemacht, auf die es einigen Historikern zufolge zurückzuführen war, dass sich die spätmittelal­ terliche Kirche verstärkt mit dem Wirken des Teufels in der Welt ausein­ andersetzte. Auch, dass die Inquisition die Hexerei als Gegenkirche begriff,

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Waldensische Häretiker in der Darstellung des Johannes Tinctoris, aus dessen T ra cta tu s c o n ­ tra se c tu m V a ld e n siu m . Die Hexenjagd entwickelte sich zunächst in Gebieten, in denen die Verfolgung der Häretiker am heftigsten verlaufen war. In einigen Gebieten der Schweiz wur­ den Hexen anfangs oft als „vaudois" bezeichnet.

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ist darauf zurückzuführen. So steht die Kontinuität von Häresie und Hexe­ rei zumindest in der ersten Phase der Hexenjagd außer Zweifel. Doch die Hexenjagd ereignete sich in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext. Dieser war gekennzeichnet von den Traumata und Verwerfungen, die der Schwarze Tod - ein Wendepunkt der europäischen Geschichte — bewirkt hatte, aber auch von dem später, im 15. und 16. Jahrhundert erfolgten Wan­ del der Klassenverhältnisse, ein Wandel, der Ergebnis der kapitalistischen Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens war. Auch scheinbare Elemente der Kontinuität (etwas das üppige nächtliche Festmahl) hatten also eine andere Bedeutung als in ihrer Vorwegnahme durch die kirch­ liche Bekämpfung der Häretiker. Hexenverfolgungen, Frauenverfolgungen und die Akkumulation der Arbeit

Der bedeutendste Unterschied zwischen Häresie und Hexerei besteht darin, dass die Hexerei als weibliches Verbrechen galt. Das galt insbesondere für den Höhepunkt der Verfolgung im Zeitraum zwischen 1550 und 1650. In einer früheren Phase hatten Männer bis zu 40 Prozent der Beschuldigten gestellt, und eine geringere Zahl wurde auch später noch verfolgt; die meisten kamen aus den Reihen der Vagabunden, Bettler und Wanderarbeiter, oder aber sie waren Sinti, Roma oder Priester niederen Ranges. Darüber hinaus war die Beschuldigung, den Teufel zu verehren, bis zum 16. Jahrhundert zu einem in politischen und religiösen Auseinandersetzungen häufig anzutref­ fenden Motiv geworden; es gab kaum einen Bischof oder Politiker, der im Eifer des Gefechts nicht beschuldigt wurde, ein Hexer zu sein. Protestanten beschuldigten Katholiken, insbesondere den Papst, dem Teufel zu dienen; Luther selbst wurde der Magie beschuldigt, ebenso John Knox in Schottland, Jean Bodin in Frankreich und viele andere anderswo. Auch Juden wurden gewohnheitsmäßig beschuldigt, den Teufel zu verehren; oft wurden sie mit Hörnern und Klauen dargestellt. Die herausragende Tatsache besteht jedoch darin, dass es sich bei mehr als 80 Prozent derer, die im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts als Hexen angeklagt und hingerichtet wurden, um Frauen handelte. Tatsächlich wurden in diesem Zeitraum mehr Frauen als Hexen vor Gericht gestellt als für irgendein anderes Verbrechen - bezeichnenderweise mit Ausnahme der Kindestötung. Dass die Hexe eine Frau war, betonten auch die Dämonologen, die dar­ über frohlockten, dass Gott den Männern eine solche Geißel erspart habe. Sigrid Brauner (1995) hat daraufhingewiesen, dass sich die zur Rechtferti­ gung dieser Erscheinung bemühten Argumente im Laufe der Zeit änderten. Erklärten die Autoren des Malleus Maleficarum noch, dass die Frau für Hexe­ rei besonders anfällig sei, „weil [sie] unersättlich ist“ (Kramer 2000: 238), so meinten Martin Luther und humanistische Autoren die Ursprünge dieser Perversion in der moralischen und geistigen Schwäche der Frauen erkennen

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zu können. In jedem Fall wurden Frauen als besonders bösartige Wesen dar­ gestellt. Ein weiterer Unterschied zwischen der Verfolgung der Fläretiker und der der Hexen besteht darin, dass in letzterer die Anschuldigungen der sexuel­ len Perversion und der Kindestötung eine zentrale Rolle spielten und mit der nachgeraden Dämonisierung von Verhütungspraktiken einhergingen. Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Hexerei werden zum ersten Mal in der Bulle von Innozenz VIII. (1484) miteinander in Verbindung gebracht. Dort wird geklagt: „Durch ihre Beschwörungen, Zaubersprüche, Anrufungen sowie durch weitere verfluchte Aberglauben und horrende Zaubermittel, Ungeheu­ erlichkeiten und Verstöße zerstören [Hexen] den Spross der Frauen. [...] Sie hindern Männer an der Zeugung und Frauen an der Empfängnis; so dass weder Ehemänner mit ihren Ehefrauen noch Ehefrauen mit ihren Ehemännern ihre Geschlechtsakte vollziehen können.“ (Korn und Peters 1972: 107-108) Von nun an war die Thematisierung reproduktiver Vergehen ein markantes Merkmal der Prozesse. Im 17. Jahrhundert wurde den Hexen vorgeworfen, sie hätten sich verschworen, die Zeugungsfähigkeit der Menschen und Tiere zu vernichten und Abtreibungen vorzunehmen; außerdem würden sie einer Sekte angehören, die es sich zur Aufgabe gesetzt habe, Kinder zu töten oder dem Teufel zu opfern. Auch in der Welt populärer Vorstellungen begann die Hexe mit einer lüsternen alten Frau assoziiert zu werden, die neuem Leben gegenüber feindselig eingestellt sei und sich von Kinderfleisch ernähre oder Kinderkörper verwende, um Zaubertränke anzufertigen —ein Stereotyp, das später durch Kinderbücher popularisiert werden sollte. Woher dieser Wandel im Übergang von der Verfolgung der Häresie zur Verfolgung der Hexerei? Anders gefragt: Warum wurde der Häretiker im Laufe eines Jahrhunderts zur Frau, und warum wurde die religiöse und sozi­ ale Grenzüberschreitung überwiegend als reproduktives Vergehen aufgefasst? Die englische Anthropologin Margaret Murray hat in den 1920er Jah­ ren, in ihrem Buch The Witch-Cult in Western Europe (1921), eine Erklä­ rung vorgeschlagen, die jüngst von Feministinnen und Anhängerinnen der „Wicca“-Bewegung aufgegriffen worden ist. Murray zufolge handelte es sich bei der Hexerei um eine alte matrifokale Religion, auf die die Inquisition nach der Niederschlagung der Häresie ihre Aufmerksamkeit gerichtet habe, aus Angst vor einer neuen Abweichung von der kirchlichen Doktrin. Mit anderen Worten: Die von den Dämonologen verfolgten Frauen zelebrierten (dieser Theorie zufolge) alte Fruchtbarkeitskulte, die Geburten und die gene­ rative Reproduktion befördern sollten. Diese Kulte hätten im Mittelmeer­ gebiet bereits tausende von Jahren lang existiert, seien aber von der Kirche als heidnisch und als Herausforderung ihrer Macht bekämpft worden.22 Die Anwesenheit von Ammen unter den Angeklagten, die Rolle, die Frauen im

