Caesarenwahn: Ein Topos zwischen Antiwilhelminismus, antikem Kaiserbild und moderner Populärkultur [1 ed.] 9783412520922, 9783412520908

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Caesarenwahn: Ein Topos zwischen Antiwilhelminismus, antikem Kaiserbild und moderner Populärkultur [1 ed.]
 9783412520922, 9783412520908

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Thomas Blank Christoph Catrein Christine van Hoof (Hg.)

CAESARENWAHN Ein Topos zwischen Antiwilhelminismus, antikem Kaiserbild und moderner Populärkultur

Beiträge zur Geschichtskultur begründet von Jörn Rüsen herausgegeben von Stefan Berger, Angelika Epple, Thomas Sandkühler, Holger Thünemann und Marcus Ventzke Band 41

Thomas Blank / Christoph Catrein / Christine van Hoof (Hg.)

Caesarenwahn Ein Topos zwischen Antiwilhelminismus, antikem Kaiserbild und moderner Populärkultur

BÖHLAU VERLAG WIEN ⋅ KÖLN ⋅ WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Tim O’Brien: Hail Trump! (2017) Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52092-2

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Blank / Christine van Hoof / Christoph Catrein Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A

‚Caesarenwahn‘. Ein wilhelminischer Diskurs

Ludwig Quidde, 1858–1941 Caligula. Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn . . . . . . . .

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Erinnerungen des Verfassers. Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im kaiserlichen Deutschland . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich Schlange-Schöningen Caesarismus und ‚Caesarenwahnsinn‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Sittig Zwischen Neurasthenie und Neurose. Zum Einfluss der Psychoanalyse auf den Begriff des ‚Caesarenwahnsinns‘ . . . . . . . 121

Teil B

Antike Vorlagen in heutiger Sicht

Thomas Blank Unbeherrschte Herrscher. ‚Caesarenwahn‘ und antike Tyrannentopik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer ‚Caesarenwahn‘ oder politische Vision? Caligula, Nero, Commodus, Elagabal und die Struktur der römischen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ulrike Wulf-Rheidt † Zwischen volksnahem Princeps und größenwahnsinnigem Herrscher. Die Palastbauten der römischen Kaiser . . . . . . . . . . . 217

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Teil C

Inhalt

Populäre Rezeptionen

Martin Lindner Kaiser im Verbund. Die Archetypen des schlechten Herrschers und die Macht der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Anja Wieber Messalina im Film. ‚Caesarinnenwahnsinn‘ als Lehrstück für Frauen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Sebastian Becker „Caesar aut Nihil“? Alexander VI. Borgia zwischen Caesaropapismus und Größenwahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Sandra Nuy Politik als Kunst? Zur Inszenierung von Adolf Hitler im Film . . . . . 313 Neville Morley Gaius Iulius Caesar Augustus Trump . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Christoph M. Endres Klaatu barada nikto. Wer kontrolliert den Golem? . . . . . . . . . . . . . 357 Index (Personen, Sachen, Orte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Vorwort

Das vorliegende Buch geht im Kern auf eine Ringvorlesung zurück, die im Winter 2015/2016 an der Universität des Saarlandes stattfand. Die Drucklegung wurde durch verschiedene äußere Ereignisse mehrfach verzögert. Umso mehr gilt unser Dank allen Beitragenden für ihre große Geduld in den vergangenen Jahren. Den Herausgeber*innen der Beiträge zur Geschichtskultur danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe. Verlagsseitig haben Kirsti Doepner, Katrin Reineke und Matthias Ansorge die Publikation mit größter Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft unterstützt. Besonders hervorzuheben ist der Einsatz von Mareike-Beatrice Stanke und Lukas Mathieu, die verschiedenste Kommunikationsengpässe beharrlich und stoisch ertragen und sich besonders in die Redaktion und Indizierung der Beiträge außerordentlich gründlich eingebracht haben. Ohne ihre professionelle und akribische Arbeit hätte dieses Buch nicht erscheinen können. Während der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge ist unsere Kollegin Ulrike Wulf-Rheidt am 13. August 2018 unerwartet und tragisch verstorben. Ihrem Ehemann Klaus Rheidt sowie Stephan Zink vom Deutschen Archäologischen Institut danken wir dafür, dass sie es ermöglichten, dass Frau Wulf-Rheidts Beitrag hier postum erscheinen kann. Der Verstorbenen soll dieses Buch gewidmet sein. Mainz und Saarbrücken am 1. November 2020 Thomas Blank, Christoph Catrein und Christine van Hoof

Thomas Blank / Christine van Hoof / Christoph Catrein

Einführung

„This night you shall hear my dirge on the burning Rome.“ Zu den wirkungsmächtigsten modernen Bildern vom römischen Kaisertum gehört Peter Ustinovs Darstellung des Kaisers Nero (Quo Vadis, 1951), der voller Freude Rom niederbrennen lässt, um seine größenwahnsinnigen Ziele der Selbstverwirklichung als Künstler, Kaiser und Gott umzusetzen. Die Vorstellung, dass unumschränkte Macht notwendigerweise zu einer geradezu pathologischen Selbstüberhebung führe, ist im Begriff des ‚Caesarenwahnsinns‘ im deutschsprachigen Raum sprichwörtlich verdichtet. Diese Idee vom ‚Wahnsinn‘ des Autokraten geht maßgeblich auf einen Aufsatz des sozialliberalen Historikers und frühen Friedensaktivisten Ludwig Quidde aus dem Jahr 1894 zurück. Dieser glaubte, in Werken der antiken Biographie und Geschichtsschreibung über römische Kaiser eine Reihe immer gleicher Symptome einer ‚Verrücktheit‘ wahrzunehmen, darunter Prunksucht, Grausamkeit, Theatralität und Selbstüberhebung bis zur Selbstvergottung. Aus dieser Beobachtung schloss er, dass den Symptomen ein echtes pathologisches Phänomen, eine Art ‚Krankheit der Monarchen‘ zugrunde liege, die alle jene Machthaber betreffe, die sich in einer gänzlich autokratischen, das heißt durch keinerlei Kontrollinstanzen gebändigten Position befänden. Die Krankheit sorge dafür, dass negative seelische Eigenschaften in extremer Weise genährt und verstärkt würden, so dass sich im Verhalten tyrannischer Könige und Kaiser gleichsam die Abgründe des Menschseins offenbarten. Quiddes Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn 1 war nicht nur eine ins Bild eines antiken Kaisers transponierte Abrechnung mit dem wilhelminischen Kaiserreich und besonders Wilhelm II. – als solche bedeutete sie für ihn das Ende seiner akademischen Karriere als

1 Quidde 1894; vgl. 311926; Nachdrucke der jüngsten Edition in Wehler 1977 und Holl / Kloft / Fessel 2001.

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Historiker –, 2 sondern stand im Zusammenhang mit einer über das ganze 19. Jahrhundert hinweg im intellektuellen Diskurs zwischen Konservatismus und Liberalismus geführten Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Ordnung, in deren Kontext sich sowohl die Anhänger von Monarchie oder charismatischer Führung (Caesarismus) als auch deren Gegner auf Exempla der römischen Antike beriefen, um ihre Argumente zu untermauern. 3 Vor diesem Hintergrund wurde Quiddes Caligula in breiten Kreisen rezipiert 4 und entfaltete mittelbar eine beachtliche Wirkung, die sich in Produktionen des gebildeten und populären Kulturbetriebs vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart aufzeigen lässt. 5 Quidde war freilich nicht der Erste, der den Topos der monarchischen Verrücktheit propagiert hatte: Immerhin entnahm er den Katalog der von ihm identifizierten Symptome des Wahnsinns bereits (indirekt) den antiken Quellen, in denen das betreffende Verhalten wenigstens in den schillerndsten Farben als deviant und irrational gezeichnet war. 6 Dieselben Quellen boten gerade dadurch, dass sie nonkonforme und auch provokante Formen der kaiserlichen Selbstdarstellung in überspitzter und oft polemischer Weise in zeitgenössische Kategorien des kulturell Abgelehnten einordneten, schon früheren Autoren das topische Material zur Formulierung von Herrscherkritik. 7 Neu bei Quidde (und weniger konzentriert bereits in seiner unmittelbaren Vorlage, Gustav Freytags 1864 erschienenem Roman Die verlorene 2 Dazu Fesser 2001; Kloft 2000, 199; Holl 2007, 93–99; vgl. die zeitgenössischen Besprechungen der Schrift, abgedruckt in Holl / Kloft / Fesser 2001, 164–197 sowie die Einschätzung in der älteren Biographie bei Taube 1963, 4–12; 57–67. 3 Groh 1972; Kloft 2000; Schlünzen 2009; vgl. die Beiträge in Baehr / Richter 2004; in diesem Band den Beitrag von Heinrich Schlange-Schöningen. 4 Die Schrift erreichte allein in den beiden ersten Jahren seit ihrem Erscheinen eine Auflage von über 200.000 Exemplaren und wurde in verschiedene europäische Sprachen übersetzt (vgl. Kloft 2000, 181), letztmalig erschien sie 1926 in 31. Auflage: Quidde 31 1926. Spätere Abdrucke dieser letzten Auflage finden sich in Wehler 1977 und Holl / Kloft / Fesser 2011. Die Abweichungen zu früheren Auflagen sind dort nicht vermerkt. 5 S. dazu z. B. Sittig 2016. 6 Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts und bisweilen bis heute finden sich fragwürdige medizinhistorische Versuche, die (vermeintlich unstrittige) ‚Verrücktheit‘ Caligulas und anderer julisch-claudischer Kaiser auf medizinische Ursachen zurückzuführen, so z. B. Sandison 1958; zuletzt Camargo / Teive 2018; vgl. zur medizinhistorischen Debatte Sidwell 2010. Einen Mittelweg zwischen kulturhistorischem und medizinhistorischem Zugriff wählt Laes 2018, 37–79, der immerhin anerkennt, dass der ‚Wahnsinn‘ eines Caligula ein zeitgenössisches Konstrukt darstellen könnte; zu Begriffen und Konzepten des Wahns und devianten Verhaltens in der antiken Literatur jetzt bes. Sittig 2018, 66–137. 7 Die gründlichste Aufarbeitung dieser Thematik bieten Witschel 2006 und jüngst (in konkreter Anwendung auf Quiddes ‚Caesarenwahn‘-Konzept) Sittig 2018; vgl. zuvor Kloft 2001. Sommer 2012, 78–87 wendet den Begriff des ‚Caesarenwahns‘ in diesem Sinne als emblematische Kategorie für kaiserliches Verhalten an, das den zeitgenössischen Rollenerwartungen widersprach.

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Handschrift) 8 ist hingegen die Verarbeitung dieser Topik als Symptomatik einer psychischen Krankheit – also eines wiederkehrenden und nicht auf Einzelne beschränkten Phänomens. Dieser Schritt machte aus dem für die Denigration Einzelner verwendbaren Material einen Beleg für das Kranken eines ganzen Regimetypus. Zu kritisieren war nun nicht mehr der unglücklicherweise auf den Thron gelangte ‚Wahnsinnige‘; vielmehr war es die Monarchie selbst, die den Wahnsinn zutage treten ließ, indem sie die Anlagen des Einzelnen dazu katalysatorisch verstärkte. Der Umstand, dass diese Fundamentalkritik am monarchischen System zur Zeit des wilhelminischen Imperialismus am Beispiel des nur oberflächlich als ‚Caligula‘ unkenntlich gemachten deutschen Kaisers vorgetragen wurde, begründete sowohl die Brisanz wie auch den Erfolg des kleinen Heftes, das so nicht nur im deutschsprachigen Raum die Vorstellung von der Anfälligkeit von Alleinherrschern für ‚Seelenkrankheiten‘ erheblich mitgeprägt hat. 9 Beeinflusst von den seit jeher verbreiteten Bildern vermeintlich ‚verrückter‘ römischer Kaiser, besonders aber verstärkt durch den Beitrag Quiddes, wird der Typus des autokratischen Machthabers als solcher bis heute in Literatur, Drama und Film regelmäßig mit dem Topos des ‚Wahnsinns‘ verbunden und findet auch in der politischen Gegenwart regelmäßig Anwendung auf Politiker und Potentaten, deren Handlungen und Selbstdarstellung als deviant erscheinen. Die Idee der Verrücktheit verbindet sich dabei insbesondere mit solchen medial vermittelten Repräsentationen von Macht und Machthabern, die von der spezifischen Erwartungshaltung abweichen, mit der die jeweiligen Rezipienten der politischen Kommunikation entgegentreten. So stoßen etwa Elemente der Selbstdarstellung der Kim-Dynastie in Nordkorea, Wladimir Putins in Russland, Recep Tayyip Erdo˘gans in der Türkei oder des 45. US-Präsidenten Donald Trump in weiten Teilen europäischer Gesellschaften auf breites Unverständnis, das gelegentlich in eine Erklärung des jeweiligen Verhaltens mit irrationalen Beweggründen bis hin zur Vorstellung von geistiger Umnachtung der betreffenden Politiker mündet. Dass die Symbolsprache von Auftritten (quasi-)autokratischer Machthaber bei den unmittelbaren Adressaten der jeweiligen Repräsentationshandlung auf ganz andere Rezeptionsbedingungen treffen konnte und kann, wird aus der Warte außenstehender Beobachter nur selten thematisiert oder allenfalls mit mangelnder Bildung der jeweiligen Publika und fehlendem Zugang zu unabhängigen Medien begründet. 10 Befeuert wer8 Freytag 1864; vgl. auch Wiedemeister 1875. 9 Sittig 2018, 31–38. 10 Ein markantes Beispiel bietet etwa die Berichterstattung über die riesigen Repräsentationsbauten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo˘gan, in deren Zusam-

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den solche Sichtweisen zudem durch wiederkehrende und zumeist überaus spekulative Meldungen in den Nachrichtenmedien, wonach historische oder aktuelle Potentaten an pathologisch nachweisbaren oder gar nachgewiesenen psychischen Krankheiten litten, die bestimmte Aspekte ihrer Politik erklären könnten. 11 Offensichtlich ist dabei, dass die Kategorie des Wahnsinns keinen sachlich begründbaren analytischen Wert besitzt, sondern eher als bewusst unscharfes und zudem abwertendes Emblem eingesetzt wird. Zum Verständnis politischer Ereignisse trägt sie gerade nicht bei, sondern kompensiert das Unverständnis, insofern sie suggeriert, dass den Handlungen der betreffenden Machthaber keine rationalen Erklärungen abzugewinnen seien. Je nach Kontext kann also die Topik des autokratischen Wahns ein Mittel sein zur Reduktion von Komplexität im Angesicht des politisch oder menhang regelmäßig von ‚Caesarenwahn‘, Größenwahn oder Prunksucht die Rede ist und Erdo˘gans Türkei als dem Untergang geweihtes Sultanat beschrieben wird, z. B. Seibert, T.: Ein Prunkbau für Erdogan. In: Der Tagesspiegel vom 29. 10. 2014. URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/tuerkei-ein-prunkbau-fuer-erdogan/10901586.html (letzter Zugriff, 13. 02. 2020); Arend, I.: Atatürks späte Rache (Kommentar). In: Der Tagesspiegel vom 10. 04. 2016. URL: https://taz.de/DebatteTuerkei/!5290134/ (letzter Zugriff, 13. 02. 2020); Güsten, S.: Erdogan will sich weiteren Palast errichten lassen. In: Der Tagesspiegel vom 29. 08. 2018. URL: https://www. tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/tuerkei-erdogan-will-sich-weiteren-palast-errichten-lassen/22967032.html (letzter Zugriff, 13. 02. 2020); Mumay, B.: Die einen feiern, die anderen gehen. In: FAZ online vom 13. 09. 2018. URL: https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/brief-aus-istanbul-ein-neuer-palast-fuererdogan-15782733.html (letzter Zugriff, 13. 02. 2020); vgl. auch zum Umgang mit den Demonstrationen am Gezi-Park im Jahre 2014: Nonnenmacher, G.: Erdogans Cäsarenwahn (Kommentar). In: FAZ online vom 16. 05. 2014. URL: http://faz.net/aktuell/ politik/tuerkei-erdogans-caesarenwahn-12943441 (letzter Zugriff, 14. 11. 2019). Auch wissenschaftliche Publikationen haben das ‚Wahnmotiv‘ mittlerweile aufgenommen, so Dreyer 2019, 839: „Die gesamte Anlage verströmt einen Ausdruck von Strenge, Ordnungswahn und unterschwelliger Forderung nach Unterwerfung, der nur gebrochen wird durch die peinliche Anmutung eines parvenuartigen Größenwahns [. . . ].“ 11 Vgl. etwa die Meldungen angelsächsischer Medien im Zuge des Ukraine-Konfliktes, wonach Wladimir Putin laut älterer CIA-Dossiers die Symptome des AspergerSyndroms zeige: Locker, R.: Pentagon 2008 Study Claims Putin Has Asperger’s Syndrome. In: USA Today vom 04. 02. 2015. URL: https://eu.usatoday.com/story/news/ politics/2015/02/04/putin-aspergers-syndrome-study-pentagon/22855927/ (letzter Zugriff: 14. 10. 2020); Yuhas, A.: Pentagon Thinktank Claims Putin Has Asperger’s – Has Putinology Gone Too Far? In: The Guardian am 05. 02. 2015. URL: https://www. theguardian.com/world/2015/feb/05/vladimir-putin-aspergers-syndrome-pentagonstudies (letzter Zugriff: 25. 02. 2016); vgl. die kritischen Reaktionen bei Gilson, D.: The CIA’s Secret Psychological Profiles of Dictators and World Leaders are Amazing. Psychoanalyzing Stringmen, From Castro to Saddam. In: Mother Jones vom 11. 02. 2015. URL: https://www.motherjones.com/politics/2015/02/cia-psychologicalprofiles-hitler-castro-putin-saddam/ (letzter Zugriff: 25. 02. 2016); Maatz, B.: Wie die CIA Psychologen auf Diktatoren ansetzte. In: Zeit online vom 16. 02. 2015. URL: https://blog.zeit.de/teilchen/2015/02/16/cia-psychologische-diagnose-hitler-putingaddafi/ (letzter Zugriff: 25. 02. 2016).

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kulturell als andersartig Empfundenen bzw. Abgelehnten. Sie kann auch fungieren als polemisches Instrument der Diffamierung, mit dessen Hilfe missliebige Politiker entweder durch die Suggestion wahnhaften Verhaltens als Autokraten oder durch die Suggestion autokratischen Gebarens als verrückt gebrandmarkt werden. Das Konzept ‚Caesarenwahnsinn‘ erweist sich mithin über die Antike hinaus als kulturell wirksam und politisch bis heute relevant. Der vorliegende Sammelband versammelt Beiträge zur Untersuchung des Klischees vom ‚Wahnsinn‘ als einer ‚Krankheit von Monarchen‘ sowohl in ihrer historischen Genese als auch in ihrer Wirksamkeit in Erzeugnissen westlicher Populärkultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zielsetzung des Bandes ist dabei nicht die umfassende mediensoziologische, kommunikations- oder politikwissenschaftliche Analyse der Funktionsweisen dieser Idee. Vielmehr soll der Band einen Beitrag zur Aufarbeitung der Thematik in einer historisch-kulturgeschichtlichen Perspektive leisten. Untersucht wird die Anwendung topischer Elemente der Vorstellung vom Wahnsinn der Autokraten, namentlich die kulturelle Nachwirkung des quiddeschen ‚Caesarenwahn‘-Konzepts. Angesichts der Vielzahl der möglichen Untersuchungsgegenstände – sowohl der in Frage kommenden historischen Figuren als auch der Beispiele für die Verarbeitung von deren imago im populären Diskurs verschiedener späterer Epochen – können hierbei nur einzelne Schlaglichter auf die Präsenz, Entwicklung und Wirksamkeit der Topik in der Populärkultur der vergangenen 125 Jahre geworfen werden. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Am Anfang (Teil A) steht die ideengeschichtliche Verortung von Ludwig Quiddes Aufsatz zum ‚Caesarenwahn‘. Neben einem Abdruck dieses Textes inklusive der in der 26. Auflage beigefügten Erinnerungen Quiddes an die Entstehungszeit der Schrift wird in zwei Beiträgen auf die Einflüsse eingegangen, die der intellektuellpolitische sowie der psychologische Diskurs des späten 19. Jahrhunderts auf Quiddes These ausübten. Heinrich Schlange-Schöningen stellt in seinem Grundlagenbeitrag Gustav Freytags Roman Die verlorene Handschrift vor, der für die Begrifflichkeit ‚Caesarenwahnsinn‘ prägend war und dem darin geschilderten scheinbaren Krankheitsbild zu weiter Verbreitung verhalf. Nicht minder wirkmächtig war die etwas früher aufgekommene politische Leitidee des ‚Caesarismus‘, die wesentlich auf Theodor Mommsens überaus positivem Bild von Caesar als genialischem „Volkskönig“ fußte. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die große Verbreitung erklären, die Ludwig Quiddes Aufsatz über Caligula erfuhr, in dem kaum verhüllt satirisch Kaiser Wilhelm II. und das monarchische System angegriffen wurden.

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Die Vorstellung, dass Herrscher aufgrund ihrer vollkommenen Macht einer spezifischen Form von Wahnsinn verfallen konnten, hatte jedoch zu dieser Zeit bereits eine lange Tradition. Sie lässt sich bei antiken Geschichtsschreibern greifen, lebte im 18. Jahrhundert wieder auf und fand im 19. Jahrhundert in zahlreichen französischen und deutschen historischen Schriften einen Niederschlag. Ohne Ergebnis diskutiert wurde im 19. Jahrhundert insbesondere, ob es sich um eine physiologische oder psychologische Erkrankung handelte, ob soziale Faktoren oder körperliche Ursachen dahinter zu vermuten waren. Mit eben diesen medizinischen Aspekten des ‚Caesarenwahnsinns‘ beschäftigt sich Florian Sittig. Er kann zeigen, dass sich zwischen dem von Quidde geschilderten Geisteszustand und dem am Ende des 19. Jahrhunderts populären Krankheitsbild der Neurasthenie strukturelle Ähnlichkeiten erkennen lassen, dass also Quiddes Schilderung im Kontext der zeitgenössischen fachwissenschaftlichen Diskussion der Psychopathologie zu sehen ist. Vor diesem Hintergrund untersucht Sittig, welchen Einfluss Sigmund Freud auf die wissenschaftliche Psychopathologie hatte und wie sich seine Arbeiten auf die Verwendung des Begriffes ‚Caesarenwahnsinn‘ auswirkten. Der zweite Abschnitt des Bandes (Teil B) widmet sich den antiken Informationen, die Quidde für sein Konzept verarbeitet hat. Bei aller Satire auf das wilhelminische Kaiserreich, die Quiddes Text enthält, basiert dessen Beschreibung von Caligula/Wilhelm II. vollständig auf authentischem antikem Quellenmaterial. Gut 120 Jahre altertumswissenschaftlicher Forschung haben seither zahlreiche Grundannahmen, auf die Quidde sich stützen zu können glaubte, nachhaltig erschüttert. Dazu gehören sowohl Fragen der Quellenkritik und der Zuverlässigkeit antiker Historiographie als auch Probleme der Einordnung kaiserlichen Verhaltens in soziopolitische Handlungs- und Kommunikationsmuster antiker Kulturen. Die Beiträge dieses Abschnittes arbeiten daher zum einen topische Elemente der antiken Kaiserbiographien heraus. Zum anderen werden einzelne Symptome des Wahns, die Quidde beschrieb, mit dem Stand der aktuellen altertumswissenschaftlichen Forschungen zu den jeweils zugrunde liegenden Quellenberichten über das Verhalten römischer Kaiser konfrontiert. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Thomas Blank mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen der ‚Caesarenwahn‘-Topik, die er im Kern auf ein politisches Konzept der griechischen Philosophie zurückführt, bei dem ‚gute‘ Könige und ‚böse‘ Tyrannen einander gegenübergestellt werden. Die Stereotypisierung römischer Kaiser nach diesen Maßstäben bildete sich in der frühen Kaiserzeit heraus, vor allem in den Umbruchzeiten nach

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dem Ende des julisch-claudischen Kaiserhauses und später der flavischen Dynastie, da die jeweiligen neuen Herrscher sich nicht mehr unmittelbar dynastisch legitimieren konnten und deswegen auf andere Strategien zurückgreifen mussten. Sie rekurrierten dabei vornehmlich auf die Herrschaftspraxis älterer Dynastiegründer und kontrastierten deren Verhalten mit dem derjenigen Vorgänger, deren öffentliche imago sich infolge ihres manifesten Scheiterns am leichtesten rückwirkend steuern ließ. So entstand bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts ein topischer Katalog einerseits der positiven Eigenschaften eines Kaisers, andererseits auch eine dieser entgegengesetzte Dystopie kaiserlicher Herrschaft. Die Psychologie des schlechten Kaisers lässt sich einerseits auf literarische Vorbilder seit der griechischen Tragödie zurückführen, steht andererseits aber auch unter dem Einfluss der in der griechischen Philosophie weiterentwickelten Tyrannentopik. Quidde scheint bei seiner Rezeption zwar das Urteil der kaiserzeitlichen Historiographen übernommen zu haben, aber auch in seiner eigenen Verarbeitung dieser Vorlagen wiederum geprägt zu sein von der politischen Philosophie, die diesem römischen Tyrannenbild zugrunde lag. Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer stellt in seinem Beitrag zunächst knapp die ‚wahnsinnigen‘ Protagonisten vor, die in der späteren Rezeption besonderes Gewicht hatten: Caligula, Nero, Commodus und Elagabal. Sein Beitrag erläutert daraufhin die Neubewertung des (vermeintlichen) Phänomens ‚Caesarenwahn‘ in der historischen Forschung der Jahre ab 1990, die sich von dem seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden psychopathologischen Erklärungsansatz wie auch von einer politisch-anthropologischen Deutung löste. Neue Forschungsansätze erklären das Handeln der Kaiser religionspolitisch als Folge einer Hinwendung zu sogenannten orientalischen Göttern und der damit verbundenen gottgleichen Interpretation der Herrscherrolle. Darüber hinaus wurden die antiken historiographischen Quellen intensiv auf Elemente der Tyrannentopik hin untersucht. Es zeigte sich dabei, dass die historiographische Überlieferung den Fokus sehr stark auf Konflikte zwischen Kaiser und senatorischer Oberschicht legte und das übrige Regierungshandeln vernachlässigte. Diese Lücke in der antiken Geschichtsschreibung versuchte man durch das Heranziehen anderer Quellengattungen wie z. B. Inschriften und Münzen zu schließen. Über diese intensive Quellenuntersuchung hinaus entwickelten schließlich Egon Flaig und Aloys Winterling neue – und inzwischen allgemein anerkannte – Erklärungsmodelle zur Konzeption der römischen Monarchie, in denen sie das überlieferte Agieren der Kaiser soziologisch als gestörte Kommunikation zwischen den Herrschern und verschiedenen Gruppen der Bevölkerung des Imperium Romanum interpretierten. Mit den Auswüchsen der luxuria, einem immer wieder bei der Beurteilung römischer Kaiser herangezogenen Tyrannentopos, setzt sich Ulrike

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Wulf-Rheidt (†) auseinander. Sie konzentriert sich dabei auf kaiserliche Bauten in Rom und darunter vorrangig auf Palastbauten. Deren Entwurf war ein schwieriger Balanceakt. Sie sollten einerseits der Repräsentation des Kaisers als Mitglied der Senatsaristokratie, als primus inter pares, dienen, gleichzeitig aber auch die herausragende politische Macht des Herrschers und seine ökonomische Präpotenz widerspiegeln. In einem Vergleich der Bautätigkeit positiv beurteilter Kaiser wie Augustus, Trajan oder Hadrian mit der von Caligula oder Nero zeigt sich die Ambivalenz in der Beurteilung von Großbauten, die in engem Zusammenhang mit der Gesamteinschätzung von Regierungsmaßnahmen steht. Im dritten Abschnitt des Bandes (Teil C) wird schließlich die kulturelle Wirksamkeit der Idee vom ‚Caesarenwahnsinn‘ untersucht, wobei ein Schwerpunkt auf der filmischen Rezeption liegt. Betrachtet und analysiert werden zum einen topische Elemente der Darstellung von Herrschertypen, zum anderen konkrete Fallbeispiele der Darstellung bestimmter historischer Figuren aus Antike, Neuzeit und (Post-)Moderne. Als „Kaiser im Verbund“ bezeichnet Martin Lindner das Phänomen, dass in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts schlechte Kaiser häufig nicht getrennt voneinander, sondern als in ihren Eigenschaften kombinierte Herrscher rezipiert werden. Er exemplifiziert diesen Befund unter anderem an dem Roman The Robe von Lloyd C. Douglas und der Rolle, die Caligula darin spielt: In seiner Darstellung als Christenverfolger nimmt der Kaiser unübersehbar Eigenschaften Neros an. Dies wird auch in der gleichnamigen Verfilmung des Romans sowie in dem daran anschließenden Fortsetzungsfilm Demetrius and the Gladiators deutlich. Die Amalgamierung von Caligula und Nero zu einem kaiserlichen ‚Extremschurken‘ („Verbundkaiser“) wird von Lindner anhand weiterer Beispiele aus Filmen und einer Reihe anderer Medien (Spiele, Musikstücke, Comicstrips und Graphic Novels) nachgezeichnet. Anja Wieber stellt in ihrem Beitrag die Frage, ob auch antike Frauengestalten als Trägerinnen der Symptome des ‚Caesarenwahnsinns‘ in den Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts vorkommen. Bei Quidde spielen diese keine Rolle und sind auch sonst selten ‚Akteure‘ des ‚Caesarenwahnsinns‘, meistens Opfer oder intrigante Einflussnehmerinnen auf die Politik ihrer kaiserlichen Söhne oder Ehemänner. Konkret befasst Wieber sich mit Messalina und ihrer Nachwirkung in der Populärkultur und untersucht vornehmlich anhand einer Verfilmung von 1959/1960 (Messalina Venere Imperatrice) das Bild, das im Kino von dieser ‚Kaiserin‘ erzeugt wird. Sebastian Becker analysiert die Darstellung von Papst Alexander VI. Borgia in verschiedenen Filmfassungen, vor allem in zwei nahezu gleichzeitig produzierten neueren Fernsehserien. Hier führen die filmischen

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Adaptionen ein Borgiabild weiter, das bereits in den zeitgenössischen Quellen vorgeformt ist: das Bild eines kindischen, machtbesessenen, grausamen und sexuell enthemmten Gewaltherrschers. Die Parallelen zu den von Quidde genannten Symptomen sind bemerkenswert deutlich, ohne dass an irgendeiner Stelle explizit von ‚Caesarenwahn‘ die Rede wäre oder das Verhalten des berüchtigten Papstes in anderer Weise als kohärentes Krankheitsbild angesehen würde. Gerade das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme bezeugt aber die bemerkenswerte Wirkungsmacht des Erklärungsansatzes ‚Caesarenwahn‘: Becker sieht in ihm das unausgesprochene verbindende Element zur Erklärung der Figur Alexander VI. Sandra Nuy wendet sich in ihrem Beitrag der Person zu, an die man beim Thema ‚Caesarenwahn‘ in der jüngeren Vergangenheit wohl als Erstes denkt. Sie untersucht filmische Repräsentationen von Adolf Hitler, bei denen sie unterschiedliche „Grunddramaturgien“ ausmacht (Hitler als das personifizierte Böse, Hitler als Witzfigur sowie – vor allem bei Filmen, die die frühen Jahre Hitlers in den Blick nehmen – Hitler als „Jedermann“). Besonderes Augenmerk richtet sie auf ein narratives Muster, das Politik und Künstlertum in der Filmpersona Adolf Hitlers miteinander verwebt, und stellt die Frage, inwieweit diese Kombination von Politik und Kunst das Bild des Diktators prägt. Ausgehend von dem Befund, dass Donald Trump – in Medien aller Art und politischer Richtung – überaus häufig mit römischen Kaisern in einem Atemzug genannt wird, analysiert Neville Morley die Eigenart solcher Vergleiche, die auch von angesehenen Journalisten und Historikern angestellt werden. Morley spricht von einem „dramatischen Diskurswechsel“, der allerdings verschiedene Ursachen haben kann: Nicht nur die solche Vergleiche herausfordernden Eigenschaften Donald Trumps, sondern auch eine allgemeine Tendenz, die Vereinigten Staaten als „Imperium im Niedergang“ mit dem Römischen Reich zu vergleichen, könnten angeführt werden. Morley geht in seinem Beitrag von einem Ursachenbündel aus: die naheliegende Verunglimpfung Trumps durch seine Gegner als ‚zweiter Nero‘ u. Ä. wird flankiert unter anderem von Diskursen der Selbstberuhigung (das schlimme Ende der schlimmen Kaiser macht Hoffnung auf Besserung der Lage) und analytischer Überlegenheit (der Rekurs auf historische Parallelen führt – scheinbar – zu einem besseren Verständnis der Gegenwart). Paradoxerweise kann die historische Forschung, die die ‚schurkischen Kaiser‘ in den letzten Jahren z. T. auch teilweise rehabilitiert hat, von Anhängern Trumps auch dahingehend instrumentalisiert werden, dass ein Vergleich mit diesen Herrschern sogar als Kompliment angesehen werden kann. Den Abschluss bildet ein Beitrag, der sich mit der Übertragung der historisch hergeleiteten Topik auf Zukunfts-Narrative befasst: Christoph

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Endres geht es um den ‚Caesarenwahnsinn‘ nicht von Menschen, sondern von Maschinen. Er ordnet das Bild des bösen, sich verselbständigenden und nicht mehr beherrschbaren Roboters bzw. Computers in die Geschichte der Science-Fiction-Literatur ein. Er skizziert die rapide Entwicklung der Künstlichen Intelligenz, die vielfach als Bedrohung empfunden wird, und gibt in einem Ausblick eine Einschätzung der tatsächlichen Gefahren unter anderem durch die Entwicklung autonomer Waffen. Sein optimistisches Fazit lautet allerdings, dass die Computertechnik vor allem neue Möglichkeiten biete – als Caesarenwahn titulierbare Devianz wird auf absehbare Zeit eine Domäne menschlicher ‚Caesaren‘ bleiben.

Bibliographische Hinweise Baehr, P. / Richter, M. (Hgg.) 2004: Dictatorship in History and Theory. Bonapartism, Caesarism and Totalitarianism. Cambridge. Camargo, C. H. F. / Teive, H. A. G. 2018: Searching for Neurological Diseases in the Julio-Claudian Dynasty of the Roman Empire. In: Arquivos de neuropsiquiatria 76, 53–57. Dreyer, C. 2019: Rhetorik und politische Architektur, in: Burckhardt, A. (Hg.): Handbuch politische Rhetorik. Berlin (Handbücher Rhetorik, 10), 813–854. Fesser, G. 2001: Der zeitgenössische Diskurs über die ‚Caligula‘-Schrift. In: Holl, K. / Kloft, H. / Ders. (Hgg.): Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Bremen, 153–163. Freytag, G. 1864: Die verlorene Handschrift. Roman in 5 Büchern. Leipzig. Groh, D. 1972: s. v. Cäsarismus. In: Brunner, O. / Conze, W. / Koselleck, R. (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe 1, 726–771. Hampl, F. 1966: ‚Cäsarenwahnsinn‘. Eine Betrachtung über Herkunft, Inhalt und Bedeutung eines fast vergessenen Begriffs. In: Corolla memoriae Erich Swoboda dedicata. Graz / Köln (Römische Forschungen in Niederösterreich, 5), 126– 136. Holl, K. / Kloft, H. / Fesser, G. (Hgg.) 2001: Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Bremen. Holl, K. 2007: Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie. Düsseldorf (Schriften des Bundesarchivs, 67). Kissel, T. 2006: Kaiser zwischen Genie und Wahn. Caligula, Nero, Elagabal. Düsseldorf. Kloft, H. 2000: Caligula. Ludwig Quidde und der Caesarenwahnsinn. In: Effe, B. (Hg.): Genie und Wahnsinn. Konzepte psychischer ‚Normalität‘ und ‚Abnormität‘ im Altertum. Trier (Bochumer altertumswissenschaftliches Kolloquium, 46), 179–204. Kloft, H. 2001: Caligula. Ein Betriebsunfall im frühen Prinzipat. In: Holl, K. / Ders./Fesser, G. (Hgg.): Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Bremen, 89–116.

Einführung

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Laes, C. 2018: Disabilities and the Disabled in the Roman World. A Social and Cultural History. Cambridge. Quidde, L. 311926: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. 31. Aufl. ergänzt durch: Erinnerungen des Verfassers. Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus. Berlin. Schrömbges, P. 1988: Caligulas Wahn. Zur Historizität eines Topos. In: Tyche 3, 171–190. Sidwell, B. 2010: Gaius Caligula’s Mental Illness. In: The Classical World 103, 183– 206. Sittig, F. 2016: Caesarenwahnsinn, Professorenwahnsinn, Volkswahnsinn – Gebrauchsanweisung für eine historische Analysekategorie. In: Schuol, M. / Wendt, C. / Wilker, J. (Hgg.): Exempla imitanda. Mit der Vergangenheit die Gegenwart bewältigen? Göttingen, 229–248. Sittig, F. 2018: Psychopathen in Purpur. Julisch-claudischer Caesarenwahnsinn und die Konstruktion historischer Realität. Stuttgart (Historia Einzelschriften, 249). Sommer, M. 2012: Narren im Purpur. Lebensbilder aus der Antike. Darmstadt. Taube, U.-F. 1963: Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland. Kallmünz (Münchener historische Studien, Abt. Neuere Geschichte, 5). Wehler, H.-U. (Hg.) 1977: Ludwig Quidde. Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus. Frankfurt a. M. Wiedemeister, F. 1875: Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Imperatorenfamilie geschildert an den Kaisern Tiberius, Caligula, Claudius, Nero. Hannover. Winterling, A. 2008: Caesarenwahnsinn im Alten Rom. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2007, 115–139. Witschel, C. 2006: Verrückte Kaiser? Zur Selbststilisierung und Außenwahrnehmung nonkonformer Herrscherfiguren in der römischen Kaiserzeit. In: Ronning, C. (Hg.): Einblicke in die Antike. Orte – Praktiken – Strukturen. München (Münchner Kontaktstudium Geschichte, 9), 87–129. Yavetz, Z. 1996: Caligula, Imperial Madness, and Modern Historiography. In: Klio 78, 105–129.

Teil A ‚Caesarenwahn‘. Ein wilhelminischer Diskurs

Ludwig Quidde, 1858–1941

Caligula Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinni

Vorwort zur 31. Auflage [1] Die Schrift von 1894 ist trotz ihrer dreißig Auflagen seit vielen Jahren vergriffen. Seit dem Zusammenbruch 1918 bin ich immer wieder aufgefordert worden, eine neue Ausgabe zu veranstalten, natürlich (wie meist hinzugefügt wurde) mit einem erläuternden Bericht über die Bedeutung und die Schicksale der Schrift. Ich habe mich lange dagegen gesträubt. Mein erster Grund, solche Aufforderungen abzulehnen, lag in der geänderten Stellung zu Kaiser Wilhelm. Seit dem teilweisen Unrecht und der schweren Demütigung, die er 1908 nach dem Daily-Telegraph-Interview erlitten hatte, hatte ich die Waffen gegen ihn gesenkt. Ich war nicht unter seine Verteidiger gegangen; aber ich enthielt mich des Angriffs. Auch sprach bei mir zu seinen Gunsten, wie er 1911 der infamen Kriegshetze der Alldeutschen standgehalten hatte. Während des Krieges mußte ich ihn sogar gegen ungerechte Vorwürfe verteidigen. Die Forderung der Entente, ihn als Kriegsverbrecher auszuliefern, habe ich als eine dem deutschen Volk angesonnene Schmach betrachtet. Seit seiner Flucht nach Holland i Der wiedergegebene Text ist der letzten von Quidde autorisierten Auflage entnommen: Quidde., L. (311926): Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn. Ergänzt durch Erinnerungen des Verfassers – Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus, Berlin [orig.: Leipzig 1894]. Schreibweisen und Abkürzen der Originalvorlage wurden im Folgenden samt etwaiger Inkonzinnitäten und Verschreibungen (z. B. in Zitaten aus antiken Texten) belassen, mit Ausnahme der Zitationskürzel antiker Literatur, die an das Schema des vorliegenden Bandes angepasst wurden. Die Zitate selbst werden in Quiddes Wortlaut und Orthographie wiedergegeben. [Ziffern] im Haupttext geben die originale Paginierung wieder. Arabisch bezifferte Anmerkungen entstammen dem Original Quiddes, solche in römischen Ziffern stammen von den Herausgebern des vorliegenden Bandes.

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war er kein Faktor mehr von irgendwelcher Bedeutung für unser öffentliches Leben, und es schien mir unwürdig, dem Gestürzten noch Steine nachzuwerfen, zumal da es Einen ekeln konnte, wie viele von denen, die ihm vorher schmeichelten, nun über ihn herfielen. Dieses Bedenken wurde stark erschüttert, als er mit seinem mehr als anfechtbaren Erinnerungswerk in die öffentliche Diskussion eingriff, es schwand vollends, als der Kaiser sich unentwegt huldigen ließ und solche Huldigungen durch seine Haltung ermutigte, vor allem aber, als die monarchistische Agitation, die auf Rückführung der Hohenzollern gerichtet ist, immer ungescheuter sich breit machte. Es gab ein zweites Bedenken: die Frage, ob die Neuausgabe auf Interesse und Verständnis rechnen könne. Einer meiner Freunde warnte: Die Schrift sei schon fast legendarisch geworden; die Leute erinnerten sich, daß ich vor mehr als 30 Jahren den Caligula veröffent-[2]licht habe, und daß das eine fast prophetische Warnung an das deutsche Volk gewesen sei; die jüngere Generation werde die Schrift nicht mehr verstehen und schätzen können. Es würde die Wirkung nicht stärken, sondern abschwächen, wenn sie jetzt wieder leibhaftig vor die Augen der Leser komme. Auch dieses Bedenken erledigte sich, und zwar auf dem Wege des Experiments. Wenn junge Leute mich um die Schrift baten, lieh ich sie ihnen und warnte sie, sie würden wohl nichts darin finden und wahrscheinlich nicht verstehen, weshalb sie ihrerzeit ein solches Aufsehen gemacht habe. Regelmäßig sprachen die Empfänger, wenn sie die Schrift zurückbrachten, von dem starken Eindruck, den sie davon empfangen hätten. Die noch zurückgebliebenen Hemmungen wurden überwunden durch die Erwägung, daß wir jetzt in einem Entscheidungskampf zwischen der Republik und der monarchistischen Bewegung stehen. Nicht, daß es entscheidend wäre, ob am 20. Juniii die 20 Millionen Stimmen erreicht werden. Ich bin gewiß Republikaner und doch ein Gegner der entschädigungslosen Enteignung. Aber die Frage ist, ob nicht, nachdem der Reichstag so kläglich versagt hat, das Ja beim Volksentscheid das geringere Übel ist. Wird der zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf angenommen, so bleibt es ja den Ländern unbenommen, aus freien Stücken den Angehörigen der Dynastien angemessene Abfindungen zu gewähren. Entscheidend aber ist, daß die Hunderte von Millionen aus unserem verarmten Land nicht in die Hände der Hohenzollern und der Koburger kommen dürfen, um dort vielleicht als Mittel zur Nährung des Kampfes gegen die Republik verwandt zu werden.

ii Quidde spielt auf die im Frühsommer 1926 bevorstehende Volksabstimmung über die ‚Fürstenenteignung‘ an.

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In dieser Lage ist es Pflicht jedes Republikaners, die Revision der monarchischen Gesinnung, zu der die ungeheuerlichen Ansprüche der entthronten Herrscherhäuser bei Millionen von Mitbürgern endlich Anlaß gegeben haben, zu fördern und dazu beizutragen, daß auch nach etwaigem Mißerfolg des Volksbegehrens der Reichstag ein Gesetz verabschiedet, das den Fürsten geben möge, was ihnen billigerweise zukommt, aber dem Volke sichert, was des Volkes ist. Den Wiederabdruck der Schrift habe ich mit viel umfangreicheren Darlegungen begleitet: mit Erläuterungen, die zu einem Versuch der Charakteristik Wilhelms II. angewachsen sind, und mit persönlichen Erinnerungen. Ich hoffe, der Leser wird sie zum Teil lehrreich finden, da sie ihn in die früheren Zustände versetzen, zum Teil auch unterhaltsam, und deshalb die Verbindung der verschiedenartigen Bestandteile zu einem Ganzen billigen. Pfingsten 1926.

L. Quidde.

Caligula. Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn [3] Gajus Cäsar, bekannt unter seinem Beinamen Caligula (d. h. Stiefelchen), war noch sehr jung, noch nicht zum Manne gereift, als er unerwartet zur Herrschaft berufen wurde. Dunkel und unheimlich waren die Vorgänge bei seiner Erhebung, wunderbar die früheren Schicksale seines Hauses. Fern von der Heimat war der Vater noch in der Blüte seiner Jahre einem tückischen Geschick erlegen, und im Volke sprach man viel von geheimnisvollen Umständen dieses Todes; man schreckte vor den schlimmsten Beschuldigungen nicht zurück, und bis in die Nähe des alten Kaisers wagte sich der Verdacht. 1 Dem Volke war sein Liebling mit ihm genommen; einer Popularität wie kein anderes Mitglied des Kaiserhauses hatte er sich erfreut. 2 Dem Soldaten war er vertraut aus vielen Feldzügen, in denen er mit dem gemeinen Mann die Beschwerden des Krieges geteilt hatte, die deutschen Lande – die Gegenden am Rhein waren voll seines Namens. Doch nicht nur als Kriegsheld war er dem Volke erschienen; er war im besten Sinne populär gewesen. Sein Familienleben, die Schar seiner Kinder, 3 die schlichte bürgerliche Art, 4 der freundliche Gleichmut in allen Lagen, das 1 Vgl. Cass. Dio 57,18 (= Zon. 11,5). Tac. ann. 2,72 und 3,16. Suet. Cal. 1 f. Plin. nat. 11,71. 2 Tac. ann. 1,7; 1,33. 2,13. Suet. Cal. 3 f. Cass. Dio 57,18. 3 Es waren im ganzen neun Kinder gewesen; zwei starben ganz klein, ein drittes, ein besonders vielversprechender reizender Knabe, wurde auch noch im zarten Alter den Eltern entrissen, sechs Kinder dagegen überlebten den Vater (s. Suet. Cal. 7). 4 Suet. Cal. 3, auch Tac. a. a. O.

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gewinnende Scherzwort in seinem Munde 5 hatten ihm wie die Soldaten auch die Bürger verbunden. Solange der alte Kaiser lebte, war er freilich, so hohe Ämter ihm auch übertragen wurden, für die wichtigsten Fragen der inneren Politik bei aller Schaffenskraft und Schaffenslust zur Untätigkeit verdammt; wäre er aber zur Regierung gekommen, so hätte man freiere, glücklichere Tage von ihm erwarten dürfen, die Be-[4]seitigung des dumpfen Druckes, der auf dem ganzen Reiche lastete. So war die Hoffnung einer ganzen Generation mit Germanicus ins Grab gesunken. Von diesem Liebling des Volkes strahlte ein Schimmer von Popularität auch auf den Sohn hinüber, 6 der freilich sonst ganz unähnlich seinem Vater heranwuchs, vielleicht der stolzen und leidenschaftlichen Mutter 7 ähnlicher, die die an sich nicht leichte Stellung ihres Gatten gewiß oft noch erschwert hatte, und zugleich bevorzugt von dem alten Kaiser, der des Germanicus Gattin und Kinder mit Haß und Argwohn verfolgte, für Gajus aber eine gewisse Zuneigung gehegt zu haben scheint, vielleicht nur, weil er das gerade Widerspiel des ihm so unsympathischen Vaters in ihm sah. Zur Regierung gelangt, war der junge Kaiser für alle zunächst eine unbekannte, noch rätselhafte Erscheinung. Wohl hatte man gewiß in den letzten Jahren allerhand Mutmaßungen über ihn verbreitet, Günstiges und Ungünstiges; man rühmte, so dürfen wir annehmen, aus wie hartem Holze dieser Jüngling geschnitzt sein müsse, der sich unter so schwierigen Verhältnissen zu behaupten gewußt hatte, man fürchtete vielleicht seinen Eigenwillen, die Neigung zum Mißbrauch einer so großen Gewalt, die Einwirkung unreifer persönlicher Ideen, man wußte auch allerhand von einer früh hervorgetretenen Brutalität zu erzählen; vor allem aber überwog gewiß die Auffassung, daß seine jungen Jahre fremden Einflüssen leicht zugänglich sein würden; man durfte darauf rechnen daß zunächst die Regierungsgewalt des allmächtigen Garde-Präfekten noch gesteigert werden würde; war doch der junge Kaiser, wie alle Welt behauptete, diesem ganz besonders verpflichtet! 8 Von vielen dieser Dinge, die man erwarten und fürchten mußte, geschah nun so ziemlich das Gegenteil. Der leitende Staatsmann scheint sehr bald in Ungnade gefallen zu sein, sein Einfluß trat ganz zurück, der Kaiser nahm selbst die Zügel der Regierung in die Hand und begann sogleich sein eigenstes Regiment. Das Volk jubelte ihm zu; 9 denn wie eine Erlösung ging 5 6 7 8 9

Patientiam, comitatem, per seria per jocos eundem animum. Tac. ann. 2,13. Suet. Cal. 9,13. Ios. ant. Iud. 18,6,8. Tac. ann. 2,72. 4,52 f. Phil. legat. ad Gaium 6. Suet. Cal. 12. Cass. Dio 58,28; 59,10. Tac. ann. 6,56. Suet. Tib. 75. Cal. 13. Phil. legat. ad Gaium 2; 6.

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es bei dem Regierungswechsel durch alle Kreise, eine Ära der Reformen schien zu beginnen und für liberale Gedanken eine freie Bahn sich zu eröffnen. 10 So vielversprechend waren die Anfänge des Caligula, der als Sohn des zu früh dahingeopferten Germanicus und der Agrippina im Jahre 37 n. Chr. seinem Großoheim, dem Tiberius, nachfolgte und nun durch sein Auftreten die Welt in Erstaunen setzte. [5] Daß der unter Tiberius zuletzt allmächtige Minister und Prätorianer-General Macro, an dessen Hand Caligula doch zum Throne emporgestiegen war, anscheinend alsbald beiseite geschoben wurde, ist schon erwähnt. Diese Emanzipierung des jungen Kaisers schien zugleich eine Änderung der Regierungsgrundsätze zu bedeuten. 11 Alte Forderungen der liberalen Elemente wurden erfüllt. Vor allem wurde dem politischen Leben wieder mehr Freiheit gelassen. Caligula schien Ernst machen zu wollen mit Beobachtung gewisser Verfassungsformen, die unter Tiberius in Verfall geraten waren; bei Feststellung des Budgets und des Militäretats schien er der öffentlichen Meinung mehr Einfluß zu gönnen; 12 das freie Wahlrecht der Volks-Comitien schien wieder aufzuleben; 13 gegen das Delatorenunwesen, das etwa politischem Lockspitzeltum unserer Tage vergleichbar ist, wurde eingeschritten 14 und damit das öffentliche wie das private Leben von einem seiner schlimmsten Schäden befreit, die Schriften des Labienus, des Cremutius Cordus und des Cassius Severus, die als staatsgefährlich verboten waren, wurden wieder freigegeben, 15 politische Gefangene mit einer Amnestie bedacht, Prozesse wegen Majestätsbeleidigung niedergeschlagen und die Gesetze, die dieses Vergehen mit schweren Strafen bedrohten, außer Anwendung gesetzt. 16 Auch drückende Steuern, die gerade den kleinen Verkehr der breiten Massen drückten, wurden erlassen und Erleichterungen zugunsten der ärmsten Klassen bei der Getreideversorgung eingeführt – von den Spielen, die Caligula nach dem alten Rezept „panem et circenses“ in Aufschwung brachte, zu schweigen. So schien mit der größeren Freiheit auch eine Ära der sozialen Reformen oder doch einer volkstümlichen Behandlung wirtschaftlicher Fragen heraufzuziehen.

10 Cass. Dio 59,3: δηµοκρατικώτατός τε γάρ εἶναι τὰ πρῶτα δόξας. 11 Auch Ranke meint in seiner Weltgeschichte 3, S. 91, daß die Beseitigung des Präfekten Macro, die so gewaltiges Aufsehen in der Welt machte, eine Änderung des Systems zu bedeuten schien. 12 Suet. Cal. 16. Cass. Dio 59,9. 13 Ebendort. 14 Suet. Cal. 15. 15 Suet. Cal. 16. 16 Cass. Dio 59,6. Suet. Cal. 15.

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Aber schon in diesen ersten Anfängen des Caligula, während der Jubel eines leicht zum Beifall begeisterten Volkes ihn umgab, werden vorsichtige Beobachter sich sorgende Gedanken gemacht haben. *** Es war das berauschende Gefühl der Macht, das Bewußtsein, nun plötzlich an erster Stelle zu stehen, der Wunsch, etwas Großes zu wirken, und vor allem der Trieb, in der Weltgeschichte zu glänzen, [6] was den Caligula zeitweilig über sich selbst hinaufhob. Ihn packte in dieser so außerordentlichen Veränderung seines Lebens der Ehrgeiz, sich nun durch etwas hervorzutun, was ihm im Grunde fremd war, durch Freisinn und Pflege des Gemeinwohls. Zugleich aber zeigten sich gar bald bedenkliche Eigenschaften. Es fehlte das feste Fundament einer in inneren Kämpfen gewonnenen ausgeglichenen Lebensanschauung; die Haupttriebfeder seiner Handlungen war nicht der Wunsch, Gutes zu schaffen, sondern der Ehrgeiz, als Förderer populärer Bestrebungen bewundert zu werden und als großer Mann auf die Nachwelt zu kommen; 17 der durchgehende Charakterzug seiner Maßregeln war eine nervöse Hast, die unaufhörlich von einer Aufgabe zur andern eilte, 18 sprunghaft und oft widerspruchsvoll, und dazu eine höchst gefährliche Sucht, alles selbst auszuführen. Die Kaltstellung des Macro, von der wir schon sprachen, ist wesentlich unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Zwar scheint es, daß die Beziehungen zwischen den beiden Männern nicht ganz oder doch nicht für immer abgebrochen wurden; denn Macro kam in die Lage, dem jungen Kaiser Rat zu erteilen, ihm Mäßigung und Besonnenheit anzuempfehlen. 19 Doch bekam ihm seine Warnerrolle schlecht; er erregte nur den höchsten Zorn des Kaisers, der sich dann in blutigem Wüten gegen ihn und seine Familie wandte. 20 Die dankvergessene Behandlung des Macro wird unter den Umständen, die die Popularität des Caligula erschüttert haben, besonders namhaft gemacht. Die Zurückdrängung des Mannes, der zunächst zur Leitung der Staatsgeschäfte berufen gewesen wäre, erwies sich bald als ein Vorgang, der nicht etwa in einem Gegensatz der beiden Persönlichkeiten, sondern in der ganzen Art Caligulas seinen Grund hatte. Von hochgestellten Männern, die unter ihm wirklich einflußreich gewesen waren, hören wir gar nichts.

17 Vgl. die charakteristische Äußerung bei Suet. Cal. 16: quando maxime sua interesset ut facta quaeque posteris tradantur. 18 Cass. Dio 59,4: ὀξύτατά τε πρὸς πράξεις τινὰς ἐφέρετο καὶ νωθέοτατα ἔστιν ἅς αὐτῶν µετεχειρίζετο. 19 Phil. legat. ad Gaium 7. 20 Phil. legat. ad Gaium 8. Suet. Cal. 26. Cass. Dio 59,10.

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Der Kaiser konnte keine selbständige Kraft neben sich ertragen – er wollte sein eigener Minister sein, und nicht nur das: auf jedem Gebiete auch selbständig eingreifen. Dazu aber fehlte es seiner im Grunde beschränkten Natur, auch ehe dieselbe zu Schlimmerem ausartete, an Kenntnissen und an Talent, an Ruhe und Selbstzucht. Bald trat sehr viel Ärgeres hervor. Sein rücksichtsloser Eigenwille, 21 die überraschenden Reformideen, die plötzlichen und grausamen Maßregelungen hochgestiegener [7] Männer mögen als Äußerungen einer kräftigen Herrschernatur noch den Beifall großer Massen entfesselt haben, als Einsichtigere dahinter schon ein schreckliches Gespenst lauern sahen: den Wahnsinn. *** Man hat sich gewöhnt, von Cäsarenwahnsinn als einer besonderen Form geistiger Erkrankung zu sprechen, und dem Leser wird die packende Scene aus Gustav Freytags „Verlorener Handschrift“ in Erinnerung sein, wo der weltfremde Professor ahnungslos dem geisteskranken Fürsten aus Tacitus das Bild seines Lebens entwickelt. Die Züge der Krankheit: Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Mißachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose brutale Grausamkeit, sie finden sich auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, daß die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen ungehinderten Entwicklung kommen läßt, die sich zugleich in einem Umfange, der sonst ganz ausgeschlossen ist, in grausige Taten umsetzen kann. Der spezifische Cäsarenwahnsinn ist das Produkt von Zuständen, die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt. Der Eindruck einer scheinbar unbegrenzten Macht läßt den Monarchen alle Schranken der Rechtsordnung vergessen; die theoretische Begründung dieser Macht als eines göttlichen Rechtes verrückt die Ideen des Armen, der wirklich daran glaubt, in unheilvoller Weise; die Formen der höfischen Etikette – und noch mehr die darüber hinausgehende unterwürfige Verehrung aller derer, die sich an den Herrscher herandrängen – bringen ihm vollends die Vorstellung bei, ein über alle Menschen durch die Natur selbst erhobenes Wesen zu sein; aus Beobachtungen, die er bei seiner Umgebung machen kann, erwächst ihm zugleich die Ansicht, daß es ein verächtli-

21 Der ἀδιατρεψία rühmte sich Caligula laut Suet. Cal. 29.

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cher gemeiner Haufen ist, der ihn umgibt. Kommt dann noch hinzu, daß nicht nur die höfische Umgebung, sondern auch die Masse des Volkes korrumpiert ist, daß der Herrscher, er mag beginnen, was er will, keinen mannhaften offenen Widerstand findet, daß die Opposition, wenn sie sich einmal hervorwagt, zum mindesten ängstlich den Schein aufrecht erhält, die Person des Herrschers und dessen Anschauungen nicht bekämpfen zu wollen, ist gar dieser korrumpierte Geist, der das Vergehen der Majestätsbeleidigung erfunden hat und in der Versagung der Ehrfurcht eine strafbare Beleidigung des Herrschers erblickt, in die Gesetzgebung und in die Rechtsprechung eingezogen: so ist es ja wirklich zu verwundern, wenn ein so absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt. [8] So waren in dem schon so verrotteten römischen Staatsleben Vorbedingungen für die Entwicklung des Cäsarenwahnsinns reichlich gegeben. Dabei war Caligula beiderseits erblich belastet (man denke an Julia, deren Sohn Gajus und an seines Großoheims Tiberius’ letzte Jahre), und auch der Umstand, daß er so jung zur Herrschaft gelangte, mußte alle vorhandenen Keime üppig emporschießen lassen, da das schroffe Mißverhältnis zwischen äußerer Stellung und innerer Berechtigung auf seinen jugendlichen, von jeher zu Exzessen jeder Art geneigten Geist wie Gift einwirkte. In wirklichen Wahnsinn ist Caligula trotzdem erst nach einer schweren Krankheit verfallen, von der er zu seinem und des Volkes Unglück genas; aber man wird sagen dürfen, daß diese Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach die Entwicklung nur beschleunigt hat; denn die deutlichen Ansätze dazu waren schon vorher vorhanden, und die ungünstig wirkenden äußeren Faktoren, die dieselben fördern mußten, waren von seiner kaiserlichen Stellung im damaligen Rom nicht zu trennen. *** Das Bild des Cäsarenwahnsinns, das uns Caligula darbietet, ist geradezu typisch. Fast alle Erscheinungen, die wir sonst bei verschiedenen Herrschern antreffen, sind in ihm vereinigt, und wenn wir die scheinbar gesunden Anfänge mit der schauerlich raschen Steigerung zu den äußersten Exzessen zusammenhalten, so gewinnen wir auch ein Bild von der Entwicklung der Krankheit. Eine Erscheinung, die an sich noch nicht krankhaft zu sein braucht, in der sich aber, wenn man sie mit den übrigen Symptomen zusammenhält, der Größenwahn schon früh bei Caligula ankündigt, ist die ungemessene Prunk- und Verschwendungssucht, ein Charakterzug fast aller Fürsten, die das gesunde Urteil über die Grenzen ihrer eigenen Stellung verlieren, von orientalischen Despoten bis auf gewisse Träger der Tiara, bis auf die beiden französischen Ludwige und ihre deutschen Nachahmer, eine Reihe, die in dem unglücklichen Bayernkönig vorläufig ihren letzten

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berühmten Vertreter gefunden hat. Nach kurzer Zeit war nicht nur der sehr bedeutende Schatz, den der sparsame alte Kaiser hinterlassen hatte, verbraucht 22 sondern man mußte auch zu sehr bedenklichen Mitteln greifen, um die Einnahmen zu steigern und die Schulden zu decken. 23 Die eben abgeschafften Steuern wurden wieder eingeführt, neue, zum Teil sehr drückenden oder schimpflichen Charakters, kamen hinzu, die Justiz wurde mißbraucht, um dem Schatz Strafen und konfiszierte Vermögen [9] zuzuführen, und schließlich ward der Grundsatz proklamiert, daß das Vermögen der Untertanen zur Verfügung des Fürsten sei. 24 Prunk- und Verschwendungssucht haben sich natürlich bei Caligula auf den verschiedensten Gebieten betätigt, bei Festen, Mahlzeiten 25 und Geschenken, in Kleidung und Wohnung und allem, was sonst zum Leben gehört, besonders auch in der Einrichtung seiner Paläste und Villen und der mit unsinnigem Luxus ausgestatteten kaiserlichen Jachten,25a am allerhervorstechendsten aber in riesenhaften Bauten und Bauprojekten. 26 Auch das ist ein den überspannten Herrscherideen eigentümlicher Zug – man denke nur an die soeben schon berührten Beispiele; man kann ihn sich übrigens leicht genug verständlich machen, wenn man die Ruhmsucht der Cäsaren und ihren Wunsch, vor der Nachwelt zu glänzen, im Auge behält. Die Maßlosigkeit der Projekte des Caligula und die kurze Zeit seiner Regierung haben bewirkt, daß eine Reihe seiner Bauten unvollendet liegen geblieben ist. Auf dem Palatin in Rom zeigt man noch die Anfänge zu der „Brücke des Caligula“, durch die er über das Forum hinüber den Kaiserpalast mit dem Capitol, dem Heiligtum der Stadt, verbinden wollte. 27 Große Wasserleitungen und Zirkusbauten nahm er gleichzeitig in Angriff, auch das schon öfter erörterte Projekt eines Kanals durch die Landenge von Korinth sollte schleunigst zur Ausführung gebracht werden. 28 Mit dieser Baulust war eine auffallende Zerstörungssucht verbunden. Erhaltenswerte Bauten wurden aus nichtigen Gründen zerstört oder umgestaltet. 29 Was aber neu entstand, trug zum großen Teil den Stempel von ganz bizarren Einfällen. Je unmöglicher und unsinniger eine Aufgabe schien, um so

22 Suet. Cal. 37. Cass. Dio 59,2. 23 Suet. Cal. 38. Cass. Dio 59,15 und 59,18. 24 Suet. Cal. 47. 25 Vgl. z. B. Sen. Cons. ad Helv. 10,4. 25a Suet. Cal. 36. 26 Suet. Cal. 21. 27 Vgl. Suet. Cal. 22. 28 Suet. Cal. 21. 29 Vgl. z. B. Sen. ira 3,21,5. Cass. Dio 59,28.

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mehr lockte sie ihn. 30 Am Golfe von Neapel nennt man Überreste eines römischen Hafendammes Ponte di Caligula in Erinnerung an den phantastischen Brückenbau, den er dort zur Ausführung eines wahnwitzigen Gedankens hatte herstellen lassen. Caligula ließ nämlich über die Bucht von Bajae eine riesenlange Schiffsbrücke schlagen, auf derselben eine förmliche Landstraße mit Schenken und Süßwasserleitungen anlegen und führte, angetan mit dem angeblichen Panzer Alexanders des Großen, seine Truppen über die Brücke nach Bajae, fiel mit seinen Soldaten in die friedliche Stadt ein, wie um sie zu erobern, veranstaltete am nachfolgenden Tage auf der Brücke einen großen Triumphzug mit gewaltigem Aufputz, fingierter [10] Beute und fingierten Gefangenen und feierte schließlich selbst das glorreiche Unternehmen, die Überwindung so vieler Strapazen, wie er sagte, und die Fesselung des Ozeans in pomphafter Rede und rauschenden Festen. 31 *** Wahnwitzige Prunk- und Verschwendungssucht tritt in diesem berühmt gewordenen Unternehmen recht kraß hervor, zugleich aber noch eine andere ganz eigentümliche Richtung, die der krankhafte Größenwahn und das Prunkbedürfnis der Fürsten zu nehmen pflegt: der Heißhunger nach militärischen Triumphen. Das Grausige und das Lächerliche grenzen gerade hier hart aneinander. Wenn einerseits die Vorliebe für prunk- und ruhmsüchtige Aktionen und für kriegerisches Schaugepränge zu den schauerlichsten Folgen, zu wahren Völkermetzeleien führt, so schlägt sie andererseits, wenn der Schein an Stelle schrecklicher Wirklichkeit tritt, gar leicht ins Komisch-Kindische um. Bei Caligula tritt diese letztere Seite der Sache besonders scharf hervor. Die Zeitverhältnisse waren nicht danach angetan, Kriege zu führen und kriegerische Triumphe zu gewinnen. Die Grenzen waren beruhigt, auf weitere Ausdehnung des Reiches hatte man verzichtet. Caligulas echt-cäsarisch-krankhafte Sucht, auch auf militärischem Gebiete zu glänzen, warf sich deshalb auf spielerische Manöver und auf einen theatralischen Schein. Im Stile jenes Triumphzuges über den Golf von Bajae hat er noch mancherlei vollführt. Wir heben nur zwei besonders sprechende Beispiele hervor. Ganz plötzlich faßte er den Entschluß, sich zum Heere an den Rhein zu begeben. Hals über Kopf mußte alles in Bewegung gesetzt werden. 32 30 Suet. Cal. 37. 31 Cass. Dio 59,17. Vgl. Suet. Cal. 19,32. Ios. ant. Iud. 19,1,1. Sen. brev. vit. 18,5. 32 Suet. Cal. 43.

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Bei der Armee angekommen, zeichnete er sich zunächst durch eine ganz ungewöhnliche disziplinarische Strenge auch gegen Offiziere aus: 33 besonders die unglücklichen Führer, die bei dieser plötzlichen Mobilmachung nicht schnell genug auf dem Sammelplatz eintrafen, hatten seinen Zorn zu fühlen. Zugleich schien er, so wenig er auch selbst an seine eigene Jugend erinnert werden wollte, 34 auf Verjüngung der Armee bedacht zu sein; er verfügte die Verabschiedung vieler älterer Centurionen mit der Begründung, daß sie zu alt oder zu hinfällig seien. Gegen andere schritt er wegen finanzieller Mißbräuche in der Verwaltung ein. Wenn das scharfe Anziehen der Disziplin auch diesem oder jenem als besondere Schneidigkeit imponiert haben mag, [11] so hat es zugleich doch auch, wie wir aus den Berichten des Sueton ersehen, viel Unzufriedenheit hervorgerufen, und manche Maßregeln müssen unbefangenen Beurteilern geradezu als eine lächerliche Renommisterei erschienen sein, besonders wenn sie sahen, was sich nun weiter anschloß. Der Kaiser ließ ein Manöver über den Rhein hinüber ausführen. Germanische Soldaten seiner Leibwache und als Geiseln anwesende Fürstensöhne mußten sich als Germanenkrieger verkleiden und unweit des Rheines Stellung nehmen; davon wurde, während der Kaiser bei Tafel saß, militärische Meldung durch die Vorposten erstattet, und über diesen „markierten“ Feind, der sich gefangen nehmen ließ, wurde dann ein glorreicher Sieg erfochten; die dressierten Leibsoldaten und die armen Germanenjünglinge paradierten als Gefangene. 35 Das Soldaten- und Manöverspiel artete hier schon zu einer von aller Welt belachten Farce aus. Fast noch grotesker wirkte die Unternehmung gegen Britannien, bei der Caligula schließlich seine Soldaten am Strande Muscheln sammeln ließ. Diese Beute des Meeres sollte wie eine Kriegstrophäe gelten. 36 *** Zum zweiten Male kehrt hier der phantastische Gedanke einer Bezwingung des Weltmeeres wieder. Der junge Kaiser scheint eine ganz besondere, an sich sympathische, nur auch wieder ins Krankhafte verzerrte Vorliebe für die See gehabt zu haben. Wir erwähnten schon die besonders prunkhafte Ausstattung seiner Jachten. Wiederholt hören wir, daß er kleine und große Seereisen unternahm, und auch in der Schönheit des Sturmes scheint er das Meer aufgesucht zu haben. Für seine 33 34 35 36

Suet. Cal. 44. Cass. Dio 59,13. Suet. Cal. 45. – Vgl. dann über den Triumph in Rom Suet. Cal. 47. Suet. Cal. 47. Cass. Dio 59,25.

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Umgebung muß diese Passion recht unbequem gewesen sein; denn er scheint rücksichtslos verlangt zu haben, daß alle seine Vorliebe teilten, und dem armen Silanus, der einmal bei stürmischem Wetter zurückgeblieben war, ist seine Furcht vor Seekrankheit zum Verderben geworden, da Caligula, damals schon ganz in blindem Mißtrauen blutig wütend, andere Motive dahinter vermutete. 37 *** In dem Manöver- und Soldatenspiel Caligulas, das wir kennen gelernt haben, in seinen Disziplinmarotten und in den Triumphzügen liegt offenbar ein komödiantischer Zug, der für das pathologische Bild des Cäsarenwahnsinns charakteristisch ist. Er beschränkt sich bei Caligula nicht auf militärische Komödien. Wir hören von seiner [12] ungemessenen Passion für Theater und Zirkus – und mehr als das: wir hören, wie er selbst gelegentlich mitzuagieren begann, wie ihn eine absonderliche Vorliebe für auffallende Kleidung und deren fortwährenden Wechsel beherrschte, 38 wie diese Vermummungsspielerei dahin ausartete, daß er sich in den Masken der verschiedenen Gottheiten (Götter und auch Göttinnen!) gefiel 39 – ein Zug, auf den wir in anderem Zusammenhange noch zurückkommen –, wie er ferner seine eigenen mimischen Künste bewundern ließ, z. B. nachts Senatoren aus ihren Betten aufschreckte, nur um ihnen vorzutanzen; 40 es wird uns berichtet, daß er öffentlich als Zirkuskämpfer, wie später Nero, auftrat 41 und sogar, wie später Commodus, als Gladiator, 42 also in einer Rolle, die damals den Fluch sozialer Ächtung auf den unglücklichen Träger herabzuziehen pflegte. Es kommt bei diesem komödiantischen Zuge des Cäsarenwahnsinns wohl zweierlei zusammen, erstens eine krankhaft-phantastische Anlage, gleichsam die stehengebliebene Neigung des Kindes, seine Phantasiegebilde mit der realen Welt zu verschmelzen, eine Neigung, die sich unter Verhältnissen am besten halten kann, wo an Stelle einfacher Natürlichkeit schon so viel verschrobenes Komödienspiel, so viel Fiktionen herrschend sind wie an einem Kaiserhofe, und dann zweitens das Bedürfnis, überall und auf jedem Gebiete zu glänzen, ein Bedürfnis, das ebenfalls durch die eigenartige Stellung des absoluten Herrschers krankhaft genährt wird.

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Suet. Cal. 23. Suet. Cal. 52. Cass. Dio 59,26. Suet. Cal. 22. Suet. Cal. 54. Suet. Cal. 54. Cass. Dio 59,5. – Vgl. Suet. Cal. 32.

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In der Reihe von Herrschertypen, bei denen von eigentlicher Geisteskrankheit nicht die Rede ist, begegnen wir deshalb ja so oft Persönlichkeiten, die sich andauernd auf gewissen Gebieten jämmerlich bloßstellen, zum Teil weil in ihrer Stellung der Zwang und der Trieb liegt, überall hervorzutreten, zum Teil weil die Umgebung sie in dem Glauben erhält, daß sie etwas Geniales und gewaltig Imponierendes leisten, auch wo die mildesten aufrichtigen Beurteiler bedenklich den Kopf schütteln. Ein Gebiet, auf dem Caligula mit Vorliebe zu glänzen suchte, war die Beredsamkeit; er sprach gern und viel öffentlich, und es wird uns berichtet, daß er auch ein gewisses Talent dafür besaß, 43 daß insbesondere ihm die Kunst, zu verletzen und zu schmähen, eigen war. Mit Vorliebe wandte er sich gegen die Koryphäen der Literatur. Manches beißende Wort gegen sie soll ihm nicht schlecht gelungen sein. Doch ging sein unverständiger Fanatismus so weit, daß er [13] klassische Autoren, wie Homer, Virgil und Livius, am liebsten aus allen Bibliotheken verbannt hätte. 44 Dabei scheint er doch Zitate aus den verhaßten Autoren manchmal gern in epigrammatisch zugespitzten Worten benutzt zu haben, um seine eigene Stellung zu bezeichnen. So herrschte er seine Gäste einstmals mit dem berühmten Verse des Homer an: εἷς κοίρανος ἔστω, εἷς βασιλεύς: Einer sei Herrscher, einer nur König! 45 Am berühmtesten geworden ist sein Lieblingszitat 46 aus einem Tragiker; „Oderint, dum metuant,“ d. h. mögen sie hassen , wenn sie nur fürchten, wohl die zugespitzteste Äußerung seiner zäsaristischen Auffassung der Beziehungen zwischen Regenten und Volk. *** Die Freude an rücksichtsloser Gewalttätigkeit, die sich in dem häufigen Gebrauch dieses Wortes gleichsam als obersten Leitmotives seiner Regierungspraxis ausspricht, beherrschte seine Stellung zu allen Verhältnissen des öffentlichen Lebens. Sehen wir zunächst selbst von positiver Grausamkeit noch ab, so ist es ja typisch für diese Art von Cäsaren, daß fast ihr vornehmstes Interesse, wie bei Caligula, darin besteht, jedermann ihre Macht fühlen zu lassen, daß sie nichts mehr aufbringt, als die Empfindung, Grenzen dieser Macht anzutreffen, und daß sie als wirksamstes Mittel, um jeden Widerstand ihrer Untertanen im Keime zu ersticken, die Verbreitung von Furcht und Schrecken betrachten. Bramarbasierend pflegen sie, gleich Caligula, 43 44 45 46

Suet. Cal. 53. Cass. Dio 59,28. Suet. Cal. 34. Suet. Cal. 22. – Vgl. auch das Zitat aus Virgil, Suet. Cal. 45. Suet. Cal. 30.

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die Drohung, daß jedermann ihre Macht fühlen solle, in unzähligen Varianten im Munde zu führen. Das wiederholt sich öfter in der römischen Kaisergeschichte, und auch sonst gibt es Beispiele genug. Selbst so geniale Cäsarennaturen wie Napoleon sind davon nicht frei. Glücklich das Volk, wenn solche Herrscher durch die Macht der äußeren Verhältnisse genötigt sind, sich mit bloßen Drohungen zu begnügen, und nicht wie Caligula zu Taten übergehen können. Von dem Streben des Herrschers, die eigene Macht fühlbar zu machen, pflegen zunächst nicht so sehr die breiten Massen des Volkes wie die höher gestellten Gesellschaftsklassen, vornehme Familien und hohe Beamte, getroffen zu werden. Die ersten schwachen Anfänge sind allerhand Rücksichtslosigkeiten 47 – doch eben nur schwache Anfänge; denn mit zynischem Behagen suchen solche Herrscher bald alles herabzudrücken, was neben ihnen selbständige Gel-[14] tung beanspruchen kann. Auch bei Caligula ist zu beobachten, wie er jeden Vorzug und besonders jedes Verdienst mit seinem Haß verfolgte, 48 wie er systematisch alles Ansehen durch Mißachtung und Hohn zu untergraben suchte, wie er darauf ausging, hochgestellte Männer zu erniedrigen, sie zwang, als Gladiatoren aufzutreten 49 (wobei freilich auch sein Gefallen am Blutvergießen ins Spiel kam), sie hinter seinem Wagen herlaufen, bei Tische aufwarten ließ 50 oder ihnen den Fuß zum Kusse reichte 51 – der Handkuß galt wohl kaum mehr als eine Erniedrigung, sondern eher als eine Ehre! Geflissentlich verhöhnte er die uralten Traditionen vornehmer Familien 52 und setzte seine eigene Umgebung aus Personen des niedrigsten Standes zusammen. Kutscher, Gladiatoren, Schauspieler und allerhand fahrendes Volk seien, so sagte man, sein täglicher Umgang, 53 während die berufenen Männer beiseite geschoben wurden (auch wieder ein Zug, dem man in der Geschichte kranker Herrschergestalten oft genug begegnet). Sicherlich hat Caligula auf ähnliche Weise auch im eigentlichen Staatsleben mit den Stellen der Zivilver waltung und des Heeres gewirtschaftet. Gerade an diesem Punkte empfindet man es besonders schmerzlich, daß die uns erhaltene Darstellung des Tacitus beim Regierungsantritt des 47 Von Caligula erzählt man u. a. auch, daß er die bekannte „Höflichkeit der Könige“ aufs äußerste vernachlässigte und große Volksmassen rücksichtslos auf sich warten ließ. Cass. Dio 59,13. 48 Cass. Dio 59,27: τῷ τε γὰρ κρείττονι ἑαντου ὁ Γἀιος ἤχθετο. – Vgl. Suet. Cal. 35. 49 Cass. Dio 59,10. 50 Suet. Cal. 26. 51 Cass. Dio 59,27. Sen. benef. 2,12. 52 Suet. Cal. 35. 53 Cass. Dio 59,5.

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Caligula abbricht. Er würde gewiß mit unnachahmlicher Kunst geschildert haben, wie dieser Charakterzug zersetzend auf die ganze Staatsverwaltung eingewirkt hat. Von geringeren Autoren ist uns jetzt fast nur der äußerste Zug von Wahnsinn überliefert, wie Caligula schließlich einem Pferde die Konsulwürde zu verleihen beabsichtigt haben soll. 54 Die Stufen, die zu diesem Gipfel bubenhafter Verhöhnung führten, müssen wir uns kombinierend ergänzen. Es fällt aber nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Mißachtung jeder Sachkenntnis und jeder auf Fachbildung beruhenden Autorität, von kaum bemerkbaren Anfängen an, sich dazu fortentwickelt hat. Nur zwei Einzelerscheinungen, die hierher gehören, sind uns zufällig bekannt. Die Wissenschaft der Jurisprudenz hat Caligula in der Praxis völlig beseitigen, den Stand der Juristen völlig ausrotten wollen. 55 Mag in dieser Juristenfeindschaft auch der gesunde Kern stecken, daß die Existenz einer Fachjurisprudenz dem Wesen des lebendigen Rechtes [15] widerstreitet, so ist der Gedanke selbst doch unter den gegebenen Verhältnissen des damaligen römischen Lebens wieder echt cäsarisch. Der andere Vorgang betrifft das Heerwesen. Eine Anzahl von Zirkusfechtern wurde anscheinend unvermittelt aus bloßer Laune zu Offizieren seiner Leibwache ernannt. 56 Wir dürfen das Bild uns wohl weiter ausmalen, wie der Kaiser Verwaltungsbeamten, Quästoren oder großen Steuerpächtern militärischen Rang erteilte, alte Soldaten auf wichtige Zivilverwaltungsposten stellte, eingefleischte Juristen, die auf dem Forum groß geworden waren, auf schwierige Stellungen an der Grenze für den Verkehr mit fremden Völkerschaften schickte oder gichtbrüchige Geheimräte an die Spitze seiner Tänzerschar beförderte. Nicht toll genug werden wir uns den Wirrwarr, den Widerstreit von Befähigung und Aufträgen, den Hohn auf die gesunde Vernunft, der von dem konsularischen Roß schließlich gekrönt wurde, vorstellen können. *** Über der wild durcheinandergeworfenen, verhöhnten und mit Füßen getretenen servilen Masse des Volkes und aller Stände glaubte der Kaiser selbst zu thronen, in unnahbarer göttlicher Majestät, die für ihn selbst ungeschmälert aufrecht stehen blieb, wenn er auch gelegentlich den Purzelbaum zum Zirkus hinunterschlug. Denn das ist wesentlich für diese Gattung von Cäsaren, sie glauben an ihr eigenes Recht, sie meinen eine 54 Cass. Dio 59,14. Suet. Cal. 55. 55 Suet. Cal. 34. 56 Suet. Cal. 55.

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Mission zu haben, fühlen sich in einem besonderen Verhältnis zur Gottheit stehend, halten sich für die Auser wählten derselben und beanspruchen schließlich für sich selbst göttliche Verehrung. Das scheint der äußerste Gipfel des Cäsarenwahns zu sein, und doch nähern sich ihm die Vorstellungen mancher Herrscher, die noch nicht geradezu für krank gelten können, auf bedenkliche Weise – Friedrich Wilhelm IV. z. B. bewegte sich, auch als er noch nicht völlig erkrankt war, in einem solchen mystischen Ideenkreise. Freilich – das ist ja das schmachund jammervolle Fundament der ganzen Cäsarenexistenz – kommt solchen Vorstellungen die Anschauungsweise der Massen und besonders der herrschenden Klassen in den von eigentlich monarchischer Gesinnung durchtränkten Völkern oft auf die gefährlichste Weise entgegen. Wie hätte sonst für Alexander, wie hätte für Cäsar Vergötterung beansprucht werden können? Bei Caligula ist es ganz offenbar nicht nur kecke Ausnützung der Volksauffassung oder politische Berechnung, wenn er göttliche Verehrung beansprucht, sondern es ist der helle, nackte Wahnsinn, der an die eigene Göttlichkeit glaubt oder doch sich vorübergehend in die Vorstellung derselben versenkt. [16] Das sehen wir am besten daran, wie er mit dem Gedanken gleichsam spielt. Bei der Dürftigkeit unserer Nachrichten können wir auch hier die Entwicklung nicht ganz verfolgen – die unscheinbaren Anfänge sind uns nicht deutlich überliefert. Daß er schon als Jüngling zum Augurn und Oberpriester ernannt wurde, hat möglicherweise auf seine Ideenwelt einen gewissen Einfluß geübt. Wir dürfen wohl annehmen, daß er beim Gottesdienst selbst wirklich fungiert haben wird, und daß es ihm nahelag, phantastische Vorstellungen mit der Ausübung solcher Funktionen zu verbinden. Weit wichtiger und bezeichnender aber ist es, daß er es liebte, in der Verkleidung von Göttern und Göttinnen aufzutreten. Wie sich ein schauspielerischer Zug darin äußert, wurde schon berührt: wir müssen uns vorstellen, wie der kaiserliche Akteur sich gleichsam selbst in die Stellung der dargestellten Gottheit hineinschauspielerte. Es ist ja sehr merkwürdig, wie bei etwas krankhaft-phantastisch angelegten Menschen die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und dem dargestellten Schein sich verwischen; zunächst spielen sie mit dem Gedanken, etwas mit der dargestellten Figur gemein zu haben, in Augenblicken besonderer Ekstase fühlen sie sich mit ihr eins, und bei ausgesprochener geistiger Erkrankung glauben sie schließlich dauernd mit ihr identisch zu sein. König Ludwig von Bayern hat gewiß, wenn er als Lohengrin auf seinem künstlichen See im Schwanennachen fuhr, auch Momente gehabt, in denen die Scheidung zwischen Darstellung und Wirklichkeit sich für ihn verwischte.

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Vielleicht darf man sagen: es ist die infolge von Überreizung auf das eigene Subjekt ausgedehnte Illusion, die wir alle dem Objekt gegenüber ja bei künstlerischen Reizen auf unsere Phantasie kennen lernen. – Und wenn nun noch das Auftreten vor dritten Personen und großen Volksmassen, der Wunsch, auf dieselben Eindruck zu machen, und das Bedürfnis, eine ganz unnatürliche Fiktion mit immer verstärkten äußeren Mitteln aufrecht zu erhalten, hinzukommen! Wer hat nicht schon Menschen gekannt, die schließlich selbst glaubten, das zu sein und das geleistet zu haben, was sie lange anderen und dann sich selbst vorgeschwindelt hatten? Bei Caligula schlugen gelegentlich seine Vergötterungsansprüche in eine tolle Farce um – ohne daß wir deshalb glauben dürften, er habe den Kultus, den er seinen Untertanen aufgezwungen hatte, selbst verhöhnen wollen, um so die Schmach noch zu verschärfen. Er machte sich selbst zum Oberpriester seiner eigenen Gottheit! Und sein Pferd – auch sonst tritt seine Vorliebe für Pferde in ganz unsinnigen Handlungen hervor – gesellte er sich als Kollegen in dieser Stellung zu! 57 *** [17] Schon die Zeitgenossen haben Caligula für richtig geisteskrank gehalten, 58 und es ist nicht recht verständlich, wie ein neuerer Historiker noch daran zweifeln kann. Der Entwicklung zu geistiger Störung entspricht bei ihm ja auch offenbar eine ursprüngliche krankhafte Anlage. Von seiner körperlichen Disposition wissen wir nicht viel, aber doch einiges. Als er mit zwanzig Jahren zu Tiberius kam, war er lang aufgeschossen; dünne Beine, stark entwickelter Bauch 59 und unheimlich berührende Gesichtszüge mit eingefallenen Schläfen und Augen, breiter und finsterer Stirn waren körperlich die hervorstechendsten Merkmale. 60 Dabei litt er an Epilepsie und schrecklicher Schlaflosigkeit. 61 Von seiner damit zusammenhängenden Rast- und Ruhelosigkeit, von dem Widerspruchsvollen und der Unberechenbarkeit seiner Einfälle und Eindrücke hat uns Dio Cassius eine lebendige Schilderung gegeben; 62 es sind Züge der Nervosität, die an sich noch nicht krankhaft zu sein brauchen, die erst im Zusammenhang mit dem, was wir sonst wissen, erhöhte Bedeutung erlangen. Bald suchte er das Gewühl der Menschen, bald wieder die Einsamkeit; er unternahm dann wohl eine Reise,

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Cass. Dio 59,28. Tac. ann. 6,45. Suet. Cal. 50 f. Sen. const. sap. 18,1. Suet. Cal. 50. Sen. const. sap. 18,1. Suet. Cal. 50. Suet. Cal. 50. 59,4.

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und einmal, als er zurückkehrte, war er kaum wiederzuerkennen, er hatte sich (ganz gegen die Sitte der Zeit) einen Bart und langes Haupthaar wachsen lassen. 63 Über Schmeichler und Freimütige ärgerte und freute er sich zugleich. Bald ließ er sich, besonders von Leuten niederen Standes, die schlimmsten Dinge sagen, bald strafte er Nichtigkeiten mit dem Tode. Niemand wußte, was er tun oder sagen sollte, und machte es ihm einer recht, so hatte er es seinem guten Glück, nicht seiner Klugheit zu danken. 64 Er kam auf die unsinnigsten Einfälle, und auch wenn sie verhältnismäßig harmlos waren, steckte ein Zug von Bosheit in ihnen, so z. B. wenn er einen Offizier, der seine Unzufriedenheit erregt hatte, mit einem ganz inhaltslosen Briefe an König Ptolemäus nach Mauretanien schickte. 65 Meist aber nahm seine Bosheit, das Vergnügen am Quälen, sehr viel schlimmere Formen an. Auch dieser Zug ist schon aus seiner Jugend überliefert. Er versäumte es nicht, bei Folterungen und Hinrichtungen zugegen zu sein. 66 [18] Damit verband sich der Hang zu Ausschweifungen. 67 Schon aus seinen Knabenjahren erzählte man sich scheußliche Dinge. 68 Später, als er bei Tiberius war, besuchte er vermummt die Höhlen des Lasters, zugleich geschlechtlichen Ausschweifungen und dem Trunke ergeben. 69 Der Hang zu Ausschweifungen, das Schwelgen im Blutvergießen und die Freude an grausamen Martern machen das Bild des cäsaristischen Wütens erst recht vollständig. Daß krankhafte geschlechtliche Neigungen oft mit krankhafter Freude am Grausigen, an Blutopfern und grausamen Qualen Hand in Hand gehen, ist ja eine aus psychiatrischen Beobachtungen überall bekannte Tatsache. Wie nun diese kombinierte Erscheinung wieder mit dem Cäsarenwahnsinn zusammenhängt, ist im groben auch für den Laien leicht einzusehen, mag auch die genaue Auseinanderlegung der Erscheinung dem Fachmann noch manche Probleme bieten. Schon die äußeren Vorteile der ganzen Stellung verlocken zu früher Zügellosigkeit, wofür die Lebensgeschichte unzähliger Fürstensöhne wohl aus allen Dynastien Beispiele liefert. Wenn dann noch die cäsaristische Anschauung von der Unbegrenztheit der eigenen Ansprüche und von der Nichtigkeit aller andern Rechte hinzukommt, 70 und wenn dazu sich eine Vererbung 63 64 65 66 67 68 69 70

Suet. Cal. 24. Cass. Dio. 54,4. Suet. Cal. 55. Suet. Cal. 11. Suet. Cal. 36. Cass. Dio 59,3. Suet. Cal. 24,24 [sic; gemeint ist 24,1] – Vgl. Cass. Dio 59,10. Suet. Cal. 11. – Vgl. Phil. legat. ad Gaium. Ein Wort des Caligula lautete: „Memento omnia mihi et in omnes licere“: Bedenke, daß mir alles und gegen alle zu tun erlaubt ist.

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dieser Faktoren durch einige Generationen gesellt – dann ist natürlich kein Halten mehr. In seiner vollendetsten Gestalt gleichsam zeigt sich der Cäsarenwahnsinn, wenn Blutdurst, Grausamkeit und Zuchtlosigkeit in den Dienst des Vergötterungsgedankens treten. Auch von dieser Steigerung seiner Wahnsinnsausgeburten schien Caligula der Welt ein Beispiel in großem Maßstabe hinterlassen zu wollen, als die Juden – und zwar, wie es scheint, sie allein – sich weigerten, seine Statue in ihrem Tempel aufzustellen und ihr Anbetung zu erweisen. Mit Feuer und Schwert war er im Begriff, das ganze Volk zu seinem Dienste zwingen zu wollen, als der Tod ihn ereilte. 71 Doch auch von einer solchen Häufung aller cäsaristisch-wahnsinnigen Züge abgesehen, wirkten des Caligula Hang zu Ausschweifungen und sein Blutdurst für sich allein schon grausig genug. In der ersten Zeit nach seinem Regierungsantritt scheint er sich einige Mäßigung auferlegt zu haben; aber bald traten die Neigungen seiner Jugend, von denen wir schon sprachen, wieder hervor, und da er jetzt unumschränkter Selbstherrscher war, so ergab er sich um so ungezügelter [19] seinen Begierden, denen Frauen und Mädchen ohne Zahl zum Opfer fielen. 72 Zugleich begann er in wahrhaft entsetzlicher Weise, oft noch durch finanzielle Motive angestachelt, seiner Mordgier und der Freude an Martern freien Lauf zu lassen. 73 Nicht nur spätere Berichterstatter haben uns davon berichtet, sondern auch der Zeitgenosse Seneca schildert die tierische Freude, die der Kaiser beim Anblick von Hinrichtungen empfand, und die Grausamkeit, mit der er die Überlebenden quälte. 74 Daß seine Mordlust als Geistesstörung aufzufassen ist, zeigen einige Geschichten, die uns überliefert sind, wie er seiner Gattin oder seiner Geliebten nicht den Hals küßte, ohne davon zu sprechen, daß dieser schöne Nacken, sobald er es befehle, durchschnitten werde, 75 oder wie er beim fröhlichen Mahle in unbändiges Gelächter ausbrach bei dem Gedanken, daß es nur eines Winkes bedürfe, um den beiden Konsuln, die neben ihm lagen, die Kehlen abzuschneiden. 76 Dem römischen Volke wünschte er (der Ausspruch ist ja berühmt geworden) einen einzigen Hals, um es mit einem Streiche köpfen zu können. 77 Solche Gedanken und noch viel

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Ios. ant. Iud. 8,2–8. Vgl. Phil. legat. ad Gaium. Suet. Cal. 36. Cass. Dio 59,3 und 59,10. Suet. Cal. 26 ff. Cass. Dio 59,10. Ios. ant. Iud. 19,1,1. Sen. ira 2,33,3; 3,18,3 ff.; 3,19; benef. 2,21,5. nat. 4, praef. 17. Suet. Cal. 33. Suet. Cal. 32. Suet. Cal. 30. Cass. Dio 59,13; 59,30.

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schlimmere, nicht nur einfach blutdürstige Neigungen, sondern auch die ausgesuchtesten Marterideen setzten sich in eine Unzahl grausiger Taten um, die er vielfach mit zynischen Witzen begleitete. 78 Die Einzelheiten sind zu scheußlich, um darauf einzugehen. Genug, ganz Rom setzte er damit in Schrecken, und doch ermannte sich dieses Rom nicht, das Joch des Kranken, der wie ein Bluthund wütete, von sich abzuschütteln. Der Senat wagte nicht, ihn abzusetzen oder eine Regentschaft zu beschließen. Nicht durch einen Akt der politischen Körperschaften wurde er beseitigt, sondern es bedurfte einer Verschwörung, die in dem persönlichen Rachebedürfnis eines schwer beleidigten Obersten seiner Leibwache, des Cassius Chärea, ein williges Werkzeug fand. 79 So tief gesunken war der Staat, an dessen Pforten damals so drohend das Barbarentum eines noch jugendkräftigen Volkes pochte. Wenn wir darauf jetzt vom sichern Port zurückblicken, dann dürfen wir trotz allem wohl sagen, daß wir doch heute, wo die materielle [20] Kultur und der Luxus der oberen Klassen sich wieder mit den Zuständen der römischen Kaiserzeit vergleichen lassen, politisch ein schönes Stück weiter gekommen sind – freilich liegen auch mehr als 1800 Jahre dazwischen –; denn etwas, was diesem Cäsarentum und dieser Herrschaft des Cäsarenwahnsinns ähnlich wäre, ist unter den heutigen Verhältnissen so völlig unmöglich, daß uns die ganze Schilderung wie ein kaum glaubliches Phantasiegemälde oder wie eine übertriebene Satire römischer Schriftsteller auf das zeitgenössische Cäsarentum anmuten wird, während sie nach dem heutigen Stande unserer Quellenforschung in allen wesentlichen Zügen trockene historische Wahrheit ist.

78 Suet. Cal. 29 f. 79 Suet. Cal. 58. Cass. Dio 59,29. – Am ausführlichsten: Ios. ant. Iud. 19,1,3.

Erinnerungen des Verfassers Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im kaiserlichen Deutschland

Wie der Caligula entstand. [23] Als ich im Jahr 1889 in Königsberg aus irgendeinem Anlaß in Hertzbergs Geschichte des römischen Kaiserreichs (Onckens Weltgeschichte in Einzeldarstellungen) die Seiten las, die von Gajus Caesar Caligula handeln, fielen mir sehr überraschende Parallelen zu Tagesereignissen und zu Beobachtungen an dem im Vorjahr zur Regierung gelangten jungen Kaiser Wilhelm auf. Damals wurde die Idee zum Caligula geboren. Es lag mir zunächst ganz fern, selbst das Thema zu behandeln; ich machte vielmehr einen Freund, der dichterische Neigungen hatte, auf das Thema zu einem satirischen Drama aufmerksam. Die Erinnerung aber blieb bei mir und wurde in den nächsten Jahren immer aufs neue angeregt. – Es war ja die Zeit, in der der Kaiser durch Extravaganzen fortwährend entweder den Spott oder die Entrüstung, bald dieser, bald jener Kreise, oft ganz Deutschlands, herausforderte. Mehr und mehr gewöhnte ich mich daran, seine Handlungen und Reden als Zeichen geistiger Abnormität zu betrachten. Während ich in Rom Sekretär des Preußischen Historischen Instituts war, kam mir die Erinnerung an Hertzbergs Darstellung besonders lebhaft. Angeregt wurde sie unter anderem dadurch, daß im Vorzimmer der preußischen Gesandtschaft beim Vatikan an einer Stelle, die alle fremden Diplomaten beim Besuch Herrn v. Schlözers zu passieren hatten, eine Photographie des Kaisers stand mit der eigenhändigen Aufschrift, datiert aus einer Zeit, da er noch Prinz Wilhelm war, „oderint dum metuant“ (mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten). Das war bekanntlich das Lieblingswort des Caligula. Jahre später habe ich dann erfahren, daß Prinz Wilhelm Photographien mit dieser Aufschrift in größerer Zahl verschenkt hat. Als ich, nachdem Herr v. Schlözer in den Ruhestand getreten war, also keine Unannehmlichkeiten mehr davon haben konnte, meine Erinnerung an dieses „oderint dum metuant“, ohne die römische Gesandtschaft zu nennen, veröffentlichte, entstand in einer anderen preußischen Gesandtschaft große Aufregung, weil man nicht begriff, wie ein Fremder [24] von dieser Photographie, die ihren Platz im Schlafzimmer des Gesandten hatte

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und also nur dem allerintimsten Kreise zugänglich war, Kenntnis erhalten hatte. Noch mehrere solche Photographien existieren. An zwei Abenden zu Anfang des Jahres 1892 habe ich das, was etwa die erste Hälfte der Schrift ausmacht, zu Papier gebracht. An eine Veröffentlichung dachte ich dabei nicht im mindesten. Es war eine Art Selbstbefreiung von dem, was mich in Gedanken an den Kaiser beschäftigte, wenn man will, eine Art geistiger Spielerei, zur Ablenkung auch von drückenden Amtsgeschäften. Wie dichterisch veranlagte Naturen in solchen Lagen Verse machen, so schrieb ich die ersten Seiten des Caligula, ohne irgendein Buch zu benutzen, in einem Zuge nieder. In dem Manuskript fanden sich, als es zum Druck kam, kaum Korrekturen. In diesem halbfertigen Zustand blieb die Skizze wohl anderthalb Jahre liegen. Im Herbst 1892 gab ich meine römische Stellung auf, da wissenschaftliche Verpflichtungen, die meine Anwesenheit in Deutschland erforderten (Herausgabe meiner „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ und Fortführung der „Deutschen Reichstagsakten“) sich mit der Leitung des Römischen Instituts nicht länger vereinbaren ließen. Im Sommer 1893 fiel mir das Manuskript, als ich meine römischen Papiere ordnete, wieder in die Hände. Der Zufall führte am gleichen Tage oder wenige Tage darauf einen meiner römischen Freunde zu mir. Ich las ihm das Bruchstück vor, und er redete mir dringend zu, es fertigzuschreiben und dann in der Schweiz, etwa bei Caesar Schmidt in Zürich, wo damals radikale politische Schriften über deutsche Zustände zu erscheinen pflegten, zu veröffentlichen, natürlich anonym. Ich widersprach: wenn ich die Schrift schon herausgebe, müsse es mit Nennung meines Namens und in Deutschland geschehen, es widerstrebe mir, auch nur den Schein auf mich zu laden, als ob ich mich der Verantwortung entziehen wolle. Die Folge jenes Gesprächs war aber, daß ich mich an den Stoff wieder heranmachte und den Caligula zu Ende schrieb. Auch Literatur zog ich nun heran, Sueton und die anderen lateinischen Autoren, die in den Anmerkungen zitiert sind. Meistens wurden zu dem, was ich im Text aus dem Gedächtnis hingeworfen hatte, erst nachträglich die Zitate beigefügt. Dabei halfen mir zwei junge Mitarbeiter meiner Zeitschrift. Es kam aber auch vor, daß die Lektüre der Quellen Veranlassung gab, Stellen nachträglich noch in den Text einzufügen. Ein Wunder, daß bei dieser Art von Arbeit die Einheitlichkeit des Ganzen nicht gelitten hat, mit Ausnahme einer einzigen Stelle, von der ich gleich sprechen werde. Als die Schrift fertig war, schickte ich sie an einen nahe befreundeten Forscher der alten Geschichte, dessen Namen ich jetzt ja nennen kann, da ihn lange schon die Erde deckt, Franz Rühl in Königsberg, mit der Bitte, mich auf Schnitzer, die man vom Standpunkt der [25] Wissenschaft

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rügen könnte, aufmerksam zu machen. Das Manuskript kam mit einigen Randbemerkungen von seiner Hand zurück. Nun entstand die Frage: wo veröffentlichen? Ich bot den Aufsatz der „Frankfurter Zeitung“ für ihr Feuilleton an. Die Redaktion lehnte ab, da die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zu groß sei – sehr begreiflich; denn die Fassung, in der ihr das Manuskript vorlag, war zwar literarisch erheblich besser, strafrechtlich aber viel gefährlicher als die, in der der Aufsatz nachher gedruckt wurde. Ich hatte, durch die Ablehnung der Zeitung gewarnt, die Veröffentlichung fast aufgegeben, aber wiederholt gelegentliche Mitteilungen aus dem Manuskript gemacht. Als ich einmal im Demokratischen Verein in Nürnberg gesprochen hatte und wir nachher in einem Separatzimmer noch beisammen waren, habe ich den politischen Freunden das Ganze, da ich das Manuskript zufällig bei mir hatte, vorgelesen – in Gegenwart des Beamten der städtischen Polizei, der unsere Versammlung überwacht hatte! Wenn dieser auch zur Partei gehörte, war doch die Gefahr, daß er Anzeige erstattete, sehr naheliegend. Er hat das nicht getan. Bei der Rückkehr traf ich auf dem Bahnhof Michael Georg Conrad, den Herausgeber der „Gesellschaft“, mit dem mich die gemeinsame Zugehörigkeit zur „Deutschen Volkspartei“, der alten demokratischen Partei Süddeutschlands, verband. Ich fragte ihn, ob er Lust habe, einen Aufsatz von mir zu bringen, den allerdings die „Frankfurter Zeitung“ als zu gefährlich abgelehnt habe, und gab ihm das Manuskript. Tags darauf oder wenige Tage später kam er zu mir in die Wohnung und sagte, daß die Arbeit sehr interessant sei und er Lust hätte, sie aufzunehmen. – Von einer aktuellen Bedeutung des der alten Geschichte angehörenden Themas war zwischen uns nicht die Rede; Conrad war nach meiner Erinnerung von einer gewissen ernsten Feierlichkeit, wenn er auch wohl ein Augurenlächeln nicht unterdrückt haben wird. Er fragte nach dem Honorar, das ich beanspruchte. Ich legte darauf keinen Wert, meinte aber, vielleicht werde es lohnen, einen Sonderabzug zu veranstalten, und an dem Erlös dieses Sonderabzugs könne man mich beteiligen. So wurde dann auch verabredet. Ich habe (das einzige Mal in meinem Leben) eine größere Summe als meinen Anteil erhalten. Sie ist restlos der Demokratischen Partei zugute gekommen. Um Ostern 1894, als wir gerade zu dem von mir mit geschaffenen Historikertag in Leipzig beisammen waren, kam die Schrift heraus. Im allerletzten Augenblick (nach meiner Erinnerung erst, als ich die letzte Revision bekam) habe ich noch eine in den Anfang der Schrift tief eingreifende Änderung vorgenommen. In der ursprünglichen Fassung kam auf den ersten beiden Seiten überhaupt kein Name vor. Das war der Text, wie ich ihn in Rom ohne jeden Gedanken an Veröffentlichung niedergeschrieben hatte. Jetzt, da es zum Druck kam, schien mir das doch

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zu bedenklich. Es mußte den Staatsanwalt direkt [26] provozieren, da er geltend machen konnte, diese raffinierte Unterdrückung jedes Namens verfolge die Absicht, den Leser glauben zu machen, es werde nicht von Caligula, sondern von einem anderen, nämlich Wilhelm II., gesprochen, auf den in diesen beiden Seiten fast jedes Wort paßt – anders als in der Fortsetzung, bei der ja jeder vernünftige Mensch sich sagen mußte, daß es mir fernlag, die Einzelheiten, die von dem größenwahnsinnigen Scheusal Caligula berichtet wurden, auf den so viel harmloseren Kaiser deuten zu wollen. Erst nachdem so lange kein Name genannt war, fuhr ich überraschend fort: „So vielversprechend waren die Anfänge des Caligula“ usw. Mich hat einmal jemand gefragt (wenn ich nicht sehr irre, war es Otto Harnack, der früh verstorbene Historiker und Literarhistoriker, jüngerer Bruder des berühmten Theologen), wie in der sonst – wie er fand – stilistisch so ausgezeichneten Schrift diese Worte sich erklärten, die doch nur paßten, wenn damit Caligula dem Leser erst vorgestellt werden sollte. Sie sind ein bei der eiligen Korrektur in letzter Stunde stehen gebliebenes verräterisches Überbleibsel der ursprünglichen Fassung. Diese Änderung des Anfangs war, literarisch betrachtet, eine Verschandelung des originalen Textes. Ich habe mich verpflichtet gefühlt, in der jetzigen Ausgabe nichts an dem Wortlaut zu ändern, wie er 1894 veröffentlicht wurde. Für jene aber, die es interessiert, setze ich die ursprüngliche Fassung hierher: Er war noch sehr jung, noch nicht zum Manne gereift, als er unerwartet zur Herrschaft berufen wurde. Dunkel und unheimlich waren die Vorgänge bei seiner Erhebung, wunderbar die früheren Schicksale seines Hauses. Fern von der Heimat war der Vater noch in der Blüte seiner Jahre einem tückischen Geschick erlegen, und im Volke sprach man viel von geheimnisvollen Umständen seines Todes; man schreckte vor den schlimmsten Beschuldigungen nicht zurück, und bis in die Nähe des alten Kaisers wagte sich der Verdacht. Dem Volke war sein Liebling mit ihm genommen; einer Popularität wie kein anderes Mitglied des Kaiserhauses hatte er sich erfreut. Dem Soldaten war er vertraut aus vielen Feldzügen, in denen er mit dem gemeinen Mann die Beschwerden des Krieges geteilt hatte, die deutschen Lande – die Gegenden am Rhein – waren voll seines Namens. Doch nicht nur als Kriegsheld war er dem Volke erschienen; er war im besten Sinne populär gewesen. Sein Familienleben, die Schar seiner Kinder, die schlichte bürgerliche Art, der freundliche Gleichmut in allen Lagen, das gewinnende Scherzwort in seinem Munde hatten ihm wie die Soldaten auch die Bürger verbunden. Solange der alte Kaiser lebte, war er freilich, so hohe Ämter ihm auch übertragen wurden, für die wichtigsten Fragen der inneren Politik bei aller Schaffenskraft und Schaffenslust zur Untätigkeit verdammt; wäre er aber zur Regierung gekommen, so hätte man freiere, glücklichere Tage von ihm erwarten dürfen, die Beseitigung des dumpfen Druckes, der auf dem ganzen Reiche

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lastetete. So war die Hoffnung einer ganzen Generation mit ihm ins Grab gesunken. Von diesem Liebling des Volkes strahlte ein Schimmer von Popularität auch auf den Sohn hinüber, der freilich sonst ganz unähnlich seinem Vater heranwuchs, vielleicht der stolzen und leidenschaftlichen [27] Mutter ähnlicher, die die an sich nicht leichte Stellung ihres Gatten gewiß oft noch erschwert hatte, und zugleich bevorzugt von dem alten Kaiser, der des Sohnes Gattin mit Abneigung und Argwohn verfolgte, für den Enkel aber eine gewisse Zuneigung gehegt zu haben scheint, vielleicht nur, weil er das gerade Widerspiel des ihm so unsympathischen Vaters in ihm sah. Zur Regierung gelangt, war der junge Kaiser für alle zunächst eine unbekannte, noch rätselhafte Erscheinung. Wohl hatte man gewiß in den letzten Jahren allerhand Mutmaßungen über ihn verbreitet, Günstiges und Ungünstiges; man rühmte, so dürfen wir annehmen, aus wie hartem Holze dieser Jüngling geschnitzt sein müßte, der sich unter so schwierigen Verhältnissen zu behaupten gewußt hatte, man fürchtete vielleicht seinen Eigenwillen, die Neigung zum Mißbrauch einer so großen Gewalt, die Einwirkung unreifer persönlicher Ideen, man wußte auch allerhand von einer früh hervorgetretenen Brutalität zu erzählen; vor allem aber überwog gewiß die Auffassung, daß seine jungen Jahre fremden Einflüssen leicht zugänglich sein würden; man durfte darauf rechnen, daß zunächst die Regierungsgewalt des allmächtigen Ministers noch gesteigert werden würde; war doch der junge Kaiser, wie alle Welt behauptete, diesem ganz besonders verpflichtet! Von vielen dieser Dinge, die man erwarten und fürchten mußte, geschah nun so ziemlich das Gegenteil. Der leitende Staatsmann scheint sehr bald in Ungnade gefallen zu sein, sein Einfluß trat ganz zurück, der Kaiser nahm selbst die Zügel der Regierung in die Hand und begann sogleich sein eigenstes Regiment. Das Volk jubelte ihm zu; denn wie eine Erlösung ging es bei dem Regierungswechsel durch alle Kreise, eine Ära der Reformen schien zu beginnen und für liberale Gedanken eine freie Bahn sich zu eröffnen. So vielversprechend waren die Anfänge des Caligula, der als Sohn des zu früh dahingeopferten Germanicus und der Agrippina im Jahre 37 n. Chr. seinem Großoheim, dem Tiberius, nachfolgte und nun durch sein Auftreten die Welt in Erstaunen setzte.

Der sensationelle Erfolg. Um Ostern (25. März) 1894 kam die Schrift fast gleichzeitig mit der Nummer der „Gesellschaft“ heraus. Rezensionsexemplare wurden selbstverständlich an alle größeren Zeitungen versandt. Wochen auf Wochen vergingen, ohne daß sich irgend etwas rührte. In keiner Zeitung eine Besprechung, auch nicht die kleinste Notiz. Niemand traute sich, das heiße Eisen anzufassen. Erst am 6. Mai erschien eine mir unbekannt gebliebene und von der übrigen Presse nicht beachtete Anzeige im „Vorwärts“.

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Dann begab sich etwas sehr Seltsames. 1 Kurz ehe der Reichstag in die Pfingstferien ging, traf August Stein, der bekannte, hervorragend intelligente und angesehene Vertreter der „Frankfurter Zeitung“, am [28] Eingang zum Reichstag (damals noch in der Leipziger Straße) die beiden Redakteure der Kreuzzeitung Freiherrn v. Hammerstein und Dr. Kropatschek. Einer von ihnen (wohl Hammerstein) redete Stein an: „Haben Sie den Caligula gelesen?“ „Caligula? was ist das? So ein oller römischer Kaiser?“ „Ach was, das ist Er!“ „Er? ja wer denn?“ „Nun, Er, Er, der Kaiser, wie er leibt und lebt. Das Ding ist von einer Frechheit, unglaublich, aber von einer göttlichen Frechheit. Das muß er zu lesen bekommen. Hören Sie, das ist etwas für Sie, schlagen Sie in der ‚Frankfurter Zeitung‘ Lärm.“ Stein ging in die nächste Buchhandlung, kaufte den Caligula, las die Schrift und sagte sich: „Ich werde den Deubel tun.“ Es verging nicht lange Zeit, und die „Kreuzzeitung“ verrichtete selbst den Dienst, zu dem ihr Redakteur die „Frankfurter Zeitung“ vergebens anzustacheln versucht hatte. Am 18. Mai, Freitag nach Pfingsten, erschien in der „Kreuzzeitung“ ein mehrere Spalten langer Artikel, der den Caligula der Entrüstung des Lesers und, ohne das direkt auszusprechen, natürlich der Beachtung des Staatsanwaltes empfahl. Die Vergleiche mit Personen der Gegenwart wurden so grob und roh gezogen, wie sie selbstverständlich der Absicht des Verfassers nicht entsprachen. Was ich in der Schrift nur benutzte, um auf die Gefahren der schrankenlosen Auswirkung eines krankhaft veranlagten und durch Byzantinismus übersteigerten Herrscherbewußtseins hinzuweisen, wurde wortwörtlich ausgedeutet. In der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ wurde die „Kreuzzeitung“ deshalb auch angeklagt, mit dem Artikel, der Reklame für den Caligula gemacht habe, gegen die Interessen der Monarchie gesündigt zu haben. Sie antwortete, daß der Artikel ihr „unaufgefordert von einem der ältesten und berühmtesten Professoren der Geschichte“ zugegangen sei. Man nannte vielfach Ottokar Lorenz. Dem Verfasser mag ehrliche Entrüstung die Feder geführt haben. Wie es aber um die Absicht der Redaktion stand, ist eine andere Frage, auf die das Gespräch mit August Stein die Antwort gibt. Daß die konservative hochfeudale „Kreuzzeitung“ es sich angelegen sein ließ, einen großen Skandal heraufzubeschwören und dafür zu sorgen, daß der Kaiser Kenntnis von dem Artikel erhielt, mag die heute Lebenden wundernehmen. Es entsprach aber der damaligen Stellung eines großen

1 Das Folgende nach einer Erzählung Steins. Ich habe die Geschichte, gleich nachdem ich sie von ihm gehört hatte, so oft weitererzählt, auch in späterer Zeit, daß ich jetzt, nach gut 30 Jahren, sie noch fast wörtlich im Kopf habe. Vielleicht lebt noch ein Zeuge, dem sie Stein auch erzählt hat, Ich wäre ihm dankbar, wenn er sich mit mir in Verbindung setzte.

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Teiles ihres Leserkreises. Der Kaiser hatte durch seine Art auch in der preußischen Aristokratie und in der Armee viel von dem Kapital monarchischer Gesinnung verwirtschaftet; die Einen kolportierten bedenkliche Geschichten von ihm oder machten schlechte Witze auf seine Kosten; die Anderen hatten ernsthafte Besorgnisse, besonders für den Fall, daß es einmal zum Kriege käme und er dann werde führen wollen. Der Skandal, den die „Kreuzzeitung“ gesucht hatte, brach dann auch prompt los. Die gesamte Presse stürzte sich jetzt auf die Schrift. [29] Viele Zeitungen brachten lange Auszüge; der „Hamburger Generalanzeiger“ wurde deshalb konfisziert, nach einiger Zeit aber, nachdem das Verfahren gegen den Redakteur eingestellt war, wieder freigegeben. Auch die ausländische Presse, die europäische und die überseeische, war voll von Mitteilungen über den „Caligula“. In den Witzblättern wurde Caligula zum Gegenstand meist sehr geschmackloser Scherze, teils auf des Kaisers, teils auf meine Kosten. In Singspielhallen waren Couplets über Caligula an der Tagesordnung. Das seltsamste Zeugnis für die Weltsensation der Schrift kam – aus Haiti. Die deutsche Regierung forderte Genugtuung für die einem Deutschen angetane Unbill. Um der Forderung Nachdruck zu geben, trat die deutsche Kriegsflotte (ich glaube: mit zwei Schulschiffen) vor Port au Prince in Aktion. Die Regierung von Haiti mußte sich fügen; der Minister, Solon Menos mit Namen, fand gegen deutsche Kanonen keine andere Gegenwehr als die, den Caligula ins Französische zu übersetzen und unter der Bevölkerung zu verbreiten. So wurde wenigstens erzählt. Ich habe die Einzelheiten nicht nachprüfen können. Tatsache ist jedenfalls, daß gegen Ende 1896 der gleiche Minister sich für die aufgezwungene Nachgiebigkeit durch eine Streitschrift schadlos hielt, in der er außer dem deutschen Gesandten auch den deutschen Kaiser angriff und den Caligula zitierte. Der „Reichsbote“ ließ sich darüber ausführlich berichten. Schon ehe die „Kreuzzeitung“ Lärm schlug, waren etwa 6000 Exemplare verkauft, ein Erfolg der nur von Mund zu Mund betriebenen Propaganda interessierter Leser. Aber jetzt nahm die Nachfrage unheimliche Dimensionen an. Die Druckerei, in der die „Gesellschaft“ gedruckt wurde, konnte den Bedarf nicht decken. Eine zweite, ja eine dritte mußte in Anspruch genommen werden, und die Maschinen liefen, wie der Verleger sich ausdrückte, Tag und Nacht. Es war noch keine Woche seit Erscheinen des Kreuzzeitungsartikels vergangen, da lag schon die 24. Auflage vor, und die „Leipziger Neuesten Nachrichten“ erfuhren „aus zuverlässiger Quelle“ (also wohl vom Verleger), daß bereits 150 000 Exemplare abgesetzt seien. Es folgten noch weitere sechs Auflagen, bis mit der 30. Schluß war. Wie hoch der gesamte Absatz war, habe ich niemals zuverlässig erfahren. Buchhändler, die damals im Sortimentsbuchhandel tätig waren, haben mir

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oft gesagt, der Absatz müsse in die Hunderttausende gegangen sein; denn einen solchen Erfolg, wie den des Caligula, hätten sie nie erlebt. Vielleicht irren sie sich ein wenig, weil der sich auf wenige Wochen zusammendrängende Erfolg einen stärkeren Eindruck auf sie gemacht hat als ein über Monate oder Jahre sich verteilender Erfolg anderer Bücher. Jedenfalls war die Verbreitung ungeheuer. Von den Gymnasiasten und Backfischen angefangen, die, wie mir mancher jetzt fast Fünfzigjährige erzählt, das Schriftchen heimlich unter der Schulbank lasen, [30] bis zu den Leuten im weißen Haar, vom Arbeiter bis zum hohen Beamten, General und Gelehrten, jeder mußte den Caligula haben. In Zeitungsausschnitten aus jener Zeit, die mir jetzt wieder durch die Hände gegangen sind, lese ich bewegliche Klagen konservativ gerichteter Verfasser über diesen Sensationserfolg und besonders auch über die Beobachtungen, die man über die soziale Schichtung der Käufer machen könne. Die sogenannten besten Kreise, mit Einschluß der Offiziere, seien stark dabei beteiligt. Da heißt es in einem Artikel: ‚Freilich von den Arbeitern und Handwerkern wurde das Heft nicht gekauft, und die ‚kleinen Leute‘ auf dem Lande und in den Kleinstädten haben es auch schwerlich zu Gesicht bekommen; dagegen griff der ‚bessere Mittelstand‘, gleichviel ob liberal, konservativ oder antisemitisch denkend, die Schrift mit der größten Begierde auf. Zuvor aber hatte sich bereits die ‚Crème der Gesellschaft‘ sowie der Geburts- und Geldadel wie auch das höhere Beamtentum auf die ‚Studie‘ hergestürzt und deren Inhalt gleichsam verschlungen.‘ Erkundigungen in Buchhandlungen hätten ergeben, berichtet der Verfasser weiter, ‚daß deren sämtliche Kunden aus den ‚höheren und höchsten Kreisen‘ sofort nach dem vielbesprochenen ‚Kreuzzeitungs‘-Artikel entweder persönlich oder durch ihre Diener die Quiddesche Schrift gekauft hätten.‘

Damit wird bestätigt, was ich oben über die Haltung der „Kreuzzeitung“ und ihres Leserkreises sagte. Dazu noch einige Belege: Ein Berliner Buchhändler erzählte mir, unter den Käufern der Schrift seien auffallend viele Offiziere gewesen. Der Prinz von Battenberg kaufte, wie ich zufällig erfahren habe, 20 Stück, um sie an den englischen Hof zu schicken. Eine preußische Prinzessin, der die Schrift in Berlin vorenthalten war, ließ sie sich, als sie München auf der Durchreise passierte, besorgen, las sie mit Vergnügen und war unvorsichtig genug, sie bei der Abreise von München in der Hand zu tragen. Noch bezeichnender für den sensationellen Erfolg der Schrift war die Flut von Broschüren, die sie im Gefolge hatte; einige von ihnen ernsthaft zu nehmende, gegen mich gerichtete Streitschriften; andere wissenschaftliche Veröffentlichungen, für die die Verleger die Konjunktur ausnutzten (so auch ein Sonderabdruck aus Hertzbergs Geschichte der römischen Kaiserzeit, die mir den ersten Anstoß zum Caligula gegeben hatte); die

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allermeisten aber ganz wertlose Machwerke, Hyänen des literarischen Schlachtfeldes, denen die Spekulation auf das Caligula-Interesse des Publikums wahrscheinlich mißlungen ist. Darunter war auch eine Schrift, die der frühere Redaktionssekretär meiner geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift verfaßt hatte. Darin wurde dem Publikum erzählt, mit wem ich in der Zeit vor dem Erscheinen des Caligula korrespondiert hätte; der Verfasser hatte dazu fleißig mein Postjournal exzerpiert. Unangenehmer war, daß er behauptete, ich hätte meine früheren gesellschaftlichen Beziehungen zu ostpreußischen Aristokraten für den Caligula benutzt, und meine besonderen Informationen, auch über den Kaiser, stammten daher. [31] Der Barthschen „Nation“ schien in der Schrift, deren moralische Minderwertigkeit sie sonst entsprechend kennzeichnete, diese Mitteilung politisch beachtenswert. Es war aber kein Wort daran wahr. Der Verfasser litt auch sonst vorübergehend an Wahnvorstellungen. Einen Erfolg ganz eigener Art erzielte ich bei Maximilian Harden. Er forderte mich, ehe der Kreuzzeitungsartikel erschien, zur Mitarbeiterschaft an seiner „Zukunft“ auf. Ich lehnte ab, da ich mit Arbeiten überhäuft sei und unsere politischen Anschauungen (obschon wir uns in der Gegnerschaft gegen Wilhelm II. trafen) doch zu weit auseinander gingen. Darauf erhielt ich folgenden Brief, der am Tage nach dem Erscheinen des Artikels in der Kreuzzeitung geschrieben war: Berlin, den 17. Mai 1894. Köthener Str. 27. Sehr geehrter Herr, ich bin nicht so anmaßend, von meinen Mitarbeitern die Aussprache meiner Ansichten zu verlangen. Und ich möchte, mit der wiederholten Bitte um Ihre Hilfe, mir den Hinweis darauf gestatten, welche ganz außerordentlich weitere Wirkung eine Arbeit wie etwa der Caligula in der ‚Zukunft‘ geübt hätte. Mit höflichem Dank für Ihren freundlichen Brief in vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebener Harden.

Ich antwortete darauf nicht mehr. Es vergingen nur zwei Wochen, da erschien in der „Zukunft“ vom 2. Juni an leitender Stelle ein von Harden geschriebener Artikel, in dem meine Arbeit für „eine wertlose und langweilige Schrift“ erklärt wurde, „eine ganz wertlose und grobe Karikatur, die vollends unverständlich wird, weil ein fataler Hang sich regt, in die Erzählungen aus dem alten Rom allerhand moderne Begriffe einzuschmuggeln“. Von mir persönlich wurde gesagt: „Für einen wirklich schuldigen Quidde könnte nicht rasch genug die Zwangsjacke herbeigeschafft werden.“

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Als in der Frankfurter Zeitung auf Hardens Versuch, mich als Mitarbeiter zu gewinnen, und auf diese seltsame Wandlung seines Urteils hingewiesen wurde, erklärte er in einem Brief an die Redaktion, er habe, als er mich zur Mitarbeit aufforderte, den Caligula „nachweislich“ noch nicht gekannt; er habe nur von „sonst verständigen Leuten“ gehört, die Schrift sei vortrefflich; dieses Urteil und ein Feuilleton, das Q. in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht hatte, hätten ihn veranlaßt, „den Münchener Historiker, wie alle Personen, die mir durch literarische Arbeiten auffallen, zur Mitarbeit an der Zukunft aufzufordern“.

