Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte: Die Jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815-1945). Archive, Dokumente und Geschichte 9783412212803, 9783412205270

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Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte: Die Jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815-1945). Archive, Dokumente und Geschichte
 9783412212803, 9783412205270

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Gisela Miller-Kipp Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte

Gisela Miller-Kipp

Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte Die Jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815–1945) Archive, Dokumente und Geschichte

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und der Dr.-Günther-und-Imme-Wille-Stiftung der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Planzeichnung des neuen Schulhauses (1901) in Mönchengladbach-Rheydt. In: Erckens 1989, S. 83 © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20527-0

Vorwort Die Produktionsgeschichte der vorliegenden Publikation ist nicht untypisch flir die historische Forschung. Sie ist eine Suchbewegung zwischen inspiriertem Zufall und überlegtem Erkenntnisinteresse, praktisch ermöglicht durch außeruniversitäre Finanzierung. Anfänglich, in einem vor Jahr und Tag vom Wissenschaftsministerium NRW geförderten Leuchtturmprojekt in der Lehre, ging es um Kindheit in Düsseldorf vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik. Dabei zeigte sich, dass über jüdische Kindheit, insbesondere über ihren gesellschaftlichen Ort, die jüdische Volksschule, kaum etwas bekannt war. Ich beschloss, mir die jüdischen Volksschulen in der Region vorzunehmen und dies historische Kapitel gründlich und grundlegend zu bearbeiten. Den Kontext dazu bot ein Forschungsprojekt, das die GERDA-HENKEL-STIFTUNG finanzierte. Aus diesem Projekt sind zahlreiche Materialien in den vorliegenden Band eingeflossen. Seine Publikation haben die GERDA-HENKEL-STIFTUNG und die DR.-GÜNTHER-UND-lMME-WILLE-STIFTUNG der Gesellschaft von Freunden und Förderem der Heinrich-Beine-Universität Düsseldorf mit Druckkostenzuschüssen ermöglicht; ich danke daftir sehr. Für kritische Anregungen sowie ftir technische und flir sachliche Hilfen danke ich auch JULIA BEENKEN, KURT DÜWELL, ULRICH HERRMANN, CAROLIN HUBER, STEFANIE JODDA-FLINTROP und PETER ULMER. An der systematischen Bändigung des Quellenmaterials im gegebenen Seitenlimit und an der kritischen Überprüfung der Überlieferung in dem Zeitlimit, das sich aus Zwängen des privaten Lebens setzte, bin ich gelegentlich verzweifelt. Für bekannt munteren Zuspruch in solcher Lage danke ich ganz besonders CORNELIA KIPP.

Düsseldorf, im Winter 2009/2010

Gisela Miller-Kipp

V

Inhalt Einführung in den Band und in die Geschichte der jüdischen Volksschule im RBD (1815--1945) .......................................................................................... 1 1

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

1.1

Der Regierungsbezirk Düsseldorf(RBD) 1815-1945: Territorium und soziodemographische Entwicklung in der jüdischen Bevölkerung ................................................. 15 Schulgesetzgebung und historischer Prozess der jüdischen Volksschule im RBD (1794-1942) .......................... 22

1.2

2

Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

2.0 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Erläuterung .............................................................................. Räumliche Verteilung: Schulstandorte ............................................. Zeitliche Verteilung: Schulinstitutionen .............................................. Gründungen und Schließungen 1816-1942 .................................... Gründungen und Schließungen 1816-1942 nach Erstgründungen ..... Gründungen und Schließungen nach Schulstandorten .........................

3

Historischer Bericht

3.1

Systematik, institutioneller Status und gesellschaftliche Funktionen der jüdischen Volksschule ................. 61 39 Schulen an 36 Orten: lokale Rekonstruktion ............................ 71 Anhang 1: Fibeln ftir jüdische Volksschulen (1779-1936) ............. 270 Anhang 2: Einkünfte und Dienste der Lehrer (1821-1923) ............. 274

3.2 3.2.1 3.2.2

47 49 50 51 52 54

4

Zusammenfassung: Akteure, Alltagsgeschichte(n) und Forschungsdiskurs

4.1 4.2

Historische und historiographische Gemengelage ......................... 281 Die Jüdischen Gemeinden: Bildungsmentalität und Volksschulinteresse ...................................................... 282 Die Lehrer: kollektive Berufs- und Lebenslagen ........................ 302 Vom Schulalltag ............................................................. 325 Forschungsdiskurs ............................................................ 335

4.3 4.4 4.5

vii

5

Die Bild- und Textdokumente- Tafelteil

5.1 5.2

Kommentar und Interpretation ............................................... 343 Transkripte ................................................................................... 353

6

Archivdokumentation

6.1 6.2 6.3. 6.3.1 6.3.1.1 6.3.1.2 6.3.2 6.3.3 6.3.4

Zur Ordnung der Archive .................................................... Der Archivkomplex im RBD ............................................................. Bestandsverzeichnis Internationale Archive Israel ........................................................................... USA ........................................................................... Nationale Archive ............................................................ Überregionale Archive ...................................................... Regionale, kommunale und lokale Archive: Kreis-, Gemeinde- und Stadtarchive RBD ................................

7

Veröffentlichte Quellen

7.1 7.2 7.3 7.4

Quelleneditionen und Materialsammlungen ...................................... Amtliche Blätter, Periodika, Zeitschriften ......................................... Dokumente, Erhebungen, Literatur .................................................... Autobiographische Berichte und Erinnerungen .................................

8

Bibliographie und Sekundärliteratur

8.1 8.2 8.3

Herangezogene Bibliographien und Nachschlagewerke .................... Jüdische Geschichte in Deutschland (1650-1945) ............................. Deutsch-jüdische Bildungs- und Schulgeschichte (1750-1945); weitere zitierte Sekundärliteratur ......................................................... Jüdische Geschichte und Schulgeschichte im RBD und im Rheinland ..................................................

8.4

361 363

365 366 367 370 376

393 397 400 408

411 412 416 425

9

Nachweis der Bild- und Textdokumente ........................................ 439

10

Abkürzungen und Glossar .............................................. 441

11

Personenregister ............................................................ 445

Vlll

Einführung in den Band und in die Geschichte der jüdischen Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815-945) Die Geschichte des "niederen" Schulwesens und der Volksschule (VS) in Deutschland hat immer noch eine große Lücke: die jüdischen Elementar- und Volksschulen. 1 Bis in die 1990er Jahre schienen sie doppelt uninteressant: zum einen als Einrichtungen für eine verschwindend kleine Schulpopulation, zum anderen für eine Historiographie, die die Gesellschafts- und die Kulturgeschichte der Juden in Deutschland im großen Bogen prozessorientiert als Abfolge von "Emanzipation", "Akkulturation" und "Integration", "Separierung" und "Zerstörung" beschreibt2 oder, noch weitsichtiger, zyklische Prozesse zwischen "Aufstieg und Untergang" (Bruer 2006) rekonstruiert. Wohl wurde vereinzelt die Frage gestellt, was jüdische Schulen zu den genannten Prozessen jeweils beitrugen; doch wurden dabei überwiegend "höhere" Bildungsanstalten3 in Betracht gezogen, ganz abgesehen davon, dass die Zuordnung einzelner Schulinstitutionen zu historischen Prozessen noch keine Schulgeschichte ergibt. Studien zu einzelnen Schulinstitutionen selbst oder zu einzelnen Epochen jüdischer Schulgeschichte4 erscheinen vermehrt seit knapp zwei Jahrzehnten; es fehlen aber örtlich wie zeitlich weiter reichende Darstellungen und generell Rekonstruktionen der praktischen Schulverhältnisse - kurzum: die Geschichte der jüdischen Volksschulen in Deutschland will erst noch geschrieben sein. Diese Defizitfeststellung ist ein Auftrag zuerst an die Historische Pädagogik in den Abteilungen Schulgeschichte und Historische Bildungsforschung. Die vorliegende

2

3

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"Volksschule" wird hier auch ahistorisch als Begriff für eine bestimmte Schulgattung gebraucht; er meint alle im 19. Jahrhundert der allgemeinen Unterrichtspflicht genügenden nicht privatgewerblich betriebenen Schulen; die Bezeichnung "Volksschule" setzte sich für sie nach 1815 zunächst in den evangelischen Gebieten Deutschlands (Preußen) durch, in den katholischen sprach man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von "Elementarschulen", auch von "Trivialschulen" (Österreich); die jüdischen Elementarschulen figurierten bis Ende des 19. Jahrhunderts als "Privatschulen" oder als "öffentliche Privatschulen" der Jüdischen Gemeinde, nach kommunaler Übernahme, als "Kommunalschulen" - zur genaueren Unterscheidung des institutionellen Status s. Kap. 3 .1. Vgl. die Menge entsprechender Titel in der Bibliographie (Kap. 8.2-8.4), darunter bes. die Bände Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, 1996f. sowie schulgeschichtlich Berding/Schimpf 1991; Berg 2003. In hierarchischer Unterscheidung vom "niederen" Schulwesen diejenigen Schulen, deren Abgangszeugnisse höhere gesellschaftliche Positionierung und, im Falle des Gymnasiums, den Zugang zur Universität eröffneten. Mit Schwerpunkt 1933-1945.

Einführung

Publikation kommt ihm für eine Region mit einer dreiteiligen geschichtlichen Darstellung und mit einer Dokumentation grundlegend nach. Die geschichtliche Darstellung verfolgt die Entwicklung der jüdischen VS im Regierungsbezirk Düsseldorf (RBD) vom Jahr seiner territorialen Konstituierung (1815) bis zum Ende des Deutschen Reiches (1945) in drei jeweils besonders angelegten Kapiteln: 1. mit einer Darstellung des institutionellen Prozesses der Schule auf der Basis der territorialen und der soziodemographischen Entwicklung der Region sowie der Schulgesetzgebung in Preußen und in Deutschland (nach 1919), 2. mit einem Bericht zu allen im RBD zwischen 1815 und 1945 existenten Schulen in der Form einer breit angelegten lokalgeschichtlichen Rekonstruktion und 3. mit einer historisch-systematischen Zusammenfassung dieses Schulberichts, die sich den historischen Akteuren zuwendet und mit alltagsgeschichtlicher Ergänzung die vergangenen Leistungen und Funktionen dieser Schule festhält Der Schulbericht ist der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes. Durch die Anlage des Berichts - alphabetisch nach Schulorten, systematisch in Sachrubriken - wird der Band zugleich zu einem Handbuch. Dem Handbuchzweck wird mit der analogen Ordnung der alltagsgeschichtlichen Quellentexte (Kap. 4.4), der Archive (Kap. 6.3) und des Tafelteils nach Schulorten entsprochen. Die Dokumentation setzt sich aus einem Archivverzeichnis und einen Tafelteil zusammen. - Das Archivverzeichnis hält mit Signaturen und Bestandsauszeichnungen schulgeschichtlich einschlägige Quellen aus insgesamt 4 7 internationalen und nationalen Archiven fest; dabei sind 33 der derzeit bestehenden 36 Kreis-, Gemeinde- und Stadtarchive im RBD. Dies Verzeichnis ist im Wortsinne "einmalig"; bislang sind die erhobenen Bestände in der Sekundärliteratur nur sehr partiell herangezogen und auch nur mit Signaturen aufgeführt worden. - Der mittig eingebundene Tafelteil enthält 12 Bild- und 15 Textdokumente; sie werden in einem eigenen Kapitel (Kap. 5) historisch kommentiert und interpretiert. Dem vorgelegten Geschichtswerk kommt es in erster Linie auf die Schulen selbst, auf ihre institutionelle Charakteristik und auf ihre gesellschaftliche Situierung an. Es legt mehr Wert auf historische Individualität und Realität als auf die Identifizierung historischer Prozesse und verzichtet daher weitgehend auf historiographische Formalisierung. Prozessfunktionale Gesichtspunkte werden beachtet, um die historische Richtung der Schulgesetzgebung zu identifizieren (Kap. 1.2), die pädagogische(n) Leistung(en) und gesellschaftliche(n) Funktion(en) der jüdischen Volksschulen im Einzelfall anzuzeigen (Kap. 3.2) sowie historisch-systematisch zusammenfassend darzustellen (Kap. 4). Weitergehende und systemorientierter Geschichtsschreibung verpflichtete Fragen nach Prozess und Struktur in der Geschichte der jüdischen VS im RBD werden im vorliegenden Band nicht verfolgt.

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Einfilhrung

In seiner Anlage als Schulgeschichte und Schulbericht, Quellendokumentation und lokalhistorischem Handbuch, ist der Band ftir einschlägig arbeitende Historiker, für Archivare und Studierende und auch ftir den schul- und kulturgeschichtlich interessierten Laien interessant. Zu ihnen könnte man die Jüdischen Gemeinden in Deutschland zählen, insbesondere dort, wo sie erneut Gemeindeschulen eröffnet haben oder mit Schulgründungen befasst sind. Ihren Blick auf die eigene Schulgeschichte, damit auch auf Heimatorte und Heimatgemeinden und auf die lokale Bildungskultur zu lenken, eröffnet eine andere historische Perspektive als die des Holocaust. 5 Solcher Blickwechsel zurück in die jüdische Geschichte soll hier durchaus angeregt werden. Der Band zeigt jüdisches Leben in Deutschland vor dem Holocaust, das hinter dem Holocaust und seiner übermächtigen Perspektive immer mehr zu verschwinden droht. Eine zentrale gesellschaftliche Institution der untergegangenen Jüdischen Gemeinden waren ihre Volksschulen. In Preußen standen sie in einer besonderen Schultradition, deren politischer Zuschnitt mit dem Titel des vorliegenden Bandes -"Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte"- angesprochen wird: Eine Wandkarte von Palästina gehörte seit 1872 (A VEAZ) zu den vorgeschriebenen Lehrmitteln, das Kaiserbild war obligate Innenausstattung; ein Fehlen der Karte wurde bei Schulrevisionen ebenso moniert wie das Fehlen eines Kaiserbildes oder auch nur die Minderwertigkeit desselben. 6 Beide Lehrmittel erhellen die der VS in Preußen zudiktierte Aufgabe und Sozialfunktion christlich-religiöser und vaterländischer Erziehung. 7 Die Jüdische VS 8 hatte dazu per se ein gespanntes Verhältnis. Ihr oblag Elementarbildung und Allgemeinbildung im Kontext jüdischer Religion und im Horizont einer durchaus ambivalenten Frage nach dem Vaterland. Dass sie zuletzt explizit auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollte9 , gehört zu den Denkwürdigkeiten der Geschichte dieser Schule. Zu den Kapiteln des Bandes im Einzelnen: Kapitel 1 beschreibt die konstitutiven Bedingungen für die Jüdische VS im historisch-politischen Raum des RBD: die territoriale Ordnung des Regierungsbezirks und die soziodemographische Entwicklung in seiner jüdischen Bevölkerung (Kap. 1.1) sowie die Schulgesetzgebung. - Diese Gesetzgebung wird ausführlich zitiert,

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Bzw. weist auf einen anderen historischen Referenzpunkt für jüdisches Selbstbewusstsein hin, vgl. zuletzt Roemer 2005. S. u.a. die Revisions- und Schulberichte zu den jüdischen Volksschulen in EssenKettwig, Geldern, Issum, Moers und Viersen-Dülken, Kap. 3.2. Dazu Dok. 4. "Jüdisch" wird hier vorliegend groß geschrieben, wenn damit ein Name gegeben ist. Mit den Lehrplanrichtlinien der RVvon 1934 und 1937, s. Kap. 4.2, S. 298ff.

3

Einführung

um auf ihrer Basis den institutionellen Prozess der jüdischen VS im RBD und in Deutschland (nach 1919) zwischen 1794 und 194i 0 nachzuzeichnen (Kap. 1.2).

Kapitel 2 gibt eine graphische Übersicht über die institutionelle Entwicklung der jüdischen VS im RBD von 1816 bis 1942 11 • Das Kapitel enthält eine Karte zur räumlichen Verteilung der Schulen und 10 Diagramme, im Einzelnen zur zeitlichen Verteilung der Schulen, zu den Schulgründungen und Schulschließungen jeweils ab Gründungsjahr sowie zu den Schulgründungen und Schulschließungen inden-derzeit bestehenden- Städten und Kreisen des RBD. Kapitel 3 enthält die historische Rekonstruktion aller 39 jüdischen Volksschulen im RBD (darunter drei Doppelgründungen). - Zunächst werden die sachliche Ordnung dieser Rekonstruktion sowie die dabei beachteten systematischen Kategorien erläutert; zudem wird der institutionelle Status der Schule zwischen "Gemeindeschule", "Privatschule", "öffentlicher Privatschule" und "Kommunalschule" genau unterschieden, da die Statusbezeichnungen in den Quellen missverständlich sind und in der Sekundärliteratur durcheinander gehen (Kap. 3.1). - Die Rekonstruktion (Kap. 3.2) beschreibt dann in alphabetischer Reihenfolge der Schulorte die vorgefundenen Schulen mit allen zu ihnen erhobenen (schul)historisch relevanten Daten, Fakten und Aussagen, dies in folgenden 14 Rubriken: Gründung-Schließung, Demographie, Soziokulturelle Lage, Lokalität, Institution, Größe, Schüler, Lehrer, Schulraum, Curriculum/Unterrichtsmaterial/Schulische Leistung, Schulleben, Gesellschaftliches Profil, Besonderheit(en) und Historische Funktion. Damit wird der bislang umfangreichste historische Bericht zu jüdischen Volksschulen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert vorgelegt. Zum Kapitel 3 gibt es zwei Anhänge: eine Liste der Fibeln für jüdische Volksschulen, Veröffentlichungsjahre 1779-1936 (Kap. 3.2.1), und eine Aufstellung über Einkünfte und Dienste der Lehrer der jüdischen Volksschulen im RBD zwischen 1821 und 1923 (Kap. 3.2.2).- Die Fibelliste belegt die große Anstrengung, die zur Alphabetisierung der jüdischen Schulkinder im 19. Jahrhundert gemacht wurde. - Die auf heutige Kaufkraft umgerechnete Aufstellung über Einkünfte und Dienste der Lehrer dokumentiert die erbärmliche materielle Lage und die amtliche Ausbeutung dieses Personenkollektivs im 19. Jahrhundert; in der lokalen Rekonstruktion sind dramatische Einzelfälle dazu nachzulesen.

Kapitel 4 gilt der alltagsgeschichtlichen Ergänzung des Schulberichts und seiner historisch-systematischen Zusammenfassung sowie zuletzt dem Forschungsdis10

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4

1794: Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht und der staatlichen Schulaufsicht in Preußen durch die Schulartikel des ALR; 1942: Verbot aller jüdischen Schulen in Deutschland. 1816: Eröffuung der ersten aufgefundenen VS (Emmerich); 1942: Schließung der letzten Volksschulen (Düsseldorf, Essen, Duisburg, Krefeld, Mönchengladbach, Mönchenglabach-Rheydt; zu diesen zwei letzten Schulen s.u., Fn. 22).