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Mittelalter als gemeinschaftliche Heilerinnen spielten, und die Tatsache, dass die Kindesgeburt bis zum 16. Jahrhundert als weibliches „Mysterium“ ange­ sehen wurde, sind sämtlich Faktoren, die man zur Stützung dieser Ansicht angeführt hat. Die These vermag jedoch den Zeitpunkt der Hexenjagd nicht zu erklären, und sie klärt uns auch nicht darüber auf, weshalb diese Frucht­ barkeitskulte aus Sicht der Autoritäten derart verächtlich wurden, dass es zur Vernichtung der die alten Religion ausübenden Frauen kam. Eine andere Erklärung führt die Zentralität reproduktiver Vergehen in den Hexenprozessen auf die hohe Kindersterblichkeit zurück, die aufgrund wachsender Armut und Unterernährung für das 16. und 17. Jahrhundert typisch war. Die Hexen wurden dieser These zufolge dafür verantwortlich gemacht, dass so viele Kinder starben, dass sie so plötzlich und so kurz nach der Geburt starben und dass sie für eine Vielzahl von Erkrankungen anfällig waren. Doch auch diese Erklärung geht nicht weit genug. Sie berücksichtigt nicht, dass die als Hexen bezeichneten Frauen auch beschuldigt wurden, die Empfängnis zu verhindern; außerdem versäumt sie es, die Hexenjagd in den Kontext der Wirtschaftspolitik sowie der institutioneilen Politik des 16. Jahr­ hunderts einzuordnen. Dadurch entgeht ihr der wichtige Zusammenhang des Angriffs auf die Hexen mit dem neuen Interesse europäischer Staatsmän­ ner und Ökonomen an der Reproduktionsfrage und der Bevölkerungsgröße (also der Rubrik, in die die Frage nach der Größe der Arbeiterschaft damals fiel). Wie wir bereits gesehen haben, wurde die Frage der Arbeit im 17. Jahr­ hundert besonders dringlich, da sich die europäische Bevölkerung wieder rückläufig entwickelte, was die Furcht vor einem demographischen Kollaps aufkommen ließ, ähnlich dem, zu dem es in den Jahrzehnten nach der Con­ quista in den amerikanischen Kolonien gekommen war. Vor diesem Hinter­ grund ist es plausibel, dass die Hexenjagd zumindest teilweise den Versuch darstellte, die Geburtenkontrolle zu kriminalisieren und den weiblichen Kör­ per, die Gebärmutter, in den Dienst des Bevölkerungswachstums sowie der Produktion und Akkumulation von Arbeitskraft zu stellen. Das ist nur eine These. Sicher ist, dass die Hexenjagd von einer politi­ schen Klasse vorangetrieben wurde, die sich Sorgen um den Bevölkerungs­ rückgang machte und von der Überzeugung geleitet wurde, der Wohlstand der Nation bestehe in einer großen Bevölkerung. Die Tatsache, dass das 16. und das 17. Jahrhundert die Blütezeit des Merkantilismus waren und die Anfänge demographischer Aufzeichnungen (über Geburten, Todesfälle und Eheschließungen) mit sich brachten, die Anfänge der Volkszählung und die Formalisierung der Demographie selbst als „Staatswissenschaft“, ist ein deut­ licher Beleg für die strategische Bedeutung, die die Kontrolle der Bevölke­ rungsdynamik in den politischen Kreisen, die die Hexenjagd einleiteten, anzunehmen begann (Cullen 1975: 6 ff.).23 Wir wissen auch, dass viele Hexen Hebammen oder „weise Frauen“ waren, also die traditionellen Hüterinnen weiblichen Wissens um und weib-

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Hexen opfern dem Teufel Kinder. Holzschnitt aus einer Abhandlung über den Prozess der Agnes Sampson, 1591. licher Kontrolle über die Reproduktion (Midelfort 1972: 172). Der Hexen­ hammer widmet ihnen ein ganzes Kapitel. Darin heißt es, sie seien schlim­ mer als alle anderen Frauen, da sie der Mutter helfen würden, ihre eigene Leibesfrucht zu zerstören - eine Verschwörung, die, so die Autoren, durch den Ausschluss der Männer aus dem Raum erleichtert werde, in dem die Niederkunft stattfmde.24 Die Autoren stellen fest, dass es kaum eine Hütte gebe, in der keine Hebamme wohne, und empfehlen, keiner Frau zu erlau­ ben, dieser Kunst nachzugehen, sofern sie sich nicht zuerst als „gute Katho­ likin“ erwiesen habe. Diese Empfehlung fiel nicht auf taube Ohren. Wie wir gesehen haben, wurden Hebammen entweder beauftragt, Frauen zu überwa­ chen - etwa darauf zu achten, dass sie ihre Schwangerschaften nicht verbar­ gen und keine außerehelichen Kinder gebaren - , oder sie wurden marginalisiert. Sowohl in Frankreich als auch in England wurde es ab dem Ende des 16. Jahrhunderts nur noch wenigen Frauen erlaubt, Geburtshilfe zu leisten: eine Tätigkeit, die bis dahin ihr unantastbares Mysterium gewesen war. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts tauchten dann die ersten männlichen Geburts­