[32] Meine persönlichen Schicksale nach dem Caligula. Nachdem der Artikel in der „Kreuzzeitung“ erschienen war, lag die Erwartung außerordentlich nahe, daß der Staatsanwalt einschreiten werde. Er hat sich in der Tat mit der Schrift beschäftigt und die Eröffnung der Anklage erwogen. Eines Tages wurde ich von Berlin gewarnt, und zwar durch Professor Jastrow, meinen Kollegen als Historiker, speziell als Herausgeber der „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft“, der sich von der Geschichte später der Nationalökonomie zugewandt hat, einen der Männer, die trotz großer wissenschaftlicher Verdienste im kaiserlichen Deutschland es nicht zu einem Ordinariat an einer Universität bringen konnten, weil er zwei für Historiker und Nationalökonomen doppelt belastende Mängel hatte: zugleich Jude und freisinnig zu sein. Ich bereitete mich auf eine Haussuchung und Verhaftung vor, indem ich private Korrespondenzen, die ich nicht gerne fremden Augen aussetzen wollte, bei Freunden in Sicherheit brachte, und indem ich nach dem Manuskript suchte, um es ebenfalls vor dem Zugriff der Staatsanwaltschaft zu sichern; denn in diesem Manuskript würde man drei fremde Handschriften entdeckt haben, die gar nicht zu verkennende von Franz Rühl, den die Entdeckung seiner „Beihilfe“ seine Professur hätte kosten können, und die meiner zwei jungen Mitarbeiter, die beide in ihrer Laufbahn sehr böse geschädigt wären. Ich konnte nicht richtig suchen, solange mein Hauptmitarbeiter, dem ich nicht traute und, wie seine später veröffentlichte Schrift bewies, mit Recht nicht trauen durfte, anwesend war. Erst als er gegangen war, an einem Sonntag, machte ich mich über alle Schreibtische, Regale, Schränke her. Das Manuskript war nicht zu finden. Jeden Augenblick konnte die Haussuchung stattfinden, und das Schicksal dreier Menschen hing von dem Manuskript ab. Da, als ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, fiel es mir zufällig in einer Kommodenschublade, in der ich es nie gesucht hätte, in die Hände. Die Blätter finden und sie dem Herdfeuer überantworten, war eins. Diese Vernichtung des Manuskriptes

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tut mir nachträglich natürlich [33] sehr leid; denn es besaß ein besonderes Interesse, weil es auf das anschaulichste die Entstehungsgeschichte der Schrift widerspiegelte. Bei etwas mehr Ruhe hätte ich wohl einen Weg finden können, um es bei Freunden zu bergen. Aber mich jagte die Angst vor dem Polizeikommissar, der jeden Augenblick die Klingel ziehen konnte. Als die Sorge um das Manuskript beseitigt war, erhob sich die Frage, was nun gegenüber der drohenden Anklage zu geschehen hatte. Ich erwartete dieselbe mit Bestimmtheit. Hatte doch unter anderm unser demokratisches Blatt, der „Nürnberger Anzeiger“, die große Unvorsichtigkeit begangen, auszuplaudern, daß die „Frankfurter Zeitung“ den Caligula wegen Gefährlichkeit abgelehnt hatte, und daß die Schrift von mir den Nürnberger Parteifreunden vorgelesen war. Mein juristischer Berater hielt die Lage für sehr gefährlich. Er argumentierte so: „Die Aufgabe des Staatsanwalts ist, wenn er seine Anklage nur auf die Schrift stützen will, außerordentlich schwierig; denn er muß, da in der Schrift mit keinem Wort vom Kaiser die Rede ist, immer behaupten, daß mit dieser oder jener Tatsache, die von Caligula erzählt wird, der Kaiser gemeint sei. Das ist sehr peinlich für ihn und der Erfolg zweifelhaft, selbst vor sächsischen Berufsrichtern. Sehr viel günstiger würde der Fall noch vor bayerischen Geschworenen stehen, vor die in Bayern alle Preßvergehen kommen. Da aber die „Gesellschaft“ zwar in München redigiert wird, aber in Leipzig erscheint, ist die Leipziger Strafkammer zuständig. Der Staatsanwalt wird deshalb, da er alles daransetzen muß, die Anklage, wenn sie einmal erhoben ist, auch zum Erfolg zu führen, und da er eine Freisprechung in einem solchen Falle, schon um des Kaisers willen, nicht riskieren darf, alle Leute vernehmen lassen, mit denen Sie näher verkehren, persönliche und politische Freunde, um dadurch festzustellen, ob sich nicht aus Ihren Äußerungen der Beweis für den dolus ergibt. Da Sie nun außerordentlich unvorsichtig gewesen sind, wird dieser Beweis mit Leichtigkeit gelingen. Zu der einen Majestätsbeleidigung werden noch andere hinzukommen, wie bei jedem von uns, wenn man all seine Privatunterhaltungen vor Gericht stellt. Dann wird der Staatsanwalt, da dieser Fall von Majestätsbeleidigung nach seiner Auffassung wegen der politischen Auswirkung und wegen des ungeheuren Aufsehens in der ganzen Welt schwerer als alle anderen zu bewerten ist, das im Gesetz vorgesehene Höchstmaß beantragen, d. i. fünf Jahre Gefängnis. Das Gericht wird diesem Antrag vielleicht nicht ganz folgen; aber auf vier Jahre müssen Sie sich gefaßt machen. Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben: gehen Sie zum Bahnhof, und fahren Sie mit dem nächsten Zuge in die Schweiz.“ Meine Frau, die sonst außerordentlich tapfer ist und mir in all den Fährlichkeiten ein großer Halt war, war begreiflicherweise eingeängstigt und ließ sich von dieser Argumentation, die auch mir einen starken Eindruck [34] machte,

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überzeugen. Sie redete mir zu, sogleich zu fahren, wollte nur noch ein paar Tage bleiben, um geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen, und dann mir nachkommen. Ich habe in meinem Leben viele Dummheiten gemacht, auch, wie ich nicht leugne, in der Caligula-Affäre. Aber dessen darf ich mich rühmen, daß ich in dieser Situation, die die Nerven auf das äußerste anspannte, gegenüber allen meine Willenskraft aufreibenden Einflüssen festblieb. Ich erklärte, daß ich auf keinen Fall fliehen würde, sondern nun die Folgen meiner Tat tragen müßte. Was mich bestimmte, war durchaus keine heldische Auffassung, sondern die ganz nüchterne Erwägung, daß der noch zögernde Staatsanwalt, wenn ich außer Landes ginge, sicher zur Anklage schreiten würde, weil er meine Flucht als Schuldbekenntnis benutzen konnte, und daß ich, wenn ich mich dann stellte, meine Lage außerordentlich verschlechtert hätte, wenn ich mich aber nicht stellte, meine ganze Existenz vernichtete. Aber etwas – das war das Ergebnis der Beratung – sollte gegenüber dem Artikel der Kreuzzeitung und gegenüber der drohenden Anklage doch geschehen. Wenn ich zu all dem, was in der Presse behauptet wurde, schwieg, so konnte daraus der Staatsanwalt folgern, ich hätte die Majestätsbeleidigung selbst zugegeben, nach dem Grundsatz „qui tacet, consentire videtur“ (wer schweigt, scheint zu gestehen). Diese Waffe wollte ich dem Staatsanwalt aus der Hand schlagen. Wahrscheinlich war das ganz falsch gefolgert; aber damals schien es mir einleuchtend, und so kam ich dazu, am 23. Mai in der „Vossischen Zeitung“ und gleichzeitig in der „Frankfurter“ eine Erklärung folgenden Wortlauts zu veröffentlichen: Die ‚Kreuzztg.‘ beschäftigt sich in einem langen Artikel, der mir erst jetzt zugänglich geworden ist, mit meiner historischen Studie über Caligula und römischen Caesarenwahnsinn. Sie behandelt die Schrift als ein politisches Pamphlet, trifft unter diesem Gesichtspunkt eine ganz einseitige Auswahl von Einzelheiten, deutet diese mit Behagen zu ihren Zwecken aus und möchte das Ganze, wenn ich recht verstehe, vor den Strafrichter stellen. Einer Beurteilung des Vorgehens der ‚Kreuzztg.‘, besonders von ihrem eigenen royalistischen Standpunkt aus, kann ich mich wohl enthalten, um so mehr, da es bereits ein großer Teil der Presse gekennzeichnet hat. Auf die Zurückweisung der einzelnen Insinuationen aber sich einlassen, hieße gleichfalls der Skandalsucht dienen, mit der die Schrift als solche nichts zu tun hat. Ich kann jedem, dem es nicht um ein interessantes historisches Problem, sondern um Sensation zu tun ist, nur raten, die Schrift ungelesen zu lassen, und ich werde sie auch, soweit es in meinen Kräften steht, diesem Sensationsbedürfnis zu entziehen suchen. Zur Sache beschränke ich mich auf die Bemerkung, daß die Schrift sowohl in Inhalt wie Form durchaus historisch ist und sich ohne die Seitenblicke der ‚Kreuzztg.‘ streng an das historische Thema hält. Will die ‚Kreuzztg.‘ sich aufs Vergleichen legen, so empfehle

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ich ihr nicht Persönlichkeiten der jüngsten Vergangenheit, sondern andere Darstellungen der Zeit Caligulas heranzuziehen, [35] sie wird dann finden, daß ich nichts entstellt, nichts von außen hineingetragen, vielmehr ganz in Übereinstimmung mit anderen Autoren berichtet habe. Die Arbeit ist allerdings nicht im Stil einer antiquarischen Stubengelehrsamkeit, sondern mit lebhaftem historisch-politischen Interesse, mehr nach Publizisten- als nach Professorenart, geschrieben. Wohl mag es sich deshalb bei Behandlung eines solchen Themas unwillkürlich geltend gemacht haben, daß ich in republikanischen Anschauungen groß geworden bin. Diese Grundrichtung scheint ja auch die ‚Kreuzztg.‘, wie ihre Schlußworte zeigen, empfunden zu haben, und vielleicht hat sie sich von ihrer Empörung darüber dazu hinreißen lassen, mir so ganz andere Dinge als bloße antimonarchische Gesinnung unterzulegen. Der ‚Reichsb.‘ führt die Entstehung der Schrift gar darauf zurück, daß ich meine Stellung am Preußischen Institut in Rom verloren hätte und nun als ‚Zurückgesetzter‘ anfange, ‚Demagogie‘ zu treiben. Das wird für jeden, der die Verhältnisse einigermaßen kennt, recht humoristisch sein. Von anderen Dingen abgesehen, weiß auch jeder dritte Fachgenosse, daß mein eigener Wunsch, begonnene Unternehmungen in Deutschland fortzusetzen, es mir unmöglich gemacht hat, in Rom zu bleiben. Nachdem ich zwei Jahre lang (nicht nur ein Jahr) den Versuch gemacht hatte, die Pflichten gegen drei wissenschaftliche Unternehmungen zu vereinigen, glaubte ich, im Interesese aller und meiner selbst darauf verzichten zu müssen, obwohl die vorgesetzten Behörden es bis zuletzt an dem größten, fast beschämenden Entgegenkommen nicht fehlen ließen. Übrigens habe ich meine Studie, als ich noch in meiner Stellung am Institut war, gerade unter den Eindrücken des kaiserlichen Rom und des ‚Ponte di Caligula‘ zu schreiben begonnen.

Diese Erklärung war abgefaßt nach Art eines offiziösen Dementis, das etwas zu sagen scheint, was in Wirklichkeit, wenn man genau liest, nicht darinsteht. Sie zog mir die heftigsten Angriffe zu. Es wurde mir vorgeworfen, ich hätte in ihr behauptet, daß ich in der Schrift an den Kaiser gar nicht gedacht hätte. Das steht, wie man sieht, nicht in der Erklärung. Was aber darinsteht, daß „die Schrift sowohl in Inhalt wie Form durchaus historisch ist und sich ohne die Seitenblicke der ‚Kreuzzeitung‘ streng an das historische Thema hält“, entspricht durchaus dem Tatbestand. Ich hoffe heute Glauben zu finden, wenn ich sage, daß mich in der Tat, ganz abgesehen von den Anspielungen und den Beziehungen auf die Gegenwart, das Thema Caligula als solches historisch und psychologisch interessiert hat. Manche Partien der Schrift, in denen von einer Parallele zum Kaiser nicht die Rede sein kann, sind nur so zu erklären. Wer die Erklärung liest, kann sie, wie damals, so auch heute, unter so ganz anders gelagerten Verhältnissen, nur richtig bewerten, wenn er die Fähigkeit und den guten Willen hat, sich ganz in die gegebene Lage zu versetzen. Das taten auch damals die meisten, die mir halbwegs wohlgesinnt waren. Ich kann darauf verweisen, daß die Erklärung mir nicht nur in mei-

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ner Partei nicht verdacht worden ist (die Ehrenämter und Kandidaturen, die mir in der allernächsten Zeit übertragen wurden, beweisen es), sondern daß auch außerhalb der Partei stehende, sehr angesehene Männer von strengen Ehr-[36]begriffen, wie man nachher sehen wird, sich auf meine Seite stellten, als ich wegen der Erklärung Anfechtungen zu ertragen hatte. Schlimm war, daß sich die ganze Meute derer, die nach dem Erscheinen des Caligula sich schmunzelnd die Hände gerieben hatten, die aber das Bedürfnis fühlten, nach außen Entrüstung zu zeigen, nun auf die Erklärung stürzte. Dagegen ließ sich nichts tun, wenn ich mich nicht geradezu dem Strafrichter ausliefern wollte. Fordern konnte es nur ein Narr. Es ist außerordentlich leicht, sich in die Brust zu werfen, wenn man auf anderer Leute Kosten tapfer sein kann. Im Sinne meiner Erklärung lehnte ich die zahlreichen Aufforderungen, meine Genehmigung zur Übersetzung der Schrift in fremde Sprachen zu geben, ab. Das habe ich selbstverständlich auch während des Krieges getan, als man von England aus an mich aufs neue herantrat, und ebenso nach dem Zusammenbruch, als mit der Begründung, wie glänzend Recht ich gehabt hätte, neue Anerbietungen kamen, bis zum heutigen Tage. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf die Erhebung einer Anklage. Ich wurde nicht einmal im Ermittlungsverfahren vernommen, geschweige daß eine Voruntersuchung eingeleitet wäre. Die Gründe für den Verzicht kenne ich auch heute nicht. Möglich, daß sie in der Schwierigkeit der Durchführung einer Anklage lagen, möglich auch daß persönliche Einflüsse sich geltend gemacht haben. Die Zeitungen berichteten, der Kaiser habe die Schrift in Pröckelwitz beim Grafen Dohna zu lesen bekommen, habe kein Wort dazu gesagt, sei aber unmittelbar darauf in bester Laune gewesen. Mitteilungen, die ich von anderer Seite erhalten habe, lauteten ganz anders. Die strafrechtliche Verfolgung blieb also aus. Aber die Staatsanwaltschaft widmete von da an meiner öffentlichen Tätigkeit eine besonders liebevolle Aufmerksamkeit, und indirekt habe ich schließlich zwei Jahre später den Caligula mit drei Monaten Gefängnis büßen müssen. Davon ist nachher zu erzählen. Zunächst die unmittelbaren Folgen für meine gesellschaftliche und wissenschaftliche Stellung. Sie waren weit schlimmer als die drei Monate Gefängnis. Im Jahre 1888 hatte ich eine historische Fachzeitschrift gegründet: die „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“. Der von mir geschriebene Artikel „Zur Einführung“ ist datiert „Rom, 18. Oktober 1888“. Mit diesem Datum verbindet sich, wie hier nebenbei erzählt sein mag, auch eine Erinnerung an Wilhelm II. Er war damals zu Besuch in Rom, und am 18. Oktober, dem Geburtstag seines Vaters, dem ersten nach dessen

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so qualvollen und erschütternden Tode, ließ er sich zu Ehren ein großes Fest bereiten, das Forum strahlte in glänzender Beleuchtung. In der italienischen königlichen Familie, die mit Kaiser Friedrich wirklich befreundet gewesen war, empfand man, wie erzählt wurde, diesen Mangel an Feingefühl sehr stark, wie denn [37] dieser Aufenthalt des Kaisers in Rom überhaupt reich an seltsamen Taktlosigkeiten war. Mit meiner Zeitschrift hatte ich, da deren Eigenart einem stark empfundenen wissenschaftlichen Bedürfnis entsprach, gleich von Anfang an einen überraschenden Erfolg gehabt; ich hatte dann eine unsagbare Menge von Arbeit besonders in den Nachrichtendienst und in die ganz eigenartige „Bibliographie“ hineingesteckt, hatte nicht nur Zeit und Arbeit, sondern auch große Geldmittel für sie geopfert und hatte ihr ein unbestrittenes Ansehen errungen, das zugleich mir selbst eine sehr angenehme Stellung unter den Fachgenossen gab. Ich erstrebte keine Professur oder irgendeine andere Anstellung, war also niemandes Konkurrent, stand ganz außerhalb aller akademischen Cliquenbildung, außerhalb aller Eifersüchteleien und Intriguen und übte als Herausgeber meiner Zeitschrift doch einen gewissen Einfluß aus, der über meine wissenschaftlichen Leistungen hinausging. Durch den Caligula wurde das alles zerstört; denn die meisten angesehenen Fachgenossen wollten nun mit der Zeitschrift nichts mehr zu tun haben. So wohlgelitten ich vorher im Kreise der deutschen Historiker gewesen war, fortan war ich – wenigstens für die nächsten Jahre – förmlich geächtet. Das zeigte sich u. a. auf dem nächsten, dem Frankfurter Historikertage. Der erste, im Herbst 1892 in München, war unter meiner wesentlichen Beihilfe organisiert worden. Auf dem zweiten, Ostern 1894 in Leipzig war ich ein vielbegehrter Kollege. In Frankfurt rückte so ziemlich jeder, der etwas bedeutete, oder der etwas werden wollte, von mir ab. Die Redaktion meiner Zeitschrift habe ich dann 1896 Karl Lamprecht überlassen. Die „Neue Folge“ wurde „im Verein mit G. Buchholz, K. Lamprecht, E. Marx“, die alle drei damals in Leipzig lehrten, von Gerhard Seliger herausgegeben. Auf dem Titel stand noch „gegründet von L. Quidde“. Das war vertragsmäßig ausgemacht. Von dieser „Neuen Folge“ erschienen nur zwei Jahrgänge. Dann wurde, wohl um meinen kompromittierenden Namen vom Titel zu entfernen, der Name der Zeitschrift zugleich mit dem Übergang in einen neuen Verlag geändert. Sie hieß nun „Historische Vierteljahrsschrift“. Als Herausgeber zeichnete fortan allein Gerhard Seliger. Auf dem Titel hieß es zwar noch immer „Neue Folge der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, aber ohne Erwähnung des Gründers. Die Historische Klasse der Münchener Akademie, deren außerordentliches Mitglied ich seit 1892 war, glaubte zu der Schrift Stellung nehmen zu müssen. Sie sprach über sie „als über einen Mißbrauch der Wissenschaft“

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ihre Mißbilligung aus. Ich habe sehr wohl begriffen, daß die Akademiemitglieder angesichts des gegen mich losgebrochenen Sturmes glaubten, etwas sagen zu müssen; aber ich habe den Tadel nicht stillschweigend hingenommen, sondern darauf, trotz Abratens [38] eines treu zu mir haltenden Freundes, des Akademiesekretärs Professor Max Lossen, geantwortet: Zu dem Urteil selbst mich zu äußern, versage ich mir; denn da die Arbeit mit der Akademie in gar keiner Beziehung steht, vermag ich nicht einzusehen, woher die Klasse überhaupt das Recht nimmt, die persönliche Ansicht ihrer Mitglieder über meine Schrift als korporatives Urteil abzugeben. Vielmehr bin ich der Meinung, daß eine derartige Zensur nicht zu ihrer Kompetenz gehört, und ich bitte, diese meine Verwahrung zur Kenntnis der Klasse zu bringen.

Die Schrift Caligula ist natürlich nur formal, nicht sachlich, eine historische, wissenschaftliche Arbeit, ihrem Wesen nach aber eine politische Satire wie die auf Friedrich Wilhelm IV. gemünzte Schrift von David Friedrich Strauß: „Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren oder Julian der Abtrünnige.“ Oder wie die berühmte gegen Napoleon III. gerichtete Streitschrift von A. Rogeard „Les propos de Labienus“ (deutsch unter dem Titel „Die Gespräche des Labienus“). Man mag darüber streiten, ob man in solchen Schriften die erlaubte Verwendung historischen Materials für einen der geschichtlichen Wissenschaft fremden Zweck oder einen Mißbrauch der Geschichtswissenschaft sehen will. Die den Ereignissen zeitlich fernstehende Kritik, auch der Historiker, hat weder David Friedrich Strauß noch Rogeard Mißbrauch der Wissenschaft vorgeworfen; sie wird wohl künftig einmal auch das gegen mich in der Erregung des Jahres 1894 gefällte Urteil nicht bestätigen. Der berühmteste damals lebende deutsche Historiker hat, wenn ich nicht irre, schon unter dem unmittelbaren Eindruck der Schrift anders geurteilt. Treitschke sagte zu einem seiner einstigen Schüler: Der Caligula sei als politische Satire der Schrift von David Friedrich Strauß weit überlegen und leider, leider in vielem nur zu berechtigt. Es sei gestattet, über den Mißbrauch der Wissenschaft noch ein Wort zu sagen. Den schlimmsten Mißbrauch geschichtlicher Wissenschaft stellen jedenfalls alle jene Bücher dar, die wahrheitswidrig, oft genug bewußt wahrheitswidrig, mit dem Schein der Objektivität, die Geschichte im Dienste einer bestimmten Tendenz verwenden, sei es, um „das angestammte Herrscherhaus“ zu feiern und den Monarchen Verdienste zuzuschreiben, auf die sie nicht das leiseste Anrecht haben, zugleich ihre Schwächen und Laster zu verdecken, oder um dem Volke zu schmeicheln und aus gewissenlosen Demagogen Idealgestalten zu machen. Viele von unseren Schulbüchern waren von übelster monarchistischer Tendenz-Geschichtsschreibung beherrscht. Wohl hat es immer Männer der Wissen-

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schaft gegeben, die sich dagegen aufgelehnt haben; aber daß sie korporativ diesen Mißbrauch der Wissenschaft verurteilt hätten, ist kaum vorgekommen. Viel empfindlicher als die Rüge der Historischen Klasse der Akademie traf mich das Vorgehen der der Münchner Akademie an-[39]gegliederten Historischen Kommission. Sie entzog mir auf der Pfingstversammlung 1896, als meine Verurteilung eben erfolgt war, die Leitung der „Deutschen Reichtags-Akten“, die mir nach dem Willen meines Lehrers, Julius Weizsäcker, seit dessen Tode anvertraut war. Ich habe diesen Beschluß, da er meines Erachtens durch meine Ausschließung von der Beratung gegen die Satzungen verstieß, nicht anerkannt und habe, im Besitz der Materialien, die zur Fortführung der Arbeit durch meine Mitarbeiter erforderlich waren, deren Herausgabe verweigert. Es gab einen schweren Kampf, in dem mehrere Mitglieder mit einer wohlwollenden Objektivität, die ich ihnen dauernd gedankt habe, zu vermitteln suchten. Der Abschluß war ein Kompromiß. Meine jüngeren Mitarbeiter wurden, was durchaus in der Richtung meiner eigenen Absichten lag, selbständig, und ich erhielt eine bestimmte Aufgabe innerhalb des Gesamtunternehmens zugewiesen. War die Beilegung des Konflikts in der Münchner Historischen Kommission nach der damaligen Lage für meine wissenschaftliche Tätigkeit fast eine Lebensfrage, so waren die Konsequenzen, die sich aus dem Caligula beim Preußischen Historischen Institut in Rom ergaben, mehr komisch als ernst zu nehmen. Mein Name verschwand bis auf weiteres aus der Geschichte des Instituts. Wenige Jahre nach Gründung desselben war ich zwei Jahre lang der leitende Sekretär gewesen. Allerdings hatte ich, wie bei meiner Anstellung von vornherein vereinbart war, durch meine Zeitschrift und durch die Reichstagakten stark in Anspruch genommen, mich an der wissenschaftlichen Arbeit nur wenig beteiligen können; ich hatte aber, wie von allen Seiten anerkannt wurde, eine für die Zukunft des Instituts sehr wesentliche organisatorische Arbeit geleistet, hatte das Institut aus einer vollständig verfahrenen Situation gegenüber dem Deutschen Archäologischen Institut und gegenüber dem Österreichischen Historischen Institut herausgeführt, hatte nach allen Seiten, auch gegenüber dem Historischen Institut der Görresgesellschaft, die besten Beziehungen hergestellt, hatte Arbeitsgebiete, um die ein erbitterter Kampf geführt wurde, durch friedliche Vereinbarung, nicht zum Nachteil des Instituts, abgegrenzt und hinterließ meinem Nachfolger statt der Atmosphäre feindlicher Spannungen und beleidigenden Mißtrauens, in die ich 1890 hineingestellt wurde, durchaus geordnete Verhältnisse, die auf allen Gebieten ein ruhiges wissenschaftliches Arbeiten gestatteten.

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Das mögen keine großen Leistungen sein; aber für das Institut waren sie bedeutsam. Gleichwohl glaubte mein Nachfolger, als er bei irgendeiner Gelegenheit (ich glaube beim Reichsjubiläum 1896) in einer Festsitzung über die Entwicklung des Institutes sprach, es nicht wagen zu können, meiner Erwähnung zu tun. So wurde mir wenigstens von Ohrenzeugen erzählt. Es klaffte in der Geschichte [40] eine Lücke von zwei Jahren, in der, wie es scheint, Herr Niemand das Institut geleitet hatte. Viel stärker noch trat die geflissentliche Unterdrückung meines Namens hervor, als der erste und bisher einzige Band des vom Institut herausgegebenen „Repertorium Germanicum“ erschien. Das Unternehmen ging auf eine Anregung von mir zurück, die mir allerdings gründlich verschandelt war, da ich meine Schöpfung nach meinem Rücktritt, ehe die Arbeiten begannen und alle meine Abmachungen über den Haufen geworfen wurden, nicht mehr vertreten konnte. Hätte man mir die Vaterschaft für das Monstrum von Edition zugeschoben, so würde ich entrüstet protestiert haben. Gleichwohl war es fast unmöglich, im Vorwort zu dem Bande meiner nicht zu gedenken. Der Herausgeber hat es auch in dem Manuskript, das er an die vorgesetzte Kommission einschickte, durchaus loyal getan. Aber in Berlin wurde ihm dieser Satz des Vorworts gestrichen. Daß man so sehr bestrebt war, die Erinnerung an meine Sekretariatszeit auszulöschen, erklärt sich daraus, daß der Kaiser an dem Historischen Institut, dessen Gründung von ihm tatsächlich wesentlich gefördert war, persönlich Interesse nahm und die Veröffentlichungen ihm vorgelegt wurden. Aber auch wo diese Rücksicht nicht unmittelbar maßgebend war, ging es ähnlich zu. Als mein unmittelbarer Nachfolger zurücktrat, bemächtigte sich die Tagespresse der Frage, wer zu berufen und wie das Programm des Instituts auszugestalten sei. Dabei wurde natürlich viel von der Vergangenheit gesprochen. Von mir schwiegen alle Flöten, bis sich an der Diskussion auch Professor Finke, Freiburg, ein Studiengenosse von mir aus Weizsäckers Seminar, beteiligte. Er hatte zur Zeit, da ich Sekretär war, in Rom gearbeitet, und zwar als katholischer Historiker in Verbindung mit dem Görres-Institut. Er schrieb, in all den Erörterungen werde sehr zu Unrecht der Tätigkeit Quiddes fast gar nicht gedacht. Er habe viel mehr geleistet, als man Wort haben wolle. Auch habe er in dem Kreise der in Rom tätigen deutschen Historiker, die sich mit einem sonst in solchen Kreisen ganz ungewohnten unfreundlichen Mißtrauen gegenüberstanden, eine ganz andere Gesinnung gepflegt; er habe sich die Anhänglichkeit seiner Assistenten und das Vertrauen der anderen Kollegen gewonnen. Mit einer gewissen Wehmut denke man der Zeit, da man gemeinsam unter seiner Leitung in der „Siciliana“, einer sizilianischen Weinstube, gekneipt

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habe. Selbst diese freundliche Anerkennung schlug mir zum Unheil aus. Der Jesuit Paul Maria Baumgarten schrieb in der Augsburger Postzeitung, von der Tätigkeit Q.s als Sekretär sei weiter nichts zu rühmen, als daß er ordentlich habe kneipen können. Solche Frechheiten waren wohl nur nur möglich, weil ich nach dem Caligula für viele Leute vogelfrei war. [41] Von dem Abbruch vieler gesellschaftlicher Beziehungen, von dem zeitweiligen gesellschaftlichen Boykott, dem alte Beziehungen in aristokratischen Kreisen auffallenderweise viel besser Stand hielten als viele in bürgerlichen, speziell akademischen, will ich nicht viel reden. Einer der Fachgenossen, der mir persönlich mit am nächsten gestanden hatte, schrieb mir, ich möchte vergessen, daß wir uns gekannt hätten. Besondere Erwähnung verdient nur noch das Vorgehen in einer sehr angesehenen, rein geselligen Münchner Vereinigung. Zuerst forderte der Vorsitzende mich auf, einem Sommerfest des Vereins mit Rücksicht darauf, daß man den preußischen Gesandten dabei erwarte, fernzubleiben, während eine vertrauliche Erkundigung ihm leicht hätte die Gewißheit geben können, daß mir nichts ferner lag, als mich einem Kreise, in dem ich vielen unwillkommen war, aufzudrängen. Dann verlangte man, ich sollte meinen Austritt erklären. Ich lehnte ab und stellte die Gegenforderung, wenn man diesen Austritt wünsche, so solle man in der Mitgliederversammlung beantragen, mich auszuschließen; ich würde mich mit Vergnügen der Erörterung stellen. In dieser Lage erklärten drei Mitglieder, keine geringeren als Reichstagsabgeordneter Freiherr von Stauffenberg, Prof. Lujo Brentano und Prof. Max Lossen, sie würden austreten, wenn man gegen mich vorgehe. Die Gesellschaft verzichtete darauf, ein Ausschließungsverfahren einzuleiten; ich blieb noch eine Zeitlang Mitglied, ohne die Versammlungen zu besuchen, und erklärte dann meinen Austritt. Viele Jahre habe ich im öffentlichen Leben an den Folgen des Caligula zu tragen gehabt. Ich mußte entweder auf Mitwirkung, wo ich mich gern beteiligt hätte, verzichten oder auch, wo ich die Arbeit leistete, hinter den Kulissen bleiben. Nur einige Beispiele aus einer langen Reihe. Als in München auf Veranlassung des Fürsten Löwenstein eine Ortsgruppe der Anti-Duell-Liga gegründet wurde, wählte man mich in den Ausschuß als einziges Gegengewicht gegen all die katholischen, politisch dem Zentrum zugehörenden, meist adligen Mitglieder. Nach einigen Monaten kam Fürst von der Leyen, der mich vorgeschlagen hatte, zu mir, um mich zu bitten, im Interesse der Sache zurückzutreten, da ihm von Berlin bedeutet sei, es würde unmöglich sein, den Kaiser, auf den doch wegen des Duells in der Armee sehr viel ankam, für die Zwecke der Liga zu gewinnen, wenn mein Name in der Liste des Ausschusses vorkomme. Es wurde mir angeboten, an meine Stelle jeden zu wählen, den ich vorschlagen würde. Ich trat natürlich zurück.

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Als im Jahre 1899 nach Erscheinen des berühmten Zarenmanifestes hier in München das Komitee für Kundgebungen zur Unterstützung des Manifestes gegründet wurde, das seine Tätigkeit auf ganz Deutschland ausdehnte, berief man mich zur Leitung. Das [42] durfte aber, da man doch auch amtliche Stellen gewinnen wollte, nach außen nicht hervortreten; Prof. Lipps trat deshalb an die Spitze, nahm aber nur an unter der Bedingung, daß ich mich ihm als eigentlich geschäftsführender Vorsitzender zur Verfügung stellte. Als 1907 der Weltfriedenskongreß in München stattfand, den in der Hauptsache ich organisiert und geleitet habe, machte mir nichts so viel Mühe, als den repräsentativen Vorsitzenden für den Ortsausschuß zu finden. Selbst an diese Stelle zu treten, war ganz unmöglich, da wir selbstverständlich zur Eröffnungssitzung das „diplomatische Korps“ und darunter auch den preußischen Gesandten einladen mußten. Als Oberbürgermeister v. Borscht meinte, meine Stellung in München sei so gefestigt, daß ich mich über dieses Bedenken fortsetzen könnte, gab Graf Podewils mir Recht, daß ich mich zurückhalten müsse. Ja, noch 1913, als in der Deutschen Friedensgesellschaft sich die Notwendigkeit herausstellte, an Stelle des schwerkranken Dr. Adolf Richter einen neuen Vorsitzenden zu suchen, hieß es, eigentlich sei Q. der gegebene Mann; aber wegen des Caligula könne man ihn nicht nehmen, um sich nicht für Einwirkung auf die Reichsregierung unnötige Schwierigkeiten zu schaffen. Erst als alle anderen Lösungsversuche scheiterten, wurde ich im Mai 1914 gewählt. Ich habe auch niemals, wenn ich im Auslande war, die Dienste unserer diplomatischen Vertreter für irgendwelche persönlichen Wünsche in Anspruch genommen, habe deshalb z. B., als ich 1904 in Amerika war, auf einen Besuch beim Präsidenten Roosevelt verzichtet und habe befreundete Gesandte nicht besucht, um sie nicht in der Wilhelmstraße zu kompromittieren. Erst der Krieg hat darin Wandel geschaffen. Zwar habe ich noch im Sommer 1915 die Denkschrift des Bundes Neues Vaterland „Sollen wir annektieren?“ anonym geschrieben und auf Verschweigung meines Namens Gewicht gelegt, um der Aufnahme nicht zu schaden. Aber als Prof. Hans Delbrück Falkenhayn das Ehrendoktor-Diplom der Philosophischen Fakultät überbrachte und im Großen Hauptquartier den Chef des Zivilkabinetts die Vortrefflichkeit der Denkschrift rühmen hörte, konnte er meinen Namen nennen, ohne Entsetzen zu erregen. Bald darauf wurde ich als Vertreter des Pazifismus im Auswärtigen Amt empfangen. Staatssekretär Zimmermann veranlaßte dann, daß ich unsere Forderungen BethmannHollweg vortragen konnte, zum Entsetzen liberaler Kollegen im Bayrischen Landtag. Später habe ich Minister und Botschafter, auch solche

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von altem Adel, kennengelernt, die mir erzählten, daß die Lektüre des Caligula zu den Anfängen ihrer politischen Bildung oder zu den stärksten Eindrücken ihrer Jugendzeit gehörte. Schon bald nach dem Erscheinen der Schrift gab es neben dem Schweren, das ich durchzumachen hatte, auch freundliche Erlebnisse. [43] Mancher Mann von Wert und Bedeutung hat mir seine Genugtuung ausgedrückt. In Erinnerung ist mir besonders ein Vorfall in Lindau. Im Bayerischen Hof dort sagte mir der Portier, Prof. Ludwig aus Leipzig, berühmter Physiologe, der meinen Namen auf der Fremdentafel gesehen, bitte mich, ihm Gelegenheit zu geben, mich zu sprechen. Ich ahnte nichts Gutes und erwartete, Ludwig, Schwiegervater des Historikers Alfred Dove, Mitgliedes der Münchener Akademie, werde mir heftige Vorwürfe machen wollen. Trotzdem suchte ich ihn kurz vor der Abreise noch auf. Statt mir den Kopf zu waschen, dankte er mir für den Dienst, den ich dem Deutschen Volke erwiesen habe; er hoffe, daß vom Caligula eine Wiederbelebung der Demokratie und eine Überwindung des widerwärtigen Byzantinismus ausgehen werde. Zum Schluß noch zwei kleine scherzhafte Erlebnisse. Ich brauchte in Berlin rasch Visitenkarten, bestellte sie abends kurz vor Ladenschluß und bat, sie mir am nächsten Morgen früh ins Hotel zu schicken. „Ganz unmöglich.“ Es passe mir mit anderen Verabredungen so sehr schlecht, sie abzuholen. „Bedaure, wirklich ganz unmöglich.“ Es blieb mir nichts übrig, als mich darein zu finden, und ich gab meine Karte als Muster. Freudiges Aufblicken des Geschäftsinhabers. „Sind Sie der Quidde, der den Caligula geschrieben?“ „Ja.“ „Dann schicke ich Ihnen die Karten.“ Auf einer Reise nach Italien kam ich nach Trient ins Hotel Trento. Man gab mir ein mäßiges Zimmer. Als ich meinen Namen ins Fremdenbuch eingetragen hatte, kam der Direktor. „Sind Sie der Dr. Quidde? Dann ist’s mir eine Ehre, Ihnen ein sehr schönes Zimmer zu geben, natürlich ohne daß Sie mehr zu zahlen brauchen.“

Der Staatsanwalt mir auf den Fersen. In den Jahren, die dem Erscheinen des Caligula folgten, habe ich eine außerordentlich rege politische Tätigkeit entfaltet, in München und außerhalb in Versammlungen. Fortwährend war ich unterwegs wie der reine „Commis voyageur“ der deutschen Demokratie. Im Winter 1894/95 stand der Kampf gegen die vom Kaiser geforderte Umsturzvorlage im Vordergrund. Später spielte für mich eine Hauptrolle die Bekämpfung des widerlichen Byzantinismus, der sich der vom Kaiser vollzogenen Umtaufung Wilhelms I. in „Wilhelm den Großen“ anpaßte. Daneben waren des Kaisers Flottenrüstungspläne zu bekämpfen. Die um sich greifende Seuche der

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Majestätsbeleidigungsprozesse gab Anlaß zu scharfen Protesten. Nach Erledigung der Umsturzvorlage kam die einer ganz direkt vom Kaiser ausgegebenen Parole entsprungene Zuchthausvorlage an die Reihe. Aus diesen Fragen der Tagespolitik ergab sich ganz von selbst die Notwendigkeit, sich immer wieder mit dem Kaiser persönlich auseinanderzusetzen. [44] Das war umsomehr geboten, da er nicht abließ, durch sein Auftreten die Kritik herauszufordern. Was er tat und sagte, gab zum Teil sehr unerfreulichen Anlaß zu ernsten Besorgnissen, gab zum Teil aber auch willkommenen Anlaß zur Bekämpfung der monarchischen Gesinnung und ihrer Ausartungen, der Lakaiengesinnung, die einen Teil des deutschen Volkes beherrschte, des kritiklosen Kultus, der mit der Monarchie getrieben wurde. Wir süddeutschen Demokraten (obgleich in Bremen geboren und dem alten Hanseatengeist, wie ich hoffe, nicht entfremdet, zähle ich mich durch meine politische Entwicklung doch ganz zur süddeutschen Demokratie) waren durchweg Republikaner. Das heißt: wir verfolgten keine Pläne, die auf Beseitigung der Monarchie abzielten; denn es war uns klar, daß die Monarchie im deutschen Volke viel zu fest verankert war, und daß man eine Republik ohne Republikaner nicht gründen könne; für die Gegenwart war uns die Demokratisierung der Verfassung und der Verwaltung viel wichtiger als die Frage der Staatsform; aber wir waren gesinnungsgemäß Republikaner, pflegten in unseren Reihen den Geist der Demokraten von 1848, trugen die schwarzrotgoldenen Farben der Deutschen Republik, bekämpften den Monarchismus und suchten republikanische Gesinnung zu verbreiten. In der Betreibung dieser Propaganda und in der bewußten Zuspitzung des Kampfes auch gegen die Person des Kaisers war ich einer der eifrigsten. Es war natürlich ein gefährlich Handwerk, um so gefährlicher, da die Staatsanwaltschaft mich mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit beehrte. Mehr als einmal mußte ich mich vor dem Untersuchungsrichter verantworten. Einige Fälle sind mir genauer in Erinnerung geblieben. In reaktionären Kreisen spielte man damals mit dem Gedanken, das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht zu beseitigen. In einer Versammlung sagte ich, ein solcher Staatsstreich bedeute Blut; er werde die Massen auf die Barrikaden treiben. Es folgte eine Anklage auf Grund der §§ 110 und 130 wegen Aufreizung von Bevölkerungsklassen zu Gewalttätigkeiten. Ich hatte es leicht, zu erwidern, daß meine Absicht nicht war, aufzureizen, sondern zu warnen. Der Untersuchungsrichter schien von der Haltlosigkeit der Anklage überzeugt zu sein. Ganz anders in einem anderen Falle. Ich hatte mein Lieblingsthema „Wilhelm den Großen“ behandelt, hatte ausgeführt, wieviel menschlich Sympathisches man an dem alten Kaiser rühmen könne, seine Ritterlichkeit, seine Bescheidenheit, seine Güte – wenn auch mit starker Einschrän-

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kung; denn wo die Güte mit den Traditionen militärischer Brutalität in Konflikt gekommen sei, habe sie versagt, wie in dem Fall der preußischen Landwehrmänner, die, da sie sich im Manöver weigerten, einen Viehwagen zu besteigen, zu 10 Jahren [45] Zuchthaus verurteilt und nicht begnadigt wurden. Ich rühmte weiter seine Fähigkeit, hinter den Männern seines Vertrauens zurückzutreten, um sich mit der Rolle des Herrschers zu begnügen, statt selbst regieren zu wollen und den Ministern hineinzuregieren. Niemand aber könne behaupten, er sei ein großer, ein genialer Mann, auch nur ein Mensch von überragender Bedeutung gewesen, eine Persönlichkeit, die ihrer Zeit das Gepräge gegeben und die nationale Entwicklung entscheidend beeinflußt habe. Die Gründung des Deutschen Reiches, die Wiederbelebung des Kaisertums sei nicht durch ihn, sondern gegen ihn erfolgt; sein Preußentum sei ihm lieber gewesen als die Einigung, wenn auch die preußisch-kleindeutsche Einigung Deutschlands; er habe Bismarck noch am Tage der Kaiserproklamation nicht verziehen, daß er ihn zum Deutschen Kaiser gemacht habe. Von seinen geistigen Gaben habe man gesagt, er würde, wenn bürgerlich geboren, ein guter Unteroffizier geworden sein. Es sei deshalb durchaus unberechtigt, von einem „Wilhelm dem Großen“ zu sprechen, und wenn man das beim Kaiser als dem Enkel noch begreifen könne, so sei es im Munde von anderen, die es dem Kaiser charakterlos nachbeteten, eine skandalöse Geschichtsfälschung; dem deutschen Bürger dürfe man es nicht verzeihen, wenn er von „Wilhelm dem Großen“ spreche. Außerdem hatte ich in der Rede die Rechtspflege, besonders soweit sie sich auf politische Vergehen bezog, scharf kritisiert und der Lobpreisung dieser Rechtspflege durch den Kaiser ein sehr scharf geprägtes Urteil gegenübergestellt. Diese Rede gab Anlaß zu einer Anklage wegen Majestätsbeleidigung und Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen. Der Untersuchungsrichter war ein sehr lebhafter junger Herr, der, statt mich ruhig zu vernehmen, sich immer politisch und moralisch über mich entrüstete, dabei die politischen Paragraphen des Strafgesetzbuches so wenig kannte, daß er sich fortwährend Blößen gab und ich ihm weit überlegen war. Allerdings hatte ich, da ich in meinen Reden und Artikeln immer auf des Messers Schneide balancierte, alle Veranlassung, mich genau zu unterrichten, was nach deutschem Strafrecht politisch erlaubt war und was nicht. Das Verhör versuche ich im folgenden wiederzugeben. Natürlich kann ich nicht für jedes Wort einstehen; aber ich bitte mir zu glauben, daß die entscheidenden Äußerungen wirklich so gefallen sind, und daß ich nicht aufschneide. Er: ‚Sie haben sich der Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen schuldig gemacht.‘ Ich: ‚Welche Tatsachen, die falsch oder entstellt sind, soll ich denn behauptet haben?‘

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Er: ‚Was soll das? Sie haben sich über die Rechtspflege verächtlich geäußert, noch dazu im Widerspruch zu Seiner Majestät.‘ Ich: ‚Dazu habe ich volles Recht. Ich darf Staatseinrichtungen verächtlich machen, so viel ich will.‘ Er: ‚Das wäre noch schöner. Das wäre ja zügellose Verhetzung. Nach dem Strafgesetz ist es strafbar.‘ [46] Ich: ‚Bitte um Entschuldigung. Nur, wenn ich erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behaupte, um dadurch Staatseinrichtungen verächtlich zu machen.‘ Er: ‚Kein guter Bürger wird Staatseinrichtungen verächtlich machen. Das wäre ja empörend.‘ Ich: ‚Über das, was ein guter Bürger zu tun hat, gehen eben unsere Ansichten weit auseinander. Ich halte es für meine Pflicht, Staatseinrichtungen, die mir verächtlich scheinen, auch verächtlich zu machen. Was aber erlaubt oder nicht erlaubt ist, steht zum Glück fest. Ich berufe mich auf § 131 des Strafgesetzbuch.‘ Er (blättert im Strafgesetzbuch): ‚Dort steht freilich diese Einschränkung. Darum bleibt die Verächtlichmachung der Rechtspflege, die Sie sich haben zuschulden kommen lassen, doch strafbar.‘ Ich: ‚Probieren Sie es. Es würde mich freuen, vor Gericht meine Auffassung vertreten zu können.‘ Er: ‚Nun, lassen wir das jetzt. Der zweite Punkt der Anklage ist doch eigentlich die Hauptsache. Sie haben sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht.‘ Ich: ‚Wieso der Majestätsbeleidigung? Ich habe doch über den Kaiser kein beleidigendes, nicht einmal die Achtung verletzendes Wort gesagt. Wollen Sie etwa indirekte Majestätsbeleidigung konstruieren, wie es in letzter Zeit vor preußischen Gerichten versucht ist, indem man behauptete, ein geringschätziges Urteil über Einrichtungen und Personen, die vom Kaiser hochgeschätzt würden, könne als indirekte Majestätsbeleidigung bestraft werden? Ich glaube nicht, daß Sie damit vor bayerischen Richtern Glück haben werden.‘ Er: ‚Nun, angenommen selbst, daß Ihre Äußerungen, soweit sie den Kaiser berühren, keine Beleidigungen enthalten, so haben Sie doch über den alten Kaiser Wilhelm sich in hohem Maße beleidigend geäußert.‘ Ich: ‚Das kann ich nicht zugeben; ich glaube vielmehr, daß ich dem alten Kaiser alle Gerechtigkeit habe widerfahren lassen, ich habe sehr zurückhaltend und zum Teil sogar respektvoll über ihn gesprochen. Ich glaube, jeder wird mein Urteil als eine im wesentlichen zutreffende objektive Würdigung anerkennen müssen.‘ Er (in höchster Erregung): ‚Das muß ich mir aber sehr verbitten. Im Namen aller guten Deutschen protestiere ich. Es ist ja einfach empörend, was Sie über des alten Kaisers Majestät gesagt haben. Unter anderm haben Sie geäußert, er würde, wenn bürgerlich geboren, ein guter Unteroffizier geworden sein.‘ Ich: ‚Was diese letzten Worte anlangt, so habe ich sie nur zitiert. Sie rühren von einem der beiden Humboldts her, ich weiß im Augenblick nicht, ob von Alexander oder Wilhelm v. Humboldt. Das waren doch wohl beides

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Menschen, die ein Urteil hatten, und die auch nicht beleidigen wollten. Außerdem, was soll das alles? Gegen den alten Kaiser kann ich doch keine Majestätsbeleidigung verüben.‘ Er: ‚Oho, das wäre noch besser. Auch der verstorbene Kaiser genießt den Schutz des Gesetzes.‘ Ich: ‚Bitte wieder um Entschuldigung. Das mag Ihrer politischen Gesinnung entsprechen, aber nicht dem Strafgesetzbuch. Das Strafgesetzbuch kennt nur eine Majestätsbeleidigung, die gegen den Kaiser oder den Landesherrn verübt wird, Dabei ist selbstverständlich nur an den lebenden Kaiser und Landesherrn gedacht. Sehen Sie nur § 95 nach.‘ [47] Er (wieder im Strafgesetzbuch blätternd): ‚Ja, das kann man allerdings so auffassen. Aber dann würde es sich um die Beschimpfung des Andenkens eines Verstorbenen handeln.‘ Ich: ‚Ich bestreite auf das entschiedenste, daß ich das Andenken Kaiser Wilhelms beschimpft habe.‘ Er (wieder empört): ‚Für mich haben Sie ihn beschimpft!‘ Ich: ‚Gut, wenn Sie mich deshalb verfolgen wollen, haben Sie dann einen Antrag der Großherzogin von Baden?‘ Er: ‚Das ist doch aber empörend. Nun ziehen Sie auch noch die Großherzogin von Baden hinein. Was soll die mit Ihrer Rede zu tun haben?‘ Ich: ‚Sehr viel; denn die Beschimpfung des Andenkens eines Verstorbenen, die übrigens nur strafbar ist, wenn jemand wider besseres Wissen eine unwahre Tatsache behauptet, ist bekanntlich ein Antragsvergehen, und die Großherzogin von Baden ist die einzige Persönlichkeit, die antragsberechtigt wäre. Wenigstens ist es mir so aus dem § 198 in Erinnerung, daß nur die Eltern, die Kinder oder der Ehegatte des Verstorbenen klagen können.‘ Er (wieder blätternd und lange schweigend): ‚Nun protokollieren wir.‘

Es gab natürlich keine Klage, die ganz aussichtslos gewesen wäre. Gefährlicher war ein anderer Fall, der auch zu einem lustigen, aber ganz anders gearteten Verhör führte. Als im Herbst 1895 der Parteitag der Deutschen Volkspartei in München stattfand, veranstalteten wir eine große Volksversammlung im Münchner Kindlkeller. Payer hielt die Hauptrede, ganz vortrefflich und mit großem Erfolg. Ich führte als Vorsitzender des Münchner Vereins den Vorsitz und sprach ein Schlußwort. Zum Abschluß dieses Schlußwortes konnte ich es mir natürlich nicht versagen, wieder auf mein Lieblingsthema zu kommen. Ich geißelte es, daß man jetzt von „Wilhelm dem Großen“ spreche, und sagte, es bestehe wirklich kein Grund, den alten Kaiser „Wilhelm den Großen“ zu nennen, außer wenn man ihn von einem zukünftigen „Wilhelm dem Kleinen“ unterscheiden wolle. Das Publikum raste vor Vergnügen. Als wir die Versammlung verließen, sagte Leopold Sonnemann zu mir: „Hören Sie, Quidde, Sie sollten doch eigentlich solche Scherze lassen; sie sind Ihrer Stellung eigentlich nicht ganz würdig und außerdem sehr ge-

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fährlich.“ Payer bemerkte darauf: „Lassen Sie ihn nur. Er kennt offenbar sein Publikum und hat mit diesem Witz am Schluß ja einen viel größeren Erfolg erzielt als wir mit all unseren Reden. Mit dem Staatsanwalt wird er schon fertig werden.“ Bei einer späteren Gelegenheit hat mich allerdings auch Payer gemahnt, das gefährliche Spiel der am Kaiser geübten Kritik aufzugeben. „Er ist doch stärker als Sie und hält es länger aus.“ Das hat sich ja nun freilich nicht bewahrheitet. Auch diese Rede hatte eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung zur Folge. Dieses Mal war der Untersuchungsrichter ein älterer, [48] sehr sympathischer und ruhiger Herr, wenn ich nicht irre, Landgerichtsrat. Ich will versuchen, auch dieses Verhör in Rede und Gegenrede, wieder mit dem Vorbehalt, daß nicht gerade jedes Wort stimmt, aber mit der Versicherung, daß am Gang des Gespräches nichts geändert ist, wiederzugeben. Er: ‚Die Staatsanwaltschaft beschuldigt Sie, in Ihrem Schlußwort in der Versammlung im Münchener Kindlkeller Majestätsbeleidigung verübt zu haben.‘ Ich: ‚Majestätsbeleidigung? Ich habe doch vom Kaiser gar nicht gesprochen. Worin soll denn die Majestätsbeleidigung liegen?‘ Er: ‚Der Staatsanwalt bezieht sich auf Ihre letzten Worte, es läge kein Grund vor, von einem Wilhelm dem Großen zu sprechen, außer wenn man ihn von einem zukünftigen Wilhelm dem Kleinen unterscheiden wolle.‘ Ich: ‚Da ist doch auch vom Kaiser nicht die Rede. Der gegenwärtige Kaiser ist doch kein zukünftiger Wilhelm der Kleine.‘ Er: ‚Ich weiß ja nicht, wie der Staatsanwalt die Stelle auffaßt; aber vermutlich nimmt er an, Sie hätten sagen wollen, daß die Geschichte einmal dem jetzigen Kaiser den Beinamen Wilhelm der Kleine geben könne.‘ Ich (mit der Hand vor die Stirne schlagend): ‚Hergott, das ist freilich möglich; aber das ist doch sehr weit hergeholt.‘ Er: ‚Es muß doch nicht so sehr weit hergeholt sein; denn in den Zeitungsberichten und in den Berichten der überwachenden Beamten steht: „Stürmischer, nicht endenwollender Beifall.“‘ Ich: ‚Und daraus schließt der Staatsanwalt, daß die Worte einen den Kaiser beleidigenden Sinn gehabt hätten? Dann scheint mir der Staatsanwalt sich einer Majestätsbeleidigung schuldig zu machen.‘ Er: ‚Machen Sie keine schlechten Witze. Das können Sie in einem Zeitungsartikel schreiben oder in einer Volksversammlung sagen, aber doch nicht mir. Es ist doch klar, daß das Publikum nicht in Beifallskundgebungen sich ergehen wird, wenn Sie von einem noch gar nicht geborenen Wilhelm sprechen.‘ Ich (sehr treuherzig): ‚Ja, sehen Sie, das ist bei mir eine eigene Sache. Sie wissen, ich habe vor 1½ Jahren eine Schrift veröffentlicht, Caligula. In der hat man eine Satire gegen den Kaiser gefunden. Seitdem kann ich sprechen, wovon ich will, die allerharmlosesten Sachen, und die Leute glauben immer, ich spreche vom Kaiser.‘

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Er (amüsiert): ‚Das ist wirklich ein rechtes Unglück für Sie. Nun wollen wir protokollieren: Der Beschuldigte erscheint und erklärt, er habe bei seinen Worten den Kaiser nicht gemeint und nicht an ihn gedacht.‘ Ich (zögernd): ‚Nein, das möchte ich lieber nicht so gesagt haben. Protokollieren wir: Der Angeschuldigte erscheint und erklärt, er könne nicht begreifen, wie ein zukünftiger Wilhelm mit dem gegenwärtigen Kaiser identifiziert werden könne.‘ Er: ‚Wenn Sie so wollen, gut. Ich muß aber sagen, an Ihrer Stelle würde ich lieber meine Fassung nehmen.‘

[49] Damit hatte er ja eigentlich sehr Recht. Aber ich bin auch so durchgekommen. Das Landgericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Staatsanwaltschaft erhob Beschwerde dagegen beim Oberlandesgericht. Aber auch das Oberlandesgericht lehnte ab, ich darf wohl sagen: zu meiner großen Befriedigung, weil es vor Gericht wohl nicht so gemütlich zugegangen wäre wie beim Untersuchungsrichter, und ein ganz klein wenig auch zu meiner Verwunderung. Bei einer anderen Gelegenheit hat mich der Staatsanwalt dann glücklich doch erwischt. In einer sozialdemokratischen Versammlung, auch im Münchner Kindlkeller, sprach ich als Diskussionsredner. Auch hier wieder mein Lieblingsthema, dem ich aber (das muß ich schon sagen) immer wieder neue Seiten abgewann. Dieses Mal ging ich ausführlich darauf ein, wie kläglich die Haltung eines großen Teils des deutschen Bürgertums sei. Beim Kaiser, dem Enkel, dem Angehörigen der Dynastie, die unter Wilhelm I. zu einer Weltstellung emporgestiegen, dem Fürsten mit Prinzenerziehung und Anschauungen, in die ein gewöhnlicher Sterblicher sich nicht hineindenken könne, liege die Sache anders; aber wenn im Bürgertum Leute, dem Kaiser nachfolgend, von Wilhelm dem Großen sprächen, so sei das entweder eine Gedankenlosigkeit, ermöglicht nur durch die Gewöhnung an servile Gefolgschaft, oder (noch schlimmer) bewußter Byzantinismus, eine elende Heuchelei. Ich griff noch besonders die Münchner Stadtvertretung an, die in einem Telegramm an den Kaiser von Wilhelm dem Großen gesprochen hätte. Wie beschämend das sei, zeige ein Vergleich mit dem Großherzog von Baden, dem Schwiegersohn des alten Kaisers, der in seinem gleichzeitigen Telegramm von Wilhelm dem Siegreichen gesprochen habe. Das war so weit alles schön und gut, auch vollkommen unangreifbar. Nun aber hatte ich, gewohnt zu improvisieren, keinen Schluß parat und improvisierte in diesem Fall sehr unglücklich. Um dem Byzantinismus noch einmal einen Spiegel, den Spiegel der Zukunft, vorzuhalten, sagte ich ungefähr: In diesen Tagen hat man ein Denkzeichen gestiftet mit der Aufschrift: „Zum Gedächtnis Wilhelms des Großen.“ Wenn nach Jahrzehnten einmal jemand diese Medaille in die Hand bekommt, so wird er sich sagen: „Zum Gedächtnis einer Lächerlichkeit und politischen Un-

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verschämtheit.“ Das war, abgesehen davon, daß es stilistisch, wenigstens für mein Stilgefühl, miserabel formuliert war, sehr unvorsichtig; denn da Wilhelm II. diese Medaille gestiftet hatte, konnte man die „Lächerlichkeit und Unverschämtheit“ auf ihn beziehen, während ich sie lediglich auf ein byzantinisches Bürgertum bezogen haben wollte. Als ich nach Hause kam, sagte ich: „Heute ist mir etwas Ärgerliches passiert. Ich fand die Adjektiva nicht, die ich brauchte, und aus dem, was ich sagte, können sie mir, wenn sie wollen, einen Strick drehen.“ Dabei hatte ich den Kaiser wirklich nicht gemeint. Heute könnte ich’s ja sagen, wenn’s so wäre. [50] Es erfolgte denn auch, wie vorauszusehen, die Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens. Obschon Parteigenossen von mir in der Versammlung gewesen waren, die bereit waren, zu bezeugen, daß meine Schlußworte nach dem ganzen Zusammenhang nicht auf den Kaiser gingen, verzichtete ich darauf, sie laden zu lassen. Man weiß eben nie, was bei Zeugen herauskommen kann. Einzige Zeugen waren die beiden überwachenden Polizeibeamten. Deren Vernehmung gab dem Publikum Anlaß zu respektwidriger Heiterkeit. Der eine hatte die unter Anklage stehenden Schlußworte nicht mitgeschrieben; denn er sei von der Rede so gepackt worden, daß er das Mitschreiben vergessen habe. Der andere konnte seine Notizen nicht lesen, und die Sitzung mußte eine Viertelstunde unterbrochen werden, damit er sich in seinen Aufzeichnungen zurechtfand. Einer von ihnen, gefragt, ob er in meiner Rede eine Beleidigung des Kaisers gefunden hätte, antwortete: Nein, der Redner habe ja gar nicht vom regierenden Kaiser gesprochen. Als man ihm dann die Schlußworte vorhielt, meinte er kopfschüttelnd: Ja freilich, das müsse ja auf den Kaiser gehen. Ich versuchte dem Gericht an diesem Ergebnis des Zeugenverhörs klarzumachen, daß die Worte, die, isoliert vorgelesen, auch ich auf den Kaiser deuten würde, im Zusammenhang der Rede nicht auf ihn zu beziehen waren; der Beamte, nach seinem Gesamteindruck gefragt, habe Majestätsbeleidigung verneint und habe offenbar, als er die Rede hörte, sie auch in den Schlußworten nicht gefunden. Diese Argumentation verfing nicht. Ich wurde zu 3 Monaten verurteilt, und zwar nicht, wie sonst in ähnlichen Fällen üblich war, zu Festung, sondern zu Gefängnis. Das war Rache für Caligula. Aus der Rede des Staatsanwaltes Dr. Guggenheimer, des späteren Direktors bei der Augsburg-Nürnberger Maschinenfabrik, ging das ganz deutlich hervor. Er fing sein Plädoyer damit an, daß ich der strafenden Gerechtigkeit immer entschlüpft sei, zuerst beim Caligula und dann noch oft mit der größten Keckheit, daß man mich jetzt aber glücklich gefaßt habe und nicht wieder entkommen lassen werde. Auch das Urteil des Gerichts nahm auf den Caligula Bezug, um zu begründen, daß mir die Majestätsbeleidigung zuzutrauen sei.

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Abb. 1: YOUNG AJAX BOLTS HIS QUIDDE.

Jeder Jurist sagte mir, daß das ein klarer Revisionsgrund sei; das Reichsgericht werde das Urteil aufheben müssen, da es untersagt sei, im Urteil Bezug zu nehmen auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen seien. Das Reichsgericht lehnte aber die Revision ab: die Bezugnahme auf den Caligula sei freilich unzulässig, aber sie sei für das Urteil unwesentlich. Es blieb bei den drei Monaten Gefängnis. [51] Meine Verurteilung trug dazu bei, die Erinnerung an den Caligula wieder zu beleben. Unter den Zeugnissen dessen, die ich jetzt unter alten Papieren gefunden habe, ist auch die hier (Abb. 1) abgebildete Zeichnung mit der Unterschrift „Jung-Ajax verschlingt seinen Quidde“ aus „The Weekly Times and Echo“. In dem beigefügten Text heißt es: Prof. Quidde von München beging Majestätsverbrechen an Seiner Majestät und hat geziemenderweise drei Monate dafür erhalten. Das schreckliche Löwenmaul auf der Gigantentreppe in Venedig war nichts gegenüber dem von Jung-Ajax. Es symbolisiert passenderweise die geräumige Gefängniseinrichtung, bestimmt für Leute, die des Kaisers unbegrenzte Vortrefflichkeit nicht zu schätzen wissen. In Deutschland kann man wahrhaftig davon mit den Worten des Propheten sprechen: ‚Die Hölle hat ihren Schlund weit aufgesperrt‘ – oder den des Kaisers, was ungefähr das gleiche ist.

Ich habe meine drei Monate in Stadelheim vom 10. Juli bis 10. Oktober abgesessen. Mir kam die Sache mehr komisch als ernsthaft vor. Niemals habe ich so viel stillvergnügt für mich gelacht. Die Gefängnisdiener sagten zu meiner Frau, die mich ein paarmal hinter einem Drahtgitter sehen durfte, einen so „liebenswürdigen, immer gleich freundlichen“ Gefangenen hät-

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ten sie noch nicht gehabt. Dabei war, trotzdem man sichtlich bestrebt war, meiner Stellung als politischer Gefangener Rechnung zu tragen, manches recht unangenehm. Von meinen Gefängniserlebnissen erzähle ich wohl ein andermal. Als ich am 10. Oktober gegen Mittag herauskam, fuhr ich direkt auf den Parteitag der Deutschen Volkspartei in Ulm; man hatte ihn meinetwegen einige Wochen später angesetzt, als sonst üblich war. Den Empfang kann man sich vorstellen. Ich mußte natürlich beim Begrüßungsabend sprechen und sagte unter anderem: Ich komme, wie Sie wissen, aus dem Gefängnis, wegen einer Majestätsbeleidigung, die ich nicht begangen habe. Das schmerzt mich, wenn ich daran denke, eine wie schöne Majestätsbeleidigung man für 3 Monate Gefängnis schon hätte verüben können! Als ich im Lauf der Rede, ohne schon am Schluß zu sein, auf die Freiheit zu sprechen kam, stimmte die Militärkapelle, die für den Abend genommen war, einen Tusch an. Conrad Haußmann zog aus meiner Rede den Schluß, die Besserungstheorie des Strafrechts sei durch diese Erfahrung glänzend widerlegt; ich sei ja schlimmer herausgekommen als hineingegangen. In einer [52] wie freiheitlichen Stadt wir aber tagten, zeige die Tatsache, daß eine Militärkapelle von selber Tusch blase, wenn ein entlassener Gefangener von der Freiheit spreche. Dem Militärkapellmeister wurde die Erlaubnis, am nächsten Tag zu unserem Mittagessen zu spielen, entzogen. Von Ulm fuhr ich nach Ostpreußen, um alte Freunde zu besuchen. Auf der Rückreise sollte ich in Berlin in einer vom dortigen Demokratischen Verein berufenen großen Versammlung über Majestätsbeleidigung sprechen. Kaum hatte ich angefangen: „Die Majestätsbeleidigung war im römischen Recht – – –“, da erhob sich der überwachende Polizeibeamte, setzte den Helm auf und erklärte die Versammlung auf Grund von § 2 des Preußischen Vereinsgesetzes für aufgelöst. Es war die reine Willkür; denn in § 2 stand nur, daß politische Vereine ihre Versammlungen anzeigen müßten. Auf die eingelegte Beschwerde kam der Bescheid, der Demokratische Verein in Berlin habe nur eine kleine Zahl von Mitgliedern; eine Versammlung von vielen Hunderten könne deshalb nicht als eine Versammlung des Vereins gelten. Die Behörde dachte wohl, mich mit diesem Verbot los zu sein; aber sie hatte nicht mit meiner und der Berliner Demokraten Zähigkeit gerechnet. Einige Wochen später kam ich zu einer neu berufenen Versammlung eigens von München wieder nach Berlin. Der gleiche Verlauf wie vor einigen Wochen. Auflösung auf Grund des § 2 des Vereinsgesetzes. Aber dieses Mal hatten wir uns vorgesehen. In dem Moment, da der Polizeileutnant die Auflösung aussprach, erschienen Leute im Saal, die auf Stangen große Plakate trugen: „In einer halben Stunde findet im gleichen Saal eine neue Versammlung mit dem gleichen Thema und dem gleichen Referenten statt.“ Als der letzte Besucher den Saal

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geräumt hatte, strömte das Publikum wieder herein. Der Polizeileutnant und seine Untergebenen blieben der Einfachheit wegen gleich auf ihren Plätzen. Die neue Versammlung war nicht vom Demokratischen Verein, sondern von einem Herrn Lehmann einberufen. Nun durften auch Frauen teilnehmen, die nach dem Preußischen Vereinsgesetz wohl von politischen Vereinen und deren Versammlungen, aber nicht von sonstigen Versammlungen ausgeschlossen waren. Ich fing wieder an: „Die Majestätsbeleidigung war nach römischen Recht – – –“ Das ganze Publikum blickte auf den Polizeileutnant, ob er wohl wieder aufstehen, den Helm aufsetzen und auflösen werde. Aber er blieb sitzen. Wir konnten die Versammlung ruhig zu Ende führen, dank der Auffassung der Polizei: daß der einzelne Herr Lehmann mehr Rechte hätte als der Demokratische Verein. Mit solchem Unfug hatten wir uns damals herumzuschlagen. Zwei Beamte schrieben mit fieberhaftem Eifer nach, während ein dritter unentwegt Bleistifte spitzte; aber es passierte nichts. Die Rede war bei aller Schärfe unangreifbar. Ich hatte ein neues Thema für meine Versammlungspropaganda gewonnen. Das Hauptgewicht legte ich immer darauf, daß harmlose [53] Leute, wenn irgendein elender Kerl den Denunzianten mache, mit einer Majestätsbeleidigung, die politisch ganz bedeutungslos sei, hereinfallen und ins Gefängnis wandern, während ein erfahrener Journalist und Versammlungsredner, wenn er ein wenig vorsichtig sei und nicht so leichtfertig improvisiere wie ich an jenem Abend, alles sagen könne, was er sagen wolle, ohne gefaßt zu werden. Die Pest der Majestätsbeleidigungsprozesse, die damals wütete, war wirklich etwas, was jeden rechtlich Denkenden empören mußte. Freuen wir uns, daß wir sie jetzt los sind. Zum Dessert dieses Abschnitts nur noch ein Nachspiel aus der Kriegszeit. Ich drucke eine Erklärung von mir ab, die wohl keiner Erläuterung bedarf. Eine offene Antwort. Verschiedene Zeitungen bringen einen, übrigens mir persönlich nicht zugegangenen, ‚Offenen Brief an den bayerischen Landtagsabgeordneten Dr. Quidde‘, unterzeichnet von einem Dr. Otto Schaeffer. Darin werden an mich drei Fragen gestellt, die ich bitte, an dieser Stelle beantworten zu dürfen. Erste Frage: Ob ich der Professor Quidde sei, der vor Jahren die Broschüre ‚Caligula‘ geschrieben? Antwort: Ja. Zweite Frage: Ob ich als Verfasser dieser Schrift wegen Majestätsbeleidigung zu Gefängnis verurteilt sei? Antwort: Nein. Wegen des ‚Caligula‘ ist überhaupt kein Strafverfahren gegen mich eröffnet worden. Meine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung zu 3 Monaten Gefängnis erfolgte zwei Jahre später wegen einer Äußerung, die ich in einer Versammlung bei Bekämpfung der damals aufkommenden Bezeichnung ‚Wilhelm der Große‘ und des sich dabei breit machenden Byzantinismus getan hatte.

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Dritte Frage: Ob ich der Mann sei, der nach der Verurteilung seine Strafe nicht abgesessen habe, sondern an den Beleidigten habe ‚ein Gnadengesuch einreichen lassen, weil er die Gefängnishaft wohl nicht ertragen könne, da er lungenkrank (d. h. doch wohl schwindsüchtig) sei‘? Antwort: Ich habe meine drei Monate Gefängnis abgesessen und freue mich dessen noch in der Erinnerung; ich habe niemals für mich ein Gnadengesuch eingereicht oder einreichen lassen, weder an den Kaiser, noch an den dafür zuständigen Landesherrn. Der Verfasser des offenen Briefes ruft mir nach der Raubergeschichte von meinem ‚Jammergesuch‘ pathetisch und in Sperrdruck zu: ‚ Waren Sie der Mann, Herr Professor? Ja, Sie sind der Mann!‘ Ich erlaube mir die bescheidene Gegenfrage an den Doktor Schaeffer: Sind Sie der Mann, der leichtfertig Unwahrheiten in der Tagespresse verbreitet? Ja, Sie sind der Mann! München, 30. September 1917. L. Quidde.

Wilhelm II.iii [54] Was ich mit dem „Caligula“ gewollt und gemeint habe, kann ich heute ja ohne Rücksicht auf den Staatsanwalt aussprechen. Auch heute aber muß ich an erster Stelle wiederholen, was in meiner „Erklärung“ vom 23. Mai 1894 steht, daß es mir höchst zuwider war, die Schrift durch die „Kreuzzeitung“ in die Sphäre der persönlichen Skandalsucht hineingezogen zu sehen. Was ich bezweckte, war etwas sehr Ernsthaftes: das deutsche Volk zu warnen vor den Gefahren, die in der unberechenbaren, einer konsequenten Politik unfähigen und oft an die Grenze geistiger Abnormität streifenden Persönlichkeit des Kaisers lagen, gleichzeitig den Byzantinismus, die Charakterlosigkeit und den Servilismus zu bekämpfen, mit dem nicht nur (wie wir heute nach Veröffentlichung der Memoirenwerke noch viel besser wissen als damals) die nächste Umgebung des Kaisers, sondern große Teile der Bevölkerung das Selbstbewußtsein und die tolle Überhebung des Monarchen förmlich züchteten und seine Unberechenbarkeit erst zu einer das Leben des Reiches bedrohenden Gefahr machten.

iii In diesem Abschnitt betreibt Quidde – die Methode des Caligula auf den Kopf stellend – eine Beschreibung Wilhelms II. nach dem psychologischen Muster der anhand Caligulas entwickelten Methode. Quiddes eigener Darstellung zufolge ist das Konzept des ‚Caesarenwahns‘ auf Grundlage der Beobachtungen an Wilhelm entstanden, die gewissermaßen als Beleg hier (auf Wilhelms gesamte Karriere ausgeweitet) nachgereicht werden. Tatsächlich betrachtet Quidde Wilhelm nun bereits durch die Brille seiner eigenen Theorie; mithin liegt hier eigentlich eine Form der Eigenrezeption vor, die man bereits als Anwendungsfall der in den Jahren 1894 entwickelten Topik bezeichnen kann.

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Ich habe die in die Augen fallenden Ähnlichkeiten mit den Berichten römischer Schriftsteller über Caligula benutzt, um dem Leser klarzumachen, wie bedenklich bezeichnend diese Züge im Charakter und in der Handlungsweise des Kaisers seien, Züge, über die man im Publikum sich wunderte, sich ärgerte, lachte, spottete, auch entrüstete, ohne sich aber klarzumachen, wie ernst man sie doch als Symptome einer dem Ernst des öffentlichen Lebens nicht gewachsenen Persönlichkeit an so hoher Stelle zu nehmen habe. Wilhelm II. teilte mit Caligula das Spielerische, die Neigung, zu posieren, zu glänzen, die nervöse Hast, die sprunghaft und widerspruchsvoll von einem Gegenstand zum andern eilt, den Glauben, alles selbst zu wissen und zu können, die Sucht, alles selbst auszuführen, die Mißachtung fast jeder selbständigen Kraft, die dilettantische Besserwisserei und die Geringschätzung ernster Sachlichkeit und Sachkunde, die Prunkund Verschwendungssucht, die sich besonders auf Bauten wirft, das Gefallen an kriegerischem Schaugepränge, an spielerischen Manövern, die auf theatralischen Schein hinauslaufen, die Neigung, rednerisch zu glänzen und mit Kraftworten den Menschen imponieren zu wollen („oderint dum metuant“), die Vorliebe für Äußerungen, die einem Bramarbas besser anstehen als einem seiner Stellung bewußten Herrscher, die komödiantische, in Äußerlichkeiten sich gefallende Art, die sich auch in fortwährendem Wechsel der Kleidung [55] betätigt, die Berufung endlich auf göttliche Sendung in Wendungen, denen nicht viel am Anspruch auf Gottähnlichkeit fehlt. Wie viele von Caligula berichtete Einzelheiten, oft ganz unbedeutender Art, genau auf Wilhelm II. passen, war förmlich unheimlich. Meine Schrift war deshalb voll von Anspielungen, die man heute nicht mehr verstehen wird. Mir selbst geht es so. In alten Zeitungsausschnitten fand ich zu der Bemerkung meiner Schrift, Caligula habe einen Offizier, der seine Unzufriedenheit erregt hatte, mit einem ganz inhaltlosen Briefe an König Ptolemäus nach Mauretanien geschickt, die kritische Glosse, weshalb ich nicht lieber gleich gesagt hätte, an den Sächsischen Hof nach Dresden. Ich habe heute keine Ahnung mehr, um was es sich dabei handelt. So wird es vielen Lesern noch mehr als mir selbst mit vielen Stellen ergehen. In welch geradezu verblüffendem Grade, Parallelen sich darboten, zeigt eine Korrespondenz, die ich nach Erscheinen des Caligula mit einem Münchner Kollegen hatte. Nicht lange Zeit vorher hatte der Kaiser die SchackGalerie, die ihm durch Testament des Grafen Schack zugefallen war, der Stadt München als Geschenk überlassen. Der Kollege schrieb mir, so viel ich auch vom Caligula berichten könnte, was an die Gegenwart erinnerte, so würde ich doch sicherlich nicht behaupten können, daß Caligula einer italienischen Provinzialstadt eine Gemäldesammlung oder ein Mu-

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seum geschenkt habe. Ich konnte ihm prompt eine Stelle aus einem der römischen Autoren zitieren, in der von einer ganz ähnlichen Schenkung berichtet wurde. Ich habe im Augenblick nicht die Zeit, nach der Stelle wieder zu suchen, und es kommt ja auch nicht darauf an. Um recht zu würdigen, wie bedenklich die doch nicht nur auf Äußerlichkeiten beschränkte Ähnlichkeit Caligula-Wilhelm II. war, muß man sich an die Dinge erinnern, mit denen damals und später Wilhelm II. die Welt in Erstaunen setzte. Es waren oft nur kindische, oft aber auch sehr gefährliche Extravaganzen. Die heute Lebenden wissen zum Teil nichts mehr davon, wie er in der Nacht die Garnisonen alarmierte, wie er in militärische Dinge mit immer neuen Verordnungen, oft der kleinlichsten Art, eingriff, wie er bei Manövern sich nicht als Oberster Kriegsherr zurückhielt, sondern als Führer einer Partei auftrat und glänzende Manöversiege erfocht (nach den neueren Veröffentlichungen auch in den Kriegsspielen, die zu sehr ernstem Zweck in der Armee gepflegt wurden), wie er sich nicht genug tun konnte im Prunk und Repräsentation, wie er es für nötig hielt, zu jedem Anlaß in der dazu passenden Uniform zu erscheinen (man behauptete, daß er zu einer Dampferfahrt auf dem Wannsee Marineuniform angezogen habe, und daß es nichts Seltenes sei, wenn er am Tag mehrmals die Kleidung wechsle), wie er es schicklich fand, den Minister Scholz, der es nur zum Einjährigen oder Unteroffizier gebracht hatte, zum Leutnant zu ernennen, wie er (ein Beweis seiner inneren Unsicherheit) bald Menschen, besonders auch ausländischen Herrschern, schmeichelte, [56] bald sie durch Taktlosigkeiten vor den Kopf stieß, wie er seine Energie sich in großen Worten austoben ließ, um dann oft genug, wenn er auf ernste Hindernisse stieß, einen Rückzug anzutreten, wie er es liebte, als Mann in den Dreißigern den überlegenen, fürsorglichen Landesvater zu spielen, und wie er sich dann wieder wie ein grimmer Tyrann gebärdete, wie er den Soldaten sagte, sie müßten auf seinen Befehl auf Vater und Mutter schießen, wie er von dem Bewußtsein seiner gleichsam göttlichen Mission sprach und dem Volk erzählte, er führe es herrlichen Zeiten entgegen, wie er die Nörgler, die an seine göttliche Sendung nicht glauben wollten, aufforderte, auszuwandern und den Staub von den Pantoffeln zu schütteln, wie er die ganze Sozialdemokratie als Reichsfeinde behandelte, wie er auf der anderen Seite aber auch alle jene vor den Kopf stieß, die in der Neugründung des Reiches das Werk Bismarcks und daneben auch Moltkes verehrten, indem er alles Verdienst seinem Großvater zuschrieb, neben dem alle anderen nur des großen Kaisers Handlanger gewesen seien, wie er unter offenbarer Anspielung auf die Widerstände, die er bei Bismarck gefunden hatte, drohte, wer sich ihm entgegenstelle, werde er zerschmettern, wie er aber zugleich das Ausland in Unruhe versetzte, indem er waffenklirrende Reden hielt und bei den unpassendsten Gelegenheiten mit dem Säbel rasselte, wie er später

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Deutschland vor der ganzen Welt bloßstellte, indem er den nach China abgehenden Soldaten empfahl, keinen Pardon zu geben und ein Andenken wie vor Jahrhunderten die Hunnen zu hinterlassen, so daß noch nach tausend Jahren kein Chinese wagen solle, einen Deutschen schief anzusehen. Es ist ja gar nicht zu ermessen, welchen Schaden der Kaiser mit seinen Reden im Innern und nach außen angerichtet hat. Und dabei kam nur ein Teil dessen, was er für die Öffentlichkeit bestimmt hatte, in die Öffentlichkeit. Seine Umgebung, insbesondere die verantwortlichen Männer, waren oft genug in Angst, was er wohl sagen würde, und darauf vorbereitet, das Bedenklichste zu unterdrücken. Vom Fürsten Bülow erzählten Journalisten, daß er bei einem bestimmten Anlaß gesagt habe, zum Glück habe die Welt ja nicht alles erfahren; aber es dringe noch immer viel zu viel durch; mehr als zweimal am Tage könne er ihn unmöglich trockenlegen. Über die Persönlichkeit als Ganzes ist ja nicht leicht zu urteilen. Mit einem einfachen Verdammungsspruch ist es nicht getan. Gar nicht zu bestreiten ist, daß der Kaiser eine ungewöhnlich reich und vielseitig begabte Persönlichkeit ist, ausgestattet mit rascher Fassungsgabe und mit mannigfachen Interessen. Aber er ist der geborene Dilettant, der auf Grund zufällig erworbener, oft zusammenhangloser Kenntnisse alle Fragen zu beherrschen glaubt, über alles redet, als ob er ein Fachmann sei, auch in alles glaubt eingreifen zu können. Das ist zugleich das Kennzeichen der Halbbildung. Während der wahrhaft Gebildete immer mehr die Grenzen seines Wissens [57] erkennt und dadurch bescheidener wird, verführt die Halbbildung zur Anmaßung und zur Leichtfertigkeit des Urteils auch über die schwersten und verwickeltsten Probleme. Ich habe diese Gedanken einmal in aller Öffentlichkeit und unter den Augen eines überwachenden Polizeibeamten auszuführen versucht, als ich von den damaligen Nationalsozialen nach einem Vortrag Naumanns über den Kaiser zu einem rednerischen Zweikampf herausgefordert wurde. Naumann lebte ja damals noch dem Glauben, nicht nur Demokratie und Kaisertum miteinander versöhnen zu können, sondern auch auf Wilhelm II. für die Durchführung seiner Ideale rechnen zu dürfen. Er ist dann später wohl sehr gründlich von dieser Auffassung zurückgekommen. Es wäre unrecht, nicht auch sympathische Züge der Persönlichkeit anzuerkennen. Oft konnte man Leute treffen, die von seiner Liebenswürdigkeit ganz gefangengenommen waren. Ich erinnere mich der Rede, die er bei der Hochzeit seiner Tochter mit dem Braunschweiger Herzog gehalten hat. Sie war herzgewinnend, auch ganz einfach und natürlich. Gegen manche Zeugnisse, die seine Liebenswürdigkeit und Jovialität preisen, muß man freilich sehr mißtrauisch sein; denn oft erhielt man bei näheren Nachfragen ein Bild, das keineswegs anziehend war. Er liebte burschikose, ja mehr als burschikose Scherze, auf Kosten der Teilnehmer einer

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Gesellschaft, seiner Gäste. Das reizend zu finden, dazu gehörte oft ein durch Untertanengeist verdorbener Geschmack. Andere fanden es geschmacklos, entwürdigend für des Kaisers Gäste, würdelos für ihn. Es gab ja aber Leute genug, die sich geehrt fühlten, wenn sie gewürdigt wurden, das Objekt verletzender Späße oder kränkender Kritik zu sein – wenn sie nur beachtet wurden. Jemand, den ich gut gekannt habe, gehörte zu den Günstlingen des Kaisers, war aber vorübergehend in Ungnade gefallen. Eines Tages kam er frohlockend: Jetzt bin ich wieder obenauf; der Kaiser hat an den Rand eines von mir herrührenden Schriftstückes geschrieben: „S. ist ein Esel.“ Oft ist davon gesprochen worden, daß er fast nur von Schmeichlern umgeben war und selten ein Wort freimütiger Kritik zu ihm drang. Man konnte ihm offenbar mit ganz dick aufgetragenen Schmeicheleien kommen, ohne daß er dadurch abgestoßen wurde. Freimütige ernsthafte Kritik wurde in manchen Fällen gut aufgenommen. Fürst Eulenburg konnte sie im Vertrauen auf des Kaisers Freundschaft wagen. Der jüngere Moltke hat sie einmal mit Nachdruck und Erfolg an den Manöver- und Kriegsspielkomödien geübt. Im allgemeinen bleibt es aber doch dabei, daß Schmeicheleien ihn in eine immer maßlosere Überschätzung seiner Persönlichkeit hineinsteigerten, und daß für nüchterne Kritik kein Raum war. Es scheint mir auf ihn, mutatis mutandis, d. h. mit starken Abschwächungen, aber doch in den charakteristischen Grundzügen zuzu-[58]treffen, was von Caligula gesagt wurde, daß er über Schmeichler und Freimütige sich zugleich ärgerte und freute, daß er sich manchmal die schlimmsten Dinge sagen ließ, bald über Nichtigkeiten auf das äußerste aufgebracht war. Eben jenen Günstling, von dem schon die Rede war, fragte er in einer Herrengesellschaft, als die Schrift seines Erziehers Hinzpeter über ihn erschienen war, was er dazu sage. „Verlangen Majestät, daß ich die Wahrheit sage?“ „Natürlich, weshalb würde ich Sie sonst fragen?“ „Majestät wissen, ich bin ein treuer Diener meines kaiserlichen Herrn; aber was zu viel ist, ist zu viel, eine so widerwärtige Schmeichelei ertrage ich nicht.“ „Sie sind aber grob!“ „Ja, Majestät, die Wahrheit über alles.“ Alles war starr; aber der Kaiser blieb guter Laune. Die Keckheit der Äußerung war nicht Männerstolz vor Königsthronen, sondern ein klug, vielleicht instinktiv, auf Verblüffung berechneter und gelungener Versuch, zu imponieren. Ich würde die Geschichte nicht glauben, wenn sie mir nur der als Renommist bekannte Günstling des Kaisers erzählt hätte. Sie wurde mir aber, fast wörtlich übereinstimmend, von anderer, unbedingt zuverlässiger Seite bestätigt. In vielen Äußerungen, die vom Kaiser überliefert sind, spricht sich ein, gelinde gesagt, wenig vornehmer Geschmack aus. Von echter innerer Vornehmheit war oft nichts zu spüren. Herrisch und hochfahrend? Ja. Vornehm? Nein.

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Alle unsere bürgerlichen Vorstellungen von Wohlerzogenheit überschreitet, was er sich gegen seine Umgebung herausnahm an Geschmacklosigkeiten, wie wenn er z. B. einem hohen Offizier die Gnade erwies, das Getränk, das dieser trinken wollte, mit seinem Finger umzurühren, oder an Vergewaltigungen, wie wenn er erwachsenen selbständigen Mitgliedern des königlichen Hauses, da sie ein Verbot, Schlittschuh zu laufen, übertreten hatten, Hausarrest diktierte und Soldaten ihnen vor die Tür stellte. Vorgänge in seinem Privatleben gehen uns ja an sich nichts an; wohl aber interessieren sie uns unter dem Gesichtspunkt, daß darin Eigenschaften hervortreten, die für sein öffentliches Wirken so bedenklich waren: die Neigung zu Taktlosigkeiten und Übergriffen. Damit hat er Deutschland in seinen internationalen Beziehungen unsagbar viel geschadet. Man denke nur an das Verhältnis zu England und zu der ihm verwandten Königsfamilie, zur Großmutter Viktoria, zum Onkel Eduard einerseits und zu Rußland und „Niki“ andererseits. Zur Taktlosigkeit tritt als der unsympathischste aller Charakterzüge eine aus dem steten Posieren, auch bei den wichtigsten Gelegenheiten, sich ergebende Unwahrhaftigkeit von geradezu groteskem Ausmaß. Kann es etwas Abstoßenderes geben als seine Haltung bei Bismarcks Entlassung? Zuerst drängt er ihn in verletzendster, jedem Schicklichkeitsgefühl Hohn sprechender Weise zur Einreichung seines Entlassungsgesuches. Es kann ihm gar nicht [59] schnell genug gehen. Dann, als er glückselig ist, endlich das Joch abgeworfen zu haben, telegraphiert er dem Großherzog von Sachsen-Weimar: „Mir ist so weh ums Herz, als hätte ich noch einmal meinen Großvater verloren. Aber von Gott Bestimmtes ist zu ertragen, auch wenn man daran zugrunde gehen sollte.“ Das für die Leitung der nationalen Geschicke schlimmste Element in ihm war vielleicht die Unberechenbarkeit und Sprunghaftigkeit seines Handelns. Er hatte oft genug überhaupt kein festes, konsequentes Wollen, sondern nur Wallungen. Das ist, wie in vielen, vielen anderen Fällen auch zu beobachten in seiner Haltung vor Ausbruch des Krieges. Wenn man einen Teil seiner Randbemerkungen zusammenstellt, so gewinnt man das Bild eines besonnenen, durchaus auf Erhaltung des Friedens bedachten Mannes. In anderen Bemerkungen aber, und zwar aus den gleichen Tagen, tritt uns eine Persönlichkeit entgegen, die sich mit größter Brutalität und Verantwortungslosigkeit über alles hinwegsetzt. Und dabei die Form eines Teils dieser Randbemerkungen! Auf welchem tiefen Niveau des Geschmacks und des Gefühllebens! Zu Anfang des Krieges habe ich im neutralen Ausland viel die Meinung gefunden, der Kaiser sei der Hauptschuldige, der ihn herbeigeführt habe. Ich habe das immer, auch ehe das heute bekannte Aktenmaterial vorlag,

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auf das entschiedenste bekämpft. Er hat gewiß nicht auf den Krieg bewußt hingearbeitet. Dafür hatte er schon, wie ein guter Beobachter zu sagen pflegte, seine Regimenter und seine Schiffe viel zu lieb. Die waren ihm ja, als Spielzeuge für seine Manöver und Paraden, viel zu schade, um im Krieg gefährdet zu werden. Er führte oft genug, zu seinem und zu unserem Schaden, kriegerische Reden, „das Schwert im Munde“, um BethmannHollwegs gegen Herrn v. d. Heydebrand gerichtete Worte zu zitieren; aber er war weit entfernt davon, das Schwert ziehen zu wollen und konnte sich viel eher mit Recht rühmen, ein Friedensfürst zu sein. Ich weiß zufällig von zwei verschiedenen Gelegenheiten, bei denen er in vertraulichem Gespräch, wo es nicht auf den Eindruck nach außen ankam und er sich ungezwungen geben konnte, sein tiefes Gefühl für den Wert des Friedens und seinen Abscheu vor einer auf Krieg ausgehenden Politik aussprach. Die berühmte Rede, die er in Bremen gehalten hat, entsprach wirklich mehr seiner Gesinnung als das auf Wirkung berechnete und in der Wirkung – ach! – so fehlgehende Bramarbasieren. Nicht durch konsequentes Handeln und Wollen, was seiner Natur ganz fernlag, wohl aber durch seine Unzuverlässigkeit, durch seine Neigung zu Provokationen und durch seine allen vernünftigen Überlegungen unzugängliche Flottenpolitik ist er mitschuldig geworden an der Entstehung der politischen Atmosphäre, aus der der Krieg entstand. Unschuldig ist er im Sinn der Anklage, die noch im Versailler [60] Vertrag gegen ihn erhoben wurde, vertreten von Leuten, die zum Teil schuldiger waren als er. Schuldig ist er, weil er in den entscheidenden Tagen nicht die Kraft seiner besseren Einsicht hatte. Schuldig ist er vor dem deutschen Volke, da er das Kapital von internationalem Vertrauen auf deutsche Politik, das er übernahm, statt es zu mehren, verwirtschaftet und damit das Unheil über uns heraufbeschworen hat. Aber daran ist das deutsche Volk nicht ohne schwere Mitschuld, besser gesagt: ein großer Teil des deutschen Volkes in allen seinen Schichten. Wie böse es in der nächsten Umgebung des Kaisers aussah, wurde schon erwähnt. Heute wissen wir, daß es damit noch schlimmer und verächtlicher stand, als wir damals ahnen konnten. Veröffentlichungen, die seit dem Zusammenbruch erfolgt sind, zeigen uns, daß gar mancher in dem Kreise, der dem Kaiser schmeichelte, schlimmer über ihn dachte als der Verfasser des Caligula. Ein Gegengewicht, möchte man meinen, hätte die auf ihre wissenschaftliche und geistige Unabhängigkeit so stolze Welt der Gelehrten und Künstler bieten müssen. Gewiß gab es in ihr unabhängige Geister, die entweder unbekümmert um das offizielle Treiben ruhig ihrer Arbeit nachgingen oder auch, wenn diese ihre Kreise störte, mutig protestierten. Aber wieviel Byzantinismus daneben, groß geworden schon im vorangegan-

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genen Menschenalter, als die Anbetung des Erfolges um sich griff und Männer, die früher aufrecht standen, den Rücken vor den Hohenzollern oder vor dem eisernen Kanzler bis zur Erde beugten! Unabhängige Künstler wissen davon zu erzählen, wie viele ihrer Kollegen sich dem von ihnen innerlich zum mindesten belächelten dilettantischen, nur auf Glanz und Repräsentation gerichteten Geschmack des Kaisers anpaßten. Aus der Gelehrtenwelt erwähne ich nur ein Beispiel, das mir gerade in den Sinn kommt. Bei einer akademischen Feier an einer deutschen Universität sagte der Festredner: Was den deutschen Gelehrten erhebe, sei das Bewußtsein, daß streng, aber gerecht auf der Arbeit eines jeden von uns das Auge unseres erhabenen Herrschers ruhe. Gewiß waren so ekelhafte Äußerungen der Knechtseligkeit eine Ausnahme; aber daß sie überhaupt möglich waren, sogar möglich, ohne einen Sturm der Entrüstung zu erregen, ist schon schlimm genug. Was konnte man in vielen, gut bürgerlichen Kreisen nicht für Kaisertoaste erleben! Zum Übelwerden! Und dabei waren es im übrigen Leben ganz ehrenwerte, anständige Leute, die sich so erniedrigten. Die Empfindung dafür, das Bewußtsein der Unwahrhaftigkeit oder Würdelosigkeit war ganz verloren gegangen. Den einzigen würdigen Kaisertoast habe ich in der Königshalle in Königsberg (dem vornehmsten Lokal der Stadt) vom kommandierenden General bei der Feier des Krönungstages (18. Januar) gehört: „Der [61] alten Sitte gemäß erheben wir unser Glas und trinken auf das Wohl Seiner Majestät des Kaisers und Königs. Kaiser Wilhelm lebe hoch!“ Wie sündigte nicht ein großer Teil der Presse! Wenn der Kaiser sie las, besonders bei festlichen Anlässen, mußte er glauben, ein wahrer Halbgott zu sein, überall geliebt und bewundert. Eine an sich unbedeutende, aber bezeichnende, komische Kleinigkeit ist bei mir haften geblieben. Manche Zeitungen hatten sich so daran gewöhnt, von Wilhelm I. als dem „Heldenkaiser“ zu sprechen, daß sie schon gar nicht mehr wußten, daß es eigentlich „Kaiser“ hieß, und daß sie munter weiter das Klischee auf Wilhelm II. als „Heldenkaiser“ Nr. 2 anwandten. Und die Volksmassen? Wie dicht standen sie, und wie jubelten sie ihm zu, wenn er, von Exerzierübungen oder einer Parade zurückkehrend, an der Spitze seiner Regimenter durch das Brandenburger Tor einzog! Daß viele von ihnen dem Umzug eines Zirkus ähnlich zugejubelt hätten, sagte er sich sicher nicht. Seine Umgebung wird ihn darin bestärkt haben, daß das alles Bekundung einer ungemessenen Bewunderung sei. Ebenso und noch mehr, wenn er unterwegs war und überall festlich empfangen wurde. Bei seiner Reiselust kam er aus den Huldigungen gar nicht heraus. Was wollte die Kritik in der Presse und in den Reden der Opposition dagegen besagen? Das erschien als gehässiges Nörglertum, und angesichts

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des stetig fließenden Stromes begeisterter Huldigungen konnte man diese Auffassung dem Kaiser nur zu leicht suggerieren. Nur einmal schlug das um, mit elementarer Gewalt, und da gerade aus einem Anlaß, bei dem der Kaiser relativ am wenigsten im Unrecht war. Alle Älteren erinnern sich des furchtbaren Sturmes, der gegen ihn losbrach nach dem „Daily-Telegraph“-Interview im Jahre 1908, in dem der Kaiser unter anderem die Engländer daran erinnerte, daß er ihnen einen Feldzugsplan zur Niederwerfung der Buren gemacht haben wollte. Das war ja haarsträubend, besonders in Erinnerung an das berühmte Krüger-Telegramm, das die Buren ermutigt und, wie mir selbst Buren gesagt haben, in den Krieg voll Vertrauen auf die Hilfe des deutschen Kaisers hineingetrieben hatte. Aber der Kaiser war insofern unschuldig, als er gerade in diesem Falle nicht auf eigene Hand gehandelt hatte, sondern das Manuskript durch des Reichskanzlers Hände gegangen war. Ja, einer der Nächstbeteiligten hat mir erzählt, daß Bülow der Urheber der Aktion war. Als sie mißglückte und nun wirklich alles über den Kaiser herfiel, von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, deckte Bülow den Kaiser nur sehr unvollkommen und benutzte die Gelegenheit vielmehr, um sich auf das Piedestal eines Vertreters der Volksstimmung gegen den Kaiser zu stellen. Der Kaiser mußte geloben, künftig vorsichtiger und schweigsamer zu sein. Es war die schlimmste Demütigung, die einem Hohenzollern widerfahren war, seit Friedrich [62] Wilhelm IV. sein Haupt vor den Leichen der Barrikadenkämpfer entblößen mußte. Begreiflich, daß der Kaiser das Bülow nie verziehen hat. Ich habe mich damals sehr zurückgehalten, da ich mit meinem Freunde Venedey einen Widerwillen dagegen empfand, mit einzustimmen, „wo jeder dreckige Kerl seine Stiefel am Kaiser abwischte“. Ich habe so ausführlich von diesen Dingen gesprochen, weil die Verächtlichmachung des Byzantinismus, der monarchistischen Liebedienerei, ein Hauptzweck des Caligula war und ich noch heute das Bedürfnis fühle, die Schrift auch nach dieser Seite hin zu erläutern. Die Hauptsache ist aber doch, aus dem Caligula und aus dem Rückblick auf die Kaisergestalt Wilhelms II. zu lernen, wie gefährlich es ist, in einem Volke ohne feste demokratische Tradition eine solche Summe von Gewalt in die Hände eines Mannes zu legen, den der Zufall der Geburt, der Abstammung, an die höchste Stelle im Staat stellt. Die furchtbare Gefahr liegt darin, daß jahrzehntelang Persönlichkeiten bestimmend für das Geschick ganzer Völker werden können, denen jede, aber auch jede Eignung dafür fehlt. Die Geschichte fast aller Dynastien in allen Ländern bietet dafür Beispiele. Daß Wilhelm II. nicht alleinsteht oder auch nur alle anderen Vertreter dieses Typus an Gefährlichkeit für das Gemeinwohl überragt, versteht sich von selbst.

Erinnerungen des Verfassers

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Der Wiederkehr solcher Möglichkeiten in Deutschland, der Wiederkehr der Monarchie gilt es vorzubeugen, nachdem uns der Zusammenbruch von 1918 unerwartet die Republik gebracht hat. Gewiß ist diese Republik nichts weniger als vollkommen. Oft denke ich des Ausspruchs eines französischen Republikaners aus der Zeit der Dritten Republik: „O comme elle était belle, la république – sous l’empire!“ (O wie war sie schön, die Republik – unter dem Kaiserreich!) Die Republik hat mit den Folgen des Krieges und des Versailler Friedens eine böse Erbschaft übernommen, die wirtschaftliche Not und die ganze Verwilderung des Rechtsbewußtseins, die der Krieg mit sich gebracht hat. Sie leidet dazu an der Schwäche, daß man zunächst eine Republik ohne Republikaner organisieren mußte, und daß die Republikaner viel zu nachsichtig, viel zu duldsam, viel zu vertrauensselig waren. Französische Republikaner, die mit Deutschland sympathisieren, haben mir oft gesagt, sie begriffen nicht, daß wir die Angehörigen der gestürzten Dynastien oder wenigstens die Thronprätendenten unter ihnen nicht des Landes verwiesen hätten, daß wir nicht gründlich Kehraus in den oberen Verwaltungsstellen gemacht, ja munter weiter reaktionäre Leute an einflußreiche Stellen befördert, daß wir nicht auch nach den tollen Erfahrungen mit der politischen Justiz für einen gewissen Zeitraum die Unabsetzbarkeit der Richter aufgehoben [63] hätten, um erst einmal Herren im Hause der Deutschen Republik zu werden. Wir wissen ja, wie das gekommen ist; wir wissen auch, daß nicht nur falsche Vertrauensseligkeit daran schuld ist, sondern daß manches, was in Frankreich möglich war, in Deutschland sich nicht durchführen ließ. Aber die Folge ist: Wir haben eine Schwäche der Staatsgewalt gegenüber Kräften, die die Verfassung verhöhnen, wie seit Jahrhunderten nicht. Um so mehr müssen alle, die es wohl meinen mit der Zukunft des deutschen Volkes, sich zusammenschließen, um die Republik zu säubern und zu stärken, um vor allem Republikaner nicht nur im Sinne äußerer Verfassungstreue, sondern Republikaner der Gesinnung zu erziehen.

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Caesarismus und ‚Caesarenwahnsinn‘ 1. Einleitung: Die verlorene Handschrift Das beschauliche Leben, das Felix Werner, ein noch junger, aber bereits angesehener Professor der Philologie, in seinem Städtchen führt, erfährt eine heftige Wendung, als er ein altes Buch erwirbt, von dem er zunächst nur vermutet, dass es neben dem Leben der Heiligen Hildegard noch einige weitere Texte des späten Mittelalters enthalte. Bei näherer Betrachtung stößt Werner indes auf ein im 17. Jahrhundert geschriebenes Verzeichnis der Besitztümer des Klosters Rossau, in dem auch das „alte Buch der Ausfahrt des Schweigers“ verzeichnet ist. Der Professor erkennt, dass damit das Werk des römischen Historikers Tacitus (des „Schweigers“) gemeint sein muss und die falsche Eindeutschung „Ausfahrt“ auf den Titel der Annalen (ab excessu divi Augusti = vom Tode des vergöttlichten Augustus an) verweist. 1 Diese Spur versetzt den Gelehrten in größte Aufregung, denn Tacitus’ Schriften sind nur in Teilen überliefert. In Rossau aber muss sich vor nur zwei Jahrhunderten noch eine vollständige Handschrift befunden haben, gibt doch das Verzeichnis der Klosterschätze auch den Umfang des Werkes an: dreißig Bücher, also die gesamten Annalen und Historien zusammengezählt. Damit aber nicht genug: in einer Geheimschrift, die Werner schnell zu enträtseln vermag, hat der Schreiber des Inventars festgehalten, die Kirchenschätze im Jahr 1637, angesichts der Schwedengefahr im Dreißigjährigen Krieg, in Sicherheit gebracht zu haben, und zwar „in der hohlen und trockenen Stelle“ des Gutshauses (bzw. „Schlosses“) Bielstein, nicht weit von Rossau entfernt. Das Kloster wurde in jenem Krieg zerstört, das Gutshaus aber hat auch die letzten zweihundert Jahre überstanden. Sollte es Werner also gelingen, die wertvolle Handschrift wiederzufinden?

1 excessus = Scheiden, Hinscheiden; auch: Fortgehen.

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Man sieht, warum Gustav Freytag (1816–1895) zum erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts geworden ist. 2 Im Anschluss an erfolglose Bemühungen, eine Universitätskarriere einzuschlagen, hatte er sich zunächst als Dramatiker einen Namen gemacht, bevor er als Romanschriftsteller reüssieren konnte. Gleich mit seinem Erstling, dem Roman Soll und Haben, in dreibändiger Ausgabe 1855 erschienen, gelang ihm der Durchbruch auch auf diesem Feld. 3 Soll und Haben, so schreibt Bernt Ture von zur Mühlen in seiner Gustav-Freytag-Biographie, lässt sich als Gesellschafts-, Abenteuer- und Bildungsroman lesen. Der erfolgreiche Lebensweg Anton Wohlfahrts vom schwärmerischen Jüngling zum erfolgreichen Kaufmann befriedigte das Leserinteresse ebenso wie das schmähliche Ende der Bösewichter. Zum Schluss triumphieren alle vom Verfasser proklamierten bürgerlichen Werte. 4

Dieses Erfolgsrezept fand seine Anwendung auch in der Verlorenen Handschrift. Das Thema dieses Romans, der – wieder in drei Bänden – im Herbst und Winter 1864 herauskam, entfaltet sich in einem idealisierten bürgerlichen Rahmen, in dem sich die Leser heimisch fühlen konnten, und bringt zugleich eine beträchtliche Spannung in die gediegene Welt einer den klassischen Bildungswerten verpflichteten Gesellschaft, in der ein Professor noch gleichrangig neben dem Unternehmer steht und auch vom Landesfürsten geehrt wird. 5 Spannung erzeugt Freytag auf zwei Ebenen: zunächst mit der Suche nach der wertvollen Handschrift, die das Wissen über die frühe römische Kaiserzeit vergrößern könnte, 6 dann aber auch mit seiner Herrschaftslehre, also der politischen Dimension, die von Tacitus bis in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts reicht und hier ihre geradezu dramatische Aktualität erweist. Denn es wird sich zeigen, dass die Kritik, die Tacitus an den Kaisern Roms übt, auch für die Monarchen gilt, 2 3 4 5 6

von zur Mühlen 2016, 7; 229 f.; 240 f. von zur Mühlen 2016, 133–143. von zur Mühlen 2016, 139. Vgl. auch Herrmann 1974, 113–124. Vgl. auch zu diesem Roman von zur Mühlen 2016, 179; 181 f. Wie Freytag zu diesem Motiv kam, erläutert er in seinen Erinnerungen aus meinem Leben (1896, 201). Eine für den Roman wichtige Abwandlung des Motivs von der Handschriftensuche besteht in dem Thema der gefälschten Handschriften; vgl. in diesem Zusammenhang die auch bei von zur Mühlen 2016, 105 und 147 f. kurz berührten Affären um den Prager Slavisten Václav Hanka und die ‚Königinhofer Handschrift‘ sowie um den griechischen Handschriftenfälscher Simonides, der 1856 gefälschte Manuskripte an die Leipziger Universitätsbibliothek verkauft hatte. Die Simonides-Affäre hat Freytag in einem seiner Artikel für die Grenzboten behandelt (Der falsche Uranios und der Grieche Simonides, Die Grenzboten 15, 1856, 278–280); sie hat offenkundig die Vorlage für die Kapitel in der Verlorenen Handschrift geliefert, in denen Professor Werner seinem Kollegen Struvelius nachweist, ein gefälschtes Tacitus-Fragment ediert zu haben. Vgl. zum „Uranios-Skandal“ ausführlich Schaper 2011, 130–143.

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unter denen die deutschen Bürger ihr friedliches Leben führen. Auf diese politische Linie wird der Leser schon zu Beginn des Romans vorbereitet, als Werner über die herausragende Bedeutung des Tacitus spricht. 7 Kein anderer Geschichtsschreiber habe wie er die unheimlichen Seiten der menschlichen Natur dargestellt. Seine Werke sind uns zwei geschichtliche Tragödien, Scenen des Julischen und des Flavischen Kaiserhauses, markerschütternde Bilder der ungeheuren Umwandlung, welche durch ein Jahrhundert der größte Staat des Alterthums, die Seelen der Gehorchenden, die Charaktere der Herrscher erfahren; die Geschichte einer Tyrannenherrschaft, welche die edlen Geschlechter vertilgt, eine hohe und reiche Bildung heraustreibt und verdirbt, vor allem die Herrschenden selbst mit wenigen Ausnahmen entmenschlicht. Wir haben bis zur Gegenwart kaum ein anderes Werk, dessen Verfasser so spähend in die Seelen einer ganzen Reihe von Fürsten blickt, so scharf und genau die Verwüstungen schildert, welche die dämonische Krankheit der Könige in den verschiedensten Naturen hervorgebracht hat. 8

Um dieses zentrale Thema des Romans zu seiner Wirkung zu führen, bedarf es der Wiederauffindung der verlorenen Handschrift also gar nicht. 9 Die erhaltenen Teile der ‚Annalen‘ sprechen bereits eine deutliche Sprache im Hinblick auf die Pathologie autokratischer Herrschaft. Zuletzt kommen Professor Werner, der seinem Landesfürsten freimütig über die von Tacitus beschworenen Gefahren des ‚Caesarenwahnsinns‘ berichtet, und seine Frau Ilse selbst in Gefahr, zum Opfer des Fürstenwahns zu werden, an dem der Fürst des namenlosen Kleinstaates, in dem die Geschichte spielt, schon längst erkrankt ist. Ein Höhepunkt des Romans ist im sechsten Kapitel des vierten Buches erreicht. Werner ist zu Gast beim Fürsten und erläutert diesem, was man bei Tacitus lernen könne: ‚Er ist der große Berichterstatter über eine eigentümliche Verbildung der Charaktere, welche bei den Herren der antiken Welt eintrat, wir verdanken ihm eine Reihe von psychologischen Schilderungen der Krankheit, welche sich damals auf dem Throne entwickelte.‘ ‚Das ist mir neu,‘ versetzte der Fürst, sich auf seinem Stuhl bewegend. ‚Ew. [= Eure] Hoheit würden, ich bin überzeugt, mit dem größten Anteil die verschiedenen Formen dieser Seelenkrankheit betrachten, und Höchstdieselben würden in andern Zeiträumen der Vergangenheit, ja in früheren Zuständen unseres eigenen Volkes viele bedeutsame Seitenbilder finden.‘

7 Zum Tiberiusbild bei Tacitus als Grundlage für Freytags Darstellung des ‚Caesarenwahnsinns‘ vgl. Hampl 1966, 130 f. 8 Freytag 1897 (Bd. 6), 15. 9 Und von der verlorenen Handschrift werden, das sei hier verraten, im letzten Kapitel als traurige Überreste auch nur noch die elfenbeinernen Buchdeckel aufgefunden.

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‚Sie nehmen also eine besondere Krankheit an, welche nur die Regenten befällt?‘ fragte der Fürst, ‚die Mediziner werden Ihnen für diese Entdeckung besonderen Dank wissen.‘ ‚In der Tat,‘ rief der Professor eifrig, ‚ist die furchtbare Bedeutung dieser Erscheinung noch viel zu wenig gewürdigt, keine andere hat auf das Schicksal der Nationen so unermeßlichen Einfluß geübt. Was Pest und Krieg verdarben, ist wenig gegen die verhängnisvolle Verwüstung der Völker, welche durch dies besondere Leiden der Herrscher angerichtet wurde. Denn diese Krankheit, welche noch lange nach Tacitus unter den römischen Imperatoren wütete, ist kein Leiden, welches auf das alte Rom beschränkt war, sie ist zuverlässig so alt, wie die Despotien des Menschengeschlechts, sie befiel auch später in den christlichen Staaten zahlreiche Herrscher, sie brachte in jeder Zeit anders geformte, groteske Gestalten hervor, sie war durch Jahrtausende der Wurm, welcher, in der Hirnschale eingeschlossen, das Mark des Hauptes verzehrte, das Urteil vernichtete, die sittlichen Empfindungen zerfraß, bis zuletzt nichts übrigblieb als der hohle Schein des Lebens. Zuweilen wurde es Wahnsinn, den auch der Arzt nachweisen kann, aber in zahlreichen anderen Fällen hörte die bürgerliche Zurechnungsfähigkeit nicht auf und der geheime Schaden barg sich sorgfältig. Es gab Zeiträume, wo nur einzelne festgefügte Seelen sich billige Gesundheit bewahrten, und wieder andere Jahrhunderte, wo ein frischer Luftzug aus dem Volke die Häupter, welche das Diadem trugen, frei erhielt. Ich bin überzeugt, wer den Beruf hat, die Zustände späterer Zeit genau zu untersuchen, wird im Grunde denselben Verlauf der Krankheit selbst noch in den milderen Formen unserer Bildung erkennen. Meinem Leben liegen diese Beobachtungen fern, auch zeigt der römische Staat allerdings die abenteuerlichsten Formen der Krankheit, denn dort sind die größten Verhältnisse und eine so mächtige Entfaltung der Menschennatur in Tugend und Verkehrtheit, wie seitdem selten in der Geschichte.‘ ‚Den Herren Gelehrten aber macht das besondere Freude, diese Leiden früherer Herrscher ans Licht zu stellen?‘ fragte der Fürst. ‚Sie sind gewiß lehrreich für alle Zeiten,‘ fuhr der Professor sicher fort, ‚denn sie prägen durch furchtbare Beispiele die Wahrheit ein, daß der Mann, je höher er steht, um so stärkere Schranken nötig hat, welche die Willkür seines Wesens bändigen.‘ 10

Werner beschreibt nun dem Fürsten ausführlich, wohin die schrankenlose Macht einen Herrscher führen kann, ja führen muss, da es ihm leichtfällt, jede Regel zu brechen, Kontrollen aufzuheben, Warner zu entfernen. Umgeben ist er dann nur noch von Schmeichlern, die sein Leiden verstärken werden. „Hundert Beispiele lehren“, so setzt Werner sein Plädoyer für eine eingegrenzte, d. h. konstitutionelle Form von Monarchie fort, „daß frühere Herrscher selbst bei großen äußeren Erfolgen an innerer Verwüstung litten, wo nicht eine starke öffentliche Meinung und kräftige Teilnahme des

10 Freytag 1897 (Bd. 7), 276 f.

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Volkes am Staat sie unablässig zwang, sich selbst zu behüten.“ 11 Als dann der Obersthofmeister des Fürsten entgegnet, dass der Wahnsinn der Herrscher wohl nur die Folge „einer ungeheuren Erkrankung der Völker“ sei, gesteht Werner zu, dass auch der Zustand der Gesellschaft berücksichtigt werden müsse: ‚Zuverlässig ist die Form des Staates und die Form der Bildung, welche die einzelnen Kaiser vorfanden, entscheidend für ihr Leben gewesen. Jedermann ist in diesem Sinne Kind seiner Zeit, und wenn es gilt, das Maß ihrer Schuld zu bestimmen, dann wird vorsichtiges Abwägen ziemen. Aber was ich die Ehre hatte, Sr. [= Seiner] Hoheit als besondern Vorzug des Tacitus anzuführen, ist auch nur die Meisterschaft, mit welcher er die eigenthümlichen Symptome und den Verlauf des Cäsarenwahnsinns schildert‘. 12

Dem Ausruf des Fürsten, es seien doch wohl alle römischen Kaiser krank gewesen, begegnet Werner mit dem Hinweis auf Augustus, der auf dem Thron „ein besserer Mann“ geworden sei. Kaiser mit guter Veranlagung waren der Gefahr gewachsen, der solche mit schlechterem Charakter verfallen mussten. Und bei diesen, so wird nun das Krankheitsbild weiterentwickelt, verläuft der ‚Caesarenwahnsinn‘ nach einem klaren Schema: ‚Der Verlauf der Krankheit ist im allgemeinen nicht schwer zu verfolgen,‘ versetzte der Professor, erfüllt von seinem Gegenstande. ‚Die Übernahme der Regierung wirkt zunächst erhebend. Der höchste Erdenberuf steigert auch beschränkte Menschen wie den Claudius, verdorbene Buben wie den Caligula, Nero und Domitian während der ersten Wochen zu einem gewissen pathetischen Adel. Lebhaft ist das Bestreben, zu gefallen, beflissen die Arbeit, sich durch Gnade festzusetzen; die Scheu vor einflußreichen Persönlichkeiten oder vor dem Widerstreben der Masse zwingt zur Vorsicht. Die Herrschaft aber hat den Menschen zum Sklaven gemacht, und der Sklavensinn trägt eine Verehrung entgegen, welche den Kaiser äußerlich über andere Menschen hinausstellt, er ist von den Göttern besonders begnadigt, ja seine Seele ein Ausfluß der göttlichen Kraft. In dieser knechtischen Unterwürfigkeit aller und der Sicherheit der Herrschaft wuchert bald der Egoismus. Die zufälligen Forderungen eines ungebändigten Willens werden rücksichtslos, die Seele verliert allmählich das Urteil über Bös und Gut, der persönliche Wunsch erscheint dem Regierenden sofort als Bedürfnis des Staates, jede Laune des Augenblicks heischt Befriedigung. Das Mißtrauen gegen Unabhängige führt zu kopflosem Argwohn, wer sich nicht fügt, wird als Feind beseitigt, wer sich geschmeidig anzupassen versteht, ist sicher, eine Herrschaft über den Herrscher auszuüben. Die Familienbande reißen, die nächsten Verwandten werden als geheime Feinde umlauert, der gleißende Schein eines herzlichen Vertrauens wird bewahrt, plötzlich durchbricht eine Missetat den Schleier, mit welchem Heuchelei ein innerlich hohles Verhältnis umzogen hat.‘ 11 Freytag 1897 (Bd. 7), 278. 12 Freytag 1897 (Bd. 7), 278 f.

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Der Fürst rückte mühsam seinen Sessel von dem Kaminfeuer in das Dunkel. Der Professor fuhr eifrig fort: ‚Die Idee des römischen Staates verliert sich zuletzt ganz aus den Seelen, ja sie wird als feindselig gehaßt, nur persönliche Anhänglichkeit wird gefordert, treue Hingabe an den Staat erscheint als Verbrechen. Diese Hilflosigkeit und das Schwinden des Urteils über die Tüchtigkeit, ja über die wirkliche Ergebenheit der Menschen bezeichnen einen Fortschritt der Krankheit, durch welchen bereits die Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt wird. In dieser Zeit werden die Bildungselemente immer beschränkter und einseitiger, das Wollen immer eitler und kleinlicher. Ein kindisches Wesen wird sichtbar, Freude an elendem Tand und eitlen Possen, daneben eine bubenhafte Tücke, welche zwecklos verdirbt, es wird Genuß, nicht nur zu quälen, auch die Qualen anderer zu schauen, unwiderstehlich wird das Gelüst, Hervorragendes in das Gemeine herabzuziehen, ja auch Gleichgültiges zu vernichten. Sehr merkwürdig ist, wie mit dieser Abnahme der Denkkraft eine unruhige und zerstörende Sinnlichkeit überhandnimmt. Ihre dunkle Gewalt wird übermächtig. Während sonst die Würde des höheren Alters auch dem Schwachen Haltung gibt, verletzt hier das widerliche Bild bejahrter Wüstlinge wie Tiberius und Claudius. In einer schamlosen und raffinierten Hingabe an Lüste wird die letzte Lebenskraft zerstört.‘ ‚Das ist sehr merkwürdig,‘ wiederholte tonlos der Fürst. Der Professor schloß: ‚So vollendet sich der Verderb in vier Stufen, zuerst maßlose Selbstsucht, dann Argwohn und Heuchelei, dann knabenhafte Unvernunft, das letzte tut widerwärtige Ausschweifung.‘ Der Fürst erhob sich langsam von seinem Sessel, er strauchelte, der Obersthofmeister trat ängstlich näher, aber der Fürst preßte die Hand auf die Lehne und wandte sich dem Professor zu; ohne ihn anzusehen sagte er verabschiedend: ‚Ich danke den Herren für eine vergnügte Stunde.‘ Man hörte den Worten die Anstrengung an, welche sie ihm kosteten. Im Hinausgehen fragte der Professor leise den Obersthofmeister: ‚Ich habe den Fürsten gewiß durch die gedehnte Erörterung gelangweilt?‘ Der Obersthofmeister sah erstaunt in das freundliche Antlitz des Gelehrten: ‚Ich zweifle nicht, der Fürst wird Ihnen sehr bald beweisen, daß er aufmerksam zugehört hat.‘ Als sie auf der Treppe waren, klang ein heiserer Mißton aus der Ferne, der alte Herr fuhr zusammen und lehnte sich an die Wand. Der Professor lauschte, alles war still. ‚Das war wie der Schrei eines wilden Tieres,‘ sagte er. ‚Es klang von der Straße,‘ versetzte der Obersthofmeister. 13

Im Roman werden Professor Werner und seine Frau alle Gefahren bestehen, die ihnen von Seiten des wahnsinnigen Fürsten drohen; der Fürst selbst wird in einem dramatischen Finale mit Hochwasser, einstürzender Brücke und Gefahr des Ertrinkens dermaßen geschwächt, dass er den letz13 Freytag 1897 (Bd. 7), 279–281. Vgl. auch Kloft 2001, 106 f.

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ten Rest seines Verstandes und seiner Widerstandskraft verliert. Endlich kann er seiner Herrschaft enthoben werden, die auf seinen Sohn übergeht, der die entscheidenden Impulse für die nun zu erwartende gute Herrschaft während seines Aufenthalts in der Universitätsstadt empfangen hat. Vor allem in der Begegnung mit der aufrechten Ilse hatte der Erbprinz den Wert bürgerlicher Ideale erkannt. 14 Ein glücklicher Ausgang beendet also die politische Lektion, die der liberale Schriftsteller seinem Publikum mit großer Resonanz erteilte. Die Wirkung der Verlorenen Handschrift bestand nicht zuletzt darin, dass das Motiv des ‚Caesarenwahnsinns‘ als scheinbar überzeugendes Krankheitsbild mit stark politischer Färbung verbreitet und mit ihm ein nachdrücklicher Einspruch gegen den ‚Caesarismus‘ erhoben wurde, der seinerseits ebenfalls, indes schon etwas früher, zu einer politischen Leitidee geworden war. Beide Ideen zeugen dabei gleichermaßen von der ungebrochenen Wirkmacht, welche die Antike, genauer gesagt: die römische Antike auf die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts ausübte. Als größte Gestalt der römischen Epoche hatte Theodor Mommsen, wenige Jahre vor Freytags Verlorener Handschrift, den dictator Caesar verherrlicht.

2. Caesar und der ‚Caesarismus‘ Mommsen gehörte zu den ersten Lesern der Verlorenen Handschrift. Seit seiner Zeit in Leipzig – dort hatte er von 1848 bis 1851 an der Universität als Extraordinarius römisches Recht gelehrt – war er mit Freytag, der damals in Leipzig eine liberale Wochenzeitung (Die Grenzboten) herausgab, bekannt und befreundet. 15 In einem Brief, den Mommsen am 21. 12. 1864 an Freytag schrieb, lobte er dessen „Beitrag zur Bestattung der Kleinsouveränität“. Nicht ohne Selbstironie prophezeite Mommsen, dass Freytags „neue Gestalten [. . . ] schwerlich so wie die vorige Gesellschaft populär werden“ würden, da es der Autor gewagt habe, „unserem im besten Falle doch stets mit Schrulle versetztem Metier hier die Vertretung des alleinseligmachenden Bürgertums aufzutragen.“ 16 Mommsen verglich hier den

14 Vgl. bes. Freytag 1897 (Bd. 7), 460. 15 Wickert 1969, 39; Rebenich 2002, 62; Mühlen 2016, 103. 16 Der Brief in Auszügen bei Wickert 1969, 434 f. (Anm. 10). Vgl. Kloft 2001, 106 mit Anm. 61. Freytag selbst schrieb Ende Dezember 1864 an seinen Gönner, den Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (Tempeltey [Hg.] 1904, 199 f.): „Der Fürst gehört allerdings einer Generation an, welche jetzt abstirbt, aber einige von den Leiden, an denen er krankt, drohen überall, auch dem jüngeren Geschlecht, wo man die frische, lebendige Verbindung mit dem fortschreitenden Leben als feindlich und widerwärtig verachtet. Das Buch wird an den Höfen nicht gefallen, Ew. Hoheit werden

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neuen Roman im Hinblick auf die zu erwartende Wirkung vermutlich mit den vorangegangenen Bildern aus der deutschen Vergangenheit, deren erster Band im Dezember 1859 erschienen und innerhalb weniger Wochen in erster Auflage ausverkauft war. 17 Doch auch die Verlorene Handschrift wurde zum Bestseller. Auf die Erstausgabe von 1864 folgten allein bis 1895, dem letzten Lebensjahr Freytags, fünfundzwanzig Auflagen; 18 hinzu kamen die Gesammelten Werke Freytags, die anlässlich seines siebzigsten Geburtstags 1886 zum ersten Mal herausgebracht und bis 1935 nachgedruckt wurden. 19 Mommsen und Freytag teilten liberale Positionen, zu denen auch die Ablehnung einer überkommenen Aristokratie gehörte, 20 und sie hofften beide auf eine baldige nationale Einigung Deutschlands unter Einschluss einer politischen Umgestaltung, die dem Bürgertum die seit 1848 geforderte parlamentarische Vertretung bringen sollte. Zu Freytags Kritik an zügellosen, dem ‚Caesarenwahnsinn‘ anheimfallenden Autokraten – ein Motiv, das ihm unmöglich entgangen sein konnte – äußerte sich Mommsen in seinem Brief vom Dezember 1864 allerdings nicht. 21 Vielleicht war ihm die Sache, um die es hier ging, zu ernst, als dass er sie in einem Roman verhandelt sehen wollte, hatte er doch selbst, mit seiner in den Jahren 1852 bis 1856 geschriebenen Römischen Geschichte, einen Beitrag zum Problem monarchischer Herrschaft geleistet, dessen Wirkung seiner Kontrolle entglitten war. In einem der letzten Kapitel des dritten Bandes hatte Mommsen ein äußerst positives Bild Caesars gezeichnet und ihn als das „einzige schöpferische Genie“ bezeichnet, das es in der römischen Geschichte gegeben habe. 22 Nur diesem mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabten Mann

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es deshalb nicht für unzeitgemäß halten. Denn nützlich schien mir, auch unseren Herren anzudeuten, wie man in der Mitte des Volkes über sie urtheilt.“ von zur Mühlen 2016, 162; 164–166. von zur Mühlen 2016, 247. Dass Mommsens Prophezeiung gleichwohl nicht ganz falsch war, geht aus Freytags Erinnerungen hervor, in denen er notierte: „Der Roman hat sich seinen Leserkreis bewahrt, der ungefähr halb so groß ist, als der von Soll und Haben“ (1896, 204). von zur Mühlen 2016, 230; 240. Die erste Auflage der Gesammelten Werke erschien 1886/87 im Hirzel-Verlag Leipzig, die zweite 1896–1898, eine dritte „neue wohlfeile“ Ausgabe um 1915. Um 1925 folgten, immer noch im Hirzel-Verlag, die Gesammelten Werke in zwei Serien. Die letzte Ausgabe brachte 1935 die Verlagsanstalt Hermann Klemm heraus. Zu Freytags mitunter heftiger Kritik am Adel vgl. von zur Mühlen 2016, 70 f.; 88; 111 f.; 168. Mommsen schreibt in diesem Zusammenhang nur: „Und ihren Beitrag zur Bestattung der Kleinsouveränität haben Sie doch auch redlich geleistet und wie billig nur an edlen Exemplaren der Gattung verflüchtigt. Möchten wir noch zusammen die Zeit erleben, die Sie einläuten!“ (Wickert 1969, 434 [Anm. 10]). Mommsen 1976, Bd. 5, 127 [1875 Bd. III 461].

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sei es möglich gewesen, die lange, durch ein korruptes Senatsregime verursachte Krise der römischen Republik zu beenden, das Römische Reich zu seiner nationalen Identität zu führen und dabei auch noch als „Bürgerkönig“ die monarchische Herrschaft mit der Souveränität des römischen Volkes zu verbinden. 23 Das war ein historisches Porträt, das in starkem Maße von den politischen Hoffnungen und Erfahrungen des Autors geprägt war. 24 So beschrieb Mommsen Caesar als „leidenschaftlichen Mann [. . . ], denn ohne Leidenschaft gibt es keine Genialität“. Aber Caesar habe, da er „durchaus Realist und Verstandesmensch“ 25 gewesen sei, seine Leidenschaft auch beherrschen können. Folglich war er dazu geboren, den Niedergang Roms zu beenden und die letzte Phase der antiken Geschichte einzuleiten: Aus einer solchen Anlage konnte nur ein Staatsmann hervorgehen. Von früher Jugend an war denn auch Caesar ein Staatsmann im tiefsten Sinne des Wortes und sein Ziel das höchste, das dem Menschen gestattet ist sich zu stecken: die politische, militärische, geistige und sittliche Wiedergeburt der tiefgesunkenen eigenen und der noch tiefer gesunkenen, mit der seinigen innig verschwisterten hellenischen Nation. 26

Caesar war für Mommsen ein „vollendeter Staatsmann“, dessen Leistungen als „Redner, Schriftsteller und Feldherr“ allesamt nur als Ausdruck seines einzigartigen Wesens zu gelten hätten. 27 Aber Mommsen verkündete zugleich, dass in Caesar „nicht der Offizier, sondern der Demagoge der Ausgangspunkt der politischen Tätigkeit war“. 28 Nur so konnte Mommsen aus dem Sieger im römischen Bürgerkrieg, der mit Pompeius auch den Senat entmachtete, einen „Volkskönig“ machen und damit zu einer politischen Chiffre, deren appellativer Wert für die Leser der Römischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts evident war: Es ging hier um die Idee einer Verbindung monarchischer Herrschaft mit Formen der politischen Vertretung des Bürgertums. Da Mommsen nun selbst bei seinen Ausführungen über Caesar vergleichend auf Napoleon, Wilhelm von Oranien und Oliver Cromwell hinwies, 29 konnte sich jeder Leser dazu eingeladen fühlen, Mommsens positives Caesarbild auch auf zeitgenössische Autokraten zu übertragen. In diese Richtung wiesen auch

23 Zum Konzept des „Bürgerkönigs“ vgl. Dollinger 1985. 24 Zu Mommsens Caesarbild vgl. Gollwitzer 1952, 60–62; Wucher 1956, 103–129; Christ 1994, 134–154; Rebenich 2002, 86–89. 25 Mommsen 1976, Bd. 5, 128 f. [1875 Bd. III 462 f.]. 26 Mommsen 1976, Bd. 5, 129 [1875 Bd. III 463]. 27 Mommsen 1976, Bd. 5, 130 [1875 Bd. III 464]. 28 A. a. O. 29 Mommsen 1976, Bd. 5, 130 f. [1875 Bd. III 464 f.].