Einführung

kurs. - Zunächst wird angesichts der komplexen Schullage und der zeitlichen wie institutionellen Diskontinuität der jüdischen Volksschulen im RBD zwischen 1815 und 1945 diskutiert, wie deren Geschichte systematisch darzustellen sei (Kap. 4.1). - Eine zusammenfassende Darstellung erfolgt dann akteursorientiert zum einen im Blick auf Bildungsmentalität und Volksschulinteresse der Jüdischen Gemeinden (Kap. 4.2), zum anderen im Blick auf die Berufs- und Lebenslagen der Lehrer der jüdischen Volksschulen (Kap. 4.3); beide Kapitel sind in markante Zeiträume unterteilt, in beiden Kapiteln wird auf die jeweiligen historischen Funktionen der jüdischen VS abgehoben. - Diese Darstellung wird mit dem Zitat und der Kommentierung der wenigen zum Schulalltag im 19. Jahrhundert aufgefundenen Quellen alltagsgeschichtlich ergänzt, die dazu vorliegende Literatur wird durchgesehen (Kap. 4.4). - Abschließend wird im Rückgriff auf die vorliegende (schul)geschichtliche Historiographie und in der Diskussion ihrer leitenden Kategorien unternommen, die Geschichte der jüdischen VS im RBD begrifflich zu fassen (Kap. 4. 5). Kapitel 5 befasst sich mit den 27 Bild- und Textdokumenten des Tafelteils. Sie

werden quellenkritisch beschrieben sowie je einzeln interpretiert und historisch kommentiert (Kap. 5.1). -Eine Transkription derjenigen Dokumente, die in Deutscher Kurrentschrift verfasst sind, wird in Kap. 5.2 vorgelegt. Kapitel 6 ist eine Archivdokumentation. Es stellt zunächst die für den vorliegenden Band berücksichtigten Archive vor (Kap. 6.1), wobei der Archivkomplex des RBD eigens beschrieben wird (Kap. 6.2). -Das Bestandsverzeichnis (Kap. 6.3) führt dann insgesamt 47 Archive mit den Beständen auf, die eine

Geschichte der jüdischen VS im RBD (1815-1945) materiell fundamentieren. Berücksichtigt sind Archive in Israel und den USA (Kap. 6.3.1.), nationale Archive der BRD (Kap. 6.3.2), überregionale Archive in NRW (Kap. 6.3.3) sowie zuletzt 33 der derzeit 36 Kreis-, Gemeinde- und Stadtarchive im RBD (Kap. 6.3.4). - Das Bestandverzeichnis dient zugleich als Nachweis ftir die im vorliegenden Band angeführten unveröffentlichten Quellen. Kapitel 7 weist die herangezogenen veröffentlichten Quellen sowie, darüber um-

fangreich hinausgehend, weitere ftir die hier abgehandelte Schulgeschichte relevante Quellen nach. Diese Quellenmenge ist in vier Sachgruppen geordnet unter: Quelleneditionen und Materialsammlungen (Kap. 7.1), Amtliche Blätter, Periodika und Zeitschriften (Kap. 7.2), Dokumente, Erhebungen und Literatur (Kap. 7.3), Autobiographische Berichte und Erinnerungen (Kap. 7.4).- Im Kap. 7.1 sind aus der Unmenge lokaler Quellenpublikationen nur die im vorliegenden Band zitierten berücksichtigt. -Im Kap. 7.2 sind u.a. auch wichtige und wortführende Zeitschriften und Periodika der Jüdischen Gemeinden in Deutschland genannt, in denen deren intensiver Kulturdiskurs, insbesondere über Bildung und Schule,

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Einführung

geführt wurde. 12 - Die im Kap. 7.4 genannte Erinnerungsliteratur ist regional (Erinnerungsorte im RBD) ausgewählt; nicht berücksichtigt sind dabei Berichte und Erinnerungserzählungen zum gelebten Leben oder zu lokalen Ereignissen, die die Schulzeit nicht berühren. Das Unterscheidungskriterium dafür, ob vor 1945, also im hier behandelten Zeitraum erschienene Literatur als Primärliteratur (und dann im Kap. 7.3) oder als Sekundärliteratur (und dann in den Kap. 8.2-8.4) aufgeführt wird, ist der historiographische Gebrauch, den man von der Literatur macht. Hier vorliegend wird diejenige Literatur von vor 1945, die Schule, Bildung und Kultur sowie den Diskurs darüber dokumentiert, als Quelle angesehen und genutzt und daher der Quellenliteratur zugerechnet13 ; seinerzeit nur referierende sowie historiographisch angelegte Literatur zählt hingegen zur Sekundärliteratur. Kapitel 8 ist eine umfassende Bibliographie. Sie ordnet die zur abgehandelten Geschichte erhobene Sekundärliteratur in vier Fallgruppen: 1. Bibliographien und Nachschlagewerke (Kap. 8.1); 2. Jüdische Geschichte in Deutschland (Kap. 8.2); 3. Deutsche und Jüdische Bildungs- und Schulgeschichte sowie die im Übrigen zitierte Sekundärliteratur (Kap. 8.3); 4. Jüdische Geschichte und Schulgeschichte im RBD und im Rheinland (Kap. 8.4). - Die Bibliographie wurde im Sommer 2009 abgeschlossen; aus lesepraktischem Realismus werden Publikationen in Hebräisch nicht aufgeführt (insbesondere Kap. 8.2 und 8.3).- Zu den Unterkapiteln im Einzelnen:

Im Kap. 8.2 liegt der Schwerpunkt der Literaturauswahl bei der Gesellschaftsund der Kulturgeschichte im Zeitraum zwischen 1650 und 1945, was nicht ausschließt, dass einzelne Titel hinter diesen Zeitraum zurück oder über ihn hinaus reichen; aufgeführt werden Überblicksdarstellungen und Studien, die die soziokulturelle Lage der Jüdischen Gemeinden in Deutschland sowie ihre Bildungsmentalität und ihr Schulinteresse beleuchten. - Im Kap. 8. 3 liegt der Schwerpunkt der Literaturauswahl schulgeschichtlich bei Preußen; für Deutschland fallt die größere Menge der Literatur in die Zeit des "Dritten Reiches" 14 ; insgesamt wird der Zeitraum von 1750 bis 1945 erfasst. -Die in Kap. 8.4 aufgeführte Literatur erfasst den Zeitraum von 1807 bis in die Gegenwart; Literatur zum Rheinland (bzw. ab 1949 zu Nordrhein-Westfalen) ist dabei nur berücksichtigt, wenn sie den RBD einschließt oder sich auch auf ihn bezieht. Für den RBD ist lokale Literatur

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Dieser Diskurs hat von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933/34 eine Unzahl regionaler und überregionaler Periodika hervorgebracht. Entsprechend gelten die Quellenautoren (Primärautoren) als historische Autoren; ihre Namen sind im Buchtext n KAPITÄLCHEN gesetzt und im Personenregister (Kap. 11) nachgewiesen. Der dort liegende singuläre Bruch macht diese Zeit zum Schwerpunkt auch der schul- undjugendhistorischen Forschung.

Einführung

selbstredend nur zu Schulorten aufgeführt, und dies auch nur, sofern sie schulgeschichtlich von Interesse ist; die Unzahl allgemeiner und spezieller lokalgeschichtlicher Publikationen bleibt außen vor. Die systematische Ordnung der Sekundärliteratur bringt mit sich, dass der Leser im Buchtext angeführte Literatur im Kap. 7.1 und im Kap. 8 und dort gegebenenfalls in verschiedenen Unterkapiteln aufsuchen muss, sollten ihm die zitierten Autoren unbekannt sein oder die zitierten Titel nicht ftir sich sprechen. Die Verifikation ist jedoch durch alphabetisches Nachschlagen rasch erledigt und für den großen V orteil eines systematischen Literaturüberblicks in Kauf zu nehmen. Die drei letzten Kapitel schließen den vorgelegten Band auf: Kapitel 9 weist die im Tafelteil wiedergegebenen Bild- und Textdokumente in alphabetischer Reihenfolge der Schulorte nach. - Kapitel 10 übersetzt Abkürzungen und bringt ein Glossar hebräischer Begriffe. -Kapitel 11 registriert die historischen Personen im Schulgeschehen und die historischen Autoren (Quellenautoren) im Bildungsdiskurs; die größte Menge bilden die namentlich identifizierten Lehrer der jüdischen Volksschulen im RBD zwischen 1816 und 1942, deren Korpus damit, soweit überliefert, vollständig wiedergegeben ist. - Ein Ortsregister ist angesichts der alphabetischen Reihung der Schulorte in der lokalen Rekonstruktion (Kap. 3.2) und der Beachtung dieser Reihenfolge beim Zitat der alltagsgeschichtlichen Quellen (Kap. Kap. 4.4) überflüssig. Mit der beschriebenen dreiteiligen historischen Darstellung, mit dem archivalischen Bestandsverzeichnis und mit dem Tafelteil einschließlich seiner Kommentierung wird eine mehrschichtige, sachlich und materiell dicht fundamentierte Regionalgeschichte jüdischer Volksschulen vorgelegt und zugleich handbuchartig zugänglich gemacht. Aufgrund der Komplexität des historischen Schulraums - des RBD sowie der Vielzahl einzelner Schulschicksale und der dazu beobachteten Aspekte kann diese Regionalgeschichte repräsentativ sein für den institutionellen Prozess und die historische Lage der jüdischen Volksschulen in Deutschland von der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts bis zum Ende ihrer Geschichte 1942. Sicher ist sie eine inhaltsreiche Vorlage ftir schul- und bildungsgeschichtliche Vergleiche. Im Folgenden wird die Geschichte der jüdischen VS im RBD zwischen 1815 und 1945 knapp skizziert; dies deshalb, weil diese Geschichte im Zusammenspiel von historisch-politischem Raum (Kap. 1.1 ), Schulgesetzgebung (Kap. 1.2) und lokalen Schulverhältnissen (Kap. 3 .2) vonstatten ging, der vorliegende Band diese Segmente zunächst aber nacheinander abhandelt. Die einführende Skizze stellt dem einen Überblick voran. Historische Einführung

Ein einheitlicher Schul- und Bildungsraum entwickelte sich in Preußen mit einer berühmten landesherrlichen Initiative: mit den Schulartikeln des ALR von 1794.

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Einfiihrung

Sie dekretierten die allgemeine Unterrichtspflicht15 und unterstellten das gesamte Schul- und Unterrichtswesen staatlicher Aufsicht. Damit sollten endlich der Schulbesuch im ganzen Königreich durchgesetzt und dem Analphabetentum energisch zu Leibe gerückt werden - beides lange historische Prozesse. Das ALR stand nur am Ende einer Reihe diesbezüglicher landesherrlicher Bemühungen 16 , und es griff selbst erst mit Verzögerung. Die Schulbesuchsquote lag 1816 erst bei rund 60%, 1846 dann jedoch bei 82% 17, 1871 bei 86%- wobei die statistischen Zahlen nicht unbedingt den realen Schulbesuch wiedergeben; entsprechend nahm das Analphabetentum ab: von rund 20% der Bevölkerung im Alter über 10 Jahren noch 1848 (Wehler 1987, S. 485) bis auf 13,7% im Jahre 1871 (Wehler 1995, S. 400)- freilich fallen diese Raten in den einzelnen Provinzen Preußens sowie zwischen Stadt und Land höchst unterschiedlich aus. 18 Sie zeigen aber, dass sich allgemeiner Schulunterricht unter staatlicher Aufsicht beschleunigt durchsetzte. Damit waren die Verstaatlichung sowie in ihrer Folge die Entkonfessionalisierung der VS in Preußen gesetzlich vorgezeichnet. In die historische Alphabetisierungsfunktion rückte die jüdische VS im RBD zeitversetzt ein. Ihr ging bereits eine elementare Schule voraus, nämlich die traditionelle jüdische Kinderschule, das Cheder. Dort wurden mit Religion und Hebräisch oft auch ein bisschen Rechnen und damit ein "elementarer Lehrgegenstand" (Privatschul-Instruktion von 1839, s. Kap. 3.1, S. 64, Fn. 12) unterrichtet. Zwar steht das Cheder schulgeschichtlich in denkbar schlechtem Ruf19 , doch arbeitete es der jüdischen VS insofern funktional zu, als es zum einen überhaupt ftir Schule sozialisierte - die jüdischen Kinder waren gewohnt, zur Schule zu gehen, und waren damit auch eine gewisse Unterrichtdisziplin gewöhnt -, zum anderen alphabetisierte, wenn auch nicht in Deutsch.

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Genau genommen nicht die allgemeine "Schulpflicht", wie allgemeine Rede, denn die Kinder mussten unterrichtet werden; das konnte in unterschiedlicher Form bzw. in unterschiedlichen Schuleinrichtung geschehen (bis 1920). Historisch vorgängige Rechtsakte im Kap. 1.2, Fn. 24. Realer Schulbesuch (Wehler 1987, S. 478, 485); im Rheinland lag er schon bei 86% (Baumgart 1990, S. 104); Hb. d. Deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, S. 127 dagegen: 78%. - Eine gerraue Statistik des Schulbesuchs jüdischer Kinder in den einzelnen Regierungsbezirken und Provinzen Preußens (1824-1853) mit ihrer Verteilung auf die jüdischen und die christlichen Schulen in: GStA PK: I. HA, Rep. 76 (M) III Sekt; vollständig wiedergegeben bei Brämer 2006, S. 445--479; Zahlen für den RBD auch bei Zittartz-Weber 2003, S. 35f. Im Rheinland gab es bereits 1848 nur noch 7,1% Analphabeten (Wehler 1987, S. 485); vgl. Tabelle und Karte im Hb. d. Deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, S. 128, 129. S. Urteile in Kap. 4.4; zur Institution vgl. u.v.a. Lipschütz 1919/20; Lowenstein 2003; Nagel2005.

Einführung

Mit der Ausweitung der Schulartikel des ALR auf die Jüdischen Gemeinden in Preußen 1824 entstand ftir sie die Pflicht, ihre Kinder in den "elementaren Lehrgegenständen" unterrichten zu lassen. Die jüdischen Elternhäuser hatten dazu die Wahl zwischen- gegebenenfalls noch zu gründenden- jüdischen und den bestehenden christlichen Elementarschulen, oder sie konnten ihre Kinder weiterhin durch Privatlehrer unterrichten lassen. Alle drei Schul- bzw. Unterrichtsoptionen unterlagen staatlicher Aufsicht. Auch mussten alle Lehrer staatlich konzessioniert und auf ihre berufliche Tüchtigkeit hin geprüft werden. Verboten wurden dagegen "Winkelschulen", private Kleinstschulen mit wenigen Schülern und reduziertem Pensum (daher "Klippschulen"), die zumeist von nicht konzessionierten Lehrern betrieben wurden. Darunter fiel auch das Cheder, sofern es als Elementarschule genommen wurde. Wollte der Cheder-Lehrer weiterhin "elementare Lehrgegenstände" unterrichten, musste er sich dazu jetzt gesondert prüfen und konzessionieren lassen - das Amt des Religionslehrers wurde von dem des Elementarlehrers geschieden. In der Regel nahmen die Lehrer der jüdischen Volksschulen beide Ämter wahr. Das Jahr 1824 war sozusagen der historische Startschuss für die Jüdische VS im RBD. Für ihre institutionelle Entwicklung bestimmend wurden alsdann neben der weiteren Schulgesetzgebung die Gegebenheiten des historisch-politischen Raums: die territoriale Ordnung des RBD und die soziodemographische Entwicklung in seiner jüdischen Bevölkerung. Beide waren von besonderer Dynamik. Die territoriale Ordnung des 1815 im Zuge der politischen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress (1814-1815) konstituierten RBD war mit kommunalen Um- und Neuordnungen nahezu im Dekadenabstand bis ins 20. Jahrhundert ständig in Bewegung. Das brachte für die jüdischen Volksschulen spezifische institutionelle Unsicherheiten mit sich. Die Um- und Neuordnungen veränderten amtliche Zuständigkeiten und Gemeindegrenzen, störten die Schulorganisation und führten zu Verlegungen oder Zusammenlegungen von Schulen. Die demographische Entwicklung war schulhistorisch brisant. Generell verlief sie als Umzug vom Land in die Stadf0 mit sprunghaftem, zwischen 1875 und 1905 explosionsartigem Bevölkerungsanstieg vor allem in den Städten der neu entstandenen gewerblich-industriellen Ballungszentren am Niederrhein und an der Ruhr. In den großen Städten des Ruhrgebiets wurde der Bevölkerungsanstieg durch den starken Zuzug von Ausländern, vor allem sogenannter "Ostjuden", zwischen 1890 und 1910 besonders markiert. Verlierer dieser Entwicklung waren die ländlichen Gebiete im Bergischen und am Niederrhein- dort gingen die jüdischen Volks-

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In langer historischer Perspektive machte er den "Umzug" der deutschen Juden von der Stadt aufs Land nach den Pogromen im Mittelalter rückgängig.

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Einfiihrung

schulen ein. Aber auch in den wachsenden Städten wurden sie geschlossen, was mit der soziodemographischen Entwicklung zusammenhing. Sie brachte die Verstädterung und, sozioökonomisch und soziokulturell gesehen, die Verbürgerlichung der jüdischen Bevölkerung im RBD mit sich. Dazu gehörte deren Integration in das kommunale Bildungssystem dadurch, dass die bürgerlichen Elternhäuser ihre Kinder zunehmend von der Unterstufe der jüdischen VS auf lokale mittlere oder höhere Schulen schickten. Gegenläufig profitierten die jüdischen Volksschulen in den Industriestädten des Ruhrgebiets vom Zuzug der "Ostjuden", deren Kinder eben diese Schulen besuchten. Ein Stadt-Land-Gefälle lässt sich jedoch allgemein weder für die Eröffnung noch ftir den Unterhalt jüdischer Volksschulen im RBD behaupten; es lässt sich lediglich ftir ihre regionale Verteilung feststellen (Karte 2.1, S. 49). Ihr Bestehen hing hingegen vom komplexen Schulinteresse der Jüdischen Gemeinden ab, das mit dem soziodemographischen Stadt-Land-Gefälle nicht konform ging. So gab es arme und reiche Synagogengemeinden sowohl in ländlichen Kleinstädten wie in industriellen Großstädten, die sich ihre VS etwas kosten ließen oder auch nicht; sie gaben sich mit ärmlichsten Schulen zufrieden oder strengten sich für ihre Schule besonders an - monokausales schulpolitisches Handeln und eine lineare Entwicklung der Schulen liegen in diesem Interessenkomplex nicht vor. Die Eröffnung eigener Volksschulen durch die Jüdischen Gemeinden in Preußen wurde nach der Verfugung der Unterrichtspflicht 1824 durch eine weitere gesetzliche Maßnahme, damit "von oben" veranlasst: durch das GüVJ von 1847. Es entlastete die Jüdischen Gemeinden von kommunalen Schulabgaben ftir den Fall, dass sie selbst "öffentliche" Gemeindeschulen einrichteten. Im RBD hat es danach ein "Boom" an Schulgründungen mit einem Höchststand von 27 gleichzeitig bestehenden Schulinstitutionen in den 1870er Jahren gegeben. Regionaler Schwerpunkt dieses "Gründungsbooms" war der linke Niederrhein. Dort wollten oder konnten sich die ärmeren jüdischen Landgemeinden jetzt eine eigene Schule leisten. Zugleich aber zog die Industrialisierung Bevölkerung aus der Region ab, so dass erste Schulen nach nicht einmal zwei Schülergenerationen auch schon wieder schlossen (Alpen, Issum, Rheinberg). Insgesamt aber führte der "Gründungsboom" zu einer Trendumkehr im Schulbesuch: Gingen 1840 noch 72% der unterrichtspflichtigen jüdischen Kinder in christliche, dagegen nur 22% in jüdische Volksschulen (6% blieben ohne Schulunterricht), so gingen 1851 nur noch 59% und bereits 1853 nur noch 48% der unterrichtspflichtigen jüdischen Kinder in christliche Volksschulen, 40% (1851) bzw. 51% (1853) gingen dagegen in jüdische Schulen; 1% gingen nicht in die Schule21 • 21

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D.h. sie wurden privat unterrichtet (zum größten Teil), waren nicht unterrichtsfähig (krank oder behindert) oder schwänzten die Schule. - Prozentzahlen errechnet auf der Basis der Statistiken in: GStA PK: I. HA, Rep. 76 (M) III Sekt. 35 Tit. XVI

Einführung

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kehrte sich der Trend abermals um. In ganz Preußen ging der Anteil jüdischer Kinder, die jüdische Schulen besuchten, von rund 50% (1864) aufrund 20% (1906) zurück (Kaplan 2003b, S. 266); dabei blieb es in generell abnehmender Tendenz bis zum Ende des Kaiserreichs. Im RBD verringerte sich die Zahl der jüdischen Volksschulen kontinuierlich, es schlossen mehr Schulen, als noch gegründet wurden. Eine erste Welle von Schulschließungen verursachte die A VEAZ von 1872 mit ihrer Empfehlung der Zusammenlegung kleiner einklassiger Volksschulen- ein gesetzlicher Schritt zur paritätischen VS (Simultanschule) - und ihren Vorschriften zur Ausstattung der VS, denen die jüdischen Volksschulen im RBD nur bedingt folgen konnten. Sie waren in der Folgezeit als teure, weil zu kleine Schulen, und als konfessionelle Separatschulen schulpolitisch unerwünscht und als vergleichsweise schlecht ausgestattete Schulen zunehmend auch nur noch in der Unterstufe (Elementarklassen) nachgefragt. Das Scheitern der ersten Simultanschulen, die damit gegebene Rekonfessionalisierung der VS in Preußen sowie der in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufkommende Antisemitismus ließen die Jüdischen Gemeinden im RBD schulpolitisch allerdings an ihren Volksschulen festhalten. Im Schuldiskurs wurde der jüdischen VS als solcher jüdisch-religiöse Erziehung zur Aufgabe gemacht und damit dem "erziehlichen Zweck" der VS in Preußen (A VEAZ, Art. 26), der selbstredend ein christlicher war, selbstbewusst widersprochen. Unabhängig von solcher jüdischen Profliierung im Schulsektor war man sich an den meisten Schulorten mit der Zivilgemeinde in deutsch-patriotischer Gesinnung einig. Diese insbesondere auch von den Lehrern der jüdischen Volksschulen getragene bürgerliche Gesinnungsgemeinschaft stabilisierte die gesellschaftliche Lage bzw. Akzeptanz der bestehenden Schulen ungemein, verhinderte aber nicht, dass sie ihre Schüler zunehmend an kommunale Schulen verloren. Das faktische Schulwahlverhalten der Mehrheit der jüdischen Elternhäuser entsprach dem öffentlichen Plädoyer für diejüdische VS nicht. Ebenfalls im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bemühten sich die Jüdischen Gemeinden im RBD verstärkt um die Übernahme ihrer Volksschulen auf die Etats der Zivilgemeinden, was in der Mehrzahl der Fälle zwischen 1890 und 1910 gelang. Damit erlangten die Schulen den Status von Kommunalschulen; ihre Lehrer wurden öffentlich angestellt und waren damit endlich materiell abgesichert, wovon bis zur kommunalen Übernahme keine Rede sein konnte. - Die gleichwohl bestehenden beträchtlichen Unterschiede in der Bezahlung und Versorgung der

Nr. 2.- Festzuhalten ist, dass es sich dabei insgesamt nur um 1.097 (1841) bzw. 1.446 (1853) unterrichtspflichtige jüdische Kinder handelte.