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helfer auf, und bis zum Ende des Jahrhunderts stand die Geburtshilfe fast vollständig unter staatlicher Kontrolle. Alice Clark schreibt: „Der kontinuierliche Vorgang, durch den Frauen in diesem Beruf von Männern ersetzt wurden, ist ein Beispiel dafür, wie sie von sämtlichen Berufsbereichen ausgeschlossen wurden, indem man ihnen die Möglich­ keit einer angemessenen Berufsausbildung nahm.“ (Clark 1968: 265) Den sozialen Niedergang der Hebamme einzig als Beispiel für den Ausschluss von Frauen aus dem Berufsleben zu deuten bedeutet jedoch, die Bedeutung dieses Vorgangs zu verfehlen. Es gibt tatsächlich überzeugende Belege dafür, dass die Hebammen marginalisiert wurden, weil man ihnen nicht traute, und weil ihr Ausschluss aus dem Beruf die weibliche Kontrolle über die Repro­ duktion unterminierte.25 Ganz so, wie die Einhegungen das gemeinschaftlich genutzte Land der Bau­ ern enteigneten, enteignete die Hexenjagd die Körper der Frauen. A u f diese Weise wurden Frauenkörper von allem „befreit“, was sie daran hinderte, als Maschinen zur Produktion von Arbeitskräften zu wirken. Denn die Drohung des Scheiter­ haufens errichtete um die Körper der Frauen noch eindrucksvollere Zäune, als man je um die Allmende herum errichtet hatte. Wir können uns vorstellen, wie es auf Frauen gewirkt haben muss, ihre Nachbarinnen, Freundinnen und Verwandten auf dem Scheiterhaufen bren­ nen zu sehen und dabei zu begreifen, dass jede Bemühung um Verhütung als Ergebnis dämonischer Perversion dargestellt werden konnte.26 Indem wir zu verstehen versuchen, was die als Hexen verfolgten Frauen und andere Frauen aus ihren Gemeinschaften gedacht, gefühlt und aus diesem horren­ den Amgriff auf sie geschlossen haben müssen - indem wir, mit anderen Wor­ ten, die Verfolgung „von innen“ betrachten, wie es Anne L. Barstow in ihrem Buch Witchcraze (1994) getan hat - , kommen wir auch in die Lage, auf Spe­ kulationen über die Motive der Verfolger verzichten und uns stattdessen auf die Auswirkungen der Hexenjagd auf die soziale Stellung der Frauen kon­ zentrieren zu können. So gesehen steht es außer Zweifel, dass die Hexenjagd die Methoden abschaffte, die Frauen eingesetzt hatten, um die Zeugung zu kontrollieren. Besagte Methoden wurden als diabolische Kunstgriffe verur­ teilt, und zugleich wurde die staatliche Kontrolle über den weiblichen Körper institutionalisiert, was die Vorbedingung für seine Unterordnung unter die Reproduktion der Arbeitskraft war. Doch die Hexe war nicht nur die Hebamme, die Frau, die es vermied, Mutter zu werden, oder die Bettlerin, die sich einen kümmerlichen Lebens­ unterhalt sicherte, indem sie ihren Nachbarn etwas Holz oder Butter stahl. Sie war auch die lockere, promiskuitive Frau: die Prostituierte oder Ehebre­ cherin, und ganz allgemein die Frau, die ihre Sexualität außerhalb der Bande von Ehe und generativer Reproduktion auslebte. So galt der „schlechte Ruft: in den Hexenprozessen als Schuldbeweis. Die Hexe war auch die rebellische Frau, die Widerworte gab, stritt, fluchte und bei der Folter nicht in Tränen

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Hexen braten Kinder. Aus: Francesco Maria Guazzo, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m , 1608. ausbrach. „Rebellisch“ bezieht sich hier nicht unbedingt auf irgendeine sub­ versive Tätigkeit der Frauen. Gemeint ist vielmehr der weibliche Charakter, der sich, insbesondere unter den Bäuerinnen, im Zuge des Kampfes gegen die Feudalmacht herausgebildet hatte, als die Frauen häretische Bewegungen angeführt, sich oftmals in weiblichen Bünden organisiert und die männliche Autorität sowie die Kirche zunehmend in Frage gestellt hatten. Die Beschrei­ bungen der Hexen erinnern an die Frauen aus den mittelalterlichen Morali­ täten und den Fabliaux: stets bereit, die Initiative zu ergreifen, ebenso aggres­ siv und herzhaft wie die Männer, Männerkleider tragend oder stolz auf dem Rücken ihres Ehemannes reitend, mit der Peitsche in der Hand. Sicherlich befanden sich unter den Verurteilten auch Frauen, die bestimmter Verbrechen verdächtigt wurden. Eine wurde beschuldigt, ihren Ehemann vergiftet zu haben, einer anderen wurde vorgeworfen, den Tod ihres Arbeitgebers verursacht zu haben, und wieder einer anderen wurde zur Last gelegt, ihre Tochter prostituiert zu haben (Le Roy Ladurie 1974: 203204). Doch es war nicht nur die deviante Frau, sondern die Frau als solche, und insbesondere die Frau aus den Unterklassen, die vor Gericht gestellt wurde: eine Frau, die so sehr gefürchtet wurde, dass das Verhältnis von Erziehung und Strafe in ihrem Fall auf den K opf gestellt wurde. „Wir müssen“, erklärte Jean Bodin, „einige in Schrecken versetzen, indem wir viele bestrafen.“ Und tatsächlich wurden in einigen Dörfern nur wenige verschont.

