Propaganda der Tat: Die RAF und die Medien 3518125141, 9783518125144

Schleyer als Gefangener der RAF, die Trümmer der PanAm-Boeing im schottischen Lockerbie, die brennenden Türme des World

1,296 201 1MB

German Pages 286 Year 2008

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Propaganda der Tat: Die RAF und die Medien
 3518125141,  9783518125144

Table of contents :
Inhalt
......Page 5
Einleitung
......Page 7
1. Eine ewige Frage: Was ist Terrorismus?
......Page 15
1.1 Typen des Terrorismus
......Page 23
1.2 Kommunikation und Medien
......Page 29
2. Vom Tyrannenmord zum Terrorismus: ein ideengeschichtlicher Überblick
......Page 40
2.1 Der Dolch im Gewände: politischer Mord in der Antike
......Page 43
2.2 Die Assassinen und der Tyrannenmord im Mittelalter
......Page 47
2.3 Die Monarchomachen: Widerstandslehren der Frühen Neuzeit
......Page 51
2.4 La Terreur in der Französischen Revolution
......Page 54
2.5 Anarchisten, Sozialisten, Nationalisten: politischer Mord und Revolution im Vormärz
......Page 56
2.6 Die Propaganda der Tat: ein neuer Begriff und seine Bedeutung
......Page 61
2.7 Der Kampf auf dem Land und in den Städten: Guerillakrieg und Terrorismus im 20. Jahrhundert
......Page 71
1. Der historische Kontext der Entstehung der RAF
......Page 79
2. Die Anfänge der ersten Generation
......Page 89
Exkurs: Das Feindbild Springer
......Page 100
3. Konsolidierungsphase und programmatische Schriften der RAF
......Page 106
3.1 Medienbeobachtung der RAF
......Page 116
3.2 Die ersten Bekennerschreiben
......Page 120
Die Reaktionen der Medien auf die Festnahme von Baader, Raspe und Meins
......Page 127
4. Latente Aktivitätsphase: von der ersten zur zweiten Generation
......Page 135
5.1 Ein Märtyrer für die neue Generation: der Tod von Holger Meins
......Page 152
5.2 Die Botschaftsbesetzung von Stockholm
......Page 158
5.4 Der Stammheim-Mythos
......Page 179
5.5 Interne Kommunikation: das RAF-info
......Page 193
6. Vom Erklärungs- zum Handlungsterrorismus: die dritte Generation
......Page 204
6.1 Die Entwicklung von 1977-1982
......Page 206
6.2 Das »Mai-Papier«
......Page 209
6.3 Die Bekennerschreiben der dritten Generation
......Page 214
6.4 Die Auflösungserklärung von 1998
......Page 224
1. Die RAF und die Medien
......Page 231
1.1 Die RAF in der Literatur
......Page 232
1.2 Die RAF im Film
......Page 235
1.3 Die RAF in der zeitgenössischen Kunst und Popkultur
......Page 241
2. 30 Jahre Deutscher Herbst: neue Voraussetzungen
......Page 247

Citation preview

Andreas Elter Propaganda der Tat Die RAF und die Medien

Suhrkamp

edition suhrkamp 2514 Erste Auflage 2008 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jung Crossmedia Publishing, Lahnau Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany ISBN: 978-3-518-12514-4

Für Nelly und Lisa

Inhalt

Einleitung I. Propaganda der Tat: Theorie und Geschichte 1. Eine ewige Frage: Was ist Terrorismus? 1.1 Typen des Terrorismus 1.2 Kommunikation und Medien 2. Vom Tyrannenmord zum Terrorismus: ein ideengeschichtlicher Überblick 2.1 Der Dolch im Gewande: politischer Mord in der Antike 2.2 Die Assassinen und der Tyrannenmord im Mittelalter 2.3 Die Monarchomachen: Widerstandslehren der Frühen Neuzeit 2.4 La Terreur in der Französischen Revolution 2.5 Anarchisten, Sozialisten, Nationalisten: politischer Mord und Revolution im Vormärz 2.6 Die Propaganda der Tat: ein neuer Begriff und seine Bedeutung 2.7 Der Kampf auf dem Land und in den Städten: Guerillakrieg und Terrorismus im 20. Jahr­ hundert II. Schockwirkung um jeden Preis: die Kommunikationsstrategien der RAF 1. Der historische Kontext der Entstehung der RAF 2. Die Anfänge der ersten Generation Exkurs: Das Feindbild Springer 3. Konsolidierungsphase und programmatische Schriften der RAF 3.1 Medienbeobachtung der RAF 3.2 Die ersten Bekennerschreiben 3.3 Das frühe Ende der RAF ? Die Reaktionen der Medien auf die Festnahme von Baader, Raspe und Meins

9 15 17 25 31 42 45 49 53 56 58 63

73

79 81 91 102 108 118 122

129

Exkurs: Der Olympiaschock 1972 4. Latente Aktivitätsphase: von der ersten zur zweiten Generation Exkurs: Die Bewegung 2. Juni 5. Radikalisierte Aktivitätsphase: die zweite Generation 5.1 Ein Märtyrer für die neue Generation: der Tod von Holger Meins 5.2 Die Botschaftsbesetzung von Stockholm 5.3 Der Deutsche Herbst und die SchleyerEntführung 5.4 Der Stammheim-Mythos 5.5 Interne Kommunikation: das RAF-info 6. Vom Erklärungs- zum Handlungsterrorismus: die dritte Generation 6.1 Die Entwicklung von 1977-1982 6.2 Das Mai-Papier 6.3 Die Bekennerschreiben der dritten Generation 6.4 Die Auflösungserklärung von 1998 III. Die Schatten der RAF 1. Die RAF und die Medien 1.1 Die RAF in der Literatur 1.2 Die RAF im Film 1.3 Die RAF in der zeitgenössischen Kunst und der Popkultur 2. 30 Jahre Deutscher Herbst: neue Voraussetzungen

132 137 146 154 154 160 163 181 195 206 208 211 216 226 231 233 234 237 243 249

IV. Massenmedien und Terrorismus: vorläufiges Fazit und Ausblick

261

Bibliographie

275

Einleitung

Die Idee zu diesem Buch entstand in der Frühphase des »Kampfs gegen den Terrorismus« und während der Kriege in Afghanistan und im Irak. Bereits unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 diagnostizierten Politiker, Medienvertreter und Wissenschaftler, mit den Attentaten auf das World Trade Center und das Pentagon sei der Terrorismus in eine historisch neue Phase eingetreten. Wie »neu« diese Art des Terrorismus aber wirklich war, hängt von der Definition des Wortes »neu« ab, also den verschiedenen Bedeutungsinhalten, die man diesem Adjektiv zuschreiben kann. Zumindest für internationale Sicherheits­ experten stellte die Al Qaida dabei im Jahr 2001 keineswegs ein »neues« Phänomen dar, im Gegenteil: Viele von ihnen hatten so­ gar mit Anschlägen gerechnet. Was war dann also das »Neue« an dieser Form des Terroris­ mus? Das Ausmaß des Schreckens? Gewiß: Ein Anschlag mit bei­ nahe 3000 Toten ist historisch vermutlich ohne Beispiel. Doch die Anzahl der Opfer allein machte nicht die »neue« Qualität des 11. September aus. Viel wichtiger waren die massenmediale Auf­ merksamkeit, die öffentliche Wirkung und die ausgeklügelte Inszenierung der Angriffe. Zu Recht haben in diesem Zusammen­ hang viele Beobachter den »Schrecken der Bilder« betont. Über eine kommunikationsstrategische »Pointe« des Plans kann dabei bis heute nur spekuliert werden: War es Zufall, daß es den Ter­ roristen nicht gelang, beide Flugzeuge gleichzeitig in die Türme zu steuern? Oder war die Dramaturgie des Anschlags ganz be­ wußt im Hinblick auf die Medien kalkuliert? Hofften die Atten­ täter darauf, daß nach dem ersten Einschlag unzählige Kameras auf das brennende World Trade Center gerichtet sein würden, so daß Zuschauer in der ganzen Welt live mitverfolgen konnten, wie die zweite Maschine acht Minuten später in den Nordturm ein­ schlug? Fest steht: Die Weltöffentlichkeit wurde Zeuge, wie die USA erstmals seit Pearl Harbor auf ihrem eigenen Territorium ange­ griffen wurde. Diesen Anschlag interpretierte die Bush-Regie­ rung als offene Kriegserklärung. Doch von wem? Der Krieg, der kurz darauf ausgerufen wurde, läßt sich mit früheren Kriegen 9

nicht vergleichen,1 weshalb kurz nach den Ereignissen im Sep­ tember 2001 das Logo »Krieg gegen den Terrorismus« erfunden wurde. Zunächst war sogar vom »Krieg gegen den Terror« die Rede, als ob man gegen einen abstrakten Begriff militärisch vor­ gehen könnte. In der historischen Rückschau fällt auf, daß die Medien und die Regierung der USA bereits zu einem Zeitpunkt auf dieses Logo zurückgriffen, als noch nicht einmal klar war, wer die Drahtzieher hinter den Attentaten waren. Das Wort »Logo« ist hier übrigens in einem doppelten Sinn zu verstehen: einmal in einem sprachlichen, etwa in der Rhetorik der US-Regierung, zum anderen jedoch in einem visuellen Sinn: Die Medien griffen die Formulierung auf und bauten sie in graphische Darstellungen ein, die sie in den zahlreichen Sondersendungen einblendeten oder auf Titelseiten druckten. Die Anschläge und vor allem die Reaktionen darauf lösten bei mir die die Frage aus, ob es jemals zuvor eine vergleichbare Insze­ nierung des Schreckens durch Terroristen gegeben hatte. Ange­ sichts der schieren Ausmaße der Katastrophe ist dies sicherlich zu verneinen. Betrachtet man jedoch die inszenatorische Qualität der Ereignisse, gibt es durchaus historische Vorbilder: Hatten nicht schon die Bilder des Münchener Olympiaattentats von 1972 oder die Schleyer-Videos aus dem Jahr 1977 eine ähnliche mediale Wirkung gehabt? Bedienten sich Terroristen nicht bereits damals ganz gezielt der Massenmedien, um Schrecken, aber auch ihre schrecklichen Botschaften zu verbreiten? Als ich begann, mich näher mit dem Thema auseinanderzuset­ zen, wurde schnell klar, daß bereits die RAF ganz gezielte Me­ dien- und Kommunikationsstrategien entwickelt hatte. Ausführ­ lichere Recherchen zeigten bald, daß Terroristen zu allen Zeiten die Öffentlichkeit suchten und die Medien auch bereits im 19. Jahrhundert als Übermittler ihrer Taten fungiert hatten (einen Überblick über die Geschichte terroristischer Medienstrategien 1 In der Politikwissenschaft und in Militärkreisen werden zudem die meisten aktuellen Kriege nicht mehr als symmetrisch verstanden. Vielmehr ist spä­ testens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion häufig von »asymmetri­ schen Kriegen« die Rede. Darunter werden im allgemeinen alle Kriege sub­ sumiert, in denen nicht die Armeen souveräner Nationalstaaten gegeneinan­ der kämpfen - also zum Beispiel Bürgerkriege, Kämpfe von Milizen und »Warlords« gegen multinationale UN-Verbände oder eben auch terroristi­ sche Anschläge. Zudem wird noch einmal zwischen »neuen« und »asym­ metrischen« Kriegen differenziert (vgl. dazu Münkler 2006; Münkler 2002). 10

bietet Abschnitt I.2). In dem Satz »Terrorismus ist primär eine Kommunikationsstrategie« (Waldmann 2005: 7) spitzt der Sozio­ loge Peter Waldmann diese Beobachtung zu. Auch wenn ich glaube, daß Terrorismus nicht primär auf kommunikative Effekte zielt, sondern dabei die Ausübung physischer und psychischer Gewalt im Mittelpunkt steht, gibt es doch immer einen engen Zu­ sammenhang zwischen der Gewalt und ihrer öffentlichen Wir­ kung. Die Öffentlichkeit ist der eigentliche Adressat der terrori­ stischen Kommunikation. Denn wenn man Terrorismus als das systematische Verbreiten von Angst und Schrecken definiert, so macht bereits das Wort »Verbreitung« deutlich, worum es Terroristen zu allen Zeiten ging und geht: Ihre Entführungen, Bombenanschläge oder Atten­ tate müssen bekannt, müssen mit einer großen Reichweite medial verbreitet werden, um ein Maximum an Angst und Schrecken hervorzurufen. Zugespitzt könnte man es so formulieren: Terro­ risten, über deren Taten man nichts erfährt, existieren nicht - zu­ mindest nicht für die Öffentlichkeit. Die Tat ist von ihrer kom­ munikativen Wirkung also nicht zu trennen. Daher möchte ich Waldmanns Satz hier wie folgt abwandeln: »Terrorismus ist im­ mer auch eine Kommunikationsstrategie«. Darauf haben Terrorismusforscher wie Sepp Binder oder Wal­ ter Laqueur bereits in den siebziger Jahren hingewiesen: »Der Terrorist braucht die öffentliche Bühne.« (Binder 1978: 55) Mit den Anschlägen vom 11. September 2001, aber auch mit den Gei­ selvideos, die seither im Internet oder im Fernsehen zu sehen waren, hat sich diese Erkenntnis erneut bestätigt. Auch wenn dieser Zusammenhang bereits für Terroristen frü­ herer Epochen galt, entstanden die technischen Voraussetzungen für dieses Theater des Schreckens doch erst im 20. Jahrhundert mit dem Fortschritt der elektronischen Massenmedien. Die RAF war die erste Gruppe, die von diesen Möglichkeiten ausgiebig Ge­ brauch machte, daher steht sie im Mittelpunkt dieser Arbeit. Dabei ste llt sich eine Reihe von Fragen: Wie agieren Terroristen auf der Bühne der Öffentlichkeit? Welche Kommunikationsstra­ tegien verfolgen sie? Wie haben sich diese Strategien im Lauf der Zeit verändert? Haben sie sich lediglich weiterentwickelt oder gibt es Innovationen? Auf diese Fragen gaben weder die For­ schungsliteratur noch die zahlreichen Presseartikel zum Thema ergiebige Antworten. Trotz einer wachsenden Anzahl, man 11

könnte beinahe sagen: Flut von Publikationen zum Terrorismus gibt es bislang kaum ein Werk, das sich sowohl aus historischer als auch aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Per­ spektive mit medialen Terrorstrategien auseinandergesetzt hätte.2 Dieses Buch begibt sich daher auf die Suche nach möglichen Ant ­ worten, ohne dabei den Anspruch zu erheben, sie endgültig ge­ funden zu haben. Offen bleibt dabei jedoch, was man überhaupt unter dem Be­ griff Terrorismus zu verstehen hat: Wo liegen die Unterschiede zwischen Terroristen und Widerstandskämpfern? Was unter­ scheidet Terroranschläge von Aufständen ethnischer, religiöser oder politischer Minderheiten? Wo soll man die Grenze zwischen Terrorismus und staatlicher Willkür oder Diktaturen ziehen? Im angelsächsischen Raum hat sich - in Abgrenzung zum sogenann­ ten Staatsterrorismus (vgl. Miller 1977) - die Definition insurgent terrorrism (aufständischer Terrorismus, Ubers, d. Verf.) etabliert. In der deutschsprachigen Literatur findet sich parallel dazu die Unterscheidung zwischen Terror und Terrorismus (vgl. Wald­ mann 1998; Hacker 1997). Von Terror, Terrorregimen, Terror­ herrschaft oder Terrordiktaturen spricht die Forschungsliteratur in der Regel dann, wenn der Schrecken und die Gewalt - man denke an das Deutschland der NS-Zeit oder die Gulags in der UdSSR - von einem Diktator, einer mächtigen Clique oder einer Militärelite ausgehen. Das Wort Terrorismus hingegen bezeichnet zumeist die Gewalt von klandestinen, im Untergrund operierenden, nicht staatlich le­ gitimierten Gruppen oder Organisationen. Gerade diese Aspekte sind im Zusammenhang mit Kommunikations- und Medienstra­ tegien von zentraler Bedeutung: Während totalitäre Staaten in der Regel versuchen werden, die Medien zu kontrollieren, zu zensie­ ren oder gleichzuschalten, sind Untergrundgruppen zur flächen­ deckenden Verbreitung ihrer Botschaften auf freie und unzen­ sierte Medien angewiesen. Ein Wort zu den methodischen Herausforderungen, denen je­ der begegnet, der sich wissenschaftlich mit Terrorgruppen wie der 2 Zwar wurde die Bedeutung der öffentlichen Wirkung terroristischer Aktio­ nen schon in den siebziger Jahren wahrgenommen - Forscher wie Manfred Funke, Günter Rohrmoser oder Walter Laqueur haben sie als Teil der terro­ ristischen Gesamtstrategie interpretiert doch der Aspekt der terroristi­ schen Kommunikation wird nur selten als übergreifendes Thema behandelt. 12

RAF beschäftigt. Prinzipiell gibt es dabei - mindestens - zwei Möglichkeiten: Man kann entweder die Aussagen und Taten der Terroristen untersuchen, oder aber die Literatur und die Bericht­ erstattung über sie. Da Kommunikation jedoch keine Einbahn­ straße darstellt, verknüpfe ich in dieser Arbeit beide Herange­ hensweisen. Grundsätzlich bieten Analysen des Terrorismus immer Spielraum für Interpretationen, es dürfen daher keine end­ gültigen Wahrheiten erwartet werden. Ein Autor bezieht immer Stellung: sei es, weil er sich auf bestimmte Aspekte eines Sachver­ halts konzentriert und andere ausblendet, sei es, weil sich histo­ rische Zusammenhänge im Rückblick oft nicht mehr rekonstru­ ieren lassen. Zudem verstellen oft politische Meinungen und Weltanschauungen den Weg zu einer unvoreingenommenen Ana­ lyse. Die Leserinnen und Leser mögen selbst entscheiden, ob es in diesem Buch gelungen ist, diese Hürden zu nehmen. Muttersprachler könnten dabei über einige Schreibweisen und Transkriptionen (vor allem arabischer Namen) stolpern. Im Sinne der Verständlichkeit wurde hier immer die jeweils gängigste deut­ sche Form gewählt - also zum Beispiel Hisbollah und nicht Hizb’Allah (auch nicht Hizbullah, Hezbollah oder Hisbullah, wie häufig in der englischen Sprache). In den Zitaten wurden hin­ gegen die vorgefundenen Transkriptionen übernommen. Für die Übersetzungen aus dem Englischen und anderen Sprachen gilt, daß der Autor sie nach bestem Wissen und Gewissen vorgenom­ men hat. Auch hier stand die Verständlichkeit im Vordergrund. Abschließend sei hier allen, die durch ihren Rat, ihre Anregun­ gen und Kritik oder die Gewährung von Archiveinsicht zur Ent­ stehung dieses Buches beigetragen haben, gedankt. Mein Dank gilt insbesondere den Mitarbeitern des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). Dieses Buch wäre aber niemals ohne die explizite Anregung und Unterstützung meiner Frau Constanze entstanden. Andreas Elter, Köln, Oktober 2007

I. Propaganda der Tat: Theorie und Geschichte

1. Eine ewige Frage: Was ist Terrorismus? Der Begriff Terrorismus wurde und wird noch immer in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen und mit den verschieden­ sten Bedeutungszuschreibungen verwendet. Dasselbe gilt unter anderen Vorzeichen auch für die Begriffe Kommunikation und Medien. Deswegen scheint eine Begriffsklärung notwendig. In diesem Kapitel wird daher erläutert, welche möglichen Konno­ tationen diese Begriffe haben können. Sinn und Zweck dieser Vorüberlegungen ist es, den eigenen Standpunkt zu bestimmen und die drei zentralen Begriffe Terrorismus, Kommunikation und Medien in bezug auf ihre spezifische Verwendung in diesem Buch zu definieren. Hier steht nicht Staatsterrorismus oder staatlich unterstützter Terror im Vordergrund, sondern Terrorismus »von unten«: Es geht also um den Terrorismus, der von einer Gruppe ausgeübt wird, die - wie die RAF - nicht im Besitz der Macht war oder ist. Doch schon allein bei der Begriffsbestimmung dieser Form des Terrorismus gibt es eine Flut von Definitionen mit einer Vielzahl von Ergänzungen, Variationen etc. Walter Laqueur bemerkte schon 1977: »In letzter Zeit wird der Begriff Terrorismus [...] in so vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt, daß er fast völlig seinen Sinn verloren hat.« (Laqueur 1977: 7)1 26 Jahre später schreibt derselbe Autor: »Es gibt keine philosophische Einführung in die Grundla­ gen des Terrorismus, keinen Clausewitz, noch nicht einmal einen Jomini, und vielleicht wird sich dies auch nie ändern einfach deshalb, weil es den [Hervorhebung im Original, Anm. d. Verf.] Terrorismus nicht gibt, sondern eine Vielzahl von Terrorismen, und was für die eine Spielart gilt, muss nicht notwendigerweise für alle gültig sein. Dem Verständ­ 1 Die terminologische Indifferenz wird von fast allen Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigen, beklagt. Vgl. dazu u. a. auch: Kitson 1974: 17; Niedhardt 2004: 263-272 oder Lösche 1997: 82. Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffes, nicht über den Terrorismus selbst, gibt Walther 2006: 64-77. 17

nis des Terrorismus stehen erhebliche Hindernisse entgegen, die nicht zuletzt darin begründet sind, daß kein anderes Thema unserer Zeit derartige Emotionen hervorruft. Das mag zwar nur allzu natürlich sein, trägt zum besseren Ver­ ständnis aber nicht bei.« (Laqueur 2003: 8) Fest steht aber: Terrorismus hat etwas mit Gewalt zu tun. In den Worten von Ulrich Schneckener: »Bei Terrorismus handelt es sich um eine Gewaltstrategie nicht-staatlicher Akteure, die damit nach eigener Aussage politische Ziele durchsetzen wollen.« (Schnecke­ ner 2002: 10) Anhand dieser Definition kann man außerdem zwischen Ter­ rorismus und »normaler« Gewaltkriminalität unterscheiden. Zwar haben auch Gruppen wie die RAF Banken oder Munitions­ depots überfallen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Kriminellen wollten sie sich dabei allerdings nicht bereichern, sondern das geraubte Geld oder die erbeuteten Waffen für spätere Aktionen verwenden. Insofern sind Gewalt und Diebstahl zwar häufig notwendige Bedingungen des Terrorismus (etwa, wenn es keine anderen Finanzierungsquellen oder Unterstützer gibt), aber keine hinreichende Bedingung für seine Definition. Auch wenn Terroristen sich ähnlicher Methoden bedienen mögen wie ge­ wöhnliche Kriminelle, verfolgen sie dabei doch ganz andere Ziele. Neben dem Terrorismus gibt es eine Reihe weiterer Formen kollektiver Gewalt: Randale, Krawalle, Aufstände, Rebellionen, Revolten, Widerstandskampf, gemeinschaftlich verübte Morde aus politischen Gründen, Revolutionen oder Bürgerkriege. All diese Phänomene haben eines gemeinsam: Sie sind nicht staatlich sanktioniert. Dennoch handelt es sich dabei nicht automatisch um Terrorismus. So würde heute wohl niemand die Gruppe um Graf von Stauffenberg als Terroristen bezeichnen, obwohl sie aus poli­ tischen Gründen ein gemeinschaftliches und letztlich gescheiter­ tes Attentat auf Adolf Hitler plante und ausführte. Ihre Mitglie­ der sind vielmehr als Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 in die Geschichtsbücher eingegangen. Bei den Attentaten der israe­ lischen Hagana und vor allem des Irgun und der Lehi gegen die britische Mandatsregierung in Palästina (1920-1948) sowie gegen die arabischstämmige Bevölkerung sieht das allerdings anders aus; hier besteht keineswegs allgemeiner Konsens. So findet sich in der Literatur für beide Gruppen sowohl die Bezeichnung »is­ 18

raelische Terroristen« als auch die Bezeichnung »israelische Frei­ heitskämpfer«, je nach politischer Ausrichtung der Autoren. Dar­ auf verweist der britische Terrorismusforscher Charles Towns­ hend: »Die größten Schwierigkeiten objektiv über den Terroris­ mus zu schreiben, zeigen sich in der Tatsache, daß sogar die Studien, die klar und kritisch über die jüdischen Terrorkam­ pagnen berichten, bei der britischen Entscheidung, sich aus Palästina zurückzuziehen, Halt machten. Tendenziöse Dar­ stellungen wie die von Benjamin Netanjahu [ehemaliger is­ raelischer Ministerpräsident 1996-1999, Anm. d. Verf.], die aus der einschlägigen Literatur herausragen, lassen den jüdi­ schen Terrorismus völlig unerwähnt; für diese Autoren ist der Terrorismus in Palästina ausschließlich eine Sache von Arabern.« (Townshend 2005: 124 f.) Für die Definition des Terrorismus sind also auch moralische Aspekte, obwohl sie immer wieder eine erhebliche Bedeutung für die Fremd- und Selbstbestimmung von Terroristen hatten, kein hinreichendes Kriterium. Dazu sind moralische Urteile zu dehn­ bar, außerdem hängen sie vom jeweiligen Standpunkt ab. Der amerikanische Soziologe Brian Jenkins bemerkt dazu: »Der Gebrauch des Begriffes impliziert ein moralisches Ur­ teil; und wenn es einer Gruppierung/Partei gelingt, ihren Gegnern das Label >Terrorist< anzuheften, dann hat sie es in­ direkt geschafft, andere von ihrem moralischen Standpunkt zu überzeugen. Terrorismus ist das, was die bösen Jungs m a­ chen.« (Jenkins 1975: 2, Übers. d. Verf.) Dieser Einschätzung entsprechen auch Redensarten, die inzwi­ schen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind: »Des einen Terroristen ist des anderen Freiheitskämpfer« oder »Die Terroristen von gestern sind die Staatslenker von morgen«. Diese Aussprüche sind allerdings analytisch nicht hilfreich, da mit ihnen wiederum alle Unterschiede nivelliert werden können: »Der oftmals kolportierte Satz, des einen Terroristen, des anderen Freiheitskämpfer [...] wird meist aus politischen 19

Gründen zitiert, um Differenzen zu vernebeln - entweder um die Bekämpfung des Terrorismus moralisch zu diskredi­ tieren oder aber um Rebellen in die Nähe von Terroristen zu rücken.« (Schneckener 2002: 13) Beides ist hier nicht beabsichtigt, vielmehr sei mit Jenkins darauf verwiesen, daß die Diskussion über die Verwendung der Begriff­ lichkeiten bereits den Diskurs um die politischen Inhalte und Standpunkte enthält. Die zweite oben zitierte Redensart spielt auf die historische Dimension an. So wurde - um in Palästina zu bleiben, aber die Perspektive zu wechseln - der ehemalige Fatah-Gründer Jassir Arafat jahrelang von der CIA und von europäischen Geheim­ diensten in ihren Karteien als Top-Terrorist geführt. Einer jün­ geren Generation ist er aber als Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde und als Friedensnobelpreisträger (1994) be­ kannt. Ein weiteres Beispiel: Der neue Vizechef der nordirischen Regionalregierung, John Martin McGuinness, war Mitglied der katholischen Terrororganisation IRA. 1973 wurde er verhaftet, in seinem Auto fand die Polizei 113 Kilogramm Sprengstoff und 5000 Schuß Munition. Und Ian Paisley, seinem Koalitionspartner und neuem Chef der Regionalregierung, sagte man wiederum deutliche Sympathien für die Ulster Freedom Fighters nach. In seinen Predigten und politischen Reden hatte er noch wenige Mo­ nate vor der Koalitionsbildung zur Gewalt gegen die IRA aufgerufen. Aber gerade wegen ihrer Biographien und ihres Rufes als Radikale wurde der Friedensschluß der beiden Partner als Neu­ anfang für Nordirland und als Erfolg für den Friedensprozeß ge­ wertet. In diesem Zusammenhang soll zudem auf den Unterschied zwischen Rebellen/Guerilleros und Terroristen hingewiesen wer­ den: »Terrorismus wird oftmals mit Guerillakampf verglichen, vermischt oder sogar gleichgesetzt. Das ist nicht sonderlich verwunderlich, weil sich Guerillas häufig derselben Tak­ tiken (Mordanschläge, Geiselnahmen, Bombenattentate [...] etc.) zu denselben Zwecken bedienen. [...] Jedoch [...] gibt es fundamentale Unterschiede zwischen den beiden. >Guerilla< z. B. bedeutet in einem weithin akzeptierten 20