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Einführung

jüdischen und der "öffentlichen" Volksschullehrer und die offene Frage der Verteilung der Schullasten, hierbei die stets zu verhandelnde kommunale Subventionierung der jüdischen VS bzw. ihrer Lehrer, brachten vielerorts unangenehme Auseinandersetzungen zwischen Jüdischen Gemeinden und Zivilgemeinden mit sich. Zur einheitlichen Regelung des Schulunterhalts und der Lehrerbesoldung im Volksschulsektor in Preußen führte erst das VuG von 1906. Es klärte im Übrigen auch die konfessionelle Frage - es bestätigte das Majoritätsprinzip und regelte den Religionsunterricht konfessioneller Minderheiten in der öffentlichen VS. Damit erleichterte es im Sonderfall jüdischen Schulkindern den Besuch dieser Schule. In der Folge dessen bedurfte die jüdische VS langfristig eigener gesellschaftlicher Legitimation. Virulent wurde solcher Legitimationsbedarf in der Weimarer Republik, deren Verfassung die VS zur allgemeinen Pflichtschule erhob, daher die private Vorschule verbot, private Volksschulen nur im Ausnahmefall zuließ, und die öffentliche VS im Regelfalle als Simultanschule geführt wissen wollte. Diese Vorschriften wurden im Grundschulgesetz von 1920 institutionell ausführend bestätigt. Diese Gesetzgebung und Schulpolitik führte im RBD zur zweiten Schließungswelle für jüdische Volksschulen- über die Hälfte der dort 1920 noch bestehenden Schulen wurde geschlossen, das historische Ende der Institution zeichnete sich ab. Es kam dann sozusagen schlagartig im nationalsozialistischen Deutschland, in dem es eine Neugründung (1935: Düsseldorf) und insgesamt 13 Schulschließungen gab, davon 1942 sechs "auf einen Streich'm. Die skizzierte Geschichte der jüdischen VS im RBD weist zwei markante Entwicklungslinien auf: 1. einen raschen, in den 1840er Jahren "rasanten" numerischen Anstieg zwischen 1820 und 1869 sowie danach einen kontinuierlichen, gleichwohl in sich noch sprunghaften Niedergang bis 1942 mit einem Plateau zwischen 1880 und 1910 (Diagramm 2.3, S. 51), 2. zeitliche und institutionelle Diskontinuität im 19. Jahrhundert (Diagramme 2.4, S. 52f.). Sie betrifft sowohl Stadt- als auch Landschulen und erstreckt sich über den längsten Zeitraum des Bestehens der Schulen.Z3 Insofern kann Diskontinuität als ihr historisches Charakteristikum gelten. 22

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Düsseldorf, Duisburg, Essen, Krefeld, Mönchengladbach!Mönchengladbach-Rheydt, wobei dies einen Sonderfall darstellt; die beiden Schulen wurden 1941 zusammengelegt, fanden jedoch sowohl in Münchengladbach als auch zuletzt in Rheydt (nach seinerzeitigen kommunalen Benennung) statt; sie werden daher bis 1942 einzeln gezählt, s. Diagramme Kap. 2.3-2.5. Von insgesamt 22 Volksschulen in Landgemeinden des RBD bestanden 12 Schulen diskontinuierlich, davon sieben nur zwischen fünf und 15 Jahren; von den 14 Schulen in Städten bestanden sieben diskontinuierlich (Doppelgründungen eingeschlossen), eine bestand nur kurzfristig (Mönchengladbach-Odenkirchen); vgl. dazu die Tafel bei Hantsche 2008, S. 91; die dort für Emmerich, Goch, Essen-Steele

Einflihrung

Dies auch noch deshalb, weil der Status der Schulen wechselte. Je nach Trägerschaft und Finanzierung figurierte die jüdische VS als Hausväterschule, als Sozietätsschule bzw. Gemeindeschule oder als Kommunalschule-mehrheitlich tat sie das nach ihren Anfängen als privatgewerbliche Schule ("Privatschule" in diesem Sinne) auch in etwa in dieser historischen Reihenfolge. In der Perspektive des öffentlichen - des staatlichen - Schulsystems blieben die jüdischen Volksschulen hingegen "Privatschulen" als nicht-öffentliche Schulen einer konfessionellen Separatgemeinde. Ein besonderes Kontinuum in der Geschichte der jüdischen VS im RBD stiftete hingegen das GüVJvon 1847, in dem es die grundsätzlich von konträren Interessen belasteten und tatsächlich nur selten einmütig geführten Verhandlungen zwischen Jüdischer Gemeinde und Zivilgemeinde über die - ab dato mögliche kommunale Subventionierung der jüdischen Gemeindeschulen aus der Taufe hob. Bei diesen Verhandlungen waren die Jüdischen Gemeinden durchaus auf kommunales Wohlwollen angewiesen. Solches Wohlwollen hing vor Ort mit von der Person des Lehrers ab. Es gab, vor allem im Kaiserreich, unter den Lehrern der jüdischen Volksschulen im RBD herausragende Persönlichkeiten, die auch in der Zivilgemeinde großes Ansehen genossen und oftmals das Fortbestehen "ihrer" Schule sicherten. Man kann diese Lehrer als Glücksfälle der Schulgeschichte ansehen, und das auch im Blick darauf, dass die Jüdischen Gemeinden solche Persönlichkeiten angesichts der durchweg schäbigen Behandlung der Lehrer ihrer Volksschulen über das halbe Jahrhundert zuvor historisch sozusagen wenig verdient hatten. Institutionelle Vielfalt und Individualität der Jüdischen VS und die Komplexität ihrer gesellschaftlichen Lage zeigen sich erst bei der Darstellung einer Reihe von Schulen. Auch zeigt sich erst bei einer solcherart seriellen Darstellung, dass und wie das lokale Schulschicksal von der Interaktion zwischen der Jüdischen Gemeinde und dem Volksschullehrer bestimmt wurde. Diese beiden historischen Akteure trafen mit ihren jeweiligen Schulinteressen konfliktreich aufeinander. Das Schulinteresse der Lehrer wurde von deren materiellen und sozialen Bedürfnissen, deren Professionalität und Berufscharakter, das Schulinteresse der Jüdischen Gemeinden wurde von deren Finanzkraft - überwiegend im Modus knauseriger Sparsamkeit - im Zusammenhang mit religiös-kulturell und soziokulturell bestimmten Bildungsoptionen konstituiert. Diese Interessenlagen bildeten ein gesellschaftliches Spannungsfeld, in dem Lehrer und Gemeinden oppositionell agierten. Selbstredend gab es zeitweilig und

und Zons angegebenen Zeiträume treffen nicht ganz zu, was auf vorläufige Angaben von mir zurückgeht; ich bedaure dies ausdrücklich.

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Einführung

auch über Jahrzehnte Einigkeit; einen pragmatischen Zusammenschluss gab es aber erst unter der politischen Bedrohung im nationalsozialistischen Deutschland. Der interessantere der beiden Kontrahenten scheint mir der Lehrer der jüdischen VS zu sein. Sein Schicksal ist über weite Zeit beklagenswert, seine Lebensumstände waren im 19. Jahrhundert z.T. bizarr, über seinen Lebens- und Berufsalltag wissen wir wenig. Wer kennt schon all "die Schwierigkeiten", mit denen sie "zu kämpfen [hatten], und insbesondere auch die unsichere Stellung des jüdischen Lehrers, der nur auf ein Jahr so Contrakt engagiert, stets das Damokles-Schwert der Kündigung über sich schwebend erblickt, nie ruhig und froh seinem Berufe ganz obliegen, noch für die nächste Zukunft sorgenlos sein Haupt niederlegen kann"? - Dieser klagenden Frage schließt der zitierte Lehrer folgende Feststellung an: "Der häufige Lehrerwechsel ist der Krebsschaden der jüdischen Schule, und macht den Lehrer zum Spielball [ ... ] oft unwissender oder eigennützlicher Vorsteher und Gemeindemitglieder" (Dok. 6). Das ist, auf Lehrer und Schulpolitik allgemein bezogen, eine zeitlos gültige Feststellung.

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Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

1.1

Der Regierungsbezirk Düsseldorf (RBD) 1815-1945: Territorium und soziodemographische Entwicklung in der jüdischen Bevölkerung

Die Geschichte der jüdischen Volksschulen im RBD spielte in einem komplexen historisch-politischen Raum, in dem sie von den Faktoren der territorialen Ordnung des Regierungsbezirks, der soziodemographischen Entwicklung in seiner jüdischen Bevölkerung und von der Schulgesetzgebung entscheidend bestimmt wurde. Die einführende historische Skizze hat diese drei Faktoren mit ihren Auswirkungen auf die Schulentwicklung knapp umrissen. Im vorliegenden Kapitel wird dem ausführlicher nachgegangen; dazu werden auch die genannten Faktoren im Einzelnen genauer vorgenommen. Die territoriale Ordnung des RBD war ungewöhnlich dynamisch und störte den institutionellen Betrieb der dortigen jüdischen Volksschulen. Sie gehorchte einerseits V erwaltungszwängen, folgte andererseits der demographischen Entwicklung. Formal legte sie den Instanzenzug der Schulaufsicht fest und bestimmte Abgabe und Ablage der amtlichen Überlieferung - das ist der Grund für den Schulhistoriker, sich der jeweiligen territorialen Lage und Zugehörigkeit einer Schulinstitution zu vergewissern. Die territoriale Geschichte des RBD begann mit der politischen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1814-1815. Dort wurden die "Rheinlande"1 Preußen zugeschlagen. Preußen bemühte sich unverzüglich um deren ordentliche Verwaltung und teilte seine nunmehr "rheinischen Provinzen" mit der königlichen Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden von 1815 in Regierungsbezirke und Kreise ein. Vorgesehen wurden zwei Oberpräsidenten in Koblenz und Düsseldorf sowie vier Regierungen zu Düsseldorf, Kleve, Koblenz und Köln. Unter leichter Abänderung dieser Verordnung wurden die Rheinprovinzen dann 1816 mit einer Allerhöchste[n] Cabinetts-Order in zwei Oberpräsidialbezirke und sechs Regierungen eingeteilt. Es waren dies der Oberpräsidialbezirk des "Großherzogtums Niederrhein" mit Regierungen in Koblenz, Trier und Aachen sowie der Oberpräsidialbezirk der Herzogtümer "Jülich-Kleve-Berg" mit Regierungen in Köln, Kleve und Düsseldorf. Die Oberpräsidenten nahmen ihre Sitze in Koblenz und Köln. Das sind hier: die Herzogtümer Berg, Geldem und Kleve, das Fürstentum Moers, die Grafschaften Essen und Werden sowie das neu geschaffene "Großherzogtum Niederrhein" (Knopp 1974, S. 13; vgl. zu den weiteren Angaben a.a.O., S. 13ff.).

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

Der so ausgegrenzte RBD umfasste zunächst zwölf Kreise. Diese waren: linksrheinisch die Kreise Gladbach, Grevenbroich, Krefeld und Neuss, rechtsrheinisch der Stadt- und Landkreis Düsseldorf sowie die Kreise Elberfeld, Essen, Mettmann, Lennep, Opladen und Solingen. Im Zuge der Reduzierung der Oberpräsidial- und Regierungsbezirke in Preußen ab 1820 wurden in den Rheinprovinzen u.a? der Regierungsbezirk Kleve aufgelöst und dessen Kreise Dinslaken, Geldern, Kempen, Kleve, Rees und Rheinberg 1821 dem RBD zugeschlagen. Innerhalb des nunmehr so konstituierten RBD fanden nach 1822 nahezu im Dekadenabstand territoriale Arrondierungen zwecks kommunaler Verwaltungsvereinfachung aufKreisebene statt: Kreise wurden zu Groß-Kreisen zusammengelegt und wieder getrennt, neue Kreise wurden gegründet, Städte dabei ausgekreist, so 1862 die Städte Biberfeld und Barmen, 1872 die Städte Düsseldorf und Krefeld, 1873 die Stadt Essen und 1874 die Stadt Duisburg; des Weiteren wurden Mönchengladbach und Remscheid (1888), Solingen (1896), Oberhausen (1901), Mülheim a.d. Ruhr (1904), Rheydt (1907), Neuss (1913) und Sterkrade (1917) kreisfrei (Hantsche 2000, S. 146); den Kreis Mülheim a.d. Ruhr trafen diese Umordnungen besonders umständlich. 3 1929 kam es mit dem Gesetz über die kommunale Neugliederung des RheinischWestfälischen Industriegebietes zu einer weiteren großen Gebietsveränderung auch im RBD: von 15 Stadtkreisen blieben zwölf übrig, die Zahl der Landkreise wurde von 15 auf neun verringert. 4 Die damit gegebene territoriale Ordnung des RBD bestand dann bis 1945 nahezu unverändert. 5

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3

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1822 wurden die beiden Oberpräsidialbezirke "Jülich - Kleve -Berg" (Köln) und "Großherzogtum Niederrhein" (Koblenz) zusammengelegt; Sitz des Oberpräsidenten war Koblenz; ab 1830 setzte sich für den neu geschaffenen Oberpräsidialbezirk Koblenz die Bezeichnung "Rheinprovinz" durch (Hantsche 2000, S. 126); sie blieb, auch mit dieser Bezeichnung, bis 1918 bestehen (Knopp 1974, S. 16). Er wurde 1887 geteilt, die von ihm abgetrennten Städte Ruhrort und Dinslaken sowie mehrere Bürgermeistereien wurden zum neuen Landkreis Ruhrort zusammengefasst; 1905 wurden die Städte Ruhrort und Meiderich in die Stadt Duisburg eingemeindet; der Kreis Ruhrort blieb aber bestehen, bis er 1909 in "Kreis Dinslaken" umbenannt und Dinslaken Kreissitz wurde. Die benachbarten Stadtkreise Barmen und Elberfeld, Duisburg und Hambom, Oberhausen und Sterkrade, Mönchengladbach und Rheydt wurden zusammengelegt, Essen-Steele wurde nach Essen eingemeindet, ein neuer Stadtkreis entstand durch die Auskreisung von Viersen. Linksrheinisch wurden die Landkreise Grevenbroich und Neuss sowie Kempen und Krefeld zusammengelegt, der Landkreis Gladbach wurde aufgelöst; rechtsrheinisch wurden die Landkreise Düsseldorf und Mettmann sowie Solingen und Lennep zusammengelegt, der Landkreis Essen wurde aufgelöst;. Lediglich Gladbach und Rheydt wurden zum 1. Aug. 1933 getrennt (Romeyk 1985, s. 32f.).

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

Die andauernden kommunalen Um- und Neuordnungen und die Grenzverschiebungen zwischen den Kommunen konstituierten ftir die Jüdische VS eine spezifische institutionelle Unsicherheit. Sie veränderten kommunale Zuständigkeiten bei der Schulaufsicht und der Schulfinanzierung und beunruhigten so den äußeren Schulbetrieb; sie brachten amtliche Verlegungen oder Zusammenlegungen von Schulorten mit sich, was über einige Schulschicksale entschied6 ; und sie berührten natürlich auch die jüdischen Gemeindegrenzen, was gelegentlich die Bildung von Schulverbänden erschwerte, die für die Gründung einer öffentlichen jüdischen Gemeindeschule unerlässlich war (s. Kap. 1.2). Damit trug die territoriale Dynamik des RBD zur institutionellen Diskontinuität der dortigen jüdischen Volksschulen bei (Diagramme 2.4, S. 52f.). Ein weiterer Faktor dafür war die demographische Entwicklung, zum einen mit ihren direkten Auswirkungen auf die Anzahl der unterrichtspflichtigen jüdischen Kinder sowie auf die Finanzkraft der Jüdischen Gemeinden, zum anderen mit den sie begleitenden sozioökonomischen und soziokulturellen Veränderungen in der jüdischen Bevölkerung. Die demographische Entwicklung im RBD war dramatisch von sprunghaftem Bevölkerungsanstieg und von starker Binnenwanderung bestimmt. Explosionsartig wuchs die gesamte Bevölkerung zwischen 1885 und 1905, dabei die jüdische Bevölkerung um eine Dekade zeitversetzt; danach verlangsamte sich allerdings deren Wachstum, ab Mitte der l920er Jahre stagnierte es (Kurvendiagramm7 auf der folgenden Seite). -Der Bevölkerungsanstieg war sehr ungleich verteilt, es gab regionale Gewinner und Verlierer. Zu den Verlierern gehörten die ländlichen Gebiete im Oberbergischen und am Niederrhein zwischen Moers und Kleve; hier bluteten die Jüdischen Gemeinden aus, ihre Schulen schlossen, einige Gemeinden lösten sich ganz auf. Zuwanderungsschwerpunkte waren dagegen zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Ballungsraum am Niederrhein um Krefeld und Mönchengladbach als industriellgewerbliche Zentren sowie der hergiseh-märkische Raum zwischen Wupper und Ruhr, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dann die (Schwer)Industrieregion "Ruhrgebiet"8 . In beiden Ballungsräumen "ballten" sich auch die jüdischen Volksschulen (Karte 2.1, S. 49). Zu den besonderen Gewinnern zählten die Regierungshauptstadt Düsseldorf und die großen Städte des Ruhrgebiets; sie profitier6 7

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S. Kap. 3.2: Duisburg, Duisburg-Ruhrort (dazu oben, Fn. 3), Essen-Steele, Mönchengladbach. Das Diagramm bildet den Wachstumsprozess ab; dafiir ist Gesamteinwohnerzahl größenreduziert, die Zahl der jüdischen Einwohner (s.u., S. 19, Fn. 16) ist hingegen numerisch exakt eingetragen; nur so ließen sich beide Bevölkerungsgrößen in einer Entwicklungskurve erfassen. Dort verfünffachte sich die Bevölkerung zwischen 1871 (742.000) und 1925 (3.85 Mill.), Steinberg 1965, S. 122.

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Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

ten auch überproportional vom Zuzug der Juden aus Osteuropa zwischen 1890 und 19149 .