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Aus dem sexuellen Sadismus der gegen die Beschuldigten eingesetzten Foltermethoden spricht auch ein Frauenhass, der in der Geschichte seinesglei­ chen sucht. Das übliche Vorgehen bestand darin, die Beschuldigten auszuzie­ hen und am ganzen Körper zu scheren (denn es wurde behauptet, der Teufel verstecke sich in den Haaren); anschließend wurden sie am ganzen Körper, einschließlich der Vagina, mit langen Nadeln gestochen, auf der Suche nach dem Zeichen, mit dem der Teufel angeblich seine Kreaturen brandmarkte (ganz so, wie es die englischen Herren mit ihren entlaufenen Sklaven taten). Oft wurden die Frauen vergewaltigt. Es wurde ermittelt, ob sie Jungfrauen waren (ein Zeichen der Unschuld); und wenn sie nicht gestanden, wurden sie noch grässlicheren Torturen ausgesetzt: Ihre Körperglieder wurden ausgeris­ sen, sie wurden auf eiserne Stühle gesetzt, unter denen Feuer angezündet wur­ den, und ihnen wurden die Knochen gebrochen. Wenn sie gehängt oder ver­ brannt wurden, wurde darauf geachtet, dass die ihrem Tod zu entnehmende Lektion nicht unbeachtet blieb. Die Hinrichtung war ein wichtiges öffent­ liches Ereignis, dem alle Mitglieder der Gemeinschaft beizuwohnen hatten, einschließlich der Kinder der Hexen und insbesondere ihrer Töchter, die in einigen Fällen vor dem Scheiterhaufen, auf dem sie ihre Mutter bei lebendi­ gem Leibe verbrennen sahen, ausgepeitscht wurden. Die Hexenjagd war also ein Krieg gegen Frauen: ein konzertierter Ver­ such, sie abzuwerten, sie zu dämonisieren und ihre gesellschaftliche Macht zu brechen. Gleichzeitig waren die Folterkammern und die Scheiterhaufen, auf denen die Hexen starben, die Orte, an denen die bürgerlichen Ideale der Weiblichkeit und Häuslichkeit erfunden wurden. Die Hexenjagd verstärkte auch in dieser Hinsicht die gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit. Tatsächlich gab es eine unverkennbare Kontinuität zwi­ schen den Praktiken, gegen die sich die Hexenjagd richtete, und denen, die durch die zeitgleich erlassenen Gesetze zur Regulierung des Familienlebens sowie der Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse verboten wurden. In ganz Westeuropa wurden im Fortgang der Hexenjagd Gesetze verabschie­ det, die die Todesstrafe für Ehebrecherinnen einführten (wobei das Urteil in England und Schottland auf dem Scheiterhaufen zu vollstrecken war, wie im Fall des Hochverrats). Gleichzeitig wurde die Prostitution verboten, ebenso wie die außereheliche Geburt, und die Kindstötung wurde zum Kapitalver­ brechen.2^ Frauenfreundschaften wurden beargwöhnt und von der Kanzel aus als den Bund der Ehe unterlaufend verurteilt, ganz so, wie die Beziehun­ gen zwischen Frauen von den Hexenverfolgern dämonisiert wurden, die die Beschuldigten zwangen, sich gegenseitig als Komplizinnen zu denunzieren. In diese Zeit fällt auch der Bedeutungswandel des englischen Wortes „gossip“ , das im Mittelalter „Freund“ bedeutet hatte und nun eine abwertende Bedeu­ tung annahm („Tratsch“). Auch dies ist ein Hinweis darauf, wie sehr die Macht der Frauen und die gemeinschaftlichen Bande unterminiert wurden.

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Der Teufel entführt die Seele einer Frau, die ihm gedient hat. Holzschnitt aus Olaus Magnus, H isto h a d e g e n t ib u s s e p t e n t rio n a lib u s , Rom 1 5 5 5 . A uf der ideologischen Ebene fällt die Nähe des abwertenden Frauen­ bildes der Dämonologen zu den Weiblichkeitsvorstellungen auf, die in der zeitgleich geführten Debatte über das „Wesen der Geschlechter“ konstruiert wurden.28 In dieser Debatte kam es zur Kanonisierung eines Stereotyps, dem­ zufolge Frauen körperlich und geistig schwach und gleichsam biologisch für Böses anfällig sind. Dieses Stereotyp diente dazu, die männliche Kontrolle über die Frauen und die neue patriarchale Ordnung zu rechtfertigen. Die Hexenjagd und die Überlegenheit des Mannes: Die Zähmung der Frauen

Die Geschlechterpolitik der Hexenjagd zeigt sich am Verhältnis von Hexe und Teufel, einem der Motive, das die Prozesse des 16. und 17. Jahr­ hunderts einführten. Die Große Hexenjagd markiert einen Wendepunkt im Bild des Teufels: Die Teufelsvorstellungen, die sich in den mittelalterlichen Hagiographien oder in den Büchern der Renaissance-Magier finden, wichen neuen Vorstellungen. In den mittelalterlichen Hagiographien wird der Teu­ fel als Wesen dargestellt, das zwar böse ist, aber nicht besonders mächtig: Ein paar Tropfen Weihwasser und einige heilige Worte genügten meistens, um seine Pläne zu durchkreuzen. Das Bild des Teufels war das eines erfolglosen Übeltäters, der nicht nur weit davon entfernt war, Angst und Schrecken aus­ zulösen, sondern sogar einige Tugenden aufwies. Der mittelalterliche Teufel war ein Logiker und in Rechtsfragen kompetent; zuweilen wurde er darge­ stellt, wie er seine Sache vor Gericht vertrat (Seligman 1948: 151-158).29 Er

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war auch ein geschickter Arbeiter, den man einsetzen konnte, um Minen­ schächte auszuheben oder Stadtmauern zu errichten, wobei er meist betrogen wurde, wenn die Zeit kam, ihn zu bezahlen. In den Renaissance-Darstellun­ gen der Beziehung zwischen Teufel und Magier erscheint der Teufel stets als Untergebener, der wie ein Diener zurechtgewiesen und gezwungen wird, den Willen seines Herren auszuführen, ob er will oder nicht. Die Hexenjagd kehrte das Machtverhältnis zwischen Teufel und Hexe um. Nun war die Frau die Dienerin, die Sklavin, der Sukkubus in Geist und Seele, während der Teufel zugleich als ihr Besitzer, Herr, Zuhälter und Ehe­ mann auftrat. Beispielsweise war es der Teufel, „der auf die zukünftige Hexe zuging. Nur selten wurde er von ihr beschworen“ (Larner 1983: 148). Nach­ dem er sich ihr gezeigt hatte, fragte er sie, ob sie seine Dienerin werden wolle, und was dann folgte, ist ein klassisches Beispiel für das Verhältnis von Herr­ schaft und Knechtschaft, Ehemann und Ehefrau. Er brandmarkte sie, hatte Geschlechtsverkehr mit ihr und gab ihr in einigen Fällen sogar einen neuen Namen (Larner 1983: 148). Hinzu kommt, dass die Hexenjagd, in deutli­ cher Vorwegnahme des ehelichen Schicksals der Frauen, den einzelnen Teufel einführte, im Gegensatz zur Vielzahl von Teufeln, denen wir in der Welt des Mittelalters sowie in der der Renaissance begegnen, sowie einen männlichen Teufel, der im Gegensatz zu den weiblichen Figuren (Diana, Hera, J a signora del zogo“) stand, deren Kulte unter den Frauen des Mittelalters weitverbrei­ tet gewesen waren, sowohl in der Mittelmeerregion als auch in den teutoni­ schen Gebieten. Wie sehr es den Hexenverfolgern um die Durchsetzung des Prinzips männlicher Überlegenheit zu tun war, zeigt sich an der Tatsache, dass Frauen selbst dann, wenn sie gegen menschliches und göttliches Gesetz revoltierten, Dienerinnen eines Mannes sein mussten. Der Höhepunkt ihrer Rebellion der berühmte Teufelspakt - musste als pervertierter Ehevertrag dargestellt werden. Die Ehe-Analogie wurde so weit getrieben, dass die Hexen sogar gestanden, sie würden es „niemals wagen, dem Teufel nicht zu gehorchen“, oder auch, was etwas merkwürdiger ist, dass sie dem Beischlaf mit ihm kei­ nen Genuss abzugewinnen vermochten —was im Widerspruch zur Ideologie der Hexenjagd steht, der zufolge sich die Hexerei aus der unersättlichen Wol­ lust der Frauen erklärt. Die Hexenjagd heiligte nicht nur die Überlegenheit des Mannes, son­ dern sie trieb Frauen auch dazu, sich vor anderen Frauen zu fürchten und sie sogar als Zerstörerinnen des männlichen Geschlechts anzusehen. Die Auto­ ren des Maliern Maleficarum predigten, Frauen seien zwar lieblich anzusehen, sie zu berühren sei jedoch verderblich; sie würden zwar Männer anziehen, aber nur, um ihnen zu schaden; sie würden alles tun, um ihnen zu gefal­ len, doch der Genuss, den sie ihnen böten, sei bitterer als der Tod, denn die Laster der Frauen würden Männer ihre Seele kosten - und womöglich sogar ihre Geschlechtsorgane (Kors und Peters 1972: 114-115). Von Hexen wurde