Sprachgebrauch eine zahlenmäßig größere Gruppe bewaff­ neter Individuen, die als militärische Einheit operiert, feind­ liche militärische Kräfte angreift und die Gebiete erobern und halten will [...], während sie gleichzeitig eine gewisse Form der Souveränität oder Kontrolle über ein definiertes geographisches Areal und seine Bevölkerung ausübt. Terro­ risten hingegen fungieren nicht offen als bewaffnete Kampf­ einheiten, versuchen nicht Gebiete zu erobern oder zu hal­ ten, achten sorgsam darauf, sich nicht mit feindlichen militärischen Truppen in eine offene Schlacht zu verstricken und üben auch nur selten direkte Kontrolle oder Souverä­ nität über ein Territorium oder seine Bevölkerung aus.« (Whittaker 2001: 8, Übers. d. Verf.) Bereits in den siebziger Jahren brachte Franz Wördemann dies auf die griffige Formel: »Der Guerillero will den Raum, der Ter­ rorist dagegen das Denken besetzen.« (Zitiert in Waldmann 1998: 17) Diese Abgrenzung zeigt, daß eine Rebellenbewegung anders als eine Terroristengruppe stärker militärische Ziele verfolgt. So sinnvoll die Unterscheidung sein mag, wird sie in Einzelfällen doch verwischt, da es sich bei solchen Gruppen um dynamische Gebilde handelt: »Aus einer Organisation, die zunächst allein mit terroristi­ schen Anschlägen auf sich aufmerksam macht, wird mit der Zeit eine Guerillabewegung, der es gelingt, weite Teile der Bevölkerung zu mobilisieren (z. B. Entwicklung der UCK im Kosovo 1996-1998). Oder umgekehrt: Was - zumindest deklaratorisch - als Befreiungsbewegung begann, endet im Terror gegen Zivilisten (z.B. palästinensischer, kurdischer oder baskischer Terrorismus).« (Schneckener 2002: 13) Wenn eine terroristische Gruppe sich dem Guerilla-Pol annähert, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich auf Verhandlungslösungen einläßt. Umgekehrt werden solche Kompromisse oder Vermittlungsstrategien um so unwahrscheinlicher, je mehr eine Guerilla zum Terrorismus tendiert oder ihre Führer (vor allem in Bürgerkriegssituationen) zu »Warlords« oder Kriminellen wer­ den, die nur noch ihre eigene Macht, ihren Clan oder individuelle Bereicherung im Sinn haben. 21

Vor allem aufgrund von Anschlägen gegen die Zivilbevölke­ rung wird Terrorismus häufig als sinnentleerte, pure Gewalt ver­ standen. Doch damit macht man es sich zu einfach. Erstens wird dabei häufig Terrorismus mit anderen Formen privater Gewalt verwechselt;2 zweitens stecken auch hinter Terrorakten keine im pathologischen Sinne Geistesgestörten. Es ist also wenig hilf­ reich, Terrorismus auf eine individualpsychologische Ebene zu reduzieren. Dazu erläutert Jenkins: »Terrorismus wird oftmals als kopflose Gewalt, als sinnlose Gewalt oder als irrationale Gewalt bezeichnet. Wenn wir einmal die Aktionen der geringen Zahl von wirklich Wahn­ sinnigen außer acht lassen, ist Terrorismus selten kopflos oder irrational. [...] Mit anderen Worten, Terrorismus hat klare Ziele, auch wenn diejenigen, die Terrorismus ausüben, manchmal so sehr ihren gewaltsamen Aktionen verfallen sind, daß sie den eigentlichen Punkt aus den Augen verlie­ ren.« (Jenkins 1975: 3, Übers. d. Verf.) Terrorismus ist also die nichtstaatliche Gewalt einer Gruppe oder Organisation, bei der es sich nicht um eine Rebellenbewegung handelt. Er ist weiterhin politisch oder ideologisch motiviert und nicht irrational. Aber all das unterscheidet ihn zum Beispiel noch nicht von einer Revolution. Im Unterschied zu dieser stellt der Terrorismus jedoch kein Massenphänomen dar, Terroristen agie­ ren meistens im geheimen. Die Kriterien »ohne Massenbasis« und »geheim« müssen also der bisherigen Definition hinzugefügt werden. Dadurch unterscheidet sich Terrorismus auch von Auf­ ständen, Rebellionen oder Revolten, deren Akteure in der Regel auf die Straße gehen, um ihre Gewalt offen nach außen zu tragen. Der Terrorist hingegen operiert aus einem Versteck heraus, in das er sich zurückziehen kann, oder er sucht nach anderen logisti­ schen Rückzugs- oder Fluchtmöglichkeiten für die Zeit nach der Tat. Wichtig scheint es mir, den Terrorismus als kollektives Phä­ nomen von Akten individueller Gewalt zu unterscheiden. Dem 2 Zu den vier unterschiedlichen Typen privater Gewalt »Terrorismus«, »Re­ bellenbewegung/Guerilla«, »Kriegsherren/Warlords« und »Organisierte Kriminalität« vgl. Mair 2002: 9 - 20. Zum Problem der Warlords und der spe­ zifischen Situation in Bürgerkriegen siehe Rufin 1999. 22

widersprechen auch nicht die Selbstmordattentate islamistischer Terroristen. Denn dabei handelt es sich - anders als es oft fälsch­ licherweise dargestellt wird - in der Regel nicht um individuelle Amokläufe. Solche Attentate haben eine politische Intention, sie ereignen sich nicht spontan und wurden von einer Gruppe ge­ plant. Selbstmordattentäter werden ausgewählt, ihnen werden ganz bewußt strategische oder symbolische Ziele (militärische und zivile Einrichtungen, Grenzstationen, Regierungsgebäude) zugeteilt. Selbstredend muß sich der Attentäter, so zynisch sich dies auch anhören mag, in diesem Fall nicht um Rückzugs- oder Fluchtmöglichkeiten kümmern, die anderen Mitglieder der Gruppe als Organisatoren des Anschlags hingegen schon. In­ sofern stellt das Selbstmordattentat zwar eine Sonderform der terroristischen Aktion dar, es fällt aber dennoch unter die hier entwickelte Definition. Allerdings fehlt noch ein weiteres, ganz entscheidendes Merk­ mal des Terrorismus: Während Rebellen, Revolutionäre oder Bürgerkriegsparteien immer direkte Ziele haben, die sie mit Ge­ walt durchsetzen wollen, verfolgen Terroristen eine eher indi­ rekte Strategie: »Nicht die violentia [Gewalt, Anm. d. Verf.] selbst, sondern der von ihr ausgehende terror, der Schrecken, ist es, worum es der terroristischen Strategie im Kern geht. Dazu gehört auch das strategische Ziel terroristischer Aktionen, den Staatsapparat zu Maßnahmen zu provozieren, die mit seiner politischen Legitimation unvereinbar sind und die lang­ fristig einen Prozess politischer Destabilisierung in Gang setzen.« (Münkler 2006: 87) Fetscher und Rohrmoser bemerken dazu: »Dagegen soll Terro­ rismus die Strategie genannt werden, die ihre Ziele über die Reak­ tionen auf ihre Aktionen ansteuert, [...].« (Fetscher/Rohrmoser 1981: 98) 3 Genau in dieser indirekten Strategie liegt aber auch das wesentliche Problem einer Terrorgruppe. Sie muß geheim blei­ ben, um ihre Existenz langfristig zu sichern, zugleich aber öffent­ 3 Fast wortwörtlich dasselbe Zitat (»ihr Ziel nicht durch Handlungen, son­ dern durch die Reaktion auf ihre Handlungen erreicht«) findet sich bei Fromkin 1977: 93. 23

lich wirken. Denn werden ihre Aktionen nicht bekannt, kann es keine Reaktionen auf sie geben, und dann wiederum wäre die Strategie fehlgeschlagen. Eine Terrororganisation ist gewisserma­ ßen ein systemimmanentes Paradoxon: eine publizitätsbedürf­ tige, klandestine Gruppe. Oder in den Worten von Sepp Binder: »Terrorismus sucht die Öffentlichkeit. Kommunikation ist uner­ läßlicher Bestandteil der terroristischen Gewalttat: Der Terrorist bewirkt für sich allein nichts, die Publizität hingegen alles.« (Bin­ der 1978: 55) Die Taten einer terroristischen Gruppe müssen also spektaku­ lär grausam oder ungewöhnlich sein, damit sie von der Öffent­ lichkeit nicht ignoriert werden können und einen Effekt des Schreckens erzielen. Unabhängig von allen Schwierigkeiten, das Phänomen begriff­ lich zu fassen, besteht in der Forschung inzwischen zumindest Konsens über eine Arbeitsdefinition des Terrorismus (vgl. dazu Weimann/Winn 1994: nf.). Nimmt man die Überlegungen in diesem Kapitel hinzu, kristallisieren sich folgende Merkmale her­ aus: Terroristische Gruppen • sind nicht staatlich legitimiert und verfügen nicht über legitime politische Macht; • haben keine Massenbasis; • sind politisch, ideologisch oder religiös motiviert und verfol­ gen längerfristige Ziele; • operieren in der Illegalität als klandestine Organisationen oder als Zusammenschluß loser Zellen; • können in unterschiedlichen historischen Phasen verschiedene Organisationsstrukturen aufweisen; • sind in der Regel hierarchisch geordnet, weisen aber zugleich funktionale Gliederungen für spezifische Aufgaben, etwa die Vorbereitung einzelner Anschläge, auf; • setzen primär auf physische Gewalt (die aber gleichzeitig psy­ chische Wirkungen intendiert) und spektakuläre Aktionen, welche die massenmediale Verbreitung sicherstellen, die Öf­ fentlichkeit erreichen und einen langfristigen Schockeffekt herbeiführen sollen; • verfolgen somit das Ziel, eine Eskalationsspirale in Gang zu setzen und Meinungen und Handlungen zu beeinflussen; 24

• • •



• •

haben dagegen nicht das Ziel, längerfristig im militärischen Sinne ein Territorium zu besetzen; haben immer einen von ihnen selbst definierten Feind; zielen bei ihren Aktionen nicht ausschließlich auf diesen Feind, vielmehr wird der Tod Unbeteiligter bewußt geplant oder zu­ mindest billigend in Kauf genommen; bedienen sich sowohl der »Propaganda der Tat« als auch der »Propaganda des Worts«; sie bekennen sich zu gewaltsamen Aktionen; verfügen über eine Logistik sowie Finanzierungsquellen; weisen in der Regel eine Unterstützer- und/oder Sympathisan­ tenszene auf.

1.1 Typen des Terrorismus Im Hinblick auf seine historische Entwicklung werden meist drei Typen des Terrorismus unterschieden. Die Differenzierung rich­ tet sich vor allem nach einem geographischen Kriterium und dem Aktionsradius der verschiedenen Organisationen und Gruppen: Interner oder nationaler Terrorismus (domestic terrorism) Dabei sind Täter und Opfer Angehörige desselben Staates oder unterliegen zumindest einer gemeinsamen staatlichen Autorität. Dieser Typus wird auch als »klassischer Terrorismus« bezeichnet (Beispiele: ETA, IRA, RAF, PKK). Internationaler oder externer Terrorismus (global terrorism) Als globalen Terrorismus hat das US-Außenministerium An­ schläge kategorisiert, bei denen Täter und Opfer nicht dieselbe Nationalität besitzen oder bei denen Terroristen im Ausland agie­ ren und dort auch Bürger anderer Länder attackieren. Die USamerikanische RAND-Cooperation bietet folgende Definition an, der sich auch in Europa viele Forscher und Regierungen ange­ schlossen haben: Demnach ist von internationalem Terrorismus zu reden, wenn 25

»[...] Anschläge verübt werden, bei denen Terroristen ins Ausland gehen, um ihre Ziele zu treffen, oder Opfer und Ziele auswählen, die Beziehungen zu einem ausländischen Staat haben (z. B. Diplomaten, ausländische Geschäftsleute, Büros oder ausländische Unternehmen), oder internationale Zwischenfälle herbeiführen, indem sie Flugzeugpassagiere, Bordpersonal oder Gerätschaften angreifen.« (Zitiert in Hoffman 1999: 11, Übers. d. Verf.) Doch bei dieser Definition wird schon deutlich, daß sie nicht im­ mer trennscharf vom internen Terrorismus abzugrenzen ist. So hat die PKK, indem sie auch auf deutschem Boden Anschlä ge ge­ gen türkische Banken verübte, ihren internen bewaffneten Kampf ins Ausland getragen. Ist dies nun internationaler Terrorismus oder nach wie vor nationaler Terrorismus, der nur im Ausland in die Tat umgesetzt wird? Die Antwort liegt in der Perspekti ve: Be­ trachtet man die Definition rein geographisch - und dazu eignet sie sich am besten -, wäre von internationalem Terrorismus zu sprechen. Betrachtet man indes die Ziele und den Zweck der An­ schläge, so müßte man wiederum von internem Terrorismus spre­ chen. Denn der PKK ging es ja nicht darum, den deutschen Staat anzugreifen, sondern eine türkische Bank. Auch wenn dabei deutsche Zivilisten ums Leben kamen, waren sie nicht das eigent­ liche Ziel der Anschläge. Häufig findet sich auch die These, der internationale Terrorismus sei ein völlig neues Phänomen und erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert durch Gruppen wie Al Qaida »erfunden« worden. Das ist definitiv falsch. Als Beispiel möge das Olympiaattentat von 1972 dienen, bei dem palästinen­ sische Terroristen in München israelische Geiseln nahmen, um Gefolgsleute in ihrer Heimat freizupressen. Überhaupt war diese Form des high jacking terrorism bereits in den siebziger Jahren überaus virulent. In den achtziger Jahren hatte der Begriff des »internationalen Terrorismus« eine weitere Konnotation. Die US-Amerikanerin Claire Sterling legte ein Buch vor, in dem sie die Sowjetunion be­ schuldigte, weltweit Terroristen zu unterstützen. Sie sprach von einem internationalen Terrornetzwerk (vgl. Sterling 1980). Ziel dieses von der UdSSR finanzierten und unterstützten Netzwer­ kes sei es, die westliche Welt zu destabilisieren, da der Kreml keine militärische Möglichkeit habe, den Systemkrieg zwischen 26

Kapitalismus und Kommunismus zu gewinnen. Obwohl die UdSSR tatsächlich indirekte Kontakte zu Terroristen- und vor al­ lem Rebellengruppen hatte, muß man wohl konstatieren, daß Sterling »Stellvertreterkriege« mit Terrorismus verwechselte und alle möglichen gewaltsamen Gruppen undifferenziert unter die Kategorie Terrorismus subsumierte. Zudem saß sie bei ihrer Ana­ lyse einer Desinformationskampagne der CIA auf, wie heute be­ legt werden kann (vgl. Daase 2006: 907). Denn mit demselben Ar­ gument hätte man, im Hinblick auf die Kolonialkriege, ebensogut die CIA und die US-Regierung bezichtigen können, Unterstüt­ zer des internationalen Terrorismus zu sein. Obwohl also schon bei nur etwas näherer Betrachtung klar wurde, daß sich Sterling mit ihrer These vom internationalen Terrorismus auf sehr dün­ nem Eis bewegte, änderte di es nichts an der großen Wirkung ihres Buches, das einigen Politikern gerade recht kam für ihre Argu­ mentation vom »Reich des Bösen«. In heutiger Zeit wird vor allem Sterlings Netzwerkgedanke wieder aufgegriffen, diesmal allerdings in bezug auf den islamistischen Terrorismus. An diesem Beispiel wird ersichtlich, daß der Begriff des internationalen Ter­ rorismus nicht nur Analysezwecken dient, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung benutzt wird. Dies ist für die Entwicklung einer vorurteilsfreien Terminologie nicht gerade hilfreich. Transnationaler Terrorismus (transnational terrorism) Dieser Typus kann als eine Unterform des internationalen Terro­ rismus oder als eine analytische Präzisierung dieses Be griffes ver­ standen werden. Hierbei wird darauf verwiesen, daß Terroristen nicht nur international agieren, sondern daß sich auch die Mitglie­ der von Terrorgruppen internationalisiert haben, sprich die Mit­ glieder einer Gruppe können unterschiedliche Nationalitäten ha­ ben. Dies ist zweifellos richtig. Allerdings wird mit der Definition des transnationalen Terrorismus die geographische Ordnungs­ ebene verlassen, sie verweist auch auf die gemeinsame Ideologie der Täter. Dies ist schon etwas problematischer, wie im folgenden unter Bezugnahme auf Al Qaida näher erläutert wird. Denn diese Gruppe oder besser - in den Begriffen der transnationalen Terro­ rismusdefinition - dieses Netzwerk wird sowohl dem zweiten wie auch dem dritten Typus zugerechnet. 27

Viele sehen im Al Qaida-Terrorismus den endgültigen Beleg für die Existenz eines weltumspannenden Terrornetzwerkes. Dies mag im geographischen Sinne berechtigt sein, dennoch möchte ich im Zusammenhang mit der Al Qaida und ihren Zielen nicht das Attribut »international« benutzen. Erstens sind ihre panislamistischen Ansätze noch zu wenig untersucht; der Streit zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen müßte hier zum Beispiel stärker berücksichtigt werden. Zweitens entspringt die bisweilen geäußerte Vermutung, daß es sich um dezentral gesteu­ erte Gruppen mit identischen Zielen handelt, häufig der Fremd­ wahrnehmung. Und drittens ist schließlich die Frage zu stellen, ob der internationale Aspekt nicht erst durch die Kommunikati­ onsstrategien der Al Qaida selbst in die Diskussion gebracht wurde (vgl. Sen 2007). Zutreffender erscheint mir daher der Terminus des internatio­ nal operierenden Terrorismus. Denn dieser verweist darauf, daß Terroristen keine regional begrenzten Kampfzonen mehr ken­ nen, unterstellt aber nicht, daß sie deshalb automatisch dieselben Ziele, Ideologien oder Motive haben. Der Begriff transnationaler Terrorismus hingegen sieht im wesentlichen auc h die Ideologie als verbindendes Element (Schneckener 2006), die eben bei den ver­ schiedenen Al Qaida-Zellen zwar sehr ähnlich, aber nicht iden­ tisch ist. Zudem konzentriert sich Al Qaida in der Praxis - auch wenn sich Nachahmer in Europa fanden, die sich durch die diffuse Ideologie angesprochen fühlten und dort Anschläge verübten doch noch immer vornehmlich auf den Nahen Osten, Teile Asiens oder Afrikas, und zwar auf jene Gebiete, in denen der An­ teil der muslimischen Bevölkerung sehr hoch ist. Analog dazu fokussiert wiederum die Jemaah Islamiyah auf die Regionen des südostasiatischen Raums, in denen es traditionell Spannungen zwischen der muslimischen und der nichtmuslimischen Bevölke­ rung gibt. Außerdem sind zwar die Ideologie und die Propa­ ganda, mit der neue Anhänger geworben werden sollen, religiös motiviert, die Ziele Al Qaidas hingegen sind politisch. Zu ihren Forderungen zählen beispielsweise: »der Sturz als korrupt und dekadent empfundener politi­ scher Regime in muslimischen Ländern [...] Beendigung der amerikanischen Militärpräsenz in islamischen Staaten [...] 28

Kontrolle und Verwertung der Energiereserven und Roh­ stoffe im islamischen Raum durch Muslime und die Be­ kämpfung Israels und seiner Herrschaft über Palästina.« (Hirschmann 2001: 12) Es gibt also Unterschiede zwischen der propagierten islamisti­ schen Ideologie und den politischen Zielen. Insofern sollte man meines Erachtens in bezug auf Al Qaida besser von einer Form des intraregionalen Terrorismus sprechen, der von Fall zu Fall durch international operierenden Terrorismus ergänzt wird. Der Islamwissenschaftler Faisal Devji verweist auf einen weiteren Aspekt: »Vielleicht ist der wichtigste Weg, mit dem der Heilige Krieg überhaupt erst eine Universalität erreicht, der Weg durch die Medien. [...] Der Heilige Krieg ist wesentlich mehr ein Pro­ dukt der Massenmedien, als daß er irgendeiner lokalen Tra­ dition bzw. Situation entspräche, einer moslemischen Schule oder der Linie einer moslemischen Autorität.« (Devji 2005: 87; Übers. d. Verf.) Dies bedeutet im Umkehrschluß, daß die These von einem uni­ versellen internationalen Terrorismus der Propaganda Osama bin Ladens und Al Qaida-Nachahmern perfekt in die Hände spielt. Die Anschläge in London und Madrid sprechen jedenfalls dafür. Die Atte ntäter beriefen sich zwar auf den Islam, oder vielmehr ih­ rem kruden Verständnis davon; als Gründe für die Anschläge wurden aber die S olidarität mit den Muslimen im Irak und vor al­ lem die Forderung nach einem Abzug der westlichen Truppen aus dem Irak und Afghanistan genannt. Ähnliches gilt für die inzwi­ schen unzähligen Geiselnahmen, falls sie nicht rein krimineller Natur sind und mit ihnen lediglich Geld erpreßt werden soll. Sie sind in der Regel immer mit der Forderung nach einem Truppen­ abzug verbunden. Hier wird der Terrorismus, ähnlich wie bei den Anschlägen der PKK in den achtziger Jahren, lediglich ins Aus­ land getragen, weil die Terroristen dort die Verantwortlichen se­ hen. Bislang ist kein Al Qaida-Attentat im europäischen Ausland bekannt, mit dem Einfluß auf innereuropäische Verhältnisse ge­ nommen werden sollte. Es ging immer um die Außenbeziehun­ gen europäischer Staaten, und selbst die Anschläge von 11. Sep­ 29

tember 2001 dienten nicht dem Ziel, die Scharia in den USA ein­ zuführen, sondern waren in erster Linie eine Racheaktion für ver­ meintliche Verbrechen der USA an Muslimen. Es ist also überaus problematisch, vorschnell von internationalem Terrorismus zu sprechen. Denn dabei kann es sich auch um eine gefährliche self fulfilling prophecy handeln: Migranten, die bislang keinerlei Be­ zug zur Al Qaida-Ideologie hatten, könnten sich dadurch über­ haupt erst zu Anschlägen veranlaßt sehen - eine bessere Werbung für die Al Qaida als »Marke« im Terrorismus kann es kaum geben. Sie hat die These vom globalen Netzwerk immer wieder für ihre eigenen Propagandazwecke genutzt und wird dies auch weiterhin tun. Insofern kann man den Al Qaida-Terrorismus auch mit ei­ nem Franchise-Unternehmen vergleichen: Die einzelnen »Filia­ len« oder Gruppen operieren autonom und nutzen lediglich die diffuse Pseudoideologie als kleinsten gemeinsamen Nenner. Ver­ schmelzen sie durch die Außenwahrnehmung zu einer einzi­ gen Gruppe, nutzt dies lediglich ihrer Agitation. Will man dem wahren Kern der inzwischen fast unzähligen, verschiedenen isla­ mistischen Terrorismen auf den Grund gehen, ist die Kategorie »internationaler Terrorismus« noch weniger hilfreich. Denn die Ziele, Operationsgebiete, Motivationen, religiösen und kulturel­ len Hintergründe sowie die Taktiken und Anschlagsarten ver­ schiedener islamistischer Terrorgruppen sind einfach zu verschie­ den, um sie in einen Topf werfen zu können. Außerdem wird häufig vergessen, daß es islamistisch motivierten Terrorismus, zum Beispiel in Ägypten (man denke an die Muslimbruderschaf­ ten, die bereits seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahr­ hunderts existieren) oder in Algerien (GIA) schon deutlich vor dem Auftreten des Al Qaida-Phänomens gab. Die Al Qaida versucht lediglich, die Anhänger und Aktivisten älterer Gruppen für sich zu rekrutieren und zu vereinnahmen. Die völlig undiffe­ renzierte Wahrnehmung der verschiedenen Organisationen und Operationen als Teil eines universellen »Heiligen Krieges« wird sie in diesem Bemühen nur unterstützen. Neben den geographisch orientierten Unterscheidungen gibt es weitere inhaltliche Differenzierungen. So unterscheidet der Soziologe Peter Waldmann zwischen nationalistischem, sozial­ revolutionärem und religiösem Terrorismus (vgl. Waldmann 1998: 75-120). In anderen Arbeiten findet sich eine Unterteilung in nationalistischen und separatistischen Terrorismus oder die 30

Abgrenzung zwischen »linkem«, »rechtem« und »anarchisti­ schem« Terrorismus (vgl. Aubrey 2004: 43-47). Darüber hinaus folgen wiederum andere Autoren einer geographischen Ordnung nach Kontinenten (vgl. dazu etwa Yonah 1976; Whitacker 2001). Schließlich ist es nicht unüblich, nur noch zwischen den »Terro­ rismen« einzelner Gruppen oder Organisationen zu unterschei­ den, ohne diese überhaupt noch in eine übergeordnete Klassifi­ zierungsstruktur einzubetten (vgl. Rapoport 1988). In diesem Buch lehne ich mich in der Regel an die inhaltliche Abgrenzung Waldmanns an. Sie erscheint nach Abwägung aller Vor- und Nachteile noch immer die für unseren Untersuchungs­ gegenstand geeignete zu sein, auch wenn häufig die breitmaschi­ gere, geographische Typologie verwendet wird. Doch diese führt, sobald man die Ziele einer Terrororganisation untersuchen will, in eine Sackgasse.

