Formen lyrischen Erzählens im Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts: Metapher, Topos und Diagramm zwischen Nähe und Distanz 9783110684360, 9783110683349

Does medieval poetry narrate? The study adopts a new perspective, taking metaphor as the point of departure for further

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Formen lyrischen Erzählens im Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts: Metapher, Topos und Diagramm zwischen Nähe und Distanz
 9783110684360, 9783110683349

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
1 Theoriekonzepte zur möglichen Beschreibung einer lyrischen Narrativität
2 Darstellung verschiedener Narrationsansätze am Beispiel der Minnelyrik des 12. bis 14. Jahrhunderts
3 Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze
Fazit und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
Register

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Diana Roever Formen lyrischen Erzählens im Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts

Literatur | Theorie | Geschichte

Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Band 17

Diana Roever

Formen lyrischen Erzählens im Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts

Metapher, Topos und Diagramm zwischen Nähe und Distanz

ISBN 978-3-11-068334-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068436-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068440-7 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2019958017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Universitätsbibliothek Heidelberg, Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod. Pal. germ. 848, 116v Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Mein Dank gilt meinen Lehrern, die – jeder auf seine Art – zum Entstehen dieses Textes beitrugen. Mehr noch danke ich meinem Mann, der mit entschiedenem Talent mich durch jeden Zweifel führte. Ohne den akademischen Geist im SDP in Göttingen – oder dessen Bibliothek – wäre dies ebenfalls nicht in vier Jahren möglich gewesen. Auch vergessen will ich nicht meinen Dank an die Herausgeber der Reihe LTG, an den De Gruyter Verlag sowie an die DFG. Last, not least, meine drei guten Geister: Euer Wirken steckt in jeder Zeile. Und dass sich hiermit unser gemeinsames Kapitel schließt, ist das Einzige, was all die Freude ein wenig trübt.

https://doi.org/10.1515/9783110684360-202

Inhalt Danksagung | V Einleitung | 1 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4

Theoriekonzepte zur möglichen Beschreibung einer lyrischen Narrativität | 11 Terminologische Bemerkungen im Vorfeld der Lyrik | 11 Der Gattungsbegriff | 11 Ein Begriff vom Begriff | 16 Lyriktheorie | 20 Die Gattung Lyrik als Merkmalsbündel | 20 Das Lyrische Ich – Narratologischer Anhaltspunkt oder romantischer Ballast? | 25 Ergebnisüberblick bisheriger Bemühungen einer Lyriknarratologie | 34 Zusätzliche Ansatzmöglichkeiten | 53 Der Topos als Modus der Beziehungsstiftung | 53 Die Metapher: lyrisch, epistemologisch, narrativ? | 62 Die Idee des Erzählkerns bei Barthes, Müller, Eco und Bleumer | 79 Die Diagrammatik und ihr Verhältnis zur Erzählung | 83 Zusammenfassung | 88 Darstellung verschiedener Narrationsansätze am Beispiel der Minnelyrik des 12. bis 14. Jahrhunderts | 91 Tugenden und Werte – ausschließlich topisch? | 93 Populäre Bildbereiche der Minnelyrik und ihr Zugriff auf topische, metaphorische sowie diagrammatische Strukturen | 109 Rosen, Lilien und andere Blüten | 110 Der Augen Blick | 114 Das Herz als Raum, Requisit und Handlungsmacht | 122 Zusammenfassung | 138 genre objectif modifié – Erzählende Liedgattungen in neuer Perspektive | 140 Das Kreuzlied, am Beispiel von Guote liute (MF 94,15) | 142 Das Tagelied, am Beispiel von Sîne klâwen (MF 4,8) | 170 Erweiterungspotentiale, am Beispiel von Ich denke underwîlen (MF 51,33) | 186 Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 193

VIII | Inhalt

2.4.1 2.4.2 2.4.3 3 3.1 3.2 3.3 3.4

Das Tagelied c114 | 207 Die Kreuzlieder R12, R19 und c35 | 214 Zusammenfassung | 240 Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze | 244 Situationsspaltung und Situationsverschmelzung als widerstreitende Konzepte? | 244 Das Einfache System als integratives Modell | 265 Semantische Potentiale der Spaltungen im Tage- und Kreuzlied | 278 Auswirkungen auf die Neidhartlieder | 291

Fazit und Ausblick | 304 Abkürzungsverzeichnis | 313 Literatur | 315 Register | 351

Einleitung Die Bestimmung dessen, was als Lyrik bezeichnet wird, bildet im Wandel der literaturwissenschaftlichen Begriffe ein merkwürdig konstantes Problem. Nicht nur, dass sich die Lösungsansätze stark unterscheiden und verschiedene Begriffsextensionen haben, auch generell scheint ihr Untersuchungsgegenstand nur schwer zu fassen zu sein. Die theoretischen Bemühungen der Antike interessieren sich etwa für ein die verschiedenen metrischen und thematischen Formen umfassendes, übergeordnetes Genre ‚Lyrik‘ weit weniger als für speziellere Formen wie die Dithyramben oder ihr Verhältnis zum Dramatischen und Epischen.1 In Abkehr von der normativen wie restriktiven Gattungstrias der klassisch-romantischen Epoche2 arbeitet die moderne Lyrikforschung häufig mit prototypisch basierten Merkmalkatalogen, die nicht nur eine andere Vorstellung von der Lyrik als einem der übergeordneten Bereiche der Literaturwissenschaft widerspiegeln, sondern ebenso eine gewandelte Auffassung der zulässigen Methoden und Instrumentarien, die im Zusammenhang mit einer Lyriktheorie angebracht sind. Eva Müller-Zettelmann und Jonathan Culler vertreten etwa diese Betrachtungsweise,3 die versucht, dem charakteristischen Kern der Lyrik durch das gezielte Aussparen vermeintlich trennscharfer Begriffe und Definitionen näherzukommen, und stattdessen dynamische Zentralmerkmale wie Artifizialität oder Reduktion benennt (1.2.1). So unterschiedlich diese Merkmale im Einzelnen auch ausfallen mögen, so einig sind sich beispielsweise Werner Wolf und Culler in Bezug auf die Unfähigkeit bzw. den Unwillen lyrischer Texte, zu erzählen: Der lyrische Text strebe im Gegensatz zum epischen danach, selbst ein Ereignis zu sein, statt von einem solchen zu berichten.4 Nichtsdestoweniger lassen sowohl unterschiedliche Lyriktheorien als auch das intuitive Empfinden des Rezipienten die Einsicht zu, dass lyrische Texte die Darstel-

|| 1 Vgl. überblicksartig Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 7–13. 2 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Naturformen der Dichtung (1819). In: Ders. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Hendrik Birus [u. a]. Vierzig Bände. Abteilung I: Sämtliche Werke, Bd. 3: West-östlicher Divan, Teil 1. Frankfurt am Main 1994 (BDK. 113,1), S. 206–208, hier S. 206. 3 Vgl. Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 171), S. 58, 64, 76 u. 93. Jonathan Culler: Theory of the Lyric. Cambridge 2015, S. 34–38. 4 Vgl. Werner Wolf: The Lyric. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva Müller-Zettelmann, Margarete Rubik. Amsterdam 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. 89), S. 21–56, hier S. 29f. Culler, Theory of the Lyric, S. 35. https://doi.org/10.1515/9783110684360-001

2 | Einleitung

lung einer Geschehensfolge dennoch zum Vehikel ihres Aussagewillens machen können. So mag das, was nach den Theorien Müller-Zettelmanns und Cullers an Rainer Maria Rilkes modernem Genreklassiker Der Panther5 das Lyrische ausmacht, zwar in dessen Kürze, formaler Überstrukturiertheit oder dem Drängen in eine ritualisierte Performanz liegen,6 aber trotzdem lässt sich nicht übersehen, dass der Text auch darstellt, wie das Raubtier, das ihm Titel und Thema gibt, in seinem Käfig umherstreicht, sieht und fühlt.7 Der Text bietet verschiedene Zeitebenen auf, wendet eine nachdrückliche Trennung der Räume diesseits und jenseits der Gitterstäbe an, diesseits und jenseits der Augen des Panthers zudem, die eine reizvolle Verschachtelung erzeugt und zwischen denen der lyrische Diskurs genüsslich hin und her wandern kann. Er verknüpft sich über das themagebende Tier mit anderen Gedichten Rilkes wie Die Gazelle oder Die Tauben und erzeugt so weiterhin gedichtübergreifende Bezüge, aber integriert auch metaphorisches Sprechen, indem er dem durch den Käfig eingeengten Streben des prächtigen Raubtiers die Identität eines Tanzes zuschreibt; des Tanzes geschmeidiger Kraft um einen betäubten Willen. All dies lässt sich zum Aufhänger lyrischer Narrativität machen, so möchte die vorliegende Studie in ihren einzelnen Teilbereichen zeigen, indem sie zunächst zeitliche Staffelungen, topische Verknüpfungen und metaphorische Überblendungen untersucht – und zwar auf dem Gebiet der mittelalterlichen Minnelyrik. Die Wahl dieses Gegenstandsbereichs mag zunächst nicht unbedingt als die naheliegendste erscheinen, doch zum einen wurde bereits am Beispiel Rilkes deutlich, dass die angedachten Betätigungsformen lyrischer Narrativität – sollten sie sich im Laufe der Untersuchung als tragfähig erweisen – sich durchaus nicht nur in mittelalterlichen Kontexten, sondern auch in der Moderne nachverfolgen lassen. Und zum anderen eignet sich vor dem Hintergrund der vormodernen Gattungsthematik8 gerade jenes Feld in besonderem Maße, um transgenerische Prozesse9 zu beobachten, wie schon die vortheoretische Feststellung Wilhelm Wackernagels beweist, der den || 5 Vgl. Rainer Maria Rilke: Der Panther. In: Ders. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main 1996, S. 469. 6 Vgl. im Einzelnen Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 73. Wolf, The Lyric, S. 24. Culler, Theory of the Lyric, S. 37f. 7 Vgl. Rilke, Der Panther, Str. 1, V. 1; Str. 2, V. 1-2; Str. 1, V. 3f. 8 Vgl. Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 196–199. 9 Vgl. Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Interdisziplinäre Tagung Loccum 17.-19.09.2008. Hrsg. von dies. Berlin 2011 (Trends in Medieval Philology. 16), S. 1– 42.

Einleitung | 3

potentiell narrativen Gehalt einer „epischen Lyrik“10 mit Selbstverständlichkeit an mittelalterlichen Liedern expliziert. Zudem hat die germanistische Mediävistik es sich nicht nehmen lassen, den Diskurs einer lyrischen Erzählforschung entscheidend mitzuprägen (1.2.3), die sich im Gegensatz zur Narratologie der Romane und anderweitig erzählender Werke noch immer im Ausarbeiten erster Theorien begriffen sieht: Wo die klassische Narratologie seit den 1960er Jahren im Gefolge der Werke Gérard Genettes, Roland Barthes’ oder Jurij M. Lotmans auf breiter Front der Art und Weise nachgegangen ist,11 auf die Texte des epischen Genres erzählen, hat sich zunächst keine vergleichbar elaborierte Strömung der lyrischen Erzählforschung entwickelt. Erst seit etwa einer Dekade lässt sich eine solche – vor allem geprägt durch die Beiträge Peter Hühns und Jörg Schönerts – überhaupt fassen.12 || 10 Vgl. Wilhelm Wackernagel: Poetik, Rhetorik und Stilistik. Academische Vorlesungen. Hrsg. von Ludwig Sieber, Halle an der Saale 1888, S. 156–186, bes. S. 163–165. Wackernagels Ausführungen mögen heute im Einzelnen Widerspruch erzeugen, so etwa seine Ansiedlung einer epischen Lyrik an auch historisch zu denkenden Übergangsphase von reiner Epik und lyrischer Epik hin zur reinen Lyrik, die damit erst nach der Epik und aus ihr entstanden ist. Doch ebenso lässt sich nicht übersehen, dass er zum einen mit der Unterscheidung einer objektiven bzw. subjektiven Äußerungsform der Lyrik bereits spätere Begriffsprägungen wie das genre objectif des mediävistischen Diskurses präfiguriert, und zum anderen nicht nur antike Texte als Beispiele heranzieht, sondern auch Bezüge zu mittelalterlichen Dichtern herstellt: „Indem der Dichter die lyrische Entwickelung innerer Zustände an ein äusserlich gegebenes episches Motiv anknüpft, kann er auf zwiefache Weise verfahren. Erstens versetzt er sich ganz und gar mitten in die epische Wirklichkeit hinein, so dass nicht er selbst es ist, welcher die angeregten Empfindungen ausspricht, sondern dass er seine Worte der Person in die Seele und in den Mund legt, die handelnd oder leidend der tragende Mittelpunct jener Wirklichkeit ist. Wir wollen diess Verfahren das objektive nennen. […] Wir haben es als eine gewöhnliche Beschaffenheit lyrisch-epischer Lieder kennen lernen, dass sie ganz kurz eine epische Situation hinstellen und dann die epische Person die Empfindungen aussprechen lassen, welche durch jene Umstände motiviert sind. Ein Beispiel der Art aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts bietet jenes Lied [gemeint ist MF 37,4] Dietmars von Aist […].“ Ebd., S. 165. 11 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1998 (UTB. 8083). Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Das semiologische Abenteuer. Hrsg. von ders. Frankfurt am Main 1988 (es. 441), S. 102–143. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972 (UTB. 103). 12 Vgl. Peter Hühn: Transgeneric Narratology. Application to Lyric Poetry. In: The Dynamics of Narrative Form. Studies in Anglo-American Narratology. Hrsg. von John Pier. Berlin 2004 (Narratologia. 4), S. 139–158. Ders.: Plotting the Lyric. Forms of Narration in Poetry. In: Literator 31 (2010), S. 17–47. Ders.: Geschichten in Gedichten. Ansätze zur narratologischen Analyse von Lyrik, mit einem Ausblick auf die Lyrik Shakespeares und den Petrarkismus. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 79–102. Ders. und Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305. Ders., Jörg Schönert: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Textanalysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von dies. [u. a.]. Berlin 2007 (Narratologia. 11), S. 1–18. Ders., Roy Sommer: Narration in Poetry and Drama. In: Handbook of Narratology. Hrsg. von Peter Hühn [u. a.]. Berlin 2009 (Narratologia. 19), S. 228–241.

4 | Einleitung

Die durchaus federführenden Bemühungen gerade der Altgermanistik auf dem betreffenden Gebiet wurzeln kaum in der begrenzten Menge an Primärtexten oder einer besonderen Affinität zu komplexen Terminologiediskussionen. Wesentlich ist vielmehr: Die Performanznähe lyrischer Texte, die die neugermanistische Forschung sich über die eigentümliche Klanglichkeit oder Musikalität von Lyrik immer erst separat und als theoretischen Sonderraum erschließen muss, ist der germanistischen Mediävistik durch die immanente Mündlichkeit mittelalterlicher Literatur – die nicht zuletzt einer der Gründe für die vergleichsweise geringe Primärtextbasis der Altgermanistik ist – bestens vertraut. Man mag also entweder auf dem Standpunkt verharren, dass die an mittelalterlichen Textkorpora gewonnenen Erkenntnisse nur einen geringen Aussagewert über mediävistische Kontexte hinaus beanspruchen können, oder aber man erkennt an, dass das Erkenntnispotential mittelalterlich fundierter Studien im Gegenteil sogar ein umfangreicheres sein könnte als das der nachreformatorischen Textflut und zwar in Bezug auf Phänomene, die maßgeblich in stimmlichen Effekten wurzeln. Lyrik ist einer dieser Fälle. Daraus folgt aber gleichermaßen, dass die genuine Performanz mittelalterlicher Lyrik auch nicht ohne Auswirkung auf deren narrative Formen sein kann und daher in narratologischen Studien dieses Gebiets mitbetrachtet werden muss. So hat sich neben solchen Untersuchungen, die nach einem narrativen Effekt der mittelalterlichen Lieder im Rahmen der durch sie geschilderten Handlungsabläufe fragen, auf mediävistischem Gebiet ebenfalls ein Forschungszweig herausgebildet, der in den Blick nimmt, welchen Stellenwert der Vortrag der Lieder durch einen Sänger und vor einem Publikum in dieser Hinsicht einnimmt. Stellvertretend für die erstgenannte Betrachtungsweise lassen sich die wegweisenden Arbeiten Ingeborg Gliers und Volker Mertens’ zum genre objectif benennen,13 für die letztgenannte etwa Hartmut Bleumers Überlegungen14 zu narrativen Projektionen. Auch wenn die im Zuge dessen entstandenen Ansätze zur Erkundung narrativer Möglichkeiten auf lyrischem Gebiet ebenso ideenreich und vielfältig sind, handelt es sich bei ihnen doch zumeist || 13 Vgl. Ingeborg Glier: Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts. In: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz H. Bäumel. Göppingen 1984 (GAG. 368), S. 150–168. Volker Mertens: Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: ‚Fragmente eines Diskurses über die Liebe‘. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller. Paderborn 1988 (Schriften der Universitäts-Gesamthochschule Paderborn. Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft. 10), S. 49– 65. 14 Vgl. Hartmut Bleumer: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hrsg. von Helmut Birkhan. Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. 721), S. 83–102.

Einleitung | 5

um Betrachtungen, die zugunsten des einen Aspekts lyrischer Narrativität, dem sie sich insbesondere widmen, die anderen – notgedrungen – zurückstellen. Die einzelnen Aspekte behindern sich untereinander jedoch nicht. Die vorliegende Studie möchte daher jene verschiedenen Ansätze zusammenführen, sowohl um dem Eindruck entgegenzuwirken, die bisher erarbeiteten Ideen seien aufgrund ihrer Verstreutheit nicht miteinander zu vereinbaren, als auch um eine ganzheitlichere Beschreibungs- und Interpretationspraxis der betrachteten Werke voranzubringen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die bisherigen Verortungen lyrischer Narration auf unterschiedlichen systemischen Ebenen angesetzt und über sie hinaus auch weitere Sphären einbezogen, die zuvor unter dem Gesichtspunkt eines Erzählens lyrischer Texte vielleicht noch zu wenig Aufmerksamkeit erhalten haben: So sind neben den betreffenden Ausführungen zu Erzählansätzen im Rahmen der liedintern geschilderten, diegetischen Handlungsabläufe (2.3.1–3) und solchen zu narrativen Reflexen im Spiegel der Performanz (Teil 3) auch Phänomene zu betrachten, die sich auf das Motivinventar der Lieder, bildhafte Versatzstücke und Tropen erstrecken (1.3.1–4, 2.2.1–4). Ihnen wird auf den Thesen Hühns und Schönerts gründend sowie mithilfe der Arbeiten Wolf Schmids narrative Qualität zugeschrieben, wobei hier die Metapher insbesondere herauszuheben ist. Da die zugehörige Forschung ihrerseits in der Lage ist, Bibliotheken zu füllen, ist ein Einbezug der Metapher keine folgenlose Entscheidung und muss ein solcher unter den zur Verfügung stehenden Metaphertheorien eine überlegte Wahl treffen – nichtsdestotrotz spricht Einiges dafür, dieses komplexe Phänomen einzubinden. Denn zum einen wurde die Metapher wiederholt insbesondere dem lyrischen Genre zugeordnet,15 wodurch die These einer potentiell erzählenden Metapher ins Zentrum des Problemfelds narrativer Lyrik zielt. Und zum anderen betrachtet Paul Ricœur etwa die Metapher als literarisches Werk en miniature,16 das daher – so könnte man folgern – trotz seines Miniaturcharakters doch eine noch zu bestimmende narrative Ausdehnung für sich in Anspruch nehmen können sollte. Ziel der zu unternehmenden Bemühungen ist dabei zum einen der Nachweis darüber, dass die narrativen Modi lyrischer Texte – mögen sie auch von denjenigen

|| 15 Vgl. Gérard Genette: Die restringierte Rhetorik. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung. 389), S. 227–252, hier S. 234. Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik III. Ergebnisse und Perspektiven. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972 (Ars poetica. 8,III), S. 323–333, hier S. 329. Zuletzt Hartmut Bleumer: Historische Narratologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin 2015, S. 213–274, hier S. 250. 16 Vgl. Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Theorie der Metapher, hrsg. von Haverkamp, S. 356–378, hier S. 358.

6 | Einleitung

der vordergründig erzählenden abweichen – letzteren an Komplexität und Raffinesse nicht nachgeordnet sind. Sie sind möglicherweise sogar komplexer zu nennen als diese, bedenkt man ihren teils impliziten, jedoch immer mehrstelligen Charakter, auf den mithilfe des vorgeschlagenen Ebenenmodells hinzuweisen versucht wird. Schließlich wirken die verschiedenen Formen narrativer Ansätze – performative, diegetische, metaphorische, etc. – potentiell nicht nur im gleichen Lied, sondern auch kooperativ, weshalb sich unweigerlich die Frage stellt, wie die beschriebenen Ebenen nun zu verknüpfen sind. Hierfür bietet sich das Begriffspaar Nähe und Distanz an, zieht man das Folgende in Betracht: Der Widerstreit zwischen ersehnter Nähe und gesellschaftsbedingt aufrechtzuerhaltender Distanz des Liebenden zum Objekt seiner Zuneigung durchzieht als Quelle unausgesetzter Neuperspektivierungen auf histoire-Ebene17 alle Phasen des Minnesangs. Besondere Extrempunkte dieser nicht zu lösenden Spannung erlebt die Liedtradition dort, wo die Erfüllung aller Sehnsüchte als (teils) abgeschlossene Vergangenheit inszeniert wird, den mittelhochdeutschen Tageliedern (2.3.2), und wo angesichts der drohenden Trennung auf unbestimmte Zeit jede Aussicht auf Erfüllung zunichtegemacht wird, den Kreuzliedern (2.3.1). Mit dem Einbezug des Kreuzlieds hofft die vorliegende Arbeit zugleich, diese Liedform aus der Nische eines peripheren Interesses zu holen, das dieser variantenreichen Subgattung nicht gerecht wird, nach einem Forschungshoch vor allem der 1960er und 1970er Jahre aber bis heute fortwirkt.18 Die langjährig wie intensiv geführte Performanzdiskussion des mediävistischen Forschungsdiskurses lässt sich – neben gesonderten Teilbereichen etwa zur Rolle oder zum Status einer textgebundenen Performativität – in die beiden großen The|| 17 Vgl. Tzvetan Todorov: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. von Bruno Hillebrand. Darmstadt 1978 (Wege der Forschung. 488), S. 347–369, hier S. 347. Das Begriffspaar histoire und discours prägt als grundlegendes Beschreibungsinstrumentarium, das auf die Unterscheidung des ‚Was‘ vom ‚Wie‘ der Narration bei Tzvetan Todorov zurückgeht, die Mehrzahl der strukturalistisch orientierten narratologischen Arbeiten. Obwohl Eva Müller-Zettelmann eine alternative Benennung für lyrisch-narratologische Studien vorschlägt, möchte die vorliegende Betrachtung bei den konventionellen Begrifflichkeiten verbleiben. Es wird sich unten zeigen warum, sobald auf die Ausführungen Müller-Zettelmanns eingegangen wird (1.2.3). 18 Die Thematik ist noch immer geprägt durch historisierende Betrachtungen wie Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Studien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit, Berlin 1960. Die aktuellsten Beiträge zum Kreuzlied erproben zwar neue Ideen, haben jedoch Ausnahmecharakter, vgl. Manuel Braun: Autonomisierungstendenzen im Minnesang vor 1200. Das Beispiel der Kreuzlieder. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner [u. a.]. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 1–28. Susanne Reichlin: Interferenzen und Asymmetrien. Zu einigen Kreuzliedstrophen Hartmanns und Reinmars. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Tagung Literarische Säkularisierung im Mittelalter. 4.–7. Oktober 2011, Kloster Irsee. Hrsg. Susanne Köbele, Bruno Quast. Berlin 2014 (LTG. 4), S. 175–195. Stefan Tomasek: Frauen- und Männerrollen in mittelhochdeutscher Kreuzzugslyrik. In: Das Mittelalter 21 (2016), S. 123–144.

Einleitung | 7

menbereiche der Situationsspaltung und Situationsverschmelzung organisieren. Dabei vertritt erstere angesichts der durch sie angenommenen Aufspaltung der liedinternen von der aufführungsinternen Realität den Standpunkt einer Distanzierung, während die Situationsverschmelzung aufgrund einer ästhetisch verfassten Einswerdung dieser beiden Realitäten wiederum Nähe in Maximalform wirksam sieht. Beide Ansätze sind begründet und überzeugend, weshalb die Frage umso drängender erscheint, ob nicht ein Blickwinkel gefunden werden kann, der Spaltung und Verschmelzung gleichermaßen zu integrieren vermag. Da die vorliegende Studie sich nicht primär als performanzästhetische versteht, sondern den Aufführungsbereich nur als eine von mehreren Ebenen auffasst, die in Hinblick auf eine lyrische Form des Erzählens relevant sind, unternimmt sie nur die erste Skizze eines solchen Integrationsversuchs, deren Schlüsselstelle – in mediävistischen Kontexten: einmal mehr – Niklas Luhmanns systemtheoretische Arbeiten sind. Liest man nämlich die Minnesangaufführung über das Modell der Einfachen Systeme, dann lässt sich für spaltende wie verschmelzende Effekte ein angemessener Platz finden. Dass diese Perspektive indes einen ganz anderen Zugriff wählt als den hermeneutischen weiter Teile der restlichen Studie, ist nicht unproblematisch und wird noch zu begründen sein (Teil 3), aber insbesondere deshalb als verschmerzbar angesehen, weil sie eine weiterführende Idee zur lyrischen Narrativität als eigentlichem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie darstellt. Dieses erblickt ein weiteres nah-fernes Korrespondenzpaar in den rhetorischen Mitteln der Metapher und des Topos. Sie dienen nicht nur den Mechanismen einer erzählenden Lyrik, sondern operieren darüber hinaus im Falle der Metapher (1.3.2), die das Eine transgressiv und unweigerlich als etwas Anderes sieht, annähernd bzw. im Falle des Topos (1.3.1), der antik verankert über geteiltes Wissen Verbindungen aufzeigt, distanzierend. Die Begriffe der Nähe und Distanz folgen dabei nicht einem linguistisch motivierten Interesse, wie dies bei Peter Koch und Wulf Oesterreicher oder Vilmos Ágel und Mathilde Henning funktionalisiert wird,19 sondern werden vielmehr wie auch durch Bent Gebert in einer Art und Weise in Anschlag gebracht,20 die ausreichend Spielraum birgt, um Konzepte unterschiedlicher Provenienz zu einen Zusammenklang zu bringen, der Polyphonie bewahrt. Gebert interessiert sich in erster Linie für

|| 19 Vgl. Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (2010), S. 15–43. Vilmos Ágel, Mathilde Henning: Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650– 2000. Hrsg. von dies. Tübingen 2006, S. 33–74. Dies.: Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Hrsg. von dies. Tübingen 2007 (Reihe Germanistische Linguistik. 269), S. 179–214. 20 Vgl. Bent Gebert: Kunst der Intimität. Zur Produktion von Nähe und Ferne in mittelalterlicher Literatur. In: DVjs 88 (2014), S. 417–438.

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die räumliche Konzeption der Nähe und Distanz, verbindet diese Wahrnehmungsachse jedoch auch mit der charakteristisch rhythmisierten zeitlichen im Verlust von und Streben nach Nähe, das kommuniziert und kommunikativ umgesetzt wird. Ebenfalls auf dem Gebiet der Rhetorik nach der Rolle etwaiger Nähe und Distanz konnotierender Phänomene Ausschau zu halten, scheint so abwegig also nicht, ist jedoch auch nicht derart selbstverständlich, dass ein solches Vorgehen unkommentiert bleiben sollte. Die Schwierigkeiten dieses, zunächst einigermaßen freien Umgangs mit den Begriffen Nähe und Distanz, der keine terminologisch letztgültige Sicherheit beanspruchen kann, liegen offen zutage. Doch ein solcher scheint wiederum auch beinahe geboten, zieht man die widerspenstige bis ablehnende Haltung einer Reihe der zu betrachtenden Phänomene gegenüber den Themen Definition und Abgrenzung in Betracht: Es sei nur verwiesen auf die Metapher als das Grenzen sprengende rhetorische Mittel par excellence (1.3.2) oder auf die Probleme, die sich immer wieder auftun, wenn eine Gattung ‚Lyrik‘ zu definieren ist (1.2.1). Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden versucht werden, aus der Menge der Stellen, an denen die Polarität aufscheinen wird, nach dem Muster der Familienähnlichkeit (1.1.1) eine Erfahrungsmasse zu erarbeiten, die Inhalt und Umfang des Begriffspaars besser beschreiben kann als eine Definition. Als Untersuchungskorpus bietet sich infolge des übergeordneten Erkenntnisinteresses eine historisch wie formentypisch möglichst breit angelegte Auswahl von Liedern an, die zunächst auf das Minnesanggenre zu beschränken sind.21 Eine solche Begrenzung ist zum einen schlicht als Anforderung der Umsetzbarkeit anzusehen, die dennoch davon ausgeht, auch in einem auf diese Art und Weise präparierten Gebiet genügend Varianz und Formenreichtum vorfinden zu können, um den Blick in der Schlussbetrachtung sodann auf benachbarte Bereiche hin zu öffnen. Zum anderen liegt eine vorrangige Konzentration auf minnesangliche Lyrik auch

|| 21 Des Minnesangs Frühling. Bd. 1: Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988; im Folgenden abgekürzt mit MF. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Bd. 1: Text. Hrsg. von Carl von Kraus. Tübingen 1952; im Folgenden abgekürzt mit KLD. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hrsg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein, Edition der Melodien von Horst Brunner, Berlin 2013. Neidhart: Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. 3 Bde. Hrsg. von Ulrich Müller [u. a.]. Berlin 2007; im Folgenden abgekürzt mit SNE, wobei dem Vorschlag der Herausgeber entsprochen wird, die Bandnummer der Edition in römischer Zählung vor der arabischen Liedsigle anzugeben, danach Strophen wiederum römisch und Verse schließlich nochmals arabisch. Die Schweizer Minnesänger. Bd. 1: Texte. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und hrsg. von Max Schiendorfer. Tübingen 1990; im Folgenden abgekürzt mit SMS.

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deshalb nahe, weil diese den hauptsächlichen, wenn nicht gar ausschließlichen Gegenstand der vorangegangenen mediävistischen Forschungen zu narrativer Lyrik darstellt – wie sich unten noch genauer zeigen wird – und drittens ist das gesellschaftsbedingt restringierte Kontaktstreben des Liedsubjekts, das besondere Signum weder der geistlichen Dichtung noch des Sangspruchs, sondern des Minnesangs. Dessen Untersuchung wird sich sodann trotz oder gerade wegen des umspannten Zeitraums von Meinloh von Sevelingen bis Neidhart vielfach an bekannten Dichtern und Stellen orientieren. Einerseits geschieht das im Sinne der Lesbarkeit, um dennoch nicht den Zusammenhang des Nachverfolgbaren zu verlieren, andererseits aber auch im Sinne des Materials, denn die typischen Szenen, Rollen und Orte des Minnesangs sind durchaus zählbar. Mit den gewählten Topoi der Blumen, Augen und des Herzens (2.2.1–3) wird daher sowohl versucht, solche bildhaften Bezugspunkte minnesanglicher Lyrik einzubeziehen, die mit zu den häufigsten zählen, als auch, mit dieser Wahl wichtige Raumbereiche des Minneuniversums abzudecken (locus amoenus, Minnetor, Liebesbehältnis). Relevante Szenen werden hierüber ebenso betrachtet (Herzenstausch, blickinduziertes Verminnen, Natureingang) wie über die Liedtypen Tagelied (Erfüllung und Resozialisierung) und Kreuzlied (Abschied und Gedenken). Doch da das erwähnte Minneuniversum nicht nur bildhaft, sondern ebenso sehr auch werthaft organisiert ist, kann ein Einbezug der wichtigsten Normen und Tugenden (2.1) nicht ausbleiben. Ihre Prüfung im gleichen Anwendungsgebiet des Materials wird zudem zwei Erfordernisse zugleich erfüllen: einerseits die narrative Kontrasterzeugung zu den Topoi aus 2.2.1–3 und andererseits den Nachweis über die Aussagefähigkeit der vorgebrachten Narrativitätsmarker – denn triuwe, staete etc. bestechen in der Tat nicht durch Ausarbeitungen sukzessiver Zeitlinien oder kraftvoller Metaphern, die denen der Topoi vergleichbar wären, wie sich unten noch zeigen wird. Mancher mag an dieser Stelle und aus dieser Überlegung heraus den Einbezug der vröide als einer weiteren Zentralkategorie des Minnesangs vermissen – aber auf der einen Seite brächte dieser keinen Erkenntnisgewinn, der nicht auch an den untersuchten Tugenden schon abzulesen wäre, und auf der anderen Seite erscheinen weitere Ausführungen zur vröide vor dem Hintergrund der ausführlichen Arbeiten Albrecht Hausmanns schon fast obsolet, auch dazu unten mehr. Aufgrund dieser Gegebenheiten können die vorgebrachten Liedbeispiele und -interpretationen stellvertretend für eine Menge an Belegmaterial stehen, das herangezogen werden könnte, jedoch auf besonders dichte, reiche Proben erhellender Funktionalisierungen beschränkt wird. Aufgrund seiner herausgehobenen Position in der Geschichte von Minnesang und Sangspruch wird Walther von der Vogelweide häufig einen gesonderten Platz erhalten und ebenso Neidhart, der nicht nur einen weiteren Wendepunkt in der Entwicklung des Minnesangs markiert, sondern darüber hinaus auch Textbeispiele für Kreuz- und Tagelied gleichermaßen bieten kann. Dabei wird im Großen und Ganzen der Ansatz verfolgt, im Fortgang der

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Betrachtung eine dem Lesefluss angemessene Menge und Vielfalt der Realisierungen darzustellen und in den Anmerkungen einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Beispielmenge das Belegmaterial darüber hinaus noch bieten kann. Es ist klar, dass die Formensprache des Minnesangs einer historischen Zeitlinie folgt und aufeinander bezogene Entwicklungen nur entlang dieses Strangs und nicht gegen ihn möglich sind, aber die Präsentation der gewählten Aktionsfelder lyrischer Narration wird dennoch einen systematischen Fokus setzen. Was als die schlichtere Realisierung angezeigt und besprochen wird, soll so also nicht zwingend einen chronologischen Anfangspunkt behaupten gegenüber komplexer Erscheinendem, sondern gemeinsam mit ihm die Spannweite der Möglichkeiten verdeutlichen. Trotz zuvor angesprochener Einschränkungen wirkt, wo übergreifende Topoi einer Minneideologie vorgestellt werden, der Einbezug von Nachweisen außerhalb des Minnesangs obligatorisch, die sodann aus verschiedenen Minneromanen und wiederum in Fußnotenform beigebracht werden.22 Der Einbezug mystischer und spruchhafter Lyrik wird, wie erwähnt, aus Platz- und Kohärenzgründen folgenden Untersuchungen vorbehalten bleiben müssen, obwohl so geartete Überlegungen eine der naheliegendsten Anschlussstellen für weitere Fragen bilden. Und auch die gegenläufige Bewegung in Form von lyrisch zu nennenden Elementen innerhalb epischer Texte wird nicht Teil der Betrachtung sein, sondern im Rahmen eines abschließenden Ausblicks ebenso nur einige kursorische Anmerkungen erfahren wie die benachbarten lyrischen Artikulationstraditionen.

|| 22 Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer. Berlin 2001. Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert, Stephan Fuchs-Jolie. Berlin 2003. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text nach der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. Berlin 2003. Wolfram von Eschenbach: Parzival. 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht und mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin 2003. Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen. Hrsg. von Christine Putzo. Berlin 2015 (MTU. 143). Gottfried von Straßburg: Tristan. Text und kritischer Apparat. 3. Abdruck mit einem durch F. Rankes Kollationen erw. und verb. Apparat, besorgt und mit einem Nachw. vers. von Werner Schröder. Hrsg. von Karl Marold. Berlin 1969 (= Leipzig 1906). Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hrsg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Rainer Gruenter. Berlin 2011 (= 1871).

1 Theoriekonzepte zur möglichen Beschreibung einer lyrischen Narrativität 1.1 Terminologische Bemerkungen im Vorfeld der Lyrik Bevor auf die Merkmale einer Gattung Lyrik eingegangen wird, ist es sinnvoll danach zu fragen, welche Aussage der Terminus ‚Gattung‘ überhaupt treffen kann und möchte. Dazu soll im folgenden Abschnitt einerseits die historische Gemachtheit der klassischen Trias vor alternativen Ordnungsmöglichkeiten in Erinnerung gerufen werden. Andererseits ist der mediävistische Begriffsdiskurs zu Rate zu ziehen, um aus der Kombination dieser beiden Problemfelder eine Abstraktion jener Aufgabe vorzunehmen, die die Gattung in der Beziehung zwischen Autor und Rezipient wahrnimmt.

1.1.1 Der Gattungsbegriff Die Gegebenheit der klassischen Trias und der Ordnungskategorie ‚Gattung‘ allgemein, die der umgangssprachlich selbstverständliche Gebrauch vermuten lässt, darf bezweifelt werden, offenbart doch bereits ein flüchtiger Blick in die Geschichte der Gattungen deren historische Dynamik.1 Bereits die Antike liefert erste Beispiele für die zweckmäßige Einteilung von Texten in Gattungen.2 Auch die Trias als Konzept tritt bereits hier auf, doch mit deutlich anderer Füllung als zu Goethes Zeiten: Klaus W. Hempfer führt Diomedes als Erstbeleg für eine Trias an, die im 4. Jahrhundert n. Chr. ihre Texte nach dem Redekriterium in genus activum vel imitativum, genus enarrativum vel enuntiativum und genus commune vel mixtum einteilt.3 Neben einer triadischen existieren auch dyadische Ordnungen, so bei Aristoteles4 (erzählend und dramatisch) und später bei Käte Hamburger (mimetisch und lyrisch)5, wobei letztere auch den sehr viel spezielleren Fall der Ballade gleichermaßen als Gattung und nicht etwa als Subgattung oder Liedtyp bezeichnet. || 1 Vgl. dazu auch die Überblickswerke bei Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973 (UTB. 133) und Zymner, Gattungstheorie. 2 Die Benennung als ‚Gattung‘ ist jedoch neuzeitlich: Sie entsteht im 15. Jahrhundert. Vgl. Klaus W. Hempfer: Art. Gattung. In: RLW 1 (1997), S. 651–655, hier S. 652. 3 Vgl. hier und im Folgenden ebd. 4 René Wellek und Austin Warren weisen darauf hin, dass Aristoteles Lyrik, Epik und Drama bereits nach ihrer jeweiligen Nachahmungsweise (Dichter spricht allein vs. Dichter und Figuren sprechen vs. Figuren sprechen allein) unterscheidet, diese Varianz jedoch nicht zu Gattungen ausarbeitet. Vgl. René Wellek, Austin Warren: Theorie der Literatur. Berlin 1969, S. 204. 5 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1980, hier S. 57–205 u. S. 206–256. Vgl. einen ähnlichen Ansatz bei Gérard Genette: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 11–40, zum Umriss des Lyrischen dort bes. S. 24. https://doi.org/10.1515/9783110684360-002

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Auch in Richtung feinerer Abstufungen wurden Überlegungen unternommen. So fügen einerseits Friedrich Sengle mit der didaktischen Literatur, andererseits Alfred Kerr und Ernst Robert Curtius mit Kritik bzw. Polemik eine vierte Hauptgattung hinzu. Durch diese drei Ansätze wird bereits deutlich, dass ein Mangel des klassisch-triadischen Systems vor allem in seiner Blindheit gegenüber vermeintlichen Gebrauchstexten gesehen werden kann.6 Weiterhin versucht so manche Theorie, den einzelnen Gattungsrichtungen weiterführende Kategorien zuzuordnen, wie René Wellek und Austin Warren illustrieren: Eneas S. Dallas unterscheidet demnach Schauspiel, Geschichte und Lied mit der weiterführenden Zuordnung dramatisch, gegenwärtig, 2. Person; episch, vergangen, 3. Person und lyrisch, zukünftig, 1. Person. Demgegenüber ordnet John Erskine dem Drama die Vergangenheit, der Lyrik die Gegenwart und der Epik die Zukunft zu. Roman Jakobson erkennt schließlich, quasi als Synthese von Dallas und Erskine, der Lyrik die 1. Person sowie Gegenwart und der Epik die 3. Person sowie Vergangenheit zu.7 Ganz im Gegensatz zu Aristoteles und dem antiken Umfeld, dessen Einteilung stets deskriptiv8 bleibt und keine vollständige Gattungstheorie9 ausformt, operiert Johann Wolfgang Goethe. Er stellt in seinen Naturformen der Dichtung klar, dass er die drei „Dichtweisen“10 des Epischen, Lyrischen und Dramatischen als natürlich vorhandene Eigenschaften von Dichtung ansieht. Dieser Anspruch auf Natürlichkeit widerspricht dem Konstruktionscharakter der Gattungen, den neben den antiken Quellen auch die spätere Forschung11 wiederum betont. Doch für die vorliegende Studie

|| 6 Vgl. Friedrich Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. Stuttgart 1967 (Dichtung und Erkenntnis. 1), bes. S. 44. 7 Vgl. Wellek, Warren, Theorie der Literatur, S. 204. 8 Vgl. dazu Oliver Primavesi, der sich strikt dagegen ausspricht, die antiken Quellen als Begründungsrückhalt für die „obsolete neuzeitliche Gattungstrinität“ zu missbrauchen. Vgl. Oliver Primavesi: Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität. In: Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2008 (Text und Kontext. 27), S. 15–32, Zitat S. 29. Ähnlich argumentiert Klaus W. Hempfer, vgl. Klaus W. Hempfer: Überlegungen zur historischen Begründung einer systematischen Lyriktheorie. Ebd., S. 33–60, hier S. 41. 9 Zu den Aufgabenbereichen einer solchen vgl. Dieter Lamping: Art. Gattungstheorie. In: RLW 1 (1997), S. 658–661, hier S. 659f. 10 Goethe, Naturformen der Dichtung, S. 206. 11 Vgl. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 190. Kurt Ruh: Neidharts Lieder. Eine Beschreibung des Typus. In: Ders. Kleine Schriften. Bd. 1: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Volker Mertens. Berlin 1984, S. 107–128, hier S. 108. Detlef Lieske: Mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik in der Stauferzeit. Vom Kreuzzug Friedrichs I. bis zum Kreuzzug Friedrichs II. Appelle in ihrem historischen und literarhistorischen Kontext. Kiel 1989, hier S. 48f. Jürgen Kühnel: Das Tagelied. Wolfram von Eschenbach: Sîne klâwen. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993 (RUB. 8864), S. 144–168, hier S. 146–148. Helmut Tervooren: Gattungen und

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ist es besonders interessant, dass Goethe die drei Gattungen in den Naturformen bereits als Pole auffasst, die keineswegs inaktiv nebeneinanderstehen und deren Merkmale sich in Texten durchaus mischen können. Damit entwickelt sich sein Konzept einigermaßen unerwartet zu einem Hauptbeleg des dynamischen Gattungsverständnisses. Für diesen Grenzen überschreitenden, durchmischenden Fall führt Goethe nun ausgerechnet das Gedicht als besonders geeigneten Ort an12 und beschreibt sein Gattungssystem folgendermaßen: Man wird sich aber einigermaßen dadurch helfen daß man die drey Hauptelemente in einem Kreis gegen einander überstellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beyspiele die sich nach der einen oder nach der anderen Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreyen erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist.13

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Gattung als Ordnungs- und Klassifikationsbegriff zu sehen ist, dessen verschiedene, im konkreten Text funktionalisierten Komponenten aufgrund einer habituellen Konvention zwischen Autor und Rezipient in Kombination miteinander auf eine Gattung deuten, im Einzelnen aber nicht einer Gattung fest zugeordnet werden können. Speziell in Bezug auf die Vormoderne wird dieses Konzept weiter verkompliziert, da nicht nur die Komponenten, sondern auch Gattungen dynamisch zu denken sind. So stellt Jürgen Kühnel fest, dass gerade die mittelalterlichen Gattungen keineswegs als eigenständige Gebilde, sondern als dynamische Systeme gedacht werden müssen.14 Darin stimmt er einerseits mit Kurt Ruh überein,15 der jedoch besonders die aus den antiken Formen nicht ableitbare Eigenständigkeit der mittelalterlichen Gattungen betont, sowie andererseits mit Klaus Grubmüller,16 der für ein außerbegriffliches Vorhandensein gattungsartiger Regeln und Ordnungen innerhalb der konkreten poetischen Werke plädiert. In der Folge ist demnach ein mittelalterliches Gattungsverständnis anzunehmen, das sich auf das Bewusstsein seiner Benutzer und nicht auf ausformulierte Poetiken gegründet hat. Trotz dieser gesteigert unfesten Verhältnisse || Gattungsentwicklung in mittelhochdeutscher Lyrik. In: Gedichte und Interpretationen, hrsg. von ders., S. 11–42, hier S. 11–25. Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften. 6). 12 Vgl. Goethe, Naturformen der Dichtung, S. 206. 13 Ebd., S. 207. 14 Vgl. Kühnel, Das Tagelied, S. 148. 15 Vgl. Ruh, Neidharts Lieder, S. 108. Vgl. weiterführend zu Ruh Volker Mertens: Strukturen – Texte – Textgeschichte. Zum wissenschaftlichen Werk von Kurt Ruh. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg in der Schweiz 1998 (Scrinium Friburgense. 11), S. 49– 62. 16 Vgl. Grubmüller, Gattungskonstitution im Mittelalter, S. 196–199.

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der Vormoderne bleibt im konkreten Text oder Lied die Spannung zwischen einer Verwendung traditioneller Kombinationen und innovativer Elemente bestehen und macht zu einem nicht geringen Grad auch den Reiz des Gattungsbezugs aus.17 Sowohl aus der Dynamik des mittelalterlichen Gattungsgefüges und der abweichenden „literarischen Bewußtseinsbildung“18 der Vormoderne als auch den Überlegungen Goethes lässt sich nun eine Lizenz transgenerischer Untersuchungen ableiten. Bezogen auf verschiedene Primärkorpora wurden diese auch bereits angegangen. So stellen etwa Jens Haustein19 für die Lyrik Hartmanns von Aue, Antje Sablotny20 für den Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein oder Hartmut Bleumer zum Tristan Gottfrieds von Straßburg verwandte Überlegungen an. Letztere Studie ist besonders deshalb herauszuheben, weil sie sich der Thematik mit einem weit höheren Theorieanspruch nähert, der sie letztlich auf den Begriff der ‚generischen Paradoxie‘21 führt. Damit umreißt der Autor das sonderbare Wechselverhältnis, in dem gerade epische und lyrische Texte – diese Zuordnung sei hier wie auch in der folgenden Untersuchung als Tendenz im Sinne eines Gattungskontinuums gemeint – zu stehen scheinen: [Die These, D.R.] lautet, dass es zwischen Epik und Lyrik zu einem speziellen Ausschlussverhältnis kommen kann, das sich zugleich als Bedingungsverhältnis erweist. In diesem Falle beruht die epische Qualität narrativer Texte darauf, dass sie die lyrische Qualität in bestimmter Weise begrenzt, zugleich liegt aber in der lyrischen Qualität ein Präsenzversprechen, dem das Erzählen nachstrebt, ohne es je erreichen zu können. Umgekehrt muss dann gelten: die lyrische Qualität beruht darauf, dass sie Narrationen entgrenzt, was aber wiederum die Geschichte zu einer abwesenden Ursache für das lyrische Präsenzversprechen macht. Und das hieße für die Theoriefigur insgesamt: Das mögliche Spannungsverhältnis zwischen Epik und Lyrik beruht auf einer generischen Paradoxie.22

Das hier verdeutlichte, fluide Gattungsverständnis lässt sich beispielhaft auch an Wolframs von Eschenbach Titurel demonstrieren.23 Bei diesem Werk handelt es sich

|| 17 Vgl. Kühnel, Das Tagelied, S. 148. 18 Hugo Kuhn: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur, München 1956 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. 1956/4), S. 24. 19 Vgl. Jens Haustein: Nichterzählte Geschichten. Zur Minnelyrik Hartmanns von Aue. In: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Ralf Plate. Berlin 2011, S. 83–93. 20 Vgl. Antje Sablotny: Frau Minne im Dialog. Zum poetischen Potenzial einer sprechenden Allegorie. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hrsg. von Marina Münkler. Bern 2011 (ZfGerm Publikationen. Neue Folge. 21), S. 157–184. 21 Vgl. Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, hier S. 22. 22 Ebd. 23 Vgl. Hartmut Bleumer: Titurel. Figurationen der Zeit zwischen Narrativik und Lyrik. In: Poetica 43 (2011), S. 227–266.

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einerseits bedingt durch den Artusstoffkomplex um ein episches Betätigungsfeld, andererseits ist das Fragment im Gegensatz zu den meisten mittelalterlichen Romanen nicht nur in Reimpaarversen, sondern sogar in Strophenform gesetzt. Es enthält zudem eine Fülle bildhafter Elemente und Metaphern, die derart über sich selbst hinaus zu verweisen scheinen, dass dem Werk etwas rätselhaft Lyrisches anhaftet. Ein trennscharfes Gattungssystem kann der Faszinationskraft dieses Textes nicht gerecht werden, da eine Einordnung in die eine oder andere Gattung notwendig den Anteil der jeweils anderen im Text negieren würde. Dieser negierte, doch noch immer vorhandene Textteil würde zudem die ‚aktive‘, in Anspruch genommene Gattung als Störfaktor irritieren. Das vielfach betrachtete Brackenseil24 lässt sich exemplarisch als eines jener Phänomene heranziehen, die in ihrer multiplen Bedeutungsaufladung unweigerlich lyrisch anmuten. Es wird auf textlicher Ebene ausführlich und als nahezu magischer Gegenstand beschrieben,25 was die Vermutung stützt, dass es sich um ein Tristans Petitcrû analog fungierendes Versatzstück von lyrisch schimmernder, semantisch verdichteter Qualität handelt.26 Vom hier zugrunde gelegten Gattungsverständnis lässt sich mithilfe des Modells der ‚Familienähnlichkeit‘ Ludwig Wittgensteins leichter eine Vorstellung bilden.27 Dieses wurde geschaffen, um Begriffe mit unscharfen Grenzen einem tauglichen Gebrauch zuzuführen, und so eignet es sich für das Themenfeld der Gattungen ebenso wie etwa für das von Wittgenstein verwendete Exempel des Spiels. Der Autor beschreibt dabei Phänomene,28 die begrifflich nicht nur unbegrenzt sind, sondern auch unbegrenzt bleiben müssen und sich trotzdem einem Gebrauch nicht verwehren, da demnach nicht der Gebrauch, sondern nur die Definition des Begriffs das Problem || 24 Vgl. Helmut Brackert: Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach ‚Titurel‘. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 19), S. 155–175. 25 Vgl. die Beschreibung des Seils: daz seil was wol zwelf klâfter lanc, die von vier varwe bortesîden wâren, / gel, grüene, rôt, brûn diu vierde, / imer swâ diu spanne erwant an ein ander geworht mit gezierde. // Dar über lâgen ringe, mit berlen verblenket, / imer zwischen den ringen, wol spanne lanc, niht mit steinen verkrenket, / vier blat vier var, wol vingers breit die mâze. / gevâhe ich imer hunt an solhez seil, ez belîbet bî mir, swenne ih in lâze. // Dô manz von ein ander vielt, zwischen den ringen, / ûzen unt innen kôs man dran schrift wol mit kosteclîchen dingen. / âventiure hoeret, obe ir gebietet! / mit guldînen nagelen wâren die steine vaste an die strange genietet. // Smaragede wâren die buochstabe, mit rubînen verbundet. / adamante, krisolîte, grânât dâ stuonden. nie seil baz gehundet / wart, ouch was der hunt vil wol geseilet. / ir muget wol errâten, welhez ih dâ naeme, op waere der hunt dergegene geteilet. // Uf einem samît grüenem als in meigeschem walde / was diu halse ein borte genaet, vil steine von arde manecvalde / drûf geslagen. die schrift ein frouwe lêrte / Gardevîaz hiez der hunt. daz kiut tiuschen ‚Hüete der verte!‘, Titurel, Str. 144–148. 26 Vgl. Tristan, V. 15 815–15 918. 27 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt am Main 2001, hier §65–85 = S. 786–797. 28 Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 786–797.

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darstellt. Die Fähigkeit, mit derart unscharfen Begriffen umzugehen, gründet jedoch nicht in Definition oder Reflexion, sondern bildet sich stattdessen durch schauende Erfahrung heraus. Reflexion und Definition bewirken laut Wittgenstein auf den Gebieten der Ethik und Ästhetik im Gegenteil allgemein „alles – und nichts“29, da deren Begriffe zwar durch eine Familie von Bedeutungen verbunden sind, ihr Gemeinsames sich jedoch nicht klar aussprechen lässt und daher auf Beispiele und Analogien30 angewiesen ist, um sich verständlich machen zu können. Die einzelnen Teile dieser Begriffsannäherung ergeben dann zusammengenommen umrissartig den Begriff. In Bezug auf die Gattung bedeutet dies, dass eine erschöpfende Definition weder möglich noch nötig ist, denn was eine Gattung ist und bedeutet, erschließt sich durch fortgesetzte, praktische Erfahrung, die sukzessive die nötigen Wissensbestandteile offeriert, um daraus ein Gattungsverständnis zu formen, mit dem in der weiteren Rezeption wie Produktion gearbeitet werden kann. Dieses entzieht sich jedoch dem Versuch einer Definition im aristotelischen Sinne.