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die letzten Zeilen des dritten Bandes der Römischen Geschichte. Mommsen schloss seine Darstellung mit folgendem Ausblick: Wir stehen am Ende der römischen Republik. Wir sahen sie ein halbes Jahrtausend in Italien und in den Landschaften am Mittelmeer schalten; wir sahen sie nicht durch äussere Gewalt, sondern durch inneren Verfall politisch und sittlich, religiös und litterarisch zu Grunde gehen und der neuen Monarchie Caesars Platz machen. Es war in der Welt, wie Caesar sie vorfand, viel edle Erbschaft vergangener Jahrhunderte und eine unendliche Fülle von Pracht und Herrlichkeit, aber wenig Geist, noch weniger Geschmack und am wenigsten Freude im und am Leben. Wohl war es eine alte Welt; und auch Caesars genialer Patriotismus vermochte nicht sie wieder jung zu machen. Die Morgenröthe kehrt nicht wieder, bevor die Nacht völlig hereingebrochen ist. Aber doch kam mit ihm den vielgeplagten Völkern am Mittelmeer nach schwülem Mittag ein leidlicher Abend; und als sodann nach langer geschichtlicher Nacht der neue Völkertag abermals anbrach und frische Nationen in freier Selbstbewegung nach neuen und höheren Zielen den Lauf begannen, da fanden sich manche darunter, in denen Caesars Same aufgegangen war und die ihm ihre nationale Individualität verdankten und verdanken. 30

Wie sollten denn die „frischen Nationen“, so musste sich der Leser dieser letzten Zeilen doch wohl fragen, den Lauf „nach neuen und höheren Zielen“ beginnen, wenn nicht durch neue Caesaren geführt? So eindeutig allerdings, wie es zunächst scheinen mag, war Mommsens Caesarbild dann aber doch nicht. Schon in der ersten Auflage des dritten Bandes seiner Römischen Geschichte finden sich Hinweise darauf, dass Mommsen den einmaligen Fall dieses „schöpferischen Genies“ nicht als Muster für spätere Monarchen verstanden wissen wollte. 31 Und wer diese Hinweise zunächst überlas oder nicht ernst nehmen wollte, wurde von Mommsen einige Jahre später noch einmal ausdrücklich darüber belehrt, dass er die Darstellung ‚seines‘ Caesars nicht als Entwurf einer praktischen Handlungsanweisung für spätere Autokraten missverstanden wissen wollte. Die zeitgenössische Diskussion um den antiken Caesar und seine modernen Nachfolger – und unter diesen vor allem um Napoleon III., der seine Verwandtschaft mit Napoleon Bonaparte zur Begründung eines neuen ‚Bonapartismus‘ bzw. ‚Caesarismus‘ instrumentalisierte 32 – veranlasste Mommsen, 1857 in 30 Mommsen 1976, Bd. 5, 294 f. [1875 Bd. III 630]. 31 Mommsen 1976, Bd. 5, 134 f. [1875 Bd. III 469]: „[. . . ] und wenn die Völker, denen die Welt gehört, noch heute mit seinem [Caesars] Namen die höchsten ihrer Monarchen nennen, so liegt darin eine tiefsinnige, leider auch beschämende Mahnung.“ Hinzu kommt die grundsätzliche Kritik an der (römischen) Monarchie, z. B. 1976, Bd. 3, 124 [1875 Bd. II 115]: „Eine absolute Monarchie ist ein großes Unglück für die Nation, aber ein minderes als eine absolute Oligarchie [. . . ].“ Vgl. Wucher 1956, 123–126. 32 Zum ‚demokratischen Caesarismus‘ Napoleons III. vgl. Meyer 1975, 23–28; Willms 2008; Kopp 2013; zum ‚Bonapartimus‘ weiterhin auch Leonhard 2010.

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der zweiten Auflage des dritten Bandes der Römischen Geschichte eine kritische Bemerkung einzuschieben, mit der eine klare Grenze zwischen der Antike und der Gegenwart und ihren jeweiligen Monarchen gezogen wurde: Wohl aber wird es gerade hier am Orte sein, das, was der Geschichtschreiber stillschweigend überall voraussetzt, einmal ausdrücklich zu fordern und Einspruch zu tun gegen die der Einfalt und der Perfidie gemeinschaftliche Sitte, geschichtliches Lob und geschichtlichen Tadel, von den gegebenen Verhältnissen abgelöst, als allgemein gültige Phrase zu verbrauchen, in diesem Falle das Urteil über Caesar in ein Urteil über den sogenannten Caesarianismus [in späteren Auflagen: Caesarismus; Anm. d. Verf.] umzudeuten. Freilich soll die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte die Lehrmeisterin des laufenden sein; aber nicht in dem gemeinen Sinne, als könne man die Konjunkturen der Gegenwart in den Berichten über die Vergangenheit nur einfach wiederaufblättern [. . . ]; sondern sie ist lehrhaft einzig insofern, als die Beobachtung der älteren Kulturen die organischen Bedingungen der Zivilisation überhaupt, die überall gleichen Grundkräfte und die überall verschiedene Zusammensetzung derselben offenbart [. . . ]. In diesem Sinne ist die Geschichte Caesars und des römischen Caesarentums, bei aller unübertroffenen Großheit des Werkmeisters, bei aller geschichtlichen Notwendigkeit des Werkes, wahrlich eine bittrere Kritik der modernen Autokratie, als eines Menschen Hand sie zu schreiben vermag. 33

Genau das Gegenteil hatte Auguste Romieu (1800–1855), ein Anhänger von Louis Napoleon, dem späteren französischen Kaiser Napoleon III., 1850 in seinem Buch über L’ère des Césars ausgeführt. Diese Programmund Propagandaschrift für einen modernen ‚Caesarismus‘ bzw. ‚Bonapartismus‘ erschien bereits 1851 auch in deutscher Übersetzung, wobei hier schon im Untertitel deutlich wurde, welche Absichten der Autor verfolgte: „Der Cäsarismus oder die Nothwendigkeit der Säbelherrschaft, dargethan durch geschichtliche Beispiele von den Zeiten der Cäsaren bis auf die Gegenwart.“ 34 Romieus Schrift ist eine Verherrlichung der Gewalt als Mittel der Politik, wobei der Autor behauptet, dass es der menschlichen Natur

33 Mommsen 1976, Bd. 5, 142 f. [1875 Bd. III 477]. Vgl. Kaegi 1964, 119: Mommsen „dachte also mehr an die Cäsarianer als an Cäsar; aber das Wort wurde in den folgenden Jahren in der leichteren Form [. . . ] populär, so daß Mommsen in den späteren Auflagen seines Werkes selbst zu der Form ‚Cäsarismus‘ überging.“ 34 1993 wurde die Übersetzung, zusammen mit einer weiteren Schrift Romieus (Das rote Gespenst), in der Bibliothek der Reaktion erneut aufgelegt; Herausgeber der Texte war Günter Maschke, der in seinen eigenen Publikationen nationalistische und rechtsextremistische Positionen vertritt. Vgl. zu Romieus Schrift Groh 1972, 749 f.; Stürmer 1977, 105; Baehr 1998, 106–121; Meyer 1975, 21 f. sowie Heuss 1980, 15, der treffend von einem „unverblümten Panegyrikus auf Macht und Gewalt“ spricht, von einer „radikalen Abwertung von Vernunft und Diskussion“ und von einem „Evangelium des reinen Aktionismus“.

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entspräche, nach Macht zu suchen und sich der Macht unterzuordnen. Macht bedeutet hier Gewalt im Sinne der Herrschaft über die Waffen, und wer diese Gewalt in den Händen halte, könne „die Anarchie des öffentlichen Wortes“ beenden. 35 Romieu schrieb dazu: Die Cäsaren sind gekommen, weil sie kommen mußten, und weil der Lauf der Dinge wollte, daß sie kamen. So lange, bis der Mensch seine Natur verändert, muß sich die Gewalt stets gegen die Discussion auflehnen, wenn die Gewalt groß und die Rede klein ist. [. . . ] Wenn die Regierung kräftig ist, wenn sie allein und ohne Erschütterung vorwärts schreitet, trägt sich nichts der Art zu. Wenn aber die Debatten herrschen, wenn die Anarchie des öffentlichen Wortes in dem Lager das Echo ihrer Tumulte und Widersprüche ertönen läßt, dann fühlt das Heer sich von Geringschätzung ergriffen und wendet die Blicke auf die Ordnung und Einheit, die es in seinem Führer verkörpert sieht. 36

Romieu erweist sich als Gegner von Konstitutionalismus und Parlamentarismus, und er erklärt es zur historischen Notwendigkeit, dass politische Systeme, in denen diskutiert und abgestimmt wird, zuletzt von einer autoritären Gewalt unterworfen werden. 37 Der Parlamentarismus müsse zum Caesarismus führen, denn die Macht sei „die Lösung aller Probleme“. 38 Romieus historisches Vorbild ist das römische Kaiserreich unter Augustus; hier habe die Herrschaft der Caesaren zu den glücklichsten Zeiten von „Ruhe, Größe und Ordnung“ geführt, die die Menschheit bislang erlebt habe. 39 Mit seiner den Staatsstreich Louis Napoleons vorwegnehmenden Schrift, in der er die Autorität eines modernen Caesaren für historisch notwendig erklärt, ging Romieu 1851 übrigens Karl Marx voraus, der seine Studie über den Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte im Mai 1852 veröffentlichte. Für seine Analyse der politischen Manöver, mit denen Louis Napoleon seinen Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 vorbereitete, verwies Marx allerdings nicht auf Caesar, sondern auf Caligula: die Truppenparade am 29. Januar 1849, „dies erste öffentliche Aufgebot der Militärmacht gegen die parlamentarische Macht“, habe Napoleon „begierig aufgegriffen, um den Caligula anzudeuten“. 40

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Romieu 1851, 16. Romieu 1851, 18; 16. Romieu 1851, 10. Romieu 1851, 24. Romieu 1851, 18. Marx 1852, 35. Zu Marx’ Analyse des ‚Bonapartimus‘ vgl. Gollwitzer 1952, 67–70; Groh 1972, 758–760; Baehr 1998, 133–147.

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3. ‚Caesarenwahnsinn‘ Mit Caligula musste sich noch ein anderer Monarch des 19. Jahrhunderts, der gerne sein autokratisches Verständnis von Herrschaft betonte, vergleichen lassen: Der satirische Angriff, den Ludwig Quidde (1858–1941) im Jahr 1894 gegen Wilhelm II. führte, entfaltete seine beträchtliche Wirkung auch deshalb, weil das Motiv des ‚Caesarenwahnsinns‘ durch Gustav Freytags Roman weite Verbreitung gefunden und in die Auseinandersetzungen um Caesar und den ‚Caesarismus‘ eine ausgesprochen negative Kategorie eingeführt hatte. 41 Die Diskussion um das „persönliche Regiment“ Wilhelms II., das von zeitgenössischen Kritikern als ‚Caesarismus‘ und ‚Byzantinismus‘ oder gar als Ausdruck von ‚Caesarenwahnsinn‘ gewertet wurde, war längst im Gange, als Quidde 1892 in Rom, wie er in seinen 1926 erschienenen Erinnerungen berichtet, zufällig auf eine Photographie Wilhelms stieß, die dieser noch als Kronprinz mit einem berüchtigten Caligula-Zitat signiert hatte: oderint dum metuant: „mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten“. 42 Quidde war damals 34 Jahre alt und hatte sich als Historiker bereits einen Namen gemacht. 43 Sein Arbeitsgebiet war die Mittelalterliche Geschichte; promoviert hatte er 1881 über den König Sigmund und das deutsche Reich von 1410 bis 1419. Quidde wirkte auch als erfolgreicher Wissenschaftsorganisator. Seit 1889 gab er die Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft heraus, von 1890 bis 1892 leitete er die „Preußische Historische Station“ (das heutige „Deutsche Historische Institut“) in Rom. Quidde hatte nun im Jahr 1889 die Geschichte des römischen Kaiserreiches von Gustav Friedrich Hertzberg gelesen, wobei ihm „sehr überraschende Parallelen zu Tagesereignissen und zu Beobachtungen an dem im Vorjahr zur Regierung gelangten jungen Kaiser Wilhelm“ aufgefallen waren. 44 Anfang 1892 begann er damit, die von ihm erkannten Ähnlichkeiten

41 Vgl. zum Folgenden Schlange-Schöningen 2003, 302–317. 42 Zitiert wird hier nach der o. abgedruckten Textfassung der 31. Auflage von 1926 (zum Zitat s. o. S. 35; 43 f.). Quiddes Caligula und seine Erinnerungen des Verfassers: Im Kampf gegen Cäsarismus und Byzantinismus im kaiserlichen Deutschland sind 1977 von H.-U. Wehler und 2001 von K. Holl, H. Kloft und G. Fesser neu herausgegeben worden. Zu einer Textabweichung dieser Ausgaben gegenüber dem Original von 1926 vgl. Schlange-Schöningen 2003, 298 f. Anm. 6. 43 Zu Quiddes Biographie vgl. Taube 1963; Holl 2001; ders. 2007; ders. 2012. 44 Quidde 311926 (Erinnerungen), 23 (zum Zitat s. o. S. 43). Vgl. Holl 2007, 94 f., der auch einen Brief Quiddes an Otto Adolf Ellissen vom Oktober 1889 als erstes Zeugnis für Quiddes Beschäftigung mit dem Stoff zitiert, den er als „Sujet für ein grandioses social-politisch-pathologisch-psychologisches Sensationsdrama“ bezeichnet, durch dessen Bearbeitung ein Schriftsteller „mit einem Schlag ein berühmter Mann werden“ könnte. Im Hinblick auf Hertzberg ist festzuhalten, dass in seiner Geschichte

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zwischen der Herrschaft des römischen Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.) und der Herrschaft Wilhelms II. zu einem satirischen Pamphlet zu formen. Im Rückblick des Jahres 1926 konstatierte er noch einmal: „Wie viele von Caligula berichtete Einzelheiten, oft ganz unbedeutender Art, genau auf Wilhelm II. passen, war förmlich unheimlich.“ 45 In dieser Satire, die unter dem Titel Caligula, eine Studie über Caesarenwahnsinn zunächst in der Zeitschrift Die Gesellschaft (und wenige Tage zuvor als Sonderdruck), 46 danach, als sich ein Skandal an diesem Text entzündet hatte, als Broschüre in zahlreichen Auflagen erschien, kritisierte Quidde den politischen Umschwung, der seit 1888 erfolgt war, indem er auch für die ersten Jahre der Herrschaft Caligulas einen Wechsel vom Liberalismus zum Absolutismus beschrieb. Das entsprach der Überlieferung, wie sie bei dem antiken Biographen Sueton und in anderen Quellen der römischen Kaiserzeit über Caligula zu finden war. 47 Sueton zufolge soll sich Caligula anfangs an den Vorgaben des Augustus orientiert, also eine im Umgang mit dem Senat kompromissbereite Politik betrieben haben. Das übersetzte Quidde in die Vorstellung, Caligula habe „alte Forderungen der liberalen Elemente [. . . ] erfüllt“: Vor allem wurde dem politischen Leben wieder mehr Freiheit gelassen. Caligula schien Ernst machen zu wollen mit Beobachtung gewisser Verfassungsformen, die unter Tiberius in Verfall geraten waren; bei Feststellung des Budgets und des Militäretats schien er der öffentlichen Meinung mehr Einfluß zu gönnen; das freie Wahlrecht der Volks-Comitien schien wieder aufzuleben; gegen das Delatorenunwesen, das etwa politischem Lockspitzeltum unserer Tage vergleichbar ist, wurde eingeschritten und damit das öffentliche wie das private Leben von einem seiner schlimmsten Schäden befreit, die Schriften des Labienus, des Cremutius Cordus und des Cassius Severus, die als staatsgefährlich verboten waren, wurden wieder freigegeben, politische Gefangene mit einer Amnestie bedacht, Prozesse wegen Majestätsbeleidigung niedergeschlagen und die Gesetze, die dieses Vergehen mit schweren Strafen bedrohten, außer Anwendung gesetzt. Auch drückende Steuern, die gerade den kleinen

des römischen Kaiserreiches ausdrücklich vom „Cäsarenwahnsinn“ Caligulas die Rede war (1880, 192: „Es war eine andere Art geistiger Störung, die ihn beherrschte; es ist jene Erscheinung, die feine Beobachter der römischen Kaisergeschichte ‚Allmachtsschwindel‘ oder ‚Cäsarenwahnsinn‘ genannt haben, und die nicht bei diesem Caligula allein uns begegnet.“). Vgl. dazu Kloft 2000, 190, der darauf hinweist, dass Hertzberg hier wohl an Freytag dachte. 45 Quidde 311926 (Erinnerungen), 55 (s. o. S. 75). 46 Vgl. Kohlrausch 2005, 119 mit Anm. 153. Zur Verbreitung des Caligula a. a. O., 124. 47 Zu Quiddes Umgang mit den Quellen vgl. Brude-Firnau 1997, 37–39. Zu Caligula und seiner modernen Rezeption vgl. Yavetz 1996; Winterling 2003, bes. 175–180; ders. 2007; Witschel 2006; Einwände gegen Winterlings Deutung bei Zerssen 2011. Vgl. auch Sittig, 2018, bsd. 449–458, der die Funktion des Wahnsinn-Narrativs für die frühe Römische Kaiserzeit untersucht.

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Verkehr der breiten Massen drückten, wurden erlassen und Erleichterungen zugunsten der ärmsten Klassen bei der Getreideversorgung eingeführt – von den Spielen, die Caligula nach dem alten Rezept ‚panem et circenses‘ in Aufschwung brachte, zu schweigen. So schien mit der größeren Freiheit auch eine Ära der sozialen Reformen oder doch einer volkstümlichen Behandlung wirtschaftlicher Fragen heraufzuziehen. 48

Bald aber sei deutlich geworden, dass die „Haupttriebfeder“ für Caligula „nicht der Wunsch“ gewesen sei, „Gutes zu schaffen, sondern der Ehrgeiz, als Förderer populärer Bestrebungen bewundert zu werden und als großer Mann auf die Nachwelt zu kommen.“ 49 Caligula konnte „keine selbständige Kraft neben sich ertragen“, vielmehr wollte er „sein eigener Minister“ sein. Für die zeitgenössischen Leser der Satire war dies eine unmissverständliche Anspielung auf das „persönliche Regiment“, das Wilhelm II. seit der Entlassung Bismarcks zu führen gedachte. 50 Man habe sich daran gewöhnt, so Quidde weiter, von Cäsarenwahnsinn als einer besonderen Form geistiger Erkrankung zu sprechen, und dem Leser wird die packende Szene aus Gustav Freytags ‚Verlorener Handschrift‘ in Erinnerung sein, wo der weltfremde Professor ahnungslos dem geisteskranken Fürsten aus Tacitus das Bild seines Lebens entwickelt. Die Züge der Krankheit: Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Mißachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose brutale Grausamkeit, sie finden sich auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, daß die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen ungehinderten Entwicklung kommen läßt, die sich zugleich in einem Umfange, der sonst ganz ausgeschlossen ist, in grausige Taten umsetzen kann. 51

Indem Quidde den Wahnsinn des römischen Kaisers Caligula beschrieb, diagnostizierte er gleichzeitig den ‚Caesarenwahnsinn‘ des nicht genannten Kaisers Wilhelm II. Und er verschärfte seinen Angriff auf Wilhelm II. dadurch, dass er Caligulas Wahnsinn an Eigenschaften und Handlungen vorführte, die sich jedes Mal auch auf den deutschen Kaiser beziehen ließen. Caligulas Vorliebe für „riesenhafte Bauten“, sein „Heißhunger nach 48 Quidde 311926 [1894] (Caligula), 5 (s. o. S. 27 f.). 49 Quidde 311926 [1894] (Caligula), 6 (s. o. S. 28). 50 Vgl. Röhl 1995 (1983), 120; 124–138; Hull 1991; Röhl 2001, 31–36; 42–48; 145– 158; 935–945; 968–974; Clark 2008, 86–89; 108–112; 119–133. Vgl. dagegen Fehrenbach 1969, 95–99 (das „erstrebte persönliche Regiment [. . . ] eine bloße Fiktion“ [95]; „Fiktion des Selbstherrschertums“ [97]), von Pezold 1971, 217 f.; 221–231 (der nachdrücklich auf den „Unterschied zwischen Wort und Tat“ [223] bei Wilhelm II. verweist, sich dabei indes vor allem auf die zweite Hälfte seiner Herrschaft bezieht) sowie vor allem Wehler 1973, 69–72. 51 Quidde 311926 [1894] (Caligula), 7 (s. o. S. 29). Vgl. Sittig 2018, 32.

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militärischen Triumphen“, der sich in „spielerischen Manövern“ und einem „theatralischen Schein“ niederschlug, der „phantastische Gedanke einer Bezwingung des Weltmeeres“, die „Freude an rücksichtsloser Gewalttätigkeit“ und die „Mißachtung jeder Sachkenntnis und jeder auf Fachbildung beruhenden Autorität“, 52 alles dies passte sehr gut auch auf Wilhelm II.: Bei den „riesenhaften Bauten“ konnte man etwa an den Neubau des Berliner Doms seit 1893 denken oder an andere Kirchenbauten wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin oder die Erlöserkirche in Jerusalem; vielleicht spielte Quidde auch auf die Planungen für die umstrittene Bagdad-Bahn an, die Wilhelm II. nachdrücklich unterstützte. Der „Heißhunger nach militärischen Triumphen“ zeigte sich in den häufigen Kaisermanövern, und der ‚phantastische Gedanke einer Bezwingung des Weltmeeres‘ wurde seit 1894 immer deutlicher; schon in diesem Jahr, am 21. 6. 1894, schrieb Wilhelms Mutter Victoria an ihre Mutter, die englische Queen Victoria: „Wilhelms einziger Wunsch ist, eine Flotte zu haben, die größer und stärker als die britische ist, aber mir scheint dies der reine Wahnsinn zu sein, und er wird sehen, wie unmöglich und nutzlos sein Vorhaben ist.“ 53 Quiddes Angriff richtete sich allerdings nicht nur gegen den Kaiser allein; vielmehr erklärte der Autor, dass zwischen der Egomanie des Kaisers und der Kriecherei der kaiserlichen Ratgeber und Gefolgsleute ein enger Zusammenhang bestehe: Der spezifische Cäsarenwahnsinn ist das Produkt von Zuständen, die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt. Der Eindruck einer scheinbar unbegrenzten Macht läßt den Monarchen alle Schranken der Rechtsordnung vergessen; [. . . ] die Formen der höfischen Etikette – und mehr noch die darüber hinausgehende unterwürfige Verehrung aller derer, die sich an den Herrscher herandrängen – bringen ihm vollends die Vorstellung bei, ein über alle Menschen durch die Natur selbst erhobenes Wesen zu sein [. . . ]. 54

Obwohl Quiddes Aufsatz über Caligula somit eine scharfe Kritik am deutschen Kaiser und am monarchischen System darstellte, blieben Reaktionen in den ersten Wochen nach seiner Veröffentlichung gänzlich aus. Das änderte sich, als die konservative Kreuzzeitung am 18. Mai 1894 einen ausführlichen Leitartikel über den Caligula druckte; daraufhin setzte eine

52 Quidde 311926 [1894] (Caligula), 9–11; 13 f. (s. o. S. 30–33). 53 Ponsonby (Hg.) 1929, 463. Vgl. Fesser 2001, 134. 54 Quidde 311926 [1894] (Caligula), 7 (s. o. S. 29). Vgl. von Pezold 1971, 213; BrudeFirnau 1997, 32; 36; Sittig 2018, 37.

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große Nachfrage nach der Schrift ein. 55 Es folgten lebhafte Diskussionen über den Inhalt und den Autor und über die Frage, ob die Diagnose ‚Caesarenwahnsinn‘ für Wilhelm II. zutreffe oder nicht, wobei diese Diskussionen nur hinter vorgehaltener Hand stattfinden konnten. 56 „Die gesamte Presse“, so schrieb Quidde 1926 in seinen Erinnerungen, stürzte sich jetzt auf die Schrift. Viele Zeitungen brachten lange Auszüge [. . . ]. Auch die ausländische Presse, die europäische und die überseeische, war voll von Mitteilungen über den ‚Caligula‘. In den Witzblättern wurde Caligula zum Gegenstand meist sehr geschmackloser Scherze, teils auf des Kaisers, teils auf meine Kosten. In Singspielhallen waren Couplets über Caligula an der Tagesordnung. 57

55 Vgl. Steinhammer, 1894, 3: „Seitdem die Kreuzzeitung in der Nummer vom 18. Mai sich so gewissenhaft mit einer Brochüre des Münchener Herrn Quidde beschäftigt hat, interessirt man sich sozusagen mit einer Art Sportseifer für den ‚Caligula‘“. Kohlrausch 2005, 125–154 hat eingehend und überzeugend die verschiedenen Ebenen der Caligula-Affäre analysiert und als den eigentlich entscheidenden Aspekt, als „vermeintlichen Skandal im Skandal“ (128), die durch die Kreuzzeitung angestoßene, mediale Verbreitung des durch Quidde begangenen Tabubruchs herausgestellt. Auf diese Weise wurde eine Diskussion über die monarchische Herrschaft und über die Frage, wie ein solcher Diskurs zu führen wäre, eröffnet. Das Vorgehen der Kreuzzeitung ist dabei als Ausdruck einer sich formierenden Opposition der konservativen Eliten zu verstehen, die von Wilhelms II. Kurs etwa in der Handelsvertragspolitik enttäuscht waren. Anschließend entwickelten die „Gegenpamphletisten“ (130) die Idee des „Neuen Reiches“, in dem ein idealisierter Kaiser Bürgernähe und „bürgerlichen Geist“ beweisen sollte. Kohlrausch weist auch darauf hin, dass eine erste Stellungnahme zum Caligula im Vorwärts vom 6. 5. 1894, obwohl hier die Parallelen zwischen Caligula und Wilhelm II. deutlich herausgestellt wurden, keine größere Beachtung fand: weder überraschte ein solcher Artikel in dieser Zeitung, noch war sie Teil des medialen Systems gegenseitiger Bezugnahmen, in dem sich die bürgerliche Presse bewegte (125 mit Anm. 178; 130 Anm. 200; vgl. auch ders. 2009, 118 f.). 56 Vgl. Czech 2010, 284 f. zu den vielen Prozessen wegen Majestätsbeleidigung, die in den neunziger Jahren des 19. Jh. angestrengt wurden. Vgl. auch Röhl 1989, 28 f.; ders. 1995 (1982), 29–32 sowie ders. 1995 (1983), 140 zu den zahlreichen Zeugnissen über eine vermutete Geistesschwäche des Kaisers und zu verschiedenen Vorhaben, Wilhelm II. für geisteskrank zu erklären und eine Regentschaft einsetzen zu lassen. Diese Urteile und Pläne aus den letzten Jahren des 19. Jh. sind wohl auch zur Wirkungsgeschichte von Quiddes Caligula zu rechnen, wenngleich Zweifel an Wilhelms geistiger Gesundheit auch schon vor 1894 verbreitet wurden (vgl. dazu z. B. Radkau 1998, 275). Ein Beispiel aus der Zeit nach 1894 ist die mit dem Pseudonym „Dr. Jurius“ unterschriebene Eingabe an die Zentrumsfraktion aus dem Jahr 1897, über die der badische Gesandte in Berlin Eugen von Jagemann am 18. 5. 1897 berichtete: W. P. Fuchs (Hg.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871–1907, 3. Band: 1890–1987, Stuttgart 1980, 650, Nr. 1694. Das Schreiben des „Dr. Jurius“ gipfelte von Jagemann zufolge in der „Schlußfolgerung [. . . ], daß Kaiser Wilhelm nicht normal sei und dem Reichs- und Landtag daher die Pflicht erwachse, diese Verhältnisse offen zu schildern und daran das Begehren zu schließen, man solle eine Regentschaft nun einsetzen.“ 57 Quidde 311926 (Erinnerungen), 28 f. (s. o. S. 49). Zu den Reaktionen auf den Caligula vgl. die Zusammenstellung der „Dokumente und Materalien“ in Holl / Kloft /

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In seinen Erinnerungen berichtet Quidde auch von den Folgen, die seine Satire für seine eigene Laufbahn und Stellung als Wissenschaftler hatte. „Außerordentlich nahe“ habe „die Erwartung gelegen, daß der Staatsanwalt einschreiten werde.“ 58 Quidde rechnete mit einer baldigen Hausdurchsuchung und fürchtete, dass das Caligula-Manuskript nicht nur ihn selbst, sondern auch Freunde und Mitarbeiter, deren handschriftliche Anmerkungen erkennbar gewesen wären, in Gefahr bringen würde. „Die Blätter finden und sie dem Herdfeuer überantworten, war eins.“ 59 Da das Manuskript jedoch nur ein Beweismittel gewesen wäre und die öffentliche Aufregung ein hartes Urteil in einem Strafprozess erwarten ließ, wurde Quidde empfohlen, Deutschland zu verlassen und Schutz in der Schweiz zu suchen. Quidde folgte diesem Ratschlag nicht, weil er glaubte, dass eine Flucht als Schuldeingeständnis gewertet werden und den Staatsanwalt noch einmal mehr zur gerichtlichen Verfolgung veranlassen würde. Auch auf die Ausführungen der Kreuzzeitung hin einfach nur zu schweigen, schien ihm eine schlechte Verteidigung. Deshalb veröffentlichte er am 23. Mai 1894 in der Vossischen Zeitung sowie in der Frankfurter Zeitung eine Erklärung, in der er zwar zugestand, dass er seine Schrift „mit lebhaftem historisch-politischen Interesse“ geschrieben habe, diese aber doch „sowohl in Inhalt wie Form durchaus historisch“ sei. 60 Quiddes Erklärung war nicht weniger geschickt formuliert als sein Caligula, denn auf den eigentlichen Vorwurf, Wilhelm II. angegriffen zu haben, ging er gar nicht ein. Er gestand nur zu, dass sich bei der Behandlung des historischen Stoffes „unwillkürlich geltend gemacht haben“ könnte, daß ich in republikanischen Anschauungen groß geworden bin. Diese Grundrichtung scheint ja auch die ‚Kreuzzeitung‘, wie ihre Schlußworte zeigen, empfunden zu haben, und vielleicht hat sie sich von ihrer Empörung darüber dazu hinreißen lassen, mir so ganz andere Dinge als bloße antimonarchische Gesinnung unterzulegen. 61

Antimonarchisch gesinnt zu sein, konnte keine Grundlage für eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung sein. Quidde spielte zudem den Ball an die Kreuzzeitung zurück: sie hatte doch erst, so suggerierte er, die Idee entwickelt, dass der Caligula als Kritik und Beleidigung des deutschen Kaisers

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Fesser 2001, 164–197, darin auch der Artikel der Kreuzzeitung. Eine umfangreichere Erschließung der Zeitungsberichte sowie der Pamphlete, die im Anschluss an den Caligula erschienen, bietet Kohlrausch 2005, 125–154 (eine Zusammenstellung der Pamphlete: 129, Anm. 196; ders. 2009, 123, Anm. 27). Quidde 311926 (Erinnerungen), 32 (s. o. S. 52). Quidde 311926 (Erinnerungen), 32 (s. o. S. 52). Quidde 311926 (Erinnerungen), 34 f. (s. o. S. 54 f.). Quidde 311926 (Erinnerungen), 34 f. (s. o. S. 55).

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zu verstehen sei. 62 Seine Erklärung heizte die öffentliche Aufregung noch einmal mehr an, doch kam es zunächst zu keiner gerichtlichen Verfolgung. Allerdings habe der Staatsanwalt, so schreibt Quidde, seiner öffentlichen Tätigkeit von nun an „eine besonders liebevolle Aufmerksamkeit“ gewidmet. Eine juristische Verfolgung wegen der Abfassung des Caligula fand zwar nicht statt. Am Ende musste Quidde für seine Einsprüche gegen den zeitgenössischen Herrscherkult aber doch mit einer dreimonatigen Gefängnishaft büßen. 63 Und dass er nach 1894 seine politische Tätigkeit intensivierte, erscheint als Folge des beruflichen Scheiterns, das seinerseits die „moralische Degeneration monarchisch gesinnter Völker“ illustriert, die Quidde in seinem Caligula beschrieben hatte. 64 Denn während die Reaktion Wilhelms II. auf den Caligula nicht sicher überliefert ist, 65 distanzierten sich die Fachkollegen umgehend von Quidde. Für die von ihm gegründete Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft konnte er nun keine Beiträger mehr finden. Auch auf dem Frankfurter Historikertag, der 1895 stattfand, wurde Quidde geschnitten; niemand wollte mehr mit ihm zu tun haben, obwohl die Einrichtung der Historikertage, deren erster 1893 in München und zweiter 1894 in Leipzig durchgeführt worden war, auch auf ihn zurückging. 66 Und die beruflichen wie sozialen Sanktionen gingen noch weiter: Die Historische Klasse der

62 Im letzten Absatz erinnerte der unbekannte Autor des Artikels in der Kreuzzeitung an „jene schöne Geschichte, wo der Papst Paul V. den albernen Scherz des bekannten Scribenten Piccinardi grausam genug bestrafen ließ, als dieser eine Lebensbeschreibung Clemens VIII. verfaßte und denselben mit großer Gelehrsamkeit mit dem Kaiser Tiberius verglich. Man meinte, daß Paul V. den dummen armen Teufel laufen lassen werde. Aber eines Tages wurde er auf der Engelsbrücke ganz regelrecht wegen Majestätsbeleidigung enthauptet“ (zitiert nach: Holl / Kloft / Fesser 2001, 167 f.). Piccinardi war den Lesern der Kreuzzeitung aus Rankes Papstgeschichte bekannt (Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, Bd. 2 = Bd. XXXVIII der Sämmtlichen Werke, Leipzig 31885, 212): aus den Gesandtschaftsberichten über die Wahl und Thronbesteigung Pauls V. ging hervor, dass der aus Cremona stammende Piccinardi seine Schrift nicht hatte drucken lassen, jedoch denunziert worden war. Vgl. Schlange-Schöningen 2003, 306 Anm. 28. 63 Vgl. Holl 2007, 98 f. 64 Zu den zahlreichen Prozessen wegen Majestätsbeleidigung im wilhelminischen Kaiserreich vgl. Hall 1973/74; Brude-Firnau 1997, 37; Czech 2010, 294 f. 65 Quidde 311926 (Erinnerungen), 36 (s. o. S. 56): „Die Zeitungen berichteten, der Kaiser habe die Schrift in Prökelwitz beim Grafen Dohna zu lesen bekommen, habe kein Wort dazu gesagt, sei aber unmittelbar darauf in bester Laune gewesen. Mitteilungen, die ich von anderer Seite erhalten habe, lauteten ganz anders.“ Vgl. auch Brude-Firnau 1997, 43 zu Wilhelms „verfehlter Rezeption“ von Maximilian Hardens Parabel König Phaeton von 1892 (der Kaiser soll die Parabel nicht auf sich bezogen haben). 66 Quidde 311926 (Erinnerungen), 37 (s. o. S. 56 f.). Zur Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, deren Redaktion Quidde 1896 an Karl Lamprecht abgab und die alsbald einem Namenswechsel unterzogen wurde, sowie zu den Historikertagen vgl. Holl 2001, 17; 22 f.; 2007, 67 f.; 88–93; 97; 2012, 18; Rahn 2012, 59; 81 f.

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Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Quidde seit 1892 angehörte, tadelte in einer öffentlichen Stellungnahme den vermeintlichen „Mißbrauch der Wissenschaft“. 67 Die Historische Kommission der Bayerischen Akademie entzog ihm die Leitung der Herausgabe der Deutschen Reichstagsakten, mit der er seit 1889 betraut war. 68 Hinzu kam der „Abbruch vieler gesellschaftlicher Beziehungen“, den Quidde auch als „zeitweiligen gesellschaftlichen Boykott“ beschreibt und mit einigen Belegen erläutert. Über viele Jahre bekam er es zu spüren, dass er mit seinem Caligula einen Tabubruch begangen hatte, wobei die Erinnerung daran durch die dezidiert liberale und Monarchie-kritische Politik, die Quidde verfolgte, immer wieder aufgefrischt worden sein dürfte. 69 Quidde war zu Beginn der achtziger Jahre, als er sich in Frankfurt am Main niederließ, Mitglied der linksliberalen Deutschen Volkspartei geworden. Während der folgenden Jahre hatte indes seine wissenschaftliche Tätigkeit im Vordergrund gestanden. Das änderte sich bereits, als er 1893 mit einer gegen den preußischen Militarismus gerichteten Publikation vor die Öffentlichkeit trat. Diese in drei Auflagen gedruckte Anklageschrift erschien zwar anonym, doch wurde bald bekannt, wer der Verfasser war. 70 Quidde erschien nun als wichtiger Vertreter des demokratischen Liberalismus, und er hat sich dann seit Ende 1893, verstärkt aber noch einmal nach der Caligula-Affäre in der Deutschen Volkspartei und in der Friedensbewegung engagiert. In den folgenden Jahren wurde er zu dem bekanntesten Repräsentanten der 1892 gegründeten Deutschen Friedensgesellschaft, die er seit 1901 im „Internationalen Friedensbüro“ in Bern vertrat. 1907 veranstaltete er den ersten pazifistischen Weltkongress in Deutschland, im Frühjahr 1914 wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Friedensgesellschaft

67 Quidde 311926 (Erinnerungen), 37 (s. o. S. 57 f.). 68 Quidde 311926 (Erinnerungen), 39 f. (s. o. S. 59 f.). Vgl. Kohlrausch 2005, 131: „Die Maßnahmen der Fachkollegen gingen weit über das hinaus, was sich noch als opportunistisch kennzeichnen ließe. [. . . ] Aus den Annalen des Preußischen Historischen Instituts in Rom wurde im Zuge der nun einsetzenden damnatio memoriae sein Name gelöscht.“ 69 Vgl. zu den Folgen, die der Caligula für Quidde hatte, Rürup 1972, 140: „Man wird die ‚Caligula‘-Affäre als einen klassischen Fall der erzwungenen Beendigung einer wissenschaftlichen Karriere aus politischen Gründen bezeichnen dürfen. Binnen weniger Wochen und Monate hatte Quidde die Rolle eines angesehenen und einflußreichen Wissenschaftlers und Wissenschaftsorganisators mit der eines verfemten Außenseiters zu vertauschen, wobei dieser Prozeß dadurch beschleunigt wurde, daß er auf das Verhalten der Zunft mit einer fast vollständigen Hinwendung zur Politik reagierte und damit auch seinerseits den Bruch besiegelte.“ Vgl. auch Holl 2001, 26; ders. 2007, 97 f.; ders. 2012, 24. 70 Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich. Eine Anklageschrift, 1893. Wieder abgedruckt in: Quidde 1977 (hg. v. Wehler), 81–130. Vgl. Holl 2001, 20; ders. 2007, 79; ders. 2012, 21 f.

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gewählt, um dann in den kommenden fünfzehn Jahren in dieser Stellung wiederholt bestätigt zu werden. Hatte sich Quidde seit 1905 im Besonderen um eine Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland bemüht, so trat er während des Ersten Weltkriegs der deutschen Kriegszielpolitik entgegen. 1927 erhielt er, als zweiter Deutscher nach Gustav Stresemann und gemeinsam mit dem französischen Pädagogen und Pazifisten Ferdinand Buisson, den Friedensnobelpreis. 71

4. Pathologisierung der Politik im 19. Jahrhundert Vom Wahnsinn römischer Kaiser war bereits in den Quellen aus dem Altertum die Rede, und vor allem Caligula hatte es den antiken Historikern auch recht einfach gemacht. Wie sollte man seinen brutalen Umgang mit den Senatoren, die zahlreichen Hochverratsprozesse mit etlichen Todesurteilen, seine inzestuöse Beziehung zu seinen Schwestern, seine Forderung, als Gott angesprochen zu werden anders interpretieren, denn als Ausdruck von tyrannischem und „wahnwitzigem“ Verhalten? Der schon zitierte Ausspruch oderint dum metuant („mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten“) war auf die Senatoren gemünzt; über das römische Volk soll Caligula, verärgert über eine Parteiname des Publikums gegen seine eigenen Favoriten beim Wettrennen im Zirkus, gesagt haben: „Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Hals!“ Dann nämlich könnte ihm kurzerhand der Kopf abgeschlagen werden. 72 Sueton und Tacitus und vor ihnen bereits Philo, Seneca und Iosephus hatten Begriffe wie saevitia, mania, dementia, insania oder furor in unterschiedlichen Zusammenhängen für Herrscher wie Tiberius, Nero, Domitian oder Commodus sowie weitere Angehörige der kaiserlichen Dynastien verwendet. Porträtiert wurden die Kaiser damit in der Tradition antiker Tyrannenkritik als grenzüberschreitende Autokraten, die keine Rücksichten auf die gesellschaftliche Ordnung und moralische Prinzipien nehmen wollten oder konnten. Bisweilen zielt eine solche Begrifflichkeit auf eine Art Geisteskrankheit, häufiger aber auf eine amoralische Zügellosigkeit oder eine Maßlosigkeit im Einsatz politischer oder militärischer Gewalt. 73 Wenn Tacitus etwa die Zerstörung des Jupitertempels auf dem

71 Vgl. Taube 1963; Holl 2001, 26–32; ders. 2007, 402–407; ders. 2012, 32. 72 Suet. Cal. 30: „Utinam p. R. unam cervicem haberet!“ 73 Dementia z. B. bei Suet. Cal. 50,2; Nero 31,4; insania z. B. bei Tac. ann 11,31,2 (zu Agrippina); furor z. B. bei Tac. ann. 11,21,1 (wieder zu Agrippina); mania z. B. bei Ios. ant. 18,273; saevitia z. B. bei Tac. ann. 4,57,1 (zu Tiberius). Zur Tyrannentopik vgl. Baar 1990, 188 f.

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Kapitol im Bürgerkrieg des Jahres 69 n. Chr. auf den furor principum zurückführte, 74 dann wollte er damit die zügellose und zerstörerische Gewalt beschreiben, der die konkurrierenden Potentaten im Machtkampf des Vierkaiserjahres freien Lauf ließen. Carl Friedrich Bahrdt, der 1781 die ‚Historien‘ des Tacitus übersetzte, gebrauchte dafür den Ausdruck „Fürstenraserei“. 75 Diese Übersetzung weist zwar auf Freytags Begrifflichkeit voraus, meint aber noch keinen (Caesaren-)Wahnsinn im eigentlichen Sinne. Die Vorstellung von Herrschern, die aufgrund ihrer Machtvollkommenheit einer spezifischen Form von Wahnsinn erlagen, war gleichwohl während des 18. Jahrhunderts weit verbreitet und wurde als aufklärerische Idee von den liberalen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortgeschrieben. Verwiesen sei dafür nur auf einige wenige Beispiele, zunächst auf einen Artikel in der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie, sodann auf die zwischen 1844 und 1856 entstandene Weltgeschichte für das deutsche Volk aus der Feder des Historikers Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861): Der Chevalier Louis de Jaucourt (1704– 1779) kennzeichnete in seinem Artikel „Romain Empire“, der 1765 im 14. Band der Encyclopédie erschien, die Herrschaft Caligulas mit den Worten: Caligula succéda à Tibere. On disait de lui qu’il n’y avait jamais eu un meilleur esclave, ni un plus mécant maître ; ces deux choses sont assez liées, car la même disposition d’esprit, qui fait qu’on a été vivement frappé de la puissance illimitée de celui qui commande, fait qu’on ne l’est pas moins lorsqu’on vient à commander soi-même. Ce monstre faisait mourir militairement tous ceux qui lui déplaisaient, ou dont les biens tentaient son avarice ; plusieurs de ses successeurs l’imitèrent: nous ne trouvons rien de semblable dans nos histoires modernes. Attribuonsen la cause à des mœurs plus douces, et à une religion plus réprimante [. . . ]. Le petit peuple de Rome, ce que l’on appelait plebs, ne haïssait pas cependant les plus mauvais empereurs. Depuis qu’il avait perdu l’empire et qu’il n’était plus occupé à la guerre, il était devenu le plus vil de tous les

74 Hist. 3,72: „[. . . ] sedem auspicato a maioribus pignus imperii conditam [. . . ] furore principum excindi“; in der Übs. von H. Vretska, Stuttgart 1984, S. 415: Der Tempel des Jupiter Optimus Maximus, „unter heiligen Weihen von unseren Ahnen als Unterpfand der Herrschaft begründet, [. . . ] wurde durch den Wahnwitz der Herrscher vernichtet.“ Vretskas Übersetzung („Wahnwitz“) geht in die falsche Richtung (für diesen Hinweis danke ich Thomas Blank); auch sie dürfte ein Beleg für die Wirkungsgeschichte des ‚Caesarenwahnsinns‘ sein. Vgl. auch Sittig 2018, 41 f. 75 Bahrdt 1781, 1288. Vgl. Zerssen (2011, 153), der Tacitus’ Begrifflichkeit für verfehlt hält, weil Vitellius und Vespasian an den Vorgängen in Rom nicht persönlich beteiligt gewesen seien. Damit aber wird die Intention der Kritik des Tacitus und die Bedeutung des von ihm verwendeten Begriffes verkannt. Auch hier gilt wohl, was in Anm. 74 zur Übersetzung von Vretska gesagt wurde.

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peuples ; il regardait le commerce et les arts comme des choses propres aux seuls esclaves, et les distributions de blé qu’il recevait lui faisaient négliger les terres ; on l’avait accoutumé aux jeux et aux spectacles. Quand il n’eut plus de tribuns à écouter, ni de magistrats à élire, ces choses vaines lui devinrent nécessaires, et son oisiveté lui en augmenta le gout. Or, Caligula, Néron, Commode, Caracalla étaient regrettés du peuple, à cause de leur folie même ; car ils aimaient avec fureur ce que le peuple aimait, et contribuaient de tout leur pouvoir et même de leur personne à ses plaisirs ; ils prodiguaient pour lui toutes les richesses de l’empire ; et quand elles étaient épuisées, le peuple voyant sans peine dépouiller toutes les grandes familles, il jouissait des fruits de la tyrannie, et il en jouissait purement ; car il trouvait sa sûreté dans sa bassesse. 76

Wesentliche Elemente des ‚Krankheitsbildes‘, das den ‚Caesarenwahnsinn‘ bei Freytag und später bei Quidde ausmacht, sind hier bereits angeführt: der ‚Wahnsinn‘ resultiert aus der absoluten Befehlsgewalt des Herrschers und er findet eine Verstärkung in einer Gesellschaft, die ihre Freiheit verloren hat. Während de Jaucourt dabei über die Vergnügungssucht und Raublust der unteren Schichten klagt, die den Untergang der senatorischen Familien beklatschen, kritisiert Schlosser aus der Perspektive eines bürgerlich-liberalen Historikers ein halbes Jahrhundert später auch das Versagen der gesellschaftlichen Elite: [Caligula] besaß nicht nur die ganze Grausamkeit und Sinnlichkeit des Ersteren [= Tiberius], sondern er war dabei auch noch ein völlig kraftloser und fast kindisch schwachköpfiger Mensch. [. . . ] Mit Caligula’s Thronbesteigung aber wiederholten sich nicht allein alle Übel der vorhergehenden Regierung, sondern es kam auch noch die Herrschaft der bloßen Laune hinzu, und das Schreckliche einer von der Persönlichkeit des Herrschers abhängenden Regierung zeigte sich unter Caligula auf eine um so drückendere Weise, als der neue Gewalthaber ein halb wahnsinniger Mensch war. [. . . ] Die Römer selbst, besonders die vornehmere Klasse derselben, bewiesen auch unter ihm, wie unter allen ähnlichen Kaisern, daß ein gesunkenes Volk seine von Natur schlechten Regenten noch weit schlechter macht, als diese von selbst geworden sein würden. 77

Im weiteren Verlauf seines Abschnitts über Caligula bezeichnete Schlosser den Kaiser dann auch ganz entschieden als einen „Wahnsinnigen“. 78 Vom 76 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, T. XIV, Paris 1865, 335. Zu de Jaucourt und seiner zentralen Bedeutung für die Encyclopédie (mehr als 17.000 Artikel stammen aus seiner Feder) vgl. Blom 2005, 153–162; 318; 324–327. 77 Schlosser 1847, 204 f. 78 Schlosser 1847, 205: „Auf Wahnsinn und Gemüthsschwäche beruhende Eitelkeit und Grausamkeit, sowie Vergnügungssucht und Verschwendung bildeten seitdem den Charakter seiner Regierung“; 207 f.: Caligula als „wahnsinniger Regent“ und „rasender Wütherich“ bzw.: „dieser Wahnsinnige“.

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„Wahnsinn“ römischer Kaiser war weiterhin z. B. auch bei Barthold Georg Niebuhr und Ferdinand Gregorovius 1855 die Rede, 79 und Theodor Mommsen sprach 1856 in seiner Römischen Geschichte vom „Tyrannenschwindel“. 80 Gustav Freytag dürfte dann der Erste gewesen sein, der den Begriff ‚Caesarenwahnsinn‘ verwandte. 81 Unsicher ist, ob er dazu durch die auch ins Deutsche übersetzte Histoire des Césars des französischen Historikers Franz de Champagny angeregt worden war. 82 In seiner Schrift, die 1841 erschienen war, hatte de Champagny für Caligula von einer „manie impériale“ gesprochen. Auch in der deutschen Übersetzung war nicht von ‚Caesarenwahnsinn‘, sondern dem französischen Wortlaut entsprechend von der „kaiserlichen Manie“ die Rede. 83 Wahrscheinlicher ist deshalb, dass Freytag direkt von Tacitus ausgegangen ist und in Reaktion auf den modernen Caesarismus Napoleons III. nun nicht mehr von ‚Fürstenwahnsinn‘, sondern von „Caesarenwahnsinn“ gesprochen hat. Nachdem Freytag den ‚Caesarenwahnsinn‘ in seiner Verlorenen Handschrift so anschaulich und publikumswirksam präsentiert hatte, 84 wurde der Begriff von allen Seiten aufgegriffen, etwa von Friedrich Wiedemeister, der 1875 den Caesarenwahnsinn der julisch-claudischen Imperatorenfamilie behandelte, von Gustav Friedrich Hertzberg in seiner schon erwähnten Geschichte der römischen Kaiserzeit von 1880 oder auch bei dem nicht näher bekannten F.(riedrich?) J.(ohann?) Kuhn, der – wohl gleichermaßen von Ludwig Quiddes Caligula wie von den zahlreichen zeitgenössischen Majestätsprozessen angeregt – 1901 ein umfangreiches Buch mit Betrachtungen über Majestäten und Majestätsbeleidigungen der Römischen Kaiserzeit publizierte. Auch hier wurde in aller Ausführlichkeit die moralische

79 Niebuhr sprach ausdrücklich vom „Wahnsinn“ Caligulas (1848, 177 f.); Gregorovius bezeichnete Tiberius, Caligula, Claudius und Nero als „Dämonen und Verrückte“ (1856, 369). Vgl. zu diesen Urteilen bereits Wiedemeister 1875, VII ff. sowie zu Gregorovius auch Kloft 2001, 105 f. 80 Mommsen 1976, Bd. 5, 132 [1875 Bd. III 466]: „Caesar war Monarch; aber nie hat ihn der Tyrannenschwindel erfaßt.“ Vgl. auch die Formulierung, die Mommsen in seinem Staatsrecht (II 2, Leipzig 31887, 759) verwandte: „Um den Fürstenwahnsinn zu entwickeln, bedarf es der Geburt in Purpur“. 81 Vgl. Hampl 1966, 126; 128. 82 Vgl. Kloft 2001, 105, der im Anschluss an Wiedemeister (1875, VII f.) vermerkt, der Begriff ‚Caesarenwahnsinn‘ habe durch de Champagny „‚eine Art Bürgerrecht‘ in Deutschland“ gewonnen. Die exakte Begriffsverwendung ist aber erst bei Freytag festzustellen. Vgl. auch Sittig 2018, 31; 35. 83 De Champagny 1845, Bd. II, 185. 84 Damit fand dieser Begriff seine Verbreitung seit dem Jahr 1864 und nicht erst seit 1887, wie Kohlrausch 2005, 121 meint.

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Verderbtheit von Autokratien angeprangert, deren Herrscher am ‚Caesarenwahnsinn‘ erkrankt waren. 85 Das 19. Jahrhundert hatte eine ganze Reihe von Herrschern erlebt, die für wahnsinnig gehalten wurden: Der russische Kaiser Paul I., der 1801 ermordet worden war, der bayerische König Ludwig I., der 1848 abdankte, sein Nachfolger Ludwig II., der 1886 im Starnberger See ertrank, oder auch Friedrich Wilhelm IV., der 1857 seiner Geisteskrankheit wegen die Regierungsgeschäfte an seinen Bruder Wilhelm abgeben musste. 86 „Das 19. Jahrhundert“, so hat Hans Kloft in einer Studie zur Wirkungsgeschichte von Quiddes Caligula vermerkt, sah in dem Wahnsinn der Fürsten mehr als nur eine individuelle Krankheit. [. . . ] Von einer aufklärerischen Warte aus gesehen ließ sich der Herrscherwahnsinn als eine teils latente, teils offen zutage liegende Form der absolutistischen Alleinherrschaft selbst verstehen. Der Wahn ergab sich in gewisser Weise als die unausweichliche Folge der hohen Stellung [. . . ]. 87

Aber welche Art von Krankheit war gemeint? Lag hier ein physiologisches oder ein psychologisches Konzept zugrunde? Dachte man an eine vererbbare Krankheit? In der Mitte des 19. Jahrhunderts fehlten noch die diagnostischen Ansätze einer wissenschaftlichen Psychologie, und auch die Psychoanalyse war noch nicht erfunden. 88 Das Konzept von Wahnsinn schwankte zwischen sozialen und individuellen Aspekten und bestand zumeist in einer Anhäufung von Symptomen, wie sie auch in der antiken Literatur zur Kennzeichnung der ‚wahnsinnigen‘ Kaiser verwendet worden 85 Kuhn verwandte dabei wiederholt den Begriff „Cäsarenwahn“ (z. B. S. 200) und wies mehrfach darauf hin, dass solchermaßen verderbte Herrschaftsformen zum Königsmord führen könnten. Vgl. z. B. S. 185: „Ist doch in jeder derartigen Aera der heimliche Wunsch oder die unerschütterliche Überzeugung von einer unvermeidlich bevorstehenden gewaltsamen Beseitigung des die Regierungsgewalt missbrauchenden Tyrannen die einzige Linderung, die der Nation wie eine sanfte Priesterin das Trostmotiv zu ihrer Totenklage an der Bahre der Freiheit spendet.“ Der bislang nicht identifizierte Autor, der wohl unter einem Pseudonym schrieb, gestaltete seinen indirekten Angriff auf die ihre Macht missbrauchenden Autokraten der Vergangenheit und Gegenwart mit literarischer Brillanz, wofür nur ein Beispiel angeführt sei: Kuhn äußert sich zur Ermordung von Umberto I. am 29. 7. 1900 und fährt dann fort (190): „[. . . ] und der Geschichtsschreiber der Zukunft wird in der kühlen Teilnahmslosigkeit oder dem stummen Interesse moderner Völker an schauerlichen Fürstenschicksalen eine durch unsere Zivilisation domestizierte Äusserung eines ähnlichen völkerpsychologischen Binnenlebens konstatieren, wie es sich allmählich unter der Geisterverdammnis und Gewissensverfolgung des zum scheinheiligen Majestätentum ausgearteten imperatorischen Scheingrössentums entwickelte.“ 86 Hampl 1966, 134 f.; Kloft 2000, 189; ders. 2001, 104. 87 Kloft 2001, 104. 88 Zur Psychoanalyse, zu Wiedemeister und seinen Nachfolgern Carl Pelman, Hans von Hentig und Hanns Sachs sowie zum Konzept der Neurasthenie s. den Beitrag von Florian Sittig in diesem Band.

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waren. Überblickt man die entsprechende Begriffsverwendung von der Antike bis in das 19. Jahrhundert, so zeigt sich eine weitgehend unspezifische, oberflächliche und damit in gewisser Weise auch denunziatorische Verwendung eines vermeintlich medizinischen bzw. wissenschaftlichen Terminus. 89 Dazu passt, dass von „Wahnsinn“ in unterschiedlicher Weise auch gesprochen wurde, um etwa Gegner der Monarchie oder auch die Professorenschaft zu diffamieren, der Quidde angehörte. 90 Eine wissenschaftliche Validität des Begriffs ‚Caesarenwahnsinn‘ wurde durch eine Abfolge von Krankheitsstadien suggeriert, wie sie Freytag in seinem Roman beschrieb. 91 Auch bei Quidde sieht man, dass er zwischen den zwei Ansätzen schwankt, entweder soziale Ursachen, die dann nur für Autokraten gelten könnten, oder körperliche Faktoren geltend zu machen, die in jedem Fall zum Ausbruch des Wahnsinns führen müssten. 92 Auf diese Unsicherheit haben medizinisch gebildete Autoren der zweiten Jahrhunderthälfte reagiert, wie z. B. der bereits genannte Osnabrücker ‚Irrenarzt‘ Friedrich Wiedemeister, der den Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Imperatorenfamilie 1875 als „naturhistorisches“ Phänomen beschrieb, also als Ausdruck „organischer“ bzw. physiologischer Zustände. 93 Dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann das Krankheitsbild der Neurasthenie immer einflussreicher und breitenwirksam wurde, wie Joachim Radkau in seinem Buch über das Zeitalter der Nervosität 89 Vgl. Clark 2000, 21; Kohlrausch 2005, 121 f. 90 Vgl. den „morbus democraticus“ bei Groddeck 1849, den „Deutschen Volkswahnsinn“ und den „Kanzlerwahnsinn“ bei Quidam 1894, den „Professorenwahn“ bei Dannehl 1895. Vgl. auch Kohlrausch 2005, 135 sowie 140, Anm. 243 (zu Quidam). Zur Pathologisierung der Politik bei Gustav Freytag vgl. Herrmann 1974, 156 f. und 219 f.; von zur Mühlen 2016, 19. 91 Vgl. Kohlrausch 2005, 121: „Autoritativ daherkommende medizinische Deutungen politischer Erscheinungen besaßen für das wissenschaftsgläubige Bildungsbürgertum eine hohe Überzeugungskraft.“ 92 Vgl. Kohlrausch 2005, 152 f., der von einem „schillernden Befund“ spricht: „Die Zuschreibung [von ‚Caesarenwahnsinn‘] war eher eine soziologische denn eine psychologische bzw. psychiatrische“. Quidde verbindet die beiden Erklärungsmuster aber auch, wenn er z. B. schreibt: „Der Entwicklung zu geistiger Störung entspricht bei ihm [= Caligula] ja auch offenbar eine ursprünglich krankhafte Anlage.“ 93 Wiedemeister 1875, IX f. Der Autor setzt sich in seiner Einleitung auch mit G. Freytags Verständnis von ‚Caesarenwahnsinn‘ auseinander und referiert die „vier verschiedenen Entwicklungsphasen“, die in der Verlorenen Handschrift entwickelt werden. Freytag und seinen Vorläufern seien indes „sowohl die Erscheinung und das Wesen, als der organische Grund und die Bedingung des Cäsarenwahnsinns entgangen“ (IX). Ein ausführlicher Bericht über Wiedemeisters Schrift, „die wir hiermit bestens empfohlen haben wollen“ (139), erschien bald nach dem Erscheinen in der Wochenzeitschrift Die Grenzboten, und zwar in zwei Teilen: Die Grenzboten 34, 1875, II. Semester, II. Band, 131–142 (Caesarenwahnsinn); 241–251 (Caligula). Der Autor der Artikel blieb, wie bei den Beiträgen dieser Zeitschrift üblich, anonym. Zu Wiedemeister vgl. Hampl 1966, 127; Kloft 2000, 192 f.

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eingehend dargelegt hat, könnte man als eine Art „Demokratisierung“ der bis dahin vorrangig monarchischen Anfälligkeit für psychische Ausnahmezustände interpretieren. 94 Heute würde man zwischen Verhaltensstörungen, die durch besondere Umstände manifest werden, einer wahnhaften (psychotischen) Erkrankung, die mit paranoiden (z. B. schizophrenen) Zuständen einhergeht oder einer erblich bedingten mentalen Einschränkung unterscheiden, wie man sie z. B. für Wilhelm II. diagnostizieren zu können meinte und meint. 95 Dieses diagnostische und begriffliche Instrumentarium stand den Autoren des 19. Jahrhunderts aber noch nicht zur Verfügung. Nicht zu unterschätzen ist jedoch die Wirkung einer pseudo-wissenschaftlichen Begrifflichkeit. Sie suggerierte eine Dichotomie von (auch politischer) Gesundheit und Krankheit, die zum Handeln und d. h. zum Einspruch gegen solche Herrscher berechtigte, an denen die vermeintlichen Symptome deutlich wurden. Der Fall Ludwigs II. würde sich wohl als ein Beispiel dafür beschreiben lassen, wie das verbreitete und akzeptierte Konzept des ‚Caesarenwahnsinns‘ zur Entmündigung und Entmachtung eines Monarchen führte, dessen Herrschaft den Zeitgenossen unverständlich und unvernünftig erscheinen musste, ohne doch zwingend eine Folge von Wahnsinn zu sein. 96

94 Vgl. Radkau 1998, 217–219, der eine solche „Demokratisierung“ der Nervosität als Ausweitung des Patientenkreises von der Aristokratie über das Bürgertum bis zur Arbeiterklasse beschreibt. Dabei wurde die Nervosität auch als Aspekt der Krankheit von Herrschern gesehen: vgl. dazu Radkau 275 f. und den von Quidde an Caligula = Wilhelm II. beschriebenen „durchgehenden Charakterzug [. . . ] eine[r] nervöse[n] Hast, die unaufhörlich von einer Aufgabe zur anderen sprang [. . . ]“, bzw. seine „Rast- und Ruhelosigkeit“ mitsamt der „Züge der Nervosität“ (1926 [Caligula], 6; 17 [s. o. S. 28; 39]; dieser Aspekt stammte nicht aus den antiken Quellen, sondern von Hertzberg: Brude-Firnau 1997, 169, Anm. 26). „Nerven“ hatte also auch der von vielen Zeitgenossen für geisteskrank gehaltene Kaiser; so erwartete Philipp von Eulenburg 1903 für Wilhelm II. einen „Zusammenbruch der Nerven“: Röhl 1995 (1982), 32; Radkau 276–280 (der in Wilhelm den „wirklichen Repräsentanten des ‚nervösen Zeitalters‘“ sieht [279]). Vgl. weiter den Hinweis von Kohlrausch 2005, 135, Anm. 223 auf den Artikel Steine im Wege von M. Schön im Adels- und Salonblatt. Wochenschrift 37 (1894), 1: Hier wird die Caligula-Affäre, so Kohlrausch, „als Phänomen einer an ‚Hypernervosität so schwer leidenden Zeit‘ gekennzeichnet.“ Vgl. dazu wieder Radkau 1998, 271–274. 95 Pezold 1961, 218–220; 231; Röhl 1989, 13; 21–23; 29–36. 96 Zumindest liegt die Vermutung nahe, dass die Berichte über die vermutete Krankheit des Königs bereits von Freytags ‚Caesarenwahnsinn‘ beeinflusst waren. Für die Erinnerungen, die Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld niedergeschrieben hat, vermerkt seine Witwe zwar, dass sie „unmittelbar“ nach den Vorgängen um die Entmündigung und den Tod des Königs im Jahr 1886 entstanden seien, die Eulenberg aus nächster Nähe miterlebt hatte (See 2001, 9). Erschienen sind diese Aufzeichnungen indes erst im Jahr 1934. Und es fällt auf, wie entschieden Eulenburg persönlich die Annahme vom Wahnsinn des Königs vertritt (und u. a. mit Gewaltakten, Mordbefehlen und

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Ähnlich unpräzise wurde auch der von Romieu gebrauchte Begriff ‚Caesarismus‘ angewandt, der als deutschsprachiger Ausdruck 1851 in der Übersetzung des Buchtitels von Romieu erschien und 1852 von Jacob Burckhardt als Begriff akzeptiert worden war. 97 Durch Theodor Mommsen, Auguste Romieu, Gustav Freytag und Napoleon III. wurde dieser Ausdruck zu einem vieldiskutierten politischen Begriff, ja geradezu zu einem politischen Modewort. Ludwig Bamberger, auch er ein deutscher Liberaler, stellte dies bereits im Jahr 1867 fest: „Ein Jeglicher spricht jetzt von Cäsarismus, und Gott weiss, was viele Tausend sich Alles darunter denken mögen.“ 98 Der Begriff war populär geworden und wurde alsbald als kritisches Argument auch gegen Herrscher angewandt, die anders als Napoleon III. aus alten Dynastien hervorgegangen waren und folglich viel weniger als der französische Usurpator der Legitimation durch die ‚Caesarismus‘-Idee bedurften; Wilhelm II. aus der Dynastie der Hohenzollern ist dafür wieder das beste Beispiel. 99 Diese Erweiterung in der Verwendung des Begriffs kommentierte Wilhelm Roscher (1817–1894), der Göttinger Staatsrechtslehrer und Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie, 1888 mit den Worten: „Viele bezeichnen jede kräftige Monarchie, die ihnen zu kräftig ist, mag es wirklich eine absolut-monarchische

Grausamkeit, Hass des Königs auf seine Eltern, „Zorn des Tyrannen“ [54], „Willenslosigkeit“ [56] sowie seiner Verehrung Ludwigs XIV., also einem ausgeprägt absolutistischen Herrschaftsverständnis, zugleich aber auch mit „Briefen und Äußerungen der Zärtlichkeit“ [36; vgl. dazu von See, 179 f.] belegt), während er durchaus auch gegenteilige Stimmen (wie die des Friseurs Hoppe oder des Flügeladjutanten Graf von Dürckheim-Montmartin: See [Hg.], 24; 28; 90 f.) zitiert. Vgl. See, 180, der es für wahrscheinlicher hält, „daß Ludwig an seiner wachsenden Vereinsamung und dem dadurch bedingten Verlust des Realitätssinnes zugrunde gegangen ist“ sowie Immler 2011, der „Zweifel an der materiellen Berechtigung der Regentschaftseinsetzung“ für „nicht angebracht“ hält (458). 97 Burckhardt 2013 (1853/1880), 40 mit Anm. 1; 268. Vgl. Momigliano 1956; ders. 1962; Kaegi 1964, 118; Meyer 1975, 115–122; Baehr 1998, 105. In Verwendung war der Begriff ‚Caesarismus‘ indes schon früher, wie ein Brief von J. F. Böhmer aus dem Jahr 1845 an G. H. Pertz zeigt; in ihm warnt Böhmer vor den drohenden „Tagen eines neuen Cäsarismus“: Böhmer 1868, 279; vgl. Gollwitzer 1952, 39, Anm. 1; Groh 1972, 744. 98 Bamberger 1867, 41. 99 Dass die ‚Caesarismus‘-Konzeption auch positiv mit Wilhelm II. verbunden werden konnte, zeigt sich bei Friedrich Naumann, der zwar nicht diesen Begriff verwandte, aber doch mit Blick auf Napoleon von einem „freien Platz für einen Cäsar“ nach der Französischen Revolution sprach (1904, 175) sowie von einer „Diktatur des Industrialismus“, die von Wilhelm II. als notwendige Zwischenstufe der Entwicklung zur Demokratie verkörpert worden sei: „Solange aber der deutsche Imperator sich als gegebener Führer zur weiteren Entwicklung darstellt, hat er eine Macht, die unerschütterlich ist [. . . ]“ (176 f.). Vgl. zu Naumanns Konzeption Holl 1991, 5.

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oder selbst eine constitutionelle sein, mit dem von ihnen als Scheltwort gemeinten Namen Cäsarismus.“ 100 Zu ergänzen ist dieser Befund mit dem Hinweis darauf, dass noch weitere Begriffe verwendet oder gar erfunden wurden, um das Phänomen bzw. Konzept einer auf den Volkswillen gestützten Autokratie zu beschreiben. Ein besonders schönes Beispiel findet sich dazu wieder in der zeitgenössischen Literatur. 101 In seinem 1892 veröffentlichten Roman Frau Jenny Treibel lässt Theodor Fontane den Leutnant Vogelsang auftreten, der Herrn Treibels Absichten, in die Politik zu gehen, mit einem passenden politischen, d. h. aus seiner Sicht konservativen, Programm einer „Royal-Demokratie“ versieht, zu der der Leutnant in einem Trinkspruch ausgeführt: „Alles sei von Volkesgnaden, bis zu der Stelle hinauf, wo die Gottesgnadenschaft beginnt.“ 102 Die von Roscher angeführte Unschärfe im Begriffsgebrauch besteht bis heute, sowohl für den Begriff ‚Caesarismus‘ als auch für seine Erweiterung ‚Caesarenwahnsinn‘. Zwar haben Jacob Burckhardt, Wilhelm Roscher und Max Weber die zentralen Aspekte einer ‚caesaristischen‘ Herrschaft klar herausgestellt, 103 doch hat Oswald Spengler den Begriff wieder einer mehrdeutigen geschichtsphilosophischen und politischen Verwendung zugeführt, indem er ‚Caesarismus‘ gleichermaßen als notwendige Folge des Niedergangs des Staates wie als Ausdruck eines „Endkampfes“ zwischen den „führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft“ und dem „rein politischen Ordnungswillen des Cäsaren“ verstand. 104 Die totalitären Diktaturen Mussolinis, Hitlers und Stalins sind von Zeitgenos100 Roscher 1888, S. 642, Anm. 2. Vgl. Groh 1972, 764 f.; Meyer 1975, 24; Kloft / Köhler 1999, 626 f. 101 Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Studiendirektor a. D. Bernhard W. Planz. 102 Fontane 1968 (1892), 861 (am Ende von Kap. 3). 103 Burckhardt 2009, 8 f.; 13 (Napoleon als „lehrreichster Typus des Caesarismus“); 22 („Von socialer Seite: wird durchweg ein allmächtiger Staat postulirt [sic!]. Ursprung oder eher Voraussetzung: der Caesarismus“); 792 („Das unfehlbare Umschlagen des Retterthums in Caesarismus“). Webers Aussagen über ‚Caesarismus‘ finden sich in Wirtschaft und Gesellschaft (2009, 146) sowie in seiner Untersuchung über Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland von 1918 (1995, 146 f., hier bezogen auch auf Bismarck). In seinem posthum veröffentlichten Aufsatz über Die drei Typen der legitimen Herrschaft wird das Konzept des ‚Caesarismus‘ nicht thematisiert und der Begriff auch nicht verwendet; einzelne Aspekte der „charismatischen“ Herrschaft stehen der „caesaristischen“ Herrschaft indes nahe, so z. B. der „gewählte Führer [. . . ], der sich als ausschließlich eigenverantwortlich verhalten“ wird (Weber 1993 [1922], 166). Zu Weber vgl. Groh 1972, 768 f.; Meyer 1975, 26 f.; Baehr 1998, 165–221; ders. 2004. 104 Spengler 1923, Bd. 2, 579. Vgl. Groh 1972, 767; Felken 1988, 127–134; Baehr 1998, 257 f.; Henkel, 2010, 144–153; Demandt 2017, 158 f.; 175 f. Besonders aufschlussreich für seinen Zeitbezug auf Wilhelm II. ist Spenglers Kennzeichnung „cäsaristischer“ Herrschaft als „Übergang vom Regieren in Stil und Takt einer strengen Tradition zu

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sen und Überlebenden als Formen caesaristischer Herrschaft bezeichnet worden, und diesen Diktatoren wie auch ihren späteren Nachfolgern in allen Teilen der Welt wurde und wird auch ‚Caesarenwahnsinn‘ vorgeworfen. 105 Für die politische Analyse des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts taugen diese Begriffe allerdings nur begrenzt; sie verweisen auf Aspekte der totalitären Systeme, etwa im Hinblick auf die Verfügungsgewalt eines ‚Führers‘ über die militärischen Machtmittel, erfassen sie aber nicht vollständig. ‚Caesaristische‘ Systeme, die durchaus eine sehr brutale Herrschaft entfalten können, 106 bedürfen zwar der ideologischen Begründung, doch durchdringt die Ideologie die Gesellschaft in viel geringerem Maße, als dies im Totalitarismus der Fall ist. Und was – z. B. im Fall von Kim Jong Un – auf den ersten Blick als Ausdruck von ‚Caesarenwahnsinn‘ erscheint: das womöglich selbstzerstörerische Streben nach dem Großmachtsstatus einer Atommacht, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine zwar hochriskante, aber gleichwohl rationale und historisch erklärbare Politik. 107 Angesichts aller dieser Verästelungen lässt sich vermuten, dass der Begriff ‚Caesarenwahnsinn‘ auch weiterhin eine vielfältige Anwendung finden wird, vor allem wohl als Schlagwort der politischen Auseinandersetzung und weniger als Kategorie medizinischer oder politologischer Analyse.

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Zwischen Neurasthenie und Neurose Zum Einfluss der Psychoanalyse auf den Begriff des ‚Caesarenwahnsinns‘

1. Ludwig Quidde und Sigmund Freud – Berührungspunkte Im April des Jahres 1895 veröffentlichte Sigmund Freud gemeinsam mit Josef Breuer die Studien über Hysterie, 1 jenes Werk, das gemeinhin als Auftakt der wissenschaftlichen Psychoanalyse gilt. 2 Zu diesem Zeitpunkt – genauer gesagt: im Jahr zuvor – hatte Ludwig Quidde den publizistischen Höhepunkt seiner Karriere bereits erreicht. Sein Caligula mit dem Untertitel Eine Studie über römischen Caesarenwahnsinn 3 hatte 1894 einen Rekord als auflagenstärkstes politisches Pamphlet der wilhelminischen Ära aufgestellt. 4 Dass die Arbeit des Republikaners, Pazifisten und nachmaligen Friedensnobelpreisträgers (1927) 5 hier als Pamphlet, als Invektive gegen den amtierenden deutschen Kaiser Wilhelm II., bezeichnet wird, bedarf heute keinerlei Erklärung mehr. Quidde selbst hatte in seinen Erinnerungen an die Caligula-Affäre nach dem Untergang der Hohenzollernmonarchie den satirischen Charakter seiner Ausführungen freimütig einräumen können. 6 In der deutschen Altertumsforschung ist der ‚Caesarenwahnsinn‘ daher in jüngerer Vergangenheit nicht als psychopatho-

1 Freud 1999 g [1895]. 2 Alexander / Selesnick 1966, 190–199; Clark 1980, 100–108 u. 129–139; Alt 2016, 197– 199; 203–212; 231. 3 Quidde 311926 [1894]; s. Abdruck im vorliegenden Band. 4 Quidde 311926 [1894], 29 (s. o. S. 49 f.); dazu s. Kohlrausch 2009, 122. 5 Zur Biographie Quiddes s. Taube 1963; Rürup 1972; Wehler 1980; Holl 2001; Holl 2007. 6 Quidde 311926 [1894], 23–27 u. 38 (s. o. S. 43–47; 58): „Die Schrift Caligula ist natürlich nur formal, nicht sachlich, eine historische, wissenschaftliche Analyse, ihrem Wesen nach aber eine politische Satire [. . . ]“.

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logisches Krankheitsbild, sondern als politischer Kampfbegriff rezipiert worden. 7 Gleichwohl wollte Quidde seiner Studie durchaus auch wissenschaftliche Relevanz zugestanden wissen. 8 Den postulierten Kausalzusammenhang zwischen dem Amt eines Monarchen und seiner geistig-seelischen Konstitution hielt er für ein valides Argument gegen ein autokratisches Regierungssystem. Dass ausgerechnet seit dem Ende des Kaiserreichs, als die Bedingungen für eine kritische Haltung gegenüber der Monarchie günstiger wurden und die Katastrophe des Ersten Weltkrieges einer Erklärung harrte, das Konzept des ‚Caesarenwahnsinns‘ zunehmend skeptisch betrachtet wurde, so dass der Althistoriker Franz Hampl 1966 sogar von einem „fast vergessenen Begriff“ 9 sprechen konnte, scheint jedoch der modernen Forschung recht zu geben. Der Ausdruck eignete sich wohl tatsächlich eher zu politischer Polemik als zu historischer Analyse. Und doch hatten vor dem Ersten Weltkrieg auch Vertreter der psychiatrischen Disziplin Quiddes Ausführungen über das „pathologische Bild des Caesarenwahnsinns“ 10 aufgegriffen und sich zum schädlichen Einfluss absoluter Macht auf das seelische Gleichgewicht geäußert. Neben dem Wandel soziopolitischer Rahmenbedingungen scheint also auch der Verlust wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit zum zeitweiligen Verschwinden des Begriffs beigetragen zu haben. Es liegt daher nahe, den Einfluss der aufstrebenden Psychoanalyse in der Zeit des Fin de Siècle auf die Begriffsentwicklung zu hinterfragen. Für eine solche Untersuchung stellt das im ausgehenden 19. Jahrhundert populäre Krankheitsbild der Neurasthenie einen hilfreichen Bezugspunkt dar, und zwar zum einen, weil Wilhelm II. selbst als Neurastheniker galt und Quidde entsprechende Charakterzüge des Kaisers auch in seinem Caligula verarbeitet hat; 11 zum anderen, weil Freud, der seine Karriere als Neurophysiologe begonnen hatte, sich in den 1890er- und 1900er-Jahren selbst mit der Neurasthenie beschäftigte, so dass sich an ihr der Wandel der wissenschaftlichen Systematik nachvollziehen lässt. Zunächst lassen sich also einige strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Krankheitsbildern der Neurasthenie und des ‚Caesarenwahnsinns‘ aufzeigen, die den wissenschaftlichen Zeitgeist der Psychopathologie des ausgehenden 19. Jahrhun-

7 Dazu s. Kloft 2000; Kloft 2001; Fesser 2001; Schlange-Schöningen 2003. Der Gedanke liegt bspw. auch den Arbeiten von Winterling 2003 u. Winterling 2008 sowie Witschel 2006 zugrunde. Dazu s. a. Sittig 2018. 8 Quidde 311926 [1894], 35; 54; 62 (s. o. S. 55; 74 f; 82 f.); dagegen Taube 1963, 9, Anm. 14. 9 So im Titel des Aufsatzes von Hampl 1966. 10 Quidde 311926 [1894], 11 (s. o. S. 33). 11 Radkau 1994, 219 f.; Radkau 1998, 275–295.

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derts spiegeln und die Anschlussfähigkeit der Ausführungen Quiddes an die fachwissenschaftliche Diskussion um die Jahrhundertwende plausibel machen. Anschließend sollen die Veränderungen in den Blick genommen werden, welche die wissenschaftliche Psychopathologie durch das Werk Sigmund Freuds erfuhr, und deren langfristige Auswirkungen auf die Begriffsverwendung.

2. ‚Caesarenwahnsinn‘ und Neurasthenie als Ausdruck eines wissenschaftlichen Zeitgeistes Im Rahmen der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Erschließung der wilhelminischen Epoche hat man dem Gegenstand der Neurasthenie in den vergangenen Jahrzehnten einige Aufmerksamkeit gewidmet. 12 Schon die Zeitgenossen betrachteten die krankhafte Nervosität als ein Problem, das mit den spezifischen Lebensumständen dieser Zeit, insbesondere den beiden Dekaden 1890–1910, eng verbunden war, ja in diesen seine wesentliche Ursache hatte. 13 Der Begriff der Neurasthenie bezeichnete ein Leiden am kulturellen und technischen Fortschritt der Moderne. 14 Er reüssierte zunächst zu Beginn der 1880er-Jahre in den USA 15 und bezeichnete dort zwar ein pathologisches Phänomen, galt zugleich aber auch als „Statuszeichen, Ausweis für besondere Verfeinerung und Voraussetzung außerordentlicher, ja genialer Leistungen“. 16 Bald jedoch verbreitete sich der Terminus auch in Europa, wo er schnell ein weniger exklusives als eher pandemisches Phänomen bezeichnete. Mit der Automatisierung und Beschleunigung, mit Leistungsdruck und Zeitmangel kam in der industrialisierten Produktion ja vor allem die breite Masse der Arbeiterschaft in Kontakt. 17 Die Zahl der Neurasthenie-Patienten stieg in den beiden 12 Bspw. Radkau 1994; Radkau 1998 sowie die Beiträge in dem Sammelband Bergengruen / Müller-Wille / Pross 2010. 13 Erb 1893; Krafft-Ebing 1895; Hellpach 1902; Lamprecht 51922, 249–262; vgl. Pelman 4 1888, 1 f.; dazu s. Radkau 1994; Radkau 1998; Eckart 1997; Steiner 1964, 19–32. 14 Zu dieser als Modern-Times-Theorie bezeichneten Erklärung s. Steiner 1964, 45– 52; 113–119; Radkau 1994, bes. 211–217; Radkau 1998, 190–259; Fischer-Homberger 2010, 23 f. 15 Zur Entwicklung des Neurastheniekonzepts durch den amerikanischen Neurologen George Miller Beard s. Steiner 1964, 33–36; Macmillan 1976, 378–380; Gosling 1987, 10–13; Radkau 1994, 212; Eckart 1997, 213; Fischer-Homberger 2010, 38 f. Als Produkt der amerikanischen Kultur wurde die Neurasthenie auch von dem deutschen Psychiater Pelman 41888, 3 gesehen. 16 Fischer-Homberger 2010, 23; vgl. Steiner 1964, 88. 17 Pelman 41888, 4 u. 8; Erb 1893, 6; Quidam alias Rothe 1894, 14–17; Krafft-Ebing 1895, 11–13; dazu s. a. Steiner 1964, 48–52; Radkau 1994, 216–218; 227–235; Eckart 1997; Fischer-Homberger 2010, 55.

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Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zunächst kontinuierlich, bevor seit 1912 ein Rückgang der Diagnose zu verzeichnen ist. 18 Die Symptome und Ursachen der Neurasthenie, wie sie von George Beard und in seiner Nachfolge expliziert wurden, waren zahlreich, vielgestaltig und konnten in unterschiedlichen Kombinationen erscheinen. Nebeneinander traten physische und psychische Beschwerden auf wie z. B. Kopfschmerzen, Tinnitus, Appetitlosigkeit, Blähungen, Schlaflosigkeit, Somnambulismus, Halluzinationen, Phobien und Idiosynkrasien sowie Impotenz und eiaculatio praecox. Als Ursache galt die physische Überreizung und daraus resultierende Schwächung des Nervensystems infolge eines Aufzehrens einer nicht näher bestimmten neuronalen Substanz. 19 Solche Reize waren ebenfalls körperlicher Natur: etwa eine verfehlte, weil nicht vollbefriedigende Sexualpraxis, geprägt von Onanie, coitus interruptus und dem Einsatz von Kondomen. Aber auch die erhöhte Frequenz sinnlicher Reize, denen sich die Menschen in Beruf und Alltag zunehmend ausgesetzt sahen, konnte als Stressor wirken und die Krankheit auslösen. Ebenfalls auf den Verbrauch der nervlichen Substanz zielte eine Erklärung der Neurasthenie durch allzu intensive geistige Aktivität in Form des ununterbrochenen Nachgrübelns. Durch erbliche Vorbelastung, so glaubte man, könne zusätzlich eine besondere Disposition für die Neurasthenie erworben werden. 20 Das Krankheitsbild der Neurasthenie zeigt also die Tendenz zur unsystematischen Agglomeration von Symptomen und zu spekulativen Ätiologien, die ihre Ursache unter anderem in finanziellen Erwägungen der Mediziner 21 und sozialen Befindlichkeiten 22 der Patienten hatten. Vor allem aber erlaubte ein solches Vorgehen auch Laien die Beobachtung – oder eher: die Komposition – ‚neuer Syndrome‘ an sich selbst oder anderen. 23 Das unspezifische Krankheitsbild der Nervosität bot daher auch für Quid-

18 Gosling 1987, 13 f.; 30–33; Radkau 1994, 218 f. 19 Steiner 1964, 33–36; Macmillan 1976, 377 f. 20 Zu den vielseitigen Ursachen und Symptomen der Neurasthenie s. Steiner 1964, 40– 61; Radkau 1994, 213 f.; Fischer-Homberger 2010, 45–54; vgl. Pelman 41888, 12–14 zu der erblichen Veranlagung von Neurasthenikern. 21 Dazu s. Steiner 1964, 35 f.; 62; 89 f.; s. a. 64–78; Radkau 1994, 224; 226; Eckart 1997, 209; 222 f.; Fischer-Homberger 2010, 49; vgl. Pelman 41888, 37–41. Auch für Sigmund Freud spielten finanzielle Erwägungen eine nicht unwesentliche Rolle für die therapeutische Ausrichtung; Freud 1999 f [1925], 39–42. 22 So konnte das Krankheitsbild männlichen Patienten das Stigma der mit dem weiblichen Geschlecht assoziierten Hysteriediagnose ersparen; Gosling 1987, 9 f.; Radkau 1994, 220 f.; vgl. Pelman 41888, 4 f. Zur Nähe von Neurasthenie und Hysterie s. a. Steiner 1964, 38 f. Ein differenziertes Bild von den stigmatisierenden und apologetischen Tendenzen der Neurastheniediagnose bei Radkau 1994, 217; 222; 225. 23 Radkau 1994, 218; 222–226; vgl. Steiner 1964, 114–119; Gosling 1987, 14–26.

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des Vorhaben einer politisch motivierten Retrospektivdiagnostik einen guten Anknüpfungspunkt, stellte es doch ein buntes Potpourri an Ursachen und Symptomen zur Verfügung, aus dem er sich bedienen konnte. Er gestand den Einfluss der zeitgenössischen „psychiatrischen Beobachtungen“ auf seinen Caligula ja schon in der Schrift selbst ein. 24 Wilhelm II. erscheint bei Quidde als von der nervösen Krankheit gebeutelt, indem diese zunächst mehrfach dem römischen Princeps, 25 in den später verfassten Anmerkungen dann auch direkt dem Hohenzollern zugeschrieben wird. 26 Tatsächlich sah Quidde den Ersten Weltkrieg vor allem als Folge der krankhaften Nervosität und Unberechenbarkeit des deutschen Kaisers, die er als „das für die Leitung der nationalen Geschicke schlimmste Element“ in Wilhelms Charakter bezeichnete. 27 Hinter dem Postulat eines Kausalnexus zwischen dem Amt des Monarchen und seinem geistigen Zustand sowie den daraus folgenden soziopolitischen Implikationen sind solche Einflüsse der zeitgenössischen Psychiatrie auf die Begriffsbildung zunächst in den Hintergrund getreten. Tatsächlich schreibt Quidde zwar, es sei „wirklich zu verwundern, wenn ein absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt“, 28 doch fährt er damit fort, dass die Stellung des Monarchen etwaige Veranlagungen zu psychischen Störungen bündele und zur vollen Entfaltung bringe, 29 womit sie sich eher als Katalysator denn als ursächlicher Kern des Syndroms ‚Caesarenwahnsinn‘ darstellt. Dementsprechend ist andernorts auch von der erblichen Vorbelastung die Rede, die Quidde ebenfalls zu den Ursachen des kaiserlichen Wahnsinns rechnet. 30 So gilt ihm die Epilepsie als eine Vorerkrankung, die den Wahnsinn Caligulas begünstigte; sie befriedigt

24 Quidde 311926 [1894], 18 (s. o. S. 40 f.). 25 Quidde 311926 [1894], 6 (s. o. S. 28): „nervöse Hast“; 17 (s. o. S. 39 f.): „Rast- und Ruhelosigkeit“, „von dem Widerspruchsvollen und der Unberechenbarkeit seiner Einfälle und Eindrücke“, „Züge der Nervosität“. 26 Quidde 311926 [1894], 54 (s. o. S. 54 f.): „nervöse Hast“. 27 Quidde 311926 [1894], 59 f., hier 59 (s. o. S. 79); s. dazu Radkau 1994, 214; 238–240; Radkau 1998, bes. 275–295; vgl. Pelman 41888, 9 f. 28 Quidde 311926 [1894], 7 (s. o. S. 29). 29 Quidde 311926 [1894], 7 (s. o. S. 29): „Die Züge der Krankheit: Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Mißachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose brutale Grausamkeit, sie finden sich auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, daß die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen Entwicklung kommen läßt [. . . ].“ Auch andernorts (Quidde 311926 [1894], 54 [s. o. S. 54 f.]) erwähnt er den verderblichen Einfluss der sozialen Umstände auf eine „oft an die Grenze geistiger Abnormität streifende[n] Persönlichkeit des Kaisers“ eher als einen Katalysator. 30 Quidde 311926 [1894], 8 (s. o. S. 30): „Dabei war Caligula beiderseits erblich belastet [. . . ]“; 18 (s. o. S. 40 f.): „Vererbung dieser Faktoren durch die Generationen“.

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zugleich den zeitgenössischen Hang zu physischen Erklärungen von Geisteskrankheiten. 31 Neben den sozialen Umständen rechnet Quidde auch die schwere Erkrankung, die Caligula nach wenigen Monaten auf dem Thron beinahe das Leben gekostet hätte, zu den Faktoren, die sich wenigstens beschleunigend auf den Ausbruch des kaiserlichen Wahnsinns auswirkten. 32 Der Historiker betont den Zusammenhang von Amt und Geisteszustand also tatsächlich mit einer bis dato nie dagewesenen Intensität, kann sich aber doch nicht mit letzter Konsequenz aus den Traditionen der Psychopathologie seiner Zeit lösen. Diese sind vielmehr die Grundlage dafür, dass die katalysatorische Wirkung politischer Macht, indem sie verschiedene Krankheitsursachen und -folgen bündelt, als konstitutiver Faktor für das so entstehende, distinkte Syndrom ‚Caesarenwahnsinn‘ gedacht werden kann. Der Bezug der Debatte um den ‚Caesarenwahnsinn‘ auf den zeitgenössischen psychiatrischen Diskurs über die Neurasthenie wird auch an einer Replik auf Quiddes Schrift deutlich, die Contra Caligula. Eine Studie über Deutschen Volkswahnsinn betitelt war. Unter dem Pseudonym Quidam äußerte sich der Monarchist Hermann H. Rothe zu Quiddes Einlassungen, indem er die Modern-Times-Theorie aufgriff. Den Deutschen bescheinigt er eine Kombination von „hoher Intelligenz und schwerer Nervenzerrüttung“, die durch Beschleunigung, globale Konkurrenz und Kriegsangst bedingt sei. Auch politische und philosophische Strömungen wie Nihilismus und Anarchismus bezeichnet er dabei explizit als „Nervenkrankheiten“. 33 Der Text reagiert auf diese Weise auf die politische Stoßrichtung des Caligula; die Argumentation erfolgt allerdings vor dem Hintergrund der Neurastheniedebatte. Rothe geht dabei von dem pandemischen Charakter der Nervosität aus, die vor allem Bevölkerungsschichten erfasse, die den Einflüssen der Moderne besonders schutzlos ausgeliefert seien. 34 Die Modern-Times-Theorie dient ihm dazu, einen Zusammenhang von monarchischer Macht und krankhafter Nervosität zu bestreiten. Damit lässt Rothe den wissenschaftlichen Anspruch von Quidde zumindest pro

31 Quidde 311926 [1894], 17 (s. o. S. 39 f.): „körperliche Disposition“, „Epilepsie“. 32 Quidde 311926 [1894], 8 (s. o. S. 30): „In wirklichen Wahnsinn ist Caligula trotzdem erst nach einer schweren Krankheit verfallen, von der er zu seinem und des Volkes Unglück genas; aber man wird sagen dürfen, daß diese Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach die Entwicklung nur beschleunigt hat; [. . . ]“. 33 Quidam alias Rothe 1894, 15; s. a. Erb 1893, 6 f.; Krafft-Ebing 1895, 11 f.; s. dazu Steiner 1964, 13; Eckart 1997, bes. 211–216. Der Terminus Neurasthenie findet sich bei Rothe zwar nicht expressis verbis, von Pelman 41888, 36, wird aber unter expliziter Verwendung des Ausdrucks ein ähnlicher Zusammenhang hergestellt. 34 Quidam alias Rothe 1894, passim, bes. 4–8 u. 13–17.

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forma gelten und führt die Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Psychopathologie. 35 Wie wirkmächtig die Idee des ‚Caesarenwahnsinns‘ à la Ludwig Quidde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war, zeigt der Umstand, dass auch die psychiatrische Wissenschaft dieser Zeit sein Konzept rezipierte. Exemplarisch hierfür steht der Bonner Psychiater und Direktor der Provinzial-Irrenanstalt Carl Pelman. Wie viele andere Vertreter seiner Zunft hatte sich auch dieser intensiv mit der Neurasthenie beschäftigt. 36 Als Fachmann konstatiert er selbst den diffusen Charakter jenes Krankheitsbildes, das sich noch in einer Frühphase seiner Erforschung befinde. 37 In der nachfolgenden Aufzählung von kulturellen, physischen und hereditären Ursachen trägt aber auch Pelman nicht zu einer Spezifizierung des Leidens bei, sondern reproduziert lediglich den eklektizistischen Charakter der Diagnose. Ähnlich verhält es sich auch mit seinem Begriff des ‚Caesarenwahnsinns‘, dem er sich in einer Abhandlung über Psychische Grenzzustände widmet. Der Titel des Buches verrät bereits, dass es sich bei dem Syndrom aus Sicht Pelmans um ein Phänomen handelt, das nicht rundheraus als pathologisch gelten, in extremen Fällen jedoch entsprechende Züge annehmen kann. 38 Auch in seiner Darstellung soll das Krankheitsbild allerdings als „Berufspsychose“ verstanden werden, „insofern man in ihm eine Psychose der Herrschenden, und zwar nur der Herrschenden zu erblicken hätte“. 39 Ursächlich hierfür seien einerseits hereditäre Veranlagungen und andererseits eben die unumschränkte Macht des Fürsten, die diesem erlaube, jede seiner Phantasien in die Tat umzusetzen. 40 Am Beispiel Caligulas interpretiert auch Pelman im Übrigen „nervöse Störungen“ als Teil des fürstlichen Gebrechens. 41 Den Kausalzusammenhang von Amt und Syndrom schränkt er insoweit ein, als er nur in absolutistischen Regimen seine volle Wirkung entfalte. In den konstitutionellen Monarchien seiner eigenen Zeit, zu denen er auch das Deutsche Kaiserreich rechnet, sieht er durch Beschränkung und Kontrolle der politischen Macht des Monarchen einen weitgehend wirksa-

35 Quidam alias Rothe 1894, 13 f. u. 17. Er halte sich „streng an das historische Thema“, hatte Quidde 311926 [1894], 34 f. (s. o. S. 54 f.) behauptet. 36 Dazu s. die in den Anm. 13; 15; 17; 20–22; 27; 33 genannten Stellen aus Pelman 41888; s. a. Radkau 1994, 217 f.; 225; Radkau 1998, 173–190. 37 Pelman 41888, 5. 38 Dazu s. a. Zerssen 2011, 154 f. 39 Pelman 41920 [1908], 93. 40 Pelman 41920 [1908], 93 f.; 116. 41 Pelman 41920 [1908], 95.

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men Schutz gegen die schlimmsten Auswüchse der Krankheit. 42 Im Falle des modernen ‚Caesarenwahnsinns‘ sei daher die erbliche Vorbelastung, mithin der biologische, nicht der soziologische Faktor, von größerer Bedeutung für den Ausbruch. 43 Auch bei Pelman entsteht also aus einer erblichen Veranlagung unter dem Einfluss monarchischer Macht ein qualitativ neues psychopathologisches Phänomen, wobei größere Machtfülle auch bei geringfügigerer Prädisposition eine entsprechende Entwicklung herbeiführen kann – und umgekehrt. Beide Parameter sind aber auch hier konstitutiv, damit von ‚Caesarenwahnsinn‘ gesprochen werden kann. Die Ausführungen des Psychiaters Pelman sind im Übrigen nicht weniger historisch als die des Mediävisten Quidde. Je näher der Psychiater bei seiner Untersuchung seiner eigenen Zeit kommt, desto weiter entfernt er sich zudem räumlich von Deutschland. Ludwig II. von Bayern bildet hier die einzige Ausnahme. Es mag eine Lehre aus der strafrechtlichen Verfolgung Quiddes gewesen sein, dass keine der von Pelman behandelten Personen zum Zeitpunkt der Abfassung des Werkes noch am Leben war, so dass auch seine Ausführungen den Problemen der retrospektiven Diagnostik unterliegen. Als frontaler Angriff auf die Monarchie lässt sich Pelmans Vorstellung von ‚Caesarenwahnsinn‘ allerdings kaum lesen, wenngleich nicht eindeutig zu sagen ist, ob politische oder wissenschaftliche Erwägungen zu dieser Adjustierung von Quiddes Konzept führten. 44 Die Betonung der Aktualität des Themas steht jedenfalls in einem bizarren Widerspruch zu dieser zeitlich und räumlich weit entfernten Verortung des Phänomens.

3. Die Anfänge der Psychoanalyse und das Ende des ‚Caesarenwahnsinns‘ Mit dem Aufstieg der Psychoanalyse zu einem der „kulturellen Kerndiskurse des 20. Jahrhunderts“ 45 änderten sich die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen seit dem Ersten Weltkrieg grundlegend. 46 Der Krieg selbst beschleunigte den Umbruch, weil die Analytiker im Vergleich zu ihren Kollegen aus der Psychiatrie bessere Ergebnisse vorzuweisen hatten, wenn es darum ging, kriegsmüde Soldaten auf eine Rückkehr an die Front 42 Pelman 41920 [1908], 108 f. Eine ähnliche Bemerkung hatte auch Quidde 311926 [1894], 20 (s. o. S. 42) am Ende des Caligula gemacht, wo sie allerdings lediglich alibihaft den Vorwurf der Majestätsbeleidigung vermeiden sollte und in ihrer ironischen Dimension die Parallele zwischen Antike und Moderne sogar noch einmal betont. 43 Pelman 41920 [1908], 116 f. 44 Vgl. auch den Umstand, dass Pelman 41920 [1908], 93, bei der Aufzählung vorangegangener Untersuchungen zum ‚Caesarenwahnsinn‘ Quidde nicht nennt. 45 Krovoza 2001, 229. 46 Fischer-Homberger 2010, 60–69.

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vorzubereiten bzw. nach Kriegsende den Zustand traumatisierter Heimkehrer zu verbessern. 47 Durch die praktischen Erfolge erlangten die psychologischen Theorien, die Sigmund Freud seit der Mitte der 1890er-Jahre entwickelt hatte, zunehmend ernsthaftere Aufmerksamkeit und schließlich wachsende Anerkennung in Fachkreisen. Dazu trug auch eine striktere und exklusiv auf die psychischen Krankheitsursachen ausgerichtete Systematik von Diagnose und Therapie bei. Polymorphe Krankheitsbilder wurden von der Analyse aufgelöst, indem der große Symptomkomplex in einzelne Syndrome zerlegt wurde, denen jeweils eigene Ursachen zugrunde gelegt wurden. Solche Diagnosen, die wie die Neurasthenie oder der ‚Caesarenwahnsinn‘ in dieser Tradition ihren Ursprung hatten, wurden der neuen Taxonomie und Terminologie unterworfen. 48 So erklärt sich etwa der Rückgang an Neurastheniediagnosen seit der Zeit kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges nicht so sehr aus dem rückläufigen Auftreten entsprechender Symptome, sondern vor allem dadurch, dass andere Befunde an ihre Stelle traten. Freud hatte seine Karriere, wie bereits erwähnt, als Neurophysiologe begonnen und als solcher einige seiner Forschungen der Neurasthenie gewidmet. 49 Geprägt durch die physiologische Medizin seiner Zeit, glaubte er, dass alle Krankheiten, ja sogar alle menschlichen Verhaltensweisen, sich einmal mit Hilfe der Chemie entschlüsseln lassen würden, musste jedoch einsehen, von diesem Ziel noch weit entfernt zu sein – zumal bei der Erklärung und Behandlung psychischer Leiden. 50 Seine Bemühungen, mit anderen Mitteln Fortschritte auf diesem Gebiet zu erzielen, erhielten Auftrieb durch die Zusammenarbeit mit dem Wiener Arzt Josef Breuer, der seine Erfahrungen hinsichtlich der Behandlung von Hysterie durch Hypnose mit Freud teilte. Auf dieser Basis entwickelte Freud seine eigene Theorie der Hysterie, die zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Psychoanalyse werden sollte. 51 Aus den Erfolgen bei der Behandlung der Symptome seiner Patienten durch Verfahren wie Suggestion und Hypnose 47 Reichmayr 1990, bes. 48 f.; Neumann 2004, 104–120. 48 Dazu s. a. Gosling 1987, 9; Radkau 1994, 226 f. 49 Dazu Macmillan 1976, bes. 380–385; s. a. Steiner 1964, 87–89 sowie Radkau 1994, 216 u. 218 mit Verweis auf die Dominanz der Neurologen in der Neurasthenieforschung. 50 Freud 1999a [1905], 276 f.; Freud 1999d [1895], 387: „[Es ist die] Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d. h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile [und sie] damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen“; dazu s. Silverstein 1989, 260–269. 51 Alexander / Selesnick 1966, 190–199; Clark 1980, 100–108 u. 129–139; s. a. Zaretsky 2006, 45–52. Zu Freuds frühen ‚Experimenten‘ mit Hypnose s. a. Clark 1980, 98 f.; Silverstein 1989, 252–260. Auch die Therapie von Neurasthenikern mit Hilfe von Hypnose war zu dieser Zeit bereits bekannt, ihre Wirksamkeit jedoch umstritten; dazu s. Steiner 1964, 65–71.

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leitete er sukzessive eine Pathologie ab, die auf eine exklusiv psychologische Erklärung und Behandlung bestimmter Krankheitsbilder und auf ein einheitliches System ihrer Diagnostik und Therapie abzielte. 52 Dabei profitierte Freud durchaus von den Vorarbeiten, die die Psychiatrie zu seiner Zeit bereits geleistet hatte. Die Nervenärzte des 19. Jahrhunderts hatten das Phänomen des Wahnsinns konsequent als Krankheit definiert. Indem sie ihn weitgehend von moralischen und sakralen Konnotationen befreiten, etablierten sie sich selbst als maßgebliche Experten für das Phänomen psychischer Devianz. 53 Freud trieb solche Bemühungen noch weiter: Inspiriert durch Konzepte der romantischen Philosophie, die bereits mit den Kategorien des Unbewussten und der Verdrängung gearbeitet hatte, versuchte er, auch diese einer Forschung mit naturwissenschaftlichem Anspruch zugänglich zu machen. 54 Damit verschaffte er sich ein Instrumentarium, das es erlaubte, Krankheiten mit Hilfe einer rein psychologischen Terminologie zu beschreiben. Ob Freud dabei stets den eigenen Ansprüchen an die Wissenschaftlichkeit seiner Methoden gerecht werden konnte, darf bezweifelt werden; auch seine Psychologie kam nicht ohne Spekulation aus und hatte in der Praxis oft experimentellen Charakter. 55 Doch die theoretische Konsequenz und Konsistenz, mit der er einen bislang der Metaphysik vorbehaltenen Gegenstand für die Therapie psychischer Leiden zugänglich machte, verschaffte seinen Ideen sukzessive Anerkennung. 56 Zum eigentlichen Ursprung der Psychoanalyse wurden die Unzulänglichkeiten der Hypnosetherapie 57: Einerseits ließen sich nämlich keineswegs alle Patienten Freuds in den Zustand einer Trance versetzen; andererseits zeitigte dieser unmittelbare und über alle Hemmungen hinweg erfolgende Zugriff auf das Unterbewusstsein einige ‚Nebenwirkungen‘, die es Freud allerdings erlaubten, das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung zu beschreiben, das für die Psychoanalyse große Bedeutung erhalten sollte. Für einen sanfteren Zugang in das Unterbewusstsein entwickelte Freud die Methode der freien Assoziation, die es dem Patienten erlaubte, der schrittweisen Regression im Wachzustand beizuwohnen, Wi-

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Fischer-Homberger 2010, 61. Dazu s. Clark 1980, 81–83; Dührssen 1994, 13–17. Ausführlich beschäftigen sich damit Zentner 1995 u. Gödde 1999. Macmillan 1976, 385–390. Zu einer grundsätzlichen Kritik an der Wissenschaftlichkeit der psychoanalytischen Theorie s. Popper 41972, 33–39; Dreyfus 1988, bes. 227– 231; Galdston 1989, 180–183; Sciacchitano 2009. 56 Langs 1989, 439: „Thus, Freud had the genius to define the ground rules of the psychoanalytic situation even though he himself did not in any substantial and consistent manner adhere to these principles.“ 57 Vgl. Freud 1999k [1914], 45.

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derstände gegen die Aufarbeitung verdrängter Bereiche des Seelenlebens wahrzunehmen und die ausgelösten Affekte zu erinnern. 58 Auch in den Träumen seiner Patienten fand Freud einen wichtigen Wirkungsbereich des Unbewussten und die Abhandlung Die Traumdeutung gilt bis heute als seine bedeutendste Schrift. 59 Damit verfügte die Psychoanalyse über exklusive therapeutische Verfahren, die auf einer eigenständigen Theorie basierten und die Psychoanalyse klar gegenüber der Psychiatrie abgrenzten. Ein weiterer Grundpfeiler der freudschen Lehre ist die zentrale Bedeutung, die diese der Sexualität zumisst. 60 Wie im Fall der Neurasthenie war Sexualität bislang einer von vielen Faktoren in der Symptomatik und Ätiologie des Krankheitsbildes gewesen; Freud leitete nun eine Reihe von Krankheitsbildern allein aus der Verdrängung sexueller Bedürfnisse und Erlebnisse ab. Die so verursachten Leiden bezeichnete er als Neurosen. 61 Er unterschied zwischen den sogenannten Aktualneurosen, die durch aktuelle Erlebnisse, vor allem eine unbefriedigende Sexualpraxis, ausgelöst würden, also letztlich körperliche Ursachen hatten, und zu denen er nun auch die Neurasthenie rechnete, und den Psychoneurosen. Letztere hätten ihren Ursprung in unterbewusst nachwirkenden Konflikten der frühen Kindheit, deren Aufdeckung und Auflösung den eigentlichen Gegenstand der Psychoanalyse bildeten. Diese nosologische Ordnung, die in den kommenden Jahrzehnten den Diskurs der Psychologie mitbestimmen sollte, wich deutlich von der auf der neuronalen Anatomie basierenden ab und verwies die Neurasthenie auf einen Platz außerhalb des unmittelbaren Fokus. 62 Seine Abkehr von den gängigen Erklärungsmustern seiner Zeit machte Freud explizit anhand der Neurasthenie deutlich und nutzte das

58 Freud 1999j [1905], 16–18; Freud 1999i [1910], 18 f.; Freud 1999k [1914], 54; Freud 1999 f [1925], 51–58; dazu s. Erikson 1989, 390–392 u. 394–397; Kinzel 1993, 4–84, bes. 64–78; Chertok 2009; Schröter 2014, 44–70. 59 Freud 1999c [1900]; dazu s. Clark 1980, 144 f.; 174–185, bes. 181; Erikson 1989, 397; Galdston 1989, 180; Zaretsky 2006, 45–64, bes. 52–64; Schröter 2014, 53. 60 Bspw. Freud 1999 f [1925], 49–51 u. 58–64; dazu s. Chertok / Saussure 1979, 138–141; Clark 1980, 125–129; 155–174; Erikson 1989, 392–394; Silverstein 1989, 260–265; Zaretsky 2006, 45–52 u. bes. 65–96. 61 Auch heute listet die ICD-10 Neurasthenie unter dem Kode F48.0 als spezifische Form einer neurotischen Störung. Sie ist zudem sowohl in der therapeutischen Praxis als auch in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber anderen Erschöpfungserkrankungen wie etwa dem Burn-out (ICD-10 Z73.0) drastisch in den Hintergrund gerückt; s. dazu a. Fischer-Homberger 2010, 61. 62 Freud 1999h [1895]; Freud 1999b [1908]; dazu s. Steiner 1964, 46 u. bes. 92–99; Macmillan 1976, 380–385; Silverstein 1989, 260–266; s. a. Alt 2016, 221–233.

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Krankheitsbild als Beispiel, an dem er seine neue Systematik vorführen und deren Überlegenheit demonstrieren konnte. 63 Dementsprechend äußerte sich Freud auch, als er einmal explizit Stellung zu den als wahnsinnig geltenden römischen Caesaren bezog – bezeichnenderweise geschieht dies lediglich ganz beiläufig in einer Abhandlung über Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität: Es sei „nun gefunden worden, daß die unbewußten Phantasien der Hysteriker den bewußt durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen völlig entsprechen“. 64 Als Beispiel hierfür will er gerade die Kaiser Roms verstanden wissen, da „der römischen Cäsaren [. . . ] Tollheit natürlich nur durch die uneingeschränkte Machtfülle der Phantasiebildner bedingt“ sei. 65 Der letzte Satz erweckt isoliert den Eindruck, als würde Freud das von Quidde konstruierte Krankheitsbild bestätigen, bedeutet in seinem Kontext jedoch das genaue Gegenteil: Die aus der Machtfülle resultierende „Tollheit“ ist eben nur eine quantitative, keine qualitative Differenz. Tatsächlich bestehe der einzige Unterschied zwischen den Caesaren und anderen Neurotikern darin, dass ein unumschränkter Alleinherrscher alle neurotischen Phantasien ausleben kann. Damit treten die Symptome der jeweiligen Neurosen zwar in besonders deutlicher Art hervor, die Phantasien selbst unterscheiden sich jedoch genauso wenig von denen anderer Patienten wie die jeweiligen Ursachen der Störung; das Amt des Autokraten spielt keine konstitutive Rolle für das Krankheitsbild. Die Idee, dass durch eine katalysatorische Wirkung der Macht ein neues, eigenständiges Syndrom entsteht, eine Berufskrankheit, die im Sinne Quiddes oder Pelmans allein die Herrschenden befällt, wird damit ausgeschlossen. Bereits 1875 hatte Friedrich Wiedemeister am Beispiel der Julioclaudier den gleichen Gedanken formuliert – allerdings aus einer „naturhistorischen Anschauung“ 66, womit die erbbiologische Perspektive gemeint ist: „Ihre Machtstellung lieh ihrer Krankheit nur das Kleid, nicht bedingte sie ihr Wesen.“ 67 Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich dieser Trend bei den 63 Freud 1999h [1895], bes. 315–317; dazu s. Steiner 1964, 37–39, bes. 39; FischerHomberger 2010, 61–69; vgl. Clark 1980, 146. Dass das Krankheitsbild der Neurasthenie offensichtlich nicht mit einer Theorie zu vereinbaren war, die die Verdrängung der eigenen Sexualität zur Hauptursache menschlicher Neurosen erklärte, konstatiert auch Radkau 1994, 226 u. bes. 234 f. 64 Freud 1999e [1908], 194. 65 Freud 1999e [1908], 194 f. 66 Wiedemeister 1875, IX. 67 Wiedemeister 1875, X. Der Medizinhistoriker Albert Esser (1958) verzichtet bei seiner „ärztlich-biologischen“ Untersuchung der physischen und psychischen Auffälligkeiten der julisch-claudischen Familie seit Caesar auf den Begriff ganz. Dazu und dem Folgenden s. a. Winterling 2008, 118–122; Zerssen 2011, 153–156; Sittig 2016, bes. 229–232.

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Psychiatern durch, und erneut finden wir die Debatte mit direktem Bezug auf die römischen Kaiser – diesmal Tiberius – geführt. Hans von Hentig hielt in seiner kurzen Studie Über den Caesarenwahnsinn. Die Krankheit des Kaisers Tiberius prägnant fest: Es gibt keinen Cäsarenwahnsinn, d. h. eine geistige Störung, die durch außerordentliche Machtfülle erzeugt wird. [. . . ] Cäsaren wie Tiberius litten an einer bestimmten Psychose; was ihr die besondere Färbung gab, war die Möglichkeit für den Kranken, sich in weitestem Ausmaß frei zu bewegen und jede aufsteigende Vorstellung zu realisieren. 68

Auch die 1930 publizierte Arbeit von Hanns Sachs ist der Versuch, eine Psychoanalyse Caligulas nach den Maßgaben Sigmund Freuds, also ohne Rückgriff auf das Erklärungsmuster des ‚Caesarenwahnsinns‘, durchzuführen. 69 Mit dem Siegeszug der Psychoanalyse und einer Übertragung entsprechender Verfahren auf die Untersuchung der Antike verlor das Erklärungsmuster des ‚Caesarenwahnsinns‘ daher zunehmend an Bedeutung.

4. Schlussbetrachtung – die Entpathologisierung des ‚Caesarenwahnsinns‘ Als Franz Hampl den „fast vergessenen Begriff“ des ‚Caesarenwahnsinns‘ 1966 wiederentdeckte, tat er dies in enger Anlehnung an Quidde. Den Kausalzusammenhang zwischen Amt und psychischer Konstitution betrachtete er als das entscheidende Spezifikum der Krankheit und spitzte dieses noch weiter zu. Nicht nur, dass es sich beim ‚Caesarenwahnsinn‘ um eine Krankheit handele, die einzig die Herrschenden wegen ihrer Herrschaft befalle 70 – man müsse darüber hinaus Machthaber, die ihr Amt als dynastisches Erbe empfangen haben, von solchen unterscheiden, die sich die Herrschaft durch Leistung selber erworben haben. 71 Damit greift 68 Hentig 1924, 47. 69 Sachs 1930. 70 Hampl 1966, 131 will ihn nur auf Herrscher angewendet wissen, „auf die es zutrifft, daß sie ihre absolute Stellung als Kaiser [. . . ] in einen Wahnsinn trieb, der ihnen in irgendeinem biederen bürgerlichen Beruf wahrscheinlich erspart geblieben wäre und dem danach die Bezeichnung ‚Caesarenwahnsinn‘ mit einer wirklichen inneren Berechtigung zukommt“; s. a. 127: „Es wäre von vornherein abwegig, den Terminus ‚Caesarenwahnsinn‘ auf solche Personen anzuwenden, konkret gesagt auf Personen, deren abnormer Geisteszustand offenbar in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der hohen Stellung, in der sich die Betreffenden befanden, stand.“ 71 Hampl 1966, 130 f. kennt „[. . . ] zwei Phänomene [. . . ], die wir, wenigstens theoretisch, scharf trennen müssen: Hier die Männer vom Typ eines Cäsar und Napoleon, die

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Hampl einen Gedanken auf, den auch Theodor Mommsen schon geäußert hatte: „Um den Fürstenwahnsinn zu entwickeln, bedarf es der Geburt im Purpur [. . . ]“. 72 So scheint sich der Begriff des ‚Caesarenwahnsinns‘ in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder den Vorstellungen vom Ende des 19. Jahrhunderts anzunähern. Doch sollten in der Folge kaum noch althistorische Arbeiten entstehen, in denen der ‚Caesarenwahnsinn‘ in Form einer retrospektiven Diagnose Verwendung fand. 73 Zunehmend waren es andere Krankheitsbilder, die zur Erklärung des Verhaltens bestimmter Kaiser dienten. 74 Der Siegeszug der Psychoanalyse hatte die Dynamik der Debatte um den ‚Caesarenwahnsinn‘ auch in den Geschichtswissenschaften verschoben. Jüngere althistorische Untersuchungen zum ‚Caesarenwahn‘ haben den Begriff historisiert und jenseits der Psychopathologie dessen Dimension als politischer Kampfbegriff aufgezeigt und zum Ausgangspunkt einer Anwendung auf die antiken Quellen gemacht. 75 Dieses Verfahren wiederum ist jüngst aus Richtung der Psychiatrie scharf kritisiert worden. Detlef von Zerssen hat die Verwendung des Begriffs im Sinne einer psychopathologischen Erkrankung verteidigt und versucht, sie als Klimax einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bzw. des Hybris-Syndroms in die Terminologie der modernen Psychiatrie einzuordnen. Dabei definiert er das Phänomen nicht als Wahnerkrankung im eigentlichen Sinne, sondern als Syndrom „suchtartiger Verhaltensexzesse“. 76 In der Begriffsverwendung der Alten Geschichte sieht er hingegen eine Rechtfertigung des „Absolutismus“, den einige der römischen Caesaren an den Tag gelegt hätten. 77 Die Symptomatik des ‚Caesarenwahnsinns‘ bei von Zerssen spiegelt einen Lasterkatalog bei Sueton allerdings beinahe originalgetreu. 78 Damit scheint der Begriff einmal mehr für eine quellenkritische Untersuchung wenig geeignet. Darüber hinaus bleibt das

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mehr oder weniger durch eigene Kraft und Genialität an die Spitze eines großen Teiles der damaligen Welt kamen und in zunehmendem Maße der ‚Dämonie der Macht‘ verfielen, dort die Männer, welche [. . . ] durch den Zufall der Geburt als absolute Herrscher an die Spitze der damaligen Welt kamen und an der Diskrepanz zwischen ihren geistigen und sittlichen Anlagen und den hohen Anforderungen auf dem Gebiet des Herrschertums seelisch scheiterten“; s. a. 135 f. Mommsen 31887, 759. Eine Ausnahme bildet Yavetz 1996, der Caligula „imperial madness“ im Sinne Quiddes attestiert. Einen Überblick über die modernen Diagnosen im Falle Caligulas bietet Sidwell (2010, 183), die sie jedoch im Weiteren (195–200) alle wohlbegründet und detailliert zurückweist. Für entsprechende Beispiele s. o. S. 121 f. (1 mit Anm. 7). Zerssen 2011, 156 u. 158 f. Zerssen 2011, 157 f. Vgl. z. B. Suet. Dom. 4–6,1; 10–15,1; 21–22 mit Zerssen 2011, 156: „Herrschsucht, Prunksucht, Bausucht und Verschwendungssucht, Genuss- und Vergnügungssucht,

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Verfahren der Retrospektivdiagnostik mit allen seinen Schwächen konstitutiv für die Analyse des Krankheitsbildes – wie auch bei Pelman sind von Zerssens Fallbeispiele entweder tot oder herrschen in weit entfernten Regionen der Welt. 79 In der diagnostischen und therapeutischen Praxis scheint der ‚Caesarenwahnsinn‘ daher von geringer Relevanz zu sein und stellt sich somit in erster Linie als historische Analysekategorie dar. 80 Dass die harsche Kritik dabei in einer Art formuliert wird, die auch die politische Gesinnung der kritisierten Althistoriker in Zweifel zieht, scheint darüber hinaus die Ergebnisse der Altertumswissenschaften insofern zu bestätigen, als von Zerssens Begriffsverwendung selbst auf den Aspekt des politischen Kampfbegriffs verweist. Letztendlich steht der ‚Caesarenwahnsinn‘ immer zwischen Psychopathologie und Historie, zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischer Polemik. Wenngleich die Psychoanalyse die Rede vom ‚Caesarenwahnsinn‘ zwischenzeitlich sogar für Jahrzehnte zum Verstummen brachte, hat auch sie an diesem grundsätzlichen Spannungsverhältnis nichts geändert. Sie hat es aber durch den Zwang zu mehr methodischer Schärfe in aller Klarheit hervortreten lassen und so einen reflektierten Umgang mit dem Begriff ermöglicht. Indem die Psychoanalyse die fatalen Folgen, die die Kombination von politischer Macht und geistiger Krankheit zeitigen kann, aus dem Prozess der psychopathologischen Klassifizierung ausgeschlossen hat, hat sie das Problem des ‚Caesarenwahnsinns‘ an die soziologisch arbeitenden Wissenschaften verwiesen. Und indem sie den Begriff aus dem Vokabular der Psychopathologie weitgehend verbannt hat, hat sie den Raum geschaffen, in dem die Geschichtswissenschaft zu ihrer eigenen Verwendung des Begriffs als historische Analysekategorie gefunden hat.

besonders auf kulinarischem und sexuellem Gebiet, Rachsucht mit einem Hang zur Grausamkeit und eine Neigung zu irrationalen, oft theatralischen Handlungen“. 79 Zerssen 2011, 156 u. 158. 80 Vgl. dazu a. Strasburger 1982, 1110: „Ein echtes Übel im Rahmen unserer Fragestellung scheint mir nur, daß man ‚Männer, die Geschichte zu machen‘ sich erst anschicken [Hervorh. im Orig.], im Regelfall nicht bewegen wird, sich vorher von einem Psychiater beraten zu lassen. Wer über einen stattlichen Aggressionstrieb verfügt, wird diesen hüten wie seinen Augapfel, weil er sein Lebenselement ist. Bestenfalls würde der Diktator den Arzt – unter dem Beifall der Menge! – in die Irrenanstalt sperren.“

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Florian Sittig

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Teil B Antike Vorlagen in heutiger Sicht

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Unbeherrschte Herrscher ‚Caesarenwahn‘ und antike Tyrannentopik

1. ‚Caesarenwahn‘ und antike Stereotypisierung ‚Das berauschende Gefühl der Macht‘, ‚der Ehrgeiz, als Förderer populärer Bestrebungen bewundert zu werden‘, eine ‚nervöse Hast, die unaufhörlich von einer Aufgabe zur Anderen eilte, sprunghaft und oft widerspruchsvoll, und dazu eine höchst gefährliche Sucht, alles selbst auszuführen,‘ ‚sein rücksichtsloser Eigenwille, die überraschenden Reformideen, die plötzlichen und grausamen Maßregelungen hochgestiegener Männer‘, ‚die unangemessene Prunkund Verschwendungssucht [. . . ] besonders auch in der Einrichtung seiner Paläste und Villen und der mit unsinnigem Luxus ausgestatteten [. . . ] Yachten, [. . . ] in riesenhaften Bauten und Bauprojekten‘, ‚der Heißhunger nach militärischen Triumphen‘, ‚die Beredsamkeit; er sprach gern und viel öffentlich, und es wird uns berichtet, daß er auch ein gewisses Talent dafür besaß, daß insbesondere ihm die Kunst, zu verletzen und zu schmähen, eigen war‘; die ‚Mißachtung jeder Sachkenntnis und jeder auf Fachbildung beruhenden Autorität‘, die ‚Rast- und Ruhelosigkeit‘, ‚Unberechenbarkeit‘, das ‚Vergnügen am Quälen‘ und der ‚Hang zu Ausschweifungen‘. 1

Die Reihe der – hier nur in Auswahl wiedergegebenen – Schlagworte, mit denen Ludwig Quidde in seinem Caligula den römischen Kaiser beschrieb und die er vielmals in Sperrschrift besonders hervorhob, war bekanntlich nicht nur darauf angelegt, sondern auch außerordentlich gut geeignet, dem zeitgenössischen Publikum die implizite Referenz auf den Hohenzollernkaiser unmissverständlich nahezulegen. Quidde hatte in der ursprünglichen Manuskriptfassung die Namen der antiken Protagonisten seines Essays auf den beiden ersten Seiten bewusst unterdrückt, um die zeitgenössische Analogie noch deutlicher vor das innere Auge der Leserschaft treten zu lassen. 2

1 Quidde 311926 [1894], 5–18 (s. o. S. 27–41). 2 Quidde 311926, 25 f. (s. o. S. 45 f.).

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Dieselbe Technik, in der obigen Auswahl angewandt, dürfte auch heute noch hinreichen, das Bild von politischen Machthabern aus jüngerer Vergangenheit und Gegenwart zu evozieren. Es sei der*m Leser*in überlassen, sich die Figur ihrer Wahl vorzunehmen. Bei solcher Assoziation genügt es, dass einzelne oder mehrere – teils noch nicht einmal per se verwerfliche – der Eigenschaften und Verhaltensweisen aus der Liste auf die betreffende Figur tatsächlich zuzutreffen scheinen. Die einseitige Wertung und Einreihung dieser vermeintlichen Identifikatoren in einen Katalog von mit ‚Wahnsinn‘ assoziierten Eigenschaften suggeriert, dass der Katalog als Ganzer samt seiner moralischen Bewertung auf die betreffende Figur anzuwenden sei – und zwar ungeachtet des Problems, dass wohl nur die wenigsten wirklich beurteilen können, ob diese (nun schon als tendenziell ‚verrückt‘ bewertete) Figur etwa wirklich „Vergnügen am Quälen“ empfindet oder gar auslebt. In einem solchen rhetorischen Verfahren der Stereotypisierung werden verschiedene, jeweils für sich genommen unstrittige Aussagen so miteinander amalgamiert, dass dadurch eine neue, durch die Grundaussagen im Einzelnen nicht unmittelbar gedeckte Schlussfolgerung suggeriert wird: Wenn ‚unstrittig‘ ist, dass (1) Person X eine Yacht besitzt und dass (2) ein Katalog Y von Verhaltensweisen auf eine bestimmte Weise Z moralisch zu bewerten ist (z. B. als ‚verrückt‘), so soll die Einreihung des Besitzes einer Yacht in den Katalog Y den ganzen Verhaltenskatalog samt seiner normativen Bewertung Z der Person X zuweisen. In der oben angeführten Liste an Schlagworten und Handlungsbeschreibungen genügt es in diesem Sinne, wenn Rezipient*in sich bei mehreren markanten Elementen der Liste an eine bestimmte Figur erinnert fühlt, um zu suggerieren, dass die gesamte Liste samt der jeweils implizierten Bewertung auf diese Person zutreffen könnte. In Quiddes ‚Caesarenwahn‘-Konzept besteht nun ein aus rezeptionsgeschichtlicher Warte besonders interessantes Problem darin, dass Quidde zusammen mit der Lektüre antiker Verhaltensbeschreibungen Y des Kaisers Caligula auch seinen Wertungskatalog Z bereits dem historischen Material entnahm, namentlich den Urteilen des Sueton und Cassius Dio über Caligula. Quidde fühlte sich bei deren stereotypisierenden Aussagen über Caligula lediglich an eine andere Person X erinnert, die sich zudem – wie er selbst in heute nicht mehr prüfbarerer Weise behauptete 3 – ausdrücklich auf Caligula berufen und dessen berühmtes oderint dum metuant im Munde geführt habe. Quiddes rhetorischer Eigenbeitrag lag nun vor allem 3 Quidde 311926 [1894], 23 (s. o. S. 43), der angibt, die Urteile der antiken Autoren zunächst aus zweiter Hand über Hertzbergs Geschichte des römischen Kaiserreichs rezipiert zu haben (s. auch im Weiteren).