1.2 Kommunikation und Medien Ebenso schillernd wie der Begriff Terrorismus bleiben die Be­ griffe Kommunikation und Medien; in der wissenschaftlichen Li­ teratur werden sie oft uneinheitlich verwendet (vgl. zu dieser Einschätzung Heugner 2001: 20). Der Kommunikationswissen­ schaftler Georg Meggle bemerkt dazu, daß gerade die Verwen­ dung des Begriffes der Kommunikation in den einzelnen Diszi­ plinen nicht unbedingt zur Klarheit beigetragen habe (vgl. Meggle 1981: 5 f.).4 Ähnliches gilt für den Begriff der Medien.5 Die wissen­ schaftlichen Differenzierungen haben ihrerseits wieder Rück­ wirkungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch gehabt. Dafür stehen Begriffe wie Zwei-Wege-Kommunikation oder Rück­ kanal. Zudem finden sich in der Alltagssprache Unterscheidungen wie Unterhaltungs- und Informationsmedien; ebenso werden die Begriffe Massenkommunikation oder Kommunikationsweg ganz selbstverständlich benutzt, ohne daß sie näher definiert wären. 4 Weitere Übersichten bieten Maletzke 1998; Maser 1973; Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994 oder Merten 1977. Für eine Bibliographie der wich­ tigsten Werke der Kommunikations- und Medienforschung sei hier auf Holtz-Bacha/Kutsch 2002 verwiesen. 5 So kann der Begriff Organisationen, Inhalte oder technische Überträger be­ zeichnen. Zu letzterem vgl. u. a. Hiebel 1998. 31

Dies zeigt die Vielfalt und zum Teil leider auch Indifferenz des Kommunikations- und Medienbegriffs. In den Geistes-, Sozialund Wirtschaftswissenschaften sowie in den Ingenieurwissen­ schaften und der Informatik gibt es kaum eine Disziplin, die nicht ihre eigene Definition hätte. In diesem Kapitel kann daher nur ein kurzer Überblick über die wichtigsten unterschiedlichen Ver­ wendungen und Bedeutungen der Termini gegeben werden. Diese kursorische Auswahl ist dabei pragmatisch im Sinne des Unter­ suchungsgegenstandes orientiert: Welche Termini der Kommu­ nikations- und Medienwissenschaften können am ehesten auch auf den Bereich der terroristischen Kommunikation angewandt werden? Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß diese nicht im luftleeren Raum schwebt und sowohl eine interne als auch eine externe Ebene besitzt. So spielen sich die Weitergabe von geheimen Informationen, Anleitungen für den Bombenbau sowie die Über­ mittlung von Befehlen und Handlungsanweisungen für Aktions­ gruppen auf der internen Kommunikationsebene ab. Die terrori­ stische Tat selbst, das Bekanntmachen der Tat, das Verbreiten von Propaganda, Erklärungen zu politischen oder ideologischen Zie­ len der jeweiligen Gruppe oder die Reaktion auf Medienberichte wären wiederum - um nur einige Beispiele zu nennen - der exter­ nen Kommunikationsebene zuzurechnen. Für die terroristische Kommunikation sollen hier generell sieben Zielgruppen identifi­ ziert werden. Sie können selbst wiederum - direkt oder indirekt gleichzeitig Akteure der Kommunikation sein: 1.) die Mitglieder der terroristischen Gruppe; 2.) ihre Sympathisanten,6 Finanziers, ideologischen Unterstützer oder mögliche neue Mitglieder; 6 Der Begriff des »Sympathisanten« ist in Zusammenhang mit Terrorismus und insbesondere in Zusammenhang mit der RAF alles andere als unproble­ matisch, denn er wurde auch als politischer Kampfbegriff zum Zwecke der Ausgrenzung bestimmter Personengruppen in der öffentlichen Diskussion benutzt (vgl. dazu u. a. Balz 2006). Strenggenommen müßte dieser Begriff also noch wesentlich genauer differenziert werden. Wenn hier keine weitere Differenzierung angegeben wird, soll folgende Definition gelten: Als Sym­ pathisant wird der- oder diejenige verstanden, die entweder aufgrund der Ziele und Ideologien der Terroristen oder deren Behandlung durch den Staat Sympathie für diese empfinden und diese Sympathie auch in aktive Handlungen umzuwandeln bereit sind. Kein Sympathisant ist hingegen der­ 32

3.) die breite Öffentlichkeit, also die Bevölkerung des jeweiligen Landes oder - je nach Gruppe - sogar die der ganzen Welt; 4.) die Medien (die wiederum in verschiedene Kategorien unter­ schieden werden sollten, zum Beispiel in die terroristische Gruppe ideologisch unterstützende, neutrale und ablehnende oder sogar feindliche Medien. Eine andere Einteilungsmög­ lichkeit ist die Differenzierung in gruppeneigene Publikatio­ nen, Untergrundpublikationen und »etablierte« Publikumsmedien); 5.) die Strafverfolgungsbehörden und ihre übergeordneten In­ stanzen, also in einem demokratischen Staatswesen in der Re­ gel die amtierende Regierung; 6.) andere politische Akteure, zum Beispiel die Opposition im Parlament oder eine außerparlamentarische Opposition, 7.) und schließlich andere konkurrierende oder sympathisieren­ de Terrorgruppen. Zwischen diesen sieben Akteursgruppen spielt sich die terroristi­ sche Kommunikation ab. Dabei kann es wechselnde bipolare Be­ ziehungen zwischen zwei der Gruppen geben, zum Beispiel zwi­ oder diejenige, die lediglich dieselben politischen Ziele teilen oder aufgrund moralischer, rechtlicher oder politischer Überlegung die Behandlung von Terroristen und die Gegenmaßnahmen des Staates kritisieren. Darüber hin­ aus muß zwischen abstrakten Sympathisanten und konkreten Sympathi­ santen unterschieden werden. Auf der abstrakten Ebene sind diejenigen anzusiedeln, die prinzipiell für die kommunikativen und ideologischen Zielsetzungen der Terroristen in Abstimmungen mit diesen gewaltlose Handlungen auszuüben bereit sind. Als konkrete Sympathisanten seien hin­ gegen diejenigen bezeichnet, die sich unterstützend auch an gewaltsamen Handlungen beteiligen, etwa bei der Anschlagsvorbereitung in Form von logistischer Unterstützung oder durch den Aufruf zu Gewalt. Wie man an diesem kurzen Definitionsversuch aber schon ersehen kann, sind die Gren­ zen zwischen den verschiedenen Definitionen in der Praxis sehr fließend. So könnte ein konkreter Sympathisant, wenn er die Grenze zum aktiven Han­ deln überschreitet, auch als Unterstützer bezeichnet werden. Umgekehrt wäre ein Journalist oder Literat (wie etwa im Fall der RAF Heinrich Böll), der lediglich für die Motive der Terroristen ein gewisses Verständnis zeigt und zu keiner gewaltsamen Handlung aufruft, gar kein Sympathisant und erst recht kein Unterstützer. Daß diese Personengruppe aber auch von Ter­ roristen durchaus für propagandistische Zwecke vereinnahmt werden kann, ist ein spezifisches Phänomen der terroristischen Kommunikation, die auf allen Ebenen Öffentlichkeit herzustellen sucht. Die Vereinnahmung den Vereinnahmten und nicht den Vereinnahmern zur Last zu legen, wäre aller­ dings unredlich. 33

schen den Terroristen und der Polizei oder den Strafverfolgungs­ behörden. Ebenso häufig sind aber multipolare kommunikative Beziehungen zu konstatieren, etwa zwischen der Terrorgruppe, den Medien, der Öffentlichkeit und der Politik. Hierbei wird sowohl miteinander als auch übereinander kommuniziert. Und nicht zuletzt gibt es eindimensionale kommunikative Beziehun­ gen, etwa bei der internen Kommunikation der Terrorgruppe. Will man mit diesem theoretischen Modell der Realität noch nä­ her kommen, darf man nicht vergessen, daß die drei genannten Beziehungen zeitgleich, aber unabhängig voneinander bestehen können. Ebenso gilt es zu berücksichtigen, daß mit ein und der­ selben Kommunikationsstrategie, beispielsweise der Erklärung zu einem Anschlag, alle Akteursgruppen auf einmal erreicht wer­ den können. Dann wiederum bestehen die Beziehungen nicht nur zeitgleich, sondern auch abhängig voneinander. Die Erklärung ei­ ner terroristischen Gruppe wäre dann allen drei Beziehungs­ ebenen gleichermaßen zuzurechnen. Die terroristische Kom­ munikation ist also ein sehr komplexes Gebilde und darf nicht auf eindimensionale Aktions-Reaktions-Schemata reduziert wer­ den. Das lateinische Verb communicare kann je nach Kontext mit »mitteilen«, »teilen«, »gemeinsam machen« oder »vereinigen« übersetzt werden. Im weitesten Sinne bezeichnet Kommunika­ tion also den Austausch von Mitteilungen oder Informationen.7 Damit ist aber noch nichts über die Art der Mitteilungen gesagt oder die Adressaten, Absender oder den Übertragungsweg. In­ sofern kann ebenso eine Zeitung gemeint sein wie ein persön­ liches Gespräch, die Übertragung von Daten zwischen Compu­ tern oder die Übermittlung von Reizen und Nervenstimuli in der Hirnforschung. Unzählige weitere Beispiele ließen sich ergän­ zen. Zudem kann diese Mitteilung verbal oder nonverbal, also etwa durch Mimik, Gestik, Symbole, Signale oder Piktogramme über­ sandt werden. Bildhafte Zeichen oder Symbole haben fast immer eine kommunikative Bedeutungsebene.8 Gute Beispiele dafür 7 Auch dieser Begriff kann wiederum unterschiedlich belegt sein oder varia­ bel angewandt werden (vgl. Ott 2004). 8 In der Sprachwissenschaft hat sich die Teildisziplin der Semiotik heraus­ gebildet, die nicht nur die gesprochenen Laute oder die geschriebenen Let­ tern untersucht, sondern Sprache allgemeiner als komplexes Zeichensystem 34

sind in der terroristischen Kommunikation die Logos der ver­ schiedenen Terrorgruppen, zum Beispiel der rote Stern mit der Maschinenpistole von Heckler & Koch bei der RAF oder die Faust mit der emporgestreckten Kalaschnikow bei der Hisbollah. In beiden Fällen spielt die Farbgebung zusätzlich eine Rolle; bei den revolutionären, marxistisch-maoistisch orientierten Grup­ pen ist es in der Regel die Farbe Rot, bei anarchistischen Gruppen Schwarz und bei islamistischen Gruppen Grün (die Farbe des Is­ lam). Allein schon durch Logos oder deutlich wiedererkennbare Flaggen wird eine Botschaft übermittelt und eine Positionierung der Gruppe erreicht. Symbolhafte Bildmetaphern finden sich auch in anderen Zusammenhängen der terroristischen Kommu­ nikation, etwa bei der Hintergrundgestaltung eines Entführer­ videos. Ein Bild sagt auch hier oft mehr als tausend Worte. Den­ noch darf man bei der Betrachtung dieser symbolhaften Kommu­ nikation den Kontext nicht außer acht lassen. Das Symbol wirkt nur, weil es verstanden wird. Und dies wiederum setzt ein Vor­ wissen der Kommunikanten voraus. Sie müssen zuvor bereits in­ teragiert haben. Interaktion ist ein weiteres Merkmal von Kommunikation, das vor allem die Soziologie betont.9 Diese kurzen Überlegungen sol­ definiert. In der Semiotik werden wiederum die Begriffe »Semantik«, »Prag­ matik« und »Syntax« unterschieden (vgl. dazu u. a. Bentele 1978; Eco 1994; Jakobson 1993; Morris 1988; Noeth 1985). Auch die häufig als »Struktura­ listen« bezeichneten Autoren Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Michel Foucault oder Frederic Jameson - um nur einige heraus­ zugreifen - bauen in ihren Werken auf dem Verständnis von Sprache als Zeichen- und Symbolsystem auf und verquicken diese Analyse mit philoso­ phischen und soziologischen Erkenntnissen (vgl. dazu etwa Barthes 1979; Bourdieu 1974; Derrida 1967; Foucault 1971; Jameson 1988). Auf die Unter­ schiede in den verschiedenen Analysen und die Abgrenzungen zwischen Strukturalismus, Postmodernismus oder Konstruktivismus kann hier nicht näher eingegangen werden, da dies zu sehr vom Untersuchungsgegenstand wegführen würde. 9 Dabei kann sich die Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen, zwischen Institutionen oder zwischen Institutionen und Personen abspie­ len. Aus der mannigfaltigen soziologischen Literatur, die sich dem Thema Kommunikation und Interaktion im sozialen System widmet, sei hier le­ diglich stellvertretend auf die Arbeiten von Charles H. Cooley (1998), Jür­ gen Habermas (1975, 1981) und Niklas Luhmann (1981) verwiesen. Eine Übersicht über unterschiedliche soziologische Kommunikationstheorien gibt Schüt zeichel (2004). Da sich die Soziologie stärker als beispielsweise die Psychologie, die in der Regel die menschlichen Kommunikationsprozesse 35

len zeigen, daß sich Kommunikation auf völlig unterschiedlichen Ebenen abspielen kann. Aus den verschiedenen Wissenschafts­ disziplinen lassen sich folgende Begriffspaare herausfiltern, die auf die unterschiedlichen Aspekte von Kommunikation verwei­ sen und auch in der terroristischen Kommunikation Bedeutung haben können: Verbale und nonverbale Kommunikation: Sprache bzw. Mimik und Gestik. Für die terroristische Kommunikation wären das zum Beispiel die benannten Symbole oder eine vereinbarte Zei­ chensprache zum Austausch von Informationen in der Haft. Personelle oder öffentliche Kommunikation:10 Vier-AugenGespräch bzw. in irgendeiner Art Dritten zugänglich gemachte Information. Hierbei kommt auch der Überprüfbarkeit der Kommunikation Bedeutung zu. In einem persönlichen Gespräch macht man sich in der Regel keine Notizen - die getätigten Aus­ sagen können von der anderen Gesprächsperson im nachhinein untersucht, auch auf die gesellschaftlichen Aspekte von Kommunikation konzentriert, wird von ihr noch im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs »Medien« die Rede sein. Zur personellen Kommunikation vgl. Steinmüller 1977: 34- 57- Mit der öf­ fentlichen Kommunikation beschäftigt sich in der Regel die Publizistik. Darauf verweist bereits der Name der Fachrichtung, ihre Untersuchungs­ gegenstände - so unterschiedlich sie auch sein mögen - haben in der Regel eines gemeinsam: Sie sind in irgendeiner Form publiziert, also veröffent­ licht worden. Der Vorgänger der Publizistik war in Deutschland die histo­ rische Zeitungswissenschaft, in den USA war die Publizistik in ihren Anfängen eher von der Politikwissenschaft und der Soziologie geprägt. In Deutschland beeinflußte die Publizistik wiederum die Entstehung der Kommunikationswissenschaft, die einerseits als interdisziplinäre For­ schungsdisziplin der Sozialwissenschaften gelten kann, sich andererseits aber stets um die Entwicklung eigener Methoden und originärer Ansätze bemüht, um sich von verwandten Disziplinen abzugrenzen. Zur Ge­ schichte der deutschen Publizistik vgl. u. a. Hackforth 1982 oder Hach­ meister 1987. »Frühe« Vertreter der deutschen Publizistik waren Hage­ mann (1966 [1947]), Dovifat (1929) oder Jaeger (1926). In den sechziger Jahren wurde zum Teil an die »historische« Tradition der Publizistik ange­ knüpft - auch wenn sich die Disziplin insgesamt stärker soziologisch aus­ richtete (vgl. Prakke 1968; Koszyk 1968). Besonders interessant ist in un­ serem Zusammenhang, daß sich bereits 1875 der Publizist und Politiker Wuttke mit der politischen Wirkung der veröffentlichten Meinung ausein­ andersetzte (Wuttke 1875). Analyse des Verhältnisses von veröffent­ lichter Meinung zu öffentlicher Meinung und umgekehrt ist bis heute ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Kommunikationswissenschaft geblieben und findet seine Entsprechung beispielsweise auch in der Me­ dienwirkungsforschung (vgl. Pürer 1993). 36

einfach abgestritten werden. Bei jeder Form der öffentlichen Kommunikation gibt es hingegen entweder Zeugen oder einen Beleg in Form des Kommunikationsträgers. Diese Überlegung steht bei terroristischen Gruppen hinter der Veröffentlichung von Bekennerschreiben oder Videos. Direkte und indirekte Kommunikation:11 mündliche, ohne Umwege übermittelte Botschaften oder durch ein Trägerme­ dium, zum Beispiel E-Mail oder Brief, vermittelte Kommuni­ kation. Dabei wiederum spielt es keine Rolle, ob die Kommuni­ kation privat oder öffentlich ist. Ein Brief beispielsweise kann privater Natur sein, die Information bleibt dennoch schriftlich fi­ xiert. Die indire kte Kommunikation ist also in der Regel eine me­ diatisierte Kommunikation - selbst wenn sie persönlich weiterge­ tragen wird. Direkte Kommunikation ist bei einer terroristischen Gruppe für die Weitergabe von Befehlen bei der interne n Abspra­ che und Anschlagsvorbereitung nach wie vor entscheidend. Gesendete und gespeicherte Kommunikation: Die Mitteilung wird einmalig gemacht und ist in der Regel nicht reproduzierbar bzw. die Mitteilung kann erneut aus einem wie auch immer gear­ teten Speicher abgerufen werden. Die Medienwissenschaft unter­ scheidet zwischen Speicher- und Sendemedien. Klassische Spei­ chermedien sind das Buch oder die Zeitung - die Information kann mehr als einmal nachgelesen werden. Klassische Sendeme­ dien sind hingegen das Radio und das Fernsehen - nach der Aus­ strahlung kann der Zuschauer oder der Zuhörer die getätigten Aussagen in der Regel nicht noch einmal hören. Das Internet wie­ derum ist sowohl ein Speicher- als auch ein Sendemedium - und wird nicht nur daher ausgiebig von Terrorgruppen für die un­ terschiedlichsten Zwecke (Verbreitung von ideologischen Pro­ grammschriften, Anleitungen zum Bombenbau usw.) genutzt. Raum-zeitlich distanzierte Kommunikation: Bei der Kommu­ nikation durch einen Überträger oder Sender müssen die Beteilig­ 11 Der Sprachwissenschaftler Karl Bühler hat zur Beschreibung von direkter und indirekter Kommunikation sein Organonmodell entwickelt. Im Mit­ telpunkt dieses Modells steht das Organon (als Werkzeug im Sinne Pla­ tons, man denke etwa an die Sprache bzw. das sinnlich Wahrnehmbare, an akustische oder optische Signale, in unserer Zeit an Radio oder Fernsehen). Hinzu kommen der Eine (Sender), der Andere (Empfänger) und die Dinge (die Sachverhalte, über die kommuniziert wird, vgl. Bühler 1965). Einen Überblick über die verschiedenen sprachwissenschaftlichen Ansätze der unterschiedlichen Kommunikationstheorien gibt Steinmüller (1977). 37

ten nicht unbedingt an einem Ort Zusammensein. Dann spricht man von räumlich distanzierter Kommunikation, die für alle Massenmedien, etwa das Fernsehen oder das Radio, gilt. Bei der raum-zeitlich distanzierten Kommunikation müssen die Teilneh­ mer nicht einmal zum selben Zeitpunkt an verschiedenen Orten anwesend sein. Durch die Speicherfähigkeiten des Überträgers kann die Kommunikation sowohl räumlich wie zeitlich versetzt stattfinden. Beispiele dafür sind Zeitungen oder E-Mails, die man erst am nächsten Tag liest.12 Diese Form der Kommunikation ist für eine terroristische Gruppe besonders wichtig, gerade wenn die einzelnen Mitglieder in mehreren Ländern operieren und voneinander getrennt sind. Interpersonelle und intrainstitutionelle Kommunikation:13 Diese Unterscheidung schließt sich an das Begriffspaar direk­ te und indirekte Kommunikation an. Allerdings liegt hier der Schwerpunkt auf der Organisationsform der Kommunikanten bzw. auf deren Gruppenzugehörigkeit. Die intrainstitutionelle Kommunikation folgt anderen Regeln als die interpersonelle 12 Auf die Bedeutung der raum-zeitlich distanzierten Kommunikation wies der amerikanische Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan schon sehr früh hin, obgleich sie nicht sein eigentlicher Untersuchungsgegen­ stand war (vgl. McLuhan 1951). In Understanding Media (1964) betont McLuhan in seiner »extension theory«, daß Medien die Ausweitung des menschlichen Seins darstellen. Er begreift also die Technik auch als Erwei­ terung {extension) des menschlichen Körpers. Insofern entspräche die räumlich distanzierte Kommunikation und die raum-zeitlich distanzierte Kommunikation, die letztlich nur durch Technik möglich ist, in McLuhans Sinne einer Ausweitung des menschlichen Bewußtseins. Vereinfacht aus­ gedrückt: Man kann an einen anderen Menschen denken, der räumlich ent­ fernt ist. Mit dem Telefon wurde es technisch möglich, diese Barriere zu überwinden. Und spätestens mit dem Internet wurde auch die Aufhebung der raum-zeitlichen Trennung möglich. Man könnte argumentieren, das Bewußtsein habe sich in den neuen Techniken seine Entsprechung gesucht und erweitert. In Deutschland hat Friedrich Kittler McLuhans Denkan­ stöße weiterverfolgt und eigene Ansätze gesucht, die Entwicklungen auf dem Weg zur raum-zeitlich distanzierten Kommunikation zu beschreiben (vgl. z.B. Kittler 1986, 1995). 13 Häufig findet sich dieser Ansatz in der betriebswirtschaftlichen Kom­ munikationsforschung. Die Begriffe Unternehmenskommunikation oder Organisationskommunikation verweisen darauf (vgl. Hahne 1998). Na­ türlich kann es sich aber bei Organisationen auch um andere geschlossene soziale Einheiten handeln (vgl. zur öffentlichen Kommunikation im all­ gemeinen Bentele/Rühl 1993; zur PR und zur PR-Forschung Deg 2006; Zerfaß 2004; Bentele/Fröhlich/Szyszka 2005). 38

Kommunikation. Unter dem Begriff Gruppe ist hier die jeweilige Organisation oder Institution gemeint, also etwa ein Verband, eine Partei oder eben auch eine terroristische Gruppe. Diese ver­ fügt wiederum über ihre eigene, spezifische Organisationsstruk­ tur wie Zellen, Kader oder Aktions- und Planungseinheiten. Or­ ganisierte öffentliche Kommunikation von Interessengruppen wird häufig auch als Public Relations (PR) bezeichnet, die wie­ derum gleichermaßen eine Sozial- und Kulturtechnik wie eine Kommunikationstechnik darstellt. Die Unterscheidung in inter­ personelle und intrainstitutionelle Kommunikation findet sich bei allen Terrorgruppen. So wird das Internet für die Veröffent­ lichung von Bekennerschreiben benutzt, die alle Zielgruppen er­ reichen sollen. Zu bestimmten Internetseiten aber oder zu gewis­ sen Untergrundpublikationen haben nur »Eingeweihte« Zugang, sie sollen der breiten Öffentlichkeit verborgen bleiben. Diese Überlegung führt logischerweise zum letzten Begriffspaar. Kodierte Kommunikation und dekodierte Kommunikation: Eine naheliegende Erklärung für dieses Begriffspaar liegt in der Verwendung der Sprache. Nicht alle Menschen sprechen dieselbe Sprache. Insofern ist Sprache immer auch kodierte Kommunika­ tion. Den Prozeß der Kodierung-Dekodierung14 erfüllen wir in unserer Muttersprache in der Regel automatisch und unbewußt aufgrund unseres Vorwissens. Denn wir wissen sowohl um das Bezeichnende als auch um das Bezeichnete.15 Kodierte Informa­ tion spielt im Zusammenhang des Terrorismus eine wichtige Rolle. Oft werden Terroroperationen oder -kommandos mit symbolhaften Namen bezeichnet, im Fall der Entführung der Landshut zum Beispiel Martyr Halimeh. Solange diese nicht von den Medien erläutert werden, verstehen nur die Mitglieder der Gruppe oder ihre Sympathisanten ihre Bedeutung. Allerdings

14 Auf den Prozeß des Kodierens/Dekodierens weist beispielsweise der bri­ tische Theoretiker Stuart Hall hin, der als einer der Begründer der Cultural Studies gilt (vgl. Hall 1980). 15 Die Unterscheidung zwischen Bezeichnendem (Signifikant) und Bezeich­ netem (Signifikat) geht auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saus­ sure zurück (1857-1913; vgl. Saussure 2003). Inzwischen geht man davon aus, daß die Begriffe Signifikant und Signifikat nicht von Saussure selbst stammen, sondern von seinen Schülern nachträglich in sein Hauptwerk Cours de linguistique générale eingefügt wurden und seinem eigenen sprachwissenschaftlichen Denken sogar teilweise widersprachen. 39

können Terrorkommandos auch ganz bewußt unkodiert benannt werden, wenn die Gruppe sie als Mittel der Außenkommunika­ tion nutzen will (zum Beispiel trug das RAF-Kommando, das 1975 die westdeutsche Botschaft in Stockholm besetzte, den Na­ men Holger Meins). Das wohl älteste Beispiel für kodierte Kommunikation stellen Parolen oder Erkennungszeichen dar. Hier teilen ein oder meh­ rere Kommunikanten ein Vorwissen, das auf direkter Kommuni­ kation beruht. Sie haben sich festgelegt, ein bestimmtes Wort, ei­ nen bestimmten Satz oder ein bestimmtes Zeichen zu verwenden, es aber mit einem anderen als dem üblichen Sinngehalt zu füllen. Diese Form von Kommunikation wird von terroristischen Grup­ pen bis heute angewandt, wenn sie sich im öffentlichen Raum (zum Beispiel einem Cafe oder Restaurant) treffen, um Anschläge vorzubereiten oder sich abzusprechen. Man denke an die Bot­ schaft, die die RAF intern ihren Mitgliedern im letzten SchleyerVersteck in Brüssel zukommen ließ: »Die Ladung ist verdorben, wir sollten das Geschäft zum Abschluß bringen.« Während der Lorenz-Entführung setzte auch die Bewegung 2. Juni kodierte Information ein. Nachdem fünf freigepreßte Terroristen in den Jemen ausgeflogen worden waren, verlas Heinrich Albertz in einer Fernsehansprache folgende Erklärung: »Wir danken der Crew für ihren Einsatz, wir danken Pfarrer Albertz für all seine Bemühungen. Wir grüßen die Genossen in Deutschland, die außerhalb des Knastes sind, und die, die noch im Knast sitze n. Wir werden unsere Energie darein set­ zen, daß für sie auch bald so ein Tag, so wunderschön wie heute, anbrechen wird. Wir werden siegen!«16 Die Formulierung »ein Tag, so wunderschön wie heute« enthielt dabei einen vorher vereinbarten Code. Für die in Deutschland verbliebenen Aktivisten der Bewegung waren die Worte das Zei­ chen, den entführten CDU-Politiker Peter Lorenz freizulassen. Ein öffentlicheres Forum für eine geheime Botschaft als die Ta­ gesschau hätte man zu diesem Zeitpunkt (1975) wohl kaum wäh­ len können. Die geheime Botschaft zwischen den unterschied­ lichen Kommunikanten der terroristischen Bewegung, denen im 16 Tagessschau vom 4. 3.1975, 20-Uhr-Ausgabe, NDR-Archiv. 40

Jemen und denen in Deutschland, fand unter den Augen der Polizei und vor Millionen Fernsehzuschauern statt. Grundsätzlich sei vermerkt, daß in diesem Buch jeder Versuch, in die bestehenden Kommunikationsebenen einzugreifen, als Kommunikationsstrategie (wenn es um langfristige Ziele geht) oder als Kommunikationstaktik (wenn es um kurzfristige Ziele geht) verstanden wird. Diese Definition ist bewußt offen gewählt, um möglichst viele Aspekte der terroristischen Kommunikation einzuschließen. In der Regel implizieren die Begriffe Strategie und Taktik zielgerichtetes Vorgehen. Im Hinblick auf terroristi­ sche Kommunikationsstrategien muß jedoch betont werden, daß auch unbeabsichtigt Effekte ausgelöst werden können.