1.1.2 Ein Begriff vom Begriff Von den vier aristotelischen Aussageweisen (griech. κατηγορόυμενα kategoroumena, lat. praedicabilia) Definition, Proprium, Gattung und Akzidens31 ist die Definition die präziseste, denn sie drückt aus, dass einem Subjekt ein Prädikat notwendig und ausschließlich zukommt. Die hergestellte Beziehung ist somit eineindeutig und in dieser zweidimensionalen Präzision gründet sich auch die Attraktivität dieser Methode.32 || 29 Ebd., S. 793. 30 Zum Verhältnis von Analogie und Metapher vgl. Abschnitt 1.3.2. 31 Vgl. Aristoteles: Topik. Organon V. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Hamburg 1968 (Philosophische Bibliothek. 12), Buch I, S. 5–7. 32 Daneben kann die Prädikation dem Subjekt auch notwendig, jedoch nicht ausschließlich zukommen (‚Gattung‘); oder ausschließlich, jedoch nicht notwendig (‚Proprium‘). Trifft die Aussage weder notwendig noch ausschließlich zu, handelt es sich um eine ‚Akzidenz‘. Mithilfe dieser vier Prädikabilien ist es möglich, die Beziehung zwischen einem Gegenstand und den über ihn gemachten Aussagen zu analysieren und sich somit die Struktur einer Argumentation oder Beschreibung vor Augen zu führen; etwa anhand der Aussagenlogik. Vgl. Klaus Ostheeren: Art. Topos. Probleme der Definition, Historische Typologie, Antike, Mittelalter, Neuzeit, Einzelfachliche Topoi: Dichtung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 9 (2009), Sp. 630–697, hier Sp. 640. Aristoteles’ Gattungsbegriff sollte jedoch nicht vorschnell mit dem literarischen identifiziert werden. Vgl. weiterhin Ulrich Metschl: Art. Definition. In: Metzler Lexikon Philosophie (2008), S. 99f. Zu den unterschiedlichen Wegen, die die Topik im Zusammenhang mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen genommen hat, vgl. im Einzelnen Hermann Danuser: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi: Künste, Musik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 9 (2009), Sp. 711–714. Martin Gessmann: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi: Philosophie. Ebd., Sp. 718–724. Stefan Jordan: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi: Historiographie, Politik. Ebd., Sp. 714–718. Gregor Kalivoda, Klaus Ostheeren: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi:

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Dass eine solche Form der Begriffsbestimmung bezogen auf ethische und ästhetische Zusammenhänge allerdings wenig schlagkräftig sein kann, ist augenfällig und lässt andere Modi geboten erscheinen. Mit Wittgenstein und seinem Konzept der Familienähnlichkeit wurde bereits eine alternative Methode benannt, sich dem Netz an Verhältnissen und Beziehungen anzunähern, das jene Zusammenhänge umgibt. Um schließlich nicht nur das umgebende Netz beschreiben zu können, sondern auch die Verdichtungen jener ästhetischen Begriffe, bietet sich zur Kombination eine prototypenbasierte Denkweise an. Jene umreißt Wolfgang G. Stock etwa folgendermaßen: Als Lösung [für Begriffe mit unscharfen Grenzen, D.R.] bietet sich an, erst gar nicht nach den Grenzen des Begriffs zu suchen, sondern stattdessen mit einem ‚Prototypen‘ zu arbeiten […]. Ein solcher Prototyp kann ‚als bestes Beispiel‘ […] für einen Basic-Level-Begriff betrachtet werden.33

Damit sind zwar die Grenzen des Begriffs nicht weniger unscharf als zuvor, aber durch den Fokuswechsel zugunsten eines Begriffszentrums statt seiner Begrenzung ist die Handhabung trotz unklarer Begriffsintension und -extension34 möglich. Und im Zweifelsfall ist solch eine Bestimmung – da ist Stock unstrittig zuzustimmen – einer unzureichenden oder fehlerhaften Definition vorzuziehen, die durch Zirkularität, fehlende Präzision, emotionale Beteiligung, unbekannte Bezeichnungen oder ex

|| Homiletik, Exegese. Ebd., Sp. 697–702. Filippo Ranieri: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi: Jurisprudenz. Ebd., Sp. 702–706. Valeska von Rosen: Art. Topos. Einzelfachliche Topoi: Künste, Malerei, Architektur. Ebd., Sp. 706–711. 33 Wolfgang G. Stock: Begriffe und semantische Relationen in der Wissensrepräsentation. In: IWP 60 (2009), S. 403–420, hier S. 406. Für einen ähnlichen Ansatz, der sogar vollständig ohne beschreibende Anteile auskommen und ausschließlich mithilfe eines „set of representative examples that flesh out a central prototype plus developments of that prototype along certain ‚motivated‘ lines“ arbeitet, plädiert Michael Sinding. Vgl. Michael Sinding: After Definitions. Genre, Categories, and Cognitive Science. In: Genre 35 (2002), S. 181–219, Zitat S. 190f. Für die Zulassung einer nicht-begrifflichen Arbeitsweise argumentieren ebenfalls Joachim Bromand und Guido Kreis und zwar besonders dann, wenn es sich um Fragen des Ästhetischen handelt, zumal die nicht-begriffliche Kognition als Vorstufe der begrifflichen Erfahrung eine ohnehin allgegenwärtige ist, wie Andreas Bartels darstellt; vgl. dazu im Einzelnen Joachim Bromand, Guido Kreis: Begriffe vom Nichtbegrifflichen. Ein Problemaufriss. In: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Hrsg. von dies. Berlin 2010, S. 11–22. Guido Kreis: Ästhetische Wahrheit. Ebd., S. 501–520. Andreas Bartels: Erfahrung ohne Begriffe. Ebd., S. 219–234, hier S. 231 u. 233. 34 Gottlob Frege zufolge beschreibt die Extension eines Begriffs seine Objekte und Bedeutung, somit seinen Umfang; die Intension jedoch dessen Merkmale und Sinn, somit seinen Inhalt. Am konkreten Beispiel des Morgensterns wird ersichtlich, dass Intension und Extension eines Begriffs nicht notwendig übereinstimmen müssen. Das Objekt, auf das sich die Bezeichnungen ‚Morgenstern‘ bzw. ‚Abendstern‘ extensional beziehen, ist gleich: der Himmelskörper Venus. Intensional sind Morgen- und Abendstern jedoch nicht gleich, denn ihr Sinn ist ein unterschiedlicher, da er an die Tageszeit gebunden ist und somit unterschiedliche Merkmale umfasst. Vgl. Stock, Begriffe und semantische Relationen, hier S. 404.

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negativo beschriebene Eigenschaften terminologische Sicherheit lediglich suggerieren könnte.35 Zumindest Erwähnung finden sollte in einer Studie, die sich maßgeblich auf die Metapher zu stützen beabsichtigt, die Beziehung, die zwischen letzterer und der Begriffsbildung erkannt wurde. Zurückverfolgen lässt sich diese Verbindung etwa bis zur einprägsamen Formulierung Friedrich Nietzsches vom Begriff als ‚Residuum der Metapher‘36. Dessen Theorie von der menschengemachten Wahrheit geht davon aus, dass der Mensch sich aus einem Nervenreiz zunächst ein Bild formt (erste Metapher), das sodann in einen Laut überführt (zweite Metapher) und schließlich durch Abstraktion in einen Begriff gefasst wird, um das individuelle Urerlebnis auf eine Vielzahl ungleicher Fälle anwendbar zu machen. Die Metapher – bei Nietzsche verwendet in ihrer Grundbedeutung einer Übertragungsbewegung – ist folglich die Vorstufe („Großmutter“37) des Begriffs, die mit dessen Genese verschwindet, und das entstehende Begriffsgebäude eine metaphernbasierte Nachahmung der vorgefundenen Raum- und Zeitverhältnisse.38 Das durch Nietzsche der Metapher entgegen gebrachte Misstrauen, das sich wesentlich darauf beruft, dass es sich beim beschriebenen Prozess um einen der Vernunft entgegenstehenden handelt, hat jedoch nicht verhindert, dass die tragende Rolle, die die metaphorische Übertragungsleistung in der Neubildung von Begriffen einnimmt, inzwischen zahlreiche Verfechter hat.39 Im Vorfeld der Abstraktion, die einen Begriff konstituiert, befindet sich demnach eine Phase metaphorischer Relationsfindung, deren Aufgabe es ist, das neu zu beschreibende Feld im Rückgriff auf bekannte Formen und Zusammenhänge zunächst zu erkunden, bevor es im Folgenden abstrahierend vermessen werden kann. Als Beispiele für derartige Übertragungsleistungen mögen der Ausdruck der Leistung von Motoren in Pferdestärken oder die Analogie zwischen Computer und Mensch

|| 35 Vgl. ebd., S. 405f. 36 Ernst Müller: Art. Mythos/mythisch/Mythologie. In: Ästhetische Grundbegriffe 4 (2002), S. 309– 347, hier S. 335. 37 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Ders. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1: Nachgelassene Schriften 1870–1873. Hrsg. von Giorgio Colli. München 1980, S. 873–890, hier S. 882. 38 Vgl. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge, S. 886. Hieraus wird deutlich, dass Nietzsche dem Begriff der Wahrheit äußerst skeptisch gegenübersteht. Daher rührt wohl auch Debatins Einschätzung, Nietzsche pflege im Gegensatz zum erkenntnistheoretischen Zweig der Metapherntradition ein äußerst skeptisches Verhältnis zur Metapher und betrachte sie als unvernünftig und irrational. Vgl. Bernhard Debatin: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin 1995, S. 50. Vgl. dazu weiterführend Geert Keil: Die Metapher – klüger als ihr Verfasser? Rezension zu Bernhard Debatin, Die Rationalität der Metapher. In: DZPh 45 (1997), S. 318–321. 39 Vgl. Franziska Wessel: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan und Isolde‘. München 1984 (MMS. 54), S. 155.

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genügen, die sich bis in Details wie den Virus erstreckt. Sind nach dem Umweg über die Metapher einmal feste, abstrakte Begriffe und Formeln gefunden,40 so ist dieser Schritt unumkehrbar und der Weg zurück zur Metapher versperrt, wie Hans Blumenberg gezeigt hat.41 Auch wenn die innerhalb einer solchen Sichtweise angewandte Funktionalität der Metapher mit der in der vorliegenden Studie vorgebrachten narrativen Wirkung als kleinstem gemeinsamen Nenner letztlich nur die Verknüpfung zweier zuvor unverbundener Bereiche gemein hat, verdeutlicht dies doch sowohl Relevanz und Bandbreite der metaphorischen Operationen als auch die erfolgreiche Umsetzung eines Prozesses, der sich durch Unschärfe und Unvorhersehbarkeit auszeichnet. Wenn es in Bezug auf die Metapher möglich ist, Wissen trotz unscharfer Begriffsgrenzen erfolgreich zu kumulieren, sollte daraus eine ausreichende Lizenz abzuleiten sein, auch Gegenstände der folgenden Untersuchung, wie etwa die Lyrik, über deren Merkmale statt definitorisch zu beschreiben. Ebenso einer jener Begriffe aus Ethik und Ästhetik, auf die Wittgenstein sich bezieht, ist neben der Lyrik zweifellos auch die Gattung, von der sich vorerst vielleicht das folgende Bild zeichnen lässt:42

|| 40 Vgl. Peter Prechtl: Art. Begriff. In: Metzler Lexikon Philosophie (2008), S. 65f. Vgl. dazu Gottlob Frege: Funktion und Begriff. In: Ders. Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. von Günther Patzig. Göttingen 2008, S. 1–22. 41 Vgl. Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1957). In: Ders. Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main 2001 (stw. 1513), S. 193–209, hier S. 204. Um dieser Ansicht der Beziehung zwischen Begriff und Metapher gerecht zu werden, schlägt Blumenberg den ‚Terminus‘ vor, den im Gegensatz zur klar umrissenen ‚Begriff‘ ein weites Feld mythischer Transformationen umgeben kann, die vielgestaltige Metaphern hervorbringen. Vgl. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1957). Ebd., S. 139–171, hier S. 139. Vgl. zur Lichtmetapher weiterführend Johann Kreuzer: Art. Licht. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern (2008), S. 207–224. Ein alternatives Verständnis des ‚Terminus‘, das die formalen Zwänge der Begriffsdefinition umgeht, bieten Reiner Arntz, Heribert Picht und Klaus-Dirk Schmitz. Demnach umfasst der Terminus die Einheit aus einem Begriff und dessen Benennung. Den Begriff wiederum verstehen die Autoren als Denkeinheit, die das Gemeinsame verschiedener Objekte zusammenfasst, und die Benennung als die aus mindestens einem Wort bestehende Bezeichnung des Begriffs. Der Terminus ist in diesem Sinne also keineswegs eine Art Begriff ohne Beweislast, sondern die Kombination des abstrakten Gedankens und seiner konkreten Ausformulierung. Vgl. Reiner Arntz, Heribert Picht, Klaus-Dirk Schmitz: Einführung in die Terminologiearbeit. Hildesheim 1991 (Studien zur Sprache und Technik. 2), S. 37–44. Beiden Konzepten, dem Blumenbergs und dem der obigen Autoren, ist der Gedanke eigen, dass neben der präzisen Einheit des Begriffs eine zweite, weniger eng gefasste notwendig ist, um all jene Inhalte anzubinden, die im Begriff zwar keinen Platz haben können, aber dennoch als ihm zugehörig erkannt werden; sei dies nun in einem mythischen oder methodischen Sinne verstanden. Daraus folgt, dass einmal mehr der zusätzliche Einbezug ausweitender Bedeutungsfelder als sinnvolle Ergänzung zu den trennscharfen Umrissen einer begrifflichen Einkreisung wahrgenommen wird, um blinden Flecken einer Begriffsbildung entgegenzuwirken, die aus einem Übermaß starrer Präzision resultieren. 42 Vgl. hier und im Folgenden Wilhelm Vosskamp: Art. Gattungsgeschichte. In: RLW 1 (1997), S. 655–658, hier S. 655.

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Gattungen dienen durch ihren halbfesten Wiederholungscharakter dem Aufrufen von Erwartungen, die erfüllt oder aber gezielt enttäuscht werden. Sie bezeichnen also Kommunikationsangebote zwischen Autor und Rezipienten,43 die darauf gründen, dass beide Kommunikationspartner über ein ähnliches Grundwissen der Gattungsmuster verfügen. Trifft dies nicht zu, ist die gelungene Kommunikation und damit das literarische Vergnügen gefährdet. In der Folge kann Gattungsgeschichte immer nur eine Geschichte der Trans- bzw. Intertextualität sein und die Gattung ein synchron wie diachron unscharfer, systematisch offener Begriff, der stets Erläuterungen den angenommenen Umfang betreffend notwendig macht.44

1.2 Lyriktheorie 1.2.1 Die Gattung Lyrik als Merkmalsbündel Die Studien Eva Müller-Zettelmanns stellen einen der umfassendsten Versuche der jüngsten Vergangenheit dar, eine theoretische Verortung der Lyrik vorzunehmen. Sie eignen sich auch daher als Ausgangspunkt der Betrachtung, weil sie bevorzugt Tendenzen der Gattungsauffassung formulieren und so an die vorgebrachten Konzepte anschließbar sind.45 Müller-Zettelmanns Gattungstendenzen können verstanden werden als Teil eines offenen Konglomerats von Beziehungen, die der konkrete Text zum Gattungsprototyp ‚Lyrik‘ aufbaut. Aus einer Familienähnlichkeit mehrerer Texte kann sich der Umriss eines solchen Prototypen ebenso ergeben, wie er durch eine Auswahl umreißender Charakteristika beschreibbar ist. Konkret nennt Müller-Zettelmann acht kennzeichnende Eigenschaften lyrischer Texte: Kürze des Umfangs, Artifizialität des Ausdrucks, ästhetische Selbstreferentialität, Devianz vom Alltäglichen, Reduktion auf wenige Eindrücke, Ikonizität der Beziehung zum Referenzobjekt, eine Tendenz zur Musikalität und schließlich

|| 43 Vgl. ebd., S. 656 sowie Wellek, Warren, Theorie der Literatur, S. 212. 44 Vgl. ebd., S. 210f. 45 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 64. Vgl. als Gattungsüberblick ebenfalls Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009. Ganz durchhalten kann Müller-Zettelmann dieses Vorhaben zwar nicht, doch wirkt sich dies keinesfalls auf den Anspruch ihres Ansatzes aus: „Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß die lyrische Gattung ein ‚patchwork‘ aus illudierenden und illusionsfeindlichen Faktoren darstellt, wobei besonders die Charakteristika Kürze, Artifizialität, ästhetische Selbstreferentialität und Devianz als eher illusionshinderliche, das Merkmal der Subjektivität und einige andere Teilaspekte anderer Charakteristika als illusionsförderlich zu werten sind. Dem textseitigen gleichberechtigten Nebeneinander pro- und anti-illusionistischer Elemente entspricht ein leserseitiges Pendeln zwischen der rationalen Analyse (z. B. selbstreferentieller Muster) und dem Erleben fiktionaler Welten.“ Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 154. Kursivierungen im Original Sperrsatz.

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Überstrukturiertheit der Form.46 Ein alternatives Mehrkomponentenmodell schlägt Werner Wolf47 vor, dessen zehnstelliger Merkmalkatalog eine zumindest potentiell vorhandene Mündlichkeit und Performanz, Kürze, absolute Rede, Devianz, Versform und akustisches Potential, Selbstreferenz und Selbstreferentialität, die Schilderung eines einzelnen, ungefilterten Bewusstseins, die verstärkte Ausrichtung auf die Wahrnehmung statt das Wahrgenommene und – nota bene – die Unwichtigkeit von Handlung im Sinne einer narrativen Entwicklung als charakteristische Kerneigenschaften der lyrischen Gattung auflistet. Dazu ist zu bemerken, dass zum einen jeder Text, dessen narrative Potentiale im Folgenden betrachtet werden, damit im Gattungssystem Wolfs nur peripher lyrisch sein könnte bzw. seine Narrationsansätze nicht Teil seiner Bindung an das lyrische Zentrum des generischen Kontinuums wären. Zum anderen deutet sich in der nur teilweise gegebenen Überschneidung der beiden Merkmalreihen an, dass die Charakteristika sich scheinbar wiederum in zentrale und periphere scheiden lassen. Und drittens zeigt sich anhand der offensichtlichen geringen Trennschärfe, die ein Kriterium wie die Kürze des Textes aufweisen muss,48 dass es sinnvoll ist, die vorgeschlagenen Charakteristika eher als Hinweise auf einen lyrischen Anteil zu lesen: Zwar mögen Kürze und Versform auf eine lyrische Konzentration der Gedanken und Worte verweisen, doch ihre Abwesenheit ist noch keine hinreichende Begründung gegen eine im Übrigen gegebene Gattungstendenz. Andernfalls könnte eine lyrische Zuordnung bei umfangreichen Gedichten zu Unrecht infrage stehen. Wenn dies im Falle epischer Einflüsse wie beim Tagelied Günthers von dem Forste Nu her, ob ieman kan verneme (KLD 17 V) noch angängig sein mag, so ist es das wohl kaum in Bezug auf beispielsweise Friedrich Schillers Abend,49 das sich trotz mangelnder Kürze einer epischen Tendenz verweigert. Durch eine skalierbare Bezeichnung wie die ‚lyrischen Qualität‘ eines Texts, etwa bei Hartmut Bleumer,50 lässt sich ein uneindeutiger Text in den sich überschneidenden Peripherien mehrerer Gattungen verorten. Anhand verschiedener Merkmale wie der Unwichtigkeit von Handlung, musikalischem, akustischem sowie mündlich-performativem Potential wird deutlich, dass das lyrische Zentrum eine besondere Beziehung zur Zeit und deren Verstreichen

|| 46 Vgl. ebd., S. 58, 76 u. 93. 47 Vgl. Wolf, The Lyric, S. 24–30. 48 Als Kriterium kritisiert bei Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 2000, S. 87. 49 Vgl. Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt am Main 1992 (BDK. 74), S. 465–468. 50 Vgl. Hartmut Bleumer: Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub. In: Wolfram-Studien 21 (2013), S. 165– 201, hier S. 167–169.

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besitzt.51 Musik und Gesang, die mit der Lyrik schon aufgrund ihres terminologischen Ursprungs in der Leier (lat. lyra) verbunden sind, haben eine besondere Bindung an die Zeit, weil sie durch deren unweigerliches Verstreichen stets auf das Hier und Jetzt der Artikulation verwiesen werden, das auch das Hier und Jetzt der Rezeption ist. Anders gestaltet sich dies etwa im Falle eines geschriebenen Textes oder der Bildkünste, bei denen zum einen Artikulation und Rezeption auf zwei verschiedene Zeitpunkte entfallen und denen zum anderen ein Spiel mit den Implikationen der Rezeption als Projektionsfläche künstlerischer Aussagen einigermaßen fremd ist.52 Der bereits vergangene Teil der Musik befindet sich dabei ebenso außerhalb des augenblicklichen Horizonts der Rezeption wie der noch folgende. Und die verschiedenen Teile können auch nicht gleichzeitig präsent sein, während bei der Rezeption eines Bildes all seine Bestandteile selbst dann noch gleichzeitig wirken, wenn der Rezipient sie einzeln und nacheinander betrachtet. Das Hören ist demgegenüber zwar eindringlicher, da das Gehör nicht vergleichbar leicht ausblenden kann wie der Gesichtssinn, aber auch vergänglicher in seiner Wahrnehmung: Sobald die Musik verklungen ist, bleibt sie nur noch der Erinnerung zugänglich. Die Lyrik steht – je nachdem, ob sie lesend visuell wahrgenommen wird oder akustisch als vorgetragene Kunst – zwischen diesen beiden Modi, wobei selbst schriftliche Lyrik durch gebundene Sprache, Klangpoesie und Vergleichbares eine Mündlichkeit nachzubilden bemüht ist. Müller-Zettelmanns Tendenz zur Musikalität und Wolfs akustisches Potential verweisen darauf.

|| 51 Dies verdeutlicht auch Karlheinz Stierle, wenn er in Bezug auf Mörikes Lyrik von einem elastischen Präsens spricht, das die Vergangenheit mitumfasst und histoire- wie discours-Ebene dynamisch verschränkt. Vgl. Karlheinz Stierle: Lyrik. Eine Gattung zweiter Ordnung? Ein theoretischer Vorschlag und drei Paradigmen. In: Sprachen der Lyrik, hrsg. von Hempfer, S. 131–152, hier S. 142. 52 Selbstverständlich lassen sich auch hier Gegenbeispiele finden; auf dem Gebiet der rezenten deutschen Literatur etwa bei Walter Moers, dessen Mythenmetz’sche Abschweifungen teils ausführlich mit der Position des Lesers bei dessen Lektüre spielen. Dabei handelt es sich um einen fußnotenartigen Sonderraum des Textes, in dem der Erzähler sich nach eigener Aussage ohne Rücksicht auf das Interesse des Lesers oder das Voranschreiten der Handlung alles erlauben kann, wonach ihm der Sinn steht, beispielsweise eine ausführliche Beschreibung seines Arbeitsplatzes oder eine umfängliche Meditation über seine größtenteils eingebildeten Krankheiten. Vgl. etwa Walter Moers: Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller. Frankfurt am Main 2000, S. 34–46. Auch die vier Seiten füllende 680-fache Wiederholung des absichtsvoll sinnlosen Ausdrucks „Brummli“ zur Verdeutlichung der Macht des Erzählers über den Leser gehört in diese Kategorie. Vgl. ebd., S. 54– 57. In der Malerei mag das Trompe-l’œil als Beispiel dienen, mit dessen perspektivischer Täuschung zwar einerseits rein praktisch mangelhafte Architekturen ausgebessert, andererseits aber auch die Täuschungsmanöver des Betrachters im Akt der Rezeption zum Hauptanliegen des Werks gemacht werden können (etwa bei Cornelis Gijsbrechts).

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Die merkmalhafte Abwesenheit oder Unwichtigkeit von Handlung, von der Wolf spricht, scheint sich in Form des Fehlens eines in Relation gesetzten Zuvor und Danach aus ebendieser Schwäche nachverfolgbarer zeitlicher Sequentialität zu speisen. Sie ist gleichermaßen ein Merkmal musikalischer Werke und prototypisch lyrischer Texte, die folglich in der Rezeption eine Art ewiges Jetzt vermitteln.53 In engem Zusammenhang damit steht die besondere Ästhetik lyrischer Texte, die durch Müller-Zettelmanns Devianz und Selbstreferentialität sowie durch Wolfs Merkmale der Wahrnehmung und des Bewusstseins hindurchscheint: Häufig wurde die Lyrik als subjektivste der Gattungen aufgefasst.54 Der nachhaltige Bezug auf den Sprecher, der sich aus der starken Ich-Rede in lyrischen Texten ergibt, ermöglicht demnach dem Rezipienten über identifikatorische Prozesse eine grundlegend tiefere ästhetische Erfahrung als episch-erzählende Texte, die den Rezipienten durch die Zwischenschaltung verschiedener Figurenperspektiven und Erzählebenen, Zeitgefälle und konkurrierender Bewertungen vom geschilderten Geschehen distanzieren. Demgegenüber gibt die tendenzielle Beschränkung auf nur eine Perspektive im lyrischen Text dem Leser die Möglichkeit zur ästhetischen Erfahrung aus größerer Nähe. Caroline Emmelius und Hartmut Bleumer haben diese Möglichkeit der Lyrik als ‚ästhetische Präsenzerfahrung‘ bezeichnet.55 Diese realisiert sich je nach Rezeptionssituation unterschiedlich: In der (semi-)öffentlichen Aufführungssituation, wie sie speziell für mittelalterliche Lyrik anzunehmen ist, kommt der Klanglichkeit der Lyrik besondere ästhetische Präsenz zu;56 in der privaten Lektüre ist jedoch davon

|| 53 Hartmut Bleumer weist ebenfalls darauf hin, dass diese Abwesenheit eines zeitlichen Prozesses und das folglich präsentische Schweben in einem Enthobenheitszustand nicht nur besonders geeignet ist, um die höfische Minne darzustellen, sondern dass in der zeitenthobenen Lyrik vielmehr die einzige Möglichkeit liegt, die fragile Minnebeziehung auf Dauer zu stellen; Dauer als überzeitliches, allgegenwärtiges Jetzt. In der ästhetischen Erfahrung der Lyrik findet folglich eine Erfüllung der Minne statt. Vgl. Hartmut Bleumer: Der Frauendienst als narrative Form. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. Hrsg. von Sandra Linden, Christopher Young. Berlin 2010, S. 354– 397, hier S. 390–394. Ders., Titurel, S. 245 u. 253. Ders., Gottfrieds ‚Tristan‘, S. 51. Ders., Minnesang als Lyrik, S. 190. 54 Vgl. Dallas, Jakobson in der Zusammenstellung Welleks und Warrens im Abschnitt 1.1.1. 55 Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen und Interferenzen, S. 19 u. 28. Vgl. weiterführend dazu Frauke Bode: Rezension zu Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius. In: Diegesis 4 (2015), S. 110–119 sowie Gabriel Viehhauser: Rezension zu Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius. In: Germanistik in der Schweiz 9 (2012), S. 150–163. 56 Vgl. weiterführend zur Klanglichkeit Burkhard Hasebrink: Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 387–404. Susanne Köbele: Zwischen Klang und Sinn. Das Gottfried-Idiom in Konrads von Würzburg Goldene Schmiede (mit einer Anmerkung zur paradoxen Dynamik von Alteritätsschüben). In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Studien. 8), S. 303–333. Dies.: Rhetorik und Erotik. Minnesang als „süßer Klang“. In:

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auszugehen, dass die lyrische Unmittelbarkeit, auf die Müller-Zettelmann mithilfe der Subjektivität verweist, durch den Rezipienten in einem meditativen Zustand der Affizierung57 ‚still‘ umgesetzt wird. Solche ästhetischen Erfahrungen sind deshalb jedoch nicht auf lyrische Texte beschränkt, sondern können als prototypisch lyrisches Merkmal auch Texten anderer Gattungsqualitäten zukommen. Bleumer macht zum einen darauf aufmerksam, dass diese auch in epischen Texten auftreten, was den Rezipienten einerseits zum direkten Teilnehmer des Textes und andererseits gleichzeitig zum reflektierenden Beobachter macht.58 Damit lässt sich eine jener Transgressionen in Gegenrichtung benennen, die nicht Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein sollen. Zum anderen ist die Verwendung metaphorischer Sprache, die laut Jörg Jost mit einem ästhetischen Erleben des Rezipienten zutiefst verbunden ist und daher im Sinne der Merkmale Artifizialität und Reduktion als lyrisches Phänomen betrachtet werden kann, in anderen Gattungen absolut denkbar. Ein starker Realitätsbezug wie in der Didaktik oder Polemik ist dabei unproblematisch, führt die Metapher nach Josts Auffassung doch über die Ästhetik auch zu einem tieferen Verständnis des metaphorisch vermittelten Sachverhalts.59

|| Poetica 45 (2013), S. 299–331. Auch Bleumer untersucht Effekte und Nutzen des Klangs in weiteren Kontexten, so beispielsweise als sprachliche Emergenzform von Emotionen, vgl. Hartmut Bleumer: Der lyrische Kuss. Emotive Figurationen im Minnesang. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology. 24), S. 27–52, hier S. 28. 57 Zur Ausweitung des Begriffs der Theatralität vgl. einführend Helmar Schramm: Art. Theatralität. In: Ästhetische Grundbegriffe 6 (2005), S. 48–73. Grundlegend auch Erika Fischer-Lichte: Theater als kulturelles Modell. In: Dies. Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen 2001, S. 269–290. Dies.: Für eine Ästhetik des Performativen. Ebd., S. 139–150. In Hinblick auf mittelalterliche Kontexte beispielsweise Andreas Kotte: Theatralität im Mittelalter. Das Halberstädter Adamsspiel. Tübingen 1994 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater. 10) und speziell zur inneren Performanz Christian Schmidt: Innere Performanz. Formen theatraler Frömmigkeit in niederdeutschen Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents. Masterarbeit. Hamburg 2013 sowie dessen Dissertationsprojekt: Drama und Betrachtung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert. Verschiedene Mechanismen, die eine affizierende Teilnahme bewirken, untersucht genauer Jan Söffner: Partizipation. Metapher, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen. Paderborn 2014. 58 Vgl. Hartmut Bleumer: Im Feld der aventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke. Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology. 10), S. 347–368, hier S. 361. 59 Vgl. Jörg Jost: Topos und Metapher. Zur Pragmatik und Rhetorik des Verständlichmachens. Heidelberg 2007 (Sprache. Literatur und Geschichte. 34), S. 356. Vgl. weiterhin zur Vorstellung der grundlegenden These ders.: Topisches und metaphorisches Verständlichmachen. Skizze eines paradigmatisch-rhetorischen Ansatzes. In: Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Hrsg. von Hardarik Blühdorn [u. a.]. Berlin 2006 (Institut für Deutsche Sprache. Jahrbuch 2005), S. 379–382.

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Als Tendenzen eines prototypisch Lyrischen können folglich addierend gelten: Kürze, Artifizialität, Selbstreferentialität, Devianz, Reduktion, Ikonizität, Überstrukturiertheit, Mündlichkeit, Versform, ein akustisches Potential, die Schilderung eines einzelnen, ungefilterten Bewusstseins, Konzentration auf Einheit der Artikulation und Rezeption sowie auf ästhetische Erfahrung und Wahrnehmung, Nebensächlichkeit von Handlung,60 absolute Rede sowie, teils sich aus dem Gesagten bereits ergebend, eine übergeordnete Tendenz zur Nähe, auf die schon Emil Staiger hinweist: Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.61

Die so konstatierte Nähe bezieht sich an dieser Stelle zunächst auf eine Unmittelbarkeit zwischen Werk(aussage) und Rezipient, die in den ästhetischen Mechanismen der Lyrik zu gründen scheint. Ihr gegenüber steht eine tendenzielle Distanz epischer Werke, die aus der Vielfalt der gebotenen Perspektiven sowie deren Vermittlung durch Erzählerinstanzen resultiert.

1.2.2 Das Lyrische Ich – Narratologischer Anhaltspunkt oder romantischer Ballast? Das Verbindungselement zwischen Werk(aussage) und Rezipient und damit Teilhaber an lyrischer Distanzarmut ist jene Instanz, die als Lyrisches Ich in die Lyriktheorie eingegangen ist. Es kann jedoch nicht nur auf eine beträchtliche Verwendungsgeschichte zurückblicken, sondern war darüber hinaus innerhalb verschiedenster Fragestellungen Ausgang, Ziel oder Instrument der Argumentation. Grundsätzlich bezeichnet das Lyrische Ich eine Äußerungsinstanz des Gedichts, wobei nicht nur die Frage, wie diese Äußerungsinstanz aufzufassen sei, sondern auch deren Implikationen und Verhältnisse zu Autor und Rezipient sowie ihre Funktion und Befugnisse hinreichenden Diskussionsstoff boten und bieten.62

|| 60 Von einer Abwesenheit der Handlung zu sprechen, geht indessen zu weit, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Es mag zwar sein, dass das Interesse des prototypisch Lyrischen nicht die Explikation von Handlung um der Handlung willen ist, diese kann aber durchaus ein Vehikel dessen sein, was lyrisch ausgedrückt werden soll – sei es ein Bewusstsein oder eine Wahrnehmung, eine akustische Aussage oder artifizielle Sprachform. 61 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1961, S. 52f. Vgl. dazu weiterführend ders.: Lyrik und lyrisch. In: DU 4 (1952), S. 7–12. 62 Vgl. zur übersichtlichen und konzisen Darstellung einzelner Positionen Jan Borkowski, Simone Winko: Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen

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Wie Jörg Schönert feststellt,63 hat sich die Literaturwissenschaft im Großen und Ganzen von der romantischen Ansicht verabschiedet, das Lyrische Ich stehe als Aussageinstanz dem Autor besonders nahe oder sei gar mit ihm zu identifizieren. Die in dieser Frage bekannteste Gegenposition der letzten Jahre bezieht Harald Haferland, der in seiner Abhandlung Hohe Minne davon ausgeht, dass das Lyrische Ich der Kanzonen dem künstlerisch schaffenden Dichter entspricht und daher biografisch anmutende Aussagen auf seinen Schöpfer direkt zurückzuführen sind.64 Demgegenüber lautet der Schluss Schönerts nach Abschreiten einer Traditionslinie der Forschungen zum Lyrischen Ich65 jedoch, sich zur Analyse und Interpretation lyrischer Texte von der Kategorie des Lyrischen Ichs ganz zu verabschieden und sie stattdessen durch eine Dreiheit aus Empirischem Autor, Implizitem Autor und Stimme zu ersetzen.66 Dem muss in mehrfacher Hinsicht widersprochen werden. || Ersetzungsvorschlägen. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 43–78, hier S. 53f. u. 59f. Vgl. ausführlicher Bernhard Sorg: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984 (Studien zur deutschen Literatur. 80). Verknüpft mit dem Lyrischen Ich ist auch die Frage der Identität des Ich-Erzählers in epischen Kontexten, vgl. dazu beispielsweise Katharina Philipowski: Autodiegetisches Erzählen in der mittelhochdeutschen Literatur oder: Warum mittelalterliche Erzähler singen müssen, um von sich erzählen zu können. In: ZfdPh 132 (2013), S. 321–352. 63 Vgl. Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis [u. a.]. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 71), S. 289–294, hier S. 289. 64 Vgl. Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000 (ZfdPh Beihefte. 10), S. 17–26. 65 Diese umfasst im Einzelnen Kaspar H. Spinner: Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt am Main 1975. Karlheinz Stierle: Die Identität des Gedichts. Hölderlin als Paradigma. In: Identität. Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik. 5.–11. September 1967 in Bad Homburg. Hrsg. von Odo Marquard, ders. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. 8), S. 505–552. Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983 (Germanistische Abhandlungen. 54). Sorg, Das lyrische Ich. Lamping, Das lyrische Gedicht. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 1995 (Sammlung Metzler. 284). Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1995. Wolfgang G. Müller: Das Problem der Subjektivität der Lyrik und die Dichtung der Dinge und Orte. In: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. Hrsg. von Ansgar Nünning. Trier 1995 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium. 1), S. 93–105. 66 Vgl. Schönert, Empirischer Autor, S. 293f. Dagegen wendet sich beispielsweise Matíaz Martínez: Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Hrsg. von Heinrich Detering. Stuttgart 2002 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 24), S. 376–389. Zur Stimme vgl. weiterführend besonders die Arbeiten Sybille Krämers, im Einzelnen beispielsweise Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität. In: Paragrana 7 (1998), S. 33–57. Dies.: Die ‚Rehabilitierung der Stimme‘. Über Oralität hinaus. In: Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Hrsg. von Doris Kolesch, dies. Frankfurt am Main 2006 (stw. 1789), S. 269–300. Dies.: Die Heterogenität der Stimme. Oder: Was folgt aus Friedrich Nietzsches Idee, dass die Lautsprache aus der Verschwisterung von Bild und Musik

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Zum einen ist mit Müller-Zettelmann gegen Schönert davon auszugehen,67 dass es sich beim Lyrischen Ich sehr wohl um einen nützlichen Begriff zur Beschreibung von Lyrik handelt, solange nicht stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt wird, was damit beschrieben werden soll. Zwar mag Schönerts Kritik der teils widersprüchlichen Forschung zum Lyrischen Ich insofern berechtigt sein, als dass diese der Äquivokation68 Vorschub leistet. Doch eine radikale Neuprägung der Termini in seinem Sinne würde auch den nur schwer zu richtenden Bruch mit allen vorangegangenen Forschungen bedeuten, obwohl es schließlich gerade diese sind, aus denen auch Schönert seine Neuprägungen schöpft. Zum anderen vereinfachen diese das Feld nicht unbedingt, indem sie eine Trias neuer Instanzen an die Stelle der einzelnen, alten setzen, zumal deren Bezeichnungen teils auf eine beinahe ebenso von Missverständnissen geprägte Forschungsgeschichte zurückblicken können wie das Lyrische Ich.69 Schönerts Ansatz bewirkt so lediglich ein Verschieben des Problems und keineswegs eine Lösung. Diese kann nur in der behutsamen Aufarbeitung des Begriffs und seiner reflektierten Nutzung bestehen. Die Hauptdiskussion um die Kategorie des Lyrischen Ichs spielt sich allerdings jenseits der Extrempositionen von Haferland und Schönert ab: Dass das Lyrische Ich ein nützliches Beschreibungsinstrument, nicht aber mit dem Autor gleichzusetzen ist, darüber herrscht weitestgehend Konsens – über seinen weiterführenden Charakter jedoch nicht. Die Forschungsgeschichte beginnt bei Margarete Susman, die den Begriff des Lyrischen Ichs 1910 erstmals verwendet, um ein im lyrischen Text etabliertes Ich als ein allgemeines, ewiges Objektiv-Ichs zu beschreiben, das vom Autor aus seinem subjektiven Ich erschaffen wird.70 Aufgegriffen, ausgearbeitet und einer breiteren

|| hervorgeht? In: Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität. Hrsg. von Waltraud Wiethölter [u. a.]. München 2008, S. 57–73. Vgl. weiterhin Christian Stetter: Stimme und Schrift. Ebd., S. 115–131. 67 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 26. 68 Kritisch wird dies insbesondere dann, wenn hieraus Fehlschlüsse entstehen. Vgl. Peter Prechtl: Art. Äquivokation, äquivok. In: Metzler Lexikon Philosophie (2008), S. 40. 69 Vgl. dazu die Diskussion um die häufig fälschliche Übersetzung des implied author Wayne C. Booths bei Gérard Genette, der feststellt: „Dieser Begriff, ich erinnere daran, wurde 1961 von Wayne Booth in die Debatte geworfen, in der englischen Form implied author, was wir im Französischen zu Unrecht mit ‚auteur implicite‘ wiedergegeben haben, da das Adjektiv die Tendenz hat, etwas zu fixieren und zu hypostasieren, was im Englischen nur ein Partizip war.“ Genette, Die Erzählung, S. 285. Kursivsetzung im Original. Im Weiteren bemerkt Genette, dass der implizite Autor in der Begriffsbildung, wie sie in der Nachfolge Booths vorgenommen wurde, als dritte Instanz neben bzw. zwischen dem Erzähler und dem realen Autor unnötig ist. Vgl. ebd., S. 285f. Die originale Bestimmung bei Booth vgl. Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst. Bd. 1. Heidelberg 1974 (UTB. 384), S. 77– 84. 70 Vgl. Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910 (Kunst und Kultur. 9), S. 16–20.

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Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird diese erste Bestimmung durch Oskar Walzel.71 Dieser unterstützt Susmans Trennung des subjektiven vom Lyrischen Ich durch seine These vom Fehlen des ‚Ich‘ gerade in besonders subjektiver, gefühlsbetonter Lyrik.72 Bei dieser „Entichung der Lyrik“73 ist die Lyrik demnach derart subjektiv geworden, dass sie sogar die Thematisierung der eigenen Aussageinstanz vergisst. Das Verständnis der Argumentation Walzels wird teils durch eine mangelnde Trennung der Text- und Rezeptionsebene erschwert, die erst durch Heinz Schlaffer vorgenommen werden sollte. Schlaffers These vom Verlust der pragmatischen Funktion der Pronomen74 widerspricht Walzels Ausführungen gerade nicht, sondern erhellt sie vielmehr. Eine zweite Abweichung gegenüber Walzel stellt Schlaffers Akzentuierung der Leser, deren Allgemeingut das Lyrische Ich ist,75 statt des Autors dar. Mit ihr ist die grundlegende Unterscheidung der Perspektive deutlich, der sich die Mehrzahl der einschlägigen Untersuchungen unterordnen: Autor- oder Leserzentrierung. Wieder auf den Autor fokussiert Käte Hamburgers Untersuchung des Lyrischen Ichs,76 die lediglich von einer Schöpfer-Geschöpf-Beziehung der Instanzen Autor und Lyrisches Ich ausgehen will und sich so zum einen auf argumentativ sicherem Terrain bewegt und zum anderen beispielhafte Vorsicht walten lässt bei der letzten Entscheidung über Identität oder Nicht-Identität beider Instanzen. Wegweisend ist auch Hamburgers These, im Lyrischen Ich primär ein Strukturprinzip der Lyrik zu erblicken,77

|| 71 Vgl. Oskar Walzel: Schicksale des lyrischen Ichs (1916). In: Ders. Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Heidelberg 1968, S. 260–276. Vgl. weiterführend zu Walzel Walther Schmitz: Oskar Walzel (1864–1944). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König [u. a.]. Berlin 2000, S. 115–127. 72 Konkret bezieht sich Walzel auf Trakls Nachts und Unterwegs, vgl. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. 2., ergänzte Auflage. Teil 1: Gedichte, Sebastian im Traum, Veröffentlichungen im Brenner 1914/1915, sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten, Nachlaß, Briefe. Hrsg. von Walther Killy. Salzburg 1987, S. 96 u. 81. 73 Walzel, Schicksale des lyrischen Ichs, S. 264. 74 Vgl. Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 38–47. 75 Die Frage nach dem Personalpronomen des Lyrischen Ichs ist noch immer nicht entschieden. Gero von Wilpert legt es streng auf die erste Person Singular fest, Harald Fricke und Peter Stocker halten es jedoch für pronomenunabhängig und plädieren daher auch für ein ‚Lyrisches Subjekt‘ anstelle des ‚Lyrischen Ichs‘. Vgl. im Einzelnen Gero von Wilpert: Art. Lyrisches Ich. In: Sachwörterbuch der Literatur (2001), S. 493. Harald Fricke und Peter Stocker: Art. Lyrisches Ich. In: RLW 2 (2007), S. 509–511, hier S. 509. Es scheint eine Abstraktionsfrage zu sein, wie oben in Bezug auf enge Definitionsbemühungen mit einem erweiterten Hof der Bedeutungen beschrieben: Das Lyrische Ich mag in erster Linie ein Ich sein, aber ohne die Fälle, in denen dieser pronominale Marker fehlt, erfasst ein Definitionsversuch nie die gesamte Problematik. 76 Vgl. Hamburger, Die Logik der Dichtung, S. 239. 77 Vgl. ebd., S. 4.

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die durch ihre Wirklichkeitsaussage ohne eine auf einen Wirklichkeitszusammenhang bezogene Funktion charakterisiert ist.78 Diese Perspektive arbeitet zudem implizit auf den Wert der Ästhetik79 hin, der sich für die Autorin wie für Bleumer bei einem Gattungsumriss ergibt. Dieser Wert muss Roland Barthes entgehen, dessen pointierte Erklärung aller Instanzen außer der des Lesers zu „Wesen aus Papier“80, wie später Schlaffer, wieder die Rezeptionsseite stärker in den Blick nimmt. Aber auch das gegenüber Hamburger abgeschwächte Fingerspitzengefühl Barthes’ lässt dessen Sicht nicht unproblematisch erscheinen. Stattdessen verkompliziert er das Begriffsfeld weiter, indem er auch den Autor zu einer Schöpfung des Textes erklärt und so den Komplex um den impliziten, implizierten und expliziten Autor in der Diskussion verankert. Deutlich an Hamburger und speziell ihre These vom Lyrischen Ich als Strukturprinzip des Gedichts anknüpfend, präsentiert sich schließlich Müller-Zettelmann, die das Lyrische Ich als Produkt des lyrischen Diskurses betrachtet, das seinerseits vorgibt, dessen Quelle zu sein.81 Damit führt Müller-Zettelmann den Ansatz des Strukturprinzips nicht nur weiter, sondern präzisiert ihn zudem in einer Form, die in ihrem Bezug auf zyklische Strukturen durchaus als stimmige Ergänzung hinsichtlich des lyrischen Charakteristikums der nicht-linearen Zeitgestaltung zu sehen ist. Jörg Schönert konkretisiert zudem das Verhältnis zwischen dem Lyrischen Ich und den Figuren des Gedichts, indem er jede Rede der Figuren innerhalb des Gedichts vom Lyrischen Ich abteilt.82 Demnach kann es zwar mehrere Figuren, aber immer nur ein Lyrisches Ich geben, nämlich jenes, das dem Text seine Subjektivität aufprägt. Dieser Hierarchisierung entspricht grundlegend die im Folgenden vertretene Ansicht; ihre Tragfähigkeit muss sich in den Interpretationen erweisen. Es ist allerdings klar, dass die Setzung Schönerts zur Folge hat, im Lyrischen Ich eine den Figuren des Gedichts übergeordnete Instanz zu erblicken, die einerseits durch ihre prägende Subjektivität definiert wird, andererseits aber die narrativierenden Einfügungen vorbringt. Diese Instanz vereint somit in sich den transgenerischen Anspruch, birgt darin jedoch ebenfalls eine diffizile Vielschichtigkeit. Zudem zeigt sich in dieser Entwicklung, dass dem Begriff des Lyrischen Ichs, der bereits früh seinen Fokus auf das Ich verlor (Walzel, Schlaffer), nun auch der Verlust seiner Ausrichtung auf das Lyrische droht. Daraufhin stellt sich freilich die Frage, was das Lyrische Ich sein kann, wenn es weder lyrisch ist noch ein Ich. Die mediävistische Diskussion des Begriffs ist dazu aufschlussreich. || 78 Vgl. ebd., S. 217. 79 Siehe dazu die These bei Bleumer und Emmelius, nach der die ästhetische Erfahrung der Aufführung selbst dann eine wahrhaftige ist, wenn sie auf sprachlichen Fiktionen aufbaut. Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 27–30. 80 Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 126. 81 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 26. 82 Vgl. Jörg Schönert: Art. Lyrisches Ich. In: Metzler Lexikon Literatur (2007), S. 465f., hier S. 466.

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In der Mediävistik bezeichnet das Lyrische Ich ein besonders perspektivenreiches Forschungsfeld, da für das Mittelalter nicht nur die Frage einer möglichen Identität von Autor und Lyrischem Ich beachtenswert ist, sondern zusätzlich die Aufführungskomponente hinzutritt. Zugespitzt formuliert lässt sich so nicht nur nach der Verortung des Lyrischen Ichs auf einer Linie zwischen Autor und Leser, sondern innerhalb eines Dreiecks aus Autor, Sänger und Publikum fragen. Grundsätzliche Einigkeit herrscht darüber, dass das modern geprägte Ich zunächst eine schriftliche Instanz ist, deren weitere, mediävistische Verhältnisse zu anderen Entitäten erst in einem nächsten Schritt erwogen werden können.83 Daher betont Jan-Dirk Müller die Notwendigkeit einer von der bisherigen Diskussion um das Lyrische Ich getrennten Entwicklung und Neuprägung eines analogen Begriffs für die nicht schriftgebundene Aufführung im vormodernen Kontext.84 Implizite Unterstützung erfährt dieser Ansatz durch Rainer Warning, der die Entstehungsmöglichkeit eines Lyrischen Ichs zuvor erst aus dem Fiktionalitätskontrakt der höfischen Lyrik zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ableitete.85 Und auch im kollektiven Rollencharakter, den Müller betont,86 zeigt sich die Eigenständigkeit eines mediävistisch-lyrischen Ichs, denn so stellt sich die moderne Identitätsfrage zwischen Autor und Lyrischem Ich auf einer weiteren Ebene, die die zusätzliche Komplexität des Felds zwischen Aufführung und Schrift in die Diskussion einbringt, doch auch Klärungspotential birgt. Durch diese beiden Pole wird nämlich der fiktionale Status des Ichs auf der Textebene besser sichtbar, während es als ästhetische Erfahrung in einer Aufführungssituation notwendig realen Charakter hat.87 In Anknüpfung an Susmans Prägung arbeitet Klaus Grubmüller ein mittelalterliches Konzept des Lyrischen Ichs als Kollektivrepräsentant aus, in dem sowohl die spätere Entwicklung Müllers als kollektive Rolle als auch Schlaffers neugermanistische Sicht bereits vorgeprägt sind.88 Demnach wird im Mittelalter persönliche über

|| 83 Vgl. dazu beispielsweise Christoph Huber: Ich – Du – Welt. Figurationen des Subjektiven im Minnesang. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch [u. a.]. Königsstein im Taunus 2005, S. 17–31, hier S. 17 sowie Mireille Schnyder: Ich-Geschichten. Die (Er)findung des Selbst. Ebd., S. 75–90, hier S. 75. 84 Vgl. Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge der volkssprachlichen Literatur. In: IASL 19 (1994), S. 1–21, hier S. 6. 85 Vgl. Rainer Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik 1983 in Bad Homburg. Hrsg. von Dieter Henrich, Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik. 10), S. 183–206, hier S. 195. 86 Vgl. Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. In: PBB 121 (1999), S. 379–405, hier S. 399. 87 Wie leicht zu erkennen ist, wurde hier nochmals auf die These Bleumers und Emmelius’ zurückgegriffen. Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 27–30. 88 Vgl. Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. ‚Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für

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soziale Identität hergestellt, woraus weiter folgt, dass im Lyrischen Ich überindividuelle Wahrheiten artikuliert werden müssen. So wird das Lyrische Ich als generalisiertes Ich zum Subjekt für alle Hörer.89 Kennzeichnend scheint dabei für den mittelalterlichen Arbeitsprozess am und mit dem Lyrischen Ich der ästhetische Reiz des Rollenspiels in der Aufführung zu sein, das sowohl dem Sänger die Distanz mindernde Möglichkeit einer spielerischen Identitätsübernahme einräumt als auch das Publikum zur distanzierenden Reflexion des derart explizierten Kollektivrepräsentanten einlädt. In der Zusammenschau gestaltet sich das Lyrische Ich als ein schriftliches Konstrukt, das zunächst jedoch in einem nicht ausschließlich schriftlichen Kontext entsteht und in der Aufführung eine entscheidende Veränderung erfährt: Durch die ästhetischen Implikationen der Performanz90 wird es zum Subjekt aller Hörer, während ein Zusammenfallen mit dem Ich des Sängers zwar möglich, in diesem Zusammenhang jedoch minder relevant ist. In solchen Rollenspielen des Singens und Werbens, so Gerhard Hahn, besitzen die Aufführungsteilnehmer erhebliche Souveränität;91 eine These, die Antje Sablotny stützt, wenn sie vom gekonnten hierarchischen Spiel des Lyrischen Ichs mit seinen minnenden und singenden Teilbereichen ausgeht, das dem Ich eine erzählerartige Überordnung zuerkennt.92 Damit setzt das Lyrische Ich der Vormoderne auch einen Akzent, der dem subjektivitätszentrierten Interesse der Neuzeit zuwiderläuft. So verstärkt sich der Eindruck, dass das vormoderne Lyrische Ich einen anderen, weniger auf Fiktionalität hin ausgeformten, dafür funktional umfänglicheren Begriffsinhalt hat. Auch zeigt sich an dieser Stelle der transgressive Charakter des Lyrischen Ichs zwischen seinen epischen und lyrischen Aufgaben, der sich sowohl auf das mittelalterliche Gattungskontinuum als auch die besondere Wirkmacht des vormodernen Lyrischen Ichs beziehen lässt. All dies, und besonders die identitätsstiftende Funktion nach Grubmüller, spricht wiederum gegen die Umsetzung des Vorschlags von Schönert, dessen Kategorien den beschriebenen Spezifika der Vormoderne nicht gerecht werden können. In den narrativierenden Tendenzen des Lyrischen Ichs findet sich nach Sablotny zudem ein weiteres Argument für die narratologische Betrachtung lyrischer Texte, das || Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora. 6), S. 387–408, hier S. 387–390. 89 Vgl. ebd., S. 394–406. 90 Metaphorisch wäre demgegenüber der Annäherungsversuch Susanne Köbeles zu nennen, die im Lyrischen Ich des Spätmittelalters einen neuen Innenraum bereitgestellt sieht, in dem die Minnedame zugleich präsent und verschwunden ist. Vgl. Susanne Köbele: Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tagung 21.–23. November 1997 im Heiligkreuztal bei Riedlingen. Hrsg. von Christoph Huber [u. a.]. Tübingen 2000, S. 213–236, hier S. 222–228. 91 Vgl. Gerhard Hahn: Zu den Ich-Aussagen in Walthers Minnesang. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 95–104, hier S. 97. 92 Vgl. Sablotny, Frau Minne im Dialog, S. 166 u. 171.