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noch darin, die Stereotype seiner Quellen durch sprachliche und sachliche Modernisierung in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts zu transferieren und auf diese Weise zu suggerieren, seine Beschreibung eines antiken Kaisers beziehe sich tatsächlich auf Wilhelm II. In keiner Weise aber setzte sich Quidde mit dem – für sein Anliegen in der Tat irrelevanten – Problem auseinander, auf welchen Grundlagen die Kaiserdarstellung bei Sueton und Cassius Dio gerade in ihren moralischen Urteilen basierte. In diesem Sinne ist auch Ludwig Quidde selbst bereits ‚Opfer‘ einer stereotypisierenden Rhetorik geworden. Denn die Kategorien und Klischees, die ihn bei der Lektüre von Hertzbergs Geschichte des römischen Kaiserreiches so frappierend an Wilhelm II. erinnerten und nach denen er hernach so unmittelbare Belege für die Richtigkeit der (auch später noch mit Nachdruck als wissenschaftlich behaupteten) 4 These einer Affinität des Monarchischen zum Wahn bei Sueton und Cassius Dio finden zu können glaubte, 5 entsprachen ihrerseits einer bereits antiken Stereotypisierung des ‚schlechten Kaisers‘, die vor allem von Seiten senatsnaher Historiographen und Biographen des 2. bis 4. Jahrhunderts n. Chr. zur Formulierung ihres Standesbewusstseins unter dem jeweils (nicht unter die ‚schlechten‘ fallenden) gegenwärtigen Kaiser betrieben worden war. Um zum Ausdruck zu bringen, wo aus senatorischer Sicht die Grenzen des wünschenswerten prinzipalen Verhaltens lagen, bzw. welches Verhalten von einem ‚guten Kaiser‘ erwartet wurde, war die Auseinandersetzung mit dessen teils idealisierten, teils verteufelten Vorgängern eine bewährte Strategie; lag doch in der jeweiligen Anlehnung der kaiserlichen Repräsentationsformen an bestimmte Kaiser sowie in der Abkehr von anderen Vorgängern (im Falle besonderer Traditionsbrüche sogar in der öffentlichen Beschlusslage einer damnatio memoriae) ein berechenbarer Maßstab vor, nach dem einzuschätzen war, wessen Andenken sich zur Verdeutlichung des abzulehnenden Verhaltens gefahrlos in den Schmutz ziehen ließ. Mehr noch: Die Umsetzung einer damnatio ließ eine Umwertung der etablierten Bilder der betreffenden Kaiser per se erforderlich werden und forderte entsprechende Äußerungen heraus. 6 In diesem Prozess exemplarischer Geschichtsdarstellung sind die berüchtigten Caligula, Nero, Domitian, Commodus und Elagabal – ungeachtet ihrer tatsächlichen Po4 Quidde 311926 [1894], 54 f. (s. o. S. 74–76). 5 Zum Prozedere s. Quidde 311926 [1894], 23–25 (s. o. S. 43–45). Da schon Hertzberg sich auf die Wertungen dieser Quellen gestützt hatte, fand Quidde bei der Einarbeitung der Quellen in seinen Aufsatz diesen Wertekatalog naheliegenderweise bestätigt. 6 Kuhoff 1993, 53–55; 130–138 (jedoch mit missverständlicher Deutung des Verfahrens als ‚Auslöschung‘ der Erinnerung); Arand 2002, 33–55; Seelentag 2004, 493 f.; Ronning 2007, 45–50; Hose 2011, 113 (sowie passim zur ‚Begrenzung‘ kaiserlichen Verhaltens durch Literatur); Kragelund 2016, 304–306; Cordes 2014; 2017.

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litik, auf die fraglos manche der Schilderungen auch zutrafen – besonders einseitig behandelt und mit bereits etablierten Wertmaßstäben verknüpft worden. 7 Schon Quiddes Quellen bringen mithin ihrerseits Stereotype zur Anwendung, deren rhetorische Wirksamkeit notwendigerweise auf zur Zeit ihrer antiken Entstehung bereits etablierten Wertmaßstäben beruht. Um den stereotypen ‚schlechten Kaiser‘ im Sinne politischer Belehrung als monstrum, oder präziser: als abschreckendes exemplum erkennbar zu machen, mussten auch die antiken Autoren auf wohlbekannte Vorstellungen zurückgreifen, namentlich auf ein Bildungs- und Kulturgut, das bestimmte Verhaltensweisen als Zeichen politischer Unfähigkeit qualifizierte. Es handelt sich dabei im Kern um ein aus der politischen Philosophie griechischer Prägung stammendes Konzept der Gegenüberstellung des ‚guten Königs‘ (βασιλεύς) mit dem ‚schlechten Tyrannen‘ (τύραννος). Mit diesen geistigen Grundlagen der ‚Caesarenwahn‘-Topik befasst sich der vorliegende Beitrag. Dazu wird zunächst am Beispiel von Plinius d. J. und der Schriften des Intellektuellen Dion von Prusa (‚Chrysostomos‘) die Natur der kaiserzeitlichen Verknüpfung von Kaiserbild und griechisch geprägter Tyrannentopik erarbeitet. Als kultureller Horizont, vor dem sich diese in der Kaiserzeit so wirksame stereotype Topik des Gewaltherrschers als eines zur Herrschaft unfähigen passiven Menschen entwickelte, soll schließlich das politische Denken des 4. Jahrhunderts v. Chr. identifiziert werden. Im Rahmen eines Buchbeitrages kann hier freilich manches nur angedeutet werden. Ziel des Unterfangens ist es vor allem, die dem von Quidde verwendeten Material zugrunde liegenden ideologischen Grundbegriffe und -konzepte herauszuarbeiten.

2. Optimi principes und Tyrannentopik Die Stereotypisierung römischer Kaiser in der antiken Historiographie erfolgt nach den Kategorien einer Polarität von vorbildhaften und abschreckenden Beispielen, deren wesentliche Züge sich nach der Ablösung zunächst der julisch-claudischen, später vor allem der flavischen Kaiserdy-

7 Für eine differenziertere Sicht auf die politischen Konstellationen der Kaiserzeit s. Meyer-Zwiffelhoffer (in diesem Band); Versuche, die historiographische Darstellung ihrer Topik zu entkleiden, um dadurch eine Grundlage für die Frage nach den Absichten hinter kaiserlichem Verhalten zu gewinnen, finden sich u. a. bei Winterling 2003, v. a. 175–180 und 2007; Meyer-Zwiffelhoffer 2006; Carlà-Uhink 2017, 30–34; vgl. auch (skeptischer bzgl. der Möglichkeiten der ‚Rationalisierung‘) Schrömbges 1988; Priwitzer 2009, 95–174. Vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Ronning 2011.

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nastie ausbildeten. 8 Mit dem Tod des letzten Claudiers Nero sowie des letzten Flaviers Domitian und der Etablierung von Nachfolgern (Vespasian und Nerva bzw. Trajan), die sich jeweils nicht mehr auf eine dynastische Legitimation zu ihren Vorgängern berufen konnten, traten markante Kontinuitätsbrüche in der kaiserlichen Repräsentation ein, die nicht zuletzt durch eine Distanzierung von wesentlichen Aspekten der Politik der Vorgänger geprägt waren. 9 Diese Distanzierung erfolgte in zahlreichen Medien der symbolischen Kommunikation des Kaiserhauses und seines Umfeldes: So schlossen Münzdarstellungen, Bauprogramme, Inschriften, öffentliche Reden, aber auch die Motive und Begründungen demonstrativer Symbolpolitik gegenüber den wesentlichen Akzeptanzgruppen der römischen Politik gezielt an die imago älterer Kaiser, kaum aber an die abgelehnten Vorgänger an, was der kaiserlichen Regierungspraxis den Anstrich der Wiederherstellung einer zuletzt verlorengegangenen guten Herrschaftspraxis verlieh. 10 Das Gesamtprogramm dieser Symbolik von der guten Ordnung gewann bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts die Quali8 Bönisch-Meyer et al. 2014 und jetzt v. a. Cordes 2017. Damit soll weder behauptet werden, dass die betreffenden Denkmodelle ohne Vorgänger und Voraussetzungen oder ohne genuin römische Parallelen entstanden seien (vgl. Glinister 2006; Thein 2006; Kragelund 2016, 49–52; 60–62), noch dass es zu Lebzeiten der betreffenden ‚schlechten Kaiser‘ nicht ähnliche Äußerungen gegeben haben kann; zu nennen wären an prominenter Stelle die Traktate und Tragödien Senecas d. J., die sich – sei es im Sinne indirekter Appelle (so in der Abgrenzung von Neros Vorgänger Claudius in der Apocolocynthosis) oder im Sinne polemischer Kritik an Nero – mit dem Problem der tyrannischen Herrschaft auseinandersetzten: vgl. Sen. benef. 2,21,5 f.; clem. 1,10,1– 4; 1,15,1–7; Herc. f. 341–353; 382–389; 489 f.; 501–508; s. dazu Schrömbges 1988, 174–178; Kuhoff 1993, 49; 132–135; Sidebottom 2006, 136 f.; Priwitzer 2009, 109 f.; Burgersdijk 2013, 291 f.; Cordes 2014, 364–366; 371–373; Nauta 2014, 26 f.; Kragelund 2016, 137; Cordes 2017, 208–218; vgl. auch (in nachneronischer Zeit) [Sen.] Octav. 31–33; 86–98; 100–114; 240–251; 606–627; 899–923; 958–972; Kragelund 2016, 129– 360; Kugelmeier 2018. Indes lässt sich die Einbindung derartiger Kaiserstereotype in eine vom einzelnen Herrscher abstrahierte allgemeine Herrschaftsideologie vor allem ab dem 2. Jh. n. Chr. als verbreitetes Denken greifen. Dies könnte mit Sidebottom 2006, 144 f. auf die Dominanz augusteischer Herrschaftsrepräsentation bis zum Tode Neros zurückzuführen sein. 9 Vgl. Hose / Fuhrer 2014, 17 f. sowie die weiteren Beiträge in Bönisch-Meyer et al. (Hgg.) 2014; zur postumen ‚Umkodierung‘ (oder ‚Dekomposition‘) kaiserlicher Repräsentationsnarrative von verschiedenen Seiten s. Cordes 2014 und bes. 2017 (Nero und Domitian); Schulz 2014; Bönisch-Meyer et al. 2014, 445–448 (Nero und Domitian); Kragelund 2016, 129–360, v. a. 297–360 (Nero). Allgemein zur Bedeutung des Herrscherwechsels für die Selbstdarstellung römischer Kaiser Kuhoff 1993, 53–138, v. a. 53–57, 117–138. 10 Zu den Medien und Akteuren dieser Herrschaftsrepräsentation s. Kuhoff 1993, 18 f.; 28–52 sowie die Beiträge in Bönisch-Meyer et al. (Hgg.) 2014; zum Akzeptanzsystem s. Flaig 1992, 174–207; 2014. Exemplarisch zu Nero im Laufe des ersten Vierkaiserjahres 69 n. Chr.: Kuhoff 1993, 23; Kragelund 2016, 314–335. Dass dieser Prozess selbst Konfliktpotential barg, insbesondere in Phasen rascher Regierungswechsel, belegt unter anderem der Fall des Curiatius Maternus; vgl. Tac. dial. 2,1; 3,2–4; 10,4–11,4;

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tät eines topischen Katalogs von Herrschereigenschaften und politischen Verhaltensweisen, die dem Ideal eines Kaisers (optimus princeps) entsprächen. 11 Die normative Wirksamkeit der kaiserlichen Symbolpolitik lässt sich an einem ihrer Elemente illustrieren: der Wiederherstellung einer Interesseneinheit von Kaiserhaus und Senat. So versprach etwa Trajan im Zuge seines Herrschaftsantritts, dass er sich – wie sein Vorgänger Nerva, aber anders als dessen Vorgänger Domitian – jedweder Gewalt gegen römische Senatoren enthalten werde. 12 Dieses Versprechen, das die Erinnerung an die Unterdrückung des Senats durch Domitian und andere ‚schlechte‘ Kaiser indirekt aufrechterhielt, wurde von Trajans Nachfolgern Hadrian, (vermutlich auch) Antoninus Pius und Marcus Aurelius 13 im Zuge von deren Herrschaftsantritt jeweils wiederholt und war insofern zum festen Bestandteil der Akzeptanzkommunikation geworden. Tatsächlich wurde schon Trajans Nachfolger Hadrian in der historiographischen Überlieferung an diesem Versprechen konkret gemessen – und der Umstand, dass er diesem Versprechen (vielleicht noch bevor er es überhaupt gab) nicht gerecht wurde, gehört zum Kernbestand der negativen Züge dieses Kaisers in der senatorischen Geschichtsschreibung. 14 Römische Kaiser wurden in diesem Sinne an den normativen Implikationen ihrer Symbolpolitik und Repräsentation gemessen, 15 und dies betrifft (mit besonders langfristiger Wirkung) insbesondere ihre Bewertung in der literarischen Überlieferung, die nicht selten eine senatsnahe Perspektive widerspiegelt und deshalb das Verhältnis der principes zum Senat in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. 16 Die frühen Formulie-

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Cass. Dio 67,12,5 (= Xiphil. p. 222; Zon. 11,19); Bartsch 1994, 98–125; Pernot 2008, 198; Kragelund 2016, 103–126. Einen Katalog akzeptabler Regierungsverhältnisse und -führung, der zugleich implizit abzulehnendes Herrscherverhalten andeutet, bietet Tac. ann. 4,6,1–5 (zum frühen Prinzipat des Tiberius); vgl. den Hinweis auf die Notwendigkeit der Vermittlung von Wertmaßstäben zur Beurteilung kaiserlichen Verhaltens in Tac. ann. 4,33,1–3. Nerva: Cass. Dio 68,2,3 (= Xiphil. p. 227); Trajan: Cass. Dio 68,5,1 f. (= Xiphil. p. 229); Eutr. 8,4. Antoninus Pius: SHA Pius 6,3–5; Marcus Aurelius: SHA Aur. 10,6; 25,5 f.; 26,13; 29,4. Cass. Dio 69,2,4 (= Exc. Val. 293, p. 713; Suid. s. v. Α ᾿ δριανός); 69,2,5 f. (= Xiphil. p. 243,5–15); 69,23,2 (= Xiphil. p. 255); 70,1,1–3 (= Xiphil. p. 256); SHA Hadr. 7,1– 4; vgl. auch Aur. Vict. Caes. 14,11; epit. Caes. 14,9. Vgl. Cordes 2014; 2017 (die auch auf die Aufmerksamkeit kaiserlicher Panegyriker für das Problem der Ambivalenz von rhetorischen Überhöhungen verweist); für ‚Umkodierungen‘ boten sich daher manche Repräsentationsformen, namentlich spektakuläre Auftritte von Kaisern in der stadtrömischen Öffentlichkeit (sc. ‚Theatralität‘) besonders an; s. dazu Flaig 1992, 86–93; 2014, v. a. 275; Bartsch 1994, 1–97; MeyerZwiffelhoffer 2006, 201–209; Priwitzer 2009, 105–108; Heinemann 2014, 217–221; 249 f.; Schulz 2014, 408–413; Kragelund 2016, 90–94; Müller 2017. Vgl. Kuhoff 1993, 46–52; Hose 2011, 113; Schulz 2014.

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rungen einer topischen Idealfigur des optimus princeps belegen dabei, in welch engem Zusammenhang das optimus princeps-Ideal und die Dämonisierung der berühmten ‚schlechten‘ Kaiser Caligula, Nero und Domitian stehen. So erklärt Plinius im Proömium der Lobrede, die er als Konsul des Jahres 100 n. Chr. auf Trajan hielt, die er kurz darauf in literarischer Überarbeitung ‚veröffentlichte‘ und der er ausdrücklich eine präskriptive Absicht für die Regierungsführung späterer Kaiser zuschrieb, 17 dass sich der ‚beste‘ Kaiser in jeder Hinsicht von Domitian unterscheide: (2) Deshalb sollen jene Worte verschwinden und weichen, die nur die Furcht zum Ausdruck brachte. Wir wollen nicht reden wie zuvor – denn wir leiden auch nicht wie zuvor; und wir wollen über den Princeps auch nicht dasselbe öffentlich vortragen – denn wir sagen ja auch im Geheimen nicht mehr dasselbe wie früher. (3) An unserer Rede soll man die Verschiedenheit der Zeiten unterscheiden, und an der Gattung der Danksagung soll man erkennen, gegenüber wem sie wann erfolgte. Wir wollen an keiner Stelle wie einem Gotte, an keiner wie einer himmlischen Macht schmeicheln – denn nicht von einem Tyrannen, sondern von einem Bürger, nicht von einem Herrn, sondern von einem Vater sprechen wir. (4) Für einen aus unserer Mitte nämlich – und gerade dadurch zeichnet er sich umso mehr aus und ragt hervor: dass er sich für einen aus unserer Mitte hält. Und er ist sich bewusst, dass er nicht weniger selbst Mensch ist, als er Menschen vorangestellt ist. [. . . ] Nun, was sonst wäre denn so bürgerlich, so senatorisch, wie jener ihm von uns zugefügte Beiname ‚Der Beste‘ – ein Name, den die Anmaßung früherer Principes zu seinem persönlichen Gut und Eigentum gemacht hat? 18

Der Passus nimmt zum einen eindeutig auf Domitian Bezug, der sich angeblich in seiner Rechtskorrespondenz als dominus et deus („Herr und Gott“) habe ansprechen lassen. 19 Dieser entrückten Selbstüberhöhung 17 Plin. epist. 3,18,1–3; Kuhoff 1993, 21; 119 f.; Seelentag 2004, 30–34; 217–247; Nauta 2014, 28 f.; allgemein zu solcher Funktion der Panegyrik Hose / Fuhrer 2014, 14 f. 18 Plin. paneg. 2,2–7: (2) Quare abeant ac recedant uoces illae quas metus exprimebat. Nihil quale ante dicamus, nihil enim quale antea patiamur; nec eadem de principe palam quae prius praedicemus, neque enim eadem secreto quae prius loquimur. (3) Discernatur orationibus nostris diuersitas temporum, et ex ipso genere gratiarum agendarum intelligatur, cui quando sint actae. Nusquam ut deo, nusquam ut numini blandiamur: non enim de tyranno, sed de cive, non de domino, sed de parente loquimur. (4) Unum ille se ex nobis – et hoc magis excellit atque eminet, quod unum ex nobis putat, nec minus hominem se, quam hominibus praeesse meminit [. . . ]. (7) [. . . ] Iam quid tam ciuile tam senatorium, quam illud additum a nobis Optimi cognomen? Quod peculiare huius et proprium adrogantia priorum principum fecit. [Übersetzungen antiker Texte stammen jeweils vom Verf.]. 19 Bartsch 1994, 149–152; Cordes 2017, 135–171 v. a. 158 f.; vgl. Suet. Dom. 13,1 f. Die Parallelstelle bei Stat. silv. 1,6,84 stellt dazu keinen Widerspruch dar, da hier lediglich davon die Rede ist, dass Domitian die öffentliche Akklamation als dominus durch das im Amphitheater versammelte Volk verboten habe (Ähnliches berichtet Tac. ann. 2,87 von Tiberius) – was sehr wohl mit Suetons Hinweis, er habe es „gerne gehört“ (libenter audiit) vereinbar ist.

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des ‚schlechten‘ Vorgängers steht die Stellung des idealisierten Trajan als primus inter pares gegenüber, als eines Regenten, der sich als verantwortlicher Bürger in die Reihen des Senats einfüge. 20 Zum anderen zeichnet sich die Kommunikation zwischen Kaiser und Senat (wie der Panegyricus sie imaginiert) im Falle Domitians durch Zwang, Furcht und infolgedessen durch schmeichlerische Falschheit aus, während unter Trajan nun ein ehrliches Reden wieder möglich sei, daher: keine Überhöhung zum Gott, keine Adulation! 21 Bezeichnend für den kulturellen Hintergrund, aus dem dieses Konstrukt des ‚schlechten Kaisers‘ (Selbstüberhöhung / Zwang und Furcht als Machtbasis/von Schmeichelei und Unehrlichkeit geprägte Kommunikation) und sein Gegenstück des Idealkaisers (Regent auf Augenhöhe / freiwillige Akzeptanz als Machtbasis/aufrichtige Kommunikation) geschöpft wird, ist die Bezeichnung Domitians als tyrannus. 22 Plinius greift damit ganz bewusst einen griechischen Begriff auf, der bei seinen Zuhörern, also dem Kaiser und dem versammelten Senat, ein wohlbekanntes Vorwissen, eben ein in dieser Gesellschaftsschicht allgemein verbreitetes Bildungsund Kulturgut ansprechen konnte, in dem es für jene Form der Gewaltherrschaft, die Plinius Domitian attestiert, eine etablierte Begrifflichkeit, jene der Tyrannis, gab. Durch die Verwendung dieses Begriffs ordnet Plinius den pessimus princeps Domitian in die Vorstellungswelt der politischen Philosophie Griechenlands ein, mit der Angehörige der römischen Elite schon seit der späten Republik in aller Regel wohlvertraut waren. Mehr noch: Plinius stellt fest, dass man in Rom für die Klassifizierung der principes im Sinne seiner Kategorien einen allgemein bekannten Maßstab besitze. 23 Wenn sich aber durch einen solchen Schritt die Regierungspraxis römischer Kaiser in ein etabliertes politisches Wertesystem einordnen lässt, das mit griechischen Termini beschrieben werden kann, so werden damit implizit die Wertekategorien der griechischen Begriffe und der römischen Politik miteinander gleichgesetzt. 24 Es ist bemerkenswert, wie weitgehend die stereotypen Darstellungen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Kaiser 20 Vgl. Plin. paneg. 62,4 f.; Kuhoff 1993, 221; Seelentag 2004, 224–247. Zum Bild des bonus pater s. Christ 1978, 453–456; Nauta 2014, 28 f.; Zur Verwendung des Terminus tyrannus s. Priwitzer 2009, 108–110. 21 Vgl. Bartsch 1994, 148–187; Bennet 1997, 63–66; Ronning 2007, 45–50; 118–126; Cordes 2014, 360 f. 22 Vgl. auch Plin. epist. 4,11,5 f.; Iuv. 4,86–88; Whitmarsh 2010, 207 mit Anm. 101; Burgersdijk 2013, 291–294; Nauta 2014, 27. 23 Plin. paneg. 4,1; Nauta 2014, 30–33; zur Relevanz griechischer paideia für die Identität einer reichsweiten römischen Elitenkultur s. Sidebottom 2006, 131 f.; Whitmarsh 2010, 96–108; 116–129. 24 Dieser Prozess setzte in der Historiographie schon in flavischer Zeit ein und klassifizierte besonders die Kaiser als tyrannische Regenten, die ein gewaltsames und

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in der literarischen Überlieferung den zentralen Elementen der griechischen Tyrannentopik entsprechen. 25 Zwar bedeutet dies nicht, dass die von Tacitus, Sueton, Cassius Dio und anderen berichteten Ereignisse am römischen Kaiserhof jeglicher historischen Grundlage entbehrten – bloße Erfindungen wären auch einem antiken Publikum wohl kaum zumutbar gewesen. Allerdings ist allzu häufig gerade in den besonders markanten Episoden mit einer gezielten Bearbeitung des Materials zu rechnen, mit einer (bewussten oder unbewussten) interpretatio Graeca, die die Taten der ‚schlechten‘ Kaiser mit berühmten Freveln griechischer Tyrannen assoziierte – so etwa im heutzutage vor allem mit Nero verbundenen Bild des Mordes an Frau und (ungeborenem) Kind durch einen Tritt in den schwangeren Leib, das tatsächlich auf einer seit der archaischen Zeit bekannten Wandererzählung über tyrannisches Verhalten beruht. 26 Ähnliche Wandermotive finden sich im historiographischen und biographischen Bild der ‚schlechten‘ Kaiser allerorten. 27 Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Etablierung solcher Bilder dürfte die Prominenz griechischer Tyrannenbilder im römischen Drama gewesen sein, dessen kulturelle Prägekraft zuletzt zurecht hervorgehoben worden ist. 28 Selbst das schon sehr früh belegte Caligula-Zitat oderint dum metuant geht vielleicht auf eine solche Tyrannenerzählung zurück. 29 Das Vorhandensein

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insofern besonders offensiv zu rechtfertigendes Ende gefunden hatten, vgl. Kuhoff 1993, 23; 130–138; Arand 2002, v. a. 33–55; 220–232; Priwitzer 2009, 42; 158; Nauta 2014, 26 f.; s. o. Anm. 10 zu Vorläufern in neronischer Zeit; vgl. Luraghi 2000 zu Analogien in der griechischen Welt. Nauta 2014, 33 f. deutet die Prägung lateinischer Begriffsäquivalente zur griechischen Topik bei Plinius, Tacitus und Martial (bonus princeps – βασιλεύς, malus princeps – τύραννος) im Sinne ausdrücklicher Übertragung griechischer Kategorien auf römische Politik; vgl. Girardet 2005, 167–176; Priwitzer 2009, 110. Nero: Tac. ann. 16,6,1; Suet. Nero 35,3; Cass. Dio 62,28,1–3 (= Xiphil. p. 172,1–15; Exc. Val. 250a p. 690); Vorgängerfiguren: Hdt. 3,32,3 f.; 3,50,1–3; Diog. Laert. 1,95; s. dazu Mayer 1982; Ameling 1986; Priwitzer 2009, 112 f.; Kugelmeier 2018. Etwa im Zuge ominöser Träume und ihrer falschen, von Furcht getrieben Deutung: vgl. Weber 2001, 98 f. zu Suet. Nero 46,1; Dom. 14,1; 15,1; Cass. Dio 67,16,1 (= Xiphil. 225,4–226,10 R. St.). Nauta 2014, 35 f. betont dagegen, Sueton bediene sich einer feineren Werteskala, die sich nicht in ein dichotomes Raster einordnen lasse; so zeige sich Suetons Nero in den frühen Regierungsjahren durchaus als positivere Figur. Indes greift gerade dieses Bild auf griechische Vorbilder zurück; denn die sukzessive Korrumpierung des Menschen durch die Macht wird schon bei Platon ausdrücklich mit dem Tyrannen in Verbindung gebracht (s. u. S. 169–173). Kragelund 2016, dessen Bemerkungen zur Prägekraft der praetexta sich durchaus auch auf die römischen Adaptionen griechisch-mythologischer Tragödien übertragen lassen. Sen. ira 1,20,4 f. attestiert Caligula dabei einen bewussten Rückgriff auf die Tragödie Atreus des Accius, die vermutlich auf einer griechischen Vorlage basierte; vgl. Suet. Cal. 30,1; Tib. 59. Zu tyrannentopischen Aspekten der Tragödien des Accius s. Kragelund 2016, 46–57; vgl. Priwitzer 2009, 109 Anm. 120.

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solcher frei übertragbarer literarischer Versatzstücke belegt, in welchem Maße römische Literaten von guter Kenntnis griechischer Literatur in ihrem Publikum ausgehen konnten. Mindestens ebenso großen Einfluss auf römisches Denken besaß indes die Vereinnahmung und Fortentwicklung dieser Topik durch die griechische Philosophie. Dies ist freilich schon deshalb nicht überraschend, weil die Literatur – und mit ihr die politische Philosophie – der Griechen ohnehin längst Einfluss auf die elitäre Kultur Roms gewonnen hatte – dies zu verdeutlichen genügt der Hinweis auf Ciceros philosophisches Schriftwerk, das Philosophie und Rhetorik der Griechen zu romanisieren beansprucht. 30 Überdies gewann die griechische Hochkultur zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. mit dem Aufkommen der sogenannten ‚Zweiten Sophistik‘ nochmals neues Gewicht, als im Sinne einer kulturellen Rückbesinnung auf die ‚klassische‘ Epoche insbesondere auch das politische Denken der platonischen und aristotelischen Philosophie wieder aufgegriffen und unter den Vorzeichen des kaiserzeitlichen Imperium Romanum aktualisiert wurde. Politisch engagierte Intellektuelle wie P. Aelius Aristeides oder Dion von Prusa – vielleicht ein Vorfahr des Historiographen L. Cassius Dio Cocceianus – standen dabei nicht nur durch etwaige lokalpolitische Tätigkeit, sondern meist auch durch persönliche Verbindungen zu Personen aus Senat und Kaiserhaus in regem Austausch mit der politischen Reichselite, 31 und ihre erhaltenen Schriften – etwa die berühmte Romrede des P. Aelius Aristeides – bezeugen, dass sie sich auch unmittelbar gegenüber dem Kaiserhaus politisch äußerten. 32

30 Zu Ciceros Anwendung griechischer Tyrannentopik Girardet 2005, 167–176, bes. zu den philosophischen Schriften Lefèvre 2008, 225–237; vgl. Büchner 1952; Mandt 1974, 67 f.; Wassmann 1996, v. a. 160–216; 269–287 sowie zu den Reden: Freund 2013. Die früheste Übertragung griechischer Topik auf römische Verhältnisse findet sich wohl bei Philodemos von Gadara, s. Sidebottom 2006, 127. Die Kontinuität der entsprechenden politischen Wertmaßstäbe zwischen klassischer Zeit und Spätantike betonte schon Alföldi 1958; jüngst v. a. Whitmarsh 2010, 244–246. Damit soll keineswegs behauptet sein, dass griechische politische Philosophie – gleich welcher Provenienz – als utopische Moralphilosophie die realen Entscheidungen des Senats oder des Kaiserhauses in Rom konkret und messbar beeinflusst hätte. Als kulturelles Wissen war sie gleichwohl im politischen Diskurs stets aktivierbar. Politisches Handeln und das Reden über Politik (samt der Begründung des Handelns) waren selbstredend auch in antiken politischen Kulturen nicht deckungsgleich, und gerade der Moraldiskurs konnte für die Identität politischer Akteure auch dann Bedeutung haben, wenn seine Leitwerte sich in der politischen Handlungsrealität nicht oder nicht vollständig widerspiegelten. 31 Dazu Salmeri 2000, 53–63; 68 f.; 89–92; Seelentag 2004, 88–92. 32 Ael. Arist. or. 14; vgl. dazu Pernot 2008, 177; 188–197.

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3. Kaiser und Tyrann bei Dion von Prusa Etwa zeitgleich mit Plinius wirkte der kynisch und stoisch beeinflusste Dion von Prusa, der von Domitian aus Rom verbannt worden war und sich nach dessen Tod unter den Kaisern Nerva und Trajan ausgiebig zu Fragen der politischen Moral äußerte. 33 Seine Exilierung durch einen ‚Tyrannen‘ (Domitian) zeichnet Dion dabei als philosophisches Konversionserlebnis, das ihn in die Position versetzt habe, fortan ohne Rücksicht auf eigene Interessen als kaiserlicher Ratgeber aufzutreten. 34 Unter den 79 erhaltenen Schriften Dions befassen sich gleich sechs in toto mit der Kontrastierung königlicher und tyrannischer Herrschaft, und von diesen Schriften sind mehrere direkt an Trajan adressiert (wobei sich nicht klären lässt, ob gerade diese Schriften tatsächlich im Umfeld des Kaisers rezipiert wurden). 35 In Dions Schriften zeigt sich auf besonders deutliche Weise, wie sich zu Beginn des 2. Jahrhunderts Begriffe und Moralvorstellungen der griechischen Philosophie in die Konzeption vom ‚guten‘ und vom ‚schlechten‘ römischen Kaiser eingeschrieben haben, die Dion seinen kaiserlichen Adressaten (und seinem sekundären Lesepublikum) durchaus offensiv als ‚Rezivilisierungsprogramm‘ einer verkommenen politischen Kultur präsentiert. 36 Die wesentlichen Elemente dieses Tyrannenbildes und seiner Kontrastierung mit dem Kaiserideal lassen sich wie folgt zusammenfassen: Für Dion repräsentieren die Begriffe ‚König‘ (βασιλεύς) und ‚Tyrann‘ (τύραννος) zwei einander gegensätzliche Ausprägungen der monarchischen Herrschaftskonstellation, 37 die sich im Wortsinne vor allem auf den 33 Bartsch 1994, 173 f.; Bennet 1997, 66–71; Salmeri 2000, 63 f.; Nauta 2014, 37; Pernot 2016, 261. Gegen die Annahme direkter gegenseitiger Beeinflussung zwischen Dion und Plinius zurecht Moles 1990, 301–303; Gangloff 2006, 256 f. 34 Desideri 1978, 201 f.; 283–375; 382–387; Moles 1978, 93–100; 1990, 306; 321–323; Krause 2003, 44–59; Whitmarsh 2010, 133–180; v. a. 156–164 („exile makes the philosopher“, 159; Dion als „true Roman Socrates“, 164); Asirvatham 2017, 271 f.; HunterR 2017. 35 Dion Chrys. or. 1–4 (Über das Königtum I–IV), or. 6 (Diogenes oder über die Tyrannis), or. 62 (Über Königtum und Tyrannis). Optimistisch zu Dions Zugang zum Kaiserhof: Fein 1994, 231–236; vorsichtiger Moles 1990, 303–305; vgl. aber zur Differenzierung von Adressat und externem Publikum Krause 2003, 123–128; Sidebottom 2006, 151 f.; Whitmarsh 2010, 187 f.; Pernot 2016, 267–272; vgl. zu Plin. paneg. Seelentag 2004, 247–258. 36 Nach Sidebottom 2006, 139–143 und Whitmarsh 2010, 182–216 kommt Dion dabei eine Schlüsselrolle zu. Vgl. zur Einordnung in die zeitgenössische Tyrannentopik Priwitzer 2009, 110. Zu Dions Selbstdarstellung als kritischer Ratgeber und Lehrer der Kaiser s. Desideri 1978, 283–287; Moles 1990; Salmeri 2000, 88 f.; Gangloff 2006, 272 f.; 314–317; Asirvatham 2017, 269–273. 37 Moles 1990 (v. a. 326–331); Bennet 1997, 69; Milazzo 2007, 78. Dion Chrys. or. 37,4–7 betont daher, im Sinne einer terminologischen Neubestimmung beider Begriffe, dass nicht alle als ‚Tyrannen‘ bekannten älteren Monarchen zurecht als solche bezeichnet

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Alleinherrscher im Staat, in übertragenem Sinne aber auch auf außenpolitische Machtverhältnisse anwenden lassen. 38 Der eigentliche Kerngegensatz besteht dabei in der geistig-moralischen Konstitution des Monarchen, die Ursache aller weiteren Gegensätze in der Regierungspraxis von (‚gutem‘) Königtum und (‚schlechter‘) Tyrannis 39 und Grund dafür ist, dass jedes Königtum leicht in eine Tyrannis ausarten könne. 40 Diesen charakterlichen Gegensatz fasst Dion in der Schrift Charidemos im Bild zweier Weinschenke 41 zusammen: Denn sie werden nicht vom Wein betrunken, [. . . ] sondern von der Lust. Denn diese reichen die Götter beim Gemeinschaftsmahl als Getränk, wie um eines jeden Charakter zu überprüfen. Es stehen aber zwei Weinschenke dabei, ein männlicher und ein weiblicher. Die beiden heißen: der eine Verstand, der andere Unbeherrschtheit. Vernünftige Leute nun haben den männlichen zum Weinschenk, und nur von ihm nehmen sie selten (37) und in kleinen Bechern und zuverlässig gemischt. Denn es steht da ein einziger Mischkrug, der der beherrschten Vernunft, in der Mitte aber stehen viele und im Geschmack sind sie wie von vielen Weinen verschieden – diese sind silbern und golden, und dazu tragen sie außen ringsum Lebewesen und Spiralen und Ziselierungen. Der Krug der beherrschten Vernunft dagegen ist ganz schmucklos und nicht groß, und wer ihn sieht, wird ihn als kupfern einschätzen. Von ihm muss man reichlich nehmen und nur eine Winzigkeit hinzumischen (38) von der Lust, und dann trinken: Wem der Verstand Weinschenk ist, dem wird er den Wein so einschenken, furchtsam und ganz aufmerksam, dass er nicht durch einen Fehler in der Mischung seine Kundschaft ins Wanken und zu Fall bringe. Die Unbeherrschtheit dagegen schenkt den meisten unvermischte Lust ein, und mischt nicht einmal eine Winzigkeit beherrschte Vernunft bei, den anderen

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würden (damit nimmt er ‚Tyrannen‘ wie Periander und Pittakos aus der Begrifflichkeit aus, die zugleich auch als Vertreter der Sieben Weisen und damit als ProtoPhilosophen galten): Seine Distinktion beider Begriffe erfolgt im Sinne moralischer Wertung. Dion bezeugt insofern eine Bedeutungsverschiebung (die er noch erklären zu müssen glaubt), in deren Zuge einstmals wertunabhängige und teilweise synonym verwendete Begriffe im Sinne der Kontrastierung neu definiert wurden. Erst infolge dieser begrifflichen Schärfung kommt es zur ausgeprägten negativen Konnotation, die der Begriff des ‚Tyrannen‘ noch heute trägt; vgl. Barceló 1993, 125–130. Dion Chrys. or. 37,16–19, wo in Anlehnung an die schon bei Thuc. 1,68,1–71,7 (mit der athenischen Erwiderung in 1,75,1–78,4) und 1,120,1–124,3 belegte korinthische Kritik am athenischen Regime im Delisch-Attischen Seebund explizit von der Tyrannis die Rede ist, die eine Polis über andere ausüben könne. Dion Chrys. or. 3,45–59. Dies ist vor allem im Bild des Herakles in Dion Chrys. or. 1 gespiegelt; s. dazu Desideri 1978, 310–316; Moles 1990, 323–331; Saïd 2000; 166 f.; Gangloff 2006, 257–260; vgl. 314–317; Sidebottom 2006, 121; 155. Das Bild entnimmt er der identischen Metapher in Platons Behandlung der metabole¯ politeio¯ n in Plat. rep. 562c9–d4. Vgl. zum Charidemos und seiner platonischen Ausrichtung Moles 2000; Trapp 2000, 223–236. Zu Platons Tyrannenbild s. u. Abschnitt 4.2.

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überhaupt nur ganz wenig des Gewissens wegen. Das aber verblasst sofort und scheint nirgends mehr hindurch. Die Trinker aber lassen nichts aus, sondern drängen sie und heißen sie schneller zu ihnen kommen, und ein jeder will zuerst zugreifen. Sie aber eilt und läuft atemlos und schweißgenässt umher. (39) Ihre Gäste tanzen und wälzen sich vornüberfallend in der Mitte und schreien, wie es eben die vom Wein Betrunkenen tun – außer, dass diese es nur kurz und maßvoll tun; denn es genügt, nur ein wenig einzuschlafen, und schon geht es ihnen besser, da ihr Rausch leicht ist. – Die aber, denen von der Lust wie von einem stärkeren Trank die Sinne geraubt sind, tun das besessen ihr ganzes Leben lang, und sie können nicht befreit werden, solange sie leben, sondern nur indem sie sterben. Denn dieser Schlaf ist für die, die derart berauscht sind, der einzige, der nützt. 42

Dion spielt hier mit der klanglichen Nähe der Wortfelder von κράτος (kratos; Kraft, Beherrschung) und κρᾶσις (krasis; Mischung des Weines), um den Gegensatz von verstandesgeleiteter Beherrschtheit und unverständiger Unbeherrschtheit im Bild von kontrolliertem und unkontrolliertem Weingenuss zu illustrieren. Demzufolge verweigern sich verstandesgeleitete Menschen dem sinnlichen Genuss der ἡδονή (he¯done¯; Lust, Trieb) keineswegs vollständig, aber sie sind in der Lage, dabei die Vernunft und mithin die Kontrolle über diesen Konsum zu bewahren. Im Gegensatz dazu werden die Unbeherrschten ganz und gar vom rauschhaften Einfluss ihrer Triebe mitgerissen und sind ihren Wirkungen hilflos ausgeliefert. Ein Entrinnen aus diesem Rausch gibt es nur im Tode. 42 Dion Chrys. or. 30,36–39: µεθύσκεσθαι δὲ οὐκ ἀπὸ οἴνου [. . . ] ἀλλ᾽ ὑφ᾽ ἡδονῆς. τοῦτο γὰρ ἐν τῇ κοινῇ ἑστιάσει τὸ πόµα παρέχειν τοὺς θεοὺς, ὥστε ἐξελέγχεσθαι τὸν ἑκάστου τρόπον. δύο δὲ οἰνοχόους ἐφεστάναι, τὸν µὲν ἄρρενα, τὴν δὲ θήλειαν· ὀνοµάζεσθαι δὲ αὐτοῖν τὸν µὲν Νοῦν, τὴν δὲ Α ᾿ κράτειαν. τοὺς µὲν οὖν φρονίµους τὸν ἄρρενα οἰνοχόον ἔχειν, καὶ παρ᾽ ἐκείνου µόνου τούτους δέχεσθαι σπανίως τε καὶ (37) σµικραῖς κύλιξι καὶ πάνυ ἀσφαλῶς κεκραµένον. κεῖσθαι γὰρ ἕνα κρατῆρα, τὸν γε τῆς Σωφροσύνης, ἑστάναι γὰρ πολλοὺς ἐν τῷ µέσῳ καὶ διαφέροντας τῇ γεύσει ὥσπερ οἴνων πολλῶν· εἶναι δὲ αὐτοὺς ἀργυροῦς τε καὶ χρυσοῦς· ἔτι καὶ ζῷα ἔξωθεν κύκλῳ ἔχειν καὶ ἕλικάς τινας καὶ τορείας. τὸν δὲ τῆς Σωφροσύνης λεῖόν τε εἶναι καὶ οὐ µέγαν καὶ ὡς ἂν εἰκάσαι τις ὁρῶν χαλκοῦν. δεῖν οὖν ἐκεῖθεν πολλαπλάσιον λαµβάνοντας καὶ ξυνκεραννύντας σµικρόν (38) τι τῆς ἡδονῆς πίνειν. οἷς µὲν οὖν ἐστιν ὁ Νοῦς οἰνοχόος, οὕτως οἰνοχοεῖν, φοβούµενον καὶ προσέχοντα µή πῃ τῆς κράσεως ἁµαρτὼν σφήλῃ τὸν δαιτυµόνα καὶ καταβάλῃ. τὴν δὲ Α ᾿ κράτειαν τοῖς µὲν πλείστοις ἄκρατον τὴν ἡδονὴν ἐγχεῖν, µηδὲ µικρὸν σωφοσύνης παραµιγνύουσαν, τοῖς δὲ ὀλίγον τι παντελῶς λόγου ἕνεκεν. τοῦτο δὲ εὐθὺς ἐξίτηλον γίγνεται καὶ µηδαµοῦ φαίνεσθαι. τοὺς δὲ πίνοντας µὴ διαλείπειν, ἀλλ᾽ ἐπισπέρχειν τε αὐτὴν καὶ κελεύειν θᾶττον ἰέναι παρ᾽ αὐτοὺς, καὶ προαρπάζειν ἕκαστον. τὴν δὲ ἐπείγεσθαι καὶ περιτρέχειν ἀσθµαίνουσαν καὶ ῥεοµένην ἱδρῶτι. (39) τοὺς µὲν οὖν ἐκείνης ἑστιάτορας ὀρχεῖσθαί τε καὶ κυλίεσθαι προπίπτοντας ἐν τῷ µέσῳ καὶ βοᾶν, οἷα δὴ ποιοῦσιν οἱ µεθυσθέντες ὑπὸ οἴνου· πλὴν οὗτοι µὲν ἐπ᾽ ὀλίγον καὶ µετρίως· µικρὸν γὰρ ἐξαρκεῖ καταδαρθεῖν, ἔπειτα ἄµεινον ἑαυτῶν ἔχουσιν, ἅτε ἐλαφρᾶς οὔσης τῆς µεσθῆς· οἱ δὲ ὑπὸ τῆς ἡδονῆς καρωθέντες ὡς ἂν ὑπὸ ἰσχυροτέρου πόµατος κατεχόµενοι δι᾽ ὅλου τοῦ βίου ταῦτα ποιοῦσι, καὶ οὐκ ἔστιν ἀπαλλαγῆναι ζῶσιν, εἰ µή γε ἀποθανοῦσιν. οὗτος γὰρ ὕπνος ἐστὶ τῶν οὕτως µεθυσκοµένων καὶ µόνος αὐτοὺς ὠφελεῖ. (Text: von Arnim 1893).

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Es ist kein Zufall, dass in diesem Bild der Verstand als männliche, die Unbeherrschtheit dagegen als weibliche Gottheit auftritt. 43 In der griechischen (und der griechisch geprägten elitären römischen) Kultur werden Geschlechter und Sexualität in den Begriffen von (männlicher) Aktivität und (weiblicher) Passivität verhaltenstypologisch konzeptualisiert. Dies bezieht sich nicht allein (aber auch) auf sexuelle Praktiken (was zur Vorstellung führt, ein passiver männlicher Geschlechtspartner verhalte sich ‚weiblich‘ – muliebra pati), sondern auch auf nahezu alle weiteren Tätigkeiten, auf die sich die Vorstellung von Aktivität, Kontrolle, Herrschaft bzw. Passivität, Kontrollverlust, Beherrschtwerden übertragen lässt. 44 In diesem Sinne legen die vernünftigen Trinker bei Dion ein männliches Verhalten an den Tag, die hemmungslosen dagegen ein weibliches. Was hat das so gezeichnete Bild von mannhafter, nüchterner Selbstbeherrschung und weiblicher, berauschter Triebhaftigkeit mit der Topik vom ‚tyrannischen‘, vom ‚schlechten‘ Kaiser zu tun? Die Antwort gibt Dion an zahlreichen Stellen seines Werkes. Grundlegend ist der Gedanke, dass nur derjenige, der über vernünftige Zurückhaltung (so¯ phrosyne¯) verfüge, also in der Lage sei, sich selbst (gerade auch in seiner Körperlichkeit) zu beherrschen (wozu es der Selbsterkenntnis bedürfe), 45 auch über andere zu herrschen vermöge; Selbstbeherrschung sei daher für niemanden in höherem Maße erforderlich als für einen Mann in monarchischer Stellung – ein in der griechischen Philosophie seit archaischer Zeit verankerter Gedanke. 46 Hinter dem Bild der nüchternen Selbstbeherrschung und des rauschhaften Triebs steht mithin nichts anderes als eine oppositionale Konzeption des königlichen und des tyrannischen Charakters. 47 Eben dies führt Dion in der Schrift Königtum und Tyrannis (or. 62) aus: 43 Vgl. auch Dion Chrys. or. 4,101–115; 12,36; allgemein zu Stereotypen des Weiblichen bei Dion Hawley 2000, bes. 12 f.; 133; 134–139 (zum Zusammenhang mit der Tyrannis). 44 E.g. Sen. benef. 7,9,1–5; Tac. ann. 3,33,3 f.; 6,25,2; Cass. Dio 62,8,1–6 (= Xiphil. p. 150 f.; Exc. Val. 238, p. 682); vgl. Santoro l’Hoir 1994; Hawley 2000, 126 f.; 133– 138; Zakravsky 2000, 73; Priwitzer 2009, 4 f.; 137–140; Charles / Anagnostou-Laoutides 2012; Schulz 2014, 413–415. Grundlegend zur Konstruktion des Männlichen / Weiblichen Walters 1997 („men as impenetrable penetrators“, 30); v. a. Williams 2010, 125–153; 160–181; Carlà-Uhink 2017, 12–17. 45 Dion Chrys. or. 4,57–59. 46 Dion Chrys. or. 3,58 f., 62,3 f.; zu griechischen Vorlagen s. u. Abschnitt 4; vgl. Tac. ann. 11,3,2, wo Trug und Schamlosigkeit als weibliche Eigenschaften noch negativer bewertet werden als andere tyrannische Eigenschaften (calliditas Tiberii, impetus C. Caesaris), sowie Tac. ann. 13,45,1–4, wo Sabina Poppaea zum Inbegriff weiblicher Sinnlichkeit stilisiert und ihr schädlicher Einfluss auf die res publica hervorgehoben wird; in Form von Spruchlehre findet sich dieser Gedanke sogar bei einem Kaiser: M. Aur. 2,10; 4,28; 9,16. 47 Desideri 1978, 294. In diesem Sinne kann ein besonders tyrannischer weiblicher Charakter auch im Bilde religiöser Orgien dargestellt werden, die gemeinhin (im

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[. . . ] In diesem Sinne ist die Denkungsart des Vernünftigen auch geeignet, alle Menschen zu regieren, die des Unvernünftigen dagegen ist nicht einmal fähig, einen einzigen Leib, den eigenen, oder einen einzigen Haushalt zu schützen. 48 Denn für die Mehrheit der Leute in Herrscherposition gilt: Weil es ihnen möglich ist, alles zu bekommen, gieren sie nach allem; weil an ihnen liegt, was als recht zu gelten hat, sind sie eben deswegen ungerecht; weil sie die Gesetze nicht fürchten, meinen sie, es gäbe sie gar nicht; weil sie nicht zu anstrengender Arbeit gezwungen sind, hören sie nie mit dem Prassen auf; weil sich keiner dagegen wehrt, Übles zu leiden, hören sie nie damit auf, es zu tun; weil sie keine Lust selten genießen, wird ihr Lustempfinden niemals gesättigt; weil keiner sie geradeheraus tadelt, lassen sie nichts von dem aus, was man ihnen – auf ungute Weise – tatsächlich sagt; weil keiner sie betrüben will, sind sie gegen alle ungehalten; weil es ihnen möglich ist, im Zorn alles zu tun, zürnen sie eben deswegen ununterbrochen. (3) Der gute Herrscher dagegen – einer wie du! – zeigt ein gegensätzliches Verhalten: Er giert nach nichts, eben weil er alles zu haben glaubt; er geht sparsam mit den Lüsten um, eben weil ihm keine unzugänglich ist, wenn er danach greift; er ist gerechter als die anderen, insofern er den anderen so Gerechtigkeit vermittelt; er hat Vergnügen an anstrengender Arbeit, weil er freiwillig arbeitet; er liebt die Gesetze, weil er keine Angst hat. [. . . ] (7) Denn einen unvernünftigen König kann es niemals geben, ebensowenig wie es etwa einen blinden Wegführer geben könnte; auch einen ungerechten nicht, ebensowenig wie ein Maßstab krumm und ungleichmäßig sein könnte, so dass er zusätzlich noch eines anderen Maßstabes bedürfte; auch einen feigen nicht; ebensowenig wie es einen Löwen mit dem Mut einer Hirschkuh oder Eisen weicher als Wachs oder Blei geben könnte. Für wen sollte denn stärkere Beherrschtheit erforderlich sein als für den, der inmitten der meisten Vergnügungen lebt, der die meisten Geschäfte dirigiert, der die wenigste Zeit in Muße verbringen kann, und der die meisten und wichtigsten Dinge zu bedenken hat? 49

externen Diskurs) als besonders sinnes- und trieborientiert galten; vgl. etwa Tac. ann. 11,31,2 f. zu den Bacchanalien im Hause Messalinas; vgl. Joshel 1997, 225 f.; 242–249 zur Politisierung der Messalina-Figur im Bild ihrer Sexualität. 48 Die Formulierung im Griechischen meint im Wortsinne die Abwehr äußerer Einflüsse und kann daher sowohl ‚schützen‘ als auch ‚bewachen‘ bedeuten. Es geht mithin um die Fähigkeit der Kontrolle. 49 Dion Chrys. or. 62,2–7: ταὐτὸ δῆ τοῦτο ἣ µὲν τοῦ φρονίµου διάνοια καὶ πάντας ἀνθρώπους ἱκανὴ γίγνεται διοικεῖν, ἡ δὲ τοῦ ἄφρονος οὐδὲ ἓν σῶµα τὸ ἐκείνου δύναται φυλάττειν οὐδὲ ἕνα οἶκον. οἱ µὲν γὰρ πολλοὶ τῶν ἐν ταῖς δυναστείαις, ὅτι µὲν ἔξεστιν αὐτοῖς πάντα λαµβάνειν, πάντων ἐπιθυµοῦσιν. ὅτι δὲ ἐπ᾽ αὐτοῖς ἐστι τὸ δίκαιον, διὰ τοῦτό εἰσιν ἄδικοι· ὅτι δὲ οὐ φοβοῦνται τοὺς νόµους, οὐδὲ εἶναι νοµίζουσιν· ὅτι δὲ οὐκ ἀναγκάζονται πονεῖν, οὐδέποτε παύονται τρυφῶντες· ὅτι δὲ οὐδεὶς ἀµύνεται κακῶς πάσχων, οὐδέποτε παύονται ποιοῦντες· ὅτι δὲ οὐδεµίας σπανίζουσιν ἡδονῆς, οὐδέποτε ἐµπίµπλανται ἡδόµενοι· ὁτι δὲ οὐδεὶς ψέγει ἐκ τοῦ φανεροῦ, οὐδὲν ἀπολείπουσι τῶν οὐδὲ καλῶς λεγοµένων· ὅτι δὲ οὐδεὶς αὐτοὺς βούλεται λυπεῖν, διὰ τοῦτο πᾶσι χαλεπαίνουσιν· ὅτι δὲ ὀργισθεῖσιν ἔξεστι πάντα ποιεῖν, διᾶ τοῦτο συνεχῶς ὀργίζονται. (3) ὁ δὲ ἀγαθὸς ἄρχων, ὥσπερ σύ, τἀναντία ἐπιτηδεύει· οὐδενὸς µὲν ἐπιθυµεῖ διὰ τὸ πάντα οἴεσθαι ἔχειν, φείδεται δὲ τῶν ἡδονῶν διὰ τὸ µη-

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Der Umgang von Königen und Tyrannen mit den ihnen aufgrund ihrer Machtstellung verfügbaren Gütern und Handlungsoptionen entspricht exakt jenem vom unterschiedlichen Konsum der Lüste aus dem Charidemos. Die nüchterne Beherrschtheit des Königs (βασιλεῦς), die Zeichen seiner Vernunft (φρόνησις) ist, erlaubt ihm, sich von den Zwängen seiner Lebenswelt freizumachen, frei über seine Möglichkeiten zu verfügen, wozu nicht zuletzt auch der Verzicht gehört. Der Tyrann (τύραννος) dagegen ist davon getrieben, seine Möglichkeiten bis zum Letzten auszureizen, er ist Sklave dieses Triebs und mithin, des Herrschens unfähig, in seiner Machtstellung ganz und gar fehl am Platz. 50 Trägt man die bei Dion immer wieder skizzierten Eigenschaften und Verhaltensweisen zusammen, an denen sich die Unvernunft und damit die Unfähigkeit eines Herrschers zeige, an denen er sich mithin als Tyrann erweise, so entsprechen diese zu weiten Teilen dem Katalog der Symptome des ‚Caesarenwahns‘, die Quidde aus Sueton und Cassius Dio extrahierte. 51 Die Triebhaftigkeit und mangelnde Selbstkontrolle des Tyrannen zeigt sich demnach in seiner gierigen Neigung zum Luxus in der materiellen Lebenskultur (Bauwesen, Innenausstattung, Geld), 52 in Ehrgeiz und Sucht nach öffentlicher Anerkennung, die ihn zu theatralischer Inszenierung im Bereich der Künste treibt, 53 in sexueller Devianz und Abhängigkeit von Frauen, die die klare Zuordnung von aktiver Männlichkeit und passiver

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δεµιᾶς ἂν ἀπορῆσαι ὀρεχθείς, δικαιότερος δὲ τῶν ἄλλων ἐστίν, ἅτε πᾶσι παρέχων τὴν δικαιοσύνην, ἥδεται δὲ τοῖς πόνοις, ὅτι ἑκὼν πονεῖ, ἀγαπᾷ δὲ τοὺς νόµους, ὅτι οὐ δέδοικε. [. . . ] (7) οὔτε γὰρ ἄφρων βασιλεὺς ἔσται ποτέ, οὐ µᾶλλον ἢ τυφλὸς ἡγεµὼν ὁδοῦ γένοιτ᾽ ἄν, οὔτε ἄδικος, οὐ µᾶλλον ἢ κανὼν σκολιὸς καὶ ἄνισος ἄλλου προσδεόµενος κανόνος, οὔτε δειλός, οὐ µᾶλλον ἢ λέων ἐλάφου λαβὼν ψυχὴν ἢ σίδηρος κηροῦ καὶ µολίβδου µαλακώτερος. τίνι δ᾽ ἰσχυροτέρας ἐγκρατείας προσῆκον ἢ τῷ πλείστων µὲν ἡδονῶν ἐν µέσῳ ζῶντι, πλεῖστα δὲ πράγµατα διοικοῦντι, ἐλαχίστην δὲ σχολὴν ἄγοντι, ὑπὲρ µεγίστων δὲ καὶ πλείστων φροντίζοντι; vgl. dazu Dion Chrys. or. 1,81 f.; 20,17 f. So etwa in demselben Passus (Dion Chrys. or. 62,5 f.) die Beschreibung des assyrischen Königs Sardanapal, der seinen politischen Aufgaben nicht nachgekommen sei und sich von seinen eigenen Konkubinen nicht unterschieden habe – nur der Zufall erhalte solch herrenlose Regierung eine Zeitlang aufrecht; dazu Hawley 2000, 134–138. Vgl. auch Dion Chrys. or. 1,3; 2,35; 3,72; 4,99–113; 4,135; 6,36 f.; 48 f.; 80,11 f. sowie den Katalog der Tugenden des guten Königs in or. 3,51–59. Vgl. zur Anwendung auf römische Verhältnisse z. B. Tac. ann. 12,4,1 (Vitellius). Dass die quiddeschen Symptome antike Stereotype widerspiegeln, bezeugt deutlich der Vergleich mit dem ebenso ähnlichen Katalog tyrannentopischer Handlungsmuster, die Priwitzer 2009, 115–159, aus der historiographischen Überlieferung zu Commodus herausarbeitet. Priwitzer geht dabei davon aus, dass das im 3. Jh. n. Chr. entwickelte negative Commodusbild bereits aus Elementen der Darstellung Caligulas bei Sueton gewonnen ist. Dion Prus. or. 1, 78–80; 4,116–124; 2,34 f.; 4,91–100. Dion Chrys. or. 2,63 (Parodie des dichtenden Monarchen); 6,50–57 (Sucht nach Anerkennung); zum Problem des kunstaffinen Herrschers s. Müller 2017.

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Weiblichkeit verwischt (ein Verhalten, das Dion ausdrücklich auf den übergroßen Einfluss von Frauen zurückführt), 54 in rauschhaftem Konsum von Speisen und Alkohol 55 sowie einer Neigung zu Zorn und exzessiver Anwendung von Gewalt. 56 Ein ganzer Katalog tyrannischer Untaten findet sich in Dions Rechtfertigung vor der Bürgerversammlung in Prusa (or. 47) als Erwiderung auf den Vorwurf, er selbst zeige in seinem strengen Auftreten in der Polis einen tyrannischen Charakter: Meines Wissens sind doch das Taten eines Tyrannen: mit anderer Leute Frauen Ehebruch zu begehen und Knaben zu schänden, freie Menschen vor aller Augen zu schlagen und zu misshandeln, andere zu foltern, indem man sie etwa in einen siedenden Kessel taucht oder im Pech verbrennt – aber das tue ich nicht! – [Ich weiß auch] von einer anderen, dem Tyrannenweib Semiramis, dass sie im greisen Alter, immer noch geil, manch einen mit ihr zu schlafen nötigte. Und auch von einem der Tyrannen habe ich gehört, dass er das tat, der dreiste Greis. (25) – Aber was hat das mit mir zu tun? Baue ich etwa mein Haus prachtvoll aus? Ich lasse es doch nur nicht einstürzen! Oder gewande ich mich etwa in Purpur? Mein Kittel ist doch nur nicht unbrauchbar! Oder weil ich lange Haare und einen Vollbart habe? Das ist aber doch vielleicht nicht tyrannisch, sondern königlich! 57 Na ja, jemand hat einmal gesagt, dass auch ein schlechter Ruf trotz guter Taten etwas Königliches ist. 58

Dion wendet den Tyrannenbegriff hier erkennbar auf römische Kaiser an: Hinter dem greisen Lüstling auf dem Thron verbirgt sich aller Wahr-

54 Dion Chrys. or. 3,35; 4,101–115; 21,4–10 (Neros Liebe zu Männern / Eunuchen); 77/78,36; vgl. die Verwischung der Geschlechtergrenzen durch Otho in Iuv. 2,99–109 sowie die verbreitete Zuschreibung ‚männlicher‘ Eigenschaften an politisch einflussreiche Frauen, so etwa explizit in Tac. ann. 6,25,2; vgl. 12,42,2; 12,65,1–3; 13,2,1–3; 13,5,1–6,4; 13,13,1–3 (Agrippina minor); 14,30,1 f.; 14,35,1–36,3; Agric. 16,1; 31,4 f. (Boudicca); s. Santoro l’Hoir 1994, 7–11; 17–25; vgl. Christ 1978, 472 f.; 476 f.; 480 f.; schon in der späten Republik bei Cic. Verr. 2,1,136–138; s. Freund 2013, 422–424. 55 Dion Chrys. or. 33,14. 56 Dion Chrys. or. 3,34 f.; 4,18–23. 57 Die Formulierungen Dions in § 25 werden häufig als Belege für Dions vermeintlich prunkvolles Auftreten missverstanden (und in diesem Sinne missverständlich übersetzt), was nicht zu seiner sonstigen Selbstdarstellung passe; s. stellvertretend die Diskussion bei Krause 2003, 146–148. 58 Dion Chrys. or. 47,24 f.: ἐγὼ γὰρ ἐπίσταµαι τῶν τυράννων ἔργα τοιαῦτα, µοιχεύειν γυναῖκας ἀλλοτρίας καὶ διαφθείρειν παῖδας, ἀνθρώπους ἐλευθέρους τύπτειν καὶ αἰκίζεσθαι πάντων ὁρώντων, τοὺς δὲ καὶ στρεβλοῦν, οἷον εἰς ζέοντα λέβητα καθιέντας, ἄλλους δὲ καταπιττοῦντας· ὧν οὐδὲν ἐγῶ ποιῶ· ἑτέραν δὲ γυναῖκα τύραννον Σεµίραµιν, ὅτι πρεσβυτέρα τὴν ἡλικίαν οὖσα καὶ µάχλος ἠνάγκαζε συγγίγνεσθαί τινας ἑαυτῇ. τῶν δὲ τυρνάννων ἕνα ἀκήκοα ταῦτα ποιοῦντα, πρεσβύτην θρασύν. (25) ὧν τί πρὸς ἐµέ ἐστιν; ἢ ὅτι τὴν οἰκίαν οἰκοδοµῶ πολυτελῶς; ἀλλ᾽ οὐκ ἐῶ πίπτειν. ἢ ὅτι πορφύραν αὐτὸς ἠµφίεσµαι; ἀλλ᾽ οὐ φαῦλον τριβώνιον. ἀλλ᾽ ὅτι κοµῶ καὶ γένεια ἔχω; τοῦτο δ᾽ ἴσως οὐ τυραννικόν ἐστιν, ἀλλὰ βασιλικόν. ἔφη δ᾽ οὖν τις ὅτι καὶ τὸ κακῶς ἀκούειν καλῶς ποιοῦντα καὶ τοῦτο βασιλικόν ἐστιν. Vgl. dazu die Allegorie der Tyrannis als schlechte Imitation der Königsherrschaft in or. 1,78–82.

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scheinlichkeit nach Kaiser Tiberius, der sich seinen Alterssitz auf Capri zum Lustpalast habe ausbauen lassen. Indes verwendet er den Terminus nicht etwa als neutrale Übersetzung für ‚Monarch‘, sondern setzt ihn hier wie andernorts gezielt ein, um ‚schlechte‘ römische Kaiser einzureihen in eine Tradition griechischer Erzählungen von Tyrannen, die als Sklaven ihrer Triebe am Herrschen gescheitert seien. Dazu gehören zum einen griechische Tyrannen, 59 zum anderen vor allem ‚orientalische‘ Herrscherfiguren wie Xerxes, Sardanapal oder hier Semiramis. 60 Bei diesen Beispielen handelt es sich jeweils um Figuren, die in der griechischen Literatur schon früh zu exempla der ‚schlechten‘, unbeherrschten und sich selbst überhöhenden Herrschaft stilisiert wurden, was – besonders im Falle der östlichen Figuren – mit ihrer Kennzeichnung als unmännliche Figuren einherging. Ein wichtiges Element in Dions Katalog der Herrschereigenschaften findet sich am Ende der Liste. Langes Haar und Vollbart als Zeichen der Unbekümmertheit über den äußeren Schein gehören bei dem kynisch inspirierten Dion zum Kern seiner Selbstdarstellung als Philosoph, der sich um die Meinung der Öffentlichkeit nicht schere und deshalb den Leuten ohne falsche Scheu einen Spiegel ihres eigenen Fehlverhaltens vorhalte – ein spätestens seit Platon etabliertes Philosophenideal. 61 Offenherzige Kritik auch auf Kosten eigener Nachteile gehört aber zugleich zur Beschreibung des idealen Ratgebers eines ‚guten‘ Monarchen: Ein solcher ganz am Gemeinwohl statt am Eigeninteresse orientierter Ratgeber verfügt – wie Sokrates in Athen – zuallererst über die Fähigkeit der treffenden Selbstkritik und vermag eben deshalb auch andere in Orientierung auf das für sie Nützliche zu kritisieren. 62 In ‚guten‘ Monarchien, in denen auch der König das Wohl der Allgemeinheit im Blick habe, gelangten solche Ratgeber am Hof zu Einfluss, ja der König erweise sich de facto als Diener seiner philo59 Positiven Figuren der älteren griechischen Tyrannis attestiert er (oder sein Schüler Favorinus, sofern die Schrift fälschlich Dion zugeschrieben sein sollte; vgl. Moles 2000, 187), sie seien fälschlich so bezeichnet worden: Dion Chrys. or. 37,4–7. Vgl. zur älteren Tyrannis und ihrer Darstellung in der Überlieferung Barceló 1993 (mit Spätdatierung auch früher Herrscher ins 6. Jh. v. Chr.: 112–124); de Libero 1996 und v. a. Stahl 1983; Parker 1998, 161–165 und Dewald 2003 (zur Differenzierung positiver und negativer Tyrannen bei Herodot). 60 Xerxes: Dion Chrys. or. 3,34 f.; 118; Sardanapal: Dion Chrys. or. 62,5 f.; vgl. Alföldi 1958, 11–14; Desideri 1978, 290; Barceló 1993, 275–277; Borszák 1987; Jordovi´c 2005, 133 f. mit Anm. 7; 162 f. sowie (zur Übertragung von Orientklischees auf römische Kaiser) Schulz 2014, 413–415; 423–425. 61 Auf das Vorbild sokratisch geprägter Philosophie verweist Dion im Zusammenhang mit politischer Ethik in Dion Chrys. or. 3,42–49 (Sokrates und Nachfolger; aristotelischer Verfassungskreislauf); vgl. Asirvatham 2017, 263 f. 62 Dion Chrys. or. 33,7–15; 50,8; vgl. or. 4,57–59; vgl. zur Gemeinwohlorientierung als Bestandteil des herrscherlichen Tugendkatalogs im Prinzipat Kuhoff 1993, 139–214.

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sophischen Berater, 63 während unter Tyrannen lediglich Schmeichler zum Ohr des Herrschers vordrängen. Deshalb sei die Tyrannis die einzige Herrschaftsform, bei der sich kein Widerspruch gegen das Regierungshandeln erhebe. 64 Das Ausbleiben von Kritik an der Tyrannis kennzeichnet indes nicht Zustimmung, sondern aus einer Stimmung von Zwang und Furcht resultierende Unehrlichkeit der Herrschaftskommunikation. Überfordert von den Anforderungen seiner Stellung und zugleich süchtig nach allgemeiner Anerkennung, fürchtet der Tyrann allerorten Lüge und Komplott: Hinter freundschaftlicher Kritik vermutet er mangelnde Unterordnung, hinter Schmeicheleien Anschlagspläne. 65 Eben diese völlige Verkennung der Realitäten treibt ihn in ständige Furcht und als Konsequenz in Schutz- und Zwangsmaßnahmen sowie in die gewaltsame Verfolgung seiner Kritiker. Diese äußerliche Getriebenheit von Angst führt zu einem Gewaltregime, das schließlich zurecht den Hass aller auf sich zieht – in Folge seiner paranoiden Abschottung gegen Kritik sorgt der Tyrann selbst dafür, dass seine beständige Todesangst am Ende gerechtfertigt ist: 66 Wenn nicht freiwillige Akzeptanz des Regimes durch die Regierten, wie in gesetzmäßigen Staaten, sondern Unterdrückung durch eine ungesetzliche Gewaltherrschaft die Tyrannis kennzeichnet, 67 so wird der Kampf gegen die Tyrannis, ja der Tyrannenmord, zum legitimen Freiheitskampf. 68 Besonders eindrucksvoll rechtfertigt Dion den Tyrannenmord im Bild des Herrschers als eines Stiers: Ausgehend von der homerischen Metapher vom ‚Stier‘ Agamemnon, 69 aber wohl auch angelehnt an den Vergleich zwischen König und Hirten bei Platon, 70 kontrastiert Dion in der zweiten Schrift Über das

63 Dion Chrys. or. 2,67–74 (Allegorie des guten Königs als Stier unter Hirten); 3,7 f.; 55–59; 3,104–106 (vgl. Aristot. pol. 1287b8–35); 49,6–8 (mit zahlreichen Beispielen einflussreicher philosophischer Ratgeber, darunter Pythagoreer, keltische Druiden, persische Mager); vgl. auch die Selbstinszenierung Dions als Nestor in or. 4; 56; 57. Zur Rolle des Ratgebers in Dions politischem Denken s. Desideri 1978, 283–287; 294; Saïd 2000, 166 f.; Salmeri 2000, 89–92; Gangloff 2006, 314–317; Milazzo 2007, 49– 107; Pernot 2016, 267–272; 278 f.; HunterR 2017, 267 f.; Asirvatham 2017, 269–273. 64 Dion Chrys. or. 1,82; 33,14; 41,3; 50,8; zur Kontrastierung von Schmeichler und Ratgeber Whitmarsh 2010, 192–198; Pernot 2016, 278 f. 65 Dion Chrys. or. 3,116–118; 6,57–59; Asirvatham 2017, 263 f.; 268 f. 66 Dion Chrys. or. 1,80–82; 3,58 f.; 6,35–59. 67 Dion Chrys. or. 3,43 f.; 76,2 f.; vgl. or. 21,6–10. 68 Dion Chrys. or. 37,16–22; vgl. zur an die Ermordung Caesars angelehnten Freiheitssymbolik im Zuge des Vierkaiserjahres 68/69 n. Chr. Kuhoff 1993, 132–134; Kragelund 2016, 314–325. 69 Hom. Il. 2,474–483; Moles 1990, 345; vgl. zur ambivalenten Verwendung des exemplum Agamemnon bei Dion: Gangloff 2006, 314–317. 70 Plat. rep. 343a1–349c; Jordovi´c 2005, 110; vgl. allgemein zur Hirtenmetapher: Zakravsky 2000, 71 f.

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Königtum (or. 1) den ‚guten König‘ als jenen Stier, der sich im Vertrauen auf seine überlegene Macht für seine Herde einsetze und dabei zugleich die überlegene Urteilskraft seiner Hirten anerkenne, so dass er sich von diesen führen lasse. 71 Anders der ungezähmte, unbeherrschte Stier: (73) So tun es doch auch die wohlvernünftigen Hirten: Wenn ein Stier unumgänglich und wild geworden wider die Natur willkürlich herrscht – indem er seine eigene Herde verachtet und misshandelt, dagegen vor denen zurückweicht, die von außen her in feindlicher Absicht agieren, und die machtlose Masse vorschickt; indem er, wenn gar kein Affront vorliegt, sich überheblich und dreist zeigt, scharf und drohend brüllt, mit den Hörnern voraus einen Wehrlosen attackiert und seine Stärke an Schwächeren demonstriert, die gar nicht kämpfen; indem er durch Furcht und Schrecken die Masse der Rinder nicht in Frieden weiden lässt –, diesen Stier tauschen die Herren und Rinderhüter aus und lassen ihn verschwinden, da sie ihn für ungeeignet und für die Herde unvorteilhaft halten. (74) Den Stier dagegen, der einerseits umgänglich gegen die Rinder in seiner Gefolgschaft ist, guten Mutes und furchtlos gegen die Raubtiere, ernsthaft und erhaben und fähig die Herde zu schützen und anzuführen, andererseits sich den Hirten anpasst und ihnen gehorcht, den lassen sie bis ins höchste Alter zu, auch wenn er körperlich schon schwerfällig geworden ist. 72

Vernünftige Berater belassen mithin nur den ‚guten‘ König an der Macht; den Tyrannen beseitigen sie. Damit gibt Dion in dieser direkt an den Kaiser Trajan adressierten Schrift einerseits eine Rechtfertigung der Ermordung früherer Kaiser, andererseits formuliert er einen außerordentlich scharfen Appell an das Verhalten des aktuellen Kaisers, der zugleich auch indirekt den Anspruch Dions zum Ausdruck bringt, als ‚Hirte‘ in Frage zu kommen. 73 Es geht hier mithin nicht nur um eine philosophische Erörterung essentiell ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Herrschaftstypen, sondern um

71 Dion Chrys. or. 2,67–72. 72 Dion Chrys. or. 2,73 f.: (73) καὶ γὰρ δὴ ὥσπερ οἱ σώφρονες νοµεῖς, ἐπειδὰν χαλεπὸς καὶ ἄγριος ταῦρος γενόµενος ἄρχῃ ἀσελγῶς παρὰ φύσιν, τῆς µὲν αὑτοῦ καταφρονῶν ἀγέλης καὶ λυµαινόµενος, τοὺς δὲ ἔξωθεν ἐπιβουλεύοντας ὑποχωρῶν καὶ προβαλλόµενος τὸ ἀδύνατον πλῆθος, µηδενὸς δὲ χαλεποῦ παρόντος ὑβρίζων καὶ θρασυνόµενος, τοῦτο µὲν ὀξὺ καὶ ἀπειλητικὸν µυκώµενος, τοῦτο δὲ ὀρθοῖς τοῖς κέρασι παίων τὸν οὐκ ἀνθιστάµενον, ἐπιδεικνύµενος [δὲ] τὴν ἰσχὺν ἐν τοῖς ἥττοσι καὶ τοῖς οὐ µαχοµένοις, τὸ δὲ τῶν βοῶν πλῆθος οὐκ ἐῶν νέµεσθαι καθ᾽ ἡσυχίαν δι᾽ ἔκπληξιν καὶ φόβον· τότε τοῦτον οἱ δέσποται καὶ βουκόλοι µετέστησαν καὶ ἠφάνισαν, ὡς οὐκ ἐπιτήδειον οὐδὲ συµφέροντα ἡγεῖσθαι τὴς ἀγέλης· (74) τὸν δὲ πρᾷον µὲν ταῖς ἑποµέναις βοῦσιν, εὔψυχον δὲ καὶ ἄφοβον πρὸς τὰ θηρία, σεµνὸν δὲ καὶ µεγαλοπρεπῆ καὶ δυνατὸν φυλάττειν καὶ προηγεῖσθαι τῆς ἀγέλης, τοῖς δέ γε νοµεῦσιν εἴκοντα καὶ πειθόµενον, ἐῶσι µέχρι γήρως ὑστάτου, κἂν ἤδη βαρύτερος τὸ σῶµα γένηται. 73 Moles 1990, 345 f.; Sidebottom 2006, 139–143 (zur Zielsetzung gegenüber griechischen Publika) und 149–154 (zur Inszenierung der offenen Kritik als Kennzeichen einer von Redefreiheit geprägten Regierung); Whitmarsh 2010, 165 f.; 184; 212–214.

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den Einfluss der philosophischen paideia auf den Charakter des Regenten, in anderen Worten: Es geht um die politische Rolle des Philosophen als Ratgeber. Anders als in Plinius’ Lobrede gehören die Äußerungen zu Königtum und Tyrannis in Dion von Prusas Schriften mithin zu dessen philosophischer Selbstdarstellung. 74

4. Zur Genese der Topik Dion verweist in diesem Zusammenhang wiederholt darauf, dass sein politisches Denken sich an die Philosophie besonders Platons und des Aristoteles, aber auch Xenophons und anderer Sokratiker anlehne. 75 Im Hinweis auf die aristotelische Lehre vom sogenannten Verfassungskreislauf zeigt sich auch, inwiefern sich Dions Differenzierung von ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Monarchie als Beschreibung ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Regierung unabhängig von der Staatsform verstehen lässt: Wenn laut Aristoteles jede Grundform staatlicher Herrschaft von der moralischen Qualität des jeweiligen Herrschers abhängige gute und schlechte Ausprägungsformen kennt, dann lässt sich die Rede von der tyrannischen ‚schlechten‘ Herrschaft auch auf Adels- oder Volksherrschaften übertragen – und eben dies tut Dion auch ausdrücklich in seiner Rede An die Korinther (or. 37), indem er die tyrannenfeindliche Haltung Korinths an einer großen Zahl von Beispielen zu belegen versucht, darunter Korinths Kriege gegen die tyrannische Demokratie Athens. 76 Im Bild der athenischen Seeherrschaft als einer Tyrannis über andere Poleis zeigt sich deutlich, wie unmittelbar die Konzeption idealer und dystopischer Herrschaft auf Vorbilder und exempla der klassischen athenischen Literatur zurückgreift. Überhaupt schöpft Dion als Vertreter der Zweiten Sophistik aus einem reichen und in seinem griechischen ebenso wie seinem römischen Publikum allgemein verbreiteten griechischen Bildungsgut, dem er die wesentlichen exempla für die Darstellung seiner (populär-)philosophischen Positionen entnimmt. Figuren wie Xerxes, Sardanapal und Semiramis, aber auch griechische Tyrannen (‚gute‘ wie ‚schlechte‘) erlangten in der Vermittlung durch eine etablierte griechische Erzähltradition spätestens seit der ausgehenden Republik den Rang kanonischer exemplarischer Figuren. Ihre Beschreibung als Herrscher ohne Herrschaftskompetenz indes lässt sich in ihrem Ursprung nach

74 Moles 1990, v. a. 332 f.; 343; Whitmarsh 2010, 208–211. 75 V. a. Dion Chrys. or. 3,42–49; s. dazu: Moles 2000; Trapp 2000; Whitmarsh 2010, 183; HunterR 2017; Pernot 2016, 295–297; vgl. Desideri 1978, 283–287; 294. 76 Zur aristotelischen Verfassungstypologie: Aristot. pol. 1286a38–b20; 1289a25–b11; 1301b5–26; 1307a20–b26; vgl. Dion Chrys. or. 37,16–22.

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Athen recht gut zurückverfolgen, und dieser Ursprung hängt eng mit der Entstehung der dortigen de¯mokratia zusammen. 77

4.1. Tyrannis und Demokratie Überragende Bedeutung für die Entstehung einer antityrannischen Ideologie kam in Athen dem fälschlicherweise so benannten ‚Tyrannenmord‘ durch Harmodios und Aristogeiton zu. Diese hatten 514 v. Chr. den Trubel des Panathenäenfestes zu einem Mordanschlag auf Hipparchos, den Bruder des Tyrannen Hippias, genutzt. 78 Dabei handelten sie, folgt man Herodot und vor allem Thukydides, weniger aus politischen Motiven als vielmehr in der Absicht, eine familiäre Ehrverletzung zu rächen. 79 Auch beendete der Mord die Tyrannis der Peisistratiden keineswegs. Vielmehr sollte Hippias erst vier Jahre später gestürzt werden, 80 und in den nachfolgenden Machtkämpfen zeigte sich, dass sich im nachtyrannischen Athen eine Gefolgschaftspolitik alten Zuschnitts nicht mehr betreiben ließ, da mit den Orten und Medien der Repräsentation der Peisistratidenherrschaft eine neue Form gesamtattischer Öffentlichkeit und damit ein Kommunikationsraum jenseits lokaler Bindungen entstanden war: Die vielleicht als Zugeständnis im Zuge der Stasis versprochenen Reformen des

77 Allgemein: Parker 1998 (mit später Ansetzung der Entstehung); Anderson 2005, 210– 214; Luraghi 2013a, 17 f.; vgl. Barceló 1993, 84–88. Dies bedeutet indes zunächst vor allem, dass sich nur in Athen die Wirkung politischer Ereignisse auf die Konzeptionalisierung politischer Strukturen und mithin auf die politische Theoriebildung nachzeichnen lässt. Auch die außerhalb Athens überlieferten antityrannischen Gesetze lassen sich auf die Strahlkraft des athenischen Vorbilds zurückführen; vgl. dazu Koch 1996; Teegarden 2014; anders zu Eretria Dössel 2007. Zu früher Kritik an Tyrannen außerhalb Athens s. Barceló 1993, 88–103; zur topischen Gestaltung von Tyrannenmordmotiven außerhalb Athens Luraghi 2000. 78 Zur archaischen Tyrannis s. de Libero 1996, v. a. 41–134 (Athen); Anderson 2005; vgl. Girardet 2005 163–167 sowie mit Fokus auf die ideelle Konzeptionalisierung früher monarchischer Ordnungen Barceló 1993. 79 Hdt. 5,55; 5,62,1; Thuc. 6,53,3–59,4; [Aristot.] Ath. pol. 18; vgl. Barceló 1993, 187– 196; O’Sullivan 2011, 7 f.; vorsichtig HölscherF 2010, 247 f.; Azoulay 2014, 30–36. Anknüpfungspunkte politischer Art hätten sich vielleicht in einer aristokratischen Abwehrhaltung gegenüber der Machtakkumulation Einzelner finden können, wie sie noch vor Beginn der peisistratidischen Tyrannis z. B. in den Elegien Solons zum Ausdruck kommt (Barceló 1990, 408 f.; 1993, 94–97; 103–110; de Libero 1996, 21–38; Luraghi 2000, 96–98; 2013a, 17 f.; 2013b, 55 f.; Pircher 2000, 133–136; Jordovi´c 2005, 143 f.; zur Ambivalenz der lyrischen Überlieferung s. Parker 1998, 149–157; Anderson 2005, 203–210. 80 Hdt. 5,55,1; 5,62,2–65,5; Thuc. 6,59,4.

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Kleisthenes gaben dieser neuen sozialen Welt eine politische Struktur und wiesen letztlich den Weg in die Demokratie. 81 Am Anfang der athenischen Genese der Tyrannentopik steht mithin ein ‚Tyrannenmord‘, der weder den Tyrannen beseitigte noch eindeutig politisch motiviert war noch unmittelbare politische Folgen hatte. Dennoch wurde dieser Mord zum exemplum par excellence für die Legitimität der Beseitigung eines Gewaltherrschers, was vor allem an der Vereinnahmung der ursprünglich aristokratischen und zugleich tyrannenfeindlichen Freiheitsideologie durch die junge athenische Demokratie lag. 82 Schon in den frühesten Jahren der kleisthenischen Ordnung erinnerten Angehörige der athenischen Oberschicht in sympotischen Trinkliedern an die tyrannoktonoi (‚Tyrannentöter‘) und akzentuierten damit die politische Deutung dieser Tat als Akt der Befreiung. 83 Das einstmalige Zentrum peisistratidischer Öffentlichkeit, die Agora, wurde durch Aufstellung einer Statuengruppe des Paares zum sichtbaren Herz einer neuen Polisideologie, derzufolge sich diese Bürgerschaft durch den Tyrannenmord des Harmodios und Aristogeiton als freies Gemeinwesen erst eigentlich konstituiert hatte. 84 Egon Flaig hat diese geschichtspolitische Maßnahme vor einigen Jahren auf überzeugende Weise mit dem Anliegen einer Integration der Poliseliten in die neue Ordnung erklärt. 85 Die erinnerungskulturelle Verschiebung des Gründungsaktes der rudimentären Demokratie (avant la lettre), die nun nicht mehr aus einem Bürgerkrieg entstanden war, sondern aus dem eben deshalb so benannten Tyrannenmord, erlaubte es einerseits, den Bürgerkrieg selbst aus der Erinnerung auszublenden, andererseits, aristokratische Kreise unter die Stifter des neuen Staates einzureihen. Nicht gegen Vertreter der Elite, die um die Tyrannis konkurriert hatten, war nach

81 Hdt. 5,66,1–73,1. Dies ist jedoch nicht etwa als ‚volksfreundliche‘ Orientierung der Peisistratidenherrschaft misszuverstehen, sondern allenfalls Effekt der speziellen Positionierung der Tyrannen im aristokratischen Konkurrenzverhalten. Zur Entwicklung bürgerlicher Identität in der Peisistratidenzeit s. Kolb 1977; 1999; Stahl 1987, 138–187; 229–255; Ober 1989, 65–69; HölscherT 1998; Pircher 2000, 129–133; Anderson 2005, 187. 82 Zur aristokratischen Tyrannenkritik und Freiheitsideologie s. Raaflaub 1985, 62–70; 112–125; vgl. Barceló 1993, 88–128; 272 f.; HölscherF 2010. 83 Athen. deipn. 15.50, p. 694c–696b (= PMG 893–896); vgl. Theogn. 1,1179–1182; Aristoph. vesp. 1224–1227; [Aristot.] Ath. pol. 19,3; Raaflaub 2003, 65 f.; HölscherF 2010, 248–250; O’Sullivan 2011; Luraghi 2013b, 52; 65 f.; Teegarden 2014, 47. 84 HölscherT 1998/2008, 300–305; Ober 2003, 217–222; Anderson 2005, 213 f.; HölscherF 2010; Pownall 2013; 2016, 60; Luraghi 2013b, 51; Azoulay 2014, 19; 39–68; vgl. Coppola 2003. 85 Flaig 2004; vgl. HölscherF 2010, 248–251; Azoulay 2014, 48–50.

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dieser Erzählung der demokratische Staat ermöglicht worden, sondern infolge der Tat zweier Angehöriger dieser Elite. 86 Vertieft wurde diese antityrannische Staatsideologie auch durch außenpolitische Ereignisse: Sowohl gegen die Versuche Spartas, den alten Tyrannen Hippias wieder nach Athen zurückzuführen, 87 als auch im Ionischen Aufstand und dem nachfolgenden Perserkrieg konnte sich Athen als Kämpferin gegen Gewaltregime inszenieren: Der Perserkrieg war durch Athens Einsatz für antityrannische ‚Bewegungen‘ (präziser: Unruhen, die sich als solche deuten ließen) in anderen Poleis mit verursacht worden, und Athen erzielte darin grandiose Siege gegen den persischen ‚König der Könige‘, dessen Rolle als Schutzherr der ionischen Tyrannen ihn als ‚Supertyrannen‘ schlechthin auszeichnete. 88 Wie das Geschichtswerk Herodots eindrucksvoll zeigt, ließen sich diese Siege in der Rückschau ebenfalls im Sinne der antityrannischen Ursprungsideologie der athenischen Bürgerschaft ausdeuten. 89 Die protodemokratische Polisreform des Jahres 507 sowie die außenpolitischen Erfolge Athens im Perserkrieg stehen somit sowohl am Beginn der spezifisch athenischen Tyrannentopik als auch am Beginn der Stilisierung einzelner (bei Weitem nicht aller!) griechischer Tyrannen und vor allem östlicher Herrscherfiguren zu dystopischen Klischees des ‚schlechten‘, weil autokratisch agierenden Herrschers. Dass solche Herrscher (deren Darstellung sehr häufig stark fiktionalisierte Züge aufweist) in der griechischen Literatur geradezu regelhaft durch Mord ums Leben kommen, dürfte indirekte Folge der Legitimierung des Tyrannenmordes durch die athenische Staatsideologie sein, 90 die sich auf zahlreichen Bühnen der öffentlichen Bürgerkultur – in Gesetzen, in rituellen Formeln bei politischen Veranstaltungen, durch öffentliche kultische Ehrungen der Tyrannentöter, 91 in

86 Zur Funktion tyrannentopischer Erzählungen als oligarchisches Rechtfertigungsnarrativ in späterer Zeit: Mitchell 2006, 184 f.; Pownall 2016, 75–77; zur literarischen Etablierung des Tyrannenmordes als Bürgerpflicht vgl. Xen. Hier. 4,5; 6,11; Isoc. or. 8,143; Pol. 2,56,15; Luraghi 2000; Teegarden 2014, 7 f. 87 Hdt. 5,92–94,1; Barceló 1993, 187. 88 Vgl. Alföldi 1958, 14; Raaflaub 1985, 96–108; Hall 1989, 16; 58 f.; 67 f.; Barceló 1993, 129 f.; 191 f.; Michell 2006, 179; Priwitzer 2009, 109; Pownall 2016, 53. 89 Raaflaub 1985, 71–82; Borszák 1987; Barceló 1990, 412–414; 1993, 149–183, v. a. 178– 183; Dewald 2003; Jordovi´c 2010; vgl. Coppola 2003 und HölscherF 2010, 246 f. zur Wiederherstellung des zerstörten Tyrannentöterdenkmals nach den Perserkriegen. 90 Vgl. Raaflaub 2003, 63–69; Pownall 2016, 60. 91 Gesetze: [Aristot.] Ath. pol. 16,10 (sofern historisch); Hyp. or. 2,3; Verwünschungsformeln zu Beginn der Sitzungen von ekkle¯sia und boule¯: Aristoph. Thesm. 334– 351; vgl. 1150–1159; kultische Ehren und Ehrung der Nachfahren: IG I3 131, Z. 5–11 (440–432 v. Chr.); And. 1,98 (400 v. Chr.); Isocr. or. 5,47 (389 v. Chr.); im 4. Jh. v. Chr. kamen dazu noch eidliche Selbstverpflichtungen von Bürgern und Bouleuten: Demo-

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bildlichen Darstellungen 92 und nicht zuletzt in der Tragödie 93 – immer wieder ihrer Tyrannenfeindschaft vergewisserte. Wie prägend die antityrannische Ideologie in Athen war, lässt sich in späterer Zeit besonders gut erkennen, als die Klassifizierung von Regimen als ‚tyrannisch‘ von verschiedensten Seiten verwendet wurde, um abgelehnte politische Ordnungen als illegitim und antipolitisch zu brandmarken. 94 Zur Zeit des Peloponnesischen Krieges bezeichneten Kritiker der athenischen Demokratie die Stellung des souveränen Demos in Athen einerseits, Athens Rolle als Hegemon im späten Delisch-Attischen Seebund andererseits als Tyrannenregime 95 und machten so deutlich, dass die Athener in ihren Augen ihre Ideale bürgerlicher Rechtsgleichheit (isonomia), gleicher und freier Rede (ise¯goria, parrhe¯sia) und gleicher Partizipation (isote¯s) ausschließlich innerhalb des athenischen de¯mos zur Durchsetzung brächten, gegenüber anderen Parteien (sowohl andere Poleis als auch innerhalb Athen marginalisierte Gruppen) jedoch mit Füßen trete. 96 Auch die führende Stellung des Perikles im Athen der Mitte des 5. Jahrhun-

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sth. or. 24,144; 149–151; dazu Ostwald 1955; Luraghi 2000, 97 f.; Raaflaub 2003, 69 f.; HölscherF 2010, 248; O’Sullivan 2011; Luraghi 2013b, 51; 56 f.; Teegarden 2014, 5; 41– 43; 45–47. Dazu HölscherT 1998/2008, 321–324; Ober 2003, 217–222; HölscherF 2010, 252–254. Allgemein zum Bild der Tyrannis in der Tragödie s. Seaford 2003; zur Kontrastierung von – demokratischem – Idealkönigtum und Tyrannis, z. B. in Soph. Oed. C. 939– 1013; Eur. suppl. 399–464; frg. 286 (Belleroph.), s. Atack 2012; vgl. Alföldi 1958, 10– 14; Hall 1989; 62–76; 154–159; 2010, 94–103; 210 f.; 214 f.; 218 f.; 282; 304 f.; Barceló 1993, 130–145; Parker 1998, 159–161 (spektisch); Jordovi´c 2005, 35 f.; Burian 2011, 99–106, 114–117; Vinh 2011, 338–341. Zum Theater als Bühne des politischen Diskurses s. Goldhill 1987 und 2000 (mit weiterer Literatur); Ober 1989, 152–155; 1998, 122–155. Vgl. Raaflaub 1985, 258–264; 2003, 71–73; 83; Barceló 1990, 414–417; 1993, 194 f.; Kallet 2003, 119 f.; Jordovi´c 2005, 9 f.; 313 f.; vgl. zur philosophischen Verarbeitung Kamp 1985, 19 f.; zur Klassifizierung von Tyrannen als antipolitisch außerhalb Athens Luraghi 2000, 105–108. Rolle des de¯mos: Aristoph. equ. 40–73; 967–969; 1090–1096; 1111–1150; 1316–1134 (Transformation des Tyrannen zum König); vesp. 461–476 und 500–525 (de¯mos tyrannos sklavisch abhängig von Demagogen); 546–576; 620; Rolle im Seebund: Aristoph. equ. 790–823; 965 f.; 1086–1089; 1316–1334; vesp. 519 f.; 576 f.; 700–714; Thuc. 1,73,1–78,4 (implizit, v. a. 1,75,1–5); 1,120,1–124,7 (v. a. 1,122,3; 1,124,3); 2,60,1–64,5 (v. a. 2,63,1–3); 3,37,1–40,7 (v. a. 3,37,1–5); 5,90–114,2; vgl. HunterV 1973; Barceló 1993, 143–145; 196 f.; Ober 1998, 94–107; 122–155; Henderson 2003; Morgan 2003; Jordovi´c 2005, 91–98; McGlew 2006; Asirvatham 2017, 264 f. Hier ist indes ergänzend zu bedenken, dass man sich in Athen mit derartigen Deutungen durchaus progressiv auseinandersetzte. So gab es auch aus der Warte ‚offizieller‘ athenischer Staatsideologie den Standpunkt, eine tyrannengleiche Stellung im Seebund könne sehr wohl gerechtfertigt werden, und die legitime Machtstellung des de¯mos ließ sich ebenfalls mit der eines (= des einzig legitimen) Tyrannen gleichsetzen – und manche der o. Anm. 95 angeführten Stellen könnten dies ebenso bezeugen. Indes handelt es sich dabei um eine sekundäre Entwicklung, die bereits auf die kritische Vereinnahmung der Tyrannenfeindschaft Athens durch die Kritiker der

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derts v. Chr. wurde bekanntlich später mit der eines Tyrannen verglichen, 97 und als tyrannisch ließ sich auch der politische Ehrgeiz eines Alkibiades beschreiben. 98 Neuerliche Aktualisierungen der Tyrannenfeindschaft aus der Warte des demokratischen Mehrheitsdiskurses fanden schließlich in den Jahren 410 und 403 v. Chr. statt, als die jeweils vorangegangenen oligarchischen Regime mit dem Signum der Tyrannis versehen wurden: 99 Im Dekret des Demophantos von 410 v. Chr. wird der Kampf gegen die Oligarchie neben jenem gegen die Tyrannis eingereiht unter die bürgerlichen Pflichten zur Verteidigung der Demokratie; 100 der Sieg des de¯mos über die oligarchische Junta der ‚Dreißig‘ wurde sieben Jahre später sogar – ganz ähnlich wie die Revolution von 508 v. Chr. und in expliziter Angleichung an die Tat der Tyrannoktonoi – zum Sieg über Tyrannen und mithin zu einem neuen Gründungsakt der Demokratie erklärt. 101

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Demokratie reagiert; vgl. dazu Schuller 1978; Raaflaub 1984; 1985, 162–207 v. a. 181– 184; 230–248; 2003, 77–82; Barceló 1990, 419–424; 1993, 196–200; Henderson 2003, 156–161; Kallet 2003; Jordovi´c 2005, 84–91; 162; Teegarden 2014, 106 f. Kratin. fr. 73; 114; 171; 258 (PCG); Aristoph. Ach. 515–534 (implizit); Telekleid. fr. 45 (PCG); Thuc. 2,65,6–10; Plut. Per. 7,1–5; 39,1–5; Schwarze 1971; Barceló 1993, 241 f.; Henderson 2003, 159; Vickers 1997; Jordovi´c 2005, 135–139; McGlew 2006; Pownall 2016, 56 f. Barceló 1993, 242 f.; Ober 1998, 109 f.; Zakravsky 2000 (mit modernistischem Blick); Henderson 2003, 170–172; Jordovi´c 2005, 131–134; 140–168; Azoulay 2014, 97–120. Mitchell 2006; vgl. Azoulay 2014, 23 f.; 81–120. Noch spätere Aktualisierungen finden sich ab den späten 340er-Jahren zur Einschränkung des Einflusses einzelner promakedonischer Politiker. In diesem Zusammenhang wurde – wie ein Gesetz aus Eretria zeigt – das athenische Muster auch in andere Poleis ‚exportiert‘; Tyrannengesetz in Eretria 342 v. Chr.: IG XII / 9, 190 mit Knoepfler 2001 und 2002; dazu Teegarden 2014, 57–84; Eukrates-Dekret, Athen 336 v. Chr.: Merritt 1952, 355–359 Nr. 5; Ostwald 1955; Ober 2003, 222–224; Teegarden 2014, 85–112. Nur wenige Jahre später sollte die makedonische Monarchie selbst ‚antityrannische‘ Gesetzgebung in kleinasischen (bzw. ostägäischen) Poleis unterstützen, um diese im Konflikt mit dem persischen Großreich zu stabilisieren und sich deren Loyalität zu sichern; zu den Vorgängen in Eresos, Erythrai und Ilion vgl. Koch 1996 und 2001; Ober 2003, 226– 228; Teegarden 2014, 115–214. Überliefert bei And. 1,96–98; s. dazu Koch 1996, 39 f.; HölscherF 2010, 250 f.; v. a. Teegarden 2014,5, 15–53; Pownall 2016, 60 f. Z. B. Lys. or. 12,35; Xen. hell. 2,3,16; 2,3,48 f.; 2,4,1; Aristot. rhet. 1401a35 f.; Plut. Arat. 16,3; Philostr. v. Apoll. 7,4. Vgl. Dillery 1971, 138–163; Ober 2003, 224–226; Jordovi´c 2005, 169–214; Mitchell 2006, 182 f.; Azoulay 2014, 97–120; Teegarden 2014, 43–52; Pownall 2016, 56 f.; 60. Auch die ‚vergessenspolitischen‘ Reintegrationsmaßnahmen, die im Zuge der Umkodierung einer oligarchisch-demokratischen stasis als Sturz von Tyrannen ergriffen wurden, lassen sich mit den Ereignissen von 514/508 v. Chr. vergleichen: And. 1,90 f.; Xen. hell. 2,4,43; s. Ober 1989, 93–95; Flaig 1991; Teegarden 2014, 47–49.

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4.2. Tyrannis und Philosophie In dieselbe Zeit der erneuerten athenischen Demokratie gehört auch die Übertragung der Tyrannentopik in die entstehende politische Philosophie (und damit vom Feld der politischen Struktur in das der politischen Ethik), deren Bedeutung als Bildungsgut eine erhebliche Rolle bei der Übertragung griechischer Tyrannentopik nach Rom (und in die Gegenwart) gespielt haben dürfte. 102 So hat die Forderung nach Selbstmäßigung des Herrschers zwar ihre Wurzeln in einer von Teilen der integrierten Elite Athens vertretenen Ideologie von ‚Maß und Mitte‘, 103 und die Idee regelhafter gegenseitiger Ablösung von Regimetypen könnte bereits von Sophisten vertreten worden sein – erkennbar wird sie erstmals in der sogenannten Verfassungsdebatte bei Herodot. 104 Gerade die Stellung dieser Oberschichten und der sophistischen Bildungskultur 105 war indes im Bürgerkrieg von 403 in Misskredit geraten. Die Entstehung einer dezidiert theoretischen (statt praxisorientierten) Beschäftigung mit dem Politischen ist Folge eines Ringens der Vertreter dieser Bildungskultur um Reetablierung einer sozialen Identität innerhalb einer erneuerten Polis, in deren Zuge sich die Philosophie als rein geistige (und deshalb ungefährliche) Disziplin neu definierte. Aus der Warte dieser Distanz von der Politik ließ sich die Rolle des Philosophen als Ratgeber der Politik neu begründen. 106 Dabei vertraten Philosophen wie Platon ein dualistisches Menschenbild, das sie auch auf die Politik übertrugen – demnach seien es geistige Fähigkeiten (‚Vernunft‘), die dem Menschen die Kontrolle der von der Sinnenwelt vermittelten Eindrücke ermöglichten. Das platonische Seelenkonzept ordnet drei verschiedene Qualitäten der menschlichen psyche¯ in ein hierarchisches Modell ein, das sich anschaulich in Platons Gleichnis vom ‚Seelenwagen‘ darstellen lässt. In einer gut verfassten seelischen Kon-

102 Explizit als Quelle des eigenen Wertmaßstabes bei Tac. ann. 6,6,1 f.; vgl. allgemein Alföldi 1958, 10 f.; 15 f.; Girardet 2005; Sidebottom 2006, 121–127; Priwitzer 2009, 110; Jordovi´c 2010, 1. 103 Morris 1996. 104 Hdt. 3,80–88; vgl. (zur Deutung von Monarchie und Tyrannis) Barceló 1990, 417– 419; 1993, 169–175; Dewald 2003, 28–30; 35 f.; Sidebottom 2006, 119 f.; Jordovi´c 2010; Haake 2013, 170. 105 S. dazu im Kontext von Konzepten der Alleinherrschaft (etwa im Sinne der Debatten um Naturrecht und positives Recht) Raaflaub 2003, 76 f.; Jordovi´c 2005, 8; 70–127. 106 Vgl. dazu Azoulay 2007; Blank 2017 und 2018; eine andere historische Begründung bietet Sidebottom 2006, 123–125. Dass auch diese ‚Erfindung‘ des politischen Spezialistentums bereits im Denken des ausgehenden 5. Jh. v. Chr. vorbereitet wurde, hat am Beispiel der Tragödie Atack 2012 und 2014 gezeigt; vgl. auch bes. Jordovi´c 2005, 70–127.

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stitution befindet sich dabei der Seelenteil der Vernunft (logistikon) in der Stellung des Wagenlenkers, der die zwei ungestümen Rosse der beiden anderen, einander gegensätzlichen, Seelenteile des Eifers (thymoeide¯s) und der Begierden (epithyme¯tikon) zu zügeln und das Gespann so zu stabilisieren vermag. 107 Fehlt es an der Vernunft der Regierenden, so wird der Wagen unkontrolliert fortgerissen. Bekanntlich findet dieses Seelenkonzept eine Analogie in Platons Staatslehre, 108 in der dem Regenten die Stellung des logistikon zukommt. Im Zuge der Darstellung der schlechten Ausprägungen politischer Herrschaft (Timokratie, Oligarchie, Demokratie, Tyrannis) im achten und neunten Buch der Politeia, in der die Monarchie das letzte Stadium der Staatsentwicklung darstellt, unterscheidet Platon scharf zwischen dem (philosophischen) Monarchen und dem Tyrannen: 109 Der platonische Tyrann, ganz auf Erfüllung seiner Triebe ausgerichtet, 110 zeigt sich anfänglich freundlich und macht insbesondere dem einfachen Volk viele Zugeständnisse; 111 er festigt seine Stellung durch beständige Kriege im Äußeren; 112 indem er seine Kritiker beseitigt, entfernt er gerade die besten Bürger aus seinem Umfeld und kann sich nur noch an Schmeichler wenden; 113 er lebt in beständiger Furcht 114 und installiert von außen hinzugezogene Söldner und freigelassene Sklaven als Leibwachen; 115 und durch all dies zieht er sich den Hass seiner Untertanen zu, während nur die von ihm abhängigen Profiteure ihn bewundern. 116 Im Laufe der Zeit wird der Tyrann zunächst öffentliche Güter, später das Privateigentum seiner Untertanen und seiner Angehörigen zur Finanzierung des extravaganten,

107 Plat. Phaidr. 246a3–256e2 (im Bild des Seelenwagens); rep. 437b1–441c2 (Bestimmung der drei Seelenteile). 108 Explizit in Plat. rep. 580d3–5; 581c4 f. 109 Plat. rep. 544c1–545c8; vgl. zum idealen Königtum Plat. rep. 497a2–502c9; 519b8– 521b11; Sidebottom 2006, 121. Auch Platon ist in seiner Skizze des konsekutiven Wandels der Regimetypen von der antityrannischen Ideologie Athens beeinflusst, und so stellt für ihn als offenen Gegner der demokratischen Ordnung einzig die Tyrannis ein noch schlimmeres Regime dar. Dabei droht die Demokratie beständig in eine tyrannische Ordnung umzuschlagen, was Platon implizit entlang athenischer Exempla illustriert (Plat. rep. 562a4–566d4); vgl. Ober 2003, 229–235. 110 So die in Plat. Gorg. 491e4–495c2 dem Sophistenschüler Kallikles in den Mund gelegte These; vgl. dazu Jordovi´c 2005, 89; 92–109. 111 Plat. rep. 566d9–e4; Jordovi´c 2005, 43 f. und v. a. 2010, 1–3. 112 Plat. rep. 566e6–567a8; dies ist eines der wenigen Elemente des platonischen Tyrannenbildes, das sich offenbar nicht in römisches Staatsdenken integrieren ließ, s. Priwitzer 2009, 147–150. 113 Plat. rep. 567b4–d2; 575e2–576b1; vgl. zur in diesem Punkt abweichenden römischen Rezeption Priwitzer 2009, 118–126. 114 Plat. rep. 577e1–578a5; 578e1–579d2; vgl. Priwitzer 2009, 126 f. 115 Plat. rep. 567d4–568a2. 116 Plat. rep. 568a4–6.

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ja orgiastischen Lebensstils (der seine Begierden doch nicht zu stillen vermag) 117 an seinem Hof gewaltsam auspressen. 118 Dieses Verhalten von Tyrannen führt Platon explizit auf seelische Zustände und besonders auf den Umgang mit den Trieben (epithymiai) zurück, die jedem Menschen innewohnten und durch besonnene Mäßigung (so¯ phrosyne¯) zu zügeln seien: Den Tyrannen kennzeichnet eben die Unfähigkeit dazu, weshalb er sich bis zur Erhebung über die Götter selbst überhöhe: 119 ‚Tyrannisch aber‘, sagte ich, ‚mein Göttlicher, wird ein Mann genau dann, wenn er aus Veranlagung oder durch seine Lebensführung oder durch beides rauschsüchtig, wollüstig und reizbar wird.‘ 120

Entgegengesetzt ist diesem tyrannischen Geist der philosophische, der aufgrund genauer Kenntnis seiner selbst und besonders seiner seelischen Konstitution dem Ideal der vollkommenen Kontrolle seines Handelns durch das logistikon am nächsten kommt. 121 Die Fähigkeit zur vernunftgesteuerten Kontrolle der Triebe entscheidet hier nicht nur über das persönliche Glück des Menschen, 122 sondern auch über die Qualität des Regimes: Die Tyrannis erscheint als Regime, in dem alle Beteiligten einschließlich des Tyrannen selbst Sklaven der menschlichen Triebe sind: In diesem Sinne ist gar der Eros selbst der eigentliche Herrscher, nicht die sklavische Tyrannennatur. 123 Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass Platon, der die Tyrannis ausdrücklich als ‚Krankheit‘ (nose¯ma) bezeichnet, 124 davon ausgeht, dass all diese Eigenschaften zwar nur bei entsprechender Veranlagung zur Ausprägung kämen, indes durch die Stellung eines Menschen an der Macht im Laufe der Zeit verstärkt würden, womit er Quiddes Vorstellung vom Einfluss der autokratischen Stellung auf den ‚Caesarenwahn‘ näher steht als die von Quidde verwendeten kaiserzeitlichen Quellen:

117 118 119 120

121 122

123 124

Plat. rep. 578a1–12; vgl. Priwitzer 2009, 133–136. Plat. rep. 568d4–569c4; 573d1–574c8; vgl. Jordovi´c 2005, 146 f. Plat. rep. 572b3–573c5. Plat. rep. 573c7–9: Τυραννικὸς δέ, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὦ δαιµόνιε, ἀνὴρ ἀκριβῶς γίγνεται, ὅταν ἢ φύσει ἢ ἐπιτηδεύµασιν ἢ ἀµφοτέροις µεθυστικός τε καὶ ἐρωτικὸς καὶ µελαγχολικὸς γένηται. Vgl. zu den Auswirkungen dieser Konstitution die ‚Lebensbeschreibung‘ in Plat. rep. 573c11–576b9. Plat. rep. 582a8–583a3; Alföldi 1958, 15–18. Berühmt ist die Rechnung in Plat. rep. 587d4–588a2, derzufolge der tyrannische Mensch 729-mal unglücklicher als der monarchische sei; ähnlich auch das seelische Unglück des tyrannischen Menschen in Plat. Gorg. 524d4–525a7, auf das Tac. ann. 6,6,1 f. anspielt; vgl. Barceló 1993, 85. Plat. rep. 573b7 f.; 577c5–e3; 579d9–e6; vgl. Jordovi´c 2005, 142 f. mit Anm. 67; Priwitzer 2009, 140. Plat. rep. 543c1–d1.

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Wird aber folglich nicht derjenige so werden, der schon ganz besonders tyrannisch [sc. lustaffin] veranlagt ist und dann als Alleinherrscher regiert; und je längere Zeit er in der Tyrannis lebt, desto mehr wird er so werden? 125

Verwandte, wenn auch weniger elaborierte Modelle von der tyrannischen Herrschaft (und ihrem idealen ‚königlichen‘ Gegenstück) finden sich bei einer ganzen Reihe weiterer demokratiekritischer Autoren des 4. Jahrhunderts v. Chr., so etwa bei Xenophon und Isokrates. 126 Unmittelbar von Platon inspiriert (aber nicht deckungsgleich) 127 ist das umfassende Tyranniskonzept des Aristoteles, in dessen Verfassungskreislauf das Königtum einerseits den besten (aber utopischen), die Tyrannis andererseits den schlechtesten Regimetypus darstellt; zugleich werden die ‚schlechten‘ Regime allesamt auf die gleiche (psychologische) Ursache zurückgeführt: die Orientierung am eigenen Lustempfinden statt am Gemeinwohl. 128 Aufgrund einer apolitischen, sklavischen, passiven, mithin von ‚weiblichen‘ Einflüssen bestimmten seelischen Konstitution solcher Regime seien diese in ihrem ganzen Streben auf die Marginalisierung geistiger Qualitäten ausgerichtet: Der aristotelische Tyrann als Feind der Philosophie (und phi125 Plat. rep. 576b6–8: Οὐκοῦν οὗτος γίγνεται ὃς ἂν τυραννικώτατος φύσει ὦν µοναρχήσῃ, καὶ ὅσῳ ἂν πλείω χρόνον ἐν τυραννίδι βιῷ, τοσούτῳ µᾶλλον τοιοῦτος. Vgl. dazu etwa Tac. ann. 6,48,2–4 (mit 6,51,3), demzufolge die autokratische Stellung des Tiberius dessen Verhalten negativ beeinflusste (vi dominationis convulsus et mutatus) und nur äußere Einflüsse, nicht aber eigene Charakterstärke, für eine gewisse Kontrolle seiner Triebe sorgten, bevor sie nach dem Tode des Seianus jeglichen Halt verloren hätten (postremo in scelera simul ac dedecora prorupit postquam remoto pudore et metu suo tantum ingenio utebatur). Ähnlich erklärt in Tac. ann. 13,2,1–3 der Einfluss des Seneca und des Burrus den gemäßigt-positiven Beginn der Herrschaft Neros. 126 Vgl. Barceló 1993, 246–258; Usher 1993; Eder 1995; Morgan 2003 (der demos als Tyrann); Pownall 2004, 65–112 und 2016; Jordovi´c 2005, 10 f.; 121–124; 142 f. mit Anm. 68; Mitchell 2006, 180–185; Sidebottom 2006, 120–127; Priwitzer 2009, 109; Gray 2011, v. a. 5–69; Tamiolaki 2012; Luraghi 2013a, 18–20; 2013b, 51 f.; Haake 2013, 168–173; Atack 2014, 342–353; 2015, 298–301; 313–315; Blank 2014, 37 f. mit Anm. 39; 100–106; 199 f.; 220; 224–231; 413–416; 419–422; 430–434; (ad Isoc. or. 4,80; 4,110–128; 8,3–14; 8,142–144; 10,18–38); Teegarden 2014, 7 f. Bemerkenswert ist hier Xenophons unmittelbar nach dem Bericht vom Ende der ‚Dreißig Tyrannen‘ platzierte Erzählung von einer weiblichen Vertreterin tyrannischer Herrschaft in Persien, die ausgerechnet den exemplarischen Namen Mania (µανία, dt. Raserei, Wahnsinn) trägt (Xen. hell. 3,1,10–28; vgl. dazu Pownall 2004, 108 f.; 2016, 71–73; etwas anders Tamiolaki 2012, 569 f.). 127 Zu Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Platons Unterordnung des positiven Rechts unter die philosophische Moralität s. Atack 2015, 309–313. 128 Zur Kontrastierung guter und schlechter Monarchie (sowie der Differenzierung verschiedener Typen von Monarchie): Aristot. pol. 1279a17–22; 1279b4–19; 1284b13– 17; 1285a1–1286a6; 1287a1–24; 1289a25–b11; 1292a17–30; 1292a39–b10; 1293b27– 30; 1295a1–24; 1305a7–28; 1305b39–a9; 1306a20–31; 1310a39–1315b9; Mandt 1974, 31–40; 51–62; Kamp 1985; Barceló 1993, 258–278; Jordovi´c 2005, 54; Atack 2015, 306–320.

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losophischer Ratgeber) erscheint so als „personifizierte Unvernunft“. 129 Gerade aus der Warte dieser philosophischen Zugänge zum Problem der richtigen bzw. falschen Herrschaft, die die jeweiligen Qualitäten als Akzidens statt als Substanz verschiedener Regimetype auffassen, lag die Übertragung der topischen Klischees von der Gewaltherrschaft des Tyrannen auf andere Regimetypen (und in andere kulturelle Kontexte) besonders nahe. Und wichtiger noch: Nur diese Konzeption der ‚schlechten‘ monarchischen Herrschaft, der die Idee einer ‚guten‘ gegenübersteht, lässt sich in Appelle an monarchische Herrscher umsetzen. Platon und seine intellektuellen Zeitgenossen kennzeichnen ihre Konzepte idealer Monarchie deutlich als utopisch. 130 Das gilt auch für das Thema der Unterordnung des Monarchen unter einerseits das Gemeininteresse, andererseits unter die wohlmeinenden (und deshalb ehrliche Kritik übenden) Ratgeber. Der zur Kontrolle des Triebhaften im Menschen fähige Herrscher (oder eine entsprechende regierende Personengruppe) benötigt für eben diese politische Kompetenz die Eigenschaften und Erkenntnisfähigkeit des Philosophen, was bedeutet, dass er Schüler eines Philosophen zu sein hat. In dieser Beziehung zwischen Philosophie und Herrschaft weist die entstehende politische Philosophie ihrem eigenen Metier einen idealen gesellschaftlichen Ort zu, der indes (vor allem bei Platon) nie erreichbar scheint, sodass entsprechende Ansprüche der Philosophen über den Status des Appells nicht hinauskommen. Denn Gehör finden Philosophen als Lehrer und ehrliche Ratgeber mit der bitteren Medizin ihrer Lehre erst dann, wenn der Regent bereits als Philosoph gelten kann. Da dies aber in realen Staaten nicht der Fall ist – stattdessen finden dort nur Schmeichler, Demagogen und Frauen 131 Gehör –, wird die politische Aktivität von Philosophen in der Realität nicht zur positiven Beeinflussung des Regenten, sondern zur Verfolgung der Philosophie führen, wie das Fanal des Sokratesprozesses zeige. 132

5. Fazit Den Parallelen zur Tyrannentopik der römischen Kaiserzeit im Einzelnen vertiefend nachzugehen, würde den Rahmen eines Buchbeitrages sprengen. Neben den Gemeinsamkeiten der Stereotypisierung von Kaisern und 129 Aristot. pol. 1287a33–b3; 1313b32–1314a9; Kamp 1985 19–27 (Zitat: 23). 130 Kamp 1985,19; 28–32 zu Aristot. pol. 1314a30–40; vgl. mit etwas anderer Akzentuierung Tamiolaki 2012. 131 Vgl. Aristot. pol. 1313b32. 132 S. dazu allgemein Blank 2018.

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Tyrannen im 2. Jahrhundert n. Chr. und im klassischen Athen sollten indes auch die Unterschiede deutlich geworden sein: In Athen kommt der ideologischen Abwertung der Tyrannis eine identitätsstiftende Funktion für die heterogene demokratische Bürgergemeinschaft zu, und ihre Abstraktion in ein Konzept politischer Theorie erfolgt aus der Warte einer Intellektualität, die sich Räume heterodoxen Denkens dadurch zu schaffen sucht, dass sie ihre idealen Modelle als Utopien ausweist. Von Traktaten wie jenen des Dion, der selbst auf lokaler und auch auf Reichsebene politisch aktiv war, oder von Reden wie jener des Plinius, die die politische Philosophie der klassischen Zeit zwar rezipieren, sie aber nicht zuletzt ohne Anspruch auf eigenen Philosophenstatus in persönlichen Ansprachen an den Princeps zur Anwendung bringen, kann man dies nun aber gerade nicht behaupten. 133 Die bemerkenswerte Karriere, die die Tyrannentopik in der Kaiserzeit macht, steht letztlich sogar im Zusammenhang mit der Übernahme einzelner ihrer Elemente in die kaiserliche Repräsentationspraxis. Ob Kaiser wie Trajan bzw. ihre Herrschaftsrepräsentation durch die Übernahme der Idee vom wohlberatenen, selbstbeherrschten Monarchen den Utopismus der klassischen Philosophie lügen straften, sei indes dahingestellt. Ihre eigentliche Wirkung übt die kaiserzeitliche (ebenso wie schon die klassische und hellenistische) Tyrannentopik jedenfalls auf der Ebene des Herrschaftsdiskurses, nicht auf jener der Herrschaftspraxis aus. 134 Ludwig Quidde reiht sich mit seiner Übertragung der Topik vom ‚schlechten Kaiser‘ in eine lange Tradition von immer neuen Reproduktionen stereotyper Herrscherklischees und ihrer Übertragung auf immer neue gesellschaftliche Zusammenhänge ein. Quidde selbst hat die Topik auf sekundärem Wege über ihre implizite Paraphrase in Hertzbergs Kaisergeschichte rezipiert und mag sich ihrer viel älteren Wurzeln und vor allem des Umstandes nicht bewusst gewesen sein, dass schon die Quellen zur römischen Kaiserzeit ältere Klischees und zuweilen gar Wandererzählungen zur Anwendung brachten, wenn sie die unbeherrschten Exzesse am Hof ‚wahnsinniger‘ Kaiser beschrieben. Indes bleibt zu vermuten, dass noch ein weiterer Faktor Quiddes Rezeption der Tyrannentopik beeinflusst und befördert hat: Denn wenn sich auch zeigen lässt, dass Quiddes Quellen ihrerseits topische Elemente verarbeiteten, so erklärt das nicht, weshalb Quidde diese klischeehaften Beschreibungen antiker Herrscher überhaupt für übertragbar gehalten hat,

133 Zur politischen Aktivität und Pragmatik der Vertreter der frühen Zweiten Sophistik s. Salmeri 2000, 65 f.; Whitmarsh 2010, 96 f.; Pernot 2016, 267–272. 134 Vgl. Eder 1995; Haake 2013 zur hellenistischen Fürstenspiegelliteratur.

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weshalb sie also für seinen eigenen Blick auf politisches Handeln so attraktiv erschienen. Die Identifizierung der politischen Theorie vor allem des spätklassischen Athen als Ursprungsort zentraler Elemente der von Quidde beschriebenen Symptomatik des Wahns könnte indes zur Beantwortung dieser Frage aufschlussreich sein. Denn das politische Denken und insbesondere der Liberalismus der Moderne beruht bekanntlich seinerseits auf einer intensiven Auseinandersetzung mit der politischen Theorie der Antike. Und gerade die Kritik Platons (und seiner Zeitgenossen) an der tyrannischen Regierung von Monarchen, Oligarchen und Demokraten sowie die aristotelische Verfassungstheorie stellen wesentliche Grundlagen des modernen Republikanismus dar. 135 Es wäre daher naheliegend anzunehmen, dass Quidde letztlich in einer Art unbemerktem Zirkelschluss gleich doppelt von der antiken Tyrannentopik geprägt war: Zum einen übernahm er in einem wissentlichen Akt die (tyrannentopischen) Urteile der kaiserzeitlichen Literatur, zum anderen könnten sie ihm nicht zuletzt deshalb attraktiv erschienen sein, weil sein eigenes politisches Denken – direkt oder indirekt – von denselben Klassikern antiker politischer Theorie geprägt war, die auch der Bildungskultur der römischen Kaiserzeit als Vorbilder dienten. Dann hätte er die Richtigkeit seiner von antiker Topik beeinflussten politischen Ansichten letztlich mit dieser Topik selbst zu begründen versucht. Ein in diese Richtung deutendes Indiz könnte in einer markanten Leerstelle in Quiddes Übernahmen aus seinen Quellen zu finden sein: Anders als in den griechischen und den lateinischen Vorlagen spielt nämlich die Rolle der Frauen am Hof im Caligula keine bedeutende Rolle. Bei Quidde tauchen diese nur als Objekt seines Handelns, nicht als schädlicher Einfluss auf. 136 In diesem Punkt scheint die antike Topik entweder nicht mit Quiddes liberalem Denken vereinbar gewesen zu sein, das eben hierin nicht auf römischen Kategorien fußte, oder sie ließ sich aus anderen Gründen nicht für eine Kritik des wilhelminischen Kaisertums verwerten – folglich wurde sie auch nicht wahrgenommen. Diese hier nur tentativ vorgenommene Kritik der Grundlagen der quiddeschen Rezeption wäre freilich durch eingehendere Untersuchungen zu Quiddes politischem Denken zu überprüfen, die im Rahmen dieses Buches nicht geführt werden können.

135 Vgl. etwa den Einfluss der aristotelischen Mischverfassungstheorie auf das politische Denken der Moderne, s. dazu aus der ausufernden Literatur e. g. Mandt 1974, 66– 101; Herz 1999; Nippel 2001 und 2008, v. a. 88–110; Nitschke 2002, 10–24; 26– 29; 47–52; 82–135; Riklin 2006; Taranta 2006; Lay 2007; vgl. auch Newell 2013 (zu Macchiavelli; vgl. dazu aber die Kritik in Garver 2014). 136 Quidde 311926 [1894], 18 f. (s. o. S. 40 f.).

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Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer

‚Caesarenwahn‘ oder politische Vision? Caligula, Nero, Commodus, Elagabal und die Struktur der römischen Monarchie

Dem Wunsch der Herausgeber entsprechend möchte ich einen Überblick über die Neubewertung des Phänomens ‚Caesarenwahn‘ in der historischen Forschung der letzten Jahre geben und dabei eine eigene Deutung für das Handeln der als „verrückt“ bezeichneten Kaiser vorschlagen. Dies erfordert, die politische Struktur der kaiserzeitlichen Monarchie darzustellen, in der die „wahnsinnigen“ Caesaren handelten oder besser vielleicht: in der sie „verrückt“ wurden. Ich werde zunächst knapp die Protagonisten vorstellen (I), dann auf die mit der neueren Forschungsgeschichte verbundenen methodischen Fragen eingehen (II–IV) und schließlich zu zeigen versuchen, dass der „Wahnsinn“ Methode hatte, wenn man ihn als Ausdruck einer Überdehnung des kaiserlichen Handlungsspielraums und einer gescheiterten Kommunikation zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen begreift (V). Das kann in diesem Rahmen nur thesenartig geschehen; für eine eingehendere Argumentation der im Folgenden behandelten Aspekte sei auf die einschlägige Forschung verwiesen. 1

1 Für die kritische Lektüre dieses Aufsatzes und hilfreiche Kommentare möchte ich Thomas Blank, Florian Krüpe, Konrad Stauner und Uwe Walter danken.

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1. Dramatis personae: Caligula, Nero, Commodus und Elagabal 2 1.1. Caligula (37–41 n. Chr.)

Sesterz, 27,79 g. Rom, 37–38 n. Chr. Vs.: Kopf des Caius mit Lorbeerkranz n. l. – C(aius) CAESAR AVG(ustus) GERMANICVS PON(tifex) M(aximus) TR(ibunicia) POT(estate) Rs.: Caligulas Schwestern Agrippina, Drusilla und Iulia in Gestalt der Securitas, Concordia und Fortuna – AGRIPPINA DRVSILLA IVLIA, im Abschnitt S(enatus) C(onsulto) Quelle: RIC I2 Caius / Caligula 33; MIR 8; © Numismatische Münzdatenbank Eichstätt.

Nach dem Tod des Kaisers Tiberius im Jahr 37 akklamierten die Prätorianer den 24-jährigen Sohn des Germanicus, C. Caesar Germanicus, genannt Caligula, als C. Caesar Augustus Germanicus zum Kaiser. 3 Senat und Bürgerversammlung übertrugen ihm dann rituell die Amtsgewalten. 4 Von allen Gruppen der Reichsbevölkerung überschwänglich begrüßt, 5 regierte Caligula zunächst ohne größere Vorfälle, wurde dann aber Ende des Jahres ernsthaft krank und verlor überdies im folgenden Jahr seine Lieblingsschwester Drusilla. Als er wider Erwarten genesen war, ließ er den von ihm adoptierten Enkel des Tiberius, Tiberius Gemellus, töten und Drusilla vergöttlichen. Nachdem im Jahr 39 und zu Beginn des folgenden Jahres

2 Diese Skizzen sind auf die für das Kaiserbild der Überlieferung und für die Deutungen in der Forschung relevanten Ereignisse, Zäsuren und Konflikte bezogen und lassen vor allem das ‚außenpolitische‘ sowie das administrative Herrschaftshandeln außer Betracht. 3 Allgemein zu Caligula Balsdon 1934, Barrett 1989 und Winterling 2003, zur Forschungsgeschichte Ronning 2011, 254–260. 4 Die drei rituellen Akte bestanden in der Imperator-Akklamation durch die Prätorianer (bei Usurpationen durch die beteiligten Legionen), der Augustus-Erhebung im Senat und der Übertragung der Amtsgewalten in Form der lex de imperio durch die comitia curiata in ihrer kaiserzeitlichen Rumpfform. 5 SIG3 797 (Assos); SIG3 798 (Kyzikos); Phil. legat. ad Gaium 10–12; Suet. Cal. 13 f.