2. Vom Tyrannenmord zum Terrorismus: ein ideengeschichtlicher Überblick Auch wenn der Begriff Terrorismus hier definiert wurde, darf nicht außer acht gelassen werden, daß es verwandte Gewalt­ formen und historische Vorbilder gibt, die Terroristen in ihren Ideologien, Legitimationen und letztlich damit auch in ihren Kommunikationsstrategien beeinflußt haben und aus denen her­ aus überhaupt erst der moderne Terrorismus entstanden ist. Denn die meisten Terroristen haben sich - von einigen Ausnah­ men abgesehen - niemals selbst als »Terroristen« bezeichnet. Es handelte sich fast immer um eine Fremdzuschreibung; für einen Terroristen jedweder Couleur ist die Legitimation seines Han­ delns entscheidend. Terrorismus als Selbstzweck kann es zwar de facto geben, aber dann handelt es sich entweder um einen Grenzbereich zwischen Terrorismus und krimineller Gewalt bzw. zur Gewalt von Kriegsherren und Warlords oder um ver­ zweifelte Aktionen einer Terroristengruppe, die ihr ursprüng­ liches Ziel aus den Augen verloren hat. Mit anderen Worten: Ein Terrorist wird immer einen Grund und vor allem ein höheres moralisches Ziel für sein Handeln nennen, auch wenn dies für Außenstehende und erst recht für seine Opfer alles andere als einleuchtend oder akzeptabel sein mag. Für die Selbstlegitima­ tion ist ein »höheres Ziel« aber entscheidend. Diese moralische Legitimation dient auch als Propagandainstrument zur Anwer­ bung neuer Mitglieder, zur Förderung des Zusammenhalts der Gruppe oder zur öffentlichen Rechtfertigung; aber vor allem ist sie die Quelle, aus der sich der Terrorismus speist. Dies gilt glei­ chermaßen für religiös motivierte Terroristen wie für Terroristen des Sozialrevolutionären Typus. Letztere würden sich beispiels­ weise immer als Widerstandskämpfer, Guerilleros, Rebellen oder Befreier sehen, erstere hingegen als Kämpfer für die ge­ rechte Sache oder als Gotteskrieger. Beide Typen sind in aller Regel durch idealistische Überzeugungstäter geprägt - selbst wenn diese konkrete politische Ziele verfolgen oder ein Terrori­ stenführer seine Gefolgsleute für seinen persönlichen Vorteil einsetzt. Terroristen sind also insofern Idealisten, als daß sie an eine Idee oder an eine Utopie glauben, der sie zum Durchbruch 42

verhelfen wollen. Das unterscheidet Terroristen zum Beispiel von Söldnern. Daher ist es sinnvoll, einen kurzen Blic k auf die Geschichte der nichtstaatlichen Gewalt zu werfen und Vorbilder der Terroristen zu identifizieren. Zudem dient dieses Kapitel dazu, den Begriff der »Propaganda der Tat« einzuführen, der essentiell für jede ter­ roristische Aktion ist und der auf die kommunikativen Aspekte des Terrorismus verweist. Als Gewalt nichtstaatlicher Akteure setzt Terrorismus die Exi­ stenz einer staatlichen Ordnung voraus. Anders ausgedrückt: Terrorismus in unserer Definition braucht immer einen Gegner, der im Besitz der Macht ist. Um was für eine Ordnung es sich da­ bei handelt - ob um eine oligarchische, monarchische, aristokra­ tische, absolutistische, diktatorische oder demokratische -, ist da­ bei erst einmal irrelevant, weil die Terroristen ihr die Legitimation absprechen und eine eigene entgegensetzen. In Staaten wiederum, in denen es kein allgemein akzeptiertes Gewaltmonopol gibt, wird es schwierig, überhaupt mit dem Begriff des Terrorismus zu operieren. Wenn sich zum Beispiel Anhänger verschiedener Gruppierungen innerhalb einer Militärdiktatur gegenseitig mit politischen Morden, Bombenattentaten oder Angriffen auf Ka­ sernen bekämpfen, ist es fast unmöglich festzulegen, wer denn nun eigentlich die »wirklichen« Terroristen sind - gerade, wenn sich die verschiedenen Gruppen jeweils mit genau diesem Termi­ nus diskreditieren. Für die Außenbetrachtung und die Einordnung einer Gruppe als terroristisch bleibt es essentiell festzustellen, wer denn im Be­ sitz der staatlichen Gewalt ist und vor allem, wie diese legitimiert wird. Denn nur so kann Terrorismus letztlich von Widerstand ab­ gegrenzt werden. In demokratisch verfaßten Staaten scheint diese Abgrenzung auf den ersten Blick relativ einfach: Hier haben sich die Bürger des Staates aufgrund einer Übereinkunft dazu ent­ schlossen, auf private Gewalt zu verzichten und das Gewalt­ monopol dem Parlament (Legislative) bzw. der Regierung und ih­ ren Organen (Exekutive) zu überlassen. Dies wiederum setzt ein stabiles, durch die Judikative garantiertes Rechts- und Wahl­ system voraus, in dem die Bürger regelmäßig die Möglichkeit ha­ ben, ihre temporäre Zustimmung zurückzuziehen und die Macht anderen politischen Entscheidungsträgern zu übergeben. Grund­ sätzlich aber bleibt auch dann die Übereinkunft bestehen, daß das 43

Gewaltmonopol übertragen ist und nicht vom einzelnen, sondern von den jeweiligen demokratisch legitimierten Regierungen treu­ händerisch verwaltet und ausgeübt wird. Dafür sind die Gewal­ tenteilung, das Mehrheitssystem und - nach heutigem Verständ­ nis - der Minderheitenschutz die Grundlage. Wendet sich also eine terroristische Gruppe gewaltsam gegen einen demokrati­ schen Staat, so handelt sie immer illegal; im demokratischen Ver­ ständnis handelt sie aber zusätzlich illegitim. Indem sich solche Gruppen jedoch dem Konsensprinzip entziehen und das Gewalt­ monopol mißachten, werden sie überhaupt erst zu Terroristen. Dieser Argumentation liegt ein europäisches Demokratie­ verständnis zugrunde, das aus dem Gedankengut der Aufklärung abgeleitet wird. Dies geschieht aber nicht aus einem unreflektier­ ten Eurozentrismus heraus, sondern aus der Überlegung, daß sich inzwischen fast alle Staaten der Erde, die als demokratisch be­ trachtet werden, an die skizzierten Staatsrechtsprinzipien halten. Aussagen über die verschiedenen staatlichen Organisationsfor­ men sind damit noch nicht getroffen; also können hier auch De­ mokratien nichtwestlichen Typs eingeschlossen werden. Eine weitere Überlegung sei noch hinzugefügt: Wenn sich eine terroristische Gruppe in eine reguläre Partei verwandelt, bei offe­ nen und freien Wahlen siegt und gleichzeitig ihre gewaltsamen Aktionen einstellt, kann sie per definitionem nicht mehr als terro­ ristisch eingestuft werden. Denn dann hat sie sich wieder dem Konsensprinzip unterworfen und das Gewaltmonopol des Staa­ tes anerkannt. Dies ist keine rein akademische Diskussion. Viel­ mehr geht es dabei um ein immanentes Problem im Selbstver­ ständnis moderner Demokratien und auch um die Unterschiede zwischen ihnen: Es gibt zahlreiche mehr oder weniger aktuelle Beispiele dafür, daß ehemalige Terroristengruppen oder ihre poli­ tischen Ableger bei regulären Wahlen Mehrheiten erzielten - zum Beispiel die Hisbollah im Libanon, die Hamas in den autonomen Palästinensergebieten oder die Islamische Heilsfront in Algerien. Diese Wahlerfolge stellten auch immer eine Herausforderung für die jeweiligen Demokratien dar. In nichtdemokratischen Staaten hingegen wird es wesentlich komplizierter festzulegen, was Terrorismus eigentlich sei. Daher bemühen sich fast alle Terroristen, die von ihnen bekämpften Staaten und Regierungen als »nichtdemokratisch« oder »illegi­ tim« zu klassifizieren. Denn gegen solche Regierungen ist die An­ 44

wendung von Gewalt - nicht nur nach der terroristischen Logik17 - legitim. Die Terroristen des Sozialrevolutionären Typs beriefen sich fast immer auf den Volkswillen, dem sie zum Durchbruch verhelfen wollten, also eigentlich auf eine egalitäre Vorstellung (Ideal des Revolutionärs). Nationalistische Terroristen argumen­ tierten ähnlich; sie beanspruchten das Recht auf gewaltsamen Widerstand, weil sie eine bestimmte Volksgruppe (die wiederum ethnisch und/oder religiös definiert sein konnte) von Fremdherr­ schaft befreien wollten (Ideal des Befreiungskämpfers). Für die Terroristen des religiösen Typs schließlich stellt die Demokratie als solche noch lange keine legitime Herrschaft dar, denn diese kann in ihrer Vorstellung nur durch »gottgefällige« Regierungen ausgeübt werden (Ideal des Glaubenskriegers). Insofern beriefen und berufen sich fast alle te rroristischen Gruppen auf ein wie auch immer geartetes Widerstandsrecht. Völlig unabhängig davon, ob dies im Einzelfall berechtigt ist, sei hier darauf hingewiesen, daß es die Vorstellung des Widerstandsrechts zu allen Zeiten gegeben hat. Diese Idee läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen.

2.1 Der Dolch im Gewände: politischer Mord in der Antike »Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Dämon, den Dolch im Gewände: Ihn schlugen die Häscher in Bande, >Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!< Entgegnet ihm finster der Wüterich. >Die Stadt vom Tyrannen befreien!< >Das sollst du am Kreuze bereuenChi ewiva?Ven­ detta al popoloGeist der Freiheit< muß sich mit Dolch und Gift vertraut machen und die >gute Sache< muß Pulver und Knallsilber studieren. Unser Studium muß sich darauf richten, die Überlegenheit der Barbarenpartei durch Erfindung neuer Mordmittel zu vernichten, um das Übergewicht der organisierten Massen durch Zerstörungs­ werkzeuge aufzuheben, welche 1.) durch wenige gehand­ habt werden können, 2.) um so mehr Schaden anrichten, je größer die Masse derer ist, gegen welche sie angewandt wer­ den.« (Heinzen 1978 [1848]: 51) Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Anschläge auf das World Trade Center, so muß man konstatieren, daß Heinzens »Effizienztheorie« der terroristischen Aktion dort perfektioniert wurde: Die Gruppe um Mohammed Atta verwendete mit ent­ 62

führten Flugzeugen tatsächlich ein »neues Mordmittel«, das durch »wenige gehandhabt« wurde und mit rund 3000 Opfern tatsächlich sehr großen Schaden anrichtete. Im 19. Jahrhundert lag allerdings ein anderes »neues Mordmit­ tel« nahe: das Dynamit, das 1867 patentiert wurde. Heinzen hatte diese Erfindung gewissermaßen vorausgeahnt: »Ich bin weder Chemiker, noch Feuerwerker, noch Artille­ rist, kann also nicht beurteilen, ob die Schwierigkeiten einer Erfindung der angedeuteten Art unüberwindlich seien; nach dem aber, was die Erfindungskunst bis jetzt geleistet hat, nehme ich keine Unmöglichkeit an.« (Heinzen 1978 [1848]: 52) Auf technischer Ebene waren damit das Dynamit und der Rota­ tionsdruck die Innovationen, die den modernen Terrorismus und die Propaganda der Tat überhaupt erst ermöglichten.

2.6 Die Propaganda der Tat: ein neuer Begriff und seine Bedeutung Wann der Begriff der Propaganda der Tat erstmals auftauchte, ob bei dem italienischen Revolutionär Carlo Pisacane, bei dem fran­ zösischen Anarchisten Paul Brousse24 oder bei Johannes Most, ist nicht mehr eindeutig zu klären. Unstrittig ist aber, daß er in der anarchistischen Tradition steht und auch in theoretischen Analy­ sen der zahlreichen Attentate unmittelbar vor der Jahrhundert­ wende seine Ursprünge hat (vgl. Leber 1987). Die späteren st rate­ gischen Überlegungen und die Weiterentwicklung des Konzepts der Propaganda der Tat gingen dann im wesentlichen auf die vor­ revolutionären russischen Anarchisten Michail Bakunin und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin zurück.25 Insofern ist es nicht 24 Von Brousse stammt zum Beispiel auch der Ausspruch: »Eine exemplari­ sche Tat ist nötig, um den Massen, die nicht in der Lage sind zu lesen oder zu schreiben, den Sozialismus in der Praxis deutlich zu machen, ihn sicht­ bar, fühlbar und konkret zu machen.« (Zitiert in Brousse 1910: 225; Übers. d. Verf.) 25 Vgl. zur Idee der Propaganda der Tat bei Kropotkin Cahm (1989), insbe­ sondere das Kapitel »Kropotkin and Propaganda by deed« (S. 92-116). 63

überraschend, daß die Linksterroristen der siebziger Jahre an­ fänglich in der zeitgenössischen Presse als »Anarchisten« oder »anarchistische Banden« bezeichnet wurden. Für die Entstehung des Konzepts der Propaganda der Tat wa­ ren die Erfindung des Dynamits und die Verbreitung der Massen­ presse entscheidend. Denn diese Strategie intendiert sowohl eine große physische Zerstörungskraft als auch eine hohe kommuni­ kative Wirkung; in ihr verschmilzt die Tat mit ihrer medialen Ver­ breitung. Wir haben es mit der Quintessenz des modernen Ter­ rorismus zu tun, einer Gewalt- und Kommunikationsstrategie kleinerer Gruppen. Allerdings liegt bisher keine endgültige Defi­ nition vor, der Begriff der Propaganda der Tat wurde auch in an­ deren Zusammenhängen benutzt. Deswegen folgt zunächst ein grober Überblick über die verschiedenen ideengeschichtlichen Verständnisse der Propaganda der Tat, außerdem werden einzelne Texte in bezug auf ihre Relevanz für den modernen Terrorismus näher untersucht. Ein früher Verfechter der Propaganda der Tat war der italie­ nische Revolutionär Carlo Pisacane (1818-1857). In seinem »Politischen Testament« schrieb er 1857, daß Ideen aus Taten ent­ springen und nicht umgekehrt. Michael Bakunin (1814-1876) bemerkte in seinem Text »Briefe über die Gegenwärtige Krise an einen Franzosen« aus dem Jahr 1870: »Wir müssen unsere Prinzi­ pien nicht mit Worten, sondern mit Taten verbreiten, denn dies ist die populärste, stärkste und unwiderstehlichste Form der Propa­ ganda.« (Zitiert in Dolgoff 1971) Der Ausdruck Propaganda der Tat fand stärkere Verbreitung durch den französischen Anarchisten Paul Brousse (1844-1912). In einem Artikel gleichen Namens, veröffentlicht 1877 in der Au­ gustausgabe des Bulletin der Juraförderation, nannte er unter an­ derem die Pariser Kommune von 1871 als Beispiel für gelungene Propaganda der Tat. Andere Anarchisten wie Johannes Most wiesen explizit auf die Bedeutung der Berichterstattung über Gewalttaten hin und be­ zeichneten dieses Vorgehen als Propaganda der Tat: »Wir haben es schon hundertmal erklärt, daß es bei jeder Tat, welche die modernen Revolutionäre begehen, nicht auf diese selbst, sondern auf den propagandistischen Effekt [Hervor­ hebung im Original, Anm. d. Verf.], welcher damit erzielt 64

werden kann, ankommt. Daher predigen wir ja nicht bloß die Tat an sich, sondern eben die Propaganda der Tat.« (Most 1885) Most hatte bald großen Einfluß auf die amerikanischen Anarchi­ sten Emma Goldman und Alexander Berkman. Für Berkman war der Versuch, den Industriellen Henry Clay Frick zu töten, nach­ dem mehrere Streikende beim Homestead Strike im Jahr 1892 er­ schossen worden waren, ein Beispiel für Propaganda der Tat. Ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Rede­ wendung auch außerhalb der anarchistischen Bewegung verwen­ det, um einzelne Bombenanschläge und Attentate auf Staatsober­ häupter zu bezeichnen (vgl. Kasten). Eine Auswahl politischer Attentate im späten 19. Jahrhundert 4. April 1866: Dimitri Karakosow schießt auf Zar Alexan­ der II., verfehlt jedoch sein Ziel. Karakosow und vier weitere Revolutionäre werden am 3. September gehenkt. 11. Mai 1878: Mißglückter Anschlag Max Hödels auf Wil­ helm I. 2. Juni 1878: Ein Attentat Karl Nobilings auf den deut­ schen Kaiser schlägt ebenfalls fehl. August 1878: Sergei Krawtschinski ersticht General Ni­ kolai Mezentsow, den Chef der Zaristischen Geheimpolizei. April 1879: Alexander Solowjew schießt auf Alexan­ der II. Auch dieser zweite Anschlag auf den Zaren scheitert. 1880: Stepan Khalturin sprengt einen Teil des Za­ renpalastes in die Luft, acht Menschen ster­ ben, 45 werden verwundet. Damit war die Er­ findung Nobels endgültig in der politischen Landschaft angekommen, wie der Historiker Benedict Anderson bemerkt. 13. März 1881: Zar Alexander II. kommt bei einem Bomben­ anschlag ums Leben. 65

Diese Liste ließe sich erweitern, etwa um den Bombenanschlag während einer Arbeiterdemonstration auf dem Haymarket in Chicago am 4. Mai 1886. Zwar wurde die Tat nie endgültig aufge­ klärt, einige der mutmaßlichen Attentäter machten allerdings kei­ nen Hehl aus ihrer Sympathie für die Ideen Mosts. Bereits zwei Jahre zuvor hatten Anarchisten die Arbeiterproteste publizistisch weiter angefacht. In der Zeitschrift Der Alarm hieß es: »Dynamit ist der Emanzipator. In der Hand der Versklavten schreit er laut: Gerechtigkeit oder Vernichtung! [...] die Ar­ beiter werden es effektiv nutzen, bis persönlicher Besitz und Eigentumsrechte zerstört und eine freie Gesellschaft und Gerechtigkeit hergestellt sind. Dann wird es keine Notwen­ digkeit für eine Regierung mehr geben, es wird sich niemand mehr regieren lassen. Heil der sozialen Revolution! Heil ihrem Überbringer - dem Dynamit.« (Der Alarm 1884: 1, Übers. d. Verf.)26 Die Gruppe Narodnaja Wolja (= Volkswille), eine konspirative Vereinigung mit anarchistischen Zielen, die oft als erste moderne Terrororganisation bezeichnet wird, bekannte sich offen zu dem Anschlag auf Zar Alexander II. (vgl. von Borcke 1979). Auch die italienischen Anarchisten Luigi Galleani und Enrico Malatesta zählen zu den Theoretikern der Propaganda der Tat. Malatesta hatte dabei gewalttätige gemeinschaftliche Aufstände im Auge, durch die die - seiner Ansicht nach bevorstehende - Revolution ausgelöst werden sollte. Der deutsche Anarchist Gustav Lan­ dauer verstand unter dem Konzept dagegen die Schaffung freier sozialer Gebilde und Gemeinschaften als Beispiele für die Mög­ lichkeit einer anderen Welt.27 Der französische Anarchist Clement Duval lieferte im Jahr 1886 ein Beispiel für eine weitere Variante der Propaganda der Tat: Er stahl 15.000 Francs aus einer Pariser 26 Grundsätzlich sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß die US-ame­ rikanische Arbeiterschaft in dieser Zeit (zweite Hälfte des 19. Jahrhun­ derts) stark von deutschstämmigen oder emigrierten deutschen Anar­ chisten beeinflußt wurde. Dabei spielte vor allem die Agitation durch regelmäßig erscheinende Zeitschriften sowie durch Flugblätter eine große Rolle. 27 Zu Landauers individual-anarchistischen Theorie und seinen politischen Vorstellungen vgl. u. a. Landauer 1980. 66

Villa, ehe er das Haus versehentlich in Brand setzte. Zwei Wochen später wurde er gefaßt und zum Tode verurteilt; als man ihn aus dem Gerichtssaal schleifte, rief er: »Lang lebe die Anarchie!«28 Es zeigt sich, daß der Begriff der Propaganda der Tat sehr un­ terschiedliche Bedeutungen haben kann. In diesem Buch soll er jedoch im Sinne der Definition von Johannes Most verwendet werden, also als Zusammenwirken von Gewalt und Kommunika­ tion - eine Strategie, die später von den russischen Anarchisten weiterentwickelt wurde. Bakunin stellte sie in einem Text aus dem Jahr 1869 in den Zusammenhang der bevorstehenden Revolution, bei der alle Mittel erlaubt seien: »Die Revolution heiligt alles in diesem Kampf in gleicher Weise. Das Feld ist also frei! Die Opfer sind von der unver­ hohlenen Volksempörung bezeichnet. [...] Man wird es Ter­ rorismus nennen! Man wird ihm einen tönenden Spitzna­ men geben! Nun wohl, uns ist es gleichgültig.« (Zitiert in Laqueur 1978: 55) In diesem Text mit der Überschrift »Die Aufstellung der Revolu­ tionsfrage« verwendet erstmal ein Protagonist des Widerstands den Begriff Terrorismus. Bald bekannte sich dazu auch die Na­ rodnaja Wolja, im Programm ihres Exekutivkomitees aus dem Jahr 1879 (zitiert in Haimson 1955: 17) stellte sie klar, daß sie mit ihren Anschlägen ebenfalls die Revolution vorbereiten wollte. In »Der terroristische Kampf« schrieb Nikolai Morosov, ein Mit­ glied der Narodnaja Wolja und an mehreren Attentaten beteiligt: »Wie sieht wohl das mögliche Schicksal dieser neuen Form revolutionären Kampfes, der terroristische Revolution< ge­ nannt werden könnte, aus ? [...] terroristischer Kampf hat gerade den Vorteil, daß man unerwartet handeln kann und Mittel und Wege findet, die niemand vorhersagen kann. Al­ les, was man für den terroristischen Kampf benötigt, ist eine 28 Das Urteil wurde später abgewandelt, man schickte Duval in ein Arbeits­ lager auf der Teufelsinsel in Französisch Guyana. In einem Artikel in der Zeitung Revolte formulierte Duval eine Parole, die später immer wieder in unterschiedlichen Versionen - unter anderem auch von Andreas Baader zitiert wurde: »Diebstahl besteht nur in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.« 67

kleine Anzahl Menschen und große materielle Möglichkei­ ten.« (Zitiert in Laqueur 1978: 60) Mindestens ebenso wichtig war für Morosov aber die Propa­ ganda, also die Vermittlung der Taten und der revolutionären Ideen: »Wir wissen von der Wichtigkeit des Einflusses von Ideen auf Menschen.« (Ibid.) Dies ist ein eindeutiger Beleg für die These, daß der Terrorismus auf die Köpfe der Menschen zielt und seine Wirkung erst durch die Reaktion auf seine Taten erreicht. Weiter heißt es dazu bei Morosov: »Russische Terroristen haben zwei hochwichtige Aufgaben. [...] Neben der Verkündigung des Sozialismus sollte der zu­ künftige Kampf gepredigt werden, und zwar unter den Schichten der Bevölkerung, wo Propaganda trotz der wid­ rigen Umstände noch möglich ist. [...] Nur dann wird der Kampf frischen Nachschub aus der Bevölkerung bekom­ men, und diese Kräfte sind für einen entschiedenen und lang­ wierigen Kampf notwendig.« (Zitiert in Laqueur 1978: 64) Morosov erkannte also bereits mehr als 100 Jahre vor dem soge­ nannten internationalen Terrorismus, wie wichtig die Propa­ ganda für die Rekrutierung neuer Mitglieder und Aktivisten ist. Doch ohne die entsprechenden Kommunikationstechniken ließ sich nicht agitieren. Dazu bemerkte Johannes Most im September 1884 in der Zeitschrift Freiheit: »Um den gewünschten Erfolg mit höchster Perfektion zu erzielen, sollten, sobald die Aktion ausgeführt wurde - spe­ ziell in der Stadt, in der sie stattfand -, Poster aufgehängt werden, auf denen die Gründe für die Aktion [das Attentat, Anm. d. Verf.] erläutert werden, damit aus der Aktion der größte mögliche Nutzen gezogen werden kann.« (Most 1884: 5, Übers. d. Verf.) Und der russische Anarchist Kropotkin schrieb in »Der Geist der Revolte« im Hinblick auf die kommunikative Wirkung der Tat: »Die neue Idee zielt direkt auf die Köpfe der Menschen und gewinnt Konvertiten. Durch Aktionen, die die allgemeine 68

Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sickert die neue Idee ins Bewußtsein und gewinnt Anhänger. Eine einzige Tat macht in wenigen Tagen einen wesentlich höheren Propagandaef­ fekt als Tausende Pamphlete. [...] Die, die am Anfang nicht danach fragten, was die >Verrückten< eigentlich wollten, sind nun gezwungen, darüber nachzudenken, ihre Ideen zu dis­ kutieren, Stellung zu beziehen.« (Zitiert in Iviansky 1977: 48; Übers. d. Verf.) Daß bei der medialen Verbreitung der Tat aber nicht nur die ter­ roristische Gruppe selbst gefragt wa r, sondern sie vielmehr auf die - gewollte oder ungewollte - »Schützenhilfe« der Presse angewie­ sen war, wurde bereits vor annähernd 100 Jahren einkalkuliert. Denn angesichts prominenter Opfer und der hohen Zahl von Toten bei Dynamitanschlägen konnten die Zeitungen damals die Taten ebensowenig ignorieren wie die weltweiten Fernsehsender die Attentate vom 11. September 2001. Im Rückblick auf die enorme öffentliche Wirkung der Attentate der Narodnaja Wolja konstatiert der französische Sozialhistoriker Jean Maitron: »Zuletzt sollte noch angemerkt werden, inwieweit die Pres­ se ihren Anteil daran hatte, die kollektive Psychose über diese Attentate zu verstärken. Während dieser Jahre enthiel­ ten die Zeitungen täglich eine >Dynamit- KolumneMassenlinieMinihandbuch der Stadtguerilla< be­ schrieben.« (Zitiert in RAF 1997: 41 f.)31 Schließlich orientierten sich die Terroristen der siebziger Jahre auch am Vorbild der uruguayischen Tupamaros. Für diese Bewe­ 31 In diesem Dokument finden sich im übrigen zahlreiche Belege dafür, daß sich die RAF in ihrer Ideologie stark an historischen Vorbildern orientierte oder auf diese verwies. So wird fast jedem Unterkapitel dieser Schrift ein Mao-Zitat vorangestellt. Darüber hinaus beziehen sich die Autoren mehr­ mals auf Lenin sowie die Focus-Theorie Regis Debrays (vgl. Debray 1967). Dokumente der RAF und anderer Akteure der Zeit folgen oft einer eigen­ willigen Orthographie und Grammatik. Aus Gründen der Authentizität werden in diesem Buch die Schreibweisen beibehalten, wie sie der Autor in den Quellen vorgefunden hat (Anm. d. Verf.). 76

gung, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhun­ derts gegen die Militärdiktatur in ihrem Land kämpfte, begann der Kampf der Stadtguerilleros ebenfalls mit respektloser Öffent­ lichkeitsarbeit. Sie verfolgten zunächst eine Strategie der Gewalt­ freiheit und verübten allenfalls Banküberfälle. Dabei spielte aber nicht nur das Geld eine Rolle, diese Überfälle konnten - wenn auch ungeplant - zu einem Instrument innerhalb einer Kommu­ nikationsstrategie werden. In einem Interview sagte das Tupa­ maro-Mitglied »Urbano«: »In diesem speziellen Fall [...] blieben 380 Mill. Pesos un­ versehrt in den Tresoren. Wir nahmen jedoch jede Menge Dokumente mit, die bewiesen, daß die Bank in betrügerische Aktionen verwickelt war, was praktisch ihre Schließung be­ deutete. Die Dokumente veranlaßten das Finanzamt, eine Ermittlung einzuleiten.« (Zitiert in Laqueur 1978: 153) Selbstverständlich veröffentlichten die Tupamaros die erbeuteten Dokumente. Dieser »investigative« Banküberfall war zwar nicht als solcher geplant, dennoch stellte er sich im nachhinein als wirk­ same Kommunikationsstrategie heraus, die der Gruppe große Sympathien in der Bevölkerung einbrachte. Es ist also durchaus kein Zufall, daß sich eine linksautonome Spontigruppe im Berlin der späten sechziger Jahre als »Tupamaros West-Berlin« bezeich­ nete und anfänglich in Robin-Hood-Manier gerierte.32 An historischen Beispielen, Vorbildern und theoretischen Grundlagen für den modernen Terrorismus des 20. Jahrhunderts mangelte es also nicht. Dabei ist im Zusammenhang der medialen Terrorstrategien vor allem das Konzept der Propaganda der Tat als prägend hervorzuheben. Doch auch die schon aus der Antike bekannte Rechtfertigung des Tyrannenmordes spielt bis heute für die Selbstlegitimation von Terroristen eine entscheidende Rolle vor allem bei der Außendarstellung und damit letztlich auch als Kommunikationsstrategie. Denn durch die Konstruktion von Idolen, Mythen und Märtyrern versuchen Terroristen nach wie vor, die Unterstützerszene oder die breite Öffentlichkeit von der höheren Moralität ihrer Ziele zu überzeugen und gewaltsames 32 Einen Überblick über den weiteren Weg einiger Tupamaros West-Berlin in den Terrorismus bietet Kraushaar (2006 a). 77

Handeln zu legitimieren. Im folgenden werden dieser Mechanis­ mus und die konkreten Ausprägungen medialer Terror- und Kommunikationsstrategien am Beispiel der RAF näher beleuch­ tet.