Demographische Entwicklung im RBD 45000

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40000 -Einwohnerzahl gesamt in Hundert

35000 30000

-II- Anzahl jüdische

-

Einwohner 25000 20000 15000 10000 5000



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Aus dieser demographischen Entwicklung erklärt sich zunächst einmal, dass die jüdischen V alksschulen auf dem Lande eingingen, hier im Bergischen und am Niederrhein 10 • Die demographische Entwicklung erklärt aber nicht, warum die Zahl der Schulen bei zunehmender Bevölkerung insgesamt abnahm (Diagramm 2.2. S. 50), und warum ausgerechnet in den vergleichsweise stark wachsenden Stadtgemeinden jüdische Volksschulen geschlossen wurden 1\ zu erwarten wäre doch eher das Gegenteil. Eine Erklärung liefern die soziökonomischen und soziokulturellen Veränderungen in der jüdischen Bevölkerung des RBD, die sich mit der demographischen Entwicklung verbanden. Sie werden in der Sekundärliteratur allgemein als V erstädte9

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Besonders aus dem zaristischen Rußland; dort war es 1881, 1884 und erneut 1903 zu schweren Pogromen gekommen, in deren Folge bis 1914 ca. 2 Mill. Juden das Zarenreich verließen; im RBD figurierten sie unter "Ostjuden". Sie stellten 1925 in Düsseldorf 20%, in Duisburg 38,8%, in Essen 27,9% der Mitglieder der jüdischen Gemeinden; der durchschnittliche Anteil der "Ostjuden" an der jüdischen Gesamtbevölkerung der preußischen Großstädte lag bei 23% (Barkai 1984, S. 90; Rieker/Zimmermann 1998, S. 196; einzelne lokale Angaben für den RBD bei Bilstein 1992; Herzig 1985; Nabrings 1991a; Nonn 2005; Pracht-Jöms 2000; Sparing 2000); zum soziodemographischen Problem: Rieker/Zimmermann 1996; zur historischen Entwicklung: Maurer 1991; Volkov 1991. Velbert und Velbert-Langenberg; Alpen, Grevenbroich, Issum, Rheinberg, Sonsbek. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Düsseldorf, Duisburg, Oberhausen, Wuppertal-Elberfeld.

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

rung und Verbürgerlichung beschrieben. Das meintjedoch hauptsächlich die städtische Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und übergeht ungleichzeitige und ungleiche Entwicklungen zwischen Stadt und Land. 1817 wohnten zwei Drittel der Juden im RBD in ländlich-dörflichen Gemeinden und kleinen Landstädten 12 , in der Mitte des 19. Jahrhunderts wohnte immer noch die Hälfte dort, zum Ende des Jahrhunderts hatte sich das Ausgangsverhältnis umgekehrt: zwei Drittel der Juden im RBD waren "Stadtjuden". In der Stadt boten sich neue Berufe und große Chancen für einen sozialen Aufstieg. Die rechtliche und innenpolitische Voraussetzung dazu hatte das berühmte Preußische Emanzipationsedikt von 1812 13 geschaffen. Es sprach der jüdischen Bevölkerung mit den Bürgerrechten den Zugang zu öffentlichen Ämtern und bürgerlichen Berufen nebst Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit zu, wenn auch mit Einschränkungen. 14 Das Edikt wurde 1815 allerdings nicht auf die neuen Provinzen Preußens, hier auf die Rheinprovinz, ausgedehnt; rechtliche und bürgerliche Gleichstellung gewannen die Juden dort erst 1847. 15 Zu Beginn der preußischen Herrschaft waren die Jüdischen Gemeinden im RBD klein 16 , kaum eine hatte mehr als 100 Mitglieder- die durchschnittliche Mitglie12

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Die Hälfte der jüdischen Bevölkerung im RBD waren "reine" Landjuden (ZittartzWeber 2003, S. 82) bzw. sie wurden dazu gezählt; zur Landjudenschaft vgl. Cohen (Hg.) 1996-2001; Keuck 1992; Richarz!Rürup (Hg.) 1997; Rohrbacher 2000; bildungsgeschichtlich vgl. Kaufmann 1997; Saheileck 1997. Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate; zur historischen Entwicklung vgl. bes. Freund 1912, Bd. 1. Ausnahmen waren u.a. der Berufzum Offizier, höhere Staatsämter sowie das Höhere Lehramt (davon jedoch seinerseits ausgenommen: Mathematik, Physik und Medizin - seinerzeit Mangelberufe). Mit dem GüVJ, s. Kap. 1.2.- Genauer verhielt es sich so, dass für die linksrheinischen Juden mit der französischen Besetzung zunächst der Code Civil (bes. §§ 7 und 8) und damit dessen Freiheitsrechte galten, die allerdings 1808 von einem Dekret NAPOLEONs eingeschränkt wurden (es galt wiederum nicht für das Herzogtum Berg, zuletzt Fleermann 2007). - Für die rechtsrheinischen Juden in den neuen "rheinischen Provinzen" Preußens blieben dagegen die Rechtsverhältnisse (i.e. die Judenordnungen und -gesetze) der alten territorialen Herrschaft nach 1815 weiter bestehen.- Quellen in: Kollenscher 1910; vgl. ferner u.a. Pracht-Jöms 2000, bes. S. 29ft'.; Rieker/Zimmermann 1998, S. 142ff.; Zittartz-Weber 2003). Insgesamt lebten 1817 nur 3.190 Juden im RBD, 1826 waren es nicht mehr als 5.410, 1846 waren es 7.489; erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die jüdische Bevölkerung nennenswert (1866: 10.776), im letzten Drittel dann sprunghaft an (Kurvendiagramm S. 18); ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung blieb aber vergleichsweise konstant zwischen 0,8% (Minimum) und 0,9% (Maximum) und lag damit noch unter dem Anteil der jüdischen Bevölkerung in Preußen (1,3%), vgl. Zittartz-Weber 2003, S. 76f.

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derzahllag bei 35; und sie waren mehrheitlich arm. Sie waren daher auch schlecht dazu in der Lage, eigene Schulen zu unterhalten, als ihnen 1824 (Kap. 1.2) die allgemeine Unterrichtspflicht verordnet wurde. Sie schickten daher ihre nunmehr unterrichtspflichtigen Kinder - vielerorts nicht viel mehr als ein Dutzend - in christliche Schulen; reichere Hausväter ließen ihre Kinder privat unterrichten. Das änderte sich schlagartig ab 1847 (GüVJ, s. Kap. 1.2), als den Kommunen aufgetragen wurde, jüdische Gemeindeschulen zu subventionieren. Zugleich veränderten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die angesprochene Binnenwanderung und Urbanisierung das gesellschaftliche Gefüge in der jüdischen Bevölkerung des RBD bis zum Ende des Jahrhunderts radikal. Das Berufsspektrum verschob sich vom niederen Handwerk und nicht ansässigen Kleinhandel über ansässigen Kleinhandel und Kleingewerbe 17 hin zum Großhandel, zum Bankgewerbe und zu bildungsbürgerlichen Berufen (Ärzte, Juristen, Lehrer, Universitätsgelehrte) - aus Hausierern, Trödlern, Geldverleihern, kleinen Händlern und Gewerbetreibenden wurden "Bildungsbürger" eben und Kaufleute, Warenhausbesitzer, Manufakturwarenhändler oder Bankiers (Pracht-Jörns 2000, S. 10), wenn sie denn Wohnsitz und Unternehmen aus den Landstädtchen in eine Kreisstadt und/oder von dort weiter in die städtischen Zentren an Rhein und Ruhr verlegten (Rieker/Zimmermann 1998, S. 148, 152). Blieben sie in den Landstädtchen (am Niederrhein), verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Lage - die allgemeine Landflucht schränkte die Absatzmöglichkeiten im Vieh- und Kleinhandel sukzessive ein. Ausgenommen von dieser Entwicklung waren die Juden in denjenigen Landstädten am Niederrhein, die durch Eisenbahnanbindung zu Umschlagplätzen für Waren (besonders Vieh) geworden waren 18 , mit denen der wachsende Bedarf der rapide wachsenden Städte an Rhein und Ruhr gedeckt wurde. Diese jüdischen Händler bildeten eine besondere Aufstiegsgruppe. Sie konnten bis zur Reichsgründung 1871 das nötige Kapital ansammeln, um ein Kaufhaus oder auch eine Fabrik oder ein Bankgeschäft zu eröffnen - so gab es in diesen Kleinstädten wie in den Städten der neuen industriellen Zentren nach der Reichsgründung eine "Eröffnungswelle" von Geschäften jüdischer Inhaber (Nonn 2005, S. 144f.). Mit den skizzierten soziodemographischen Entwicklungen zählte die Mehrheit der Juden im RBD um 1900 zum städtischen Bürgertum und zum ländlichen Mittelstand; "darüber" - nach sozialhierarchischer Bevölkerungsschichtung - gab es eine kleine Gruppe von jüdischen Großunternehmern und Privatbankiers, 17

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1824 waren im RBD 52,1% der Juden überwiegend im Vieh- und Kleinhandel, 19,3% waren im Handwerk, 2,5% in Kunst und Wissenschaft und 0,5% in der Landwirtschaft tätig; 2,6% lebten vom Hausieren (Nabrings 1991a, S. 70); vgl. dazu die 36 lokalen Miniaturen "Soziokulturelle Lage" in Kap. 3.2. Als Schulorte sind zu nennen: Geldem und Wesel (vgl. Hantsche 2008, S. 121).

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"darunter" eine kleinbürgerliche Schicht von Krämern und Handwerkern, Verkäufern, Buchhaltern, Handlungsreisenden, Volksschullehrern und jüdischen Gemeindebeamten; eine anteilig nur noch kleine Unterschicht bildeten Arbeiter, Dienstboten, Hilfskräfte und Gelegenheitshändler (Rieker/Zimmermann 1998, S. 154). Dieser sozioökonomische Aufstieg der Juden im RBD ist mit dem Niedergang bzw. dem Schrumpfen der jüdischen Volksschulen dort insofern verbunden, als er eine bürgerliche Formatierung des sozialen Habitus mit sich brachte und zu diesem auch gehörte, die Kinder privat vorschulen zu lassen oder nur auf die Unterstufe der jüdischen VS zu schicken; von dort aus gingen sie auf mittlere und höhere als auf im doppelten- im schulischen wie im gesellschaftlichen- Sinne weiterführende Schulen. Das zehrte die jüdischen Volksschulen aus. Ihre Schülerzahl sank zwischen 1886 und 1911 "dramatisch" (Zs. f Demographie u. Statistik der Juden, Jg. 9, 1913, S. 178). 19 Die "bürgerliche" Bildungsoption in den - städtischen - Jüdischen Gemeinden war gleichwohl nicht die alleinige Ursache fiir den Niedergang der jüdischen VS im RBD ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Weitere Ursachen waren die allgemeine Landflucht, wie oben festgehalten, und allgemeiner Geburtenrückgang20; er reduzierte die Schülerzahl insgesamt. Gegenläufig dazu und zur bürgerlichen Bildungsoption stärkte der Zuzug von "Ostjuden" insbesondere in den Industriestädten des Ruhrgebiets die dortigen jüdischen Volksschulen, da die "Ostjuden" ihre Kinder auf eben diese Schulen schickten. Auch das macht darauf aufmerksam, dass deren Besuch sozioökonomisch abhängig, mithin klassenspezifisch war? 1 Neben der soziodemographischen Entwicklung hatte der institutionelle Niedergang der jüdischen VS im RBD im 20. Jahrhundert mit ihrer Lage im allgemeinbildenden Schulsystem zu tun. Dort geriet sie als konfessionelle und nichtöffentliche Separatschule ins institutionelle Abseits, weil in Preußen die öffentlich-staatliche VS durchgesetzt und in Deutschland nach 1919 zur allgemeinen Pflichtschule ausgebaut wurde (siehe nachfolgend Kapitel 1.2). Das brachte u.a. gestiegene Anforderungen an die VS mit sich, denen die überwiegend einklassigen jüdischen Volksschulen im RBD nicht mehr gewachsen waren, auch, weil ihnen über Jahrzehnte die Schülerschaft abhanden gekommen war. Aus der Sicht der Kommunen rechneten sie sich nicht, sie wurden geschlossen.

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Ab dem späten Kaiserreich bis in die 1920er Jahre besuchten nur noch rund 20% der jüdischen Schulkinder die jüdische VS; s.u., S. 41, Fn. 55, S. 42, Fn. 57. Wie der Anstieg des Heiratsalters (Barkai 1984, S. 91; Rieker/Zimmermann 1998, S. 146) ein Indikator für "Verbürgerlichung". Schulbeispiel Duisburg (2. Schule), s. Kap. 3.2 und Kap. 4.2, S. 296.- Lebensund alltagsgeschichtliche Beobachtungen dazu bei Rieker/Zimmermann 1998, S. 201ff.; s. auch unten, S. 41, Fn. 54.

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Allerdings wurde das Ende der jüdischen Volksschulen im RBD wie in Deutschland gewaltsam herbeigefUhrt Zunächst trieb und zwang die NS-Diktatur die jüdische Bevölkerung aus dem Land; im RBD ging ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bis 1939 um 61% zurück. Auch das Berufsspektrum verschob sich22 1939 wurden die Juden statistisch als Arbeiter (56,5%), Angestellte (24,7%) und Selbständige (15,7%) erfasst, was ihre drangsalierte Lage noch beschönigte. Tatsächlich wurden die meisten der bis dahin in Deutschland gebliebenen Juden zur Zwangsarbeit verpflichtet; wo nicht, arbeiteten sie in den eigenen Gemeinden als Kantoren, "Krankenbehandler"23 , Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen, Leiter von Umschulungs- oder Sprachkursen, als "Rechtskonsulenten" (sc. Rechtsanwälte) oder als Lehrer an einer der verbliebenen jüdischen Schulen (Volkszählung vom Mai 1939, in: Wirtschaft und Statistik, Jg. 21, Nr. 9, Sonderbeilage, S. 8). Als Schule für ihre Kinder blieben den jüdischen Elternhäusern zuletzt nur noch die jüdischen Volksschulen. Sie wurden fiir Lehrer und Schüler Orte sozialer Zuflucht. Aber auch sie gingen unter; 1942 wurden alle jüdischen Schulen und den Juden in Deutschland wurde jeder Schulbesuch verboten. Damit war - auch im RBD- ein Sonderkapitel deutscher Schulgeschichte zu Ende. Es wird im Folgenden an Hand der Schulgesetzgebung in schulpolitischer Hinsicht rekonstruiert.

1.2

Schulgesetzgebung und historischer Prozess der jüdischen Volksschule im RBD (1794-1942)

Die Schulgesetzgebung war die normierende staatliche Gewalt im historischen Prozess der jüdischen Volksschule im RBD. Sie veranlasste die Gründung der Schulen und erzwang deren Schließung, gab ihnen Aufbau und Einrichtung und zeichnete ihnen den Sonderweg vor, der 1942 endete. Im Folgenden werden die wichtigsten Rechtsschritte im Überblick genannt (1.2.1), danach in einem zweiten Durchgang ausführlich zitiert und schulgeschichtlich kommentiert (1.2.2). Mit dem vorangestellten Überblick soll schneller Information und dem Handbuchzweck des vorliegenden Bandes gedient werden. Der schulgeschichtliche Kommentar fasst die Durchsetzung einer öffentlichen allgemeinbildenden Schule in Preußen und in Deutschland (nach 1919) ins Auge und beachtet dabei besonders die konfessionelle Frage sowie die Fragen der Schulaufsicht, der Schulfinanzierung und der Zulassung der Lehrer. - Der Sonderweg der jüdischen VS im RBD innerhalb der Geschichte der VS in Preußen und in Deutschland (nach 1919) wird zuletzt resümierend festgehalten (1.2.3).

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Von selbständigen Kaufleuten wieder hin zu reisenden Vertretern und zu Angestellten (Verkäufer, Buchhalter, Korrespondenten), Rieker/Zimmermann 1998, S. 214. Bewusst herabsetzend für jüdische Ärzte.

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1.2.1 Überblick

Den historischen Anfang setzten die berühmten Schulartikel des ALR von 1794.24 Sie schrieben die allgemeine Unterrichtspflicht fest und unterstellten das gesamte Schulwesen staatlicher Aufsicht mit dem Fanal: "Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben"(§ 1). Auch nahm sich der Staat jetzt der Lehrerausbildung an, einstweilen durch die Vorschrift beruflicher Tüchtigkeit. Für die jüdische Bevölkerung in Preußen wurde die allgemeine Unterrichtspflicht nach ALR mit einer Circular- Verfügung im Mai 1824 ausgesprochen und dazu das "gesammte jüdische Schulwesen" der "Aufsicht und Verwaltung des Staates" unterstellt (Ziff. 4). Diese grundlegende Rechtsverordnung wurde mit einem Reglement des Oberpräsidenten der Rheinprovinz im Sept. 1824 ilir den RBD übernommen. - Die Schulwirklichkeit ließ sich freilich mit der Umsetzung der Rechtsnorm Zeit, was u.a. daran abzulesen ist, dass die Bestimmungen des ALR zur staatlichen Schulaufsicht und zur Einrichtung der VS bis 1872 immer wieder einmal teils wörtlich wiederholend, teils ausführend, obrigkeitlich bekräftigt wurden (vgl. Verordnungen, betreffend das Volksschulwesen in Preußen, 1874). Für die jüdische VS in Preußen wurde das GüVJ von 1847 realitätsmächtig. Es sah die Reorganisation der Jüdischen Gemeinden nach preußischer Verwaltungsordnung und danach ihre Anerkennung als Körperschaften öffentlichen Rechts vor (vgl. zuletzt Zittartz-Weber 2003, S. 155ff.). Alsdann konnten sie öffentliche Zuschüsse ilir ihr Gemein- und Schulwesen beantragen, die jüdischen Gemeindeschulen konnten als "öffentliche" Schulen geilihrt und grundsätzlich kommunal bezuschusst werden. Die beiden nächsten wichtigen Rechtsakte ilir die VS einschließlich der jüdischen VS in Preußen waren das Gesetz betr. die Beaufsichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens vom März 1872 und die AVEAZ vom Okt. 1872. - Im Schulaufsichtsgesetz hielt der der preußische König 78 Jahre nach dem ALR die alleinige Zuständigkeit des Staates für das gesamte Schulwesen erneut nachdrücklich und nunmehr abschließend fest. - Die ministerielle A VEAZ regelte detailliert den Aufbau und den Betrieb der VS in Preußen und sah die Vereinigung kleiner Schulverbände zum Zweck des Unterhalts einer mehrklassigen Schule vor. 24

Dem ALR ging eine Reihe von landesherrlichen Initiativen zur Durchsetzung allgemeinen Schulunterrichts insbesondere auf dem Lande (damit gegen den grundständigen Adel) vorauf, so: das Edikt König FRIEDRICH WILHELMs I. von 1717 über die Einführung einer allgemeinen (siebenjährigen) Schulpflicht, die Principia Regulativa oder General-Schulenplan, nach welchem das Landschulwesen im Königreich Preußen eingerichtet werden soll von 1736 und das General-Landschul-Reglement von 1763; vgl. dazu bes. Schule und Staat im 18. und 19. Jahrhundert, 1974.

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Für die jüdischen Volksschulen bestimmte danach ein ministerielles Reskript vom Mai 1873, dass sie geschlossen werden sollten, wenn die Jüdischen Gemeinden sie nicht mehr unterhalten konnten. Ein knappes Jahr später wurde mit einem Erlaß des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom März 1874 der Instanzenzug der Schulaufsicht endgültig fixiert. Die genannte Schulgesetzgebung von 1872 favorisierte die öffentlich-staatliche VS gegenüber den konfessionellen Volksschulen. Die staatliche VS war in Preußen aus staatlicher Sicht die evangelische VS, das Territorium war aber konfessionell gemischt. Die konfessionelle Gemengelage und die ungleiche Verteilung der Schullasten zwischen dem schulaufsichtführendem Staat und den regionalen bzw. lokalen Schulträgern führten zu schulpolitischen Spannungen, insbesondere im katholischen Rheinland. Sie verschärften sich nach der Reichsgründung 1871 zum anhaltenden Schulkonflikt Er trieb seinerseits die Entkonfessionalisierung der VS mit der Einrichtung von Simultanschulen voran. - Die Jüdischen Gemeinden waren von diesem Konflikt in den strittigen Fragen des Unterhalts und der Finanzierung ihrer Volksschulen betroffen; die Schulen selbst wurden von der Simultanschule schulpolitisch und gesellschaftlich in Frage gestellt. Für einheitliche Regelung des Schulunterhalts sorgte das VuG vom Juli 1906. Auch regelte es (u.v.a.) den konfessionellen Religionsunterricht in der öffentlichen VS - ein weiterer historischer Schritt zur Simultanschule. Den jüdischen Kindern erleichterte das Gesetz den Besuch der öffentlichen VS, was für die jüdische VS einen gewissen Legitimationsverlust bedeutete. Zunehmend stand sie der historischen Entwicklung der VS in Preußen zur allgemeinen öffentlichen Schule entgegen. Dieser Entwicklung widersprachen allerdings auch die Institutionen der privaten VS und der privaten Vorschule (sie deckte die ersten vier Schuljahre ab). Mit beiden Institutionen räumten die Reichsverfassung ("Weimarer Verfassung") von 1919 und das Reichsgrundschulgesetz von 1920 auf. Die Reichsverfassung verbot die private Vorschule und ließ die private VS nur im Ausnahmefall zu; das Reichsgrundschulgesetz führte die ersten vier Jahre der VS als Grundschule für alle Kinder des Volkes verbindlich und zwingend ein. 25 Die bildungspolitischen Folgen beider Rechtsakte: die Einführung der VS als öffentliche Simultanschule und ihr institutioneller und pädagogischer Ausbau bedeuteten das "Aus" ftir viele kleine einklassige jüdische Volksschulen im RBD. - Erzwungen wurde die Schließung der jüdischen Volksschulen wie zuletzt aller jüdischen Schulen dann im nationalsozialistischen Deutschland; die gewichtigsten gesetzlichen und schulpolitischen Schritte dazu waren:

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Ab dann kann erst von "Volksschule" im Wortsinne gesprochen und "Unterrichtspflicht" mit "Schulpflicht" gleichgesetzt werden.