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Frauen fliegen auf ihren Besen, nachdem sie sich eingesalbt haben. Französischer Stich aus dem 16. Jahrhundert, aus D ia lo g u e s to u ch a n t le p o u v o ir d e s s o rc iè re s von Thomas Erastus ( 1 5 7 0 ). angenommen, sie könnten Männer kastrieren oder impotent machen: entwe­ der, indem sie die Zeugungskraft der Männer hemmten, oder indem sie den Penis veranlassten, hervorzutreten oder sich wieder zusammenzuziehen, wie es die Hexen gerade wünschten.30 Manche raubten auch männliche Penisse, die sie dann in großer Zahl in Vogelnestern oder Schachteln versteckten, bis sie gezwungen wurden, sie wieder an ihre Besitzer zurückzugeben.31 Doch wer waren diese Hexen, die Männer kastrierten oder impotent machten? Potentiell konnte jede Frau eine von ihnen sein. In einem D orf oder einer kleinen Stadt von einigen tausend Einwohnern, wo auf dem Höhe­ punkt der Hexenjagd in wenigen Jahren oder sogar Wochen dutzende von Frauen verbrannt wurden, konnte sich kein Mann in Sicherheit wägen und mit Gewissheit davon ausgehen, dass er nicht selbst mit einer Hexe zusam­ menlebte. Viele müssen entsetzt gewesen sein, als sie hörten, dass manche Frauen das Ehebett verließen, um zum Sabbat zu reisen, und dass sie ihre Ehemänner täuschten, indem sie Stöcke neben sie legten; oder dass manche Frauen die Macht hatten, Penisse verschwinden zu lassen, wie die im Malleus erwähnte Hexe, die dutzende von Penissen in einem Baum versteckt hielt. Darauf, dass diese Propaganda Frauen und Männer erfolgreich spaltete, lässt die Tatsache schließen, dass es trotz vereinzelter Versuche von Söhnen, Ehemännern oder Vätern, ihre weiblichen Verwandten vor dem Scheiter­

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häufen zu retten, mit einer Ausnahme keinerlei Hinweise darauf gibt, dass sich irgendwelche Männer-Organisationen der Verfolgung entgegenge­ stellt hätten. Die Ausnahme ist der Fall der Fischer aus dem Baskenland, wo der französische Inquisitor Pierre Lancre Massenprozesse organisierte, die zur Verbrennung von bis zu sechshundert Frauen führten. Mark Kurlansky berichtet, dass die Fischer zunächst nicht vor Ort waren, da es Kabeljau-Sai­ son war. Doch: „[Als die Kabeljau-Fischer] von St. Jean de Luz, eine der größten Fischer­ gemeinden [des Baskenlandes], Gerüchte hörten, denen zufolge ihre Ehefrauen, Mütter und Töchter nackt ausgezogen und gestochen wür­ den, wobei viele bereits hingerichtet worden seien, beendeten sie die Fischfang-Saison des Jahres 1609 zwei Monate vor der Zeit. Die Fischer kehrten mit der Keule in der Hand zurück und befreiten einen Konvoi von Hexen, der gerade zum Scheiterhaufen geführt wurde. Es bedurfte nur dieses einen Aktes populären Widerstands, um die Prozesse zu been­ den [...].“ (Kurlansky 2001: 102) Die Intervention, durch die die baskischen Fischer gegen die Verfolgung ihrer weiblichen Verwandten vorgingen, blieb ein Einzelfall. Keine andere Gruppe oder Organisation erhob sich, um die Hexen zu verteidigen. Wir wissen sogar, dass manche Männer ein Geschäft daraus machten, Frauen zu denunzieren, indem sie sich selbst zu „Hexenjägern“ erklärten, um dann von D orf zu D orf zu ziehen und Frauen mit der Denunziation zu drohen, sofern sie nicht bezahlten. Andere Männer nutzten den Argwohn, mit dem Frauen betrachtet wurden, um sich von ungewollten Ehefrauen oder Lieb­ haberinnen zu befreien oder um sich vor der Rache von ihnen vergewaltigter oder verführter Frauen zu schützen. Dass die Männer es versäumten, gegen die Gräuel, denen die Frauen ausgesetzt wurden, vorzugehen, ging zweifel­ los häufig auf die Furcht zurück, ebenfalls angeklagt zu werden, denn viele der Hexerei angeklagte Männer waren die Verwandten mutmaßlicher oder verurteilter Hexen. Es steht jedoch ebenfalls außer Zweifel, dass jahrelange Propaganda und jahrelanger Terror unter Männern die Saat einer tiefen psy­ chologischen Entfremdung von Frauen gesät hatten. Diese Saat ging nun auf, zerbrach die Klassensolidarität und unterminierte die kollektive Macht der Männer. Marvin Harris ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Hexenjagd [...] zerstreute und zersplitterte die latenten Kräfte des Protests. [Sie] vermittelte allen das Gefühl, machtlos und von den herr­ schenden gesellschaftlichen Gruppen abhängig zu sein. Vor allem bot sie ihnen eine Gelegenheit, ihren Frust auf lokaler Ebene auszulassen. Dadurch hat sie die Armen mehr noch als jede andere gesellschaftliche Gruppe daran gehindert, der kirchlichen Autorität und der weltlichen Ordnung entgegenzutreten und eine Umverteilung des Wohlstands sowie einen Abbau gesellschaftlicher Hierarchien zu fordern.“ (Harris 1974: 239-240)