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Manuel Braun durch einen breit angelegten Nachweis über Frauendienst, Minnelehre und Minnesang hinweg unterstützt.93 Seinem ästhetischen Fokus folgend, der bereits die Äußerungen zur Lyrik prägte, betrachtet Bleumer auch das Lyrische Ich als ästhetisches Objekt, das – wie Lyrik allgemein – nicht zwingend als Textinstanz wahrgenommen werden darf.94 Vielmehr produziert es über im Sang erzeugte Zukunftsentwürfe eine Dopplung der Welten innerhalb und außerhalb des Gedichts und weiter – mittels der Klangästhetik des Sangs und des Wirkmechanismus der Metapher, die changierende Realitäten in oszillierender Gleichzeitigkeit präsent halten eine intensivierte Präsenz. An dieser Stelle zeigt sich, dass nicht nur nicht die Rede sein kann von einer Abwesenheit oder Irrelevanz der Handlungen, wie sie von Wolf in seinem Lyrikmodell vertreten wurde, sondern diese sogar grundlegend an der Funktionsweise des Lyrischen Ichs als Kernbereich lyrischer Dichtung beteiligt sind. Da Bleumer – wie auch Sablotny – davon ausgeht, dass das Lyrische Ich bezogen auf narrative Elemente des Lyrischen Erzählerfunktionen wahrnehmen kann,95 ist es demnach als Komposit zu verstehen. Sein erster Teil ist die Leerdeixis,96 deren textlich fingiertes Bewusstsein seine poetische Qualität auch aus der narrativen Umgebung beispielsweise temporaler Fortschrittsprozesse heraus freisetzt und im Zuge dessen verschiedene textliche Zeitebenen zu einem ästhetischen Ganzen verschmilzt.97 Der zweite Teil bezeichnet den Dreh- und Angelpunkt des Lyrischen und zwar nicht so sehr in seiner sprachlichen Erscheinung als ‚Ich‘, sondern gemäß eines Wirkprinzips nach Hamburger und Müller-Zettelmann.

|| 93 „Unzweifelhaft ist dieser [der Minnesang, D.R.] Ich-Rede, aber eben auch, und zwar schon in seiner Hochphase und in einem gar nicht geringen Ausmaß, Ich-Erzählung. Die Grundlage für diese Einschätzung bilden die zahlreichen Protonarrative, die vorwiegend auf ein vergangenes Erlebnis verweisen, das mit Erfahrungen der Gegenwart und Erwartungen der Zukunft zu einer Liebesgeschichte verknüpft werden kann. Das Narrative ist also auch dort in den Liedern angelegt, wo diese selbst nicht narrativ sind; realisieren kann solche Erzählungen freilich nur der Rezipient.“ Manuel Braun: „Anfänge bedingter Art“. Zur Entstehung der mittelhochdeutschen Ich-Erzählung aus der lyrischen IchRede. In: Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens. Hrsg. von Sonja Glauch, Katharina Philipowski. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik. 26), S. 159–203, hier S. 195. 94 Vgl. hier und im Folgenden Bleumer, Minnesang als Lyrik, S. 168, 175, 179 u. 181. 95 Vgl. ebd., S. 190. Dem Scheitern derartiger Gattungsmischungen geht Matthias Meyer nach, vgl. Matthias Meyer: Wenn Gattungsmischung scheitert. Oder: Warum finden manche Geschichten kein adäquates Ende? In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl, Christian Schneider. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik. 13), S. 243–259. 96 Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 20–23. 97 In diesem Sinne zeitigt es tatsächlich metaphorisch zu nennende Effekte, wie Bleumer an anderer Stelle expliziert. Vgl. Hartmut Bleumer: Das andere Ich. Autonarration und Metapher in der Lyrik Oswalds von Wolkenstein. In: Von sich selbst erzählen, hrsg. von Glauch, Philipowski, S. 131–158.

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Damit kann der Aushöhlung des Begriffs, die am Ende des außermediävistischen Forschungsdiskurses stand, entgegengehalten werden, dass das Lyrische Ich nicht weder lyrisch noch ein Ich ist, sondern durch seine präsentischen wie erzählenden Möglichkeiten einen Begegnungsraum zwischen Lyrik und Narrativik einerseits schafft sowie andererseits ein der Metapher ähnliches Phänomen in seiner Überblendung geschiedener Wirklichkeiten erzeugt. Dabei ist es sicher sinnvoll, im Schritt der Textanalyse für jene Textinstanz, die sich innerhalb des Gedichts als ‚Ich‘ bezeichnet, deskriptiv zunächst die vorsichtigere Bezeichnung des ‚sich äußernden Ichs‘ oder ‚Subjekts‘ zu gebrauchen, wenn deren Verhältnis zur Aufführung und ihre ästhetischen Implikationen nicht mitbetrachtet werden. In Erscheinung tretende Dritte können als ‚Figuren‘98 benannt werden. Obwohl die Verwendung und besondere Zulänglichkeit der ‚Person‘ in einem theatralen Zusammenhang belegt ist,99 erscheint sie aufgrund der zu weitreichenden modernen Implikationen psychologischer Natur als wenig geeignet zur Beschreibung lyrischer Zusammenhänge.100 Mit der ‚Rolle‘ lässt

|| 98 Zum Problemfeld der Figur vgl. Markus Stock: Figur. Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology. 19), S. 187–203. 99 Vgl. lat. persona im Rückgriff auf lat. personare als Verweis auf das Hindurchtönen der Stimme des Schauspielers durch seine Maske im antiken Theater, so vertreten von Elke Platz-Waury: Art. Figur3. In: RLW 1 (1997), S. 587–589, hier S. 588. Gegenteilig äußert sich Horst-Dieter Blume, der als Ursprung gerade nicht die lateinische Wurzel gelten lassen will, sondern sich für eine etruskische Herkunft ausspricht, vgl. Horst-Dieter Blume: Art. Maske, II. Griechenland und Rom. In: DNP 7 (1999), Sp. 975–980, hier Sp. 975. Für umfangreichere Ausführungen dazu vgl. Art. persona. In: Lateinisches Etymologisches Wörterbuch 2 (2007), S. 291f. Für eine soziologische Deutung vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 2013 (Piper. 3891) sowie das Original ders.: The presentation of self in everyday life. Garden City 1959 (Anchor Books. A174). 100 Ausgenommen bleibt hiervon die Personifikation. Als Personifikation wird allgemein die „Darstellung von unbelebten, außermenschlichen oder abstrakten Sachverhalten als menschliche Gestalten“ bezeichnet, wobei diese immer schon aus einer mythisierenden und einer rationalisierenden Perspektive zu betrachten waren. Vgl. hier und im Folgenden Christoph Huber: Art. Personifikation. In: RLW 3 (2003), S. 53–55, Zitat S. 53. Der Status der Personifikation changiert grundsätzlich zwischen Poesie und Kult, wobei durch sie in der Mythenkritik sowie -auslegung Götter als physikalische, psychische und moralische Größen rationalisiert werden. Im Mittelalter werden hingegen häufig Tugenden und Seelenkräfte durch Personifikationen dargestellt (vgl. beispielsweise Frau Aventiure im Parzival Wolframs von Eschenbach oder Frau Minne im Iwein Hartmanns von Aue). Die Wertschätzung der Personifikation als Stilmittel sinkt jedoch im 18. Jahrhundert und ist in der Gegenwart eher als Denkform der Lyrik sowie in Satire und Karikatur erhalten geblieben. Aus mediävistischer Perspektive sei hier vor allem verwiesen auf Christian Kiening: Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten. In: Ders. Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt am Main 2003 (Fischer. 15951), S. 276–294. Dieser betont in erster Linie die literarische Qualität des Stilmittels, legt die Breite der sich ergebenden ästhetischen Effekte dar und hat die Forschung maßgeblich beeinflusst, wie Sandra Linden erläutert. Vgl. Sandra Linden: Frau Aventiure schweigt. Die Funktion der Personifikationen für die erzählerische Emanzipation von der Vorlage in Wolframs ‚Parzival‘. In: Wolfram-Studien 23 (2014), S. 359–387, hier S. 359. Zuletzt setzte sich

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sich demgegenüber in Abgrenzung zur Figur eine (Handlungs-)Funktion bezeichnen, die eine Figur zum einen ausübt, die zum anderen aber durch die überschreitende Kraft des Sangs auch in die Aufführungssituation hinüberspielen kann. Damit dürften auch jene Effekte ausreichend zu erfassen sein, für die Hans-Dieter Mück mit besonderem Blick auf Neidhart eine Differenzierung der ‚Masken‘ ausarbeitet, die der historische Dichter für sein Lyrisches Ich in Form unterschiedlicher Ausprägungen als nîthart oder Riuwentaler erschuf.101

1.2.3 Ergebnisüberblick bisheriger Bemühungen einer Lyriknarratologie Nachdem ein erstes Vorverständnis zur Gattung Lyrik allgemein und zum Lyrischen Ich im Besonderen gewonnen wurde, ist es notwendig, einerseits einen genaueren Blick auf jene mittelalterliche Untergattung der Lyrik zu werfen, der in der vorliegenden Studie das Hauptinteresse gilt: den Minnesang. Andererseits bleibt auch jener Forschungszweig noch näher zu beleuchten, der sich bisher den Möglichkeiten einer narratologischen Lyrikanalyse zugewandt hat; allgemein germanistisch wie speziell mediävistisch. Die vorangegangenen Abschnitte wollten erstens darstellen, welche Möglichkeiten eines Gattungsumrisses für die Lyrik überhaupt existieren, zweitens die leicht zu übersehende Tradition sowie den hermeneutischen Mehrwert einer transgenerischen Perspektive verdeutlichen, drittens am Beispiel des Lyrischen Ichs aufzeigen, welchen Beitrag die an Alteritäten geschulte Mediävistik zu den Theoriediskussionen der Germanistik allgemein leisten kann und viertens die Rolle der Ästhetik für ganzheitliche Interpretationen betonen. Das folgende Kapitel möchte anhand eines forschungsgeschichtlichen Einblicks zum Minnesang nicht nur die historische Wandelbarkeit des fachlichen Interesses verdeutlichen und auf Knotenpunkte der Forschungsdiskussion hinweisen, sondern insbesondere aufzeigen, wo die mediävistische Verbindung von Narratologie und Lyrik an traditionelle Ideen der Minnesangforschung anknüpft und wo sie Neuansätze in die Diskussion einbringt.

|| Christiane Witthöft mit der Personifikation auseinander, indem sie das explizit Zweiwertige als Prinzip der Darstellung der Frau Welt untersuchte, durch das die Gleichzeitigkeit von Weltfreude und Verachtung ebendieser zum Ausdruck kommt und so der Erkenntnisprozess des Betrachters zum Verständnis dieser Ambiguität gefördert wird. Vgl. Christiane Witthöft: Sinnbilder der Ambiguität in der Literatur des Mittelalters. Der Paradiesstein in der Alexandertradition und die Personifikation der Frau Welt. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Interdisziplinäre Tagung Ambiguität im Mittelalter in Greifswald. Hrsg. von Oliver Auge, dies. Berlin 2016 (Trends in Medieval Philology. 30), S. 179–202. 101 Vgl. Hans-Dieter Mück: Fiktiver Sänger Nîthart / Riuwental minus Fiktion = realer Dichter des Neidhart-Liedtypus? In: Neidhart von Reuental. Aspekte einer Neubewertung. Hrsg. von Helmut Birkhan. Wien 1983 (Philologica Germanica. 5), S. 74–91, hier S. 74 u. 77.

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Die Forschungsgeschichte der Germanistik und speziell der germanistischen Mediävistik folgt verschiedenen Umschwüngen und Trends, die sich aus den Fragen und Schwerpunkten der jeweiligen Epoche ergeben. Als Wiederentdecker des Minnesangs seit seinem Übergang zum Meistergesang im 14. Jahrhundert gelten Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger,102 die im Rahmen der Proben und Minnesinger erstmals nahezu die gesamte Manessische Handschrift zugänglich machen. Gegenpart zu diesem ersten, auf patriotische Popularisierung bedachten Unternehmen103 ist Georg Friedrich Benecke, der die betreffenden Texte als Sprachdenkmäler betrachtet, die es durch umsichtige Dokumentation zu sichern und vorrangig Wissenschaftlern zugänglich zu machen gilt.104 Im folgenden 19. Jahrhundert spaltet sich das Interesse des noch stark als „Sozialsystem der deutschen Philologie“105 agierenden Fachs einerseits in die Bereitstellung von Editionen als Grundlage weiterführender Untersuchungen, die nach Vorstellung des Archetypenkonstrukteurs Lachmann106 durch Spezialisten zu besorgen waren. Und andererseits soll durch literarische Bearbeitungen das Interesse eines bürgerlichen Publikums am Minnesang geweckt werden, worauf sich die Bemühungen Ludwig Uhlands und Ludwig Tiecks um Walther von der Vogelweide zurückführen lassen mögen: Unser Dichter ist eben so sehr ein erklaͤ rter Gegner der Priesterherrschaft, als ein begeisterter Herold der Kreuzzuͤ ge. Er eifert gegen die Eingriffe der Kirche in die Rechte der weltlichen Gewalt, gegen die Habsucht und Verschwendung des roͤ mischen Hofes, gegen den Ablaßhandel, gegen die willkuͤ rlichen Bannsprüche, gegen das unerbauliche Leben der Geistlichkeit; zugleich aber ruft er wiederholt den Kaiser zur Vornahme des Kreuzzuges auf.107

Otfrid Ehrismann demonstriert dazu zusammenfassend, dass die Auseinandersetzung mit dem „Grenzfall“108 Walther die basalen Interessenverschiebungen des Fachs beispielhaft in sechs Phasen abbildet:109 den vaterländischen Walther des

|| 102 Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung. Hrsg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger. Zürich 1748. Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte. CXL Dichter enthaltend durch Ruedger Manessen aus der Handschrift der Koeniglich-Franzoesischen Bibliotheck. 2 Bde. Hrsg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger. Zürich 1758. 103 Vgl. Ingrid Kasten: Art. Minnesang. In: RLW 2 (2007), S. 604–608, hier S. 606. 104 Vgl. hier und im Folgenden Birgit Wägenbaur: Georg Friedrich Benecke (1762–1844). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hrsg. von König [u. a.], S. 1–10, hier S. 6. 105 Vgl. ebd., S. 5. 106 Vgl. Uwe Meves: Karl Lachmann (1793–1851). Ebd., S. 20–32, hier S. 25. Ähnlich wirken Moriz Haupt und Hermann Paul. Vgl. Edith Wenzel: Moriz Haupt (1808–1874). Ebd., S. 41–46, hier S. 43f. 107 Ludwig Uhland: Walther von der Vogelweide. Ein altdeutscher Dichter. Stuttgart 1822, S. 118. 108 Friedrich Neumann: Art. Minnesang. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4 (1984), S. 303–314, hier S. 305. 109 Vgl. hier und im Folgenden Otfrid Ehrismann: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide. Darmstadt 2008, S. 27–29. Kurt Herbert Halbach setzt vorher zusätzlich noch eine mythische

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19. Jahrhunderts,110 den Walther des Seelenadels der wilhelminischen und frühen Weimarer Jahre,111 den erziehenden Walther der späteren Weimarer Republik und der Nationalsozialisten, den menschlichen Walther der frühen Bundesrepublik, den proletarischen Walther der 1970er Jahre und als Mischphase aller aktuelleren Ansichten den instabilen Walther der Gegenwart.112 Grundlegend für eine solche kleinteilige Phasengeschichte waren vor allem zwei weitere Meilensteine der Waltherforschung, die nicht nur die wegweisend unterschiedlichen Zugriffe der Historisierung und Subjektivierung andeuteten, sondern zudem auch bereits den Blick auf eine Verschiebung der Bezugnahmen eröffneten, die ebenfalls für die Kreuzliedforschung prägend wurde. So legte Konrad Burdach auf der einen Seite sein Augenmerk darauf, bei der Darlegung der poetischen Entwicklung des Dichters den historischen Verlauf als || Phase an, von der er sich auch selbst noch nicht vollständig befreit zu haben scheint: „Daß die höfische Ritter-Welt aufgehorcht, ja den Atem angehalten hat, als Walther sie anrief, läßt sich an einigen unschätzbaren Zeugnissen deutlich erkennen.“ Kurt Herbert Halbach: Walther von der Vogelweide. 4., durchgesehene und ergänzte Auflage. Bearbeitet von Manfred Günter Scholz. Stuttgart 1983, S. 12. Zur Fortsetzung der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. auch Ulrich Wyss: Entphilologisierung. Aderlaß in der Mediävistik und Neubegründung durch den Auszug der Linguisten. In: Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Hrsg. von Ulrike Haß, Christoph König. Göttingen 2003 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte. 4), S. 21–30, hier S. 24. 110 Vgl. dazu nach der Einschätzung von Neumann, Art. Minnesang, S. 312 beispielsweise Uhland, Walther von der Vogelweide. 111 Vgl. dazu ebenfalls nach Neumann beispielsweise Konrad Burdach: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs. Leipzig 1880 sowie ders.: Walther von der Vogelweide. Philologische und historische Forschungen. Erster Theil. Leipzig 1900. 112 Zu Waltherideologien vgl. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide. 2., korrigierte und bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart 2005 (Sammlung Metzler. 316), S. 175f. Gemeinhin wird dabei in fachgeschichtlichen Untersuchungen die Nachkriegsentwicklung auf ostdeutschem Gebiet ausgeklammert, da sie den Überblick unnötig verkompliziere. Vgl. ebd., S. 21. So stellen neben Ulrich Wyss auch Thomas Cramer und Horst Wenzel nur am Rande fest, dass es vor allem das Ziel der dortigen Untersuchungen gewesen sei, eine nationale Literaturgeschichte auf dem Boden marxistisch-leninistischer Theorie zu formulieren, und nicht, die Ansätze fortzuführen, die vor dem Krieg geprägt wurden. Vgl. Thomas Cramer, Horst Wenzel: Vorwort. In: Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte. Ein Lesebuch zur Fachgeschichte der Germanistik. Hrsg. von dies. München 1975 (Kritische Information. 26), S. 7–18, hier S. 16. Gerade vor dem Hintergrund der durch Cramer und Wenzel kritisierten Flucht der Literaturwissenschaft in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik aus Geschichte und Politik ist es jedoch interessant, dass diejenige der DDR offenbar gerade den entgegengesetzten Weg beschritt, was durch die genannten Forscher dennoch nicht positiv bewertet wird. Rainer Rosenberg bringt hingegen zumindest den Versuch einer solchen Literaturgeschichtsschreibung vor, die zwar durch ihr erwartbares Vokabular vom bürgerlichen Ideologen und gesellschaftlichen Überbau etwas skurril wirkt, entgegen der Ausrichtung der Forschung in der jungen Bundesrepublik die (mittelalterliche) Literatur indes gerade nicht aus dem Leben herauslöst, sondern auf ihre gesellschaftliche Funktion hin untersucht. Vgl. Rainer Rosenberg: Einleitung. In: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. von ders. Berlin 1981, S. 7–21, hier S. 19.

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strengste Richtlinie zu bewahren113 und erhob zum Hauptanliegen seiner Untersuchung, „Walthers Poesie aus der Zeit, in der sie entstand und auf die sie wirkte“114 zu begreifen. Carl von Kraus auf der anderen Seite versuchte nicht nur mit einer Fortführung der Textkritik nach Vorbild Lachmanns offenkundige Textverderbnisse zu bessern, sondern mithilfe ihrer Weiterentwicklung auch einen ursprünglicheren, an der ‚Art‘115 des Dichters orientierten Wortlaut (‚zurück‘) zu gewinnen. Dies zeigt sich nicht nur in seiner Ausgabe von Des Minnesangs Frühling, sondern auch bei der Bearbeitung Walthers, dessen Stand und Geschlecht von Kraus in der Wortwahl „oder durch sonstige feine Mittel“116 aufspüren will. Aus den Zweifeln an derartig biografisch und psychologisch motivierten Möglichkeiten der Interpretation, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensivieren, leitet sich die instabile Deutungsphase der Gegenwart ebenfalls ab, nachdem die von funktions- und sozialgeschichtlichen Fragen geprägte Phase der 1960er117 Jahre abflaute. Die zunehmende Orientierung an den Überlieferungsverhältnissen der mittelhochdeutschen Lyrik, insbesondere des Minnesangs, ließ dabei jedoch allmählich deutlich werden, dass nicht nur sowohl Burdach mit der historischen Kontextualisierung als auch Karl von Kraus mit seiner poetischen Konjekturalkritik der Lieder unausgesprochen mit narrativen Verfahren operierten. So führte schon die mit der sogenannten ‚Thesenedition‘ Maurers für die Walther-Forschung ausgelöste Diskussion um die Frage nach liedhaften Einheiten im Sangspruch oder nach Liedern im

|| 113 Vgl. Burdach, Walther von der Vogelweide, S. VII. 114 Ebd., S. XXII. Dort weiter: „Diese mittelalterliche Philologie, zu der ich Bausteine herbeischaffen will, wird eines doppelten Fundaments nicht entrathen können: der unmittelbaren Kenntniß der primären Quellen einerseits, der methodischen Kritik und Exegese andererseits. Mir scheint es wahrer Philologie nicht angemessen, moderne historische Darstellungen – und seien es die der größten Meister – als Surrogate für die gleichzeitige, ursprüngliche Ueberlieferung zu benutzen.“ Kursivierungen im Original beider Zitate Sperrsatz. 115 „Aber ich hoffe, nur dort eingegriffen zu haben, wo die Worte des Dichters entstellt sind: oft weisen darauf schon formale Störungen hin, öfter [!] ergibt sich aber auch, daß die Verderbnis sich nicht durch äußere Schäden kundtut, sondern nur dem erkennbar wird, der in die Art des Dichters und seiner Genossen eingedrungen ist.“ Des Minnesangs Frühling. Neu bearbeitet von Carl von Kraus. Leipzig 1940, S. VII. 116 Carl von Kraus: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935, S. XII. 117 Vgl. Erich Köhler: Vergleichende soziologische Betrachtungen zum romanischen und deutschen Minnesang. In: Der Berliner Germanistentag 1968. Vorträge und Berichte. Hrsg. von Karl Heinz Borck, Rudolf Henß. Heidelberg 1970, S. 63–76. Dessen These vom Minnesang als „verklausulierter Form des sozialen Aufstiegsbegehrens von gesellschaftlich unterprivilegierten Liederdichtern“ (Kasten, Art. Minnesang, S. 607) erlangt beinahe sprichwörtlichen Charakter. Weitere mögliche Funktionen des Minnesangs lassen sich in Repräsentation, Zeremonialhandeln, didaktischen Bestrebungen sowie einem Autonomieanspruch der Kunst vermuten.

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Minnesang mit jedem weiteren Postulat einer sinnvollen Strophenfolge auch Versuche mit sich, narrative Kompositionsformen zu erproben.118 Mit der ‚New-Philology‘-Debatte, die der Offenheit der Überlieferung und dem Spiel der Strophenanordnungen weitreichende Rechte einräumte,119 zeigte sich dann vollends, dass dieses Spiel bereits im Rahmen der Konjekturalkritik über narrative Muster geführt wurde. So kritisierte Nikolaus Henkel an den Strophenordnungen, wie von Kraus sie autoritativ hergestellt hatte, diese seien im Prinzip Minneromane, d. h. philologisch-kompositorische Fiktionen gewesen.120 Es ist zweifellos das Verdienst dieser Forschungsphase, über die Offenheit für Überlieferungsvarianten die Lyrikforschung zugleich auch für eine ganze Reihe von neuen Forschungsperspektiven geöffnet zu haben, als deren wichtigsten die Autorschaftsfrage,121 die Fiktionalitätsdiskussion und die Performanzdebatte122 zu nennen sind. Die damit einhergehende, relative Instabilität der Forschungsfelder zeigte aber auch das Desiderat einer allgemeinverbindlichen Theoriegrundlage, dem die Beiträge in der Summe immer noch zuarbeiteten. Die narratologische Lyrikanalyse stellt neben der Konzentration auf die Aufführung123 möglicherweise eine der nachhaltigsten Neufokussierungen der jüngeren und || 118 Vgl. Die Lieder Walthers von der Vogelweide. Unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien neu hrsg. von Friedrich Maurer. Erstes Bändchen: Die religiösen und politischen Lieder. 3., durchgesehene Auflage. Tübingen 1967 sowie Zweites Bändchen: Die Liebeslieder. 3., verbesserte Auflage. Tübingen 1969. Friedrich Maurer: Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide. 3., durchgesehene Auflage. Tübingen 1972. Vgl. zudem Hubert Heinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG. 515). 119 Vgl. nur das kritische Resümee von Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt am Main 1999, S. 398–427. 120 Wörtlich lautet das Zitat: „Von Kraus konstruiert eine Ereigniskette in Art einer Liebesgeschichte“. Nikolaus Henkel: Wer verfaßte Hartmanns von Aue Lied XII? Überlegungen zu Autorschaft und Werkbegriff der höfischen Liebeslyrik. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. 14. Anglo-German Colloquium, Meißen 14.–18. September 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen. Tübingen 1998, S. 101–113, hier S. 103. So auch zitiert bei Bleumer, Walthers Geschichten, dort Anm. 15. 121 Vgl. vor allem die Forschungskritik in der Habilitationsschrift von Thomas Bein: „Mit fremden Pegasusen pflügen“. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen. 150). Dazu wiederum die Kritik bei Albrecht Hausmann: Rezension zu Thomas Bein, Mit fremden Pegasusen pflügen. In: PBB 122 (2000), S. 511–513. Vgl. als eigenen Entwurf Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica. 40) sowie beispielsweise die Sammelbände Autor und Autorschaft im Mittelalter, hrsg. von Andersen und Autorschaft, hrsg. von Detering. 122 Vgl. zu diesen beiden Themen unten. 123 Diese betrachten auch die frühen Forschungen zum Thema schon, doch oftmals in der Art Rosenhagens, der feststellt: „Die Gegenwart der Hörer eines oft nur engen Kreises, in dem man sich genau kennt, ist für Stil und Gesinnung maßgebend, auch da, wo solche Lieder als persönliche Huldigung einer Frau übermittelt werden, wie Ulrich von Lichtenstein erzählt. […] Der erste Vortragende ist in der Regel der Dichter selbst, doch mag er auch einen Spielmann damit beauftragt haben.“

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jüngsten mediävistischen Forschung dar, zieht man vergleichsweise die Langlebigkeit des Ansatzes heran, das der Dichtung zugrunde liegende Erlebnis des Dichters zu rekonstruieren sowie die überlieferten Texte konkreten Situationen zu- und sie in Chronologien und Zyklen anzuordnen.124 Dabei setzt die Idee einer lyrischen Narratologie auf neugermanistischem Gebiet zunächst mit der Wahrnehmung des Ungleichgewichts an, das zwischen der theoretischen Fundierung der eigenen, lyrischen Gattung und der an Meilensteinen reichen125 klassischen Erzähltheorie des narrativen Genres existiert. Die narratologische Lyrikanalyse steht demgegenüber mit den frühen Vorüberlegungen Walter Bernharts,126 einigen bereits systematischeren Bemühungen Eva Müller-Zettelmanns127 und vor allem den zahlreichen, jedoch stets nur

|| Gustav Rosenhagen: Art. Minnesang. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 2 (1928/1929), S. 353–365, hier S. 354. 124 Vgl. Christel Schmid: Die Lieder der Kürenberg-Sammlung. Einzelstrophen oder zyklische Einheiten? Göppingen 1980 (GAG. 301). Carl von Kraus nimmt hier 1935 eine interessante Zwischenstellung ein. Er gesteht zwar einerseits zu, dass Walthers Äußerungen von der Ablehnung der Dame und Ähnlichem nicht Ereignissen im tatsächlichen Leben des Dichters gleichzusetzen sind, will Formulierungen, die sich auf Beschwerden aus der Gesellschaft an den Dichter beziehen (Vil maneger frâget mich der lieben wer si sî), jedoch als auf tatsächliche Begebenheiten bezogen wissen. Vgl. von Kraus, Walther von der Vogelweide, S. IXf. Interessant ist diese Ansicht, weil sie zwischen zwei Liedaussagen, die in der gegenwärtigen Forschung kaum auf das Leben des Dichters bezogen werden würden, eine Unterscheidung trifft und diese mit dem tatsächlichen künstlerischen Wettstreit unter den Dichtern begründet. Carl von Kraus entfernt sich somit schon ein Stück weit von der strengen Ineinssetzung des Autor-Ichs mit dem Text-Ich, bedingt möglicherweise durch die Abkehr vom Paradigma des tatsächlich stattfindenden Ehebruchs an den Höfen (vgl. Kasten, Art. Minnesang, S. 607), aber deutlich noch nicht so weit wie die aktuelle mediävistische Forschung. 125 Vgl. Genette, Die Erzählung. Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1991 (UTB. 904). Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. München 1988 (Übergänge. 18/1). Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2008 (Narratologia. 8). Vgl. dazu grundlegend Karlheinz Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte (1971). In: Ders. Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975 (UTB. 423), S. 49–55. Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 10., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2016. Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 2013. 126 Vgl. Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and ‚their telling difference‘. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg von Herbert Foltinek [u. a.]. Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen. 221), S. 359–375. Wie Müller-Zettelmann nach ihm verfährt auch Bernhart noch nicht konkret im Sinne eines lyrisch-narratologischen Ansatzes, sondern bewegt sich in einem Vorstadium, das den Boden zu vermessen sucht, den die Gemeinsamkeiten und Unterschiede lyrischer und epischer Texte für eine Übertragung narratologischer Methoden auf erstere bieten kann. 127 Vgl. im Einzelnen Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik. Dies.: Lyrik und Narratologie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning, Ansgar Nünning. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium. 5), S. 129–153. Dies.: Poetry, Narratology, Meta-Cognition. In: Current Trends in Narratology. Hrsg. von Greta Olson. Berlin 2011 (Narratologia. 27), S. 232–253.

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aufsatzartigen Beiträgen Peter Hühns128 und Jörg Schönerts129 noch am Anfang einer umfassenden Theoriebildung. Müller-Zettelmann kritisiert die moderne Lyriktheorie daher überspitzt als „vom literaturwissenschaftlichen mainstream weitgehend unbeeinflusste Enklave“130 und versucht diese Abgrenzung durch die Einführung des Begriffspaars enounced bzw. enunciation in Analogie zu den Kategorien histoire bzw. discours zu überwinden. Eine solche Ummünzung scheint unter der Maßgabe der lyrisch verfassten, aber dennoch nicht zu bestreitenden Handlungsabläufe – man erinnere sich nur an den Panther – jedoch gar nicht notwendig oder sogar nachteilig zu sein. Denn eine an Neuprägungen zu reiche Beschreibungssprache verhindert eine gemeinsame Betrachtung generisch unterschiedlicher Werke ebenso sehr wie das mühsam überwundene Dogma der festen Gattungsgrenze. Diese Problemlage ähnelt dem Vorwurf des Anachronismus an die Übertragung der Begriffe Genettes auf mediävistische Kontexte, um der Ausbildung von Perspektiven in mittelalterlichen Romanen auf die Spur zu kommen. Dazu hat Gert Hübner geäußert, dass zugunsten der Entwicklung einer kontinuierlichen Beschreibungssprache Übertragungen aus der Moderne in die Vormoderne durchaus zulässig sind, solange diese reflektiert und in ausreichender Abstraktion vorgenommen werden.131 Mit dieser Begründung dürfte es auch unproblematisch sein, von einer histoireEbene des Gedichts zu sprechen, wenn auf Handlungen Bezug genommen werden soll, die als innerhalb der dargestellten Welt geschehend vermittelt werden. Der Panther geht an den Stäben vorüber. Albrechts von Johansdorf Äußerungsinstanz findet die Geliebte ohne sie überwachende Kontrollinstanzen (MF 93,12). Walthers von der Vogelweide Mädchen-Ich kommt auf die Heide und bricht sich mit ihrem Liebsten ein Bett aus Blumen zurecht (L 39,11). Mit dem discours-Begriff lässt sich darüber hinaus der Teil des lyrischen Werks fassen, der die Art der Äußerung und nicht ihren Inhalt sowie topische Bezugslinien beinhaltet: der metaphorische Tanz der Pantherkraft um ihren betäubten Willen sowie die Blumen bei Meinloh von Sevelingen (MF 14,1), Hartmann von Aue (MF 210,35) oder Heinrich von Veldeke (MF 67,9). Und auch der von Müller-Zettelmann vorgebrachte Begriff einer lyrischen Handlung entfällt auf die discours-Sphäre: Demnach liegen in den vermeintlich handlungsfreien Gedichten Handlungen in Form eines Analogsetzens des Disparaten, einer Ordnungskonstitution, Sinnstiftung oder Perspektivierung vor und damit die Konturierung von

|| 128 Vgl. Hühn, Plotting the Lyric. 129 Vgl. Hühn, Schönert, Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. 130 Müller-Zettelmann, Lyrik und Narratologie, S. 131. 131 Vgl. im Einzelnen Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘. Tübingen 2003 (Bibliotheca Germanica. 44), S. 9, 404 u. 407. Ders.: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 127–150, hier S. 133f.

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Individualität.132 Dieser Ansatz dürfte für ein Projekt der Lyriknarratologie zumindest Allgültigkeit beanspruchen können. Als ähnlich umfassend präsentiert sich die Perspektive Jörg Schönerts und Peter Hühns, die den Grundstein einer narratologisch fundierten Lyrikanalyse im Vorhandensein einer Kombination aus Sequentialität und Medialität in gleichermaßen epischen wie lyrischen Texten erblickt.133 Indem die Autoren lyrische Zeitenthobenheit, wie sie oben auch im Lyrikumriss der vorliegenden Studie eine Rolle spielte, als Sekundärphänomen eines primär sequentialisierbaren Geschehens interpretieren, gründen sie ihr Lyrikmodell ebenso wie Müller-Zettelmann auf einer neben allen lyrischen Äußerungsmodi doch immer vorhandenen Ebene der dargelegten Handlung. Diese mag nun mit den Begriffen Sequentialität, enounced oder histoire zu beschreiben sein. Hühn bedient sich im Folgenden mit dem poetic plot eines nochmals neuen Terminus, meint mit ihm als einem syntagmatischen Strang kausal oder temporal motivierter Ereignisse jedoch Ähnliches.134 Neben dem poetic plot etabliert Hühn weiterhin die Kategorien frame, isotopy, script, event und plot. Dabei beziehen sich frame und isotopy auf etwas Vergleichbares wie der materiale Topos der vorliegenden Studie,135 wie im Folgenden noch deutlich werden wird, denn ihnen allen ist das wiederkehrende Element, eine Bildhaftigkeit und zudem die sinnstiftende Funktion eigen: Der frame ist ein thematisches Versatzstück wie etwa der Tod, eine Seereise oder die verbotene Liebe und soll den Rezipienten in die Lage versetzen, Verbindungen zwischen verschiedenen Texten und Interpretationen herzustellen.136

|| 132 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Narratologie, S. 135. 133 Vgl. hier und im Folgenden Hühn, Schönert, Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse, S. 1–18. Vgl. ferner Hühn, Schönert, Zur narratologischen Analyse von Lyrik. Hühn, Transgeneric Narratology. Ders., Schönert, Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. Ders., Sommer, Narration in Poetry and Drama. Ders., Plotting the Lyric. Ders., Geschichten in Gedichten. Ders.: Formen der Sinngebung von Geschichte in der Lyrik. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd. 1. Hrsg. von Heinrich Detering, Peer Trilcke. Göttingen 2013, S. 145–170. 134 Vgl. hier und im Folgenden Hühn, Plotting the lyric, S. 17–47. 135 Die zur Wiederholung neigende Verbindung bestimmter Handlungsketten und -muster bezeichnet Hühn als script und benennt als Beispiel die festgefügten Rituale der höfischen Liebe. Als event fasst er das unerhörte Ereignis der Abweichung, das das Gedicht erst erzählenswert macht und zudem auch methodischen Nutzen hat, denn „eventfullness offers a differentiated method of defining the ‚point‘ of poems“. Hühn, Plotting the lyric, S. 44. Die Parallele zum ‚Ereignis‘ Lotmans ist offensichtlich, vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 329–340. Der plot schließlich ist bei Hühn die der Artikulation nächste Organisationsebene des Gedichts und entspricht aufgrund des enthaltenen diskursiven Elements im Prinzip Schmids ‚Präsentation‘ epischer Texte. Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 4 u. 256. Der unglückliche Gleichklang der Kategorien plot und poetic plot kann als einer der detaillierteren Kritikpunkte an Hühns Konzept angeführt werden, denn deren Terminologie bildet weder die Unterschiedlichkeit dieser beiden Kategorien noch die Art ihrer Beziehung ab. 136 Anhand der Umschreibung wie der Beispiele wird deutlich, dass Hühn den Blick hier auf ein toposähnliches Phänomen richtet und – ohne diese Begriffsbeziehung herzustellen – eine wichtige

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Die isotopy bewirkt Ähnliches auf Ebene des einzelnen Gedichts. Wenn beispielsweise der Falke, der im Lied des Kürenbergers (MF 8,33) zunächst über Jahresfrist gezähmt wird, in einer folgenden Strophe mit seidenen Bändern fliegend wiederkehrt, fungiert er in Hühns Sinne demnach als isotopy. Taucht er jedoch jenseits des Liedrahmens an anderer Stelle auf, wie in Dietmars von Eist sô gesách si valken vliegen. / ‚sô wol dir, valke, daz du bist! (MF 37,4), dann wird er von der isotopy zum frame und animiert damit den Rezipienten, beide Lieder im Zusammenhang zu betrachten.137 Wie schon bei Müller-Zettelmann bietet auch Hühns Instrumentarium zunächst nur eine alternative Beschreibungsmöglichkeit für lyrische Texte, nicht aber das Werkzeug zu einer umfänglichen Interpretation, die sodann immer auch auf andere Methoden – die enounciation betreffend – zurückgreifen muss. Doch auch für den Bereich des enounced bzw. poetic plot oder die histoire bleiben Fragen offen, allen anderen voran diejenige, wie die Geschehenssequenzen zu benennen und zu beschreiben sind, über deren Vorhandensein in lyrischen Werken offenbar einiger Konsens besteht. Wolf Schmid bemüht sich in seinen Elementen der Narratologie, vier verschiedene Aggregatszustände narrativer Sequentialität theoretisch voneinander zu trennen,138 die auch bei der skizzierten Problemlage möglicherweise hilfreich sein könnten. Auf der niedrigsten Ebene befindet sich dabei das ‚Geschehen‘ als nicht gewichtete Gesamtheit aller expliziten, impliziten oder nur implizierten Vorkommnisse und Figuren des jeweiligen Werkes. Demgegenüber trifft die ‚Geschichte‘ aus jener Vielheit der Aussagemöglichkeiten eine Auswahl. Der Autor schlägt als inhaltliche Minimaldefinition einer solchen Geschichte die Behandlung einer Veränderung eines Zustands in einem Moment vor und folglich die Benennung von Anfangs- und Endzustand eines Bezugsobjekts. Wird diese Geschichte zusätzlich auf das Herausstellen einer Semantik hin komponiert, handelt es sich laut Schmid sogar um eine ‚Erzählung‘.139 Die ‚Präsentation‘ schließlich bezeichnet den Phänotyp dessen, was gemeinhin als narrativer Text aufgefasst wird. Diese Minimaldefinition Schmids ist deshalb interessant, weil es bei der Erforschung narrativer Ansätze in lyrischen Zusammenhängen zumeist auf die Erkundung fremdartiger, fragmentarisch scheinender Strukturen ankommt und daher die Frage nach kleinsten narrativen Einheiten einiges Interesse für sich in Anspruch nehmen kann. Wie sich im folgenden Überblick über die mediävistische Forschungsdiskussion zum Thema der Narrativität lyrischer Texte zum einen zeigen wird, prägt die duale || Idee der vorliegenden Studie präfiguriert, nämlich die durch Wiederaufgreifen variierter Topoi entstehende Textverbindung, die deren jeweilige Aussagen in ein gemeinsames Bedeutungsuniversum stellt. 137 Dieser Zusammenhang ist freilich systematisch gedacht: Isotopien beschränken sich auf einen Text als Referenzrahmen, frames greifen darüber hinaus. 138 Vgl. hier und im Folgenden Schmid, Elemente der Narratologie, S. 1–9. 139 Vgl. das Modell der vier Ebenen ebd., S. 245.

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Betrachtung zwischen histoire und discours – teils implizit – auch deren Bemühungen. Und zum anderen lässt sich anhand jenes Abrisses ebenfalls verdeutlichen, dass dieser Forschungskomplex trotz seines erst kurzzeitigen Zuwachses an Tempo und Schärfe, der mutmaßlich durch die Diskussion ähnlicher Themen in Neugermanistik und Anglistik befeuert wurde, dennoch bereits auf eine Tradition zurückblicken kann. Kümmert sich das Reallexikon in erster Auflage noch nicht im Geringsten um diese Frage einer etwaigen epischen Tendenz lyrischer Texte, so nimmt 1984 die zweite Auflage kurz, doch mit Selbstverständlichkeit die „episch-lyrischen Gefüge“ und „episch-lyrische[n] Reimpaarstücke“140 des Frühen Minnesang zur Kenntnis. Die dritte Auflage schließlich ebnet den Weg dafür, sowohl episch-lyrische Transgressionen als auch die sie betreffende Forschung in das Umfeld philologischer, sozialgeschichtlicher, zivilisationstheoretischer und medientheoretischer Fragestellungen einzugliedern und ihnen so eine reflektierte Position zuzuweisen.141 Dies ist umso erfreulicher, da das Feld transgressiv agierender Gattungsmuster bereits seit den 1980er Jahren faszinierte und unterschiedlich perspektiviert wurde. Schon 1984 untersucht Ingeborg Glier historisch diachron die epischen Tendenzen in der Konkretisierung von Rollen, Situationen und Begriffen hin zum genre objectif142 des späteren Minnesangs.143 Und kurz darauf behandelt Volker Mertens in Ausdehnung auf frühe Minnesänger144 ebenfalls lyrische Texte wie das Tagelied,145 in denen eine erzählte Realität beleuchtet und handelnde Figuren vorgeführt werden. Kreuzlieder sind, obwohl diese den untersuchten Tageliedern in der Konkretisierung der abstrakt-topischen Minnesangsituation nicht nachgeordnet sind, jedoch nicht Teil der Betrachtungen.

|| 140 Neumann, Art. Minnesang, S. 309. 141 Vgl. Kasten, Art. Minnesang, S. 605 u. 607. 142 Die Begrifflichkeit wird übernommen von Alfred Jeanroy: Les origines de la poésie lyrique en France au moyen âge. Études de littérature française et comparée. Paris 1889. 143 Vgl. Glier, Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts. Obwohl sich die Vorstellung dessen, was unter einem erzählenden Charakter lyrischer Texte zu verstehen ist, mit dem Voranschreiten der Diskussion deutlich wandelt und weitet, treten zuweilen auch in den aktuelleren Beiträgen zum Thema noch Sichtweisen auf, die Glier und ihren Zeitgenossen ähneln. Ein Beispiel dafür bietet Dietmar Rieger, der für narrative Zusammenhänge einerseits auf dem Vorhandensein eines zeitlichen Davor und Danach beharrt, andererseits aber alle möglichen Auslegungen dessen jenseits von Tagelied, Pastourelle und Ähnlichem ausschließt. Vgl. Dietmar Rieger: Norm und Störung. Zum Verhältnis lyrischer und narrativer Verfahren in der mittelalterlichen Lieddichtung Frankreichs. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 103–121, hier S. 104, 108f. u. 113. 144 Die Studie Max Schiendorfers stellt daraufhin insofern einen Schritt zurück dar, als dass er die frühen Lieder entgegen der Ansicht Mertens’ wieder ignoriert und sich nur auf späte Vertreter bezieht. Vgl. Max Schiendorfer: Das ‚konkretisierte‘ Minnelied. In: Gedichte und Interpretationen, hrsg. von Helmut Tervooren, S. 251–267, hier S. 262. 145 Vgl. Mertens, Erzählerische Kleinstformen.

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Neben einer solchen histoire-basierten Narration wird gleichfalls schon in den 1980er Jahren durch Jan-Dirk Müller ein Narrationstyp wahrgenommen und bearbeitet, der sich auf eine inszenierte Geschichte hinter den Liedern (in diesem Falle des Frauendienstes) bezieht.146 Diesen Ansatz der Betrachtung führt etwa Wolfgang Haubrichs weiter, der das Spiel mittelalterlicher Lyrik mit Biografiefragmenten erforscht, die vielleicht nicht wahr, aber doch ausreichend wahrscheinlich sind, um der Erhöhung der Glaubwürdigkeit zu dienen.147 Diese Auffassung einer Narrativität hat mit der durch Schmid beschriebenen Minimaldefinition auch deshalb nur wenig Deckungspotential, weil der durch die Biografieelemente erzeugte Erzählzusammenhang nicht vollständig ausgeführt, sondern dem Rezipienten nur nahegelegt wird, um sich erst durch dessen Mitwirkung in ihm zu vollenden. Dennoch drückt sich darin auch keines von Schmids Geschehen aus, denn die Biografieelemente sind keine allumfassende Vielheit potentiell unbegrenzter Räume und Zeiten,148 sondern durchaus konkrete und begrenzte Elemente des Diskurses. Nur die Explikation ihres Zusammenhangs wird an den Rezipienten abgegeben. Mertens führt die Untersuchungen Haubrichs’ zur Biografisierung mit medialem Bezug weiter, wonach Biografiefragmente des späten Sangs den Zweck erfüllen, den Präsenzverlust schriftlicher Texte zu kompensieren.149 Die beiden Realisationsformen solcher Kompensationsbestrebungen lassen sich als Narration außerhalb der Lieder (Ulrich von Liechtenstein) oder innerhalb auftretende Auserzählung lyrischer Minnemotive (Hadlaub)150 wieder dem discours oder der histoire zuordnen.

|| 146 Vgl. Jan-Dirk Müller: Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein. In: DVjs 58 (1984), S. 38–73, hier S. 42. 147 Vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter, hrsg. von Andersen, S. 129–147, hier S. 137. Problematisch an Haubrichs’ Thesenbildung ist allerdings, dass er seinen Gegenstand zunächst einigermaßen umfassend als autorbezogene Aussagen, die „von einem […] Publikum für wahr gehalten werden mußten“ (S. 131f.) formuliert, im Anschluss jedoch vieles, das in diesen Rahmen zu fallen scheint, wieder ausschließt: Nennungen historischer Ereignisse und Personen aus der Zeitgenossenschaft des Autors, Zitate von Kultur- und Sozialtechniken, Gönner- und Selbstzitate sowie Textkorrelate der Sängerrolle, deren Eliminierung als Biografiefragment sowohl unklar als auch ungünstig für sein Korpus ist. 148 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 243. 149 Vgl. Volker Mertens: ‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium Transferts culturels et histoire littéraire au Moyen Âge im Deutschen Historischen Institut Paris 16.–18.3.1995. Hrsg. von Ingrid Kasten. Sigmaringen 1998 (Francia Beihefte. 43), S. 331–344. 150 Vgl. Volker Mertens: Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter, hrsg. von Andersen, S. 200–210. Dieser Ansatz wird von Eckard Höfner 2001 auf provenzalische Lieder übertragen, wobei auffällt, dass dessen Narrationsbegriff die Hälfte der deutschen Tagelieder als „non-narrative“ einstuft. Eckard Höfner: Interdependenzen, Interferenzen, Intertextualitäten. Narrativik im provenzalischen Lied und in seinem

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Aufseiten der histoire-Narration weitet Manfred Eikelmann die Thesen Gliers und Mertens‘ auf Minnekanzonen aus und erhebt die Subjektivität der Kanzonen, die von der vorangegangene Forschung als Hinderungsgrund für einen erzählenden Charakter angesehen worden war, in Form eines Begegnungsraums von Erzählung und Reflexion zum Hintergrund der Narration.151 In Eikelmanns Deutung der Kanzonen als Erzählungen von einer inneren Realität des Ichs anstelle einer Rollensituation wie im genre objectif liegt eine Ausweitungsbewegung des restriktiven Verständnisses lyrischer Narration zugunsten einer Akzeptanz der Möglichkeit spezifisch lyrischer Erzählformen, die die folgende Forschung prägen wird.152 Ähnlich verfährt auch Mertens in Bezug auf Morungen, wenn er die auffällig häufigen, diskontinuierlichen Narrationen in dessen Liedern betont, die zur Selbstvergewisserung des Ichs angesichts einer übermächtigen Minne dienen.153 Ebenfalls am Beispiel Morungens, aber auch Walthers, belegt zeitgleich Warning den narrativen Charakter pastourellenartiger Lieder der mittelhochdeutschen Lyrik, den er über Lotmans Sujetbegriff verankert.154 Eine andere discours-Komponente beleuchten demgegenüber die Untersuchungen Cordula Kropiks, die sich einem größeren Narrativ im Œuvre Meinlohs155 widmen. Derartige Überlegungen haben gerade für Meinloh eine Tradition, die bis in die frühe Forschung zurückreicht und auf verschiedene Liederbuchtheorien156 hinauslief. Abweichend von ihnen und ähnlich wie Bleumer in Hinblick auf Walthers Geschichten bestimmt die Autorin den Eindruck eines liedübergreifenden narrativen Zusammenhangs sodann jedoch als schriftbedingtes157 Rezeptionsphänomen und nicht als

|| Umkreis. In: Fragen der Liedinterpretation. Beiträge eines Kolloquiums im Februar 1999 an der Universität Regensburg. Hrsg. von Hedda Ragotzky [u. a.]. Stuttgart 2001, S. 158–187, hier S. 183. 151 Vgl. Manfred Eikelmann: wie sprach sie dô? War umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling, Peter Strohschneider. Heidelberg 1996 (GRM Beihefte. 13), S. 19–42, hier S. 20f. 152 Vgl. ebd., S. 27. 153 Vgl. Volker Mertens: Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hrsg. von Baisch [u. a.], S. 34–55, hier S. 36–38. 154 Vgl. Rainer Warning: Pastourelle und Mädchenlied. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 2. Hrsg. von Johannes Janota [u. a.]. Tübingen 1992, S. 709–723, hier S. 712. Zum Sujetbegriff vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 329–340. 155 Vgl. Cordula Kropik: Strophenreihe und Liebesroman. Überlegungen zu zyklischen Tendenzen bei Meinloh von Sevelingen. In: PBB 131 (2009), S. 252–276, hier S. 256f. 156 Wie die Arbeit Christel Schmids verdeutlicht, vgl. Schmid, Die Lieder der Kürenberg-Sammlung, ist diese Theorielinie in Bezug auf die frühen Vertreter des Minnesangs weder mit den ersten Fachvertretern noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts abgerissen. 157 Dass motivische Korrespondenzen der Lieder untereinander auch außerhalb einer schriftlichen Tradition denkbar sind (vgl. Hühns isotopies), liegt jedoch nahe und kann in einem ähnlichen Sinne

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intentional innerhalb einer mündlichen Kultur. Dass motivisch-topische Korrespondenzen der Lieder untereinander jedoch auch außerhalb einer schriftlichen Tradition denkbar sind (vgl. Hühns isotopies), liegt indes nahe und kann in einem ähnlichen Sinne interpretiert werden. Sandra Linden demonstriert dies, indem sie topisches Sprechen im Minnesang als produktive Denkform deutet, deren Diskussionspotentialen mit narrativen Ausfaltungen begegnet wird.158 Der Beitrag Bleumers zu Walthers Geschichten ist hingegen nicht nur aufgrund seiner Auffassung der Position narrativer Effekte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit relevant für die Diskussion,159 sondern auch deshalb, weil er die Notwendigkeit eines End- oder Zielpunkts für eine Geschichte verstärkt betont, wie er auch innerhalb der vorliegenden Studie im Anschluss an Schmid angesprochen wurde. Dieser Grundgedanken wird von Bleumer auf die Aufführung hin funktionalisiert, deren Sänger als inszeniertes Subjekt des Handlungsmodells der Hohen Minne, die ihr Ziel niemals erreichen darf, an keinen Zielpunkt seines Erzählversuchs gelangen kann.160 Das einprägsame Fazit lautet sodann: „Der Sänger der hohen Minne hat keine Geschichte“161. Damit lehnt der Autor jedoch nicht jede Form der aufführungsinternen Narrationsbildung ab, sondern er spricht sich im Gegenzug für eine in den Rezipienten verschobene Form aus, mit der zudem eine paradoxe Gleichzeitigkeit zu erreichen ist: einer zyklischen Pararitualität der Aufführung nämlich und simultan auftretender linearer Narration im Rezipienten. Die primär antinomische, sekundär oszillierende Parallelität prägt darüber hinaus etwa auch Bleumers Interpretation lyrischer Präsenzeffekte, deren beide Hälften einer narrativen Konstruktion von Zeit im Bild und lyrischer Produktion von Präsenz im Klang demnach nach dem gleichen Muster wirken.162

|| interpretiert werden. Diese Überlegung wird im Zusammenhang mit dem Topos noch eine Rolle spielen. 158 Vgl. Sandra Linden: Die liebeslustige Alte. Ein Topos und seine Narrativierung im Minnesang. In: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie. Hrsg. von Dorothee Elm [u. a.]. Berlin 2009, S. 137–164, hier S. 143. Die beschriebene Lesart deutet teilweise in Richtung diagrammatischer Sichtweisen, was von der Autorin jedoch nicht bemerkt wird. Vgl. dazu den Abschnitt 1.3.4 unten sowie Matthias Bauer, Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010. 159 Vgl. Bleumer, Walthers Geschichten, S. 99. 160 Vgl. ebd., S. 91. 161 Ebd., S. 92. 162 Vgl. Hartmut Bleumer: Das Echo des Bildes. Narration und poetische Emergenz bei Heinrich von Morungen. In: ZfdPh 129 (2010), S. 321–346, hier S. 326. Damit stellt der Autor, ohne sich jedoch darauf zu beziehen, den entscheidenden Gedanken für die Studie Stephan Fuchs-Jolies bereit, das Problem der unhintergehbaren Nicht-Gegenwart der Liebeserfüllung in Form lyrischer Präsenz zu lösen. Vgl. Stephan Fuchs-Jolie: ungeheuer oben. Semantisierte Räume und Raummetaphorik im Minnesang. In: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter. Hrsg. von Nikolaus Staubach,

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An dieser Stelle vertieft sich der Eindruck Lindens, dass die Verwendung narrativer Elemente in der Lyrik nicht bloß als zufälliges oder beliebiges Mittel gelten kann, um Varianz oder Aktualität zu erzeugen, sondern sich mit den Klangeffekten des Sangs zu einem komplexen ästhetischen Konstrukt zusammenfügt, das zwei grundlegend verschiedene Seins- oder Sichtweisen – linear und zyklisch, Distanz und Nähe163 – verwebt und überblendet. Nicht unproblematisch bei der Verwendung narratologischer Modelle zur Beschreibung jenes ästhetischen Konstrukts bleibt dabei deren Geschlossenheit,164 für die die ins Offene drängende Form der Lyrik (Artifizialität, Überstrukturiertheit, Ästhetik) prekär sein muss. Doch dies lässt sich auch produktiv deuten. So interpretiert Bleumer eine lyrische Qualität als nicht gattungsgebundene Weiterentwicklung narrativer Prozesse,165 und in der Folge mag auch das lyrische Genre gerade über die Dualität fragmentierter Narration und intensivierter Artikulation charakterisiert werden: „Die avisierte narrative Struktur löst sich am Ende auf und verlängert ihre Folgen in die Gegenwart des sprechenden Ichs“166. Indem lyrische Geschichten demnach gerade zu keinem Ende kommen, sondern in der Präsenz, in die sie überführen, stets fragmentarisch bleiben, hat Bleumer aufseiten der discours-Narration das narratologische Problem des fehlenden Endpunktes geradezu zum Kennzeichen lyrischer Narrationsformen umgeprägt. Damit ist die Rolle des Rezipienten in Kontexten lyrischer Narrativität jedoch noch nicht ausgeschöpft, wie Timo Reuvekamp-Felber zeigt. Denn durch die Einbindung von Figuren, die aus epischen Zusammenhängen vertraut sind („Interfiguralität“), entstehen demnach ‚Mini-Narrative‘, die im Rezipienten mit nur einem Wort

|| Vera Johanterwage. Frankfurt am Main 2007 (Tradition – Reform – Innovation. 14), S. 25–42, besonders S. 25. Denn die klanginduzierte Präsenz („poetische Emergenz“) aktualisiert sich Bleumer zufolge in jeder neuen Aufführung und überwindet dabei immer wieder aufs Neue die im Bild wie der (Mikro-)Narration angelegte Distanz. Vgl. Bleumer, Das Echo des Bildes, S. 342f., Zitat S. 321. 163 Diese Ausprägung des Gegensatzpaares wirkt mit dem discours freilich auf einer anderen Ebene als die zuvor angesprochene notwendige Distanz und angestrebte Nähe zwischen dem sich äußernden Ich der histoire und dem Objekt seiner Sehnsucht. Sie ist aber zugleich nicht ohne Bezug zur letztgenannten, indem sie jene Sehnsucht in Bezug auf eine Aufführung auf deren Publikum überträgt, das nach Präsenz verlangt. Sie operiert also eher in Korrespondenz zur lyrischen Nähe und epischen Distanz, die bereits anklang, deutet aber zugleich schon auf die Aufführungsdebatte hin. 164 Vgl. Hartmut Bleumer: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, hrsg. von Haferland, Meyer, S. 231–262, hier S. 233–236. 165 Vgl. Bleumer, Minnesang als Lyrik, S. 167. 166 Ebd., S. 196.