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Das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen von 1933, der Runderlaß des REM über die Errichtung gesonderter jüdischer Schulen von 1935 und der Erlass desselben Ministers zum Schulunterricht an Juden von 1938; ein Jahr später wurde die RV zum alleinigen Träger jüdischer Schulen bestimmt (10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 1.7.1939); 1942 schließlich wurde mit einem geheimen dem Erlass allen Juden ,jeglicher" Schulbesuch verboten. Es ist aufschlussreich und nützlich, die genannten konstitutiven und grundlegenden Rechtsakte ausführlich und wörtlich zu zitieren - wörtlich, weil die historische Rechtssprache die schulpolitische Ordnungsmentalität der Schulobrigkeit ausplaudert und auch, weil sie ihren eigenen semantischen Reiz hat, ausführlich, weil die Rechtsakte den langen Weg zur öffentlich-staatlichen VS in Preußen und in Deutschland detailliert nachzeichnen und dabei den Sonderweg der jüdischen VS dokumentieren. Im Übrigen ging die Schulgesetzgebung bis 1920 der Schulwirklichkeit nicht nur normativ, sondern auch fortschrittlich voraus 26 - die jeweils bestehende Schulpraxis stand oft deutlich hinter den Vorschriften etwa zur Ausstattung der Schule und des Unterrichts zurück. Ihre Verbesserung wurde mit der Gesetzgebung "von oben" vorangetrieben und auch erzwungen. Das traf die jüdischen Volksschulen im RBD jeweils besonders. Sie waren als überwiegend einklassige Schulen schlecht aufgestellt und allgemein (noch) schlechter eingerichtet als die kommunalen - christlichen - Schulen. Vor allem deshalb kamen ihnen die Schüler abhanden, weswegen sie wiederum nur defizient betrieben werden konnten - ein Kausalkreis, indem Verbesserung oder Modernisierung von Schule und Unterricht eigentlich geboten hätten, die Schulen zu schließen. Es war ihr konfessioneller Charakter, der die jüdische VS gesellschaftlich legitimierte. 1.2.2 Zitat und Kommentar

Im Folgenden werden die oben angeführten Gesetze und gesetzlichen Maßnahmen in chronologischer Reihenfolge ausführlich zitierr 7 und schulhistorisch kommentiert. Textauszüge und Kommentar konzentrieren sich auf die staatliche Schulaufsicht und die kommunale Schulträgerschaft sowie im Einzelnen auf die Schulfinanzierung, auf den Schulzugang im konfessionellen Zusammenhang, auf Aufbau und Einrichtung der Schule und des Unterrichts und auf die Zulassung der Lehrer. 26 27

Ob die Volksschulgesetzgebung in Preußen in jedem Falle politisch fortschrittlich war, ist strittig und hängt von der politischen Sicht des Historiographen ab. Die Publikationsorte sind verstreut; von den in Kap. 7.1 aufgefiihrten rechtlichen Sammlungen werden zum Textnachweis hier die schulhistorisch kontextuierten bevorzugt.

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1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 bestimmte im Teil II, Titel 12, §§ 1-53 (in: Zur Geschichte der Volksschule, Bd. I 1972, S. 161 ff.) nach dem oben bereits zitierten berühmten ersten Paragraphen u.a.: "Wer eine Privaterziehungs- oder sogenannte Pensionsanstalt errichten will, muß bei derjenigen Behörde, welcher die Aufsicht über das Schul- und Erziehungswesen des Ortes aufgetragen ist, seine Tüchtigkeit zu diesem Geschäfte nachweisen und seinen Plan, sowohl in Ansehung der Erziehung als des Unterrichts, zur Genehmigung vorlegen"(§ 2). "Auch solche Privat-, Schul- und Erziehungsanstalten sind der Aufsicht dieser Behörde unterworfen, welche von der Art, wie die Kinder gehalten und gepflegt, wie die physische und moralische Erziehung derselben besorgt, und wie ihnen der erforderliche Unterricht gegeben werde, Kenntnis einzuziehen befugt und verpflichtet ist"(§ 4). "Eltern steht es zwar frei, nach den im zweiten Titel enthaltenen Bestimmungen den Unterricht und die Erziehung ihrer Kinder auch in ihren Häusern zu besorgen"(§ 7). "Niemand soll wegen Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses der Zutritt in öffentliche Schulen versagt werden"(§ 10). "Kinder, die in einer anderen Religion, als welche in der öffentlichen Schule gelehrt wird, nach den Gesetzen des Staats erzogen werden sollen, können dem Religionsunterricht in derselben beizuwohnen nicht angehalten werden" (§ 11 ). "Überall aber soll kein Schulmeister bestellt und angenommen werden, der nicht zuvor, nach angestellter Prüfung, ein Zeugnis der Tüchtigkeit zu einem solchen Amte erhalten hat"(§ 25). "Wo keine Stiftungen für die gemeinen Schulen vorhanden sind, liegt die Unterhaltung der Lehrer den sämtlichen Hausvätern jedes Ortes, ohne Unterschied, ob sie Kinder haben oder nicht, und ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses ob"(§ 29). "Sind jedoch für die Einwohner verschiedenen Glaubensbekenntnisses an einem Orte mehrere gemeine Schulen errichtet, so ist jeder Einwohner nur zur Unterhaltung des Schullehrers von seiner Religionspartei beizutragen verbunden" (§ 30). "Auch die Unterhaltung der Schulgebäude und Schulmeisterwohnungen muß als gemeine Last von allen zu einer solchen Schule gewiesenen Einwohnern ohne Unterschied getragen werden"(§ 34). "Jeder Einwohner, welcher den nöthigen Unterricht für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will, ist schuldig, dieselben nach zurückgelegtem fünften Jahre zur Schule zu schicken"(§ 43). "Der Schulunterricht muß so lange fortgesetzt werden, bis ein Kind, nach dem Befunde seines Seelsorgers, die einem jeden vernünftigen Menschen seines

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Standes notwendigen Kenntnisse gefaßt hat (§ 46)"- das waren in der Regel acht Jahre.Z 8 "Die Schulzucht darf niemals bis zu Mißhandlungen, welche der Gesundheit der Kinder auch nur auf entfernte Art schädlich werden könnten, ausgedehnt werden" (§ 50). - Das war seinerzeit eine sehr fortschrittliche Bestimmung; sie fasst das Kindeswohl vor der Strafautorität des Lehrers ins Auge; ihre Bestimmtheit lässt die tatsächliche Züchtigungspraxis in der VS erahnen. In den Schulartikeln des ALR äußerte sich der fürsorgliche Staat. Er verfolgte das Wohl der nachwachsenden Generation, indem er nunmehr deren Unterrichtung und Erziehung29 überwachte. Er regulierte dazu besonders die Finanzierung der kommunalen Schule, ordnete den freien, i.e. religionstoleranten Zugang zu ihr an und schrieb die pädagogische Eignung der Lehrer vor. Mit seinen diesbezüglichen Bestimmungen und in dieser Ausrichtung markierte das ALR seinerzeit einen großen schulischen Fortschritt. Politisch gesehen war es allerdings ein Instrument staatlicher Aufsicht über Jugend und Schule, konnte mithin je nach Herrschaftsverhältnissen auch ein Instrument der Überwachung oder Gängelung von Jugend und Schule sein bzw. werden. Die Ausweitung der Schulartikel des ALR auf die Jüdischen Gemeinden in Preußen genau 30 Jahre später zitierte das ALR teils wörtlich, teils bemühte sie sich aus Gründen der Statusdifferenz zwischen Zivilgemeinde und Jüdischer Gemeinde um genaue Einzelregelung u.a. der Schulpflicht bzw. des Schulbesuchs, der Bestätigung der Schulreife, der Prüfung der Lehrer und der Schulfinanzierung. 2. So bestimmte die Circular- Verfügung an sämmtliche Königliche Regierungen; die Einrichtung des jüdischen Schulwesens betreffend vom Mai 1824 (in: Jb. des preußischen Volks-Schul-Wesens, Jg. 2 [1826], Bd. 4, Heft 2, S. 113-116) u.a.: "Daß wie (nach A. L. R. II 12. §. 43. 30) jeder Einwohner, so auch die Juden, welche den nöthigen Unterricht für ihre Kinder in ihrem Hause nicht besorgen können, oder wollen, schuldig sind, dieselben nach zurückgelegtem fünften Jahre zur Schule zu schicken" (Ziff. 1).

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"Eltern, Vormünder oder Herrschaften" sollten die Kinder "höchstens vom fünften Jahre ihres Alters in die Schule schicken, auch damit ordentlich bis ins dreizehnte oder vierzehnte Jahr continuieren" (General-Landschul-Reglement von 1763, § 1, s.o., S. 23, Fn. 24). Die achtjährige Schulpflicht wurde 1919 in der Reichsverfassung von Weimar (s.u.) festgeschrieben. Mit an KANT geschulter Genauigkeit in der Unterscheidung von Unterrichts- und Erziehungszwecken, vgl. KANT 1803, bes. A 1-7. KANT hat diese Vorlesung ab 1776/77 regelmäßig gehalten, auch wenn sie erst 1803 publiziert wurde. Punktsetzung im Original. Auf die Paragraphen des ALR wird in der CircularVerfügung unter "ebendaselbst" verwiesen.

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"Daß auch die jüdischen schulfähigen Kinder, erforderlichen Falls durch Zwangsmittel und Bestrafung der nachlässigen Eltern, zum Besuch der Schule angehalten werden (ebendaselbst§. 48.2)" (Ziff. 2). "Daß die Juden, wo selbige eigene Schulen ihres Glaubens nicht eingerichtet haben, ihre Kinder in die öffentlichen christlichen Schulen zu schicken verpflichtet sind, in welchen diese jedoch dem Unterrichte in den eigentlich christlichen Religions-Wahrheiten wider Willen beizuwohnen, nicht gezwungen werden können (ebendaselbst§. 11)" (Ziff. 3). "Daß die Prüfung und Bestätigung der Lehr- und Einrichtungs-Pläne auch der jüdischen Schulen, so wie die Prüfung der zum Gebrauch bestimmten Schulbücher, und überhaupt die Aufsicht und Verwaltung des gesammten jüdischen Schulwesens ganz in der Art erfolgt, wie dies durch die Consistorial- und RegierungsInstruction vom 25. Oct. 1817 im Allgemeinen reguliert worden ist" (Ziff. 4). "Besonders, daß auch an den jüdischen Schulen kein Lehrer angestellt wird, der nicht in einer Prüfung, die mit ihm, die Religionsbekenntnisse ausgenommen, in ganz gleicher Art wie mit einem Lehrer an einer christlichen Schule der nämlichen Gattung, vorzunehmen ist, als tüchtig zum Lehramte erfunden worden (ebendaselbst§. 24.)" (Ziff. 5). "Daß die vorige Bestimmung sich auch auf die etwa ausschließlich für den jüdischen Religionsunterricht zu bestellenden Lehrer insoweit erstreckt, daß zwar nicht ihre eigentlich jüdischen Religionsbekenntnisse Gegenstand der Prüfung seyn, wohl aber untersucht werden soll, ob sie die übrigen, von einem dem Lehrstande gewidmeten Subjecte erwarteten Kenntnisse und Geschicklichkeiten besitzen" (Ziff. 6). "Und endlich, daß auch diejenigen jüdischen Privatlehrer, welche Lehrstunden in den Häusern geben wollen, ihre Tüchtigkeit dazu, in einer mit ihnen zu veranstaltenden Prüfung ausweisen müssen (ebendaselbst §. 8) und ohne eine, auf den Grund des von der kompetenten Prüfungsbehörde ihnen über ihre hinlängliche Qualifikation ausgestellten Zeugnisses, von der Provincial-Regierung ertheilte Conzession, nicht befugt seyn sollen, Lehrstunden zu geben" (Ziff. 7). "Wenn nach obigen Bestimmungen in allen Punkten ernstlich verfahren, wenn alle jüdischen Winkelschulen geschlossen, wenn zugleich mit allen bisher noch nicht geprüften jüdischen Lehrern die erforderliche Prüfung vorgenommen [ ... ], wenn alle schulfähigen jüdischen Kinder in die Ortsschulen eingewiesen [ ... ) werden, so wird der wohltätige Erfolg dieser Anordnung unfehlbar in kurzer Zeit sich erweisen" (Schlusssatz). 3. Ein Reglement wegen des jüdischen Schulunterrichts des Oberpräsidenten zu Koblenz vom September 1824 (in: Altgelt 1841/1986, S. 254-256) setzte die zitierte Circularverfügung "in den Rheinprovinzen", damit auch für den RBD in Kraft. Es führte dazu die Bestimmungen der Circularver.fügung insbesondere in den Punkten: Besuch christlicher Schulen durch jüdische Schüler, Umfang und

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Beglaubigung (Zeugnis) des Elementarunterrichts sowie Zulassung und Prüfung jüdischer Religionslehrer und Privatlehrer genauer (und teils pingelig) aus: "Alle Aeltern und Pfleger israelitischer Kinder sind gehalten, denselben beim Eintritt des durch bestehende Verordnungen festgesetzten schulpflichtigen Alters, einen ordentlichen und zweckmäßigen Elementarunterricht ertheilen zu lassen, und diesen so lange fortzusetzen, bis entweder die Aufnahme in eine höhere Schule Statt finden kann [Rechtschreibung im Orig.], oder wenigstens die allgemeine Bildung so weit gefördert ist, als es überhaupt die Zulassung zu irgend einem bürgerlichen Gewerbe, oder zur unmittelbaren Vorbereitung für dasselbe erfordert. Dieser Grad der Reife ist durch ein Zeugniß der Orts-Schul-Behörde nachzuweisen und durch dieses die Befreiung von einer ferneren Schulpflichtigkeit bedingt" (§ 1). "Der Elementarunterricht der israelitischen Kinder findet statt entweder in einer der bestehenden christlichen Schulen des Wohnorts oder bei Privatlehrern oder in einer eigenenjüdischen Gemeinschule" (§ 2; "Gemeinschule" im Orig.). "Jedes israelitische schulpflichtige Kind, fiir welches nicht nachgewiesen werden kann, daß es bei einem concessionirten Privatlehrer, oder in einer jüdischen Gemeine-Schule [Rechtschreibung im Orig.] seinen Unterricht empfängt, ist verpflichtet, die christliche Bezirks-Schule seines Wohnorts zu besuchen, und zur Unterhaltung derselben und ihrer Lehrer das übliche Schulgeld[ ... ] zu zahlen"(§ 4). "Den israelitischen Familienvätern ist diese Benutzung der Wohltat des öffentlichen Unterrichts für ihre Kinder in christlichen Schulen gestattet" (§ 5). "Die israelitischen Kinder, welche christliche Schulen besuchen, sind gehalten, sich ganz nach der für dieselben bestehenden Ordnung zu richten; nur an ihren Sabbaths- und anderen ihnen gebotenen Feiertagen, sind sie von der Erfüllung derjenigen Vorschriften befreit, die mit ihren für die Feier dieser Tage gegebenen Religionsgesetzen im Widerspruch stehen" (§ 6). "Jedoch sollen die für den jüdischen Religionsunterricht etwa eigens anzunehmenden jüdischen Religionslehrer ihrer Tüchtigkeit zu diesem Geschäfte nicht bloß durch ein Zeugniß der Polizei-Behörde ihres Wohnorts über ihren unbescholtenen Lebenswandel, sondern auch durch eine Prüfung in allen von einem dem Lehrstande gewidmeten Subjekte erwarteten Kenntnissen und Geschicklichkeiten darthun, und ohne eine, auf den Grund dieser Prüfung zu ertheilende Concession, auch den Religionsunterricht zu ertheilen nicht befugt seyn" (§ 8). "Um mit diesem Religionsunterrichte, der zugleich den Unterricht in der hebräischen Sprache in sich begreift, auch den Unterricht in den übrigen Lehrgegenständen der Schule verbinden zu dürfen, bedarf es einer besonderen Concession auf den Grund einer vorhergegangen vollständigen Prüfung[ ... ](§ 9). "Ein gleiches gilt von allen jüdischen Privatlehrern [ ... ], und es haben die OrtsBehörden genau darauf zu wachen, dass kein jüdischer Privatlehrer ohne diese, von der Königlichen Regierung selbst auszustellenden Concession, Unterricht [ ... ] ertheile, widrigenfalls nicht allein seine Schule sogleich zu schließen, son-

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dem er selbst auch noch in eine Polizeistrafe von Einem bis zu Fünf Thaler zu nehmen ist" (§ 10). "Die israelitische Gemeinde-Schule mit ihren Lehrern, wie auch die concessionierten Privatlehrer mosaischen Glaubens, stehen unter der Aufsicht der Orts-, Kreis- und Departements-Schul-Behörden[ ... ]"(§ 14). "Den jüdischen Schulen ist es nicht gestattet, christliche Kinder in den Unterricht aufzunehmen"(§ 15). "Die nächste unmittelbare Aufsicht über die jüdische Gemeine-Schule fuhrt zwar ein von den betheiligten israelitischen Familienvätern aus ihrer Mitte gewählte rund von der Provincial-Behörde bestätigter Schulvorstand, jedoch ist ein von der Orts-Schulbehörde ernannter Commissarius berechtigt, die Schule zu jeder Zeit zu besichtigen[ ... ]"(§ 16). Mit der jüdischen Gemeindeschule nahm der Staat jetzt auch deren Lehrer entschlossen unter seine Kontrolle. - Die Schule wurde im ordentlichen Instanzenzug staatlicher Schulaufsicht unterstellt, wobei die lokale Schulaufsicht jederzeit erfolgen konnte und durch ein Mitglied der Zivi/gemeinde, i.e. einer Person fremder Konfession, wahrgenommen wurde. Diese Zivilpersonen waren im RBD bis 1872 in der Regel die evangelischen Pfarrer, aber auch die Direktoren kommunaler Schulen. In dieser Form konnte das unmittelbare lokale Visitationsrecht in die der Jüdische Gemeinde zustehende Selbstverwaltung der Schule eingreifen. Die Lehrer mussten Berufskompetenz- noch in der Form handwerklichen Geschicks - nachweisen, sich auf Eignung prüfen und für den Beruf selbst staatlich konzessionieren lassen. Dabei markiert die Einführung einer gesonderten Prüfung und Zulassung derjenigen jüdischen Religionslehrer, die auch elementaren Unterricht gaben bzw. geben wollten, historisch die Trennung der jüdischen Religionsschule von der jüdischen Elementarschule. Das stiftete in der Jüdischen Gemeinde ein neues Amt, i.e. dasjenige des Elementarlehrers31 . - Die Strenge der staatlichen Aufsicht über die jüdischen Lehrer indiziert im Übrigen, dass es, nach Kenntnis des Staates, bis dato mehr schlecht als recht qualifizierte Lehrer gab. Dabei hatte der Staat insbesondere die privatgewerblichen Lehrer im Auge. Sie mussten sich jetzt - oft nach langer handwerklicher Berufserfahrung und im fortgeschrittenen Alter -prüfen lassen, um weiter arbeiten zu können, was zu mancher sozialen Unverträglichkeit führte.- Den "israelitischen Familienvätern" aber und den Jüdischen Gemeinden im RBD wurde die im ALR gegebene Wahl zwischen drei Möglichkeiten, der allgemeinen Unterrichtspflicht nachzukommen, grundsätzlich bestätigt (Reglement, § 2), wobei man ihnen freilich die "Benutzung" des öffentlichen Unterrichts als "Wohltat" anempfahl (Reglement, § 5; vgl. Circularveifügung, Schlusssatz). 31

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Auch die Ausbildungsgänge der Lehrer trennten sich, vgl. Brämer 2006; Wilke 2003.