II. Schockwirkung um jeden Preis: die Kommunikationsstrategien der RAF

1. Der historische Kontext der Entstehung der RAF Die Rote Armee Fraktion (RAF) war zahlenmäßig immer eine kleine Gruppe.1 Sie besaß zu keinem Zeitpunkt ihres Bestehens nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung und unterschied sich schon allein in diesem Punkt wesentlich von separatistischen Gruppierungen wie der ETA oder der IRA. Dennoch gelang es der RAF, in der Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre ein Klima der Angst zu erzeugen und de n Staatsappa rat nachhaltig zu provozieren. Als Reaktion auf ihre Anschläge und Entführun­ gen wurden unter anderem neue Antiterrorgesetze verabschiedet, der schon aus dem Kaiserreich bekannte Paragraph 129 des Straf­ gesetzbuches wurde 1976 um den Paragraphen 129 a (Verbot der Bildung, Mitgliedschaft, Unterstützung sowie Werbung für eine terroristische Vereinigung) erweitert.2 Aus der historischen Rückschau betrachtet, mag einem der Aufwand der Strafverfol­ gungsbehörden und der Polizei unverhältnismäßig Vorkommen. Doch von der relativ kleinen Gruppe ging phasenweise eine hohe Anschlagsgefahr aus, das BKA und der Verfassungsschutz wuß­ ten zunächst nicht, wie stark die RAF in Wirklichkeit war. 1 »Trotz aller Verschleierungsbemühungen der Täter und ungeachtet der Be­ drohungsszenarien durch Dritte steht heute fest, daß die RAF im Herbst 1977 über genau zwanzig Mitglieder verfügte - mehr als die linksterroristi­ sche Gruppe zu jedem anderen Zeitpunkt ihrer Existenz besaß.« (Wunschik 2006: 472) Wunschik stützt sich bei dieser Zahlenangabe auf das BKA. Daß in der Presse, auf alten Fahndungsplakaten und in manchen Studien zum Teil andere Zahlen auftauchen, liegt daran, daß dort nicht berücksichtigt wird, daß einige der Gesuchten keine RAF-Mitglieder, sondern lediglich mutmaßliche RAF-Mitglieder, in Haft oder tot waren oder sich von der Gruppe abgewandt hatten. In manchen Quellen werden zum Teil V-Leute und vom Verfassungsschutz angeworbene Spitzel gezählt. Zudem werden häufig Unterstützer der RAF als Mitglieder eingeordnet. Insofern ist die vom BKA ermittelte Zahl, auf die sich Wunschik stützt, meines Erachtens die glaubhafteste Quelle. In anderen populärwissenschaftlichen Veröffent­ lichungen, etwa bei Aust (1998 [1985]), wird eine Größenordnung von 250 angegeben. Es ist aber davon auszugehen, daß hier auch nichtaktive Mitglie­ der mitgezählt wurden. Aber selbst bei einer Größenordnung von 250 Mit­ gliedern wäre die RAF noch als kleine Gruppe zu klassifizieren. 2 Die Gegenmaßnahmen des Staates führten zudem zu einer massiven Ein­ schränkung bürgerlicher Freiheiten (vgl. dazu Kraushaar 1989). 81

Zudem wurde die Bedrohung von großen Teilen der Bevölke­ rung als real empfunden, darauf mußten Justiz und Polizei eine Antwort finden. Daß sie dabei bisweilen überreagierten, hat auch mit der Berichterstattung über die RAF und der Politik der da­ maligen Zeit zu tun. Die sozialliberalen Koalitionen unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt wollten sich nicht der Kri­ tik der Opposition aussetzen, sie seien auf dem »linken Auge« blind oder entscheidungsschwach gegenüber Terroristen - Vor­ würfe, die von Teilen der Opposition und einigen Medienvertre­ tern gebetsmühlenartig wiederholt wurden. Das RAF-Phänomen wurde von einigen demokratischen Politikern in unverantwort­ licher Form zu politischen Zwecken instrumentalisiert.3 Wie aber konnte dieses massenpsychologische Angstphäno­ men überhaupt entstehen? Als Hauptgrund sind natürlich die Anschläge de r RAF zu nennen - nicht nur, weil sie eine reale Ge­ fahr darstellten, sondern auch, weil sie das Staatswesen selbst auf einer abstrakten Ebene in Frage stellten.4 Denn erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Fundamente der Bun­ desrepublik aus dem Inneren heraus erschüttert. Das Phänomen Terrorismus war vollkommen neu für die verhältnismäßig junge Demokratie, die sich dadurch erstmals auch mit dem Problem ihrer Wehrhaftigkeit auseinandersetzen mußte.5 Daß die Be­ drohung dabei von jungen Frauen und Männern kam, die in die Prosperitätsphase des neuen Staates hineingewachsen waren, er­ 3 So forderte der CSU-Bundestagsabgeordnete und spätere Innenminister Friedrich Zimmermann die Wiedereinführung der Todesstrafe. Insgesamt teilte die Mehrheit der Bevölkerung die Angst vor dem Terrorismus und ak­ zeptierte auch die Gegenmaßnahmen des Staates. Je nach Parteizugehörig­ keit oder politischer Präferenz kritisierten sie einige sogar als zu lasch (vgl. dazu das Gespräch mit dem Juristen Ulrich K. Preuß in Hartung 1987: 71). 4 Noch 1981, also bereits vier Jahre nach dem Höhepunkt der Gewalttaten der RAF, glaubten laut einer Meinungsumfrage 70 Prozent der bundesdeut­ schen Bevölkerung an eine reale Bedrohung des Staates durch die RAF. 42 Prozent der Befragten hielten die Abwehrmaßnahmen des Staates für nicht ausreichend (vgl. Bundesministerium des Innern 1981: 22). 5 Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte dazu im Bundestag: »Ich glaube, daß wir bis an die Grenzen des Rechtsstaates gegangen sind. Der Hinweis auf die Inanspruchnahme § 34 StGB mag hier heute morgen ausreichen. Die Juristen unter Ihnen wissen, daß wir da bis an die Grenzen gegangen sind. Aber wir haben sie nicht übertreten.« Inwiefern der ehema­ lige Bundeskanzler damit recht hat, ist unter Juristen heftig umstritten (vgl. dazu Ostendorf 1978, Böckenförde 1978: 1883). 82

schwerte die Lage zusätzlich. Die RAF war also in erster Linie ein bundesrepublikanisches Problem - auch wenn sie selbst stets ver­ suchte, ihre Internationalität zu betonen. Kurioserweise decken sich bis heute in der Diskussion über die Internationalität der RAF die Interessen der Gruppe mit denen ihrer Gegner. Auf der einen Seite konnten die Verfolgungsbehör­ den mit dem Schlagwort vom internationalen Terrorismus ver­ schärfte Sicherheitsmaßnahmen begründen oder mehr finanzielle Mittel und Personal für ihre Arbeit fordern; auf der anderen Seite half dieses Attribut der RAF, ihre eigene Bedeutung und ihre Mo­ tive größer zu machen, als sie tatsächlich waren: »Terrorgruppen verbreiten Angst und Schrecken nicht nur durch politisch motivierte Gewalttaten [...], sondern auch dadurch, daß sie ihre Gegner im Ungewissen über ihre Größe und Macht lassen und darüber, zu welchen Anschlä­ gen sie in Zukunft fähig sein werden.« (Daase 2006: 905) Dieser Mechanismus des zunächst ungewollten, später jedoch einkalkulierten Zusammenwirkens von Eigen- und Fremdwahr­ nehmung, der letztlich wiederum Rückwirkungen auf die Außen­ darstellung und sogar auf die Taten einer terroristischen Gruppe haben kann, ist höchst interessant. Über das, was geheim ist - und so wurden ihre Organisations­ strukturen sowohl von der RAF selbst als auch von ihren Geg­ nern behandelt -, läßt sich letztlich nur spekulieren. So findet sich bereits 1972 in einer Publikation (vgl. v. Hase & Köhler Verlag 1972), die nach eigenen Angaben auf Akten des Bundeskriminal­ amtes, der Sonderkommission Bonn und des Verfassungsschut­ zes beruht, ein Organigramm der potentiellen RAF-Unterstützer und der internationalen Verbindungen der Gruppe. Diese Über­ sicht impliziert, daß die RAF Kontakte zu sämtlichen linken Gruppierungen hatte, die es damals in der BRD und international gab, von den US-amerikanischen Weathermen bis hin zur Japani­ schen Roten Armee. So wurde der Eindruck der internationalen Vernetzung - zumal die Angaben auf Geheimakten der Verfol­ gungsbehörden beruhten - weiter verstärkt. De facto aber waren die Kontakte zu vielen dieser Gruppen nicht operativ oder insti­ tutionalisiert, sie beruhten vielmehr auf ideologischen Überein­ stimmungen oder reiner Sympathie. Zwar gab es in der ersten Ge­ 83

neration der RAF Beziehungen zur palästinensischen PFLP, doch erst in der dritten Generation verübte die RAF gemeinsame Anschläge mit anderen Gruppen. So bestand eine vorüberge­ hende Zusammenarbeit mit der französischen Action Directe;6 die Entführung der Landshut (1977) durch das palästinensische Kommando »Märtyer Halimeh« war zwar mit der RAF abge­ sprochen, es waren allerdings keine RAF-Aktivisten unmittelbar beteiligt.7 Selbst die handfesteste Verbindung der RAF ins Ausland, die Ausbildung einiger Mitglieder in Trainingscamps der PFLP, ist kein eindeutiger Beleg für eine kontinuierliche internationale Vernetzung, zumal sich die Palästinenser und die Deutschen letztlich nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen konnten. Das ehemalige RAF-Mitglied Irmgard Möller sagte dazu in einem Interview anläßlich des 20. Jahrestages des Deutschen Herbstes: »Nach Palästina sind hauptsächlich Leute aus Berlin gegan­ gen. Solche Entscheidungen, wer wohin geht, hingen oftmals davon ab, wen wer kannte und mit wem man befreundet war. Sie hatten nicht immer einen bedeutsamen politischen Hin­ tergrund.« (Tolmein 1997: 31 f.)

6 Einen Hinweis darauf gibt beispielsweise eine gemeinsame Erklärung von RAF und Action Directe aus dem Jahr 1985, die in der vom ID-Verlag herausgegebenen Zusammenstellung von Materialien und Texten der RAF veröffentlicht wurde (RAF 1997: 328-333). Dieser Band ist die wohl umfas­ sendste Sammlung von Primärquellen der RAF. Insgesamt sind die interna­ tionalen Beziehungen der RAF im Vergleich zu anderen Themenbereichen ihrer Geschichte noch relativ wenig erforscht. Etwas besser dokumentiert sind hingegen die Verbindungen einzelner Mitglieder der zweiten Genera­ tion zur Staatssicherheit der DDR - obwohl auch dort noch weiterer For­ schungsbedarf besteht (vgl. Müller/Kanonenberg 1992). 7 Der Grad der Internationalisierung war bei den Revolutionären Zellen (RZ) von Anfang an höher als bei der RAF. Ihre Verwicklung in das Attentat auf die OPEC-Konferenz in Wien (1975) ist dafür ein Beleg. Hier hatte wahr­ scheinlich auch der libysche Geheimdienst seine Finger mit im Spiel, der die internationale Terroristengruppe aus Palästinensern und Deutschen unter der Führung des venezolanischen Top-Terroristen Illich Ramirez Sanchez alias »Carlos« vor dem Anschlag gezielt mit Informationen versorgte und der ein starkes Eigeninteresse an dem Anschlag hatte. Die Hintergründe die­ ser Aktion sind unter anderem Gegenstand der NDR-Dokumentation Ein deutscher Terrorist, die auf den Erinnerungen und Aussagen des ehemaligen RZ-Mitglieds Hans-Joachim Klein beruht. 84

Auch der vielzitierte Brief Ulrike Meinhofs an die nordkoreani­ sche Kommunistische Partei (zitiert in Wunschik 2007: o. A.) ist kein eindeutiges Indiz für die Internationalität der Gruppe, im Gegenteil: Von einer Antwort aus Pjöngjang ist nichts bekannt. Der Linksterrorismus tauchte allerdings in unterschiedlichen Staaten der westlichen Welt zeitgleich auf. So gab es in der Tat enge Beziehungen zwischen der Japanischen Roten Armee und der PFLP, unter anderem auch gemeinsame Anschläge (etwa auf den Tel Aviver Flughafen Lod im Jahr 1972). Die RAF gehörte aber in der Regel nicht zu den engeren Kooperationspartnern in solchen Netzwerken - auch wenn sie dies gerne geändert hätte. Auf der Grundlage ungesicherter Quellen und widersprüchlicher Aussagen von Zeitzeugen und Ex-Terroristen kann man aus den bestehenden und nachweisbaren Kooperationen nicht den Schluß ziehen, in den siebziger Jahren habe ein internationaler, zentral koordinierter Terrorismus existiert, zumal die Materie noch nicht abschließend untersucht ist. Insbesondere die weitergehenden Verbindungen zu anderen Staaten (zum Beispiel Libyen und Irak) werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Auch in bezug auf die RAF und ihre »Palästina-Connection« bleibt die Begriffsbe­ stimmung diffus: »Es besteht die eindeutige Tendenz, >internationalen Terro­ rismus< mit palästinensischem Terrorismus gleichzusetzen und dann beide Begriffe auf die El Fatah von Jasir Arafat [...] anzuwenden. Hinzu kommt die Gefahr, palästinen­ sische Gruppen miteinander zu verwechseln oder die Be­ deutung von Staatsallianzen, ideologischen Auseinanderset­ zungen und Spaltungen zu unterschätzen.« (Tolmein 1997: 830) Dasselbe gilt auch für die weiteren deutschen Terrorgruppen der Zeit, bei denen die Tendenz besteht, sie ebenfalls der RAF zuzu­ rechnen. Dies ist meines Erachtens auch ein postumer »Ver­ dienst« der Medienarbeit der RAF, die an ihrer Außenwirkung stärker interessiert war als andere Gruppen (etwa die RZ), die sich eher auf den operativen Bereich konzentrierten. In der Gegen­ wart erleben wir ein ganz ähnliches Phänomen: So wie in den siebziger Jahren (und eigentlich bis heute) alle Anschläge der RAF zugeschrieben wurden, vermutet man heute hinter sämt­ 85

lichen islamistisch motivierten Terrorakten die Al Qaida. Beides ist allerdings nicht korrekt. Die einzige eindeutig belegte Zusammenarbeit mit einem ande­ ren Staat fand auf der innerdeutschen Ebene statt - mit der DDR. »Immerhin aber konnte die RAF ungehindert über ostdeut­ sche Flughäfen aus- und einreisen und ihre Beziehungen in den Nahen Osten aufrechterhalten. Insofern kann man von einer latenten Kooperation [...] sprechen.« (Daase 2006: 921) Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verschaffte zudem RAF-Mitgliedern nach ihrem Ausstieg aus den aktiven Gruppen eine neue Identität, mit der sie in der DDR bis zur Wende unbe­ helligt leben konnten (vgl. Müller/Kanonenberg 1992). Auch wenn viele Detailinformationen der Geheimdienste - oft gewonnen durch den Einsatz von V-Leuten - bereits zu einem frühen Zeitpunkt (1972) durchaus zutreffend waren, weisen die daraus resultierenden Analysen erhebliche Mängel oder interne Widersprüche auf. Zudem zeugen die Schlußfolgerungen der Be­ hörden bisweilen von mangelnder Sachkenntnis, oft beruhen sie auf dumpfen Klischees. So heißt es etwa als Begründung dafür, warum die RAF mit der PLFP keine gemeinsame ideologische Basis fand, in dem bereits zitierten Begleittext zu den BKA- und Verfassungsschutzakten: »Die arabischen Terroristen, die zwar viele Frauen ausbil­ den, [...] schätzen dennoch nicht diese herrischen Frauen des Westens. Die Araber, denen die Homosexualität seit Jahrtausenden selbstverständlich ist, hätten lediglich an dem sehr weiblich wirkenden milchbärtigen Baader Gefallen fin­ den können.« (v. Hase & Köhler 1972) Dieses Zitat stammt wohlgemerkt nicht aus einer der Illustrierten der Zeit, etwa der Quick oder der Neuen Revue. Es zeigt viel­ mehr, was in der damaligen Zeit als seriöse »Analyse« verbreitet wurde, auch wenn nicht mehr eindeutig zu klären ist, ob die BKA-Spitze, namentlich BKA-Präsident Horst Herold, tatsäch­ lich mit der zitierten Analyse übereinstimmte. Interessant ist vor allem, daß der Baader-Meinhof-Report keinen Autor ausweist, sondern lediglich den v. Hase & Koehler Verlag in Mainz als Her­ 86

ausgeber benennt. Im Vorwort wird zwar Horst Herold zitiert, wer den den Akten vorangestellten analytischen Teil »Die Entste­ hung der Baader-Meinhof-Bande, ihre Verbrechen und Fest­ nahme der Führung« geschrieben hat, wird allerdings nicht klar. Ebenso auffällig ist, daß der Report pünktlich zum Auftakt des Bundestagswahlkampfes 1972 erschien. Einige Anwälte, so auch der spätere Innenminister Otto Schily, setzten sich damals gegen eine Verunglimpfung ihres Namens und ihrer Person im BaaderMeinhof-Report erfolglos juristisch zu Wehr (vgl. Weis 2007). Die meisten RAF-Mitglieder stammten nicht von den Rän­ dern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Das machte auch den öffentlichen Umgang mit ihnen für viele so schwierig. In der Presse wurde über den familiären Hintergrund der RAF-Mitglie­ der gesprochen, und auch die Forschung stellte psychologische Studien über ihre Sozialisation an (vgl. dazu u. a. Horn 1973, Stierlin 1978, Horn 1982). Manche Journalisten hoben den Generatio­ nenkonflikt mit den Eltern hervor oder spekulierten über poten­ tielle Versagensängste. Doch obwohl die meisten RAF-Mitglieder aus bürgerlichen Verhältnissen stammten, konnten große Teile der Öffentlichkeit die Motive der Terroristen nicht nachvollzie­ hen: Wie konnte die RAF eine Demokratie, die anderen Ländern bereits als Vorbild galt, als faschistisch bezeichnen? Hatten die Terroristen denn keine Ahnung davon, was Faschismus wirklich bedeutete? Und eröffnete nicht gerade erst diese von den RAFTerroristen gewaltsam bekämpfte Demokratie den Menschen die Perspektive, in Frieden und Freiheit aufzuwachsen und individu­ elle Lebenswege zu gehen, die der Kriegsgeneration verschlossen geblieben waren? Diese Mischung aus Wut und Unverständnis über die Motive der RAF sowie die Angst vor einer Wiederkehr instabiler politischer Verhältnisse in Deutschland erklären, war­ um die RAF trotz ihrer hohen Öffentlichkeitswirkung niemals eine breite Unterstützerbasis aufbauen konnte. Ebenso illuso­ risch waren - was die RAF zum Teil auch selbst erkannte - die Be­ strebungen, einen Umsturz oder einen Aufstand in der BRD her­ beizuführen. Um es salopp auszudrücken: Die »unterdrückten Massen« wollten gar nicht befreit werden.8 8 Iring Fetscher analysierte daher bereits 1977 völlig zutreffend die These, die Bevölkerung könne durch terroristische Aktivitäten für eine Revolution ge­ wonnen werden, als schweren Denkfehler (vgl. Fetscher 1977: 33 f.). 87

Um so unberechtigter und unlogischer wirkten daher die Taten der RAF, was wiederum die Angst vor diesen offensichtlich irra­ tional handelnden Tätern steigerte, da sie nicht einmal durch Strafandrohung abgeschreckt werden konnten. Dieses massen­ psychologische Phänomen der Angst vor der Irrationalität kennt man auch aus anderen politischen Zusammenhängen, zum Bei­ spiel von der Vision, ein unberechenbarer Diktator sei im Besitz einer Atombombe. Daß eine solche Angst häufig bewußt zu politischen Zwecken geschürt wird, spielt für ihre Empfindung keine Rolle - gerade weil die Angst vor dem Irrationalen selbst schnell irrationale Züge annimmt. In bestimmten historischen Si­ tuationen wird sie somit, ob nun gesteuert oder nicht, zu einem gesellschaftlichen und damit zu einem politischen Faktor. Bereits seit den frühen sechziger Jahren gab es jenseits der bür­ gerlichen Mitte eine zahlenmäßig kleine, politisch und publizi­ stisch aber sehr aktive Szene. Die unzureichende Aufarbeitung der Nazivergangenheit, der daraus resultierende Konflikt zwi­ schen jüngerer und älterer Generation, die Anti-Atomkraft- und die Studentenbewegung, die Abspaltung des SDS von der SPD, das Entstehen einer Solidaritätsbewegung mit den Ländern des Trikont bzw. der Dritten Welt, eine neue Kapitalismuskritik, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Gründung der K-Gruppen, das Entstehen erster Wohngemeinschaften und Bürgerinitiativen sowie die Diskussionen über die Rechtmäßigkeit symbolischer Gewalt - das war der historische Hintergrund der Entstehung der RAF und anderer linksradikaler Gruppen.9 Deswegen wird bis­ weilen auch heute noch versucht, mit der berechtigten Kritik an der RAF die unter dem Sammelbegriff der »68er« zusammenge­ faßten politischen Strömungen im nachhinein zu diskreditieren. Dies ist weder redlich noc h br ingt es die Forschung weiter. Aller­ dings, und nur dies ist mit der Aufzählung der Schlagworte hier bezweckt, darf man die historische Situation, in der die RAF ent­ stand, nicht ausblenden. Denn nur so wird verständlich, warum die Gruppe eine so große mediale Bedeutung erlangen konnte. Bereits im April 1971 gaben laut einer Studie des Aliensbacher In9 Eine sehr persönliche Einschätzung des Zeitgeistes findet sich bei Koenen 2001. Aus akademischer Sicht haben sich unter anderem Wolf gang Kraus­ haar (1998, 1996), Christiane Landgrebe und Jörg Plath (1998) sowie Ger­ hard Fels (1998) mit dem Phänomen beschäftigt. 88

stituts für Demoskopie 82 Prozent der Befragten an, die RAF sei ihnen ein Begriff. Diese große Aufmerksamkeit hatte sehr viel mit den politischen und publizistischen Reaktionen auf die Gruppe um Baader und Meinhof zu tun. Noch bis heute ziehen sich tiefe ideologische Risse durch die Debatten über die RAF, eine Aufge­ regtheit, bei der immer auch politische Grabenkämpfe, Abrech­ nungs- oder nachträgliche Rechtfertigungsversuche eine Rolle spielen. Dies zeigte sich unter anderem auch bei der Diskussion um die Haftentlassung der ehemaligen RAF-Mitglieder Brigitte Mohn­ haupt und Christian Klar im Jahr 2007^ In einer Umfr age des Al­ iensbacher Instituts sprachen sich insgesamt 58 Prozent der Be­ fragten dagegen aus, nur 20 Prozent waren dafür. Klassifiziert man diese Gruppe wiederum nach Parteipräferenzen, werden die Unterschiede noch deutlicher. Während sich bei den Anhängern der Linkspartei 42 Prozent für eine Haftentlassung aussprachen, waren es bei denen der CDU/CSU nur 13 (vgl. Allensbacher 2007). Die Debatte diente allerdings auch manchem Politiker zur Profilierung und zur Warnung vor dem angeblich immer noch be­ drohlichen Linksterrorismus. Im Gegensatz dazu stellte der Ver­ fassungsschutzbericht des Jahres 2005 in bezug auf den Links­ extremismus fest: »Struktur und Erscheinungsbild des Linksextremismus ha­ ben sich im Jahr 2005 gegenüber dem Vorjahr nur gering­ fügig verändert; das Gesamtpotential weist insgesamt einen leichten Rückgang [auf ohnehin schon niedrigem Niveau, Anm. d. Verf.] auf.« (Bundesministerium des Innern 2006: 136)10 Die Debatte um die RAF als Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte und die Diskussion um die Virulenz ihrer Ideen ist of­ fensichtlich noch längst nicht aufgearbeitet und erst recht nicht verarbeitet worden. Der Flut an persönlich-anekdotischem Quel­ lenmaterial und biographischer - zum Teil rechtfertigender, aber 10 Aufgrund der Verfassungsschutzberichte der Länder ist nicht davon aus­ zugehen, daß sich diese Lageeinschätzung bis 2007 wesentlich verändert hat. Aktuellere Daten auf Bundesebene lagen zum Zeitpunkt der Druckle­ gung dieses Werks noch nicht vor. 89

oft auch selbstkritischer sowie reflektierender11 - Literatur stehen nicht im gleichen Maße distanzierte oder wissenschaftliche Be­ trachtungen von unbeteiligten Autoren gegenüber. Ein Großteil der Literatur über die RAF wird nach wie vor von Zeitzeugen oder von Beteiligten verfaßt. So sehr dies bisweilen die Authenti­ zität erhöhen mag, um so weniger befördert es die nüchterne und unvoreingenommene Betrachtung. Daher soll es hier darum gehen, den »Mythos RAF« (vgl. Galli/ Preußer 2006) weiter zu dekonstruieren und den Aspekt ihrer Kommunikationsstrategien und damit letztlich auch ihre mediale Wirkung zu thematisieren.12 Um Überinterpretationen vorzu­ beugen: Es soll keineswegs behauptet werden, die RAF sei ein rei­ nes Medienprodukt gewesen. Doch nur mit einer Analyse des Spannungsfeldes von Terrorismus und medialer Kommunikation läßt sich erklären, warum die RAF damals und heute eine so große Außenwirkung erzielen konnte. Von den Revolutionären Zellen, die zwischen 1973 und 1988 mit mehr als hundert Spreng- und Bombenanschlägen weitaus mehr Aktionen in der BRD ver­ übten, ist hingegen nur noch sporadisch die R ede. Dieses Mißve r­ hältnis ist nur ein Beleg dafür, daß das Phänomen RAF nur unter Berücksichtigung ihrer eigenen Kommunikationsstrategien, der Berichterstattung über sie sowie durch die dadurch entstandene Öffentlichkeit zu erklären ist. Auch die retrospektive Auseinan­ dersetzung mit der RAF wird in wesentlichen Teilen durch diese Faktoren beeinflußt.