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einen ganzen Prätext aufrufen.167 Implizit scheint es sich hierbei um topische168 Verfahrensweisen zu handeln, doch der Autor nimmt weder darauf Bezug, noch öffnet er seinen Ansatz über die Figurensphäre hinaus für Gegenständliches wie Walthers glesîn vingerlîn (L 50,7) oder Abstrakta wie Lindens Alter. Und auch Caroline Emmelius arbeitet weiter am von Bleumer entworfenen Grundmodell der lyrischen Präsenz, indem sie die Sonderstellung der Klage verdeutlicht, deren Stimmlichkeit und Aufführung einerseits das Vergangene präsent zu halten und andererseits als abgeschlossen zu reflektieren sucht.169 Verbindendes Element dieser Bestrebungen ist nach Ansicht der Autorin die histoire-Ebene, die in der Lyrik jedoch lediglich ein Geschehen und keine geformte Geschichte darstellt.170 Mit dieser Umwertung des Ebenenmodells Schmids betont Emmelius die Rolle des Rezipienten bei der Konstitution narrativer Prozesse auf lyrischem Gebiet, die sich aus der durch Bleumer hergeleiteten lyrischen Präsenz ergibt. Pointiert formuliert ist die lyrische Form der Narration hier folglich eine interaktive. Parallel schreitet auch die weitere Erforschung der histoire-Ebene voran. So weist Albrecht Hausmann die unterschiedlichen Potentiale der Dame171 als eines narrativen

|| 167 Vgl. Timo Reuvekamp-Felber: Literarische Formen im Dialog. Figuren der matière de Bretagne als narrative Chiffren der volkssprachigen Lyrik des Mittelalters. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 243–270, hier S. 252, Zitat S. 246. Einem der übergreifenden Details widmet sich mit seinem Beitrag Manuel Braun, indem er die transgenerischen Zusammenhänge im Werk Wolframs von Eschenbach untersucht, wobei die grundlegende These lautet, dass sich die Gattungspolaritäten konkret anhand der bearbeiteten Beispiele der narrativen Tagelieder Wolframs und der lyrischen Topoi innerhalb des Parzival einander annähern. Vgl. Manuel Braun: Epische Lyrik, lyrische Epik. Wolframs von Eschenbach Werk in transgenerischer Perspektive. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 271–308, hier S. 277 u. 281. 168 Vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Das semiologische Abenteuer, hrsg. von ders., S. 15– 101, hier S. 58f. zu ‚imago‘. 169 Vgl. Caroline Emmelius: Zeit der Klage. Korrelationen von lyrischer Präsenz und narrativer Distanz am Beispiel der Minneklage. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 215–242, hier S. 216. 170 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 251–271. Damit stimmt die Autorin in erster Linie ebenso mit Bleumer überein wie in der Opposition von Lyrik-Klang-Präsenz bzw. Narration-Linearität-Distanz und der Situationsverschmelzung der Aufführungssituation, in der die distanzierenden Zeitbestimmungen der histoire-Ebene, die temporal stets strukturiert sein muss, um erzählbar zu bleiben, zugunsten präsenzerzeugender Raumbegriffe zurücktreten. Vgl. Emmelius, Zeit der Klage, S. 225. Dabei kann der durch Emmelius bescheinigte Mangel einer geformten Geschichte natürlich nicht bedeuten, der Autor des lyrischen Werkes hätte die gebotenen Narrationsfragmente nicht absichtsvoll ausgewählt. Denn sonst wäre nicht nur die Narration in den Rezipienten zu verschieben, sondern auch die Instanz des Autors, der sodann aus den gebotenen Geschehenselementen eine kausal oder anderweitig motivierte Auswahl trifft. Vielmehr weist dieser Befund auf die absichtsvolle Fragmentarität lyrischer Handlungsgestaltung hin. 171 Vgl. zu den Frauenstrophen Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zur Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg 2007 (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie. 31).

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Bezugspunktes für das sich äußernde Ich über die verschiedenen Phasen des Minnesangs hinweg nach172 und Annette Gerok-Reiter zeigt, dass man in Bezug auf lyrische Beispiele nicht von vollständigen Raummustern sprechen kann, sondern lediglich von Raumpartikeln („Unort“), die sich für erzählbare Handlungen auf problematische Art und Weise ekstatisch und anarchisch verhalten.173 Mit dem Boten bearbeitet

|| 172 Vgl. Albrecht Hausmann: Verlust und Wiedergewinnung der Dame. Zur inhaltlichen Funktion von Narrativierung und Entnarrativierung im Minnesang. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 157–180, S. 180. 173 Vgl. Annette Gerok-Reiter: Unort Minne. Raumdekonstruktionen als Neukonzeptualisierung der Minne im späthöfischen Sang. In: Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Matthias Däumer [u. a.]. Bielefeld 2010 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften. 3), S. 75–106, hier S. 94–101, Zitat S. 96. Neben der vor allem durch Bleumer und Emmelius betonten Zeit (Vgl. im Einzelnen Hartmut Bleumer: Die Zeit Ulrichs von Liechtenstein. Oder: Die Entdeckung der Realität aus dem Geist der Lyrik. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von ders., Emmelius, S. 327–358. Ders., Titurel. Ders.: Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich [u. a.]. Berlin 2013 (LTG. 3), S. 119–141. Emmelius, Zeit der Klage.) wird somit auch der Raum als zweite konstitutive Säule der Wahrnehmung eingebunden. Vgl. Christopher Habel, Michael Herweg, Simone Pribbenow, Christoph Schlieder: Wissen über Raum und Zeit. In: Handbuch der Künstlichen Intelligenz (2003), S. 349–405, hier besonders S. 349f: „Intelligentes Verhalten, insbesondere Handeln und Problemlösen, aber ebenso Verstehen und Kommunizieren, basiert auf Vorwissen, und dies betrifft überwiegend ‚Sachverhalte, die an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten gelten‘: Zielgeleitete Handlungen werden von einem Agenten, der sich an einem bestimmten Ort befindet, ausgeführt, um Einfluss auf die Entwicklung des Geschehens in der Welt zu nehmen. Zustände der Welt sollen herbeigeführt oder beendet werden; Prozesse sollen an bestimmten Orten in Gang gesetzt, zu Ende geführt oder vorzeitig abgebrochen werden; Ereignisse sollen verursacht oder verhindert werden. Zustände, Prozesse und Ereignisse – oder, wie wir im folgenden allgemeiner sagen wollen, Situationen – herrschen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten bzw. finden in Raum und Zeit statt und unterliegen raum-zeitlichen Bedingungen. Mit anderen Worten: Situationen sind in Raum und Zeit lokalisiert oder verankert.“ Kursivsetzung im Original. Die Verknüpfung von Raum und Zeit mit subjektiver Erkenntnis zeigt sich auch bei Kant, vgl. Manfred Stöckler: Art. Raum. In: Metzler Lexikon Philosophie (2008), S. 507f., hier S. 507. Das Original dazu bei Kant lautet: „Wäre also nicht der Raum (und so auch die Zeit) eine bloße Form eurer Anschauung, welche Bedingungen a priori enthält, unter denen allein Dinge für euch äußere Gegenstände sein können, die ohne diese subjektiven Bedingungen an sich nichts sind: so könntet ihr a priori ganz und gar nichts über äußere Objekte synthetisch ausmachen.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 1. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 2004 (stw. 55) (= zugleich Immanuel Kant: Werkausgabe. Bd. 3. Hrsg. von Wilhelm Weischedel), S. 91. Käte Hamburger plädiert dafür, die Kategorien von Raum und Zeit als ausschließlich realitätsverknüpft und damit als nicht anwendbar auf die imaginären Welten fiktionaler Texte zu betrachten. Vgl. Käte Hamburger: The Timelessness of Poetry. In: Time. From Concept to Narrative Construct. A Reader. Hrsg. von Jan Christoph Meister, Wilhelm Schernus. Berlin 2011 (Narratologia. 29), S. 85–99, hier S. 88. Doch da es keine Alternative zur Welterschließung über die dem Rezipienten vertrauten Kategorien und Prozesse gibt, wie oben deutlich wurde, muss auch jede Form der Dichtung diese verwenden, wobei fiktionale Zeit und erdichteter Raum freilich ihren realistischen Äquivalenten nicht deckungsgleich, doch relational analog funktionieren müssen. Vgl. Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer

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Margreth Egidi zudem ein Element,174 das sowohl auf der histoire-Ebene des Gedichts interessant für narrative Prozesse ist, weil es Möglichkeiten zur Auserzählung und der Aufrechterhaltung einer intradiegetischen, interfiguralen Nähe zwischen den Minnenden bietet, als auch auf der discours-Ebene. Denn als Topos des Minnesangs175 kann der Bote zugleich auch im Sinne von frame oder isotopy Beziehungen innerhalb von oder zwischen Liedern stiften.176 Dass das Lyrische Ich der histoire-Ebene eine dem Erzähler des discours analoge Instanz darstellt – so lautete oben die These Antje Sablotnys – verdient in diesem Zusammenhang nochmals Erwähnung. Diese Überlegung wird durch Haustein aufgegriffen und in Bezug auf Hartmann von Aue angewendet, in dessen hauptberuflicher Erzählerschaft der Autor den Grund für Hartmanns ausgiebige Einbindung auch lyrischer Narrative erblickt.177 Zudem weist Haustein als Beispiel für ‚unfertige Geschichten‘ gerade auf die Reflexion außerhalb des Liedumfangs liegender Handlungsmöglichkeiten hin,178 – Rieger hatte sie explizit ausgeschlossen – und zwar mit der Begründung, die Abtrennung der Reflexionen und der außerhalb des liedinternen Geschehens liegenden Handlungsmöglichkeiten würde bedeuten, ein wichtiges und teils sehr umfängliches Segment des jeweiligen Textes der Interpretation vorzuenthalten. Diese Einschätzung lässt sich durch eine Vielzahl verschiedener Minnelieder stützen, es sei nur beispielhaft verwiesen auf Albrechts von Johansdorf MF 91,22, in dessen Verlauf unterschiedliche Szenarien imaginiert, wie in verliure ich mînen vriunt, / seht, sô wurde ich niemer mêre vrô (MF 91,29), und durch Reflexion verknüpft werden, wie in Dâ gehoeret manic stunde zuo, / ê daz sich gesamne ir zweier muot (MF 91,8). Es erschiene auch vor dem Hintergrund der Arbeiten Bleumers und Emmelius’ formalistisch, die Imaginationen nur aufgrund der konjunktivischen Oberfläche und der Unabgeschlossenheit der Gedankengänge nicht als narrative Ansätze zu

|| Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet, Birgit Neumann. Bielefeld 2009, S. 33–52, hier S. 39. Somit mögen zwar Raum und Zeit innerhalb und außerhalb der Dichtung nicht den gleichen Gesetzen folgen, einen funktionalen Zusammenhang bilden diese Basalkategorien jedoch in jedem Fall. 174 Vgl. Margreth Egidi: Der schwierige Dritte. Zur Logik der Botenlieder vom frühen Minnesang bis Reinmar. In: Aspekte einer Sprache der Liebe, hrsg. von Münkler, S. 107–126, hier S. 124f. 175 Vgl. in Auswahl Meinloh von Sevelingen (MF 11,1); Der von Kürenberg (MF 10,9); Hartmann von Aue (MF 207,1); Dietmar von Eist (MF 32,13); Hartwig von Rute (MF 116,8); Heinrich von Morungen (MF 132,3); Friedrich von Hausen (MF 51,23); Reinmar (MF 152,15); Heinrich von Rugge (MF 107,17). 176 Dabei scheint sich zudem abzuzeichnen, dass in der wiederholten Verwendung des Alters im bei Linden beschriebenen Sinne eines Modus der Diskussion und Problemlösung zum einen und der Botenstruktur bei Egidi zum anderen unterschiedliche Arten der narrativen Zusammenhangsbildung wirksam sind (discours vs. histoire), die beide doch unbestreitbar in topischen Mechanismen wurzeln. 177 Vgl. Haustein, Nichterzählte Geschichten, S. 89f. 178 Vgl. ebd., S. 92.

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verstehen wie Rieger, wenn doch mehrfach Geschehensfolgen angeordnet und sogar bewertet werden. Damit soll freilich nicht bestritten sein, dass derartige Phänomene einen anderen Stellenwert besitzen als die Erzählweise des Tagelieds, womit sich einmal mehr bestätigt, dass die unterschiedlichen lyrisch-narrativen Phänomene nicht ohne Erläuterung der zugehörigen Spezifika einander gleichgestellt werden dürfen. Wegweisende, da sowohl überblicksartige als auch detaillierende Arbeit zum Thema leistet der gemeinsame Beitrag Bleumers und Emmelius’, der sich zum einen an Hausteins Überlegung einer gattungsüberschreitenden Instanz des lyrischen Erzählers anschließt, diese jedoch auch insofern umkehrt, als dass die Autoren eine entgegengesetzte Konstitution annehmen: Demnach hat sich der Erzähler aus dem Lyrischen heraus gebildet.179 Auch präzisieren Bleumer und Emmelius ihren Entwurf einer lyrischen Narrativität: Die Struktur der Geschichte verlässt die horizontale Achse des dargestellten Geschehens und kommt im vertikalen Akt der narrativen Aussage zur Anwendung. Der semantische Prozess der dargestellten Handlung, in der ein Anfangs- und ein Endzustand aufeinander abgebildet werden, erscheint so als metaphorische Relation narrativen Handelns, in der Sprache, Sprecher und Gegenstand aufeinander abgebildet werden.180

Nicht nur, dass somit der histoire- wie discours-Ebene einer lyrischen Form des Erzählens gleichermaßen Wert zugemessen wird, auch kommt der Metapher eine wesentliche Funktion dabei zu. Dies lässt sich durch verschiedene Autoren der Metaphern- und Erzähltheorie stützen, die die explizit lyrische Form des Sprechens181 in der Metapher als entscheidendes Komplementärkonzept zur narrativen Ausfaltung eines definierten Anfangs- und Endzustands mit einer geordneten Folge von Veränderungen dazwischen hervorkehren.

|| 179 Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 10. 180 Ebd., S. 22. 181 Die Lyrik als Domäne der Metapher bezeichnen zunächst der Russische Formalismus und Roman Jakobson. Vgl. etwa Genette, Die restringierte Rhetorik, S. 234. Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache, S. 329. Ähnlich äußern sich später Harald Weinrich, Roland Barthes, Karlheinz Stierle, Bernhard Asmuth, Gerhard Kurz und Hartmut Bleumer. Vgl. im Einzelnen Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher. In: DVjs 37 (1963), S. 325–344, hier S. 327. Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 134. Stierle, Die Identität des Gedichts, S. 517. Bernhard Asmuth: Seit wann gilt die Metapher als Bild? Zur Geschichte der Begriffe ‚Bild‘ und ‚Bildlichkeit‘ und ihrer gattungspoetischen Verwendung. In: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des ‚Historischen Wörterbuchs der Rhetorik‘. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1991 (Rhetorik-Forschungen. 1), S. 299–309, hier S. 309. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1997 (Kleine Vandenhoeck-Reihe. 1486), hier S. 73. Hartmut Bleumer: „Codex Manesse“. Ein Buch zwischen Sang und Geschichte. In: Codex im Diskurs. Hrsg. von Thomas Haye, Johannes Helmrath. Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 25), S. 119–142, hier S. 139. Ders., Historische Narratologie, S. 250.

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In diesen Kontext gehören auch die Überlegungen Philipowskis zum autodiegetischen Erzählen in der mittelhochdeutschen Literatur, die den Anfang eines Erzählens von sich selbst in Lied und Lyrik verorten und zu diesem Zweck die Gedanken Bleumers sowohl zur Nicht-Existenz eines weltlichen Ich-Autors rezipieren als auch jene zur zwingenden Nicht-Fiktionalität des mündlich Dargebotenen, zur ästhetischen Sonderposition lyrischer Praxis, zur lyrisch-metaphorisch geprägten Lektüre des Frauendienstes und noch einmal nachdrücklich zu dessen sukzessivem Abgleiten in Form und Tempus der Lyrik.182 Philipowskis Untersuchung hat in ihrer Beobachtung Schnittmengen mit der vorliegenden Studie, fokussiert dabei jedoch stärker die literarhistorische Folge, dass das autodiegetische Erzählen im Mittelalter aus den Ich-Figurationen des Minnesangs heraus entsteht. Bevor der Rolle der Metapher für narrative Zusammenhänge jedoch weiter nachgegangen wird, scheint es ratsam, ein Fazit zu ziehen aus diesem Einblick in die Forschungsgeschichte zur lyrischen Narratologie auf dem Gebiet der Mediävistik. Zunächst ist festzuhalten, dass sich ein systematischer, dominanter Ansatz, wie ihn die Arbeiten Hühns und Schönerts für die Neugermanistik darstellen, in der mediävistischen Forschung noch nicht durchgesetzt hat, obwohl speziell die Generischen Transgressionen sich in ihrem umfassenden Theorieanspruch dafür sicher eignen würden. Vielmehr wurde das Thema seit der Mitte der 1980er Jahre einerseits wiederholt untersucht, andererseits jedoch zumeist in die beiden wesentlichen Grundrichtungen einer histoire-basierten und einer discours-basierten Narrativierung getrennt. Während zu Beginn der Diskussion anhand der Stoffauswahl und über synchrone oder diachrone Beschränkung vorwiegend ein Erzählbegriff der klassischen Narratologie auf lyrische Texte zu übertragen versucht wurde, erwies es sich späterhin als fruchtbringend, durch eine lyrikspezifische Deutung der Begriffe ‚Erzählung‘ und ‚Geschichte‘ ein Merkmal der umfassenden mittelhochdeutschen Lyrik besser beschreiben zu lernen, das sich in Anlehnung an Bleumer183 und zuvor Hempfer184 als ‚epische Qualität‘ bezeichnen lässt. Ausgehend von dieser Akzentverschiebung gerieten zunehmend auch mediävistisch-lyrische Besonderheiten in den Blick, die sich durch die aufführungsbasierte Rezeption einerseits und die narrativen Möglichkeiten der Metapher andererseits ergaben. Im Zuge dessen scheint es vielversprechend, in der narrativen Tendenz lyrischer Texte einen Problemlösungs- bzw. Diskussionsmodus zu sehen, wie von Linden vorgeschlagen, der neben dieser didaktischen Wertschöpfung in seiner Ästhetisierung den Anforderungen des prodesse et delectare gleichermaßen Genüge tut.

|| 182 Vgl. Philipowski, Autodiegetisches Erzählen in der mittelhochdeutschen Literatur, im Einzelnen S. 330, 335–336, 338, 342 u. 344. 183 Vgl. Bleumer, Gottfrieds ‚Tristan‘, S. 22. 184 Vgl. Hempfer, Art. Gattung, S. 651.

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Zwei Probleme zeichnen sich ab: zum einen das einer Begriffsbildung der ‚Geschichte‘, das sich aus der beständigen Positionsbestimmung gegenüber der klassischen Narratologie ergibt. Sie läuft Gefahr, lyrische Texte an den Forschungsstand der 1980er Jahre zu binden, wenn sie sie nicht nur dem Terminologie- sondern in einem unachtsamen zweiten Schritt auch dem Deutungsprimat der klassischen Narratologie unterwirft. Die nötige Öffnung hin zu einer lyrikspezifischen Prägung wie bei Bleumer, Emmelius und Haustein, die geschehensartig und fragmentarisch ist, darf die durch Hühn und Schönert herausgestellte Sequentialisierbarkeit lyrischer Texte jedoch ebenso wenig aus dem Blick verlieren. Zum anderen nicht minder problematisch ist das Feld des Erzählers und seiner Beziehung zu den lyrischen Figuren, da sich allem Anschein nach nicht ohne Weiteres entscheiden lässt, in welchem Abhängigkeits- oder Entwicklungsverhältnis Erzähler und Lyrisches Ich stehen. Denkbar wäre auch, dass beide in gar keine weitere Hierarchie zu bringen sind, da sie als gleichwertige und nur generisch divergente Prinzipien von Dichtung fungieren,185 also als Möglichkeiten, einen wahrnehmenden Blick und einen artikulierenden Klang zu verorten. Für den Minnesang besitzt all dies insofern Relevanz, als dass zum einen die Überlegungen zur lyrischen Narrativität auf mediävistischem Gebiet häufig nicht an geistlichen oder spruchartigen Dichtungen, sondern an Minnesangliedern entwickelt wurden (vgl. Bleumer, Hausmann, Egidi, Gerok-Reiter, etc.) und zum anderen jene Studien einer der phasenbestimmenden Trends der aktuellen Minnesangforschung sind, die bei Bodmer, Breitinger, Benecke und Lachmann begann und sich nach Phasen der historisierenden und subjektivierenden Sicht (vgl. Burdach und von Kraus) nun einer narratologischen Perspektive zuwendet. Diese mag zwar durch neugermanistische Systematiken wie die Hühns und Schönerts zum Teil beeinflusst worden sein, kann ihrerseits jedoch bereits auf Einsichten in den erzählenden Charakter mittelalterlich lyrischer Werke zurückverweisen, die mehrere Jahrzehnte vor jenen Einflüssen entstanden.

1.3 Zusätzliche Ansatzmöglichkeiten 1.3.1 Der Topos als Modus der Beziehungsstiftung Aus den Stimmen des erläuterten Forschungsdiskurses zur lyrischen Narration ergab sich wiederholt, dass bildhafte oder begriffliche Korrespondenzen zwischen Strophen und Liedern als Teil einer nicht histoire-basierten Form narrativer Verknüpfungen gelesen werden können (Hühn, Linden, Egidi, etc.). Eine Möglichkeit, jene

|| 185 Vgl. den Fiktionalitätskontrakt als Ursache sowohl des Lyrischen Ichs des Minnesangs als auch des fiktiven Erzählers des Höfischen Romans bei Warning, Der inszenierte Diskurs, S. 195.

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Korrespondenzen zu bezeichnen, bietet der Topos. Zugleich ist dieser hingegen ein Terminus, der nicht nur auf eine eigene Verwendungsgeschichte zurückblicken kann, die bis in die Antike zurückreicht, sondern mit dem darüber hinaus höchst unterschiedliche Muster beschrieben werden. Und nicht alle davon lassen sich im Sinne einer Narrativität deuten. Dem folgenden Abschnitt soll es folglich darum gehen, einen allgemeinen Eindruck vom Begriffsumfang des Topos sowie seinen spezifisch mediävistischen Möglichkeiten zu vermitteln und darzulegen, welche Anteile des Konzepts für die Fragestellung der vorliegenden Studie relevant sind. Typologisch gesehen hat der Topos zwei Wurzeln: die voraristotelische, mnemotechnische und die durch Aristoteles und Cicero markierte, rhetorische,186 wobei der Topos der Mnemotechnik die mentalen Orte wie Räume und Häuser beschreibt, an denen die Memorierenden Daten und Fakten abzulegen pflegen, um sie später auf einem gedachten Gang durch diese Örtlichkeiten leichter wieder aufrufen zu können; an dieser Stelle erschließt sich bereits die räumliche Konnotation des Topos als lat. locus. Demgegenüber fasst Aristoteles Topoi im rhetorischen Sinne als Suchformeln für Argumente und bezeichnet damit eine Wandlung des Begriffsinhalts weg vom Ort des Auffindens und hin zum Aufgefundenen selbst.187 Cicero prägt den Begriff (argumentatorum sedes ac loci)188 zunehmend emphatischer und beginnt mit der Einführung fachspezifischer, vornehmlich juristischer Sondertopoi.189 Ciceros Umgang mit dem Topos ändert aber trotz der vorgenommenen Ausdifferenzierung nichts Grundlegendes an Funktion und Ausrichtung, die im Gegensatz zum mnemotechnischen Zweig die Grundlage aller weiteren Überlegungen zum Topos sind, die im Rahmen der vorliegenden Studie eine Rolle spielen. Im Mittelalter wird innerhalb der klerikalen Literaturproduktion die bereits aristotelisch190 angelegte Trennung der formalen und materialen Topoi auf einem niederen Niveau fortgeschrieben.191 Als formale Topoi lassen sich dabei nach antikem Muster alle logischen, rhetorischen oder aber grammatischen Regeln auffassen, die sich durch ihren abstrakten Ordnungscharakter auszeichnen: || 186 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 632–634. 187 Vgl. Aristoteles, Topik, Buch I, S. 1. 188 Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Über den Redner. Lateinisch / Deutsch. 4. Auflage. Übersetzt und hrsg. von Harald Merklin. Stuttgart 2001 (RUB. 6884), Buch II, S. 311. 189 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 634 u. 646–649. 190 Vgl. Oliver Primavesi: Art. Topik, Topos. I. Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1263–1269, hier Sp. 1263. 191 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 650–654 u. 662. Zu den Unterschieden dieser beiden Kategorien auch auf englischsprachigem Gebiet vgl. Edgar Mertner: Topos und Commonplace. In: Toposforschung. Eine Dokumentation. Hrsg. von Peter Jehn. Frankfurt am Main 1972 (Respublica Literaria. 10), S. 20–68, hier S. 22 u. 58–66. Vgl. zu den Gründen des sinkenden Niveaus einerseits Christoph Kann: Art. Topik, Topos. II. Mittelalter. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1269–1279, hier Sp. 1270, 1273 u. 1276 sowie andererseits Franz Quadlbauer: Art. Topik. In: LexMA7 (1995), Sp. 864–867.

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[Formale, D.R.] Topoi sind insofern etwa die zehn Kategorien, die vier Prädikationen, die sieben Umstände der Hypothesis (persona, factum, causa, locus, tempus, modus, facultas), die status oder Tatbestands- und Gegenstandsfragen […], aber auch die vier für das Mittelalter besonders wichtigen Normen-Interpretationsfragen seit Hermagoras (scriptum et voluntas, antinomia, ambiguitas und syllogismus), die zwei genera probationum […], die drei Ähnlichkeitsgrade des induktiven Vergleichs (simile, dissimile, contrarium) […] u.a.m.192

Demgegenüber beinhaltet der materiale Topos anerkannte Meinungen und Urteile, fertige Formulierungen, Zitate, Sprichwörter und Sentenzen, Analogien, Vergleiche und Gleichnisse.193 Es zeigt sich so zugleich der kategoriale Unterschied beider Traditionen und ihre Zusammengehörigkeit im Rahmen der rhetorischen Überzeugung, die sowohl nach regelhafter Ordnung als auch nach einer Anschaulichkeit der Analogien und Rückversicherung in Form zitierter Autoritäten verlangt. Die Neuzeit schließlich war einerseits geprägt von der weiteren semantischen Ausweitung der Topoi und andererseits von der vermehrten Kritik an der Regelhaftigkeit des Topos, die beispielsweise der Schöpferästhetik der Renaissance zuwiderläuft. Weitere Kritik erfährt die Topik von den Philosophen des Rationalismus, Kritizismus und Idealismus, die sich an der Erlernbarkeit topischen Denkens sowie an dessen Ausrichtung an Meinungen statt an Wahrheiten stören.194 Das 20. Jahrhundert schließlich überwindet diese Kritik und deutet die Topik weit positiver als universelle Grundform des menschlichen Erinnerns, Zweifelns und Schlussfolgerns, kurz als Modell der Weltaneignung.195 Zu den grundlegenden Beiträgen dieser modernen Auffassung des Topos gehört die Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius,196 deren in ihrer Universalität begründeter Meilensteincharakter auch durch die umfassende Kritik an Curtius’ Toposbegriff nicht angetastet werden konnte,197

|| 192 Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ‚Policraticus‘ Johanns von Salisbury. Hildesheim 1996 (Ordo. 2), S. 423f. 193 Ohne den folgenden Betrachtungen zum Topos und vor allem denen zur Metapher zu sehr vorgreifen zu wollen, scheint aufgrund des Einbezugs der Analogie auch die Zurechnung der Metapher zum Topos möglich. In diesem Falle wird es sich nicht um kühne Metaphern handeln, da Sinn und Funktionsweise der Topoi auf Bekanntheit fußen und mit dem wiederholten Gebrauch der Metapher ihre Innovationskraft schwindet, aber dennoch ist eine topische Verwendung denkbar. 194 Vgl. Stefan Goldmann: Art. Topik, Topos. III. Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1279–1288, hier Sp. 1281. 195 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 682–687. 196 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Auflage. Bern 1969. 197 Dies hat Hans Blumenberg dazu veranlasst, Curtius’ Werk als Pionierleistung zu bezeichnen. Vgl. Eckard Rolf: Metaphertheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie. Berlin 2005, S. 244. Auch Helmut Beumann äußert sich wohlwollend angesichts des europäischen Anspruchs, den Curtius vertritt. Vgl. Helmut Beumann: Topos und Gedankengefüge bei Einhard. In: Toposforschung, hrsg. von Jehn, S. 191–208, hier S. 191f. Geteilter Meinung war Hugo Kuhn, der zwar einerseits Curtius’

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obwohl gerade diese Universalität die Ursache so manchen Kritikpunkts ist, wie das Urteil Walter Haugs einer „verwaschene Vorstellung des Topischen“198 bei Curtius verdeutlicht.199 Diese Einschätzung nimmt jedoch nicht genügend zur Kenntnis, dass selbst antike Quellen wie Aristoteles den Topos nicht definieren,200 sondern ganz im Sinne einer merkmalszentrierten Bestimmung lediglich mit Charakteristika versehen. Nachdem Haug für mehr wissenschaftliche Trennschärfe plädiert, wirkt zudem die weitere Kritik durch von Moos an der zu technischen Ausrichtung der Topik bei Curtius, die der „poetische[n] Individualität“201 des Phänomens nicht gerecht werde, einigermaßen widersprüchlich.202 Doch dies mag auch an den formalen und materialen Hälften des Topos liegen, deren Zusammenfügung einer nachantiken Perspektive schwerzufallen scheint. Versucht man den konkreten Umriss des Topischen, den Haug anmahnt, aus den Ausführungen bei Curtius herauszuziehen, dann ergibt sich der Topos als „Vorratsmagazin“ für Gedanken „allgemeinster Art“,203 die als unhintergehbare Wahrheiten primär Zustimmung erzeugen sollen. Die Unhintergehbarkeit des Topos als Urteils- und Schlussverfahren wurzelt dabei Curtius zufolge im „kollektiven

|| Auffassung des Topos lobt, aber dessen Bewusstheit und geleugnete Komposition fraglich findet. Vgl. Hugo Kuhn: Zum neuen Bild vom Mittelalter. In: DVjs 24 (1950), S. 530–544, hier S. 532. 198 Walter Haug: Kritik der topischen Vernunft. Zugleich keine Leseanleitung zu ‚Geschichte als Topik‘ von Peter von Moos. In: PBB 114 (1992), S. 47–56, hier S. 48. 199 Aus der durch Haug kritisierten Unschärfe des Toposbegriffs resultieren auch einige Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zum Motiv, das Curtius wie weite Teile der sich anschließenden Forschung mitunter synonym verwendet (vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 105f.), und für die trotz einiger Klärungsversuche noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden werden konnte. Karin Lichtblau etwa versucht, Topos und Motiv über die Dichotomie von metaphorisch und wörtlich voneinander abzugrenzen. Vgl. Karin Lichtblau: Introduction. In: Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400. Bd. 1: Matière de Bretagne. Albrecht, Jüngerer Titurel, Lancelot 2. Hrsg. von dies., Christa Tuczay. Berlin 2005, S. XI–XXIV, hier S. XX. Beide Begriffe werden gleichbedeutend eingesetzt, um die gezielte Verwendung eines vorgeprägten Gedankens (vgl. Müller, Ir sult sprechen willekomen, S. 9) oder einer Darstellung zu beschreiben, die dann ihrerseits bildhaft auf einen weiterführenden Inhalt verweist, so etwa die Verwendung von Alterstopos und Altersmotiv bei Tervooren und Elm. Vgl. Helmut Tervooren: Die ‚Aufführung‘ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 17), S. 48–66, hier S. 50. Vgl. weiter Alterstopoi, hrsg. von Elm [u. a.]. Topoi als Weiterentwicklungen rhetorischer Klischees liest Elisabeth Frenzel. Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoff- und Motivgeschichte. Berlin 1974 (Grundlagen der Germanistik. 3), S. 17f. 200 Vgl. Tim Wagner: Art. Topik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 9 (2009), Sp. 605–626, hier Sp. 612. 201 Von Moos, Geschichte als Topik, S. XLIV. 202 Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Untersuchung aus heutiger Sicht weniger durch einen umfassenden Theorieanteil als durch ihre essayistische Ausbreitung unterschiedlichster Topoi sowie deren Verwendung über Epochen und Themengrenzen hinweg besticht. 203 Beide Zitate bei Curtius, Europäische Literatur, S. 89.

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Unterbewußten“204, weshalb er als überzeitlich traditionsbildender und interkulturell wirksamer Mechanismus der Literatur der Weltaneignung und -orientierung dienen kann.205 Nur bezogen auf die umfassenden antiken Wurzeln der Topik mögen die Abwandlungen, die Curtius vornimmt, als unsachgemäße Reduktion erscheinen, wie Peter Jehn kritisiert: Curtius’ Topik bildet demnach lediglich noch einen „Proteus, dessen Identität nicht Wahrheit ist, sondern das falsche Ergebnis ahistorischer Gleichsetzungen“206. Dabei scheint Jehn zu übersehen, dass Curtius zum einen seinen Untersuchungsgegenstand zwar als Topos bezeichnet, diesen aber bewusst und ausdrücklich vom antik-rhetorischen Begriff wegführt. Und zum anderen war auch der antik-rhetorische Toposbegriff, den Jehn zu stärken wünscht, gerade nicht auf Wahrheit, sondern auf Meinungen und Wahrscheinlichkeit gegründet. Als Schlussfolgerung aus der Diskussion lässt sich ableiten, dass der Topos offenbar ein unscharfer Begriff207 sein muss, dessen Offenheit und Dynamik gerade als Garant für seine Produktivität wirken. Die folglich prototypische Auffassung des Topos im Rahmen der vorliegenden Studie möchte sich daher im Rückgriff auf ein doppelt zentriertes Begriffsfeld am antiken Erbe des Begriffs ebenso wie an seiner modernen Umformulierung orientieren, die auf dem Fundament des ersteren errichtet wird. Es steht allerdings auch außer Frage, dass die literarisch fundierte Form des Topos im Weiteren stärker von Interesse sein wird als die rhetorische. Deutlich näher am prototypisch rhetorischen Zentrum einer solchen Verortung operiert Peter von Moos, indem er den konkreten Nutzen des Topos in den Vordergrund stellt, für folgende Rede- und Argumentationszusammenhänge die nötige Zustimmung als gemeinsame Grundlage einer Kommunikation herbeizuführen.208 Dabei ist es jedoch nicht nur sein Toposbegriff eines zielgerichteten Prozesses, in dem gesellschaftliche Probleme durch Meinungswissen bearbeitet und

|| 204 Ebd., S. 112. 205 Vgl. Wagner, Art. Topik, Sp. 622. 206 Peter Jehn: Ernst Robert Curtius. Toposforschung als Restauration (statt eines Vorworts). In: Toposforschung, hrsg. von ders., S. VII–LXIV, hier S. X. Eine Ursache hierfür findet Jehn rasch in der durch Nationalismus und Traditionsrehabilitierung geprägten Entstehungsumgebung des Werkes, die folglich die Kontinuität der Muster und Denkformen derart zum Fetisch erhebt, dass deren tatsächliches Vorhandensein fraglich wird. Vgl. ebd., S. XXXI– LV. 207 Wolfgang G. Stock beschreibt demgegenüber scharfe Begriffe als kleinste semantische Einheiten in Wissensordnungen oder auch als Wissenseinheiten, die durch ihre Intention (Begriffsinhalt bzw. Sinn), Extension (Begriffsumfang bzw. Bedeutung) sowie Definition bestimmt und durch semantische Relationen untereinander verknüpft werden. Ohne sie ist Sinnschöpfung bzw. Wissenszuwachs demnach nicht möglich. Vgl. Stock, Begriffe und semantische Relationen, S. 403–406 sowie den Abschnitt 1.1.1. 208 Vgl. von Moos, Geschichte als Topik, S. 300.

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schließlich bewältigt werden,209 der nachhaltige Begeisterung für von Moos’ Studie auslöst, sondern ebenfalls deren topische Herangehensweise.210 Haugs weitere Einschätzung, die Produktivität des Topos beschränke sich in ihrer Wirkung auf ein bereits abgeschlossenes Wissenssystem, das demnach lediglich umstrukturiert und neu perspektiviert wird,211 spricht ihm zwar die Erzeugung neuen Wissens ab. Aber es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die derart gestifteten Querverbindungen ein Erkenntnispotential bergen, das sich auf die (zumindest behauptete) Ähnlichkeit von Tradition und Aktualisierung bezieht. Eine solche Interpretation topischer Bezüge, wie sie sich beispielsweise auf die Verwendung des Alters- oder Botentopos bei Linden und Egidi anwenden lässt, ähnelt der Funktionsweise der Diagrammatik nach Matthias Bauer und Christoph Ernst.212 Denn wo letztere „aus der ästhetischen Form einer Zeichenkonfiguration logische Schlussfolgerungen mit praktischer Relevanz“213 zieht, dort entfaltet auch der Topos seine spezifische Wirkung in der Anordnung und Relationierung von Wissensbeständen: per Urteil und Schlussfolgerung. Es liegt also nahe, von einem zumindest anteilig graphischen Wirken des Topos auszugehen, das in dessen räumlich festschreibendem Erbe mnemotechnischer Funktionalität wurzelt. Der spielerisch-ästhetische Aspekt des Topos jedoch, den Haug betont,214 erinnert an die Metapher, die sich

|| 209 Vgl. hier und im Folgenden Haug, Kritik der topischen Vernunft, S. 47–56. 210 Haug unterstützt die Bearbeitung von Moos’ selbst dann, wenn er feststellt, dass die gezogenen Grenzen unzulässig sind. In Wahrheit sind diese Haug zufolge fließend und die Topik ist daher auch nicht derart isolierbar, wie durch von Moos umgesetzt. Dieser im Grunde also unrechtmäßige Schritt sei jedoch unvermeidlich, um eine abgeschlossene Abhandlung zu gewährleisten. Vgl. ebd., S. 55. Der affirmativen Haltung Haugs steht indes entgegen, dass der Mehrwert jener literarisch reizvollen, labyrinthischen Methode nur geschöpft werden kann, falls bereits intensives Vorwissen über den Topos vorhanden ist, in dem sich mit von Moos sodann elegant neue Querverweise aufzeigen lassen. Denn der Autor bemüht sich nicht um einen Umriss seines Gegenstands, sondern führt vielmehr dessen Mechanismen vor – angewendet auf sich selbst. 211 Vgl. ebd., S. 50. 212 Zur diagrammatischen Basis des Topos vgl. Hartmut Bleumer: Diagramm und Dimension. Zum Raumproblem heldenepischer Narrationen am Beispiel der Kudrun. In: LiLi 176 (2014), S. 93–126, hier S. 112–116. Ähnlich fasst Sandra Linden den Topos, ohne jedoch den Begriff der Diagrammatik zu gebrauchen, wenn sie den Topos der liebeslustigen Alten als rhetorischen Aufrufeschematismus und produktive Denkform bezeichnet, mit dessen kurzer Formel ein komplexes Gedankenbild anzitiert wird, das als Spielmaterial neuer Arrangements stets zum Weiterdenken anregt. Vgl. Linden, Die liebeslustige Alte, S. 142 sowie den Abschnitt 1.2.3. Zur diagrammatischen Basis der Metapher vgl. Gert Hübner: Topische inventio und Diagrammatik in der Vormoderne. In: LiLi 176 (2014), S. 171–186, hier S. 181, wo der Autor sich dafür ausspricht, dass wahrnehmungsnahe Begriffe direkt in der mentalen Figur des Diagramms eingearbeitet sind und – wenig zuvor (S. 174) – die Metapher einen Mechanismus der Nähe darstellt. 213 Bauer, Ernst, Diagrammatik, S. 49. Das Konzept der Diagrammatik wird im Abschnitt 1.3.4 noch ausführlicher betrachtet werden. 214 Vgl. Haug, Kritik der topischen Vernunft, S. 50.

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gegenüber dem Topos durch ihre neues Wissen produzierende Wirkung auszeichnet, wie das folgende Kapitel noch näher ausführen wird. Hinzu kommt, dass Topoi nach der Einschätzung von Moos’ die Vorstufe zu Geschichten bilden, die ihrerseits wiederum die Vorstufe einer Geschichte im historischen Sinne darstellen.215 Daraus lässt sich die These ableiten, dass im lyrischen Rückgriff auf Topoi – möglicherweise bedingt durch die angesprochenen Ähnlichkeiten zu Metapher und Diagramm – protonarrative Phänomene vorliegen. Möchte man darüber hinaus einen Eindruck davon erhalten, inwiefern sich die funktionalen Spezifika des Topos gegenüber jenen anderen Theorieelementen gestalten und zudem die unterschiedlichen Zugriffe der angesprochenen Studien besser verorten, dann bietet Lothar Bornscheuers einschlägige Topik eine vielversprechende methodische Orientierungshilfe. Sie benennt mit der Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität ein Quartett von Eigenschaften, das zum einen auf die gesellschaftsinterne Verfügbarkeit topischer Bewusstseins-, Sprach- oder Verhaltensformen deutet,216 zum anderen auf deren Wirkvermögen in maximal vielen Anwendungsrichtungen,217 drittens auf eine notwendige Absicht, ein tieferes Verständnis der diskutierten Sachverhalte herbeizuführen218 und viertens auf eine „ans Magische grenzende Faszinationskraft“219, die den Topos sich so hartnäckig einer letztgültigen Festlegung220 entziehen lässt. Angelegt an die Studien durch Curtius und von Moos offenbart Bornscheuers Theoriegebäude in der Toposforschung einen Paradigmenwechsel zwischen der auf

|| 215 Vgl. von Moos, Geschichte als Topik, S. X sowie Haug, Kritik der topischen Vernunft, S. 51. Der Titel des Buchs sorgte bei Haug für Irritation, da von Moos ‚Geschichte‘ eben nicht als Ganzes betrachtet, sondern in eine Reihe von einzelnen Geschichten im Sinne von Toposlinien aufspaltet. Daher schlägt Haug ‚Kritik der topischen Vernunft‘ als für ihn stimmigeren Alternativtitel vor. Mit dem gefühlten Widerspruch ausgesöhnt wird er indes erst durch die Einsicht, dass der topisch Denkende in der Vorstellung von Moos’ Geschichte quasi als „Sprache zweiten Grades“ wahrnehme. Vgl. ebd., S. 51–54, Zitat S. 54. 216 Vgl. ebd., S. 96. 217 Diese Struktur einer Freiheit vom vorbestimmten Bezug als die zur jeweils benötigten Ausrichtung ähnelt dem, was Max Lüthi für die Protagonisten europäischer Volksmärchen feststellt und als Allverbundenheit bezeichnet. Er erkennt, dass aus der flächenhaften Darstellung der Handlung zwingend eine Isolierung der Figuren resultiert, die keine feste Beziehung zu irgendeiner Art von Gemeinschaft pflegen. Doch diese Bindungsfreiheit bedeutet dabei nicht nur Freiheit von, sondern gleichzeitig auch für Bindungen, denn isolierte Figuren können jederzeit jede beliebige lockere Verbindung eingehen. Die Beziehungsfähigkeit ist also latent. Vgl. Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. Tübingen 2005 (UTB. 312), S. 37–62. 218 Vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt am Main 1976, S. 102. 219 Ebd., S. 103. 220 Dieses schwer zu fassende Surplus an Bedeutung, das Bornscheuer in der Toposeigenschaft der Faszinationskraft bzw. Symbolizität einzufangen versucht, erinnert stark an die Art und Weise, über die die Metapher Semantik anhäuft, vgl. Abschnitt 1.3.2. Es wäre also zu vermuten, dass beide zumindest anteilig ähnliche Strukturen aufweisen.

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Habitualität und Symbolizität konzentrierten Methode des ersteren, der die großen Entwicklungslinien einzelner Topoi verfolgt, und der des letzteren, dessen Ansatz auf die Potentialität und Intentionalität des Topos fokussiert. In der germanistischen Mediävistik liegen kaum spezifische terminologische Ausarbeitungen oder die dezidierte Bevorzugung einer der dargestellten Theorien vor221 und dennoch ist der Topos ein häufig genutztes Beschreibungsinstrument, um die Verwendung, Beziehung und Veränderung literarischer Versatzstücke zu untersuchen. Dabei umfasst die Anwendungsvielfalt einerseits Bearbeitungen, die sich gezielt damit auseinandersetzen, wie sich die Wirkweise und Verwendungsbegründung des Topos in einem abstrakten Sinne beschreiben lässt. Beispielsweise weist Wolfgang Mohr auf den bewältigenden qua verortenden Effekt eines Toposbezugs für den komplexen Anwendungsfall hin: Wenn man etwas als literarischen Topos erkennt, so bedeutet das nicht, daß alles, was da erzählt oder berichtet wird, unwahr sei. Es betrifft nur die Art und Weise, wie die Wirklichkeit erlebt und das Erlebte ausgesprochen wird, nämlich in Analogie an vorgeprägte Vorstellungs- und Stilmodelle, welche bestimmen, was von der Wirklichkeit sich dem Bewußtsein einprägt und auf welche Weise davon zu berichten ist. Topoi rücken das einmalig und zufällig Wirkliche in übergeordnete, objektive Zusammenhänge, so daß man es nicht mehr als etwas Einmaliges, sondern als Zeichen für etwas Allgemeines und Typisches nimmt.222

Weit häufiger bezeichnet der Topos jedoch ein Bild oder einen Wert wie den leichten Tod, die einsame Frau, Traum und Schlaflosigkeit223 oder dergleichen224 mehr, die

|| 221 Aktuell scheint sich genau dies zu ändern. Vgl. zu dem Desiderat die weiterführende Studie von Michael Schwarzbach-Dobson: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation. Berlin 2018 (LTG. 13). 222 Wolfgang Mohr: Tanhusers Kreuzlied. In: DVjs 34 (1960), S. 338–355, hier S. 347f. 223 Vgl. Waltraud Fritsch-Rössler: ‚Moriz von Craun‘. Minnesang beim Wort genommen. In: Uf der mâze pfad. Festschrift für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von dies. Göppingen 1991 (GAG. 555), S. 227–254, hier S. 235, 238f., 243 u. 253. 224 Volker Mertens fügt die Diskretionsformel und Kinderminne hinzu sowie den Streit von Augen und Herzen, während Ricarda Bauschke in Vögeln, Blumen und im Blumenbrechen literarische Topoi sieht, die Raum und Zeit konstituieren, etwa den locus amoenus oder die Jahreszeiten. Jürgen Kühnel benennt das gestohlene Herz als Topos, Thomas Kühltreiber die Höhenbetonung der Burg, Klaus Ostheeren Liebe, Freundschaft und Vergänglichkeit, Beate Kellner das Wohnen im Herzen des Liebenden, Sandra Linden die liebeslustige Alte, graue Haare sowie allgemein Naturphänomene, Caroline Emmelius die Gedankenminne und Armin Schulz schließlich das Dämonische in der Minne, den Herzens- und Identitätentausch, Minne als Erbe sowie Natureingänge. Vgl. dazu im Einzelnen Volker Mertens: Der Sänger und das Buch. Minnesang zwischen Performanz und Schriftlichkeit. In: Paragrana 7 (1998), S. 113–134, hier S. 124 u. 128. Mertens, ‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik, S. 335. Ricarda Bauschke: Burgen und ihr metaphorischer Spielraum in der höfischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von dies. Frankfurt am Main 2006 (Kultur – Wissenschaft – Literatur. 10), S. 11–40, hier S. 13, 28 u. 31. Jürgen Kühnel: Heinrich von Morungen, die höfische Liebe und das ‚Unbehagen in der Kultur‘. In:

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angesichts ihrer häufig visuellen Zentrierung auch als „Sehgewohnheiten“225 beschrieben werden. Möchte man also nach den vorgebrachten Forschungsansätzen den Versuch einer Definition des Topos wagen, dann könnte in etwa das Folgende dabei herauskommen: Es handelt sich um eine zwar traditionsartig verfestigte, aber dennoch dynamisch aktive, transgenerisch wirksame226 und häufig bildhafte Wendung, durch die erstens Wissen auf eine Art und Weise in eine leicht denk- und erinnerbare Form gebracht wird, die Überschneidungen sowohl mit der Metapher als auch mit dem Diagramm aufweist, und die zweitens dazu dient, mithilfe des Rückverweises auf ähnliche Fälle eine Komplexitätsreduzierung des Problems und Handlungsermächtigung des Rezipienten zu ermöglichen, die wiederum auf der Annahme fußt, dass in ähnlichen Fällen die gleiche Reaktion sinnvoll ist.227 In Bezug auf die eingangs gestellte Frage nach der Eignung des Topos für narrative Relationierungen bedeutet dies ein zwiespältiges Urteil. Einerseits hat der vorwiegend rhetorisch verfasste Begriffsanteil ein wesentlich größeres Interesse an Systematisierung und (An-)Ordnung argumentativ einzusetzender Inhalte als an der Etablierung von Erzähllinien. Andererseits dient der Topos in seiner Handlungsermächtigung aber einem ähnlichen Zweck wie die Geschichte, als deren Vorstufe von Moos ihn fasste, und setzt mit Tradition und Aktualisierung ebenso zwei Positionen in Beziehung zueinander, wie Schmid dies in seiner Minimaldefinition zum Grundmechanismus des Narrativen erhob. In diesem Sinne lassen sich auch über die Begriffe script und frame bei Hühn hinaus – mit denen im Grunde ohnehin etwas Ähnliches beschrieben || Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter. Hrsg. von Ulrich Müller. Göppingen 1986 (GAG. 440), S. 253–282, hier S. 270. Thomas Kühltreiber: Die Ikonologie der Burgenarchitektur. In: Die imaginäre Burg. Tagung „Die imaginäre Burg“ in Salzburg 15.–16.09.2007. Hrsg. von Olaf Wagener. Frankfurt am Main 2009 (Mediävistik Beihefte. 11), S. 53–92, hier S. 67. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 691. Beate Kellner: Ich grüeze mit gesange. Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann. Heidelberg 2004 (Euphorion Beihefte. 46), S. 107–137, hier S. 128. Linden, Die liebeslustige Alte, S. 142. Emmelius, Zeit der Klage, S. 226. Armin Schulz: Minnedämmerung? Zur Funktion von Minnesang-Zitaten in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 309–326, hier S. 310. 225 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Anja Hallacker: Topik. Tradition und Erneuerung. In: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissenschaftsüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Thomas Frank [u. a.]. Göttingen 2007 (Nova mediaevalia. 1), S. 15–28, hier S. 17. 226 Vgl. die gattungsübergreifende Untersuchung bei Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung. In: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Colloquium Erlangen-Nürnberg 26.– 27.3.2009. Hrsg. von Sonja Glauch [u. a.]. Berlin 2011, S. 61–84. 227 Natürlich bezieht sich dies nur auf materiale Topoi. Der formalen Klasse wohnt zu wenig Bildqualität inne, um diagrammatisch zu wirken.