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drei Verschwörungen hochrangiger Senatsmitglieder und Angehöriger des Kaiserhauses aufgedeckt worden waren, suchte Caligula die Konfrontation mit dem Senat, dessen Mitglieder er demütigte, wobei die Senatoren sich gegenseitig denunzierten und im Senat zahlreiche Majestätsprozesse anstrengten. Im Jahr 40 parodierte er nach einem gescheiterten BritannienFeldzug den Triumph und ließ – Dareios’ Brücke über den Hellespont nachahmend – eine Brücke über den Golf von Neapel schlagen. Die vierte und letzte Verschwörung gegen ihn ging von seinen engsten Vertrauten, seinem Freigelassenen C. Iulius Callistus und den beiden Prätorianerpräfekten, aus; in ihrem Auftrag ermordeten zwei Prätorianertribune den Kaiser im Jahr 41. Die antiken Biographen und Geschichtsschreiber werfen dem Kaiser nicht nur Hochmut (superbia), Grausamkeit (saevitia), Habgier (avaritia) und ein ausschweifendes Sexualleben (impudicitia) vor, sondern auch Inzest mit seinen Schwestern. 6 Als Caligula sich selbst von Senatoren als Gott anreden ließ und plante, seinem Lieblingspferd Incitatus die Würde eines Konsuls mit Sitz im Senat zu verleihen, hielt man ihn für wahnsinnig. 7 Caligula verfiel der damnatio memoriae.

1.2 Nero (54–68 n. Chr.)

As, 11,29 g. Rom, ca. 64 n. Chr. Vs.: Barhäuptiger Kopf des Nero n. r. – NERO CLAVDIVS CAESAR AVG(ustus) GERMANIC(us) Rs.: Nero in Gestalt des Apollo Citharoedus mit Kithara n. r. schreitend – PONTIF(ex) MAX(imus) TR(ibunicia) POT(estate) IMP(erator) P(ater) P(atriae), im Feld: S(enatus) C(onsulto), im Abschnitt: I Quelle: RIC I1 Nero 210; © Numismatische Münzdatenbank Eichstätt.

6 Die narrativen Hauptquellen sind Phil. legat. ad Gaium; Ios. ant. Iud. 19,15–66; Suet. Cal.; Cass. Dio 59. 7 Sen. ira 1,20,9: dementia; 3,21,5: furor; Plin. nat. 36,113: insania; Phil. legat. ad Gaium 76: paraple¯xía; 93: manía; Tac. ann. 13,3,2: turbata mens; Suet. Cal. 50,2; 51,1: valetudo mentis; vgl. Cass. Dio 59,26,5 (= Xiphil. 168,4–169,11; Exc. Val. 211, p. 669 sq.): deinôs.

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Nachdem Agrippina die Jüngere, eine Schwester Caligulas, ihren Onkel und Gatten, Kaiser Claudius, vergiftet hatte, riefen die Prätorianer im Jahr 54 ihren von Claudius adoptierten Sohn, den noch 16-jährigen Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus, als Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus zum Kaiser aus. 8 Die ersten fünf Jahre seines Regiments unter der Führung des Prätorianerpräfekten Afranius Burrus und des Prinzenerziehers Seneca galten den Zeitgenossen später als „glückliche Zeit“ (quinquennium Neronis), 9 obwohl Nero bereits im Jahr nach seiner Erhebung den Sohn des Claudius, seinen Stiefbruder Britannicus, hatte vergiften lassen. Das Verhältnis zu seiner ehrgeizigen Mutter war von Anfang an äußerst gespannt und führte im Jahr 59 schließlich zur Ermordung Agrippinas. Nach diesem Verbrechen (parricidium) und der Verstoßung sowie späteren Tötung seiner Frau Octavia im Jahr 62 verlor Nero allmählich die Gunst größerer Teile der Plebs, die er bisher wegen seiner Freigebigkeit und der vielen Festspiele genossen hatte. Trotz außenpolitischer Erfolge unter Domitius Corbulo in Armenien (58–63) und bei der Niederschlagung des Boudicca-Aufstandes in Britannien durch Suetonius Paulinus (61) verschlechterte sich nach dem Tod des Burrus, dem Rückzug Senecas und der Ernennung des neuen Prätorianerpräfekten Ofonius Tigellinus im Jahr 62 auch die Beziehung Neros zum Senat. Man nahm Anstoß an seinen sexuellen Ausschweifungen im Palast und bei städtischen Festen, an denen er sich angeblich auch ‚wie eine Frau gebrauchen‘ ließ. Für den Brand Roms im Jahr 64 machte die Plebs in Form von Gerüchten Nero verantwortlich, der seinerseits als Sündenbock die Christen präsentierte. Angeblich wollte er die wiederaufgebaute Stadt in Neropolis umbenennen. Im folgenden Jahr kam es zu einer Verschwörung hochrangiger Senatoren, der sogenannten ‚Pisonischen Verschwörung‘, die allerdings aufgedeckt wurde und neben den Verschwörern weitere Senatoren ins Verderben stürzte, darunter auch Seneca, Lucan, Petronius und Paetus Thrasea. Während des Wiederaufbaus von Rom und der Errichtung des neuen Kaiserpalastes, der domus aurea, widmete sich Nero nun ganz seiner Leidenschaft: Hatte er sich von Anfang an auf einem privaten Rennplatz als Wagenlenker, in seinem Palast als Schauspieler und Sänger zur Kithara betätigt und war im Jahr 64 in Neapel erstmals öffentlich als Kitharöde aufgetreten, so unternahm er in den Jahren 66 und 67 seine lange geplante Griechenlandtournee, wo er an den panhellenischen Festspielen, die ihm zu Ehren

8 Allgemein zu Nero Griffin 1984, Champlin 2003 und Waldherr 2005; Sonnabend 2016 und Rheinisches Landesmuseum Trier 2016; zur Forschungsgeschichte Ronning 2011, 269–274. 9 Aur. Vict. Caes. 5,2.

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im selben Jahr abgehalten wurden, teilnahm, alle Siegespreise erhielt und danach gleichsam im Triumph in Rom einzog. Nun hielt man ihn für wahnsinnig. 10 Die Quellen werfen ihm überdies Grausamkeit gegenüber seinen Angehörigen und Untertanen (saevitia), Unzucht (impudicitia), Habgier (avaritia) und Verschwendung (luxuria) vor. 11 Nachdem sich im Frühjahr 68 verschiedene Statthalter gegen Nero erhoben hatten, reagierte dieser trotz ihm loyal verbliebener Truppenverbände zunächst nicht auf die Usurpationen, so dass ihn der Senat im Juni zum Staatsfeind (hostis publicus) erklärte und den Usurpator Galba zum Kaiser ausrief. Von allen verlassen, tötete sich Nero am folgenden Tag. Er verfiel der damnatio memoriae.

1.3. Commodus (180–192 n. Chr.)

Denar, 2,76 g. Rom, 191 n. Chr. Vs.: Kopf des Commodus mit Löwenskalp n. r. – L(ucius) AEL(ius) AVREL(ius) COMM(odus) AVG(ustus) P(ius) FEL(ix) Rs.: Keule, Bogen und Köcher – HERCVLI ROMAN(o) AVG(usto) RIC III Commodus 253; © Numismatische Münzdatenbank Eichstätt.

Nach dem Tod des Marc Aurel im Feldlager von Vindobona riefen die Soldaten im Jahr 180 dessen 18-jährigen Sohn L. Aelius Aurelius Commodus als Imperator Caesar M. Aurelius Commodus Antoninus Augustus zum Kaiser aus. 12 Dieser war von Marc Aurel bereits 166 zum Caesar und 177 zum Augustus erhoben worden. Enthusiastisch von Senat und Volk begrüßt, zog er nach dem Friedensschluss mit den Markomannen in Rom

10 Die antiken Quellen bezeichnen Nero – anders als moderne Autoren – nicht direkt als „wahnsinnig“, schildern sein Verhalten aber so; Cass. Dio 61,7,6: ekphroneîn. 11 Die narrativen Hauptquellen sind Tac. ann. 13–16; Suet. Nero; Cass. Dio 61,35–63,29. 12 Seit Mitte 191: Imp. Caes. L. Aurelius Commodus Aug. Allgemein zu Commodus Hekster 2002 und Saldern 2003.

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ein. Schon Ende des folgenden Jahres kam es zu einer Verschwörung, an der seine Schwester Lucilla und mit ihr verbundene hochrangige Senatoren beteiligt waren. Seither war das Verhältnis des Kaisers zum Senat massiv gestört: Commodus zog sich aus dem politischen Leben weitgehend in seinen Palast zurück und überließ seinen Prätorianerpräfekten Sex. Tigidius Perennis (182–185) und M. Aurelius Cleander (185–190) die Regierungsgeschäfte. Diese kontrollierten fortan den Zugang zum Kaiser; auch kam es während ihrer Herrschaft immer wieder zu Hinrichtungen von Senatoren. Als man Perennis vorwarf, selbst das Kaisertum zu erstreben, wurde er gestürzt, und auch Cleander ließ Commodus später auf Verlangen der Plebs beseitigen. Seit dem Jahr 190 nahm Commodus die Regierungsgeschäfte wieder selbst in die Hand und verkündete ein goldenes, nach ihm benanntes Zeitalter (saeculum aureum Commodianum). Rom wurde nach einem Brand 192 als Colonia Commodiana neu gegründet, Senat und Legionen erhielten den Beinamen Commodianus / a, und auch die Monatsnamen wurden mit Kaisernamen umbenannt. Hatte sich Commodus schon seit seiner Jugend im Palast als Wagenlenker (auriga), Tierkämpfer (bestiarius) und Gladiator betätigt, so trat er in dieser Rolle seit 191 auch öffentlich auf: zunächst als bestiarius in seiner Heimatstadt Lanuvium, dann Ende 192 auch in Rom als Gladiator in Gestalt des Hercules. Nun hielt man ihn für wahnsinnig. 13 Bevor Commodus den Konsulat am 1. Januar 193 im Ornat eines Gladiators antreten konnte, wurde er von seiner Konkubine und einem Athleten im Palast umgebracht. Die Quellen werfen ihm vor allem Grausamkeit (saevitia) und ein ausschweifendes Sexualleben (impudicitia) vor. 14 Er verfiel der damnatio memoriae, die Septimius Severus allerdings wieder aufhob.

13 Herodian. 1,14,8: manía kaì paranoía (Textvariante: paroinía); vgl. 1,15,8; SHA Comm. 8,6: dementia und furor. 14 Prägnant SHA Comm. 19, 2: saevior Domitiano, impurior Nerone. Die narrativen Hauptquellen sind Cass. Dio 73,1–74,2; Herodian. 1,5,1–17,12 und SHA Comm.

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1.4 Elagabal (218–222 n. Chr.)

Aureus, 7,30 g. Antiochia, 218–219 n. Chr. Vs.: Büste des Elagabal mit Panzer, Paludamentum und Lorbeerkranz n. r. – IMP(erator) C(aesar) M(arcus) AVR(elius) ANTONINVS P(ius) F(elix) AVG(ustus) Rs.: Quadriga mit dem Stein (Baitylos) von Emesa, darauf ein Adler, umgeben von vier Sonnenschirmen – SANCT(o) DEO SOLI, im Abschnitt: ELAGABAL RIC IV / 2 Elagabal 196 A var.; © Numismatische Münzdatenbank Eichstätt.

Varius Avitus, genannt Elagabal, kam durch eine erfolgreiche Usurpation im Alter von 14 Jahren 218 als Imperator Caesar M. Aurelius Antoninus Augustus auf den Thron. 15 Er war Priester des syrischen Gottes Elagabal (ila¯ h al-˘gabal) in Emesa und stammte aus der Dynastie der Iulia Domna, der Frau des Septimius Severus. Nach der Ermordung Caracallas während des Partherfeldzuges im Jahr 217 wurde der ritterständige Prätorianerpräfekt Macrinus zum Kaiser ausgerufen (217–218). Die Familie Domnas hatte sich nach deren Tod zwar nach Syrien zurückgezogen, doch strebten die Schwester Domnas, Iulia Maesa, und ihre beiden Töchter, Iulia Soaemias, die Mutter Elagabals, und Iulia Mamaea, die Mutter des Severus Alexander, danach, sich die Herrschaft in Rom wieder für ihre Familie zu sichern. Iulia Maesa vermochte es, die Soldaten einer in der Nähe stationierten Legion dazu zu bewegen, ihren Enkel im Jahr 218 zum Kaiser auszurufen, indem sie diesen als illegitimen Sohn Caracallas ausgab und großzügige Geldgeschenke verteilte. Macrinus, der in Antiochia weilte, konnte diese Usurpation nicht ersticken, da immer mehr Truppen zu Elagabal überliefen, und nach einer Schlacht im folgenden Monat verlor er die Herrschaft und sein Leben. Vom Senat bald darauf anerkannt, machte sich Elagabal zusammen mit dem Gott aus Emesa auf den Weg nach Rom. Das Götter-

15 Allgemein zu Elagabal Turcan 1985, Icks 2011, Arrizabalaga y Prado 2011. Zur Forschungs- und Rezeptionsgeschichte Icks 2011, 180–213.

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bildnis in Form eines konischen Steins (baítylos) führte er auf einem Wagen mit. Es dauerte mehr als ein Jahr, bevor Elagabal nach seiner Reise durch Syrien, Kleinasien und die Balkanprovinzen schließlich in Rom eintraf. Senat und Volk hatte er auf seine Ankunft mit Bildern von sich und seiner Gottheit eingestimmt, die man vorausgeschickt hatte. In Rom angekommen, ließ er seinem Gott, dessen höchster Priester er weiterhin blieb, zwei Tempel errichten. Er nannte sich seit 220 offiziell „Höchster Priester des unbesiegten Sonnengottes Elagabal“ (sacerdos amplissimus dei invicti solis Elagabali) und erhob diesen zum obersten Gott Roms, dem er die übrigen Götter unterordnete und den er mit der karthagischen Tanit (Iuno Caelestis) verheiratete. Senatoren und Ritter mussten ihm beim Kult dienen. Man hielt ihn nun für verrückt. 16 Dieser Umstand und sein für römischen Geschmack ausschweifendes Sexualleben bewegten seine Großmutter und seine Tante dazu, Severus Alexander als Nachfolger aufzubauen, um nicht die Macht in Rom zu verlieren. Elagabal adoptierte zwar Severus Alexander 221, doch half ihm dies nichts mehr: Zusammen mit seiner Mutter wurde er von den Prätorianern ermordet und sein Leichnam geschändet. Die antiken Biographen und Geschichtsschreiber werfen ihm Unzucht (impudicitia), Grausamkeit (crudelitas) und Pervertierung der religiösen Tradition (impietas) vor. 17 Er verfiel der damnatio memoriae.

2. Forschungsgeschichte und methodische Fragen Das Verhalten aller vier Kaiser wurde von antiken Geschichtsschreibern und Biographen für „verrückt“ oder „wahnsinnig“ erklärt, und die moderne Forschung hat sich lange Zeit diesem Urteil oft unhinterfragt, zuweilen aber auch begründend angeschlossen. Vor allem zwei Erklärungsmuster waren wirksam, die beide aus dem 19. Jahrhundert stammen: Erstens erklärten Ärzte das skandalös erscheinende Verhalten der Kaiser als Psychopathologie und klassifizierten es im Wege retrospektiver Diagnosen mit den damals gängigen psychiatrischen Kategorien, wobei man von erblichen Defekten ausging. 18 Zweitens deuteten Gustav Freytag und Ludwig Quidde ein solches Verhalten als „Cäsarenwahnsinn“, womit sie für 16 Herodian. 5,7,6: paroinía (Textvariante: paranoía); 5,8,1: paroinía. 17 Die narrativen Hauptquellen sind Cass. Dio 79,30–80,21; Herodian. 5,3,1–8,10; SHA Heliog. 18 Zum Beispiel Wiedemeister 1875; dazu Winterling 2008a, 119 f. Die wilhelminischen Psychiatrie-Lehrbücher klassifizierten die „Wahnideen“, darunter die „Paranoia“ und den „Größenwahn“, die im Konzept des ‚Caesarenwahns‘ eine zentrale Rolle spielen (Kraepelin 1905, 94–104; 151–163; Bleuler 1916, 65–70; 397–412). Siehe auch den Beitrag von Florian Sittig in diesem Band.

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zeitgenössische wie historische Erfahrungen monarchischer Willkür eine politisch-anthropologische Erklärung anboten. 19 Kurz gesagt lautet diese: Wird der Handlungsspielraum eines Monarchen nicht durch soziale und politische Kräfte eingehegt, das heißt, ist dessen Herrschaft schrankenlos, so korrumpiert eine solche Machtfülle in der Hand eines Einzelnen jeden Charakter. Damit aktualisierte Quidde den antiken Tyrannendiskurs im Zeichen der Legitimationskrise der europäischen Monarchie im 19. Jahrhundert insbesondere im Blick auf Wilhelm II. Zwar wurde mit diesem Konzept der Blick auf die politischen Rahmenbedingungen willkürlicher monarchischer Gewalt gerichtet, doch ergab sich damit das Problem, weshalb in ein und derselben Monarchie der eine Herrscher ‚vernünftig‘ handeln konnte, während sich der andere ‚tyrannisch‘ oder ‚wahnsinnig‘ aufführte. Daher blieb auch in diesem Konzept nur die Möglichkeit, die „verrückten“ Kaiser als „geisteskrank“ im psychiatrischen Sinne zu erklären. 20 Eine andere Deutung dieses Problems folgt unten. Beide Erklärungsansätze verfahren unhistorisch, denn der psychiatrische Diskurs konstruiert den Wahnsinn als erblichen Defekt, während das politische Modell des ‚Caesarenwahnsinns‘ von einer kulturübergreifenden, anthropologischen Konstante in Verbindung mit einer psychischen Disposition ausgeht. Diese häufig auch unreflektiert als Alltagswissen verwendeten Konzepte sind zwar vereinzelt schon früh, seit den 1990erJahren aber massiv in die Kritik der historischen und philologischen Forschung geraten. 21 Dabei lassen sich drei Ansätze in der Forschung unterscheiden: Erstens versuchte man, das Handeln eines Caligula, Nero, Commodus oder Elagabal religionspolitisch als Ausdruck einer Hinwendung zu per19 Beiläufig Freytag 101879, 17: „In diesem Sinne ist auch die schwermüthige trauervolle Seele des Tacitus für mich weit mehr, als selbst seine Schilderungen des Kaiserwahnsinns“; konzeptionell Quidde 1894/311926 (s. in diesem Band). Vgl. bereits Sen. cons. ad Helv. 10,4: „C. Caesar, den mir die Natur hervorgebracht zu haben scheint, um zu zeigen, was höchste Charakterschwächen (summa vitia) bei höchster Stellung (summa fortuna) vermögen.“ 20 Quidde 311926 [1894], 7 (s. o. S. 29): „Man hat sich gewöhnt, von Cäsarenwahnsinn als einer besonderen Form geistiger Erkrankung zu sprechen [. . . ]. Die Züge der Krankheit: Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Missachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose Grausamkeit, sie finden sich auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, dass die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen ungehinderten Entwicklung kommen läßt.“ Siehe auch den Beitrag von Heinrich SchlangeSchöningen in diesem Band. 21 So bereits Willrich 1903. Zuletzt kritisch unter Berücksichtigung der Forschungsgeschichte Witschel 2006, Winterling 2008b und Ronning 2011. Speziell zu Quidde Kloft 2000; Holl / Kloft / Fesser 2001.

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sönlichen, häufig „orientalischen“ Schutzgottheiten zu verstehen, wobei diese Kaiser sich selbst in griechisch-orientalischer Tradition als gottgleich verstanden hätten. 22 Doch erklärt diese Deutung nicht, weshalb die Kaiser auf Elemente der Herrschaftslegitimation zurückgriffen, die den Römern fremd erschienen. 23 Zweitens wurde die historiographische Überlieferung auf die Zuverlässigkeit ihrer Berichte hin untersucht und die Tyrannentopik herausgearbeitet, deren sich die antiken Geschichtsschreiber und Biographen bedienten, um die „schlechten Kaiser“ zu stigmatisieren. 24 Dabei ist einerseits deutlich geworden, dass viele der berichteten Sachverhalte aus dem Zusammenhang gerissen waren, womit sich für die Forschung die Aufgabe ihrer Rekontextualisierung ergibt. Andererseits hat sich gezeigt, dass das Kaiserbild der historiographischen Überlieferung das Herrschaftshandeln sehr stark moralisierend auf die Konflikte zwischen der Aristokratie und dem Kaiser konzentriert und die übrige Herrschaftspraxis vernachlässigt. Dieses Bild versucht die Forschung seit längerem unter Einbeziehung nichthistoriographischer Texte und außerliterarischer Überlieferung, insbesondere von Inschriften, Bildnissen und Münzen, zu korrigieren. Drittens entwickelten Egon Flaig und Aloys Winterling neue Modelle zur Konzeption der kaiserzeitlichen Monarchie. In deren Perspektive lässt sich das Handeln der „schlechten“ und „verrückten“ Herrscher herrschaftssoziologisch als Ausdruck einer gestörten Kommunikation zwischen dem Kaiser und den Senatoren sowie anderen Gruppen der Reichsbevölkerung erklären.

3. Der Prinzipat: eine legitime Monarchie mit prekärer Kaiserakzeptanz Die römische Monarchie, wie sie seit Augustus Gestalt annahm, war im Sinne Max Webers eine legitime Herrschaftsform. Alle wichtigen Gruppen der Reichsbevölkerung akzeptierten, dass ein Princeps an der Spitze des Gemeinwesens, der res publica, stand. Dies lag daran, dass sich bereits in den letzten Jahrzehnten der Republik die Disposition für Gehorsam und Loyalität bei den Bürgersoldaten wie der plebs urbana vom Senat auf die sogenannten großen Imperatoren – Pompeius und Caesar, Marcus Antonius und Octavian – verlagert hatte. Im Gegensatz zu diesen zeigte sich

22 Caligula: Willrich 1903, 107–116; Commodus: Chantraine 1975; de Ranieri 1996; Elagabal: Optendrenk 1969; Frey 1989. 23 Es sei denn, man sieht wie Gagé 1968 die Notwendigkeit, dass ein autokratischer ‚Weltherrscher‘ wie der römische Kaiser einer théologie du pouvoir impérial bedurfte. 24 Wallace-Hadrill 1995; Arand 2002; Nauta 2014.

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nämlich das Senatsregiment nicht mehr in der Lage, anstehende Probleme wie die Getreide- oder die Veteranenversorgung zu lösen; die Nobilität war durch exzessive Rivalität konsensunfähig geworden und nicht mehr in der Lage, den Frieden zu sichern. 25 Sueton lag richtig, als er seine Kaiserviten mit Caesar begann. Dieser war der erste Alleinherrscher Roms, doch kam die offene Monarchie, die er im Namen der Diktatur errichtete, noch zu früh: Von den Soldaten und der Plebs geliebt, akzeptierten viele Senatoren aus den alten Geschlechtern noch nicht, dass Caesar seine Machtstellung als dictator verstetigte, sich mit Symbolen der Königsherrschaft umgab und gottgleiche Ehrungen vom Senat beschließen ließ: Sie ermordeten schließlich den „Tyrannen“. Es bedurfte eines weiteren Bürgerkrieges, ehe Augustus seine darin errungene Alleinherrschaft behaupten konnte. Anders als Caesar, aus dessen Scheitern er gelernt hatte, bewies Augustus politisches Genie: Die Diskrepanz zwischen monarchischer Ordnung und republikanischem Diskurs verschleierte er erfolgreich, indem er die res publica insofern wiederherstellte, als er die traditionellen politischen Institutionen bestehen ließ, seine eigene Stellung darin mittels Verleihung und Häufung von Amtsgewalten kunstvoll integrierte und auch auf der gesellschaftlichen Ebene das traditionelle Prestige der Senatorenschaft, die er zu einem erblichen Stand formierte, nicht antastete. Der seit Tacitus für die Herrschaft der Kaiser verwendete und von Theodor Mommsen zur Epochencharakteristik erhobene Begriff ‚Prinzipat‘ 26 bezeichnet eine spezifische Form der Monarchie. 27 Obwohl das Kaisertum jahrhundertelang bestehen blieb, bildete sich in Rom nie eine Erbmonarchie und ebenso wenig eine Nachfolgeregelung, etwa im Sinne der Primogenitur, heraus. Anders auch als in den frühneuzeitlichen europäischen Monarchien gab es keine rechtförmigen Regelungen – etwa leges fundamentales –, nach denen die Herrschaft verliehen werden konnte und die die Unverlierbarkeit der Herrschaftsbefugnis gewährleisteten – die sogenannte lex de imperio (Vespasiani) zeigt gerade, dass die kaiserliche Herrschaft keinerlei Begrenzung unterlag. 28 In diesem Sinne gab es keine höhere Legitimität, auch kein „Gottesgnadentum“. Wer einem Kaiser nachfolgen sollte, war in dessen Belieben gestellt oder den Umständen

25 Flaig 2011, Meier 2014. Vgl. Tac. hist. 1,1: postquam bellatum apud Actium atque omnem potentiam ad unum conferri pacis interfuit. 26 Tac. ann. 4,6,1; 13,4,2: forma futuri principatus; Suet. Cal. 22,1: principatus gegenüber regnum. 27 Zum Folgenden Flaig 1992, 38–207. Flaig hat in seiner wegweisenden Studie den römischen Prinzipat der ersten beiden Jahrhunderte als „Akzeptanzsystem“ bestimmt. 28 ILS 244.

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geschuldet. ‚Rechtmäßig‘ war der Kaiser, der sich durchgesetzt hatte und sich behaupten konnte. Daher auch die Vielzahl der Usurpationen und die Häufigkeit der Verschwörungen im näheren Umfeld des Kaisers. 29 Aus diesem Befund, der die Forschung schon immer irritiert hatte, zog Egon Flaig die Konsequenz und charakterisierte die kaiserzeitliche Monarchie als Akzeptanzsystem. Das bedeutet, dass zwar die Kaiserherrschaft als solche fraglos war und in diesem Sinne legitim. Das galt jedoch nicht für die einzelnen Kaiser: Diese mussten bei den „maßgeblichen“ Gruppen der Reichsbevölkerung Akzeptanz finden – verloren sie diese, stiegen die Chancen einer erfolgreichen Verschwörung oder Usurpation, die den Kaiser das Leben kostete, erheblich. Akzeptanz konnte ein Kaiser freilich nur finden, wenn er den Erwartungen der Senatoren als Repräsentanten der Reichsaristokratie, der Prätorianer als Repräsentanten des römischen Heeres und der plebs urbana als Repräsentantin der gesamten nichtaristokratischen römischen Bürgerschaft entsprach. Das geschah durch unablässige Kommunikation des Kaisers mit diesen Gruppen, wobei alles Herrschaftshandeln zeichenhaften Charakter hatte und überdies symbolisch repräsentiert wurde. Die Stellung eines römischen Kaisers war also ebenso prekär wie die eines hellenistischen Herrschers. Sie war aber zugleich viel komplizierter: Der hellenistische König war gegenüber den städtischen Bürgergemeinden, den Poleis, und den föderativen Städtebünden, den Koina, immer ein Fremdherrscher. In deren Augen war die monarchische Herrschaft keineswegs eo ipso legitim, und daher musste der hellenistische König über das Aushandeln von „Freiheit und Autonomie“ und anderer „Wohltaten“ für die Städte deren Gefolgschaft und Loyalität für seine Person gewinnen. 30 Der römische Kaiser jedoch war ein Monarch in seiner eigenen Stadt, die zuvor eine aristokratische Ordnung gehabt hatte, mit der sie nach römischem Selbstverständnis zur Weltherrschaft aufgestiegen war. Sowohl die Senatoren als auch der übrige populus Romanus, die die Kriege geführt und in Bürgerversammlungen Politik gemacht hatten, blickten auf eine glorreiche Tradition zurück, die Augustus und seine Nachfolger nicht einfach übergehen konnten. Das macht die Bedeutung des Senats und der plebs urbana für jeden Kaiser deutlich, während das seit Augustus professionalisierte, nunmehr stehende Heer die Machtgrundlage des Kaisertums bildete.

29 Der Usurpator forderte den lebenden Kaiser heraus, die Verschwörer ermordeten den Kaiser im Palast und warteten mit der Publikmachung, bis ein Nachfolger von den Prätorianern erhoben worden war. 30 Heuss 1937; Bringmann 1993; Ma 2003.

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Die Akzeptanz eines Kaisers hing also von erfolgreichem Herrschaftshandeln gegenüber diesen drei Gruppen römischer Bürger ab. 31 Das bedeutete, dass der Kaiser deren Erwartungshorizonten, die sich aus den traditionellen Erfahrungsräumen speisten, entsprechen musste. 32 Augustus hatte das römische Heer zum ersten professionellen Bürgerheer der Geschichte geformt. Es bildete eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, die ihrem eigenen Ethos folgte und in ihrer Loyalität nur auf den Kaiser bezogen war. Die senatorischen Statthalter und Heerführer waren dessen Legaten und hatten kein eigenes Gewicht; nur wenn der Kaiser bei den Truppen in Ungnade fiel, konnte ein Statthalter oder Legionslegat vom Heer zum Kaiser ausgerufen werden. Mit der Loyalität der Soldaten konnte der Princeps nur dann rechnen, wenn er die Truppen in ihren Ehrerwartungen respektierte, besonders durch symbolische Gesten wie kaiserliche Ehrennamen für Legionen und Auxilia, durch Donative, deren symbolischer Wert so wichtig war wie der materielle, durch Truppenbesuche und Mimesis des Soldatenlebens, wenn der Kaiser im Feld war, und durch siegreiche Kriegszüge. Er hatte die Rolle (persona) eines erfolgreichen Imperators zu spielen. Die plebs urbana repräsentierte die nichtaristokratischen römischen Reichsbürger, weil sie in Rom mit dem Kaiser bei den zahlreichen Festspielen in Kontakt treten konnte. Sie war keineswegs – wie man häufig liest – durch „Brot und Spiele“ entpolitisiert, denn der Kaiser war gerade im Theater, im Circus und im Amphitheater ihrem Druck ausgesetzt. Von ihm erwartete die plebs urbana, dass er die Versorgung Roms sicherstellte, die städtische Infrastruktur verbesserte sowie Feste und Spiele ausrichtete. Im Übrigen sorgte sie sich um das Heil und die Sicherheit (salus et incolumitas) der Herrscherfamilie sowie um die Würde des Kaisertums (maiestas). Sie hatte auch ein Auge auf die Mitglieder der Kaiserfamilie (domus divina) und auf die Ehen des Kaisers sowie auf die ‚Rechtmäßigkeit‘ der Thronfolge. Sie artikulierte ihr Gerechtigkeitsempfinden, indem sie für verfolgte Angehörige des Kaiserhauses Partei ergriff (pietas), Pressionen auf das Senatsgericht ausübte (iustitia) und sich gegen Übergriffe des Kaisers oder seiner Vertrauten – insbesondere seiner Freigelassenen und Prätorianerpräfekten – wehrte. Der Kaiser selbst hatte mit Respekt den Ehrerwartungen der Plebs zu begegnen, indem er für die Versorgung der hauptstädtischen Bevölkerung Sorge trug (frumentationes), seine Anerkennung durch zeremonielle Geldgeschenke ausdrückte (congiaria) und Rücksicht auf den Willen der Plebs in der Arena bei den Gladiatoren-

31 Das hatte bereits Tacitus erkannt, vgl. ann. 1,2. 32 Zum Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Koselleck 1979.

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kämpfen nahm. Er, der in der Regel den Titel pater patriae trug, hatte also gegenüber der plebs urbana die Rolle eines großzügigen Patrons zu spielen. Die dritte herrschaftsrelevante Gruppe war der Senat, der den auf Rom bezogenen Teil der Reichsaristokratie darstellte. Da die Senatoren ihren Stand und ihre Ämter weitestgehend dem Princeps verdankten und nicht mehr – wie in republikanischen Zeiten – den Wahlen in den comitia, ist aus dem Senat ein Zustimmungsorgan zur kaiserlichen Politik geworden. Doch verschärfte sich die Rivalität unter den Senatoren, weil diese nun um die Nähe zum Kaiser kämpfen mussten. Da dessen Machtposition praktisch unbegrenzt war, das heißt, nicht rechtlich eingehegt, musste der Senat alles daransetzen, den Princeps, der selbst Senator war, in gegenseitig verpflichtende Kommunikation einzubinden. Die Senatoren erwarteten von ihm, dass er als primus inter pares herrschte, das heißt, ihnen Amtsfunktionen nach Herkunft, Rang, Verdienst und Loyalität zuteilte, Freundschaftsbeziehungen (amicitiae) mit ihnen pflegte, sie beim Morgenempfang (salutatio) begrüßte, sie zu seinen Gastmählern (convivia) einlud und sich selbst nicht ostentativ über sie stellte. 33 Andererseits konnte der Kaiser auch nicht dauerhaft ohne bzw. gegen den Senat regieren. Er war daher immer dominus und princeps zugleich. Anders jedoch als die Beziehung des Kaisers zur plebs urbana und zu den Soldaten war diejenige zu den Senatoren strukturell konflikthaft. Wie Aloys Winterling gezeigt hat, herrschte eine double-bind-Situation, weil die Kommunikation zwischen Kaiser und Senatoren notwendig „doppelbödigen“ Charakter hatte: „Die Senatoren hatten so zu handeln, als besäßen sie eine Macht, die sie nicht mehr hatten. Der Kaiser hatte seine Macht so auszuüben, dass es schien, als ob er sie nicht besitze.“ 34 Und beide Seiten wussten, dass die andere Seite dies wusste. 35 Die Akzeptanzstruktur der römischen Monarchie forderte von einem Kaiser also Gewaltiges: Siegreicher Imperator für die Soldaten zu sein, ein nachgiebiger Patron für die Plebs, ein Erster unter Gleichen für die Senatoren, ein gottgleicher Monarch für die Bewohner der Provinzen und ein pater patriae für die gesamte Reichsbevölkerung. Was Augustus und 33 Winterling hat speziell die Beziehungen zwischen dem Kaiser und den Senatoren untersucht: 1999, 117–160; 2008 und 2011. 34 Winterling 2003, 16; seine Caligula-Deutung beruht auf dem Modell der „doppelbödigen Kommunikation“. Die Ansätze von Flaig und Winterling lassen sich gut miteinander verbinden. 35 Winterlings Ausdruck der „doppelbödigen Kommunikation“ scheint mir zu schwach für das von ihm zutreffend beschriebene Phänomen zu sein. Bereits in den 1960erJahren wurde in der Psychologie diese Form der Kommunikation mit Hilfe der double-bind-Theorie als eine „paradoxe Kommunikation“ beschrieben, die als dauerhafte Struktur zu einem Verhalten führt, das dem klinischen Bild der Schizophrenie entspricht (vgl. Watzlawick / Beavin / Jackson 1969, 168–212).

keine Repräsentanz

5. Provinziale (peregrini)

iustitia, aequitas largitio

c. finanzielle Hilfe

liberalitas, indulgentia

b. Rechtsgewährung

a. Privilegiengewährung (für Einzelne & Gemeinden)

concordia, fides, felicitas temporum, providentia

victoria, pax, libertas, salus, securitas,

amicitia

(populus Romanus)

c. Einladung zur salutatio & zum convivium

Repräsentanz: Senatoren

civilitas, iustitia, clementia

4. Bürgerschaft insgesamt

b. Gehälter

a. Amtsfunktionen (honores)

& equester ordo)

3. Aristokratie (ordo senatorius

f. ‚Aufsicht‘ über kaiserliche Familie (domus divina)

pietas, fides

providentia

d. öffentliche Bauten und Infrastruktur e. Unterhaltsstiftungen (alimentationes)

liberalitas

c. zeremonielle Geldgeschenke (congiaria)

munificentia

b. Feste (ludi, spectacula)

Repräsentanz: plebs urbana

a. Getreideversorgung (frumentationes, annona)

virtus

liberalitas

(virtutes Augusti)

Leitbilder für kaiserliches Handeln

(plebs Romana)

2. Nichtaristokratische Bürgerschaft

f. Feldzüge (expeditiones)

e. Ehrennamen für Einheiten

d. Orden (dona militaria)

c. zeremonielle Geldgeschenke (donativa)

b. Veteranenversorgung (praemia)

a. Soldzahlungen (stipendia)

1. Soldaten (milites)

Repräsentanz: Prätorianer

Erwartungen an kaiserliches Handeln

Politische Gruppierung

Herrschaftshandeln

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einigen anderen Kaisern mehr oder weniger gut gelang, daran scheiterten andere. Möchte man nun den Handlungsspielraum eines Kaisers bestimmen, so scheinen mir folgende Faktoren eine zentrale Rolle zu spielen: 1. Die persönlichen Erfahrungen vor dem Herrschaftsantritt, vor allem im Rahmen des kaiserlichen Hofes (domus Augusta, aula principis) 2. Die Umstände der Herrschaftsübernahme (dynastische Nachfolge, Adoption, Usurpation) 3. Die Erfahrungen der verschiedenen Gruppen der Reichsbevölkerung mit dem Vorgänger 4. Die sich daraus ergebenden Erwartungshorizonte der einzelnen herrschaftsrelevanten Gruppen (Senatoren, Plebs, Soldaten) 5. Die Erwartungshorizonte der übrigen Reichsbevölkerung (Provinzialbevölkerung) 6. Das Verhältnis zu den Angehörigen der kaiserlichen Familie (domus divina) 7. Die Sorge um die Nachfolge

4. Ein ‚Totengericht‘: Die Tyrannenimago in der kaiserzeitlichen Historiographie Das Konzept der Tyrannis ist eine Schöpfung der griechischen Aristokratie in klassischer Zeit, 36 das später von den Römern in republikanischer Zeit übernommen wurde. Wer den Handlungsrahmen innerhalb der nur schwach institutionalisierten aristokratischen Herrschaft in den griechischen Poleis überdehnte und damit die Machtchancen seiner Standesgenossen unterband und für sich selbst monopolisierte, wurde als Tyrann gebrandmarkt – seine führende Stellung im Gemeinwesen erschien als unrechtmäßige Gewaltherrschaft. Dieses Phänomen führte dann im 4. Jahrhundert v. Chr. in der politischen Theorie des Platon und des Aristoteles zur Konzeptionalisierung der Tyrannis als Verfallsform und Negativfolie von Königsherrschaft, wobei Aristoteles die Tyrannis mit der als Despotie charakterisierten Herrschaft des Perserkönigs assoziierte. Nachdem die Monarchie auch in den griechischen Kerngebieten Realität geworden war und die griechischen Poleis sich mit den Monarchen verständigen mussten, wurde in zahlreichen Schriften „Über die Königsherrschaft“ das Bild eines guten Monarchen konzipiert, dem die Tyrannenimago als Gegenbild diente. 37 Auch in der stärker institutionalisierten römischen Aristokratie, der Senatsherrschaft in republikanischer Zeit, spielte die Tyrannenimago eine 36 Parker 1998 und in diesem Band Blank. 37 Murray 1971; Veyne 1976, 614–624 und 678–683; Haake 2003.

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wichtige Rolle: Wer des Strebens nach der tabuisierten Königsherrschaft verdächtigt wurde oder tatsächlich eine außergewöhnliche Machtstellung wie die Imperatoren der späten Republik erlangte, wurde beseitigt – so zuletzt Caesar. Als sich die Monarchie dann tatsächlich unter Augustus etablierte, blieb das Spannungsverhältnis zwischen der traditionsreichen Senatsaristokratie und dem Kaiser höchst konfliktreich. Ausdruck davon ist das Bild des „guten Kaisers“ (bonus princeps), der als primus inter pares amtierte, und dem die Senatoren das eines „schlechten“, weil tyrannischen Kaisers gegenüberstellten (malus princeps) – so bei Seneca, Dion von Prusa und Plinius dem Jüngeren, aber auch bei den Geschichtsschreibern, Biographen und Panegyrikern. 38 Die längst als äußerst tendenziös erkannten Berichte der kaiserzeitlichen Autoren lassen sich ihrerseits als Ausdruck gestörter Beziehungen der Aristokratie zum Kaiser verstehen, denn die Geschichtsschreiber stammten aus der Aristokratie und waren überwiegend Senatoren. Was in keiner Monarchie außer in Rom je der Fall war, dass ein Kaiser nach seinem Tod vom Senat entweder zum Gott erhoben (consecratio) oder verdammt werden konnte (damnatio memoriae), 39 er also einem rituellen post-mortemUrteil der Senatoren unterworfen war, findet seine Analogie in der antiken Historiographie: Auch diese hielt ein ‚Totengericht‘ über den verstorbenen Kaiser. 40 Als Urteilskriterien dienten die traditionellen republikanischen und die neuen monarchischen Leitbilder (virtutes), die normativ Erwartungshaltungen sowohl an das private wie an das öffentliche Verhalten der männlichen wie weiblichen Römer formulierten. Sie prägten auch die Erwartungen an den Kaiser, doch war dessen Bild überdies einem spezifisch monarchischen Verhaltenscode unterworfen, der in Traktaten über die Monarchie und in der Panegyrik formuliert wurde. Biographen wie Sueton und der Verfasser der Historia Augusta haben ihre Werke daher systematisch nach diesen Aspekten gegliedert: Sie teilten das Leben ihrer Protagonisten in ein „öffentliches“ und ein „Privatleben“, eines vor der Herrschaftsübernahme und eines als Princeps, und listeten deren „Tugenden“ (virtutes) und „Laster“ (vitia) auf. 41 Geschichtsschreiber wie Tacitus,

38 Klassisch wurde das senatorische Ideal eines civilis princeps formuliert von Plinius in seinem Panegyricus auf Trajan (2,3): „Lasst uns an keiner Stelle ihm schmeicheln wie einem Gott (deus), wie einem höheren Wesen (numen) – denn wir reden nicht von einem Tyrannen (tyrannus), sondern von einem Bürger (civis), nicht von einem Herrn (dominus), sondern von unserem Vater (parens).“ 39 Zur damnatio memoriae Flower 2006, Benoist / Daguet-Gagey 2007, Krüpe 2011. 40 So der in der Forschung verbreitete Terminus zur Charakteristik des Augustus in Tac. ann. 1,9 f. 41 Wallace-Hadrill 1995.

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Cassius Dio und Herodian bedienten sich ebenfalls dieses Musters, wenn auch auf unsystematische Weise. Die Viten wie die Historien zeichneten dabei eine Tyrannenimago, die sich zwar aus der griechischen Tradition herleitete, aber mit spezifisch römischen Wertvorstellungen konnotiert war. Zentrale Aspekte der römischen Tyrannenimago waren: 42 Vitia

Virtutes

Hochmut (superbia)

Zugänglichkeit (modestia, civilitas, comitas)

Grausamkeit (saevitia, crudelitas)

Milde (clementia, misericordia)

Habgier (avaritia)

Freigebigkeit (liberalitas, largitio, munificentia)

Verschwendungssucht (luxuria)

Sparsamkeit (parsimonia)

Schamlosigkeit (impudicitia, infamia)

Scham (pudicitia, castitas)

Zügellosigkeit (licentia, lascivia)

Strenge, Würde (severitas, gravitas)

Verstoß gegen heilige Pflichten (impietas)

Pflichten gegenüber Eltern, Kaiser, Göttern (pietas erga parentes, principem, deos)

Diese Eigenschaften zeigten die Autoren an den kaiserlichen Handlungen vor allem im Umfeld ihres Hofes auf (domus Augusta, aula principis). Dabei war die geschilderte Haltung eines Kaisers für den zeitgenössischen Betrachter oder Leser ebenso codiert wie dessen Kleidung, 43 die Speisen und der Aufwand beim Gastmahl, 44 die sexuellen Beziehungen und Praktiken, 45 die Ehen (matrimonia), die Beschäftigungen in Mußestunden (otium) und der Umgang mit den engsten Familienangehörigen (propinqui), der weiteren Verwandtschaft (adfinitas), den kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen (familia Caesaris), den Vertrauten (familiares) und Freunden (amici). Die römischen Leitbilder wurden über die literarischen Texte hinaus auch öffentlich propagiert in den Ehreninschriften für die Mitglieder der ordines ebenso wie für die der kaiserlichen Familie, 46 und die gesamte kaiserzeitliche Münzprägung diente der Proklamation der kaiserlichen virtutes. 47 42 Zur kaiserzeitlichen Tyrannentopik Dunkle 1971; Zimmermann 1999; Arand 2002, 73–102. 43 Müller 2014. 44 Stein-Hölkeskamp 2002; Vössing 2004, 265–539. 45 Zur politischen Semantik der sexuellen Beziehungen Meyer-Zwiffelhoffer 1995; Meister 2014. 46 Maßgebend waren die Res gestae divi Augusti. Wallace-Hadrill 1981 und 1982. 47 Noreña 2001 und 2011.

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Charakteristisch für die Tyrannenimago ist also die Verbindung schranken- und rücksichtsloser Gewalt gegenüber Untertanen wie Angehörigen mit gänzlich fehlender Selbstbeherrschung. 48 Dieses Phänomen haben Griechen wie Römer mit anderen stereotypen Imagines konnotiert: Der Tyrann gilt in seiner Gewalttätigkeit als ‚grausam wie ein Barbar‘ und in seiner Genusssucht als ‚verweichlicht wie ein Orientale‘, die fehlende Selbstbeherrschung wiederum als Ausdruck seiner Effeminierung.

5. „Verrückte Kaiser“: Akzeptanzverlust und politische Vision Ich werde nun das Handeln der „verrückten Kaiser“ als Ausdruck einer gescheiterten Kommunikation mit einer oder mehreren der herrschaftsrelevanten Gruppen der Reichsbevölkerung interpretieren. Die Reaktion dieser Herrscher auf eine ihnen ausweglos erscheinende Situation bestand darin, die Rolle des Kaisers in der Herrschaftskonfiguration des Prinzipats radikal neu zu definieren. Dieses Phänomen möchte ich als politische Vision bezeichnen. Doch ist der Versuch, den traditionellen Handlungsrahmen aufzubrechen, in allen Fällen gescheitert, was gleichfalls der Erklärung bedarf. Bei der Interpretation der kaiserlichen Performanz muss freilich berücksichtigt werden, in welchen politischen Räumen die Kaiser handelten: Vieles wurde hingenommen, was sich im Palast abspielte, in der domus Augusta und den dazugehörenden Einrichtungen. Etwas Anderes war es, wenn der Kaiser in der Öffentlichkeit außerhalb seines Palastes in Erscheinung trat, in der Stadt Rom oder an anderen Orten im Reich. Und es bedeutete noch etwas Anderes, dieses Handeln auch symbolisch repräsentieren zu lassen, vor allem mittels der Medien, die das public image des Kaisers vermitteln sollten, das heißt auf Münzen und Monumenten, in Ritualen und Edikten, mittels Statuen und Büsten. Die kaiserliche Imago wurde aus drei Bereichen gespeist: In der häuslichen Sphäre der domus divina agierte der Kaiser als pater familias und damit als privatus gegenüber seinen Frauen und Kindern, anderen Angehörigen der Dynastie sowie seinen Freigelassenen; in der höfischen, semipolitischen Sphäre der aula principis als patronus bei den Morgenempfängen (salutationes), Gastmählern (convivia) und ‚privaten‘ Spielen (ludi); 49 in der politischen Sphäre außerhalb seiner domus schließlich als

48 Letzteres ist ein zentrales Thema der griechischen Ethik seit spätklassischer Zeit; vgl. Foucault 1984. 49 Zum kaiserlichen Hof Winterling 1999.

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Princeps gegenüber den Senatoren und Rittern, der Plebs und den provinzialen Gemeinden.

5.1. Caligula: Der Kaiser als Gott Wie Aloys Winterling gezeigt hat, entwickelte Caligula 50 seit dem Spätherbst des Jahres 39 die Vision von einem gottgleichen Monarchen. 51 Sie war das Resultat einer gescheiterten Beziehung zum Senat, die sich in den drei Verschwörungen ranghoher Senatoren und Angehöriger des Kaiserhauses offenbart hatte. Unsere Quellen berichten, dass Caligula sich in den ersten beiden Jahren seiner Herrschaft nicht nur großzügig gegenüber der hauptstädtischen Bevölkerung und den Soldaten gezeigt, sondern auch den Senat mit Respekt behandelt hatte. 52 Nach den Verschwörungen zerstörte er die Fassade des Prinzipats, indem er in einer Rede den Senatoren vorwarf, ihn unter dem Deckmantel von Schmeichelei und Ehrungen zu hassen und nach seinem Tode zu trachten. 53 Er kündigte die Beziehung zum Senat auf, indem er per Edikt verkünden ließ, er kehre nach Rom nur für den Ritterstand und die Plebs zurück; für den Senat werde er künftig weder civis noch princeps mehr sein. 54 Auch untersagte er weitere Ehrungen für ihn mit der Begründung, so Cassius Dio, „man könnte sonst glauben, sie seien seine Vorgesetzten und in der Lage, ihm als ihrem Untergebenen Gefälligkeiten zu erweisen“. 55 Das Misstrauen gegenüber den Senatoren, das in der kollektiven Aufkündigung der amicitia zum Ausdruck kam, führte nun dazu, dass die Senatoren in ihrem Kampf um Kaisernähe zahlreiche Majestätsprozesse gegen Standesgenossen anstrengten, ohne dass Caligula selbst tätig werden musste. Er beschränkte sich darauf, die Senatoren bei seinen Gastmählern zu demütigen, was darin kulminiert, dass er sein Pferd zum Kaiserpriester ernannte und zum Konsul designierte. Die Distanz zu den Senatoren in-

50 Zur Interpretation speziell der „Verrücktheit“ Caligulas in der neueren Forschung Schrömbges 1988; Yavetz 1996; Winterling 2003 passim. 51 Winterling 2003, 139–152. 52 Ios. ant. Iud. 18,256: „In den ersten beiden Jahren führte Gaius die Regierungsgeschäfte äußerst hochherzig (megalophróno¯ s) und erwarb sich durch seine Mäßigung (métrion parécho¯ n hautón) großes Wohlwollen (eúnoia) seitens der Römer und der Untertanen.“ 53 Cass. Dio 59,16; vgl. die beiden Aussprüche Caligulas bei Suet. Cal. 29,1: memento omnia mihi et omnis licere und Sen. ira 1,20,4; Suet. Cal. 30,1: oderint, dum metuant (nach Accius). 54 Suet. Cal. 49,1; vgl. Cass. Dio 59,23,3 f. 55 Cass. Dio 59,23,3; dazu Winterling 2003, 94–100.

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szenierte er, indem er seine gottgleiche Würde betonte (divina maiestas), 56 sich als Heros und Gott anreden und mit Statuen und Tempeln verehren ließ. 57 In den Worten Caligulas, die Philon kolportiert: 58 Wie nämlich diejenigen, die Hirten anderer Lebewesen sind – Hirten von Rinderherden, Ziegenherden oder Schafherden –, selbst keine Rinder, Ziegen oder Schafe sind, sondern Menschen, denen ein höheres Schicksal und eine höhere Anlage [sc. als diesen Tieren] zuteilwurde, so muss auf dieselbe Weise auch ich, der ich Hirte der besten Herdenart bin, nämlich der Herde der Menschen, als von ihnen unterschieden und nicht von menschlicher Art betrachtet werden, als einer, dem ein höheres und göttlicheres Geschick zuteilgeworden ist.

Solche Inszenierungen der Göttlichkeit des Herrschers, ein von Caligula mit ernsten Konsequenzen für die Senatoren betriebenes Spiel, 59 haben die antiken Geschichtsschreiber für bare Münze genommen und ihn für verrückt erklärt. Doch im Gegensatz zu den anderen „verrückten“ Kaisern ist Caligulas ‚Wahn‘ nicht symbolisch repräsentiert worden, das heißt, es ist keine Statue oder Münze überliefert, die ihn als Gott darstellte. 60 Sein Spiel mit seiner Göttlichkeit hat demnach – sieht man von der etablierten Praxis der Kaiserverehrung und des Kaiserkults ab – offenbar nicht die Ebene der kaiserlichen Repräsentation im öffentlichen Raum erreicht, sondern bildete ein Element der Kommunikation mit Vertretern der Reichsaristokratie im kaiserlichen Palast. Caligula ist nicht am Akzeptanzverlust bei der Plebs, die die Bestrafung seiner Mörder forderte, gescheitert oder dem bei den Soldaten, auch nicht an den Senatoren, deren Verschwörungen allesamt fehlschlugen. Er ist einer Intrige aus seiner nächsten Umgebung zum Opfer gefallen, seiner beiden Prätorianerpräfekten und seines einflussreichsten Freigelassenen, die um ihr eigenes Leben gefürchtet hatten. Caligulas „Verrücktheit“ bestand darin, dem Prinzipat die Maske abgerissen und seine Autokratie inszeniert zu haben, indem er sich gegenüber den unterwürfigen Senatoren als Tyrann zeigte und sich von ihnen als Gott behandeln ließ.

56 Suet. Cal. 22,2; vgl. Phil. legat. ad Gaium 76–85. 57 Barret 1989, 140–153; Winterling 2003, 139–152. 58 Phil. legat. ad Gaium 76; zu Caligulas Götternähe Phil. legat. ad Gaium 93–95; Suet. Cal. 22,2–4. Laut Sueton soll Caligula den Homervers (Il. 2,204 f.) „Nur einer sei Herrscher (koíranos), einer nur König (basileús)“ ausgerufen haben, und er kommentiert (22,1): „Es fehlte nicht viel, und er hätte sich sofort das Diadem aufgesetzt und den principatus der äußeren Form nach in ein regnum umgewandelt.“ Zuletzt hatte Marcus Antonius Caesar das Diadem angetragen. 59 Winterling 2003, 144 und 152; contra Witschel 2006, 99. 60 Vgl. Witschel 2006, 108–111.

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5.2. Nero: Der Kaiser als Künstler Nero 61 entwickelte die Vision von einem Künstler-Kaiser, 62 der im Stil griechischer Aristokraten als Schauspieler und Sänger zur Kithara auf der Bühne um Sieg und Ruhm kämpfte und als Wagenlenker auftrat. 63 Obwohl er sich wie viele junge Aristokraten bereits seit seiner Jugend darin geübt hatte, so tat er den Schritt in die Palastöffentlichkeit doch erst nach der Ermordung Agrippinas im Jahr 59 beim Fest der Iuvenalia, wo er selbst auftrat. Er konnte dann im folgenden Jahr gerade noch daran gehindert werden, an den von ihm nach griechischem Vorbild gestifteten Neronia selbst zu singen, indem man ihm kampflos den Sieg zuerkannte. Kurz vor dem Brand in Rom im Jahr 64 schließlich trat Nero erstmals öffentlich auf, zwar noch nicht in Rom, doch im Theater von Neapel. An den zweiten Neronia im folgenden Jahr siegte er dann schließlich auch in Rom. Den Höhepunkt seiner Laufbahn bildete die Griechenlandreise, von der er mit 1808 Siegespreisen in einer Parodie auf den Triumphzug in Rom einzog. Dabei wurden für ihn – wie für einen griechischen Sieger bei den panhellenischen Spielen, einen Periodoniken – die Stadtmauern zum Einzug niedergerissen. Nero trat in Griechenland nicht nur als Sänger auf, sondern auch als Schauspieler in tragischen Rollen, die sein Leben reflektierten: als „Geblendeter Ödipus“ (Oedipus excaecatus), was an den ihm vorgeworfenen Vatermord und Mutterinzest erinnerte, als „Rasender Hercules“ (Hercules furens), was die Tötung seiner schwangeren Frau Poppaea evozierte, und als „Muttermörder Orest“ (Orestes matricida), wobei jeder Agrippina vor Augen hatte. Nero hatte sich am Ende als „universaler Heros“ begriffen, 64 der die tragischen Helden des griechischen Mythos in sich vereinigte. Es ist nicht einfach, diese Vision als Reaktion auf eine bestimmte Situation gestörter Kommunikation zurückzuführen. Am plausibelsten erscheint mir die Deutung, dass Nero, der die ersten fünf Jahre unter der Aufsicht seiner Mutter und der ihr verpflichteten Burrus und Seneca stand, ein alternatives Bild aristokratischer Exzellenz entwickelt hatte, das nicht am Vorbild römischer Senatoren, sondern griechischer Aristokraten und

61 Speziell zu Neros ‚Künstlertum‘ Rilinger 1996, der darin „konzeptionellen Charakter“ (144) erkennt; Malitz 2004; Meier 2008; Gotter 2011. Flaig 2003, 2006, 2010 behandelt den Akzeptanzverlust Neros. 62 Iuv. 8,198: citharoedus princeps; Tac. ann. 15,59,2: scaenicus Nero; Plin. paneg. 46,4: scaenicus imperator. 63 Suet. Nero 53; vgl. Tac. ann. 14,14,2; 16,4; Suet. Nero 20,2 f.; 25; 53,1; Cass. Dio 61,18,1 f. (= Xiphil. 156,6–157,5 R. St.); 63,20 f. (= Xiphil. 179,5–182,6 R. St. und Bekker, Anecdota 142,9.10). 64 Meier 2008, 594.

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Heroen ausgerichtet war. 65 Seneca und Burrus führten ja bis zum Jahr 62 die politischen Geschäfte, und für den Krieg hatte Nero, der selbst nie an einem Feldzug teilnahm, fähige Heerführer. Anders aber als im Falle Caligulas war die Botschaft, die die neue kaiserliche Imago vermittelte, nicht an die Senatoren allein gerichtet und voller Widersprüche, was schließlich zum Akzeptanzverlust bei allen drei Gruppen führte. Die plebs urbana konnte ihm letztlich trotz aller prächtigen Festspiele den Mord an seiner Mutter Agrippina und seiner Gattin Octavia nicht verzeihen, weshalb die Gerüchte kolportiert wurden, Nero sei der Brandstifter des Feuers in Rom im Jahr 64 gewesen, obwohl dieser nachdrücklich für die Brandbekämpfung gesorgt und der fliehenden Bevölkerung seine Gärten geöffnet hatte. Auch brüskierte Nero immer wieder die Plebs, indem er ihre Bitten ausschlug. Die Heimkehr aus Griechenland schließlich, bei der Nero den Triumph umdeutete und wie ein Eroberer in Italien und Rom einzog, wird ihn die letzten Sympathien gekostet haben. Was die Soldaten betrifft, so hatte anscheinend Neros Vernachlässigung der Imperator-Rolle zunächst keine Auswirkungen auf die Loyalität der Truppen. Doch auch hier bildet das Jahr 59 eine erste Zäsur: Als ein Prätorianertribun, der an der ‚Pisonischen Verschwörung‘ beteiligt war, von Nero gefragt wurde, weshalb er seinen Eid gebrochen habe, soll er laut Tacitus geantwortet haben: 66 Niemand von den Soldaten war dir treuer, solange du es verdient hattest, geliebt zu werden: Ich habe angefangen dich zu hassen, nachdem du zum Mörder (parricida) deiner Mutter und deiner Gattin geworden warst, zum Wagenlenker (auriga), Schauspieler (histrio) und Brandstifter (incendiarius).

Die Soldaten empfanden wie die Plebs den Verwandtenmord als unsäglich, darüber hinaus aber auch das Auftreten Neros auf der Bühne, was in Rom mit Infamie verbunden war und den denkbar größten Gegensatz zur kaiserlichen Würde (dignitas) und Erhabenheit (maiestas) darstellte. 67 Zudem pervertierte Nero durch seine parodistische Heirat mit einem Eunuchen die Männerrolle. 68 Der als schändlich empfundene Einzug Neros in Rom und die am Ende fehlende Bereitschaft, gegen die Usurpatoren vorzugehen, ließen auch die letzten Soldaten von Nero abfallen. Neros „Verrücktheit“ lag darin, durch eine Pervertierung grundlegender römischer Wertvorstellungen am Vorbild griechischer Künstler und Heroen

65 Auch Nero betonte seine autokratische Stellung: Suet. Nero 37,3: Negavit quemquem principum scisse quid sibi liceret. 66 Tac. ann. 15,67,2; vgl. Cass. Dio 62,24,2 (= Xiphil. 170,4–172,1 R. St.). 67 Flaig 2000. 68 Suet. Nero 28,1.

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die kaiserliche Majestät massiv beschädigt zu haben. 69 Dennoch lebte sein Andenken besonders im Osten des Reiches weiter, wie das Phänomen der falschen Nerones zeigt. 70

5.3. Commodus: Der Kaiser als Gladiator Commodus 71 entwickelte die Vision vom Kaiser als römischer Hercules (Hercules Romanus), die er in der Arena zur Geltung brachte. Sie war ein Resultat seiner zerrütteten Beziehung zum Senat. „Die Verschwörung war der erste und wichtigste Grund, weshalb der jugendliche Commodus den Senat hasste“, kommentiert Herodian die Lucilla-Verschwörung. 72 Als „purpurgeborener“ Herrscher fühlte er sich aber auch den Senatoren weit überlegen – Commodus war der erste Kaiser, der seine nobilitas öffentlich propagierte 73 und damit – wie Caligula und Domitian – eine offene Monarchie praktizierte, was nach dem ganz anderen Beispiel, das Marc Aurel gegeben hatte, bei den Senatoren nicht gut ankam. Sein Rückzug in den Palast und die damit verbundenen Gerüchte über sein verschwenderisches und lasterhaftes Leben ließen ihn als Verkörperung der tryph´¯e erscheinen. Solchen Gerüchten trat Commodus schließlich nach dem Sturz seines Prätorianerpräfekten Cleander im Jahr 190 entgegen und ergriff wieder die politische Initiative. Indem er sich als Tierkämpfer und Gladiator zunehmend mit Hercules identifizierte, demonstrierte er seine virtus. Doch Commodus scheiterte mit seiner Vision nicht an den Senatoren; diese waren wie immer ohnmächtig, solange sich nicht die Plebs oder die Soldaten vom Kaiser abwandten. Die Soldaten wandten sich nie von Commodus ab. Sie akzeptierten seine Vision vom Hercules Romanus, wie einige Zeugnisse aus den Provinzen zeigen. 74 Deshalb ist Commodus auch nie durch eine Usurpation herausgefordert, sondern nur von Verschwörungen bedroht worden. Die Nachfolger Pertinax und Didius Iulianus konnten sich die Loyalität der Prätorianer nur dadurch sichern, dass sie das Gedächtnis an Commodus wiederherstellten. Auch die plebs urbana stand bis zum Oktober 192 hinter 69 Cass. Dio 63,9 (= Xiphil. 175,31–177,10 R. St.; Exc. Val. 251, p. 690 ff.) kommentiert pointiert diese Verkehrung des römischen Ehrempfindens. 70 Tuplin 1989. 71 Speziell zum ‚Wahn‘ des Commodus Hekster 2001; Witschel 2004; Meyer-Zwiffelhoffer 2006. 72 Herodian. 1,8,7. 73 MIR 517–8 (186 n. Chr.): nobilit(as) Augusti; ILS 397: nobilissimus omnium et felicissimus principum. 74 Meyer-Zwiffelhoffer 2006, 204 f.

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Commodus. Sah man aber schon in dem Brand Roms 192 ein Zeichen dafür, dass die pax deorum gestört war, was dem Kaiser angelastet wurde, 75 so wandte sich die Plebs von Commodus vollends ab, als er im Oktober im Ornat des Hercules in der Arena kämpfte. Cassius Dio berichtet, dass viele aus Scham nicht mehr ins Amphitheater gingen bzw. dieses beim Auftritt des Commodus verließen. 76 Für die Plebs hatte der Kaiser eine Grenze überschritten; sie akzeptierte weder seine Identifikation mit Herakles, noch seine Auftritte als Gladiator. Die kaiserliche maiestas war unendlich erniedrigt worden, hatte der Kaiser doch die symbolische Grenze überschritten, die das römische Volk von den Verfemten trennte, die in der Arena auftraten; er setzte sich selbst der infamia aus. Dem Kaiser gelang es in der Arena ebenso wenig wie Nero im Theater, die politische Symbolik der römischen Spiele mit ihrer Grenze zwischen infamen Akteuren und Bürgern umzudeuten. 77 Nicht die Demonstration seiner persönlichen virtus wurde Commodus übelgenommen, sondern dass er dies auf eine Weise tat, die der gloria principis und damit seiner auctoritas und maiestas Abbruch tat. 78 Darin lag der Wahnsinn des Commodus.

5.4. Elagabal: Der Kaiser als Hohepriester Elagabals 79 Vision bestand in einem Priester-Kaisertum, das er Ende des Jahres 220 auf dem Wege einer „religiösen Reform“ umsetzte. 80 Die Erhebung des in Rom als Sonnengott verstandenen Elagabal über Jupiter und die anderen Gottheiten sowie die Voranstellung des Priesteramtes eines sacerdos (amplissimus) dei Solis Elagabali 81 vor den traditionellen Kaisertitel pontifex maximus machte dies sinnfällig. Bei Elagabal scheint es mir nicht möglich zu sein, diese Vision als eine Reaktion auf gestörte Beziehungen zu herrschaftsrelevanten Gruppen in Rom zu deuten. Es sieht eher so aus, dass diese Vision sich entwickelte, als der Priester des Elagabal von Emesa unversehens Kaiser wurde. Nachdem er in Rom angekommen war, inszenierte er für über ein Jahr noch ein eher traditionelles Kaiserbild, bevor er seine Vision umsetzte, wohl in der Überzeugung, damit die Macht Roms zu stärken und seine Akzeptanz zu festigen. Doch verlor er diese 75 76 77 78 79 80 81

Herodian. 1,14,6. Cass. Dio 72 (73),20,2. Flaig 2000. Herodian. 1,15,7. Speziell zum ‚Wahn‘ des Elagabal Sommer 2004; Icks 2008 und 2011. Icks 2006. ILS 473, 475; AE 1990, 654; 2001, 938, vgl. ΑΕ 1995, 1641; RIC IV Elagabal 2, 131– 135, 194.

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gerade damit zumindest bei den Senatoren und den Soldaten; über die Reaktionen der Plebs wissen wir nichts Zuverlässiges. Nicht die Einführung des neuen Gottes wurde ihm zum Verhängnis, sondern dass er damit die traditionellen Götter Roms erniedrigte und überhaupt das religiöse Empfinden verletzte: Dass die Senatoren und Ritter an fremdartigen Riten teilnehmen mussten, dass Elagabal eine Vestalin heiratete und dass er in syrischer Priestertracht seinen Geschäften nachging, bescherte ihm bei der Aristokratie einen Akzeptanzverlust. Doch ohne die Abwendung auch der Prätorianer wäre er wohl nicht zu Fall gebracht worden. Bei den Soldaten fiel der Elagabal-Kult nicht auf fruchtbaren Boden – wir kennen keine soldatischen Weihestiftungen unter Elagabal für diesen Gott. Auch das Gerede über sein schamloses Geschlechtsleben in Verbindung mit religiösen Riten dürfte die anfängliche Zuneigung der Soldaten beschädigt haben. 82 Elagabals Wahn bestand darin, mit der Inthronisation eines syrischen Gottes als oberste Gottheit Roms die traditionelle pietas der Römer massiv verletzt zu haben. 83

6. Fazit Jeder der vier „verrückten“ Kaiser hatte eine politische Vision entwickelt, mit der er seine Position im komplizierten Herrschaftsgefüge des Prinzipats neu zu definieren versuchte. Diese Visionen waren in sich kohärent und wurden im politischen Raum inszeniert und kommuniziert. Abgesehen von Elagabal nahmen sie erst nach mehreren Herrschaftsjahren Gestalt an. Bei Caligula, Nero und Commodus lässt sich zeigen, dass ihre Visionen eine Reaktion auf massive Spannungen mit dem Senat und Mitgliedern der kaiserlichen Dynastie waren, doch in ihrer Botschaft in erster Linie auf Akzeptanz bei der plebs urbana und den Soldaten zielten. Anders

82 Elagabal inszenierte einen der aus traditionell-römischer Sicht anstößigen ‚orientalischen‘ Kulte als obersten Staatskult. Die Kulte von Kybele und Atthis, der Dea Syria und der Atargatis sowie des Dionysos hatten nämlich seit der republikanischen Zeit eine schlechte Presse in Rom: Man verband mit ihren Mysterien Beschneidung und Kastration, geheime Orgien und sexuelle Perversionen, also Praktiken der Entmännlichung, die sich auch im Tanz und Gesang sowie in der Kleidung der Kultteilnehmer offenbarte. In der politischen Rhetorik erledigte der Vorwurf der Effeminierung den Gegner, wie nicht zuletzt das Beispiel des Marcus Antonius zeigt. Dass ein Kaiser offiziell als beschnittener Priester der syrischen Gottheit, als effeminatus auftrat, war mit der traditionellen pietas nur schwer vereinbar. 83 Cass. Dio 79 (80),11,1 f.: „Das Ärgernis bestand hierbei nicht darin, dass er einen fremden Gott in Rom einführte oder auf ganz ungewöhnliche Art auszeichnete, sondern dass er ihm einen Platz vor Iuppiter selbst einräumte und sich durch Beschluss zu seinem Priester ernennen ließ.“

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liegt der Fall des Elagabal, der nicht aus dem Kaiserhaus heraus zur Herrschaft gelangte, sondern durch eine Usurpation: Er hatte von Anfang an größere Legitimationsprobleme und seine Vision daher bereits nach Rom mitgebracht. Alle vier Kaiser scheiterten mit ihren Visionen, da diese entweder zu früh kamen oder die kulturelle Identität der römischen Bürger zur Disposition stellten. Aber sie setzten Exempla, die später wieder aufgegriffen wurden: Generell nahm das Gewicht der Senatorenschaft für das Kaiserregiment spätestens seit der Severerzeit Ende des 2. Jahrhunderts ab. Caligulas offene Autokratie fand viele Nachahmer, von Domitian bis Septimius Severus und Caracalla. Die Identifikation des Commodus mit Hercules führte in der Tetrarchie zur Herrschaftskonzeption der Herculier und Iovier. Elagabals Erhöhung eines persönlichen Gottes zum Reichsgott wurde erfolgreich von Aurelian und Konstantin praktiziert. Es sind aber auch Grenzen deutlich geworden, die später nicht mehr überschritten wurden: Kein Kaiser definierte sich mehr als Künstler, keiner trat mehr auf der Bühne auf. Kein Kaiser kämpfte auch mehr in der Arena als Gladiator. Ein solches Verhalten beschädigte nicht nur die kaiserliche maiestas, sondern verwischte die Grenze zwischen Freien und Sklaven, Römern und Barbaren, Bürgern und infamen Personen. Es scheint also, dass der kaiserliche „Wahnsinn“ Methode hatte. Die ‚Rationalität‘ des Herrschaftshandelns darf freilich nicht als politisches Kalkül missverstanden werden. Der Habitus und die Performanz eines Kaisers als göttlicher Monarch, tragischer Bühnenkünstler, herkulischer Gladiator oder syrischer Sonnenpriester waren für die Betreffenden Optionen, die sich aufgrund ihrer biographischen und sozialen Disposition in einem historisch spezifischen Handlungsfeld ergaben und mit denen sie Erwartungshaltungen bestimmter Untertanengruppen aufgriffen und politisch umzusetzen versuchten. Von daher ist es auch müßig zu fragen, ob sich ein Caligula tatsächlich als gottgleich empfand oder nur Theater spielte. In der Wahrnehmung der Untertanen verfügten alle Kaiser über gottgleiche Macht und wurden deshalb als Götter und Heroen auch kultisch verehrt. 84 Wie weit ihr Handlungsspielraum tatsächlich war, erfuhren sie bei der Umsetzung ihrer Visionen von einer anderen kaiserlichen Rolle. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass die kaiserzeitlichen Autoren von Wahnsinn nicht im Sinne einer psychiatrischen Diagnose sprachen, sondern den Begriff als Metapher für die Verkehrung sozialer und politischer Traditionen gebrauchten. Kein Kaiser zeigte Symptome, mit denen

84 Dazu Price 1984 und Gradel 2002.

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die antiken Mediziner und Juristen Wahnsinn verbanden, 85 auch keine aus den psychiatrischen Lehrbüchern an der Wende zum 20. Jahrhundert. 86 Aber kann man dann diesen Kaisern nicht wenigstens „Realitätsverlust“ vorwerfen? Ich glaube nicht, denn ein Realitätsverständnis ist seinerseits eine subjektive oder gruppenspezifische Konstruktion. Warum sollte nicht ein so mächtiger Herrscher wie der römische Kaiser neue ‚Realitäten‘ schaffen und damit seinen Handlungsspielraum erweitern können? 87 Wir sollten nicht unsere zurückblickenden Analysen mit den Möglichkeitshorizonten antiker Zeitgenossen verwechseln. „Wenn aber nun sehr gut gespielt ist, dann klatscht Beifall“. Augustus soll auf dem Totenbett seine Freunde gefragt haben, ob er die „Komödie seines Lebens“ (mimus vitae) gut gespielt habe, wobei er diesen Schlussvers aller griechischen Komödien rezitierte. 88 Zurückblickend können wir Augustus beruhigen: Nur wenige haben es vermocht, alle Kaiserrollen so auszufüllen und zu vereinen wie er. Doch nicht nur zurückblickend lässt sich auch festhalten, dass Caligula, Nero, Commodus und Elagabal in Tragödien aufgetreten sind.

7. Bibliographischer Anhang Arand, T. 2002: Das schmähliche Ende. Der Tod des schlechten Kaisers und seine literarische Gestaltung in der römischen Historiographie. Frankfurt a. M. Arrizabalaga y Prado, L. 2010: The Emperor Elagabalus: Fact or Fiction? Cambridge. Balsdon, J. 1934: The Emperor Gaius (Caligula). Oxford. Barrett, A. A. 1989: Caligula. The Corruption of Power. London. Benoist, S. / Daguet-Gagey, A. (Hgg.) 2007: Mémoire et histoire. Les procédures de condamnation dans l’Antiquité romaine. Metz. Bleuler, E. 1916: Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin. Bringmann, K. 1993: The King as Benefactor. Some Remarks on Ideal Kingship in the Age of Hellenism. In: Bulloch, A. u. a. (Hgg.): Images and Ideologies. SelfDefinition in the Hellenistic World. Berkeley / Los Angeles / London, 7–24. Champlin, E. 2003: Nero. Harvard.

85 Zur medizinischen Literatur Cilliers / Retief 2009; Nutton 2013; zur Konzeption des Wahnsinns im römischen Recht Toohey 2013. 86 Das Label ‚Größenwahn‘ auf die mächtigste Person, den als Gott verehrten römischen Kaiser, anzuwenden, ergibt daher so wenig Sinn wie ‚Verfolgungswahn‘ bei diesen Herrschern zu diagnostizieren, deren Leben andauernd durch Verschwörungen und Usurpationen bedroht war. 87 Was vor ihnen auch anderen gelungen war: Daher auch die Bedeutung der Alexanderoder Herakles-Imitatio, die nicht nur bei Caligula, Nero und Commodus zu finden ist. 88 Suet. Aug. 99,1.

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Ulrike Wulf-Rheidt †

Zwischen volksnahem Princeps und größenwahnsinnigem Herrscher Die Palastbauten der römischen Kaiser 1

1. Einleitung Die öffentliche Zurschaustellung übermäßiger privater Pracht von Politikern ist zumindest in den westlichen Medien negativ belegt und wird gerne – und dies nicht nur von unseriösen Medien – zur Diskreditierung des Politikers herangezogen. Der neue Staatspalast des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo˘gan in Ankara, den er 2014 bezogen hat, wird zum Beispiel in einem Feuilletonartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „größenwahnsinniges“ Bauprojekt bezeichnet, „geschaffen von rückwärtsgewandten Großmachtträumen“ eines „ – gelinde gesagt – autoritären Bauherrn“ 2. Ebenso werden Paläste, wie jener des ehemaligen rumänischen Präsidenten Ceau¸sescu, gerne mit Schlagworten wie Größenoder gar ‚Caesarenwahn‘ belegt, um die diktatorischen Eigenschaften seiner Erbauer zu unterstreichen. 3

1 Der Beitrag liegt in der letzten von Ulrike Wulf-Rheidt kurz vor ihrem plötzlichen Tod im Juni 2018 vorgelegten Fassung vor und wurde nur noch redaktionell bearbeitet. Für die Autorisierung des Manuskripts danken wir Klaus Rheidt und Stephan Zink. 2 Bartetzko: „Weißer Palast“. Präsident Erdogans osmanische Traumfabrik. In: FAZ online (zuletzt aktualisiert) am 31. 10. 2014 (letzter Zugriff am 14. 10. 2020). 3 Christoph Seidler bezeichnet ihn in einem Spiegelartikel als „Wahnsinnspalast“ oder „Monster-Palast“. Seidler: „Ich brauche etwas Großes, etwas sehr Großes“. Ceausescus Wahnsinnspalast. In: Spiegel online vom 02. 04. 2008 (letzter Zugriff am 14. 10. 2020). Der Historiker Tony Judt soll ihn als „eine monströse Metapher für maßlose Tyrannei“ bezeichnet haben. Zitiert nach Franta, B. / Pavlik, F.: Parlamentspalast in Bukarest, Rumänien. In: Website Frank’s travelbox (https://franks-travelbox.com/europa/rumaenien/parlamentspalast-in-bukarest-rumaenien/#Monstroese_Ausmasse_des_Parlamentspalastes: letzter Zugriff 13.12.2020). Der Palast des ehemaligen turkmenischen Präsidenten Nijasow wird in einer Bildstrecke des MDR zur turkmenischen Hauptstadt Ashgabat z. B. als „Ausdruck eines Caesarenwahns“ bezeichnet. Ashgabad. Stadt aus Gold. In: Website des MDR (https://www.mdr.de/ heute-im-osten/ashgabad-118.html: letzter Zugriff am 13. 12. 2020).

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Auch in der römischen Antike und besonders in der republikanischen Zeit war luxuria, also private Prachtentfaltung und üppige Lebensführung, bei Politikern verpönt. Menschen, die sich der „Schwelgerei“, der „Genusssucht“, der „Prunkliebe“ verschrieben und damit einem bedenklichen Sittenverfall, gar einer Dekadenz Vorschub leisteten, brachten angeblich das sittliche Fundament Roms in Gefahr, das durch Maßhalten, Sparsamkeit und Bescheidenheit geprägt sei und Rom groß gemacht habe. 4 Dennoch setzte sich in der römischen Oberschicht mit zunehmendem Reichtum ab dem 3./2. Jahrhundert v. Chr. die Demonstration von Luxus durch. Frauen trugen teuren Schmuck demonstrativ in der Öffentlichkeit, bei opulenten Banketten wurde edles Tafelsilber und Goldgeschirr zur Schau gestellt. Zu dieser zunehmenden Prachtentfaltung gehörte ebenso ein luxuriöses Domizil, das reich mit Kunstwerken ausgestattet war. Die Familien der römischen Oberschicht lebten in repräsentativen Stadthäusern (domus) und in nicht minder großartigen Landhäusern (villae) mit großzügigen Parks, die mit Kunstwerken geschmückt waren. Villarum infinita spatia, „grenzenlos ausgedehnte Landpaläste“, führt deshalb Tiberius in seinem Brief an den Senat als hervorstechenden Ausdruck der „Luxussucht“ seiner Zeit an. 5

2. Der Palast als Spiegel des kaiserlichen Charakters Diese Luxuskritik macht es verständlich, dass antike Autoren sich zum Teil mit beißendem Spott über die Bauwut einzelner Kaiser ausließen und deren Verschwendungssucht und Dekadenz kritisierten, um sie so zu schlechten Kaisern (princeps malus) abzuqualifizieren. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf der Ausgestaltung des eigenen Hauses des Kaisers, das sich in hervorragender Weise eignete, um Aussagen über seinen Charakter machen zu können. Dies gilt insbesondere für die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., in der die römische Aristokratie offensichtlich von den Herrschern noch ein Festhalten am Konzept der senatorischen domus erwartete. Der Althistoriker Aloys Winterling hat dies so zusammengefasst: Die Häuser der römischen Aristokratie hatten sich zur Zeit der Republik zu informellen Kommunikationszentren entwickelt, die das politische Handeln weitgehend vorstrukturierten. Gegenseitige Besuche zum Morgenempfang [salutatio] und zu abendlichen Gastmählern [convivia] konstituierten und manifestierten persönliche Freundschafts- und Klientelbeziehungen [. . . ] 6 4 Zu luxuria siehe z. B. Fechner / Scholz 2002, 140–145; vgl. auch Wulf-Rheidt 2015, 95– 97. 5 Tac. ann. 3,53,4. Zur Luxuskritik in Bezug auf den Villenbau vgl. z. B. Morford 1968, 168–178. 6 Winterling 2004, 72.

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Die Größe des Hauses sowie der Ausstattungsluxus symbolisierten dabei die Macht ebenso wie die politischen Möglichkeiten des Besitzers. „Entsprechend waren Größe und Pracht aristokratischer Häuser Gegenstand genauer gegenseitiger Beobachtung und Konkurrenz.“ 7 Dies galt ebenso für das Zusammentreffen der Aristokratie mit dem Kaiser in seinem häuslichen Umfeld, also in seinem Palast. Dabei veränderten sich die Rahmenbedingungen für das Auftreten des Kaisers in der ersten Zeit des Prinzipats im Spannungsfeld zweier sehr gegensätzlicher Pole: Einerseits musste er einem einmaligen historischen Phänomen gerecht werden, in dem ihm die höchst diffizile Aufgabe zukam, als Erster unter Gleichen in Erscheinung zu treten, und andererseits musste er dem kaiserlichen Selbstverständnis gerecht werden, das sich aus einer großen Machtfülle und ökonomischen Potenz speiste. Für die Konzeption der Residenz ergibt sich somit die Schwierigkeit, in der Architektur gleichzeitig die Rolle des Kaisers als Angehöriger der Senatsaristokratie und seine Abgehobenheit abzubilden. Sie musste also als Bühne für die althergebrachten aristokratischen Zeremonielle dienen, dabei aber ebenso durch ihre Bildersprache einzigartige, bildhaft überhöhte Räume schaffen, um so die Macht des Kaisers zum Ausdruck bringen zu können. Deshalb wurde kritisch beäugt, wie sich der Kaiser bei den Morgenempfängen, besonders aber bei den abendlichen Gastmählern verhielt. Hier waren seine Verhaltensweisen maßgeblich mitverantwortlich für die kaiserliche Autorität, wurde bei diesen Gelegenheiten doch seine Rolle im Spannungsfeld zwischen der alten Aristokratie und der neuen politischen Ordnung öffentlich gemacht. Luxus und Verschwendungssucht hatten dabei eine wichtige Funktion im Kontext aristokratischer Statusmanifestation und damit ebenso eine politische Dimension. 8 Sie waren geeignet, in der Konkurrenz mit der Aristokratie die „unerreichbare, königsgleiche Überlegenheit“ 9 des Kaisers zu demonstrieren. Dennoch war es offensichtlich nicht leicht, die geforderte Balance herzustellen. Die Palastbauten der einzelnen Kaiser boten somit oft eine leichte Angriffsfläche für Kritik.

7 Winterling 2004, 72. 8 Winterling 2004, 76. 9 Winterling 2004, 76.

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3. Caligulas Ausbau des Kaiserpalastes Dies gilt zum Beispiel für Kaiser Caligula (Regierungszeit 37–41 n. Chr.). Er versuchte, seine monarchische Ehrenstellung jenseits der alten republikanischen Rangordnung zu untermauern und schon zu Lebzeiten Göttlichkeit zu erlangen, indem er sich als erster Kaiser Roms von der Aristokratie göttlich verehren ließ. 10 Dieses Ansinnen wurde von antiken Autoren mit angeblich geplanten, ungeheuerlichen Baumaßnahmen untermauert. Nach Sueton, der über diese Baupläne 100 Jahre nach Caligulas Tod berichtete, 11 erweiterte er einen Teil des Palastes bis zum Forum Romanum hin, wandelte den Castor- und Polluxtempel zu einem vestibulum – einer Vorhalle – für seinen Palast auf dem Palatin um und ließ sich dort häufig, zwischen dem göttlichen Bruderpaar stehend, von den Besuchern anbeten. 12 Daneben soll er eine Verbindung zwischen seinem Palast auf dem Palatin und dem Kapitol in Form einer Brücke geplant haben 13. Weder kann die Erweiterung des augusteischen Komplexes in Richtung Forum Romanum nach den neuen Untersuchungen der italienischen Kollegen im Bereich der sog. Domus Tiberiana sicher in claudische Zeit datiert werden (Abb. 1), 14 noch haben sich von den beiden weiteren Maßnahmen Spuren oder spätere Nachrichten erhalten. Besonders die Brücke zum Kapitol ist baulich schwer vorstellbar. Es steht vielmehr zu vermuten, dass mit der Erwähnung einer so übersteigerten Baumaßnahme angedeutet werden sollte, dass der Herrscher beabsichtigte, sich in unangemessener Weise mit dem obersten Staatsgott Iuppiter Capitolinus gleichzustellen sowie seinen Palast dem Kapitol, dem kultischen Zentrum Roms, anzugleichen. Die angebliche Brücke könnte somit ein Synonym für eine „Gleichstellung“ bzw. „auf das gleiche Niveau bringen“ sein, indem die beiden Anlagen miteinander verbunden wurden. Wie Winterling in seiner Caligula-Biographie herausgearbeitet hat, ist dies weniger als Ausdruck des Größenwahns eines verrückt gewordenen Kaisers 15 zu erklären, sondern vielmehr als eine „doppelbödige Kommunikation“,

10 11 12 13 14

Siehe hierzu z. B. Winterling 2004, 139. Suet. Cal. 22,2. Winterling 2004, 143. Suet. Cal. 22,4. Zu den Bauphasen der Domus Tiberiana vgl. den Vorbericht von Tomei 2011, wo sie die Erweiterung tiberisch datiert und Umbauten in die Regierungszeit von Claudius setzt (ebenda, 223). 15 Zur angeblichen Verrücktheit und Megalomanie Caligulas bereits in den antiken Quellen und den modernen Interpretationen siehe z. B. die Zusammenstellungen bei Katz 1972; Benediktson 1989.

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Abb. 1: Rom, Palatin. Gesamtplan der Anlagen auf der Hauptebene. Quelle: D. Studer mit Eintragungen Verfasserin aus: Hoffmann / Wulf 2004, Vorsatz.

da dies auch als eine extreme Erniedrigung der römischen Aristokratie verstanden werden musste. 16

4. Die Bautätigkeit des Augustus Wie unterschiedlich die Bautätigkeit der Herrscher bewertet und auch dazu genutzt werden konnte, einen charismatischen Herrscher zu definieren, zeigt insbesondere ein Vergleich mit Augustus, dem ersten Kaiser Roms (Regierungszeit 31 v.–14 n. Chr.). Dieser hatte gegen Ende seines Lebens in den Res Gestae selbst Rechenschaft über seine äußerst rege Bautätigkeit und tiefgreifende Umgestaltung Roms abgelegt. 17 Daraus werden drei Motivationen erkennbar. Durch die Fortführung und Vollendung der Bauten seines Adoptivvaters Julius Caesar wollte er seine pietas unter-

16 Winterling 2004, vor allem 127–152; 175–180. 17 Zur Baupolitik des Augustus allgemein siehe z. B. Gros / Sauron 1988; Hesberg 1988; Scheithauer 2000, 44–74; Kienast 2009, 408–417 mit Anm. 104; zur Bautätigkeit im Spiegel der Res Gestae Scheithauer 2000, 31–35.

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streichen und gleichzeitig seine Legitimation bekräftigen. 18 Die großen öffentlichen Neubauten, wie das Marcellustheater, das er nach seinem verstorbenen Schwiegersohn benannte, 19 sollten hingegen seine Großzügigkeit unter Beweis stellen. Dasselbe gilt für den Bau des Augustusforums, da er für beide Anlagen das Baugelände aus seinem Privatbesitz stellte. 20 Das Ergebnis seiner Bautätigkeit fasste Augustus in der Behauptung zusammen, er habe eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden und sie am Ende seiner Regierung in Marmor hinterlassen. 21 Marmor steht dabei nicht als ein Synonym für ein teures, luxuriöses Baumaterial, sondern für die Größe und Herrlichkeit der Stadt Rom und damit für den Kaiser selbst, der sich hier als Neugründer Roms präsentiert 22. Die von Augustus ausgeführten teuren und reich ausgestatteten Bauten wurden bei den Dichtern daher als ein positiver Zug des Herrschers gesehen, dem es gelang, die Stadt in eine wirkliche Metropole zu verwandeln. In diesem Fall sahen die Zeitgenossen auch in der reichen Verwendung von Gold keine Prunksucht, sondern ein „typisches Merkmal der sakralen Bautätigkeit“ und der Freigebigkeit des Augustus. 23 Ein Vergleich von Caligula mit Augustus macht also deutlich, dass Bauleidenschaft im 1. Jahrhundert n. Chr. noch sehr unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Dies gilt auch für den Palastbau. Während, wie oben beschrieben, die Bewertung der Bautätigkeiten Caligulas auf dem Palatin negativ ausfiel, wurde sie bei Augustus sogar dazu genutzt, seine Bescheidenheit (moderatio) unter Beweis zu stellen. Angeblich soll sich die domus, die Augustus auf dem Palatin bewohnte, in ihrer Größe und Ausstattung zunächst kaum von denen der Senatsaristokratie unterschieden haben. 24 Der wichtigste Teil des Ausbaus seiner Residenz galt offensichtlich nicht seinen ‚privaten‘ Gemächern, sondern dem Neubau des Tempels des Apollo Palatinus, den er 36 v. Chr. nach dem Sieg von Naulochos gelobte und der am 9.10.28 v. Chr. geweiht wurde. 25 Zusammen mit dem nahe gelegenen Mater Magna- und dem Victoriatempel sowie der Nähe zum mythischen Wohnhaus des Romulus wurde besonders die sakrale und altehrwürdige Komponente des Ortes seiner Residenz betont (Abb. 1). 26 18 19 20 21 22 23 24 25

Scheithauer 2000, 32. Scheithauer 2000, 32 mit Anm. 74. Scheithauer 2000, 32 mit Anm. 76. Suet. Aug. 28,3; Scheithauer 2000, 35 mit Anm. 90. Kienast 42009, 417. Scheithauer 2000, 40. Suet. Aug. 72. Iacopi 2006, mit 371 mit Anm. 46 und 49; Zanker 2009, 59. Zur engen Verbindung Octavians zu Apollo siehe z. B. Meyboom 2005, 236 f.; 243 f. 26 Zusammengefasst bei Meyboom 2005, 226–229; Wulf-Rheidt 2012a, 38 f.

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5. Neros neues Palastkonzept In der Frühzeit des Prinzipats war die Rolle des Kaisers im Umgang mit der Aristokratie noch sehr unbestimmt. Entsprechend schwer fiel es, das richtige Maß an Luxus und Reichtum zu definieren. Waren stillschweigende Übereinkünfte gefährdet oder wurden aristokratische und besonders senatorische Erwartungen brüskiert, konnte dies fatale Folgen haben. 27 Dies sollte nicht nur Caligula, sondern ebenso wenig später Kaiser Nero zu spüren bekommen. Dabei unterschied sich Nero bei seinen infrastrukturellen Maßnahmen, den Sport- und Vergnügungsstätten und den Heiligtümern nicht grundlegend von seinen Vorgängern, zeigte vielmehr einen an Augustus orientierten „außerordentlichen städtebaulichen Gestaltungswillen.“ 28 Der Stein des Anstoßes für öffentliches Missfallen war wiederum der Palastbau. Schon Neros Konzept der Domus Transitoria, die um 60 n. Chr. in Angriff genommen wurde, bedeutete einen tiefgreifenden Wandel im Palastbau, stellte sie doch nach den Überlieferungen antiker Autoren, wie zum Beispiel Tacitus oder Sueton, alles an bis dahin gebautem Luxus in den Schatten. 29 Besonders aber der ungeheuerliche Ausbau der Domus Aurea nach dem großen Stadtbrand von 64 n. Chr. wurde von antiken Autoren und bis heute auch vielfach in der Forschung mit dem Bild des ‚Caesarenwahns‘ verbunden. 30 Zeitgenössische, wahrscheinlich von oppositionellen senatorischen Kreisen aufgebrachte und geschürte 31 Gerüchte, dass der Kaiser selbst den Brand gelegt habe, um sich seinen Palasttraum verwirklichen zu können, gaben Anlass zu Spekulationen über seinen Geisteszustand und seine Zurechnungsfähigkeit. Sie ließen die Palastneubauten zum Produkt einer nicht nur exzentrischen, sondern auch wahnsinnigen Persönlichkeit werden. 32 Die bei Sueton belegte Erzählung, dass sich Nero vom Turm des Maecenas aus an der Feuersbrunst erfreut haben soll, 33 wird später, bei Cassius Dio, sogar noch auf das Dach des Palastes verlegt. 34 Dieses Bild

27 Dettenhofer 2002, 665 fasst dies folgendermaßen zusammen: „Trotz der de facto absoluten Macht des princeps lag es in der Natur der Sache, daß es für die Senatorenschaft immerhin möglich war, einen princeps zu eliminieren, wogegen der princeps letztlich scheitern mußte, wenn er versuchte, sich der Senatoren zu entledigen.“ 28 Hahn 2006, 370. Zur Baupolitik vgl. ebd. 370 f.; Hesberg 2016. 29 Tac. ann. 15,39,1.; Suet. Nero 31,1; allgemein Beste / Filippi 2016, 191. 30 Scheithauer 2000, 112. 31 Hahn 2006, 368. 32 Siehe z. B. Hahn 2006, besonders 367 f. 33 Suet. Nero 38,2. 34 Cass. Dio 62,18,1 (= Xiphil. 166,17–169,10 R. St.).

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Abb. 2: Rom. Hypothetische Rekonstruktion der neronischen Domus Aurea. Quelle: J. Denkinger, Architekturreferat DAI Berlin.

sollte „die Imaginationskraft von Historikern, Dichtern und Künstlern nie mehr loslassen.“ 35 Der Versuch Neros, mit der Domus Aurea einen neuartigen Wohnsitz zu schaffen und mit den Konventionen einer an senatorischen Maßstäben orientierten domus zu brechen, wird daher in der Literatur immer wieder negativ als Ausdruck übertriebener luxuria und Selbstrepräsentation eines exzentrischen Kaisers gelesen. Dies verwundert nicht, stellte die Domus Aurea, eine weitläufige römische Landschaftsvilla mitten in der dicht bebauten Stadt Rom, doch die luxuriöseste Form des Wohnens dar, die es in der römischen Welt überhaupt gab (Abb. 2). 36 Diese ungeheure Prachtentfaltung stieß auf harte Kritik. Den verwerflichen Aspekt der luxuria betont vor allem Sueton. Nach ihm sollen die Innenräume sämtlich vergoldet und mit Edelsteinen und Perlmutt ausgelegt gewesen sein. Die Speisezimmer hatten mit Elfenbeinschnitzerei verzierte Kassettendecken, deren Täfelung verschiebbar war, damit Blüten auf die Gäste herabregnen konnten. Auch besaßen sie Röhren zum Versprühen wohlriechender Öle. Es soll einen drehbaren Speisesaal gegeben haben.

35 Hahn 2006, 367. 36 Zur Domus Aurea, ihrer Charakterisierung als „Landschaftsvilla“ und der zeitgenössischen Beurteilung siehe ausführlicher Bergmann 1993, 18–25; Winterling 1999, 65– 70; Wulf-Rheidt 2015, 97 f. jeweils mit weiterführender Literatur.

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Nach Sueton waren die Räume des Palastes mit erlesenen, aus der ganzen Stadt geraubten Kunstwerken geschmückt. 37 Mehr als die luxuriöse Ausstattung der Anlage waren aber ihre gewaltige Ausdehnung und die ingenieurtechnischen Erfordernisse, die zu ihrer Errichtung notwendig waren, negativ belegt. Tacitus merkt zum Beispiel zur Domus Aurea an, dass sich Nero eine Residenz erbaute, [. . . ] in der nicht so sehr die Edelsteine und das Gold Bewunderung erregen sollten, sie waren ja bereits altgewohnt und durch den Luxus schon verbreitet, als vielmehr die Wiesen, Teiche, der Wechsel von Hainen, freien Plätzen und Ausblicken, als ob man sich in freier Landschaft befände. Bauleiter und Ingenieure dieser Anlage waren Severus und Celer, die die Fähigkeit und Kühnheit besaßen, das, was die Natur verweigerte, künstlich zu erschaffen und so die Mittel des Princeps zu verschleudern. 38

Nach der Darstellung der antiken Schriftsteller Tacitus und Sueton war das Areal der Domus Aurea neben dem eigentlichen Residenzgebäude mit einem künstlichen See, einem gigantischen Nymphäum, weitläufigen Portiken und verstreut eingefügten Pavillons bebaut. Dies alles befand sich in einer Gartenanlage, welche zwischen beherrschter Natur und Wildnis wechselte und sogar Wälder und Viehweiden mit verschiedenartigsten Weide- und Wildtieren umfasste. 39 Auch wenn die genaue Ausdehnung der Domus Aurea im Stadtgebiet bis heute nicht sicher zu benennen ist, war sie mit ihrem ca. 80 ha großen Areal zwischen Palatin, Caelius und Oppius zum Beispiel fast 20-mal so groß wie der Circus Maximus oder 50-mal so groß wie das Augustusforum. 40 Da bis zur frühen Kaiserzeit die Immobilienpreise im Zentrum Roms extrem angestiegen waren, stellte ein solcher Landbesitz in der dicht bebauten Stadt nicht nur Luxus dar, sondern war auch dazu geeignet, die politische und soziale Macht des Besitzers in Rom zu demonstrieren. Wenn einige antike Autoren also die gewaltige Ausdehnung des Palastes betonten, wurde damit auch das angeblich egozentrische Verhalten Neros vor Augen geführt. So behauptet Martial, dass es in Rom nur ein einziges Haus gegeben habe, das einem grausamen Herrscher als Wohnsitz diente. Dieses sozial anstößige Verhalten mache Nero zu einem princeps malus, denn mit dem gigantischen Ausbau des Palastes habe er angeblich die cura principis ins Gegenteil verkehrt, da er die Wohnungsnot verschärfte und die Grundlage für soziales

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Suet. Nero 31,1. Tac. ann. 15,42. Zitiert nach Bergmann 1993, 19. Tac. ann. 15,42; Suet. Nero 31,1. Zur angenommenen Größe siehe Beste 2012, 73–75 mit Abb. 1; Beste 2016, 296 mit Abb. 1 und Anm. 11.

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Elend schuf. 41 Der Palast wurde daher zum Symbol der Ausbeutung und Unterdrückung eines tyrannischen Herrschers, dessen Bautätigkeit nicht am Nutzen der Allgemeinheit, sondern nur an seinen Launen und seiner Willkür orientiert war. 42 Sein egozentrisches Verhalten soll nach Sueton darin gegipfelt haben, dass er dieses Prachtgebäude nach der Fertigstellung mit den Worten einweihte: „Jetzt fange ich endlich an, wie ein Mensch zu wohnen.“ 43 Alles scheint in das Bild eines größenwahnsinnigen, verschwendungssüchtigen, bauwütigen Tyrannen zu passen. Aber muss die Domus Aurea wirklich als Inbegriff des ‚Caesarenwahns‘ gelesen werden? In der neueren Forschung werden auch alternative Lesarten versucht, die auf ihrer Gestaltung als weitläufige Landschaftsvilla aufbauen. Mit der römischen Villa und den luxuriösen Gartenanlagen (horti) waren nicht nur Villenelemente, Gärten, künstliche Gewässer und Luxustiergehege – Nero besaß als erster römischer Herrscher einen orientalischen Tierpark 44 – verbunden. Sie umfassten ebenso auch andere Elemente aus der hellenistischen Welt, wie Bildersammlungen, Bibliotheken und Gymnasia mit Sporteinrichtungen sowie schattige Orte für philosophische Gespräche. Diese Elemente waren Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. schon lange nicht mehr negativ belegt, sondern standen für Bildung und Kunstsinn. Denn die villa war im Römischen fest mit dem Konzept des otium als Gegensatz zum negotium verbunden. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden Lebensarten, dem traditionellen römischen Pflichtgefühl (officia) und der griechischen Bildung und Kultur, stellte ein Ideal dar. Die Muße, das Freisein von den politischen Geschäften, wurde dabei als Freiraum aufgefasst, auch andere Formen der Produktivität entfalten zu können. Nach Cicero war dieses otium cum dignitate, der zur theoretischen Auseinandersetzung mit Fragen der Moral und Politik genutzte und darin legitimierte Müßiggang, die angemessene Form der Muße für einen Senator. 45 Besonders in den Gärten, den horti, konnte dieses Konzept von kultiviertem Leben, das Aspekte griechischer Kultur mit hellenistischen Luxusvorstellungen verband, umgesetzt werden. Sie dienten dazu, auf der philosophischen Ebene das Verhältnis zwischen Mensch und (hellenis41 Mart. 2,8. Scheithauer 2000, 117. Bereits Morford 1968, 159–163 stellt heraus, dass das Gebiet der Domus Aurea schon in kaiserlichem Besitz gewesen sein müsse und deshalb die Berichte von der Vertreibung größerer Bevölkerungsmassen aus einem angeblich dicht besiedelten Gebiet übertrieben seien. 42 Morford 1969, 167. 43 Suet. Nero 31. 44 Scheithauer 2000, 117. 45 Cic. off. 3,1–4. Zu den vier Spielarten des otium nach Cicero vgl. z. B. Fechner / Scholz 2002, 134.

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tischer) Kultur auszudrücken, da sie den Ort des Denkens schlechthin darstellten. Geistige Arbeit, wie das Verfassen von Briefen oder Gedichten, zählten daher zu den in den Gärten angesehenen Tätigkeiten. Zunächst auf die Privatsphäre beschränkt, wurde der mit dem otium verbundene Lebensstil sozial etabliert, die damit verbundenen Praktiken wurden zu einer legitimierten Aktivität und konnten so sogar vom Kaiserhaus für die öffentliche Repräsentation eingesetzt werden. 46 Marianne Bergmann hat deshalb vorgeschlagen, dass der Gesichtspunkt des otium bei der Gestaltung seiner Residenz für Nero eine ganz besondere Rolle gespielt haben muss. 47 Mit seinen musischen und literarischen Neigungen und seiner Liebe zum Sport war es nur selbstverständlich, dass er die für das otium bestimmten Lebensformen in den alltäglichen Lebensstil integrierte und den Lebensgenuss in ein Genussleben überführte. Konsequenterweise suchte er sich für seine Residenz auch eine Kategorie aus, die nach römischer Tradition Wohnluxus, Genussleben, Dichtung, Gesang und griechische Leibesübung und damit: die luxuriöse Villa vereinte. Er erfand mit seiner Domus Aurea kein neues Modell für Rom, denn auch andere Gärten, wie z. B. die horti Sallustiani, nahmen riesige Flächen in Rom ein und waren luxuriös ausgestattet. Diese Gärten waren zudem teilweise schon in kaiserlichem Besitz und wurden für kaiserliche Empfänge genutzt. So soll Kaiser Caligula jüdische Abgesandte in den horti Lamiani empfangen haben. 48 Die Gärten in Rom wurden nicht nur für luxuriöse private Treffen in einem ausgesuchten, elitären Kreis, sondern ebenso für politisch orientierte Gelage einer größeren Menge genutzt und waren so Schauplatz öffentlicher Veranstaltungen mit repräsentativem Charakter. 49 Neu war daher nicht, dass der Kaiser in Rom einen Garten besaß, in dem er dem otium nachgehen konnte. Neu war, dass der repräsentative Herrschersitz auf dem Palatin mit dem Garten verbunden, ja regelrecht verschmolzen wurde und der Palast sozusagen eine imperiale Villegiatur mitten in der Stadt darstellte. Mit der neuen Ausgestaltung des Palastes un-

46 Vgl. ausführlicher Wulf-Rheidt 2015, 96 f.; Fechner / Scholz 2002, 144. Zur Entwicklung der Inhalte des Villenlebens vgl. z. B. Förtsch 1993, 16–18. Das Interesse an Bildung und Kunst, besonders an Philosophie und Literatur sowie Sport und griechischer Gymnastik hat z. B. M. Bergmann zusammenfassend dargestellt: Bergmann 1993, 27–29. 47 Bergmann 1993, 24; Beste / Hesberg 2013, 326. 48 Die horti Maecenatis gehörten seit augusteischer Zeit, die horti Lamiani seit der Zeit Kaiser Caligulas zum kaiserlichen Besitz; vgl. Beste 2012, 74 mit Anm. 11 mit weiteren Literaturangaben. Zum Empfang der jüdischen Gesandtschaft siehe z. B. Stackelberg 2009, 136. 49 Coarelli 1983, 199.

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ter Nero wurde so architektonisch und landschaftsgestalterisch versucht, das otium-Konzept als ein neues Lebenskonzept zu propagieren und als Herrschaftskonzept zu etablieren. Für dieses Lebenskonzept waren die in den Villen entwickelten Architekturelemente wie Portikus-Villen, Aussichtsarchitektur, theatralische Scenographien sowie gestaltete Garten- und Landschaftsarchitekturen von übergeordneter Bedeutung. Sie wurden daher konsequenterweise auf die Palastarchitektur übertragen. Da gleichzeitig auf dem Palatin die bereits bestehenden Herrschaftsräume im Bereich der sog. Domus Tiberiana ausgebaut wurden, entstand ein hybrides Palastmodell einer „Stadtvilla“. Es verband das Ideal einer römischen villa außerhalb Roms mit dem Ideal der domus innerhalb der Stadt, in der die Amtsgeschäfte stattfinden konnten (Abb. 2). In der Verschmelzung mit den horti war also ein ‚Palastgarten‘ entstanden, der die Möglichkeit eröffnete, sich sowohl räumlich von den öffentlichen Aufgaben zurückzuziehen als auch mental Abstand von den politischen Verpflichtungen zu gewinnen. So bot Neros ‚Palastgarten‘ neben der vermutlich stark regulierten und einem vorgegebenen Zeremoniell unterworfenen starren Etikette gleichzeitig die Möglichkeit für den Kaiser, sich nicht nur als Genussmensch, sondern ebenso als philosophisch und künstlerisch gebildetes, naturnahes Individuum zu definieren. Der Kaiser konnte mit diesem bewussten Wechsel von den offiziellen Räumen in den Gartenbereich innerhalb der Residenz den Besuchern ostentativ mitteilen, dass er nun fernab der Hektik der Stadt und der drückenden politischen Belastungen „als Mensch“ agieren könne. Gleichzeitig boten die zahlreichen individuellen Raumeinheiten die Möglichkeit, die Besucher zu selektieren und mit ihnen in einem eher ‚privateren‘ Ambiente zu kommunizieren und zu interagieren. Die ‚Mega-Portiken‘ offerierten dabei die Möglichkeit, gesellschaftliche Treffen für geladene Gäste als elitäre Spaziergänge zu gestalten. Ausflüge in die Gärten, die Möglichkeit, den Blick – wie bei den beliebten Meeroder Seevillen – über Wasserflächen schweifen zu lassen, konnten so der Kontemplation dienen, die entspannte Gespräche ermöglichte, auch über wichtige und durchaus kritische politische Themen. In derselben entspannten Atmosphäre konnten Gelage zu kulinarischen Treffpunkten werden, die wahrscheinlich nicht nur der privaten Genusssucht, sondern durchaus auch als ‚Arbeitsessen‘ oder zur ‚Kontaktpflege‘ dienten. Abgerundet wurde die Vielzahl der Variationsmöglichkeiten des geselligen Beisammenseins durch Räume für künstlerische Aufführungen sowie für sportliche Aktivitäten, die zusammen mit Baderäumen und Thermen der Pflege und der Gesundheit sowie der sportlichen Ertüchtigungen dienten.

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Nach Johannes Hahn stellte das ‚Goldene Haus‘ „auch unter sozialer und kommunikativer Perspektive [. . . ] eine Residenz ganz neuartigen Zuschnittes dar“ 50. Aufgrund der Lage muss die Palastanlage von öffentlichen Wegen durchzogen gewesen sein (Abb. 2). 51 Danach konzipierte Nero die Domus Aurea bewusst als „einen öffentlichen, der städtischen Bevölkerung zugänglichen Raum“ 52, was einer „Desavouierung der sozialen Schranken“ 53 gleichkam und für die Senatoren eine „demonstrative Mißachtung bzw. bewusste Verletzung der überlieferten ständischen Ordnung“ 54 bedeutete. Also doch ein Herrscher, der an ‚Caesarenwahn‘ und megalomaner Selbstüberschätzung litt? Harald Aschauer kommt bei seiner Betrachtung der psychischen Verfasstheit Neros zu dem Schluss, dass „Nero eine auffällige Persönlichkeit“ gehabt habe, „ohne die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung zu erfüllen.“ 55 Das unkonventionelle und innovative Palastkonzept Neros muss daher nicht zwangsläufig als ein Ausdruck der hypertrophen Geltungssucht eines „bizarren und in ungezügelte Maßlosigkeit verstiegenen“ 56 Kaisers gedeutet werden, wie dies zum Beispiel Heiner Knell getan hat. Nach Bergmann war Nero vielmehr mit diesem neuen Lebens- und Herrscherkonzept seiner Zeit voraus, es kam also zu früh, als dass es umgesetzt werden konnte. 57 Ihrer Meinung nach hat Hadrian ein halbes Jahrhundert später fast alles getan, was bereits Nero getan hat: Er lebte in einer riesigen Villa in Tivoli, bewunderte den Osten. Er war ein Philhellene, in der Kunst bewandert, schrieb Gedichte und seine Interessen konvergierten mit der großen hellenisierenden Bewegung der Zweiten Sophistik. Hadrians ausufernde und ebenso luxuriöse Villa in Tivoli 58 war aber offensichtlich nicht negativ konnotiert. Der Ausbau der Villa und der Aufenthalt in ihr scheinen in den Augen der römischen Öffentlichkeit nicht als unvereinbar mit einem verantwortungsvollen Regieren in Rom angesehen worden zu sein. Und

50 Hahn 2006, 379. 51 Vgl. z. B. Hesberg 2004, 63. Durch den Palastkomplex muss die von Osten kommende Via Tiburtina oder die Via Labicana zum Forum Romanum und zu den Wohnquartieren der Suburba geführt haben. 52 Hahn 2006, 380. 53 Hahn 2006, 379. 54 Hahn 2006, 379. 55 Aschauer 2016, 288. 56 Knell 2004, 124. 57 Bergmann 2013, 357 f. Nach Morford 1968, 178 war der Versuch Neros „to change Roman tastes in poetry, cultural pursuits and the arts of leisure“ zu revolutionär, denn „Greekstyle entertainments were not enjoyed by the Roman plebs as much as their familiar and cruder Roman divertissements.“ 58 Nach La Rocca 1986, 16 war die Villa Hadrians sogar der außerordentlichste und größte Palast der antiken Welt.

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das riesige Villenprojekt wurde nicht dazu genutzt, Kaiser Hadrian als größenwahnsinnig zu diffamieren. Die rege Bautätigkeit Hadrians auch in Rom wurde vielmehr positiv gesehen und von den antiken Autoren einstimmig mit Hadrians regem Interesse für Architektur in Verbindung gebracht. 59

6. Domitians Neubau auf dem Palatin Dass Neros Idee einer Landschaftsvilla als Ausdruck eines neuen Herrschaftsgefühls zwar zu früh kam, aber dennoch nicht ganz fruchtlos blieb, zeigt ein Blick auf das Konzept des flavischen Neubaus. Das Kaiserhaus der Flavier konnte seine Baupolitik zunächst maßgeblich darauf aufbauen, sich von den in der Bevölkerung offensichtlich wenig beliebten Monumentalbauten Neros zu distanzieren und ein auf Volksnähe ausgerichtetes Bauprogramm zu etablieren. 60 Geschickt wurden mit dem Bau des Kolosseums und der Errichtung der Titusthermen – möglicherweise der Umbau der privaten Thermen Neros zu einer öffentlichen Badeanlage – die beim Volk beliebten Sport- und Vergnügungsbauten propagandistisch für eine breite Bevölkerungsschicht eingesetzt, um die sozialen Aspekte des neuen Kaiserhauses zu unterstreichen. 61 Glaubt man Martial, 62 war dieser Baupolitik der ersten flavischen Kaiser der gewünschte Erfolg beschieden. Dass sich dies schnell umkehren konnte, zeigt sich an der Beurteilung der Bauten (und hier besonders wieder seines Palastneubaus) des dritten Herrschers der flavischen Dynastie, Domitian (Regierungszeit: 81–96 n. Chr.). Seine Wahl war keinesfalls von allen Mitgliedern des römischen Senats vorbehaltlos begrüßt worden. Daher verwundert es nicht, dass, obwohl auch er durch weitere Sport- und Vergnügungsbauten zur Unterhaltung des Volkes beitrug und wie seine Vorgänger Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur durchführte, einige Autoren an seiner Bautätigkeit heftige Kritik übten. 63 Er ist ebenfalls in die Geschichtsschreibung als princeps malus und Tyrann eingegangen. Ihm wurde sogar eine regelrechte Bauwut unterstellt, die nur der Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes gedient haben soll. So behauptet Plutarch, dass Domitians Bauleidenschaft aus der krankhaften Begierde resultiert habe, wie Midas alles in Gold und

59 60 61 62 63

Scheithauer 2000, 166. Scheithauer 2000, 127. Morford 1968, 165 f. Scheithauer 2000, 131 f. Mart. epigr. 2,11 f.; Scheithauer 2000, 132. Scheithauer 2000, 137.

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Marmor zu verwandeln. 64 Wie dargelegt, wurde keine 100 Jahre zuvor Augustus noch für die überreiche Verwendung von Gold und Marmor gerühmt, und kein Autor machte auch in der Folgezeit je dem ersten Princeps wegen der Verwendung kostbarer Materialien Vorhaltungen. 65 Bei Domitian macht Plutarch den Einsatz dieser Materialien dagegen für das Verschwinden wichtiger Werte kaiserlicher Bautätigkeit in domitianischer Zeit verantwortlich, denn sie hätten religio und gloria völlig verdrängt. 66 Es verwundert deshalb nicht, dass weniger die Restaurierung baufälliger oder im Brand des Jahres 80 n. Chr. beschädigter Gebäude durch Domitian Resonanz in den antiken Quellen gefunden hat als vielmehr sein Palastneubau auf dem Palatin. Diesem Gebäudekomplex, den er sich von seinem Architekten Rabirius bauen ließ, wendeten die Autoren ihre Aufmerksamkeit zu. Die Bewertung der Anlage fiel dabei sehr ambivalent aus. Während die Zeitgenossen Martial und Statius ihn bewunderten, 67 überwiegt bei Plinius dem Jüngeren, Sueton und Plutarch nach dem Tod des Herrschers die Kritik. 68 In der Literatur hat sich, von der negativen Konnotation der neronischen Domus Aurea beeinflusst, lange Zeit hartnäckig das Bild gehalten, dass der domitianische Palast auf dem Palatin ein bewusstes Gegenmodell gebildet habe. 69 Dieses Bild ist durch vielfältige Forschungen in den letzten Jahren ins Wanken geraten und bedarf einiger Korrekturen. So konnten französische Kollegen im Bereich der Vigna Barberini ganz eindeutig Baumaßnahmen nachweisen, die als Teil des flavischen Palastes zu verstehen sind (Abb. 1). 70 Auch die bauforscherische Untersuchung der sog. Domus Severiana hat gezeigt, dass hier bereits in flavischer Zeit ein Gebäudetrakt bestand (Abb. 1, 3). 71 Damit ist der flavische Palast viel größer und räumlich differenzierter zu rekonstruieren als bislang angenommen. Mit den Bereichen der Vigna Barberini und der Domus Severiana müssen ganz neue Raumeinheiten mitbedacht werden, die es notwendig machen, das Bild eines Gegenmodells zu überdenken (Abb. 3).

64 65 66 67 68 69 70

Scheithauer 2000, 137 f.; Plut. Publ. 15,6. Scheithauer 2000, 237. Plut. Publ. 15,6; Scheithauer 2000, 138. Mart. 8,39; Stat. silv. 4,2. Plin. paneg. 51,1; Suet. Dom. 14,4; Plut. Publ. 15,6. Z. B. Nielsen 2000; Zanker 2004, 88; Knell 2004, 157; Gering 2012, 211. Zu den flavischen Phasen des Gartens im Bereich der Vigna Barberini vgl. André/Villedieu 2004, 114–122. Abb. 162; 163; 170; 172. 71 Zu der Phasenabfolge, den Datierungen und den vorläufigen Rekonstruktionsversuchen vgl. Hoffmann / Wulf 2004, 153–172; Wulf-Rheidt 2012b, 108–110; Bukowiecki / Wulf-Rheidt 2015, 329–331.

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Abb. 3: Rom, Palatin. Rekonstruktion des Grundrisses der flavischen Bauten auf der Hauptebene. Quelle: C. von Bargen nach Angaben Verfasserin und J. Pflug, Architekturreferat DAI Berlin.

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Abb. 4: Rom, Palatin. Hypothetische Rekonstruktion der flavischen Ausbauphase. Quelle: J. Denkinger, Architekturreferat DAI Berlin.

Den funktionalen Kern des flavischen Palastneubaus bildete die sog. Domus Augustana (Abb. 3, 4). 72 Hier waren analog zu traditionellen aristokratischen Häusern die Räume entlang einer Achse in die Tiefe des Hauses gestaffelt. Dabei liegen, ebenso wie bei den aristokratischen Häusern, die für einen kleineren Personenkreis zugänglichen Räume in der Tiefe des Hauses. Sie sind jedoch durch Sichtachsen schon vom Eingang aus zu erkennen. Im Norden kann ein großer platzartiger Eingangsbereich rekonstruiert werden. Dort konnten die Besucher begrüßt und der weitere Zugang ins Haus organisiert werden. Wie beim aristokratischen Haus dem Atrium kam dem Eingangsbereich des Palastes die Funktion eines Vertei-

72 Zur Domus Augustana innerhalb des flavischen Palastneubaus vgl. Wulf-Rheidt 2012b; Pflug 2013, 194–197.

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lers für die tiefer im Haus gelegenen Bereiche zu. An dieses Palast-Atrium schloss sich ein großer Peristylhof mit einem weitläufigen Wasserbecken an, um das U-förmig Räume angeordnet waren, die in vielfältiger Weise benutzt werden konnten. Sie waren als Räume für die Unterbringung kleinerer Speisegruppen bei den Gastmählern genauso geeignet wie für weitere repräsentative Anlässe, z. B. die Morgenbegrüßung oder Beratungen, die zu anderen Tageszeiten ebenfalls hier stattfinden konnten. 73 Wie bei den Stadthäusern der Garten bildete das Obergeschoss des sog. ‚Versenkten Peristyls‘ den südwestlichen Abschluss der Domus Augustana und somit das rückwärtige Ende der Anlage (Abb. 2–4). Dabei handelt es sich aber nicht um einen einfachen Garten, wie wir ihn aus reicheren Stadthäusern kennen. Im Untergeschoss des Gartenbereiches gab es zusätzlich einen von Portiken gerahmten Hof mit einem weiteren großen Wasserbecken, um den L-förmig weitere Räume angeordnet waren (Abb. 5). Wie die jüngsten Untersuchungen gezeigt haben, waren die Räume im Untergeschoss des ‚Versenkten Peristyls‘ für kaiserliche Gastmähler im kleineren Rahmen, bei denen die Gäste auf mehrere Räume verteilt wurden, gut geeignet. 74 Die unterschiedlichen Räume konnten so für eine gezielte Staffelung der Gäste nach Stand oder Nähe zum Kaiser genutzt werden. Die in flavischer Zeit rechteckige Insel, die sich im Wasserbecken befand und die vermutlich über eine Brücke zu erreichen war, konnte zusätzlich als Freilufttriclinium für Gelage unter freiem Himmel in einer otium-Atmosphäre genutzt werden. In der Anlage des ‚Versenkten Peristyls‘ ist eine Fortführung der neronischen Ideen zu sehen. Zum einen erinnern Räume, wie zum Beispiel die symmetrisch angeordneten oktogonalen Räume mit ihren Segmentkuppeln, in ihrer Architektursprache deutlich an Raumformen der Domus Aurea (Abb. 5). Zum anderen spielten die in der Domus Aurea entwickelten Villenelemente noch immer eine große Rolle. Dies gilt neben dem ‚Versenkten Peristyl‘ auch für weitere große Teilbereiche des flavischen Palastes wie die sog. Domus Severiana (Abb. 1, 3). Hier kann nach den neueren Forschungen eine Raumflucht rekonstruiert werden, die sich zu einem großen künstlichen Wasserbecken öffnete und somit ein otium-Ensemble bildete, wie es in einer Vielzahl von Villenanlagen belegt ist. Auch wenn dieser ‚Villenbereich‘ von seinen Ausmaßen und dem Raumangebot nicht an die neronische Domus Aurea heranreichte, lässt sich die Idee, die Kaiserresidenz in Rom durch eine ‚Villa an einem See‘ zu bereichern, für den flavischen Bau ebenfalls nicht leugnen. 75 73 Sojc / Winterling 2009, 298 f.; Wulf-Rheidt / Sojc 2009, 268 f. 74 Sojc 2005/2006, 340–343; Pflug 2014, 374–378. 75 Zur Rekonstruktion siehe z. B. Hoffmann / Wulf 2004, 153–172; Wulf-Rheidt 2012b, 108–111 mit Abb. 8.

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Abb. 5: Rom, Palatin. Bauphasen des ‚Versenkten Peristyls‘ der Domus Augustana (braun: früh-kaiserzeitlich, rot: früh-flavisch, orange: domitianisch). Quelle: J. Pflug, Architekturreferat DAI Berlin.

Das angrenzende sog. Gartenstadium ist wie das ‚Versenkte Peristyl‘ als ein versenkter Garten in Form eines Stadiums zu deuten, eine bei Plinius ausführlich beschriebene Gartenform, die sich besonders als Ort der ambulatio eignete, die nicht nur für den Müßiggang, sondern ebenfalls für ungezwungene Gespräche in einer stimulierenden Atmosphäre genutzt werden konnte (Abb. 3, 4). Nach den Grabungsergebnissen der französischen Kollegen von der École Française de Rome ist gleichfalls im Bereich der Vigna Barberini bereits in flavischer Zeit ein großer Garten zu rekonstruieren, dessen Form z. B. an den Garten der Villa San Marco von Stabiae erinnert. Dieser wird von Reinhard Förtsch als „Villensilva“ bezeichnet (Abb. 3, 4). 76 Dank einer Stelle bei Martial wissen wir, dass es unter Domitian im flavischen Palast solche Gärten mit Bäumen gegeben haben muss, denn er berichtet, dass dieser Lorbeer- und Pinienhaine besessen habe. 77 Solche Baumgärten sol76 Zum flavischen Garten siehe Anm. 70; zur Villa von San Marco siehe z. B. Förtsch 1993, 77. 77 Mart. 12,50,1; Tomei 1999, 74.

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len besonders dazu geeignet gewesen sein, philosophische Gespräche in inspirierter Atmosphäre der Ruhe zu führen. 78 Es lässt sich also aufzeigen, dass auch der flavische Neubau über vielfältige Raum- und Gartenformen verfügte, die aus der Villenarchitektur entliehen sind und sich daher für das otium besonders eigneten. Im Gegensatz zur Domus Aurea waren sie aber in die übliche räumliche Anordnung eines gehobenen Wohnhauses integriert sowie nicht öffentlich zugänglich oder einsehbar und fanden so keine Erwähnung, weder positiv noch negativ. Will man innerhalb des flavischen Konzeptes einen Bruch mit dem neronischen Palastbau suchen, dann eignet sich hierfür die architektonische Ausbildung der Domus Augustana (Abb. 1, 3, 4). Sie kann als Rückkehr zu den um weitläufige Villenelemente bereicherten aristokratischen Stadthauskonzepten der römischen Eliten verstanden werden. Hier wurde versucht, über die Raumfolge wieder das bekannte Schema aristokratischer Häuser aufzugreifen und so Räumlichkeiten für die verfestigte Kommunikation zu schaffen, wie sie ebenso in den Häusern der Aristokratie vorhanden waren. Möglicherweise wurde damit ganz bewusst die von Nero durch das Öffnen seiner Residenz bedingte „Desavouierung der sozialen Schranken“ wieder rückgängig gemacht. 79 Dazu würde auch passen, dass sich der flavische Palast auf hohen Substruktionen weit über den öffentlichen Bereichen erhob und nach außen, wie die reichen Stadthäuser, abgeschottet war (Abb. 4). Aber, auch wenn soziale Schranken wiederhergestellt und die Fläche des Palastareals deutlich verkleinert wurde: Das neue Palastkonzept bedeutet keine Rückkehr zu einem noch so luxuriösen, aristokratischen Wohnhaus. Neben der immer noch gewaltigen Ausdehnung des gesamten flavischen Palastes ist dies ebenso an den übersteigerten Dimensionen der einzelnen Bereiche ablesbar. Dies gilt insbesondere für die großen Repräsentationsräume der Domus Flavia, die um ein weiteres großes Peristyl mit Wasserbecken gruppiert waren. 80 Die sog. Aula Regia zählt mit einer Grundfläche von mehr als 1000 m2 zu den größten antiken Räumen, die abseits der öffentlichen Bauten bekannt sind. Dies gilt ebenso mit mehr als 800 m2 Grundfläche für den großen Speisesaal im Süden des Peristyls, der cenatio Iovis (Abb. 3). Beide Haupträume weisen in den zentralen Achsen Apsiden auf. Hierin wollen viele Forscher den ausgezeichneten Platz des Kaisers sehen, der so räumlich deutlich abgehoben im Raum platziert gewesen wäre, und deuten dies als eine bewusste programmatische Aus-

78 Förtsch 1993, 78. 79 Nach Hesberg 2004, 74 hatten sich die Bezüge zu den traditionellen Formen von Privatheit und Öffentlichkeit unter Domitian wieder stabilisiert. 80 Zur Domus Flavia innerhalb des flavischen Konzeptes vgl. Wulf-Rheidt 2012b, 106.