11 Dazu zählen Memoiren ehemaliger RAF-Mitglieder, persönliche Erinne­ rungen und Interviews, Briefwechsel sowie Erinnerungen von befreunde­ ten Personen oder Familienangehörigen (vgl. u. a. Röhl 1974, Wisniewski 2003, Hogefeld 1998, Proll 2004, Ensslin/Ensslin 2005, Boock 1998, Viett 1996 und 1999, Schiller 1999). 12 Bereits Ende der achtziger Jahre forderten die Grünen, den Mythos RAF zu entlarven, weil »gerade dieser Mythos eine der Schwierigkeiten ist, die alle Problemlösungsversuche heute so kompliziert machen.« (Zitiert in Die Grünen im Bundestag 1989: 68)

2. Die Anfänge der ersten G eneration Die Geschichte der ersten Generation der RAF läßt sich in drei Phasen unterteilen: die Entstehungsphase, die Konsolidierungs­ phase und die Aktivitätsphase. Insgesamt kann die historische Entwicklung der ersten Generation nur vor dem Hintergrund der mannigfaltigen und sehr heterogenen sozialen und politischen Strömungen der sechziger Jahre interpretiert werden, die hier be­ reits in Schlagworten angerissen wurden. In der Literatur wird das Auftauchen linksterroristischer Organisationen zu Beginn der siebziger Jahre fast einhellig als Zerfallsprodukt der sich auf­ lösenden Studentenbewegung definiert (vgl. dazu u. a. Backes/ Jesse 1989: 149). Der etwas konstruierte Begriff der »linken Szene« erfaßt die Anhänger der unterschiedlichen Bewegungen und die Zeitströ­ mungen zwar nur unzulänglich, da es nie eine einzige Samm­ lungsbewegung, sondern oft bis ins Mikroskopische zersplitterte einzelne Organisationen und Gruppen gab, dennoch wird er hier als Abgrenzung zum Begriff der bürgerlichen Mitte verwendet. Beide Begriffe sind nicht als empirisch gesicherte sozialwissen­ schaftliche Definitionen zu verstehen, sondern im Sinne ihres all­ gemeinen Sprachgebrauchs. Ebensowenig ist die linke Szene im­ mer mit der Sympathisantenszene identisch, auch wenn sich spätere RAF-Sympathisanten und Aktivisten der zweiten und dritten Generation aus der linken Szene rekrutierten. Entstehungsphase In den sechziger Jahren wuchs in der Bundesrepublik vor allem unter Schülern, Studenten und jungen Erwachsenen die Unzu­ friedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen. Wie in anderen europäischen Ländern kam es immer häufiger zu öffentlichen Demonstrationen. Protestiert wurde unter anderem gegen den Vietnamkrieg, veraltete Strukturen und Methoden in Schulen und Universitäten sowie gegen den Kapitalismus im allgemeinen. Da­ bei kam dem Sozialistischen Studentenbund (SDS) sowie einzel­ nen charismatischen Personen wie Rudi Dutschke besondere Be­ deutung zu. 91

Die öffentlichen Proteste und Demonstrationen waren ein Treffpunkt für die unterschiedlichen Gruppen der linken Szene. Dabei hingen allerdings nicht alle Teilnehmer einem marxistischleninistischen oder kommunistischen Weltbild an. Vielmehr gab es anarcho-syndikalistische Gruppierungen, Maoisten, militante Spontigruppen (die spätere Bewegung 2. Juni ging aus der Grup­ pierung Zentralrat der umherschweifenden Haschischrebellen hervor, daneben entstanden später die Tupamaros West-Berlin und der Berliner Blues13), Kommunarden oder unabhängige So­ zialisten. Die Friedens- und Anti-Vietnamkriegsbewegung hatte ihre Ursprünge wiederum in kirchlich-konfessionellen Gruppen und ideologisch nicht vorbelasteten Menschenrechtsorganisatio­ nen. Viele Protestteilnehmer einte aber die Überzeugung, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen liege einiges im argen. Außerdem wollten sich die Menschen nicht länger in das als eng und ein­ schränkend wahrgenommene Korsett des bestehenden Parteien­ systems einzwängen lassen. Viele politisch Aktive bezeichneten sich daher als »links« oder als »autonome Linke«, ohne diesen Standpunkt allerdings näher zu definieren. Der erste Tote Ein Meilenstein der Radikalisierung eines Teils der Studentenbe­ wegung war der Tod von Benno Ohnesorg während der Proteste gegen den Besuch des Schahs im Jahr 1967. Zu der Demonstration am 2. Juni hatten mehrere Gruppierungen unterschiedlicher poli­ tischer Couleur aufgerufen. In unserem Zusammenhang ist inter­ essant, daß Ulrike Mei nhof, damals noch als Journalistin de r Zeit­ schrift konkret, bereits vor dem Besuch einen offenen Brief an die persische Kaisergattin verfaßt hatte. Darin nahm sie Bezug auf ein Interview, das Farah Diba der Illustrierten Nene Revue gegeben hatte. Meinhof griff in diesem offenen Brief nicht nur das totali­ täre Regime des Schahs an, sondern auch die deutschen Spitzen­ politiker, die ihn offiziell als Staatsgast eingeladen hatten. Mein­ hof schrieb:

13 Oft handelte es sich bei den Mitgliedern dieser unterschiedlichen Gruppen um denselben Personenkreis, zum Teil aber wurden die jeweiligen Grup­ pen auch durch Neuzugänge ergänzt. 92

»Sie wundern sich, daß der Präsident der Bundesrepublik Sie und Ihren Mann, in Kenntnis all dieses Grauens [vorher werden ausführlich Menschenrechtsverletzungen und die soziale Situation im Iran geschildert; Anm. d. Verf.] hierher eingeladen hat? Wir nicht. Fragen Sie ihn doch einmal nach seinen Kenntnissen auf dem Gebiet von KZ-Anlagen und Bauten. Er ist ein Fachmann auf diesem Gebiet.« (Meinhof 1967) Es fällt auf, daß Meinhof bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einen Zusammenhang zwischen einer außenpolitischen Situation und den innenpolitischen Verhältnissen in Deutschland herstellte und diese mit einem Faschismusvorwurf verband. Diese politische Scheinlogik fi ndet sich auch in den späteren Schriften und Beken­ nerschreiben der RAF wieder. Der offene Brief diente damals ei­ ner studentischen Gruppierung der Pädagogischen Hochschule Berlin als Mobilisierungsflugblatt für die Anti-Schah-Demos und wurde in der ganzen Stadt verteilt. Im Verlauf der Großdemon­ stration am 2. Juni kam es in Berlin zu Unruhen zwischen per­ sischen Schah-Anhängern und den vom iranischen Geheimdienst angeheuerten »Jubelpersern«, den Gegnern des Schahs sowie der Berliner Polizei. Die Polizisten gingen mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Unter ihnen war auch der 26jährige Ro­ manistikstudent Benno Ohnesorg. Gegen 20.30 Uhr gerieten er und einige andere Demonstranten in ein Handgemenge mit der Polizei, die in der Gruppe einen Rädelsführer vermutete. Aus der Waffe des 39jährigen Kriminalobermeisters Karl-Heinz Kurras löste sich e in Schuß, der Ohnesorg traf. Er erlag später seine n Ver­ letzungen. Der Vorfall wurde gefilmt und fotografiert. Besonders bekannt ist ein Bild, das die Studentin Friederike Hausmann bei dem Versuch zeigt, Ohnesorg zu helfen. Das Foto wurde zu einer Ikone der Studentenbewegung, viele Zeitungen druckten es ab. Auch wenn immanente Deutungsver­ suche, die auf eine vermeintlich christliche Ikonographie Bezug nehmen (Ohnesorg als vom Kreuz genommener Jesus, Haus­ mann als Maria Magdalena), meines Erachtens eine Überinterpre­ tation darstellen, hat das Foto doch Teile der Studentenschaft ra­ dikalisiert. Bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang vor allem, wie sich die Presse zu dem Vorfall positionierte. Die Zeitung Bild be­ 93

dauerte zwar den Tod Ohnesorgs, machte dafür aber die Randa­ lierer unter den Studenten verantwortlich. Bezeichnenderweise war auf ihrem Titelblatt vom 3. Juni das Bild eines verletzten Polizisten zu sehen. Dort druckte die Redaktion zusätzlich eine Art Editorial. Unter dem Titel »Demonstrieren Ja! Randalieren Nein!« hieß es: »Ein junger Mann ist gestern gestorben. Er wurde Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke inszenierten. [...] Gestern haben in Berlin Krawallmacher zugeschlagen, die sich für Demonstranten halten. [...] Sie schwenkten die rote Fahne und sie meinen die rote Fahne. Hier hören der Spaß und der Kompromiß und die demokratische Toleranz auf: [ab hier ist der Text fett gedruckt und unterstrichen, Anm. d. Verf.] Wir haben etwas gegen SA-Methoden. Die Deutschen wollen keine braune und keine rote SA. Sie wollen keine Schlägerkolonnen, sondern Frieden.« (Bild, 1967) Allerdings fand sich in den entsprechenden Artikeln kein Wort darüber, daß Ohnesorg durch die Waffe eines Polizisten zu Tode gekommen war - was daran gelegen haben könnte, daß zu diesem frühen Zeitpunkt die genauen Umstände der Tat noch nicht fest­ standen und kein endgültiger Polizeibericht vorlag. Doch das Fehlen dieser entscheidenden Information war für alle, die den Vorfall miterlebt hatten, eine Provokation. Ganz anders berichtete einige Tage später das Magazin Stern in seiner Ausgabe vom 13. Juni. Hier lautete die Überschrift »Der Tod eines Studenten«, Fotos waren mit »Ein Kopfschuß im freien Teil der Stadt« betitelt. Im Text wird unter anderem der Anwalt der Witwe Clara Ohnesorg, das spätere RAF-Gründungsmit­ glied Horst Mahler, indirekt zitiert. Er berichtete, Ohnesorg sei vor den tödlichen Schüssen von Polizisten zusammengeschlagen worden. Der Stern veröffentlichte zudem das angesprochene Foto des verletzten Benno Ohnesorg sowie eine Hochzeitsauf­ nahme von ihm und seiner Frau. In der Bildzeile dazu heißt es: »Der junge Student hatte erst im April geheiratet. Seine Witwe, die auch studiert, erwartet im November ihr erstes Kind.« Im Be­ richt selbst kommen Augenzeugen zu Wort, die Mahlers Bericht bestätigen. Darüber hinaus positionierte sich auch der Stern, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen. Im letzten Ab­ 94

satz des Artikels kritisieren die Stern-Redakteure die publizisti­ sche Konkurrenz: »An der vergifteten Atmosphäre zwischen Berliner Polizei und protestierenden Studenten haben die Zeitungen von Berlins heimlichem Herrscher, Axel Cäsar Springer, erheb­ lichen Anteil. >WeltBildBZ< und >Morgenpost< bedach­ ten nicht nur die extremistischen, sondern auch die politisch selbstbewußten Berliner Studenten mit wütenden Attacken. Monatelang bezeichneten die Frontstadt-Blätter die Studen­ ten als Rowdys, Kriminelle und Radaubrüder. Und sie for­ derten die Polizei auf, sie härter anzufassen und die Stören­ friede auszumerzen. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegan­ gen. In Berlin gibt es einen Studenten weniger - Benno Ohnesorg.« (Stern 1967) Dieser Vorwurf gegen die Zeitungen des Springer-Konzerns war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die unterschiedlichen Positio­ nierungen der etablierten Presse - nicht nur von Stern und Bild mögen als Beleg dafür dienen, wie stark die Medien selbst in die Ereignisse verwickelt waren. Vor allem die Boulevardblätter wa­ ren, auf der einen wie auf der anderen Seite, keine neutralen Be­ richterstatter. Die überregionalen Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung hielten sich mit vorschnellen Schuldzuweisungen hingegen zurück und berichte­ ten objektiv über die Vorfälle. Das Nachrichtenmagazin Der Spie­ gel wiederum legte seinen Schwerpunkt auf die Widersprüche, in die sich die Polizei verwickelt hatte. Der Hinweis des Stern auf die publizistischen Attacken der Bild verfehlte seine Wirkung nicht. In den Augen vieler Studenten war Ohnesorg nicht nur ein Opfer der Polizei, sondern auch der Springer-Presse, und für einige in der linken Szene war sein Tod ein Fanal zur Gewaltanwendung. Bei ihnen machte sich das Ge­ fühl breit, mit friedlichen Formen des Protests keine entscheiden­ den politischen Veränderungen bewirken zu können. Während sich die Mehrheit der Demonstranten andere Betätigungsfelder für ihr politisches Engagement suchte und den »Marsch durch die Institutionen« antrat, erhoben andere die Forderung nach härte­ ren Maßnahmen. Während sich der Sozialistische Deutsche Stu­ dentenbund (SDS), eine der wichtigsten Sammlungsorganisatio­ 95

nen der außerparlamentarischen Opposition (APO), 1970 auf­ löste, bildeten sich mehrere neue kommunistische Gruppierun­ gen. In dieser Phase radikalisierten sich auch die späteren Grün­ der der RAE Der Prozeß gegen die Kaufhausbrandstifter In der Nacht des 2. April 1968 legten Gudrun Ensslin und An­ dreas Baader zusammen mit Thorwald Proll und Horst Söhnlein Brandbomben in den Frankfurter Kaufhäusern Schneider und Kaufhof. Sie definierten dies als politische Protestaktion und Re­ aktion auf den Einsatz von Napalm durch die amerikanischen Truppen in Vietnam. Der Tatzeitpunkt war durch Zeitzünder (da­ bei handelte es sich um handelsübliche Wecker) so programmiert, daß die Bomben erst in der Nacht detonierten. Menschen sollten bei der Aktion nicht zu Schaden kommen. Bereits einen Tag spä­ ter wurden die Warenhausbrandstifter verhaftet. Am 14. Oktober 1968 begann in Frankfurt der Prozeß, den Ul­ rike Meinhof publizistisch begleitete. In einem Artikel für kon­ kret schrieb sie: »Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nic ht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kri­ minalität der Tat - im Gesetzesbruch. [...] Hat also eine Wa­ renhausbrandstiftung dies progressive Moment, daß verbre­ chensschützende Gesetze dabei gebrochen werden, so bleibt zu fragen, ob es vermittelt werden kann, in Aufklärung um­ gesetzt werden kann. Was können - so bleibt zu fragen - die Leute mit einem Warenhausbrand anfangen?« (Meinhof 1968, Herv. d. Verf.) Hier zeigt sich erstmals ein neuer Aspekt im Denken Ulrike Meinhofs, der später für die Entwicklung der Kommunikations­ strategie der RAF große Bedeutung erlangen sollte. Es ging nicht mehr um die Frage, ob eine Handlung legal oder illegal war,14 14 In demselben Artikel zitierte Meinhof den Kommunarden Fritz Teufel mit den Worten: »Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.« Damit spielte Teufel auf ein Zitat aus Brechts Dreigroschenoper an, in der Mackie Messer sagt: »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« 96

sondern darum, ob sie als revolutionär kommuniziert werden konnte. Den politischen Sinn der Tat zog sie allerdings in Zwei­ fel: »Denn denen, die an der Produktion und dem Verkauf der in den Warenhäusern massenhaft angebotenen Güter verdie­ nen, kann möglicherweise und gelegentlich kein größerer Gefallen getan werden als die kostenlose Vernichtung dieser Güter. Den Schaden - sprich Profit - zahlt die Versiche­ rung.« (Ibid.) Der Prozeß um die Warenhausbrandstiftung ist aber aus der Per­ spektive der kommunikativen Wirkung noch aus weiteren Grün­ den hochinteressant, zunächst, weil er ein wesentlich größeres Medienecho hervorrief als vergleichbare Taten. Ein Jahr zuvor hatte sich in Brüssel ein Kaufhausbrand ereignet, bei dem Hun­ derte Menschen ums Leben kamen und wesentlich größerer Sach­ schaden entstand als in Frankfurt. Zwar handelte es sich dabei um einen tragischen Unfall, doch das hinderte die Presse nicht daran, Vergleiche zu ziehen: Drei Kaufhausbrände in einem Jahr - kann das Zufall sein? lautete der unterschwellige Tenor in einigen Be­ richten. Dabei gab es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Ereig­ nissen, denn die Katastrophe in dem belgischen Warenhaus, wo zum Zeitpunkt des Unfalls amerikanische Luxuswaren präsen­ tiert wurden, hatte die Mitglieder der Kommune 1 zu publizisti­ schem Handeln animiert: »Wir waren derart fasziniert, daß wir aufgrund der vorhandenen Zeitungsberichte die Kommuneflug­ blätter Nr. 6-9 über diesen Kaufhausbrand herausbrachten.« (Kunzeimann 1998: 78, Herv. d. Verf.) In diesen Texten wurden zwar einerseits die Opfer der Brüsseler Brandkatastrophe be­ klagt, andererseits wurde aber Gewalt gegen Sachen als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung propagiert: »So sehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem kühnen und Unkonventionellen, das, bei aller mensch­ lichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere 97

Bewunderung nicht versagen.« Subkultur Berlin (Merz Ver­ lag), Klau mich (Langhans et al.)15 Und in einem anderen Flugblatt hieß es: »Wann brennen die Ber­ liner Kaufhäuser? [...] Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: Burn warehouse Burn!« (Ibid.)16 Baader und Ensslin, die bereits früher Kontakte zur Kommune i gehabt hatten, nah­ men diesen Aufruf wörtlich, auch wenn sie dann nicht in Berlin, sondern in Frankfurt agierten. Insbesondere Baader dürfte den verbalen Attacken der Kommunarden, die er häufig - sinngemäß zitiert - als konsequenzloses Gewäsch pseudorevolutionärer Ses­ selfurzer und Politclowns bezeichnet hatte, nun Folge geleistet haben, um sich damit in der Szene zu profilieren (vgl. Wieland 2006: 338 f.). Diese Form des kommunikativen »über die Bande Spielens« sowie die Wechselwirkung von Medienberichterstat­ tung und Handeln durchziehen die gesamte Geschichte der RAF, die zudem voll ist von Versatzstücken aus dem (ikonographi­ schen) Zitatenschatz der Postmoderne. Ein weiterer Grund für das große Medienecho dürfte die Tat­ sache gewesen sein, daß es seit der NS-Zeit keine Brandstiftung mehr aus politischen Motiven gegeben hatte. Zwar waren bei De­ monstrationen Molotowcocktails geflogen, Fensterscheiben zu Bruch gegangen und auch spontan Geschäfte angezündet wor­ den. Aber ein geplanter (die Minigruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin hatte zuvor geeignete Objekte ausspioniert) po­ litischer Anschlag war neu für die linke Szene. Zudem boten die Täter, die ihre Tat nicht abstritten, durch ihren Habitus und Ge­ stus ein gefundenes Fressen für die Presse. Baader und Ensslin ge­ rierten sich in der Manier von Bonnie and Clyde und tauschten vor den Fotografen Zärtlichkeiten aus,17 Gudrun Ensslin hatte 15 Zit. nach: (eingese­ hen am 1.3.2007, 18.15 MEZ). 16 Die Tatsache, daß »warehouse« im Englischen »Lagerhaus« und nicht »Kaufhaus« bedeutet, änderte nichts an der medialen Wirkung des Aus­ spruchs - auch posthum nicht. Der Slogan wurde unter anderem 1996 auf einer CD einer englischen Musikgruppe als Liedtext genutzt. Diese Gruppe nennt sich »Baader-Meinhof«, und ihre CD, die weitere Titel mit deutlichem RAF-Bezug enthält, wird von einem bekannten US-amerika­ nischen Internet-»Kaufhaus« zum Preis von 12,99 Euro als UK-Import feilgeboten. 17 Das amerikanische Banditenpaar verübte zu Beginn der dreißiger Jahre in 98

sich zudem extra für den Prozeß mit einer neue n roten Lackleder­ jacke ausstaffiert, ihre Augen schminkte sie dunkel im Stil der französischen Existentialisten. Bei der Selbstinszenierung als re­ volutionäres Liebespaar gab Ensslin den Part der intellektuellen heiligen Johanna, Baader mimte den wildentschlossenen Macho. Baader, Proll und Söhnlein präsentierten sich zudem mit kubani­ schen Zigarren in einer Pose, die sowohl an Brecht als auch an Castro erinnerte; die »Stars« des Frankfurter Prozesses waren aber eindeutig das Terroristen-Paar. Die Gruppe hatte zudem auf einem anderen Weg versucht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicherzustellen. Bereits vor dem Anschlag informierte sie die Medien. In der Nacht war bei der Deutschen Presseagentur (dpa) ein Anruf eingegangen, bei dem auf den Kaufhausbrand hingewiesen wurde: »Gleich brennt es bei Schneider und im Kaufhof auf der Zeil.«18 Es ist es nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen, ob die dpa diesen Anruf ernst nahm und sofort eine Meldung verfaßte. Als dann aber tatsächlich die Kaufhäuser brannten, wußte zumindest die dpa, daß der An­ rufer nicht geblufft hatte, sie gab nun eine entsprechende Mel­ dung heraus, in der sie auch den Anruf erwähnte. Die gezielte Information der Presse - später in Form von Bekennerschreiben oder Anrufen vor allem nach Anschlägen - wurde zu einem festen Bestandteil der medialen Terrorstrategie der RAF. Das riesige Medienecho rund um den Frankfurter Prozeß bewies, daß solche Inszenierungen funktionierten - eine Erkenntnis, die die späteren kommunikativen Maßnahmen der Gruppe beeinflußte. Zudem erhielt sie damals unfreiwillige Unterstützung durch das ungeschickte Verhalten des Staatsanwalts Walter Griebel, der das Medieninteresse noch zusätzlich schürte. Er klagte die Täter nicht nur wegen Sachbeschädigung und Brandstiftung an, son­ dern versuchte ihnen zu unterstellen, sie hätten ganz bewußt Menschenleben riskiert. Dies gipfelte in der absurden Aussage: »Das weiß doch jeder, daß sich nachts in Kaufhäusern Menschen den USA mehrere Bankraube und tötete 13 Polizisten. Es lieferte die Vor­ lage für zahlreiche Filme, Musikstücke und Bücher. Der berühmte Film mit Warren Beatty und Faye Dunaway war im Dezember 1967 in die. deut­ schen Kinos gekommen. Obwohl Bonnie und Clyde gewöhnliche Krimi­ nelle waren, trugen sie viel zur Entstehung des romantisierten Idealbilds des outlaw bei. 18 Die Zeil ist eine große Einkaufsstraße in der Frankfurter Innenstadt. 99

aufhalten.« Zwar waren aufgrund von Umbauarbeiten tatsächlich Arbeiter in einem der Geschäfte, doch das war natürlich keines­ wegs die Regel, und davon mußten auch die Attentäter ausgehen (hätten sie bewußt Menschen in Gefahr bringen wollen, hätten sie die Sprengsätze wahrscheinlich kaum nach Geschäftsschluß gezündet). Außerdem ließ sich Griebel auf die Selbstdarstellung der Angeklagten ein, die Frankfurter Warenhausbrandstiftung sei eine politische Tat gewesen - ein weiteres Beispiel für die kom­ plexen Wechselwirkungen zwischen der Strategie der Täter und den Vorwürfen der Verfolger. Hätte sich die Staatsanwaltschaft damals auf die strafrechtlich relevanten Fakten konzentriert, wäre das Medieninteresse wohl geringer ausgefallen. So aber wurde das Verhalten Griebels selbst zum Thema der Berichterstattung. Uwe Nettelbeck schrieb dazu in der damals nicht gerade als links ein­ zustufenden Wochenzeitung Die Zeit: »Überdies erwies sich der Erste Staatsanwalt Walter Griebel als rechter Feuerteufel: Wo es wahrscheinlich nur gequalmt hat, schlugen ihm die Flammen hoch, und wo schon gelöscht war, hörte es für ihn noch lange nicht auf, wesentlich zu brennen.« (Nettelbeck 1968)19 Griebel spielte den Tätern nicht nur in die Hände, indem er die Brandstiftung als politische Tat akzeptierte, sondern auch durch seine Argumentation in bezug auf Proll und Söhnlein, denen eine direkte Tatbeteiligung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Die beiden Angeklagten - Nettelbeck zitiert den Staats­ anwalt sichtlich irritiert »[...] seien der vollendeten schweren Brandstiftung über­ führt, sagte Walter Griebel, weil sie zusammen mit Gudrun Ensslin und Andreas Baader in einem Auto nach Frankfurt gefahren seien. Es gab, sagte er, für die vier Angeklagten kei­ nen anderen vernünftigen Grund, nach Frankfurt zu fahren, als den, in Frankfurt Kaufhäuser anzuzünden.« (Ibid.) 19 Nettelbeck geriet in der Folge wegen des Artikels mit Die Zeit-Herausge­ ber Theo Sommer aneinander und verließ kurz darauf das Blatt. Dies zeigt die internen Positionierungsdebatten innerhalb der Wochenzeitung, än­ dert aber nichts an seiner zutreffenden Beobachtung. 100

Einmal abgesehen davon, daß eine gemeinsame Autofahrt kein strafrechtlich relevantes Vergehen darstellte, wechselte Griebel als Jurist damit auf die politische Ebene: »Diese gemeinsame politische Überzeugung sei es auch, fügte er hinzu, die es notwen­ dig erscheinen lasse, eine harte Strafe zu verhängen: >Es gibt nicht wenige junge Leute, die die politischen Ansichten der Angeklag­ ten teilen!Die Bundesrepublik ist nicht La­ teinamerika< - die Armen in der Bundesrepublik sind selbst schuld, sie sind kriminell, es gibt nur wenig Arme - die an­ schauliche Evidenz. Die Springerpresse druckt so etwas nach. Faschismusmaterial.« (Zitiert in RAF 1997: 131) Die Argumentation der Gruppe ist dabei durchaus stringent: Die Kritik an der Meinungsmacht der Presse war bereits in früheren Schriften deutlich geworden. Vor allem aber stand die RAF damit in der Tradition der linken Szene, die den Springer-Konzern zum Ziel der »Enteignet Springer!«-Kampagne gemacht hatte. Diese Kritik weitete die RAF nun auf andere Medien aus. In der Regel interessierten sich die Mitglieder aber vor allem für Berichte über die Gruppe selbst. Dies zeigt sich exemplarisch in einer Richtigstellung der RAF zu einem Anschlag auf den Hamburger Hauptbahnhof. In dieser Erklärung »gegen den Versuch der staatlichen Propaganda, den Anschlag im Hamburger Hauptbahnhof in die Nähe der RAF zu rücken« weist die Gruppe zunächst die Verantwortung für den Anschlag von sich. Dann folgt aber ein Abschnitt, der sich aus­ schließlich mit der Rolle der Medien und sogar mit einzelnen Journalisten beschäftigt: »tatsache ist, daß der Staatsschutz sein innerhalb der reaktio­ nären Struktur der durch medienkonzerne und öffentliche anstalten institutionalisierten Öffentlichkeit operierendes netz von staatsschutz-journalisten benutzt, um die rezep­ 119

tion des anschlags gezielt gegen die stadtguerilla zu steuern, profilierte figuren in diesem netz, das an die pressesteile des bka und die Pressekonferenz angeschlossen ist, sind krumm in der fr, husche in der faz, leicht und kühnert in der sz und rieber und zimmermann, die in mehreren überregionalen Zeitungen publizieren, der artikel von zimmermann, der ei­ nen Zusammenhang zwischen dem anschlag, der raf, der be­ wegung 2. juni und siegfried ha ag behauptet, ist ausser in der springer-presse parallel in acht überregionalen tageszeitun­ gen erschienen.« (HIS, Jü K/008, 002)29 Allerdings rekurrierte die RAF auch auf Medienberichte, wenn diese Belege für die Thesen der Gruppe enthielten, sie wurden als Quellen und Zitatenschatz genutzt. Die RAF unterschied - mit Ausnahme der Blätter aus dem Hause Springer - nicht immer konsequent zwischen freundlicher und feindlicher Presse. Die Medienkritik der RAF ist eklektizistisch, im mer flexibel an die ei­ gene Argumentationslage in der jeweiligen Situation angepaßt. Auch dafür finden sich Belege in »Dem Volk dienen«. Dort heißt es im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Karl-Heinz Ruh­ land, dem ersten Kronzeugen gegen die RAF: »Gäbe es in der Bundesrepublik noch eine liberale Presse, der Prozeß wäre ein Skandal gewesen. [...] die Tatsache, daß von Prozeßbeginn an feststand, daß es ein Urteil geben werde, daß weder Bundesanwaltschaft noch Pflichtverteidi­ gung anfechten würden, die FAZ berichtete darüber [...].« (RAF 1997: 140) Wenige Zeilen später wird die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die gerade noch zur Bestätigung der eigenen Meinung herhalten mußte, jedoch massiv kritisiert: »Die konservative FAZ sym­ pathisiert mit Sohn und Gesinde«, wobei mit Sohn der V-Mann Homann gemeint wa r. Doch im Hinblic k auf den Spitzel des Ver­ fassungsschutzes gerät auch die liberale und die linke Presse ins 29 Eine überaus wichtige Quelle für diese Arbeit stellten die Dokumente und Akten über die RAF aus dem Archiv des Hamburger Instituts für Sozial­ forschung (HIS) dar. Die bibliographischen Angaben in Klammern bezie­ hen sich auf die Signaturen der Archivalien. Die vollständigen Angaben finden sich am Ende der Bibliographie. 120

Kreuzfeuer der Kritik: »Homann in der Rolle des lumpenprole­ tarisch-verlorenen Sohnes, der wie eh und je auf den Strich der Bourgeoisie - beim Spiegel und konkret - seine Haut zu Markte trägt.« (Ibid.) Der Spiegel und konkret, die Zeitschrift, für die Meinhof selbst lange gearbeitet hatte, werden in einen Topf ge­ worfen. Das Verhältnis zur Presse hatte auch schon bei Baaders Flucht eine entscheidende Rolle gespielt. Aus dem Untergrund sandte er eine Botschaft »An die Nachrichtenredakteure der westdeut­ schen Presse...«, die er bei der dpa in den Briefkasten warf und mit seinem Daumenabdruck unterzeichnete. Mit dem Schreiben wollte er beweisen, daß er nach einem Schußwechsel mit der Polizei noch lebte. Es enthielt aber auch einen Frontalangriff auf die etablierten Medien, »weil die westdeutsche Presse die Erklärung der Stadtgue­ rilla-Kommandos nahezu vollständig unterschlagen hat. Statt dessen hat die Frankfurter Rundschau einen aus Buch­ staben zusammengesetzten Brief verbreitet, dessen Charak­ ter als Fälschung bei einem Vergleich mit authentischen Veröffentlichungen der RAF offensichtlich ist, um den Ein­ druck zu vermitteln, die Bombenattentäter seien Wirrköpfe, die chaot isch handeln, was die Bevölkerung in der Tat beun­ ruhigen müßte.« (Zitiert in Baader, undatiert) Diese Pressefixierung mag neben dem Aspekt der gezielten Kom­ munikationsstrategie und der Tradition der Linken auch mit dem biographischen Hintergrund einzelner RAF-Mitglieder der er­ sten Generation zu tun gehabt haben. Neben Meinhofs publizi­ stischem Werdegang hatten auch andere zuvor Erfahrungen in den Medien gemacht. Holger Meins war zum Beispiel vor seiner »Karriere« als Terrorist an der Berliner Film- und Fernsehakade­ mie eingeschrieben. Daneben gab es zahlreiche Kontakte von RAF-Mitgliedern zu Medienschaffenden, Journalisten, Künst­ lern, Verlegern oder Designern. So soll sogar das Logo der Gruppe von dem Werbegraphiker Holm von Czettritz, mit dem Andreas Baader kurzfristig befreundet war, »geprüft« worden sein. Das berichtete von Czettritz in einem Interview mit der taz: 121

»taz: In Klaus Sterns TV-Dokumentation >Andreas Baader, der Staatsfeind< kommen Sie als früher Weggefährte zu Wort. Darin erwähnen Sie eine ganz unglaubliche Geschich­ te: daß Baader zu Ihnen kam und das Logo der RAF von Ihnen als Grafikdesigner überarbeiten lassen wollte. Holm von Czettritz (lachend)-. Richtig. Heute würde man Relaunch dazu sagen. Weil ich dazu aber keine Lust hatte und ich das irgendwie so naiv fand, hab ich ihm damals ge­ sagt: >In seiner Rustikalität hat das eine Originalität, die würde ich nicht verändern. Das muß diesen rauen Ur­ sprungscharakter behalten. Das sag ich dir als Markenartik­ ler.< (lacht) Weil er diesen Beruf ja als kapitalistischen Beruf verachtete. Läßt sich aber von einem beraten. taz: Hatte er denn konkrete Vorstellungen? Holm von Czettritz: Die Elemente sollten wohl bleiben. Das war ja wie ein Kartoffeldruck. Aber das wollten sie ir­ gendwie gefälliger.« (Breyer 2003) Das angesprochene Logo der RAF wurde später tatsächlich zu ei­ ner »Marke« und fand sich ab 1972 regelmäßig auf den Bekenner­ schreiben. Damit schaffte sich die RAF eine - wie man heute sa­ gen würde - corporate Identity. Das Logo kam auch während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer auf einem selbst gebastelten Plakat zum Einsatz, das Schleyer bei Videoaufnahmen in die Kamera halten mußte.