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wurde – Korrespondenzen topischer Inhalte in den Liedern des Minnesangs als discours-narrative Ansätze lesen. Die einzelnen Aktualisierungen des Topos entwerfen so über ihre Traditionsbildung eine Geschichte etwa des Boten, des Falken etc., deren Etablierung wiederum massiv auf die Mitarbeit des Rezipienten angewiesen ist, der erkennen muss, an welcher Topostradition Autor und Lied partizipieren. Dies jedoch ist vor dem Hintergrund der Verschiebung lyrisch-narrativer Prozesse in den Rezipienten bei Müller, Haubrichs, Reuvekamp-Felber, Bleumer und Emmelius weder überraschend noch verdächtig.

1.3.2 Die Metapher: lyrisch, epistemologisch, narrativ? Ebenfalls auf den Rezipienten als ihr Wirkungsfeld baut die Metapher, deren besondere Verortung in lyrischen Kontexten bereits mehrfach anklang und deren Rolle in einigen Überlegungen auf der Suche nach einer narratologischen Interpretation von Lyrik auch schon referiert wurde. Es wird im Folgenden zu fragen sein, wo sich dieser Ansatz in der umfangreichen Theorie228 jener traditionsreichen Trope gründen lässt, welchen Begriff sich die altgermanistische Forschung bisher von der Metapher gemacht hat und wie sich das Verhältnis zwischen einer metaphorischen Narration und der beschriebenen topischen sowie weiteren Formen narrativer Ansätze gestaltet. Als Basisdefinition der Metapher, so viel kann eingangs vermerkt werden, lässt sich eine uneigentliche Äußerung und als Basismechanismus die in der griechischen Wurzel μεταφορά (‚hinübertragen‘) verborgene Übertragungsbewegung ansehen. Doch über diesen Minimalkonsens hinaus herrscht zu jeder Zeit der Begriffsgeschichte Uneinigkeit über Wirkungsweise und vor allem Wirkungsumfang der Metapher. Schon in der Antike stehen sich mit der Interpretation von Aristoteles und Cicero die Auffassungen zweier Rhetoriker gegenüber, die gänzlich unterschiedliche Perspektiven auf die Metapher vertreten. Während Cicero feststellt, dass in der Metapher im Grunde nur eine Form des Vergleichs vorliegt, die auch nichts über einen Vergleich229 hinaus bewirken kann,

|| 228 Zu diesem Zwecke vgl. Rolf, Metaphertheorien. Für eine Einführung mit deutlich linguistischerem Hintergrund als er im Rahmen der vorliegenden Arbeit abgestrebt wird, vgl. Helge Skirl, Monika Schwarz-Friesel: Metapher. Heidelberg 2007 (Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik. 4). 229 Auf das Verhältnis von Metapher und Vergleich wird noch gesondert zurückzukommen sein. Eine ähnlich enge Beziehung scheint darüber hinaus die Metapher zum einen mit der Analogie und zum anderen mit der Metonymie zu verbinden. Hans Georg Coenen bemerkt in Bezug auf erstere, dass sie als Wurzel der Metapher dient, wobei eine einzige Analogie theoretisch unbegrenzt viele Metaphern hervorbringen kann. Dies geschieht über das symmetrische Verhältnis eines gemeinsamen Beschreibungsinhalts zwischen zwei sprachlichen Gegenständen, das die Analogie herstellt. Bedingung für die Herausbildung einer Metapher ist dabei die Nicht-Trivialität der zugrunde liegenden Analogie,

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betrachtet Aristoteles die Metapher als schöpferisch-praktische Erkenntnisfunktion, die in ihrer Poetik das Gegengewicht zur technischen Rhetorik230 – zum technischen Vergleich, möchte man ergänzen – bildet.231 In der Nähe von Ciceros Metaphernverständnis befindet sich das Quintilians, der ersteren zugleich in seiner Zuspitzung überbietet, weil er in der Metapher lediglich die Substitution eines Wortes durch ein anderes erblickt, aber auch mildert, denn in dieser Sichtweise ist zumindest die metapherntheoretisch wichtige Einheit metaphorisch verknüpfter Teilbereiche betont. Da für die vorliegende Studie eine Perspektive wenig relevant ist, die im Vergleich zur Definition bei Aristoteles immer noch zu wenig poetiknah fokussiert, sei dazu nur vermerkt, dass diese metaphernkritische Tradition, die die poetische Kraft der Trope entweder nicht zur Kenntnis nimmt oder ihr doch zumindest misstraut, etwa durch Petra Gehring bis heute fortbesteht.232

|| wie etwa die zwischen Affen und Clowns, Spaßmacher zu sein. Trivialität ist demnach deshalb nicht gegeben, weil die Gemeinsamkeit sich auf ein niederrangiges Charakteristikum bezieht – gegenüber der Differenz auf der höherrangigen Ebene der Gattung. Vgl. Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin 2002, S. 31, 97, 101, 108 u. 114f. In Bezug auf die Metonymie ist demgegenüber zu bemerken, dass diese im Gegensatz zur Metapher auf eine räumliche, zeitliche oder kausale Verbindung der beiden Begriffe deutet, die sie füreinander einsetzt. Vgl. Bleumer, Historische Narratologie, S. 248–250. Gert Ueding: Klassische Rhetorik. München 1996 (BsR. 2000), S. 68f. Dabei muss die Entscheidung, ob nun eine Metapher oder eine Metonymie vorliegt, von Fall zu Fall keine leichte sein. Möchte man einmal bei Achill als Beispiel bleiben, ließe sich metonymisch sagen ‚Achill tötet Hektor mit seinem Stahl‘ (Rohstoff-Erzeugnis-Beziehung). Metaphorisch wäre es zu sagen, Achill hätte Hektor mit seinem Bogen oder seinem Gesang getötet, womit auf eine ähnlich blutige Künstleridentität hingewiesen wäre, wie sie der Tod und Verderben fiedelnde Volker im Nibelungenlied beansprucht. ‚Achilles tötet Hektor mit seiner Klinge‘ entspricht als Ersetzung des Schwertes mit einem Wort aus demselben Begriffsfeld (pars pro toto) der Synekdoche und ‚Achilles tötet Hektor mit seiner Gnade‘ drückt ironisch das Gegenteil des Gemeinten aus. An den genannten Beispielen für Metonymie und Metapher lässt sich bereits erkennen, warum diese wiederholt der epischen bzw. lyrischen Gattung zugeordnet wurden. Vgl. dazu im Einzelnen Bleumer, Der Tod des Heros, S. 139. Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache, S. 329. Genette, Die restringierte Rhetorik, S. 234. Denn während die Metonymie über eine Eloquenz- oder Schmuckfunktion für die vordergründige histoire-Darstellung nicht hinausgeht, verweist die Metapher lyrisch-schöpferisch auf weitere Deutungsinhalte. 230 Vgl. Jost, Topos und Metapher, S. 269–271. 231 Vgl. Rolf, Metaphertheorien, S. 21–34, 77–85 u. 93–126. Gegen diese wendet sich etwa auch Wolfgang Künne: ‚Im übertragenen Sinne‘. Zur Theorie der Metapher. In: Conceptus 17 (1983), S. 181– 200, hier S. 182. 232 Vgl. im Einzelnen Petra Gehring: Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher und das Visuelle. In: Begriffe, Metaphern und Imagination in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Lutz Danneberg [u. a.]. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen. 120), S. 81–100. Dies.: Die Metapher zwischen den Disziplinen. Methodenpluralismus in der Metaphernforschung. In: Zugänge zu Metaphern – Übergänge durch Metaphern. Kontrastierung aktueller disziplinärer Perspektiven. Hrsg. von Marie Lessing, Dorothee Wieser. München 2013, S. 13–28.

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Und auch der Ansatz, in der Metapher mehr am Werk zu sehen als rhetorisch-technische Ersetzungen, wirkt bis in die Moderne, wodurch eine ähnlich beständige Zweiteilung der theoretischen Zugänge beschrieben ist wie zuvor am Beispiel des formalen gegenüber dem materialen Inhalt des Toposbegriffs. Die einflussreichsten Vertreter einer poetisch-machtvollen Deutung der Metapher innerhalb moderner Zeitrahmen dürften dabei Hans Blumenberg und Paul Ricœur sein, deren Ansichten Eckard Rolf abstrahierend als Epistemologietheorie und Paradoxietheorie beschreibt.233 Paradoxien sind nach Ricœurs Auffassung für die Wirkweise der Metapher deshalb ein so grundlegender Theoriebestandteil, weil er davon ausgeht, dass das unmögliche und dennoch gegebene parallele Zutreffen aller möglichen Deutungsvarianten234 der Metapher gerade deren besondere Faszinationskraft ausmacht. Die einschlägige, bereits von Aristoteles angeführte Metapher ‚Achill ist ein Löwe‘ beschreibt demnach zugleich den Mut, Kampfgeist und Stolz Achills, seine majestätische Anmut und männlich-kämpferische Schönheit; die metaphorisch behauptete Identität von Mensch und Tier und die dennoch vorhandene Zweiheit beider Instanzen, die zur Identitätsbehauptung eingangs nötig ist.235 Das Verständnis der Metapher ist dazu ein imaginatives, das zugleich zu sehen und zu denken vermag.236 Auf diesem Wege und aus der Kombination der Deutungsvielfalt mit dem imaginativen Anstoß der Metapher lässt sich Ricœurs Vorstellung der Trope als die eines literarischen Werks en miniature237 bereits zur Hälfte erklären. Deren zweiter Teil gründet in der irritierenden, kreativen und poetischen Funktionsweise der Metapher, die der Autor folgendermaßen fasst: Erst in der Erzeugung eines neuen Satzes, in einem Akt unerhörter Prädizierung entsteht eine lebendige Metapher wie ein Funke, der beim Zusammenstoß zweier bisher voneinander entfernter semantischer Felder aufblitzt.238

|| 233 Vgl. Rolf, Metaphertheorien, S. 195–204 u. 243–258. 234 Vgl. Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, S. 358–373. 235 Wäre dies nicht in gewisser Weise ein Widerspruch in sich, dann könnte man in das allumfassende Zutreffen der metaphorischen Deutungsmöglichkeiten bei Ricœur sogar die metaphernkritischen Interpretationen der Vergleichs- oder Substitutionstheorien integrieren. Denn ein Vergleich bzw. eine Ersetzung ist die Metapher auf diese Art und Weise auch, aber darüber hinaus eben noch einiges mehr. 236 Vgl. etwa Paul Ricœur: The Metaphorical Process as Cognition, Imagination, and Feeling. In: On Metaphor. Tagung Metaphor. The conceptual Leap. Februar 1978. Hrsg. von Sheldon Sacks. Chicago 1979, S. 141–157, hier S. 141 u. 145. 237 Rolf ordnet Ricœur daher der Paradoxietheorie der Metapher zu. Vgl. Rolf, Metaphertheorien, S. 195–205. 238 Ricœur, Die lebendige Metapher, S. VI.

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Wo Schmids Minimaldefinition der Geschichte also die Verbindung zweier Zustände einer Entwicklung, Figur oder eines anderweitig zu fassenden gemeinsamen Bezugspunkts vermittelnd beleuchtet, dort lässt die Metapher diese beiden in ihrer unerhörten Identitätsbehauptung direkt auf einander prallen. Dabei bleiben beide Identitätsteile jedoch, wie beschrieben, zugleich erhalten, sodass die sie vereinende Metapher gleichfalls im Sinne der bekannten Minimaldefinition lesbar ist. Dem tut selbst der Gedanke keinen Abbruch, dass bei der Metapher nicht immer klar sein muss, wer etwas auf wen überträgt, wer also Bildspender und wer Bildempfänger ist,239 wie dies im Zuge der Interaktionstheorie240 etwa von Max Black vorgebracht wird. Denn die derart entstehende Zyklizität der Metapher, die mit dem paradoxen Zutreffen aller Deutungsmöglichkeiten bei Ricœur wiederum eine lineare Lesbarkeit mit Schmid nicht ausschließt, fügt sich passend zur discours-Seite der narratologischen Lyrikauffassung bei Bleumer sowie ihrer ritualisierten Aufführung. Wenn man also am Beispiel des Löwen Achill noch erkennen kann, dass ein Sinnpotential vom Löwen auf Achill übergeht, so ist dies gerade bei verkürzten Ausdrücken wie ‚Bleiwüste‘ nicht so leicht zu deuten und bei sogenannten lebendigen Metaphern wie Paul Celans241 ‚Schwarzer Milch der Frühe‘ praktisch unmöglich. An solchen Beispielen ist die Theorie Blacks einfach nachzuvollziehen, der postuliert, dass durch die Interaktion der beiden Metaphernteile nicht nur ein Inhalt vom Bildspender auf den Bildempfänger übergeht, sondern zugleich immer auch etwas vom Empfänger auf den Spender. In Bezug auf schwächere Metaphernklassen wie die konventionalisierte oder tote242

|| 239 Die Teilung der Metapher in ihre Bestandteile Bildspender und Bildempfänger ist im Anschluss an Harald Weinrich üblich geworden. Dabei handelt es sich beim Bildempfänger um die Hälfte, über die eine Aussage getätigt wird (Achilles, um das klassische Beispiel aus Abschnitt 1.3.2 nochmals aufzugreifen) und beim Bildspender um das Schema, anhand dessen dem Empfänger Eigenschaften zugewiesen werden (Löwe). Vgl. Weinrich, Semantik der kühnen Metapher. Aus der Interaktion beider Bestandteile entsteht die metaphorische Wirkung des Ausdrucks, wie Kurz ausführt: „Gerade weil die metaphorische Prädikation meist nicht ohne weiteres Sinn macht wie nichtmetaphorische Prädikationen, aktualisieren wir auf der Suche nach Sinn nicht nur die lexikalischen Bedeutungen des Ausdrucks, sondern auch einen diffusen, daher suggestiven Komplex von impliziten Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektiven Besetzungen. Metaphern setzen Gefühle frei, sie lassen daher den Bildempfänger unter der Perspektive des Bildspenders ‚erleben‘.“ Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, S. 22. 240 Vgl. dazu Rolf, Metaphertheorien, S. 35–48 sowie Max Black: Metaphor. In: Proceedings of the Aristotelian Society 55 (1954), S. 273–294. Ders.: Models and metaphors. Studies in language and philosophy. Ithaca 1962. 241 Vgl. Jost, Topos und Metapher, S. 303. Der Ausdruck stammt aus Celans Gedicht Todesfuge, das zwischen 1944 und 1945 entstand und erstmal in der Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen (Wien 1948) veröffentlicht wurde. Vgl. Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Teil 1: Text. Bd. 2/3: Der Sand aus den Urnen, Mohn und Gedächtnis. Hrsg. von Andreas Lohr [u. a.]. Frankfurt am Main 2003, S. 11–70, hier S. 65f. 242 Vgl. Jost, Topos und Metapher, S. 302–318. Die lexikalisierte, tote Metapher stellt die schwächste Form dar, die derart in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, dass ihr ursprünglich

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stellt es allerdings eine nicht geringe Herausforderung dar, etwa einen Teil des einzufangenden Wesens Achills durch die Kraft der Metapher auch auf den Löwen übertragen zu sehen, des Baums auf die Krone, der Hand auf den Schuh etc. Die besondere poetische Durchschlagskraft, die auch Jörg Jost der Metapher attestiert,243 wird in der bildhaften Formulierung Ricœurs ebenfalls deutlich. Dabei

|| assoziativer, bildlicher Charakter dem Vergessen anheimgefallen ist (‚Tischbein‘). Eine Reflexion über den metaphorischen Ursprung dieses Ausdrucks ist zwar noch möglich, stellt aber keine sich aufdrängende Überlegung mehr dar. Die konventionalisierte, schwache Metapher wanderte demgegenüber in die tägliche Sprache zwar bereits so weit ein, dass ihr eine ansatzartige Sprichwörtlichkeit zu eigen geworden ist. Die kurzschließende Kraft der Metapher hingegen bleibt bereits kurz unter der Oberfläche der Alltäglichkeit noch aktiv (Homo hominem lupus). Es ist bemerkenswert, dass die Metaphernforschung selbst gern auf Metaphern zurückgreift, um Metaphern und ihre Funktionsweise anschaulich zu machen; hier etwa die Vorstellung von der ‚toten‘ Metapher oder auch des ‚springenden Funkens des Sinns‘, den Ricœur anbrachte. Vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher. München 1986 (Übergänge. 12), S. VI. Sehr passend fügen sich dazu auch die Beiträge Alexander Friedrichs und Irene Piepers, die zur toten weiterführend noch die ‚untote‘ Metapher addieren, vgl. Alexander Friedrich: Spannungen, Brüche und Nähte im Gewebe der Sprache. Untote Metaphern als philosophisches und methodisches Problem. In: Zugänge zu Metaphern – Übergänge durch Metaphern, hrsg. von Lessing, Wieser, S. 29–42 sowie Irene Pieper: Überlegungen zu den individuellen Voraussetzungen der Wiederbelebung untoter Metaphern. Ebd., S. 43–48. Auch die ‚dunkle‘ Metapher gehört in diese Reihe. Sie bezieht sich auf eine Metaphernform, die für den Rezipienten aufgrund eines zu niedrigen Anteils von Bekanntem unverständlich bleibt, sei es wegen eines unterschiedlichen geistigen Horizonts von Autor und Rezipient oder aufgrund kultureller Unterschiede. Da sie somit ihre Aufgabe der Welterschließung und Problemlösung nicht erfüllen kann, ist diese Metaphernkategorie zu vermeiden, wie Vanessa Albus darlegt. Vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001 (Epistemata. Reihe Philosophie. 306), S. 236. Als Paradebeispiel für diese interpretatorische Finsternis bietet sich der Prolog des Parzival an, der von Joachim Bumke als „zu den schwierigsten und dunkelsten Textpartien der Dichtung“ gehörig beschrieben wird. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart 2004 (Sammlung Metzler. 36), S. 40. Auch wenn Bernd Schirok diese Interpretations- und Verständnisprobleme als größtenteils forschungsbedingt zurückweist (Bernd Schirok: Einführung in die Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation. In: Wolfram von Eschenbach. Parzival. 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht und mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin 2003, S. CI–CXXXVII, hier S. CIII), lässt sich doch nicht übersehen, dass der sehr dichte Prolog einige recht hochschwellige Metaphern und Vergleiche nutzt, um sein Anliegen deutlich zu machen: der zwîvel als des herzen nâchgebûr, der nach agelstern varwe gemusterte muot, das vliegende bîspel, das Haken schlägt alsam ein schellec hase (1, 1–19) sowie unübertroffen zin anderhalp ame glase / geleichet, und des blinden troum. / die gebent antlüzes roum, / doch mac mit stæte niht gesîn / dirre trüebe lîhte schîn: / er machet kurze fröude alwâr (1, 20–25). In dieser Unfähigkeit – oder dem Unwillen –, die Metapher außerhalb ihrer Wirksphäre und damit in einer anderen Sprache als ihrer eigenen zu beschreiben, kann ebenjene poetische Selbstreferentialität erblickt werden, von der Müller-Zettelmann in Bezug auf die Charakteristika des Lyrischen sprach, vgl. Abschnitt 1.2.1. Damit wäre die Metapher in einem Umfang ein immanent lyrisches Element, der über die Zuordnungen bei Jakobson und allen Nachfolgenden noch deutlich hinausginge, vgl. Abschnitt 2.2.3. 243 Vgl. hier und im Folgenden Jost, Topos und Metapher, S. 268–327.

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muss dem Wahrheitsgehalt, den Ricœur geltend macht, ein Vorbehalt in der Form beigegeben werden, dass die Metapher in ihrer Identitätsbehauptung – wie die Erzählung – eine Wahrheit gefunden zu haben suggeriert, deren Tragfähigkeit außerhalb einer poetischen Sphäre erst noch erprobt werden muss, wie sich wiederum am traditionsreichen Beispiel Achills veranschaulichen lässt: Der Wahrheitsanspruch der Metapher bezieht sich hier nicht auf eine reale, wortwörtliche Bewehrung des Kriegers mit Reißzähnen, Klauen und einer majestätischen Mähne, sondern er stellt eine Identität von Achill und Löwe auf einer tieferen, poetischen, fast mythisch zu nennenden Ebene fest. Der Mythos ist nun das Stichwort für Blumenbergs Epistemologietheorie.244 Denn dieser leitet sowohl die mit reiner Logik kaum fassbare Verbindungstiefe der Metapher als auch ihre Unauflösbarkeit in rationale Begriffe von ihren Ursprüngen im Mythos ab.245 Während dieser im Übrigen zum Logos übergegangen ist, stellt die Metapher seinen letzten Überrest dar,246 woraus für den Autor folgt, dass eine übergeordnete Geschichte der Metaphern auch die Entwicklung der Wirklichkeitserkenntnis des Menschen nachvollziehbar macht. Während die beispielhaften Realisierungen, die der Autor zur Veranschaulichung seiner philosophisch wirksamen Metapher anführt,247 hier ebenso wie seine absolute248 Metapher und die Einbettung der || 244 Vgl. hier und im Folgenden Rolf, Metaphertheorien, S. 244–253. 245 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142, hier S. 9, 84–87 u. 127. 246 Vgl. ebd., S. 9. 247 Zu den in seiner Theoriebildung populärsten Metaphernfeldern gehört dabei zum einen das des Lichts, das mit der Wahrheit und dem Guten in Zusammenhang gebracht werden kann, und zum anderen das des Schiffs als Zeichen für Veränderung. Vgl. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, S. 142 u. 159. Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1997 (Bibliothek Suhrkamp. 1263). 248 Vgl. Blumenberg, Paradigmen, hier S. 9. In der Folge ist auch eine Untersuchung von Metaphern in kognitionspsychologischer Hinsicht nicht ausgeblieben, vgl. dazu Ursula Christmann, Norbert Groeben: Zwischen Skylla und Charybdis. Kognitionspsychologische Ansätze zur Metapher. In: Zugänge zu Metaphern – Übergänge durch Metaphern, hrsg. von Lessing, Wieser, S. 145–160. Als Beispiel für eine solche absolute Metapher lässt sich Rolf zufolge die Wandlung der Antworten auf die Frage nachverfolgen, wie Wahrheit vorzustellen ist. Ihre beschreibenden Metaphern gehen von einer ‚mächtigen Wahrheit‘, die sich früher oder später gewaltenartig durchsetzt, zu einer ‚nackten Wahrheit‘ über, die als tiefere Ebene bloßgelegt werden kann. Vgl. Rolf, Metaphertheorien, S. 251–253. Die diesen Wandel begründende Tendenz eines bestimmten Bildvorrats, für eine begrenzte Zeit alle Bereiche der Weltwahrnehmung zu prägen, wird von Blumenberg als Hintergrundmetaphorik bezeichnet und lässt sich neben einer Neigung zu organischen oder mechanischen Metaphern in vorangegangenen Epochen ebenfalls in modernen Spezifiken belegen. Sie richten sich auf Metaphern, deren Bezugssphäre die elektronische Datenverarbeitung ist: das Gedächtnis als Speicher, die Rede von neuronalen Netzen in Neurowissenschaften und Informatik gleichermaßen sowie die Bezeichnung der menschlichen Leistung, Informationen umzusetzen, als ‚Input‘ und ‚Output‘, der an Eingabe und Ausgabe der Datenverarbeitung orientiert ist. Ein Blick in die Zeit vor der Computertechnik zeigt, dass das Bedürfnis, Erkenntnis stiftende Metaphern aus einem bevorzugten Bildbereich zu wählen,

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Metapher in eine umfängliche Theorie der Unbegrifflichkeit249 nur von begrenztem Interesse sein können, so ist der durch Blumenberg vertretene epistemologische250 Anspruch der Metapher für die vorliegende Studie doch ebenso essentiell wie dessen Verbindung zum Mythos. Denn ein vergleichbarer Hang zur Zyklizität, wie er bereits für Lyrik und Metapher ausgeführt wurde, scheint auch im Mythos zu wirken.251 Und

|| damals schlicht auf andere Wissenschaftsbereiche übertragen wurde und zwar vornehmlich auf physikalische. Das erschließt sich beispielsweise an der mechanischen Apparaten analogen Beschreibung des menschlichen Mentalsystems durch René Descartes, der einer physikalischen Energie metaphorisch gleichgesetzten psychologischen Motivation bei Sigmund Freud oder der an elektromagnetischen Feldern orientierten psychologischen Feldtheorie Kurt Lewins. Vgl. Robert Gaschler: Art. Computermetaphern. In: Dorsch Lexikon der Psychologie (2014), S. 351. Zu den genannten Forschern vgl. im Einzelnen René Descartes: Oevres. Publiées par Charles Adam and Paul Tannery sous les auspices du Ministère de l’instruction publique. Vol. XI. Paris 1909, S. 411–428. Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. 2: Die Traumdeutung. 11., korrigierte Auflage. Hrsg. von Alexander Mitscherlich. Frankfurt 2001, S. 513f. Kurt Lewin: Werkausgabe. Bd. 4: Feldtheorie. Hrsg. von Carl-Friedrich Graumann. Bern 1982, S. 133–135. 249 Vgl. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. 250 Zum demgegenüber ausschließlich rhetorischen Aspekt der Metapher vgl. weiterführend im Einzelnen Paul Michel: Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede. Bern 1987 (Zürcher Germanistische Studien. 3). Marie-Cécile Bertau: Sprachspiel Metapher. Denkweisen und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur. Opladen 1996. Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs. München 2007. Zum dezidiert mittelalterlichen Standpunkt zwischen Rhetorik und Ästhetik vgl. Niklaus Largier: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun, Christopher Young. Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology. 12), S. 43–60. 251 Zur Ablehnung des Linearen in mythischen Strukturen äußern sich bereits Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Nietzsche und Thomas Mann. Goethe nennt dies emphatisch die „abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart“. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Abteilung I: Sämtliche Werke. Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main 1986 (BDK. 15), S. 585. Nietzsche spricht vom ewigen Wiederkunftsgedanken. Vgl. Friedrich Nietzsche: Ecce homo. In: Ders. Sämtliche Werke, hrsg. von Colli, Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, S. 255–374, hier S. 335. Und Mann betont: „Um was es mir geht, das ist das Wesen des Mythus [sic] als zeitlose Immer-Gegenwart; es sind die Ideen der Wiederkehr, der Fleischwerdung und des ‚Festes‘ […].“ Thomas Mann: Ein Wort zuvor: Mein ‚Joseph und seine Brüder‘. In: Ders. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd.: Rede und Antwort. Über eigene Werke; Huldigungen und Kränze. Über Freunde, Weggefährten und Zeitgenossen. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1984, S. 98– 101, hier S. 100. Für den Mythos als Denkform der prinzipiellen Ungeteiltheit in philosophischer Ausarbeitung vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 1973, S. 59–77. Blumenberg beschreibt als Instrumente der Generierung von Bedeutsamkeit, auf der der Mythos gründet, beispielsweise Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 2006 (stw. 1805), S. 80. Die Ablehnung linearer Strukturen in der Lyrik besprachen oben Bleumer und Emmelius, woraus die Erkenntnis der Nähe induzierenden Lyrik und die Begriffsprägung

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obwohl es die Vorhaben dieser Untersuchung übersteigen muss, einem gemeinsamen Wirken von Mythos, Lyrik und Metapher am Anfang der Weltermächtigung durch den Menschen nachzugehen, wie sie Blumenberg sich vorstellt,252 so ist es dennoch für die These einer narrativen Metapher auf dem Gebiet erzählender Lyrik interessant, dass Blumenberg die Erzählung und den Mythos als im Dienste derselben Aufgabe tätig betrachtet: der Überwindung jener allgerichteten, lähmenden Angst, die den Menschen angesichts der archaisch-namenlosen Übermacht seiner Umwelt ergreifen muss.253 Erzählende Lyrik sowie eine narrativ interpretierte Metaphernauffassung können somit als Grundmechanismen eines Umgehens mit der Welt gelesen werden und verlieren folglich den Unterton des Unwahrscheinlichen. Grundlage der irritierenden, kreativen und poetischen Funktionsweise der Metaphern ist dabei nach Ansicht Josts ein topisch organisiertes Wissen, das jedoch durch den ästhetischen Ausdruck der Metapher weiterverarbeitet wird.254 Auf jener Bewertung der fortgesetzten Sinnproduktion in der Metapher basiert auch die Ansicht, Metaphern würden neues Wissen erzeugen, statt, wie der Topos, bekannte Inhalte lediglich neu zu ordnen.255 Dass dieses metaphorische Wissen eines Realitätsabgleichs erst noch bedarf, wurde bereits angesprochen. Dies stellt für Jost jedoch keinen Hinderungsgrund dar, von einer metaphorischen Funktion des Verständlichmachens auszugehen. Diese verweist in eine ähnliche, doch abgeschwächte Form der Epistemologie bei Blumenberg und gründet im gleichermaßen irritierenden wie faszinierenden Rätselcharakter der Trope („Nicht-Paraphrasierbarkeit“256). Der Modus des Verständlichmachens ist laut Jost somit auch kein logischer (wie der des Topos), sondern ein ästhetischer,257 was sich zu den beschriebenen Spezifika der Metapher passend fügt, die auf Unmittelbarkeit und Rezipienteneinbindung

|| der lyrischen Präsenz hervorgingen. Vgl. im Einzelnen Bleumer, Das Echo des Bildes. Emmelius, Zeit der Klage sowie Abschnitt 1.2.3. 252 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9–11, wo der Autor den Zustand des herrschenden Absolutismus der Wirklichkeit beschreibt, gegen den der Mythos sodann anarbeitet. 253 Vgl. ebd., S. 40. Dabei sind Mythen einerseits Geschichten (vgl. ebd.) und übersteigen diese in den nicht-linearen Kreisschlüssen des Mythos zugleich, ähnlich wie dies für die Lyrik vorzuführen versucht wurde. Poesie und Ästhetisierung (vgl. ebd., S. 45) als Modus einer solchen Weltbemächtigung lassen sich nach den obigen Ausführungen auch in der Metapher als wirksam begreifen, womit deren Wert für eine Epistemologie bei Blumenberg deutlich wird. Doch eine erschöpfende Beweisführung zu diesen Zusammenhängen muss – wie gesagt – folgenden Untersuchungen angelastet werden. 254 Vgl. hier und im Folgenden Jost, Topos und Metapher, S. 268–327. Für die Metapher und ihr Verhältnis zur Komplexität, das an betreffender Stelle auch Jost untersucht, vgl. weiterhin Helge Skirl: Metaphorik. Komplex, nicht kompliziert! In: Zugänge zu Metaphern – Übergänge durch Metaphern, hrsg. von Lessing, Wieser, S. 117–120. 255 Vgl. Jost, Topos und Metapher, S. 269–271. 256 Ebd., S. 284. 257 Vgl. ebd., S. 326.

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insbesondere hindeuteten. Der spielerisch-ästhetische Aspekt, den Haug258 der Topik zuerkannte, mag diese Gegenüberstellung vielleicht fragwürdig erscheinen lassen, doch er meinte damit schließlich „das Vergnügen an aporetischen Zuspitzungen, […] Gedankenspiele[n] als Argumentationstraining“259, das zunächst mehr auf das Präsentieren als auf das Lösen von Problemen ausgerichtet ist. Poetische Kreativität – von Jost und Buss260 als die ästhetische Dimension der Metapher bezeichnet – ist hingegen kein Merkmal des Topos. Vielmehr muss der Blick des Teilnehmenden, um auf diese alternative, metapherninduzierte Art und Weise sehen zu können, einer genieartig sich ausformenden „creative imagination“261 fähig sein. Die Kunst der Topoi jedoch ist durch Übung und Unterricht erlernbar und somit eine distanziertere als die der Metapher, die sich schon in der Unweigerlichkeit des durch sie aufgerufenen Bildes näher am Rezipienten bewegt. Diese ästhetische Perspektive auf das Gegensatzpaar Nähe und Distanz ist einmal mehr bezogen auf die discours-Ebene des literarischen Werks, deren Teil Metapher wie Topos sind. Paul Ricœur fasst eine solche diskursive Verortung des metaphorischen Prozesses folgendermaßen: The insight into likeness is the perception of the conflict between the previous incompatibility and the new compatibility. ‚Remoteness‘ is preserved within ‚proximity‘. To see the like is to see the same in spite of, and through, the different. This tension between the sameness and difference characterizes the logical structure of likeness. […] Imagination […] remains caught in the war between distance and proximity, between remoteness and nearness.262

Der Autor weist hier mit der gefangenen Imagination auf eine Vorstellung hin, die in der Deutung lyrischer Narrationen bei Bleumer und Emmelius bereits anklang und im Weiteren noch wiederholt auftauchen wird: In der Metapher liegt eine Möglichkeit, die Rezeption auf einen anderen Pfad zu führen als den, der in erster Linie durch die histoire-Geschehnisse des Liedes vorgezeichnet wird. Als Zwischenfazit am Übergang zur spezifisch mediävistischen Erforschung der Metapher kann jedoch zunächst das Folgende festgehalten werden: Metaphern teilen sich mit dem Topos sowohl ihre Verankerung im gemeinsamen Wissen als auch ihre Verständnis herbeiführende Verwendung. Die Erkenntnisweise der Metapher ist

|| 258 Vgl. Haug, Kritik der topischen Vernunft, S. 50. 259 Ebd., S. 51. 260 Vgl. Mareike Buss, Jörg Jost: Rethinking the Connection of Metaphor and Topos. In: Interlingüística 13 (2002), S. 275–292, hier S. 281. Zum kreativen Potential der Metapher vgl. weiterführend Katrin Kohl: ‚Die Axt für das gefrorene Meer‘. Das kreative Potential der Metapher. In: Zugänge zu Metaphern – Übergänge durch Metaphern, hrsg. von Lessing, Wieser, S. 49–62. 261 Buss, Jost, Rethinking the Connection, S. 281. 262 Ricœur, The Metaphorical Process, S. 146f. Auch Gert Hübner betrachtet die Metapher als dezidiert Nähe bewirkenden und intensivierenden Mechanismus, vgl. Hübner, Topische inventio und Diagrammatik in der Vormoderne, S. 174.

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dabei jedoch kein Übersicht schaffendes Ordnen der sichtbaren Realität (Restrukturierung des Topos), sondern behauptet ästhetisch eine tiefere, sonst unsichtbare Realität, deren Umfang und semantische Innovation je nach Metaphernklasse variiert. Die Untersuchung der Metapher in mittelalterlichen Texten ist wie das Feld der Metaphernforschung allgemein geprägt von einer Theorievielfalt, die nicht in jedem Falle expliziert oder aufgearbeitet wird, weshalb leicht aus dem Blick geraten kann, dass die Masse der geäußerten Gedanken sich keineswegs zu einem kohärenten Ganzen fügt. So kann die Metapher strikt in ihrer antiken Tradition als rhetorischer Tropus betrachtet werden. Ulrich Krewitt bietet in seiner Untersuchung des Einflusses antiker Rhetoriken (Aristoteles, Rhetorica ad Herennium, Cicero, Quintilian) auf das lateinische Mittelalter ein Beispiel für derartige Herangehensweisen.263 Sie beweisen, dass die Metapherinterpretation schwer zu bezähmenden Poetiken wie die George Lakoffs264 oder Ricœurs nicht zwingend benötigt, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. Nicht unüblich ist weiterhin eine Untersuchung mittelalterlicher Metaphern, die auf den Status des betrachteten Phänomens als Metapher gar keinen Bezug nimmt. So trägt Karl-Friedrich Kemper zur Metapher kristes bluomen lediglich eine Sammlung möglicher Bedeutungen der Textstelle zusammen, verliert über Charakteristik und Implikationen der Metapher als rhetorisches oder epistemologisches Phänomen jedoch kein Wort.265 Metapherntheoretisch fundiert verfährt demgegenüber Gertrud Jaron Lewis, die sich bei ihrer Untersuchung des Tristan Gottfrieds von Straßburg auf Heinrich Lausberg beruft. Die Metapher fordert demnach als Rätselrede das Publikum zur aktiven Teilnahme und damit erst zur eigentlichen Schöpfung des Werks heraus.266 Zudem

|| 263 Vgl. Ulrich Krewitt: Metapher und tropische Rede in der Auffassung des Mittelalters. Ratingen 1971 (Mittellateinischen Jahrbuch Beihefte. 7), hier S. 10. Ebenfalls das lateinischsprachige Mittelalter untersucht Hans-Jörg Spitz, der dabei jedoch die These vertritt, dass die Metapher sehr wohl eine begrifflich noch nicht festgelegte, besonders das geistige Sein betreffende Wirklichkeit erfassen kann. Dabei betrachtet Spitz die über große Zeiträume hinweg beständige Metaphorik des geistlichen Sprechens als Indiz für dessen besondere Geschlossenheit in sich. Vgl. Hans-Jörg Spitz: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrhunderts. München 1972 (MMS. 12), S. 11 u. 249. 264 Vgl. George Lakoff, Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2004. 265 Vgl. Karl-Friedrich Kemper: Zum Verständnis der Metapher Kristes bluomen. Hartmann von Aue 210,37. In: ZfdPh 90 (1972), S. 123–133. 266 Vgl. Gertrud Jaron Lewis: Die Metapher als Motiv in Gottfrieds Tristan. In: Kommunikative Metaphorik. Die Funktion des literarischen Bildes in der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Holger E. Pausch. Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik. 20), S. 36–60, hier S. 36. Das Original vgl. bei Heinrich Lausberg: Handbuch einer literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1990, zur Metapher §558–564, zur Rätselrede bereits §556.

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wird nach Lewis die das ganze Werk durchziehende Metaphernebene genutzt, um eine Unterströmung der Geschichte oder zusätzliche Bedeutungsschichten der Charaktere aufzuzeigen.267 Metaphern stellen für die Autorin folglich eher eine Rezeptionshilfe dar und umfassen zudem ebenfalls bildhafte Vergleiche: alse ein ei (Tristan, V. 5 692), als eber under schâfen (Tristan, V. 18 895). Der Tristan beinhaltet noch weit schlagendere Beispiele für derart vergleichende Textstellen, so etwa den Vergleich Isoldes mit einer Sirene in einer höfischen Festszene relativ zu Beginn: Wem mag ich sî gelîchen / […] / wan den Syrenen eine, / die mit dem agesteine / die kiele ziehent ze sich? (Tristan, V. 8 089–8 093). Der Vergleich führt Isolde, die Herzen und Gedanken anzieht, mit den Sirenen zusammen, die singend Schiffe ins Verderben locken, und zeigt dabei sowohl einerseits eine bemerkenswerte Bildgewalt als auch andererseits eine Vielzahl von Signalworten für einen vergleichenden und nicht Identität behauptenden Charakter der Aussage: gelîchen, als, ebenmâzene, sô, sus, rehte als, in ebengelîcher wîse, alsô (Tristan, V. 8 079, 8 094, 8 100, 8 103, 8 106, 8 108, 8 109, 8 112). Vergrößert dies nun die ästhetische Distanz verglichen mit der Metapher? Wolfgang Adam spricht sich für eine strenge Trennung von Metaphern und Vergleichen aus und betrachtet zu diesem Zweck das Auftreten eines Vergleichspartikels als hinreichendes Kriterium für die Isolierung der Metapher.268 Doch sowohl der Beitrag von Lewis als auch der Sirenenvergleich verdeutlichen, dass zum einen durch die Rede von der sirenenartigen Isolde rezipientenseitig selbst dann Bilder von jenen Fabelwesen evoziert werden, wenn der streng metaphorische Ausdruck ‚Isolde ist eine Sirene‘ in dieser Form gar nicht vorkommt. Und zum anderen scheint folglich auch jene an Vergleichspartikeln reiche Rede durch ihre Anschaulichkeit eine ähnlich welterschließende und Wissen organisierende Funktion zu haben wie die metaphorische. Denn das Bild vom Verhalten der Sirene wird unweigerlich an Isolde geheftet und der Rezipient selbst dann noch gelenkt, wenn über die Verwendung der Vergleichspartikel eine gewisse Distanz aufrechterhalten wird, die durch die direktere Form der Metapher verkürzt würde. Demnach ist eine metaphernähnliche Funktion auch in der vergleichenden Rede möglich, solange diese nur eine ausreichend bildliche Qualität hat, um die „pictures in our heads“269 unweigerlich in Gang zu setzen. Diese folgliche Engführung von Metapher und Vergleich lässt sich sowohl mit Ricœur in Einklang bringen als auch bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Die Kategorien des ersteren, Nähe und Distanz in der Ähnlichkeit, sind schließlich skalierbar, wodurch dem Vergleich ohne Weiteres eine metaphernähnliche, abgeschwächte Funktion zugeschrieben werden kann. Und auch letzterer stellt anhand des

|| 267 Vgl. Lewis, Die Metapher als Motiv in Gottfrieds Tristan, S. 59f. 268 Vgl. Wolfgang Adam: Die ‚wandelunge‘. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur. Heidelberg 1979 (Euphorion Beihefte. 15), S. 23. 269 Vgl. Jost, Topos und Metapher, S. 184f.

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bekannten Beispiels des Löwen Achill fest, dass der semantische Unterschied zwischen ‚Wie ein Löwe stürzte er auf ihn‘ und ‚Ein Löwe stürzte auf ihn‘ nur ein geringer ist.270 Bekräftigen lässt sich dieser Standpunkt anhand einer Stelle des Titurel, in dessen Strophen 119 bis 126 Sigûne sich Herzeloyde in einer bildreichen Rede über die Minne offenbart und dabei gleichermaßen Bildbereiche der Jagd (gernde, wilde, iaget sendiu sorge; Titurel, Str. 121 u. 125), des Bindens (bant, bendec; Titurel, Str. 121), der einsamen Sehnsucht (von dem venster an die zinnen, dâ warte ich ôsten unt westen, dâ warte ich verre; Titurel, Str. 123f.) und des Feuers (dicke erkalte, gnaneistenden viure, erglüet, sîn minne hitze, salamander; Titurel, Str. 126) einbindet. Metaphorisches Sprechen fehlt in diesem Minnemonolog (Ich var ûf einem wâge eine wîle; Titurel, Str. 124)271 ebenso wenig wie eine interessante Mischform metaphorischer und vergleichender Rede: ‚Owê des, mir ist sîn kunft alze tiure, nâch dem ich dicke erkalte, unt dar nâch, als ich læge in dem gnaneistenden viure, sus erglüet mich Schoynatulander. mit gît sîn minne hitze alse Egremuntîn dem wurme salamander.‘ (Titurel, Str. 126)

Sigûne erkaltet metaphorisch, erglüht danach jedoch nur in vergleichender Form, wodurch sich in dieser, die beiden Formen bildlichen Sprechens derart eng zusammenführenden Belegstelle beobachten lässt, wie wenig ausschlaggebend ein nur auf der sprachlichen Oberfläche signifikantes Merkmal wie der Vergleichspartikel für die Wahrnehmung der Stelle in ihrer Bildgewalt ist.

|| 270 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. 4., unveränderte Auflage. Übersetzung, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1993 (UTB. 159), S. 176. Das griechische Original bei Aristotle: The „Art“ of Rhetoric. With an english translation by John Henry Freese. London 1959, S. 366. 271 Wie schwierig diese Stelle ohne einen Rückgriff auf metaphorische Ausdrucksweisen wird, verdeutlicht der Stellenkommentar: „Zu diesem Vers und im besonderen zu wâge sind sehr unterschiedliche Erklärungen gegeben worden. Mit Martin und Heinzle wird man wohl davon auszugehen haben, daß Sigûne ihre Fahrt in Gedanken unternommen hat, nicht wirklich, ‚denn sie wird sich kaum an das ferne Mittelmeer begeben haben, über das Schionatulander zurückkommen mußte‘ (Heinzle). Man wird auch nicht, nur um eine Einschätzung der Szenerie zu gewinnen, wâc (‚bewegtes Wasser in einem flusse, see oder meere‘, BMZ III 645a) etwas abstrakt als ‚Strömung‘ interpretieren dürfen; dagegen stehen unzählige Belege, die zeigen, daß es sich um ein großes, nicht näher bestimmbares Wasser handelt und daß der unbestimmte Artikel hier die Funktion der ‚unbestimmten Individuation‘ (Heinzle) hat.“ Helmut Brackert, Stephan Fuchs-Jolie: Stellenkommentar. In: Wolfram von Eschenbach. Titurel. Hrsg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von dies. Berlin 2003, S. 144–277, hier S. 233. Die Verweise innerhalb des Zitats beziehen sich auf Joachim Heinzle: Stellenkommentar zu Wolframs Titurel. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes. Tübingen 1972 (Hermaea. Neue Folge. 30) sowie Wolfram von Eschenbach: Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von Ernst Martin. 2 Bde. Halle an der Saale 1900–1903.

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Der nachhaltige Eindruck von Bildlichkeit, der Sigûnes Minnebeziehung illustriert und damit die Erzählwelt organisiert, wird nicht ausschließlich über die metaphorische Stelle des Erkaltens erzielt,272 sondern vielmehr über die Grundmetapher ‚Minne ist Feuer‘273, die auf der sprachlichen Oberfläche der Minnelieder wie Minneromane in verschiedener Form Ausdruck finden kann. Eine erkenntnistheoretische Zwischenposition der Metapher im mediävistischen Kontext und eine gründliche Begriffsverortung legt auch Franziska Wessel vor, wonach die Metapher zwar mehr als bloßer Schmuck, aber dennoch keine eigene Denk- oder Erkenntnisform ist.274 Dabei folgt die Autorin implizit einer feldtheoriekonformen Betrachtung, indem sie sich ausführlich auf Harald Weinrich bezieht und

|| 272 Brackert und Fuchs-Jolie übersetzen sogar noch metaphorischer als die Textstelle strenggenommen indiziert: „Ach, wie sehne ich mich nach seinem Kommen, der mein Herz so oft vor Kälte erschaudern läßt […].“ Übersetzung zur Str. 126. 273 So beispielsweise an anderer Stelle im Titurel: Gahmuretes herze ouch von minnen getwenget / was, von der minnen ir hitze, unt ir âsanc im hete under wîlen besenget / sîn lûter vel, daz ez mit truopheit kunde (Str. 95). Innerhalb des Minnesangs: sô wirde ich góldè gelîch, / daz man dâ brüevet in der gluot / Und versúochèt ez baz. / […] glúotès ez iemer mê, / ez wurde bezzer vil dan ê; Burggraf von Rietenburg (MF 19,17). Minne, in dîner glüete ich brinne; Gottfried von Neiffen (KLD 15 XVI,4). wizzet daz ich brinne / in der liebe als e ein gluot; Der Schenk von Limburg (KLD 34 I,2). mich gruozte ir minneclîcher munt, / der dûhte mich in solher rœte / sam ein fiuric flamme enzunt; Otto von Brandenburg mit dem Pfeil (KLD 42 I,2). vor mir si saz / und bran ûf sô schône / sam der âbentrôt; Rudolf von Rotenburg (KLD 49 XII,3). rœste mich reht in der minne gluot; Von Sachsendorf (KLD 51 III,3). Owê, owê, frouwe Minne, / mir ist wê. / nû grîf her wie sêre ich brinne. / kalder snê / müeste von der hitze brinnen / diu mir an dem hitze lît; Ulrich von Liechtenstein (KLD 58 VII,4). Ein kus von mîner frouwen munde / brennet sanfter danne ein gluot; Wachsmut von Mühlenhausen (KLD 61 III,2). so enzündet mich ir minne, / daz ich von ir brinne; Wolfram von Eschenbach (KLD 69 VIII,4). Im Tristan: daz si alle lobes von wîben sagent, / swaz sî mit lobe ze mæren tragent, / deist allez hie wider ein niht, / der Îsôte under ougen siht, / dem lûtertz herze unde muot, / rehte als diu gluot dem golde tuot; (Tristan, V. 8 291–8 296). er kam binamen an den wân, / diu zwei diu wæren getân / durch niht niwan durch minne. / daz enzunte ouch sîne sinne; (Tristan, V. 801–804). swâ liep in liebes ougen siht, / daz ist der minnen fiure / ein wahsendiu stiure; (Tristan, V. 1 114–1 116). wan diz daz ist der Minnen site, / hie enzündet sî gelieben mite, / hie mite sô fiuret sî den muot; (Tristan, V. 13 043–13 045). hie von sol liebe rîchen, / jungen unde niuwen / und fiuren an den triuwen. / liebe armet unde altet, / si kuolet unde kaltet / swâ sî ir fiures niht enhât; (Tristan, V. 13 064–13 069). diu gebalsemete minne, / diu lîbe unde sinne / als inneclîche sanfte tuot, / diu herze fiuret unde muot: / diu was ir bestiu lîpnar; (Tristan, V. 16 834–16 838). Minne diu warf ir flammen an, / Minne enflammete den man / mit der schœne ir lîbes; (Tristan, V. 17 597–17 599). diu fiuwerniuwete ime den muot / mit der glimmenden gluot; (Tristan, V. 19 049f.). kein fiur hât ouch sô grôze kraft, / ist man dar zuo gedanchaft, / man enmüges sô vil zesenden / mit einzelen brenden, / biz daz es swache brinnet. / als ist dem, der dâ minnet, / der hât dem ein gelîchez spil; (Tristan, V. 19 447– 19 453). Vgl. weiterführend Burkhard Hasebrink: ‚Ich kann nicht ruhen, ich brenne‘. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit. In: Das fremde Schöne, hrsg. von Braun, Young, S. 91–110. 274 Vgl. Wessel, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan und Isolde‘, S. 37 u. 46.