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Den herrschenden Klassen gelang es, ganz wie heute, das gesamte Proleta­ riat effektiver zu unterdrücken, indem sie Frauen unterdrückten. Sie stifte­ ten Männer, die enteignet, pauperisiert und kriminalisiert worden waren, dazu an, ihr persönliches Unglück der kastrierenden Hexe zuzuschreiben und die Macht, die Frauen den Autoritäten abgetrotzt hatten, als eine gegen sie gerichtete Macht anzusehen. In diesem Kontext wurden sämtliche tiefsit­ zenden Ängste mobilisiert, die Frauen (vor allem aufgrund der frauenfeind­ lichen Propaganda der Kirche) in Männern auslösten. Frauen wurden nicht nur beschuldigt, Männer impotent zu machen, sondern ihre Sexualität selbst wurde zum Objekt von Ängsten, zu einer gefährlichen dämonischen Macht, da Männern gesagt wurde, eine Hexe könne sie versklaven und ihrem Willen unterwerfen (Kors und Peters 1972: 130-132). Eine in den Hexenprozessen wiederholt vorgetragene Beschuldigung lautete, Hexen würden dekadenten sexuellen Praktiken frönen. Im Mittel­ punkt standen dabei der Beischlaf mit dem Teufel und die Teilnahme an den Orgien, die angeblich am Sabbat stattfanden. Den Hexen wurde aber auch vorgeworfen, in Männern übermäßige erotische Leidenschaft hervor­ zurufen, so dass es für Männer, die sich in einer unerlaubten Affäre befan­ den, ein leichtes war zu behaupten, sie seien verhext worden. Auf ähnliche

Der Teufel verführt eine Frau dazu, mit ihm einen Pakt zu schließen. Aus: Ulrich Molitor, D e la m ie s (1489).

232 Weise konnte eine Familie die Beziehung eines Sohnes zu einer nicht gebil­ ligten Frau beenden, indem sie die Frau beschuldigte, eine Flexe zu sein. Im Malleus steht: „Und dies [die Hexerei infolge verderbter Begierden] erfolgt gemäßt siebenfachem Schadenszauber \Septemplici maleficio], wie in der Bulle \Summis desiderantes affectibus von Papst Innozenz VIIL] angesprochen wird, indem sie den fleischlichen Akt und die Empfängnis in der Gebär­ mutter durch unterschiedlichen Schadenszauber infizieren: Erstens verändern sie [Hexen] die Gedanken der Menschen zu unbän­ diger Liebe etc.; zweitens hemmen sie die Zeugungskraft; drittens ent­ fernen sie die zu jenem Akt gehörigen Glieder; viertens verwandeln sie die Menschen durch Blendwerk [scheinbar] in Tiergestalten; fünftens vernichten sie die Zeugungskraft der Weibchen; sechstens, daß sie Fehl­ geburten bewirken; siebtens, daß sie den Dämonen Kindern darbringen [...].“ (Kramer 2000: 238-239) Dass die Hexen gleichzeitig beschuldigt wurden, Männer impotent zu machen und übermäßige sexuelle Leidenschaft in ihnen hervorzurufen, ist nur schein­ bar ein Widerspruch. Im neuen patriarchalen Kodex, der sich parallel zur Hexenjagd entwickelte, war die körperliche Impotenz das Gegenstück zur moralischen Impotenz; sie war die körperliche Äußerung der Aushöhlung männlicher Autorität über Frauen, da es „funktional“ keinen Unterschied zwischen einem kastrierten und einem hoffnungslos verliebten Mann gab. Die Dämonologen betrachteten beide Zustände mit Argwohn. Sie waren ein­ deutig überzeugt, dass es unmöglich sein würde, den vom damaligen Alltags­ verstand des Bürgertums verlangten Familientyp zu verwirklichen - einen Familientyp, in dem der Mann König ist und die Frau sich seinem Willen unterwirft, um sich selbstlos der Haushaltspflege zu widmen (Shochet 1975) - , solange Frauen durch ihren Glanz und ihre Liebeszauber so viel Macht ausübten, dass sie die Männer zu Sukkubi ihrer Begierden machen konnten. Die sexuelle Leidenschaft unterwanderte nicht nur die männliche Auto­ rität über Frauen - Montaigne klagte, der Mann könne in allen Handlun­ gen seinen décor bewahren, nur nicht beim Geschlechtsakt (Easlea 1990: 243) - , sondern auch die männliche Fähigkeit zur Selbstführung, so dass der Mann jenen kostbaren K opf verlor, in dem die kartesianische Philosophie den Ursprung des Geistes verortete. Eine sexuell aktive Frau war also eine Gefahr für die Öffentlichkeit, eine Bedrohung der Gesellschaftsordnung, denn sie zerrüttete das Verantwortungsbewusstsein des Mannes sowie seine Fähigkeit, zu arbeiten und sich selbst zu beherrschen. Wenn die Frauen Männer nicht in den moralischen Ruin treiben sollten - oder, schlimmer noch, in den finan­ ziellen - , dann musste die weibliche Sexualität exorziert werden. Erreicht wurde dies durch Folter, durch den Feuertod sowie durch die akribischen Vernehmungen, denen Hexen unterzogen wurden, und die eine Mischung aus sexuellem Exorzismus und psychologischer Vergewaltigung dar stellten.32