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Das diskreditierte die Privatschule bzw. den privaten Elementarlehrer und die jüdische Gemeindeschule gleichermaßen und formulierte sozusagen eine Vorentscheidung in der Schulkonkurrenz, die das Gesetz historisch eröffnete. Deren Gewinner wurde bekanntlich die öffentliche-staatliche VS. Verlierer zum damaligen Zeitpunkt (1824) war die traditionelle jüdische Schule, das Cheder32 , das unter die verbotenen ,Jüdischen Winkelschulen" fiel. Als Zweck der Schulpflichtigkeit wurde den "israelitischen Familienvätern" die allgemeine Bildung ihrer Kinder zwecks Zugang zu bürgerlichem Gewerbe vor Augen gestellt (Reglement, § 1). War im ALR nur allgemein von "nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften" (§ 1) und von "notwendigen Kenntnissen" (§ 46) die Rede, und war deren gesellschaftliche Lagerung nicht weiter expliziert, so wurde der Schulunterricht der jüdischen Kinder nunmehr gesellschaftlich qualifiziert. Das heißt, der Einstieg der Juden ins "bürgerliche Gewerbe" war den Regierungen der Rheinprovinz ein Anliegen; sie nahmen damit die politische Intention des preußischen Emanzipationsedikts von 1812 auf, das in der Rheinprovinz vorerst nur partiell galt (s.o., Kap. 1.1, S. 19, Fn. 15). Mit den beiden zitierten Rechtsakten kann das Jahr 1824 als historischer Startschuss für die jüdische VS im RBD gelten. Auf die allgemeine Unterrichtspflicht reagierten die Jüdischen Gemeinden dort mit der Eröffnung eigener Elementarschulen (Diagramm 2.3, S. 51), allerdings noch verhalten. Da die finanzielle Belastung durch eine eigene Schule groß und in der Regel höher war als die Entrichtung von Schulgeld oder anderer steuerlicher Abgaben für die kommunalen Schulen, zog man in den meisten Gemeinden vor, die unterrichtspflichtigen Kinder auf diese "öffentlichen" (sc. christlichen) Schulen zu schicken. 4. Diese kommunale und finanzielle Situation änderte sich schlagartig mit dem Gesetz über die Verhältnisse der Juden von 1847. Es bestätigte in der Abteilung "Unterrichtswesen" (§§ 60-67, in: Freund 1912, Bd. 2, S. 516-519) die Vorschriften des ALR und der Circular- Verfügung in den Punkten Schul- bzw. Unterrichtspflicht, Religionsunterricht, Konzessionierung der Lehrer, Schulaufsicht und Schulfinanzierung, setzte aber wichtige neue Akzente:"Die schulpflichtigen Kinder der Juden" sollten jetzt in die "ordentliche Elementarschule" ihres Wohnortes gehen, eigene jüdische Gemeindeschulen ("Privat-Lehr-Anstalten") blieben jedoch zugelassen (§ 60); sie konnten nunmehr auch als "öffentlichen Schulen" geführt werden, wenn sich die jeweilige Jüdische Gemeinde körperschaftlich konstituierte. Diese Schule konnte kommunal bezuschusst werden. Die umständlichen Ausführungen dazu lauten: "Eine Absonderung von den ordentlichen Ortsschulen können die Juden der Regel nach nicht verlangen; doch ist ihnen gestattet, in eigenem Interesse auf Grund diesfälliger Vereinbarungen unter sich mit Genehmigung der Schul-Behörden 32

S. Einführung, S. 8f. sowie Kap. 4.4.

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Privat-Lehr-Anstalten nach den darüber bestehenden allgemeinen Bestimmungen einzurichten. Ist an einem Orte oder Schulbezirke eine an Zahl und Vermögensmitteln hinreichende christliche und jüdische Bevölkerung vorhanden, um auch für die jüdischen Einwohner ohne deren Überbürdung eine besondere öffentliche Schule anlegen zu können, so kann, wenn sonst im allgemeinen Schulinteresse Gründe dazu vorhanden sind, die Absonderung der Juden zu einem eigenen Schulverbande auf den Antrag des Vorstandes der Synagogengemeinde angeordnet werden"(§ 64). "Eine nach §§ 64-66 errichtete jüdische Schule, hat die Eigenschaften und Rechte einer öffentlichen Schule. Insbesondere gelten dabei folgende nähere Bestimmungen" (§ 67): "Die Unterrichtssprache in einer solchen Schule muß die deutsche sein" (Ziff. 1). "Die Errichtung und Unterhaltung dieser Schule liegt in Ermangelung einer anderweitigen Vereinbarung den jüdischen Einwohnern des Schulbezirks allein ob" (Ziff. 2). "Wo die Unterhaltung der Ortsschulen eine Last der bürgerlichen Gemeinde ist, haben die Juden im Falle der Errichtung einer eigenen öffentlichen Schule eine Beihülfe aus Kommunalmitteln zu fordern, deren Höhe, unter Berücksichtigung des Vertrages der Kommunalabgaben der jüdischen Einwohner, der aus den Kommunalkassen für das Ortsschulwesen sonst gemachten Verwendungen und der Erleichterung, welche dem Kommunalschulwesen aus der Vereinigung der jüdischen Kinder in eine besondere jüdische Schule erwächst, zu bemessen, und in Ermangelung einer gütlichen Vereinbarung von den Ministern der geistlichen [etc.] Angelegenheiten und des Innern festzusetzen ist" (Ziff. 3). "Die Juden werden, wenn sie eine öffentliche jüdische Schule unterhalten, sowohl von der Entrichtung des Schulgeldes, als auch von allen unmittelbaren, persönlichen Leistungen zur Unterhaltung der ordentlichen Ortsschulen frei" (Ziff. 4). "Der Besuch der öffentlichen jüdischen Schulen bleibt auf die jüdischen Kinder beschränkt" (Ziff. 5) - diese "Beschränkung" hatte bereits das Reglement von 1824 (§ 15, s.o.) hinreichend deutlich als Verbot formuliert. Im RBD führte das Gesetz zu einem regelrechten "Gründungsboom" (Diagramm 2.3, S. 51), und das Erlassjahr kann als bildungsgeschichtliches Scheidedatum sowie als institutionelle Weichenstellung in der Geschichte der jüdischen VS in Preußen genommen werden 33 • Kann man den vor 1847 - und erst recht den vor 1824 - eingerichteten Schulen ein nachdrückliches Bildungsinteresse auf der Seite der Gründungsgemeinden zuschreiben, gilt das nach 184 7 nur noch bedingt. Anlass oder Anreiz für die Eröffnung einer eigenen VS waren jetzt auch und oft zuerst finanzieller Natur, nämlich die steuerliche Entlastung wie oben zitiert. 33

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In der lokalgeschichtlichen Rekonstruktion (Kap. 3.2) in der Rubrik "Historische Funktion" auch so gehandhabt.

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Diese Entlastung galt zuerst ftir die "öffentliche" jüdische Gemeindeschule. Die Öffentlichkeitsanerkennung erfolgte durch Kommune und Regierung- wegen der Folgekosten (die Entlohnung der Lehrer musste kommunaler Besoldung angeglichen werden) zeigte sich im weiteren Verlauf der Geschichte nicht jede Gemeinde daran interessiert. -Zur Errichtung einer "öffentlichen" bzw. einer vom Staat als "öffentlich" anerkannten VS hatten die Jüdischen Gemeinden einen Schulverband ("Schulsozietät") zu bilden. Diese Körperschaften trugen die materielle Last der Schulen34 , während die Schulaufsicht allein dem Staat zukam; zum Schulunterhalt trug er nur geringfügig durch Zuschüsse bei. Der in erster Linie zuständige Zuschussgeber flir die jüdischen Volksschulen waren die Kommunen. Die gesetzliche Vorschrift des Deutschen als Unterrichtssprache in der "öffentlichen" jüdischen Gemeindeschule verbot im Klartext Jiddisch ("Judendeutsch") als Unterrichtssprache und brachte damit ftir die Jüdische VS eine Funktion kultureller Integration oder Entfremdung mit sich -je nach Sicht der Dinge. Die Vorschrift integrierte in den deutschen Sprach- und Kulturraum, entfremdete die Juden seinerzeit jedoch ihrer vorherrschenden Alltagssprache sowie des Hebräischen in Wort und Schrift, was sich anfänglich auch als intergenerative Entfremdung zwischen Eltern und Schulkindem niederschlug. - Bewahrende Funktion bereits auf der Sprachebene wuchs dagegen dem Religionsunterricht zu, abhängig jedoch davon, ob die religiösen Schriften in hebräischer oder in lateinischer Schrift vor- und durchgenommen wurden. Diesbezügliche Normierungen der Lesebücher kamen erst ein Vierteljahrhundert später. 5. Nach der Reichsgründung 1871 wurde zunächst die staatliche Schulaufsicht ftir ganz Preußen endgültig festgestellt, noch bestehende geistliche (katholische wie evangelische) und weltliche (grundherrschaftliche) Sonderrechte wurden aufgehoben. Das Gesetz betr. die BeaufSichtigung des Unterrichts- und Erziehungswesens vom März 1872 (in: Zur Geschichte der Volksschule, Bd. II 1974, S. 31f.) hielt nunmehr abschließend fest: "Unter Aufhebung aller in einzelnen Landesteilen entgegenstehenden Bestimmungen steht die Aufsicht über alle öffentlichen und Privatunterrichts- und Erziehungsanstalten dem Staate zu" (§ I). 6. Dem folgte ein Erlaß des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom März 1874 (in: Verordnungen, betreff das Volksschulwesen in Preussen, 1874, S. 269), der bestätigend regulierte, "dass die jüdischen gleich den christlichen Schulen neben der stattfindenden Local-Aufsicht der Aufsicht des betreffenden Kreisschulinspectors [Hervorhebung im Orig.] zu unterstellen" seien. - Der Erlass wurde im September 1874 von der Regierung Düsseldorf übernommen. Damit wurde der vor genau 50 Jahre flir die Rheinprovinz Preußens bereits hinreichend 34

Auch in den Zivilgemeinden, vgl. u.a. Leschinsky/Roeder 1976; zur Rechtslage und Schulträgerschaft: Freund 1908.

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durchbuchstabierten Schulaufsicht (Reglement von 1824, § 14, s.o.) erneut nachgegangen - möglicherweise hatte sie sich in praxi noch nicht (allerorts) wünschenswert gründlich eingespielt. Das solle sich ändern; im RBD entging hinfort dem scharfen Auge der Schulinspektion weder eine Zigarre unter den Büchern des Lehrers auf dem Pult35 noch ein "minderwertiges" Kaiserbild36 • 7. Die dem berühmten SchulaufSichtsgesetz aus dem MGUMA 37 nachfolgende schulhistorisch ebenso berühmte Allgemeine Verfügung über Einrichtung, Aufgabe und Ziel der preußischen Volksschule vom Okt. 1872 (in: Zur Geschichte der Volksschule, Bd. II 1974, S. 32ff.) unternahm dann die Normierung des Aufbaus und des Unterrichts der VS in Preußen. Die AVEAZ bestimmte u.a.: "In der einklassigen Volksschule werden Kinder jeden schulpflichtigen Alters in ein und demselben Lokale durch einen gemeinsamen Lehrer gleichzeitig unterrichtet. Die Zahl derselben soll nicht über achtzig steigen. In der einklassigen Volksschule erhalten die Kinder in der Unterstufe in der Regel wöchentlich 20, der Mittel- und Oberstufe 30 Lehrstunden, einschließlich des Turnens flir die Knaben und der weiblichen Handarbeiten flir die Mädchen" (Art. 2). "Sind zwei Lehrer an einer Schule angestellt, so ist der Unterricht in zwei gesonderten Klassen zu erteilen. Steigt in einer solchen Schule die Zahl der Kinder über hundertzwanzig, so ist eine dreiklassige Schule einzurichten" (Art. 4). "Für mehrklassige Schulen [ ... ] ist rücksichtlich der oberen Klassen eine Trennung der Geschlechter wünschenswert" (Art. 6). "Wo an einem Orte mehrere einklassige Schulen bestehen, ist deren Vereinigung zu einer mehrklassigen Schule anzustreben" (Art. 7). "Das Schulzimmer muß mindestens so groß sein, daß auf jedes Schulkind ein Flächenraum von 0,6 qm kommt; auch ist daflir zu sorgen, daß es hell und luftig sei, eine gute Ventilation habe, Schutz gegen die Witterung gewähre und ausreichend mit Fenstervorhängen versehen sei. Die Schultische und Bänke müssen in ausreichender Zahl vorhanden und so eingerichtet und aufgestellt sein, daß alle Kinder ohne Schaden flir die Gesundheit sitzen und arbeiten können. Die Tische sind mit Tintenfässern zu versehen. Zur ferneren Ausstattung des Schulzimmers

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Kap. 3.2: Oberhausen (2. Schule), Lehrer MOSES BLOCK. Kap. 3.2: Essen-Kettwig, unter "Curriculum". Seit Jan. 1872 unter ADALBERT FALK.- Mit der AVEAZ setzte FALK das Unterrichtsregulativ von 1854, das Dritte der drei "STIEHLschen Regulative" (nach dem seinerzeit federführenden Oberregierungsrat im MGUMA, A. W. FERDINAND STIEHL; er ging 1872 in den Ruhestand) außer Kraft; mit diesem Regulativ war die VS (mit den ersten beiden Regulativen war die Volksschullehrerausbildung) in Preußen gesinnungsbildend auf Thron und Altar (evangelischer Couleur) eingeschworen worden. - Die Regulative werden schulgeschichtlich kontrovers diskutiert, vgl. zuletzt Kemnitz/Ritzi (Hg.) 2005.- Die von FALK durchgezogene Schulgesetzgebung war Teil des "Kulturkampfs" (s.u., S. 37, Fn. 43). FALK demissionierte 1879.

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gehört namentlich eine hinreichende Anzahl von Riegeln für Mützen, Tücher, Mäntel u. dergl.; ferner eine Schultafel mit Gestell, eine Wandtafel, ein Katheder oder ein Lehrertisch mit Verschluß, ein Schrank für die Aufbewahrung von Büchern und Heften, Kreide, Schwamm" (Art. 8). "Für den vollen Unterrichtsbetrieb sind erforderlich: 1. je ein Exemplar von jedem in der Schule eingeführten Lehr- und Lernbuche [Hervorhebung im Orig.], 2. ein Globus, 3. eine Wandkarte von der Heimatprovinz, 4. eine Wandkarte von Deutschland, 5. eine Wandkarte von Palästina38, 6. einige Abbildungen für den weltkundliehen Unterricht, 7. Alphabete weithin erkennbar auf Holz- oder Papptäfelchen geklebter Buchstaben zum Gebrauch beim ersten Leseunterricht, 8. eine Geige, 9. Lineal und Zirkel, 10. eine Rechenmaschine; in evangelischen Schulen kommt noch hinzu: 11. eine Bibel und 12. ein Exemplar des in der Gemeinde eingeführten Gesangbuches. Für die mehrklassigen Schulen sind die Lehrmittel angemessen zu ergänzen" (Art. 9). "Lernmittel für die Schüler der Volksschule mit einem oder zwei Lehrern [Pluralsubstantiv im Original] sind folgende: a) Bücher: 1. die Lesefibel und das Schullesebuch, 2. ein Schülerheft für den Rechenunterricht, 3. ein Liederheft, außerdem für den Religionsunterricht besonders eingeführte Bücher, b) eine Schiefertafel nebst Griffel, Schwamm, Lineal und Zirkel, c) Hefte mindestens: 1. ein Diarium, 2. ein Schönschreibheft, 3. ein Heft zu orthographischen und Aufsatzübungen, auf den oberen Stufen 4. ein Zeichenheft" (Art. 11 ). "Die Volksschule, auch die einklassige, gliedert sich in drei Abteilungen, welche den verschiedenen Alters- und Bildungsstufen der Kinder entsprechen. Wo eine Volksschule vier Klassen hat, sind der Mittelstufe zwei, wo sie deren sechs hat, jeder Stufe zwei Klassen zuzuweisen" (Art. 12). Weiter werden dann die "Lehrgegenstände der Volksschule" (Art. 13) sowie die Aufgaben und Ziele der einzelnen Fächer, besonders des evangelischen Religionsunterrichts (Art. 15-21i9 genauer bestimmt. Mit ihren peniblen Vorschriften bildet die A VEAZ dreierlei ab: 1. die Entschlossenheit des Staates, schulische Standards durchzusetzen, 2. eine daraus sowie aus nunmehr festgeschriebener staatlicher Alleinzuständigkeit entspringende Regelungswutund 3. den Innenraum der deutschen VS. Hier wird das bei uns immer noch folkloristisch präsente Bild der VS im Wortsinne vorbildlich fixiert: ein

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Diese Vorschrift mag heute missverständlich sein; die Palästinakarte zeigte das alttestamentarische Palästina und war für den "Unterricht in der biblischen Geschichte" (Art. 16) vorgeschrieben; sie wollte also nicht das zionistisch erträumte Heimatland des jüdischen Volkes präsentieren, kann aber in der jüdischen VS so funktioniert haben; dass die jüdische VS ab 1937 explizit auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten wollte (s.u.), ist eine dieser denkwürdigen Volten historischer Vernunft. Über den katholischen Religionsunterricht bestimmte der Preußische Staat lediglich hinsichtlich des Umfangs, nicht des Inhalts (vgl. AVEAZ, Art. 14).

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gedrängt voller Klassenraum, linear geordnet durch Bankreihen (Tintenfassbänke!), mit vollen Kleiderhaken an den Wänden, vor Kopf ein Wandbild oder eine Stehtafel und das erhöhte(!) Lehrerpult Seinerzeit waren diese Innenausstattung und die weiteren Normsetzungen insbesondere zur Mittelausstattung der VS in Preußen fortschrittlich. Das gibt das Gesetz auch indirekt zu erkennen, schließt man von seinen Vorschriften auf die bestehende Realität, besonders die des Schulraums - man mag sie heute kaum mehr glauben. 40 Aus heutiger Sicht kein schulgeschichtlicher Fortschritt war hingegen die sich jetzt erstmals auch in der VS ankündigende, vorerst nur für deren "obere Klassen" empfohlene Geschlechtertrennung (Art. 6) nebst geschlechtsstereotypen Unterrichtsfixierungen wie "Unterricht in weiblichen [sie!] Handarbeiten" (Art. 38) versus "Turnunterricht [ ... ] für die Knaben" (Art. 37). Bislang hatte solche Geschlechtsstereotypie die von ihren historischen Anfängen an koedukative VS 41 nicht geplagt, insbesondere nicht die jüdischen Volksschulen im RBD. Ihnen machte vielmehr zu schaffen, dass jetzt zusätzliche Lehrkräfte - eben für den Sport- und Handarbeitsunterricht - eingestellt werden mussten, und das ftir eine in der Regel kleine Schülerschaft. Die Schulen kamen dem auch bis zum Ende des Jahrhunderts nur sehr verzögert und auch nicht kontinuierlich nach. Generell konnten sie beim verordneten schulischen Fortschritt schlecht mithalten. Anders als bei den öffentlichen Volksschulen lag ihr Problem nicht in der Überfüllung, sondern zunehmend im Mangel an Schülern (weshalb die allermeisten von ihnen im RBD einklassig blieben) - von 80 Schülern konnten sie nur träumen. Vielerorts wurden sie seinerzeit wie in der Folgezeit von kaum mehr als von einem Dutzend Kinder besucht, hier und dort waren es auch noch weniger. 42 Das wirkte sich problematisch auf die bildungspolitische Akzeptanz und die öffentliche Subventionierung der jüdischen Volksschulen aus. 8. Zur Existenzfrage wurde die Größenfrage in dem Moment, in dem der Staat darauf aus war, die - nach seinem Ermessen - zu kleinen konfessionellen Volksschulen zu schließen und/oder zusammenzulegen (vgl. AVEAZ, Art. 7), um der öffentlichen und der paritätischen VS den Vorrang zu geben. Zwar stellte das die konfessionelle Volksschule generell in Frage, gefährdete aber besonders die jüdi40 41

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So kommt dem Käfig-Huhn nach EU-Norm mehr Raum zu als dem Schulkind damals nach Art. 8 des zitierten Gesetzes, nämlich 0,8 qm. Geschlechtertrennung zeichnete die "höhere" im Unterschied zur "niederen" Schule aus; sie war allein schon dadurch gegeben, dass es eine öffentliche "höhere" Schule für Mädchen in Deutschland erst sehr spät gab, in Preußen wurde sie erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts institutionalisiert. Über Jahrzehnte etwa in Kalkar, Kempen und Viersen-Dülken, s. jeweils Kap. 3.2.; s. auch Zahlenangaben in der Fn. 48.