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postuliert, Metaphern würden sich bildfeldartig zu Topoi fortpflanzen.275 Und obwohl Wessel sodann im Tristan einige Bildbereiche festmachen kann,276 aus denen sich die Minnemetaphern des Werkes speisen, bleibt ihre Studie doch mehr eine des Tristan als eine der Metapher. Einen weiteren Schritt in der Begründung der Metapher als Mechanismus poetisch eigenständiger Ausdrucksmöglichkeiten gehen Christian Kiening und Susanne Köbele, die – wenn auch durch den Titurel Wolframs von Eschenbach nicht auf lyrischem Gebiet – in Metaphern eine besondere Erzähllogik verwirklicht sehen. Diese Logik nimmt ihren Ursprung demnach im lyrisch-fragmentarischen Duktus des Textes und äußert sich sodann in der mannigfaltigen Kopplung der Hauptthemen Minne, Jagd und Tod mit den bildhaften Metaphernfeldern des Titurel: Natur und Jagd, Fangen und Entkommen, Binden und Lösen. Diese vielfältigen Verbindungen sind es sodann, die sowohl die Dynamik des Titurel als auch seine lyrisch-rätselhafte Sinnvielheit erzeugen.277

|| 275 Vgl. ebd., S. 62–81. Ähnlich verfahren auch Dietmar Peil und Meinolf Schumacher. Vgl. im Einzelnen Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983 (MMS. 50), S. 24. Meinolf Schumacher: Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters. München 1996 (MMS. 73), S. 21. Dennoch arbeitet auch Wessel ihren Metaphernbegriff nicht absolut klar heraus: zum einen, weil ihre Theorierückbindung eben nicht expliziert wird, und zum anderen, weil ihre Aussagen sich teils nicht widerspruchsfrei zusammenführen lassen. So lehnt sie ein Verständnis der Metapher als Denkmodell zunächst ab, bezeichnet Wissenschaftsmetaphern späterhin aber trotzdem als Denkmodelle. Vgl. Wessel, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan und Isolde‘, S. 97. Einen noch intuitiveren Metaphernbegriffs bringt Christa Agnes Tuczay in Anschlag, obwohl gerade in der durch die Autorin durchaus bemerkten Problematik des Wörtlichnehmens gegenüber einem uneigentlichen Bezug des Herzenstausches der Grundkonflikt der Metaphernforschung zwischen Erkenntnisinstrument und Redeschmuck erhellend hätte wirken können. Vgl. Christa Agnes Tuczay: Differente Implikationen der Metapher vom Herzenstausch. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Wien 2009, S. 499–520. Ebenfalls implizit bleibt die Füllung des Begriffs in Bezug auf die Stimme als „kulturell unabdingbare, lebendige Metapher“ bei Christiane Ackermann und Hartmut Bleumer. Vgl. Hartmut Bleumer, Christiane Ackermann: Gestimmte Texte. Anmerkungen zu einer Basismetapher historischer Medialität. In: LiLi 171 (2013), S. 5– 15, hier S. 5. 276 Vgl. Wessel, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan und Isolde‘, S. 585–590. 277 Vgl. Christian Kiening, Susanne Köbele: Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs ‚Titurel‘. In: PBB 120 (1998), S. 234–265, hier S. 240f. Zwar explizieren auch Kiening und Köbele ihren Begriff der Metapher nicht theoretisch und gehen auch nicht von deren narrativer Möglichkeit aus, nehmen aber die oben unterbreitete These Bleumers vorweg, nach der Metaphern im epischen Kontext lyrische Qualität entfalten. Infolgedessen kommt es zu einer oszillierenden Wahrnehmung aus Nahaufnahmen und Totalen, konkreten Ereignissen und abstrakten Strukturen, in deren Schilderung des einen das andere immer auch präsent ist (vgl. ebd., S. 261–263). An anderer Stelle kommt Kiening hingegen zu dem Schluss, dass die Metaphern im Titurel zwar einerseits die Notwendigkeit wie

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Die Studien Almut Schneiders und Stephan Fuchs-Jolies ähneln der von Kiening und Köbele insofern, als dass auch sie die Metaphern als Elemente einer jeweiligen Textlogik betrachten. Bei Schneider ist dies die metapoetische Selbstbespiegelung der Dichtung über Metaphern des Handwerks und Wachsens.278 Die Metaphern dienen so als zusätzliche Diskursebene des Texts, wovon auch die vorliegende Untersuchung ausgeht, nur ist der Zusatzdiskurs bei Schneider kein erzählender. Und Fuchs-Jolie lässt die Metaphern zwar ebenfalls eine Zusatzebene ausformen, die wiederum keinen narrativen Charakter besitzt, verleiht ihr aber statt eines metapoetischen einen räumlichen. Demnach formuliert der Minnesang Aussagen über das Objekt seines Begehrens stets über metaphorische Höhenunterschiede.279 Mit Gert Hübner könnte nun der Einwand vorgebracht werden, dass eine umfassendere epistemologische Funktion der Metaphern im Mittelalter schon deshalb nicht angenommen werden kann, weil deren sinnliche Entfesselung als ein Phänomen der Moderne zu sehen ist.280 Aus diesem Grund spricht der Autor sich insgesamt gegen

|| Unmöglichkeit einer vollständigen Mitteilung von Minne veranschaulichen, andererseits aber teilweise nur beschreiben, ohne auf tiefere poetische Ebenen zu verweisen (vgl. Christian Kiening: Metapher und Erzählwelt. In: Ders., Zwischen Körper und Schrift, S. 247–275, hier S. 258). Trotzdem hält er auch in diesem Zusammenhang an der These fest, wonach die metaphorischen Strukturen des Titurel maßgeblich zu dessen lyrischer Wirkung beitragen. Ähnlich schätzt auch Köbele in einem eigenen Beitrag die Wirkung der Metapher im Tristan ein, die demnach die unauflösliche Verbindung des Romans mit dessen religiösem Diskurs über eine mythenanaloge Evozierung von Immer- und Gleichzeitigkeiten bewerkstelligt. Dies drückt sich sodann in der beständigen Ambivalenz der Kompositmetaphern erbevogetin, erbepfluoc und erbesmerze Gottfrieds aus (vgl. Susanne Köbele: Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds ‚Tristan‘. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Kolloquium Präsenz des Mythos. 18.–21. September 2002, Kloster Irsee. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin 2004 (Trends in Medieval Philology. 2), S. 219–246, hier S. 230–235). 278 Vgl. Almut Schneider: Licht-Bilder. Zur Metaphorik poetischer Sprechweisen in frühmittelhochdeutschen Texten. In: Im Wortfeld des Textes, hrsg. von Dicke [u. a.], S. 189–209, hier S. 190, 193 u. 204. 279 Vgl. Fuchs-Jolie, ungeheuer oben, S. 26f. Ziel dieser Argumentation war der Nachweis darüber, dass das Minnelied seinen Gegenstand niemals greifbar werden lässt, und den der Autor benötigt, um seine Grundthese zu halten. Demzufolge entzieht die höfische Liebe sich jederzeit der sich äußernden Instanz und verharrt in einem unerreichbaren Oben. Doch umgekehrt ist es ebenso möglich, im Beispiel des Autors, dem Lindenlied, – und nicht nur dort – einen narrativen Verlauf über die verschiedenen Zeitmarker der Strophen hinweg anzunehmen und zudem noch von einer narrativen Qualität der lyrischen Vergleiche auszugehen, mit denen das Lyrische Ich seine Dame belegt: ir wangen wurden rôt / same diu rôse, dâ si bî der liljen stât (L 74,28). Tatsächlich scheint die Interpretation Fuchs-Jolies ohne eine Andeutung narrativer Zusammenhänge und Abfolgen, die in einer zyklischen Auflösung sodann überschritten werden können, gar nicht denkbar, denn das schwebende Oben seiner Lesart braucht ein narratives Fundament, zu dem es sich in Relation setzen kann. 280 Vgl. Gert Hübner: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der

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eine Metapherntheorie des Mittelalters aus, die Beziehungen zwischen den beiden Metaphernteilen herstellt, statt bloß auf sie rückzuverweisen.281 Die Metapher besitzt als bloße Textkompetenz formkünstlerischer Dichtung keine schöpferische Kraft, so Hübner.282 Dem kann zum einen entgegengehalten werden, dass selbst antike Metaphernmodelle – wenn auch in einem geringeren Umfang als etwa bei Lakoff – bereits von einer schöpferischen Wirkgewalt der Metapher wussten, wie in Bezug auf etwa Aristoteles bereits referiert wurde. Und wenn zum anderen metaphernkritische Stimmen bis heute nicht verstummt sind (vgl. Gehring), dann wird sich auch das mittelalterliche Bild von der Metapher irgendwo zwischen diesen beiden Polen bewegen. Da Hübner sich im Falle der Perspektivenentwicklung in mittelalterlichen Romanen selbst dafür ausspricht, zugunsten einer kontinuierlichen Beschreibungssprache Übertragungen aus der Moderne in die Vormoderne zuzulassen, scheint dies auch im Falle der Metapher tragbar.283 Ein Beispiel für diese Praxis bietet Thomas Cramer, der die unterschiedlichen Verwendungen der Spiegelmetapher in Antike und Mittelalter untersucht.284 Er fasst zu diesem Zweck den Spiegel als absolute Metapher in Sinne Blumenbergs285 und leistet folglich eine epochenübergreifende Übertragung jenes Konzepts. Ähnlich verfährt Ricarda Bauschke in Bezug auf die mittelalterliche Burg, indem sie diese als Ort metaphorischen Charakters wahrnimmt, wodurch sowohl eine Interaktion der Liebenden als auch der räumliche Ausdruck sozialer Distanz möglich werden.286 Dabei sieht Bauschke bereits eine Narration im Umfeld der Metapher, die umgeben ist von den dargestellten Episoden einer ausschnitthaften Liebeshandlung,287 aber die Metapher selbst ist bei ihr noch nicht narrativ.

|| Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002. Hrsg. von Arthur Groos, Hans-Jochen Schiewer. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit. 1), S. 113–155, hier S. 116f. 281 Vgl. ebd., S. 148. 282 Vgl. ebd., S. 152f. 283 Vgl. im Einzelnen ders., Erzählform im höfischen Roman, S. 9, 404 u. 407. Ders., Fokalisierung im höfischen Roman, S. 133f. 284 Vgl. Thomas Cramer: Das Subjekt und sein Widerschein. Beobachtungen zum Wandel der Spiegelmetapher in Antike und Mittelalter. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hrsg. von Baisch [u. a.], S. 213–229, hier S. 214 u. 221f. 285 Vgl. ebd., S. 213. 286 Vgl. Bauschke, Burgen und ihr metaphorischer Spielraum in der höfischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 25. Überlegungen zum topographischen Charakter bestimmter Metaphern sind nicht außergewöhnlich, vgl. dazu weiterführend David Martyn: „Schiffe der Wüste“, „Schiffe des Meeres“. Topographien der Metapher bei Emine Sevgi Özdamar, Salim Alafenisch und Yoko Tawada. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart 2005 (Germanistische Symposien Berichtbände. 27), S. 724–744. 287 Vgl. Bauschke, Burgen und ihr metaphorischer Spielraum in der höfischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 11.

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Ein wesentlich schärferes Problembewusstsein für den präzisen Begriff demonstriert indes Udo Friedrich,288 der sein Metaphernverständnis von Aristoteles und Blumenberg herleitet.289 Sein Untersuchungsbeispiel der (Lebens-)Wegmetapher entwickelt dabei dezidiert narrative Qualität, doch auf eine andere Art und Weise als dies in der vorliegenden Studie vertreten wird: nämlich über die Strukturierung zeitlicher Ordnung durch räumliche Kategorien.290 Somit verwendet Friedrich zum einen ein ähnliches Beschreibungsinstrumentarium wie im Folgenden auf die histoire-Ebene angewendet werden wird, vertritt zum anderen mit der narrativen Metapher eine ähnliche Wendung der Trope und schreibt zudem sowohl der Metapher als auch der Erzählung und dem Diagramm ähnlich welterschließende Dienste zu. Aber er bezieht jene Modellteile anders aufeinander. Das zeigt sich beispielsweise, wenn er die Metapher deshalb narrativ deutet, weil sie Raum und Zeit ordnet. Eine derartig narrative Lesart ließe sich folglich nur auf Metaphern anwenden, die auch raum-zeitliche Marker aufweisen und nicht etwa auf die hinreichend ausgeführten vom Löwen Achill, von der Sirene Isolde etc. Die vorgeschlagene Interpretation der narrativen Metapher indes, die in den identifikatorisch verknüpften Differenzen der Trope Schmids Minimaldefinition der Geschichte erfüllt sah, kann nicht nur die genannten Fälle deuten, sondern darüber hinaus zeitliche und räumliche Aspekte auf Ebene der Lied-histoire ebenfalls einbeziehen – zusätzlich zur metaphorischen Narration. Somit ergibt sich ein auf mehreren Ebenen operierendes Modell lyrischen Erzählens, in dem neben den dargestellten Zusammenhängen auch die Aufführung mittelhochdeutscher Lyrik eine Rolle spielen muss – nicht nur, weil noch zu klären sein wird, wo zwischen Situationsspaltung und Situationsverschmelzung die Erzählung ihren Platz finden kann. Sondern auch, weil Bleumer den Übereinstimmungscharakter der Metapher insbesondere an das Phänomen des Klangs geknüpft hat.291 Der Versuch einer Abstraktion des dargestellten mediävistischen Umgangs mit der Metapher zeigt das Folgende. Erstens wurde die Relevanz der Metapher in poetologischen Zusammenhängen wiederholt erkannt, nur selten jedoch in Bezug auf eine narrative Qualität interpretiert. Die stattdessen vorgebrachten Deutungsangebote waren indes vielfältig: von der Etablierung einer übergreifenden Gesamtaussage

|| 288 Eine überblicksartige Einsicht in das Feld der ‚Historischen Metaphorologie‘ verschafft Friedrich in seinem gleichnamigen Handbuchartikel. Hier setzt er sich für den Zugang ein, den die Metapher zu vergangenen Konzepten der Sprach-, Literatur- und Kulturtheorie ermöglichen kann (S. 180), da sie als Reservoir des kollektiven Gedächtnisses gesellschaftliche Erfahrung bildlich archiviere (S. 183). Vgl. Udo Friedrich: Historische Metaphorologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik, hrsg. von Ackermann, Egerding, S. 169–211. 289 Vgl. Udo Friedrich: Erzähltes Leben. Zur Metaphorik und Diagrammatik des Weges. In: LiLi 176 (2014), S. 51–76, hier S. 53. 290 Vgl. ebd., S. 53 u. 57. 291 Vgl. Bleumer, Das andere Ich, S. 23f.

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(Wessel) und der aus Kombinationen von Metaphernfeldern und Textthemen entstehenden rätselhaft-lyrischen Struktur eines Textes (Kiening und Köbele) bis hin zu über die Metaphernebene zusätzlich angeknüpften Diskursen (Schneider) und dem dezidiert nicht-narrativen Spiel der auf Textebene realen Räumlichkeiten mit ihren metaphorischen Äquivalenten (Fuchs-Jolie). Zweitens hat sich herausstellen lassen, dass der Metapher in ihrer Stellung zwischen den Gattungen eine bezogen auf lyrische Zusammenhänge narrative Funktionalität zugeschrieben werden kann (Friedrich, Bleumer), womit es naheläge, sie als Erzählkern zu bezeichnen. Der folgende Abschnitt soll jedoch zeigen, dass eine solche Benennung – so treffend sie wirken mag – dennoch nicht unproblematisch ist, führt man sich vor Augen, dass die Zusammenhänge, in denen dieser Begriff bisher angewendet wurde, von der beschriebenen Konstellation deutlich abweichen.

1.3.3 Die Idee des Erzählkerns bei Barthes, Müller, Eco und Bleumer Der ‚Erzählkern‘ treibt narratologische wie semiotische Studien vielfach um und scheint zur Benennung der schwierigen Phänomene einer lyrischen Narrativierung zunächst deshalb so geeignet, weil er deren nukleusartige Fragmentarität betont. Es lassen sich eine stofflich und eine funktional fundierte Traditionslinie der Begriffsverwendung voneinander abgrenzen: So verortet Jan-Dirk Müller etwa die wesentliche Funktion der Erzählkerne stofflich in der narrativen Bindung imaginärer Konstellationen, im Sinne besonders faszinierender, problemträchtiger und lösungsbedürftiger Wirklichkeitsteile.292 Sowohl das Prädikat ‚stofflich‘ als auch die Attributtrias ‚faszinierend, problemträchtig, lösungsbedürftig‘ deuten dabei auf den materialen Topos.293

|| 292 Vgl. hier und im Folgenden Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 22–35. Am Rande sei bemerkt, dass Müller ein ähnliches Konzept wie Ecos frames oder Szenographien, auf die noch eingegangen werden wird, als scripts beschrieb: narrative Organisationsformen von Alltagserfahrung mit dem Charakter rudimentärer Geschichten. Vgl. ebd., S. 17. Vergleicht man die Terminologien an dieser Stelle mit den Ausführungen des Abschnitts 1.2.3, zeigt sich in aller Deutlichkeit, an wie vielen – teils unerwarteten – Stellen eine Lyriknarratologie zunächst ihre gewachsenen Begrifflichkeiten reflektieren muss, bevor sie sich weiterführenden Aufgaben zuwendet: Hühns scripts sind nicht Müllers scripts, Hühns frames nicht Ecos frames und die Beziehung zwischen Hühns scripts und frames hat nichts mit der der Funktionalisierungen der beiden anderen Forscher gemein. 293 Im Einzelnen speist sich dieser Eindruck aus der Konzentration des Autors auf Problem und Lösung (Intentionalität), Faszination literarischer Texte als kulturelle Imaginationsgüter (Symbolizität) und „regelhafte Verknüpfung eines Themas […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können“ (ebd., S. 22) (Potentialität). Mit diesen Merkmalen versuchte Bornscheuer, den Topos zu bestimmen, vgl. Abschnitt 1.3.1.

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Meine These ist, daß um bestimmte, kulturell distinkte Erzählkerne sich Muster mehr oder minder rudimentärer Erzählungen anschließen, die eine zeitlang literarisch produktiv sind, weil sie historisch relevante Probleme konfigurieren und Lösungsansätze durchspielen.294

Wie dieses Zitat veranschaulicht, liegt bei Müllers Erzählkern kein ‚Mini-Narrativ‘ (Reuvekamp-Felber) vor, sondern eine jeder konkreten Erzählung übergeordnete, mythenähnliche Struktur; ein paradigmatisch hinter jeder narrativen Ausgestaltung stehendes Problem, an dessen Lösung die Erzählung sich exemplarisch versucht. Demgegenüber funktional lässt sich der Zugang Roland Barthes’ nennen, der mit den Erzählkernen ‚Kardinal‘-Funktionen oder „Scharniere der Erzählung“295 zu bezeichnen sucht. Die Aneinanderreihung jener syntagmatisch strukturierenden Textkategorien296 bildet sodann die Sequenz des Textes.297 Wo Müller sich für einen problemorientierten, stoffbasierten Umriss der Erzählkerne ausspricht, betrachtet Barthes diese als Strukturelemente, die erst in der Durchführung einen solchen Problemkomplex konturieren, weshalb in Müllers Erzählkernen Geschichten eingefaltet zu sein scheinen, während Barthes’ Kerne Teile einer Geschichte sind, die ihrerseits über diese hinweg verläuft. Umberto Eco verbindet die obigen Konzepte über räumlich organisierte ‚Szenographien‘298 (Wohnzimmer, Supermarkt). Funktional wirken jene dabei aufgrund der ihnen eingeschriebenen Handlungsmöglichkeiten, die für ein Subjekt toposartig komplexitätsreduzierende wie handlungsermächtigende Aufgaben wahrnehmen. Zudem bezeichnen die Szenographien „kondensierte Geschichten“299 und sind folglich auch eine stoffliche Kategorie. Wie Eco führt auch Hartmut Bleumer Stoff und

|| 294 Ebd., S. 23. 295 Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, S. 112. 296 Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 112–122. 297 Barthes’ Kerne erinnern in ihrer Funktionsbasierung an die Arbeiten Vladimir Propps, wobei die Unterscheidung in Scharnier- und Füllfunktionen durch den ersteren sogar einen der Hauptkritikpunkte am morphologischen Versuch des letzteren beseitigt: die nur vermeintliche Gleichwertigkeit der 31 Propp’schen Funktionen. Vgl. im Einzelnen das Original bei Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher. Frankfurt am Main 1975 (stw. 131) sowie die Kritik etwa bei Claude Lévi-Strauss. Dieser wirft Propp beispielsweise vor, dass die von ihm aufgestellten Grundfunktionen des Zaubermärchens in ihrer Abstraktion auf halbem Wege stehen geblieben sind und noch weiter vereinfacht werden können. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die Struktur und die Form. Reflexionen über ein Werk von Vladimir Propp. In: Morphologie des Märchens, hrsg. von Eimermacher, S. 181–214, hier S. 204f. Allerdings muss man auch darauf hinweisen, dass das andere Extrem der äußersten Reduktion der Funktionen nicht zielführend ist; so vorgenommen von Claude Bremond, der als triadische Grundsequenz einer jeden Erzählung die Struktur aus Ursprung, Entwicklung und Lösung eines Problems ansieht. Vgl. Claude Bremond: Die Erzählnachricht. In: Literaturwissenschaft und Linguistik III, hrsg. von Ihwe, S. 177–217, hier S. 201f. 298 Vgl. hier und im Folgenden Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1990 (dtv. 30141), S. 98–101. 299 Ebd., S. 100.

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Funktion zusammen, indem er auf die metonymische Handlungsfunktion hinweist, die den Erzählkernen neben ihrer evidenten Eigenschaft als metaphorische Sinnkomponenten innewohnt.300 Keine der vier vorgestellten Positionen lässt sich jedoch restlos an die obige Beschreibung der Metapher als Erzählkern anschließen, weil diese weder die Anknüpfung einer Vielzahl von Geschichten meinte (Müller) noch den Sequenzabschnitt einer solchen (Barthes). Auch die räumlich verfasste Festschreibung von Handlungsoptionen (Eco) war nicht der Fokus dieser Metaphernauffassung und ebenso wenig die These Bleumers, obwohl sie in diese noch am besten einzufügen wäre. Denn durch das mit der Metapher aufgerufene Bild des Löwen Achill oder der sirenenartigen Isolde induziert jene in der Imagination des Wahrnehmenden ein Geschehen, das nicht im Einzelnen und Stück für Stück auserzählt wird, sich aber sowohl in eine metonymische Handlungsfolge einfügen als auch auf weiterführende Sinnkomponenten verweisen kann. Dieses knappe Geschehen der sirenenhaften Isolde, deren betörender Sang ihr Publikum ebenso fasziniert wie unfähig macht, sich dem drohenden Unheil zu entziehen, wird durch die Metapher angestoßen und wirkt sich auf den Lesefluss sowie das weitere Erleben der erzählten Welt durch den Rezipienten auch dann aus, wenn es sich als Sinnangebot ‚nur‘ in der Imagination des letzteren entfaltet. Den praktischen Unterschied zwischen Metapher und Topos sowie den enthaltenen Erzählkernen kann ein Beispiel demonstrieren: Spricht Wolframs Sîne klâwen (MF 4,8) vom aufziehenden Tag, so nutzt es einen – wahrscheinlich den – Topos des Tagelieds. Schreibt das Lied dem dämmernden Tag jedoch Klauen zu, die dieser durch die Wolken schlägt, dann erhält der bekannte Topos ‚Tagesanbruch‘ zusätzlich eine metaphorische Ebene, die den Rezipienten Altbekanntes anders, neu und tiefer sehen lässt: Der Tag gewinnt eine animalische, gar dämonische Qualität, die zum einen über das hinausgeht, was der Wahrnehmende selbst tagtäglich erlebt. Und zum anderen behauptet die Metapher auch eine ‚Wahrheit‘ eingefangen zu haben, nämlich was der Tagesanbruch für die Protagonisten des Tagelieds ‚wirklich‘ ist, was er bedeutet. Während der Topos lediglich einen Rezeptionsmodus aufruft, in dem ein durch Konvention und Texttradition angesammelter Vorrat assoziierter Themen und Motive bereitliegt,301 um im Laufe des folgenden Liedes abgeschritten zu werden – wobei die gekonnte Mischung aus Bedienen und Hintergehen der Erwartung zum ästhetischen Genuss des Liedes beiträgt –, bewirkt die Metapher etwas Anderes,

|| 300 Vgl. hier und im Folgenden Bleumer, Historische Narratologie, S. 229 u. 250. 301 Im Tagelied können dies beispielsweise das Paar in der Kemenate, der Wächter auf der Zinne, urloup, klage und Abschied sein.

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Tiefschürfenderes: Nach der obigen Minimaldefinition Schmids302 können der topisch vertraute Tagesanbruch und die bedrohliche Bestie, die ersterem ihre Klauen metaphorisch spendet, als Anfang und Ende einer Geschichte verstanden werden, deren verbindendes Element die Metapher bildet, indem sie paradoxerweise Identität behauptet (‚der Tag ist ein Monster‘), dabei aber die Differenz ihrer beiden Teile nicht austilgt. Diese metaphorische Narration läuft neben und jenseits der auf histoire-Ebene des Liedes stattfindenden ab, in der zusätzlich der Prozess des Tagwerdens und somit des durch die Wolken Schlagens der metaphorischen Klauen geschildert wird. Somit wird der Tag Protagonist seiner – zugegeben miniaturhaften – Geschichte, die hinreichend eigenständig gegenüber der Haupthandlung des Liedes ist, sich aber nicht vollständig von ihr löst. Stattdessen bietet sie sich dem Rezipienten assoziativ als parallele – nach Bleumer und Emmelius303 senkrecht zu ihr stehende – Nebenerzählung an, die nicht weiterverfolgt wird. Diese Figur der neben der Hauptgeschichte verschwindenden, miniaturhaften Nebengeschichte ähnelt der von Armin Schulz im Rückgriff auf Jan-Dirk Müllers Höfische Kompromisse beschriebenen ‚abgewiesenen Alternative‘, die ersterer als Spezifikum des mittelalterlichen Erzählens begreift.304 Folgt man dessen Deutung, so lässt sich neben Hübners Romanperspektiven ein weiteres Argument für die Berechtigung entsprechender Lesarten der Metapher in mediävistischen Kontexten finden.

|| 302 Wolf Schmid gibt in seinen Elementen der Narratologie als Minimalbedingungen für Narrativität das Vorhandensein zweier voneinander geschiedener Zustände (Anfangszustand und Endzustand) sowie ein diese beiden Zustände vereinendes Bezugsobjekt (beispielsweise einen Helden) an. Es kann also stets nur um eine Veränderung eines Zustands in einem Moment gehen, Verbindendes muss ebenso wie Trennendes vorhanden sein. Wesentlich bekannter ist jedoch Schmids Vier-Ebenen-Modell, mit dem er den Weg vom Geschehen zur Geschichte beleuchtet. Demzufolge wird aus dem ursprünglichen ‚Geschehen‘ durch Auswahl signifikanter Eck- und Wendepunkte gegenüber als unwichtig ausgeschiedener Umstände die ‚Geschichte‘. Indem diese Handlungspunkte in eine kompositorisch organisierte Form gebracht werden, wird die Geschichte zur ‚Erzählung‘. Schließlich kleidet die ‚Präsentation‘ die Erzählung in konkrete Worte und Sätze (Verbalisierung), was umgangssprachlich als Geschichte bezeichnet werden würde. Aufgrund dieser Überschneidung der Begriffe aus umgangssprachlichem und begrifflich gefestigtem Bereich birgt Schmids Modell neben seiner narratologischen Fruchtbarkeit auch ein gewisses Gefahrenpotential. Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 4, 245 u. 256. 303 Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 22. 304 Vgl. im Einzelnen Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun [u. a.]. Berlin 2015, hier S. 348–353 sowie weiterführend dazu Christine Putzo: Alteritäre Narratologie. Eine Einführung in mittelalterliches Erzählen als Beitrag zur mediävistischen Perspektivierung der Erzähltheorie. Rezension zu Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. In: Diegesis 3 (2014), S. 104–116. Müller, Höfische Kompromisse, S. 43. Zur Kritik Ursula Peters: Philologie und Texthermeneutik. Aktuelle Forschungsperspektiven in der Mediävistik. In: IASL 36 (2011), S. 251–282, hier S. 274–276.

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Mit den besprochenen Konzepten kann nun einerseits eine zeitlich gestaffelte Entwicklung der Liedhandlung beschrieben werden (histoire), andererseits die Bezugnahme verschiedener Lieder untereinander durch Topoi (discours), die mit Hühn und Schönert lyrisch-narrativ lesbar ist, und zudem mit den Metaphern (discours) auch jene Phänomene, die lyrische Werke häufig so rätselhaft wie ansprechend wirken lassen. Noch nicht eingefangen sind damit Beziehungsmuster, die das sich äußernde Ich oder eine andere Figur zu Figuren einer dritten Partei oder Transzendenz unterhält. Damit – und mit eventuell thematisierten Bereichen der diegetischen Welt wie Kemenate, Naturraum oder Heiligem Land – wendet sich der Fokus des Folgenden nochmals der histoire-Ebene zu, diesmal jedoch räumlich fundiert. Weil es anhand der obigen Ausführung zum Topos und der Tendenz der Lyrik zu Verrätselung und Abstraktion naheliegend ist, auch auf diesem Gebiet tieferliegende Semantiken zu vermuten, soll mit der Diagrammatik ein kulturtheoretisches Instrumentarium eingebunden werden, das sich auf räumliche Anordnungen spezialisiert hat.

1.3.4 Die Diagrammatik und ihr Verhältnis zur Erzählung In ihrer einschlägigen Einführung beschreiben Matthias Bauer und Christoph Ernst die Diagrammatik als Regelwerk der Schaubilder, auf dessen Basis die Fähigkeit zum anschaulichen Denken mit Bildentwürfen gefördert wird.305 Daraus folgt einerseits, dass Diagramme wie Metaphern zuvor an der Schnittstelle von Wahrnehmung und Imagination operieren. Andererseits geht die These Bauers und Ernsts jedoch insofern über das bisher betrachtete Untersuchungsfeld hinaus, als dass sie jede Form des Schlussfolgerns und damit des Erkenntnisgewinns auf die Beobachtung und Bewertung von Beziehungen zurückführt und durch eine besondere Dynamik der in Bildform gefassten Hypothesenbildung, -prüfung und -neustrukturierung geprägt betrachtet (diagrammatic reasoning306). Im Zuge dieses Prozesses entstehen demnach Diagramme als Karten, Pläne, Schemata, Sprachfiguren, Spiele, Gemälde, Filme oder Musik, deren Charakteristikum die Umformung eines komplexen Sachverhalts in eine auf graphischen Mitteln basierende Form ist. Diese kann sich sodann aufgrund der funktional maßgeblich visuellen Komponente frei über Kultur-307 und Gattungsgrenzen hinwegsetzen und situiert sich implizit in der Nähe der schöpfenden Metapher, denn in der Bewegung aus

|| 305 Vgl. hier und im Folgenden Bauer, Ernst, Diagrammatik, S. 10–16. 306 Diese Begriffsprägung stammt von Charles Sanders Peirce, den Bauer und Ernst als theoretische Vorlage nutzen. Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 18–28. Vgl. das Original bei Charles Sanders Peirce: Collected Papers. Hrsg. von Charles Hartshorne, Paul Weiss. 8 Bde. Cambridge 1931–1958 sowie ders.: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt am Main 1983 (stw. 425). 307 Vgl. Bauer, Ernst, Diagrammatik, S. 36–40.

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Bildung, Prüfung und Umstrukturierung der graphischen These wird ebenfalls Wissen neu geschaffen. Die Liste der Ähnlichkeiten zur Metapher lässt sich fortsetzen: Beide nehmen einen Hybridstatus zwischen den Medien Bild und Schrift ein, durch deren Verbindung die epistemologische Einzelleistung des jeweiligen Mediums überstiegen wird.308 Weiterhin lässt sich die visuelle Komprimierung beider Phänomene im Falle einer sprachlich paraphrasierenden Ausformulierung nur unzureichend wiedergeben.309 Drittens weisen beide im Zuge der Hypothesenbildung durch Bilder, Zahlen und Sprache ein gleichermaßen ‚ästhetikologisches‘310 Potential auf und viertens beanspruchen sie eine „entwerfende Ähnlichkeit“311 zu ihrem Bezugsgegenstand, die die Autoren folgendermaßen beschreiben: Das Bild-Ikon (image) repräsentiert sein Bezugsobjekt durch einfache Qualitäten wie gleiche Farben und Formen. Das Diagramm abstrahiert von solchen Qualitäten und repräsentiert analoge Relationen und/oder Proportionen des Bezugsobjektes. Die Metapher schließlich repräsentiert ein Bezugsobjekt, indem sie eine Ähnlichkeit dieses Objektes zu einem anderen Objekt herstellt. Bild, Diagramm und Metapher sind gleichsam graduelle Abstufungen im Maßstab der Schlussregel des von ihnen jeweils konstruierten Ähnlichkeitsverhältnisses. Das Diagramm zeichnet sich in dieser Dreiteilung dadurch aus, dass es nur die Grundrelation bzw. Proportion seines Gegenstandes darstellt.312

Obwohl diagrammatischen Schlussfolgerungen laut Charles Sanders Peirce immer auch eine praktische Relevanz innewohnt, räumen Bauer und Ernst ein nicht zwingend auch gegebenes Zutreffen diagrammatisch schlüssiger Thesen in der Wirklichkeit ein. Mit der Suggestivkraft des Schlusses ist hier sowohl eine weitere, wesentliche Gemeinsamkeit mit der Metapher benannt als auch der Charakter der Diagrammatik als „Grammatik der Gedankenexperimente“313 umrissen. In Anbetracht des gemeinsamen Urteils über Diagramm und Topos, eine Naturform des menschlichen Denkens zu bilden,314 ist es wenig überraschend, auch zwischen diesen beiden Konzepten Schnittmengen zu finden: zum einen in einer mit zunehmender Habitualisierung steigenden Option der Diagramme auf einen topischen Charakter, zum anderen in einer diagrammatisch organisierten Unterkategorie des Topos (Herzenstausch315), zum dritten in der Kompetenz des Rezipienten, Diagramme zu erzeugen und zu behandeln. || 308 Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 28–40. 309 Vgl. ebd., S. 40–64. 310 Vgl. ebd., S. 46. 311 Ebd., S. 44. 312 Ebd., S. 43. Kursivsetzung im Original. 313 Ebd., S. 49. 314 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 686. 315 Dass es sich gerade beim Herzenstausch um einen Minnetopos handelt, der zudem auch noch auf metaphorischer Ebene operiert, also dem Problem der zeitlichen Trennung des Paares durch einen Austausch der Herzen eine Lösung auf uneigentlicher Ebene anbietet, erhellt das zu

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Denn diese ist ähnlich wie die Funktionalität des Topos als kulturelle Praxis zu erlernen. Ein recht eindeutiger Unterschied liegt schließlich in Bornscheuers Toposkategorie der Symbolizität, die im Widerspruch zum Befund Bauers und Ernsts steht, das Diagramm operiere dezidiert ikonisch statt symbolisch.316 Anhand der umfassenden Gemeinsamkeiten zwischen Metapher und Diagramm wäre anzunehmen, dass das Diagramm einen ähnlichen narrativen Status genießt, doch gerade der gerichtete Bezug des Einen auf das Andere fehlt im Diagramm, weil dieses weit komplexere Inhalte verarbeitet, deren Beziehungen untereinander in eine lineare Narration auszufalten zugleich bedeuten würde, das Gesamtgebilde aus der Balance zu bringen oder gar aufzulösen. Dazu mag wiederum ein Beispiel hilfreich sein. Im bereits angesprochenen Tagelied Wolframs Sîne klâwen situieren sich die verschiedenen Äußerungsinstanzen des Liedes in unterschiedlichen Raumbereichen. Der Wächter, dessen Beschreibung des aufziehenden Tages den Anfang des Liedes markiert, befindet sich an einem Ort, von dem aus er das Morgengrauen sehen und melden kann. Mit Blick auf andere Beispiele des Gattungstyps lässt sich dieser als Zinne annehmen, wie in Wolframs Von der zinnen (MF 6,10), Ottos von Botenlauben Wie sol ich den ritter nu gescheiden (KLD 41 XIII), Ulrichs von Liechtenstein Ein schoeniu maget (KLD 58 XL) etc. Demgegenüber hält sich die Dame, die dem Wächtergesang in Sîne klâwen wie auch zahlreichen anderen Vertretern des Tagelieds antwortet, typuskonform noch in erfüllter Heimlichkeit mit ihrem Geliebten auf; prototypisch in einer Kemenate. Nimmt man nun als dritte Raumposition noch den Bereich außerhalb der Burgmauer hinzu, deren oberen Abschluss die Zinne bildet, ergibt sich eine trianguläre Struktur, die als Diagramm im Sinne Bauers und Ernsts lesbar ist.317 Beispiele für einen solchen Bezug auf einen äußeren, unteren Raummarker finden sich einerseits in allen Hinweisen auf den heraufziehenden Tag, der zunächst schließlich allem Anschein nach ebenerdig anbricht, und andererseits teils auch durch Figurenpositionen umgesetzt. So wird in Ez gienc ein juncfrou minneclîch des Burggrafen von Lienz (KLD 36 I) durch einen vor die Tageliedhandlung geschalteten serena-Teil der Einzug des Geliebten in den Innenraum mitreflektiert.

|| beschreibende Phänomen diagrammatischer Topoi möglicherweise unzureichend. Lotmans Sujet etwa ließe sich als Beispiel für einen diagrammatischen Topos fassen, ohne dabei auf eine metaphorische Ebene angewiesen zu sein. Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 330–332. 316 Vgl. Bauer, Ernst, Diagrammatik, S. 41–43. 317 Vgl. Diana Roever: Auf der Zinne. Zur Diagrammatik eines Topos der mittelhochdeutschen Lyrik. Erscheint im Sammelband zur Tagung Raum und Zeit im Minnesang vom 24.–26. Februar 2016.

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Abb. 1: Abstrahierte Form der triangulären Zinnenstruktur

An dem derart gestalteten Zinnendreieck partizipieren nicht nur Dichtungen vom Typ Tagelied, aber gleich aus welchem Bereich der mittelhochdeutschen Dichtung sich die Anwendungsbeispiele speisen,318 der Status der triangulären Struktur, die sich ihnen einschreiben lässt, ist kein narrativer.319 Denn das charakteristische Konzept || 318 Neben den angesprochenen Bereichen der Lyrik finden sich ebenfalls Thematisierungen in Romanen und heldenepischen Texten. Vgl. etwa Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. germ. 147. Teil 1. Hrsg. von Reinhold Kluge. Berlin 1948 (Deutsche Texte des Mittelalters. 42), S. 165. Vgl. außerdem Ortnit. In: Deutsches Heldenbuch. Teil 3: Ortnit und die Wolfdietriche. Teil 1. Nach Müllenhoffs Vorarbeiten hrsg. von Arthur Amelung, Oskar Jänicke. Berlin 1871, S. 3–77, hier S. 5 (Str. 19). Insgesamt beläuft sich die Menge der Belegstellen auf über dreihundert. Vgl. nochmals Roever, Auf der Zinne. 319 Henrike Manuwald geht so weit, von einem Widerspruch der diagrammatischen und narrativen Logik zu sprechen. Vgl. Henrike Manuwald: Die ‚Einhornjagd im hortus conclusus‘. Ein marianisches Bildmotiv zwischen Narrativierung und Diagrammatisierung. In: LiLi 176 (2014), S. 127–148, hier S. 130. Eine gegenteilige Auffassung vertritt Matthias Bauer, wonach das Diagramm ein übergeordneter Begriff ist, dessen Umriss sich aus dem Vergleich verschiedenster Narrationen ergibt. Vgl. Matthias Bauer: Plot, Master-Plot, and related Matters. Überlegungen zu einer Diagrammatik der Narration. In: LiLi 176 (2014), S. 31–50, hier S. 34. Dabei lassen sich beide Standpunkte insofern vereinen, als dass Diagramm und Narration unterschiedlichen Funktionsweisen folgen, diese wiederum jedoch nicht ohne Beziehung zueinander sind. Ähnlich äußert sich auch Christine Putzo, die hingegen im Einzelnen bei der Diagrammatik von einer räumlich vernetzten statt der üblichen, sequenziellen Erzählstruktur spricht. Vgl. Christine Putzo: Narration und Diagrammatik. Eine Vorüberlegung und sieben Thesen. In: LiLi 176 (2014), S. 77–92, hier S. 80. Eckart Conrad Lutz betrachtet das Diagramm

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der Diagrammatik ist es, komplexe und mehrfach vernetzte Zusammenhänge in eine übergeordnete, leicht imaginierbare Abstraktion zu überführen. Narration verfährt demgegenüber konkretisierend, sodass sich von einer gemeinsamen Arbeit beider Mechanismen, des diagrammatischen und des narrativen, ausgehen lässt, die einander jedoch nicht im Modus der Umsetzung, sondern nur im Ziel ihrer Bemühung ähneln: Komplexitätsreduktion und Handlungsermächtigung. Demnach kann ein Diagramm verschiedene Narrationen enthalten, die ersterem gegenüber seiner zweidimensionalen Graphik interpretierend Mehrdimensionalität verleihen, wie Bleumer vorschlägt.320 Der einzelne Textbeleg wirkt somit in seiner Narration als Umsetzung und Bearbeitung321 des übergeordneten Diagramms, auf das er zurückführt,322 wenn zumeist auch mehrere Texte nötig sind, um das zugrunde liegende Diagramm vollständig zu extrapolieren. Die praktische Relevanz der diagrammatischen Konfigurationen, von der Peirce spricht, muss dabei nicht nur für jedes Diagramm einzeln bestimmt werden, sondern im Grunde auch für jede Anwendung eines Diagramms. Denn – um einmal beim vorgeführten Beispiel der Zinne zu bleiben – eine Funktionalisierung des Dreiecks, bei der eine minnenswerte Dame (MF 8,1) oder ein Fürst323 auf der Zinne agieren, lässt andere abstrakte Konzepte vermuten als die Verschiebung eines Minnepaars vom Naturraum außen über die Kemenate innen bis hinauf auf die Zinne (MF 139,19) oder die Rolle, die die Zinne bei der Aufnahme der Minnebeziehung in der Kudrun spielt.

|| ebenfalls als Medium der Strukturierung narrativer Zusammenhänge, nicht aber selbst als narrativ. Vgl. Eckart Conrad Lutz: Diagramm, Diagrammatik und diagrammatisches Denken. In: Diagramm und Text. Diagrammatische Strukturen und die Dynamisierung von Wissen und Erfahrung. Übersdorfer Colloquium 2012. Hrsg. von ders. [u. a.]. Wiesbaden 2014, S. 9–22, hier S. 14. 320 Vgl. Bleumer, Diagramm und Dimension, S. 98. Abweichend als untergeordnete Konstituenten einer Narrativität fasst Christine Putzo die Diagramme auf. Vgl. Christine Putzo: Narrative Diagrammatik. Mit einer Modellanalyse: Die Diagrammatik des Decameron. In: Diagramm und Text, hrsg. von Lutz [u. a.], S. 413–450, hier S. 416 u. 428. 321 Vgl. Sybille Krämer: Zur Grammatik der Diagrammatik. Eine Annäherung an die Grundlagen des Diagrammgebrauches. In: LiLi 176 (2014), S. 11–30, hier S. 11. 322 Vgl. Kathrin Müller: Irritierende Variabilität. Die mittelalterliche Reproduktion von Wissen im Diagramm. In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Britta Bußmann [u. a.]. Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology. 5), S. 415–436, hier S. 421. 323 Vgl. Konrad von Würzburg: Engelhart. Hrsg. von Ingo Reiffenstein. Tübingen 1982 (ATB. 17), V. 4 276–4 291.

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Abb. 2: Konkrete Füllung der triangulären Zinnenstruktur (Ez gienc ein juncfrou minneclîch)

Es ist zu erwarten, dass auch die genannten Beziehungsstrukturen zur Transzendenzebene, der huote, den Neidern und Ähnlichem im einzelnen Lied nur ähnlich fragmentarisch beleuchtet werden wie das Zinnendreieck, obwohl eine umfassendere, diagrammatische Struktur ihr Fundament bilden mag. Doch da das Diagramm in diesem Sinne eine ähnliche Kategorie ausfüllt wie Müllers Erzählkerne zuvor, ist seine Erkenntnis nur insofern von Interesse, als dass sich einerseits so die an es angelagerten Narrationen aufspüren lassen. Und andererseits können wiederum die unterschiedlichen Bezugnahmen auf ein und dieselbe diagrammatische Struktur im imaginären Hintergrund der Lieder als lyrisch-narrative Bezüge nach Vorbild der Topoi gelesen werden, die Bezüge zwischen den einzelnen Liedern herstellen. Doch das Diagramm selbst ist und bleibt nicht-narrativ.

1.4 Zusammenfassung Dieser erste Teil der Untersuchung wollte im Vorfeld der folgenden Analysen die für sie wesentlichen Begriffe Gattung, Lyrik, Lyrisches Ich, Minnesang, Narrativität, Topos, Metapher, Erzählkern und Diagramm beleuchten sowie ihre jeweils zugehörigen Forschungstraditionen umreißen. Dabei zeichneten sich im Wesentlichen drei thematische Verdichtungen schwerpunktartig ab: Zum einen der Komplex um Gattung, Lyrik und Lyrisches Ich, in Bezug auf den dargelegt wurde, dass es nicht nur konstruktiver ist, bei literatur- und kulturwissenschaftlichen Themen auf prototypische Definitionen zurückzugreifen, sondern dass diese Praxis auch bereits als weitverbreitet gelten kann.

Zusammenfassung | 89

Daraus ergaben sich verschiedene Mehrkomponentenmodelle, die im Vergleich miteinander zum kleinsten gemeinsamen Nenner des Lyrischen die Kernmerkmale Kürze, Selbstreferenz und Devianz erklärten, weitere Merkmale wie etwa zum einen Artifizialität bzw. Versform, zum zweiten Subjektivität bzw. die Schilderung eines einzelnen, ungefilterten Bewusstseins oder zum dritten Musik bzw. ein akustisches Potential der Texte jedoch locker beiordneten. Konträre Auffassungen zeigten sich nur in einem Punkt, denn wo Müller-Zettelmann von der Ikonizität der Lyrik als der besonderen Neigung sprach, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den geschilderten Phänomenen oder zwischen diesen Phänomenen und dem lyrischen Klangausdruck zu postulieren,324 da ging Wolf gerade vom Zurücktreten des Wahrgenommenen hinter die Wahrnehmung und daraus folgend der Unwichtigkeit von Handlung aus. Dieser Handlungsarmut hat sich die narratologische Lyrikanalyse ausgehend von Hühn und Schönert entgegengestellt, deren Ansätze zur Beschreibung spezifisch lyrischer Narration sich jedoch nicht als erschöpfend zeigten. Als zweiter Schwerpunkt kristallisierte sich die speziell mediävistische Wendung des Felds in Gestalt der Minnesangforschung und besonders deren narratologischem Zweig heraus. Sie scheint sich über Thesen wie die schwebende Selbstzuschreibung einer Geschichte durch das Lyrische Ich, die sodann nicht auf der histoire-Ebene, sondern im Diskurs emergiert,325 eine diffizilere Vorstellung lyrischer Narration zu eigen gemacht zu haben als Hühn und Schönert. Hier liegt über die Frage, ob diese durch Bleumer und Emmelius beobachtete Form der narrativen Tendenz lyrischer Texte die einzig mögliche sei, der Anknüpfungspunkt zum dritten Themenfeld der geschilderten Phänomene, in dem auf einer zunächst theoretischen Ebene der Möglichkeit eines narrativen Potentials von Topos, Metapher und Diagramm nachgegangen wurde, wobei sich die Metapher als interessantester Untersuchungsgegenstand herausstellte. Ihr zwei Zustände oszillierend aufeinander abbildender Mechanismus konnte über die Umdeutung im Sinne eines Anfangs- und Endzustands, wie Schmid dies als Minimaldefinition einer Geschichte festgeschrieben hatte, als ein ansatzartig narrativer gekennzeichnet werden, der auf einer anderen Ebene als der der histoire agiert: Ihre als narrativ zu bezeichnenden Bezugnahmen richten sich nicht auf eine erwartbare Zustandsänderung innerhalb der Lieddiegese, wie sie etwa im Verlieben des Ichs oder dem tageliedtypischen Scheiden des Ritters von seiner Geliebten zu erblicken ist. Stattdessen bildet der metaphorische Mechanismus senkrecht von der Diegese abzweigende, alternative, aber nicht weiterverfolgte narrative Verläufe oder auch Kleinstgeschichten aus. In deren Eigenschaft, nicht im Einzelnen auserzählt, sondern durch den Rezipienten lediglich mitgesehen zu werden und durch die erzeugten Anklänge dessen

|| 324 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik, S. 93. 325 Vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 14–16.

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Rezeptionsvorgang des lyrischen Hauptwerks zu prägen, lag zudem eine Gemeinsamkeit zu verschiedenen anderen narrativen Bezugnahmen, die sich durch ein angedeutetes Davor und Danach der histoire-Ebene oder durch Muster der Topik im discours zeigten. Der abschließende Bogen zurück auf die histoire und ihre Räume bzw. Beziehungsstrukturen verdeutlichte jedoch, dass keineswegs jeder Zusammenhang im und um den lyrischen Text auch umgehend narrativ lesbar ist, sieht man von topischen Möglichkeiten ab. Der Raum allein, ob Zinne, Kemenate oder locus amoenus, vermag narrativ noch nichts und auch diagrammatische Konfigurationen sind als graphisch abstrahierte Problemkondensate keine Narrationen, sondern bilden vielmehr eine Option, Narrationen zu deuten.

2 Darstellung verschiedener Narrationsansätze am Beispiel der Minnelyrik des 12. bis 14. Jahrhunderts Im Folgenden sollen die anhand der theoretischen Fundierung herausgebildeten Thesen in zwei grundsätzlich unterschiedlichen Bereichen überprüft und belegt werden, wobei wie auch schon im Vorangegangenen der Fokus teils verstärkt auf die histoire, teils mehr auf den discours gerichtet wird. Der erste Abschnitt widmet sich dazu verschiedenen Minnetugenden und -werten, deren Bedeutung für die narrative Kompetenz der Minnelieder vom 12. bis zum 14. Jahrhundert herauszuarbeiten ist. Die Frage nach der Funktion der Tugenden für die lyrische Semantik stellt sich dann neu, wenn man sie narratologisch wendet. Im Erzählen gehören Tugenden in den Bereich der narrativen Axiologie, die erzähltheoretisch bekanntlich als prekär gilt, weil sie etwas Zirkuläres hat. Denn einerseits setzen Erzählungen Normen und Werte voraus, andererseits scheinen sie diese aber auch hervorzubringen. Ausgehend vom Strukturalismus hat das einerseits zu dem Lösungsangebot geführt, zwischen verschiedenen Typen von Werten zu unterscheiden, von denen die einen wie Objekte zirkulieren oder hinzugewonnen werden können, andere aber als ‚transzendente Werte‘ gleichsam in einem Akt hermeneutischer Sinnstiftung gespendet und vermehrt werden.1 Andererseits wurde aber auch vorgeschlagen, die damit einhergehende semantische Paradoxie pragmatisch zu umgehen, indem das Erzählen als Übungspraxis einer kalkulativ-normativen Tugendethik aufgefasst wurde.2 Im Bereich der lyrischen Kompositionsformen erweist sich dagegen, dass beide Ansätze über eine Topik zusammengefasst werden müssen, weil diese im Rahmen des sog. ‚höfischen Wertesystems‘, das der Minnesang performativ praktiziert, weder

|| 1 Vgl. dazu initial Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971 (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie. 4) sowie außerdem historisch-narratologisch Bleumer, Historische Narratologie, bes. S. 217–225, dort mit umfangreicher weiterführender Literatur. Insbesondere die romanistische Grundlagenskizze bei Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identität, hrsg. von Marquard, Stierle, S. 553–589, der der Entwurf einer vollständigen, historisch angepassten strukturalen Narratologie gelingt und die dabei sowohl die histoire- als auch die discours-Ebene einbezieht, verdient Aufmerksamkeit. Germanistisch-mediävistischen Ausdruck findet diese beispielsweise in der nachhaltigen Bezugnahme bei Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990 (Epistemata. 61). 2 Vgl. Gert Hübner: Erzählung und praktischer Sinn. Heinrich Wittenwilers ‚Ring‘ als Gegenstand einer praxeologischen Narratologie. In: Poetica 42 (2011), S. 215–242. Ders.: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175–206. https://doi.org/10.1515/9783110684360-003

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neu gewonnen noch kalkuliert aus praktischen Erwägungen eingeübt werden. Vielmehr werden jene Topoi in anschaulicher Bildlichkeit vergegenwärtigt. Diese Praxis führt zu Kreisfiguren, die logisch als zirkulär erscheinen, aber gerade darin gleichsam pararituell den Wert des Höfischen selbst beschwören. Über diesen Zirkel spielen verschiedene Tugenden im Wertesystem des Minnesangs eine entscheidende Rolle. Einige der relevantesten werden im Folgenden im Mittelpunkt stehen, wobei die sich anschließenden Ausführungen sowohl dazu dienen, die axiologischen Markierungen durch triuwe, staete, etc. in der Minnelyrik zu verdeutlichen als auch dazu, eine Kontrastfolie narrativer Lizenzen für die spätere Darstellung dreier beispielhaft ausgewählter Bildbereiche des Minnesangs zu entwickeln. Sowohl die Werte als auch die motivartigen Wendungen werden einerseits mit kurzen Blicken hinüber in das klassisch erzählende Genre abgegrenzt und andererseits im Sinne aussagekräftiger, doch nicht einzig möglicher Beispiele herangezogen. Das Ziel der Ausführungen kann an dieser Stelle nicht Vollständigkeit, sondern lediglich Belastbarkeit der Aussagekraft sein. Daher bemüht sich die Darstellung nicht nur um die beschriebenen Stellen jenseits der Lyrik, sondern auch um eine möglichst breite Streuung der lyrischen Belege im fraglichen Zeitraum: Meinloh und Dietmar, Walther und Reinmar, Neidhart und der wilde Alexander sollen nach Möglichkeit gleichermaßen zu Wort kommen. Dennoch möchte die Art der Darstellung nicht den Eindruck vermitteln, es könne eine stringente Entwicklungslinie der Wert- und Bildinventare um 1150 bis 1400 gezogen werden. Es geht vielmehr darum, die Vielfalt der möglichen Funktionalisierungen und deren Verwandtschaftsbeziehungen zu beleuchten – fraglos entwickelt sich dabei das Spätere aus dem Früheren, aber teils finden spätere Aktualisierungen auch nur schwächere Ausdrucksweisen, teils werden vielversprechende Prägungen früherer Vertreter durch die Nachfolgenden nicht aufgegriffen und weiterentwickelt. Im Mittelpunkt steht also die semantisch, nicht die chronologisch orientierte Vernetzung des Aufgefundenen. Nachdem derart verstärkt die Narrationsansätze in Form von Bildern und Schlagworten eine Rolle gespielt haben, wird sich der nächste Abschnitt gesteigert den Prozessen der histoire-Ebene der Lieder zuwenden. Wie die einführenden Abschnitte zur lyrisch-narrativen Forschungsgeschichte zeigen konnten, hat die Untersuchung der mittelhochdeutschen Tagelieder in Hinblick auf ihre Narrativität eine lange Tradition. Eine Studie zur narrativen Lyrik auf mittelhochdeutschem Gebiet ist folglich ohne sie kaum denkbar. Mit den Kreuzliedern ist jedoch auf einen weiteren Subtyp hinzuweisen, dessen Grundidee sich ebenso ein Stück weit vom traditionellen Minnelied entfernt. Mit den geschichtlichen Einflüssen im Umfeld der Kreuzzüge, die teils motivlichen Eingang in die Lieder finden (vgl. Hartmanns berühmt-umstrittene Salatîn-Anspielung in MF 218,13), und der Grundaufgabe des sich äußernden Ichs der Kreuzlieder, sich in die Ferne des Heiligen Landes begeben und Heimat wie Minnebeziehung zurücklassen zu müssen, sind zwei Umstände benannt, mit denen für eine erwartbar intensivierte Narrativität der betreffenden Lieder argumentiert werden kann.

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Was im Zuge der Untersuchungsteile zu Kreuz- und Tagelied verdeutlicht werden wird, soll im Anschluss anhand eines Liedes, das nicht zum genre objectif gehört, mit der nicht per Definition erzählenden Minnesangtradition abgeglichen werden. Wie auch für das Tage- und Kreuzlied beschränkt sich die eingehende Analyse dabei vorrangig auf nur ein Liedbeispiel, das exemplarisch für die Vielzahl der Texte herangezogen wird, die sich zur Untersuchung angeboten hätten. Dieses Vorgehen mag zwar fragwürdig scheinen, weil sich so die Frage nach der Übertragbarkeit der Analyseergebnisse besonders nachdrücklich stellt, aber zum einen ist der Erzählcharakter des Tagelieds forschungsgeschichtlich bereits hinreichend dargelegt und zu anderen wird Teil 3 der vorliegenden Studie in der Darstellung der mittelhochdeutschen Kreuzlieder noch in die Breite gehen. Daher erhält im folgenden Teil 2 die ausführliche Betrachtung des prototypischen Vertreters vor der komprimierenden Bestandsaufnahme der Peripherien den Vorrang.