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sage Domitians. 81 Er soll sich nicht länger als ein der Tradition römischer Kaiser verpflichteter Princeps, sondern eher als ein absoluter Monarch verstanden und dies durch seinen ausgezeichneten Platz architektonisch ausgedrückt haben. 82 Auch wenn es naheliegt, in der Apsis den Platz des Kaisers zu vermuten, so ist dies doch nicht gesichert und wird in der Forschung derzeit durchaus kontrovers diskutiert. 83 Sicher ist, dass diese Räume mit den Apsiden in Dimension und ebenso dem Ausstattungsluxus alles, was aus dem aristokratischen Hausbau bislang bekannt war, sprengten. Sie übertreffen darüber hinaus alle bekannten Räume der neronischen Domus Aurea. Mit ihnen waren zum Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. ganz neue Repräsentationsräume zur kaiserlichen Selbstdarstellung geschaffen worden. Dieser Dimensionssprung in flavischer Zeit dürfte nicht allein der Tatsache geschuldet sein, dass die Gelage, zu denen der Kaiser lud, immer größeren Umfang erreicht hatten. 84 Diese auch in der Höhe gesteigerten Räume sollten sicherlich eine ganz besondere, kaiserliche Aura erzeugen, die geeignet war, den Herrscher zu erhöhen und seine gesellschaftliche Stellung baulich zu unterstreichen. Dies lässt sich ebenfalls an der Art und Weise ablesen, wie sich dieser Gebäudetrakt zum nördlich vorgelagerten Platz, der wahrscheinlich mit der literarisch überlieferten area Palatina gleichzusetzen ist, präsentierte. 85 Die Fassade muss allein aufgrund der Größe und Wichtigkeit der dahinter befindlichen Räume als eine imposante Schaufassade rekonstruiert werden, die jeden Besucher des Palastes beeindruckt haben dürfte (Abb. 6). Nach außen muss der Bau tempelartig gewirkt haben, so dass dem Ort und damit ebenfalls dem Kaiser eine ‚sakrale Aura‘ verliehen wurde. Der eigentlichen Fassade vorgelagert war eine Portikus, die sich auf einem hohen Podium erhob. Auf diese konnte der Kaiser aus den dahinterliegenden Räumen heraustreten und sich dem auf dem Platz versammelten Publikum in erhöhter Position in einer Art ‚Ehrenloggia‘ präsentieren. Durch das hohe Podium, das vom Platz aus nicht zu betreten war, wurde neben Unzugänglichkeit auch Abgehobenheit zum Ausdruck gebracht. Der Kaiser war im wahrsten Sinne des Wortes angemessen seiner Würde und Ranghöhe über die Besucher seines Palastes erhoben. Es ist zudem sehr

81 Z. B. Zanker 2004, 99. 82 Vgl. hierzu z. B. Zanker 2004, 86; Gering 2012, 130–139. 83 Nach Vössing 2004, 350 diente das Halbrund nicht zur Hervorhebung einer einzelnen Kline oder gar der Sakralisierung des Kaisers. 84 Suet. Dom. 21; Winterling 1999, 155; Vössing 2004, 468; Gering 2012, 182–185. 85 Zur Fassade und ihrer Deutung ausführlich vgl. Beste / Thaler / Wulf-Rheidt 2014, 85– 87.

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Abb. 6: Rom, Palatin, Domus Flavia. Hypothetische Rekonstruktion der Fassade des domitianischen Neubaus. Quelle: Lengyel Toulouse Architekten auf der Grundlage eines 3D-Modells von A. Müller, Architekturreferat DAI Berlin.

wahrscheinlich, dass es innerhalb der strengen Hierarchisierung vielen Besuchern nicht vergönnt war, weiter in den Palast vorzudringen und sich dem Kaiser dadurch zu nähern. 86 Diesen wurde durch die Fassade sowohl die Unnahbarkeit des Kaisers als auch gleichzeitig seine Größe unmissverständlich bildlich vorgeführt. Auch dies kann als Wiederherstellung sozialer Schranken interpretiert werden. Interessanterweise konnte dies aber nicht nur positiv gelesen werden. So hat Plinius, um Domitian – in bewusster Abgrenzung zu Kaiser Trajan – als Tyrannen diffamieren zu können, seinen Palast als eine arx, eine „unter Einsatz größtmöglichen Schreckens befestigte“ Burg bezeichnet. 87 Es ist durchaus denkbar, dass hiermit nicht nur auf die angebliche Unzugänglichkeit des Palastes, sondern ebenso die Unnahbarkeit des Herrschers Bezug genommen wurde. Hier zeigt sich wieder die Ambivalenz der Bewertungen: Ein Kaiser im 1. Jahrhundert n. Chr. konnte nicht nur mit einem – zumindest in Teilen – für alle zugänglichen Palastareal, wie der neronischen Domus Aurea, sondern gleichfalls mit einem für viele unzugänglichen Palast den Vorwurf der Tyrannei auf sich ziehen. So verwundert es nicht, dass der Palastneubau Kaiser Domitians sehr widersprüchlich bewertet wurde. Wollte man den Kaiser diffamieren, wurden die übersteigerten Ausmaße und der Ausstattungsluxus als Verschwendungssucht dargestellt. Wollte man ihn loben, dann wurden sie als einem mächtigen Kaiser angemessen beschrieben.

86 Pflug 2014, 372 f. Zum Ausschluss von salutatores vgl. Goldbeck 2010, 167 f. 87 Plin. paneg. 47–49,3. Siehe hierzu auch Haensch 2012, 270.

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7. Trajans Bautätigkeit auf dem Palatin Wie sehr die Beurteilung der Bautätigkeit einzelner Kaiser von der jeweiligen Sichtweise auf den Herrscher gefärbt war, lässt sich am Ausbau des Palatin unter Kaiser Trajan aufzeigen. Durch die neuen Forschungen konnte eindeutig belegt werden, dass der flavische Palast, als Domitian 96 n. Chr. ermordet und der damnatio memoriae unterworfen wurde, nicht in allen Teilbereichen fertiggestellt war. 88 So wurde zum Beispiel der große gebogene, zweigeschossige Säulengang, mit dem sich der Palast zum Circus Maximus öffnete, nach den neuen Forschungen eindeutig erst unter Trajan errichtet bzw. ausgeführt, auch wenn er möglicherweise schon zur Planung des flavischen Neubaus gehörte (Abb. 1, 7). 89 Besonders an ihm werden neben den großen Repräsentationsräumen die Absichten Domitians festgemacht. So folgert Knell aus der von ihm noch domitianisch datierten sog. Exedra, sie gleiche [. . . ] mit ihrer monumentalen Gestalt [. . . ] einer pathetisch vorgetragenen Geste, die nicht nur um ihrer selbst willen diesen Platz eingenommen hatte. Sie bot dem Kaiser die Möglichkeit, vor den zu seinen Füßen im Circus Maximus versammelten Massen des Volkes in abgehobener Distanz und zugleich in einer Aura zu erscheinen, die in den Augen enthusiasmierter Zuschauer den dominus zum deus werden lassen konnte. 90

Mit der neuen Datierung des Säulenganges in die Regierungszeit Trajans ist belegt, dass für Domitian in seiner Amtszeit gar nicht die Möglichkeit bestand, sich hier dem im Circus versammelten Volk zu präsentieren. Diese große Geste konnte erst Kaiser Trajan (Regierungszeit: 98– 117 n. Chr.) nutzen, dem in Bezug auf den Palast aber keine übertriebene Bauleidenschaft nachgesagt wird. Dabei wurde mit dem Bau der sog. Exedra gleichzeitig die Art und Weise verändert, wie der Kaiser im Circus saß, und auch, wie er dorthin gelangen konnte. Nach den neusten Forschungen war das Pulvinar, eine Art kaiserliche Loge, im Circus ab der trajanischen Umbauphase direkt mit dem Palast verbunden (Abb. 7). 91 Der Kaiser konnte also aus seinem Palast direkt im Circus ‚auftauchen‘. Durch die architektonische Rahmung des Pulvinars in Form einer Tempelfassade, auf die wir aus den bildlichen Darstellungen schließen können, wurde die besondere Stellung des Kaisers deutlich sichtbar. Wie bei der domitianischen Eingangsfassade wurde durch das 88 89 90 91

Bukowiecki / Wulf-Rheidt 2015, 418. Bukowiecki / Wulf-Rheidt 2015, 372. Knell 2004, 165. Zur Verbindung von Palast und Pulvinar sowie zur symbolischen Bedeutung vgl. Beste / Tahler / Wulf-Rheidt 2014, 87–91.

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Abb. 7: Rom, Palatin. Hypothetische Rekonstruktion der trajanischen Ausbauphase. Quelle: J. Denkinger, Architekturreferat DAI Berlin.

bewusste Einsetzen von eindeutig konnotierten architektonischen Motiven – das Tempelmotiv sowohl für die pietas als auch für eine sakrale Aura des Princeps und das Podium, auf dem sich das Pulvinar erhob, als Verweis auf das Amt, die abgehobene Stellung sowie die Würde des Kaisers verwiesen. Dies hätte im Sinne Knells wie bei Domitian als eine pathetisch vorgetragene Geste negativ ausgelegt werden können – ebenso wie die Tatsache, dass Trajan die übersteigerten Repräsentationsräume weitergenutzt hat. Das Gegenteil ist passiert. Nicht nur der Ausbau des unter Domitian abgebrannten Circus wurde überschwänglich gerühmt und Kaiser Trajan in einer Inschrift für seine dadurch bewiesene cura und liberalitas gelobt, weil er die Zahl der Sitzplätze im Circus um 5000 erhöht haben soll. Plinius unterstreicht die guten Eigenschaften des Kaisers, indem er betont, dass nach dem Umbau die Zuschauer die Möglichkeit hatten, nicht allein das Schauspiel, sondern auch ihren Princeps, der mit ihnen auf einer Ebene platziert war, unmittelbar zu erleben, da sie nicht nur seine Loge, sondern diesen selbst sahen. 92 Bauwut oder politische Vision, abgehobener Monarch oder volksnaher Princeps, ‚Caesarenwahn‘ oder Charisma: Es kam bei den antiken Autoren

92 Plin. paneg. 51,5.

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vor allem auf den Blickwinkel und den Topos an, der bei der Beurteilung der Palastbauten der römischen Kaiser bedient werden sollte. Dies muss bei einer Bewertung der kaiserlichen Bautätigkeit stets mitbedacht werden, vor allem wenn damit auf das Herrschaftsverständnis des jeweiligen Kaisers geschlossen werden soll.

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Teil C Populäre Rezeptionen

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Kaiser im Verbund Die Archetypen des schlechten Herrschers und die Macht der Bilder Das Bild des Cäsarenwahnsinns, das uns Caligula darbietet, ist geradezu typisch. Fast alle Erscheinungen, die wir sonst bei verschiedenen Herrschern antreffen, sind in ihm vereinigt, und wenn wir die scheinbar gesunden Anfänge mit der schauerlich raschen Steigerung zu den äußersten Exzessen zusammenhalten, so gewinnen wir auch ein Bild von der Entwicklung der Krankheit. 1

1. Zwei Kaiser, ein Kaiser Auch über ein Jahrhundert nach dem Erscheinen von Ludwig Quiddes Caligula hat sich das Werk eine bemerkenswerte Intensität bewahrt. Der Text wirkt nicht zuletzt deswegen noch heute, weil er keine bloße Analogieerzählung liefert, sondern geschickt zwei Biographien verschmilzt. Das grundlegende Konzept hinter einer derartigen Darstellung ist nicht neu: Schon in den Generationen nach Caligula prägte sich in der antiken Literatur eine Tendenz aus, den Kaiser im Verbund der „schlechten Herrscher“ zu präsentieren. Gerne zitiert wird die Passage, laut derer Kaiser Commodus das Lesen einer Caligula-Vita als Majestätskritik bestrafen ließ. Der Tyrann Commodus stellte sich, so die Pointe in der Historia Augusta, damit erst recht in eine Tradition, deren Stoßrichtung er zu offensichtlich zu vermeiden suchte. 2 Enger ist jedoch der vielfach wiederkehrende Konnex von Caligula und Nero als Archetypen des schlechten Kaisers. Der Verbund tritt fast schon 1 Quidde 311926, 8 (s. o. S. 30). Ich danke Filippo Carlà-Uhink, Marta García Morcillo, Silke Knippschild, Antje Kuhle und Sylvia Lindner für die Durchsicht und Anregungen zu den verschiedenen Fassungen des Manuskripts. 2 SHA Comm. 10,2.

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reflexhaft in der antiken Literatur auf, selbst an Stellen, an denen man sie weniger vermuten würde. So listet Plinius der Ältere in seiner Abhandlung über Edelsteine auch historische Wendepunkte in deren Gebrauch auf. Für Rom sieht er einen Einschnitt mit den gefeierten Siegen des Pompeius, in deren Folge die Liebe zum Luxus über die altrömische Sittenstrenge triumphiert habe. Die Entwicklung gipfelt für Plinius in den zwei Personifikationen der verweiblichenden Dekadenz: Caligula und Nero. 3 Wirkungsmächtiger waren allerdings spätantike Schulbücher wie das des Eutrop 4 und die Werke christlicher Autoren, allen voran Augustinus und Paulus Orosius. Letzterer unterstellt in seiner apologetischen Weltgeschichte Kaiser Nero, er habe Caligula regelrecht als Blaupause genutzt, die es zu imitieren und zu übertreffen galt. 5 Gefolgt wird die Aussage von einer Reihe sexueller Tabubrüche, in der bezeichnenderweise der Schwesterinzest von Caligula auf Nero übertragen wird. 6 Und selbst wo antike Quellen Caligula nicht direkt nennen, lassen sich oft Echos in der Bewertung späterer Tyrannen finden. Die vorliegende Untersuchung kann diese Tradition nicht in ihren vielen Verästelungen und Überlagerungen bis in die Gegenwart nachverfolgen. Der Blick richtet sich vielmehr auf den Endpunkt, ohne dabei ein Ziel oder einen Abschluss unterstellen zu wollen. Genauer: Es geht um die Mechanismen popkultureller Rezeption des ‚schlechten Verbundkaisers‘ von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In diesem Material kann, so meine Ausgangsthese, Caligula nicht als Einzelfigur erfasst werden, sondern nur als Amalgam, das aus der Tradition des Verbundes Caligula/Nero zu verstehen ist. Die Liste der identifizierten Merkmale ließe sich dabei durch zahlreiche Einzelfälle und Abtönungen erweitern. 7 Aus Platzgründen werden die Verästelungen jedoch – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auf eine Erfassung der Haupttendenzen reduziert. In den ersten Abschnitten werden hierfür die entsprechenden Darstellungsweisen und Motive über verschiedene popkulturelle Medien hinweg umrissen. 8 Anschließend erfolgt als Fallstudie und Ausblick eine Diskussion des wohl extremsten Falles einer

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Plin. nat. 37,12–17. Mit Gleichsetzung der beiden Kaiser in Eutr. 7,14,1. Oros. hist. 7,7,1; vgl. die Kaiserreihe Aug. civ. 5,21. Oros. hist. 7,7,2 mit dem bemerkenswerten Nachleben bei Gregor von Tours (Franc. 1,25). 7 In diesem Sinne u. a. die Beiträge zu Elsner / Masters 1994 (insbes. Barton 1994, Edwards 1994 und Elsner 1994). 8 Ein Teil dieses Abschnitts beruht auf einer früheren Untersuchung im Rahmen des Imagines Project (URL: http://www.imagines-project.org/, Zugriff am 12. 04. 2017), veröffentlicht als Lindner 2013a.

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Verschmelzung im oben genannten Sinne: die Graphic Novels Caligula und Caligula. Heart of Rome von David Lapham und German Nobile von 2012/2013. In all diesen Fällen wird der Originalfassung des Materials der Vorzug gegeben, sofern nicht anders gekennzeichnet. Falls dadurch im Laufe der Untersuchung verschiedene Namensvarianten auftreten, orientieren sich diese am jeweils besprochenen Beispiel. 9 Für die große Bandbreite an Material wird in den nächsten Abschnitten von Quellen und Traditionen der ‚Popkultur‘ die Rede sein, ohne dass damit eine wertende Absicht verbunden ist. Es handelt sich um Zeugnisse einer auf Unterhaltung und Profit zielenden Antikenrezeption, die nicht sinnvoll am Maßstab fachwissenschaftlicher Publikationen gemessen werden kann oder sollte. Aus ästhetischer oder moralischer Sicht mögen manche Beispiele selbst für eine tolerante Leserschaft grenzwertig sein. Aus Sicht der Rezeptionsforschung sind sie jedoch gleichrangige und möglichst objektiv zu behandelnde Zeugnisse für die zu untersuchenden Darstellungsmechanismen.

2. Bild und Bilder Caligula gehört zu den antiken Figuren, die noch heute in der Lage sind, eine Vielzahl von Assoziationen auszulösen. Bei Stichproben unter Studierenden meiner geschichtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen lag „Caligula macht sein Pferd zum Konsul“ noch vor diversen religiösen oder sexuellen Tabubrüchen. Dass die antiken Quellen hinter der vermeintlichen Ehrung für den Hengst Incitatus eher einen sarkastischen Kommentar des Kaisers als eine echte Handlung vermuten lassen, steht dabei auf einem anderen Blatt. 10 Derartige Tests sind natürlich nicht repräsentativ, deuten aber die Intensität an, mit der bestimmte ikonische Anekdoten und Bilder mit Caligula verknüpft und aktualisiert werden. Der Kaiser ist dabei nicht nur die Summe der Bilder, die ihn zum Inbegriff eines wahnsinnigen Despoten werden lässt. In einem abstrakteren Sinne ist Caligula eine Marke, für deren Wirkung sogar der bloße Name wie ein Signalwort funktioniert. Um nur drei besonders extreme Filmbei9 Abgesehen von den bibliographisch erfassten Printprodukten werden die benutzten Versionen gekennzeichnet durch die Global Trade Item Number (GTIN). Songtexte werden nach angefangenen Laufzeitminuten der angegebenen Tracks in Transkription der Lyrics der Albumversion zitiert. Bei Filmen werden Stellen benannt nach angefangenen Minuten, möglichst in einer handelsüblichen Version, die nicht dem PAL-Speedup unterworfen ist; für die Begründung und weitere Details zum Vorgehen siehe Lindner 2007, 22–27. 10 Suet. Cal. 55,3; Cass. Dio 59,14,7.

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spiele der letzten gut 40 Jahre aufzuzeigen: Der in Deutschland zeitweise indizierte L’Ultima orgia del III Reich wurde außerhalb Italiens vermarktet als Caligula Reincarnated as Hitler. Der Titel der japanischen Produktion Tôkyô Karigyura fujin ließe sich grob übersetzen als „Frau Caligula in Tokyo“. Und eine deutsche Reihe von sadomasochistischen Pornofilmen firmierte unter dem Label Caligula 2000. In allen drei Fällen wirkt das etablierte Bild, ohne dass es eines antiken Kontextes bedürfte oder eine Figur namens Caligula auftreten müsste. Diese Dimension ist im Folgenden immer mitzudenken, selbst wenn die unten genannten Beispiele vorzugsweise aus dem Kreis der konkreten Bilder im Sinne von Darstellungen der historischen Figur Caligula stammen. Im Zentrum fast aller dieser Rezeptionen steht das Motiv der Perversion. Caligula pervertiert politische, sittliche oder religiöse Regeln und Gebräuche. Umgekehrt wird er – man erinnere sich an Quiddes Caligula – selbst durch eine übergroße Machtfülle oder ein Übermaß von Sinnesfreuden pervertiert. Der Kaiser der Popkultur ähnelt darin dem Bild, das etwa im 14. Jahrhundert John Gower in seiner Confessio Amantis einsetzte, 11 oder im 18. Jahrhundert François Fénelon in seinen Anti-Lehrdialogen der schlechtesten Kaiser (wenig überraschend: Caligula und Nero). 12 Der Unterschied ist eher qualitativer Art in der Form und dem Grad der ablaufenden Verschmelzung. Um die Bedeutung dieses Faktors zu verdeutlichen, muss der folgende Überblick etwas über den oben genannten Zeitrahmen hinausgehen – genauer: in die frühen 1940er-Jahre zu den Erzählungen von Lloyd C. Douglas.

2.1. Christenverfolger oder nur Despot? – Romane und Filme Gemessen an seiner kurzen Regierungszeit tritt Caligula überproportional häufig in historischen Romanen auf, wenn auch seltener als etwa Julius Caesar. 13 Bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts sind dabei immer wieder vereinzelte, oft eher randständige Ansätze zur Darstellung als Verbund-

11 Confessio Amantis 8,199–212 (hg. v. R. A. Peck): „At Rome ferst if we beginne, | Ther schal I finde hou of this sinne | An emperour was for to blame, | Gayus Caligula be name, | Which of his oghne sostres thre | Berefte the virginité: | And whanne he hadde hem so forlein, | As he the which was al vilein, | He dede hem out of londe exile. | Bot afterward withinne a while | God hath beraft him in his ire | His lif and ek his large empire: | And thus for likinge of a throwe | Forevere his lust was overthrowe.“ 12 Dialogues des morts 50. 13 Allein die mittlerweile nicht mehr aktualisierte Datenbank von Stefan Cramme (URL: http://www.hist-rom.de/, Zugriff am 17. 02. 2017) weist für Caesar an die 200 historische Romane und Dramen aus, für Caligula dagegen ‚nur‘ gut 40.

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kaiser auszumachen. Ein bekanntes Beispiel findet sich in I, Claudius, dem ersten Band der fiktiven Autobiographie von Caligulas Nachfolger aus der Feder von Robert Graves. 14 Folgenschwerer war jedoch die Publikation des Romans The Robe im Jahre 1942, dessen Beliebtheit gerade bei einer christlich-konservativen Leserschaft noch heute ungebrochen ist. Lloyd C. Douglas war der Sohn eines amerikanischen Pastors und hatte, nach einer wechselvollen Karriere als Theologe und Prediger, mit gut 50 Jahren zum freien Autor umgesattelt. Zu seinen wenigen, aber umso erfolgreicheren Arbeiten zählten zwei Antikenromane: The Big Fisherman über das Leben des Heiligen Petrus und eben The Robe. Die Texte stehen erkennbar in der Tradition von Autoren wie Henryk Sienkiewicz, reduzieren aber deren historistischen Ballast zugunsten von mehr Dialog und Emotionalität. 15 The Robe greift dabei eher lose auf Erzähltraditionen zurück, die sich mit dem Nachleben diverser Christusreliquien beschäftigen. Das Schicksal der beiden Hauptcharaktere, des Sklaven Demetrius und des Tribunen Marcellus, ist im konkreten Fall verbunden mit dem Gewand, das die römischen Soldaten dem gekreuzigten Heiland abgenommen haben. Neben den genretypischen Nebenfiguren – der väterliche Weise, die standhafte Schönheit, der intrigante Höfling und so weiter – rückt im letzten Achtel des Romans 16 vor allem Caligula in den Fokus. Der junge Kaiser wird in The Robe als Gegenbild zu Petrus aufgebaut: Der Apostel ist ein würdevoller, in sich ruhender Charismatiker, der das Vertrauen auf Gott als Weg zu Weisheit und Erlösung erkannt hat. Caligula, im Roman vorzugsweise mit der Übersetzung seines Spitznamens „Little Boots“ bezeichnet, ist dagegen geprägt von geistiger Instabilität, dem kurzsichtigen Blick auf eigene Sinnesfreuden und zielloser Machtgier. 17 Die antike Tradition – wie später auch Quidde – baut in der Regel einen Gegensatz auf zwischen den guten Anfängen des Kaisers und dem späteren Umschlagen in die Despotie. 18 Douglas ignoriert diese Abstufung und zeigt Caligula vom Tag seiner Herrschaftsübernahme an als labilen Psychopathen. Jede Unterhaltung mit ihm ist geprägt von extremen Stimmungsschwankungen. Völlerei und Trunksucht prägen schon die ersten Wochen seiner Regentschaft, und für seine eigenen Genüsse nimmt er 14 Grundzüge von Konzeption und Kontext sind behandelt bei Bennett 2015, Hopkins 1999 und Leonard 2001. 15 Zur wechselvollen ‚Parallelkarriere‘ von Sienkiewiczs Roman Quo Vadis und dessen Verfilmungen erschöpfend Scodel / Bettenwort 2009. 16 Romankapitel 23–25 (nach der neu gesetzten Mariner Books Edition = Douglas 1999). 17 Schon beim ersten Auftreten (Douglas 1999, 423) gedoppelt als „Little boots [. . . ]. Little brat!“ 18 Geradezu sprichwörtlich die Formulierung bei Suet. Cal. 22,1: „hactenus quasi de principe, reliqua ut de monstro narranda sunt“.

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Hungersnöte in der Bevölkerung in Kauf. Vor allem aber sieht Caligula seine Allmacht bedroht durch die frühchristlichen Gemeinden und deren Verehrung von Christus als Gotteskönig. Nebenbei stellt er noch – im Einklang mit antiker Tyrannentopik und der Darstellungstradition des historistischen Romans – der mittlerweile zum Christentum konvertierten Geliebten des Marcellus nach. 19 Caligulas Motivation in The Robe ist überdeutlich eine persönliche und politische, keine spirituelle. Er versucht weder die Glaubensinhalte noch die Organisation seiner vermeintlichen Gegner zu verstehen. Anfangs sind sie vielmehr ein geeigneter Sündenbock, an dem man das bisherige Versagen der Obrigkeit und den Erfolg der neuen harten Hand demonstrieren kann. Dass sich die junge Christin seiner Avancen erwehrt, ist für ihn weniger eine emotionale Enttäuschung als eine Form von Majestätsbeleidigung. 20 Die Konfrontation gipfelt in einer Audienz des Kaisers, die zugleich den Abschluss des Romans darstellt: Caligula verhört Marcellus zu den Umtrieben der Christen und dessen eigener Nähe zur Bewegung. Mehrfach wird jedoch ausdrücklich formuliert, dass es eigentlich der Kaiser ist, der vor den Augen der Menschheit und Gottes vor Gericht steht. Marcellus und seine Gefährtin betonen die Toleranz des Christentums gegenüber jeder Form von aufrichtiger Frömmigkeit, verweigern sich aber dem anmaßenden Tyrannen durch den Gang in den Märtyrertod. Am Ende verkennt Caligula sogar die wahre Macht der Reliquie, so dass der Christusmantel über einen Boten zu Petrus gelangen kann. 21 Die Rolle von Caligula als erstem Christenverfolger ist erkennbar nach dem Vorbild späterer Kaiser – und wieder vorrangig Neros – modelliert. Zwar fehlen ikonische Versatzstücke wie der Brand Roms als Anlass für die Hinrichtung von Christen. Jenseits dessen wird aber die Verschiebung hin zu Caligula als ‚Nero vor Nero‘ in der hier stark abgekürzten Darstellung deutlich. Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass Douglas seiner Leserschaft offenbar keine Inzesterzählungen oder ähnlich abstoßende Berichte aus der originären Caligula-Tradition zumuten wollte. Umso stärker treten im Gegenzug Genuss- und Prunksucht sowie die verblendete Christenfeindschaft zu Tage. Lloyd C. Douglas starb 1951, knapp zwei Jahre, bevor die Verfilmung seines Romans unter gleichem Namen aufgeführt wurde. Die Produktion ist aus verschiedenen Gründen ein Meilenstein des modernen Kinos, vor allem weil sie als das Vehikel für die Einführung neuer Film- und Projek19 Douglas 1999, 449–452 vorerst unterbunden durch die dramatische Flucht unter Gottes Schutz. 20 Douglas 1999, 454–458. 21 Douglas 1999, 503–508.

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tionstechniken diente. 22 Für unsere Belange ist dagegen die Verstärkung des schon für den Roman beschriebenen Effekts interessant. In früheren Antikfilmen war Caligula allenfalls eine Randfigur gewesen, so etwa im fragmentarischen I, Claudius von 1937. 23 In The Robe geriet nun Caligula, gespielt von Jay Robinson, zur heimlichen Hauptfigur und zum Pendant Neros, wie ihn Peter Ustinov kurz zuvor in Quo Vadis verkörpert hatte. Robinsons Caligula ist zwar weniger dicklich als Ustinovs Nero, wirkt aber in seinen Posen gleichfalls merkwürdig deformiert. Die Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche der beiden unterscheiden sich nur in Häufigkeit und Abstufung. 24 In einem Fall bedient sich Nero/Ustinov dafür sogar eines eigentlich Caligula zugeschriebenen Ausspruchs. 25 The Robe wiederum überhöht den Kontrast zwischen dem sündhaften Rom des ersten Christenverfolgers und dem wahren Himmelreich zusätzlich, indem die ersten Märtyrer von Caligulas Thron weg in ein helles Wolkenpanorama schreiten. 26 Der ungeheure Erfolg von The Robe ebnete den Weg für den seltenen Fall eines Antikfilmsequels, das im Folgejahr erschienene Demetrius and the Gladiators. Der Film nutzt die abschließende Sequenz von The Robe als wiederholte ‚Scharnierszene‘, so dass die Erzählung mit dem Justizmord durch Caligula und der Übergabe des Gewands beginnt. 27 Außer den Figuren und dem Setting hat der Plot keine Bezüge zu Douglas’ Roman, bietet aber ohnehin eher Wiederholungen der bekannten Muster. Demetrius muss – wie sein früherer Herr Marcellus – mühsam seinen Weg zu Gott und zum wahren Glauben finden. Caligulas Wahn ist nun noch präsenter und fokussierter. Er missversteht das Christusgewand als eine Art zauberkräftiges Artefakt, das er mit allen Mitteln zurückgewinnen möchte. Die Rolle als verblendeter Christenverfolger, der Gegensatz zum Apostel Petrus, die kindlich-bockigen Rasereien und ähnliche Aspekte mehr sind noch betonter als im Vorgängerfilm. 28 Demetrius and the Gladiators geht

22 Technische Hintergründe und Bedeutung von The Robe bei Belton 1992, 113–157. 23 Zum Hintergrund siehe Keser 2005, zu den Scriptfassungen Gibson 2015 und Presley 1999. Zum Vergleich mit der hier nicht zu behandelnden BBC-Serie siehe zusammenfassend Harrisson 2017 und Lindner 2013b. 24 Beispielsweise The Robe (GTIN: 4010232009371), 10–13, 91–94 und 115–127; vgl. Quo Vadis (GTIN: 7321983001093), 9–13, 32–38, 49–56, 88–91, 95–100, 107–111, 134–137, 152–155 und 162–169. Zur Zitierweise siehe oben Anm. 9. 25 „I wish it had but a single throat, that mob, that I might cut it“ (Quo Vadis, 33, vgl. Suet. Cal. 30,2). 26 The Robe, 127 f. 27 Leicht gekürzt als Demetrius and the Gladiators (GTIN: 4010232009654), 1 f. 28 In wechselnder Gewichtung Demetrius and the Gladiators (GTIN: 4010232009654), 4–8, 29–42, 49–51, 62–68, 70–72 und 79–83.

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aber noch einen Schritt weiter: Die Ermordung Caligulas resultiert unmittelbar aus dem Drangsalieren des Christen Demetrius. 29 In ganz ähnlicher Weise vermischen viele spätere Produktionen Caligula und Nero in einer Darstellung, die sich die Christenfeindschaft des Kaisers als wesentliches Merkmal wählt. Der italienische Film Ponzio Pilato von 1962 etwa bettet die Haupthandlung in eine Rahmenerzählung um Caligula ein: Mit sarkastischer Freundlichkeit verhört der Kaiser seinen Untergebenen, dem er Unfähigkeit und Amtsanmaßung vorwirft. Pilatus weiß um die fatalen Konsequenzen jeglichen Widerspruchs, berichtet jedoch wahrheitsgemäß die Geschichte bis nach der Kreuzigung Jesu. Als ihn am Ende Caligula unterbricht, spricht ihm Pilatus die nur dem wahren Gott zustehende Autorität ab, über jegliche Form von Glauben zu richten. 30 In der neomythologischen Serie Xena – Warrior Princess taucht in einer 2001 erstmals ausgestrahlten Episode eine friedliche Glaubensgemeinschaft auf. Die „Elijans“ sind unschwer als urchristliche Gemeinde zu erkennen. Caligula tut sich als deren Verfolger hervor, dem schließlich sogar ein kurzzeitiger Aufstieg zu eigener Göttlichkeit gelingt mit unfreiwilliger Hilfe von (bezeichnenderweise) Aphrodite. Der Kaiser ist angetrieben von unmäßiger Machtgier und den traumatischen Folgen des Mordes an seiner Mutter – eine weitere Vermischung mit dem wahnsinnigen Muttermörder Nero. 31 All diese Produktionen wirken ganz in der Tradition von The Robe auch deswegen so fixiert auf Caligula als antichristlichen Despoten, weil sie den Bereich der sexuellen Devianz nicht ausloten können oder wollen. Dieser Schritt blieb vor allem dem berühmt-berüchtigten Film Caligola von 1979 und seinem begleitenden Roman vorbehalten. Die kuriose Entstehungsgeschichte des Films ist vielfach beschrieben worden, 32 lässt sich (abseits der gezielten Skandalisierung) aber vor allem als großes Missverständnis erklären: Bob Guccione, der Gründer und damalige Chef des Männermagazins Penthouse, wollte in einen Antikfilm investieren, den er zugleich mitproduzierte. Der Regisseur war der damals als avantgardistisch geltende Tinto Brass, den Plot schrieb der liberale Essayist Gore Vidal. Die Hauptrollen wurden mit einigen der größten Stars der Zeit besetzt: Peter

29 Demetrius and the Gladiators (GTIN: 4010232009654), 88–94. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle Messalinas; siehe den Beitrag von Anja Wieber im vorliegenden Band. Zum Kontext des biblischen Antikfilms vgl. Babington / Evans 1993. 30 Ponzio Pilato (GTIN: 4020628949914), 2–5 bzw. 95. 31 Xena – Warrior Princess, Episode 124 (The God You Know). 32 Die Stellungnahmen der Beteiligten sind versammelt in A Documentary on the Making of ‚Gore Vidal’s Caligula‘, enthalten u. a. in der französischen Sammleredition von Caligola (GTIN: 3512391307080).

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O’Toole als Tiberius, Helen Mirren als Kaisergattin Caesonia, John Gielgud als Berater Nerva und Malcolm MacDowell als Caligula. Im weiteren Verlauf schwächte Guccione die sozialkritischen Spitzen der Erzählung immer weiter ab und schnitt schließlich eigenmächtig den kompletten Film um – vorzugsweise mit Hilfe zusätzlicher Hardcore-Darstellungen. Caligola sollte (drastisch) anders sein als die inzwischen etablierten Erzählungen von Caligula als ‚Nero vor Nero‘. Das Resultat kommt tatsächlich der Caligula-Biographie des antiken Autors Sueton erstaunlich nahe, überlagert diese jedoch durch Erzählstandards des pornographischen Films. 33 Paradoxerweise legte der Film aber auch den Grundstein für eine neue Form der Amalgamierung, die uns – jetzt ergänzt um bestimmte Versatzstücke sexueller Devianz – in späteren Abschnitten wieder begegnen wird. Eher als Kuriosität zu nennen ist in diesem Zusammenhang noch Gore Vidal’s Caligula, den William Howard trotz der Proteste seitens des namensgebenden Drehbuchautors als offiziellen Roman zum Film verfasste. Wenn Caligola schon auf extreme Schockeffekte setzte, so war Howard bemüht, in seinem Text noch eine Eskalationsstufe höher zu gehen. Die Vergewaltigung und der erzwungene Inzest Minderjähriger als Unterhaltung gehören noch zu den harmloseren Beispielen. 34 Insgesamt wird die Gewalt innerhalb und außerhalb der Sexszenen detaillierter und extremer. Caligula als Anti-Held wird zum Klischee eines perversen Herrschers in einer Zeit ohne Regeln. Der Fokus verlagert sich – für pornographische Literatur wenig überraschend – weiter in Richtung der sexuellen Tabubrüche. Bei der Übersteigerung in den anderen Bereichen rückt Caligula (versehentlich?) wieder näher an Elemente der Nero-Tradition: So agiert Caesonia teilweise fast im Stile von Neros Mutter Agrippina; frei erfundene Details von Caligulas Triumphzug erinnern an Neros überzogene Selbstdarstellungen. 35 Die weitere Entwicklung im Antikfilm kennt immer wieder Ausprägungen, die deutlich näher an Lloyd C. Douglas und dem intoleranten Tyrannen stehen. Das gilt selbst für Fälle wie den amerikanischen Fernsehfilm Cyclops von 2008, der einen geradezu klassischen Caligula als Neffen von Kaiser Tiberius zeigt – wenn auch irreführenderweise unter dem Namen „Falco“. Für einen Großteil der folgenden Beispiele geht die Tendenz jedoch erkennbar eher in die von Caligola vorgezeichnete Richtung.

33 Eine Konkordanz der Stellen bietet Janka 2002, zu ergänzen durch Lindner 2007, 74– 91; zur narrativen Struktur pornographischer Filme vgl. Williams 2006 und weiterführend auch Wolf 2006. 34 Howard 1979, 67–71. 35 Howard 1979, 191–194 bzw. 209–211.

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2.2. Der Star des Bösen – Spin-offs, Spiele und Musik Penthouse verdiente gut an seiner Skandalproduktion, konnte allerdings nicht verhindern, dass Nachahmer auf den Zug aufsprangen. Die Zahl der anschließenden Soft- und Hardcoreproduktionen über Caligulas Rom ist zu groß, um sie hier auch nur anreißen zu können. 36 Herauszuheben ist jedoch ein Sonderfall, der die intermediale Fortschreibung der Tradition illustriert: Caligola, la storia mai raccontata von 1982 und seine Zweitverwertung als Fotoromanze. Der Film selbst ist ein offensichtlicher Trittbrettfahrer, der mit der Tatsache spielt, dass Caligola in vielen Ländern nicht oder nur sehr stark geschnitten verfügbar war. 37 Hier, so die Fiktion, setzte der inoffizielle Nachfolger an, um den verheimlichten Teil der Geschichte zu zeigen. Das Ergebnis ist eine ungleiche Verbindung der oben beschriebenen Extreme. Caligula ist vor allem der Schirmherr und oft auch Urheber sexueller Tabubrüche und Gewaltexzesse am Hof. Daneben treten jedoch immer wieder Momente auf, in denen er die Christen – in einigen Fassungen auch als „Katholiken“ tituliert – als Sündenbock einspannt und abstrafen lässt. 38 Der Plot dreht sich um die erfolglose Attentäterin Miriam, die das Herz des Antichristen Caligula erwärmt. Unter Drogeneinfluss begeht der Kaiser nach Wahnträumen und geisterhaften Begegnungen mit seinen Opfern beinahe Suizid. Nach dem Erwachen muss er feststellen, dass er stattdessen seine Geliebte getötet hat. 39 Kurz vor seiner eigenen Ermordung schwört Caligula im Gedenken an Miriam seiner Vergöttlichung ab und wiederruft alle bisherigen Anordnungen. 40 Schon im Film wirkt diese Liebesgeschichte merkwürdig deplatziert. Nochmals deutlicher wird dies in der Fotoromanze, die von Ginfilm unter dem (wohl bewusst verwechselungsträchtigen) Titel Caligola als Merchandisingprodukt vertrieben wurde. 41 Das Heft besteht aus über einhundert Standbildern des Films, die mit Zwischentexten, Sprechblasen und gezeichneten Soundeffekten versehen 36 Diverse Beispiele sind behandelt in Lindner 2007; die Tradition ist äußerst lebendig, wie die o. g. Produktionen und neuere Einträge wie Caligola – Follia Del Potere oder Serenity’s Roman Orgy bezeugen. 37 Der Extremfall der US-Zensurfassungen ist diskutiert bei de Grazia / Newman 1982; weitere Informationen in Lindner 2007, 23 f. 38 V. a. Caligola, la storia mai raccontata, 11–17, hier zitiert nach der erweiterten Schnittfassung der italienischen Kinoversion (2005er Sammlerausgabe des Labels X-Rated / Neues Kontrastprogramm, ohne GTIN-Ausweisung). 39 Caligola, la storia mai raccontata, 115–121. 40 Caligola, la storia mai raccontata, 123 f. 41 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Nachdruck der Fotoromanze als Teil der oben genutzten DVD-Sammlerausgabe von 2005.

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wurden. Die Dialoge bilden etwa drei Viertel des gesamten Textes, orientieren sich aber nur lose am Film. Auch die Reihenfolge der Bilder weicht teilweise von der Quelle ab; wichtige Nebenfiguren des Films werden weggeschnitten oder marginalisiert. Anders als der Film endet die Fotoromanze bereits mit dem Tod Miriams und dem unmissverständlichen Hinweis auf Caligulas anschließende Leichenschändung. 42 Ein Großteil der vorangehenden Geschichte verkürzt das Leben des Kaisers auf sexuelle Eskapaden und die Begeisterung für alle Arten von Spielen, Wettbewerben und inszenierter Gewalt. Die weitgehend zusammenhangslose Reihung solcher Versatzstücke lädt geradezu ein zu freien Assoziationen, wie sie der fast zeitgleich erschienene Film Nerone e Poppea befeuerte. 43 Vor dem Hintergrund einer italienischen Produktion ist zudem die mögliche Vertrautheit des Publikums mit den ebenfalls sehr adaptionsoffenen fumetti zu bedenken, die uns im letzten Abschnitt beschäftigen werden. Um die Ausmaße der intermedialen Traditionsbildung zu verstehen, sind allerdings andere Beispiele besser geeignet, in denen die Bezüge weniger voraussetzungsreich ablaufen: Spiele und Popmusik. Die römische Antike bildet schon seit den Anfängen der modernen Gesellschaftsspiele ein beliebtes Szenario, allerdings selten mit Caligula als zentraler Figur. Letzteres ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass ein Großteil der frühen Spiele vorbildhaft-didaktischen Charakter hat, wofür sich dieser bestimmte Kaiser allzu wenig eignet. 44 Anders verhält es sich mit einem Produkt wie Caligula von Pierluca Zizzi, das die italienische Firma Post Scriptum 2009 auf den Markt brachte. Das Spielziel von Caligula besteht darin, den amtierenden Kaiser zu ermorden, um einen eigenen Kandidaten als Nachfolger durchzubringen. Die Reihe der verfügbaren Herrscher ist für sich genommen schon aufschlussreich: Caligula, Claudius, Nero, Galba, Vitellius, Domitian, Commodus, Pertinax, Geta und Elagabal. Für diese Liste steht der Name Caligula im Sinne der oben 42 Gebündelt im letzten Paneltext (S. 30): „Portò il suo cadavere sulla spiaggia d’Ostia e cominciò ad amarla. Pazzo, criminale, sanguinario, necrofilio [. . . ]“. 43 Eine Kreuzung von Quo Vadis, Caligola und seinem inoffiziellen Nachfolger, die fast alle ikonischen Elemente der drei in einer softpornographischen Fassung vereint – hier allerdings mit Nero als Verbundkaiser. Mit einer gewissen Berechtigung hat Nisbet 2009 die dabei greifenden Mechanismen und Resultate assoziativer Verwendung auf das Schlagwort „Rome as Pornotopia“ gebracht. 44 Besonders eigenwillig ist der Fall von Conquest of the Empire von Larry Harris jr., erschienen 1984 in der Gamemaster Series bei Milton Bradley. Caligula und Nero sind hier zwar Teil der Cover Art, das Spiel setzt jedoch erst nach der ‚Überwindung‘ der julio-claudischen Dynastie an. Manche frühen Spiele, etwa das Historische Kartenspiel der berühmten Regenten von Peter Troschel (Nürnberg 1660), vergeben die untersten Kartenwerte an die schlechtesten Herrscher. Dort finden sich auch „Caligula der Wunderliche“ und „Nero der Tyrann“, jedoch ohne Tendenz zur Vermischung im Bild- wie Inhaltsbereich; vgl. Radau / Himmelheber 1991, 335 f.

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beschriebenen Markenfunktion als Titel und Klammer. Das Spiel selbst kann nur bedingt gewonnen werden. Der einzelne Spieler bzw. sein Favorit mag triumphieren, aber das Römische Reich muss dafür untergehen – weswegen die letzte Wertungsrunde explizit als „caduta dell’imperio“ firmiert. 45 Ausgangspunkt ist stets Caligula, der als ‚Ahnherr‘ der anderen Tyrannen zuerst getötet werden muss. Nero bildet in Sachen Siegpunkte das lohnendste Ziel (fairerweise gesagt zusammen mit Claudius und Commodus). Insbesondere bei Caligula gleicht die Optik stark filmischen Vorbildern wie The Robe, bei anderen gilt dies am ehesten für das Porträt des dicklichen Nero. Während Caligula eher ein zynisches Taktieren belohnt, sieht dies im Browserspiel Viva Caligula von Adult Swim Games deutlich anders aus. Die Grundidee ist eine parodistisch übersteigerte Pausenunterhaltung: Der Spieler steuert – mit optischen Anklängen an alte Arkade-Automaten – einen fast schon tierhaften Kaiser auf seinem mörderischen Streifzug durch Rom. Ziel ist es, mit Waffengewalt und Feuer möglichst große Schäden anzurichten. Die Durchschlagskraft kann dabei gesteigert werden, indem man ins Mikrophon des PCs schreit, pfeift oder nach Belieben auch singt. Bald tauchte zum Spiel offizielles wie inoffizielles Merchandising in Form von T-Shirts, Kaffeetassen, Bierkrügen und Unterwäsche mit dem Spruch „What would Caligula do?“ auf. Viva Caligula ist weiterhin verfügbar, 46 der Verkauf des Merchandisings hingegen längst eingestellt. Dagegen kursierten bald darauf Plakate und T-Shirts mit dem Aufdruck „What would Nero do?“ 47 (ohne hier eine direkte Verbindung behaupten zu wollen). Viva Caligula ist ein Produkt, das mit der Übersteigerung und Verkürzung der Traditionselemente spielt. Ohne ins Detail gehen zu können: Das Spiel bedient sich auch bei einigen Bezugspunkten außerhalb der römischen Kaiserzeit. So ist beispielsweise die Optik des Startscreens an den Film 300 bzw. die gleichnamige Graphic Novel von Frank Miller angelehnt. Caligula selbst hat deutliche Ähnlichkeit mit einer anderen Kreation des gleichen Zeichners, dem „Yellow Bastard“ aus Sin City. 48 Die physische Zerstörung des alten Roms, dessen Brandschatzung man mit eigenem Gesang steigern kann, ist wiederum der Nero-Tradition zuzurechnen. Caligula ist in diesem Sinne nur eine griffige Sammelbezeichnung für die

45 Seite 7 der Spielregeln der italienischen Erstversion (GTIN: 8034063230069). 46 URL: http://www.adultswim.com/games/web/viva-caligula (Zugriff am 17. 02. 2017). 47 Nicht zu verwechseln mit dem wortgleichen Merchandising für die TV-Serie Sons of Anarchy mit der Figur des Nero (Padilla). Vorbild ist sicherlich der popkulturelle running gag „What would Chuck Norris / MacGyver do?“. 48 Zu den antiken Bezügen der Serie siehe Tomasso 2011.

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verdichtete Mischung verschiedener Erzählelemente von Wahnsinn und Gewalt, einem Synonym für „der schlechte römische Kaiser“. In all seiner Überdrehtheit ist Viva Caligula weit weniger erschreckend als manche der bislang besprochenen Beispiele. Die konsequente Fortführung dieser Idee ist Caligula als trash cult hero – und exakt hier haben in den vergangenen Jahren Musical und Burlesque-Theater angesetzt. In den frühen 2000er-Jahren komponierte und textete Eric Svejcar Caligula: An Ancient Glam Epic. Nach der Uraufführung in New York im Jahre 2004 war dem Stück eher mäßiger Erfolg beschieden; Eindrücke der Inszenierung sind heute meist nur durch inoffizielle (Teil-)Mitschnitte zu gewinnen. Die Musik ist an den Glam Rock der frühen 1970er-Jahre angelehnt, und auch die Handlung suggeriert eine Vermischung der antiken und modernen Zeitebene. Der Plot gleicht weitgehend Suetons Biographie mit Einschlägen, die stark an den 1979er-Film Caligola gemahnen. 49 Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem Musical über Caligula als singenden Egozentriker bewusst oder unbewusst die Vermischung mit einem eigentlich eher Nero zuzuordnenden Zug gestärkt wird. Wenige Jahre später kam die Burlesque-Show Caligula Maximus von Alfred Preisser und Randy Weiner auf amerikanische Bühnen. Diesmal war es eher die Zirkusästhetik, die Anklänge zwischen Caligula und Nero förderte: Der Kaiser trat unter anderem zusammen mit Artisten und Bodybuildern auf. 50 Das im Sommer 2017 in Rom angelaufene Musical Divo Nerone – Opera Rock fügte sich nahtlos in diese Tradition ein. Nach einer skandalträchtigen Uraufführung wurde die Produktion wegen ungedeckter Ausgaben von kolportierten sechs Millionen Euro sowie Missachtung der gesetzlichen Auflagen rasch wieder eingestellt. 51 Die Verbindung zwischen Caligula und Nero erscheint so natürlich, dass sie in der Popmusik sogar als doppelbödige Erzählfolie genutzt werden kann. Das britische Duo Soft Cell zählte zu den erfolgreichsten Vertretern des Synthpop in den frühen 1980er-Jahren. Nach Welterfolgen wie Tainted Love löste sich die Band 1984 auf, kam aber fast zwei Jahrzehnte später wieder für eine Tour zusammen. Im Nachklang erschien 2002 das

49 Ein Teil des Materials war versammelt auf der unlängst abgeschalteten Internetpräsenz der Produktion (URL: http://www.caligulathemusical.com, Zugriff am 07. 03. 2017). Ich danke Emma Southon für das Überlassen der unpublizierten Transkription ihres Interviews mit Eric Svejcar. 50 Selbstdarstellung und Bildmaterial unter URL: https://caligulamaximus.wordpress. com/ (Zugriff am 17. 02. 2017). 51 Zu den Hintergründen siehe https://www.rockol.it/news-677404/nerone-il-musicalpolemiche-e-spettacoli-annullati-cosa-e-successo?refresh_e (Zugriff am 14. 10. 2020); inoffizielle Mitschnitte lassen sich leicht unter dem Titel des Musicals auf den einschlägigen Video-Plattformen finden.

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erste neue Album Cruelty Without Beauty inklusive des Songs Caligula Syndrome. Letzterer ist ein zynischer Kommentar zu den Tendenzen des modernen Starkults, der einerseits der Band bei ihrem (Wieder-)Aufstieg geholfen hatte, dessen Auswüchse sie aber andererseits fürchteten. Das lyrische Ich des Songtextes bleibt namenlos: ein moderner Tyrann, der Popstar, Filmproduzent oder Politiker sein könnte. Popularität, Aussehen und Geld haben ihm eine unkontrollierte Macht verliehen. Die berauschende Wirkung von Orgien und Vergöttlichungsphantasien ist in Freude an der Demütigung anderer umgeschlagen. Er ergötzt sich an Unterwerfungsritualen („I want to see you crawl as I drive by in my big black car“) und an der Entmenschlichung eben der Leute, deren Bewunderung er seinen Erfolg verdankt („I’ll display you in my game show on TV called Humiliation And Hypocrisy“). 52 Zu Beginn eines jeden Refrains fragt er sich noch „Is this what true power feels like?“, gibt aber mit den folgenden Beispielen direkt die bejahende Antwort. Nur vereinzelt schleichen sich Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit ein, gepaart mit Anzeichen der Unsicherheit, die Zuneigung der Massen und damit die eigene Machtbasis zu verlieren. Der Sprecher diagnostiziert dies selbst als „my Caligula Syndrome“, dessen Symptome an betont austauschbaren Beispielen deutlich werden. 53 So ist auch Nero nur eine Facette des Wahnsinns: „Won’t you dance with me while our empire is falling? Like Nero let’s make music to the fires of Rome.“ 54 Caligula Syndrome spielt auch auf musikalischer Ebene mit der Tradition: Synthetische Fanfarenstöße im Stile des Antikfilms werden zum rhythmischen Element. Die Intonation schlägt mehrfach in den wackeligen Tenor ustinovscher Prägung um. Mehrheitlich läuft die Rezeption jedoch über den Songtext, nur hat dieser ob seiner Kürze sehr begrenzte Mittel für die Reflexion und Verwendung der beschriebenen Traditionselemente. Die intensivste Auseinandersetzung in dieser Hinsicht bleibt daher einer anderen Kunstform vorbehalten: der Graphic Novel.

52 Soft Cell, Cruelty Without Beauty (GTIN: 711297464528), Track 12: Caligula Syndrome, 1 bzw. 2 (vgl. Anm. 9). 53 Soft Cell, Caligula Syndrome, 2, 3 und 5. 54 Soft Cell, Caligula Syndrome, 4 f.

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3. Das Herz von Rom – Fumetti und Graphic Novels Die ersten Vorläufer in diesem Bereich ließen sich über mehr als ein Jahrhundert zurückverfolgen, etwa in die politische Karikatur der Gründerzeit. Mit Blick auf Quiddes Caligula wäre beispielsweise die berühmte Darstellung Kaiser Wilhelms II. im Stile eines römischen Despoten zu nennen, die Johann F. Boscovits im Herbst 1900 anfertigte. 55 Mitte des Jahrhunderts – und damit lange vor der Trendwende in Film und Roman – war Caligula dann längst im Bereich der Erwachsenenunterhaltung angekommen: In den Jahrzehnten zuvor hatten sich in Italien fumetti (anfangs eher kurze Comicstrips oder -serien) etabliert, vorzugsweise über Kinder- und Jugendmagazine für eine meist männliche Leserschaft. Seit den Anfängen lieferte dabei die Antike, gerne in moderner Parallelisierung, Stoff für einige der beliebtesten Vertreter. Insbesondere in den 1960er-Jahren etablierte sich nun eine Strömung, die durch explizitere Darstellung von Sex und Gewalt ein deutlich älteres Publikum ansprach. Einen der zugkräftigsten Titel bildete von Oktober 1966 bis August 1974 Messalina, eine Art Querschnitt der schlimmsten Episoden römischer Geschichte unter den Kaisern Caligula und Claudius. 56 Anstandshalber wurde Messalina als Geschichtsdarstellung mit didaktischem Potential im Sinne der früheren fumetti beworben. Faktisch füllten die wechselnden Zeichner und Texter die Lücken der antiken Überlieferung mit eigenen Erzählungen über das verruchte Rom. Caligula ist in der Serie quasi selbst ein Symptom der Zeit, weitestgehend austauschbar mit seinen Nachfolgern. Er ist eine labile Natur und im Grunde ein schwacher Kaiser, der sich von Frauen dominieren lässt, während ihm Realitätsbezug und Staatsfinanzen entgleiten. 57 Serien wie Messalina waren erkennbar vor allem auf den Reiz des Tabubruchs ausgerichtet, obwohl dieser in der Rückschau brav und unfreiwillig komisch anmuten mag. Auf einer zweiten Ebene waren die Geschichten um Caligula, Claudius und Messalina als Kommentar zur Entstehungszeit der fumetti zu lesen. Die Austauschbarkeit der korrupten und despotischen Establishments im antiken Rom mochte der geneigte Leser als Analogie in die Gegenwart projizieren. Ob das Publikum diese Einladung zur Kulturkritik überhaupt so wahrnahm, muss allerdings offenbleiben. Gänzlich ohne einen derartigen Subtext kommt dagegen das letzte Beispiel aus, in dem die bislang beschriebenen Elemente zusammenfließen und bis zur Absurdität übersteigert werden.

55 Erstdruck in Nebelspalter 42 (20. Oktober 1900), 5. 56 Zur Einordnung siehe Carlà 2014. 57 Vgl. weiterführend Keller 1999 und Mataloni o. J.

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3.1. Ein Caligula für das 21. Jahrhundert Vor gut 20 Jahren wurde Avatar Press gegründet und inszenierte sich als Gegenentwurf zu den großen amerikanischen Verlagshäusern. Pandora und andere Serien – vornehmlich aus den Bereichen Neo-Mythologie, Horror und dystopische Science-Fiction – wurden als Antithese zum uniformen Mainstream vermarktet. Die Ideen von Autor David Lapham für Caligula (2012) und Caligula. Heart of Rome (2013) passten in diesem Sinne hervorragend ins Programm. Lapham war der Zielgruppe bereits vertraut als Schöpfer, Texter und Zeichner von Stray Bullets, einer ebenso komplexen wie drastischen Kriminalserie. Für Caligula tat er sich mit Zeichner German Nobile zusammen, der durch Illustrationen in zahlreichen Rollenspiel-Werken von Horror bis Science-Fiction bekannt geworden war. Schon der erste Band von Caligula ist in einem ständigen Überbietungsgestus erzählt. Die Verwandlung vom Volkshelden zum Monster geschieht innerhalb der ersten Panels. 58 Fünf Seiten später hat Caligula als selbsterklärter Gott den Überfall auf ein Landgut befohlen und sich dort an Mord, Massenvergewaltigung, Altarschändung, Pädophilie, Nekrophilie und Kannibalismus beteiligt. 59 Wie der junge Junius als einziger Überlebender feststellt, ist der Kaiser mehr als nur ein betrunkener oder gelangweilter Despot. Caligula ist „a thing of pure monstrosity and madness, [. . . ] the death of Rome“. 60 In den folgenden Episoden gelangt Junius nach Rom und unterwirft sich bei den Höflingen allen noch so demütigenden Praktiken, um dem Kaiser nahezukommen. Als der Mordanschlag schon gelungen scheint, zeigt sich, dass das Monster in der Tat unsterblich ist. 61 Caligula macht den Attentäter als „Felix“ zu einer Art Talisman, einem Zeugen und später willfährigen Komplizen bei Mord, Inzest und Gotteslästerung. Junius / Felix taumelt ab diesem Moment wie eine Personifikation des zunehmend entmenschlichten Roms von einem Exzess in den anderen, wobei Caligula seine Attentate auf die damaligen Mordgehilfen duldet oder gar unterstützt. 62 Wenn Lapham und Nobile dabei direkte Bezüge zur antiken Tradition herstellen, erhält auch dies den Charakter eines wahnhaft verschwimmenden Alptraums. Die Schiffsbrücke über den Golf

58 59 60 61 62

Lapham / Nobile 2012, 5 f. Lapham / Nobile 2012, 6–10. Lapham / Nobile 2012, 13. Lapham / Nobile 2012, 26–31. Lapham / Nobile 2012, 61–63, 90 und 97 f.

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Abb. 1: Caligulas blutiges Mahl. Quelle: Deckblatt zu Kapitel 4 von Caligula, © Avatar Press Inc.

von Baiae 63 etwa erlebt Felix als Ritt des Kaisers auf seinem Dämonenpferd Incitatus, dem Maden aus offenen Wunden kriechen. 64 Caligula befeuert den Zerfall der römischen Gesellschaft mit vergünstigtem Wein, freiem Eintritt zu immer brutaleren Spielen und der wortwörtlichen Selbstzerfleischung der römischen Oberschicht (Abb. 1). Am Rande der infernalischen Szenen wird Felix Zeuge eines mysteriösen Rituals, bei dem Caligula sich die Seelen ausgewählter Opfer einverleibt – wobei dies anfangs ebenso gut für einen weiteren Fiebertraum des unzuverlässigen Erzählers gehalten werden könnte. 65 Die nächste Eskalationsstufe besteht in der religiösen Verfolgung, die der Kaiser gegen die Juden als Gegner eines (zunehmend selbst monotheis63 Ein offenbar auch für die antike Historiographie faszinierendes Motiv, wie die umfangreiche Überlieferung (Ios. ant. Iud. 19,5 f.; Sen. brev. vit. 18,5; Suet. Cal. 19,3 und 32,1; Cass. Dio 59,17; Aur. Vict. Caes. 4,3; Aur. Vict. epit. Caes. 3,9) belegt. 64 Lapham / Nobile 2012, 67–74. Zu den kaum weniger esoterisch zu nennenden Interpretationsversuchen des Ereignisses in Teilen der Forschung siehe Barrett 22015, 291 f. 65 Lapham / Nobile 2012, 85 f.

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Abb. 2: Caligula als Parodie des Messias. Quelle: Bildgalerie von Caligula, © Avatar Press Inc.

tischen) Kaiserkultes einleitet (Abb. 2). Seine Maßnahmen sind ebenso willkürlich wie brutal, visuell kulminiert dies in dem schockierenden ‚Höhepunkt‘ von zu Hakenkreuzen drapierten Leichenteilen. 66 Mehr und mehr wird Felix klar, dass Caligula vor allem auf die Seelen der Getöteten aus ist, die er in einer Art Schatulle bewahrt. Felix gelingt es, die gesammelten Seelen zu rauben, woraufhin Soldaten der Palastgarde Caligula diesmal wirklich ermorden können. Im Anschluss deutet sich jedoch an, dass der Herrscher nur die jüngste Hülle für das eigentliche Monster war. 67 Hieraus erklärt sich nachträglich auch die einzige Anwandlung von Menschlichkeit, die Caligula jemals zeigt: Aus dem Schlaf aufgeschreckt

66 Lapham / Nobile 2012, 115–119; einzelne – bei Lapham / Nobile drastisch übersteigerte – Elemente der Judenverfolgung setzen dabei auf antiker Überlieferung auf, wie sie vor allem durch Phil. legat. ad Gaium und das bei Ios. ant. Iud. 19,5,2 überlieferte Urteil des Claudius geprägt wurde. 67 Lapham / Nobile 2012, 142–146.

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hatte der Kaiser kleinlaut den Schrecken seiner fremdbestimmten Existenz angedeutet und Felix gebeten, ihn durch Ermordung zu erlösen. 68 In Caligula. Heart of Rome geht die Erzählerrolle auf den Prätorianer Laurentius über, der selbst am Tod Caligulas beteiligt war und nun im Jahr 48 n. Chr. eine Reihe von Ritualmorden aufklären soll. Rasch erkennt er die Muster, die er einem offenbar weiter aktiven Dämon Caligula zuschreibt. 69 Agrippina fördert scheinbar seine Mission, da sie das Potential ihres Sohnes Nero erkennt, der im Inzest mit dem besessenen Bruder gezeugt wurde. Die Zukunft des Kindes hatte Caligula selbst gekennzeichnet, indem er der Schwangeren ein umgekehrtes Kruzifix in den Bauch geschnitten hatte. 70 Der eigentliche Dämon ist längst auf Felix und anschließend auf einen Gladiator namens Verraxis übergewechselt, die ihren Hass vorzugsweise an Christen auslassen. Auch am übrigen Hof agieren im Verborgenen verschiedene Dämonen. Deren Mächtigster hat Besitz vom jungen Nero ergriffen und leitet diesen zu einer noch unmenschlicheren Existenz als Caligula an. 71 Die Graphic Novels von Lapham und Nobile gehen jedoch noch einen Schritt über die bloße Reihung immer neuer Schrecken hinaus.

3.2. Das unsterbliche Monster Wie schon im ersten Band hat der Erzähler in Caligula. Heart of Rome zunehmend Schwierigkeiten, die realen Perversionen der Zeit und seine eigenen Wahnvorstellungen auseinanderzuhalten. Zwischenzeitlich verbündet sich Laurentius sogar mit Felix, der ihm das Geheimnis um das „Herz von Rom“ offenbart. Diese unterirdische Stätte hatte er während seiner eigenen Besessenheit aufgebaut und mit der Magie des Dämons Caligula dafür gesorgt, dass dort die seelenlosen Leichen seiner Opfer für weitere Schändungen zur Verfügung stehen. 72 In einer verzweifelten Aktion gelingen die Zerstörung des „Herzens“ und die Bergung der gefangenen Seelen; letztlich können sich Laurentius und Felix jedoch nicht gegen das Schicksal stemmen. 73 Neros Dämon geht über auf seinen Lehrer Seneca. Ein Mordanschlag Agrippinas auf ihren Sohn Nero offenbart, dass in ihm inzwischen der unsterbliche Caligula haust. Caligula/Nero kündigt 68 69 70 71 72 73

Lapham / Nobile 2012, 48 f. Lapham / Nobile 2013, 5–10. Lapham / Nobile 2013, 15–17. Eingeführt Lapham / Nobile 2013, 33 und 49 f. Lapham / Nobile 2013, 57–74. Lapham / Nobile 2013, 126–132.

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Abb. 3: Senecas Zögling Nero als alter und neuer Caligula. Quelle: Schlussseite von Caligula. Heart of Rome, © Avatar Press Inc.

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den Brand Roms an, und in wechselnden Bildern der beiden menschlichen Hüllen werden die zwei schlechten Kaiser auch optisch verschmolzen (Abb. 3). 74 Caligula und Caligula. Heart of Rome sind sich der Tradition des Verbundkaisers nur allzu bewusst und bezeugen zugleich, wie sehr sich diese verselbständigt hat. Im postmodernen Spiel mit den entsprechenden Narrativen übersteigern sie die Elemente bis zu einer dämonischen Seelenwanderung, obwohl manche Bezüge im Überschwang der exzessiven Gewaltund Sexdarstellung untergehen. Caligula als historische Figur hat an Kontur verloren. Caligula als Inbegriff des wahnsinnigen Bösen ist dagegen so präsent wie selten zuvor. Dessen ewige Existenz mag sich das Publikum bis in die Gegenwart verlängert vorstellen – auch wenn es dabei wohl eher die Logik moderner Horrorerzählungen im Sinn haben wird als Quiddes Ansatz eines wiederkehrenden ‚Caesarenwahnsinns‘. Caligula ist gerade in den letzten Jahrzehnten popkultureller Rezeption über die Rolle des schlechten Herrschers als Vorlage späterer ‚Schurkenkaiser‘ hinausgewachsen. Die Vermischung der Caligula- und Nero-Tradition, fast immer unter dem Namen des Ersteren, 75 ist dabei so etabliert, dass der Umstand selbst reflektiert werden und in die Tradition des Verbundkaisers eingehen kann. Caligula ist wirklich das „Bild des Cäsarenwahnsinns“, 76 der adaptionsoffene und weitgehend entindividualisierte Archetyp, das unsterbliche Monster.

4. Bibliographischer Anhang 4.1 Filme Caligola. Regie: T. Brass, G. Lui, B. Guccione. Italien / USA 1979. Cyclops. Regie: D. O’Brian. USA 2008. Demetrius and the Gladiators. Regie: D. Daves. USA 1954. Nerone e Poppea. Regie: P. Mattei, A. Passalia. Italien / Frankreich 1982. Ponzio Pilato. Regie: G.P. Callegari, Irving Rapper. Italien / Frankreich 1962. Quo vadis. Regie: M. LeRoy. USA 1951. The Robe. Regie: H. Koster. USA 1953. Xena: Warrior Princess. Episode 124 (The God You Know). Regie: G. Maxwell. USA 2001.

74 Lapham / Nobile 2013, 141–146. 75 Vgl. aber auch Nerone e Poppea mit Anm. 43. 76 Quidde 311926, 8 (s. o. S. 30).

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4.2 Literatur Babington, B. / Evans, P. W. 1993: Biblical Epics. Sacred Narrative in the Hollywood Cinema. Manchester. Barrett, A. A. 22015: Caligula. The Abuse of Power. Hoboken. Barton, T. 1994: The Invention of Nero. Suetonius. In: Elsner, J. / Masters, J. (Hgg.): Reflections of Nero. Culture, History and Representation. London, 48–63. Belton, J. 1992: Widescreen Cinema. Cambridge (MA). Bennett, A. 2015: ‚It’s Readable All Right, But It’s Not History‘. Robert Graves’s Claudius Novels and the Impossibility of Historical Fiction. In: Gibson, A. G. G. (Hg.): Robert Graves and the Classical Tradition. Oxford, 21–41. Carlà, F. 2014: Messalina und die anderen „Girls“. Römische Erotik im italienischen Comic. In: Ders. (Hg.): Caesar, Attila und Co. Comics und Antike. Darmstadt, 62–75. Douglas, L. C. 1999: The Robe. Boston. Edwards, C. 1994: Beware of Imitations. Theatre and the Subversion of Imperial Identity. In: Elsner, J. / Masters, J. (Hgg.): Reflections of Nero. Culture, History and Representation. London, 83–97. Elsner, J. 1994: Constructing Decadence. The Representation of Nero as Imperial Builder. In: Ders./Masters, J. (Hgg.): Reflections of Nero. Culture, History and Representation. London, 112–127. Gibson, A. G. G. 2015: Josef von Sternberg and the Cinematizing of I, Claudius. In: Ders. (Hg.): Robert Graves and the Classical Tradition. Oxford, 275–295. de Grazia, E. / Newman, R. K. 1982: Banned Films. Movies, Censors and the First Amendment. New York. Harrisson, J. 2017: I, Claudius and Ancient Rome as Televised Period Drama. In: Pomeroy, A. J. (Hg.): A Companion to Ancient Greece and Rome on Screen. Hoboken, 271–291. Hopkins, C. 1999: Robert Graves and the Historical Novel in the 1930s. In: Quinn, P. J. (Hg.): New Perspectives on Robert Graves. Selinsgrove, 128–135. Howard, William 1979: Gore Vidal’s Caligula. New York. Janka, M. 2002: Caligula als Filmstar in Gore Vidals Caligula (1980). Ein seriöser Beitrag zur Sueton-Rezeption? In: Korenjak, M. / Töchterle, K. (Hgg.): Pontes II. Antike im Film. Innsbruck (Comparanda, 5), 186–200. Keser, R. 2005: The Epic That Never Was. In: Senses of Cinema 35, URL: http://sensesofcinema . com / 2005 / cteq / epic _ that _ never _ was / (Zugriff am 13. 02. 2020). Keller, H. 1999: Römisches in den italienischen Fumetti. In: Lochman, T. (Hg.): „Antico-mix“. Antike in Comics. Basel, 125–141. Leonard, J. 2001: The Construction of Authenticity in the Claudius Novels. In: Gravesiana 2, 259–271. Lapham, D. / Nobile, G. 2012: Caligula. Rantoul. Lapham, D. / Nobile, G. 2013: Caligula. Heart of Rome. Rantoul. Lindner, M. 2007: Rom und seine Kaiser im Historienfilm. Frankfurt a. M. Lindner, M. 2013a: Power Beyond Measure. Caligula, Corruption and Pop Culture. In: Knippschild, S. / García Morcillo, M. (Hgg.): Seduction and Power. Antiquity in the Visual and Performing Arts. London, 211–223.

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Anja Wieber

Messalina im Film ‚Caesarinnenwahnsinn‘ als Lehrstück für Frauen?

1. ‚Caesarinnenwahnsinn‘? Antikfilme des epischen Genres präsentieren häufig altmodische Geschlechterbilder. 1 Viele der filmischen Erzählungen beruhen außerdem auf historischen Romanen des 19. Jahrhunderts mit den zeittypischen Gattungskonventionen. Dem antiken Helden steht meist eine Jungfrau gegenüber, die der Rettung bedarf oder den Helden seelisch rettet. 2 Eine eigenständig agierende Heldin stellt dagegen ein Paradox dar, besonders, wenn sie Macht ausübt: Sie wird dann allzu oft als korrumpiert, maßlos und grausam wahrgenommen. Das Konzept des ‚Caesarenwahnsinns‘, wie es im 19. Jahrhundert entstand, definierte den entfesselten Kaiser im Zentrum der Macht und sah Frauen eher als Teil der Hofentourage und somit als abhängig von der Herrschergunst oder sogar als Opfer von Nachstellungen. So findet man bei der Lektüre von Ludwig Quiddes Studie nur einen einzigen Beleg zum Stichwort Frauen, der da lautet: „[. . . ] So ergab er [= Caligula; Anm. d. Verf.] sich umso ungezügelter seinen Begierden, denen Frauen und Mädchen ohne Zahl zum Opfer fielen.“ 3 Caesonia, die vierte Ehefrau des Kaisers, wird nicht namentlich erwähnt, 4 ebenso wenig die Bezeichnung „Kai-

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Wieber-Scariot 1998; Wieber 2015, 225–235. Wieber 2002, 21–23. Quidde 2001, 50 (s. o. S. 41). Die einzige andere Erwähnung seiner Frau erfolgt ohne Namen und zeigt sie – wie eine ebenso genannte namenlose Geliebte – nur als Objekt der Begierden Caligulas: „Daß seine Mordlust als Geistesstörung aufzufassen ist, zeigen einige Geschichten, die uns überliefert sind, wie er seiner Gattin oder seiner Geliebten nicht den Hals küßte, ohne davon zu sprechen, daß dieser schöne Nacken, sobald er es befehle, durchschnitten werde.“ (Quidde 2001, 50 [s. o. S. 41]); dabei handelt es sich um eine Paraphrase einer Suetonstelle (Cal. 33), an deren Ende aber sehr wohl Caesonia namentlich genannt wird.

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serin“. 5 Interessanterweise macht Sueton, auf den sich Quidde in seinem Essay intensiv stützt, 6 gerade jene Caesonia für den Wahnsinn Caligulas verantwortlich, da sie ihrem Mann einen Liebestrank verabreicht habe, der diesen in den Irrsinn gestürzt habe. 7 Forscht man im Internet nach der Kombination ‚Caesarenwahnsinn‘ mit dem Wortfeld ‚Frau‘, so stößt man auf einen Tagebucheintrag des deutschen Offiziers und späteren Korrespondenten Hans Tröbst (1891– 1939) aus dem Jahre 1922, in dem der Schreiber die Welt der Ehe ablehnt und diese Ablehnung mit seinem während der Militärlaufbahn erworbenen „Caesarenwahnsinn“ begründet. 8 Dieser Fund belegt die Geläufigkeit des Begriffs auch nach 1900 und zugleich dessen Exklusivität als Metapher für einen männlichen Lebensentwurf, in dem Frauen kein Platz zukommt. Die Nicht-Erwähnung der antiken kaiserlichen Frauen in der Abhandlung Quiddes lässt sich schließlich als Symptom eines bürgerlichen Gesellschaftsmodells seiner Zeit lesen, in dem die Politik, eben auch die des römischen Kaiserhauses, nicht die Sache der Frauen ist. 9 Eine Suche nach ‚Caesarinnenwahnsinn‘ im Film wird somit zu einer Herausforderung im Umgang mit diversen Leerstellen und überdies mit antiken und modernen Vorurteilen. Mächtige Frauen werden oft als Störfall der Geschichte angesehen, als ‚Frauen, die Geschichten machen und nicht Geschichte‘. 10 Nun könnte man einwenden, dass gerade im 19. Jahrhundert die Vorstellung von der Existenz des Matriarchats, also des Mutterrechtes, aufkam, und deswegen doch Frauenherrschaft als Konzept bekannt war. In den evolutionistischen Modellen jener Zeit aber blieb die Frauenherrschaft 5 Laut Kienast 1990, 86, führte keine der Ehefrauen des Caligula (Iunia Claudilla, Cornelia Orestina, Lollia Paulina, Milonia Caesonia) den Augustatitel. 6 In insgesamt 79 Anm. wird Sueton in mehr als zwei Dritteln der Nachweise angeführt. 7 Suet. Cal. 50,2; zur Erklärung der Negativdarstellung bestimmter kaiserlicher Frauen bei Sueton als Konsequenz aus ihrer Verbindung mit einem „Tyrannen“ vgl. Riemer 2000, 153; Chong-Gossard 2010 sieht darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen schlechter Presse für die Mitglieder der julisch-claudischen Dynastie und der Propaganda einer vorbildlichen Kaiserfamilie der trajanisch-hadrianischen Epoche, deren Zeitgenosse Sueton war. 8 Seine Allüren und Verrücktheiten während der Kriegstage, in denen er als Offizier an der Ostfront relativ frei schaltete und waltete, vergleicht er mit Caracallas und Neros Verhalten; vgl. dazu den Abschnitt der Tagebücher, transkribiert durch den Enkel Mario Troebst: URL: https://www.facebook.com/permalink.php?id=155409274653977& story_fbid=170329556495282 (Zugriff am 03. 11. 2017). 9 Zu der Problematik der Kategorien „Privatheit“ und „Öffentlichkeit“ s. Wagner-Hasel 1988, 18, und dies. 2017, 118 f. 10 Vgl. etwa Otten (1957–1971), 105 unter dem Lemma „Frau bei den Hettitern“: „Die Königin hat nicht nur eine hervorragende Stellung im Kult, neben dem König [. . . ], sondern auch in der Politik [. . . ]. Vor Frauengeschichten im Palast wird in Instruktionen mehrfach gewarnt.“

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einer niedrigeren Zivilisationsstufe verbunden, die im höheren Patriarchat ihre Vollendung fand. Da man aber Griechenland und Rom einer entwickelten Kulturstufe zurechnete, verblieb die Frauenherrschaft gewissermaßen in ihrer Ur- und Frühgeschichte. 11 Ein erweitertes funktionales Verständnis von Herrschaft, das auch die faktische Verfügung über Ressourcen durch Frauen und ihre Fähigkeit, einen Konsens zwischen Regierten und Regierenden herzustellen, einschloss, 12 kannte das 19. Jahrhundert nicht, da wurde die Herrschaft staatsrechtlich und als an ein Amt gebunden definiert. Dieses Konzept impliziert eine strikte Trennung zwischen privatem und öffentlichem Bereich, die in der römischen Antike – das haben neuere Forschungen gezeigt – nicht greift. Gerade die Hofforschung, aber auch die antike Frauen- und Geschlechtergeschichte hat ergeben, dass vielmehr von einer Teilhabe der Frauen des Kaiserhauses an der politischen Kommunikation auszugehen ist. 13 Alleinregierende Kaiserinnen gab es im antiken Rom nicht. Worauf haben Schriftsteller und Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgegriffen bei der Auseinandersetzung mit den Frauen der römischen Kaiserfamilien? Es waren einerseits die antiken Quellen mit der wirkungsvollen Topik der bösen mächtigen Frau 14 und andererseits ihr zuweilen auch nicht konfliktfreies Verständnis der Geschlechterrollen ihrer eigenen Zeit um 1900 15. In jenen Diskursen, zu denen sowohl Romane als auch Arbeiten des Wissenschaftsbetriebs gehörten, verfestigten sich Bilder römischer Kaiserinnen, die bis heute noch nachwirken. Während die Forschung der letzten Jahre die antiken Quellen über den autokratischen Wahnsinn römischer Kaiser kritisch in den Blick genommen und deren politische Rhetorik dechiffriert hat, 16 findet ein vergleichbares Vorgehen 11 Wagner-Hasel 1992. 12 Wieber 2003. 13 Wieber-Scariot 1999, 43–72; Winterling 1997, 105–112; Hartmann 2010, 168–170; Wagner-Hasel 2017, 215 f.; Ginsburg 2006, 130 f., verweist auf den Zusammenhang von endogamer Heiratspraxis innerhalb der julisch-claudischen Kaiserfamilie und dem damit verbundenen Machtzuwachs der beteiligten Frauen des Kaiserhauses als Repräsentantinnen der Dynastie; s. auch Fagan 2002, 575. 14 Wieber-Scariot 1999, 44–46; 175–186; 325–337. 15 Wagner-Hasel 1988, 17; der Zusammenhang zwischen antiker Frauengeschichte und zeitgenössischer Geschlechterproblematik wird etwa deutlich bei Ferrero 31921, der in seiner Abhandlung über die römischen Kaiserinnen (ital. Original um 1910?, dazu Kunst 2009, Anm. 140) verschiedentlich auf seine Gegenwart eingeht und deren Geschichte als Lehrstück für die Moderne, die „Saturnalien der Weltgeschichte“ (34; vgl. auch 31 f.), sieht. Aus der Zeit um 1900 vgl. etwa die kritischen Stimmen gegen das Frauenstudium in Deutschland (Kirchhoff 1897, 183–190); in den entsprechenden Gutachten äußert sich von vier befragten Historikern nur einer positiv: Georg Busolt und Hans Delbrück, die beide in der Alten Geschichte forschten, waren gänzlich gegen Frauen in der Geschichtswissenschaft eingestellt. 16 Z. B. für Caligula Winterling 42012 und für Commodus Hekster 2002.

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seltener bei der Darstellung der antiken Herrscherinnen statt und bleibt dabei fast ganz auf wissenschaftliche Publikationen beschränkt. 17 Zu den Attraktionen des Antikfilms gehören deswegen nach wie vor rücksichtslose Herrscherinnen: Machtgierige Mütter 18, die ihren Söhnen den Weg zum Thron ebnen, und haltlose kaiserliche Ehefrauen, die ihre Macht zum eigenen Vergnügen ausnutzen. Aus der julisch-claudischen Dynastie haben sich als intrigante Mutter besonders Livia und als verworfene Gattinnen Messalina und Poppaea in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. 19 In diesem Aufsatz werde ich exemplarisch für die Frauen des Kaiserhauses in die Rezeptionsgeschichte der Kaiserin Messalina einführen und dann anhand zweier Verfilmungen, eines Filmfragments von 1937 und eines Films von 1960, der Frage nachgehen, ob und wie das Kino sich eines ‚Caesarinnenwahnsinns‘ annimmt. 20

2. Messalina – zwischen ‚femme fatale‘ und Sünderin 2.1. Die historische Messalina und ihr Nachleben Valeria Messalina, geboren um 20 n. Chr., war seit 39/40 die dritte Ehefrau des Kaisers Claudius und erfährt in der Rezeptionsgeschichte seit der Antike fast immer eine negative Bewertung. 21 Sie galt durch die Zeiten als herrschsüchtig, nymphomanisch, grausam und rücksichtslos. Als so eingängig hat sich das Bild der „kaiserlichen Hure“ (meretrix Augusta) und Ehebrecherin, 22 wie es die antiken Autoren, Tacitus und andere, gezeich17 S. o. Anm. 7 und Joshel 1995 = 1997; Wyke 2002; Hartmann 2010. Dagegen trägt ein Artikel (Haedecke 2011) in der Zeitschrift Antike Welt den Titel „Göttin oder Mörderin? Der zweifelhafte Ruf der römischen First Ladies“. Haedecke kommt darin trotz einiger Relativierungen des antiken Quellenwertes zu dem Fazit: „Meist zeigte sich aber, dass die Tendenz der charakterlichen Darstellung gar nicht so falsch war. Anders formuliert: wo von Rauch berichtet wurde, war auch Feuer.“ (12) Der Sachbuchautor Helmut Werner (URL: http://www.fembooks.de/Helmut-Werner [Zugriff am 03. 11. 2017]) wählt in seinem Buch „Tyranninnen“ (2010 = 2005) für das fünfte Kapitel die Überschrift „Blutrausch und Cäsarenwahn: Livia, Messalina und Agrippina“. 18 Als Beispiel für die Rehabilitation eines antiken Kaisers auf Kosten seiner weiblichen Angehörigen (nämlich der Mutter Agrippina und der Ehefrau Poppaea) sei auf die im Auftrag von ZDF und ARTE erstellte Fernsehdokumentation Nero – Legende eines Monsters (1997) verwiesen; s. Wieber 2005. 19 Zur Geschichte des Liviabildes Kunst 2009. 20 Zur filmischen und popkulturellen Inszenierung römischer Kaiser vgl. Lindner 2007, 140–189, sowie in diesem Band; zu Caligula im Film Lindner 2013, 216 f. 21 Simonis 2013. 22 Tac. ann. 11,12,2–3; 11,34,2; 11,36,4; 11,37,4; Plin. nat. 10,83,172; Iuv. 6,115–132; Cass. Dio 61,31,1 (= Exc. Val. 225, Xiphil. 143,16–31 R. St.; Zon. 11,10, p. 30,20–

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net haben, erwiesen, dass in der psychiatrischen Fachsprache der Begriff „Messalina-Komplex“ für Sexsucht benutzt wurde. 23 Hinter der Darstellung der sexuellen Hemmungslosigkeit Messalinas, ihrer Habgier 24 und Grausamkeit 25 verbergen sich jedoch in den antiken Texten politische Diskurse, die das Leiden der senatorischen Oberschicht am Verlust republikanischer Freiheiten und ihre Unterwerfung unter den Kaiser als „superpater“ 26 abbilden. Messalinas Maßlosigkeit wird somit einerseits zu einem Symbol der korrupten Kaiserherrschaft und belegt die Regierungsunfähigkeit des effeminierten Kaisers Claudius, der ihrem Tun nicht Einhalt gebieten kann. 27 Andererseits war jedwede Beziehung eines Nichtmitglieds der kaiserlichen Familie zu einer Frau aus dem Kaiserhaus nicht nur ein ‚simpler‘ Ehebruch, sondern stellte eine politische Bedrohung dar. 28 Der politische Kontext ist allerdings in der folgenden Rezeptionsgeschichte hinter der in den antiken Berichten angelegten Stereotypisierung 29 Messalinas als Verführerin zurückgetreten und selbst da, wo das Bild Messalinas mehrere Facetten 30 aufweist, etwa in der Charakterisierung ihres Handelns als von Rausch und gleichzeitig von Rationalität geprägt, gingen diese meist verloren.

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31,14 D.); nach den augusteischen Ehe- und Sittengesetzen sinkt die des Ehebruchs überführte Ehefrau in den Status einer Prostituierten herab (McGinn 1998, 147); das könnte ein Erklärungsmodell für die Darstellung der Ehebrecherin Messalina als Prostituierte sein. Simkin 2014, 24. Z. B. Tac. ann. 11,1–3: Messalina bemächtigt sich der lukullischen Gärten; die vielfach aufgeladene Bedeutung dieses Gartens als Symbol kaiserlicher Verfügung über Grünflächen, gleichzeitig aber auch als Ort des Luxus, der Unordnung im Kaiserhaus und der Transgression von Geschlechtergrenzen zeigt Katharine E. von Stackelberg 2009 auf: Messalina stirbt in dem Garten, für dessen Erwerb sie töten ließ (Tac. ann. 11,37 f.). Z. B. Cass. Dio 60,14. Späth 1994, 339–346. Joshel 1995 = 1997; Hartmann 2010, 158–172; Wyke 2002, 333 f.; unkritisch gegenüber den antiken Quellen: Herzog-Hauser / Wotke 1955; relativierend Eck 2002, 116– 133. Fagan 2002, 575–577, mit Verweis auf Tac. ann. 3,24,2: Augustus definiert den Ehebruch seiner Tochter und seiner Enkelin als „laesae religiones“ und „violata maiestas“, mit Vokabular aus dem Sakralrecht und einem Begriff für Hochverrat. Hartmann, 2010, 171, über die in den antiken Quellen übliche Stereotypisierung „machtpolitischen Handelns von Frauen“ (Verführung, Intrigen, Giftmord), (dessen) „Motivation [. . . ] dabei selten explizit als politische ausgewiesen, sondern in der Regel auf charakterliche Verderbtheit (Verschwendungssucht, Begierde, Sittenlosigkeit) zurückgeführt [wird]“. Hartmann 2010, 168; Mehl 1974, 64 f.; Kalkül und Energie („haud segniter intendit“) beweist die ansonsten als triebgesteuert beschriebene Messalina, als sie plant, ihren betrogenen Ehemann durch ein persönliches Treffen sowie durch die Hinzuziehung ihrer Kinder und ihrer Fürsprecherin, der Vestalin Vibidia, umzustimmen (Tac. ann. 11,32,2).

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In der Frühen Neuzeit entwickelt sich Messalina zur Heldin der Theaterbühne und der Oper, besonders beliebt ist sie als Opernheldin in Italien. 31 Seit dem 19. Jahrhundert gerät sie zu einer der Repräsentantinnen für den Frauentypus der ‚femme fatale‘, 32 der ruchlosen Frau, die über Männerleichen geht, und beherrscht besonders seit den 1920er-Jahren die Gattung historischer Romane unterschiedlichster Qualität. 33 Außerdem treffen wir sie im 20. Jahrhundert auch als zentrale Figur in pornographisch-erotischen Gattungen an: So erscheint sie als Serienheldin in 185 Heften der sogenannten schwarzen Comicserie Messalina, aus der für die 1960er- und 1970er-Jahre in Italien verbreiteten Gattung freizügiger Bildgeschichten für Erwachsene. 34 In eine ähnliche Richtung gehen auch die entsprechenden pornographischen Filme zu Messalina. 35

2.2. Kinofilme vor 1960 In der Filmwelt war Messalina 36 allerdings bereits seit Stummfilmtagen 37 eine beliebte Heldin, die ‚femme fatale‘ tritt nun in der Erscheinungsform 31 Heller 2003, 263–294. 32 Zur Ausgestaltung des Konstruktes der ‚femme fatale‘ als Abwehrgestus im Kontext von weiblichen Emanzipationsforderungen s. Stein 1985, 11–20; zu den französischen Romanciers des ausgehenden Fin de Siècle, die eine erotisch aufgeladene Messalinagestalt zur Personifikation römischer Dekadenz konstruieren, s. Simonis 2013, 680; zu den italienischen Theaterstücken, die eine ‚gezähmte‘ Messalina zugleich mit einer nationalen Agenda präsentierten, s. Wyke 2002, 335–343. 33 So etwa in den USA Vivian Crockett (1924); in Deutschland der zweiteilige Roman Heinrich Stadelmanns (1924), ferner Alfred Schirokauer (1927), oder noch im 21. Jh. Siegfried Obermaier (2004). Messalinaromane fallen seit der Taschenbuchära in der angloamerikanischen Welt in die Subgattung der „naughty-empress-books“ aus der Gattung „Toga porn“, dazu Renaud 2009, mit entsprechenden Abbildungen der Buchcover; Abbildungen bietet auch: URL: https://pulpcovers.com/ (Zugriff am 03. 11. 2017). 34 Carlà 2014, 62–68; 75; aktuell erscheinen in Frankreich vergleichbare Comics zu Messalina des bekannten Zeichners Jean-Yves Mitton; vgl. die Spendenaufrufe zum Druck des fünften Teils der Serie mit Auszügen aus der Bildergeschichte: URL: https:// fr.ulule.com/messalina-tome5/ (Zugriff am 03. 11. 2017). 35 Z. B. Messalina (The Virgin Queen), Italien 1996, Regie: Joe d’Amato. 36 Guter Überblick über die gesamte Filmgeschichte Messalinas bei Dumont 2009, 470– 477. 37 Messalina. The Fall of an Empress, Italien 1924, Regie: Enrico Guazzoni; dazu Wyke 2002, 343–349; 349 mit Verweis auf den Stummfilm Woman, USA 1918, Regie: Maurice Tourneur. Dieser Episodenfilm präsentiert in einer seiner Teilhandlungen das Ehepaar Claudius und Messalina – ein zeitgenössischer Rezensent schreibt über den Film: „The work is supposed to have some central idea, something to do with the place of woman in the history of mankind, which, it would seem, was one of ‚soul-warping slavery‘ until the war came as a great emancipator and released women for ‚glorious living and doing.‘ This somewhat romantic conception may seem poetry to some, and

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des Vamps auf. 38 In der Tonfilmzeit gehört Messalina zum Personal der Verfilmung der Claudius-Romane des viktorianisch-klassisch gebildeten Literaten Robert von Ranke Graves. 39 1937 sollte unter der Regie Josef von Sternbergs und produziert von Alexander Korda, der sich auf spektakuläre Historienfilme spezialisiert hatte und auf diesem Sektor Hollywood den Rang der führenden Filmindustrie streitig machen wollte, I, Claudius in den Denham Studios in England als Kinofilm entstehen. 40 Das Projekt kam jedoch aufgrund diverser Probleme zum Erliegen; 41 unter anderem gab es Spannungen zwischen dem Regisseur und dem Darsteller des Claudius, Charles Laughton. Hinzu kam ein schwerer Autounfall Merle Oberons, die Messalina verkörperte. Aus den überlieferten Aufnahmen wird deutlich, wie diese Rolle angelegt ist. Als strahlende Erscheinung mit exotischem Flair 42, begleitet von einer Schar junger, attraktiver Frauen, zieht sie, in vollem Bewusstsein ihrer Anziehungskraft, im Palast an dem ungelenken, in Bauernkleidung gewandeten Claudius vorbei, nicht ohne ihm ein paar prüfende Blicke zuzuwerfen. Er dagegen wartet, einem Bittsteller gleich, sitzend auf Einlass in das Gemach Caligulas (dieser – so erfahren wir im Anschluss von der herausstürmenden Kaiserin Caesonia – habe einen seiner Wahnsinnsanfälle). Claudius’ Blick begegnet dem Messalinas ein wenig schelmisch, sehnsüchtig schaut er ihr nach, die für ihn unerreichbar scheint. 43 In der nächsten erhaltenen Szene 44 erleben wir Claudius im kaiserlichen Speisesaal (?) und hören von einer soeben beendeten Tanzvorführung Messalinas. Damit ist Messalina in den Reigen der großen Verführerinnen eingeordnet, 45 unwillkürlich wird die Assoziation der Sa-

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silly twaddle to others, and ‚Woman‘ has little value as evidence for or against the basic truth of the idea.“ (zitiert nach URL: http://www.silentera.com/PSFL/data/W/ Woman1918.html [Zugriff am 03.11.17]). Zur filmischen Figur des Vamps s. Kracauer 1985 = 1939. Gibson 2015a. Wyke 2002, 361–363. Archivmaterial des Films fand jedoch Eingang in eine 1965 von der BBC gedrehte und von Dirk Bogarde moderierte Dokumentation unter dem Titel The Epic That Never Was (74 Min.); mir liegt eine 70 Min. lange Version unter den Special Features zu der 2002 von der BBC autorisierten DVD-Ausgabe der Fernsehserie I, Claudius (BBC 1976) vor. Merle Oberon war anglo-indisch-maorischer Herkunft (Spears 2016); ‚fremdländisch‘ waren aus der Riege der Messalinadarstellerinnen in den italienischen Filmprojekten auch noch Belinda Lee (GB) und Maria Félix (MX), vgl. Dumont 2009, 470; die mächtige Frau wird somit als Außenseiterin markiert. The Epic That Never Was (0:45). The Epic That Never Was (0:50–0:53). Oberon hatte bereits in mehreren Filmen Kordas mitgespielt, u. a. gab sie die als „englische Messalina“ bekannte Anne Boleyn (The Private Life of Henry VIII, GB 1933) und eine temperamentvolle Tänzerin namens Antonita in The Private Life of Don

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lome heraufbeschworen, die schließlich auch vor einem Herrscher ihren Tanz darbot. 46 Messalina steht nach ihrem Auftritt einer antiken Statue gleich, fast unberührt, während Claudius wieder zu ihr aufschaut, da er sie im Sitzen beobachtet (auf der Kline liegend?). Die Kamera wechselt geschickt zwischen den Gesichtern Caligulas (Emlyn Williams), Messalinas und Claudius’ und wir werden Zeugen einer von Caligula eingefädelten Hochzeit zwischen Messalina und Claudius, die der junge Kaiser als eine besondere Form des Todesurteils ausgibt: Der ältere Mann werde durch die Verheiratung mit einer sehr viel jüngeren, attraktiven Frau sterben. Dass Messalina und Claudius noch zu Lebzeiten Kaiser Caligulas eine wahrscheinlich politische Eheallianz eingegangen waren, die vor dem Hintergrund ihrer beiderseitigen Verwandtschaft zur julisch-claudischen Kaiserfamilie zu erklären ist, 47 deutet der Film zu einem Beispiel für Caligulas ‚Caesarenwahnsinn‘ um. Claudius wie Messalina werden hier zu Schachfiguren im Spiel des verrückten Kaisers. Die 1950er-Jahre widmen Messalina zwei Verfilmungen: 1951 den italienischen Film Messalina (Regie: Carmine Gallone) und den Folgefilm des Bibelfilms The Robe, nämlich Demetrius and the Gladiators (1954). 48

2.3. Messalina Venere Imperatrice Im Folgenden wenden wir uns der italienischen Verfilmung von 1959/1960 unter der Regie von Vittorio Cottafavi zu: Messalina Venere Imperatrice. 49 Cottafavi wird als Regisseur von Antikfilmen des Genres peplum 50 von Filmkritikern für seine Farbdramaturgie geschätzt 51 und

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Juan, GB 1934; vgl. dazu URL: http://www.tcm.com/tcmdb/title/87209/The-Private-Life-of-Don-Juan/ (Zugriff am 03. 11. 2017; aus Deutschland nicht zugänglich). 1939 heirateten Korda und Oberon (vgl. Spears 2016); Gibson 2015b, 284: „Sexual relationships of Byzantine intricacy formed a tangled thread running through the production – Riding / Graves, Oberon / Korda, Dietrich / von Sternberg, and Messalina / Claudius [. . . ]“. Luther 2010/2017. Eck 2002, 117. Wyke 2002, 363–380. Drehbuch Ennio de Concini, der als gefragter Autor u. a. auch viele Skripte des italienischen Peplumgenres verfasste (Lentz 2009, 105–106); mir liegt die dt.-engl. Version des Films aus der Reihe „Cinema Colossal“ (e-m-s Media o. J., 91 Min.) vor, aus der ich zitiere. Zur Gattung vgl. Pomeroy 2017. Vgl. den Schweizer Filmhistoriker Dumont 2009, 475, und den frz. Filmhistoriker und -kritiker Aknin 2009, 67, der Cottafavi unter die „grands auteurs du péplum italien“ rechnet; Pomeroy 2017, 150–153, verweist verschiedentlich auf den Film, benennt

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hat sich unter anderem mit Hercules-Verfilmungen 52 einen Namen gemacht. Die Darstellerin der Messalina ist die englische Schauspielerin Belinda Lee, 53 die in dieser Rolle als Rotschopf erscheint – Heldinnen mit roten Haaren traten ihren Siegeszug im Farbfilm an und galten oft als sündig, verführerisch, als Markenzeichen des widerspenstigen Frauentypus, der der Zähmung bedarf. 54 Deswegen wird Rot in den farbigen Antikfilmen geradezu zur Haarfarbe der lasterhaften Kaiserinnen. 55 Lee hatte nach ihrer Filmkarriere in Großbritannien wegen einer viel beachteten skandalumwitterten Liebesaffäre mit dem italienischen Prinzen Orsini – beide waren noch verheiratet gewesen – nach Italien gewechselt. In verschiedenen italienischen Antik- bzw. Historienfilmen wurde sie entsprechend rollenkonform als Aphrodite, Lucrezia Borgia, Messalina oder Wirtstochter besetzt, da sich ihre Verruchtheit mit dem Image der Dargestellten zur Deckung bringen ließ. Ebenfalls in diese Reihe passt ihre Rolle als Edelprostituierte Rosemarie Nitribitt in Die Wahrheit über Rosemarie (BRD 1959). Bereits die Kinoplakate kündigen es an, in effektvoll-seltsamer Perspektive und in Aufsicht auf die liegende Kaiserin – Messalina betreibt Boudoirpolitik. Alle Zweifel über die Natur des kaiserlichen Hofes beseitigt das Kinoposter: 56 Dieser Ort ist ein Sündenpfuhl. Der Film beginnt mit den für viele Monumentalfilme typischen Signalen, hergestellt mit einfachen Mitteln: Der zum Teil blutrote Vorhang 57 und die entsprechend pompöse, aber auch sentimentale Musik sind Metaphern für die theatralische Inszenierung der Ereignisse der römischen Kaiserzeit, in der auch eine Liebesgeschichte in Aussicht gestellt wird. Die sogenannte „voice of God“, der männliche sonore Sprecher aus dem Off, führt in die Filmhandlung ein: Demnach stellt Caligulas Tod den Auftakt

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seine komödiantischen Elemente und hebt die klassische Bildung des Regisseurs sowie des Drehbuchautors (z. B. Horaz-Zitat im Film) hervor. Vgl. dazu das entsprechende Schwerpunktthema des Filmmagazins: „Avant-Scène Cinéma“ (Aknin 2015) mit der Filmographie Cottafavis (55). Cave o. J. Die für ihre selbstbewussten Rollen, z. B. als Piratin, bekannte rothaarige Schauspielerin Mauren O’Hara trug den Spitznamen „Queen of Technicolor“ (O’Hara 2005, 93– 95). Zur Maske einiger Darstellerinnen der Messalina (fünf Rothaarige vs. drei Dunkelhaarige) s.: URL: http://www.themakeupgallery.info/period/rome/messalina/index. htm (Zugriff am 03. 11. 2017). Bei der Durchmusterung der weiteren Seiten dieses Internetauftritts (period makeups: Ancient Greece & Rome) zeigt sich, dass die Haarfarbe Rot eine wichtige Rolle für Darstellerinnen antiker Römerinnen spielt. Abbildungen unter: URL: http://www.benitomovieposter.com/catalog/messalina-venere-imperatrice-p-91526.html (Zugriff am 13. 02. 2020). Vgl. Shahabudin 2010, 106 f.

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zu einer blutigen Epoche der Machtkämpfe um den Thron und der allgemeinen Korruption dar, der die von Leidenschaft und Hass beherrschte Messalina ihren Stempel aufgeprägt habe. Interessanterweise enthält die englische Version des Vorspanns und Textes aus dem Off den Hinweis auf den Machtkampf zwischen Kaiserinnen und Kaisern. Das Bild, wie Blut eine Treppe herunterfließt und der kaiserliche Lorbeerkranz als Zeichen für den Umsturz zu Boden gerissen daliegt, hat das Publikum eben noch vor Augen. Nun sieht es sich unvermittelt einer weißgekleideten Frauengestalt in Rückansicht gegenüber. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Messalina dreht sich um, sie lädt zum Anblick ihrer Schönheit ein, sie trägt das Gewand einer Vestalin. Nun erfahren wir die Ungeheuerlichkeit: Sie ist alles andere als keusch, sondern gemeinsam mit ihrem Liebhaber Sulpicius plant sie ihre Verheiratung mit dem Kaiser Claudius – offensichtlich ist die Ermordung Caligulas von langer Hand vorbereitet (Abb. 1a+b).

Abb. 1a Machtkampf. Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

Abb. 1b Messalina als Vestalin. Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

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Antike Quellen wissen von all dem nichts, da ist Sulpicius Rufus zwar bekannt als einer der Mitwisser der späteren ‚Heirat‘ Messalinas mit Silius, aber Messalina war, wie oben dargelegt, schon vor Caligulas Tod mit Claudius verheiratet, als Vestapriesterin wird sie in der antiken Überlieferung nirgends bezeichnet. Die Heirat einer amtierenden Vestalin hätte allerdings in Rom einen kaum zu überbietenden sakralrechtlichen Skandal dargestellt; in eben diesem Sinne wird eine solche Hochzeit als Tat einem späteren ‚wahnsinnigen‘ Kaiser, Elagabal, angelastet und in den Katalog seiner unglaublichen Verbrechen eingereiht. 58 Die ahistorische Darstellung folgt also dem Zweck, Messalina in ihrer Monstrosität und als kühl kalkulierende Taktikerin darzustellen. Und so erklärt sich auch der Kunstgriff, Messalina als Vestalin zu präsentieren. Die Verbindungen, die sich historisch zwischen Messalina und den Vestalinnen herstellen lassen, beruhen zum einen auf der Tatsache, dass Messalina Cassius Dio zufolge im Jahre 43 das Privileg der Prohedrie erhielt und somit im Zirkus bei den Vestalinnen sitzen durfte. 59 Andererseits berichtet Tacitus davon, dass die Vestalin Vibidia zu einem späteren Zeitpunkt bei Claudius um Gnade für Messalina bittet, wenn auch letztendlich vergeblich. 60 Messalina gleich zu Beginn der Filmhandlung als Priesterin der Vesta einzuführen, verfolgt jedoch den Zweck, einen Kontrast zwischen ihrem Amt und ihrem Tun herzustellen, unter anderem auch durch die weiße Farbe ihrer Kleidung, die im Gegensatz zu dem vorher gezeigten und noch in Erwartung gestellten weiteren Blutvergießen steht. 61 Im Folgenden entwickelt sich eine Erzählung, die sämtliche Vorurteile über Messalina aufgreift und zu den bereits bekannten und ja auch durchaus umstrittenen Episoden ihres Lebens noch weitere hinzuerfindet. Wie im historischen Roman üblich, erhält die Hauptfigur einen fiktiven Liebespartner, es ist der junge Soldat Lucius Maximus, und eine Konkurrentin, die aufrechte junge Christin Silvia. 62 Nachdem wir Messalina als Vesta-

58 Zu Sulpicius Rufus: Tac. ann. 11,35,3; zu Elagabals Heirat mit der Vestalin Aquilia Severa vgl. Mekacher 2006, 190–192, sowie Meyer-Zwiffelhoffer, S. 210 in diesem Band. 59 Cass. Dio 60,22,2; Hahn 1994, 175; vgl. aber Mekacher 2006, 193 f., über die Nähe der Vestalinnen zum Kaiserhaus und die rituellen Pflichten der Vestalinnen bei Spielen zu Ehren diverser Gottheiten. 60 Tac. ann. 11,32,2 und 11,34,3. 61 Mekacher 2006, 48, über die weiße Kleidung der Vestalinnen; zur Statue einer Vestalin aus der Kaiserzeit im Vergleich zu der Abb. 1b oben vgl. URL: http://arachne.unikoeln.de/item/marbilder/3315788 (Zugriff am 14. 10. 2020). 62 Diese Erweiterung der Handlung um fiktionale Charaktere, die auf die Darstellung exemplarischen weiblichen (und männlichen) Verhaltens als Kontrastfolie zu Messalinas Verderbtheit zielt, findet sich auch schon in der Oper Messalina (Musik: Carlo Pallavicino / Text: Francesco Mario Piccioli, Venedig 1679); allerdings handelt es sich

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priesterin kennengelernt haben, erleben wir, wie sie einen weiteren Bewerber um ihre Hand, nämlich Gaius Silius, mit Hinweis auf ihren Dienst an der Vesta abweist. Kurz darauf lernt Messalina den jungen Centurio Lucius Maximus bei einem verbotenen Stelldichein kennen, und man verabredet sich für weitere Treffen. Da erreicht Messalina der Antrag des Kaisers, den sie erstaunlicherweise annehmen wird. Sulpicius hatte dem Kaiser geraten, sich erneut zu verheiraten. Auf des Claudius Frage: „Wer aber sollte so tugendhaft sein, einem alten Herrn wie mir noch die Treue zu halten?“ hatte Sulpicius zuvor Messalinas Namen ins Spiel gebracht – übrigens mit falscher Genealogie, denn tatsächlich war sie die Urgroßnichte des Augustus, nicht die Enkelin. Das allwissende Publikum kennt seit Beginn der Filmhandlung allerdings Messalinas Keuschheit als zweifelhaft, gerade wegen ihrer Bekanntschaft mit Sulpicius. Umso fragwürdiger wird diese Eigenschaft, da sie sich nun mit Lucius Maximus trifft (0:14) – ihr offenes Haar und der Umhang, der ihr bademantelgleich von den Schultern rutscht, sind trotz ihrer übrigen vollständigen Bekleidung zensurtaugliche Chiffren für die sich anbahnende sexuelle Vereinigung. 63 Im Italien jener Zeit, als die Kirche ja gleichzeitig oft Kinobesitzerin war, war derartiges Spiel mit der Illusion geboten. 64 Trotz ihrer Liebe zu dem jungen Centurio erwirkt Messalina bei ihrem Förderer Sulpicius dessen Abberufung nach Armenien, so dass ihrer Heirat mit dem Kaiser nichts mehr im Wege steht. Auf des Claudius Ausspruch hin, „Ab heute wirst du mit mir die Ehren und Lasten des Reiches teilen. Möge die Nachwelt dereinst über uns urteilen, dass wir dieser Macht würdig waren“, antwortet sie: „Die Nachwelt wird immer nur euch Männer wohlwollend beurteilen, nie uns Frauen. Sie baut dem Mann Altäre.“ (0:18). Als Sulpicius aber Messalina herumkommandieren will (0:21–0:22), da er sie ja auf den Thron gehoben habe, vergiftet sie ihn und ersticht ihn anschließend, um die Tat gegenüber dem Prätorianerpräfekten Lucius Geta als Verteidigung ihrer Ehre auszugeben. Darauf verschwören sich die Aristokraten und entsenden den jungen Marcellus 65 als Attentäter in den Palast. Anstatt die Kaiserin zu töten, lässt er sich verführen und wird am um zwei Paare neben Messalina, deren Wege sich durch allerlei Irrungen und crossdressing kreuzen, aber am Ende finden diese vier Personen zu ihrem rechten Partner; dazu Heller 2003, 277–279. 63 Auf Lucius’ spätere Bitte hin, sie möge auf ihn warten, gibt sie ihm zu verstehen, dass sie erst durch die sexuelle Vereinigung mit ihm begonnen habe zu existieren (0:17:20 – „Ich habe mit dir die erste Stunde meines Lebens verbracht.“). 64 Wieber 2002, 30. 65 Auch wenn das Cognomen ‚Marcellus‘ in der römischen Kaiserzeit vielfach belegt ist (die elektronische Datenbank der Prosopographia Imperii Romani [URL: http:// pir.bbaw.de (Zugriff am 05. 11. 2019)] kennt 82 Personen dieses Namens), bietet die Überlieferung zu keiner antiken Person hinreichende Anhaltspunkte, um anzuneh-

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nächsten Morgen dafür von der Wache hingerichtet (0:24–0:26). Messalina sucht die Senatoren auf, und das grausige Geschenk, den Kopf des Marcellus, serviert sie den Verschwörern auf einem Tablett. Diese fiktive Episode erinnert, auch auf der visuellen Ebene, an die Erzählung von Salome mit dem Haupt des Johannes. Vielfach rezipiert wurde diese Szene in Gemälden, wie etwa bei Bernardino Luini, 66 aber auch in Kleinformen des täglichen Gebrauchs, wie den Andachtsbildern seit dem Spätmittelalter, in denen insbesondere das silberne Tablett gezeigt wird (Abb. 2 a+b). 67 Durch diesen christlichen Subtext 68 ist auch die Messalina der 1960erJahre mit der verruchten Salome verbunden, sie wird ebenfalls zur Sünderin. Ihre Blutrünstigkeit kommt hier durch die rote Kleidung zum Ausdruck, die sie in dieser Szene anstelle der weißen trägt, und durch das Tuch zur Verhüllung des grausigen Geschenkes. Zu dieser Rolle als ‚femme fatale‘ passt auch Messalinas ahistorische Kinderlosigkeit, die sie mit vielen Filmheldinnen der Antike teilt – es ist, wie Diana Wenzel bei Kleopatra

Abb. 2a: Opfer Messalinas. Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

men, dass sie für den Marcellus der hier besprochenen Szene Vorlage gewesen sein könnte. Vielleicht geht dieser Name, wie des Öfteren bei Produktionen jener Zeit, auf modernen Namensgebrauch zurück („Marcello“). 66 Zu dem Gemälde aus der Zeit um 1525/1530 s. die Objektdatenbank des Kunsthistorischen Museums Wien: URL: https://www.khm.at/objektdb/detail/2544/ (Zugriff am 03. 11. 2017). 67 Luther 2010/2017. 68 Andere christliche Subtexte dieses Films: „Die Sünde ist eine Erfindung der Heiligen“ – so lautet der Ausspruch des Lucius, als Messalina ihn auf ihr Priesterinnenamt hinweist (0:13); ebenfalls katholisch mutet es an, wenn Lucius nach seiner Rückkehr nicht glaubt, dass Valeria den „Schleier der Vesta“ genommen habe (0:29), als ob sie vorher Novizin gewesen wäre.

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Abb. 2b: Salome mit dem Kopf Johannes des Täufers. Quelle: Bernardo Luini, ca. 1525/30; Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie 190.

herausgearbeitet hat, die mirakulöse Macht der ‚femme fatale‘ über ihre Reproduktionsfähigkeit. 69 Einige Zeit später kehrt Lucius Maximus aus dem Osten zurück. Zuerst sucht er vergeblich nach Messalina, die ihn dann aber in seinem Haus mit einem gekonnten Striptease empfängt und dem verliebten Centurio ohne nähere Erläuterung andeutet, dass sie eine Vergangenheit habe. Als Lucius Maximus dann völlig ahnungslos in den Palast eilt, um einen Streit zwischen seinem Freund Aulus Celsus und dem Prätorianerpräfekten Lucius Geta vor höherer Instanz zur Schlichtung zu bringen, erhält er eine Audienz bei der von ihm nicht als Kaiserin erkannten Geliebten. Der Streit der Freunde hat sich an einem Befehl der Kaiserin entzündet (0:37), den Geta ausführte, nämlich die Räumung eines christlichen Dorfes (0:40:30– 0:43). Die Begegnung im Palast zeigt, dass Lucius Wachs in den Händen der Kaiserin ist. Ohne so offensiv zu sein wie spätere Versionen, spielt die Filmszene mit allen Klischees der Verführungskünste, besonders dem 69 Wenzel 2005, 80; Ferrero 31921, 33, rechnet in seinen einleitenden Kapiteln zu den röm. Kaiserfrauen „gewollte Unfruchtbarkeit“ zu den zersetzenden Kräften einer Epoche.

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Abb. 3: Messalina im Bade. Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

durchsichtigen Vorhang und dem Bade, dessen erotische Aufladung bereits seit den frühen Stummfilmtagen zur Charakterisierung skandalumwitterter Heroinen der Antike, besonders der Ehebrecherinnen, 70 genutzt wird (Abb. 3). Später sehen wir Messalina sogar à la Kleopatra in Eselsmilch baden, und der sozial disziplinierte Lucius wird zu ihrem Badediener, der ihr das Handtuch reicht (0:51). Solcherart beeinflusst führt Lucius auch den Befehl der Kaiserin aus, die christlichen Hütten niederzubrennen. Dadurch wolle Messalina Land für die Veteranenversorgung gewinnen, wie wir vorher nur beiläufig in der Verführungsszene erfahren haben (0:43). Später werden wir allerdings, entsprechend den antiken Vorwürfen von der Habgier Messalinas, beobachten, wie ein Agent im Auftrag der Kaiserin, deren Name aber nicht genannt werden solle, das Gelände begutachtet, um es zur Errichtung eines Parks mit Villa zu nutzen (1:00). Zurück zu dem Auftrag des jungen Liebhabers: Als er nun das christliche Dorf anzünden lässt, kommt es zur Konfrontation mit dem herbeigeeilten Freund Aulus Celsus. Nur das Eingreifen der jungen Christin Silvia, der Wortführerin der Vertriebenen, kann Lucius daran hindern, den Freund Aulus Celsus für die verbalen Angriffe auf Messalina mit dem Tode zu bestrafen. Silvia: ‚Messalina – warum werden solche Frauen wie sie (= Messalina, Anm. d. Verf.) nur geboren?‘ Aulus Celsus: ‚Sie sind die Früchte unserer Zeit, wenn Menschen wie Vieh gehalten werden und ihr Leben nichts mehr wert ist, herrschen Frauen wie Messalina.‘ (0:50) 70 Zu Helena im Bade vgl. Wieber 2008, 146 und 151; zur Parodie des Topos der in Eselsmilch badenden Kleopatra in Carry on Cleo (GB 1964) vgl. Wenzel 2005, 114.

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Schnell wird klar, dass diese junge Frau, die zwar auch rote Haare hat, allerdings in einem züchtigen Zopf geflochten, als Gegenmodell zu Messalina konzipiert ist. Und schon kurze Zeit später zieht sie als Hauskraft bei Lucius ein, nachdem er ihr Haus abgebrannt hat (0:53). Silvia ist zwar mutig und führt ihr eigenes Wort, aber verhält sich doch häuslich und fügsam: Für das zeitgenössische Kinopublikum entspricht dieser Frauentyp auch noch 15 Jahre nach Kriegsende dem Ideal der ‚Frau im Wartestand‘, die geduldig der Rückkehr ‚ihres‘ Soldaten harrt, wie auch in einer späteren Szene angedeutet wird (1:13). Als Silvia in einer Konfrontation mit der Kaiserin ihren Anspruch auf Lucius erhoben hat, muss dieser sie in einer abenteuerlichen Aktion vor dem Zugriff der Soldaten Messalinas retten und sie reiten davon – da sagt Silvia: „Für eine Frau ist Liebe alles.“ (1:12) und macht ihm quasi einen Heiratsantrag, von dem er vorerst nichts wissen will. In der Tragödie der politischen Wirrungen hat Messalina mit ihren üblichen Mitteln und falschen Versprechungen den Prätorianerpräfekten Lucius Geta dazu gebracht, ihren Gegner Aulus Celsus zu töten und den Mord zu vertuschen (0:58–0:59). Von seinem schlechten Gewissen geplagt nimmt Geta Gift und schleppt sich nun zu Lucius Maximus, um ihn über die Ränke Messalinas zu informieren (1:01–1:02). Da kommen auch in dem jungen Liebhaber Zweifel an der Kaiserin auf, und er will den Leichnam des Freundes bei ihr abliefern. Aber der Freigelassene Narcissus übernimmt das und setzt die Kaiserin mit dem Leichnam unter Druck (1:04– 1:05). Daraufhin sucht Messalina (in weißem Gewand) ihren Ehemann auf, der sie gegen die Beleidigungen des Narcissus schützen solle. Während Messalina eine Revolte des Adels wähnt, sieht Claudius als einzige Lösung abzudanken (1:06). Da sie aber nicht, wie sie sagt, auf „Thron und Reich“ verzichten wolle, wendet sie sich – diesmal in Schwarz gekleidet, im Vorgriff auf die Witwenschaft (?) – an ihren bisherigen Gegner Silius, den sie aufsucht, um ihm ein Bündnis und die Kontrolle über Rom anzutragen, da Claudius sich nach Capri zurückziehe: Gemeinsam planen sie nun die Ermordung des Claudius (1:05–1:08:30; Abb. 4). Ohne Kenntnis der Historie weiß der Zuschauer bereits an diesem Punkt, dass die todbringende Messalina selbst untergehen wird und dass das zu erwartende Happy-End von den beiden (fiktiven) Protagonisten Lucius und Silvia zu leisten ist. Ob nun die Verbindung zwischen Silius und Messalina einen realen politischen Hintergrund hatte, dazu gibt es sehr kontroverse Meinungen in der Forschung. 71 In diesem Film gestaltet

71 Meise 1969, 123–169; Joshel 1995 = 1997; Eck 2002, 128–133; Fagan 2002; Cenerini 2010.

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Abb. 4: Messalina in ‚Trauerkleidung‘ Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

sich die Logik so, dass Messalina und Silius glauben, den Kaiser bereits umgebracht zu haben (1:23; was sich bald aber als Finte herausstellt), und deswegen besiegeln sie ihren Pakt mit einer bacchanalischen Feier. Damit rationalisiert die Filmhandlung an diesem Punkt das Verhalten und stellt das leidenschaftslose Agieren des Paares in Gegensatz zu dem Bericht des Tacitus, der gerade beider Leidenschaft betont, keinen Grund für die ausgelassene Feier nennt, die Attentatspläne umschreibt, dafür aber die Eheschließung als bewussten Akt der Bigamie bezeichnet, der gerade Messalina gereizt habe. 72 Das Komplott wird aber verhindert durch Lucius Maximus und den Freigelassenen Narcissus – dieser tötet dann die Kaiserin, die ihn stolz dazu auffordert und mit ihren letzten Worten dem mitleidenden Lucius ihre wahre Liebe gesteht. So scheint schlussendlich noch in Messalinas Gefühlswelt noch das Konzept der romantischen Liebe auf. 73 Narcissus kommentiert ihren Tod: „Sie hat sterben müssen, damit Rom leben kann.“ (1:28:19) Tatsächlich stirbt die Kaiserin, wie sie regiert hat – im Liegen, denn dort, auf eines der Speisesofas, hat Lucius sie hingebettet (Abb. 5). Ein zeitgenössisches Kinoprogrammheft fasst das Filmende so zusammen: Das römische Weltreich ist gerettet. Aber Lucius Maximus, der gefeierte und ausgezeichnete Held der Legionen, zieht es vor, Rom zu verlassen. Gemeinsam mit Sylvia [sic!] und deren christlichen Mitbürgern macht er sich auf den Weg in ein friedlicheres Land [an anderer Stelle im Film = Insel im Mittelmeer,

72 Tac. ann. 11,26; 11,12,1: Charakterisierung der Gefühle Messalinas zu Silius als eine neue, an Wahnsinn grenzende Liebesleidenschaft („novo et furori proximo amore“). 73 Im Gegensatz dazu scheitert Messalina im Bericht des Tacitus (ann. 11,37 f.) am Selbstmord und wird von einem Tribun erstochen.

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Abb. 5: Messalinas Ende. Quelle: Screenshot Messalina Venere Imperatrice, Regie: Cottafavi, 1959/60.

1:12; Hinzufg. d. Verf.], wo es keine Korruption gibt und sie in Ruhe ein glückliches Leben führen können. 74

Die gute Frau, der Marientyp, um mit dem christlichen Subtext zu sprechen, erhält den Ehemann. Die gestörte Ordnung ist durch den Tod der Herrscherin wiederhergestellt, ohne dass das Publikum zuvor auf erotische Schauwerte verzichten musste. Eine originellere Inszenierung der Messalina lag nicht in der Absicht des Regisseurs, der über Messalina sagt, sie habe, ohne Intelligenz, mit den Waffen einer Frau Macht angestrebt. 75 Zu der aus dem Chaos befreiten Filmwelt gehören aber in jeder Weise anständige, beherrschte Frauen, die sich fügen unter ihren Ehemann und unter die Sitten und Bräuche ihrer Gesellschaft, aufgehoben in einer christlichen Ehe. Lucius und Silvia und ihre Mitbürger gehen dieser neuen Zukunft unter Hallelujah- und Ave-Maria-Gesang entgegen und entlassen mit diesem Filmende ein beruhigtes Publikum (1:29–1:30).

74 „Illustrierte Film-Bühne“ o. J., Nr. 5313; zu den verschiedenen Programmserien vgl. URL: http://www.rudolfbenda.de/ (Zugriff am 03. 11. 2017). 75 Vgl. Interview von 1983 mit Cottafavi (L’avant scène cinéma, 13, wie Anm. 52): „Parce que l’histoire de Méssaline était répétitive, comme celle de tous les personnages qui ne sont pas très intelligents, qui n’ont qu’ une seule idée. Pour Méssaline, c’est la conquête et la détention du pouvoir à travers le sexe.“

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3. Fazit Die filmische Rezeption der Kaiserin Messalina folgt den Vorgaben der antiken Quellen, erweitert die Darstellung der entfesselten Kaiserin aber um Elemente anderer medialer Gattungen (z. B. Oper und Malerei) oder Wertesysteme (Christentum). Der Filmausschnitt aus den 1930er-Jahren setzt auf Exotisierung und Erotisierung Messalinas, zeigt sie aber – wie ihren Mann Claudius – als Schachfigur im Spiel des noch amtierenden wahnsinnigen Kaisers Caligula. Der Film von 1960 betont neben dem Bild der erotischen Verführerin zudem noch den Aspekt der Grausamkeit und Habgier, rationalisiert aber gegenüber den antiken Quellen das Handeln der Kaiserin, die ihre wahren Gefühle dem Ehrgeiz opfert. Ausdrücklicher als in der Antike wird dabei Messalinas Wille zur Macht geschildert. Entgegen dem Konzept des quiddeschen ‚Caesarenwahns‘ wird sie nicht als Opfer sexueller Nachstellungen eines Kaisers, sondern als unabhängige Akteurin dargestellt, die die Männer kraft ihrer deutlich (für ihr filmisches Gegenüber und das Filmpublikum) inszenierten Sexualität dirigiert. Anders als bei den entfesselten Kaisern der Filmwelt wirkt ihr Handeln nicht größenwahnsinnig, und selbst da, wo sie über Männer verfügt, geschieht das nicht um des reinen Vergnügens willen, sondern um ihre Ziele durchzusetzen. Wenn es im Film von 1960 an einer Stelle heißt „Hüte dich vor Messalina, wenn du den Tag der Freiheit erleben willst!“ (0:46), dann wird zwar die Assoziation einer Tyrannin heraufbeschworen. Insgesamt erfährt die antike Figur aber weit mehr eine Annäherung an die christliche ‚femme fatale‘ Salome – so hat die Film-Messalina angeblich den gesamten Hof verzaubert (0:45) – und verkörpert ebenso wie diese Eros und Thanatos. 76 In den 1960er-Jahren kann sie dementsprechend – wie um 1900 – 77 als warnendes Beispiel für weibliches Fehlverhalten gelesen werden. Inwieweit spätere Verfilmungen und besonders Fernsehformate Messalinas Agieren anders, stärker im Sinne eines ‚Caesarinnenwahns‘, akzentuieren oder aus dem christlichen Rahmen fallen lassen, d. h. säkularisieren, bietet Raum für weitere Untersuchungen. 78

76 Luther 2010/2017. 77 Vgl. oben Anm. 15 (Ferrero) und 32 (Stein). 78 Zu Messalina in der Fernsehserie I, Claudius vgl. Wyke 2002, 380–390; eine umfassendere Untersuchung Messalinas in weiteren Verfilmungen steht noch aus.

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4. Bibliographischer Anhang 4.1 Filme, Serien und Dokumentationen Carry on Cleo. Regie: G. Thomas. Großbritannien 1964. Demetrius and the Gladiators. Regie: D. Daves. USA 1954. Die Wahrheit über Rosemarie. Regie: R. Jugert. BRD 1959. I, Claudius. Regie: H. Wise . BBC Two London 1976. I, Claudius (Filmfragment). Regie: J. von Sternberg. USA 1937. Messalina. Regie: C. Gallone. Frankreich / Italien / Spanien 1951. Messalina. The Fall of an Empress. Regie: E. Guazzoni. Italien 1924. Messalina (The Virgin Queen). Regie: J. d’Amato. Italien 1996. Messalina, Venere Imperatrice. Regie: V. Cottafavi. Italien 1959/60. The Epic That Never Was. Produktion: B. Duncalf. BBC TV 1965. Woman. Regie: M. Tourneur. USA 1918. Sphinx – Nero. Legende eines Monsters. Regie: M. Papirowski / N. Koshofer. ARTE/ZDF 1997.