3.2 Die ersten Bekennerschreiben Die ersten Bekennerschreiben der RAF tauchten nach den An­ schlägen im Mai 1972 auf. Nachdem die Grenze zur Propaganda der Tat endgültig überwunden worden war, adressierten die Ter­ roristen andere Zielgruppen, von nun an wandten sie sich nicht länger ausschließlich an Sympathisanten oder potentielle Unter­ stützer, sondern über den Umweg der Medien auch an die breite Öffentlichkeit. Die Taten, ihre Hintergründe und Motive sollten ab jetzt flächendeckend bekanntgemacht werden. Die Berichter­ stattung über eine Tat war in dieser Phase für die Terroristen also mindestens genauso wichtig wie die Tat selbst, weshalb die Be­ kennerschreiben auch in der Regel an wichtige Agenturen wie die 122

dpa oder die Agence France-Presse (AFP) sowie an große Zeitun­ gen und Fernsehsender geschickt wurden. In der Logik der RAF war das konsequent: Auch wenn sie die etablierten Medien heftig kritisierte, brauchte sie sie doch als Transporteure ihrer Botschaf­ ten, da alternative Verbreitungswege nur in Form linker Unter­ grundzeitungen mit sehr kleinen Auflagenzahlen zur Verfügung standen. Wollte sich die RAF - in der Tradition der russischen Anarchi­ sten oder der südamerikanischen Stadtguerilleros - zu ihren Taten bekennen, mußte sie also den Filter der Massenmedien passieren. Und anders als Baader es in seinem Schreiben an die Nachrichten­ redakteure behauptet, gelang ihr das auch in den meisten Fällen: Fast alle Zeitungen und Rundfunksender registrierten die Beken­ nerschreiben und berichteten zeitnah über sie, teilweise druckten sie sie sogar im Wortlaut ab. Die Bekennerschreiben der RAF - vor allem die der ersten Ge­ neration - waren formal in der Regel immer gleich aufgebaut. Sie waren relativ kurz gehalten und ähnelten einer Meldung oder ei­ ner Pressemitteilung, in diesem Fall waren es eben Pressemittei­ lungen der RAF. Die identischen Formulierungen und der immer ähnliche Stil hatte aus Sicht der Gruppe jedoch noch einen weite­ ren Zweck: Für die Ermittler war es dadurch einfacher, die Schrei­ ben bereits auf der Grundlage formaler Merkmale zu verifizieren. Dies war durchaus beabsichtigt, da die Terroristen daran interes­ siert waren, falsche Bekennerschreiben als solche zu entlarven. Statt eines Briefkopfes, wie ihn große Unternehmen für ihre Post verwenden, prangte auf den Schreiben de r RAF das Logo mit dem roten Stern und einer Maschinenpistole MP5 von Heckler & Koch. Die Gruppe hatte ihre Öffentlichkeitsarbeit also in gewis­ ser Hinsicht professionalisiert und den Anforderungen der Me­ dien angepaßt, indem sie sich an eine Vorgabe hielt, die für jede Form der öffentlich-medialen Kommunikation gilt: Je eindeuti­ ger, kürzer und wiedererkennbarer eine Pressemitteilung verfaßt ist, um so größer sind ihre Chancen, im Nachrichtenfluß aufzu­ fallen. Die Bekennerschreiben der RAF folgten in Aufbau und Struk­ tur formal einem typischen Muster:

123

a.) Titel oder Betreffzeile Das Thema wird in einem Satz zusammengefaßt, etwa: »An­ schläge in Augsburg und München« oder »Anschlag auf das Hauptquartier der US-Army in Frankfurt/Main«. Der Titel erhält somit auch eine Ortsmarke, wie es bei journalistischen Agenturmeldungen üblich ist. b. ) Datumszeile und Identifikation des Schreibens Zum Beispiel »Erklärung vom 14. Mai 1972«, in der Regel kur­ siv, während der Titel im Fettdruck hervorgehoben wurde. c. ) Text/Inhalt Dieser ist formal weiter unterteilt in Tathergang Beispiel: »Am Freitag, den 12. Mai 1972, hat das Kommando Thomas Weissbecker im Polizeipräsidium in München und im Landeskriminalamt in München drei Bomben zur Explosion gebracht.« So hätte auch eine Meldung der dpa beginnen kön­ nen. Begründung Beispiel: »Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein.« Hierbei wird auch der sprachliche Stil erkennbar: »Ausrottungsstrategen« statt US-Armee. Schlußfolgerung Beispiel: »Der brutalen Selbstherrlichkeit der Fahndungs­ behörden, dem kurzen Prozeß der Faschisten [eine immer wiederkehrende Formulierung für die Regierung und die Po­ lizei, Anm. d. Verf.] setzen wir den schrittweisen Aufbau der revolutionären Guerilla entgegen, den langen und langwieri­ gen Prozess des Befreiungskampfes vom Faschismus, von ka­ pitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung des Volkes.« d. ) Propagandistischer Aufruf oder Appell (in der Regel wie­ der kursiv gedruckt) Beispiele: »Kampf der SS-Praxis der Polizei, Kampf allen Aus­ beutern und Feinden des Volkes« oder »Freiheit für die politi­ schen Gefangenen! Kampf der Klassenjustiz! Kampf dem Fa­ schismus!« 124

e.) Unterschrift und Gruppenbezeichnung Beispiele: »Kommando Manfred Grashof« oder »Kommando Petra Schelm«. Auf die Bedeutung der Kommandonamen wurde auch schon in c.) Bezug genommen.30

Der formale Aufbau der Mitteilung ermöglichte es den Nachrich­ tenagenturen, das Material schnell und effizient zu sichten und zu bearbeiten, manche Formulierungen der Terroristen fanden sich später sogar wortwörtlich in den Nachrichten wieder. Auch wenn sie dort kritisch kommentiert wurden, war es der RAF doch ge­ lungen, die etablierte Presse mit ihren Mitteilungen zu erreichen. Ohne die Bekennerschreiben, die in der Regel mit einer gewissen Verzögerung, aber noch zeitnah (etwa zwei bis drei Tage später) zugestellt wurden, hätte man die Anschläge nicht sofort der Gruppe zuordnen können. Hinter den kurzen Verzögerungen bei der Übermittlung der Schreiben steckte durchaus Kalkül. Über die Anschläge berichte­ ten die Medien ohnehin ausführlich, doch konnten sie in der Re­ gel zunächst wenig über die Attentäter sagen, da diese noch nicht bekannt waren. Einer kurzen Phase der Spekulation folgten dann die Bekennerschreiben, die Medien hatten erneut einen Anlaß zur Berichterstattung. Die Schreiben der RAF erzeugten dadurch ei­ nen Verstärkungseffekt, den Medien wurde neuer Nachrichten­ stoff geliefert, die Anschläge blieben so länger in der Öffentlich­ keit präsent. Bei relativ geringem Aufwand erzielte die Gruppe eine extrem hohe Mediendurchdringung. Die Logik der Propa­ ganda der Tat schien also zunächst aufzugehen. Terrororganisationen können zwar gezielt sicherstellen, daß über sie berichtet wird, sie haben allerdings keinen Einfluß dar­ auf, wie sie in den Medien dargestellt werden. Im Fall der RAF zeigte sich dies exemplarisch nach dem Anschlag auf das SpringerHochhaus in Hamburg 1972, bei dem 17 Menschen verletzt wur­ den. Der Stern druckte ein Bild eines verletzten Korrektors in Großaufnahme ab. Man sieht ihn auf seinem Krankenbett an Schläuchen hängend, Wange und Hals sind zerschnitten. Die 30 Die Beispiele stammen aus Bekennerschreiben zu den Anschlägen des Jah­ res 1972 (vgl. RAF 1997: 145-148). 125

Bildunterschrift lautet: »Er sah an seinem Arbeitsplatz Druck­ fahnen auf Fehler durch. Da ging im Springer-Haus eine Höllen­ maschine los. Splitter trafen ihn. Er muß künstlich ernährt wer­ den.« Und im Artikel selbst heißt es: »Aber warum nehmen Leute, die vorgeben, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, in Kauf, daß ihre selbstgebastelten Höllenmaschinen Arbeiter in Stücke reißen? [...] Die Terro­ risten mit der Bombe argumentieren nicht mehr, sie, die im Untergrund leben und bei ihrer Ergreifung mit lebenslangen Freiheitsstrafen zu rechnen haben, wollen mit ihrer These, daß dies ein faschistischer Staat sei, recht behalten. Und um recht zu behalten, greifen sie zum Mittel des Terrors, um faschistische Tendenzen künstlich hervorzurufen.« (Stern 1972 a) Damit entlarvte das Magazin die fehlgeschlagene Strategie der Terroristen. In dem Artikel findet sich übrigens zum ersten Mal der Name RAF, zuvor hatten die Medien in der Regel von der »Baader-Meinhof-Gruppe« bzw. »-Bande« gesprochen. Durch Pamphlete und Bekennerschreiben war der Name nun also end­ gültig bekannt geworden, man assoziierte ihn allerdings aus­ schließlich mit Zerstörung und Tod. Dabei war es gerade dieser Anschlag, mit dem die RAF eine ge­ genteilige Wirkung erzielen wollte: einen Solidarisierungseffekt. Auch wenn man heute davon ausgehen muß, daß die RAF bei dem Anschlag zivile Opfer in Kauf nahm oder die Aktion nicht sorgfältig genug geplant hatte (vgl. Kraushaar 2006b: 1075 ff.), waren zivile Opfer nicht das eigentliche Ziel der Aktion. Die Ter­ roristen hatten den Springer-Konzern sogar telefonisch vor dem Anschlag gewarnt und eine Räumung des Gebäudes verlangt. Durch diese Taktik, die bei Anschlägen auf Warenhäuser in Ma­ drid auch von der baskischen ETA angewandt wurde, soll ein Ef­ fekt der zeitlichen Verzögerung genutzt werden: Die Warnung geht so kurz vor der Explosion ein, daß zwar das Gebäude evaku­ iert, die Bomben jedoch nicht gefunden werden können. Die ETA nutzte diese Zeitspanne überdies dazu, Medienvertreter an den Ort des Geschehens zu locken, die die Explosion aufnehmen oder fotografieren konnten. Doch im Fall des RAF-Anschlags auf das Springer-Hochhaus stimmte offensichtlich das Timing nicht: 126

»Zwischen dem ersten und dem zweiten anonymen Anruf in unserem Haus um 15.36 Uhr und der ersten Explosion um 15.41 lagen genau nur fünf Minuten. Daran gibt es nichts zu deuteln. Daß in so kurzer Zeit über 3000 Arbeiter und An­ gestellte nicht evakuiert werden konnten, muß jedem ein­ leuchten.« (Springer Aktuell 1972) Diese Darstellung des Verlags entspricht - soweit diese nachvoll­ ziehbar sind - den Tatsachen. Den Terroristen unterlief vermut­ lich ein fataler Fehler, denn daß sie zivile Opfer attackieren woll­ ten, kann aufgrund des Tathergangs ausgeschlossen werden. In diesem Fall hätte die RAF auf Warnhinweise gänzlich verzichtet und die Bomben an anderen Stellen, an denen sie noch me hr Scha­ den hätten anrichten können, plaziert. Außerdem hätte eine sol­ che Aktion nicht in das damalige Schema der RAF gepaßt, hatte sie sich doch bisher stets bemüht, den Eindruck zu vermeiden, es ginge ihr darum, Unbeteil igte zu töten. De facto hat te es zwar be­ reits früher zivile Opfer gegeben, sie waren jedoch nie das eigent­ liche Ziel der Anschläge. Bei diesen Aktionen ging es im Ge­ genteil darum, einen Effekt der Solidarisierung mit der Gruppe auszulösen. Der Anschlag auf das Springer-Hochhaus war also aus Sicht der RAF ein Fiasko, denn je plausibler die Begründung einer Tat ist, desto höher ist die psychologische Wirkung in der Öffentlichkeit und die Wahrscheinlichkeit, daß sich »interessierte Dritte«31 mit der Gruppe solidarisieren. Während der Anschlag von konservativen und wahrscheinlich auch liberalen Kreisen oh­ nehin kategorisch abgelehnt worden wäre, hätte er hingegen in der Szene der linken Sympathisanten prinzipiell für Genugtuung sorgen können. Ohne Verletzte wäre die Tatbegründung vermut­ lich als plausibel eingestuft worden, angesichts der traditionellen linken Kritik an dem Verlag war das Hochhaus für eine »revolu­ tionäre Aktion« durchaus geeignet. Nun geriet die RAF jedoch moralisch in Legitimationsnot. In einer anschließenden Erklä­ 31 Dieser Begriff wurde zu Beginn der sechziger Jahre erstmals von Rolf Schroers benutzt, hatte bei ihm jedoch eine etwas andere Konnotation (vgl. Schroers 1961: 249-270). Hier ist damit ein Beobachter gemeint, der der terroristischen Aktion neutral bis wohlwollend gegenübersteht und even­ tuell mit den Zielen - wenngleich nicht unbedingt mit den Mitteln - der Terroristen übereinstimmt und aus ihrer Sicht als potentieller Sympathi­ sant oder sogar Unterstützer gewonnen werden kann. 127

rung versuchte sie sich zu rechtfertigen und die Verantwortung für die Katastrophe auf den Verlag abzuwälzen: »Springer geht lieber das Risiko ein, daß seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. Wir bedauern, daß Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind. [...] Wir ver­ langen, daß die Springerpresse diese Erklärung abdruckt.« (RAF 1997: 147) Das nachträgliche Bedauern und die Schuldzuweisung an Sprin­ ger wirkten wenig glaubwürdig, der Eindruck des Mißerfolgs blieb bestehen. Der ehemalige Terrorist Michael »Bommi« Bau­ mann, der in der Bewegung 2. Juni - einer Organisation, die sich bis zu ihrer Auflösung als Alternative zur RAF verstand (vgl. dazu den Exkurs, S. 146 ff.) - aktiv war, bemerkt zu dem An­ schlag: »Dabei sind ihnen natürlich große Fehler unterlaufen, daß sie die Arbeiter bei Springer in die Luft gejagt haben. Dann ist natürlich der richtige Abfall gekommen [...] daß die Leute sie nicht mehr unterstützt haben. [...] Die RAF hat gesagt, diese Revolution wird nicht über die politische Ar­ beit aufgebaut, sondern durch Schlagzeilen, durch ihr Auf­ treten in der Presse, [...] auf der anderen Seite rechtfertigten sie sich nur noch über die Medien, sie vermitteln sich nur noch auf diese Weise. (Baumann 1977: 129) Auch wenn Baumann die Ereignisse sozusagen aus der Perspek­ tive der »Konkurrenz« beurteilte und nicht über Insiderkennt­ nisse der RAF verfügte, ist seine Einschätzung der Wirkung der Aktion durchaus zutreffend. Auch seine Schlußfolgerung, eine terroristische Gruppe könne sich nicht ausschließlich über die Medien vermitteln, wenn sie die Unterstützung ihrer ursprüng­ lichen Basis nicht verlieren wolle, ist ein berechtigter Einwand.

128

3.3 Das frühe Ende der RAF? Die Reaktionen der Medien auf die Festnahme von Baader, Raspe und Meins Nach den Vorfällen in den ersten Monaten des Jahres 1972 war die Öffentlichkeit erleichtert, als Anfang Juni scheinbar auf einen Schlag die gesamte Führungsspitze der RAF verhaftet wurde. Bei einem Zugriff in Frankfurt wurden Baader, Meins und Raspe in einer Garage gestellt, die die Polizei mehrere Tage observiert hatte. Bild titelte am 2. Juni 1972: »Baader im Bombenlager ver­ haftet.« Darunter setzte sie das Bild des entkleideten Terroristen, der auf einer Trage lag, die Bildzeile lautete: »Ein nackter Terrorist flößt keinen Schrecken mehr ein« und daneben den Verweis: »Ex­ klusiv: Die besten Bilder sind in Bild«. Auch die Bildüberschrif­ ten auf den folgenden Seiten waren eindeutig: »Baader ins Gesäß geschossen, Auf einer Decke rausgeschleift, Tränengas im Bom­ benlager, Meins kapitulierte in Unterhose«. Nachdem monatelang die Angst vor den »intelligenten, aber gemeingefährlichen Verbrechern« (Bild) geschürt worden war, präsentierte man den Lesern nun das Bild der aufgelösten und am Boden zerstörten Terroristen. Meins trägt auf diesen Fotos ledig­ lich Schuhe, Socken und eine Unterhose, da die Polizei ihn aufge­ fordert hatte, seine Kleidung abzulegen, um feststellen zu kön­ nen, ob darunter eine Waffe oder eine Sprengladung versteckt war. Baader, den ein Scharfschütze getroffen ha tte, wurde entkle i­ det, um seine Wunden zu versorgen. Man kann also davon ausgehen, daß es der Polizei in beiden Fällen nicht darum ging, die Terroristen auf diese Weise moralisch zu demütigen, da es für die Entkleidung durchaus funktionale Gründe gab. Dennoch bleibt eine weitere Frage offen: Warum waren bei dem Zugriff, den die Polizei wochenlang im geheimen geplant hatte, überhaupt Journalisten und Fotografen anwesend? Man muß davon ausgehen, daß der entscheidende Tip nicht von der Polizei selbst kam, schließlich hatte sie bei der gefährlichen Ak­ tion kein Interesse an störenden Reportern. Wahrscheinlich hat­ ten die Journalisten den Polizeifunk abgehört oder von Anwoh­ nern oder einer undichten Stelle in den Behörden von der Aktion erfahren. Auch wenn es de facto so wirkte, war die Festnahme von der Polizei keineswegs unter inszenatorischen Gesichtspunkten 129

geplant - ein Beispiel für eine nichtintendierte Medienwirkung. Vor dem Zugriff wußte die Polizei schließlich nicht, ob sie Erfolg haben würde. Flüchtende Terroristen vor laufenden Kameras wä­ ren allerdings ein Fiasko für die Polizei gewesen. Schon deshalb ist davon auszugehen, daß die Behörden die Reporter nicht selbst informiert hatten. In den Medien jedoch wurden die Aufnahmen der Fotografen und Kameraleute am folgenden Tag mit großer Wirkung insze­ niert. Das Foto des halbnackten Baader symbolisierte das Schei­ tern der RAF, ein Effekt, der durch die Aussage eines Polizisten unterstützt wurde: »Ein hoher Polizeioffizier: >Was wir aus der Garage geholt haben, waren drei Häufchen Elend. Es ist uns un­ verständlich, wie diese drei uns so lange terrorisieren konnten.«« (Bild 1972: 2) Die Leser konnten daraus nur einen Schluß ziehen: Die RAF ist geschlagen, sie steht im letzten Hemd (bzw. in der letzten Unterhose) da, von ihr geht keine Gefahr mehr aus. Doch auch wenn in der Folge auch noch Meinhof, Ensslin und Klaus Jünschke gestellt wurden, war die Gruppe nicht endgültig zer­ schlagen. Sie war lediglich für eine gewisse Zeit gelähmt. Bemerkenswert ist, daß Bild in dem Zitat die unspezifische Quelle e in »hoher Polizeioffizier« a ngibt, da sie schlic ht falsch ist: Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches hatte die bundesdeut­ sche Polizei ganz bewußt auf militärische Dienstgrade verzichtet. In einem anderen, alltäglicheren Kontext hätte man wohl von ei­ nem Versehen eines Redakteurs ausgehen können, im Zusam­ menhang mit der Festnahme der meistgesuchten Terroristen der BRD ist dieses Detail allerdings interessant: Gerade die RAF hatte ja in ihren Pamphleten immer wieder versucht, das System der BRD als faschistisch darzustellen, in ihrer eigenen Diktion befand sie sich als Stadtguerilla in einer militärischen Auseinan­ dersetzung mit der BRD. Wenn nun also in der Presseberichter­ stattung, nicht nur in Bild, immer wieder »Polizeioffiziere« zitiert wurden, kann man nicht ausschließen, daß diese Bezeichnung ganz bewußt gewählt wurde, um die Dramatik der Situation und die Gefährlichkeit der Terroristen zu unterstreichen. In diesem Fall wären die Redakteure aber entweder unbewußt der Propa­ ganda der RAF aufgesessen oder sie hätten die Festnahme selbst als militärischen Konflikt darstellen wollen. Im nachhinein läßt sich das nicht mit Sicherheit belegen. Betrachtet man jedoch die weitere Geschichte der Gruppe und den Umgang mit ihr, so zeigt 130

sich, daß sowohl die RAF als auch Medien und Politiker oft auf Kriegsmetaphorik zurückgriffen. Neben Bild berichteten auch die übrigen Medien ausführlich über die Festnahme, der Stern und Der Spiegel widmeten dem Er­ eignis Titelgeschichten. Der Spiegel beschäftigte sich mit der Frage, wie das Fernsehen auf die Geschichte aufmerksam gewor­ den war: »Für sieben Uhr in der Früh waren auf dem Testgelände der Opelwerke im südhessischen Dudenhofen Weltrekordver­ suche mit einem Diesel-Auto angesetzt. Günter Zimmer­ mann, Redakteur der Fernseh-Tagesschau, machte sich vom Funkhaus am Dornbusch aus mit einem Reportagewagen auf den Weg, das Ereignis festzuhalten. Es war kurz nach sechs - da sah der Journalist den Mannschaftswagen der Polizei mit Blaulicht vorbeifahren. Minuten später vernahm Zimmermann das Martinshorn eines Streifenwagens. Ein >sechster SinnEndlösungSchwarzen September< in München hat das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialisti­ schen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in West­ deutschland oder Westberlin. [...] Die westdeutsche Linke könnte an ihr ihre eigene politische Identität wieder finden Antifaschismus - antiautoritäres Lager - antiimperialisti­ sche Aktion - wenn sie noch nicht ganz der Springerpresse und dem Opportunismus verfallen ist [...].« (Zitiert in RAF 1997: 152) Diese Solidaritätsbekundung ist für den weiteren Verlauf der RAF-Geschichte insofern von besonderer Bedeutung, als hier erstmals eine Geiselnahme gegen Zivilisten nicht nur akzeptiert, sondern explizit als vorbildhafte »revolutionäre Aktion« hervor­ gehoben wird. Dies stellt eine deutliche Wende in der bisherigen Strategie der RAF dar. Gewalt gegen Politiker, Diplomaten, Poli­ zisten, Unternehmensführer und deren Leibwächter oder gegen Soldaten wa r späteste ns von nun an aus Sicht der RAF vollständig gerechtfertigt, da sie nicht mehr als individuelle Personen, son­ dern als Werkzeuge und Schachfiguren des verhaßten Systems galten. Doch ist der Chauffeur eines Spitzenmanagers ein Reprä­ sentant des Systems? Die Abgrenzung zu Zivilisten ist äußerst problematisch, im Selbstverständnis der RAF war sie allerdings verankert. Wenn bei den Anschlägen auch Fahrer und Leibwäch­ ter starben, hatte dies eher mit mangelhafter Vorbereitung und Durchführung zu tun als mit politischen Intentionen.34 Wie un­ deutlich diese Grenze war und wie leicht sie überschritten werden konnte, zeigte sich jedoch nicht erst mit der »Erklärung zur Ak­ tion des Schwarzen September«. Bereits bei dem Anschlag auf das Polizeipräsidium in Augsburg im Jahr 1972 waren unbeteiligte 34 Die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut, bei der bewußt ganz »normale« Urlauber gekidnappt wurden, um RAF-Häftlinge freizupres­ sen, wurde von palästinensischen Terroristen geplant. 145

Zivilisten verletzt worden. Doch für die Außendarstellung der RAF spielte die Differenzierungsthese, nach der zwischen unbe­ teiligten Zivilisten und Helfershelfern des Systems unterschieden wurde, eine wichtige Rolle. Die Erklärung, die Meinhof kurz nach ihrer Verhaftung im Oktober verfaßte und die dann aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde, spiegelt also insgesamt eher Meinhofs Wut und Resignation wider denn eine politisch-strate­ gische Analyse. Inwiefern sie damit auch die Meinung der ande­ ren Mitglieder repräsentierte, ist schwer zu beurteilen, der Text zirkulierte allerdings als Verlautbarung der RAF und wurde auch als solche wahrgenommen. Wichtig i st zudem, daß in diesem Text zum ersten Mal der Ge­ danke auftaucht, verhaftete Genossen durch Terrorakte frei­ zupressen, denn das bedeutete eine klare Neuausrichtung der Strategie, die RAF hatte zuvor selbst keine Geiselnahmen durch­ geführt. Die Ereignisse von München könnten, gerade unter kommunikationsstrategischen Gesichtspunkten, die Planung der Schleyer-Entführung beeinflußt haben. Die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz im Jahr 1975, die aus Sicht der Ter­ roristen erfolgreich war, dürfte der RAF endgültig bewiesen ha­ ben, daß sie mit Geiselnahmen wesentlich mehr Aufmerksamkeit erreichen konnte als mit herkömmlichen Anschlägen.