2.1 Tugenden und Werte – ausschließlich topisch? Verschiedene Tugenden spielen im Wertsystem des Minnesangs eine entscheidende Rolle, wie sich sowohl durch einen Blick in die Grundlagenliteratur3 als auch in die Primärtexte bestätigen lässt. Für die triuwe und zugehörige Wortbildungen wie getriuwe, untriuwe und Ähnliches finden sich allein in Des Minnesangs Frühling 96 Belegstellen, von denen fast die Hälfte auf das Œuvre Reinmars entfällt, nur die seltensten auf den Frühen Sang wie Dietmar von Eist, Kaiser Heinrich etc. Sie lassen sich in einem zweiten Schritt in unterschiedliche Gruppen gliedern. Gemeinsam ist ihnen zwar grundsätzlich, dass das jeweils sich äußernde Ich die triuwe als positive Eigenschaft auffasst, die dem auf die richtige Art und Weise Minnenden – besonders natürlich ihm selbst4 – zukommt, die detaillierte Ausrichtung variiert jedoch. Verwendungskategorie eins verhält sich affirmativ zum Frauendienst, wenn das sich äußernde Ich auch nicht zwingend davon profitiert, wie Hartmann von Aue verdeutlicht: Diu nôt von mînen triuwen kumt. / ich enweiz, ob sî der sêle iht vrumt: / sine gît dem lîbe lônes mê / wan trûren den vil langen tac (MF 214,23). Diese Haltung ist typisch für das Ich, das im Dienst für seine Minneherrin zwar treu,5 aber ungelohnt

|| 3 Vgl. Günther Schweikle: Minnesang. Stuttgart 1995 (Sammlung Metzler. 244), S. 206–211. 4 Vgl. beispielsweise Owê! wie sol ez armen dir [dem Herzen, D.R.] ergân? / wie getorstest du eine an solhe nôt ernenden? / wer sol dir dîne sorge helfen enden / mit triuwen, als ich hân getân?; Friedrich von Hausen (MF 47,25). Swer mit triuwen umbe ein wîp / wirbet, als noch maniger tuot, / waz schadet der sêle ein werder lîp? / ich swüere wol, ez waere guot; Engelhart von Adelnburg (MF 148,25). 5 Damit ist die vollständige Bedeutungsmenge von triuwe nicht umrissen, vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von BMZ. Stuttgart 1979 (= Leipzig 1879), Sp. 1520. Dennoch eignen sich ‚Treue‘ bzw. ‚Versprechen‘ als Arbeitsübersetzung zunächst.

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verharrt, worin wie bei Heinrich von Rugge auch eine Bewährungsaufgabe erblickt werden kann: mîn herze ist ir mit triuwen bî; / vreisch aber ez diu schoene, daz ez mit valsche sî, / sô laze sî mich iemer mêre vrî (MF 110,17). Neben einer Funktion als Schlüssel zum Werbungserfolg bei der Dame ist die triuwe ebenfalls für das Prinzip der sittlichen Veredelung des Ritters durch den ungelohnten Frauendienst relevant; als Weg zur Aufwertung des Leibs und der Seele. So in einem Spruch Engelharts von Adelnburg: Swer mit triuwen umbe ein wîp / wirbet, als noch maniger tuot, / waz schadet der sêle ein werder lîp? / ich swüere wol, ez waere guot (MF 148,25). Neben diesen affirmativen Positionen zeigen sich als zweite Gruppe solche, die die in den bisherigen Beispielen artikulierte, uneingeschränkt positive Wertung scheinbar hinterfragen, im Endeffekt die zuvor ausgestellte Axiologie jedoch bestehen lassen. Entsprechend wird bei Hartmann formuliert: Ich was ungetriuwen ie gehaz: / nu wolte ich ungetriuwe sîn. / mir taete untriuwe verre baz, / danne daz mich diu triuwe mîn / Von ir niht scheiden liez, / diu mich ir dienen hiez (MF 207,35). Ein dritter Typus wendet die triuwe auf Beziehungen außerhalb der Minnebindung an, die dennoch durch ein starkes Vertrauensverhältnis oder eine ideelle Nähe gekennzeichnet sind. Friedrich von Hausen stellt ein Beispiel bereit, indem sein sich äußerndes Subjekt dem eigenen Herzen mit triuwen zugetan ist: Owê! wie sol ez armen dir [dem Herzen, D.R.] ergân? / wie getorstest du eine an solhe nôt ernenden? / wer sol dir dîne sorge helfen enden / mit triuwen, als ich hân getân? (MF 47,25). Eine solche Funktionalisierung der Tugend triuwe6 findet gerade innerhalb der vormodernen Romane und Erzählungen häufig Anwendung,7 was den universalen Wert der triuwe im

|| 6 BMZ gibt treue, zuverlässigkeit, aufrichtigkeit, wohlmeinenheit, Bd. 4, Sp. 107a. 7 So beziehen Alyze und Willehalm im gleichnamigen Roman Wolframs ihre triuwe in erster Linie auf Familie und Sippe (vgl. Willehalm, S. 164, V. 14–16; S. 166, V. 1–13), die als Erzähler fungierende Instanz expliziert im Prolog des Werks die triuwe nochmals deutlich als gerichtet sowohl auf Minnebindungen als auch auf familiäre Bande und drittens die hierarchische Loyalität im Verhältnis zwischen Vasall und Lehnsherr (vgl. Willehalm, S. 4, V. 25–29; S. 5, V. 15–24). Ähnlich im Tristan (V. 174– 186), wo die triuwe gar direkte Verbindungen zu den anderen Tugenden eingeht und somit tatsächlich als das Bindeglied zwischen jenen fungiert, das Schultz-Balluff vermutet. Vgl. hier und im Folgenden Simone Schulz-Balluff: triuwe. Verwendungsweisen und semantischer Gehalt im Mittelhochdeutschen. In: Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. 12. Symposium des Mediävistenverbandes vom 19. bis 22. März 2007 in Trier. Hrsg. von Gerhart Krieger. Berlin 2009, S. 271–294, hier S. 291. Vgl. auch jüngst dies.: Wissenswelt triuwe. Kollokationen – Semantisierung – Konzeptualisierung. Heidelberg 2018 (Germanistische Bibliothek. 59). Es muss folglich H.B. Wilson widersprochen werden, der die triuwe im Tristan ausschließlich im Zusammenhang mit Minne betrachtet. Vgl. H.B. Wilson: ‚senen‘ and ‚triuwe‘. Gottfried’s unfinished Tristan. In: Gottfried von Strassburg and the medieval Tristan legend. Papers from an Anglo-North American Symposium 24.–26. März 1986 in London. Hrsg. von Adrian Stevens, Roy Wisbey. London 1990 (Arthurian Studies. 23), S. 247–256, hier S. 247. Ähnlich ausschnitthaft konzentriert auf die Minnefunktion der triuwe geht Claudia Konetzke vor. Vgl. Claudia Konetzke: triuwe und melancholia. Ein neuer Annäherungsversuch an die Isolde-Weißhand-Episode des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Körperinszenierungen in der mittelalterlichen Literatur. Kolloquium am Zentrum für

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gattungsübergreifenden Tugendsystem der mittelalterlichen Dichtung bekräftigt. Dieser fundamentale Platz wird laut Joachim Bumke zwar nie systematisch expliziert, als Weiterentwicklung eines Fundus christlicher Gebote wie der constantia, temperantia etc. in poetischer Form aber dennoch bearbeitet.8 Dabei leistet die triuwe, deren Recht, Gesellschaft und Religion berührender Charakter9 laut Helga Albrand bis in die germanische Zeit zurückverfolgt werden kann,10 stabilisierende und strukturierende Dienste für das gesellschaftliche Leben. Grundlage dieser Ordnungsleistung ist die Etablierung ethisch-moralisch ausgerichteter Wertmaßstäbe.11 Folglich spielt die triuwe als zentraler Pfeiler des höfischen Wertesystems in der Dichtung des Mittelalters eine grundlegende Rolle und hat durchaus topische Wirkung, wenn sie zumeist gleich einen ganzen Katalog positiver Eigenschaften mit sich führt. Doch es fällt schwer, ihr darüber hinaus einen metaphorischen oder anderweitig narrativen Charakter zu bescheinigen. Als Tugend, die einer Figur oder Instanz zukommt oder mangelt, kaum aber je erworben oder verloren wird, verhält sie sich allzu statisch – womit nicht gesagt sein soll, die triuwe könnte keine Handlung anstoßen. Aber wenn das minnende Ich aufgrund seiner triuwe eine erzählbare Handlung unternimmt, ist dann die triuwe selbst narrativ?

|| interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld. 18. bis 20. März 1999. Hrsg. von Klaus Ridder, Otto Langer. Berlin 2002 (Körper – Zeichen – Kultur. 11), S. 117–138. Nochmals vergleichbar Robert D. King: ‚Triuwe‘ in Gottfried’s Tristan. In: CJL 17 (1972), S. 159–166. Zur Thematik der triuwe im Willehalm vgl. John Greenfield: ‚ir sît durh triuwe in dirre nôt‘. The Role of triuwe in Wolfram’s Willehalm. In: Wolfram’s ‚Willehalm‘. Fifteen Essays. Hrsg. von Martin H. Jones, Timothy McFarland. Rochester 2002, S. 61–76. 8 Vgl. hier und im Folgenden Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986 (dtv. 4442), S. 416–419. Demgegenüber ist Bumke zufolge Gustav Ehrismanns These unhaltbar, die mittelalterliche Ritterethik und damit auch der Wert der triuwe habe sich hauptsächlich aus der antiken Tugendlehre gespeist. 9 Vgl. Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München 1995, S. 211–215. 10 Vgl. Helga Albrand: Untersuchungen über Sinnbereich und Bedeutungsgeschichte von ahd. triuwa und mhd. triuwe bis einschließlich Hartmann von Aue. Diss. masch. Göttingen 1964, S. 253– 255. 11 Vgl. Schultz-Balluff, triuwe, S. 271–274 u. 283. An den Ausführungen Schultz-Balluffs fasziniert besonders die Akribie der Belegsammlung. So legt sie etwa dar, dass von den durch sie aufgefundenen Belegstellen nur 1,5% auf die Zeitspanne von 1070 bis 1150 entfallen und die Verwendung von dort an in Abschnitten von je 50 Jahren bis 1350 stetig zunimmt: von 3,5% zwischen 1150 und 1200 über 22% zwischen 1200 und 1250 und 30,5% zwischen 1250 und 1300 bis hin zu 42,5% zwischen 1300 und 1350. Zudem untersucht sie für die gleichen Zeiträume die Verbindung mit Präpositionen und findet anhand der Masse unterschiedlicher Verknüpfungen (mit in, durch, an, ûf, ze, von, bî etc.) heraus, dass die triuwe eben nicht nur eine Floskel, sondern mit unterschiedlichsten Bedeutungsinhalten gefüllt wurde. Diese werden an betreffender Stelle der Primärtexte jedoch nicht expliziert, sondern vorausgesetzt.

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Es überwiegt doch der Eindruck, dass es nicht möglich ist, auf einer histoire-Ebene von ihr zu erzählen, wenn es im discours schon an Metaphern fehlt. Damit soll nicht behauptet werden, es gäbe keine Erzählungen, in denen triuwe und ihre Auswirkungen eine tragende Rolle spielen. Mit dem Engelhart12 etwa verfügen wir über eine literarische Bearbeitung zum Thema, die Wert und Folgen der triuwe über verschiedene Erzählstränge hinweg narrativ erprobt. Damit ist ihr Gegenstand aber gerade nicht Erwerb und Verlust der triuwe, deren Muster die Protagonisten unbestritten bilden, sondern – bildlich gesprochen – das Vorhaben, am narrativen Abschreiten des Schattens, den diese Zentraltugend in der Diegese wirft, ihren Wert abzuwägen. Beziffert oder eingefangen kann er aber nicht werden, weil die triuwe sich der Narration in axiologischen Zirkeln entzieht. Und selbst ein topisch motivierter Narrationsansatz ist nicht unproblematisch in Stellung zu bringen, weil die triuwe zwar topisch wirken mag, die so nach Hühn und Schönert hergestellten Bezüge (scripts und frames) jedoch unüberschaubar zu werden drohen, gerade weil die triuwe ein so basaler Wert höfischer Attitüde ist. Diese enorme Häufigkeit der Bezüge macht sie attraktiv für transgenerische Studien zu axiologischen Deutungsmustern, aber narratologisch betrachtet ist ihre Allpräsenz ungünstig, weil sie eine mögliche narrative Bezugnahme jeder nötigen Trennschärfe beraubt. Eng verbunden mit der triuwe ist die teils13 sakral gedeutete staete,14 wie der Tristan innerhalb des epischen Genres verdeutlicht: ez staetet triuwe und tugendet leben, / […] liebe, triuwe, staeter muot, / êre und ander manic guot, / daz geliebet niemer anderswâ (Tristan, V. 175 u. 181–183), doch die beiden Tugenden werden nicht nur in der Epik zusammenhängend gedacht,15 sondern gehören auch im Minnesang zu einem gemeinsamen Wertekonstrukt, als dessen Grundlage Bumke die staete sogar ansieht.16 Demnach prägt sie als „Mutter aller Tugenden“17 das gesamte ethische Weltbild, das die Dichtung vermittelt und von dessen Vorbildwirkung Bumke trotz der schwierigen Beweislage zum tatsächlichen Einfluss poetischer Lehren auf die

|| 12 Vgl. Konrad von Würzburg: Engelhart. 13 Vgl. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 211. 14 BMZ gibt festes beharren, beständigkeit, Bd. 2/2, Sp. 609a–611a. Es fällt auf, wie groß die Überschneidungen mit der triuwe sind, was sich sicher auch im häufig kombinierten Gebrauch beider Tugenden begründet. 15 Auf die zahlreichen Verwendungen der staete in mittelhochdeutschen Romanen soll nicht ausführlicher eingegangen werden, weil sie für die Frage einer lyrischen Narrativierung minder interessant sind. Der Vollständigkeit halber sei lediglich bemerkt, dass diese vorrangig als Charakterzug der Figuren eine Rolle spielen. Vgl. im Einzelnen Flore und Blanscheflur, V. 1 395–1 404 u. V. 5 114–5 119. Tristan, V. 11 756–11 767, ähnlich auch V. 10 889–10 903. Titurel, Str. 4, 29, 44 u. 102. 16 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 419. 17 Ebd. Dem sei entgegengestellt, dass Vera Vollmer andersherum die triuwe als die staete umfassend betrachtet. Vgl. Vera Vollmer: Die Begriffe der Triuwe und Staete in der höfischen Minnedichtung. Diss. masch. Tübingen 1914, S. 141.

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lebenswirkliche Praxis des Mittelalters überzeugt ist.18 Vera Vollmer schätzt die staete für das Konzept der höfischen Minne gar als noch wichtiger ein als die triuwe.19 In den Beispielen des Minnesangs lässt sich die Vorstellung der staete als Festhalten am Guten20 wie bei Hartmann von Aue zum einen gezielt minnefokussiert verfolgen: Swer anders giht, der misseseit, / wan daz man staetiu wîp mit staetekeit erwerben muoz. / des hât mir mîn unstaetekeit / ein staetez wîp verlorn (MF 211,35). Besonders die unstaete als Gegenstück zeigt sich jedoch auch mit übergreifenderem Hoheitsanspruch im Topos der wandelbaren, schlechten Welt21 wie bei Albrecht von Johansdorf: dâ bî sô merkent gotes zorn, / und erkenne sich ein ieglîchez herze guot. / diu werlt ist unstaete. / ich meine, die dâ minnent valsche raete, / den wirt ze jungest schîn, wies an dem ende tuot (MF 88,19). Einen von diesen beiden ersten Schwerpunkten nicht ungeschiedenen Typus, der aufgrund seines Belegumfangs dennoch einer gesonderten Erwähnung bedarf, stellt die Verbindung der staete mit dem Herzen dar. Bernger von Horheim und Friedrich von Hausen demonstrieren die variierende Komplexität jener Fügung, indem ersterer die staete lediglich attributiv in der Form staetez herze funktionalisiert,22 letzterer jedoch detaillierter ausführt: Mîn staete mir nu hât / daz herze alsô gebunden, / daz sî ez niht scheiden lât / von ir, als ez nu stât (MF 52,7). In dieser zweiten Belegstelle wird behauptet, dass die personifizierte staete in einer Vergangenheit vor der Äußerung eine Handlung am Herzen vorgenommen hat: sein Binden. Impliziert ist demzufolge ein narratives Potential der Minnetugend, das über die bisherigen Beobachtungen hinausgeht. Dabei ist jedoch auffällig, dass dies erstens im Umfeld des Herzens geschieht, dessen Stellenwert im Themenfeld lyrischer Narration unten noch gesondert herausgestellt werden wird, und zweitens über personifizierende Anklänge der staete. Für einen derartigen Umgang mit der Minnetugend kann Walther von der Vogelweide in dem vierstrophigen Lied L 96,29 ein umfassendes Beispiel vorbringen:23

|| 18 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 439–443. 19 Vgl. Vollmer, Triuwe und Staete, S. 142. Dazu beispielsweise ‚Ein reht unsanfte lebende wîp / nâch grôzer liebe, daz bin ich. / ich weiz getriuwen mînen lîp, / noch nieman staeter danne mich; Heinrich von Rugge (MF 106,15). Vgl. außerdem Ich wil iemêr mit genâden belîben. / sie muoz sünde âne schult an mir begân, / si kan mich niemêr anders von ir vertrîben, / ich welle haben gedinge und wân, / Daz diu triuwe hôher sollte gân / dan unstaete, der ich guotes verban; Ulrich von Gutenburg (MF 78,24). 20 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 418. 21 Vgl. Reinmar (MF 162,7); Hartmann von Aue (MF 210,11); Heinrich von Rugge (MF 99,13; MF 108,22). 22 Vgl. Daz hât mir mîne vröide hin. / doch vlîze ich mich alle tage, / daz ich ir ein staetez herze trage. / nu wîse mich got an solhen sin, / daz ich noch getuo, daz ir behage; Bernger von Horheim (MF 112,10). 23 Daneben verfügt auch Walther über eine Vielzahl der staete-Verwendungen, die ebenso attributiv sind wie die soeben vorgebrachten. Vgl. beispielsweise: der ie streit umbe iuwer êre / wider unstæte liute, daz was ich (L 40,27). Wære mære stæter man, / sô sollte, wollte si mich an / eteswenne denne gerne sehen, / swenne ich gnouge vuoge kunde spehen (L 47,16). Hâst dû triuwe und stætekeit, / sô bin ich dîn âne angest gar, / daz mir iemer herzeleit / mit dînem willen widervar (L 50,13). daz tuot jener,

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Stæte ist ein angest und ein nôt, in weiz niht, ob si êre sî: sî gît michel ungemach. sît daz diu liebe mir gebôt, daz ich stæte wære bî, waz mir leides sît geschach! Lât mich ledic, liebe mîn frô Stæte! wan ob ich sis iemer bæte, sô ist si stæter vil danne ich. ich muoz von mîner stæte sîn verlorn, diu liebe enunderwinde ir sich. Wer sol dem des wizzen dank, dem von stæte liep geschiht, nimt der stæte gerne war? dem an stæte nie gelank, ob man den in stæte siht, seht, des stæte ist lûter gar. Alsô habe ich stæte her gerungen, noch enist mir leider niht gelungen. daz wende, sælic frowe mîn, daz ich der valschen ungetriuwen spot von mîner stæte iht müeze sîn. (L 96,29 u. L 97,1)24

|| der sich selber twinget / und alle sine lit in huote bringet / ûz der wilde in stæter zühte habe (L 81,7). mîn junger hêrre ist milt erkant, man seit mir, er sî stæte, / dar zuo wol gezogen: daz sint gelobter tugende drî (L 85,17). dû solt mich schiere sehen, / ob dû mir sîst mit triuwen / stæte sunder wanc (L 89,7). Walthers Verwendung der Tugend staete beschränkt sich – nach den obigen Bemerkungen zum Auftreten der Tugenden auch auf Romangebiet: erwartbar – nicht auf Minnelieder, sondern greift auch auf den Sangspruch aus, beispielsweise im Kaiser Friedrichs- und Engelbrechtston. 24 Dass unter der Oberfläche konventioneller staete-Didaxe in Walthers Lied eine weitere Ebene liegen kann, ist auch Manfred Günter Scholz nicht entgangen, der als konkurrierende Lesart die Personifikation von Staete und Liebe vorschlägt und die kumulative Nennung der staete als Ironiemarker auffasst: Zweifellos kein abwegiger Schluss. Vgl. Manfred Günter Scholz: Walthers Lied über die Staete (L 96,26f.) und seine ‚naive‘ Rezeption. In: Walther lesen. Interpretationen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Festschrift für Ursula Schulze zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Volker Mertens, Ulrich Müller. Göppingen 2001 (GAG. 692), S. 39–58, hier S. 43 u. 47. Um Walthers spezifische Sicht auf die staete besser profilieren zu können, vergleicht Scholz sodann L 96,29 mit Hartmanns von Aue Der mit gelücke trûric ist (MF 211,27), das ebenfalls die staete zum Hauptgegenstand hat. Gerade in dieser Abgrenzung zu Hartmann führt sein Schluss jedoch nur wieder auf das Minneparadox zurück: „Walthers Lied führt ein Ich vor, das an der Unvereinbarkeit von Innen- und Außennormen verzweifelt, das die Unmöglichkeit erkennt, daß beide Seiten staete bleiben können, wenn die Beziehung zu einem glücklichen Ende führen soll […].“ Scholz, Walthers Lied über die Staete, S. 57. Der Vergleich dieser beiden Lieder Walthers und Hartmanns ist für Ursula Kundert ebenfalls das Mittel der Wahl, um der Vereinbarkeit der Minneklagen mit mittelalterlichen Kontingenzkonzepten nachzugehen. Dabei sieht sie in Walthers Spiel mit der staete neben der herkömmlichen Deutung ebenso sehr Fragen nach dem freien Willen und der Prädestination bearbeitet. Vgl. Ursula Kundert:

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Was im ersten Moment wie herkömmliche Didaxe aussieht, nimmt eine überraschende Wendung, sobald das Ich frô Stæte adressiert (V. 7), denn hat es bisher nur über die staete gesprochen, so spricht es nun mit ihr. Dabei lässt sich nicht mit letzter Sicherheit klären, ob die folgenden Verse acht und neun, in denen das Subjekt feststellt, dass sein Gegenüber stæter sei als es selbst, sich auf die konkrete Dame aus den folgenden Strophen drei und vier beziehen oder komplett auf die Personifikation gerichtet sind. Dies wäre nicht nur für eine Komik des Liedes ertragreich, sondern würde auch die Rollenspielvirtuosität Walthers unterstreichen. Dem folgt in der ersten Hälfte der zweiten Strophe wieder ein allgemein-didaktischer Teil, an den sich ein Rückgriff des sich äußernden Ichs in seine Vergangenheit anschließt: Alsô habe ich stæte her gerungen, / noch enist mir leider niht gelungen (L 97,1). So wird ansatzweise ein narrativer Charakter der histoire ausgeformt, indem das Ich eine vergangene Begebenheit erzählt, die dem gegenwärtigen Sprechen des Ichs eine zusätzliche Zeitebene beiordnet. Durch die Anbindung der aktuellen Didaxe an eine vergangene Handlung des Ichs und die direkt folgende, zukunftsträchtige Passage daz wende etc. entsteht eine Zeitachse, auf der die unterschiedlichen Stationen des Geschilderten anzuordnen sind. Sie gibt somit durch zeitliche Verweise einen Erzählzusammenhang wieder, der über den Raum des Gedichts hinausgreift, wie im Teil 1 theoretisch hergeleitet wurde. Die staete aber ist ein statisches Konzept und hat keinen Anteil an dieser Konstruktion, der über einen Bezugspunkt der einzelnen zeitlichen Abschnitte auf sie hinausginge. Das sich äußernde Ich bemühte sich um sie, rät zu ihr, will sie künftig erhalten etc., was sich auch in L 111,22f.25 nochmals ausdrückt. Die staete ist folglich für ein Handlungspotential auf Personifikationen angewiesen,26 was sich durch einen Blick in die Werke des Neidhartkontexts bestätigen lässt.

|| Minneklage als Nachdenken über eine ungewisse Zukunft. Walthers staete-Lied (L 96, 29 ff.) aus kontingenztheoretischen Perspektiven des Mittelalters. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik. 13), S. 304–336, hier S. 336. Kundert kommt nach der Problematisierung von Lyrik im Kontext der Kontingenzdiskussion – schließlich sei Lyrik in diesem Zusammenhang unerfreulich ereignislos – zu dem Schluss, dass die Minneklage im Bereich der Lyrik der Ort ist, an dem das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz verhandelt wird. Vgl. Kundert, Minneklage als Nachdenken, S. 304 u. 336. Das staete-Lied Walthers gehört also kaum zu den unbeachteten Texten, wurde bisher aber offenbar stets in anderen Kontexten befragt als dem hier betrachteten. 25 ‚Ich bin ein wîp, ein wîp dâ her gewesen / sô stæte an êren und ouch alsô wol gemuot: / ich trûwe ouch noch vil wol genesen, / daz mit selkem stelne nieman keinen schaden tuot. / Swer aber küssen hie ze mir gewinnen wil, / der werbe ez mit vuoge und ander spil. / ist, daz ez im wirt iesâ, / er muoz sîn iemer sîn mîn diep und habe imz dâ / und lege ez anderswâ.‘ L 111,32. 26 Auch die zunächst in Bezug auf eine Narrativierung vielversprechend erscheinende Wendung der staete in die Tätigkeit verheißende Verbform staeten kann an dieser Einschätzung letztlich wenig ändern, da die vermeintlich ausgedrückte Handlung schließlich in der Verstetigung eines Zustands und somit der Abwesenheit von Veränderung besteht, vgl. L 153,1.

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Hier findet die erzählenswerte Begebenheit abseits der staete statt, wie in SNE I R38, VIII,27 die für das sich äußernde Ich an dieser Stelle bloß als Floskel des Minnesangs interessant ist. Ähnlich verfährt das Ich in den vorangegangenen Strophen des Liedes mit den Versatzstücken der gebrochenen Rose (SNE I R38, VII) oder der im Herzen verborgenen Liebe (SNE I R38, V). Auch sie prallen kontrastreich auf die Dörperumwelt (SNE I R38, IVf.), wo schließlich die Narration stattfindet.28 Es lässt sich also festhalten, dass staete wie triuwe zwar fest zum höfischen Minnekonzept gehören und innerhalb dessen als zentrale Tugenden angesehen werden können, dabei in Bezug auf ein narratives Potential jedoch merklich beschränkt

|| 27 Von der stæte min / bin ich uberladen. / miniu vriunt, nu horet miniu chlage, / rates unde lere der bedarft ich nie so wol. / Erphe und Adelwin / tunt mir ungedienet schaden, / daz altet mich bi minen tagen, / nieman sol des wænen, daz ichz mit gůtem willen dol. / lachent an / er den man / snidet mit der zungen, / we der můter, diu mir ze schaden trůch! / nu bin ich beswaret von den iungen, / daz ich han von sinen schulden ninder genden phlůch (SNE I R38, VIII,1–14). Die Salzburger Edition folgt dem Leithandschriftenprinzip, soweit nicht anders angegeben. Als beste Handschrift wird R vorangestellt, danach B, C, c, d, f, pr, s, w und z; jeweils mit paralleler Überlieferung in sämtlichen anderen Handschriften. Obiges Lied zeigt sich demnach beispielsweise als paralleler Druck der Zeugen R38 und c101, was Haupts Winterlied 32 entspricht (im Folgenden abgekürzt mit WL bzw. SL für Sommerlied). Auch wenn die SNE durchaus nicht ohne Kritik geblieben ist (vgl. Burghart Wachinger: Wie soll man Neidhart-Lieder edieren? Zur Salzburger Neidhart-Ausgabe. In: PBB 131 (2009), S. 91–105), ist sie als Textgrundlage doch weit vertrauenswürdiger, da weniger überformt als Haupt. Zudem richten sich die kritischen Anmerkungen eher gegen mangelnde Benutzerfreundlichkeit als gegen zu starke Eingriffe in den Text seitens der Herausgeber. So verleiht Wachinger seinem Befremden darüber Ausdruck, dass die Herausgeber der SNE an vielen Stellen unverständliche, grammatisch unmögliche oder formal gestörte Abschnitte nicht nur nicht korrigiert, sondern unkommentiert an den Leser weitergegeben haben (vgl. Wachinger, Wie soll man Neidhart-Lieder edieren, S. 95–99). Er führt dies auf eine mangelnde Reflexion von Grundfragen zurück: „Die Salzburger Neidhart-Edition wurde einerseits unternommen, um gegenüber der problematisch gewordenen Zielsetzung einer Rekonstruktion des einen Originaltexts der lebendigen Varianz der Texte in der Überlieferung zu ihrem Recht zu verhelfen. Das wäre auch mit Synopsen der Transkriptionen zu erreichen gewesen. Die Herausgeber wollten aber zugleich lesbare, sinnvolle Texte bieten. Das ist jedoch ohne ein Minimum an Rekonstruktion nicht möglich. Das Leithandschriftenprinzip, dem die Ausgabe folgt, ist ursprünglich für andere Editionsformen und -ziele entwickelt worden. Es erlaubt wenigstens ein Stückchen Rekonstruktion, indem es die Verbesserung offensichtlicher Fehler zulässt. Aber was ist im Falle der Neidhart-Tradition ein offensichtlicher Fehler?“ Ebd., S. 97. Interessanterweise sieht Ulrich Müller die Schwächen seiner Edition eher in der Unvereinbarkeit von erschwinglichem Preis und Ausführlichkeit, vgl. Ulrich Müller: Erschließungen eines Textkorpus für Forschung und Lehre am Beispiel der Salzburger Neidhart-Edition oder wie soll und kann mittelhochdeutsche Lyrik heute ediert werden? Mit einem Beitrag von Ruth Weichselbaumer. In: Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17.–19. September 2008. Hrsg. von Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter. Tübingen 2009 (Editio Beihefte. 30), S. 139–160, hier S. 147. 28 Ähnlich SNE I R42.

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bleiben. Dies mag im Falle der staete einerseits darin begründet sein, dass Beständigkeit29 dem Entwicklungsgedanken einer Narrativität entgegensteht, und andererseits in der abstrahierten Idealität der staete als Eigenschaft. Sie bedeutet ein zusätzliches narratives Problem, denn so ist weder eine metaphorisch funktionalisierbare Bildlichkeit noch die handlungslogische Macht möglich, die eine erzählbare Ausfaltung auf der histoire-Ebene gewähren würde. Bumke zufolge fällt im Begriff der êre nun all das zusammen, was einen Ritter auszeichnet und seine höfische Vorbildlichkeit in gesellschaftliches Ansehen umformt.30 Damit ist angedeutet, was auch Otfrid Ehrismann expliziert: Das Konzept êre funktioniert nicht ohne den Spiegel der Gesellschaft,31 in deren Dichtung es folgerichtig nach Nina Bartsch32 seinen festen Platz hat. Bartsch stimmt einerseits mit Ehrismann in der Rückbindung der êre an eine höfische Gesellschaft überein, betont aber ebenso die figurenseitige Bindung in Form einer Eigenschaft, die erlangt sowie jederzeit wieder verloren werden kann und folglich beständig zur Bewährung ausgesetzt ist. Die êre ist daher einer Reputation gleichzusetzen, die den Einzelnen zur Einhaltung des höfischen Protokolls befähigt und ihm so Zugang zur höfischen Gesellschaft gewährt. Zugleich kann sie in ihrer parallelen Ausrichtung auf den Einzelnen (êre haben) und auf die Gemeinschaft (êre erweisen) als ein aus zwei untrennbaren Hälften bestehender, reziproker Mechanismus betrachtet werden, der weitere Wertvorstellungen wie triuwe und staete stets ergänzend heranzieht. In Des Minnesangs Frühling finden sich zahlreiche Stellen33 zur êre, die sich zum Teil nicht nur auf eine höfische Gesellschaft beziehen, sondern auch auf Gott oder sakrale Symbole wie das Kreuz. Auf diese Art und Weise wird ein attributiver Status der êre ausgestellt, der sie teils wie ein Requisit erscheinen lässt, wobei die êre mit allem verbunden werden kann, dem hohe und höchste Sozialwerte zugewiesen sind:

|| 29 Vgl. dazu etwa auch die narrative Sabotage durch die staete gegen Ende des Titurel: ‚Dar nâch sol mîn dienst immer stæteclîchen ringen. / du iutest rîchen solt. wie gelebe ich die zît, daz ez mîn hant dar zuo müeze bringen, / daz ich die hulde dîn behalte? / daz wirt versuochet nâhen unt verre. gelücke unt dîn minne mîn walte!‘ Titurel, Str. 174. Erzählung ist demnach so lange möglich, bis die staete jedwede Zeitlichkeit und damit minimaldefinitionskonforme Erzählung stilllegt. Vgl. dazu auch nochmals die Ausführungen zu Schmid in Abschnitt 1.2.3. 30 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 428. 31 Vgl. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 68. 32 Vgl. hier und im Folgenden Nina Bartsch: Programmwortschatz einer höfischen Dichtersprache. hof/hövescheit, mâze, tugent, zuht, êre und muot in den höfischen Epen um 1200. Frankfurt am Main 2014 (Deutsche Sprachgeschichte. 4), S. 288f. 33 Vgl. beispielhaft Ich wânde ledic sîn von solher swære, / dô ich daz kriuze in gotes êre nam; Friedrich von Hausen (MF 47,17). Ine erwache niemer, ez ensî min êrste segen, / daz got ir êren müeze pflegen / und lâze ir lîp mit lobe hie gestên, / dar nâch êweclîche; Albrecht von Johansdorf (MF 88,5). Ich wil iemer dur iuch êren / elliu wîp; Engelhart von Adelnburg (MF 148,9). nu wil er daz ist mir ein nôt -, / daz ich durch in die êre wâge und ouch den lîp; Reinmar (MF 192,32). Dô man der rehten minne pflac, / dô pflac man ouch der êren; Heinrich von Veldeke (MF 61,18).

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etwa neben Gott ebenfalls mit Maria, der Minne, der Welt oder selbst mit weltlichen Gegenständen.34 Metaphorisch-bildliche Sprechweisen sind in den Funktionalisierungen der êre zwar möglich, wie die Äußerung der Erzählinstanz des Titurel über Sigûne verdeutlicht: ûz ir herzen blüete sælde und êre (Titurel, Str. 32), aber die êre ist nie der Bildspender der metaphorischen Kleinsterzählung, sondern zumeist – wie in diesem Fall – lediglich das tertium comparationis, wie in er was der êre ein bluome (Partonopier, V. 11 501). Äußerst selten sind auch Funktionalisierungen als Bildempfänger der Metapher möglich wie beim wilden Alexander: von sîme kranken herzen gât / ein ursprinc aller missetât, / untriuwen regen, der êren hagel (KLD 1 II,1). Die êre spielt folglich offenbar unweigerlich eine mindere Rolle, denn selbst in der ungewöhnlichen Umsetzung Alexanders ist die Ineinssetzung der êren hagel nur eine sekundäre und abgeleitet aus der Metapher des im Herzen tobenden Unwetters, die so auch als Kern der narrativen Bewegung anzusehen wäre – zum wiederholten Male mit dem Herzen im Mittelpunkt. Dies wird ein Stück weit auch darin begründet sein, dass der êre kein unweigerlicher Fundus an Eigenschaften zugeschrieben ist, die im Metapherngebrauch übertragen werden könnten (im Gegensatz zum Löwen, dessen Identität Achill teils annimmt). Stattdessen ist die êre eine jener attributiven Eigenschaften: ein Begriff. Dafür lassen sich in allen herangezogenen Werken Belege finden; epischen wie lyrischen, zentralen wie peripheren.35 Für die höfische Tugend der kiusche ist ‚Keuschheit‘ keine angemessene Übersetzung, denn dieses facettenreiche Konzept betrifft ein weit umfassenderes Bedeutungspotential. Schon Karl Kinzel beschrieb nach der Untersuchung der Romane Wolframs von Eschenbach die geschlechtsspezifische Funktionalisierung der kiusche folgendermaßen. In Anwendung auf männliche Figuren richtet sie sich vor allem auf ein Maßhalten in Wort, Tat, Gebärde und Gesinnung, während in der weiblichen Form mehr eine ideelle Reinheit im Mittelpunkt steht und daher auch anteilig das,

|| 34 Vgl. Ehrismann, Mut und Ehre, S. 69. Vgl. mit Bezug auf den Tristan Martin Przybilski: Gesellschaft der êre und Gemeinschaft der minne. Das komplexe Dreiecksverhältnis in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. In: kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert. Hrsg. von Katharina Boll, Katrin Wenig. Würzburg 2011, S. 131–147. 35 Vgl. beispielsweise: Reine, güete, tugent und êre / hât si, der ich dienen wil. / in gewan nie fröiden mêre, / sî ist mîner ougen spil; Bruno von Hornberg (KLD 3 I). Ich seit iu gerne tûsent: irn ist niht mê dâ, / wan schoene und êre / die hât si beide volleklîche. hât si? jâ!; Walther (L 59,28). Die jung die sprach: ‚wes trauret ir so sere? / han ich niht gute claider an, so han ich doch mein ere. / mange tregt vil liechte klaid / und ist der eren ein valsche maidt, / die hat zu clagen mere; Neidhart (SNE I R8, hier die Parallelstrophe c39 [38], XII). ich weiz wol, ob daz wol ergât, / daz mich mîn bruoder leben lât / und er mich niht ersterbet, / daz er mich aber enterbet / und nimet mir guot und êre, / sô muoz ich iemer mêre / unwert und swaches namen sin (Tristan, V. 1 475–1 481). Welle fröwe er zü amien nimpt / Der pfliget er schone / Su treit mit jm die krone / Ein jor vnd nit mere / So müß ſu leider die ere / Kouffen harte türe / Er heiſſet ſu in eime füre / Oder ſu verlieſen (Flore und Blanscheflur, V. 4 370–4 377).

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was unter ‚Keuschheit‘ zu verstehen wäre.36 Dem schließt sich Ehrismann an, indem er die Sexualität nur als einen der sittlichen Akzente bezeichnet, die die kiusche in sich vereint, keinesfalls jedoch als deren Schwerpunkt.37 Darüber hinaus betont er den sakralen Charakter, der kiusche wie staete unweigerlich anhaftet, weshalb ihre Überführung in Minnelieder die Nähe zur Heiligkeit auf die Minne überträgt,38 die sodann von der „Reinheit und Lauterkeit des sittlichen Empfindens“39 profitiert, die der eigentliche Kern der kiusche sind. In Des Minnesangs Frühling liegen mit nur vier Stellen im Vergleich zu den anderen vorgestellten Minnetugenden äußerst wenige Belege für die kiusche vor, die sich durch Meinloh von Sevelingen, Hartmann von Aue und Reinmar jedoch nicht nur auf eine einzelne der Minnesangphasen beschränken, sondern eine durchgehende Rolle spielen. Zieht man die Lieder Walthers, der Liederdichter und des Neidhartkontexts hinzu,40 bestätigt sich der Eindruck einer peripheren, doch stetigen Bedeutung, die || 36 Vgl. Karl Kinzel: Der Begriff der kiusche bei Wolfram von Eschenbach. In: ZfdPh 18 (1886), S. 447– 458, hier S. 450–455. 37 Vgl. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 121. 38 Vgl. ebd., S. 120. 39 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 418. 40 In den Liederdichtern findet die kiusche schon deutlich häufiger Verwendung, allerdings muss hier zwischen attributiven und personifizierenden Stellen unterschieden werden. Eigenschaftszuschreibungen von kiusche sind häufig, vgl. dazu: ir kiuscher wîbes lîp / der mac mir wol helfe senden; Gottfried von Neiffen (KLD 15 XXIX). si kiusche, si klâre, si vruote, / si vröude, si sælde, si wunne!; Günther von dem Forste (KLD 17 IV). er sol wol reiner kiuscher megde site walten; Der Kanzler (KLD 28 III). Personifizierungen werden jedoch selten gestaltet: rîchiu Saelde ân allen haz / gab diz kleit: diu Zuht ez maz; Kiusche sneit baz unde baz, / Reinekeit durchnâte daz, / Tugent nihtes dran vergaz; Der Schulmeister von Ezzelingen (KLD 10 VII). Bei Neidhart finden sich – gerade auch gemessen an der breiten Überlieferung – nur sehr wenige Stellen, an denen die kiusche Nutzung erfährt, zudem auch nur in negativer oder in Verfallsform, vgl. dazu: Nu hat si sich verkeret, / schameloser valscher diet ist ir hof gemeret. / truͥwe, kuͥsche, guͦ t gelesse vindet nieman da. / die waren ê gesinde, / des ich noch gedenke wol al da her von kinde. / swer si vinden wil, der muͦ s si suͦ chen anderswa (SNE I R13, hier die Parallelfassung C11–19, III,1–6). so ist das min ungehab, / das wir man unstaͤ te sint und unkuͥscher fuͦ re pflegen (SNE I R24, hier die Parallelfassung d3, III,7f.). Walther verwendet die kiusche im Minnesang ebenso wie im Sangspruch und seinen geistlichen Liedern, vgl. dazu im Einzelnen: Vil süeziu frowe hôhgelopt mit reiner güete, / dîn kiuscher lîp gît berndez hôhgemüete, / dîn munt ist rôter danne ein liehte rôse in touwes blüete (L 27,27). dô gap in êrste gelt der künic Constantîn. / het er gewest, daz dâ von übel künftic wære, / sô het er underkomen des rîches swære, / wan daz sî dô wâren kiusche und übermüete lære (L 10,25). Er ist dîn kint, dîn vater unde dîn schepfære. / wol uns des, daz dû in ie gebære, / den hœhe, tiefe, breite, lenge umbegrîfen mohte nie, / dîn kleiner lîp mit süezer kiusche in umbevie. (L 36,21). Im Titurel konzentriert sich die kiusche um Titurel (Mîn sælde, mîn kiusche, mit sinnen mîn stæte, / unt op mîn hant mit gâbe unt in stürmen ie hôhen prîs getaete, / des mac niht mîn iunger art ferderben (Str. 4); Ich weiz wol, swen wîplîchez lachen enphâhet, / daz immer kiusche unt stætekeit dem herzen nâhet (Str. 5); Des grâles hêrre muoz sîn kiusche unt reine (Str. 7)), Sigûne (Sigûne, diu sigehafte ûf dem wal, dâ man welt magede kiusche unt süeze (Str. 110)); dô kunde ir kiusche niht verdecken / die lieplîchen liebe in ir herzen (Str. 115)) und Schionatulander (sîn edelkeit, sîn kiusche getörste doch nimer genenden an die getürste (Str. 128)). Im Tristan kommt die kiusche nur zweimal vor, zum einen in der

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die kiusche in Minneliedern beanspruchen kann. Der narrative Gehalt der Funktionalisierungen gestaltet sich ähnlich. Meinloh belehrt zunächst über Art und Wirkung der rechten Minne, wonach ein kiuschez herze die conditio sine qua non einer gelungenen Dienstbeziehung des Ritters zu seiner Minneherrin ist: Swer werden wîben dienen sol, der sol semelîchen varn. ob er sich wol ze rehte gegen in kunne bewarn, sô muoz er under wîlen senelîche swaere tragen verholne in dem herzen; er sol ez nieman sagen. Swer biderbe dienet wîben, die gebent alsus getânen solt. ich waene, unkiuschez herze wirt mit ganzen triuwen werden wîben niemer holt. (MF 12,1)

Die Verweise des Textes sind dabei jedoch ebenso nur topisch-narrativer Natur wie bei Reinmar, der die kiusche wîpheit der Dame für das sich äußernde Ich als Anlass zur Verschwiegenheit über die offenbar gegenseitige Minnebeziehung inszeniert, von der die kleffaere nichts erfahren dürfen: Ich getar von ir hôhem werden lône mînen willen niht gesprechen gar: ich muoz unser beider êren schônen und ir kiuschen wîpheit bewar, Daz die boesen kleffaere iht ervarn unser vriuntlîchen pfliht. ist iht liebers denne eigen lîp? noch lieber ist mir daz schoene wîp! (MF 435, K 286)

Eine ansatzartig narrative Qualität des Teilabschnitts kann mithilfe der Implikationen wahrgenommen werden, die die Strophe behauptet. Diese beziehen sich zum einen auf zeitliche Konzepte, wenn das Subjekt sich jetzt nicht zu sprechen traut, damit die Ehre des Minnepaars auch in Zukunft vor den Lästernden bewahrt wird. In Bezug auf die kleffaere und den lôn ließe sich zum anderen nach diagrammatischen Figurationen suchen. Gerade der lôn könnte für einen solchen Versuch interessant sein, weil er semantisch doppelt besetzt ist: innerhalb der histoire als Liebeserfüllung, innerhalb des discours als gesellschaftliches Ansehen von Dichter oder Sänger. Ähnlich

|| Minnegrotte (daz eine insigel der cêder / daz meinet an der minne / die wîsheit und die sinne; / daz von dem helfenbeine / die kiusche und reine (V. 17 026–17 030)), zum anderen als Tristan bei Isolde Weißhand lebt (sô warf ouch eteswenne / der kranke magetlîche name / sîne kiusche und sîne schame / zem nacken von den ougen, / si leite im dicke untougen / ir hende in die sîne, / als obe ez Kâedîne / ze liebe geschæhe (V. 19 234–19 241)). In Flore und Blanscheflur wird kiusche gar nicht thematisiert, in Partonopier und Meliur lediglich in herkömmlicher Art und Weise: dîn wille und dînes herzen gir / sint lûter unde kiusche, / dâ von dir daz getiusche / der minne ist unerkennet (V. 12 184–12 187) sowie des wart ir muot ûf êre / gestellet deste harter. / si liten grôze marter / von ungefüegen biuschen, / diu den reinen kiuschen / frouwen gie ze herzen (V. 14 374–14 379).

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wie anhand der Zinne triangulären Strukturen nachgespürt wurde, mag der lôn eine mehrstellige Diagrammatik zwischen Liedhandlung und Handlung mit dem Lied ausformen. In Hinblick auf eine lyrische Narrativität wurden diagrammatische Aspekte zuvor als nicht konstitutiv, aber doch hintergründig wirksam herausgestellt. Daher bleibt für narrative Ansätze innerhalb der obigen Strophe nur auf die Verknüpfung mit anderen Stellen und Liedern nach Art eines topischen Narrationsansatzes zu verweisen. Zeitliche und topische Bezugnahmen suggerieren dabei gemeinsam die Existenz einer über den textlichen Rahmen des Liedes hinausgreifenden Umwelt des Ichs. Die nicht auf den Frauendienst gemünzten kiusche-Aussagen Hartmanns von Aue formen ebenfalls einen narrativen Wert aus. Die betreffenden Lieder beziehen sich auf den Gottesdienst in Form des Kreuzzugs, wobei sie teils innerhalb der gottesdienstlichen Sphäre bleiben, teils diese in die Minnebeziehung zwischen Ritter und Dame zu integrieren suchen. Die narrative Qualität dieser Belege ist jedoch wiederum nicht an der Tugend zu bemessen, deren Funktionalisierung eine rhetorische bleibt, sondern an der Subgattung des Kreuzlieds, wie unten noch erläutert werden wird: Dem kriuze zimet wol reiner muot und kiusche site, sô mac man saelde und allez guot erwerben dâ mite. ouch ist ez niht ein kleiner haft dem tumben man, der sînem lîbe meisterschaft niht halten kan. Ez wil niht, daz man sî der werke dar under vrî. waz touget ez ûf der wât, der sîn an dem herzen niene hât? (MF 209,25) Swelch vrowe sendet ir lieben man mit rehtem muote ûf diese vart, diu koufet halben lôn41 dar an,

|| 41 Da es sich beim halben Lohn um einen der grundlegenden Topoi der Kreuzzugsdichtung handelt, kann er im Sinne der scripts und frames Hühns und Schönerts als fragmentarisch narrativer Bestandteil lyrischer Texte gedeutet werden. Er beschreibt den Grundgedanken, dass Ritter und Dame sich ihre Pflichten und Belohnungen jeweils aufteilen und speist sich aus dem Lohn, den Gott den Kreuzfahrern gewährt (vgl. nu wil ich dienen dem der lônen kan; Friedrich von Hausen (MF 46,29)) und der seinerseits dem im Minnesang zumeist verwehrten Lohn der Dame entgegensteht. Auch erstmals gut sichtbar wird hier das im Abschnitt 2.2.3 noch zu besprechende Netz, das die Topoi untereinander verbindet und grundlegende Konflikte umspinnt, die in der Dichtung bearbeitet werden (Minnedienst – Gottesdienst). Vgl. dazu beispielsweise: sô sî er umbe halben lôn der guoten hie gemant; Albrecht von Johansdorf (MF 94,25). Zum halben Lohn für den Dienstherrn vgl. mîn vart diech hân genomen, / ich wil irm halber jehen; Hartmann von Aue (MF 209,23). Vgl. weiterhin herre got, nu tuo mir

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obe sî sich heime alsô bewart, Daz sî verdienet kiuschiu wort. sî bete vür siu beidiu hie, sô vert er vür siu beidiu dort. (MF 211,20)

Die milte spielt gegenüber den bisherigen Tugenden vermehrt in der Sangspruchdichtung eine Rolle und findet im Minnesang insgesamt eher selten Verwendung.42 Dabei stellen auch die vereinzelten Erwähnungen in Des Minnesangs Frühling deutlich den didaktischen Charakter der Äußerung aus, wenn die milte doch einmal zur Sprache kommt, wie etwa bei Bligger von Steinach: swer âne milte guotes pfligt und dâ bî âne schame, / den wirfet si in vil swinder art / in einen schaden und in ein êwic laster (MF 119,13) oder in ähnlicher Form bei Rudolf von Fenis (MF 84,10). Die höfische Tugend wird in diesen beiden wie auch in zahlreichen anderen spruchartigen Beispielen zum einen auf allgemein höfisches, ideales Verhalten bezogen und zum anderen im Umfeld der zitierten Verse mit anderen Tugenden wie der genâde, zuht oder staete in Verbindung gebracht. Weiterhin kann sie etwa bei Walther als dem Adel wohlanstehende Freigebigkeit von Königen und Kaisern gefordert43 oder bei Ulrich von Gutenburg auf die Dame übertragen werden. Im Falle des letzteren verändert sich der Charakter des gegebenen Guts aufgrund der Anklänge der milte an die finanzielle Freigebigkeit des Adels vom sonst minnesangtypisch Ideellen zum Weltlichen.44 Eine narrative Qualität bildet dies, abgesehen von topischen Bezügen, jedoch nicht aus. Einen in seiner Ausführlichkeit interessanten Sonderfall stellt demgegenüber die folgende Strophe des Kanzlers dar: Diu milte dem adel wol an stât, diu milte wol bî gülte zimt, diu milte man megd unde wîp wol zieret unde tiuret, diu milte löschet missetât,

|| helfe schîn, / daz ich mir und ir erwerbe noch die hulde dîn; Otto von Botenlauben (KLD 41 XII). ‚und ouch der fröide mîn gelîche halben teil, / dâ mite er uns erwerbe beiden gotes heil.‘; Rubin (KLD 47 XXII). 42 Vgl. Berenike Krause: Die milte-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Darstellungsweisen und Argumentationsstrategien. Frankfurt am Main 2005 (Kultur – Wissenschaft – Literatur. 9) sowie in Bezug auf den Minnesang Katharina Philipowski: ‚diu gâb mir tugende gît‘. Das gabentheoretische Dilemma von milte und lôn im hohen Minnesang, im Frauendienst und im Tagelied. In: DVjs 85 (2011), S. 455–488. 43 Verwiesen sei beispielhaft auf: Philippes künic, die nâhe spehenden zîhent dich, / dûn sîst niht dankes milte. des bedunket mich, / wie dû dâ mite verliesest michels mêre. / dû möhtest gerner dankes geben tûsent pfunt / danne drîzec tûsent âne danc. dir ist niht kunt, / wie man mit gâbe erwirbet prîs und êre. / Denke an den milten Salatîn: / der jeach, daz küniges hende dürkel solten sîn, / sô wurden sî erforht und ouch geminnet. / gedenke an den künic von Engellant, / wie tiure man den lôste dur sîne milten hant. / ein schade ist guot, der zwêne frumen gewinnet (L 19,17). 44 Vgl. sus senftet mir den swaeren muot / von tage ze tage mîn vrouwe. / Ir schoener gruoz, ir milter segen, / mit eime senften nîgen, / daz tuot mir ein meien regen / rehte an daz herze sîgen (MF 69,20).