4.2 Literatur Aknin, L. 2009: Le péplum. Paris. Aknin, L. (coord.) 2015: Hercule à la conquête de l’Atlantide de Vittorio Cottafavi. In: Avant-Scène Cinéma 622, 4–111. Cave, D. o. J.: Belinda Lee. In: BFI Screenonline o. J. URL: http://www.screenonline. org.uk/people/id/1223118/ (Zugriff am 03. 11. 2017). Carlà, F. 2014: Messalina und die anderen „Girls“. Römische Erotik im italienischen Comic. In: Ders. (Hg.): Caesar, Attila und Co. Comics und die Antike. Darmstadt, 62–75. Cenerini, F. 2010: Messalina e il suo matrimonio con C. Silio. In: Kolb, A. (Hg.): Augustae. Machtbewusste Frauen am römischen Kaiserhof? Akten der Tagung in Zürich 18.–20. 9. 2008. Berlin (Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis, 2), 179–191. Chong-Gossard, J. H. K. O. 2010: Who Slept with Whom in the Roman Empire? Women, Sex, and Scandal in Suetonius’ Caesares. In: Turner, A. J./ChongGossard, J. H. K. O./Vervaet, F. J. (Hgg.): Private and Public Lies. The Discourse of Despotism and Deceit in the Graeco-Roman World. Leiden / Boston, 295–327. Dumont, H. 2009: L’Antiquité au cinéma. Vérités, légendes et manipulations. Paris. Eck, W. 2002: Die iulisch-claudische Familie. Frauen neben Caligula, Claudius und Nero. In: Temporini-Gräfin Vitzthum, H. (Hg.): Die Kaiserinnen Roms. Von Livia bis Theodora. München, 103–163. Fagan, G. G. 2002: Messalina’s Folly. In: The Classical Quarterly 52, 566–579. Ferrero, G. 31921: Die Frauen der Cäsaren. Stuttgart. Gibson, A. G. G. (Hg.) 2015a: Robert Graves and the Classical Tradition. Oxford. Gibson, A. G. G. 2015b: Josef von Sternberg and the Cinematizing of I, Claudius. In: Ders. (Hg.): Robert Graves and the Classical Tradition. Oxford, 275–295.

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„Caesar aut Nihil“? Alexander VI. Borgia zwischen Caesaropapismus und Größenwahn Die grosse, bleibende und wachsende Gefahr für das Pontifikat lag in Alexander selbst und vor allem in seinem Sohne Cesare Borgia. In dem Vater waren Herrschbegier, Habsucht und Wollust mit einem starken und glänzenden Naturell verbunden. Was irgend zum Genuß von Macht und Wohlleben gehört, das gönnte er sich vom ersten Tage an im weitesten Umfang. In den Mitteln zu diesem Zwecke erscheint er sogleich völlig unbedenklich [. . . ]. Wem aber die Borgia mit offener Gewalt nicht beikamen, der unterlag ihrem Gift. Für diejenigen Fälle, wo einige Diskretion nötig schien, wurde jenes schneeweisse, angenehm schmeckende Pulver gebraucht, welches nicht blitzschnell, sondern allmählich wirkte [. . . ] Es fing an, um den Papst herum nicht mehr recht geheuer zu werden. 1

Düstere und zum Teil obszöne Geschichten über Papst Alexander VI., die Borgia und seinen Hof sind Legende und als solche von Jahrhundert zu Jahrhundert neu geschrieben worden – ganz dem Bedarf folgend, nach dem die jeweilige Zeit die Ereignisse des Borgia-Pontifikats deuten wollte. 2 Entsprechend zahlreich sind Untersuchungen und literarische Adaptionen des Borgia-Stoffes, deren bloße Aufzählung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. 3 Schließlich ist es nicht dessen literarische, sondern seine filmische Adaption, das dort entworfene Bild Alexanders VI., das im Folgenden anhand weniger Beispiele aus den Genres Film und Serie in den Vordergrund rücken wird. Konkret soll dabei der Frage nach der Wirkmacht und Anschlussfähigkeit der von Ludwig Quidde geprägten 1 Burckhardt 122009, 92–96. 2 Zur Borgia-Legende in zeitgenössischen Dokumenten siehe Schüller-Piroli 1982, 13– 35. 3 Zur Rezeption des Borgia-Mythos in der Literatur siehe Hermann-Röttgen 1992, die Auswahl im Katalogteil bei Schraut 1992, 147–162 sowie Wolfzettel [2014].

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Topik des ‚Caesarenwahns‘ nachgegangen werden. Lassen sich bei der Darstellung Alexanders VI. in ausgewählten filmischen Darstellungen die nach Quidde typischen Ausprägungen des ‚Caesarenwahns‘ identifizieren? Und falls ja, rekurrieren die Filmemacher tatsächlich auf die CaligulaStudie oder greifen sie nicht vielmehr Motive auf, die schon vorher, also vor Quidde, zum Tragen kamen? Der eingangs zitierte Auszug aus Jacob Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien scheint auf Letzteres hinzuweisen, erschien das Werk doch erstmals 1860 und damit rund ein Vierteljahrhundert vor Quiddes Studie. Mit Nachdruck sei auch auf die – selbstverständlich nie wertfreien – Berichte von Alexanders Zeitgenossen und seiner unmittelbaren Nachwelt hingewiesen. Gerade die wichtigste Quelle zum Pontifikat des Borgia-Papstes, der Liber notarum von dessen Zeremonienmeister Johannes Burckhard, diente als Grundlage für die ungeheuren Anschuldigungen, die seit jeher gegen Alexander VI. erhoben wurden. Auch wenn Burckhards Berichte nicht immer ganz zuverlässig sind, so liefern sie doch den Stoff, aus dem in den folgenden Jahrhunderten der Mythos Borgia gesponnen wurde. Zu ihm gehören Geschichten von Gewalt, Furcht und Normüberschreitungen im Vatikan, die in unterschiedlichen Versionen das Bild vom wahnhaften Monarchen, der über die Kirche wie über deren weltlichen Besitz nach Belieben verfügte, zu malen scheinen. Eine Art Zusammenfassung aller Vorwürfe an den Papst liefert der durch Burckhard überlieferte sogenannte ‚Savelli-Brief‘. Es handelt sich um ein anonymes Schreiben aus Rom an den am Kaiserhof Maximilians I. im Exil lebenden Baron Silvio Savelli, dessen Inhalt sich unter den Zeitgenossen rasend schnell verbreitete und an den Höfen Europas zirkulierte. Die dort erhobenen Vorwürfe lesen sich wie ein Who-is-Who der Sündhaftigkeit. 4 Im Kontext der Frage nach dem prägenden Einfluss der Topik vom ‚Caesarenwahn‘ auf die Alexander-Rezeption ist der SavelliBrief aber aus einem anderen Grund zentral: Datiert auf den 15. November 1501 stellt er das erste Beispiel dafür dar, dass Alexander wegen seiner Verfehlungen mit Nero und Caligula in einem Atemzug genannt wird. Keine Schandtat gebe es mehr, so heißt es dort, die in Rom nicht öffentlich oder im Haus des Papstes selber begangen werde, ja dass er selbst Nero und Caligula an Scheußlichkeit und Grausamkeit übertreffe. 5 Hat man Quiddes Caligula-Studie vor Augen, so sind die von ihm benannten Ausprägungen des ‚Caesarenwahns‘ aber auch über den SavelliBrief hinaus ein fester Bestandteil der Borgia-Geschichten: So finden sich 4 Burckard 1911, 312–315. 5 Burckard 1911, 313: „Nihil esse jam scelerum aut flagitiorum quod non Rome publice et in pontificis domo committatur; superatos esse Scythas, Penos perfidia, immanitate et sevitia Nerones et Caios.“

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Beispiele für Luxus und Verschwendungssucht, Allmachtsphantasien, den gnadenlosen Einsatz von Furcht als Herrschaftsmittel und den Glauben an ein besonderes Verhältnis der Borgia zu Gott, ja den Wahn, selbst göttlicher Verehrung würdig zu sein und somit über Recht und Sitten zu stehen. Exemplarisch, ja rein willkürlich sei an dieser Stelle auf eine Beschreibung der Krönung Alexanders zum Papst verwiesen. Rom, so ein zeitgenössischer Zeuge, sei von Inschriften wie „Rom war groß unter Caesar, unter Alexander VI. ist es weit größer. Jener war sterblich, dieser ist Gott“ 6 geschmückt gewesen. Damit überschritt Alexander VI. das Maß des bei Papstwahlen Üblichen bei Weitem, was ihm auch nördlich der Alpen den Vorwurf der Hybris zubrachte. In der Vorrede zum 1525 erstmals gedruckten „Von warem und valschem Glauben“ nahm kein anderer als Huldrych Zwingli auf diese Götzendienerei für Alexander VI. Bezug. 7 Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an Studien zur vielfältigen historiographischen und literarischen Verarbeitung des Borgia-Stoffes an, wobei die Frage nach dem ‚Caesarenwahn‘ dort explizit bisher keine Rolle gespielt hat. Gleich ob man den Blick auf Schilderungen von Zeitgenossen wie Johannes Burckhard, Niccolò Machiavelli, Francesco Guicciardini, Pietro Bembo oder Torquato Tasso richtet, von Victor Hugo über Friedrich Nietzsche über Klabund bis zu Autoren zeitgenössischer Trivialliteratur: Wenn auch nicht ausgesprochen, so lässt sich der Topos des grausamen und sündhaften Monarchen in unterschiedlichen Ausprägungen ohne große Mühe erkennen. Ein so allgemeiner Befund darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Schwerpunktsetzungen bei der Konstruktion eines Borgia-Bildes über die Jahrhunderte stark veränderten. Während unter Alexanders Zeitgenossen und seiner unmittelbaren Nachwelt der geradezu faustische Stoff des Teufelspakts, der satanischen Einflussnahme auf die Regierung, dominierte 8, beschrieb Tomaso Tomasi den Vatikan im 17. Jahrhundert als einen absolutistischen Hof voller Mätressen 9. Im 18. Jahrhundert waren es die Schriften Voltaires, die Alexander zur Antifigur der Aufklärung erhoben: Gewalt, Skrupellosigkeit und Allmacht spielten bei ihm eine zentrale Rolle. Im 17. Brief Amabeds etwa wird Alexander als skrupelloser Mörder beschrieben: „Il fasait assassiner, pendre, noyer, empoissonner impunément tous les seigneurs ses voisins“ 10, urteilt Voltaire, der den Papst schließlich im Essai sur les mœurs

6 Burckard 1911, 172: „Cesare magna fuit nunc Roma est maxima: Sextus Regnat Alexander: ille vir: iste Deus.“ 7 Zwingli 1526, unpaginiert. 8 Dazu Schüller-Piroli 1982, 13–16. 9 Tomasi 1670. Dazu Herrmann-Röttgen 1992, 68–72. 10 Voltaire 1829b, 263.

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(wie es schon der Savelli-Brief tat) mit Caligula und Nero verglich, dabei aber betonte, dass seine Vergehen wegen der Heiligkeit seines Amtes im direkten Vergleich noch schwerer wogen. 11 Im Sturm und Drang verkehrte Maximilian Klinger das Alexander-Bild dann ins Groteske, indem er den päpstlichen Hof in Faust’s Leben, Taten und Höllenfahrt als von Sündhaftigkeit zerfressenen Pfuhl inszenierte, in dem der Teufel höchstpersönlich herrschte. 12 In Borgia. Roman einer Familie verarbeitete Klabund 1928 eine anekdotische Auswahl wichtiger Ereignisse des Borgia-Pontifikats und entwickelte den Papst, auf dem hier das Hauptaugenmerk liegt, „zum grotesk überzeichneten Gegenbild des päpstlichen Ideals“ (Marion Herrmann-Röttgen), pornographische Nuancen inklusive. 13 Es ist eine Collage dieser Bilder, die sich in einer Vielzahl auch jüngerer Trivialliteratur des 20. Jahrhunderts wiederfindet und sicherlich Einfluss auf die spätere filmische Umsetzung des Borgia-Stoffes nahm. Als wichtigste Gemeinsamkeit lässt sich dort feststellen, dass insbesondere das Bild des hochmütigen, rachsüchtigen und autokratischen Papstes, Oberhaupt einer nicht minder verkommenen und geradezu obszönen Familie, vorherrscht. Die Anknüpfung an die literarischen Vorbilder seit dem 18. Jahrhundert ist in der filmischen Umsetzung des Borgia-Stoffes unverkennbar. Stets steht hier aber die Familie als Ganzes im Vordergrund, häufig mit Cesare Borgia als neben dem Papst alles bestimmendem Akteur. Seit Cesare Borgia des dänischen Stummfilmpioniers Viggo Larsen (1908) ist das Thema Borgia noch weitere 39 Mal in kommerziellen Produktionen verarbeitet worden. 14 Die Bandbreite reicht von der Abenteuerschmonzette mit Starbesetzung, so etwa Don Juan (USA 1926, R.: Alan Crosland) mit John Barrymore oder Prince of Foxes (USA 1949, R.: Henry King) mit Orson Welles in der Rolle des Cesare Borgia, bis zum Pornofilm The Castle of Lucrezia Borgia (Holland 1996, R.: Nicolas Moore und Joe d’Amato). 2006 feierte die spanisch-italienische Co-Produktion Los Borgia (R.: Antonio Hernández) Kinopremiere. Das 139-minütige Historienepos zählt mit einem Budget von 7,5 Millionen Euro zu den teuersten spanischen Filmen aller Zeiten. Beim Fernsehpublikum ist der „unheimliche Papst“ 15 hingegen durch das Genre der Serie bekannt. Schon 1981 produzierte die 11 Voltaire 1829a, 96: „Alexandre VI laissa dans l’Europe une mémoire plus odieuse que celle des Néron et des Caligula, parce que la sainteté de son ministère le rendit plus coupable.“ 12 Klinger 1791. 13 Klabund 1928. Dazu auch Marion Herrmann-Röttgen in Schraut 1999, 162. 14 Siehe die Gesamtschau bei Aziza 1997. 15 So der Titel der Alexander-Biographie von Volker Reinhardt (Reinhardt 2007). Ein in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenes Bändchen Reinhardts (32013) über die Familie Borgia erhebt dann gleich die ganze Sippe zur „unheimlichen Familie“. Die

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BBC den Zehnteiler Borgia (R.: Bryan Farnham), der den Stoff von der Wahl Alexanders VI. bis zum Tod Cesare Borgias umsetzt. Der Papst wurde von Adolfo Celi dargestellt, der 1965 in Thunderball (R.: Terence Young) den Bondbösewicht Emilio Largo spielte. Celi verkörpert seinen Papst als größenwahnsinnigen Despoten, der beispielsweise den im Konsistorium versammelten Kardinälen vorwirft, wie Mädchen bei der Entjungferung zu schreien und zu quietschen, und schließlich den Kirchenfürsten droht, gleich 100 neue Kardinäle zu erheben, um sie alle zu ersetzen; 16 und das nur, weil man ihn vor dem drohenden Einmarsch Karls VIII. in Rom warnt. Im Jahr 2011 kehrten die Borgia dann mit gleich zwei aufwendigen internationalen Produktionen auf die Fernsehbildschirme zurück. Zunächst startete die erste Staffel der amerikanischen Serie The Borgias (R.: Neil Jordan) mit Jeremy Irons als Papst Alexander VI. Der deutsche Untertitel lautete Sex. Macht. Mord. Amen, im amerikanischen Original wurde die Serie vom Sender Showtime mit dem Slogan „The Original Crime Family“ beworben. Im offiziellen Trailer zur zweiten Staffel (hier heißt es dann „The Original Crime Family Returns“) dringt die düstere Stimme des Papstes aus dem Off, der seinen leiblichen Kindern die Zukunft der Heiligen Stadt offenbart: „We will restore Rome to its former glory“, heißt es da. „Under the Borgias, it shall shine as it did beneath the Caesars. But if we are to achieve this greatness that is your birthright, it will be together. As one. As family“. 17 Und so ist es nur konsequent, wenn der Hauptdarsteller in mehr als einer Szene mit Lorbeerkranz bekrönt einem Caesaren gleich auftritt, etwa wenn er bei einem Fest auf den Straßen Roms einen Holzstier, das Wappentier seines Hauses, entzündet und damit im übertragenen Sinn die Stadt dem Feuer preisgibt. 18 Ob hier die Topik des ‚Caesarenwahns‘ oder doch die Anknüpfung an das oben genannte Urteil Voltaires im Vordergrund stand, ob gar Allmachtsphantasien und Selbststilisierung von den Filmemachern nicht auch ohne die Kenntnis der Borgia-Rezeption und ohne Quiddes Topik mit Autokratie in Verbindung gebracht werden, wird freilich nicht zu klären sein. Ebenfalls 2011 lief dann im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen die erste von drei Staffeln der europäischen Gemeinschaftsproduktion Borgia. Faith and Fear (P.: Tom Fontana). 19 Auch hier steht der Borgia-

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Verlagsankündigung nennt sie die „unheimlichste, schrecklichste und auf jeden Fall umstrittenste Familie der italienischen Renaissance“. The Borgias 1981, Episode 1.10. Jordan 2012. Jordan 2011–2013, Episode 2.01, Ausschnitt auch in Jordan 2012, Trailer, Min. 0:28. Fontana 2011–2014.

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Clan, nicht der Papst alleine im Fokus. Mit 25 Millionen Euro Budget, 157 Litern Kunstblut und 150 Perücken wird die Renaissance inszeniert und eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion geschaffen, die Realität und Legende immer wieder kreuzt, mithin also ganz in der Tradition der vormodernen Historiographie steht. „Heuchelnd und hurend in Kardinalspurpur“ war ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung betitelt, 20 in der Frankfurter Rundschau machte Klaudia Wick die Borgia zur „Familie der Todsünden.“ 21 Zur Ausstrahlung der zweiten Staffel erklärte Andreas Kilb in der FAZ Papst Alexander VI. dann gleich zum „Paten“. 22 Und tatsächlich bedienen sich sowohl die europäische als auch die amerikanische Produktion mit größter Verve der Anziehungskraft von ‚sex and crime‘. Vielleicht unbeabsichtigt knüpfen die Produzenten dabei an ein historisches Vorbild an, schließlich schrieb schon Kardinal Egidio von Viterbo zu Beginn des 16. Jahrhunderts, dass Rom unter Alexander VI. „von Gold, Gewalt und Venus“ beherrscht worden sei. 23 Wie in den meisten Historienfilmen überlagern sich Fiktion und historische Überlieferung auch in den jüngeren Borgia-Produktionen. Wer sich mit der dabei geschaffenen Figur Alexanders VI. beschäftigt, meint nun tatsächlich, einen wahnhaften Monarchen nach dem Vorbild von Quiddes Caligula-Studie zu erkennen. Gerade deshalb gilt es zu reflektieren, ob diese Übereinstimmungen Folge der filmischen Rezeption von BorgiaGeschichten sind, oder ob es sich hier um den Einfluss der Topik des ‚Caesarenwahns‘ handelt, ob Alexander VI. also Merkmale zugeschrieben werden, die seit Quidde so eng mit autokratischer Herrschaft verbunden sind, dass die Figur des Borgia-Papstes ohne sie nicht funktioniert. Es sei vorweggenommen: Man sieht, was man sehen will. Schon wegen dieser allen historischen Untersuchungen zugrunde liegenden Problematik wird gerade eine so zentrale Frage nur in Teilen zu beantworten sein. Dennoch: Für einen Einfluss der Topik des ‚Caesarenwahns‘ auf die filmische Darstellung des Papstes spricht, dass schon in der jüngeren Borgia-Rezeption der faustische Stoff des Teufelspakts kaum mehr eine Rolle spielt, mithin eine Entmystifizierung, ja Säkularisierung des Despotischen, weg von der Verführung durch den Teufel hin zur menschlichen Verfehlung, stattfand. So wird, wenn man so will, in den Verfilmungen ebenso wie in den literarischen Adaptionen des Stoffes und nicht zuletzt auch in der kritischen Historiographie auf jene Charaktereigenschaften rekurriert,

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Winkler 2011. Wick 2011. Kilb 2013. „[. . . ] nihil ius, nihil fas, aurum, vis et venus imperabat.“ Egidio da Viterbo, Aegidii Canisti Viterbiensis historia XX saeculorum, Rom, zitiert nach Poeschel 1999, 32.

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mit denen Quidde den ‚Caesarenwahn‘ zu diagnostizieren beanspruchte. Da wäre etwa Alexanders Gefühl der Selbsterwähltheit, das auch auf einer Herkunftserzählung basierte, die in krassem Gegensatz zum Ursprung der Familie stand. 24 Die hatte ihren Aufstieg erst unter Alexanders Onkel Alonso Borgia erlebt, dem Bischof von Valencia, der sich im Umfeld des Konstanzer Konzils einen Namen als Rechtsgelehrter gemacht hatte. Als solcher war er in die Dienste König Alfonsos von Aragon getreten, durch dessen Unterstützung er als sogenannter Kron-Kardinal in den Rang eines Kirchenfürsten aufgestiegen war. Als Übergangskandidat wurde er 1455 unter dem Namen Calixt III. der erste Borgia auf dem Stuhl Petri. Seiner Förderung verdankte sein Neffe Rodrigo, der spätere Alexander VI., den Aufstieg in das Kardinalskollegium. Als 23-Jähriger wurde er mit dem auf Lebenszeit zu vergebenden Amt des Vizekanzlers bedacht und häufte von da an die einträglichsten Pfründen an. Bereits Calixt III. hatte den rechtmäßigen Platz seiner Familie unter den herrschenden Häusern gesehen, denn für die Borgia stand die Verwandtschaft zu den Königen von Aragon und damit der Anspruch auf höchste weltliche Würden außer Frage. Für seinen anderen Neffen Pedro Luis hatte er entsprechend die Krone des Königreichs Neapel angestrebt und wäre wohl auch zu einem Krieg bereit gewesen, den aber sein plötzlicher Tod verhinderte. Kardinal Rodrigo Borgia harrte nach dem Ende des ersten Familienpontifikats in Rom aus und führte die Familienförderung konsequent im Sinne seines Onkels weiter. Neben dem Gefühl der Erwähltheit stand die Bereitschaft zum konsequenten und unbedingten Einsatz aller verfügbaren Mittel, um die eigene Macht und die eigene Familie zu fördern. Im Kirchenstaat, in dem der Stellvertreter Christi zugleich Souverän eines weltlichen Herrschaftsgebiets war, setzte er beide ‚Schwerter‘ zur Förderung der Seinen ein. Caesaropapismus, also die Vereinigung von weltlicher Herrschaft und Oberherrschaft über die Kirche, standen hier ganz im Zeichen der Dynastiebildung. Und als diese nicht auf Kosten der Könige von Neapel glückte, bediente man sich am Besitz der Kirche. Seine leiblichen Kinder wurden – teilweise mehrfach – strategisch mit Lehnsträgern des Heiligen Stuhls vermählt, bis Cesare Borgia schließlich den Auftrag erhielt, die Klein- und Kleinstterritorien der Romagna zu erobern und in ein Herzogtum zu verwandeln. Mit seiner Mätresse Vanozza Cattanei, die er dreimal als Alibi verheiratete, führte Alexander eine eheähnliche Beziehung. Skandalträchtiger war aber sein Umgang mit seinen leiblichen Kindern. Andere Kardinäle, wenn 24 Zur Geschichte dieses Aufstiegs siehe hier und im Folgenden Reinhard 2007, 15–34. Zum Borgia-Pontifikat allgemein grundlegend ders. 2007; Pastor 1926; Mallet 1979 sowie Pellegrini 2002.

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auch nicht vorbildhafter, verschleierten die Herkunft ihrer Sprösslinge zumindest vordergründig. Dass Rodrigo Borgia seine Nachfahren legitimierte und seine Vaterschaft anerkannte, war einer der frühesten Normbrüche des späteren Papstes, der sein Verhalten auch nicht änderte, als er schließlich auf den Heiligen Stuhl gewählt worden war. Mit Giulia Farnese, der im Vatikan ein und ausgehenden Schwiegertochter seiner Cousine, zeugte er eine gemeinsame Tochter. Und den Einflüsterungen von „La Bella“ oder, wie die Mätresse in einem Aviso aus Rom verhöhnt wurde, der „Braut Christi“ 25, verdankte deren 25 Jahre alter Bruder Alessandro Farnese, der spätere Papst Paul III., seine Ernennung zum Kardinaldiakon und Generalschatzmeister der Kirche. 26 Übertroffen wurde das noch vom Vorwurf des Inzests mit seiner Tochter Lucrezia. Der Vorwurf sexueller Obszönitäten und Ausschweifungen, der in Film und Fernsehen zu den klassischen Topoi gehört, gründet dabei auf historischer Überlieferung. Eine der bekanntesten Anekdoten vom päpstlichen Hof stammt ebenfalls aus dem Liber notarum. Dort heißt es im Eintrag vom 21. Oktober 1501: Am Abend speisten zusammen mit dem Herzog von Valence [Cesare Borgia], und zwar in dessen Räumen im Vatikanischen Palast, fünfzig ehrenhafte Prostituierte, Kurtisanen genannt. Diese tanzten nach dem Bankett mit den Dienern und mit anderen, die zugegen waren, zuerst in ihren Kleidern, dann nackt. Und nach dem Essen wurden die gewöhnlichen Tischleuchter mit brennenden Kerzen auf den Boden gestellt; vor die Leuchter wurden dann Kastanien geworfen, welche die Kurtisanen auf allen Vieren nackt zwischen den Leuchtern umherkriechend auflasen. Darauf wurden Ehrenpreise ausgelobt – und zwar Seidenstoffe, Stiefel, Mützen und andere – für diejenigen, die am häufigsten mit den Kurtisanen fleischlich zu verkehren vermochten. Und so geschah es auch, und zwar öffentlich, worauf dem Urteil der Anwesenden gemäß die Geschenke an die verteilt wurden, die diesen Verkehr am häufigsten vollzogen hatten. 27

Es gibt kaum eine Geschichte über die Borgia, die phantasievollere Ausschmückungen erfahren hat als das sogenannte ‚Kastanienbankett‘, und natürlich gilt dies auch für die filmische Umsetzung, für die es freilich keine Rolle spielt, wie zweifelhaft es ist, dass dieses Bankett so stattgefunden hat. 28

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Zapperi 1995. Zu Alessandro Farnese siehe Fragnito 2014. Burckard 1949, 303. Übersetzung nach Reinhardt 2007, 210. Aufschlussreich sind die Dekonstruktionen und Erklärungsversuche von Susanne Schüller-Piroli und Volker Reinhardt. Vgl. Schüller-Piroli 1982, 446–450 sowie Reinhardt 2007, 210–212, der begründet, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Papst das Allerheiligenfest zu einem „Allerhurenfest“ (ebd., 211) machte.

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Die bis hierhin genannten Beispiele zeigen, dass Fiktion und Wirklichkeit im Falle der Borgia schon in den wichtigsten Quellen ein Gesamtbild formten, das nur schwer auseinanderzuhalten war und ist. 29 Die Borgia-Legende ist farbenprächtig und bietet entsprechend vielseitige Möglichkeiten, die „Familie der Todsünden“ 30 filmisch in Szene zu setzen. Exemplarisch sollen im Folgenden Beispiele aus Borgia. Faith and Fear von Tom Fontana und der spanischen Produktion Los Borgia 31 herangezogen werden, um die Darstellung Alexanders VI. zu untersuchen und zu prüfen, inwieweit Ludwig Quiddes Topik des ‚Caesarenwahns‘ dabei erkennbar immanent ist, ob also Alexander VI. als wahnhafter Monarch dargestellt wird. Als Analyseraster soll dabei die Suche nach den folgenden Charaktereigenschaften und Merkmalen in den Vordergrund rücken: Allmachtsphantasie, komisch-kindisches Verhalten, Ruhmsucht, gnadenloser Einsatz von Furcht als Herrschaftsmittel, der Glaube an ein eigenes Recht auf Herrschaft und Macht sowie der Glaube an ein besonderes Verhältnis zu Gott.

1. Größenwahn und Allmachtsphantasie Am Anfang steht die Wahl – wobei die göttliche Eingebung in Borgia. Faith and Fear die Kardinäle erst nach gut 180 Minuten erreicht. Zuvor wird in den Schlafzellen hinter verschlossenen Vorhängen verhandelt, gedroht und bestochen. Seinen Erfolg verdankte Alexander VI. demnach, und das deckt sich durchaus mit den Vorwürfen durch Zeitgenossen, weniger dem göttlichen Zeigefinger als der Simonie, also dem Ämterkauf. Weil nach der Wahl auf den Heiligen Stuhl alle geistlichen Einnahmen des Gewählten an die Kirche zurückfielen und neu verteilt wurden, konnten die Kandidaten ihre potentiellen Wähler durch Versprechungen an sich binden. Und weil Rodrigo Borgia als Vizekanzler über die reichsten Pfründen verfügte, konnte er seine Wähler besser bezahlen als seine Konkurrenten. 32 Selbst neutrale Beobachter sprachen schon damals von einer gekauften Wahl. 33 Tom Fontana setzt die Umstände der Wahl in den düsteren Schlafkammern der in der Sixtina eingesperrten Kardinäle ausführlich in mehreren Episoden in Szene. Die Bestechungsangebote werden den Kardinälen in

29 Beispielhaft sei Guicciardini genannt, dessen unkritische Arbeitsweise Ranke vorrangig an Aussagen über die Borgia kritisiert. Vgl. von Ranke 1824. 30 Winkler 2011. 31 Hernández 2006. 32 Vgl. Reinhardt 2007, 48 sowie zur Wahl ebd., 60–71. 33 lnfessura 1890, 281 f.

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Brathähnchen versteckt zugestellt, eine Idee, die dem ersten ausführlichen Borgia-Roman von Alexandre Dumas entlehnt ist. 34 Vor seiner Wahl tritt der von John Doman verkörperte Rodrigo Borgia noch als rationaler, klarer, aber eben zugleich skrupelloser Werber um Unterstützung auf, der im Hintergrund aggressiv Druck auf schwache Kardinäle ausübt. Die Kulisse von Donnergrollen und strömendem Regen sorgt für eine Atmosphäre, die durch den Kerzenschein in der Sixtinischen Kapelle unterstrichen wird. Verbunden mit dem ehrfürchtigen und – folgt man den Gesichtsausdrücken der Kardinäle – vielleicht auch erschrockenen Schweigen ergibt sich ein filmisches Setting, das auch zur Einleitung von Ludwig Quiddes Caligula-Studie passen würde: „Dunkel und unheimlich waren die Vorgänge bei seiner Erhebung“. 35 Fontana arbeitet mit Untersichten und häufigen Close-ups auf das Gesicht des düster und erwartungsvoll blickenden künftigen Papstes, während die Wähler vor der sich abzeichnenden Entscheidung zu seinen Gunsten eingeschüchtert und ratlos erscheinen. Dazu passend flüstert der junge Kardinal Giuliano de Medici, als die Wahl entschieden ist, zu seinem Nachbarn, nun stecke man im Rachen des Wolfes, der alle verschlingen werde. Und sogleich folgt die erste Entgleisung des neuen Papstes: Er springt auf, reißt seine Arme in die Höhe und brüllt: „Ich bin der Papst, der Stellvertreter Christi!“ 36 Da zeigt sich erstmals konsequent das Selbstbild dieses Papstes, der sich wenige Szenen später im Kreise der Seinen mit Alexander dem Großen vergleicht.

2. Der komisch-kindische Papst Während John Doman bei Fontanas Umsetzung aber bei aller Grausamkeit beinahe nie impulsiv, nie komisch-kindisch auftritt und den Gefühlsausbruch bei seiner Wahl sofort zu bedauern scheint, spielt die Charakteristik des Komisch-Kindischen in dem spanischen Historienepos Los Borgia eine prominente Rolle. Anders als bei Fontana gehört die Wahl hier nur zur Vorgeschichte, im Vordergrund steht dagegen der Habitus des neuen Papstes, sein teils trotziges Auftreten, das vom Hauptdarsteller Lluis Homar durch eine überbordende Gestik unterstrichen, ja ins Absurde geführt wird. Gleich zu Beginn des Films empfängt der neu gewählte Papst seine Kinder Lucrezia, Juan und Cesare mit dem Ruf „Pontifex sum! Ich bin Papst!“, hält den Fischerring empor, um ihn dann selbst wie eine Tro-

34 Dumas 1842, 41 f.; Schüller-Piroli 1982, 465. 35 Quidde 1894, 3 (s. o. S. 46). 36 Fontana 2011, 1.4, Min. 41:22.

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phäe zu küssen. 37 Doch so lächerlich die Szene auch wirken mag – der deutsche Synchronsprecher Jürgen Kluckert unterstreicht diese Wirkung erheblich –, lässt der hier verkörperte Alexander schon in der nächsten Szene keinen Zweifel an seinem Machtbewusstsein aufkommen. Auf die Bedenken seines Zeremonienmeisters bezüglich des Befehls, dass der Mätresse Giulia Farnese immer Zugang zu den päpstlichen Gemächern zu gewähren sei, reagiert er ebenso selbstbewusst wie unwirsch: „Ich entscheide über das Zeremoniell. Ich entscheide über alles! [. . . ] Andere Päpste hatten Frauen in ihren Betten, das haben wir beide gesehen. Vorsicht? Ich bin Alexander VI. Andere mögen vorsichtig sein.“ 38 Das sich in den beschriebenen und unzähligen anderen Szenen zeigende grotesk kindisch und impulsiv wirkende Verhalten des Papstes erreicht einen Höhepunkt, als im Film eine Verschwörung gegen sein Leben aufgedeckt wird. Bezug genommen wird hier auf das 1499 entstandene und heute nicht zu bestätigende Gerücht, dass die Gräfin von Imola und Forlì, Caterina Sforza, einen Giftanschlag auf den Papst geplant habe, um sich vor der militärischen Bedrohung durch dessen Sohn Cesare zu schützen. Die Quellen berichten über ein Komplott, wonach zwei als Bauern verkleidete Soldaten dem Briefpapier des Papstes Giftsorten beigemengt hätten, die er sich beim Öffnen der Briefe in die Finger reiben sollte. 39 In Los Borgia sind es zwei Gesandte der Gräfin, die die Briefe überbringen. Die Reaktion des Papstes auf die Aufdeckung des Komplotts ist durch die Quellen natürlich nicht überliefert. Im Film aber folgt ihr ein kindisch-jähzorniger Wutanfall, bei dem der Papst Kissen durch sein Audienzzimmer wirft und alle Anwesenden kreischend des Raums verweist. 40 Hier bleibt kein Zweifel bestehen, dass dem Papst im achten Jahr seines Pontifikats die eigene Macht bereits zu Kopf gestiegen sein muss.

3. Grausamkeit und Einsatz von Furcht als Herrschaftsmittel Dass Cesare Borgia das Caligula zugeschriebene Motto oderint dum metuant 41 geführt haben soll, fällt in der filmischen Darstellung auf den Papst zurück. Sowohl in der Borgia-Serie von Fontana als auch in Hernández Los Borgia wird dieser Topos in minutenlangen Folterszenen ins Bild gesetzt. Bei Hernández klingt die Stimme des Papstes schon zu Beginn aus 37 38 39 40 41

Hernández 2006, Min. 12:08. Hernández 2006, Min. 14:01. Reinhardt 2007, 72 f.; Pastor 1926. Hernández 2006, Min. 86:40. Suet. Cal. 30,1.

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dem Off, während Prälaten und Kardinälen als Strafe für vermeintliche Verstöße gegen das Kirchenrecht die Hände abgehackt werden und sie in obskuren Folterkammern gequält werden: Wir sind Gesetz, Recht und Ordnung. Wir dulden nicht, dass Verbrechen wie Diebstahl, Mord, Tribute nicht zu zahlen, Ketzerei, Auflehnung, Hexerei, Ehebruch weiter den Namen unserer Heiligen Stadt beschmutzen, die Vorbild für die gesamte Christenheit sein soll. Und so werden wir den Lauf der Geschichte verändern [. . . ]. Wir Borgia werden die Vollstrecker sein [. . . ]. Jene, die glauben, sich von uns abwenden zu können, werden begreifen, dass das Wort Gottes nur eine legitime Stimme hat, die der Borgia. 42

Der Topos des skrupellosen Gewaltherrschers steht ebenso prominent in Tom Fontanas Borgia. Faith and Fear im Vordergrund – und das nicht nur im Originaltitel. Exemplarisch sei hier als Beispiel unter vielen ein Dialog des Papstes mit dem Kommandanten der päpstlichen Garde, Virginio Orsini, angeführt. Bei dessen Bericht über 220 Morde während der elftägigen Sedisvakanz schäumt Alexander in Anwesenheit seines Zeremonienmeisters und des jungen Kardinals Alessandro Farnese geradezu vor Wut. Die Szene ist bei schwacher Ausleuchtung gedreht und spielt in den Gemächern des Papstes. Wieder sind es Close-ups und Untersichten, die die Kameraführung bestimmen und für eine finstere Atmosphäre sorgen. Die Wut des Papstes ist nicht Folge seines Mitgefühls um die Toten. Es geht ihm alleine um die Gefahr drohender Einnahmeeinbußen, wenn zahlungskräftige Pilger abgeschreckt und Rom meiden würden. Auf den Bericht, dass eine Pilgergruppe Hunde beobachtet habe, die sich um einen menschlichen Schädel rissen, wird das Motto oderint dum metuant unmittelbar auf den Papst und seine Herrschaft übertragen: Alexander: ‚Wir wollen den Mörder haben.‘ Orsini: ‚Den Mörder festzustellen wird unmöglich sein.‘ Kardinal Alessandro Farnese: ‚Die Vorgehensweise ist einfach. Stellt fest, wem der Schädel gehört, und verhaftet die Feinde des Mannes.‘ Orsini: ‚Feinde hat doch jeder Mann in Rom.‘ Alexander: ‚Verhaftet zwei. Irgendwelche Unruhestifter. Dringt im Schutz der Dunkelheit ein und zerrt sie aus ihren Betten.‘ Orsini: ‚Und wenn sie in unserem Gewahrsam sind?‘ Alexander: ‚Dann richtet sie hin. Ihr Tod ist eine klare Botschaft an die Menschen in Rom. Lebt in Sicherheit und in Furcht. Das Zeitalter der Borgia ist angebrochen.‘ 43

Dass gerade der Topos des Einsatzes von Furcht als Herrschaftsmittel in beiden Produktionen eine zentrale Rolle spielt, dürfte auch daran liegen, 42 Hernández 2006, Min. 18:12. 43 Fontana 2011, 1.4, Min. 23:50.

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dass entsprechende Bilder und Botschaften, etwa durch herausgeschnittene Zungen, abgeschnittene Finger und Demütigungen aller Art leicht umzusetzen sind. Das gilt im Übrigen nicht nur für die körperliche, sondern auch für die geistliche Gewalt, die in Borgia. Faith and Fear etwa während der Audienz des Kardinals Briçonnet eingesetzt wird, der in der Serie als Gesandter König Karls VIII. von Frankreich fordernd gegenüber dem Papst auftritt. In einem der (in der Serie zahlreichen) Wutausbrüche zieht der Papst dann ohne Umschweife wieder einmal die ultimative Waffe und droht dem Kardinal kurzerhand mit der Exkommunikation, was wiederum den fiktiven Vertrauten Alexanders, Francesc Gacet, dazu bringt, ihn mit den Worten „Ihr könnt doch nicht jeden exkommunizieren“ zu beschwichtigen. 44 Hier liegen Gewalt und das komisch-kindische, trotzige Verhalten des wahnhaften Monarchen dann doch wieder nahe beieinander.

4. Sittlich-moralischer Verfall Neben dem Gewalt-Sujet sind es die sexuellen Ausschweifungen des Papstes, der Sittenverfall hinter den Mauern des Vatikans, die die zweite Säule der filmischen Umsetzung des Borgia-Stoffes bilden. Zunächst einmal sind da die Liebschaften des Papstes. Alexander VI. förderte bekanntlich nicht nur seine Kinder Juan, Cesare, Lucrezia und Gioffré. Nur kurz vor der Wahl auf den Heiligen Stuhl gebar seine Mätresse Giulia Farnese ihm eine weitere Tochter. In Film wie Serie geht sie auch nach der Papstwahl im apostolischen Palast ein und aus, der vom körperlichen Verfall gezeichnete Papst wird immer wieder beim Sex mit der jungen Frau gezeigt, die in Hernández Los Borgia dann sogar fragt, ob sie denn am folgenden Tage wiederkehren solle. Ihr Mann werde sie dann bringen. 45 In Fontanas Borgia kommt Giulia Farnese eine der Hauptrollen zu, auch hier stehen die Sexszenen neben solchen, in denen der Papst den schwangeren Bauch seiner Geliebten streichelt. Und als sich ihm seine Mätresse unmittelbar nach der Niederkunft nicht zur Verfügung stellt, nimmt der Papst sich in der Festungsanlage der Engelsburg kurzerhand eine Prostituierte. Schließlich steht der Einmarsch der Franzosen in Rom unmittelbar bevor und Alexander braucht Trost, den dieser Papst im Gebet weder sucht noch finden kann. 46

44 Fontana 2011, 1.8, Min. 23:25. 45 Hernández 2006, Min. 43:30. 46 Fontana 2011, 1.9, Min. 01:50.

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Dass solche Sittenverstöße des Papstes nicht nur im Verborgenen, sondern auch vor der höfischen Öffentlichkeit inszeniert werden, dürfte der Überlieferung über das Kastanienbankett geschuldet sein. In Los Borgia wird das Thema exzessiver durch nackte Tänzerinnen und Lustknaben mit Bischofshüten adaptiert, 47 in Borgia. Faith and Fear durch anzügliche Theaterstücke und die Anwesenheit von Mätressen bei dem Bankett anlässlich der Hochzeit Lucrezia Borgias mit Giovanni Sforza. Den Hinweis seines Zeremonienmeisters, dass es sich dabei um einen Bruch mit der Norm handele, tut der Papst dann lachend ab und verkündet den Beginn einer neuen Zeit, einer „Renaissance“. 48 Die zeitgenössischen Gerüchte über den Inzest der Borgia, wonach Vater wie Bruder ein Verhältnis zu Lucrezia hatten, wird in den Verfilmungen dagegen nur dezent angedeutet.

5. Glaube an die eigene Mission und Erwähltheit Der Glaube an eine ureigene Mission der Borgia, die sich historisch im Streben nach der neapolitanischen Königswürde sowie letztlich auch im Tausch der Kardinalsrobe gegen den Kürass durch Cesare Borgia zeigt, spielt im Borgia-Mythos eine bestimmende Rolle. In Borgia. Faith and Fear ist es Cesare, der wie Moses auf dem Berg Sinai auf einem Felsvorsprung steht und Gott dazu aufruft, die Borgia zu segnen, „auf dass unsere Familie auf ewig herrsche!“ 49 Dieselben Worte werden kurz darauf vom Papst beim Gebet gesprochen: wobei hier das ewige Fortbestehen der Dynastie (!), nicht die Herrschaft im Vordergrund steht: „Und nun möge es Dir gefallen, uns zu segnen. Mich und meine Familie. Auf dass unsere Dynastie ewig fortbestehen möge vor Dir.“ 50 Der Alexander VI., den John Doman verkörpert, scheint am Weiterbestehen dieser Herrschaft schon nicht mehr zu zweifeln. Und genau damit ist der Kern des Mythos um die Borgia, der sie für Generationen von Literaten und Historikern so schwer zu greifen machte, erreicht. Was plante dieser Papst? Etwa die Wahlmonarchie, die das Papsttum bis heute darstellt, in eine Erbmonarchie umzuwandeln? Die Verfilmungen greifen hier eine zentrale Frage auf. Tatsächlich ist ein solcher Umsturz wohl ins Reich der Legenden zu verbannen. Das Ziel der Borgia war die Schaffung eines Familienherzogtums in der Romagna, das den Aufstieg und die Etablierung der aus Spanien stammenden Familie unter den italienischen Dynastien ersten Rangs für die Zukunft sichern 47 48 49 50

Hernández 2006, Min. 94:40. Fontana 2011, 1.5, Min. 47:45. Fontana 2011, 1.4, Min. 48:30. Fontana 2011, 1.4, Min. 52:15.

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sollte. 51 Dieses Ziel stand im Hintergrund der ‚Alles-oder-nichts-Politik‘, die Aufstieg, Herrschaft und Niedergang Alexanders VI. und seiner Nepoten kennzeichnete. In Los Borgia erreicht die Entsakralisierung des Papstes in genau diesem Kontext ihren Abschluss: als er seinen Sohn Cesare zum Werkzeug seiner Eroberung macht. Dynastie, Familie – der Papst als Pate: Besessen vom ultimativen, dauerhaften Aufstieg seines Hauses, schwingt er das eigens für den Spross geschmiedete Schwert mit der Inschrift „Caesar aut nihil“ (dem übrigens tatsächlich von Cesare geführten Motto) und offenbart dem Sohn die eigenen Pläne: „Caesar oder nichts ist ab heute dein Leitspruch. Im Namen des Papstes wirst Du die Fürsten im mittleren Italien beugen. Nacheinander. Ich will ein Königreich für die Borgia, Cesare!“ 52

6. Fazit Die filmische Umsetzung des Borgia-Stoffes steht in der Tradition der Borgia-Legenden, die in Teilen auf zeitgenössischen Berichten basieren und in Teilen auf eine lange Tradition des Borgia-Mythos zurückgehen. Der wurde auch von der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts weitergesponnen. Die dort dominierenden Topoi wie der Einsatz von Furcht als Herrschaftsmittel, der Glaube an das den Borgia eigene Recht auf Herrschaft und ihre sittlich-moralischen Verstöße nehmen nun auch in der filmischen Umsetzung des Borgia-Stoffes eine prominente Rolle ein. Der noch in älteren Texten formulierte Vorwurf des Teufelspakts spielt hingegen keine Rolle mehr. Für die Frage nach der Wirkung und dem Einfluss der Topik vom ‚Caesarenwahn‘ auf die filmische Darstellung Alexanders VI. bleibt dieser Befund nicht ohne Folge. Viele der von Quidde beschriebenen Symptome finden sich ja sozusagen bezogen auf die Caligula-Studie avant la lettre in der breiten Borgia-Rezeption und es steht zu vermuten, dass auch die Filmemacher auf sie zurückgriffen. Wo den überlieferten Normverstößen hingegen das komisch-kindische, grotesk anmutende, ja geradezu wahnhafte Verhalten des Borgia-Papstes zur Seite gestellt wird, das in dieser Form eben durch Quellen nicht belegbar ist, ist die Wahn-Topik durchaus zu fassen. Hier geht die filmische Umsetzung über die Vorlagen hinaus und sucht neue Orientierungs- und Anknüpfungspunkte. Dass es gerade der Topos vom wahnhaften Monarchen ist, der in der filmischen Darstellung letztlich als Erklärungsmuster für die 51 Dazu und zu den Problemen, die den Erfolg letztlich verhinderten, das Urteil bei Reinhardt 2007, 253. 52 Hernández 2006, Min. 78:00.

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unfassbaren Geschichten aus dem Vatikan eine wichtige Rolle einnimmt, spricht für einen Einfluss der Topik des ‚Caesarenwahns‘, deren Wirkmacht so groß scheint, dass es für die Geschichten vom „unheimlichen Papst“ heute keine andere überzeugende Erklärung geben kann als die Diagnose ‚Caesarenwahn‘. Ob der Krankheit der Mächtigen dadurch eine tragende Funktion in der Erzählung über die Borgia zukommt, sei aber dahingestellt. Genauso tragfähig scheint die Erklärung, dass ‚sex and crime‘, oder eben „Gold, Gewalt und Venus“, ein breites Publikum versprechen, was angesichts der Produktionskosten der hier herangezogenen Beispiele ein starkes Argument sein dürfte. Dass sich durch die Brille Quiddes die Geschichte Alexanders VI. als die eines wahnhaften Monarchen lesen lässt, zeigt aber eindrücklich, wie anschlussfähig die Topik vom ‚Caesarenwahn‘ an unterschiedliche historische Fallbeispiele ist. So kann sie in der filmischen Umsetzung des BorgiaStoffes, ohne dass es ausgesprochen werden muss, zum umfassenden Erklärungsmodell für die schwer fassbare und vielfach ob ihrer Extreme als grotesk anmutende Geschichte des Borgia-Pontifikats dienen.

7. Bibliographischer Anhang 7.1. Filme, Serien Borgia. Faith and Fear. 3 Staffeln (DVD). Produktion: T. Fontana u. a. Deutschland / Frankreich / Italien / Österreich / Tschechien 2011–2014. The Borgias. Regie: B. Farnham. Großbritannien / Italien 1981. The Borgias. 3 Staffeln. Regie: N. Jordan. USA 2011–2013. The Borgias. Season 2 Trailer. Regie: N. Jordan. USA 2012. URL: https://www. youtube.com/watch?v=ldWwoFynwlM (Zugriff am 10. 08. 2017). Los Borgia. Regie: A. Hernández. Spanien / Italien 2006.

7.2. Literatur Aziza, C. 1997: Filmographie. La Renaissance au cinéma. In: Nouvelle Revue du XVIe Siècle 15, 359–369. Burckard, J. 1911: Liber notarum. Bd. 2. Hg. v. E. Celani. Città di Castello (Rerum italicarum scriptores: Raccolta degli storici italiani dal cinquecento al millecinquecento, 32,1,2). Burckhardt, J. 122009: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart (Kröners Taschenausgabe, 53). Dumas, A. 1854: Les Borgias. Paris.

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Politik als Kunst? Zur Inszenierung von Adolf Hitler im Film Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Thomas Mann, Doktor Faustus

1. Einführung Mustert man die Hitler-Filmografie, die allein im fiktionalen Bereich die Anzahl von 100 Produktionen längst überschritten hat, so erweist es sich als offensichtlich, dass die verschiedenen Darstellungen Adolf Hitlers immer auch Spiegelungen, Kommentare und Modifikationen vorangegangener Darstellungen sind. 1 Seit den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts hat sich ein filmgeschichtlich tradiertes und in seiner (Audio-)Visualität perpetuiertes Hitler-Konstrukt herausgebildet, das sich durch Selbstreferenzialität auszeichnet: Hitler-Bilder beziehen sich immer auch auf andere Hitler-Bilder. In diesem Verweisungszusammenhang löst sich die Differenz zwischen historischer Person und Abbild, Vorbild und Nachbild tendenziell auf. Dennoch lässt sich so etwas wie ein Urbild ausmachen – nämlich der Entwurf Adolf Hitlers von sich selbst, der in zeitgenössischen Zuschreibungen sein Echo findet. Vor jeder medialen Manifestation dieses Selbstbildes in Fotografien und Filmen gilt es somit den Habitus zu betrachten, den Hitler für sich (und seine Politik) in Anspruch nahm. Wie der Historiker Wolfram Pyta in einer groß angelegten, interdisziplinären Studie aufgezeigt hat, ist der „Politiker Hitler [. . . ] ohne den Künstler Hitler nicht denkbar“ 2. Gemeint sind damit weniger dessen Tätigkeiten als gescheiterter Aquarellist und Gelegenheitsmaler, als vielmehr seine Ambi1 Für einen Überblick vgl. Mitchell 2009; Schultz 2012 sowie für den deutschen Film Hissen 2010. Vgl. auch Frölich 2008. 2 Pyta 2015, 16. – Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass weder Pyta noch die Verfasserin des vorliegenden Aufsatzes den Menschheitsverbrecher Hitler nobilitieren wollen, indem sie ihn als Künstler und / oder Genie bezeichnen. Es handelt sich vielmehr jeweils um „einen Terminus, der berufliches und

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tionen im Feld des Kulissenbaus bzw. der Theaterarchitektur: Hitler hatte sich 1908 für den Beruf des Architekturzeichners entschieden und hielt an seinem Selbstverständnis als Architekt und Stadtplaner bis Kriegsende fest. 3 Die Affinität Hitlers zur Bühne prägte ein künstlerisches Selbstbild aus, welches das mit dem Künstlertum verbundene Geniekonzept internalisierte und aus dem sich eine performative Ästhetisierung von Politik entwickelte, die sich an Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk orientierte. Hitler ging bei Richard Wagner insofern in die Schule, als er dort Verfahren einer politisch durchschlagkräftigen Ästhetik kennenlernte, die perfekt zum Zeitalter der Massenpolitisierung passten. Indem rationale Kontrollverfahren bei einer überwältigungsästhetischen Strategie ausgeschaltet wurden, eröffneten sich ungeahnte politische Zugriffsmöglichkeiten auf gefühlsgesteuerte Rezipienten. 4

Die von Hitler vorgenommene Verknüpfung von Kunst und Politik ist den Zeitgenossen keineswegs entgangen: Nach Walter Benjamin, der 1936 eine „Ästhetisierung des politischen Lebens“ 5 im Faschismus konstatierte, dachte auch Thomas Mann im Exil darüber nach, ob und inwiefern das – wie Mann es nannte – „Phänomen“ Hitler als „Erscheinungsform des Künstlertums“ betrachtet werden müsse. 6 In einem ironischen Essay, der 1939 in der in Paris erscheinenden Zeitschrift Das neue Tage-Buch publiziert wurde, konzedierte Mann, nicht zuletzt aufgrund pathologischer Züge der Künstlerfigur an sich, dass Hitler als Künstler ernst zu nehmen sei: „Ein Bruder . . . Ein etwas unangenehmer und beschämender Bruder, er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft. Ich will trotzdem die Augen nicht davor verschließen [. . . ].“ 7 Wenn der zur Emigration gezwungene Literaturnobelpreisträger dem deutschen Reichskanzler das Attribut des Künstlers zugestand, bezog sich dies nicht auf dessen qualitativ unbedeutendes malerisches Œuvre, sondern zielte auf die Theatralität der öffentlichen Auftritte Hitlers und die ihm eigene massenwirksame Rhetorik, die er als performative Redekunst zelebrierte. Seine Ansprachen waren effektvoll choreografierte Ereignisse, auf die er sich mit Hilfe von Schauspiel- und Sprechunterricht vorbereitete, um sich eine Körpersprache und Intonation anzueignen, die den größtmöglichen Eindruck hinterlassen sollten. Porträtiert haben den Red-

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ästhetisches Selbstverständnis auf der einen und Fremdzuweisungen durch Dritte auf der anderen Seite markiert.“ Ebd., 17. Vgl. Pyta 2015, 81–97. Pyta 2015, 61. Benjamin 1936/1973, 48. Mann 1939/1986, 224. Mann 1939/1986, 225.

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ner Hitler einerseits Leni Riefenstahl in ihren Parteitagsfilmen und andererseits Heinrich Hoffmann in seinen Fotografien, die in verschiedenen Formaten – Pressebilder, Postkarten, Bildbände – in hohen Auflagen publiziert worden sind. Aus der engen, über zwei Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit von Fotograf und Modell erwuchs ein medial angetriebener Personenkult, den es in dieser Form in der Politik bis dato noch nicht gegeben hatte. Selbstdarstellung, Erwartungshaltungen des Publikums und fotografisches Bild gingen dabei eine Wechselwirkung ein. Der Fotohistoriker Rudolf Herz resümiert: In der Wahl der Vorbilder war Hitlers Selbstinszenierung ausgesprochen synkretistisch, nahm bei der christlichen Ikonografie und sakralen Kunstformen ebenso Anleihen wie bei den traditionellen Herrschervorstellungen des Nationalheros, Tugendhelden und Landesvaters und beim modernen amerikanischen Populismus. Aus diesen Elementen formte sich das plastische Bild eines kraftvollen Führers, das die Vorstellung des christusähnlichen Messias mit dem des heilenden Wohltäters und begnadeten Künstlers verschmolz und sich radikal vom bürokratischen Image der Politiker der Weimarer Republik absetzte. 8

Diese Analyse lässt sich auch auf die filmische Inszenierung Hitlers in Triumph des Willens (D 1935) übertragen, welche das Hitler-Bild bis in die Gegenwart prägt – werden doch Riefenstahls Filmbilder immer noch in vielen Dokumentationen und Kompilationen als Quelle genutzt. Im globalen Bildgedächtnis zirkuliert somit ein nationalsozialistisches Selbstbild, zu dem sich alle weiteren Filmbilder in Beziehung setzen müssen. Davon wird noch zu reden sein. Die von Hitler mit Hilfe von Fotografie und Film betriebene Veroperung von Politik ließe sich mit Ludwig Quidde als wahnhaft beschreiben, diagnostizierte dieser doch, dass eine unangemessen große „Passion“ für das Theater, mithin ein „komödiantischer Zug“, charakteristisch „für das pathologische Bild des Cäsarenwahnsinns“ sei. 9 Allerdings: so signifikant Inszenierung, Spektakel und Ritual die politischen Formen im Nationalsozialismus auch bestimmt haben mögen, so wenig zielführend ist in (medien-)wissenschaftlichem Sinne die Frage, inwiefern Hitler tatsächlich in einem klinischen Sinne psychisch krank gewesen ist. Dieser Frage hier nachzugehen oder sie gar zu beantworten, ist daher nicht die Absicht des vorliegenden Aufsatzes. 10 Ziel ist vielmehr eine Analyse der Darstellung Hitlers im Spielfilm, und für diese Analyse ist es von nachrangiger Bedeu8 Herz 1995, 60. 9 Quidde 1894, 8 (s. o. S. 34). 10 Zur These einer ex post nachweisbaren Geisteskrankheit Hitlers vgl. Matussek / Matussek / Marbach 2000; vgl. auch Marbach 2008.

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tung, wie Hitler ‚wirklich‘ gewesen ist. Es geht darum, zu zeigen, welche Zuschreibungsmuster – fremde wie eigene – sich in den Filmen vorfinden lassen und wie sich diese in den historisch variierenden öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit fügen. Fokussiert wird dabei das Narrativ des Künstler-Politikers, das heißt: Im Folgenden wird eine selektive Hitler-Filmografie abgebildet, bei der die Auswahl der besprochenen Filme auf ein bestimmtes Erzählmuster gerichtet ist. Um die damit verbundene Einseitigkeit in der Betrachtung zumindest ansatzweise zu kompensieren, wird zunächst ein kurzer Überblick über unterschiedliche Dramaturgien fiktionaler Hitler-Filme gegeben. Ein weiterer Abschnitt nimmt dann ausgewählte Narrationen genauer in den Blick, die Hitler als (gescheiterten) Künstler-Politiker zeigen.

2. Hitler als Filmfigur – Dramaturgien Es lassen sich drei dominierende Paradigmen der Repräsentation Adolf Hitlers im fiktionalen Film unterscheiden, die wiederum bestimmte Erzählformen generieren: erstens die tragödienhafte Dämonisierung (Hitler als luziferische Inkarnation des Monströsen), zweitens die Witzfigur in Komik-Konstellationen von Parodie, Satire, Karikatur und Groteske und drittens die Privatisierung im Melodram: der Diktator als Jedermann. 11 Gemeinsam ist ihnen die notorische Frage nach der Legitimität der Darstellung, insofern Hitler „die einzige Figur der deutschen Geschichte [ist], deren künstlerische Nachbildung als anrüchig, ‚geschmacklos‘, ‚unmöglich‘ empfunden wird“ 12. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist das erzählerische Interesse an dessen „Charakter und Schicksal“ 13 von einer enormen Beständigkeit, wenn sich auch die erinnerungspolitischen Zugänge wandeln. Mit Kracauer gedacht vermitteln Hitler-Filme mindestens so viele Informationen über die Zeit, in der sie produziert werden, wie über den ‚Porträtierten‘ selbst. Kracauer schreibt: Auch in solchen Filmen noch, die in die Vergangenheit schweifen, gibt sich die heutige Umwelt zu erkennen. [. . . ] Die geschätzten Szenen aus dem Weltkrieg sind keine Flucht ins Jenseits der Geschichte, sondern die unmittelbare Willenskundgabe der Gesellschaft. 14

11 Vgl. dazu ausführlich Nuy 2017, 257–290; vgl. auch Seeßlen 1994. 12 Kreimeier, zitiert nach: Frölich 2008, 14. 13 Im weiter oben bereits zitierten Essay Thomas Manns heißt es: „Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.“ Mann 1939/1986, 223. 14 Kracauer 1924/2005, 281. Herv. i. O.

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Gebunden an die jeweilige politische Kultur, in der sie entstehen, bewegen sich Konzeptionen der Filmfigur Hitler demnach immer in einem Spannungsfeld aus Geschichtspolitik, historischer Person, Medienimago und einer moralischen Verortung im Feld des Bösen. War die Theatralisierung von Politik im Nationalsozialismus darauf ausgerichtet, die Massen auf Hitler einzuschwören, so musste der Personenkult um den ‚Führer‘ nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einer neuen Lesart unterzogen werden, das heißt der Führermythos wurde in sein Gegenteil verkehrt: Aus dem messianischen Hoffnungsträger wurde das Böse schlechthin. Als filmischer Prototyp der Dämonisierung kann Der letzte Akt (D/A 1955) in der Regie von Georg Wilhelm Pabst gelten. Rekonstruiert werden die Tage im Führerbunker vor der Kapitulation. Die Darstellung Hitlers als Inkarnation des Bösen geht einher mit einer Betonung von Jähzorn, Tobsucht und Besessenheit bis hin zum Wahnsinn – dieser wird insbesondere in einem inneren Monolog der Hitler-Figur (Albin Skoda) erkennbar. Pabst ist der „einzige Regisseur, der sich ins Innere des Diktators vorwagt und seine vermeintlichen Gedanken wiedergibt“ 15. Die stumme Zwiesprache mit einem Porträt Friedrichs des Großen wird auf der Tonspur hörbar und bescheinigt einen von Hass getriebenen Willen zur Weltvernichtung. Drohende Apokalypse und dämonische Macht werden durch die bildästhetische Gestaltung, die mit starken Kontrasten bzw. Licht- und Schatteneffekten arbeitet, verstärkt. Hitler, der als luziferischer Fürst einer hermetisch abgeschlossenen Unterwelt anderen seinen Zerstörungswillen aufzwingt, wird deutlich sichtbar von der verführten Zivilbevölkerung in der zerstörten Stadt abgegrenzt. Ein solcherart in die Absolutheit des Bösen gewendetes Hitler-Bild verspricht kollektive Entlastung. Doch insofern Der letzte Akt in den Augen der deutschsprachigen Kritik mit seiner Narrativierung des Zusammenbruchs des NS-Regimes gescheitert war, galt Hitler fortan als Sache entweder der Farce oder des amerikanischen Films und der TV-Serie, die ihn als das Böse funktionalisierte. Gegenstand von Parodie und Satire war Hitler bereits zu Lebzeiten, sein theatraler Redegestus forderte die Nachahmung in der Karikatur geradezu heraus – auch im Film. So ist die erste erhaltene Hitler-Darstellung im Film eine Persiflage mit dem Titel You Nazty Spy! (USA 1940). 16 Der seinerzeit populäre Kurzfilm des Komikertrios The Three Stooges lief als Vorprogramm in den amerikanischen Kinos und handelt von einem Ma15 Hissen 2010, 33. Zur Analyse der Sequenz vgl. ebd., 34. 16 Vgl. die Kurzanalyse bei Frölich 2008, 19 f. – Eine digitale Kopie des Films findet sich bei youtube: https://www.youtube.com/watch?v=5ZOQ-Gdml_c (Zugriff am 22. 08. 2017; aus Deutschland nicht zugänglich).

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lermeister, der von Politikern des Königreiches Moronica als Diktator instrumentalisiert werden soll, um den König zu entmachten, sich dann aber als überaus untaugliche Marionette erweist, da er mit seinen beiden Kompagnons Geschmack an der Macht findet. Die an Slapstick reiche Parodie auch auf die britische Appeasement-Politik feierte neun Monate vor Charlie Chaplins ungleich bekannterem Film The Great Dictator (USA 1940) seine Premiere. Bis heute unerreicht in der Genauigkeit der Satire, parodierte Chaplin nicht allein Hitlers exaltierten Redestil auf eine Art und Weise, die Schule gemacht hat. Vielmehr bietet Der große Diktator aus der Distanz des Komischen heraus Einblicke in die Psychopathologie des Künstler-Politikers Hitler, hier Adeonid Hynkel mit Namen. So schrieb der in die USA emigrierte Film- und Medientheoretiker Rudolf Arnheim nach der Uraufführung: Die schwindelige Verwirrung des Autokraten, die pathologische Ruhelosigkeit, der dämonische Zwerg in den riesigen Palastsälen mit seinen größenwahnsinnigen Phantasien, seine gewaltsame Patronage der Künste, sein zischender, krampfhafter Angriff auf die Frau – das ist ein wahres aufklärerisches Kunstwerk. Das ist ohne Frage die wirkliche Vollendung in ‚The Great Dictator‘. 17

Emblematisch verdichtet findet sich das Bedrohungspotenzial narzisstischer Allmachtsphantasien in dem berühmten Tanz der Hynkel / Hitler-Figur mit der Weltkugel (Abb. 1). Zu den Klängen von Wagners Lohengrin-Ouvertüre dreht, kickt und wirft Hynkel einen Globus, bis ihm der Erdballon schließlich zwischen den Händen zerplatzt. Mit dem knapp dreiminütigen Pas de Deux von Diktator und Weltkugel schuf Chaplin nichts weniger als ein „unübertreffliches Symbol für jede Art von Größenwahn“. 18 Die Grundidee von The Great Dictator basiert auf der Verwechslung eines namenlosen jüdischen Friseurs mit dem Diktator Adeonid Hynkel. Chaplin hat sich der Rolle des Hynkel dadurch genähert, dass er sich mit Fotografien und Filmaufnahmen Hitlers auseinandergesetzt hat. Mit anderen Worten hat er also weniger die historisch-politische Person Hitler imitiert als vielmehr die Bilder, die von ihr im Umlauf waren. 19 Diese Form der Orientierung am medialen Artefakt erweist sich als eine Konstante, nicht nur der Hitler-Satire, sondern der Hitler-Filmografie insgesamt. Auch Verwechslung und Doppelgängerschaft gehören wie Verkleidung und drohende Entlarvung oder das selbstverliebte Betrachten des eigenen

17 Arnheim 1940/1978, 68 f. 18 Tichy, zitiert nach: Kreimeier 2002, 41. 19 Vgl. Kreimeier 2002, 39.

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Abb. 1: Aufforderung zum Tanz. Quelle: Screenshot The Great Dictator, 00:52:32.

Spiegelbildes zu sich wiederholenden Motiven in der Hitler-Darstellung. 20 Am klarsten (und in ihrer Virtuosität unübertroffen) findet sich diese Verbindung von Politik und Theater in Ernst Lubitschs To be or not to be (USA 1942). Mit Hilfe eines aberwitzigen Rollenspiels, in dem auch ein Hitler-Darsteller und ein ‚echter‘ Hitler auftreten, soll der polnische Widerstand vor dem Verrat an die Gestapo geschützt werden. Shakespeares Zeile von der Welt als Bühne wird hier wörtlich genommen und zum Ausgangspunkt für eine Demaskierung der Nazis als Schmierenkomödianten. Wenn Lubitsch Hitler als outrierende Charge aus der Welt des (Volks-)Theaters inszeniert, profanisiert er den Charismatiker und wendet sich damit zugleich gegen die Vorstellung einer wahnhaften Dämonie zur Deutung politischen Geschehens. Zu den Narrationen, die das Theater zum Modell ihrer Dramaturgie machen, gehört auch Dani Levys Film Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (D 2007). 21 Der Film beginnt mit Original20 Zur Motivgeschichte vgl. Schultz 2012, 389 f. – Schultz führt außerdem als sich wiederholende erzählerische Motive an: Attentat, Gangsterkarriere und pathologisierte Sexualität. 21 Vgl. dazu Nuy 2017, 266–270. Vgl. auch: Nuy 2013.

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Aufnahmen, zeigt also die Medienimago Hitlers, ehe Helge Schneider in seiner Maske auftaucht. Damit verortet Levy seine Komödie explizit in einem medialen Diskurs über den Nationalsozialismus. 22 Wenn Bilder des echten Diktators mit fiktiven Bildern eines Komikers wie Helge Schneider kombiniert werden, findet eine Gegenüberstellung zweier Medienfiguren statt, in deren Mitte in diesem Fall noch eine abwesende dritte Medienfigur aufscheint. Helge Schneider parodiert nämlich weniger Adolf Hitler als vielmehr Bruno Ganz, wie er Hitler in dem Film Der Untergang (D 2004) spielt. Levys Mein Führer nimmt damit eine scharfe Gegenposition zu einer Dramaturgie des Authentischen ein, wie sie in Der Untergang verfolgt wurde, der für sich einen quasi-dokumentarischen Anspruch reklamierte. In der Regie von Oliver Hirschbiegel arbeitet Der Untergang mit einer Doppelstrategie, die einerseits Hitlers Bösartigkeit betont, andererseits aber eine Privatisierung des Politischen vornimmt. Hirschbiegels Inszenierung der letzten Tage Hitlers geht einher mit einer personenzentrierten Perspektive auf den Nationalsozialismus, die Politik als eine Abfolge von Entscheidungen ‚großer Männer‘ definiert. Durch die filmische Gegenüberstellung von Führer und verführtem Volk wurde „eine öffentliche Lesart des Nationalsozialismus [eröffnet], die souverän die Forschung der letzten Jahrzehnte ignorierte“ 23, dass nämlich in weiten Teilen der Bevölkerung die Politik des ‚Dritten Reiches‘ zustimmungs- und konsensfähig war. Im Hinblick auf die Intimisierung und Boulevardisierung von Hitlers Biografie geht der britische Spielfilm Uncle Adolf, den der Fernsehsender Sat. 1 im Jahr 2005 ausstrahlte, noch einen Schritt weiter. Schon der deutsche Titel Die Nichte – Hitlers verbotene Liebe gibt Hinweise auf ein Melodram: Kurz vor seinem Tod erinnert sich Hitler an seine Nichte Angela (Geli) Raubal, die sich 1931 in seiner Münchner Wohnung das Leben nahm. In den Sequenzen, die in den Zwanzigerjahren angesiedelt sind, zeigt sich die Hitler-Figur charmant, witzig und galant, in den Sequenzen im Bunker treten Wahn und Irrsinn in den Vordergrund. Verkörpert wird Hitler von Ken Stott, der sich – deutlich fülliger als das Vorbild – zwar in der Darstellung der öffentlichen Auftritte um Verismus bemüht, in der

22 Außerdem hat sich Levy die Hitler-Studie von Alice Miller zu Eigen gemacht. Miller zeichnete in ihrem Buch Im Anfang war Erziehung (1980) Hitlers von Misshandlungen geprägte Kindheit nach und kommt zu dem Schluss, dass der Zwang zur Wiederholung frühkindlicher Traumatisierungen die Basis der Macht- und Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus gewesen sei. Dass der Film Miller darin folgt, die ‚Schwarze Pädagogik‘ der Jahrhundertwende als eher schlichtes Erklärungsmodell für weltpolitisches Despotentum heranzuziehen, ist der Produktion von Seiten der Kritik durchaus zu Recht zum Vorwurf gemacht worden. 23 Bösch 2007, 30.

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Privatheit aber die Figur spielt, als sei sie ein männlicher Draufgänger wie andere auch. Uncle Adolf gehört in eine Reihe von Filmen, die sich mit der Biografie Hitlers vor der Machtübernahme beschäftigen und sich entsprechend zu dem Verhältnis von Kunst und Politik zu verhalten haben.

3. Hitler als (gescheiterter) Künstler-Politiker Filme über „die ‚Hitler-Werdung‘ des blassen jungen Österreichers“ 24 laufen schnell Gefahr, sich dem Vorwurf einer Verharmlosung auszusetzen – zumal dann, wenn sie menschliche Schwächen und charakterliche Unzulänglichkeiten in den Blick nehmen. In einer dramaturgischen Antizipation dieser Kritik (über-)betonen Narrativierungen der frühen Biografie in der Regel den hasserfüllten Antijudaismus schon des Postadoleszenten und verweisen im Abspann in unterschiedlichen Formen auf die Shoah. 25 Die ungarisch-kanadisch-britische Koproduktion Max (2002) endet überdies mit einem antisemitisch motivierten Mord an der jüdischen Hauptfigur Max Rothman, einem Galeristen, der im Nachkriegs-München auf den jungen Adolf Hitler trifft. Zwischen der fiktiven Figur des Kunsthändlers und dem Nachwuchs-Künstler entsteht eine zwischen Sympathie und Aversion schwankende Beziehung. In der Regie von Menno Meyies spielt der Film mit der Überlegung, was gewesen wäre, wenn Hitler als Künstler Erfolg gehabt hätte. Die Narration dehnt den fiktionalen Möglichkeitsraum allerdings nicht auf einen alternativen Geschichtsverlauf aus, sondern beschreibt die Politisierung Hitlers und seine Profilierung als Redner. Ohne physiognomische Ähnlichkeit (das Bärtchen fehlt), aber dennoch in mimetischer Rollenaneignung verkörpert Noah Taylor in seiner Hitler-Darstellung einen Außenseiter, der die Kunstszene sowohl ablehnt als auch bewundert. In maßloser Selbstüberschätzung oszilliert die Figur zwischen künstlerischen und politischen Ambitionen, zwischen Verzweiflung, Höhenflügen und Narzissmus. Aus den kunsttheoretischen Debatten von Galerist und Maler erwächst das Konzept des Künstler-Politikers: Als die Hitler-Figur am biederen Realismus ihrer künstlerischen Arbeiten scheitert, wird als vermeintlich avantgarde-tauglicher Ausweg ‚Politik als neue Kunst‘ ausgerufen und die Formel ‚Kunst plus Politik gleich Macht‘ entwickelt (Abb. 2).

24 Schultz 2012, 399. 25 Tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass Hitler erst „im Zuge seiner Politisierung im Jahr 1919 Antisemit wurde, dann allerdings in einer Radikalität und mit einer Vernichtungsabsicht ohnegleichen“. Pyta 2015, 105. Vgl. auch Haman 1998, 502.

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Abb. 2: Kunst plus Politik gleich Macht. Quelle: Screenshot Max, 00:58:49.

Massenwirksame Rhetorik wird dem unbegabten Maler zum neuen Betätigungsfeld – und der Entwurf der Symbolsprache des Nationalsozialismus zur Chefsache. In einer ironisch gemeinten Sequenz zeichnet der politische Autodidakt die Swastika, entwirft Flaggen, Häuser und Autobahnen, woraufhin ihn sein Galerist zum künstlerischen Genie adelt. Endet Max mit einem geifernden Auftritt des Wahlkämpfers Hitlers, so weitet der kanadisch-amerikanische Spielfilm Hitler – Aufstieg des Bösen (2003) in der Regie von Christian Duguay die Rekonstruktion der frühen Jahre bis zur Übernahme des Reichskanzler-Amtes aus. Das titelgebende ‚Böse‘ vermittelt sich als Wechselspiel zwischen vulgärpsychologischen Erklärungen – mangelnde Anerkennung und ein gewalttätiger Vater – und der Hybris politischer und ökonomischer Eliten, die meinen, Hitler sei in ihrem Sinne formbar, und ihn deshalb gewähren lassen. Da die Intensität, mit der die Hitler-Figur (gespielt von Robert Carlyle) gegen die Juden agitiert, das Maß übersteigt, das dem Antisemitismus als intellektueller Mode seinerzeit in rechten Kreisen zukam, wird diese zwar als wahnhaft etikettiert, aber in Kauf genommen. Insofern belässt es die Narration nicht bei einer Personalisierung, sondern verweist auch auf Strukturen, Unterstützernetzwerke und nicht zuletzt auf die politischen Marketingstrategien eines Ernst Hanfstaengl. Solcherart gerahmt, nimmt der Aufstieg Hitlers als antisemitischer Redner seinen Lauf; sein publizistischer Gegenspieler, der Journalist Fritz Gerlich, dem hier ein Denkmal gesetzt wird, unterliegt heroisch. Fokussiert die Produktion im ersten Teil die rhetorischen Performances, wobei bildästhetisch Kameraeinstellungen und -fahrten aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens zitiert werden, so nimmt der zweite Teil

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eine Intimisierung vor und pathologisiert die Beziehung zu Angela Raubal – der private Hitler wird als besitzergreifend, eifersüchtig, tyrannisch und jähzornig dargestellt. Die Kombination aus klinischer Persönlichkeitsstörung, Verkörperung des Bösen und gefährlichem Antisemitismus wird auch in Mein Kampf (D 2009) als Lesart der frühen Biografie angeboten und gegen den Künstler ins Feld geführt. Urs Odermatt hat die auf dem Theater sehr erfolgreiche, gleichnamige Farce von George Tabori (1987) für den Film adaptiert, allerdings ohne dass Taboris lakonische und zugleich verwegene Komik ihren Platz darin gefunden hätte. Tom Schilling spielt den Adolf Hitler des Jahres 1910 als magenkranken Möchtegern-Studenten, der mit einem naiven Kunstverständnis so faul wie suizidal in einem Wiener Männerwohnheim lebt. Getreu dem Gebot der Feindesliebe nimmt ihn dort der jüdische Bibelverkäufer Schlomo Herzl (Götz George) unter seine Fittiche. Von der Verschrobenheit des ungebildeten jungen Mannes lässt sich der alte Herzl nicht beirren, und als die Kunstakademie den untalentierten Bewerber zum zweiten Mal ablehnt, rettet Schlomo dem Lebensmüden nicht nur das Leben, sondern rät überdies zu einer Karriere in der Politik. Diese Pointe, die in ihrem Sarkasmus, dass ausgerechnet ein Jude zum Lebensretter des Massenmörders wird, schwer zu überbieten ist, erweist sich nur im Kontext der gesamten Farce nicht als geschmacklos – und dies auch nur vor dem Hintergrund der biografischen und künstlerischen Autorität des Autors Tabori, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde und der wie kein anderer Theatermacher die Erinnerung an die Shoah in den Mittelpunkt seiner Arbeit gerückt hat. Formen des Komischen, auch in ihren dunklen Ausprägungen, galten Tabori als wirksames Mittel gegen das Vergessen. Doch während Tabori anti-dokumentarisch die Dialektik von Komik nutzte und den Witz auf Bereiche ausdehnte, die nicht witzfähig sind, strebt die Filmadaption zeitgeschichtliche Authentizität an. 26 Damit einher geht die Pathologisierung eines politischen Akteurs bei gleichzeitiger Personalisierung einer Ideologie, die bis ins Gewalttägige reicht – Urs Odermanns Hitler legt durchaus selbst Hand an, indem er mit einer Bürgerwehr auf Ratten- und Menschenjagd geht und schließlich das Wohnheim anzündet.

26 In der Filmrezension der ZEIT heißt es: „Laut Regisseur musste ‚von der Ausstattung bis zu Requisite, Kostümen etcetera alles historisch passen‘, um dem hohen Anspruch an Authentizität zu genügen.“ Seidel 2011.

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4. Verfallsformen des Künstler-Politikers Zu Zeiten der Uraufführung von Taboris Mein Kampf in den Achtzigerjahren suchte der deutsche Autorenfilm eine andere Art der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Führungsfigur. So entwarf Romuald Karmakar in seinem fiktiven Dokumentarfilm Eine Freundschaft in Deutschland (D 1985) ein ironisch zu lesendes Porträt des jungen Adolf Hitler, der hier allerdings nicht als Maler sondern als Schriftsteller eingeführt wird: Ein erfundener Münchner Freund erinnert sich an die gemeinsame Zeit in den Zwanzigerjahren und zeigt Filmaufnahmen, in denen Karmakar selbst als ‚Adi‘ auftritt. Der politische Werdegang, Faschismus und Antisemitismus bleiben in der Mockumentary außen vor, präsentiert wird ein durchschnittlicher Künstler, dem der Durchbruch verwehrt bleibt, mit einem Faible für Landschaften und Musik, Frauen, die Filmgeschichte und für Karl May. Ein junger Mann, der sich mit Freunden trifft, Schlitten fährt, Denkmäler besichtigt und unglücklich verliebt ist. Karmakars Entpolitisierung der Hitler-Figur ist nicht nur ein Gegenentwurf zu Strategien der Dämonisierung und Pathologisierung, sondern zielt vor allem auf die Destruktion und die Dekonstruktion bekannter Bildformeln und Erzählmuster. Auch Christoph Schlingensief versucht in 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1989) eine alternative Bildlichkeit der Medienimago Adolf Hitlers anzubieten. Mit einem ebenso derben wie vulgären Gestus inszeniert Schlingensief den Untergang eines politischen Regimes als grotesken Totentanz; Udo Kier spielt die Hitler-Figur als morphiumsüchtiges, körperliches Wrack, Hitler tritt als ein durch Drogen degenerierter Künstler in Erscheinung, der sein blankes Hinterteil in braune Farbe tunkt und einen Abdruck an der Wand hinterlässt. Dieses an den Wiener Aktionismus erinnernde Körperbild parodiert karnevalistisch-drastisch die Symbolpolitik des historischen Hitler. Mehr als zehn Jahre später verkörperte Udo Kier erneut eine Hitler-Figur: In dem Kurzfilm Mrs. Meitlemeihr (GB 2002, Regie: Graham Rose) hat Hitler den Krieg überlebt und ist in Frauenkleidern in London untergetaucht; hier muss er sich nun der Avancen seines jüdischen Nachbarn erwehren. Die hier mitschwingende Vorstellung von Hitler als Untotem stellt ein populäres filmisches Narrativ dar, das als Unterform der Dämonisierung eine dramaturgische Melange mit dem Paradigma der Witzfigur eingeht. Sei es in Gespräch mit dem Biest (1996) in der Regie von Armin Mueller-Stahl mit ihm selbst als einer Figur, die vorgibt der 103-jährige Hitler zu sein; sei es besagte Mrs. Meitlemeihr, seien es Comics von Walter Moers, in denen Hitler 50 Jahre in der Kanalisation überlebt (Adolf, die Nazi-Sau) oder aber die Verfilmung des Bestsellers Er ist wieder

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da (D 2015) von Timur Vermes, der Hitler nach einem Koma in der Gegenwart aufwachen lässt. Regisseur David Wnendt hat keine herkömmliche Literaturadaption vorgelegt, sondern ist mit seinem Hitler-Darsteller Oliver Masucci quer durch Deutschland gefahren und hat festgehalten, wie die Menschen auf den vermeintlichen Wiedergänger reagieren. In einer Sequenz verdingt sich das Hitler-Double gar als Porträtzeichner in der Fußgängerzone von Bayreuth (Abb. 3). Diese dokumentarischen Sequenzen, in denen Passanten, Touristen, Imbissverkäuferinnen und Stammtischtrinker dem wiedererstandenen ‚Führer‘ ihr so politikverdrossenes wie rassistisches Herz ausschütten und Selfies mit dem Diktator machen, treffen auf Mockumentary-Anteile – die Begegnung mit NPD-Mitgliedern war dann doch inszeniert – und eine fiktive Handlung, die Hitler zum gefeierten TV-Comedian macht. Zwar wird Hitler überall erkannt, doch man hält ihn für einen politisch nicht korrekten Hitler-Imitator, der infolgedessen mit seinen flammenden Reden eine steile Fernsehkarriere hinlegt. Die biografischen Versatzstücke, die Er ist wieder da nicht nur, aber auch im Talkshow-Format präsentiert, werden nicht zur Deutung der Psychopathologie eines politischen Akteurs herangezogen, sondern zielen auf das mediale Geschäftsmodell, welches sich mit der Person Adolf Hitlers verbindet: Aufmerksamkeit, die sich in der Regel in finanziellen Erfolg übersetzt. Mit satirischer Absicht dehnt der Film ein Weiterwirken des Künstler-Narrativs auf die Massenmedien und die Sozialen Netzwerke aus – die Absicht einer Medienkritik bei gleichzeitigem Abgleiten in das selbstreferenzielle System der Hitler-Darstellungen

Abb. 3: Herr Hitler beim Zeichnen in Bayreuth. Quelle: Screenshot Er ist wieder da, 00:40:15.

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liegt so offen zu Tage, dass die meisten Rezensionen die Verfilmung verhalten bis negativ aufgenommen haben. 27 Auch wenn Er ist wieder da in der Tat keine „Polit-Provokation“ 28 geboten hat, sondiert der Film doch kollektive Befindlichkeiten in Zeiten erstarkender rechtsnationaler Bewegungen – oder wie es in der Filmkritik der ZEIT heißt: „Nicht ‚der Führer‘, sondern das Volk ist hier der wahre Wiedergänger.“ 29

5. Schluss Eine solche Lesart des Films bestätigt indirekt die These Susan Sontags, es gäbe einen „Hitler in uns“. Sontag hatte diese Formulierung in ihrer enthusiastischen Rezension von Hans-Jürgen Syberbergs siebenstündigem Opus Hitler – ein Film aus Deutschland (1977) verwendet und außerdem von „Hitler als Metapher“ gesprochen. 30 Die Rede von ‚Hitler in uns‘ hat seit den Siebzigerjahren eine steile diskursive Karriere absolviert, ist sie doch auch ein ins Allgemeingültige gewendetes Echo auf die Vorstellung Thomas Manns, der Künstler-Politiker sei eine Art ‚Bruder‘ des Künstlers. Betrachtet man diejenigen Spielfilme, die eben jenes Künstler-Narrativ zur Deutung von Hitlers politischer Karriere heranziehen, so kristallisiert sich als ein gemeinsames Erklärungsmuster heraus, dass sich aus der Ästhetisierung von Politik eine Form der charismatischen Herrschaft (Max Weber) ergibt. Damit greifen diese filmischen Narrationen nolens volens das Selbstverständnis Hitlers auf, der – so die These Pytas – „ein Künstler-Charismatiker war, der ästhetische Leitvorstellungen zur Legitimation seiner Herrschaft nutzen konnte“ 31. Die Verbindung von charismatischer Herrschaft und Geniekonzepten der Kunst habe für Hitler den Vorteil gehabt, so Pyta weiter, dass die politische Leistungsfähigkeit nicht beständig unter Beweis gestellt werden müsse. Sieht man von den Autorenfilmen der Siebziger- und Achtzigerjahre ab, so findet sich die Deutung der Herrschaft Hitlers als Interaktion von Politik und Ästhetik vor allem im populären Film des frühen 21. Jahrhunderts – zu einer Zeit also, als „Nazi-Chic und Nazi-Trash“ 32 als ein 27 Vgl. die Übersicht in der Filmkritik von Peter Kümmel, War er je weg, DIE ZEIT Nr. 40/2015, 1. Oktober 2015. 28 Schultz 2015. 29 Kümmel 2015. 30 Sontag 1979, 167. – Die Hitler-Figur in Syberbergs spektakulärer Bricollage aus performativen Stilen und dramatischen Gattungen wird von verschiedenen Schauspielern verkörpert oder sie tritt in Gestalt einer Puppe auf. 31 Pyta 2015, 242. Herv. i. O. 32 Stiglegger 2011.

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entideologisiertes, personifiziertes Böses in die Populärkultur diffundiert sind. Angesichts dieser Entpolitisierung auch und gerade der Biografie Hitlers verwundert es nicht, dass das tendenziell eher positiv besetzte Charisma eines Künstlers in den Spielfilmen durch die Betonung psychopathologischer Abgründe des Genies kompensiert wird. Biopics, die sich auf die Jahre vor der Machtübernahme beziehen, legen ausnahmslos einen Akzent auf diese ‚dunkle Seite‘ und reflektieren damit zugleich eine schon zu Hitlers Lebzeiten populäre Auffassung, nach der zwischen Genie und Wahnsinn nur ein „gradueller Unterschied“ 33 bestehe. Das Narrativ des charismatischen Künstler-Politikers mit Persönlichkeitsstörung zielt auf eine Komplexitätsreduktion im Umgang mit der Erinnerung an den Führermythos, welcher nach Martin Broszat die „Kohäsionskraft des Dritten Reiches“ 34 bildete. Das Aufgreifen bekannter Erzählmuster des ‚Caesarenwahns‘ – wie die übersteigerte Affinität zu allem Theatralem – bietet zum einen Entlastung im Hinblick auf die Mitverantwortung des Elektorats für die politische Karriere Hitlers und zum anderen lenkt es von der banalen Durchschnittlichkeit der weiteren Täter ab. Die narrative Verwandtschaft zu anderen als wahnhaft charakterisierten Autokraten lässt den ‚Führer‘ weniger einzigartig erscheinen und leistet letztlich der bereits angesprochenen Entpolitisierung Vorschub. Dessen ungeachtet bewegen sich die Meisten der bislang diskutierten Filme auf wirklichkeitsnahem Boden. Ganz anders Quentin Tarantino, der in Inglourious Basterds (USA/D 2009) auf die Frage nach dem Verhältnis von (Selbst-)Bildern, wie sie die nationalsozialistische Propaganda hinterlassen hat, und der fiktionalisierten Darstellung Hitlers eine radikale Antwort gefunden hat. Tarantino erteilte der Faktizität historischer Zeitläufte eine deutliche Absage, indem er die Vergangenheit neu erfand und Hitler samt Entourage einem Attentat zum Opfer fallen ließ. Ort des Geschehens ist ein Kino, das in Flammen aufgeht. Damit, so der Filmpublizist Georg Seeßlen, zeige Tarantino, dass „es nicht genügt, Hitler zu töten. Man musste zugleich seine Umgebung, seine Propaganda vernichten.“ 35 Die Medienimago Hitlers wird in der Attentatssequenz buchstäblich zerschossen und das Bild mit dem Abgebildeten vernichtet. Da das physische Ende Hitlers und seiner Führungsclique mit der Eliminierung des Symbolsystems des NS-Films verbunden wird, ist es das Kino selbst, das in Tarantinos Phantasie die NS-Propaganda besiegt. 33 Pyta 2015, 245. – So wurde etwa die Schrift Genie und Wahnsinn (1887) von Cesare Lombroso, die auch Hitler bekannt war, intensiv rezipiert. Um seinen durch das Geniekonzept gestützten Herrschaftsanspruch nicht zu verlieren, sprach Hitler sich öffentlich gegen eine Pathologisierung des Genies aus. Vgl. ebd. 34 Broszat, zitiert nach: Herz 1995, 57. 35 Seeßlen 2009, 150 f.

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Dieser Exorzismus faschistischer Bildmythen hat sich allerdings als wenig nachhaltig erwiesen – im Internet kursieren nach wie vor HitlerDarstellungen in Hülle und Fülle. Popkulturelle Artefakte wie Parodien, Memes, Mashups und Remixes mit ironisch-satirischem Gestus stehen dabei neben neonazistischen Videos, die Archivmaterial ungebrochen verbreiten. Ein Ende der sich selbst reproduzierenden Medienimago Adolf Hitlers scheint somit nicht in Sicht.

6. Bibliographischer Anhang 6.1 Filme 100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker. Regie: C. Schlingensief. BRD 1989. Eine Freundschaft in Deutschland. Regie: R. Karmakar. BRD 1985. Er ist wieder da. Regie: D. Wnendt. Deutschland 2015. Gespräch mit dem Biest. Regie: A. Mueller-Stahl. Deutschland 1996. The Great Dictator. Regie: C. Chaplin. USA 1940. Hitler, ein Film aus Deutschland. Regie: H.-J. Syberberg. BRD/Frankreich / Großbritannien 1977. Hitler: The Rise of Evil. Regie: C. Duguay. Kanada / USA 2003. Inglourious Basterds. Regie: Q. Tarantino. USA/Deutschland 2009. Der letzte Akt. Regie: G. W. Pabst. BRD/Österreich 1955. Max. Regie: M. Meyjes. Ungarn / Kanada / Großbritannien 2002. Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler. Regie: D. Levy. Deutschland 2007. Mein Kampf. Regie: U. Odermatt. Deutschland 2009. Mrs. Meitlemeihr. Regie: G. Rose. Großbritannien 2002. To Be or Not to Be. Regie: E. Lubitsch. USA 1942. Triumph des Willens. Regie: L. Riefenstahl. Deutschland 1935. Uncle Adolf. Regie: N. Renton. Großbritannien 2005. Der Untergang. Regie: O. Hirschbiegel. Deutschland 2004. You Nazty Spy! Regie: J. White. USA 1940.

6.2 Literatur Arnheim, R. 1978: Antifaschistische Satire (1940). In: Kreimeier, K. (Hg.): Zeitgenosse Chaplin. Berlin, 68–74. Benjamin, W. 1973: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M., 9–63. Bösch, F. 2007: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55, 1–32.

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Frölich, M. 2008: Tot oder lebendig. Hitler als Figur im Spielfilm. In: Rother, R. / Herbst-Meßlinger, K. (Hgg.): Hitler darstellen. Zur Entwicklung und Bedeutung einer filmischen Figur. München, 13–33. Haman, B. 1998: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München. Herz, R. 1995: Vom Medienstar zum propagandistischen Problemfall. Zu den Hitler-Bildern Heinrich Hoffmanns. In: Loiperdinger, M. u. a. (Hgg.): Führerbilder. Hitler, Mussolini, Stalin, Roosevelt in Fotografie und Film. München, 51– 64. Hissen, A. 2010: Hitler im deutschsprachigen Spielfilm nach 1945. Ein filmgeschichtlicher Überblick. Trier. Kracauer, S. 2005: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino (1924). In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M., 279–294. Kreimeier, K. 2002: Chaplins „Great Dictator“ – Revisited. In: Wende, W. (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart / Weimar, 31–43. Kümmel, P. 2015: „Er ist wieder da“. War er je weg? In: Die Zeit, Nr. 40 vom 01. 10. 2015. URL: http://www.zeit.de/2015/40/er-ist-wieder-da-kino-hitlerbuchverfilmung (Zugriff am 13. 10. 2017). Mann, Th. 1948: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Berlin. Mann, Th. 1986: Ein Bruder (1939). In: Ders.: Essays. Bd. 2: Politische Reden und Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Hermann Kurzke. Frankfurt a. M., 222–227. Marbach, J. H. 2008: Der Absolutismus des öffentlichen Selbst. Hitler als Figur aus psychopathologischer Sicht. In: Rother, R. / Herbst-Meßlinger, K. (Hgg.): Hitler darstellen. Zur Entwicklung und Bedeutung einer filmischen Figur. München, 121–132. Matussek, Paul / Matussek, Peter / Marbach, J. H. 2000: Hitler – Karriere eines Wahns. München. Mitchell, Ch. P. 2009: The Hitler Filmography. Worldwide Feature Film and Television Mini Series Portrayals. 1940 Through 2000. Jefferson (N. C.). Nuy, S. 2017: Die Politik von Athenes Schild. Zur dramaturgischen Logik des Politischen im fiktionalen Film. Münster (Schriften zur Medienmorphologie und Medienphilosophie, 2). Nuy, S. 2013: Lachen über den Holocaust? Komik und ihre Funktionen in der Erinnerungskultur am Beispiel zweier Filme von Dani Levy und Quentin Tarantino. In: von Keitz, U. / Weber, T. (Hgg.): Mediale Transformationen des Holocaust. Berlin, 299–326. Pyta, W. 2015: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München. Quidde, L 251896: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahn (1894). Leipzig, 3–20. Zitiert nach: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern. Bd. 5: Das Wilhelminische Kaiserreich und der Erste Weltkrieg, 1890–1918. URL: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_ id=759 (Zugriff am 13. 10. 2017).

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Schultz, S. M. 2015: Auf der Fanmeile mit dem Führer. Es ist mal wieder Frühling für Hitler. In: critic.de, 10. 10. 2015. URL: http://www.critic.de/film/er-istwieder-da-8072/ (Zugriff am 13. 10. 2017). Schultz, S. M. 2012: Der Nationalsozialismus im Film. Von „Triumph des Willens“ bis „Inglourious Basterds“. Berlin. Seeßlen, G. 1994: Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Kultur. Berlin. Seeßlen, G. 2009: Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über ‚Inglourious Basterds‘. Berlin. Seidel, J. 2011: Film „Mein Kampf“. Trittbrettfahrer der Hitlerei. In: Die Zeit vom 02. 03. 2011. URL: http://www.zeit.de/kultur/film/2011-03/film-mein-kampf (Zugriff am 13. 10. 2017). Sontag, S. 1981: Syberbergs Hitler (1979). In: Dies. (1981): Im Zeichen des Saturn. München / Wien, 147–174. Stiglegger, M. 2011: Nazi-Chic und Nazi-Trash. Faschistische Ästhetik in der populären Kultur. Berlin.

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Gaius Iulius Caesar Augustus Trump 1 I’ve been a bit obsessed with Tacitus lately for two reasons: I can’t stand to read about US politics any more because it’s so relentlessly vile: so indicative of an empire in decline; I don’t have to read about it, because the same things were going on 2,000 years ago. 2

1. Einführung Donald Trump scheint, auf den ersten Blick, der ‚kaiserlichste‘ der US-Präsidenten zu sein. Schon Mitte 2016 war die Häufigkeit solcher Vergleiche so groß, dass die Altertumswissenschaftlerin Donna Zuckerberg kommentierte: „Comparing Donald Trump to the ancient world has gone from potentially controversial to positively clichéd“. 3 Vor allem in den englischsprachigen Medien werden sie auch von angesehenen Historikern – wenn auch größtenteils in für ein nicht-akademisches Publikum geschriebenen Texten – und von bekannten Journalisten und Kommentatoren in einigen der renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften Großbritanniens und der USA angestellt, darüber hinaus von vielen unabhängigen Bloggern. Man könnte leicht den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um ein neues und beispielloses Phänomen handele – weniger einfach ist jedoch, diesen Eindruck quantifizierbar zu belegen. Der beste Ausgangspunkt für eine Analyse dieses Phänomens ist die Untersuchung von Google-Suchergebnissen. Alle im folgenden aufgelisteten Zahlen beziehen sich auf Suchanfragen zu englischen Suchbegriffen, die 1 Dieser Beitrag wurde zuletzt im Herbst 2018 wesentlich aktualisiert. Bis zur Drucklegung haben sich naturgemäß zahlreiche neue Entwicklungen und Daten ergeben, insbesondere im Zuge der sich zuspitzenden Polarisierung der politischen Debatte in den USA im Wahlkampf und während der parallel verlaufenden Pandemie-Krise, die immer neue Varianten der Anwendung des ‚Caesarenwahn‘-Motivs auf Donald Trump hervorgebracht hat. Diese Debatten sind im Beitrag nicht abgebildet. Der Verfasser geht jedoch davon aus, dass die wesentlichen Züge der hier gebotenen Beobachtungen auch heutiger Analyse standhalten. 2 Kahn 2018. 3 Zuckerberg 2016.

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Mitte Mai 2018 durchgeführt wurden; die Zahlen lagen bereits 5–10 % über den im März 2018 in einer ersten Voruntersuchung festgestellten Ergebnissen, und sie dürften sicher im Laufe der Zeit noch weiter zugenommen haben. Suchbegriffe Donald + Trump + roman + emperor Donald + Trump + Julius + Caesar Donald + Trump + Augustus Donald + Trump + Tiberius Donald + Trump + Caligula Donald + Trump + Claudius Donald + Trump + Nero Donald + Trump + Vespasian Donald + Trump + Domitian Donald + Trump + Trajan Donald + Trump + Hadrian Donald + Trump + Marcus + Aurelius Donald + Trump + Commodus Donald + Trump + Caracalla

Trefferanzahl 308 000 457 000 4 926 000 92 000 5 311 000 208 000 6 über 1,5 Millionen 32 500 24 000 45 000 106 000 7 180 000 8 23 000 29 500

Zu beachten ist, dass nicht alle diese Ergebnisse tatsächlich auf direkte Vergleiche zwischen Donald Trump und römischen Kaisern verweisen, sondern nur das gleichzeitige Vorkommen der jeweiligen Suchbegriffe auf einer einzigen Webseite belegen. Denkbar sind also auch Erwähnungen Trumps in Bezug auf Augustus oder Marcus Aurelius oder sogar Nero, die gerade die Unterschiede hervorheben oder sich gegen solche Vergleiche wenden; im Fall von Marcus Aurelius steht Trumps Name oft im Zusammenhang mit erbaulichen Sentenzen aus den Selbstbetrachtungen. Dennoch beziehen sich die meisten Suchergebnisse, zumindest auf den ersten Trefferseiten, auf direkte Vergleiche – einschließlich populärer Quiz unter Überschriften wie „Which awful Roman emperor does Trump most resemble?“, und „Which character from ancient Rome does Trump most resemble?“ 9

4 Dies schließt alle Verweise auf Shakespeares Theaterstück Julius Caesar und die Debatten über die bewusste Präsentation der Hauptfigur als einer Trump-artigen Figur in einer jüngsten Produktion in New York ein. Fügt man den Suchbegriffen ‚Shakespeare‘ hinzu, so ergibt dies 256.000 Treffer. 5 Ohne Verweise auf Tiberius Gracchus. 6 Dies schließt auch Verweise auf den Roman und die Fernsehserie I, Claudius ein. 7 Die hohe Zahl ist vor allem durch den Vergleich zwischen der von Trump geplanten Grenzmauer zu Mexiko mit dem Hadrianswall zu erklären. 8 Ohne Verweise auf den US-Verteidigungsminister James Mattis, der ein erklärter Bewunderer von Marc Aurels Selbstbetrachtungen ist.

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Es ist bemerkenswert, dass die Suche bei mehreren einzelnen Kaisern mehr Treffer erzielt als die generische Suche nach „Roman Emperor“. Dies passt zu dem Gesamteindruck, dass es die Vergleiche mit Einzelpersonen sind, die am meisten Aufsehen erregen: Man vergleicht Trump nicht in Bezug auf die politischen Institutionen des römischen Prinzipats, sondern in Bezug auf die spezifischen Charaktere und Handlungen historischer Individuen. Bemerkenswert ist auch die Prominenz bestimmter Kaiser: Nero hat fast doppelt so viele ‚Hits‘ wie der ‚zweitplatzierte‘ Augustus, danach folgen Julius Caesar und Caligula, dann Claudius und Marcus Aurelius (bei diesen finden sich aber, wie oben erwähnt, besonders viele Treffer, die nicht auf einen Vergleich, sondern auf Kontrastierung verweisen), und dann der Rest. In Bezug auf die allgemeine Wahrnehmung dieser Figuren bietet diese Liste zwei notorisch ‚böse‘ Kaiser (Nero und Caligula) und zwei, deren imago in der späteren Rezeption als ‚gemischt‘ zu bezeichnen ist. Ist dies, wie Zuckerberg andeutet, ein ganz neues Phänomen? GoogleSuchergebnisse zu Anfragen nach Trumps Vorgängern zeigen, dass es nicht oder jedenfalls nicht vollständig neu ist. Viele der in der obigen Suche identifizierten Seiten nehmen auch auf frühere Präsidenten Bezug: Das heißt, dass auch eine Suche nach „Obama + Nero“ eine große Zahl von Webseiten aus jüngster Zeit erfassen würde, die eigentlich Trump und Nero vergleichen, aber dabei auch Barack Obama erwähnen. Bei den im Folgenden aufgeführten Suchen sind deshalb in den Ergebnislisten Seiten, die auch den Begriff „Trump“ enthalten, ausgeschlossen. Darüber hinaus sind die Suchergebnisse auf das Ende der Amtszeit jedes Präsidenten beschränkt; dabei wurden zugleich nur Vergleiche zwischen jeweils noch aktiven, nicht ehemaligen Präsidenten und römischen Kaisern berücksichtigt. Roman Emperor Julius Caesar Augustus Tiberius Caligula Claudius Nero Vespasian Domitian Trajan Hadrian Marcus Aurelius Commodus Caracalla

Clinton 4 800 1 500 3 000 137 181 610 990 98 60 124 196 354 31 58

9 Morley 2018; Anonym o. J. (= In: Quora).

Bush 51 000 10 100 20 700 1 150 1 440 4 330 9 860 473 589 1 080 1 930 3 320 376 332

Obama 59 600 74 700 43 800 6 200 11 900 9 930 51 200 2 030 1 360 5 010 9 790 14 200 1 010 2 430

Trump 308 000 256 000 926 000 92 000 311 000 208 000 1 500 000 32 500 24 000 45 000 106 000 180 000 23 000 29 500

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Aus diesen Suchanfragen zu Webseiten lassen sich einige wichtige Erkenntnisse ableiten. Erstens sind Vergleiche zwischen US-Präsidenten und römischen Kaisern nicht völlig neu und beispiellos, zumindest in den letzten Jahrzehnten. Wesentliche zeitgenössische Vergleiche von Reagan, Nixon oder Kennedy mit römischen Kaisern konnte ich nicht feststellen – auch wenn ein ehemaliger Botschafter bei den Vereinten Nationen, George Ball, im Jahre 1968 Nixons Auswahl von Spiro Agnew als Vizepräsident mit Caligulas Ernennung eines Pferdes zum Konsuln verglichen hat. 10 Das ist kaum verwunderlich: Denn erstens gibt es seit der Gründung der Nation eine starke Tradition von Vergleichen zwischen den Vereinigten Staaten und Rom, und zweitens dienten die Kaiser Roms seit dem Ende der Antike als transhistorische Modelle für mächtige Herrscherfiguren und deren Reiche. 11 Wie schon der Beitrag von Heinrich Schlange-Schöningen in diesem Band zeigt, konnten Kaiserfiguren sogar innerhalb demokratischer oder republikanischer Diskurse als positive Bilder von Herrschaft dienen; dies gilt auch in jüngster Zeit: Bush erhielt von einigen Kommentatoren Lob für seine Führungsstärke im Krieg (hier wurde vor allem der Vergleich mit Augustus bemüht) und Obama wurde vorteilhaft mit Septimius Severus verglichen. Die Konzentration von Macht in den Händen eines Einzelnen wird jedoch häufiger, insbesondere in republikanisch geprägten Kulturräumen, als gefährlich und mit den politischen Normen unvereinbar angesehen; und solche Vergleiche werden regelmäßig von erklärten Gegnern des jeweiligen Präsidenten gezogen. 12 So wurde George W. Bush am 22. Januar 2007 auf dem Cover des Magazins New Yorker als Nero dargestellt, der von seinem Pressepult herabsingt, ohne die Zerstörung zu bemerken, die das Feuer in seinem Rücken (Irak, Wirbelsturm ‚Katrina‘) hervorruft. (Abb. 1). Barack Obama wurde sarkastisch mit Caracalla verglichen, weil er – angeblich – drohte, illegalen Einwanderern die amerikanische Staatsbürgerschaft zu gewähren: With a stroke of his pen, the illegal immigration problem would be solved. He could also throw in the remaining radical Islamic terrorists at Gitmo to boot. [Es folgt der Verweis auf das angebliche historische Vorbild:] [. . . ] it seems that once citizenship was freely given to everyone, it did not mean much anymore [. . . ] Rome soon fell anyway. 13

In ähnlicher Weise führte seine angebliche Verschwendungssucht im Umgang mit Regierungsgeldern zu einem Vergleich mit Caligula; seine mut10 11 12 13

George Ball 1968, zitiert von DiLeo 1991, 175. Malamud 2009. Vgl. Wyke 2006. Lucas 2016.

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Abb. 1: O lodernd Feuer!, Motivwagen Mainzer Carneval-Verein 1838 e. V. (Rosenmontag 2020) Foto: T. Blank.

maßliche Vernachlässigung der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus wurde für einen bereits vertrauten Vergleich mit Nero verwendet, indem man darauf verwies, statt den Terror – sein brennendes Rom – zu bekämpfen, besuche Obama lieber ein Baseballspiel in Havanna. 14 Zweitens aber unterscheiden sich die Trefferzahlen bei Donald Trump deutlich in ihren Dimensionen. Natürlich sind diese Zahlen nicht vollständig und per se belastbar. Die Zahl der jährlich produzierten Websites ist in den letzten Jahrzehnten stetig angestiegen, so dass es kaum verwunderlich ist, dass im Durchschnitt neuere Ereignisse und Personen der jüngsten Zeitgeschichte eine höhere Trefferquote erzielen. Die Schwierigkeit abzuschätzen, wie weit das Internet in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, ist allgemein anerkannt; als ungefähre Größenordnung kann aber festgehalten werden, dass es im Jahr 2000 ca. 10 Millionen Websites gegeben hat, im Jahr 2008 bereits ca. 200 Millionen und mehr als 1 Milliarde im Jahr 2016. Dieses Wachstum war zwar sowohl zeitlich als auch geogra-

14 Martino 2012; Hunter 2016.

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phisch inkonsistent, aber vieles deutet darauf hin, dass schon angesichts dieser Entwicklung ein 20-facher Anstieg der Trefferzahlen im Zeitraum zwischen 2000 und 2008 sowie ein fünffacher Anstieg zwischen 2008 und 2016 nicht überraschen kann. In der Tat liegt der Anstieg der Trefferzahlen von Clinton zu Bush durchschnittlich bei etwas unter 1000 %, also in etwa beim Zehnfachen. Von Bush zu Obama bleiben einige Kategorien deutlich unter dem zu erwartenden Anstieg von 500 % (‚Roman Emperor‘ = weniger als 20 %; ‚Augustus‘ = etwas über 100 %), während andere stärker zunehmen (‚Julius Caesar‘ und ‚Caligula‘ = jeweils über 700 %; ‚Caracalla‘ = über 600 %). Der Vergleich zwischen Trump und Obama spricht dagegen für sich; hier zeigen sich Zunahmen um das 20- oder 30-fache in den Fällen von Augustus, Caligula, Claudius, Nero und Commodus, und nur die Begriffe ‚Julius Caesar‘ (250 %) und ‚Roman Emperor‘ (400 %) unterschreiten ein fünffaches Wachstum. Am wichtigsten ist, dass Trumps Zahlen nur aus den ersten zwei Jahren seiner ersten Amtszeit und dem Wahlkampfzeitraum stammen, verglichen mit den vollen zwei Amtszeiten aller anderen. Die Ergebnisse zeigen also unmissverständlich, dass Trumps Name weit häufiger mit den Namen römischer Kaiser in Verbindung gebracht wird, als es im Vergleich zu seinen Vorgängern statistisch zu erwarten gewesen wäre. Dieser Kontrast betrifft aber nicht nur die Zahlen. Der Eindruck, der sich bei der Sichtung des Materials einstellt, ist, dass es in Medien jeglicher Art zu Vergleichen zwischen Trump und römischen Kaisern kommt, von einzelnen Blogs und lokalen Zeitungen bis hin zu großen nationalen und internationalen Zeitungen wie der Washington Post und der New York Times. Zu den Kommentatoren gehören außerdem angesehene politische Analytiker, nicht nur parteiische Polemiker. Es scheint auch, dass das ideologische Spektrum solcher Kommentatoren breiter ist als bei früheren Präsidenten. Während zum Beispiel die feindseligen Vergleiche Obamas mit Caligula oder Nero ganz aus dem rechten bis rechtsextremen Lager kamen, wird die Vermutung, dass Trump caesarische Bestrebungen verfolge, ebenso von Akteuren des konservativen Mainstreams wie von den (eher zu erwartenden) liberalen Kommentatoren geäußert. Die Schlüsselfrage lautet, wie wir diesen dramatischen Diskurswechsel interpretieren sollen. Eine mögliche Antwort ist, dass dies ein direkter Reflex der Selbstdarstellung Trumps in seinem Naturell und Charakter und vielleicht in seinem Regierungsstil ist; das heißt: Während (wie oben dargestellt) vor allem für kritische und polemische Zwecke immer die Möglichkeit besteht, einen US-Präsidenten (oder andere Politiker) mit einem römischen Kaiser zu vergleichen, erscheint dies im Falle von Trump besonders natürlich und angemessen, so dass solche Vergleiche weitere Verbreitung finden. Eine alternative These wäre, dass der weitere Kontext

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eine wichtige Rolle spielt: Herrschen möglicherweise derzeit historische Umstände, die Vergleiche mit Rom ganz allgemein besonders attraktiv oder schlagend erscheinen lassen – auch wenn es freilich immer möglich ist, auch andere Analogien anzubieten? Immerhin gab es in den vergangenen Jahren gleich mehrere Bücher, die den gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten mit dem späteren Römischen Reich vergleichen, in Anbetracht der bei manchen verbreiteten Wahrnehmung, dass ihre Macht zu versagen drohe und die Barbaren vor den Toren ständen. 15 Es ist daher durchaus möglich, dass diese Trump-Vergleiche einfach eine ‚natürliche‘ Erscheinung innerhalb einer umfassenderen kulturellen Entwicklung sind. Andererseits könnte man den Blick auch auf die Bedingungen im Medienumfeld richten: Die Suche nach Möglichkeiten, Erklärungen für die Kontingenz gegenwärtiger Ereignisse zu finden, hat Journalisten und Kommentatoren dazu veranlasst, in die Vergangenheit zurückzuschauen, während zugleich auch im akademischen Umfeld der Druck auf Historikerinnen und Historiker wächst, eine unmittelbare Relevanz ihrer Arbeit für die Gegenwart zu demonstrieren. In diesem Sinne argumentierte Moshik Temkin in einem Artikel unter dem Titel ‚Historians shouldn’t be pundits‘: Donald Trump might be disastrous for most Americans and a danger to the world, but he has been a boon to historians. The more grotesque his presidency appears, the more historians are called on to make sense of it, often in 30-second blasts on cable news or in quick-take quotes in a news article. As a historian, I’m glad to see my profession getting some much deserved publicity. But I also worry about the rapid-fire, superficial way history is being presented, as if it’s mostly a matter of drawing historical analogies. 16

Wir können diese Entwicklung im britischen Kontext sehr deutlich sehen, wo der populäre Geschichtsschreiber Tom Holland regelmäßig Reklame für seine Bücher macht, indem er Analogien zu zeitgenössischen Ereignissen anbietet – und das jüngste dieser Bücher, mit dem Titel Dynasty, bezieht sich auf die julisch-claudische Kaiserdynastie:„What Caligula and Nero are doing, in a sense, is the equivalent of what Trump and Sanders are doing – wanting to get out of that Washington bubble to speak to the people.“ 17 Caligula und Trump seien beide bewusste Populisten, trampelten auf den Eliten herum und böten so ein gewaltiges Spektakel: „He did all the

15 Murphy 2007; Smil 2010. Wir können ein ähnliches Phänomen in Europa beobachten, wo Gegner der EU und / oder der Massenmigration den Fall des Römischen Reiches heraufbeschwören, um ihre apokalyptischen Phantasien zu rechtfertigen. Vgl. Steinacher / Morley 2017. 16 Temkin 2017. 17 Forbes 2015.

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things that the people thought he should do [. . . ]. They loved him for it.“ 18 Holland wird dabei durchaus von außen gedrängt, solche Vergleiche anzubieten – aber er zögert auch niemals zu antworten. Eine ähnliche Dynamik sehen wir bei der deutlich wissenschaftlicher agierenden Althistorikerin Mary Beard. Sie distanziert ihre eigenen wissenschaftlichen Motive sorgfältig von der Kultur der Medien, da sie behauptet, dass die Hauptnachfrage nach solchen Analogieschlüssen von Seiten der Journalisten komme: „As I have said more than once, there is something very silly as well as half-satisfying in answering the journalist’s favourite question: which Roman emperor is Donald Trump most like?“ 19 Dennoch bietet auch sie zahlreiche Querverbindungen und Vergleiche an, sowohl in Blogs als auch in ihrer BBC-Dokumentation Julius Caesar Revealed vom Februar 2018: Da seien die Kultur der politischen soundbites, der Anspruch von Politikern, direkt zu den Bürgern zu sprechen, ihre Selbstdarstellung als Anti-Establishment-Kandidaten, ihre zweifelhafte persönliche Lebensführung – und die Eitelkeit, ihre Glatze durch combover verbergen zu wollen. Es ist nicht klar, ob der in der Dokumentation gezogene Vergleich die Karriere von Caesar oder die Karriere von Trump beleuchten soll oder ob es sich um reine Unterhaltung handelt – aber sicher kann man es nicht allein den Journalisten vorwerfen, wenn Akademikerinnen und Akademiker deren trivialisierende Fragen auf eine solche Weise beantworten. 20 Die plausibelste Erklärung des Anstiegs von Kaiservergleichen dürfte wohl in einer Kombination der verschiedenen genannten Faktoren liegen: einerseits im ‚kulturellen Moment‘, in dem Journalisten von Historikerinnen und Historikern sowohl Aufklärung als auch wissenschaftlich sanktionierte, spannende Unterhaltung einfordern; andererseits in der tief verwurzelten Tendenz, nach ererbten Bildern des alten Rom zu suchen, die Analogien und Modelle für die Gegenwart bereithalten; und drittens in der besonderen Qualität von Trumps Präsidentschaft, seiner Selbstdarstellung und seinem Regierungsstil. Um dies weiter zu untersuchen, ist es sinnvoll, zwischen den verschiedenen Zwecken zu unterscheiden, für die solche Analogien angeboten werden könnten. Meine These lautet, dass anders als zu den Amtszeiten früherer Präsidenten im Falle von Trump zumindest manche Beispiele für eine komplexere oder wenigstens nicht nur polemische Verwendung solcher Vergleiche zu finden sind. Freilich enthält die überwiegende Mehrheit der Kaiservergleiche zumindest zu einem – oft erheblichen – Teil eine verächtliche Note, und deshalb sollten wir hier beginnen. 18 Brown 2016. 19 Beard 2017. 20 Beard 2016; Julius Caesar Revealed 2018.

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2. Schmähung „All tyrants are different – mad, bad, stupid or sick, they tend to be wild and uninhibited characters who are highly original in their excesses. So is the 45th president of the United States.“ 21 – Innerhalb des amerikanischen politischen Diskurses hat jeder, der sich in herrischer Weise verhält oder sich wie ein unangefochtener Autokrat verhält, per definitionem mit den Normen und Werten der Republik gebrochen. Selbst ein relativ neutraler Vergleich mit Rom oder mit einem Kaiser, der allgemein als ein positives Modell angesehen wird, wie etwa Augustus, dient dazu, Trump als jemanden darzustellen, der sich in einer nicht akzeptablen, unamerikanischen Art verhält und alle Institutionen, die Freiheit und Demokratie garantieren, bedroht – auch wenn es augenblicklich so scheint, als funktionierten diese Institutionen noch immer: Augustus, heir of the popular party, terminated the republic and installed himself as emperor. He did so by preserving all the forms of the republic, while he dispensed with their meaning [. . . ]. An American ‚Caesarism‘ has now become flesh. It seems a worryingly real danger today. 22

Augustus’ Karriere wird in taciteischen Begriffen als Triumph der Autokratie interpretiert, ohne dass dies irgendeine Vorstellung positiver Elemente zulassen würde; ähnlich auch die Idee, dass Augustus in seinen Angriffen auf Antonius ‚fake news‘ erfunden habe, was deutlich die Rolle der Desinformation in der Trump-Kampagne hervorhebt und die Vorstellung vermittelt, dass sein Aufstieg zur Macht illegitim gewesen sei („Fake news had allowed Octavian to hack the republican system once and for all“). 23 Ebenso bietet ein Vergleich mit Caesar die Gelegenheit, den Gedanken in Erwägung zu ziehen, dass eine äußere Bedrohung (in Caesars Fall jene der Helvetier) absichtlich übertrieben worden sei, um die Voraussetzungen für einen politischen Triumph zu schaffen: If Trump is the new Caesar, then he is recasting Mexican migrants and Muslim visitors to the US as the new Helvetii. Trump is no general like Caesar but he has shown himself as adept at manipulating the image of migrants and outsiders to generate fear [. . . ]. The example of Caesar shows the dangers when populist politicians like Trump rouse terror of the outsider in their quest for power. 24

21 22 23 24

Jones 2017. Wolf 2016. Kaminska 2017. Omrani 2016.

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Alles, was Analogien zu Ereignissen und Politiken des Römischen Reiches nahelegt – auch wenn diese im römischen Kontext gar nicht als Zeichen der Tyrannei betrachtet wurden –, schürt solche Verdächtigungen, so zum Beispiel Trumps Wunsch, eine Militärparade abzuhalten, der man die Absicht unterstellt, nicht die Truppen zu ehren, sondern sich selbst zu feiern: Trump qualifies as a victorious commander, having vanquished enemies foreign (Islamic State) and domestic (Cryin’ Chuck Schumer), and as an emperor, having said that those who don’t applaud him commit treason against the state [. . . ]. In Trump’s triumph, the spoils would include models of Trump hotel and golf properties, the nuclear football, a float with a very large button, and chunks of the border wall, carried by Mexicans [. . . ]. There’s only one problem with this plan, as I see it. In the Roman triumph, a slave would ride with the general in his chariot and repeatedly whisper into his ear, ‚Memento mori‘: Remember, you are mortal. For our parading president, this could be a deal-breaker. 25

Mutmaßungen über Trumps Charakter werden als Gründe dafür genommen, seine erklärten Motive abzulehnen und stattdessen das Vorhaben als Plan einer Parade nach dem Bild eines römischen Autokraten zu interpretieren – und das verbunden mit der weiteren Behauptung, Trump wolle selbst die einschränkenden Regeln des römischen Ritus überschreiten, da er jede Infragestellung seiner Macht ablehne. Analogien mit Rom sollen also suggerieren, was der Präsident, wie jeder Autokrat, wirklich im Sinn hat – aber für einen wie Trump, so behauptet man, stellt das Verhalten solcher Kaiser nicht so sehr ein Vorbild dar, das nachzuahmen wäre, als vielmehr einen Ausgangspunkt, über den man hinausgehen muss. Dies wird deutlich durch die Tatsache, dass die am häufigsten suggerierten Analogien solche zwischen Trump und notorisch schlechten Kaisern sind. Betrachten wir noch einmal die Tabelle der Google-Suchergebnisse: über 300.000 Ergebnisse für Caligula und über 1,5 Millionen für Nero. Meist will man damit nicht behaupten, dass es ‚gute‘ Kaiser geben könnte, sondern nur, dass es ‚schlechte‘ und ‚sehr schlechte‘ gibt. Die wichtigste Ausnahme findet sich in Kirk Freudenburgs Analyse, die zumindest die Möglichkeit von ‚kaiserlicher‘ Kompetenz und sogar einem gewissen Maß an Integrität bei einigen der Herrscher Roms, einschließlich Augustus, impliziert 26 – aber auch hier dient dies nur dazu, Trump umso negativer darzustellen:

25 Milbank 2018. 26 Dass solche positiveren Sichtweisen auf ‚böse‘ Kaiser in der althistorischen Forschung längst auch in der Breite vertreten werden, zeigt im vorliegenden Band der Beitrag von Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer.

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Wearied by decades of war and vitriol, Romans of Virgil’s day gave themselves over to dreams of this sort [peace and freedom from civil war], and what they got in return was an autocrat: the emperor Augustus. We are now entering a new age in the United States, having just elected as our next president a man who has proven himself uniquely gifted at turning the latent fears and untapped ‚us versus them‘ hatreds of millions of otherwise decent American citizens into a source of his own political power. He has no qualms about doing this, and he offers no apologies. Instead of appealing to what Lincoln named ‚the better angels of our nature‘, Donald Trump has consistently appealed to the most irrational and un-controllable of our worst potentials, enticing them out into the light of day. Like any bad Roman emperor, he has shown himself preternaturally gifted at conjuring up fantasy threats (Mexican rapists) that stand in for real ones (global warming), so that he might sweep in to pose as a protection against those threats. In the end, that’s the way bad emperors worked the reins of power in Rome: not by actually solving problems, but by posing problems of their own manufacture; problems that they themselves, and only they, could claim to be uniquely capable of solving. They needed people to feel afraid so that they could step in to calm their fears. 27

‚Schlechte‘ Kaiser sind besonders gut geeignet, die möglichen Folgen davon offenzulegen, wenn ein einzelnes Individuum zu viel Macht erhält, insofern diese Person sich als hemmungslos eitel, zügellos, korrupt oder sogar verrückt erweisen könnte. Das Standardformat dieser Diskussion geht vom historischen Material aus, also von scheinbar soliden historischen Fakten, namentlich von den (tatsächlich in vielerlei Hinsicht kaum glaubwürdigen) Handlungen eines vermeintlichen antiken Tyrannen; so sollen die Leser selbst beginnen, Querverbindungen herzustellen; im zweiten Schritt folgt der direkte Vergleich. 28 Ebenso verfährt David Remnick im New Yorker, indem er mit Nero beginnt: What made the Emperor Nero tick, Suetonius writes in ‚Lives of the Caesars‘, was ‚a longing for immortality and undying fame, though it was ill-regulated.‘ Many Romans were convinced that Nero was mentally unbalanced and that he had burned much of the imperial capital to the ground just to make room for the construction of the Domus Aurea, a gold-leaf-and-marble palace that stretched from the Palatine to the Esquiline Hill. At enormous venues around the city, he is said to have sung, danced, and played the water organ for many hours – but not before ordering the gates locked to insure that the house would remain full until after the final encore. Driven half mad by Nero’s antics, Romans feigned death or shimmied over the walls with ropes to escape.

27 Freudenburg 2016. 28 Eben dieses Verfahren wendet Ludwig Quidde in seinem Caligula an. Die Beschreibung des antiken Kaisers selbst hat hier ausreichende Suggestionskraft, um den ‚zweiten Schritt‘ des direkten Vergleichs gar nicht mehr zu benötigen; vgl. dazu Thomas Blank in diesem Band.

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Chaotic, corrupt, incurious, infantile, grandiose, and obsessed with gaudy real estate, Donald Trump is of a Neronic temperament. He has always craved attention. Now the whole world is his audience [. . . ]. Future scholars will sift through Trump’s digital proclamations the way we now read the chroniclers of Nero’s Rome – to understand how an unhinged emperor can make a mockery of republican institutions, undo the collective nervous system of a country, and degrade the whole of public life. 29

Der ‚Wahnsinn‘ und die bizarren und exzessiven Handlungen, in denen ein vermeintlich geistesgestörter Herrscher wahrscheinlich schwelgt, sind regelmäßige Themen dieser Art von Argumentation. Der Vergleich mit Caligula ist besonders nützlich für diesen Zweck, vor allem wenn die Idee, dass er ein Pferd zum Konsul ernannt hat, eine Analogie für gleich eine ganze Reihe der weniger überzeugenden Amtsernennungen in Trumps ‚Weißem Haus‘ bietet. One ruler had a penchant for gilded palaces, poorly-executed jokes, financial irresponsibility, and nepotism. The other was a Roman emperor who thought about making his horse a consul. Is Jared Kushner the American equivalent of a horse-consul? 30 Naming a horse to the senate isn’t really so far-fetched considering that clueless, amoral Republican U.S. senators – co-conspirators of Trump – while they aren’t horses, are certainly asses. But Caligula was no laughing matter. Instead of having a big, red nuclear button on his desk, Caligula had command of Roman legions and the military power of the greatest empire the world had ever known. What Trump and Caligula have in common is self-deification – believing they are gods. 31

Hier werden der Leserschaft die wohlbekannten Anekdoten über die jeweiligen Kaiser angeboten: Caligula als kapriziös und unberechenbar; Nero als verdorben und egozentrisch, der die Kithara spielt, während Rom (das wir für die Gegenwart mit ‚die ganze Welt‘ ersetzen können) brennt; Commodus als narzisstisch, hedonistisch und hemmungslos gierig: „He used his position as head of state to make himself the star of his ongoing public show [. . . ]. He sold public offices so the ancient equivalents of Betsy DeVos and Steven Mnuchin could orchestrate a vast kleptocracy [. . . ].“ 32 In einigen Fällen stammt das Quellenmaterial zugegebenermaßen aus Robert Graves’ Roman I, Claudius oder dessen Fernsehadaption (und im Falle von Commodus ist klar, dass dessen Darstellung durch Joaquin Phoenix in Ridley Scott’s Gladiator die wichtigste, wenn nicht gar die einzige 29 30 31 32

Remnick 2016. Bohl 2017. Andersen 2018. McCoy 2018; Hedges 2017.