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Für Frauen läuteten die 16. und 17. Jahrhunderte also eine Ära der sexu­ ellen Repression ein. Zensur und Verbote begannen, ihr Verhältnis zur Sexua­ lität zu bestimmen. Mit Bezug auf Michel Foucault müssen wir darauf beste­ hen, dass es nicht die katholische Pastorale und auch nicht das Geständnis war, worin sich am deutlichsten zeigte, wie die „Macht“ zu Beginn der Neu­ zeit den Zwang schuf, über Sexualität zu sprechen (Foucault 1977a: 23 ff). Die explosionsartige Vervielfältigung sexueller Diskurse, die Foucault für diese Zeit ermittelt hat, zeigte sich nirgendwo eindrücklicher als in den Fol­ terkammern der Hexenjagd. Sie hatte aber nichts mit der beidseitigen Erre­ gung gemein, die Foucault dem Verhältnis zwischen der Frau und ihrem Beichtvater zuschreibt. Weitaus mehr noch als irgendein Dorfpfarrer zwan­ gen die Inquisitoren die Hexen, ihre sexuellen Abenteuer bis in die klein­ ste Einzelheit darzulegen. Die Tatsache, dass sie es oft mit älteren Frauen zu tun hatten, deren sexuelle Errungenschaften viele Jahrzehnte zurücklagen, tat dem keinen Abbruch. Die Inquisitoren zwangen die vermeintlichen Hexen auf geradezu rituelle Weise, zu erklären, wie sie in ihrer Jugend das erste Mal vom Teufel genommen wurden, was sie bei der Penetration verspürten, wel­ che unsauberen Gedanken sie gehegt hatten. Die Bühne, auf der sich dieser eigenartige Diskurs über die Sexualität entfaltete, war jedoch die Folterkam­ mer, und die Fragen wurden zwischen den Schlägen des strappado an Frauen gerichtet, die vor Schmerz verzweifelt waren. Es übersteigt das Vorstellungs­ vermögen, dass die Orgie von Worten, die die derart gefolterten Frauen von sich gaben, ihnen Genuss verschafft oder ihre Begierde durch linguistische Sublimierung neu ausgerichtet habe. Im Fall der Hexenjagd —den Foucault in Der Wille zum Wissen (1977a) erstaunlicherweise übergeht - wurde der „unendliche Diskurs über die Sexualität“ nicht als Alternative zu Repression, Zensur und Unterdrückung gebraucht, sondern in deren Dienst gestellt. Wir können jedenfalls mit Sicherheit sagen, dass die Sprache der Hexenjagd die Frau als eigene Gattung „produzierte“: als Wesen sui generis, fleischlicher als andere und von Natur aus pervers. Wir können auch sagen, dass die Pro­ duktion der „weiblichen Perversen“ eine Etappe der Verwandlung der weib­ lichen vis erotica in eine vis lavorativa darstellte, also eine erste Etappe der Ver­ wandlung weiblicher Sexualität in Arbeit. Wir sollten jedoch den destruktiven Charakter dieses Vorgangs zur Kenntnis nehmen, der auch die Grenzen einer allgemeinen „Geschichte der Sexualität“ aufzeigt, wie Foucault sie vorgeschla­ gen hat. Denn eine solche Geschichte verhandelt die Sexualität aus der Per­ spektive eines undifferenzierten, geschlechtsneutralen Subjekts sowie als eine Tätigkeit, deren Folgen für Männer und Frauen dieselben sein sollen. Die Hexenjagd und die kapitalistische Rationalisierung der Sexualität

Die Hexenjagd resultierte für Frauen nicht in neuen sexuellen Fähig­ keiten oder sublimierten Genüssen. Sie war vielmehr der erste Schritt eines langen Marsches zu „sauberem Sex zwischen sauberen Betttüchern“, durch

234 den die weibliche Sexualität zu Arbeit und zu einem Dienst an den Männern sowie an der Zeugung gemacht wurde. Ein zentraler Aspekt dieses Vorgangs bestand im Verbot aller nicht produktiven, nicht generativen Formen weibli­ cher Sexualität. Diese wurden als asozial und geradezu dämonisch aufgefasst. Die Abscheu, die nicht-generative Sexualität zu erwecken begann, kommt im alten Mythos von der auf ihrem Besen reitenden Hexe gut zum Ausdruck. Der Besen war, wie die Tiere (Ziegen, Stuten, Hunde), auf denen die Hexe ebenfalls ritt, ein verlängerter Penis, das Symbol zügelloser Lust. Diese Bilderwelt verweist auf eine neue sexuelle Disziplin, worin der „alten und hässlichen“, der unfruchtbaren Frau das Recht auf ein Sexualleben ver­ weigert wurde. Indem sie dieses Stereotyp schufen, befanden sich die Dämonologen in Einklang mit den Vorstellungen ihrer Zeit, wie aus den Bemer­ kungen von zwei gefeierten Zeitgenossen der Hexenjagd hervorgeht: „Was aber bei jungen Menschen eher geduldet werden kann, [...] das ist bei alten Leuten lästerlich, und ist nichts widriger als ein alter Wüst­ ling und Narr, der den Verliebten macht. Und dennoch ist nichts häufi­ ger [...]. Bei alten Weibern ists gar noch ärger, wenn sie eine alte Witwe ist und vor langer Zeit Mutter war, [...] will aber wider allen Anstand und Verstand sich wieder verheiraten, hört und sieht kaum, kann weder stehn noch gehn, ein wahres Gerippe, ein Gespenst, eine Hexe - aber sie muß schnurren und gurren, wiehert nach einem Hengst und will wieder heiraten [...].“ (Burton 1988: 284) „Noch herzbrechender ists, wenn man ein altes Mütterlein sieht, die schon lange dem Tod entgegengelebt hat, und so geripphaft aussieht, daß man meynen sollte, sie komme gerad aus dem Reiche der Todten zurück, aber das Lob des Lebens noch immer herausstreicht, und einen armen Phaon reichlich bezahlt, um ihr durch seine geheimen Künste die Lebensliebe fleißig einzupropfen: an Schminke läßt sies nicht feh­ len, ihr Gesicht zu verstecken; vom Spiegel ist sie nicht wegzubringen; sie erarbeitet sich, was an ihrem Leibe das Alter verräth, bestmöglichst auszureuten; da steht sie leider im allzutief ausgeschnittenen Wamste; in ein verliebtes Liedchen brummt ihr kollernde Stimme; da sitzt sie beym Gesundheittrinken; mischt sich unter die tanzenden Reigen der M äd­ chen; krazet Liebesbriefe.“ (Erasmus 1918: 63-64) Das war weit entfernt von der Welt Chaucers, wo die Frau aus Bath, die bereits fünf Ehemänner zu Grabe getragen hatte, immer noch ausrufen konnte: „Und auch der sechste soll willkommen sein. / Ich will nicht gänzlich mich der Keuschheit weihn. / Drum, wenn mein jetziger einmal begraben, / Soll gleich ein andrer Christenmensch mich haben“ (Chaucer 1981: 179— 180). In Chaucers Welt war die sexuelle Vitalität der alten Frau eine Bejahung des Lebens und richtete sich gegen den Tod; in der Ikonographie der Hexen­ jagd schließt das Alter im Fall von Frauen die Möglichkeit eines Sexuallebens

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D is p u t z w is c h e n e in e r H exe u n d e in e m In q u is ito r. Hans Burgkmair

(vor 1514 ). Viele als Hexen angeklagte und vor Gericht gestellte Frauen waren alt und arm. Oft überlebten sie nur dank öffentlicher Fürsorge. Es heißt, die Hexerei sei die Waffe der Schwachen. Doch ältere Frauen waren auch diejenigen Mitglieder der Gemeinschaft, von denen am ehesten Widerstand gegen die aus der Ausbreitung des Kapitalismus resultierende Zerstörung gemeinschaftlicher Beziehungen zu erwarten war. Sie verkörperten das Wissen und das Gedächtnis der Gemeinschaft. Die Hexenjagd kehrte das Bild der alten Frau um: War sie traditionell als weise Frau angesehen worden, so wurde sie nun zum Symbol der Unfruchtbarkeit und der Lebens­ feindlichkeit.