Exkurs: Die Bewegung 2. Juni Die Bewegung 2. Juni, die sich explizit als »anarchistisches Kor­ relativ« (Fritz Teufel) zu der Gruppe um Baader und Meinhof verstand, war wesentlich »spontaneistischer« ausgerichtet und weniger theorielastig (vgl. Wunschik 2006: 538 f.). Die Propa­ ganda der Tat diente hier als kurzfristige Kommunikationstaktik, durch Aktionen mit hoher Symbolwirkung sollten andere Mili­ tante zur Nachahmung animiert werden (vgl. Klöpper 1987: 64). Bei aller Konkurrenz wurden aber auch gemeinsame Aktionen diskutiert, allerdings nicht immer in die Tat umgesetzt.35 35 Ein Beispiel dafür ist eine mutmaßliche Diskussion über eine gemeinsame Befreiung von Andreas Baader (vgl. dazu Ministerium für Staatssicherheit 1973). Ein Beispiel für eine »gelungene Zusammenarbeit« stellten hinge­ gen mehrere Banküberfälle im September 1970 dar, bei denen die beiden Gruppen sich das erbeutete Geld teilten (Wunschik 2006: 546). Wunschik 146

In der Öffentlichkeit und in der Medienberichterstattung wur­ de bisweilen nicht eindeutig zwischen den beiden Gruppen diffe­ renziert. Dies gilt insbesondere für die latente Aktivierungsphase bis 1975. Als kurz nach dem Tod Holger Meins’ im November 1974 der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenk­ mann ermordet wurde, schrieb der Stern: »Der Tod von Holger Meins wirkte wie ein Signal zur Ra­ che. Einen Tag später wurde der Berliner Kammergerichts­ präsident Günter von Drenkmann von mehreren Personen in seinem Berliner Haus erschossen. Gegenüber der Deut­ schen Presseagentur erklärte ein anonymer Anrufer, die >Rote Armee Fraktion< sei verantwortlich für das Attentat. Dem Axel Springer Verlag in Berlin wurde telefonisch mit­ geteilt: »Weitere Hinrichtungen werden folgen.Selbstfindung< durch Abgrenzung von der >Konkurrenz< und steigerte sogar noch die Motivation im bewaffneten Kampf.« (2006: 5 59) 36 Das Bekennerschreiben der Bewegung 2. Juni (vgl. HIS, Ur/34, S. 64-65) tauchte erst später auf und wurde der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Gerichtsverhandlung wegen des Drenkmann-Mordes bekannt. Zum Tod Meins’ heißt es in dem Schreiben »Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten« - e in weiteres Indiz dafür, daß die Tat, die einen Tag später erfolgte und die ursprünglich als Geiselnahme geplant war, eine spontane, unüber­ legte Racheaktion darstellte. 147

der RAF geplant und durchgeführt hatte. Die Entführung ist in mehrfacher Hinsicht ein ergiebiges Beispiel für die Anwendung terroristischer Kommunikationsstrategien. Dies gilt nicht nur für die von Heinrich Albertz verlesene Erklärung der Terroristen ein gutes Beispiel für kodierte, indirekte, funktionale und öffent­ liche Kommunikation -, sondern vor allem wegen der in der BRD erstmal praktizierten direkten und technischen Kommunikation mit der Polizei. Wie diese funktionierte, erläuterten die Entführer Reinders und Fritsch später in einem Zeitungsinterview: »Wie haben Polizei und Krisenstab mit euch kommuniziert? Über die Medien. Manchmal haben sie auch angekündigt, heute abend kommt was in der Abendschau. Am Samstag den 1.3. um 0.05 Uhr wurde über die Sender SFB und RIAS folgende Erklärung der Polizei ausgestrahlt: >Die Polizei wendet sich hiermit an die Entführer von Peter Lorenz. Erstens: Die Personen, die im Zusammenhang mit der Demonstra­ tion nach dem Tode von Holger Meins festgenommen wor­ den sind, befinden sich bis auf Ettore Canella und Günter Jagdmann bereits seit längerem in Freiheit. Die beiden Ge­ nannten werden am 1. März 1975 vor zehn Uhr aus der Haft entlassen. Zweitens: Es ist nötig, daß Sie uns einen überzeugenden Beweis von der Tatsache liefern, daß Peter Lorenz weiterhin am Leben ist. Drittens: Wir sind bemüht, mit unseren Maßnahmen Leben und Ge­ sundheit von Peter Lorenz nicht zu gefährden. Zur Vermei­ dung von Mißverständnissen ist es erforderlich, Fragen zu klären. Zum Beispiel: Wie stellen Sie sich die Modalitäten der unversehrten Übergabe von Peter Lorenz vor? Was soll ge­ schehen, wenn eine der von Ihnen namentlich genannten Personen sich weigert, an dem von Ihnen genannten Verfah­ ren teilzunehmen? Viertens: Geben Sie uns als Nachweis dafür, daß wir mit den Richtigen verhandeln, die Nummer des Personalausweises von Peter Lorenz.< 148

Woher wußtet ihr, daß das um 0.05 Uhr über den Sender geht? Meinst du, wir hätten in der Zeit das Radio auch nur fünf Mi­ nuten ausgeschaltet? Meistens wurde das ja lange vorher an­ gekündigt und dann auch noch wiederholt.« (Zitiert in Reinders/Fritzsch 1995: o. A.) Wie bei der Lorenz-Entführung dienten später Hörfunk und Fernsehen auch der RAF als Träger der Kommunikation. Im Fall der Lorenz-Entführung befand sich die direkte, technische Kom­ munikation allerdings noch auf der Ebene der eindimensionalen Kommunikation, da die Entführer nur indirekt über die Medien antworten konnten. Sie nutzten für ihre Antworten andere Kom­ munikationswege: »Zum Teil haben wir über tote Briefkästen gearbeitet. Wir hatten in alten Häusern, wo es nicht auffiel, zusätzliche Briefkästen aufgehängt, die nur von uns benutzt wurden. Ei­ ner von uns ist aus der Schenckendorfstraße raus zu so einem Briefkasten, und von dort wurden unsere Mitteilungen von anderen weitergeleitet. Die erste Meldung ist an dpa gegan­ gen, aber nicht alleine. Alle Mitteilungen wurden immer an mindestens drei Stellen geschickt oder überbracht. Anfangs immer an die Medien, nachher dann an andere Peter Lo­ renze, die wir aus dem Telefonbuch rausgesucht hatten. Auch an Pfaffen. Wi r sind davon ausgega ngen, daß du jedem sowas unter die Fußmatte legen kannst und wenn du fünf Texte in der Form verteilst, kannst du davon ausgehen, daß vier das dann auch weiterleiten. In der ersten Erklärung wa­ ren zwei Fotos beigelegt. Von Lorenz mit Brille. Da hat er drauf bestanden. Und da hat er sich auch ordentlich hinge­ setzt.« (Ibid.) In diesen indirekt übermittelten Botschaften waren allerdings auch schon Forderungen für die spätere technisch mediatisierte und raum-zeitlich versetze Zwei-Wege-Kommunikation enthal­ ten:

149

»Wir fordern die oben genannten Personen und Organisa­ tionen auf, sich dafür einzusetzen, daß unsere erste Mittei­ lung, die an dpa, upi und senat gegangen ist, spätestens zur Abendschau und noch einmal in allen Tagesschauen verlesen wird. Gleichzeitig müssen die Fotos von der Gefangenschaft Peter Lorenz gezeigt werden.« (Ibid.) Gleich auf mehren Ebenen war die Lorenz-Entführung also die erste terroristische Aktion in der BRD, bei der die elektronischen Medien (Hörfunk und Fernsehen) als Vermittler von Botschaften ganz bewußt in die Kommunikationsstrategie der Terroristen mit einbezogen wurden. Bis dahin hatten sie Erklärungen und Beken­ nerschreiben einseitig an die verschiedenen Medien versandt, nun wurden diese auch als - eingeschränkter - Rückkanal für die Ant­ wort der Behörden genutzt. Die Entführung, genauer gesagt ihre Vorbereitung, verdient noch aus einem anderen Blickwinkel Beachtung. Die Bewegung 2. Juni versuchte nämlich, mit anderen Terrorgruppen zu koope­ rieren. »Wilfried Böse von den Revolutionären Zellen (RZ) war da­ mals in Berlin und versuchte seinerseits, eine kombinierte Operation von 2. Juni, RAF und RZ anzuleiern. Wir wußten nicht, daß es sich um Stockholm handeln würde. Das lief al­ les kurz vor der Lorenz-Aktion. Die Aktion war schon weitgehend vorbereitet, und die wollten dazu zwei bis drei Leute von uns, die sich daran beteiligen sollten. Das haben wir abgelehnt. Erstens wegen der Herangehensweise und zweitens wegen der Aktionsform. Sie wollten eine Aktion in der Luft und eine am Boden machen. Das hieß: Flugzeugent­ führung und Botschaftsbesetzung. Lind da haben wir gesagt, das machen wir grundsätzlich nicht! Warum wolltet ihr das nicht? Flugzeugentführungen gab es damals vor allem von palästi­ nensischen Gruppen. Wir hatten darüber diskutiert und meinten, daß die damit auf ihre besondere Situation auf­ merksam machen wollen und wir uns damals nicht anmaßen wollten, deren Aktionen zu beurteilen. Wir aber haben aus unserem Selbstverständnis heraus Geiselnahmen von unbe­ teiligten Dritten abgelehnt und für konterrevolutionär ge­ 150

halten. Wir greifen nicht die Leute an, die wir agitieren wol­ len.« (Ibid.) Nach der Entführung ließ die Bewegung 2. Juni etwa 30 000 Flug­ blätter drucken und von Sympathisanten verteilen, in denen Sinn und Zweck der Entführung erläutert wurden. Daß die Flugblätter fast in ganz Westberlin in linken Kreisen zirkulierten, wertete die Bewegung 2. Juni wiederum als Zustimmung zu ihrer Aktion und den mit der Geiselnahme verbundenen Forderungen. Die Flug­ blattaktion deckte sich dabei mit den Überlegungen historischer Theoretiker der Propaganda der Tat wie Kropotkin oder Most (»Es ist wichtig, daß die Bevölkerung von der Tat aus Sicht der Revolutionäre erfährt«). Neben der indirekten mediatisierten Kommunikation über Fremdmedien (Rundfunk, TV) bediente sich die Bewegung 2. Juni also auch der direkten, eindimensiona­ len mediatisierten Kommunikation. Kommunikationsstrategisch ist im Zusammenhang mit der Lorenz-Entführung ein weiteres Detail interessant, das auch Auf­ schluß gibt über die Eigenwahrnehmung der Bewegung 2. Juni. In den Unterlagen des Politikers hatten die Terroristen den Brief einer Frau gefunden, die sich als Mutter eines Kindes mit DownSyndrom hilfesuchend an den CDU-Mann gewandt hatte. In Übereinstimmung mit ihrer Selbstinszenierung à la Robin Hood schickten die Entführer nun 700 Mark aus dem Besitz von Lorenz an die Frau. Damit wollte sich die Bewegung 2. Juni gezielt ein positives Image in der Bevölkerung aufbauen und Spaltungen zwischen der Organisation und den Sympathisanten an der Basis verhindern. Denselben Zweck hatte mutmaßlich die Aktion, bei der 1975 nach Banküberfällen in Westberlin Schokoküsse an Pas­ santen verteilt wurden, denn es war »ihnen schon wichtig, wie das ankommt« (zitiert in Rollnick/Dubbe 2004:54). Systematisch ge­ sehen handelt es sich dabei um eine offensive PR-Maßnahme auf der Ebene der direkten, personalen Kommunikation. Parteien verteilten Kugelschreiber, die Bewegung 2. Juni »revolutionäre Schokoküsse«. Der Erfolg dieser Aktion ist nicht überliefert, aus kommunikativer Hinsicht ist sie aber doch bemerkenswert. Denn sie war ebenso dreist (es war gerade eine Straftat begangen wor­ den, und die Polizei konnte jeden Moment anrücken) wie außer­ gewöhnlich. Vergleichbare Aktionen sind von keiner anderen Terrorgruppe bekannt, insofern stellen sie ein »Alleinstellungs­ 151

merkmal« der Bewegung 2. Juni dar. Wahrscheinlich entsprachen sie noch dem Geist der frühen »Spontiaktionen« in der Tradition der Kommune 1, etwa das berühmte Pudding-Attentat Fritz Teu­ fels.37 Außerdem griff die Bewegung 2. Juni noch auf eine wesentlich unmittelbarere Weise in die Medienberichterstattung ein: Sie scheute nämlich nicht vor direkten Angriffen auf Journalisten zu­ rück. So verprügelten Mitglieder der Gruppe einen Reporter der Quick: Horst Rieck war in Szenekneipen bekannt und suchte die Nähe zur Bewegung 2. Juni, angeblich hatte er bereits 1970 einen diffamierenden Bericht über die Gruppe geschrieben.38 Die Ter­ roristen überfielen Rieck in seiner Wohnung, verprügelten und fesselten ihn. Zusätzlich wollten sie ihm ein Schild mit der Auf­ schrift »Ich bin ein Journalist, ich schreibe nur Mist« umhängen und ihn damit fotografieren, allerdings wurden sie bei dieser Ak­ tion gestört und suchten das Weite. Andere Pläne zu einer direk­ ten »Journalistenbestrafung« - so sollte Mathias Waiden, dem Chefkommentator des Senders Freies Berlin (SFB), und dem BZRedakteur Werner Sykorsky ins Bein geschossen werden - wur­ den allerdings nicht in die Tat umgesetzt (vgl. Meyer 1996: 291). Man ging wohl davon aus, daß die Journalisten später über diese Übergriffe berichten würden, die Idee mit dem Schild bei Rieck 37 Schon die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Kommunarden (die In­ terviews aus der Kommune nur gegen Bezahlung nach dem Motto »Erst blechen, dann sprechen« gaben und die auch für andere Rüttelreime be­ kannt waren und der Presse immer eine gute Story lieferten) oder die Bennennung »Zentralrat der umherschweifenden Haschischrebellen« (als Ver­ ballhornung der Zentralräte kommunistischer Gruppen und als gezielter Tabubruch in der damaligen Zeit, Haschischrauchen als extralegale Ak­ tion) hatten viel zum Image der am Lustprinzip orientierten Politclowns und Realsatiriker beigetragen. So zitiert Aust Gudrun Ensslin mit den an die Bewegung 2. Juni gerichteten Worten: »Was macht ihr denn? Ihr rennt durch Wohnungen, fickt kleine Mädchen, raucht Haschisch. Das macht Spaß. Das darf es nicht. Den Job, den wir machen, der ist ernsthaft. Es darf keinen Spaß machen.« (Aust 1989: 189) Umgekehrt machten sich die Kom­ munarden und spätere Mitglieder der Bewegung 2. Juni über den puritani­ schen Geist der RAF und deren vermeintliche Kopflastigkeit lustig. Bei all­ dem darf aber nicht vergessen werden, daß die Bewegung 2. Juni, obwohl sie ihre Vorläufer in der Kommune 1 hatte und wegen ihres Hedonismus von der RAF kritisiert wurde, keineswegs eine reine »Spaßguerilla« war, sondern eine Terrorgruppe. 38 De facto stammte der fragliche Bericht »Ganz Deutschland muß brennen« jedoch von Richard Mahkorn (vgl. Mahrkorn 1970). 152

deutet darauf hin, daß die Terroristen das Bild der »Bestrafungs­ aktion« selbst in Umlauf bringen wollten. Insofern haben wir es hier wieder mit einer - letztlich allerdings untauglichen - Medi­ enstrategie zu tun. Durch den Druck auf die Journalisten sollten auch ihre Kollegen in ihrer Funktion als Multiplikatoren beein­ flußt werden. Inzwischen sind Terrorgruppen dazu übergegangen, Reporter zu entführen. Dabei geht es nicht nur darum, Geld zu erpressen, sondern auch um die hohe Öffentlichkeitswirksamkeit solcher Aktionen und die Möglichkeit, durch erzwungene Statements der Journalisten Terrorbotschaften weiterzuverbreiten. Ob sich die Terroristen damit letztlich mehr schaden als nutzen, ist eine an­ dere Frage. Die Bewegung 2. Juni rückte von dieser Strategie al­ lerdings sehr schnell ab, weil sie erkannte, daß sie für ihre Zwecke kontraproduktiv war.

5. Radikalisierte Aktivitätsphase: die zweite Generation Häufig werden mit dem Begriff der zweiten Generation diejeni­ gen Gruppenmitglieder der RAF bezeichnet, die in den Jahren 1977 bis einschließlich 1979 aktiv gewesen sind. Legt man aller­ dings den Schwerpunkt weniger auf Biographien und Personen­ analysen, sondern auf strategische oder organisatorische Konti­ nuitäten und Diskontinuitäten, lassen sich Ansätze einer zweiten Generation bereits ab 1973 finden. Orientiert man sich nun wie­ derum an den Anschlägen der verschiedenen Gruppen, also an der Propaganda der Tat, muß man für die RAF das Jahr 1975 als Einschnitt und den Beginn der zweiten Generation sehen. Erst­ mals seit 1972 stand unter einem Bekennerschreiben wieder die Unterschrift der RAF, um genauer zu sein, die des Kommandos Holger Meins.

5.1 Ein Märtyrer für die neue Generation: der Tod von Holger Meins Der Name des Kommandos belegt, daß der Tod Holger Meins’ eine Initialzündung für das Entstehen der zweiten Generation darstellte. Ähnlich wie im Fall Benno Ohnesorgs wurde auch dieses Er­ eignis symbolisch aufgeladen. Die kommunikative Wirkung kann gar nicht überschätzt werden, hatte die RAF doch dadurch einen neuen Märtyrer. Unmittelbar nachdem Meins am 9. November 1974 in der JVA Wittlich nach einem wochenlangen Hungerstreik gestorben war, veröffentlichten die Anwälte der übrigen RAFHäftlinge, die ebenfalls die Nahrungsaufnahme verweigerten, eine Erklärung und luden zu einer Pressekonferenz ein. Mit den Anwälten, insbesondere mit Klaus Croissant, verfügte die RAF nun auch über einen »legalen« Arm, über den die Kommunika­ tion der Gruppe spätestens seit 1973 besser koordiniert werden konnte. Gerhard Müller, ein ehemaliges RAF-Mitglied und spä­ terer Kronzeuge des Verfassungsschutzes, erläuterte dazu 1976 in seiner Vernehmung: 154

»In dem Kommunikationsbedürfnis der RAF-Gefangenen, das u. a. ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl aus­ drückte, sah Baader eine Möglichkeit, seine Ziele weiter zu verfolgen. Vorrangig war er bemüht, die unorganisierte Kommunikation in eine organisierte umzuwandeln. Dazu bediente er sich der RAe [RAe als Abkürzung für Rechtsan­ wälte, Amn. d. Verf.], die als RAF-Verteidiger tätig waren.« (HIS, So 01/012, 007) Während die Inhaftierung der RAF-Spitze zwar in logistischer und strategischer Hinsicht einen Rückschlag darstellte, wurde die Kommunikationsstrategie nun in gewisser Weise sogar professio­ neller: »Man schuf Anlässe für die Berichterstattung, in der Spra­ che des Journalismus >Aufhänger< um Medienvertreter zu einer Berichterstattung über die Haftbedingungen zu veranlassen.« (Jander 2006: 979) Zu diesen Anlässen zählten zum Beispiel die Hungerstreiks; die Propaganda der Tat trat zunächst in den Hin­ tergrund. Während die RAF-Mitglieder vor ihrer Verhaftung selbst nicht öffentlich auftreten und ihren Standpunkt erläutern konnten, so­ mit immer darauf angewiesen waren, daß die Medien auch tat­ sächlich über Anschläge und Bekennerschreiben berichteten, betrieb die Gruppe nun zusammen mit den Anwälten ihre Medi­ enarbeit nicht mehr nur für, sondern in der Öffentlichkeit. Da es in Zusammenhang mit dem Tod Meins’ zahlreiche Ungereimthei­ ten und den Verdacht gab, er sei in der J VA nicht ausreichend ver­ sorgt worden,39 war es aus Sicht der Medien dem journalistischen Grundprinzip audiator et altera pars (höre auch die andere Seite) 39 Der Historiker Martin Jander verweist darauf, daß es bis heute keine ein­ gehende, unabhängige Untersuchung der Haftbedingungen der RAF-Ge­ fangenen - nicht nur speziell denen von Holger Meins - gibt, statt dessen aber zahlreiche parteiisch gefärbte Berichte und Analysen, die entweder die These von der Isolations- bzw. Vernichtungshaft be- oder widerlegen wollen. Er kommt, ohne selbst ein abschließendes Urteil zu fällen, zu dem Schluß: »Das Thema läßt sich jedoch nicht [...] als pure Propaganda der bewaffneten Terrorgruppen abtun.« (Jander 2006: 993) Ebensowenig wird aber auch von Jander bestritten, daß die These von der Isolationshaft in die Kommunikationsstrategie der RAF paßte. Das eine, die Frage über die Be­ rechtigung der These, darf also nicht mit dem anderen, ihrem Nutzen für die Außenkommunikation, verwechselt werden, der in unserem Zusam­ menhang relevant ist. 155

geschuldet, über die Version der Anwälte zu berichten. Davon profitierte letztlich die RAF: Interviews mit den Anwälten, Presse- und Hungerstreikerklärungen oder Briefe von Inhaftier­ ten, die über die Anwaltspost liefen, wurden nun relativ verläß­ lich von den etablierten Medien zitiert oder sogar im Wortlaut abgedruckt. Auf diesen Multiplikationseffekt hatte die RAF so vorher nicht zählen können. So berichtete nun die Süddeutsche Zeitung nachrichtlich korrekt über die Vorwürfe der Anwälte: »Nach Ansicht seiner Anwälte hätte Meins schon vor länge­ rer Zeit wegen seines >alarmierenden Untergewichts< in die Intensivstation eines Krankenhauses gebracht werden müs­ sen. Der Stuttgarter Rechtsanwalt Klaus Croissant erklärte im Namen von mehreren Baader-Meinhof Anwälten. [...] Die Justizbehörden seien schon vor Wochen und nach­ drücklich noc h einmal am Samsta g auf den bedrohlichen Zu­ stand von Meins’ hingewiesen worden. Die >Vernichtungshaft< der Bundesanwaltschaft und der Staatsschutzbehörden habe über die Verpflichtung gestanden, das Leben von Hol­ ger Meins zu erhalten, sagte Croissant.« (Süddeutsche Zei­ tung 1974) Und auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung verschwieg die Vorwürfe nicht. Auch wenn sie zunächst die Version der Justiz darstellte, kam sie im weiteren Verlauf ihres Berichts auf die schweren Anschuldigungen der Rechtsanwälte zu Sprechen: »Ausführlich legte Rechtsanwalt Haag (Heidelberg) die Schwierigkeiten dar, unter denen es am Samstag auf Bitten von Meins von Freitag gelang, den >bis zum Skelett abgema­ gerten< Untersuchungshäftling sprechen zu können. [...] Die Anwälte beantragten inzwischen die sofortige Beschlag­ nahme der Leiche sowie deren Obduktion in Anwesenheit eines Verteidigers. Es bestehe der Verdacht, daß der Tod durch eine strafbare Handlung verursacht worden sei.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 1974) Andere Zeitungen sowie Hörfunk- und TV-Sender hielten es ähnlich und berichteten sachlich, ohne Wertung und unter Anga­ ben ihrer Quellen über den Tod Meins’. In der Regel wurden im­ 156

mer beide Seiten, die Justizbehörden und die Anwälte der RAFInhaftierten, sauber zitiert. Durch diese objektive Berichterstat­ tung gelangten nun aber Formulierungen wie »Vernichtungshaft« oder »Isolationsfolter« auf die Seiten liberaler und konservativer Zeitungen. Natürlich standen den Vorwürfen die Darstellungen der Justizbehörden gegenüber, doch diese waren nun in der De­ fensive. Da die Anschuldigungen, die Behörden hätten Meins ab­ sichtlich verhungern lassen, nie bewiesen wurden, mag das bei neutralen Beobachtern kaum eine Wirkung gehabt haben. Da sie aber auch nicht endgültig widerlegt werden konnten, erzielten sie beim prädisponierten Leser eine deutliche Meinungsbestärkung. Insofern waren die Interviews und Presseerklärungen der An­ wälte ein eindeutiges und in diesem Fall sehr effektives Mittel der Außenkommunikation. Die Medien wurden dabei zu den Trans­ porteuren der Sichtweise der RAF, obwohl sie lediglich ihre Pflicht zur neutralen Berichterstattung erfüllten. Dieses Beispiel zeigt, daß eine terroristische Kommunikations­ strategie ohne jegliche Manipulation oder Beeinflussung allein durch Berichterstattung über einen bestimmten Sachverhalt auf­ gehen kann. Diese Strategie hätte nur unterlaufen werden kön­ nen, wenn die Journalisten die tatsächlichen Begebenheiten auf­ gedeckt und so die Version der RAF entkräftet hätten, und darum bemühten sich auch einige Journalisten. So befragte der Spiegel den Stuttgarter Gefängnisarzt Helmut Henck, der zu dieser Zeit für die Zwangsernährung von Baader, Ensslin, Raspe und Roll verantwortlich war (der Arzt der JVA Wittlich stand nach Meins’ Tod nicht für Interviews zur Verfügung). Henck beschrieb, wie schwierig es sei, einen Menschen, der sich nicht ernähren lassen wolle, gegen seinen Willen am Leben zu erhalten - prinzipiell sei es allerdings möglich. Auf die Frage, ob der Tod von Meins vor­ hersehbar und damit zu verhindern gewesen wäre, antwortete Henck: »Dieser Zustand kam ja nicht von einer Minute auf die an­ dere. Das zieht sich doch mindestens über ein, zwei Wochen hin. Da gibt es rein äußerlich erkennbare Symptome [...]. Diese Kriterien erkennt sogar ein Nichtmediziner. Hier hätte spätestens eine Intensivpflege rund um die Uhr einset­ zen müssen.« (Der Spiegel 1974b) 157

Doch genau das war im Fall Meins nicht geschehen, statt dessen hatte sich - zumindest berichtete das Der Spiegel - der Gefängnis­ arzt, »ohne einen ärztlichen Vertreter zu hinterlassen«, ins Wo­ chenende verabschiedet. Auch wenn die Ereignisse nie wirklich aufgeklärt werden konnten, steht doch fest, daß es schwere Ver­ säumnisse der Mediziner oder der Anstaltsleitung gegeben haben muß, da der Tod Meins’ auf alle Fälle zu verhindern gewesen wäre. Für die Medien, die den Tod eines inzwischen relativ pro­ minenten Häftlings nicht ignorieren konnten, bedeutete dies wie­ derum, daß es keine Alternative zur objektiven nachrichtlichen Berichterstattung gab. Eine Ausnahme bildeten dabei die Boulevardzeitungen BZ und Bild, die zwar ganz und gar nicht im Sinne der Anwälte berichte­ ten, die aber auf i hre Weise einiges dafür taten, daß das Thema ak­ tuell blieb. So sprach Bild vom »süßen Leben hinter Gittern«, und die BZ hatte schon einige Wochen Artikel mit Formulierungen wie »Hungern als Hobby« veröffentlicht. Nach Meins’ Begräbnis titelte Bild dann aber schließlich: »>Rache!