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Quelle für manchen heutigen Kommentar darstellt); andere Publizisten behaupten, sie hätten diese Vorstellungen bis zu den ursprünglichen Quellenbelegen zurückverfolgt; damit sind jedoch fast ausschließlich Anekdoten aus Sueton gemeint, und schon auf Tacitus wird nur sehr gelegentlich zurückgegriffen. 33 Für solche Inanspruchnahme der Geschichte zum Zweck der Kommentierung des Tagesgeschehens nebensächlich sind etwaige Versuche der aktuellen Althistorie, die betreffenden Erzählungen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu korrigieren und aufzuzeigen, in welchem Maße sie von den römischen Traditionen der Schmähung geprägt sind, oder wie wenig nicht-polemische Belege existieren, die die vermeintlichen Fakten zum tyrannischen Verhalten der Kaiser bestätigen können. Um Trump zu verurteilen, müssen römische Kaiser so ungeheuerlich wie möglich dargestellt werden, damit der Präsident sich dann als genauso ungeheuerlich erweisen kann: „Trump is today doing to the Republican Party what Nero did to Rome, for the same reasons and by the same methods: a greedy, incompetent man seeking glory, and a self-castrated senate.“ 34 Noch deutlicher verunglimpfend wird behauptet, Trump sei weitaus schlimmer (als die angeblich verrückten Kaiser), und zwar allein schon infolge der Erfindung von Twitter. So behauptet Paul Krugman zu glauben: „Trump makes Caligula look pretty good“: Seven months into the Trump administration, we can see that this comparison was unfair. For one thing, Caligula did not, as far as we know, foment ethnic violence within the empire. For another, again as far as we know, Rome’s government continued to function reasonably well despite his antics: Provincial governors continued to maintain order, the army continued to defend the borders, there were no economic crises. Finally, when his behavior became truly intolerable, Rome’s elite did what the party now controlling Congress seems unable even to contemplate: It found a way to get rid of him. 35

Alle diese Berichte – ebenso wie die visuellen Darstellungen von Trump als Nero – beruhen auf einem starken Gefühl, es seien politische Normen und Werte verletzt worden und die Gesellschaft entferne sich immer mehr von einem wünschenswerten Status quo. Munter werden das Römische Reich und das moderne Amerika miteinander vermischt, und ohne nennenswerte Diskussion wird angenommen, dass römische Sorgen über das Wesen von Herrschern im Kern dieselben gewesen seien wie die der heutigen Kommentatoren. Wie Sueton und spätere Quellen, die dessen Geschichten nacherzählen, konzentrieren sich die Publizisten auf 33 Graves 2012 (1934); I, Claudius 1976; Gladiator 2000. S. z. B. Buckley 2018; Blow 2017. 34 Kahn 2017. 35 Krugman 2017.

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Exempla des extremen und inakzeptabelsten Verhaltens als Beispiele für das Gebaren kaiserlicher Tyrannen, und dies setzen sie dann mit Entsprechungen in der Gegenwart gleich. Diese Form der Schmähung bietet zwei klare Botschaften: Autokratische Macht ist grundsätzlich gefährlich und zerstörerisch, und mehr noch gilt dies dann, wenn sie in der Hand eines Mannes liegt, der willens ist, sie auch zu nutzen. Welchen Zweck erfüllt diese Schmähung eigentlich? Wir könnten uns zwei unterschiedliche Zielgruppen vorstellen. Erstens sind da die engagierten Gegner Trumps, wozu auch einige Republikaner gehören. Diese können sich in ihrer Opposition bestätigt fühlen: Wenn Trump mit einem römischen Kaiser, besonders mit einem der schlechten, vergleichbar ist, dann befinden sich die Republikaner fest auf der Seite der Tugend und der wahren amerikanischen Werte. Mit vielen der angesprochenen Argumentationen scheint man tatsächlich beim Publikum offene Türen einzurennen; sie bieten eine Reformulierung und Bestätigung von schon fest verwurzelten Ansichten und eine intellektuelle, historische Fassade für eine bereits etablierte Antipathie. Als Absicht der betreffenden Autoren ist aber auch vorstellbar, dass diese die politisch Unentschiedenen oder sogar manche von Trumps Anhängern von dessen Unfähigkeit zur Übernahme eines solch wichtigen Amtes überzeugen wollen: Wer möchte schon An-

Abb. 2: Hail Trump! (Karikatur) Illustration: © Tim O’Brien (2017).

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hänger von Nero oder Caligula sein? Kann aber deren überliefertes Verhalten fraglos als offensichtlich ‚unamerikanisch‘ und inakzeptabel gelten? Ob solche Argumente wirksam sind, darf bezweifelt werden; Analogien aus der antiken Geschichte sind kaum dazu geeignet, die Mehrheit der Bevölkerung anzusprechen, und die beständige Loyalität, die Trump weiterhin von seinen hartnäckigen Unterstützern erhält, deutet eher darauf hin, dass, ganz so, wie Adorno es für den Faschismus im Allgemeinen annahm, der autokratische Führer auf Sympathie stößt, und zwar auch wenn, ja gerade weil er im Kostüm eines römischen Kaisers den Clown spielt („not in spite of his cheap antics but just because of them, because of his false tones and his clowning“; Abb. 2). 36

3. Selbstberuhigung Aber vielleicht lässt sich auch bei einigen dieser Vergleiche ein drittes Zielpublikum identifizieren: der Autor selbst, der auf die Vergangenheit zurückblickt, um mit den gegenwärtigen Umständen fertigzuwerden. Die römische Geschichte bietet Material, um Wut zu schüren, aber sie lässt sich auch verwenden, um Anlass zur Hoffnung zu geben. Eine Reihe von Schriftstellern nimmt das gewaltsame Schicksal ‚schlechter‘ Kaiser, besonders das des Caligula, als Vergewisserung zur Kenntnis, dass Trump sich selbst mäßigen müsse, wenn er an der Macht bleiben oder eine zweite Amtszeit gewinnen wolle – oder sie schwelgen in der Vorstellung seines gewaltsamen Umsturzes. Nicholas Kristof zeigt zumindest genügend Selbstreflexion, um seinem Bericht von Caligulas Fall hinzuzufügen: „(not a path I would ever condone)“. 37 Chris Hedges kommt zu dem Schluss, dass die Beseitigung Trumps zwar nichts zur Lösung der langfristigen Probleme Amerikas beitragen würde, aber er beginnt mit einer kurzen Skizze der Ermordung von Commodus, die Parallelen zur gegenwärtigen Situation aufzeigen will und so einen kurzen Moment von Wunschtraum darstellt: „The deep state’s decision in ancient Rome – dominated by a bloated military and a corrupt oligarchy, much like the United States of 2017 – to strangle the vain and idiotic Emperor Commodus in his bath in the year 192 [. . . ].“ 38 Die meisten Autoren, besonders die konservativen, sind (oder waren zumindest) optimistischer als Hedges. Sie spielen auf die Geschichte an, um sich zu versichern, dass tyrannische Herrschaft nicht ewig andauere 36 Adorno 1946/1994, 225. 37 Andersen 2018; Kristof 2017. 38 Hedges 2017.

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und dass auf lange Sicht der status quo ante wiederhergestellt werde. So schreibt Kristof: Rome also had values, institutions and mores that inspired resistance. Even the greatest of nations may suffer a catastrophic leader, but the nation can survive the test and protect its resilience – if the public stays true to its values, institutions, and traditions. 39

Ähnlich auch Peter Jones: The saving grace is that a country’s institutions and public servants keep it on the road, however pathological its leadership. If the Roman Empire could survive for half a millennium, the USA can probably survive Trump. 40

Freilich stammt diese Ansicht aus dem Vereinigten Königreich und aus einer konservativen Zeitschrift. Das könnte die implizite Bereitschaft erklären, einen allgemeinen Verlust von Freiheit als Preis der Stabilität zu akzeptieren, solange die Herrscher mehr oder weniger geistig gesund seien. Kirk Freudenburg rät ebenfalls zu Vorsicht und Mäßigung angesichts der ‚offensichtlichen‘ Parallelen zum Fall der Republik und zum Aufstieg der Autokratie – nur, um schließlich doch auf Rom zurückzublicken und eine beruhigendere Lehre zu finden: Taking a lesson from Persius, I think that to give in to such hyperbole threatens to make of me my very own, self-indulgent version of Donald Trump. He is the outraged hyperbolist looking to scare and score points, not me [. . . ]. Our democracy is fragile and on the precipice of hard times. The government will soon be in the hands of a man who has no scruples about speaking insultingly and recklessly about things he actively chooses not to understand. And yet ours is a grand, old, resilient democracy all the same. Not Rome, in other words. Not quite. Not yet – though we have just taken a big, dangerous step in that direction. 41

Selbst wenn Trump ein ‚schlechter Kaiser‘ sei, müsse das nicht unbedingt das Ende der Welt bedeuten. Und da er ein ‚schlechter Kaiser‘ ist, weist Freudenburg auf mögliche Mittel hin, um seine Herrschaft zu ertragen. Helen Lewis – wiederum eine Beobachterin aus der ‚bequemen‘ Distanz Großbritanniens – stellt in ähnlicher Weise die Betrachtung der römischen Geschichte (oder einer fiktionalisierten Version davon) als geeignetes Hilfsmittel dar, um mit der politischen Situation der Gegenwart fertigzuwerden. The power of I, Claudius is in imagining what you, as an ordinary human, would do in such extraordinary circumstances. First, the rationalisation: yes, 39 Kristof 2017. 40 Jones 2018. 41 Freudenburg 2016.

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he’s bad, but anarchy is worse. Then the realisation: yes, he’s mad, but there’s no way to get rid of him. And finally, the reaction: the situation is now so bad we have nothing to lose. 42

Der politische Theoretiker Yascha Mounk kommt zu dem düsteren Schluss, die römische Geschichte zeige, dass der Populismus immer wiederkehre, solange die grundlegenden Probleme noch immer nicht gelöst seien, so lange, bis man schließlich erkennen müsse, dass die Republik bereits verwelkt sei. 43 Er wendet sich dann abrupt den Anhängern der Stoa unter Nero zu, um ein Modell zu entwickeln, wie man sich unter einem Tyrannen zu benehmen habe. Sollte man aufgeben oder sich weigern, ungerechte Befehle entgegenzunehmen? Wer bei dieser Frage ins Nachdenken gerate, sei schon auf dem Weg, seinen Charakter zu verlieren. Wie für Freudenburg das Beispiel des Satirikers Persius, so bereitet auch für Mounk die mögliche Analogie zwischen Trump und Nero ein Minimum an Trost: Schon früher haben gute Menschen einen solchen Herrscher überlebt, ohne ihre Integrität zu verlieren. Von ihnen kann man lernen, was zu tun ist.

4. (Scheinbare) Analyse Angeblich besteht der Hauptzweck der meisten solcher Analogien zur Kaiserzeit – zumindest in seriösen Mainstream-Zeitungen wie der New York Times – darin, Verständnis zu schaffen: Angesichts einer beunruhigenden und scheinbar beispiellosen Situation blickt man auf die Vergangenheit, um tiefere Einsicht in einen historischen Typus (des Tyrannen), historische Institutionen oder Phänomene (Autokratie, Populismus) oder in die Dynamik historischer Entwicklungen (den Sturz oder Zusammenbruch des Republikanismus und seiner Werte) zu gewinnen. Die Probleme mit solchen Analogien sind wohlbekannt. Welche von unendlich vielen möglichen historischen Analogien wählt man, und warum? Rom bietet sich vor allem deshalb für solche Vergleiche an, weil es als Referenzpunkt der Politik in der Kultur der Vereinigten Staaten längst etabliert ist; man hat gewisse Kenntnis davon – und ist so leichter davon überzeugt, dass solche Vergleiche relevant und plausibel seien. Man könnte auch vermuten, dass römische Kaiser deshalb herangezogen werden – und nicht etwa Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts –, um die Schmähung salonfähig zu machen: Vergleiche mit Hitler werden stets als parteiisch und übertrie-

42 Lewis 2018. 43 Mounk 2018, 261–263.

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ben empfunden, während Vergleiche mit Nero oder Augustus gelehrter und daher weniger verdächtig erscheinen mögen. Egal welche Analogie aber gewählt wird, es stellt sich doch immer die Frage, welche der zahlreichen unterschiedlichen Interpretationen vergangener Ereignisse bevorzugt werden soll. Es gibt nie eine einzige, vollkommen objektive Vergangenheit, die als Vergleichsgrundlage dienen kann, sondern stets nur umstrittene Versionen und Interpretationen derselben. In anderen Worten: Der Historiker oder Kommentator, der eine solche Analogie anbietet, hat die Umstände, die er erklären will, in den meisten Fällen bereits bedacht: Die einfache Entscheidung, Trump als römischen Kaiser zu betrachten, stellt implizite Behauptungen über die Natur dieses Mannes und / oder seinen Regierungsstil auf. Sie setzt auch von Anfang an einen spezifischen biographischen Zugang zum Verstehen von Ereignissen voraus: Sie konzentriert sich auf das überlebensgroße Individuum, seine Unterstützer und Gegner als die entscheidenden historischen Akteure – „historische Männer“ im Sinne Hegels – und nicht strukturelle oder prozessuale Aspekte. Somit spiegelt eine solche Geschichtsdeutung zwar deutlich das Geschichtsverständnis auch der antiken Quellen wider – aber gerade deswegen muss man den Erkenntniswert einer solchen vorwissenschaftlichen Perspektive für das Verständnis der Gegenwart in Frage stellen. Die Versuchung ist verständlich, die hartnäckigen Probleme unserer Zeit zu vereinfachen, indem wir sie den Tugenden und Lastern einiger historischer ‚Bösewichte‘ zur Seite stellen – und uns dann vorstellen, auch wir lebten in einer Zeit großer Gesten und weltbewegender Ereignisse. Aber eine solche Versuchung bietet eine verkürzte, simplifizierende Darstellung der Welt (einschließlich der Antike) und ihrer Gesetzmäßigkeiten und Kontingenzen. Im besten Falle bietet dieses Vorgehen eine beruhigende Geschichte; häufiger aber liefert sie einen Scheingrund, um Trump und seine Mitarbeiter in der monströsesten Gestalt zu malen, während der jeweilige Autor weiterhin suggeriert, er sei ein nüchterner Kommentator und kein Polemiker. 44 Natürlich wäre es unfair zu erwarten, dass kurze Zeitungsspalten und Blogs detaillierte analytische Berichte bieten; man muss zumindest anerkennen, dass manche Kommentare durchaus versuchen, auch kritischere Einsichten zu liefern. Einige Autoren erkennen etwa die Notwendigkeit, über das individuelle Verhalten, wie extrem dieses auch sein mag, hinauszuschauen, um Trump als ein Symptom seiner Zeit und nicht als einen epochemachenden historischen Einzelakteur zu verstehen. „One thing all of this makes clear is that the sickness of American politics didn’t begin

44 MorleyN 2017.

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with Donald Trump, any more than the sickness of the Roman Republic began with Caesar,“ schreibt Paul Krugman. Er stellt fest, dass die Römische Republik offiziell nie endete, sondern dass traditionelle Institutionen und Praktiken weiterbetrieben wurden, obwohl ihre Bedeutung und Substanz ausgehöhlt wurden. „The erosion of democratic foundations has been underway for decades, and there’s no guarantee that we will ever be able to recover. 45“ Augustus habe sich als Kaiser etabliert, „by preserving all the forms of the republic, while he dispensed with their meaning,“ argumentiert Martin Wolf. Joy Connolly untersucht den Reiz der populistischen Rhetorik und Selbstdarstellung („against this the virtues of moderation and self-control, as the traditional Roman elite discovered, come off as weak and emasculated“) und die Schwäche der zeitgenössischen Elite, die im Interesse eines ruhigen Lebens und des Genießens der eigenen Privilegien nicht in der Lage war, die Freiheit zu verteidigen. 46 Aber selbst solche Versuche verfallen allzu gern in Polemik, selbst wenn sie sich nicht nur gegen den Einzelnen, sondern gegen die Republikanische Partei ebenso wie gegen Trump wenden: „Only a few senators – a pack of obsequious, fawning cowards – dared tell Nero that his idea wouldn’t work. But all of them praised him for his magnificence. Sound familiar?“ 47 Und während solche Autoren zumindest versuchen, sich mit der komplexen Dynamik längerer Zeiträume zu befassen, nicht nur mit einer auf den kurzfristigen Moment bezogenen ereignisorientierten Geschichte, sind sie immer noch den gut etablierten konventionellen Narrativen ausgeliefert. Dies ist der Fall in Mounks Analyse des Populismus, die in Buchumfang detaillierte Berichte über Ereignisse des 20. Jahrhunderts bietet, aber nur wenige Seiten mit Nebenbemerkungen zu Rom, obwohl diese seine dramatische Schlussfolgerung bilden. Ebenso weitverbreitet sind traditionelle Motive und moralisierende Annahmen, die schon die frühere Geschichtswissenschaft längst aufgegeben hatte: Jeet Heers Analyse des gegenwärtigen Zustandes der Vereinigten Staaten charakterisiert diesen in einer Weise, die aus Jahrhunderten der Rezeption des römischen Prinzipats sehr bekannt – aber eben auch längst von der Wissenschaft ad acta gelegt – ist: „a period of decadence that rivals Imperial Rome in luridness.“ 48

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Krugman 2016; Bohl 2017. Wolf 2016; Connolly 2017. Kahn 2017. Heer 2018.

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5. Anerkennung Das grundlegende Problem bei kaiserzeitlichen Vergleichen ist ihr ahistorischer Charakter. Trump wird nicht im Hinblick auf die historische Realität des römischen Prinzipats interpretiert, wie es sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entwickelt hat. Vielmehr wird er in Bezug auf ein Bild von der Regierung Roms verstanden; ein Bild, das teils von einer kleinen Anzahl von unzufriedenen zeitgenössischen Schriftstellern konstruiert wurde, und teils von späteren Kaisern, die ihre Vorgänger verleumden, um ihre eigene Herrschaft zu legitimieren. Diese konzentrierten sich ausschließlich auf die Persönlichkeit und Handlungen des jeweiligen Kaisers und trugen die extremen und diskreditierendsten Anekdoten zusammen, um ihn im schlimmsten Licht zu zeigen, oft eingebettet in eine breitere, moralisierende Erzählung vom Niedergang der traditionellen Tugend und dem Sturz der wahren und legitimen römischen Regierung. Das ist freilich eine Geschichte, die viele zeitgenössische Autoren über ihre jeweils eigene Gesellschaft erzählen wollen – aber es ist eine zu bequeme Weltsicht, als dass sie selbst als Klatsch glaubwürdig sein könnte, geschweige denn als Grundlage für eine inhaltliche Analyse. Wie Mary Beard geschrieben hat: I can’t help thinking that we have all turned ourselves into latter-day Tacituses in our speculation about what is going on in the Trump White House. In many ways, Tacitus set the ground rules for how the historical imagination works when it is dealing with world-changing decisions being taken in secret behind the closed but slightly leaky doors of a palace / presidential residence. 49

Man könnte noch weiter gehen: Wir wissen, dass die Geschichten, die über die ‚bösen‘ römischen Kaiser erzählt werden, bestenfalls übertrieben, im schlimmsten Fall völlig erfunden und immer boshaft und parteiisch sind, und so ist es auch bei den Geschichten über Trump. Dies ist die Grundlage für einen der bisher wenigen positiven Vergleiche zwischen Trump und einem Kaiser, im Zuge dessen sich Victor Davis Hanson dem Beispiel Claudius als Vergleichsfolie zuwendet: The stereotyped impression of Claudius was that of a simpleton not to be taken seriously – and so no one did. Claudius himself claimed that he feigned acting differently in part so that he would not be targeted by enemies before he assumed power, and to unnerve them afterwards [. . . ]. Contemporary critics laughed at his apparent lack of eloquence and rhetorical mastery, leading some scholars to conjecture that he may have suffered from Tourette syndrome or a form of autism. The court biographer Suetonius wrote that Claudius „was now

49 Beard 2017.

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careful and shrewd, sometimes hasty and inconsiderate, occasionally silly and like a crazy man.“ Sound familiar? The early few months of the Trump presidency are, in many ways, Claudian. Trump is likewise an outsider who, in the view of the Washington aristocracy, should never have been president. The thrice-married Trump was supposedly too old, too crude, too coarse, and too reckless in his past private life. His critics now allege that the blunt-talking Trump suffers from some sort of psychological or physical ailment, given that his accent, diction, grammar, and general manner of speaking, as well as his comportment, just don’t seem presidential [. . . ]. The media and the Washington establishment – like Claudius’s elite critics, Seneca, Suetonius, and Tacitus – focus mostly on the psychodramas of the president. But while they obsess over the frequent absence of First Lady Melania, Trump’s two-scoop ice cream deserts, the supposed undue and sinister influence of Trump’s daughter Ivanka and son-in-law Jared Kushner, the insider spats between the New York moderates and the Steve Bannon true-blue populists, the assorted firings of former Obama appointees, and investigations of Trump associates – the American government, like Rome under Claudius, goes on [. . . ]. We should no more believe that their satires of Trump, the man, are an accurate window into the Trump agenda or record than was Seneca’s Apocolocyntosis a reliable account of the reign of Claudius. 50

Es ist wohl kaum anzunehmen, dass Hanson einen solchen Vergleich aus ‚freier Entscheidung‘ entwickelt haben sollte, etwa weil er ihn tatsächlich für naheliegend hielte; aber in einem Kontext, in dem Trumps Gegner ständig zur Analogie mit tyrannischen römischen Kaisern zurückkehren, ergibt es Sinn, die Analogie gegen sie zu wenden. Damit stellt er die Schmähung durch historischen Vergleich letztlich grundsätzlich in Frage, aber er behauptet zugleich, dass jemand wie Trump mit solchen Angriffen konfrontiert sei, eben weil er nicht Teil des Washingtoner Politestablishments sei, und weil er deren (angeblich) komfortable konsensuale Herrschaft bedrohe. From what we can tell, the more Rome prospered under Claudius, the more the imperial court grew to despise him – as if his odd mannerisms and the even odder way he came to power could not be squared with the able administration of a far-flung empire over the 13 years of his reign. 51

Kaiser sind unamerikanisch. So auch caesarische Präsidenten. Was aber, wenn das amerikanische System in seiner jetzigen Form als Problem wahrgenommen wird, das eine Rückkehr zu den imaginierten Tugenden der Vergangenheit verhindert, wie so viele der lautesten Unterstützer Trumps anscheinend glauben? Dann könnte man sich einen solchen caesarischen 50 Hanson 2017. 51 Hanson 2017.

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Präsidenten geradezu wünschen, um Ordnung zu schaffen, und könnte glauben, wie augenscheinlich Niall Ferguson, Trump habe „the makings of a rather effective emperor“. 52 Ferguson behauptet, dass er das bevorstehende Ende der Republik, dessen Symptome er identifiziert, nicht begrüßt; aber die wesentliche Lehre, die er den „highly educated people“ und den Washingtoner Eliten anbietet, ist die, dass all ihre Klagen gegen Trump angesichts seines Erfolges im Kampf gegen den Rest der Welt irrelevant sein würden – und er schlägt damit keinen stoischen Widerstand vor, sondern ein Akzeptieren des neuen Regimes. „Octavian, too, was terrible, horrible, no good, very bad in the eyes of many of his Roman contemporaries. As Augustus, however, he triumphed.“ 53 Wenn Trump an der Macht bleibt – und vielleicht wird dieser Beitrag bereits irrelevant sein, wenn er veröffentlicht wird – dann lässt sich erwarten, dass eine zunehmende Anzahl solcher Vergleiche zukünftig von eben diesen Anhängern nicht als Schmähung, sondern als Lobpreis eines Caesarismus gesehen werden wird, der seine Truppen hinter sich zu versammeln vermag (Abb. 3).

Abb. 3: Emperor Trump Leads His Troops to War. Quelle: unbekannter Urheber 2016.

52 Ferguson 2018. 53 Ferguson 2018.

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6. Bibliographischer Anhang 6.1. ‚Alternative Medien‘, Weblog und Web-Trivia Anonym o. J.: Which Character from Ancient Rome Does Trump Most Resemble? In: Quora. URL: https://www.quora.com/Which-character-from-Ancient-Rome-does-Trump-most-resemble (Zugriff am 27. 05. 2018). Bohl, R. 2017: Trump, the American Caligula, Is a Gigantic Waste of Time for the United States. In: Geopolitics Made Super vom 23. 05. 2017. URL: https://geopoliticsmadesuper.com/2017/05/23/trump-the-american-caligula-is-a-giganticwaste-of-time-for-the-united-states/ (Zugriff am 16. 05. 2018). Freudenburg, K. 2016: Dealing with Emperor Trump. Field Notes from Ancient Rome. In: Common Dreams vom 22. 11. 2016. URL: https://www.commondreams.org/views/2016/11/22/dealing-emperor-trump-field-notes-ancient-rome (Zugriff am 14. 05. 2018). Hedges, C. 2017: The Death of the Republic. In: Truthdig vom 22. 05. 2017. URL: https://www.truthdig.com/articles/the-death-of-the-republic/ (Zugriff am 18. 05. 2018). Hunter, D. L. 2016: ‚Obama. A 21st Century Nero?‘ Grassroots Commentary. In: The Patriot Post vom 28. 03. 2016. URL: https://patriotpost.us/commentary/ 41557-obama-a-21st-century-nero (Zugriff am 28. 05. 2018). Martino, St. 2012: Is Obama the Modern Day Caligula? In: Webseite von Stephen Martino vom 03. 05. 2012. URL: http://martinoauthor.com/is-obama-the-modern-day-caligula/ (Zugriff am 28. 05. 2018). McCoy, A. W. 2018: The World According to Trump, or, How to Build a Wall and Lose an Empire. In: TomDispatch vom 16. 01. 2018. URL: http://www. tomdispatch.com/post/176373/tomgram%3A_alfred_mccoy%2C_tweeting_ while_rome_burns/#more (Zugriff am 22. 05. 2018). Morley, J. 2018: Which Awful Roman Emperor Does Trump Most Resemble? It’s a Close Contest, and the Winner Is . . . In: AlterNet vom 16. 01. 2018. URL: https://www.alternet.org/trump-american-nero-or-american-caligula (Zugriff am 27. 05. 2018). Omrani, B. 2016: Trump, Caesar and the Mexican „Barbarians“. In: The Head of Zeus vom 24. 10. 2016. URL: https://headofzeus.com/articles/4a46f5a4-eb5d4d4c-b712-139db07c2ce9 (Zugriff am 14. 10. 2020). Unbekannter Urheber 2016: Emperor Trump Leads His Troops to War. Grafik vom 25. 02. 2016. URL: https://knowyourmeme.com/photos/1114469-donaldtrump (Zugriff am 08. 04. 2020).

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6.3. Printpublikationen Adorno, T. W. 1946 (ND 1994): ‚Anti-Semitism and Fascist Propaganda‘ [1946]. In: Ders.: The Stars Down To Earth. Abingdon / New York. DiLeo, D. 1991: George Ball, Vietnam, and the Rethinking of Containment. Chapel Hill (NC). Graves, R. 2012: I, Claudius. From the Autobiography of Tiberius Claudius, Emperor of the Romans, Born 10 BC Murdered and deified AD 54 [1934]. London. Malamud, M. 2009: Ancient Rome and Modern America. Malden (MA). Mounk, Y. 2018: The People vs Democracy. Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It. Cambridge (MA). Murphy, C. 2007: Are We Rome? The Fall of an Empire and the Fate of an Empire. New York. Smil, V. 2010: Why America Is not a New Rome. Cambridge (MA). Wyke, M. 2006: A Twenty-First-Century Caesar. In: Dies. (Hg.): Julius Caesar in Western Culture. Malden (MA), 312–317.

6.4. Filme, Serien, Dokumentationen Gladiator. Regie: R. Scott. USA/Großbritannien 2000. I, Claudius. Regie: H. Wise. BBC Two 1976. Julius Caesar Revealed. Produktion: R. England / A. Leith. BBC One 2018.

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Klaatu barada nikto Wer kontrolliert den Golem?

1. Einführung Die Überlegenheit von Maschinen bereitet dem Menschen seit jeher Angst. In der klassischen Science-Fiction-Literatur und in dystopischen Erzählungen wird künstlichen autonomen Systemen oftmals Machtstreben und Böswilligkeit angedichtet. Diese Angst ist aus technischer Sicht unbegründet: Die Gefahren überlegener Technologie entstehen erst, wenn sie in die falschen Hände gerät. Inwiefern können auch Maschinen Machtbesessenheit und Größenwahn besitzen und ausüben? Die dystopische Vorstellung, dass sich eine Schöpfung gegen ihren Schöpfer wendet, war insbesondere in Science-FictionErzählungen des frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitet 1. In Filmen der 70er-Jahre bis heute sieht man oft sehr sympathische, teilweise auch niedliche Roboter, angefangen von den Gartenarbeits-Robotern Huey, Dewey und Louie in Silent Running 2 aus dem Jahr 1972 bis zu Pixars WALL-E 3 im Jahr 2008. Aber wenn wir ein paar Jahrzehnte weiter zurückgehen, sehen wir sehr oft sehr böswillige Roboter, ohne jegliche Empathie und mit großer Machtbesessenheit. 4 Gelegentlich werden diese Aspekte auch in aktuellen Filmen thematisiert, beispielsweise in den Terminator- oder Matrix-Filmen, oder auch in der Serie Battlestar Galactica – allerdings deutlich seltener als früher. 1 2 3 4

Jeppson Asimov 2002, 55–56. Trumbull 1972. Stanton 2008. Die Liste der Science-Fiction-Filme der frühen 1950er, in denen Roboter eine Rolle spielen, tragen überwiegend Titel wie beispielsweise Robot Monster, Devil Girls from Mars, Mother Riley Meets the Vampire und sind noch weit davon entfernt, Freund und Helfer des Menschen zu sein. Siehe beispielsweise URL: https://en.wikipedia.org/ wiki/List_of_fictional_robots_and_androids#Film (Zugriff am 16. 03. 2020).

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Was haben Maschinen mit größenwahnsinnigen Diktatoren gemeinsam? Streben Roboter wirklich nach Macht über die Menschheit, oder handelt es sich dabei nur um eine Projektion unserer eigenen Ängste? Und falls sie doch harmlos sein sollten – warum haben sie dann in Filmen und in der Literatur oftmals so einen schlechten Ruf? Um die Hintergründe zu verstehen, müssen wir gleich mehrere Aspekte beleuchten: Den Ursprung und die Entwicklung des Science-Fiction-Genres, den technischen Fortschritt der letzten Jahrhunderte, und die sich daraus ergebenden sozialen Veränderungen, die teilweise Ängste schüren können. Hieraus ergibt sich die Gliederung des vorliegenden Beitrags.

2. Ursprünge der Science-Fiction Die Frage, wann Science-Fiction erfunden wurde und welches als das erste Werk in diesem Genre gelten soll, lässt sich nicht endgültig beantworten. Viele Handlungselemente finden sich bereits in sehr alten Texten, wie z. B. dem Gilgamesch-Epos. 5 Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass Homers Odyssee in gewisser Weise ein antikes Pendant zur Fernsehserie Star Trek 6 sei: Eine populäre Erzählung in mehreren Episoden, die von einer mehrjährigen Reise in unbekannte Gebiete handelt, und in der oftmals auch Sirenen 7 oder Monster 8 auftauchen. Das klingt sowohl nach Odysseus als auch nach Captain James T. Kirk. Ein wichtiger Aspekt, in dem sich Science-Fiction aber von phantastischen Reiseerzählungen und Abenteuern im Unbekannten unterscheidet, ist der Anspruch auf technische Plausibilität: 9 Es geht um Ereignisse, die so tatsächlich passieren könnten. Und zwar durch wissenschaftlichen Fortschritt, nicht durch Magie. Auch wenn das nicht immer zweifelsfrei zu unterscheiden ist. 10

5 Gunn 1990, 17. 6 Von Gene Roddenberry in den 1960ern entworfenes Science-Fiction-Franchise, das durch Umfang (Stand April 2018: 13 Filme, 718 Serien-Episoden und über 700 Romane und Kurzgeschichten im offiziellen Kanon), Langlebigkeit und Beliebtheit zur festen Größe in der Popkultur wurde. Siehe URL: http://www.startrek.com/ (Zugriff am 16. 03. 2020). 7 Beispielsweise Star Trek Staffel 1, Episode 6 „Die Frauen des Mr. Mudd“ (Mudd’s Women). Sirenen: Hom. Od. 9–12. 8 Beispielsweise Star Trek Staffel 1, Episode 18 „Ganz neue Dimensionen“ (Arena). Polyphemos: Hom. Od. 9–12. 9 Asimov 1984, 12. 10 Arthur C. Clarke: „Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.“, auch bekannt als „Drittes Clarkesches Gesetz“, siehe Clarke 1973, Kapitel „Hazards of Prophecy: The Failure of Imagination“.

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Das Genre Science-Fiction kann sich also erst entwickeln zu einer Zeit, in der sich die Welt schnell genug verändert, sodass sich ein Mensch innerhalb der Dauer seines Lebens dessen bewusst wird und folgern kann, dass sich die Welt auch nach seinem Tod noch ändern wird. 11 Eine Reise zum Mond beispielsweise beschreibt Lukian von Samosata in seinen Wahren Geschichten 12 bereits im 2. Jahrhundert n. Chr.; die Tatsache, dass man dafür eine Rakete braucht, wird allerdings erstmals um 1650 in den utopischen Erzählungen von Cyrano de Bergerac erwähnt. 13 Science-Fiction als Literaturgattung nimmt – analog zu historischen Erzählungen – eine Sonderstellung ein. Es wird hier nicht ein neues Themengebiet erschlossen, das sich in eine Reihe mit den bereits vorhandenen Erzählformen wie Romanze, Krimi, Abenteuererzählung, Horrorgeschichte usw. stellt, sondern sie umfasst all diese Erzählformen und bringt sie auf eine andere zeitliche Ebene. Diese Entwicklung geschieht jedoch sehr langsam, und anfänglich sind die Themen doch noch sehr nahe an der Frage, wie sich die Welt durch zukünftige Erfindungen und Entdeckungen verändern mag. 14 Die Entstehung der Science-Fiction wird aber durch die technischen Änderungen nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Veränderung schürt irrationale Ängste, die verarbeitet werden müssen. Das ist auch heute wieder zu beobachten. „Science-Fiction behandelt die Konsequenzen der Veränderungen in einer Welt, in der die Konsequenzen ungeheuer aufregend oder extrem zerstörerisch sein können.“ 15 Oftmals wird Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus als erster Science-Fiction-Roman bezeichnet. 16 Das Buch entstand im Jahr 1816. Zu diesem Zeitpunkt war die Industrielle Revolution bereits in vollem Gange und die Veränderung der Lebensumstände durch die Technik bereits so signifikant, dass man begann, sich dagegen zu wehren. Die Ludditen, 17 benannt nach ihrem fiktiven Anführer Ned Ludd, waren 1811 18 eine Bewegung von Textilarbeitern aus Nottingham. Bedingt durch die Industrielle Revolution sahen sich die Arbeiter von Statusverlust

11 Asimov 1984, 123. 12 Lukian von Samosota (Λουκιανὸς ὁ Σαµοσατεύς), ca. 120–180 nach Christus, bekannter griechischer Satiriker. Lucian. ver. hist. 1. 13 Bergerac 1657. Cyrano de Bergerac (eigentlich Hector Salvien de Cyrano), 1619–1655, französischer Schriftsteller. 14 Asimov 1984, 125. 15 Asimov / Laurance 1986, 12. 16 Aldiss o. J.; Asimov 1984, 227. 17 Hobsbawm 1952. Spehr 2000. 18 Beckett 2012.

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und Verelendung bedroht. Ihre Konsequenz daraus war der sogenannte Maschinensturm, die gezielte Zerstörung von automatisierten Webstühlen. Es gab regelrechte Schlachten zwischen den Ludditen und dem Militär, und gezielte Angriffe gegen Richter, denen man ein zu hartes Vorgehen gegen die Organisation vorwarf. Bis zu ihrer Zerschlagung im Jahr 1814 19 hatte sich die Bewegung über ganz England ausgebreitet. Dabei richteten sich die sehr gezielten und wohlorganisierten Zerstörungen nicht gegen die Technik an sich, sondern immer nur gegen jene Arbeitgeber, die diese Technik dazu nutzen wollten, schlechtere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter durchzusetzen. Ihr Protest galt den neuen Wirtschaftsbeziehungen, wie z. B. der Abschaffung von Festpreisen, die im Zuge der Industrialisierung durchgesetzt werden sollten. 20 Die Schreiben der Gruppe waren durchweg unterzeichnet mit der Kollektiv-Identität Ned Ludd (auch King Ludd, General Ludd oder Captain Ludd), der als Verteidiger der traditionellen Rechte der Handwerker galt. Viele Mitglieder der Bewegung wurden später nach Massenprozessen hingerichtet oder nach Australien deportiert.

3. Die Macht der Technik verursacht soziale Veränderungen Mit der Differenzierung, sich nicht gegen die Technik an sich zu wehren, sondern gegen jene, die sie als Machtmittel missbrauchen, trafen die Ludditen sehr genau den Kern des Problems: Technik als Monopol. Der technische Fortschritt wächst mit exponentieller Geschwindigkeit. Gordon Moore formulierte 1965 das sogenannte Mooresche Gesetz, 21 das besagt, dass sich die Leistungsfähigkeit eines Schaltkreises ca. alle 18 Monate verdoppelt, bzw. der Preis dafür sich in diesem Zeitraum halbiert. Moore ist damals davon ausgegangen, dass diese Gesetzmäßigkeit etwa zehn Jahre Bestand haben werde; wider Erwarten gilt das Gesetz aber auch heute noch, 55 Jahre später, und es ist derzeit kein Ende seiner Anwendbarkeit absehbar. Was bedeutet eine solche Entwicklung für die Beherrschbarkeit der betreffenden technischen Systeme – und was für die Vorstellungen, die sich Laien davon machen? Eine unangenehme Eigenschaft der Exponentialfunktion ist es, dass sie sich einer intuitiven Vorstellung komplett entzieht. Das lässt sich gut

19 Anonymos: Luddite Trials and Media Trials. In: The Luddite Link o. J. URL: http:// ludditelink.org.uk/ludditeproj4.php (Zugriff am 16. 03. 2020). 20 So zuerst Thompson 1963; vgl. zur Nachwirkung Sieferle 1984; Chevassus-au-Lois 2006. 21 Siehe Moore 1965.

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an dem Beispiel eines handelsüblichen Blattes Druckerpapier (80 g / m2, ca. 0,1 mm dick) beschreiben, das man wiederholt in der Hälfte faltet und damit ein gefaltetes Blatt halber Fläche und doppelter Dicke entsteht. Würde man 15 Mal falten, hätte es bereits eine Dicke von 3,27 Metern; das entspricht in etwa der Deckenhöhe einer Altbauwohnung. Gelänge es, das Blatt 42 Mal zu falten, wäre die Dicke (ca. 440.000 km) bereits größer als die mittlere Entfernung zwischen Erde und Mond (ca. 384.000 km). Eine Abschätzung der genannten Zahl von Faltvorgängen ist für einen Menschen nicht intuitiv möglich. Genau dasselbe geschieht nun mit der Computertechnik, die sich alle 18 Monate auf halbe Größe faltet und ihre Leistung verdoppelt. Kann man sich vielleicht noch vorstellen, dass das eigene Smartphone heute über mehr Rechenleistung verfügt, als die Menschheit vor 60 Jahren insgesamt besaß, so ist es schon schwieriger, sich auszumalen, dass das eigene Kind in 60 Jahren ein Gerät besitzen könnte, das mehr Rechenleistung und Speicherkapazität besitzt als heute das gesamte Internet. Ganz unvorstellbar wird dann der Gedanke, dass es mit diesem Gerät auch noch irgendetwas Sinnvolles machen wird, das diese Rechenleistung tatsächlich benötigt. Pieter Hintjens beschrieb in seinem Buch Culture & Empire – Digital Revolution das Konzept der „cost gravity“: Nach Moores Gesetz wird Technik immer günstiger, und was heute den Reichen vorbehalten ist, ist in einigen Jahren oder Jahrzehnten auch für die Masse verfügbar. Die Preise fallen bis de facto null, da ab einem bestimmten Punkt nicht mehr die Technik selbst bezahlt werden muss, sondern lediglich Herstellung und Material die Kosten verursachen. 22 Hintjens behauptete weiter, dass das nicht nur für Computer gelte, sondern schon immer gegolten und einen enormen Einfluss auf die Machtverteilung innerhalb einer Gesellschaft gehabt habe. Nach dieser Lesart könnte man vereinfacht sagen: Macht basiert häufig auf exklusivem Zugang der ‚herrschenden Klasse‘ zu einer beschränkten Ressource und wird gebrochen, wenn diese Ressource kein Monopol mehr ist, sondern Allgemeingut. 23 Die Macht der Kirche im Mittelalter beruhte unter anderem auf exklusivem Zugang zu Bildung. Mit der Erfindung des Buchdrucks eröffneten sich neue Möglichkeiten der Bildung für die Masse; die Renaissance begann und die Macht der Kirchen schwand. 24 Dieser Einfluss neuer Technologien auf bestehende Machtstrukturen wiederholte sich so oder in ähnlicher Form immer wieder, bis hin zur Ban22 Hintjens 2013, 9. 23 Hintjens 2013, 10: „Cost gravity takes emperors’ toys and turns them into commoners’ tools, and as it does this, it drives profound social, economic, and political change.“ 24 Hintjens 2013, 11–12.

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kenkrise von 2008: Banken betreiben Kontoführung; das ist eine Rechenleistung, die früher teuer und wenig verfügbar war, heute aber günstig und weit verbreitet ist. Was in den 1960ern nur wenige große Banken leisten konnten, konnten laut Hintjens um die Jahrtausendwende auch kleinere Banken leisten; um konkurrenzfähig zu bleiben mussten die großen Banken mit ständig steigender Risikobereitschaft spekulieren. 25 Das Ergebnis war dann letztendlich wenig erfreulich. 26 Es gibt derzeit einige Technologien, die das Potential hätten, die Machtverhältnisse zu verändern. Kaum eine aber ist so sehr mit der Angst des Menschen vor der eigenen Entmachtung verknüpft wie die Künstliche Intelligenz. Die Anfänge der Künstlichen Intelligenz (KI) als wissenschaftlicher Disziplin gehen in das Jahr 1956 zurück; damals war der Begriff „artificial intelligence“ erstmals Thema einer Konferenz am Dartmouth College in New Hampshire. Hierbei handelte es sich weniger um eine Konferenz im eigentlichen Sinne, als vielmehr um ein fast zweimonatiges Brainstorming von etwa zehn jungen Wissenschaftlern, die die Annahme untersuchten, ob „grundsätzlich alle Aspekte des Lernens und anderer Merkmale der Intelligenz so genau beschrieben werden können, dass eine Maschine zur Simulation dieser Vorgänge gebaut werden kann.“ 27 Die ersten Jahrzehnte dieser relativ jungen wissenschaftlichen Disziplin sind geprägt von philosophischen Grundsatzdiskussionen, 28 die fast gleichwertig neben der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit stehen. Der britische Mathematiker und KI-Pionier Alan Turing glaubte bereits 1950, „dass am Ende unseres Jahrhunderts der Sprachgebrauch und die allgemeine Ansicht sich so stark gewandelt haben werden, dass man widerspruchslos von denkenden Maschinen reden kann.“ 29 Das große Streitthema kann vereinfacht zusammengefasst werden in der Frage: „Ist Künstliche Intelligenz wirklich Intelligenz oder nur Imitation von Intelligenz?“. Die Verfechter der sogenannten starken KI 30 vertraten den Standpunkt, dass man mit technischen Mitteln eine eigenständige

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Hintjens 2013, 12–15. Schäfer 2017. McCarthy u. a. 2006,12-14. Exemplarisch: Dreyfus 1972b, siehe auch Dreyfus 1972a. Turing 1950, 442: „I believe that at the end of the century the use of words and general educated opinion will have altered so much that one will be able to speak of machines thinking without expecting to be contradicted.“ 30 Beispielsweise Marvin Minsky (1927–2016), Professor für Künstliche Intelligenz am MIT.

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Intelligenz schaffen könne, während die Vertreter der schwachen KI 31 davon ausgingen, dass KI nur ein Nachbilden von Problemlösungsverfahren sei, wie sie z. B. auch der Mensch anwende. Turing formulierte den nach ihm benannten Turing-Test als Kriterium für die Prüfung der Frage, ob eine maschinelle Intelligenz der menschlichen Intelligenz ebenbürtig sei. Bei diesem Test führt ein menschlicher Proband eine Unterhaltung per Computer-Tastatur – heute würde man Chat dazu sagen – mit zwei verschiedenen Gesprächspartnern. Einer der Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere ein Computer. Wenn der Proband nach intensiver Befragung seiner beiden Gesprächspartner nicht eindeutig sagen kann, wer Mensch und wer Maschine ist, gilt der Test für die KI als bestanden. Turings Prognose war 1950, dass ein durchschnittlicher Mensch im Jahr 2000 bestenfalls eine 70-prozentige Chance habe, in einem fünfminütigen Test Mensch und Maschine zu unterscheiden. 32 In der Tat wären vermutlich heutige sprachgesteuerte Assistenten wie beispielsweise Apples Siri, Microsofts Cortana oder Amazons Alexa durchaus in der Lage, einen Menschen aus dem Jahr 1950 zu täuschen; da die Menschen sich aber an den technischen Fortschritt gewöhnt haben, ist eine Täuschung heutzutage deutlich schwieriger geworden. Die Kritik am Turing-Test bestand darin, dass er nur Funktionalität teste, nicht aber Intentionalität und Bewusstsein. Der amerikanische Philosoph John Searle 33 antwortete auf den Turing-Test mit einem Gedankenexperiment, das als „Chinesisches Zimmer“ 34 bekannt wurde: Ein Mensch, der der chinesischen Sprache nicht mächtig ist, sitzt in einem geschlossenen Raum. Personen von außerhalb können ihm Fragen in chinesischer Sprache auf einem Zettel hereinreichen und er sucht in einer umfangreichen Tabelle genau diese Frage und die dazugehörige Antwort heraus. Ohne Frage oder Antwort zu verstehen, schreibt er die erwartete Antwort auf einen Zettel und reicht ihn dem Anfragenden hinaus. Der Mensch außerhalb des Raumes wird davon ausgehen, dass der Mensch in dem Raum der chinesischen Sprache mächtig ist, aber dem ist nicht so. Ebenso verhält es sich laut Searle mit der KI: Sie produziert dieselben Ergebnisse wie ein denkendes Wesen, ist es aber nicht.

31 Beispielsweise Hubert Dreyfus (1929–2017), Professor für Philosophie an der UC Berkeley. 32 Turing 1950, 442. 33 John R. Searle, Professor Emeritus of the Philosophie of Mind and Language, UC Berkeley, s. Website der UC Berkeley, Philosophy. URL: http://philosophy.berkeley. edu/searle (Zugriff am 16. 03. 2020). 34 Searle 1980.

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Diese durchaus spannende Diskussion um Intelligenz und Bewusstsein von Maschinen hat zwei entscheidende Schwachpunkte: 1. Der Begriff ‚Intelligenz‘ ist ein psychologischer Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit eines Menschen. Es gibt keine wirklich exakte, allgemein anerkannte und eindeutige Definition des Begriffes. 35 Somit fehlt schon die klare begriffliche Grundlage zu entscheiden, ob eine Maschine intelligent ist oder Intelligenz imitiert. Des Weiteren ist die Diskussion stark verwoben mit einer ganz anderen Frage: Ist Bewusstsein eine Voraussetzung für Intelligenz? 36 Auch diese Frage wird sich nicht klären lassen, denn der Begriff ‚Bewusstsein‘ ist ebenfalls nicht exakt definiert 37 und entzieht sich damit einer exakten wissenschaftlichen Bestimmung. 2. Letztendlich ist es für die praktische Anwendung nicht relevant, ob eine Maschine, die ein Problem erfolgreich löst, intelligent ist oder gar Bewusstsein besitzt. Ein gutes Navigationsgerät wird seinen Fahrer erfolgreich zum Ziel führen und vermutlich wird sich der Fahrer nicht die Frage stellen, ob das Gerät den Weg wirklich kannte oder nur berechnet hat. Aus diesen und ähnlichen Gründen sind diese Diskussionen und die damit verbundene überhöhte Erwartungshaltung an die zu erzielenden Ergebnisse heutzutage abgeflaut und einem problemorientierten Pragmatismus gewichen. Daraus ergibt sich nun allerdings ein Imageproblem der KI: Probleme, deren Lösung wir kennen, erscheinen trivial. 1769 wurde die Fähigkeit Schach zu spielen als Privileg des Menschen angesehen und der sogenannte „Schachtürke“, 38 eine Maschine, die angeblich Schach spielen konnte, aber letztendlich von einem Menschen im Inneren bedient wurde, war eine Sensation. Selbst Napoleon ließ es sich nicht nehmen, gegen diese „Maschine“ anzutreten. Vermutlich wäre auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts eine Maschine, die einen Menschen im Schach schlägt, als intelligent angesehen worden. Die Funktionsweise der Schachcompu-

35 Definition der Intelligenz – was ist das eigentlich? In: Neuronation o. J. URL: https:// www.neuronation.de/intelligenz/definition-der-intelligenz-was-ist-das-eigentlich (Zugriff am 16. 03. 2020). 36 Aktuell siehe beispielsweise Nicolas Dittberner „Künstliche Intelligenz vs. Künstliches Bewusstsein – Kann eine Maschine Bewusstsein erlangen?“ URL: https://de.udacity.com/blog/post/kuenstliche-intelligenz-vs-kuenstliches-bewusstsein (Zugriff am 04. 04. 2018). 37 Mausfeld o. J. 38 Vorgeblicher Schachroboter des österreichisch-ungarischen Mechanikers Wolfgang von Kempelen (1734–1804), vgl. dazu Biester 1784.

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ter, die seit Ende der 1970er-Jahre gebaut werden, 39 ist ein mittlerweile hinreichend bekanntes mathematisches Verfahren mit dem Namen Minimax-Algorithmus, 40 dessen Funktionsweise schnell erklärt ist und das ein Informatikstudent im ersten Semester wohl mühelos implementieren könnte. Aber würden wir heute noch einem Laptop oder einem Handy, auf dem ein Schach-Programm läuft, Intelligenz unterstellen? Wohl kaum. Und so verliert jedes hart erkämpfte Problem auf dem Weg zur intelligenten Maschine an Bedeutung, sobald es gelöst wurde, und die KI-Forschung muss sich neue Ziele suchen, um ihre Reputation als Forschungsbestreben der Erzeugung ‚echter‘ Intelligenz weiter aufrechtzuerhalten. Auch hier müssen wir ein paar Jahre zurückgehen, um die mit der KI verbundenen Hoffnungen und Erwartungen einordnen zu können.

4. Böse Golems und gute Roboter: Ein Genre entwickelt sich Die Vision vom künstlichen Lebewesen ist deutlich älter als der Roboter in der Science-Fiction-Literatur. Der im Titel dieses Kapitels genannte Prager Golem existiert als Figur der jüdischen Mystik 41 bereits seit dem 12. Jahrhundert; es handelt sich hierbei um ein aus Lehm geschaffenes, menschenähnliches Wesen. Der Name Golem bedeutet so viel wie „unfertig“ oder „grobschlächtig“ und deutet an, dass dieses Wesen eher als Prototyp gesehen werden kann und nicht als perfekte Imitation eines Menschen. Eine weitere bekannte Legende ist die des Homunkulus, die im Spätmittelalter im Zusammenhang alchemistischer Theorien entstand. Dieses künstliche Wesen hat bereits oftmals einen dedizierten Zweck als Helfer bei dämonischen oder magischen Praktiken. Die wohl bekannteste Erwähnung des Homunkulus findet sich in Goethes Faust (II 42). Die Thematik taucht auch wieder in Goethes Ballade Der Zauberlehrling auf, hier allerdings ohne Erwähnung des Begriffs Homunkulus. Der heutzutage übliche Begriff Roboter entstammt einem Drama des ˇ tschechischen Autors Karel Capek aus dem Jahr 1921: R. U. R. – Rossumovi Univerzální Roboti, 43 zu Deutsch erschienen als Rossums Universal-Robo-

39 Der erste kommerzielle Schachcomputer für den Heimgebrauch war der Fidelity Chess Challenger 1 im Jahre 1977. 40 Minimax Principle. In: Encyclopedia of Mathematics. URL: https://www.encyclopediaofmath.org/index.php/Minimax_principle (Zugriff am 16. 03. 2020). 41 Eisenstein u. a. o. J. 42 Goethe 1832, Zweiter Akt, Laboratorium. ˇ 43 Capek 1921.

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ter. Der Begriff Roboter ist hier abgeleitet von dem tschechischen Wort für Arbeiter. Im Drama geht es um eine Fabrik, die billige Arbeitskräfte bzw. Sklaven herstellt, die aber letztendlich rebellieren und die Menschheit vernichten. Diese dystopische Sicht auf Roboter bzw. Androiden war prägend für die Science-Fiction der 1920er- und 1930er-Jahre. In den USA war das Genre dominiert von reißerisch aufgemachten billigen Romanheften, den sogenannten Pulp Magazines, und weit davon entfernt, als seriöse Literaturgattung wahrgenommen zu werden. 44 Das Wort Robotik („robotics“) als Name für die Wissenschaft, die sich mit Aufbau und Fertigung von Robotern beschäftigt, wurde „versehentlich“ von Isaac Asimov erfunden. Er verwendete es in der Annahme, dass es dieses Wort bereits gäbe. 45 Asimov, 1920 in Russland geboren und im Alter von drei Jahren nach New York emigriert, verbrachte in seiner Kindheit viel Zeit in dem Kiosk seines Vaters und wurde dort auf die Science-Fiction-Romanhefte aufmerksam. Er begann selbst zu schreiben und hatte als 19-Jähriger bereits erste Erfolge mit Heft-Veröffentlichungen von Kurzgeschichten. Zusammen mit seinem Mentor John W. Campbell, dem Herausgeber von Astounding Science Fiction, diskutierte er gerne und ausführlich Ideen für neue Geschichten. Eine dieser Ideen war, dass ein Roboter als komplexe Maschine selbstverständlich eingebaute Sicherheitsvorkehrungen haben müsse und aufgrund seiner Konstruktion immer nur Helfer bzw. Diener des Menschen sein dürfe, aber nicht sein Feind. Die Geschichte Runaround, im März 1942 in Astounding Science Fiction 46 veröffentlicht, formuliert erstmals die drei Gesetze der Robotik, die später von vielen anderen Autoren übernommen wurden und gerne zitiert werden: 47 1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen (wissentlich) verletzen oder durch Untätigkeit gestatten, dass einem menschlichen Wesen (wissentlich) Schaden zugefügt wird.

44 Asimov 1995, 41. 45 Asimov 1986, 12. Asimov 1983: „Robotics has become a sufficiently well developed technology to warrant articles and books on its history and I have watched this in amazement, and in some disbelief, because I invented [. . . ] the word“. 46 Markoff 1992 Für weitere Informationen zum Magazin und zur genannten Ausgabe siehe The Internet Speculation Fiction Database o. J. URL: http://www.isfdb.org/cgibin/pl.cgi?57563 (Zugriff am 16. 03. 2020). 47 Man findet diese Gesetze auch an unerwarteten Stellen, wie z. B. in den Fernsehserien Raumpatrouille (Episode 3 „Hüter des Gesetzes“, 15. 10. 1966) oder The Big Bang Theory (Staffel 1, Episode 1 „Penny und die Physiker“, engl. „Pilot“, 11. 07. 2009).

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2. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel Nr. 1 kollidieren. 3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert. Heute spricht man im Bereich Software Engineering von „Security by Design“, 48 einer Praxis, die auch vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) befürwortet wird 49. Man geht davon aus, dass Bedrohungen allgegenwärtig sind, und baut Systeme so, dass eventuell doch vorhandene Schwachstellen so wenig Schaden anrichten können wie nur möglich. Mit den Gesetzen der Robotik veränderte Asimov die Wahrnehmung des Roboters. Aus dem dystopischen Monster wurde nach und nach der Freund und Helfer, bis hin zum modernen Bild des Roboters in der Science-Fiction. Als Beispiel sei hier der stets freundliche und hilfsbereite Androide 50 Lt. Cmdr. Data 51 aus der Serie Star Trek – The Next Generation genannt. In filmischen Darstellungen hat sich das Bild des bösen und machtbesessenen Roboters noch einige Jahrzehnte länger halten können, taucht aber heutzutage selten, dann jedoch äußerst prominent auf. In der alltäglichen Realität hingegen sind Roboter hinreichend bedeutungslos, um ernstzunehmende Ängste schüren zu können. Industrieroboter haben keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen und werden als Werkzeug wahrgenommen, nicht als Bedrohung, allenfalls vielleicht in eben jenem Sinne, in dem schon die Luddisten sich bedroht sahen: durch Maschinen als Instrumente der Ausbeutung oder als Herausforderung an bestehende Formen der Arbeitsorganisation. Humanoide Serviceroboter, wie beispielsweise Hondas ASIMO werden üblicherweise so gestaltet, dass sie freundlich wirken und deutlich kleiner sind als ein durchschnittlicher Mensch. 52

48 Dougherty u. a. 2009. 49 BSI 2018. 50 Ein Androide (weibl. Form: Gynoide) ist ein Spezialfall eines humanoiden Roboters, bei dessen Fertigung die täuschende Ähnlichkeit mit einem Menschen besonders hohen Stellenwert hat. Im Idealfall wird dazu auch Material verwendet, das menschlichem Gewebe sehr ähnlich ist. Siehe Asimov 1984, 78. 51 Die Figur des Data ist recht offensichtlich inspiriert von Asimovs humanoidem Roboter R. Daneel Olivaw, bis hin zu fiktiven technischen Konstruktionsdetails, beispielsweise dem „positronischen Gehirn“. 52 Eresha u. a. 2013, 431.

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5. Die tatsächliche Gefahr – ein spekulativer Ausblick Wie wir in den vorherigen Abschnitten gesehen haben, wird die Technik und ihre fortschreitende Entwicklung derzeit weder bedrohlich dargestellt noch so wahrgenommen; vielmehr herrscht mittlerweile eine überwiegend positive Darstellung in Literatur und Verfilmungen vor. Die These der ‚starken KI‘ ist pragmatischen, lösungsorientierten Ansätzen gewichen, und selbst komplexe Assistenzsysteme wie beispielsweise Siri werden allgemein als nette Spielereien wahrgenommen, jedoch nicht als Persönlichkeit mit Bewusstsein. Das eigentliche Problem ist mithin nicht die Technik; das Problem sind die Menschen, die sie kontrollieren. Die Technik an sich ist und war von jeher neutral. Der Erfinder des Rades wollte vermutlich weder einen Panzer noch einen Krankenwagen bauen, er wollte ein Rad. Die Unterscheidung zwischen Fluch und Segen für die Menschheit liegt in der Anwendung, also bei demjenigen, der die Erfindung benutzt. Die Idee einer ‚autokratischen‘ KI, die sich selbst ohne jegliche menschliche Beteiligung nicht nur steuert, sondern auch erzeugt und weiterentwickelt, bleibt auf vereinzelte dystopische Science-Fiction-Szenarien beschränkt. Die digitalen Ressourcen, die benutzt werden, um wirtschaftliche und politische Macht auszubauen, können grob in zwei Kategorien unterteilt werden: 1. Enorme Mengen an mehr oder weniger unstrukturierten Daten. 2. Die Möglichkeit, diese Daten zu verarbeiten, zu entschlüsseln, und automatisiert interessante Schlussfolgerungen zu ziehen. Die „herrschende Klasse“ 53, die heutzutage exklusiven Zugang zu beschränkten, technologischen Ressourcen hat, besteht nach wie vor aus Regierungen und insbesondere auch deren Geheimdiensten, aber auch aus großen Konzernen und Dienstleistern. Bei allen diesen Gruppen ist eine eindeutige Zuordnung zu den Kategorien „gut“ und „böse“ nicht immer möglich. Wir müssen uns auf die Bewertungen „Vertrauen“ und „NichtVertrauen“ beschränken, und können uns dabei irren. Aber warum ist das Sammeln und Zusammenführen von Daten so problematisch? Der leider zu früh verstorbene Journalist und Hacker Wau Holland 54 erzählte mir einmal ein sehr anschauliches Beispiel aus der Praxis: Die Information, dass an einem bestimmten Geldautomaten abends regelmäßig und ohne erkennbares Muster größere Beträge abgehoben wer53 Hintjens 2013, 17. 54 Wau Holland (bürgerlicher Name Herwart Holland-Moritz), 1951–2001. Siehe auch: Kulla 2003.

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den, ist zwar seltsam, aber nicht weiter interessant. Die Information, dass dieser Geldautomat in der Nähe eines Straßenstrichs steht, ist als Einzelinformation auch nicht wirklich spannend. Wenn man beide Informationen miteinander verknüpft, entsteht kompromittierendes Wissen. Informationen, die mit guter Absicht und sinnvoller Begründung erhoben werden, können missbraucht werden. Und sie werden auch missbraucht. Die Ortung von Handys beispielsweise ist eine technische Notwendigkeit, um einen Anruf in die richtige Funkzelle zu leiten und den Angerufenen dort zu erreichen, wo er sich aufhält. Die Nutzung dieser Ortung zur Tötung von Menschen mittels bewaffneter Drohnen ist ein anderes Potenzial der so gewonnenen Daten. Und das ist keine dystopische Spekulation, sondern traurige Realität. Der ehemalige CIA- und NSA-Direktor General Michael V. Hayden gab es im April 2014 während einer Podiumsdiskussion der Johns Hopkins Universität eindeutig zu: „We kill people based on metadata“. 55 Nicht einmal die Inhalte einer Kommunikation müssen für ein solches Todesurteil abgehört oder entschlüsselt werden. Allgemeine Metainformationen, welches Handy sich wann in welcher Funkzelle einwählt, sind anscheinend völlig ausreichend. 56 Im Jahr 2015 unterzeichneten zahlreiche Wissenschaftler und IT-Experten einen offenen Brief, in dem ein Verbot autonomer Waffen gefordert wurde. Zu den Unterstützern gehörten die größten Visionäre unserer Zeit, unter anderen Stephen Hawking, Steve Wozniak und Elon Musk. „Ein Wettrüsten mit selbst steuernden Tötungsmaschinen könne nicht im Interesse der Menschheit liegen.“ 57 Entgegen dem weit verbreiteten Argument, autonome Systeme würden im Krieg weniger Todesopfer fordern, 58 argumentieren sie, dass im Gegenteil dadurch die Hemmschwelle für bewaffnete Konflikte gesenkt werde und eine weitere Rüstungsspirale entstehe, die insgesamt wesentlich mehr Opfer zu fordern drohe. Schlimmstenfalls könnten autonome Waffensysteme auf dem Schwarzmarkt landen, was unübersehbare und vor allem unkontrollierbare Konsequenzen nach sich ziehen würde. Das Internet, ursprünglich eine militärische Erfindung, 59 kann benutzt werden, um Menschen zu versammeln und darin auszubilden, Revolu55 Holland 12. 05. 2014. 56 Holland 04. 04. 2014. Die Folgen des Missbrauchs von Metadaten werden sowohl in Romanen (Hannig 2017; Eschbach 2018) als auch in Sachbüchern (Snowden 2019) anschaulich dargestellt. 57 Kannenberg 2015. 58 Lobe 2017. 59 Das Internet ging aus dem Arpanet (1969–1990) der „Advanced Research Project Agency (ARPA)“ des US-Verteidigungsministeriums hervor. Das dort Anfang der 1970er-Jahre entwickelte TCP/IP Kommunikationsprotokoll ist die Grundlage des Internets, das wir heute kennen.

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tionen gegen Diktatoren zu organisieren; es kann die Menschen zusammenrücken lassen. Es kann denjenigen eine Stimme geben, die eine gute Idee haben, die dann ‚viral‘ wird, unabhängig von Schranken wie etwa der sozialen Herkunft. Es kann aber auch dazu benutzt werden, Menschen im großen Stil zu überwachen, Meinungen zu unterdrücken und den gläsernen Untertanen zu schaffen, der sich leicht kontrollieren lässt. Und das geht uns alle an. Edward Snowden sagte in seinem Reddit-AMA: 60 „Zu sagen mich interessiert Privatsphäre nicht, denn ich habe nichts zu verbergen, ist, als würde man sagen, mich interessiert Redefreiheit nicht, denn ich habe nichts zu sagen.“ 61 Es ist ein tief verankerter Trugschluss, dass der Wunsch nach Privatsphäre und Vertraulichkeit der eigenen Daten nur für Menschen interessant wäre, die in kriminelle Aktivitäten involviert sind und sich vor Strafverfolgung schützen wollen. Wir alle haben etwas zu verbergen. Die Kreditkartennummer samt dem dazugehörigen Sicherheitscode beispielsweise. Auch das E-Mail-Passwort oder Passwörter für soziale Netzwerke. Und auch wer sich ganz sicher ist, in den eigenen vier Wänden niemals irgendetwas Verbotenes zu tun, möchte vermutlich keine öffentlich zugängliche Webcam auf der Toilette installiert bekommen. Privatsphäre ist für die Einzelperson wichtig, aber persönliche Daten haben auch einen sehr hohen Wert für Konzerne, und sei es nur für gezieltes Marketing. 62 Viele der Annehmlichkeiten der modernen Technik werden durch die Preisgabe persönlicher Daten erkauft. Man darf nicht vergessen: Wer für den Zugang zu einem milliardenschweren Netzwerk nicht bezahlt, der ist nicht der Kunde, sondern die Ware. Der Widerstand gegen Menschen, die Technik missbrauchen, ist kein zeitlich begrenztes Phänomen. Das Internet hat eine erstaunliche Anziehungskraft auf Menschen, die es positiv und zum Nutzen der gesamten Menschheit gestalten wollen – und die sich gerade deshalb gegen unkontrollierte Überwachung und Monopolisierung durch Konzerne wenden. Bereits im Jahre 1984 gab es eine erste selbst verordnete Ethik für Hacker, die geprägt ist von Idealismus und Freiheitsgedanken: Zugriff auf Computer und alles, was einen etwas über die Welt lehren kann, soll unlimitiert und total sein. Informationen sollen frei sein und somit jedem verfügbar sein. Misstrauen gegenüber Autorität und Bevorzugung von Dezentralisierung.

60 AMA: Ask Me Anything; öffentliches Online-Interview ohne Themenvorgabe. 61 Beckedahl / Snowden 2015. 62 Zum Wert persönlicher Daten für zielgerichtete Werbung siehe beispielsweise Liem / Petropoulos 2016.

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Hacker sollten nur nach ihrer Fähigkeit im Hacken beurteilt werden. 63 Du kannst Kunst und Schönheit mittels Computer erzeugen. Computer können das Leben von allen zum Besseren wenden. 64

Im Laufe der Zeit wurde diese Ethik oft diskutiert, umgeschrieben und ergänzt; sie bleibt aber stets von einem positiven, optimistischen Weltbild geprägt. Heute wie früher ergibt es keinen Sinn, wahllos die „Webstühle“ der Mächtigen zu zerschlagen, aber die Parallelen zum frühen 19. Jahrhundert sind durchaus erstaunlich, bis hin zur Selbstdarstellung der Aktivisten, die alle mit dem gleichen Namen unterschreiben. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Gruppe Anonymous 65, die seit 2008 als lose Gruppierung politischer Aktivisten im Internet auftritt und ihre Aktivitäten bevorzugt den Themen Redefreiheit und der Unabhängigkeit des Internets widmet. Aufgrund seiner Struktur hat das Anonymous-Kollektiv leider auch Probleme durch Unterwanderung von Extremisten jeglicher Couleur, die allerdings mit dem eigentlichen Geist der Gruppe nichts gemein haben. Man sollte also ihnen zugeordnete Aktionen nicht unbesehen gutheißen; aber es lohnt sich, ihnen aufmerksam zuzuhören und zu fragen: Wer kontrolliert die Technik, zu welchem Zweck, und wie abhängig möchte man sich davon wirklich machen?

6. Klaatu barada nikto Der Satz „Klaatu barada nikto“ stammt aus dem Film „Der Tag, an dem die Erde stillstand“ 66 und hat mittlerweile einen festen Platz als geflügeltes Wort in der Nerd-Kultur (Abb. 1). Im Film instruiert der außerirdische Protagonist Klaatu seine Begleiterin Helen, diesen Satz im Notfall zu gebrauchen, falls sein Roboter Gort außer Kontrolle gerate. Wir leben in spannenden Zeiten. Die Technik, insbesondere Künstliche Intelligenz und globale Vernetzung der Menschheit und ihres gesamten Wissens, wird uns eine Zukunft bescheren, deren genauere Umrisse heute noch niemand erahnen kann.

63 Hierbei geht es – nicht nur bezogen auf Hacker – um eine explizite Ablehnung von Bewertungskriterien wie Aussehen, Alter, Rasse, Geschlecht oder gesellschaftlicher Stellung. 64 Basierend auf: Levy 1984. 65 Anonymous ist eine dezentralisierte Aktivistengruppe ohne feste Struktur, die ursprünglich ohne ernsthafte Ziele aus dem Forum 4chan hervorging. Die Mitglieder sind bei öffentlichen Auftritten maskiert und stets namenlos. 66 Wise 1951.

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Abb. 1: Graffito mit Filmzitat „Klaatu Barada Nikto!“, 2013 im Nauwieser Viertel, Saarbrücken. Foto: C. Endres.

Ob dies eine gute Zukunft in Freiheit und globaler Zusammenarbeit sein oder ob sie einer orwellschen Dystopie des Überwachungsstaates gleichen wird, liegt allerdings nicht an den Maschinen, sondern an denen, die sie kontrollieren. Autokratische Hybris wird vermutlich auch in Zukunft eine rein menschliche Eigenschaft bleiben.

7. Bibliographischer Anhang 7.1. Filme und Serien Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion. Regie: Th. Mezger / M. Braun. ARD 1966. The Big Bang Theory. Produktion: Warner Bros. Television. CBS 2007–2019. The Day the Earth stood still. Regie: R. Wise. USA 1951. Silent Running. Regie: D. Trumpbull. USA 1972. Wall-E. Regie: A. Stanton. USA 2008.

7.2. Literatur Aldiss, B. o. J.: The Origins of the Species: Mary Shelley. In: Shelley, M. W.: Frankenstein; or, The Modern Prometheus. The Pennsylvania Electronic Edition. Hg. v. Stuart Curran u. a. URL: http://knarf.english.upenn.edu/Articles/aldiss.html (Zugriff am 16. 03. 2020). Asimov, I. 1979: In Memory Yet Green. The Autobiography of Isaac Asimov, 1920– 1954. New York.

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Asimov, I. 1980: In Joy Still Felt. The Autobiography of Isaac Asimov, 1954–1978. New York. Asimov, I. 1983: The Word I Invented. In: Ders. (Hg.): Counting the Eons. New York. Asimov, I. 1984: Isaac Asimov über Science Fiction. Bergisch Gladbach. Asimov, I. 1986: Alle Roboter-Geschichten. Bergisch Gladbach. Asimov, I. 1995: I, Asimov – A Memoir. New York. Asimov, I. und Laurance, A. (Hg.) 1986: Isaac Asimov präsentiert. Spekulationen. München. Beckedahl, M. / Snowden, E. 2015: Edward Snowden über „Ich hab nichts zu verbergen“. In: netzpolitik.org vom 01. 06. 2015. URL: https://netzpolitik.org/ 2015 / edward - snowden - ueber - ich - hab - nichts - zu - verbergen / (Zugriff am 16. 03. 2020). Beckett, J. 2012: Luddites. In: The Nottinghamshire Heritage Gateway vom 02. 02. 2012. URL: http://www.nottsheritagegateway.org.uk/people/luddites. htm (Zugriff am 16. 03. 2020). BSI 2018: Industrial Security – Cyber-Sicherheit auch im Mittelstand. In: Pressemitteilungen, Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik vom 21. 03. 2018. URL: https://www.bsi.bund.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/ Presse2018/Cyber-Sicherheit_auch_im_Mittelstand_21032018.html (Zugriff am 16. 03. 2020). ˇ Capek, K. 1920: R. U. R. Rossumovi Universální Roboti. Prag. Chevassus-au-Lois, N. 2006: Les briseurs de machines. De Ned Ludd à José Bové. Paris. Clarke, A. C. 1973: Profiles of the Future. An Inquiry into the Limits of the Possible. Revised Edition. New York. de Bergerac, C. 1657: Les états et empires de la lune et du soleil. Paris. Definition der Intelligenz – was ist das eigentlich? In: Neuronation o. J. URL: https://www.neuronation.de/intelligenz/definition-der-intelligenz-was-istdas-eigentlich (Zugriff am 16. 03. 2020). Dittberner, N. o. J.: Künstliche Intelligenz vs. Künstliches Bewusstsein – Kann eine Maschine Bewusstsein erlangen? In: Udacity. URL: https://de.udacity. com/blog/post/kuenstliche-intelligenz-vs-kuenstliches-bewusstsein (Zugriff am 04. 04. 2018). Dougherty, Ch. u. a. 2009: Secure Design Patterns. Pittsburgh (PA). URL: https:// resources.sei.cmu.edu/asset_files/TechnicalReport/2009_005_001_15110.pdf (Zugriff am 16. 03. 2020). Dreyfus, H. L. 1972a: What Computers Can’t Do. A Critique of Artificial Reason. New York u. a. Dreyfus, H. L. 1972b: What Computers Can’t Do. The Limits of Artificial Intelligence. New York. Eisenstein, J. D. u. a. o. J.: s.v. Golem. In: JewishEncyclopedia online. URL: http://www.jewishencyclopedia.com/articles/6777-golem#1137 (Zugriff am 16. 03. 2020). Eresha, G. u. a. 2013: Investigating the Influence of Culture on Proxemic Behaviors for Humanoid Robots. In: Int. Symposium on Robot and Human Interactive Communication (RO-MAN 2013). USA.

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Klaatu barada nikto

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Index (Personen, Sachen, Orte) Namen von Orten und Personen sind nach der Schreibweise im Deutschen aufgeführt. Ausnahme: Römische Namen sind nach dem nomen gentile eingeordnet, Angehörige des Kaiserhauses unter den im Deutschen geläufigen Kaisernamen verzeichnet. Abweichende Schreibweisen (z. B. in wörtlichen Zitaten) werden nicht getrennt aufgeführt. Nicht erfasst sind zentrale Begriffe wie ‚Caesarenwahn(sinn)‘ oder ‚Rom‘, die über den Band hinweg passim von Belang sind. Abnormität Siehe Norm Absolutismus 98, 109, 127, 134, 297 Adel 63, 89, 286 Adoption 186, 188, 192, 200 Adorno, Theodor W. 345 P. Aelius Aristeides 152 Sex. Afranius Burrus 188 Akzeptanz 150, 161, 196–198, 209, 210 -gruppe 147 -kommunikation 148 -system 196 -verlust 205, 207, 210 Alexander III. v. Makedonien (= d. Große) 32, 304 Alexander VI. (=Borgia, Rodrigo) 16, 17, 295–297, 299–301, 303, 305, 307, 308 Alkibiades v. Athen 168 Allmacht(sphantasie) 252, 297, 299, 303, 318 Amerika, amerikanisch 62, 251, 255, 259, 262, 299, 300, 315, 317, 322, 339, 343–345, 351, 363 unamerikanisch 339, 345, 351 amici Siehe Freunde (amici) amicitia Siehe Freundschaft (amicitia) Amphitheater 197, 209 Amt 122, 125–127, 132, 133, 273, 281, 301 -sfunktion 198 -sgeschäfte 44, 228 -sgewalt 82, 107, 114, 186, 195 Anarchismus 126 Android 366, 367 Angst 77, 157, 161, 357, 362

L. Annaeus Seneca 41, 105, 188, 201, 206, 207, 265, 351 M. Annaeus Lucanus 188 Antichrist(lich) (vgl. Christ(in)) 254, 256 Antikenroman 251 Antisemitismus 50, 321–324 Antoninus Pius (Kaiser) 148 M. Antonius 194, 339 Aristogeiton v. Athen 164 Aristokratie 49, 51, 61, 92, 165, 194, 196, 198, 200, 201, 205, 206, 210, 218–221, 223, 233, 236, 282 Senats- 15, 16, 201, 219, 222, 275 Aristoteles v. Stageira 152, 163, 172, 175, 200 Arnheim, Rudolf 318 Arzt 88, 129 Irrenarzt 110 Aschauer, Harald 229 Asimov, Isaac 366, 367 Athen 160, 163–167, 169, 174, 175 Attentat 262, 287, 327 auctoritas Siehe Autorität (auctoritas) Augustus (Kaiser) 16, 89, 96, 98, 194–198, 201, 212, 221–223, 231, 282, 332–334, 336, 339–341, 348, 349, 352 Aulus Celsus 284–286 Aurelian 211 M. Aurelius Cleander 190, 208 Ausschweifungen 40, 41, 90, 143, 188, 302, 307 Autokrat(ie) 9, 11–13, 87, 92–95, 97, 105, 109, 110, 113, 122, 132, 166, 171, 205, 211, 273, 298–300, 318, 327, 339, 340, 344–347, 368, 372

378 Autorität (auctoritas) 37, 96, 100, 143, 209, 219, 254, 370 avaritia Siehe Habgier (avaritia) bacchanalisch 287 Bankett 218, 302, 308 Kastanien- 302, 308 Bannon, Steve 351 Bau -leidenschaft 222, 230, 239 -lust 31 -maßnahme 220, 231 -maßnahmen 220 Monumental- 230 -politik 230 -programm 147, 230 -projekt 31, 143, 217 -sucht 218 -tätigkeit 16, 221, 222, 226, 230, 231, 239, 241 -wesen 158 -wut 226, 230, 240 Baumgarten, Paul Maria 61 Bayreuth 325 Beard, George Miller 124 Beard, Mary 338, 350 Begierde (epithyme¯tikon) 41, 50, 170, 171, 230, 271 Benjamin, Walter 314 Bergmann, Marianne 227, 229 Berlin 50, 52, 60, 61, 63, 72, 100 -er Dom 100 Bescheidenheit 64, 218, 222 Besessenheit 155, 265, 309, 317 Bigamie 287 Bildung 11, 37, 63, 77, 86–90, 100, 143, 146, 150, 163, 169, 175, 226, 257, 361 Bonapartismus 94, 95 Borgia, Alonso Siehe Calixt III. Borgia, Cesare 295, 298, 299, 301, 302, 304, 305, 307–309 Borgia, Gioffré 307 Borgia, Juan 304, 307 Borgia, Lucrezia 279, 302, 304, 307, 308 Borgia, Pedro Luis 301 Borgia, Rodrigo Siehe Alexander VI. (=Borgia, Rodrigo) Boscovits, Johann F. 261 Bosheit, Bösartigkeit 40, 320 Bösewicht 86, 299, 348 Boudicca 188 Brand (Roms) 188, 190, 206, 207, 209, 223, 231, 252, 258, 267, 299, 334

Index

-stifter (incendiarius) 207 Brass, Tinto 254 Breuer, Josef 121, 129 Britannicus (Tib. Claudius Caesar B.) 188 Britannien 33, 187, 188 Broszat, Martin 327 Brutalität 26, 29, 47, 65, 79, 99, 105, 114, 263, 264 Bühne 166, 206, 207, 211, 219, 259, 276, 314 Bürger 25, 26, 46, 65, 66, 87, 149, 150, 170, 197, 209, 211, 287, 288, 338 -gemeinde 196 -könig (vgl. König) 93 -kultur 166 -liche Kreise 61, 65, 66, 81, 86 -liche Werte 79, 86, 91, 167, 168, 272 -schaft 165, 166, 174, 196 -soldaten (vgl. Militär) 194, 197 Staatsbürgerschaft 334 -tum 69, 70, 91–93, 107 -versammlung 159, 186, 196 -wehr 323 Bürgerkrieg 93, 106, 165, 169, 195 Bush, George W. 333, 334, 336 Byzantinismus 48, 63, 69, 73, 74, 80, 82, 97 C. Iulius Callistus 187 C. Silius 281, 282, 286, 287 Caelius 225 Caesaren 18, 31, 35–37, 58, 94–96, 113, 132–134, 185, 299 -tum 42, 95 Caesarismus 10, 13, 91, 94–97, 108, 112, 113, 352 Caesaropapismus 301 Caesonia (=Milonia C.) 255, 271, 272, 277 Caligula (Kaiser) 11, 13–16, 25, 27, 28, 30–39, 41, 43, 46, 47, 49, 51, 53–55, 75, 76, 78, 89, 96–101, 105–108, 125–127, 133, 144, 145, 149, 151, 186–188, 193, 204, 205, 207, 208, 210–212, 220, 222, 223, 227, 247–267, 271, 272, 277–281, 289, 296, 298, 305, 332–334, 336, 337, 340, 342, 343, 345 Calixt III. (=Borgia, Alonso) 301 Campbell, John W. 366 Capri 160, 286 Caracalla (Kaiser) 107, 191, 211, 332–334, 336 Carlyle, Robert 322

Index

L. Cassius Dio Cocceianus 39, 144, 145, 151, 152, 158, 202, 204, 209, 223, 281 castitas 202 Ceau¸sescu, Nicolae 217 Chaplin, Charlie 318 Charakter 28, 30, 31, 37, 75, 79, 87, 89, 122, 125, 154, 156, 159, 163, 193, 218, 300, 303, 316, 333, 336, 340, 347 -isierung 196, 200, 275, 285, 327, 349 -istik 25, 34, 78, 195, 203, 304, 315 -liche Schwäche 321 -losigkeit 65, 74 Christ(in) 188, 251, 252, 254, 256, 265, 281, 283–285, 287, 289 -enfeindschaft 252, 254 -entum 88, 252, 254, 289, 306 -enverfolger 16, 252, 253 -liche Ehe 288 -liche Ikonographie 315 -licher Autor 248 Christus 252, 301, 302, 304, 315 Cicero Siehe M. Tullius Cicero Circus 197, 225, 239, 240 civilitas 202 Claudius (Kaiser) 257, 258, 261, 274, 275, 277, 278, 280–282, 286, 289, 332, 333, 336, 350, 351 Cleander Siehe M. Aurelius Cleander clementia Siehe Milde (clementia) Clinton, Bill 333, 336 P. Clodius Thrasea Paetus 188 comitas 202 Commodus (Kaiser) 15, 34, 105, 145, 189, 190, 193, 208–212, 247, 257, 258, 332, 333, 336, 342, 345 concordia 186 congiarium Siehe Geldgeschenk (congiarium, donativum) consecratio 201 convivium Siehe Gastmahl P. Cornelius Tacitus 29, 36, 85–89, 99, 105, 106, 108, 151, 195, 201, 207, 223, 225, 274, 281, 287, 331, 339, 343, 350, 351 Cottafavi, Vittorio 278 Cromwell, Oliver 93 crudelitas Siehe Grausamkeit (crudelitas)

379 d’Amato, Joe 298 damnatio memoriae 145, 187, 189, 190, 192, 201, 239 Dämon Dämonisierung 87, 149, 265, 267, 316–319, 324, 365 Daten, persönliche 368, 370 de Bergerac, Cyrano (de Cyrano, Hector Salvien) 359 de Medici, Giuliano 304 Dekadenz 218, 248 Delbrück Falkenhayn, Hans 62 Demagogie 55, 58, 93, 173 dementia 105 Demokratie 63, 64, 76, 77, 113, 163, 165, 167–170, 339 -kritisch 172 Demos (de¯mos) 167 Demütigung 23, 82, 260, 307 Despot Despotie 30, 88, 200, 249, 251, 254, 261, 262, 299, 300 Devianz 18, 130, 158, 254, 255 Diagnose 101, 124, 127, 129, 134, 192, 211, 310 Diktator, Diktatur 17, 91, 113, 114, 195, 217, 316–318, 320, 325, 347, 358, 370 Dion v. Prusa (‚Chrysostomos‘) 146, 152–156, 158–163, 174, 201 Doman, John 304, 308 dominus et deus 149, 239 Domitian (Kaiser) 89, 105, 145, 147–150, 153, 208, 211, 230, 231, 235, 237–240, 257, 332, 333 domus (Stadthaus) 203, 218, 222, 224, 228, 234, 236 Augustana 233, 234, 236 Aurea 188, 223–227, 229, 231, 234, 236–238, 341 Flavia 236 Severiana 231, 234 Tiberiana 220, 228 Transitoria 223 domus Augusta Siehe Hof (domus Augusta; aula principis) domus divina 197, 200, 203 Donativ (donativum) Siehe Geldgeschenk (congiarium; donativum) Douglas, Lloyd C. 16, 250–253, 255 Drittes Reich 320, 327 Drogen 256, 324 Drohne (militärisch) 369 Drusilla (Iulia D.) 186

380 Duguay, Christian 322 Dumas, Alexandre 304 Dynastie 11, 15, 24, 40, 69, 82, 83, 105, 112, 133, 147, 191, 200, 203, 210, 230, 274, 301, 308, 309, 337 Dystopie 15, 163, 166, 262, 357, 366–369, 372 Effeminierung 160, 203, 275 Egidio v. Viterbo 300 Egozentrik Egomanie 100, 225, 226, 259, 342 Ehe 197, 202, 272 -bruch (-brecherin) 159, 274, 275, 285, 306 Eifersucht 57, 323 Elagabal (Ilah Al-Gabal) (Gott) 191, 192, 209, 210 Elagabal (Kaiser) 15, 145, 191–193, 209–212, 257, 281 Elite 107, 150, 152, 156, 165, 166, 169, 227, 228, 236, 322, 337, 343, 349, 351, 352 England 50, 56, 79, 100, 277, 279, 331, 360 Epilepsie 39, 125 epithyme¯tikon Siehe Begierde (epithyme¯tikon) Erbe (erblich) 30, 111, 124, 125, 128, 133, 192, 193, 195 Erdo˘gan, Recep Tayyip 11, 217 Erhabenheit (maiestas) 197, 205, 207, 209, 211 Erhebung (zum Kaiser) 25, 46, 188, 304 Selbstüberhebung 9, 74, 149, 171 Eros 171, 289 Erotisierung 289 Eunuch 207 exemplum 10, 146, 165, 211, 344 Exil, Exilierung 153, 296, 314 Exkommunikation 307 Extremist 371 Exzentrik (exzentrisch) 223, 224 Exzess 30, 134, 159, 174, 247, 256, 262, 267, 342 fake news 339 familia Caesaris 202 Familie 25, 28, 36, 46, 89, 107, 218, 298, 300, 301, 303, 308, 309 Herrscher- 57, 79, 197 Kaiser- (vgl. familia Caesaris) 191, 197, 200, 202, 273, 275, 278 Farnese, Alessandro Siehe Paul III (= Farnese, Alessandro)

Index

Farnese, Giulia 302, 305, 307 Faschismus 314, 324, 328, 345 femme fatale 276, 283, 284, 289 Fénelon, François 250 Feste (ludi, spectacula) 31, 32, 164, 188, 197, 203, 206, 207, 299, 315, 337 Film Antik- 253–255, 260, 271, 274, 278, 279 Historien- 277, 279, 298, 300, 304 Monumental- 279 Stumm- 276, 285, 298 Flaig, Egon 15, 165, 194, 196 Flavier (Kaiserdynastie) 15, 87, 147, 230, 231, 233–237, 239 T. Flavius Iosephus 105 Förtsch, Reinhard 235 Fortschritt 123, 129, 358, 360, 363 Forum 37 - Romanum 31, 57, 220 Augustus- 222, 225 Frankfurt a. M. 57, 103, 104 Frankfurter Zeitung 45, 48, 52–54, 102 Frankreich 83, 105, 307 Frau 16, 158, 159, 173, 175, 188, 203, 206, 218, 261, 271–275, 282, 285, 286, 288, 305, 318, 324 -engeschichte 273 -enkleidung 302, 324 -entyp(us) 276, 279, 286, 288 Freigebigkeit (liberalitas, largitio, munificentia) 188, 202, 222, 240 Freigelassene 170, 187, 197, 202, 203, 205, 286, 287 Freiheit 27, 72, 98, 99, 107, 196, 275, 289, 339, 346, 349, 372 Rede- 370, 371 -sideologie 165, 370 -skampf 161 Freud, Sigmund 14, 121, 123, 129–133 Freudenburg, Kirk 340, 346, 347 Freunde (amici) 52, 53, 102, 202, 212, 284–286, 324, 367 Freundschaft (amicitia) 78, 161, 198, 204, 218 Freytag, Gustav 10, 13, 29, 86, 91, 92, 97, 99, 106–108, 110, 112, 192 Friede 79, 80, 162 Markomannen- 189 -nsaktivist 9 -nsbewegung 104 -nsfürst 80 -nsgesellschaft 62, 104 -nskongress 62

Index

-nsnobelpreis 105, 121 Versailler F. 83 Friedrich II. v. Preußen (=d. Große) 317 Friedrich Wilhelm IV. v. Preußen 38, 58, 82, 109 frumentationes 197 Führer 33, 76, 96, 114, 197, 207, 315, 317, 320, 325–327, 345, 359 -bunker 317, 320 -mythos 317, 327 Führungsstärke 334 Furcht 26, 30, 34, 35, 43, 47, 97, 102, 105, 149, 150, 154, 157, 161, 162, 170, 205, 260, 296, 297, 303, 304, 306, 309 furor 105, 106 Fürst 25, 29–33, 40, 61, 69, 77, 78, 86–90, 99, 106, 108, 109, 127, 134, 299, 301, 309, 317 Galba (Kaiser) 189, 257 Gallone, Carmine 278 Ganz, Bruno 320 Garten(anlage) 207, 225–228, 234–236, 357 horti Lamiani 227 horti Sallustiani 227 Palast- 228 Gastmahl (convivium) 198, 202–204, 218, 219, 234 Gefolgschaft 69, 162, 164, 196 Geheimdienst 368 Geldgeschenk (congiarium, donativum) 191, 197 Gemeinwesen (res publica) 165, 194, 195, 200 Gemeinwohl 28, 82, 160, 172 Genie, Genialität 13, 35, 36, 65, 92–94, 123, 195, 314, 322, 326, 327 George, Götz 323 Gerechtigkeit (iustitia) 23, 66, 70, 81, 157, 197, 347 Gerlich, Fritz 322 Germanicus (=Nero Claudius Germanicus) 26, 27, 47, 186 Gesang 227, 258, 288 Geschlecht 156 -erbild 271 -ergeschichte 273 -errolle 273 Gesellschaftsspiel 257 Gewalt Gewalttätigkeit 26, 35, 64, 90, 94–96, 100, 105, 106, 148, 159, 161, 171, 203, 255–259, 261, 267, 295–297, 300, 307, 310, 318, 322, 323, 345

381 Vergewaltigung 79, 255, 262 -herrschaft Siehe Herrschaft Gift Giftanschlag 30, 188, 282, 286, 295, 305 Gladiator 34, 36, 190, 198, 208, 209, 211, 265 Gladiator (Film) 342 Golem 365 Gott, Gottheit 9, 15, 34, 38, 39, 79, 89, 105, 149, 150, 154, 156, 187, 191, 192, 194, 202, 205, 209–211, 220, 251–254, 297, 303, 306, 308 -eslästerung 262 -gleich 194, 195, 198, 204, 205, 211, 220 Götterbildnis 192 göttliche Sendung 76 Göttlichkeit 38, 75, 205, 220, 254 Halb- 81 Selbstvergottung 9, 29, 99, 171, 262, 297 Vergottung 38, 39, 186, 201, 256 Gottesgnadentum 113, 195 Gower, John 250 Grausamkeit (crudelitas) 9, 17, 29, 35, 40, 41, 99, 107, 143, 187, 189, 190, 192, 202, 203, 225, 271, 274, 275, 289, 296, 297, 304 Graves, Robert (=von Ranke Graves, Robert) 251, 277, 342 Griechenland 150, 188, 206, 207, 273 Großbritannien 331 Größenwahn 9, 29, 30, 32, 46, 99, 217, 220, 226, 230, 289, 299, 318, 357, 358 Großzügigkeit (vgl. Freigebigkeit) 191, 198, 204, 222 Guccione, Bob 254, 255 Günstling 78 Habgier (avaritia) 187, 189, 202, 275, 285, 289 Habitus 211, 304, 313 Hadrian (Kaiser) 16, 148, 229, 230, 332, 333 Hahn, Johannes 229 Hampl, Franz 122, 133, 134 Hanfstaengl, Ernst 322 Harmodios v. Athen 164, 165 Hass 35, 43, 97, 105, 161, 170, 204, 207, 208, 265, 280, 317, 321 Havanna 335 Hawking, Stephen 369 Hayden, Michael V. 369

382 he¯done¯ Siehe Lust (he¯done¯) Heer 32, 36, 37, 96, 196, 197, 207 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 348 Heil (salus) 197, 315 Heirat 192, 207, 210, 278–282, 286, 301 hellenistisch 174, 196, 226, 227 Hellespont 187 Hemmungslosigkeit 156, 275, 341, 342 Hercules 190, 206, 208, 209, 211, 279 Herodot v. Halikarnassos 164, 166, 169 Herrschaft 163, 170, 172, 173, 190, 191, 193, 195–198, 200, 201, 203, 204, 209–211, 273, 275, 301, 303, 306, 308, 309, 326, 334, 345, 346 Adels- 163 Allein- 11, 109, 132, 154, 172, 195 charismatische - 10, 221, 326 Frauen- 272, 273 Gewalt- 17, 146, 150, 161, 165, 166, 173, 200, 306 Herrscher, guter 146, 147, 160, 162, 163, 173, 200 Herrscher, perverser 132, 255 Herrscher, schlechter 107, 146, 154, 160, 162, 163, 166, 173, 194, 200, 247, 267 Herrscherklischee 13, 81, 145, 166, 173, 174, 255 konsensuale - 273, 351 -santritt 200, 251 -sdiskurs 17, 174, 336, 339 -sform 161, 194, 195 -sideologie 114, 164, 167, 230, 241 -sinstrument 297, 303, 306, 309 -skommunikation 161 -spraxis 174, 194 -srepräsentation 174 -stypus 162, 228 Volks- 163 Hinrichtung 40, 41, 190, 252 Hintjens, Pieter 361, 362 Hipparchos v. Athen 164 Hippias v. Athen 164, 166 Hirschbiegel, Oliver 320 Hitler, Adolf 17, 113, 313–328, 347 Hochmut (superbia) 187, 202, 298 Hochverrat Hochverratsprozess 105 Hof (domus Augusta, aula principis) 34, 151, 200, 202, 203, 227, 279 Hoffmann, Heinrich 315 Hohenzollern (dt. Kaiserhaus) 24, 81, 82, 112, 121, 125, 143 Holland, Tom 337, 338

Index

Holland, Wau 368 Hollywood 277 Humanoid 367 Hybris 297, 322, 372 -Syndrom 134 Ideologie 114, 146, 165, 166, 169, 174, 323, 327, 336 Imago 13, 15, 147, 333 Kaiser- 146, 194, 203, 207, 209 Medien- 279, 317, 320, 324, 327, 328 Politiker- 315 Tyrannen- 200, 202, 203 Imperator 88, 189, 191, 194, 197, 198, 201, 207 Imperium Romanum 15, 17, 93, 152, 258, 337, 343 impietas (vgl. pietas) 192, 202 Impotenz 124 impudicitia 187, 189, 190, 192, 202 Incitatus (Pferd d. Caligula) 37, 39, 187, 204, 249, 263, 334, 342 incolumitas 197 infamia 202, 209 insania 105 Intelligenz, künstliche (KI) 357, 362, 363, 365, 371 Inzest 105, 187, 206, 248, 252, 255, 262, 265, 302, 308 Iulia Agrippina (d. Ä.) 27, 47 Iulia Agrippina (d. J.) 188, 206, 207, 255, 265 Iulia Avita Mamaea 191 Iulia Domna 191 Iulia Maesa 191 Iulia Soaemias Bassiana 191 C. Iulius Caesar 13, 91–97, 194, 195, 221, 297, 333, 338, 339, 349 Iuno Caelestis (=Tanit) 192 Iuppiter Capitolinus 105, 220 iustitia Siehe Gerechtigkeit (iustitia) Jähzorn Siehe Zorn Juden(tum) 41, 52, 227, 263, 318, 321–324 Jüdische Mystik 365 Julisch-Claudische Dynastie 15, 146, 274, 278, 337 Kaiser -bild Siehe Imago

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guter K. (optimus princeps) 15, 16, 145, 148, 149, 201, 240, 340 -hof Siehe Hof (domus Augusta, aula principis) -kult 39, 192, 204, 205, 211, 264 Princeps 125, 148–150, 174, 194, 197, 198, 201, 202, 204, 209, 225, 231, 237, 240 Prinzipat (principatus) 195, 203–205, 210, 219, 223, 333, 349, 350 schlechter K. (pessimus princeps) 15–17, 145, 146, 148–151, 153, 156, 160, 174, 194, 201, 218, 225, 230, 247, 248, 250, 267, 333, 340, 341, 344–346 -titel 209 -tum 9, 65, 77, 197, 209 Verbund- 16, 248, 251, 267 Kaiserreich deutsches K. 9, 14, 122, 127 französisches Empire 83 römisches K. 43, 96 Kapitol 106, 220 Kardinal 300–302, 304, 306–308 Karikatur 51, 261, 316, 317 Karmakar, Romuald 324 Kastanienbankett Siehe Bankett Kennedy, John F. 334 Kier, Udo 324 Kilb, Andreas 300 kindisch 17, 32, 76, 90, 107, 304, 305, 307, 309 Kitharöde 187, 188, 206, 342 Kleidung 31, 34, 38, 75, 76, 202, 277, 281–283, 287, 318, 324 Kleisthenes v. Athen 165 Kleopatra VII. Philopator 283, 285 Knell, Heiner 229, 239, 240 Kolosseum 230 Kommunikation 150, 196, 198, 205, 236, 369 doppelbödige K. 198, 220 gestörte K. 15, 150, 185, 194, 203, 206 HerrschaftsSiehe Herrschaft politische K. 11, 273 -smuster 14 -sraum 164, 218, 236 -symbolische 147 Komödie 34, 75, 78, 212, 315, 319, 320 Komplott 161, 287, 305 König (basileus) 14, 35, 146, 153, 154, 156–162, 172, 196, 219 -sherrschaft 195, 200, 201

383 -tum 30, 57, 81, 154, 163, 172, 301, 308, 309, 318 Volks- 13, 93 Konstantin (Kaiser) 211 Konsul 37, 41, 149, 187, 190, 204, 249, 334, 342 Kontrolle 127, 155, 156, 169, 171, 173, 190, 368, 370–372 -instanz 9 -verlust 88, 155, 156, 158, 170, 260, 314, 369–371 Konzern 368, 370 Korda, Alexander 277 Korinth 31, 163 krasis 155 Kracauer, Siegfried 316 Krankheit 9, 13, 29, 30, 36, 38, 42, 87–89, 109, 111, 124, 128–130, 132, 133, 171, 186, 247, 310 Berufs- 132 Geistes- 29, 35, 39, 99, 105, 109, 126, 135, 193 krankhaft 30, 32–34, 38–40, 48, 123, 230 Nerven- (Neurasthenie) 14, 110, 122, 124–126 physische 124, 126, 323 psychische 11, 12, 14, 29, 35, 39, 87, 99, 105, 109, 111, 122, 124, 126, 127, 129, 130, 134, 135, 193, 315 -sbild 13, 17, 89, 91, 107, 110, 122, 124, 127, 129–132, 134, 135 See- 34 -sursache 126, 129 -sverlauf 89, 90, 110 Vorerkrankung 125 kratos 155 Kriecherei 100 Krieg 25, 32, 33, 46, 49, 75, 80, 88, 170, 196, 197, 207, 301, 369 Buren- 82 Dreißigjähriger 85 Erster Weltkrieg 23, 56, 62, 73, 79, 80, 83, 105, 122, 124, 125, 128, 129, 132 Irak- 334 Peloponnesischer 163, 167 Perser- 166 -sangst 126 -sheld 25, 46 -sherr 76 -shetze 23 -smüdigkeit 128 -sspiele 76, 78 -sverbrecher 23

384 Zweiter Weltkrieg 286, 314, 316, 317, 324 Kritik 10, 11, 58, 64, 65, 68, 75, 78, 81, 86, 92, 95, 97, 98, 100, 102, 104, 105, 107, 112, 122, 134, 135, 160, 161, 167, 170, 172, 173, 175, 193, 218, 219, 224, 230, 231, 273, 300, 317, 321, 336, 348, 363 Film- 278, 326 Kultur- 261 Majestäts- 247 Medien- 325 Selbst- 160 unkritisch 64 Kunst 17, 35, 37, 39, 143, 218, 225, 226, 228, 229, 260, 314–316, 318, 321, 323, 326, 371 Rede- 314 Künstler 9, 17, 80, 81, 206, 207, 211, 224, 313–316, 318, 321–327 Kushner, Jared 342, 351 Lapham, David 249, 262, 265 largitio Siehe Freigebigkeit (liberalitas, largitio, munificentia) Laster (vitia) 40, 58, 134, 201, 208, 279, 348 Laughton, Charles 277 Lee, Belinda 279 Legitimation 15, 112, 147, 165–167, 191, 193–196, 211, 222, 226, 227, 302, 306, 316, 326, 339, 350 Leiden 88, 123, 127, 131 Leidenschaft 26, 47, 93, 188, 222, 230, 239, 280, 287 Levy, Dani 319, 320 Liberalismus 10, 98, 104, 175 liberalitas Siehe Freigebigkeit (liberalitas, largitio, munificentia) Liebhaber 280, 285, 286 Liebschaften 307 Livia (L. Drusilla) 274 Loyalität 189, 194, 196–198, 207, 208, 345 Lubitsch, Ernst 319 Lucilla (Annia Aurelia Galeria Lucilla) 190, 208 Ludd, Ned 359, 360 Ludditen 359, 360 ludus Siehe Feste (ludi, spectacula) Luini, Bernardino 283 Lukan Siehe M. Annaeus Lucanus

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Lukian v. Samosata 359 L. Lusius Geta 282, 284, 286 Lust (he¯done¯) 107, 154, 155, 157 -empfinden 172 -knabe 308 Mord- 41 -palast 160 Wollust 295 luxuria 15, 189, 202, 218, 224 Luxus 31, 42, 143, 158, 218, 219, 223, 225–227, 237, 238, 248, 297 -sucht Siehe Sucht Macht -basis 150, 196, 260 -besessenheit 17, 357, 367 -bewusstsein 305 -fülle 128, 132, 133, 193, 219, 250 -gier 251, 254, 274 -haber 9, 11, 12, 133, 144 -kampf 106, 164, 280 -mittel 114, 360 -stellung 132, 158, 195, 201 -streben 357 -übernahme 321, 327 -verhältnisse 154, 361, 362 Macrinus (Kaiser) 191 maiestas Siehe Erhabenheit (maiestas) Majestätsbeleidigung 27, 30, 53, 54, 64–68, 70, 72, 73, 98, 102, 252 Majestätskritik Siehe Kritik mania 105 Manie 100, 108, 274 Mann 154, 156, 158, 171, 201, 261, 272, 278, 282, 321 unmännlich 160 Mann, Thomas 313, 314, 326 Marcellus (Filmfigur) 251–253, 282, 283 Marcus Aurelius (Kaiser) 148, 332, 333 Martial Siehe M. Valerius Martialis Marx, Karl 96 Maschinensturm 360 Massenmedien 325 Maßlosigkeit 31, 78, 90, 105, 229, 271, 275, 321 Masucci, Oliver 325 Mätresse 274, 297, 301, 302, 305, 307, 308 Matriarchat 272

Index

L. Maximus (Romanfigur) 281, 282, 284, 286, 287 May, Karl 324 Messalina 16, 261, 274–289 -Komplex 275 Meyies, Menno 321 Midas 230 Milde (clementia) 202 Militär 27, 32, 34, 37, 72, 76, 93, 96, 98, 114, 272, 340, 360 Soldat 25, 32, 33, 37, 46, 76, 77, 79, 128, 189, 191, 195, 197, 198, 200, 204, 205, 207, 208, 210, 251, 264, 281, 286, 305 Militarismus 104 Miller, Frank 258 Minimax-Algorithmus 365 misericordia 202 moderatio 222 modestia 202 Moers, Walter 324 Mommsen, Theodor 13, 91–94, 108, 112, 134, 195 Monarch 13, 29, 30, 58, 74, 86, 94, 95, 97, 111, 122, 125, 127, 154, 156, 160, 170, 173–175, 193, 196, 198, 200, 204, 211, 237, 240, 296, 297, 300, 303, 307, 309, 310 Erb- 195 Monarchie 10, 11, 13, 15, 48, 64, 83, 88, 92–94, 100, 112, 121, 122, 126, 128, 145, 153, 160, 163, 170, 173, 185, 193–196, 198, 200, 201, 208, 220 Antimonarchismus 55, 102, 104, 110, 128 Erb- 308 konstitutionelle 127 Monarchismus 24, 25, 29, 38, 49, 58, 64, 82, 100, 103, 126 Wahl- 308 monstrum 146 Moore, Gordon 360, 361 Moore, Nicolas 298 Moral 51, 65, 105, 130, 144, 145, 153, 154, 163, 194, 226, 249, 349, 350 Amoralität 29, 100, 103, 105, 109, 309, 317, 342 Mord 109, 151, 162, 164–166, 187, 188, 191, 192, 195, 206, 239, 254, 256, 257, 262, 264, 265, 280, 286, 306, 321, 323, 345 Eltern- (parricidium) 188, 206, 207, 254 Justiz- 253 -lust Siehe Lust

385 Tyrannen- 161, 164–166 Verwandten- 207 Mörder 205–207, 254, 258, 297, 306, 323 Morgenempfang (salutatio) 198, 218 Mueller-Stahl, Armin 324 munificentia Siehe Freigebigkeit (liberalitas, largitio, munificentia) Musk, Elon 369 Mussolini, Benito 113 Nachfolgeregelung 195 Napoleon I. Bonaparte 36, 93, 94, 364 Napoleon III. 58, 94–96, 108, 112 Narcissus (Freigelassener) 286, 287 Narzissmus (vgl. selbstverliebt) 134, 318, 321, 342 Nationalsozialismus 77, 315, 317, 319, 320, 322, 324 NS-Film 327 NS-Propaganda 327 NS-Regime 317 NS-Vergangenheit 316 Nazismus 326 Neonazismus 328 Neapel 32, 187, 188, 206, 301 negotium 226 Nero (Kaiser) 9, 15–17, 34, 89, 105, 145, 147, 149, 151, 187–189, 193, 206–210, 212, 223–231, 234, 236–238, 247, 248, 250, 252–255, 257–260, 265–267, 296, 298, 332–337, 340–343, 345, 347–349 Nerva (Kaiser) 148, 153, 255 Nervenkrankheit Siehe Krankheit Nitribitt, Rosemarie 279 Nixon, Richard 334 Nobile, German 249, 262, 265 nobilitas 195, 208 Norm 334 Abnormität 43, 74 Normativität 144, 148, 201 -überschreitung 296, 302, 308, 309, 339, 343 nymphoman 274 Obama, Barack 333–336, 351 Oberon, Merle 277 Octavia (Claudia Octavia) 188, 207 Odermatt, Urs 323 Öffentlichkeit 77, 104, 160, 164, 165, 203, 218, 229, 308 officium 226 Oligarchie 168, 170

386 Onanie 124 Oppius 225 optimus princeps Siehe Kaiser Orgie 171, 260 Orient, orientalisch 15, 30, 160, 194, 226 Orsini, Filippo 279 Orsini, Virginio 306 otium 202, 226–228, 234, 236 P. Papinius Statius 231 Pabst, Georg Wilhelm 317 paideia 163 Palast 16, 31, 160, 188, 190, 203, 205, 208, 217, 219, 220, 222, 223, 225–227, 229–231, 233–239, 241, 277, 282, 284, 302, 307, 318 -architektur 228 -öffentlichkeit 206 Palatin 31, 220–222, 225, 227, 228, 231–233, 235, 237–240, 341 Papst 16, 17, 295–300, 302, 304–310 Paranoia 111, 161 Parodie 187, 206, 207, 258, 264, 316–318, 320, 324, 328 parsimonia Siehe Sparsamkeit (parsimonia) Pathologie 9, 12, 34, 87, 122, 123, 127, 130, 314, 315, 318, 323, 324, 346 Patriarchat 273 Paul III. (=Farnese, Alessandro) 302, 306 Peisistratiden 164, 165 Pelman, Carl 127, 128, 132, 135 Performanz 203, 211, 314 Perikles v. Athen 167 Personenkult 103, 315, 317 Persönlichkeitsstörung 134, 229, 323, 327 Pertinax (Kaiser) 208, 257 Perversion 132, 192, 207, 250, 255, 265 pessimus princeps Siehe Kaiser T. Petronius Arbiter 188 Pflichtgefühl 226 Philon v. Alexandria 105, 205 Philosophie 14, 15, 126, 130, 146, 150, 152, 153, 156, 161–163, 169–174, 226, 228, 236, 362 Phobie 124 pietas (vgl. impietas) 197, 202, 210, 221, 240 Pisonische Verschwörung 188 Platon v. Athen 152, 160, 161, 163, 169–173, 175, 200

Index

plebs (urbana) 106, 188, 190, 194–198, 200, 204, 205, 207–210 C. Plinius Secundus maior (=d. Ältere) 235, 248 C. Plinius Secundus minor (=d. Jüngere) 201, 231, 238, 240 Plutarch v. Chaironeia 230, 231 Polemik 10, 13, 122, 135, 336, 338, 343, 348, 349 Polis 159, 163, 165–167, 169, 196, 200 Politik Appeasement- 318 BauSiehe Bau Boudoir- 279 Entpolitisierung 197, 324, 327 Gefolgschafts- 164 Geschichts- 317 Innen- 26, 46 politische Ordnung 167 politische Theorie 14, 163, 175 politische Vision 203, 210, 240 politische Werte 150 Politisierung 314, 321 Symbol- 147, 148, 324 -verdrossenheit 325 pontifex maximus 209 Popkultur 248–250, 267, 328 Popmusik 257, 259 Poppaea Sabina 206, 274 Popstar 260 Populismus 315, 337, 339, 347, 349, 351 populus Romanus 196 Pornofilm 250, 255, 276, 298 Pornographie 255, 276, 298 Pracht 94, 159, 217–219, 224, 226 Präsident 217 Präsident (US) 11, 62, 331, 333, 334, 336, 338, 340, 343, 351, 352 Vize- 334 Prätorianer 27, 186–188, 190–192, 196, 197, 205, 207, 208, 265, 284, 286 Priester(in) 38, 191, 192, 209–211 Kaiserkult- 39, 204 Vesta- 281, 282 Primogenitur 195 Princeps Siehe Kaiser Privileg 281, 349, 364 Produzent 260, 300 Propaganda 49, 64, 73, 95, 230, 327 Prositituierte 279, 302, 307 Prozess Hochverrats- 105 Majestäts- 27, 64, 98, 108, 187, 204

Index

Massen- 360 Sokrates- 173 Straf- 102 Prunk 33, 76 -sucht Siehe Sucht Psyche (psyche¯) 111, 125, 130, 133, 169, 193, 229 Psychiatrie 40, 122, 125–128, 130, 131, 133, 134, 192, 193, 211, 275 psychische Krankheit Siehe Krankheit Psychoanalyse 109, 121, 122, 128–131, 133–135 Psychologie 13, 15, 55, 87, 109, 129, 130, 172, 351, 364 Psychopath 251 Psychopathologie 14, 15, 122, 123, 126–128, 134, 135, 192, 318, 325, 327 Psychopoathologie 14 Vulgärpsychologie 322 Publikum 51, 67, 68, 70, 73, 75, 91, 105, 108, 143, 151–153, 163, 237, 257, 261, 267, 280, 282, 286, 288, 289, 298, 310, 315, 331, 344, 345 pudicitia 202 Putin, Wladimir 11 Pyta, Wolfram 313, 326 Quidam Siehe Rothe, Hermann Heinrich (=Quidam) Quidde, Ludwig 9–11, 13–17, 25, 50–52, 57, 60–63, 67, 71, 73, 74, 97–105, 107–110, 121–123, 125–128, 132, 133, 143–146, 158, 171, 174, 175, 192, 193, 247, 250, 251, 261, 267, 271, 272, 289, 295, 296, 299–301, 303, 304, 309, 310, 315 Rabirius (Architekt) 231 Rachsucht Siehe Sucht Raserei 106, 206, 253 Ratgeber 100, 153, 160, 163, 169, 173 Raubal, Angela (Geli) 320, 323 Rausch 28, 32, 143, 155, 156, 159, 171, 260, 275 Reagan, Ronald 334 Realitätsverlust 212 Recht, römisches 72, 73, 91 rechtsextrem 336 rechtsnational 326 Redefreiheit Siehe Freiheit

387 Regierung 16, 26, 43, 46, 47, 49, 62, 89, 96, 97, 107, 109, 149, 163, 175, 190, 297, 350, 368 -santritt 36, 41 -sgelder 334 -sgewalt 26, 47, 193 -spraxis 15, 35, 147, 150, 154, 161 -sstil 27, 336, 338, 348 -ssystem 122 -sunfähigkeit 275 -swechsel 27, 47 Regime (vgl. Herrschaft) 11, 127, 161, 167, 168, 171, 172, 188, 211, 324, 352 Gewalt- 161, 166 persönliches Regiment 97, 99 Senats- 195 -typus 169, 172, 173 Reich -saristokratie 196 -sgott 211 Religionspolitik 15, 193 Repräsentation 11, 174 Herrschafts- 174 -sform 145 Republik 24, 55, 64, 83, 93, 94, 102, 150, 163, 194, 195, 198, 200, 201, 218, 220, 275, 315, 334, 339, 346, 347, 349, 352 Republikaner 24, 25, 64, 83, 121, 344 Republikanismus 175, 347 Res Gestae Divi Augusti 221 res publica Siehe Gemeinwesen Rezeption 11, 15, 16, 144, 174, 175, 248–250, 260, 267, 274, 275, 289, 296, 299, 300, 309, 333, 349 Rhetorik 144–146, 152, 273, 314, 322, 349 Richter 53, 54, 56, 64–66, 68, 69, 83, 360 Richter, Adolf 62 Riefenstahl, Leni 315, 322 Ritual 166, 186, 201, 203, 210, 260, 263, 315 Ritus, römischer 340 Roboter, Robotik 18, 357, 358, 365–367, 371 Romagna 301, 308 Romieu, Auguste 95, 96, 112 Roosevelt, Theodore 62 Rose, Graham 324 Rothe, Hermann Heinrich (=Quidam) 126 Rothman, Max (Filmfigur) 321 Ruhmsucht Siehe Sucht Russland 11, 366

388 Sachs, Hanns 133 saevitia 105, 187, 189, 190, 202 Sakralität 130, 222, 237, 240, 315 Entsakralisierung 309 Sakralrecht 281 Salome 278, 283, 284, 289 salus Siehe Heil (salus) Sänger 188, 206 Satire 13, 14, 42, 43, 58, 68, 97–99, 102, 121, 316–318, 325, 328, 347, 351 Savelli-Brief 296, 298 Scham (vgl. pudicitia, castitas) 202, 209 Schamlosigkeit (vgl. impudicitia, infamia) 90, 187, 189, 192, 202, 210 Schauspieler (histrio) 36, 38, 188, 206, 207, 279 Schilling, Tom 323 Schizophrenie 111 Schlingensief, Christoph 324 Schmähung 35, 86, 143, 343, 344, 347, 351, 352 Schmeichelei 24, 40, 58, 76, 78, 80, 88, 149, 150, 161, 170, 173, 204 Schneider, Helge 320 Schumer, Chuck 340 Science-Fiction 18, 262, 357–359, 365–368 Searle, John 363 Seelenkrankheit Siehe Krankheit Seeßlen, Georg 327 Selbstbeherrschung 156, 174, 203 Selbstbild 304, 313–315 Selbstdarstellung 10, 11, 160, 163, 237, 255, 315, 336, 338, 349, 371 Selbstinszenierung 315 Selbstüberschätzung 78, 229, 321 selbstverliebt 318 Selbstverständnis 196, 219, 314, 326 Semiramis 159, 160, 163 Senat 34, 42, 93, 98, 105, 107, 145, 148–150, 152, 186–192, 194–198, 200, 201, 204–208, 210, 211, 218, 223, 224, 226, 229, 230, 283, 342, 343, 349 -saristokratie Siehe Aristokratie -sgericht 197 -sherrschaft 200 -sregiment 93 Seneca Siehe L. Annaeus Seneca Septimius Severus (Kaiser) 190, 191, 211, 334 severitas 202

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Severus Alexander (Kaiser) 191, 192 Sexualität 17, 131, 156, 158, 210, 254, 255, 275, 289 Sexdarstellung 255, 261, 267, 307 Sexsucht Siehe Sucht Sexualpartner 156 sexuelle Eskapade 248, 249, 255–257, 289, 302, 307 sexuelle Neigung 40 sexuelle Praxis 124, 131, 156, 187, 190, 192, 202, 282, 307 Shakespeare, William 319 Shelley, Mary 359 Sieg 33, 76, 93, 166, 168, 189, 192, 197, 198, 206, 222, 248, 258, 279 Sienkiewicz, Henryk 251 Silvia (Filmfigur) 281, 285, 286, 288 Simonie 303 Sinnesfreude 250, 251 Sitte 40, 81, 95, 288, 297 -nstrenge 248 -nverfall 218, 307 -nverstoß 308 Skandal 48, 49, 54, 65, 74, 98, 192, 254, 256, 259, 279, 281, 285, 301 Sklave 89, 158, 160, 170, 171, 202, 211, 251, 366 Skoda, Albin 317 Skrupellosigkeit 297, 304, 306 Snowden, Edward 370 Soldat Siehe Militär Sonnengott 192, 209 Sontag, Susan 326 Sophistik 169 Zweite S. 152, 163, 229 so¯ phrosyne¯ 156, 171 Spanien 308 Sparsamkeit (parsimonia) 202, 218 Staat 261, 273 -seinrichtingen 65, 66 -sfeind (hostis publicus) 189 -sform 64, 163 -sgeschäfte 28, 30, 36 -sgewalt 83, 96 -sideologie 166 -slehre 170 -smann 26, 47, 93 -sstreich 64, 96 Stabiae 235 Stadelheim 71 Stasis 164 Stereotyp 144–146, 150, 174, 203, 350 -isierung 14, 144–146, 173, 275

389

Index

Stimmungsschwankung 251, 253 Stoa 153, 347, 352 Stott, Ken 320 Sucht 28, 32, 75, 134, 143, 171, 324 Bau- 218 Genuss- 203, 218, 228, 229 Hab- 295 Herrsch- 274 Luxus- 218, 219 nach Anerkennung 158, 161 Prunk- 9, 30–32, 75, 143, 218, 222, 252 Rach- 298 Ruhm- 31, 32, 303 Selbst- 90 Sex- 275 Skandal- 54, 74 Tob- 317 Trunk- 251 Vergnügungs- 107 Verschwendungs- 30–32, 75, 143, 202, 218, 219, 226, 238, 297, 334 Zerstörungs- 31 C. Suetonius Tranquillus 33, 44, 98, 105, 134, 144, 145, 151, 158, 195, 201, 220, 223–226, 231, 255, 259, 272, 341, 343, 350, 351 Suizid 256, 323 Sulpicius Rufus 280–282 superbia Siehe Hochmut (superbia) Syberberg, Hans-Jürgen 326 Symptom 9–11, 14, 16, 17, 30, 75, 89, 109, 111, 124, 125, 129, 131, 132, 134, 158, 175, 211, 261, 309, 348, 352 Syrien 191, 192, 210, 211 Tabori, George 323, 324 Tabu 104, 201, 248, 249, 261 Tacitus Siehe P. Cornelius Tacitus Tanit Siehe Iuno Caelestis (=Tanit) Tarantino, Quentin 327 Taylor, Noah 321 Technologie 357, 361, 362, 368 Tempel 205, 237, 239 Apollo Palatinus 222 Castor und Pollux 220 Elagabal 192 Jüdischer 41 Jupiter Capitolinus 105 Mater Magna 222 Victoria 222 Terrorismus 334, 335

Teufelspakt 297, 300, 309 Thanatos 289 Theater 34, 197, 206, 209, 211, 276, 308, 314, 315, 319, 323 Burlesque- 259 des Marcellus 222 Theatralität 9, 32, 75, 158, 228, 279, 314, 317 Thermen 228, 230 Thukydides 164 Tiberius (Kaiser) 27, 39, 47, 98, 107, 133, 160, 186, 218, 255, 332, 333 Tiberius Gemellus (= Ti. Iulius Caesar Nero) 186 Tierkämpfer (bestiarius) 190, 208 Tivoli 229 Totalitarismus 113, 114 Totengericht 200, 201 Trajan (Kaiser) 16, 147–150, 153, 162, 174, 238–240, 332, 333 Trieb (epithymia) 28, 35, 155, 156, 158, 160, 170, 171, 173 Triumph(zug) 32, 34, 100, 143, 187, 189, 206, 207, 255, 315, 322, 339, 340 Tröbst, Hans 272 Trump, Donald J. 11, 17, 331–333, 335–352 Trump, Ivanka 351 tryphe¯ 208 Tugenden (virtutes) 88, 201, 282, 344, 348, 350, 351 M. Tullius Cicero 152, 226 Turing, Alan 362, 363 Türkei 11, 217 Tyrann (tyrannos) 9, 14, 76, 87, 105, 107, 108, 146, 149–151, 153, 154, 156, 158–168, 170–174, 193, 195, 200, 201, 203, 205, 226, 230, 238, 247, 248, 252, 255, 258, 260, 289, 323, 340, 341, 343–345, 347, 351 antityrannisch 164, 166, 167 -endiskurs 151, 193 -enfeindlich 165, 167, 168 -enimago 15, 151, 153, 200, 202, 203 -enkritik 105 -enmord Siehe Mord -ennatur 171 -entopik 15, 146, 151, 165, 166, 169, 173–175, 194, 252 -entöter (tyrannoktonoi) 165, 166, 168 tyrannenfeindlich 163 Überwachungsstaat 372 Umsturz 63, 64, 280, 308, 345

390 Unbeherrschtheit 154–156, 160, 162, 174 Unfähigkeit 74, 146, 158, 171, 195, 254, 275, 344 Unmännlichkeit Siehe Effeminierung Untertan 31, 35, 39, 78, 170, 185, 189, 203, 211, 370 Unterwerfung 260, 275 Unzucht (vgl. impudicitia) 189, 192 USA 318, 331, 346, 366 Republikanische Partei 349 Ustinov, Peter 9, 253, 260 Usurpation 112, 189, 191, 196, 200, 207, 208, 211 Utopismus 172–174, 359 M. Valerius Martialis 225, 230, 231, 235 Vatermord Siehe Mord Vatikan 43, 296, 297, 302, 307, 310 Veranlagung 89, 125, 127, 128, 171 Verfassung 83 -sdebatte 169 -sform 27, 98 -skreislauf 163, 172 -stheorie 175 Verführung 275, 277, 279, 282, 284, 285, 289, 300, 317, 320 Vergewaltigung Siehe Gewalt Gewalttätigkeit Vergnügen 143, 144, 157, 223, 274, 289 Vergnügungsbau 230 Vergöttlichungsphantasie 260 Verhaltenstypologie 156 Vermes, Timur 325 Verrücktheit 9–11, 13, 144, 185, 192–194, 203, 205, 207, 210, 220, 278, 313, 341, 343 Verschwendung 189, 208 -ssucht Siehe Sucht Verschwörung 42, 187, 196, 204, 205, 208, 282, 283, 305 Lucilla- 190 Pisonische 188, 207 Vertrauter 187, 197, 202, 307 Vespasian (Kaiser) 147, 195, 332, 333 Vesta 210, 280–282 Vibidia 281 Vidal, Gore 254 Vigna Barberini 231, 235 Villa (villa) 218, 224, 226–230, 234, 235, 285

Index

vitia Siehe Laster (vitia) von Goethe, Johann Wolfgang 365 von Hentig, Hans 133 von Ranke Graves, Robert Siehe Graves, Robert (=von Ranke Graves, Robert) von Sternberg, Josef 277 von Zerssen, Detlef 134, 135 Waffensystem 369 Wagenlenker (auriga) 170, 188, 190, 206, 207 Wagner, Richard 314, 318 Wahn GrößenSiehe Größenwahn -vorstellung 51, 265 Washington 337, 351, 352 Weber, Max 113, 194, 326 Weiblich 154, 156, 159, 172, 201, 248, 289 Weltherrschaft 196 Wenzel, Diana 283 Werner, Felix (Romanfigur) 85, 87–90 Widerstand 30, 35, 319, 352, 370 Wiedemeister, Friedrich 108, 110, 132 Wien 129, 323, 324 Wilhelm II. (v. Preußen) 9, 13, 14, 23, 25, 43, 46, 51, 56, 70, 75–77, 81, 82, 97–103, 111, 112, 121, 122, 125, 145, 193, 261 Wilhelminismus, wilhelminisch 9, 11, 14, 121, 123, 175 Wilhem (v. Oranien) 93 Williams, Emlyn 278 Willkür 72, 88, 162, 193, 226, 264 Winterling, Aloys 15, 194, 198, 204, 218, 220 Witzfigur 17, 316, 324 Wnendt, David 325 Wohltat 196, 315 Wozniak, Steve 369 Wut 28, 34, 40, 253, 305–307, 345 Xenophon 163, 172 Xerxes 160, 163 Zirkus 31, 34, 37, 81, 105, 259, 281 Zorn 28, 33, 157, 159, 305, 317, 323 Zuckerberg, Donna 331, 333 Zugänglichkeit 202, 229, 233 Unzugänglichkeit 236–238 Zwangsjacke 51