aus. Das Alter kontaminiert das Sexualleben und verwandelt sexuelle Hand­ lungen aus einem Mittel der Regeneration in Instrumente des Todes. Unabhängig vom Alter (aber nicht von der Klasse) wurde die weibli­ che Sexualität in den Hexenprozessen durchweg mit Zoophilie identifiziert. Die Hexen sollten mit dem Ziegengott (einer Erscheinungsform des Teufels) kopuliert oder den berüchtigten Kuss sub cauda („unter dem Schwanz“) prak­ tiziert haben. Den Hexen wurde auch vorgeworfen, eine Vielzahl von Tieren

23 6 oder „Hilfsgeistern“ zu besitzen, die sie bei ihren Verbrechen unterstützen und zu denen sie ein besonders intimes Verhältnis pflegen würden. Es han­ delte sich um Katzen, Hunde, Hasen und Frösche, die die Hexen angeblich hegten und pflegten, etwa indem sie sie an besonderen Zitzen säugten. Auch andere Tiere spielten im Leben der Hexe als Instrumente des Teu­ fels eine Rolle: Ziegen und Stuten flogen sie zum Sabbat, und Kröten liefer­ ten das Gift für ihre Gebräue. Tiere waren in der Welt der Hexen derart prä­ sent, dass man nur annehmen kann, dass auch ihnen der Prozess gemacht werden sollte.33 Vorstellungen von der Ehe zwischen der Hexe und ihren „Hilfsgeistern“ bezogen sich möglicherweise auf die „zoophilen“ Praktiken, die das Sexual­ leben der europäischen Bauern prägten; die Zoophilie blieb noch lange nach dem Ende der Hexenjagd ein Kapitalverbrechen. In einem Zeitalter, das die Vernunft zu verehren und die menschliche Form vom Körperlichen abzulö­ sen begann, wurden auch Tiere drastisch abgewertet. Sie wurden zu bloßem Vieh, zum endgültig „Anderen“ und zum dauerhaften Symbol der niedersten menschlichen Instinkte. So erweckte kein Verbrechen mehr Abscheu als die Kopulation mit einem Tier: Sie war ein wahrhaftiger Angriff auf die onto­ logischen Grundlagen der menschlichen Natur, die zunehmend mit den am wenigsten materiellen Aspekten des Menschen identifiziert wurde. Der Über­ schuss an Tieren im Leben der Hexen deutet jedoch auch an, dass Frauen sich am (unsicheren) Kreuzweg von Mensch und Tier befanden, und dass nicht nur die weibliche Sexualität, sondern sogar die Weiblichkeit als solche mit dem Tierischen verwandt war. Um die Gleichsetzung zu vervollständigen, wurden Hexen oft beschuldigt, ihre Gestalt zu wechseln und sich in Tiere zu verwandeln, wobei die Kröte der am häufigsten genannte Hilfsgeist war. Als Symbol der Vagina vereinte die Kröte in sich Sexualität, Zoophilie, Weiblich­ keit und das Böse. Die Hexenjagd verurteilte die weibliche Sexualität als Quelle allen Übels, doch sie war auch das wichtigste Mittel einer breit angelegten Neuordnung des Sexuallebens, die sich insofern mit der neuen kapitalistischen Arbeitsdis­ ziplin in Einklang befand, als sie jegliche sexuelle Betätigung verurteilte, von der eine Bedrohung für die generative Reproduktion und die innerfamiliäre Eigentumsübertragung ausging, oder die Zeit und Energie von der Arbeit abzog. Die Hexenprozesse bieten uns einen lehrreichen Katalog jener Formen der Sexualität, die als „nicht produktiv“ verboten wurden: Homosexualität, Geschlechtsverkehr zwischen Jungen und Alten,34 Geschlechtsverkehr zwi­ schen Menschen verschiedener Klassen, Analverkehr, Verkehr „von hinten“ (von dem man annahm, er würde Sterilität herbeiführen), Nacktheit und Tanz. Ebenfalls verboten wurde die öffentliche, kollektive Sexualität, die im Mittelalter vorgeherrscht hatte, etwa in den aus dem Heidentum sich ablei­ tenden Frühjahrsfeierlichkeiten, die im 16. Jahrhundert noch in ganz Europa /

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Die Hinrichtung der Hexen von Chelmsford im Jahr 1589. Joan Prentice, eines der Opfer, ist mit ihren Hilfsgeistern dargestellt. abgehalten wurden. Man vergleiche die von P. Stubbes in Anatomy o f Abuse (1583) vorgelegte Beschreibung der Maientags-Feierlichkeiten in England mit den üblichen Berichten über den Sabbat, in denen die Hexen beschuldigt wurden, zu tanzen, zum Klang von Flöten auf und ab zu springen und dabei viel kollektivem Geschlechtsverkehr und allerlei Belustigungen zu frönen: „Sobald der Mai näher rückt, [...] kommt es in jeder Gemeinde, jedem D orf und jedem Marktflecken zur Versammlung von Männern, Frauen und Kindern, von Alten ebenso wie von Jungen. [...] Sie laufen in die Büsche und in die Wälder, auf die Hügel und Berge, wo sie die ganze Nacht mit angenehmen Zeitvertreib verbringen, und am Morgen kom­ men sie mit Birkenzweigen und Ästen zurück. [...] [D]as Hauptjuwel,

238 das sie zurücktragen, ist ihr Maibaum, den sie ausgiebig verehren, wäh­ rend sie ihn nach Hause schaffen. [...] Dann gehen sie zu Banketten und Festen über. Sie springen und tanzen umher, wie es die Heiden beim Weihen ihrer Götzen zu tun pflegten.“ (Partridge I960: iii) Ein analoger Vergleich lässt sich zwischen den Beschreibungen des Sabbats und den von den presbyterianischen Autoritäten Schottlands hinterlassenen Äußerungen über Wallfahrten (zu heiligen Brunnen und anderen hei­ ligen Orten) ziehen. Die katholische Kirche hatte solche Wallfahrten unter­ stützt, doch die Presbyterianer verurteilten sie als teuflische Versammlungen und Anlässe unzüchtigen Verhaltens. Die allgemeine Tendenz ging in dieser Zeit dahin, jede potentiell regelwidrige Zusammenkunft - Bauernversamm­ lungen, Zeltlager von Rebellen, Feste und Tänze —als faktischen Sabbat zu beschreiben.35 Von Bedeutung ist auch, dass der Gang zum Sabbat in einigen Gebieten Norditaliens als „Gang zum Tanz“ oder „Gang zum Spiel“ (