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sehen Volksschulen, eben wegen kleiner und auch stark schwankender Schülerzahlen sowie, damit verbunden, wegen ihrer bedürftigen Finanzlage einschließlich der Unterbezahlung ihrer Lehrer. Der Staat wusste dies zu nutzen. So bestimmte ein Reskript des MGUMA vom Mai 1873 (in: Verordnungen, betreff das Volksschulwesen in Preussen, 1874, S. 269): "dass, wenn die Kräfte der jüdischen Hausväter[ ... ] zur Unterhaltung eines eigenen Schulsystems nicht ausreichen, beziehungsweise ein jüdischer Lehrer für dasselbe unter den obwaltenden Verhältnissen nicht zu gewinnen ist, auf die Schließung der vorhandenenjüdischen Schule wird Bedacht zu nehmen sein". Nachdem die Schulaufsicht im einheitlichen Instanzenzug ftir ganz Preußen abschließend festgelegt und die VS im Innern normiert war, erwuchs neuer schulpolitischer Regelungsbedarf aus der konfessionellen Lage der VS in Preußen. Der Umstand, dass dort die evangelische VS vom Staat her Regelschule war, führte zum Konflikt zwischen der Katholischen Kirche als Schulträger und dem Preußischen Staat als Träger der Schulaufsicht, zu dem auch die entstandenen V erwerfungen in der Schulunterhaltungspflicht - ungleiche Belastung der Schulverbände, ungleiche Bezahlung der Volksschullehrer wie überhaupt die ungleiche Verteilung der Schullasten zwischen kommunalen Schulträgern einerseits und dem aufsiehtführenden Staat andererseits- beitrugen.43 9. In Preußen klärte das Volksschulunterhaltungsgesetz vom Juli 1906 die konfessionelle wie die Unterhaltsfrage abschließend. 44 Es erklärte die VS grundsätzlich zur kommunalen Angelegenheit, regelte konfessionelle Minoritätslagen, bestätigte dabei grundsätzlich die Konfessionsschule, gewährleistete aber auch separaten Religionsunterricht in der öffentlichen VS und blieb damit der Simultanschule auf der Spur: "Die Errichtung und Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen liegt [... ] den bürgerlichen Gemeinden und selbständigen Gutsbezirken ob. Gemeinden (Guts43

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Der Schulkonflikt entstand in den katholischen Provinzen Preußens, so auch in der Rheinprovinz. Er war Teil des berüchtigten "Kulturkampfs" (vgl. u.v.a. Penzig 1905) zwischen dem säkularisierten Staat und der Katholischen Kirche in Deutschland im ersten, innenpolitisch liberalen Jahrzehnt nach der Reichsgründung; er forcierte (mit der oben zit. Gesetzgebung von 1872) im Schulsektor die staatliche Schulaufsicht und brachte wie dargelegt die Simultanschule gegen die Konfessionsschule in Stellung. Der "Kulturkampf" entzweite auch Katholiken und Protestanten, die jüdische Bevölkerung war nicht direkt betroffen. Schulhistorisch ausgewählt in: Michael/Schepp (Hg.) 1993, S. 192ff.- Das umfangreiche Regelwerk, diktiert von "aufgeklärtem Despotismus oder Bürokratismus" (LOEVINSON 1906, S. 10, 11), trat erst 1908 in Kraft; zur Überlieferung und zum Diskurs: Bremen (Hg.) 1908; Rohrscheidt 1925; zur praktischen Handhabung und Fortschreibung: Degenhardt 1936; zur Diskussion in den Jüdischen Gemeinden wortfiihrend: LOEVINSON 1906.

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bezirke) bilden entweder einen eigenen Schulverband oder werden behufs Unterhalt einer oder mehrerer Volksschulen zu einem gemeinsamen Schulverbande (Gesamtschulverbande) vereinigt" ( § 1). "Die öffentlichen Volksschulen sind in der Regel so einzurichten, dass der Unterricht evangelischen Kindem durch evangelische, katholischen Kindem durch katholische Lehrkräfte erteilt wird"(§ 33).- Bei einer Zahl von "dauernd mindestens 12 evangelischen oder katholischen Schülern soll jeweils besonderer Religionsunterricht gegeben werden"(§ 37).- "Lediglich wegen des Religionsbekenntnisses darf keinem Kinde die Aufnahme in die öffentliche Volksschule semes Wohnortes versagt werden"(§ 34). Diese Toleranzbekräftigung 112 Jahre nach den entsprechenden Vorschriften des ALR (§§ 10, 11, s.o.) indiziert zum einen, dass es in der Schulwirklichkeit konfes-

sionell verursachte Schulverweise wohl gegeben hat. Im RBD lässt sich das in einzelnen Fällen feststellen45 ; auch ist dort die Missachtung des Toleranzgebots in der Form erzwungener Teilnahme jüdischer Schüler an christlichen Andachten vorgekommen. 46 Für die Jüdischen Gemeinden waren die Minoritätsregelungen wichtig, ein Affront war, dass sie dabei im Gesetzestext nicht durchgehend ausdrücklich berücksichtig wurden, vielmehr in der Regel von evangelischer bzw. katholischer Bevölkerung und Schülerschaft die Rede ist. So hatten die christlichen Schüler ab einer bestimmten Zahl (60 auf dem Lande, 120 in der Stadt) das Recht auf eine VS ihres Bekenntnisses, die jüdischen Kinder aber nicht. 47 Im RBD lagen entsprechend hohe Schülerzahlen allerdings auch nur in einem Falle vor48 . - Hingegen galt für die jüdischen Schüler prinzipiell die separate Regelung des Religionsunterrichts in der öffentlichen VS, die ihnen deren Besuch sehr erleichterte. Sie mussten die Schule für ihren Religionsunterricht nicht mehr verlassen und damit den regulären Unterricht dort unterbrechen, vielmehr kam der jüdische Religionslehrer jetzt zu ihnen in die Schule. 45 46

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S. Kap. 3.2: Kleve und Sonsbek, dortjeweils unter "Gesellschaftliches Profil". Z.B. in Wuppertal-Elberfeld 1872, vgl. ["Befreiung jüdischer Schüler vom evangelischen Schulgottesdienst in einer Biberfelder Realschule"] sowie ["Der Direktor der Biberfelder Realschule zum Vorwurf, das konfessionelle Selbstbestimmungsrecht seiner Schüler einengen zu wollen"] und ["Verstoß des Realschuldirektors Schacht gegen das konfessionelle Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Schüler"]. Daftir wurden die Jüdischen Gemeinden jetzt in die kommunale Schulaufsicht einbezogen: ab einer Zahl von 20 jüdischen Kindem in öffentlichen Schulen hatte der örtliche Rabbiner Sitz und Stimmrecht in den Gremien der kommunalen Schulaufsicht (mit dem Gesetz zur Anderung der Bestimmungen des Volksschulunterhaltungsgesetzes vom 18.12.1933 aufgehoben). Essen.- Die jüdischen Volksschulen im RBD hatten 1906/08 etwas über 20 Schüler, die realen Zahlen lagen zwischen vier und 177; mit diesem statistischen Ausreißer (Essen) liegt die Durchschnittszahl bei 30, ohne ihn bei 22.

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Allerdings waren die jüdischen Religionslehrer Angestellte der Jüdischen Gemeinden und als solche von ihnen, nicht von den Kommunen, zu bezahlen. Daher griff das VuG auf die Vorschriften des GüVJvon 1847, § 67, Ziff. 3 (s.o.) zurück und bestätigte nunmehr ausdrücklich für "den ganzen Umfang der Monarchie" (VuG, § 40), dass den Jüdischen Gemeinden als Schulverbänden kommunale Beihilfe zustände, und dies auch flir den jüdischen Religionsunterricht in kommunalen Schulen. Damit wurde- nebenbei- die seit 1847 gegebene und in der Regel strittig geführte Verhandlung zwischen den Jüdischen Gemeinden und den Kommunen über den Zuschuss zum Gehalt des jüdischen Lehrers um eine Facette reicher. Streiten konnte man jetzt auch darüber, und das war vielerorts tatsächlich der Fall, ob der Zuschuss für den jüdischen Religionslehrer zu zahlen sei, wenn er an den öffentlichen Schulen unterrichtete, da er als solcher bei der Jüdischen Gemeinde im Amt war. Mit dem VuG war die Separierung der jüdischen VS weiterhin grundsätzlich anerkannt, schulpolitisch jedoch erneut unterminiert. Denn in der zitierten Regelung des Religionsunterrichts kannte das Gesetz in der Auslegung als paritätische Fallgruppe neben der christlichen (evangelisch-katholischen) wiederum die christlichjüdische VS, wie sie sie grundsätzlich schon die AVEAZ von 1872 (Art. 7, s.o.) als Zusammenlegung kleiner einklassiger V alksschulen ins Auge gefasst hatte. Seinerzeit waren die wenigen in der "Ära FALK" (s.o., S. 34, Fn. 37), dem schulliberalen ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung, durch den Zusammenschluss der zugehörigen Schulverbände eingerichteten christlich-jüdischen V olksschulen49 in den beiden Folgejahrzehnten zumeist durch die unterlassene Einstellung jüdischer Lehrer rekonfessionalisiert worden (vgl. ADLER 1913; Noth 1911)- die Jüdischen Gemeinden hatten das Nachsehen (s. Kap. 3.2: Düsseldorf, Duisburg [1. Schule], Mülheim a.d. Ruhr). Im RBD konnte man nur in zwei Fällen bei der Rekonfessionalisierung durch die alsbaldige Wiedereröffnung der Gemeindeschule mithalten (s. Kap. 3.2: Essen-Kettwig und Mönchengladbach-Rheydt50 ). Daraus klug geworden, suchten die Jüdischen Gemeinden nunmehr nachdrücklich, ihre durch Schülerschwund bedrohten Volksschulen zu legitimieren. Dazu trug man begründend insbesondere den Aspekt einheitlicher religiöser Erziehung in der Schule vor. Solche Argumentation konnte aber weder die Marginalisierung

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Vom liberalen Judentum seinerzeit grundsätzlich begrüßt, vgl. u.v.a. ["Einführung von Simultanschulen"], 1875, dazu ["Der Regierungspräsident von Bitter zur Aufhebung der Konfessionsschulen"] 1876; zur zeitgenössischen Diskussion: RIES 1886. Schließung und Wiedereröffnung der jüdischen VS in Kempen (1875/1879) hatte besondere lokale Gründe.

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der jüdischen VS verhindem noch überhaupt den schulhistorische Prozess der Verdrängung der konfessionellen durch die simultane VS aufhalten. 51 10. Verstaatlichung und Entkonfessionalisierung der VS in Preußen und in Deutschland wurden in der Weimarer Republik kraft Verfassung durchgesetzt. Die Reichsverfassung von 1919 erhebt die VS zur Pflichtschule: "Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre" (Art. 145). Private Vorschulen wurden verboten (Art. 147, Abs. 3), private Volksschulen nur im Ausnahmefalle zugelassen, "wenn für eine Minderheit der Erziehungsberechtigten [ ... ] eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt" (Art. 147, Abs. 2); sie mussten staatlich genehmigt werden und unterstanden weiterhin den Landesgesetzen. Zudem sollte die VS hinfort im Normalfalle 52 als Simultanschule eingerichtet werden ("eine für alle gemeinsame Grundschule", Art. 146; kursiv: GMK)- damit hatte sich diese Schulform nach einem Jahrhundert durchgesetzt. 53 Religionsunterricht wird zum "ordentlichen Lehrfach der Schulen mit Ausnahme bekenntnisfreier (weltlicher) Schulen" und "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaften" erteilt (Art. 149). Damit war jüdischer Religionsunterricht in der öffentlichen VS jetzt verfassungsrechtlich gesichert, und zwar unabhängig von Schülerzahl und Unterrichtskosten. Die Jüdische VS verlor einen ihrer historischen Legitimationsgründe. 11. Das Reichsgrundschulgesetz von 1920 (in: Zur Geschichte der Volksschule, Bd. II 1974, S. 58) führte die zitierten Verfassungsartikel genaueraus und regelte sie institutionell, insbesondere durch die Festlegung von Übergangsfristen für die bestehenden Vorschulen. Grundsätzlich heißt es dort: "Die Volksschule ist in den vier untersten Jahrgängen als die für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut, ein51

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Zwischen 1886 und 1911 nahm die Zahl jüdischer Volksschulen in Preußen von 318 auf 219 ab, die Zahl der paritätischen Schulen stieg von 503 auf 1568 ("Die Entwicklung der jüdischen Volksschulen in Preußen von 1886 bis 1911", 1913); zur Entwicklung in der Folgezeit s.u., Fn. 55. Der berühmte "Weimarer Schulkompromiss" zwischen den Parteien der Weimarer Koalition ließ indes Bekenntnisschulen weiterhin zu: "Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb [ ... ] nicht beeinträchtigt wird" (Art. 146, Abs. 2; kursiv GMK). -Zur schulpolitischen Diskussion und Verhandlung vgl. Die Reichsschulkonferenz 1920, 1921. Sie war in Preußen schon 1821 ins Auge gefasst worden (Allerhöchste Kabinetsorder über Simultan-Schulen v. 4. Okt. 1821, in: Altgelt 1841/1986, S. 116).

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zurichten"(§ 1). "Die bestehenden öffentlichen Vorschulen und Vorschulklassen sind alsbald aufzuheben. [... ] . Für private Vorschulen und V arschulklassen gelten die gleichen Vorschriften" (§ 2). "Privatunterricht fiir einzelne Kinder oder gemeinsamer Privatunterricht fiir Kinder mehrerer Familien [ ... ] darf an Stelle des Besuchs der Grundschule nur ausnahmsweise in besonderen Fällen zugelassen werden"(§ 4). Die beiden zitierten Rechtsakte (Reichsverfassung und Reichsgrundschulgesetz) dokumentieren den gesellschaftspolitischen Willen, die VS in Deutschland nun endlich und tatsächlich als allgemeine Schule oder, wie von den Schulreformern seinerzeit formuliert wurde, als "wirkliche Volksschule", als Schule für alle Kinder des Volkes ungeachtet der Religionszugehörigkeit und der sozialen Klassenzugehörigkeit54 durchzusetzen - dies zumindest in der Volksschulunterstufe, die nunmehr zur Grundschule mit einem ordentlichen Abgangzeugnis für weiterfuhrende Schulen wurde. Der gesetzlich zugeschriebene gesellschafts- und bildungspolitische Funktionszuwachs fiir die öffentliche VS sah alle Separatschulen, in Sonderheit die jüdischen VS, als historische Verlierer. Wurde gesellschaftliche Integration zur politischen Schulaufgabe, wurden die jüdischen Volksschulen gesamtgesellschaftlich überflüssig. Ob sie innerjüdische Funktionen hatten, die von öffentlichen Schulen -jeweils auch vor Ort - nicht zu ersetzen, ob sie mithin für die Jüdischen Gemeinden selbst verzichtbar waren oder nicht, hing vom Bildungs- und Schulinteresse in den Jüdischen Gemeinden ab. Im RBD variierte es historisch beträchtlich.

De facto ging die Zahl der jüdischen Volksschulen in den 1920er Jahren rapide zurück. Im RBD wurde zwischen 1920 und 1932 acht der 1919 noch bestehenden 19 Schulen geschlossen. 55 Sie waren zu klein, um dem gesetzlich vorgesehenen Ausbau leisten zu können 56 und aus der Sicht der finanzierenden Kommunen lan54

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Private Vorschulen besuchten bekanntlich die Kinder der "besseren Kreise" (mittleres und "oberes" Bürgertum); sie wechselten von dort direkt auf mittlere oder höhere Schulen, umgingen mithin die Volksschulunterstufe, und so blieben die Kinder des "niederen" Volkes (nach sozioökonomischer Schichtung: Kleinbürger, Arbeiter und Proletarier) in der VS unter sich. Im selben Zeitraum- gerrauer zwischen 1920 und 1927- ging die Zahl der jüdischen Volksschulen in ganz Preußen von 207 auf 124 zurück ("Zum jüdischen Volksschulwesen in Deutschland", 1931, S. 144), in den Freistaaten Bayern und Württemberg waren die Rückgänge vergleichbar "katastrophal", wofür der Berichterstatter zur zitierten Statistik insbesondere den "Zug nach der Großstadt" verantwortlich macht, der "den Juden eigentümlich" sei (a.a.O., S. 145); s. auch die Fn. 57. Einrichtung der Unterstufe als vierjährige Grundschule und weiterfuhrender bzw. fortbildender Klassen über das 8. Schuljahr hinaus (im RBD im Einzelfall erst nach 1933 realisiert, s.u., S. 45, Fn. 64).

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Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

ge schon unrentabel. Damit reduzierte sich der Anteil jüdischer Kinder, die auf jüdische Volksschulen gingen, erneut erheblich.57 Im Kaiserreich durch das Schulwahlverhalten der Eltern verursacht, ergab sich der negative Trend jetzt aus den Schulschließungen. 12. Die schulgeschichtliche Entwicklung zur "wirklichen Volksschule" gipfelte im nationalsozialistischen Deutschland mit dem Reichsschulpflichtgesetz vom Juli 1938 (in: Zur Geschichte der Volksschule, Bd. II 1974, S. 8lf.). Es organisierte die VS als "reichsdeutsche" Pflichtschule und bestimmte dazu u.a.: "Die Schulpflicht ist durch Besuch einer reichsdeutschen Schule zu erfüllen. Über Ausnahmen entscheidet die Schulaufsichtsbehörde" (Art. I, Ziff. 1, Satz 2).- "Für alle Kinder, die bis zum 30. Juni das 6. Lebensjahr vollenden, beginnt mit dem Anfang des Schuljahres die Pflicht zum Besuch der Volksschule" (Art. II, Ziff. 2, Satz 1)- "Die Volksschulpflicht dauert acht Jahre" (Art. II, Ziff. 2, Sätze 4 und 5). - "Zum Besuch der Volksschule sind alle Kinder verpflichtet, soweit nicht für ihre Erziehung und Unterweisung in anderer Weise ausreichend gesorgt ist" (Art. II, Ziff. 5, Satz 1). Wurde hier die VS als achtjährige allgemeine Pflichtschule konstituiert, und war damit die größte institutionelle Integration im allgemeinbildenden deutschen Schulsystem erreicht, so war unter "reichsdeutsch" zugleich eine neue und eine politisch handhabbare Separierung gegeben. Sie traf in erster Linie jüdische Schüler - sie wurden mit rassepolitischer Begründung aus dem "reichsdeutschen" Schulsystem "ausgesondert" (Wiegmann 1988).58 Die Schulgesetzgebung funktionierte dabei als Teil des "Sonderrechts" (Walk [Hg.] 1981), mit dem die Juden im nationalsozialistischen Deutschland zunächst drangsaliert, dann schrittweise als Bürger entrechtet und aus dem Deutschen Reich ausgeschlossen wurden. 59 57

58 59

42

Maximal ein Fünftel aller jüdischen Schüler, so: Maurer 2003, S. 372. Kaplan 2003b, S. 266, Richarz 1991, S. 184 und Schatzker 1988, S. 38 nennen denselben Anteil mit Stichjahr 1906 fiir ,jüdische Schulen" allgemein - alle vier Autoren unterscheiden jedoch nicht zwischen elementarem (Unterstufe) und vollem Besuch der jüdischen VS; der negative Trend im Schulbesuch bleibt davon jedoch unberührt. Für Preußen, das Land mit den meisten jüdischen Volksschulen, gibt es eine genaue Zahl: 1931 waren dort 32% aller jüdischen Volksschüler (insgesamt 25.370) auf einer jüdischen VS, 68% (ca. 17.350) besuchten hingegen kommunale Volksschulen (Röcher 1992, S. 76). Zur Jüdischen Schule im NS-Staat u.v.a. bes. Keim 1997; Röcher 1991, 1992; Ortmeyer 2000; Walk 1986, 1991. Zur speziellen Rechtsentwicklung: Bilski 1994; Röcher 1992; Weiss 1991; im Volksschulsektor: Wiegmann 1988; gesetzliche Bestimmungen und Erfahrungsberichte bei Lehberger 1986; Dokumentation der allgemeinen Schulgesetzgebung in: Nationalsozialismus und Schule, 1989; Dokumentation der Volksschulgesetzgebung in: Die Volksschule im NS-Staat, 1940/2000.

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

13. Im Bildungssektor begann dieser Prozess politisch und mental vorbereitend mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns vom 7. April1933 (RGBl. I, 1933, S. 175), das zwecks Wiederherstellung eben des "nationalen" Beamtenturns (§ 1.1) die Entlassung u.a. von Beamten (i.e. im vorliegenden Falle von Lehrern an öffentlichen Schulen) "nicht arischer Abstammung" (§ 3.1) ermöglichte, sowie dem nachfolgenden Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April1933 (RGBl. I, 1933, S. 225f.), das bei der Bestimmung des Zulassungsquorums für höhere Schulen und Universitäten Schüler und Studenten "nicht arischer Abstammung" "im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" identifizierte(§ 4.1).60 14. Sodann bereitete ein Runderlaß des REM' vom 10. Sept. 1935 (in: Nationalsozialismus und Schule, 1989, S. 265f.) über die Errichtung gesonderter jüdischer Schulen den Ausschluss der jüdischen Schüler aus deutschen Schulen mit offen antisemitischer und rassistischer Begründung vor; er behauptete und kündigte großspurig an: "Eine Hauptvoraussetzung für jede gedeihliche Erziehungsarbeit ist die rassische Übereinstimmung von Lehrer und Schüler. Kinder jüdischer Abstammung bilden für die Einheitlichkeit der Klassengemeinschaft und die ungestörte Durchführung der nationalsozialistischen Jugenderziehung auf den allgemeinen öffentlichen Schulen ein starkes Hindernis. [ ... ] Die Herstellung nationalsozialistischer Klassengemeinschaften als Grundlage einer auf dem deutschen Volkstumsgedanken beruhenden Jugenderziehung ist nur möglich, wenn eine klare Scheidung nach der Rassenzugehörigkeit der Kinder vorgenommen wird. Ich beabsichtige daher, vom Schuljahr 1936 ab für die reichsangehörigen Schüler aller Schularten eine möglichst vollständige Rassentrennung durchzuführen".

60

61

Ausnahmen wurden bekanntlich flir Schüler und Studenten gemacht, deren Väter im 1. Weltkrieg Frontkämpfer gewesen waren sowie für Schüler und Studenten, deren Eltern oder Großeltern zur Hälfte "arischer Abkunft" waren (§ 4.3); vom "Berufsbeamtengesetz" waren ausgenommen (bis 1935): vor dem 1.8.1914 eingestellte Beamte, Frontsoldaten (1. Weltkrieg) sowie Beamte, deren Vater oder Söhne im 1. Weltkrieg gefallen waren(§ 3.2). BERNHARD RUST (seit April 1934); mit ihm geht die Schulzuständigkeit historisch erstmals auf das Reich über. RUST hatte zum Aussonderungszweck bereits 1934 einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des jüdischen Schulwesens vorgelegt und eine statistische Erhebung veranlasst; sie ergab u.a., dass nur 0,4% aller Volksschüler (genau 21.196) in Preußen jüdischer Konfession waren (oder zugerechnet wurden), vgl. im Einzelnen Wiegmann 1988, S. 786.- Statistische Zahlen (Schulen und Schüler) insgesamt (1931-1942) bei Keim 1997, Bd. 2, S. 224, für Preußen, Bayern Württemberg und Baden (1931/32-bis 1940) bei Walk 1991, S. SOff.; eine Karte zur Verteilung jüdischer Schulen im Deutschen Reich 1937 bei Fehrs 1993, s. 374.

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Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

15. Endlich lieferte das Attentat von HERSCHEL GRYNSZPAN auf den Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris am 7. Nov. 193862 dem REM den entscheidenden Handlungsvorwand dafiir, jüdische Kinder von staatlichen ("deutschen") Schulen auszuschließen. Sein Erlass zum Schulunterricht an Juden vom 15. Nov. 1938 (in: Nationalsozialismus und Schule, 1989, S. 271) befand: "Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer [... ] mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen. Die Rassentrennung im Schulwesen ist zwar in den letzten Jahren im allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf den deutschen Schulen übrig geblieben [ ... ]. [Ich] ordne daher mit sofortiger Wirkung an: Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen [... ].Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Pflichtschulen" - ein hassdiktierter Rechtsakt 16. Damit waren Juden in Deutschland erstmals seit dem historischen Beginn der Schulpflicht fiir ihre Kinder gehalten und gezwungen, dieser Pflicht ausschließlich in jüdischen Schulen nachzukommen, auf die Jüdischen Gemeinden kam die Last des Schulunterhalts zu. Sie wurde ihnen mit der 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939 vermacht (RGBL I, 1935, S. 1146). Dies Paragraphenwerk machte zunächst die RJ15 3 von einer Interessenvertretung zu einem reinen Verwaltungsorgan und schrieb ihr den Zweck zu, "die Auswanderung der Juden zu fördern" (Art. I, § 2.1); im Artikel II wurde dann das "Jüdische Schulwesen" neu geordnet; bestimmt wurde u.a.: "Die Reichsvereinigung ist außerdem [ ... ] Träger des jüdischen Schulwesens"(§ 2.2.1).- Sie "ist verpflichtet, fiir dieBeschulungder Juden zu sorgen"(§ 6.1)."Juden dürfen nur Schulen besuchen, die von der Reichsvereinigung unterhalten werden. Sie sind nach Maßgabe der Vorschriften der allgemeinen Schulpflicht zum Besuch dieser Schulen verpflichtet" (§ 7). -"Die bestehenden öffentlichen und privaten jüdischen Schulen [ ... ] werden aufgelöst, wenn die Reichsvereinigung sie [ ... ] nicht übernimmt"(§ 8.1).- "Die im Beamtenverhältnis stehenden 62 63

44

Das Attentat war bekanntlich auch öffentlicher Anlass fiir das Pogrom am 9./10. Nov. 1938. 1933 als Dachverband der jüdischen Organisationen in Deutschland unter dem Namen Reichsvertretung der deutschen Juden gegründet, 1935 ("Nürnberger Gesetze") ausgrenzend Reichsvertretung der Juden in Deutschland tituliert, 1938 in Reichsverband der Juden in Deutschland umbenannt und jetzt als "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" und "rechtsfähiger Verein" (Art. I, § 1.2) zuständig für die Durchführung staatlich (Reichsinnenminister) zudiktierter Aufgaben (Art. I, § 2.3). - Veröffentlichungen des Verbandes in Kulka (Hg.) 1997; zu seiner Geschichte: Adler-Rudel1974; Hildesheimer 1994; Kulka 1986.

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

Lehrkräfte der jüdischen Schulen treten mit dem Ablauf des 30. Juni 1939 in den Ruhestand. Sie sind verpflichtet, eine ihnen von der Reichsvereinigung der Juden angebotene Beschäftigung an einer jüdischen Schule anzunehmen. Andernfalls verlieren sie den Anspruch auf Ruhegehalt"(§ 9). Mit der 10. Verordnung wurde den Juden in Deutschland angesonnen, die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft (durch das Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935) mit Auswanderung zu quittieren, und der RVwurde angesonnen, sich zuvörderst als Organisation dieses Rauswurfs zu betätigen. Zudem wurde sie verpflichtet, das jüdische Schulwesen - zudem auch die "Jüdische Wohlfahrtspflege" (Artikel III) - zu übernehmen. Die Jüdische VS wurde damit wieder zu einem Privatunternehmen der Jüdischen Gemeinde, sie kehrte zum Ausgangspunkt ihrer Geschichte - im RBD - zurück. Der erzwungene institutionelle Umbruch war auch im Schulsektor ein überdeutliches politisches Signal. Bis dato hatte man in der RV noch angenommen, innerhalb des staatlichen Schulsystem agieren sowie auch staatliche Billigung und kommunale Unterstützung für neu einzurichtende jüdische Volksschulen bekommen zu können. Für einen solchen schulpolitischen Schritt setzte sich der Erziehungsausschuss der RV seit Ende 1933 nachdrücklich ein. Die von ihm dazu 1934 vorgelegten und heftig umstrittenen Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für jüdische Volksschulen favorisierten noch eine Synthese von jüdischer und deutscher (Schul)bildung. Realistischer fassten dann die Richtlinien von 193 7 eine jüdisch bildende Schule auch mit Ausbildungsanteilen und dazu entschlossen die Vorbereitung auf eine Auswanderung nach Palästina ins Auge. Sie empfahlen einen entsprechenden Ausbau der jüdischen Volksschulen und markierten entsprechende Unterrichtsschwerpunkte.64 17. Schließlich und endlich aber bestimmten das RMWEV und das RSHA mit einem seinerzeit nicht veröffentlichten Erlass zur Schließung jüdischer Schulen am 20. Juni 1942 (in: Walk [Hg.] 1981, S. 377f.): "Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland wird angewiesen, mit Wirkung vom 30.6.42 sämtliche jüdischen Schulen zu schließen und ihren Mitgliedern bekannt zu geben, daß ab 1.7.42 jede Beschulung der jüdischen Kinder durch besoldete oder unbesoldete Lehrkräfte untersagt ist." - Damit wurde die Geschichte der jüdischen Schulen in Deutschland und im hier vorliegenden Falle diejenige der Jüdischen Volksschule im RBD diktatorisch beendet.

64

S. im Einzelnen Kap. 4.2, S. 298ff. - Im RBD wurde eine Fortbildungsstufe von der jüdischen VS in Düsseldorf, ein 9. Schuljahr wurde in Duisburg und in Essen eingerichtet; vgl. STRAUß 1938; Lubinski 1935.

45

Die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum

1.2.3: Resümee

Die Volksschulgesetzgebung in Preußen und in Deutschland (nach 1919) ermöglichte innerhalb einer konfessionellen Schullandschaft zunächst die Institutionalisierung einer jüdischen VS und unterminierte sie zugleich, indem sie, die Gesetzgebung, politisch die Verstaatlichung und Entkonfessionalisierung der VS verfolgte. Im sich herausbildenden öffentlichen staatlichen Schulsystem erlangte die jüdische VS keine volle Rechtsgleichheit, sie durfte ausschließlich von jüdischen Kindem besucht, und sie konnte öffentlich finanziert werden. Für die jüdischen Elternhäuser bestand zugleich Schulwahlfreiheit Dies und die konfessionelle Exklusivität bedingten, dass die jüdische VS im RBD nach einer stupenden Gründungsphase auf absteigendem Wege war und sich ab 1872 quantitativ nur noch zurückentwickelte. Der Absturz dieser Abwärtsentwicklung, um im Bild zu bleiben, wurde im nationalsozialistischen Deutschland erzwungen. Damit bleibt offen, ob es ohne diesen historischen Bruch einen Aufschwung je noch einmal gegeben hätte. Man darf das aber bezweifeln. Denn im nachgezeichneten Prozess der Verstaatlichung und Entkonfessionalisierung von Schule war die konfessionelle Schule generell politisch gefahrdet. Im öffentlichen Bildungssystem figurierte sie als Privatinstitution und Sonder(regelungs)fall, wurde von seiner Dynamik abgekoppelt, zugleich aber von der öffentlichen Hand abhängig. Sie entwickelte sich bei hinreichendem Separatismus - konstituiert u.a. durch religiöse wie religiös-kulturelle Differenz und gesellschaftliche Nachfrage- zu einer eigenen Schulprovinz. Eine solche gesonderte Provinz bildeten die jüdischen Volksschulen im RBD. Sie existierten in einem historisch-politischen Raum, den territoriale Komplexität und soziodemographische Dynamik auszeichneten, und in dem damit die meisten Umgebungsbedingungen für die institutionelle Entwicklung der jüdischen Volksschulen in Preußen - darüber hinaus in Deutschland - gegeben waren. Das macht die örtlichen Schulschicksale dort zu typischen Fällen, und ihre Gesamtentwicklung überregional repräsentativ. Von der Schulgesetzgebung einheitlich normiert, setzte sie sich aus lokalen Einzelentwicklungen variantenreich zusammen und zeigte in deren Summe eine auffallige zeitliche und institutionelle Diskontinuität. Diese Diskontinuität rät dazu, zunächst die lokalen Schulverhältnisse genau zu inspizieren, bevor man die Geschichte der jüdischen VS im RBD systematisch ins Auge fasst. Eine solche Inspektion nimmt der Schulbericht (Kap. 3.2) vor.- Zunächst aber hält das nachfolgende Kapitel das territorialen, soziodemographischen und legislativen Faktoren gehorchende dramatische institutionelle Auf und Ab der jüdischen Volksschulen im RBD zwischen 1816 und 1942 anschaulich fest.

46

2

Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

2.0

Erläuterungen

Wie historisch einführend skizziert und vom beschriebenen Schulprozess im historisch-politischen Raum des RBD (Kap. 1) bestätigt, zeichnen die Geschichte der jüdischen VS im RBD zwischen 1815 und 1945 markante Phasen, zeitliche Dynamik und institutionelle Diskontinuität aus. Dies wird im vorliegenden Kapitel in einer territorialen Karte und in 10 Diagrammen graphisch festgehalten. Damit wird ein numerischer und ein chronologischer Überblick über die Schulen gegeben, Diskontinuität und das dramatische institutionelle Auf und Ab in ihrem Bestehen treten anschaulich hervor, was dann auch die Aufgabe vermacht, zu rekonstruieren, wie dies im Einzelnen aussah und zustande kam (Kap. 3.2). Die territoriale Karte (Abb. 2.1) zeigt alle 36 historischen Schulstandorte; dabei ist die Karte selbst ahistorisch. Zum einen verzeichnet sie die Standorte vor dem Hintergrund der heutigen territorialen Gliederung des RBD, zum zweiten hält sie die Standorte gleichzeitig fest. Auf diese Weise wird jedoch verdeutlicht, wo sich die Schulen konzentrierten, nämlich im links- und rechtsrheinischen Handels- und Industriegürtel. Die Balkendiagramme (Diagr. 2.2 und 2.3) zeigen die zeitliche Verteilung der Schulen von 1816 (1. Schulgründung) bis 1942 (Schließung der letzten Schulen). Die Diagramme unterteilen diesen Zeitraum in Dekadenschritte mit einer ersten kurzen Zeitspanne (1816–1819) am Beginn des vermessenen Zeitraums sowie einer verlängerten (1920–1932) und einer verkürzten (1933–1941 Zeitspanne an dessen Ende. Die Variationen sind sachlich begründet: 1933 ist ein historisches Scheidejahr; das Jahr 1942 wird extrapoliert, um die Dramatik der Ereignisse – die Schließung aller verbliebenen Schulen – darzustellen. – Das Balkendiagramm 2.2 gibt die Anzahl der jeweils am Ende einer Dekade bestehenden Schulen an; die Zahl der am Anfang einer Dekade bestehenden Schulinstitutionen ist mit der Endzahl der jeweils vorauf gehenden Dekade gegeben. Wie die lokale Rekonstruktion (Kap. 3.2), so berücksichtigen auch die Balkendiagramme nur Schulinstitutionen, die anfänglich drei Jahre und länger bestanden.1 Im Übrigen zählen beide Diagramme nur „echte“ Schulgründungen, i.e. die erstmalige Gründung einer Schule sowie die Neugründung einer Schule Jahrzehnte (Oberhausen) oder gar ein halbes Jahrhundert nach der überlieferten Schließung der ersten Schulinstitution (Düsseldorf und Duisburg). Nicht als Schulgründung gelten Wiedereröffnungen nach vorübergehend mehrjähriger 1

Kurzfristigere Unternehmungen (z.B. Jüchen, s. Kap. 3.2 unter Grevenbroich) können nicht als institutionalisierte Schule gelten; Grenzfall: Mönchengladbach-Odenkirchen.

Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

Schließung einer Schule. Ebenfalls nicht als Schulgründung wird gezählt, wenn eine Schulinstitution zwar über ein Jahrzehnt geschlossen blieb, extreme Diskontinuität der Schule aber historisch zu Eigen war (s. Wuppertal-Elberfeld). Jede Zeitreihe bringt durch die gesetzten Zeitschritte faktische Verzerrungen mit sich. In den Balkendiagrammen ergeben sie sich dort, wo die Gründung oder die Schließung einer Schule genau auf ein Grenzjahr fällt. So gelten Schulen, die erst in einem oberen Grenzjahr geschlossen wurden (1849: Velbert; 1939: Moers; 1879: Oberhausen, 1. Schule; 1941: Oberhausen, 2. Schule), gleichwohl für die ganze Dekade als nicht existent; ebenso werden Schulen, die erst in einem oberen Grenzjahr gegründet wurden (1839: Grevenbroich und Wesel; 1869: Issum), für die ganze Dekade als existent gezählt. – Solche Verzerrungen sind hinzunehmen, die Diagramme geben Entwicklungstrends, nicht die numerisch exakte Verteilung der Schulinstitutionen innerhalb der abgesteckten Zeiträume wieder. Die Strichdiagramme (Diagr. 2.4 und 2.5) bilden die zeitliche Dynamik der Schulentwicklung ab. Dazu sind in sie die Jahreszahlen der Gründung und der Schließung einer jeden Schule eingetragen – diese Zahlen sind in einigen Fällen nur angenommen2 –, und die zeitlichen Unterbrechungen im Bestehen einer Schulinstitution sind durch gestrichelte Linien dargestellt, wobei das Ende der Diskontinuität mit Jahreszahl markiert ist. Nicht eingetragen sind die Jahreszahlen der dazwischen liegenden Öffnungen und Schließungen einer Schule; zum einen sind diese in vielen Fällen nicht oder nicht genau überliefert; zum anderen sind die vorübergehenden Schließungen sehr oft so kurzfristig, dass die Jahreszahlen im vorgegebenen Format nicht eintragbar waren bzw. das Diagramm unleserlich geworden wäre. – Zu den Strichdiagrammen im Einzelnen: Die zwei Strichdiagramme unter 2.4 halten die Schulgründungen und Schulschließungen von 1816 bis 1942 für jeden einzelnen Schulstandort geordnet nach dem Jahr der Gründung bzw., bei den drei Doppelgründungen, dem Jahr der Erstgründung fest. Die Aufteilung in zwei Tabellen ist satztechnisch bedingt: es ließen sich nicht alle Schulgründungen auf einer Seite unterbringen. Die sechs Strichdiagramme unter 2.5 stellen die Schulgründungen und Schulschließungen von 1816 bis 942 geordnet nach Schulstandorten dar; dabei werden jeweils in alphabetischer Reihenfolge zuerst die kreisfreien Städte, danach die fünf heutigen Kreise des RBD (Kleve, Mettmann, Neuss, Viersen, Wesel) berücksichtigt. 2

48

Sie werden dann im Kap. 3.2 jeweils genau diskutiert. – In zwei Fällen ist die gesamte Zeitlinie fraglich: im Schulfalle Goch ist die mit durchgehender Strichlinie angezeigte Kontinuität der Schulinstitution 1830–bis 1920, im Schulfalle WillichAnrath ist die mit unterbrochener Strichlinie angezeigte durchgehende Diskontinuität der Schulinstitution nur angenommen; beide Annahmen werden historiographisch begründet (Kap. 3.2); in der Gesamtstatistik halten sie sich die Waage.

Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

2.1

Räumliche Verteilung

Jüdische Volksschulen im Regierungsbezirk Düsseldorf !ZI Jüdische Volksschule

Staatsgrenze Regierungsbezirksgrenze Kreisgrenze

0

20 km

Kartographie: H. Krähe

49

50 2.2 Zeitliche Verteilung 30

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Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

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15

2.3 Gründungen und Schließungen 1816-1942 9 9 8

8

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7

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18201829

18301839

18401849

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18701879

18801889

18901899

19001909

19101919

19201932

19331941

1942

51

Institutionelle Entwicklung im graphischen Überblick

5

52 2.4 Gründungen und Schließungen 1816-1942 Erstgründungen 1816- 1842

Schule

1816

Emmer1ch

1B16

Goch

1B:Z1

Ouisburg-Ruhro.

1823

1830

1840

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1939-1942

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