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diu milte schanden vil benimt, diu milte werdes herren lîp mit hôhem prîse stiuret. diu milte reines herzen grunt mit manger tugend durflanzet und durzwîet, diu milte vint der gâben vunt, diu milte werdez lop mit rîche frîet. bis milte, mensche, sît dir hât diu gotes milte alz undertân gemachet swaz fliuget fliuzet swebt und gât. tuost dû des niht, dîn êre wirt geswachet. (KLD 28 XVI,18)

Vergleichbar umfassend wird auf die milte außerhalb von Fürstenlehren wahrscheinlich nirgendwo eingegangen, wobei mehrere Umstände auffallen: Zum einen betrachtet die sich äußernde Instanz milte offenbar als erstrebenswert für jedermann, Heil bringend und eine von Gott auferlegte Verpflichtung. Zum anderen bleibt die Strophe in ihrer Belehrung so vage, dass die milte hier ohne wesentliche Probleme auch durch êre, triuwe oder staete zu ersetzen wäre: Auch sie stehen dem Adel wohl an usw. Dies deutet nach den obigen Ausführungen zum wiederholten Male darauf hin, dass das Spektrum der höfischen Tugenden ein solches im wörtlichsten Sinne ist; nämlich ein Bündel voneinander nicht trennbarer, mehr oder weniger gleichberechtigter Einzelteile, die aus einer gemeinsamen Quelle stammen wie die Spektralfarben aus einem Lichtstrahl.45 Auffallend ist in der obigen Strophe auch die

|| 45 Vgl. etwa Dô man der rehten minne pflac, / dô pflac man ouch der êren; Heinrich von Veldeke (MF 61,18). ir güete mich gehoehet hât, / daz sol si mêren, nâch ir êren manicvalde; Heinrich von Rugge (MF 110,26). ich was ir ie mit staeteclîchen triuwen bî; Reinmar (MF 159,10). mit guoten triuwen ich ir pflac; Reinmar (MF 172,37). ern hete als ich getriuwen muot; Reinmar (MF 175,29). daz ich so reine noch so staete minne; Reinmar (MF 189,23). und unsin staete saelde nie gewan; Hartmann von Aue (MF 205,10). Dem kriuze zimet wol reiner muot / und kiusche site; Hartmann von Aue (MF 209,25). An dieser Stelle wird einmal mehr sowohl die im Abschnitt 1.3.2 beschriebene Suggestivkraft der Metaphern deutlich als auch die Unmöglichkeit bzw. Unvorteilhaftigkeit, die darin liegt, Metaphern vollständig aus der wissenschaftlichen wie alltäglichen Sprache zu eliminieren, wie von Metaphernkritikern gefordert. Einerseits zwingt – am Beispiel betrachtet – die Metapher ‚Die höfischen Tugenden entsprechen in Gleichberechtigung und Untrennbarkeit den Spektralfarben‘, dem Rezipienten eine Rolle auf, die diese Gegebenheit nicht hinterfragt. Denn der Disparates verschmelzende Charakter der Metapher, dessen Funktionsweise durch seine kulturelle Verankerung so vertraut ist, entfaltet seine Faszinationskraft im Bereich der oszillierenden Überblendung und führt daher gerade nicht dazu, die tatsächliche Gegebenheit einer Schnittmenge infragezustellen. Dies ist es, was mit der Realitätsschöpfung der Metapher gemeint ist. Mit der obigen Metapher ist die Möglichkeit, dass es etwas wie eine Mutter (!) aller höfischen Tugenden oder sonst eine Vor- oder Nachgeordnetheit gibt, aus dem Blick genommen und somit implizit für obsolet erklärt. Möglicherweise lässt sich anhand des Materials sehr wohl die triuwe oder sonst eine der Tugenden als übergeordnet herausstellen, dies erscheint jedoch anhand der obigen Metapher als hochgradig unwahrscheinlich: Metaphern lenken folglich das Denken. Das kann durchaus sehr kritisch betrachtet werden, da jene Ausschaltung von Alternativen, die theoretisch ebenso möglich oder gar wahrscheinlich sind wie die bevorzugte Variante, eine

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Verwendung bildhafter Ausdrücke: milte schmückt die Menschen, löscht Fehltritte, zügelt und stützt den Herrscher, lässt im Herzensgrund vielerlei Tugend wachsen etc. Diese als Narrationsansätze nach Art der Metapher zu lesen, ist möglich, wenn auch nicht übersehen werden kann, dass die explizite Artikulation des zweiten Bildteils unterbleibt, wie etwa des reinwaschenden Wassers im Falle der Fehltritte auslöschenden milte. Stattdessen wird ein Potpourri potentieller Handlungsmöglichkeiten behauptet, das zwar an der Einschätzung eines lyrisch verfassten Narrationsansatzes nichts ändert, aber in der Vielzahl der Schlag auf Schlag apostrophierten Handlungsgewalten an die milte das narrative Verknüpfungsvermögen des Rezipienten beinahe überfordert. In der Zusammenschau hat sich bei einer Verwendungsanalyse verschiedener Zentraltugenden des höfischen Wertesystems gezeigt, dass die narrativierende Qualität von triuwe, staete, êre, kiusche und milte deutlich beschränkt ist. Ihre Substanz als Set der Charaktereigenschaften, die untereinander häufig verbunden werden, macht sie zu einem beliebten Äußerungsgegenstand in Bezug auf vorgestellte Figuren, doch durch die kaum skalierbare Art und Weise ihrer Zuschreibung eignen sie sich nicht als Erzählgegenstand im Sinne einer werthaften Entwicklung des Protagonisten. Weiterhin wurde deutlich, dass die neben den Figuren für die übergeordnete Fragestellung deutlich interessantere Ebene der Personifikationen und der in metaphorischer Form erzählenden Bildbeziehungen wesentlich seltener integriert wird. Der Schulmeister von Ezzelingen kann für jenen zweiten Typus ein abschließendes, außergewöhnlich ausführliches Beispiel beitragen, das nochmals in besonders artifizieller Form veranschaulicht, welche erzählende Qualität die Minnetugenden ausprägen können: rîchiu Saelde ân allen haz / gab diz kleit: diu Zuht ez maz; Kiusche sneit baz unde baz, / Reinekeit durchnâte daz, / Tugent nihtes dran vergaz (KLD 10 VII,2). Hier bildet nicht eine Tugend den Brennpunkt der Aufmerksamkeit, indem ihr eine Vielzahl von Handlungen zugeschrieben wird, wie dies beim Kanzler der Fall war, sondern eine Handlung bildet umgekehrt den Betätigungsraum einer Vielzahl der Tugenden: die Anfertigung eines Kleides. Dieses wird – darauf deutet die Uneigentlichkeit der Personifikationen – ebenfalls in einem erweiterten Sinne zu lesen sein; als Gesinnungsgewand. Die Grundmetapher ‚Der Charakter ist ein Kleid‘ wird beim Schulmeister auserzählt, ohne dafür die Ebene der Uneigentlichkeit zu verlassen und rückt so eine

|| Einschränkung der Weltsicht bedeutet. Da auf Themengebieten wie der Dichtung jedoch eher von einer Verhandlung der unterschiedlichen Sinnangebote zum Zweck ihrer Diskussion auszugehen ist als von der Existenz einer einzigen Wahrheit, die sich über alle anderen Sinnordnungen erhebt, ist das beschriebene Wirken der Metapher weniger kritisch zu bewerten, als vielleicht zunächst anzunehmen. Denn die Suggestivkraft der Metapher kann in ihrer Kurzschlusswirkung auch positiv als produktiver Generator von Bedeutungen interpretiert werden und muss nicht als unrechtmäßige Vereindeutigung komplexer Inhalte gelten. Damit erscheint dann die Notwendigkeit, sie aus dem Sprachgebrauch zu tilgen, auch gar nicht mehr gegeben.

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weitere Zusammenarbeit von Metapher und Narration in den Blick, die zwar sehr selten, aber dafür umso eindrücklicher ist. Zugleich inseriert diese Auserzählung über die beschriebene Suggestionskraft der Metapher hinaus noch zusätzliche Interpretationsleistungen in ihre Darlegung. Denn zum einen beginnt das ganze Coutureprojekt demnach bei der saelde, die zunächst den Stoff zur Verfügung stellt, den zuht, kiusche, reinekeit und tugent sodann weiterverarbeiten. Und zum anderen impliziert die besprochene Belegstelle auch, dass der Charakter ohne die gemeinsame und gerichtete Arbeit vieler ‚Schneider‘ nicht fertiggestellt werden kann: Er kann weder ein Zufallsprodukt noch das Ergebnis einseitiger Bemühungen oder gar naturgegeben sein. Doch eine solch elaborierte Ausgestaltung narrativer Zusammenhänge im Kontext der Minnetugenden ist wie gesagt eher Ausnahme als Regelfall. Deutlich häufiger sind die blümenden Umschreibungen auftretender Figuren,46 denen bei ihrer Einführung eine einigermaßen beliebig wirkende Auswahl metaphernverbrämter, positiver Eigenschaften zur Seite gestellt wird, wie in aller staete ein adamas / unde ein spiegel hôher tugent (Partonopier, V. 16 612f.). Dies bewirkt zwar eine lyrisch anmutende Wolke der Bilder und Metaphern, die die Figuren umgibt, aber im Sinne einer metaphorischen Handlung nicht an die Tugenden geknüpft ist.

2.2 Populäre Bildbereiche der Minnelyrik und ihr Zugriff auf topische, metaphorische sowie diagrammatische Strukturen Die Befunde der Untersuchung eines narrativen Gehalts der Minnetugenden zeigten einerseits wiederholt, dass die lyrisch-metaphorisch operierenden Erzählvorgänge sich bevorzugt an bestimmte Topoi des Minnesangs wie das Herz47 angliederten, und schätzten andererseits den mangelnden bildartigen Charakter der Tugenden in narrativer Hinsicht als problematisch ein. So liegt es nahe, in einem nächsten Schritt ebenjene bildhaften Topoi des Minnesangs zu betrachten. Wie schon thematisiert, sollen die zu diesem Zweck ausgewählten Bereiche der Blumen, der Augen und des Herzens dabei keineswegs den Eindruck vermitteln, außer diesen dreien sei kein || 46 Vgl. dazu Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘. Tübingen 2000 (Bibliotheca Germanica. 41). 47 Wieder brauchen diese Bewegungen sich nicht an generische Grenzen zu halten, sondern zeigen sich ebenso in verschiedenen Minneromanen, vgl. niwan durch daz vil arme klagen, / daz hie bî ze etelîcher zît / verborgen in dem herzen lît (Tristan, V. 198–200). diu trahte und daz ungemach / daz lag im in dem herzen ie / und erntete doch diu gelîche nie (Tristan, V. 15 916–15 918). Der künic dô betrahte / in sînes herzen ahte / sî wære einer vrouwen glîch (Flore und Blanscheflur, V. 467–469). grôziu sorge tuot mich âne sin, / die ich in mîme herzen trage / nâch der megede als ich sage (Flore und Blanscheflur, V. 3 142–3 145). alſo liep dir flore ſy / Den du in dem hertzen treiſt […] (Flore und Blanscheflur, V. 5 792f.). sîn herze was ein ouwe, / dar inne wuohs der êren bluot (Partonopier und Meliur, V. 296f.). Dîn tohter Schoysîâne in ir herzen besliuzet / sô vil der guoten dinge (Titurel, Str. 10). ûz ir herzen blüete saelde unt êre (Titurel, Str. 32).

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weiteres Untersuchungsmaterial vorhanden. In der Tat ließe sich Vergleichbares zweifellos auch für Sonne und Mond, Feuer und die Vögel des Minnesangs umsetzen, aber wie einleitend bemerkt wurde, bieten diese drei Topoi ebenso reichhaltiges, wie aussagekräftiges Belegmaterial. Es sollte also ein ausreichender Eindruck davon zu gewinnen sein, in welcher Form der Minnesang Ansätze einer narrativen Praxis über bildhafte Topoi realisiert.

2.2.1 Rosen, Lilien und andere Blüten Die Blume oder im weiteren Sinne die blühende Natur gehört – auch als paradiesisch-utopischer locus amoenus48 – unbestreitbar zum Standardrepertoire des Minnesangs, wobei ihr Auftreten eine schlicht die gewünschte Stimmung aufrufende Funktion haben oder gezielt auf weitere Inhalte verweisen kann. Beispielsweise bei Heinrich von Veldeke, dessen Lieder das Blumenmotiv bekanntlich besonders prominent verwenden,49 wird in die heraufbeschworene Jahreszeit (Swenne diu zît alsô gestât, / daz uns kóment beidiu bluomen und gras; MF 67,9) sodann die Aussageabsicht des betreffenden lyrischen Werks hineinprojiziert.50 In diesen Beispielen hat die Natur und haben die blühenden wie vergehenden Blumen zunächst die Funktion, einen Raum zu konstituieren, in den das Ich sich im Folgenden mit seinen Äußerungen einschreiben kann. Nicht notwendig aber muss es mit jenen pflanzlichen Requisiten im Laufe der nächsten Verse auch interagieren und häufig unterbleibt dies tatsächlich.51 Von einer ansatzartigen Narration geknüpft an die Blumen ist in diesen Fällen,

|| 48 Vgl. dazu etwa nur beispielsweise den Baumgarten in Flore und Blanscheflur, V. 4 403ff. 49 Vgl. die Abbildung der Manessischen Liederhandschrift, fol. 30r. 50 Vgl. zudem Swenne der meie die vil kalten zît besliuzet, / und daz tou die bluomen an der wise begiuzet, / und der walt von sange diuzet; Heinrich von Veldeke (MF H 259 54 C). diu zît hât sich verwandelôt, / der sumer bringet bluomen rôt; Heinrich von Rugge (MF 107,7). Nu lange stât diu heide val, / si hât der snê gemachet bluomen eine; Heinrich von Rugge (MF 106,24). Vgl. dazu weiterführend im Einzelnen Thomas Bein: Jahreszeiten. Beobachtungen zur Pragmatik, kommunikativen Funktion und strukturellen Typologie eines Topos. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hrsg. von Peter Dilg [u. a.]. Sigmaringen 1995, S. 215–237. Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner [u. a.]. Frankfurt am Main 2001 (Mikrokosmos. 64), S. 183–206. Katharina Philipowski: die werlte ist uf den herbest komen. Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. In: Projektion – Reflexion – Ferne, hrsg. von Glauch [u. a.], S. 85–120. Daniel Eder: Der Natureingang im Minnesang. Studien zur Register- und Kulturpoetik der höfischen Liebeskanzone. Tübingen 2016 (Bibliotheca Germanica. 66), besonders S. 167–196, zur kulturwissenschaftlichen Funktionalisierung S. 339–398. 51 Etwa in Heinrichs von Rugge Nu lange stât diu heide val (MF 106,24) wird zunächst die winterliche, ab Strophe drei die sommerliche Natur auf eine Art und Weise genutzt, die eher an einen

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sieht man einmal von den topisch-narrativen Verweisen in der Art der scripts und frames Hühns ab, nicht auszugehen. Stattdessen spielen die Blumen der betreffenden lyrischen Texte im Prinzip eine passive Rolle, die nicht einmal Interaktion, sondern nur Koexistenz umfasst. Daneben und in einem ersten Schritt der Ablösung von der beschriebenen Passivität ist es den Blumen möglich, auf eine Minnehandlung aufmerksam zu machen. Dann verweisen die knospenden Frühlingsblüten auf die derzeit ebenfalls neu erwachende Minne, wobei dieser Verweis sich nicht nur auf den Parallelismus des Neubeginns beschränkt, sondern auch mit dem locus amoenus als umfänglicherem Topos52 korrelierbar ist, wie beispielsweise bei Heinrich von Veldeke: Ez tuont diu vogelîn schîn, daz siu die buome sehent gebluot, ir sanc machet mir den muo sô guot, daz ich vrô bin Noch trûric niht kan sîn. (MF 64,17)53

Auch an dieser Stelle haben die Blumen noch lediglich Verweischarakter54 – wenn auch einen umfassenderen – und metaphorische Ausdrücke sind selten. Denn zumeist wird die Blume als unkomplizierter Hinweis auf Minneort und Minnezeit verwendet, häufig auch in Kombination mit Vögeln und Gesang.55 Interessante bildhafte Weiterentwicklungen der anfänglichen, aufrufend-verortenden Topoi treten nur zuweilen auf; dazu wieder Heinrich von Veldeke: Mîn liep mac mich gerne zuo der linden

|| stimmungsvollen Hintergrund erinnert, mit dem das Lyrische Subjekt sodann nicht interagiert, sondern den es lediglich als periphere Folie für seinen Monolog nutzt. 52 Vgl. Curtius, Europäische Literatur, bes. S. 101–104 u. 191–209. Vgl. Klein, Amoene Orte. 53 Vgl. weiterhin daz [Leid, D.R.] hât überwunden walt und ouch diu heide / mit ir grüener varwe kleide. / winter, mit dir al mîn trûren scheide!; Heinrich von Veldeke (MF H 259 53 C). In den zîten, daz die rôsen / erzeigent manic schoene blat, / sô verfluochet man den vröidelôsen; Heinrich von Veldeke (MF 60,29). 54 Einen besonderen Fall stellen dabei die roten Blumen und Rosen dar, die aufgrund der Farbsymbolik der minne nochmals stärker zugeordnet sind (vgl. MF 14,1; MF 19,7; MF 8,17; MF 34,3; MF 90,32; MF 107,7 u. MF 60,29) und mit der Dame im Großen und Ganzen, ihrem rosenroten Mund oder ihren Wangen vergleichend in Verbindung gebracht werden (vgl. dazu genauer: ich sach dâ rôsebluomen stân, / die manent mich der gedanke vil, die ich hin zeiner vrouwen hân; Dietmar von Eist (MF 34,3) sowie Walther L 28,1). Zur Farbsymbolik auf einer breiteren Textgrundlage vgl. Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler (Hrsg.): Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 1. bis 5. März 2009 in Bamberg. 2 Bde. Berlin 2011. 55 Vgl. Ez sint guotiu niuwe maere, / daz die vogel offenbaere / singent, dâ man bluomen siht; Heinrich von Veldeke (MF 56,1). die bluomen springent an der heide, / die vogel singent in dem walde. / Dâ wîlent lac der snê, / dâ stât nu grüener klê, er touwet an dem morgen; Heinrich von Veldeke (MF 58,23). Alse die vogel vróelîchen / den sumer singende enpfân, / und der walt ist loubes rîche / und die bluomen schône stân, / Sô ist winter gar vergân; Heinrich von Veldeke (MF 65,28).

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bringen, / den ich nâhe mînes herzen brust wil twingen. / er sol tou von bluomen swingen (MF H 259 55 C). In diesem Beispiel wäre die erste Naturverortung zuo der linden zwar noch wie eingangs als bloße Verankerung der folgenden Gedanken in einer halbkonkreten Räumlichkeit lesbar, obwohl gerade die Linde in der Minnedichtung bekanntlich nicht ohne Bedeutsamkeit ist. Aber spätestens der durch den Liebsten von den Blumen gefallene Tau ist eindeutig mehr als nur dies: Er bildet einen Handlungsverweis – und keinen harmlosen zudem – statt nur eine räumliche oder zeitliche Positionierung. Er kann als Abwandlung des Blumenbrechens und somit verweisend auf den Liebesakt56 gelesen werden und dabei wiederum als eine der oben erwähnten, schwierigen Unterscheidungen zwischen Metapher und Metonymie. Da zwischen den gebrochenen Blumen oder dem von ihnen geschwungenen Tau und der Minneerfüllung eine räumliche, zeitliche sowie kausale Verbindung besteht, wäre in diesem Fall für die Metonymie zu plädieren. Wichtiger als diese Deutung und die Entscheidung über den konkret formalen Charakter der Blüten in dieser Belegstelle ist jedoch, dass hier ein Zwischenstadium der Komplexität vorliegt, bezogen auf die oben eröffnete Bewegung von simplen Verweisen hin zu anspruchsvollen Funktionalisierungen der floralen Elemente in Minnesangliedern. Die Blumen sind nicht mehr ausschließlich stimmungsvoller Hintergrund, sondern Interaktionsgegenstand, dabei aber Requisit der im Lied ausgestellten Handlung. Bestandteil einer lyrischen Narrativität in der Art und Weise metaphorischer Narrationsansätze sind die Blumen des Minnesangs bis zu diesem Punkt noch nicht. Einen weiteren Schritt gehen einige Beispiele Heinrichs von Veldeke, Walthers und Hartmanns von Aue. Heinrich und Walther nutzen als Weiterentwicklung der bluomen den Kranz; so lässt ersterer ein weibliches Ich äußern: ich wil umb ein niuwez krenzel mit im ringen (MF H 259 55 C). Darin liegt eine keineswegs singuläre57 Metonymie, die dem Blumenbrechen ähnelt und weiterführend über den Kranz als Lyrik oder das Lied selbst gedeutet werden kann, das der Sänger seiner Auserwählten darbringt: einen Kranz aus blütenzarten Worten. Auf diese Art und Weise liegt in der Tat eine Metapher vor (‚das Lied ist ein Kranz, seine Worte sind Blumen‘), die jedoch nur im

|| 56 Vgl. Unter der linden / an der heide, / dâ unser zweier bette was, / dâ mugent ir vinden / schône beide / gebrochen bluomen unde gras; Walther (L 39,11). Vgl. weiterhin Lieb mir geschah. / wær diu lieb also beliben! / ich chom da ich vil rosen vant. / seht, der brach ich eine, diu wart schier verlorn. / leid und ungemach / hat vreude vil vertriben. / ich sag iu wie mir nu geschach: / do ich si brach, do tet mir we ein ungevueger dorn, / daz ich wil / hiwer vil / gewisse rosen brechen, / ichn seh ob iz der rehten eine si. / sumeliche rosen chunnen stechen, / rehte rosen sint aller wandelunge vri; Neidhart (SNE I R38, VII,1–14). 57 Vgl. beispielsweise weiterhin Chomen ist uns ein liehtiu ougenweide. / man siht der rosen wunder uof der heide, / di blumen dringent durch daz gras. / wie schon ein wis getowet was, / da mir min geselle z’einem chranze las; Neidhart (SNE I R51, II,1–5).

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Hintergrund wirkt, weil die Stelle parallel immer auch als wortwörtlicher Blumenkranz der histoire-Ebene lesbar bleibt. Die Metapher des discours und damit auch ihr Narrationsansatz sind optionale Deutungszugewinne; so auch in Walthers Kranzlied58 L 74,20: ‚Nemet, frowe, disen kranz‘ / alsô sprach ich zeiner wol getâner maget, / ‚sô zieret ir den tanz / mit den schœnen bluomen, als irs ûfe traget‘. Vergleichbar und doch eigenständig in ihrer poetischen Funktionsweise sind die einzigartigen kristes bluomen aus Hartmanns Kreuzlied MF 210,35, die sowohl als Kreuzzeichen auf den Gewändern der Kreuzfahrer als auch als Male Christi am Kreuzesbaum gedeutet werden.59 Die durch Hartmann eröffnete Verbindung, bei der die konkret bevorzugte Deutung zunächst offen gelassen werden kann, ist ausschließlich assoziativer, poetischer Natur und entbehrt jeder rein logischen Verknüpfung, die zur Interpretation als Metonymie nötig wäre. Folglich liegt eine Metapher vor und keine konventionalisierte zudem, wie an den nicht zur Ruhe kommenden Deutungen sichtbar wird. Denn die Interpretation einer unzureichend habitualisierten Metapher, für die in Hartmanns Fall schon ihre Singularität spricht, ist zwar durchaus risikoreich,60 aber im Zuge der Unsicherheit auch mit einer erhöhten epistemologischen Durchschlagskraft verknüpft. Ihre Liminalität ist zugleich prekär und ungeheuer fruchtbar. So kann es zu verschiedensten Lesarten kommen, von denen insbesondere die Interpretation als Wundmale Christi den theologisch-didaktischen Gestus des Liedes aufgreift und verstärkt. Im Falle einer solchen Deutung kann von einem metaphorisch verfassten Ansatz basaler Narration gesprochen werden, wie er oben ausgeführt wurde. Abzweigend vom syntagmatischen Verlauf des Liedes, der konstatiert, dass das Lyrische Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt kristes bluomen wählte und diese Wahl entscheidenden Einfluss auf seine seelische Verfassung ausübte etc., verläuft das assoziative Kleinstnarrativ des metaphorischen Ausdrucks. Jener postuliert eine Identitätsrelation zwischen den Wunden Christi und – naheliegenderweise roten – Blumen, in die sich einerseits die Tradition roter Blumen des Minnesangs hineinlesen lässt.61

|| 58 Vgl. klassisch dazu: Wolfgang Mohr: Vortragsform und Form als Symbol im mittelalterlichen Liede. In: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. Hrsg. von Hans Fromm. Darmstadt 1985 (Wege der Forschung. 608), S. 211–237. 59 Vgl. im Einzelnen Helmut Brackert: Kristes bluomen. Zu Hartmanns Kreuzlied 209,25. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Festschrift für Peter Wapnewski. Hrsg. von Rüdiger Krohn. München 1983, S. 11–24. Kemper, Zum Verständnis der Metapher Kristes bluomen. 60 Vgl. Abschnitt 1.3.2. 61 Vgl. Ich sach boten des sumeres, / daz wâren bluomen alsô rôt; Meinloh von Sevelingen (MF 14,1). diu zît hât sich verwandelôt, / der sumer bringet bluomen rôt; Heinrich von Rugge (MF 107,7). Vil süeziu frowe hôhgelopt mit reiner güete, / dîn kiuscher lîp gît berndez hôhgemüete, / dîn munt ist rôter danne ein liehte rôse in touwes blüete; Walther (L 27,27).

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Aber zugleich verweist diese Relation aber auch auf die mystifizierenden Implikationen der Erlösung,62 auf deren Grundlage en passant die gesamte dazugehörige Geschichte der Opferung aufrufen wird; dies jedoch nur topisch-narrativ nach Art der scripts und frames. Während das über topische Verweise aufgespannte Netz das Lied MF 210,35 folglich in einen vielgestaltigen Traditionszusammenhang einbindet, eröffnet die metaphorische Verknüpfung zugleich einen Gedankenspielraum, in dem der Haltbarkeit der These einer bidirektionalen Beziehung nachgespürt werden kann: Sind also nicht nur Wunden Blumen, sondern teils vielleicht auch Blumen Wunden? Die sich derart aufdrängenden Anschlussinterpretationen führen zum einen wieder zurück auf die gebrochenen Blumen als Chiffre für verletzte Jungfräulichkeit, die so in einer Vielzahl der Minnelieder mitschwingen. Und nicht zuletzt bieten sie auch eine Möglichkeit, sich rätselhaften Stellen wie dem versehrten mündelîn der Dame bei Heinrich von Morungen (MF 145,9) aus einer neuen Richtung zu nähern. Somit lassen sich unterschiedliche poetische Muster feststellen, die von den Blumen des Minnesangs ausgehen. Einerseits umfassen sie einen schlicht aufrufenden Modus, andererseits einen fortdeutenden Verweischarakter, der sich auch auf Handlungen richten kann. Diese Handlungen finden auf der histoire-Ebene des Liedes statt, jedoch teils außerhalb des dargestellten diegetischen Weltausschnitts, indem beispielsweise auf die Blumen Bezug genommen werden kann, die vor dem Zeitpunkt gebrochen wurden, an dem sich das Lied verortet. Oder aber neu knospende Blüten deuten auf eine kommende Liebeszeit, die wiederum außerhalb der Liedäußerung liegt. Nochmals anders verhält es sich mit metapoetischen Aussagen wie Veldekes Kranz, der durch den Bezug auf die Gemachtheit der Lyrik eine discours-Ebene anspricht, die sich von der der Metaphern wie kristes bluomen nochmals unterscheidet. Es zeigt sich folglich, dass die Blumen des Minnesangs als ein erstes Belegfeld bereits eine Vielzahl faszinierender Funktionalisierungen ausbilden, wobei jedoch die aufrufenden, recht simpel konstruierten solche komplexerer Machart quantitativ weit übersteigen.

2.2.2 Der Augen Blick Wie die Blüten so bilden auch die Augen der Figuren im Minnesang einen häufigen Bezugspunkt der Äußerung, denn sie nehmen auf dem Weg zum Herzen der Figuren – Gudrun Schleusener-Eichholz versammelt eine Vielzahl nicht nur mittelhochdeutscher Belege63 zu diesem Bildfeld – und damit für die Macht der Minne eine

|| 62 An dieser Stelle zeigt sich deutlich die eingangs angesprochene Relevanz weiterführender Studien zu mystischer Lyrik. 63 Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter. 2 Bde. München 1985 (MMS. 35), S. 887– 891.

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richtungsweisende Position ein. Dies wird beispielhaft bei Heinrich von Morungen in seiner Poetik des schouwens64 umgesetzt: Si kam her dur diu ganzen ougen / sunder tür gegangen (MF 127,1) Bei Wolfram erscheint es sogar verdoppelt, weil hier der Blick der Dame durch die Augen des sich äußernden Ichs bis in dessen Herz hineindringt und somit beide Augenpaare verknüpft: ir ougen bringent mich in nôt / sie dringent in mîn herzen grunt (MF 9,37). Diese beiden metaphorischen Vorstellungen des liebenden Blicks basieren zum einen auf der vormodernen Vorstellung eines Sehstrahls, der aus dem Auge austritt und vom Betrachteten dorthin zurück reflektiert wird.65 Die grundlegende Annahme hierzu geht bis auf Platon zurück. Zum anderen können sie aber auch mit einer gänzlich anderen Perspektive aktualisiert werden, wie in Reinmars Si gie mir alse sanfte dur mîn ougen, / daz sî sich in der enge niene stiez. / in mînem herzen sî sich nider liez (MF 194,18). Dies fügt dem Toposfeld – anders als die verstärkt metaphorisierenden Anwendungen der Blumen bei Heinrich von Veldecke und Hartmann – interessante Umdeutungen hinzu, indem die Zierlichkeit und Artifizialität des bekannten Vorgangs unter Zuhilfenahme sich realistisch inszenierender Anklänge elaboriert wird. Denn nur durch die außergewöhnliche Sanftheit der Dame ist es demnach möglich, dass die Enge innerhalb des sich äußernden Ichs unproblematisch bleibt. Reinmar gelingt es so auf äußerst begrenztem Raum, sowohl geschickt den Anschein einer realistischen Umdeutung der bekannten Metapher zu geben als auch die ausgestellte Realistik als poetischen Kniff zugunsten des Frauenlobs zu nutzen, statt die Gesetzmäßigkeiten und Sprachformen der poetischen Tradition angesichts realistischer Gegebenheiten ins Leere laufen zu lassen oder zu entlarven.66 || 64 Vgl. dazu Ingrid Kasten: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts. Heidelberg 1986 (GRM Beihefte. 5), S. 319– 343. 65 Vgl. zu den antiken Theorien des Sehens genauer die Ausführungen bei David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Frankfurt am Main 1987, S. 17–46, hier besonders S. 27 u. 37. Dort legt Lindberg dar, dass Aristoteles die erste vollständige und systematische Untersuchung des Sehens liefert, nachdem zuvor durch Platon und die Vorsokratiker nur kurze Äußerungen zum Thema getätigt wurden. Wo Aristoteles noch davon ausgeht, dass im Verlauf des Sehprozesses ebenso etwas in das Auge hineingehe wie hinaus, vertritt Euklid schließlich in De visu die mathematisch fundierte Ansicht, die sich heute als Sehstrahltheorie bezeichnen lässt. In welchem Umfang die Theorie Euklids eine mathematische ist, verdeutlicht wiederum Harry Edwin Burton: The Optics of Euclid. In: Journal of the Optical Society of America 35 (1945), S. 357–372. Die mittelalterliche Rezeption der Optiktheorie Euklids untersucht Wilfred R. Theisen: The Medieval Tradition of Euklid’s Optics. Diss. masch. Madison 1972. Vgl. zum metaphorischen Gehalt des Blicks weiterführend Gudrun Schleusener-Eichholz: Art. Sehen. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern (2008), S. 368–375. In stupender Ausführlichkeit nochmals dies., Das Auge im Mittelalter, dort zum Sehstrahl besonders S. 60–68, zur Metaphorik im Umfeld des Auges S. 849–930. 66 Beispielhaft für ein solches Zerbrechen der Metaphernebene an realistischen Deutungen kann auf die Figur Markes bei Gottfried von Straßburg verwiesen werden, die sich über einen Großteil des Tristan hinweg von Tristan und Isolde täuschen lässt, weil sie die Metaphern und verborgenen Verweise

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Das Aussenden und Eindringen der Blicke zwischen Ich und Dame kann zudem als die Etablierung einer diagrammatischen Relation gelesen werden. Die bearbeitete kulturelle Frage- und Problemstellung wäre in diesem Fall vielleicht als Entstehungsmodus67 der Minne zu beschreiben. Die im Verlauf des diagrammatic reasoning auszubildenden, maßgebliche These in diesem Zusammenhang könnte erstens ‚Minne beginnt beim Ich (Subjekt)‘ lauten, das den Sehstrahl aussendet. Im Widerstreit dazu steht zweitens ‚Minne beginnt beim Du (Objekt)‘, das diesen Sehstrahl so reflektieren muss, dass er zurück und bis ins Herz des Subjekts hineinfällt. Damit ergibt sich ‚Minne beginnt im Herzen‘ als dritte These. Diagrammatisch ist diese Beziehung aufgrund der graphischen Vorstellung, die den wesentlichen Gedanken der Aufnahme bzw. Entstehung der Liebesbindung knapper und zugleich umfassender auszudrücken vermag als jede wortreiche Ausführung des Gemeinten. Eine Option auf Anreicherung wie Beeinflussung erhält dieses initiale Diagramm aufgrund der Tatsache, dass neben den Liebenden auch die restliche höfische Gesellschaft zum einen über das Medium des Blicks verfügt. Folglich kann sie sich verschiedentlich in die Beziehung zwischen dem Ich und der Dame einmischen, indem sie eigene Sehstrahlen zur Hilfe nimmt. Und zum anderen ist die Gesellschaft somit auch in der Lage, die Verbindung zwischen diesen beiden wahrzunehmen, obwohl sie es nach deren Wunsch besser unterließe. Da dargelegt wurde, dass es für die Gültigkeit eines solchen diagrammatischen Konzepts nicht notwendig ist, alle denkbaren Relationen in nur einem Lied vorzufinden, sondern es vielmehr das gemeinsame Konstrukt einer Vielzahl der Lieder der Tradition sein kann, ist der Einbezug verschiedener Belegstellen und Autoren nicht nur unproblematisch, sondern geradezu konstitutiv.

|| auf die Liebe zwischen den beiden nicht sieht bzw. trotz ihrer Wahrnehmung nicht lesen kann. Um nur einige wenige Höhepunkte dieser Fehlsichtigkeit zu belegen, sei zum einen an die Baumgartenszene erinnert, in der Marke in einem Ölbaum sitzend dem zutiefst doppelsinnigen Gespräch zwischen Tristan und Isolde tatsächlich nur dessen Oberflächenstruktur abgewinnen kann. Zum anderen wäre da noch die Entdeckung in der Minnegrotte, in der Marke, als er die beiden Liebenden erblickt, die getrennt nur durch ein Schwert auf dem Bett liegen, die folgenden Verse spricht: ‚genaedeclîcher trehtîn, / waz mag an disen dingen sîn? / ist iht des under dîsen geschehen, / des ich mich lange hân versehen, / wie ligent si alsus danne? / wîp sol doch liebem manne / under armen zallen zîten / kleben an der sîten: / wie ligent diese gelieben so?‘ (Tristan, V. 17 521–17 529). 67 So auch bei Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, S. 1111. Einen diagrammatischen Fokus wählt die Autorin indes nicht.

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Abb. 3: Diagrammatische Beziehungen der Blicke

Und obwohl an gleicher Stelle auch dafür plädiert wurde, diagrammatische Konstruktionen nicht als narrative Ansatzpunkte zu interpretieren, ist das Diagramm hier dennoch relevant für die Frage nach Lyriknarrativen, denn die Grundlage der beschriebenen diagrammatischen Konfiguration ist eine metaphorische: ‚Der Blick ist ein (Licht-)Strahl‘. Damit lässt sich folglich nicht nur wiederum eine jener abzweigenden Kleinstgeschichten beobachten, sondern auch ein Licht auf die Zusammenarbeit von Metapher und Diagramm werfen. Wie bei den Blumen zuvor, so kann auch die fragmentarische Narration im Umfeld des Blicks weiter typisiert werden. Einerseits liegt wiederum eine histoire-basierte Narration über zeitliche Achsen und Marker, andererseits die topisch mehrere Texte zusammenführende Form des narrativen Ansatzes vor. Drittens steht im Umfeld der Blicke analog zum Beispiel der Zinne die Möglichkeit zur Verfügung, mit dem topisch initiierten und diagrammatisch verlaufenden Strukturmechanismus der ausgesendeten und einfallenden Sehstrahlen eine den verschiedenen

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Narrationsansätzen dieser Handlungen übergeordnete Abstraktionsfigur auszuformen und diese wiederum auf sie zu applizieren. Jene Abstraktion kann die einzelnen narrativen Fragmente eines temporal geordneten Syntagmas zudem in einen größeren Zusammenhang kultureller Fragestellungen einfügen. Und viertens zeigt sich auch die anhand der Blumen bereits vorgeführte metaphorische Narration wirksam (‚der Blick ist ein Strahl‘ sowie ‚das Auge ist ein Tor‘). Dieses Spektrum möglicher Narrationsansätze lässt sich für den Bildkomplex um Auge und Blick noch an einer Vielzahl weiterer Beispiele belegen, die im Einzelnen jedoch nicht immer einen ähnlichen Grad der Kunstfertigkeit erreichen. Denn auch in weniger bildmächtigen Verbindungen als mit dem Herzensgrund übt der Blick der Dame große, teils schmerzhafte Faszination auf das sich äußernde Ich aus, wie Ulrich von Gutenburg es darstellt: ich bin leider sêre wunt âne wâfen, / daz habent mir ir schoeniu ougen getân (MF 78,6).68 Hier wird über die Inszenierung des zunächst Widersprüchlichen – nämlich ohne Waffen verwundet worden zu sein – eine ähnliche Formulierung gefunden, wie eingangs bei Heinrich von Morungen mit dem türlosen Eintreten der Dame. Denn der in Anschlag gebrachte Widerspruch gibt zugleich den Blick frei auf die außergewöhnliche, feinsinnige Qualität des beschriebenen Vorgangs, die auch durch die ebenfalls analoge, implizite Metaphorik ausgestellt wird: ‚Die schoenen ougen sind Waffen‘. Daneben kann aus dem Erblickten schlicht ein positives oder negatives Gefühl abgeleitet werden, wie zwei Stellen Friedrichs von Hausen verdeutlichen: swanne sî mîn ougen sân, / daz was ein vröide vür die swâre (MF 45,28) gegenüber daz tâten mir diu ougen mîn, / der wolte ich âne sîn (MF 48,23). Eine besondere Rolle spielt hingegen der Topos der Blindheit, auf den hinzuweisen sich auch in Hinblick auf die erwähnte Rolle der die Liebenden69 umgebenden Gesellschaft lohnt: 'Sô wê den merkaeren! die habent mîn übele gedâht, si habent mich âne schulde in eine grôze rede brâht. si waenent mir in leiden, sô sî sô rûnent under in. nu wizzen alle gelîche, daz ich sîn vriunde bin Âne nâhe bî gelegen, des hân ich weiz got niht getân. staechent si ûz ir ougen! mir râtent mîne sinne ân deheinen andern man.' Meinloh von Sevelingen (MF 13,14)70

|| 68 Vgl. weiterhin dô ich ir ougen unde munt / sach wol stên únd ir kinne, / dô wart mir daz herze enbinne / von sô süezer tumpheit wund / Daz mir wîsheit wart unkunt; Heinrich von Veldeke (MF 56,19). 69 Vgl. dazu lâze ich niht durch die merkaere, / vrömede ich si mit den ougen, / si minnet iedoch mîn herze tougen; Friedrich von Hausen (MF 50,27). und ist daz mîn angest gar: / sîn nement wol tûsent ougen war, / wenne er kome, dâ ich in sê; Friedrich von Hausen (MF 54,1). Liez ich dô daz ouge mîn / tougenlîchen an daz dîn, / […] vrouwe, nam des ieman war?; Reinmar (MF 177,1). seht, des belîbe ich vröidelôs, / und wirt an mînen ougen schîn; Dietmar von Eist (MF 35,5). 70 Vgl. außerdem und möhte ich dir dîn krumbez ouge ûz gestechen; Friedrich von Hausen (MF 53,22).

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Diese Verwünschung der merkaere seitens des weiblichen Subjekts passt nun aufgrund der Verknüpfung von Sehen und Wissen (bzw. Blindheit und Nicht-Verstehen71) zu einer der absoluten Metaphern Blumenbergs, nämlich ‚Licht ist Wahrheit‘72. Obwohl zuvor darauf hingewiesen wurde, dass Blumenbergs Interpretation der Metapher in ihrem philosophischen Anspruch über das hinausgeht, was im Rahmen der vorliegenden Studie beabsichtigt wird, hindert dies doch nicht daran, auch diese implizite Metapher – neben einem möglichen philosophischen Erbe – wie beschrieben als ansatzartige Erzählung zu lesen. Die Rachegedanken des sich äußernden Ichs richten sich nun jedoch nicht etwa auf die jene Gerüchte hervorbringenden Zungen der Verleumdenden, sondern stattdessen auf deren Augen. Damit dürfte also nicht nur der Wunsch artikuliert sein, das missgünstige soziale Umfeld zum Schweigen zu bringen, sondern auch derjenige nach einer Wiederherstellung des verloren gegangenen Inkognitos. Ungehindert davon breitet sich die im Frühen Sang typischerweise stark ausgeprägte histoire-Narration aus, die auch Meinloh demonstriert (MF 13,14). Zeitlich geordnet legt das Subjekt dar, wie es erst eine nach eigener Aussage korrekte Minnebeziehung einging, dann die merkaere von dieser Beziehung erfuhren, daraufhin die Gerüchte verbreiteten, das Subjekt ihnen jetzt grollt und in Zukunft dennoch nicht von seinem Geliebten lassen wird. Ein topischer Kern wie die Blindheit, der zum einen mit anderen topischen Verdichtungen im Umfeld des Blicks verbunden ist, kann also zum anderen seinerseits auf histoire-narrative Einbettung wie auch auf metaphorische Expansion zurückgreifen. Eine weitere dieser Verdichtungen, die ähnliche Relevanz und Ausprägung der narrativen Qualität innerhalb des verknüpften Komplexes beanspruchen kann, ist die des Weinens. Obwohl die Bezüge häufig schlicht histoire-begründet sind,73 partizipiert das Weinen bei beispielsweise Heinrich von Morungen dennoch am vorgestellten diagrammatischen Konzept: Wol dem wunneclîchen maere, daz sô suoze durch mîn ôre erklanc, und der sanfte tuonder swaere, diu mit vröiden in mîn herze sanc, Dâ von mir ein wunne entspranc,

|| 71 Vgl. in Bezug auf Gott wir sîn mit sehenden ougen blint, / daz wir nu got von herzen niet mit rehten triuwen meinen; Heinrich von Rugge (MF 97,35). Dazu Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, S. 535–538, 1112. Die Autorin weist darauf hin, dass die Formulierung auf mangelnde oder gar abgewiesene Erkenntnis deutet, weil die Augen das Licht, das Erkenntnis bezeichnet, nicht wahrnehmen können oder wollen. Blumenberg, auf den auch oben abgezielt wird, war ihr bekannt. 72 Vgl. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, hier besonders S. 142. 73 Vgl. des werdent dâ nâch mîniu ougen vil rôt; Bernger von Horheim (MF 114,21). sîn vremeden tuot mir den tôt / unde macht mir diu ougen rôt; Reinmar (MF 155,38). Si ist mir liep und wert alse ê, / ob ez ir etlîchem taete in den ougen wê; Reinmar (MF 168,36).

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diu vor liebe alsam ein tou mir ûz von den ougen dranc. (MF 125,33)

In diesem Lied wird der Zusammenhang aus in das Subjekt eindringenden und es wieder verlassenden Medien anders gefüllt und dies, obwohl die Augen als Bezugspunkt durchaus vorhanden bleiben. Denn das maere, das sich aus dem restlichen Kontext des Liedes als positive Rückmeldung der Minneherrin deduzieren lässt, dringt zwar durch die Ohren des Subjekts ein, woraufhin sich eine besänftigende Freude in dessen Herz senkt. Die dort entspringende Wonne jedoch, mit der in Vorbereitung auf die weiteren Verse das Bildfeld des Wassers bereits anzitiert wird, ergießt sich sodann wie Tau aus den Augen. Bemerkenswert ist dabei zweierlei. Zum einen ist der einfallende Teil ein akustischer und kein visueller, was der Poetik des schouwens74 bei Morungen im Grunde seltsam entgegensteht. Und zum anderen wird auf diese Art und Weise das bekannte Schema in eine Richtung weiterentwickelt, die mit dem Eindringen ins Herz des Subjekts seine finale Wirkung noch nicht erfüllt, sondern stattdessen einen weiteren Schritt hinzufügt. Dieser bindet über einen entspringenden Quell einerseits das zuvor unverknüpfte Metaphernfeld des Wassers an den Prozess und funktionalisiert andererseits dennoch die im ersten Teil umgangenen Augen letztlich in der Position des Ausgangs statt des Einfallstors. Diesen Status einer Weiterentwicklung des Vorherigen kann die Aktualisierung bei Morungen auch in Hinblick auf die Einbettung der entstandenen Minnebindung in einen zukünftigen Rahmen verteidigen, der der einer Dienstannahme bzw. Etablierung von Gegenseitigkeit ist. Darüber hinaus ist die Verbindung zwischen der betauten Natur und dem weinenden Subjekt eine raffiniert metaphorische, obwohl zunächst aufgrund der stofflichen Ähnlichkeit von Tau und Tränen auch eine metonymische Relation naheläge. Denn die betaute Natur ist nicht nur in Hinblick auf den minneverknüpften Frühling bedeutsam, wie in der Betrachtung der topischen Blumen vorgebracht wurde. Darüber hinaus suggeriert die Überblendung mit dem Ich die tiefgreifende Ähnlichkeit beider Teilbereiche, der Natur und des Ichs, die sich anhand der analogen Mechanismen von Betauen und Beweinen lediglich artikuliert. Wie schon oben zur Metapher ausgeführt, wird auch hier davon ausgegangen, dass die Präsenz eines Vergleichspartikels der Metaphorizität der Aussage keinen Abbruch tut. Diese Behauptung einer Ähnlichkeit ist wiederum als metaphorische Narration fassbar, die als alternative Kleinsterzählung von der histoire-Ebene des Textes fortführt – auf der sich das Subjekt sodann an die erste Begegnung mit seiner Minneherrin erinnert etc. – und einen Raum zur Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten der metaphorischen Identität zur Verfügung stellt.

|| 74 Vgl. dazu nochmals Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert.

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Deutlich sollte damit nicht nur das evolutionäre Potential diagrammatischer Graphiken geworden sein, sondern auch die Fähigkeit topischer oder topisch verfestigter Inhalte, metaphorisch weitergesponnen und somit gleichsam wiederbelebt zu werden, für die Ulrich von Gutenburg ein weiteres, eindrucksvolles Exempel gibt: der schîn, der von ir ougen gât, / der tuot mich schône blüejen, / Alsam der heize sunne tuot / die boume in dem touwe (MF 69,20). In dieser Funktionalisierung lässt der konventionell zauberhaft wirksame Blick der Dame das Ich der lyrischen Aussage erblühen wie die Sonne die taufrische Natur. Ziel der Ähnlichkeitsbehauptung ist damit die Überblendung des Minnenden und der wachsenden, blühenden Natur, die unter Hinzunahme des weiblichen Blicks als wärmendem Sonnenstrahl mit dem Metaphernfeld ‚Minne ist Feuer‘75 verbunden wird. Dieses ist wiederum kein außergewöhnlicher Assoziationsbereich des Blicks, wie ein Beleg Heinrichs von Morungen bekräftigt: Mich entzündet ir vil liehter ougen schîn, / same daz viur den durren zunder tuot (MF 126,32). Der bereits ausgeführte Strahlencharakter des Blicks bleibt davon in seiner Metaphorizität unberührt bzw. fügt sich passend. Eine weitere Relationierungsmöglichkeit zu den großen Metaphernfeldern der Minne setzt Ulrich von Gutenburg um, indem er in der Fügung vom Blick der Dame als Rute, mit der das sich äußernde Ich gefangen wurde (MF 78,15), den Blick mit den Eigenschaften des Bindens und Klebens versieht, deren Wirkmacht im Umfeld der Minne Wessel herausgestellt hat.76 Zieht man die nun genannten Beispiele für eine Instrumentalisierung der Augen im Minnesang zusammen, lässt sich daraus ein poetisches Netz der Verweise und Bezugnahmen bilden, das einen Eindruck von der Funktionalität des Blicks in der mittelhochdeutschen Minnelyrik vermitteln kann. Soziale Schlüsselpositionen wie die der Dame und der Gesellschaft finden darin ebenso ihren Platz wie topische Knotenpunkte des Erkennens, Weinens oder der Blindheit. Mithilfe eines solchen Denkmodells lassen sich die Verbindungsstränge hin zu anderen bildhaften Bausteinen wie dem Tau, der Natur oder dem Feuer leicht vorstellen, die trotz der topischen Häufigkeit ihres Aufrufens in einer stark metaphorischen Aktualisierung poetisch neu belebt werden können. Diese (Re-)Metaphorisierung setzt sie zudem zu anderen Themen in Relation, die über die gleiche Metaphorik beschrieben wurden. So stellen der (An-)Blick der Dame und seine Auswirkung auf das sich äußernde Ich zwar eine enorm häufig verwendete Formulierung des Minnesangs dar, können durch Aufbietung von Feuer- (Morungen) oder Naturmetaphorik (Gutenburg) aber rekontextualisiert werden; zum Beispiel im Naturumfeld des Minneexkurses Gottfrieds im Tristan (Tristan, V. 12 229–12 260) oder

|| 75 Vgl. beispielsweise: wizzet daz ich brinne / in der liebe als e ein gluot; Der Schenk von Limburg (KLD 34 I), weitere Beispiele im Abschnitt 1.3.2. 76 Vgl. Wessel, Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan und Isolde‘, S. 219–558.

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im feurig heißen Zusammenhang des Titurel77. Da sowohl topische als auch und insbesondere metaphorische Verbindungen als ansatzartig narrative Äußerungen interpretiert wurden, stellt das beschriebene poetische Netzwerk zugleich eine diagrammatischen Konfigurationen ähnliche Abstraktion dar, in die lyrische Geschichten eingearbeitet sind. Im Zuge der ausgebreiteten Beispiele konnte zudem demonstriert werden, dass die narrative Qualität der Augen bzw. des Blicks neben der liedinternen histoire-Ebene und der mehrere Lieder verknüpfenden, topischen Schicht vermehrt auch in die metaphorische Sphäre vorzustoßen vermag sowie diagrammatische Konfigurationen bearbeitet, vergleicht man dies mit dem Wirkumfang der Blumen zuvor.

2.2.3 Das Herz als Raum, Requisit und Handlungsmacht Wie vermutlich bereits an der zahlreichen Belegauswahl der bisherigen Untersuchung deutlich geworden ist, liegt mit dem Herzen eines der am häufigsten verwendeten Bildthemen des Minnesangs vor. Über einhundert Bezüge auf das Herz weist allein Des Minnesangs Frühling auf. Folglich kann das Herz sich in Sachen statistische Relevanz sogar mit der Zentraltugend der triuwe messen. Aber nicht nur die schiere Häufigkeit der Aktualisierungen ist bemerkenswert, sondern auch deren Funktionalisierungsvielfalt. Deshalb soll das Herz nun als abschließendes Beispiel der drei exemplarisch gewählten Minnesangtopoi sowohl einen Eindruck davon vermitteln, welche Vielzahl der Anwendungsperspektiven ein solcher Topos erfahren kann als auch indirekt davon, was die zuvor betrachteten beiden Beispiele noch nicht leisteten. Die Attraktivität des Herzenstopos im Minnesang kann einerseits nicht weiter überraschen angesichts der vormodernen Vorstellung vom Herzen als Sitz liebender Gefühle, das für alle Belange der minne wesentlich mitverantwortlich ist, und lässt sich an zahlreichen Beispielen belegen, für die stellvertretend nur auf Friedrichs von Hausen sô hât iedoch daz herze erwelt ein wîp (MF 47,9) und des Burggrafen von Rietenburg mîn herze erkôs mir dise nôt (MF 19,27) verwiesen sein soll.78 Interessant ist unter dem Gesichtspunkt der Narrativierungsmöglichkeiten andererseits das unterschiedliche Raum- und Handlungspotential, das den Herzensbezügen innewohnt und sich in verschiedenen Abstufungen darstellen lässt, deren erste exemplarisch durch Meinloh von Sevelingen und die ihn umgebende Tradition verkörpert wird. Sie nutzt das Herz und alles, was in Bezug darauf beschrieben wird, lediglich dazu, um

|| 77 Vgl. Abschnitt 1.3.2. 78 Vgl. die zusätzliche Verortung auch kognitiver Vorgänge im Herzen, die die volkssprachige Dichtung vornimmt, ebd., S. 39.

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einem Gefühl79 Ausdruck zu verleihen: im trûret sîn herze (MF 14,1), wie sanfte daz mînem herzen tuot, swenne ich in umbevangen hân (MF 16,1). Das Herz wird in dieser Ausprägung ausschließlich synekdochisch stellvertretend für das sich äußernde Ich genutzt. Ihm ist in seiner Trauer oder Freude zwar figürliches Potential zuzugestehen, aber es verfügt darüber hinaus noch über keine Handlungsgewalt und auch keinen Handlungsraum. Denn metaphorische Implikationen und selbst ein histoire-relevanter Requisitenstatus des Herzens mangeln dieser Ausprägung noch: dâ von mîn herze trûric was (MF 67,9). Bereits anteilig anders verhält es sich mit Formulierungen, die dem Herzen eine gegenständliche Qualität zuerkennen, mit deren Hilfe es nicht mehr bloß ein emotionales Korrelat des Subjekts ist, sondern für einen abgrenzbaren Teil der diegetischen Welt steht, mit dem erzählbare Handlungen ausgeführt werden können. So bildet Hartmann von Aue das Herz beispielsweise zu einem Gegenstand um, mit dem das sich äußernde Ich Handlungen vollziehen, das es nehmen oder geben kann: mîn herze hete ich ir gegeben / daz hân ich nû von ir genomen (MF 207,11) – ähnlich auch Friedrichs von Hausen si hat iedoch des herzen mich / beroubet gar vür alliu wîp (MF 42,1).

|| 79 Brigitte Scheer definiert folgendermaßen: „Ein Gefühl kann zunächst als innere Bewegtheit angesetzt werden und gehört dann quasi einem ‚natürlichen‘ Kontext an: es ist ein seelisches Vorkommnis.“ (S. 632) Scheer verweist zudem auf die Verwurzelung des Gefühls in der antiken Philosophie, betont aber auch deren negative Einstellung zur affektiven Natur des Gefühls. Im alltäglichen Sprachgebrauch erfährt das Gefühl eine weit ausgreifendere Funktionalisierung, die somit notwendig zur begrifflichen Unschärfe führt und ebenfalls Empfindung, Stimmung, Affekt, Leidenschaft, Sensibilität und Sinn umfasst. Vgl. Brigitte Scheer: Art. Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe 2 (2001), S. 629– 660. Die ‚Stimmung‘ wird wissenschaftlich durch David Wellbery nochmals wesentlich anders gefasst als das ‚Gefühl‘ bei Scheer und sodann über Ich-Bezug, Integrationspotential und kommunikative Wirksamkeit sowie einen präreflexiven, vorthematischen Charakter bestimmt. Wellbery konstatiert allerdings auch ein gegenwärtiges theoretisches Desinteresse am Begriff, das durch Hermann Schmitz’ ‚System der Philosophie‘ (vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 2/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Bonn 1987) und Gernot Böhmes Arbeiten zur Atmosphäre (vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik. In: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Hrsg. von ders. Frankfurt am Main 1995 (es. 1927), S. 21–48) Ausdruck findet, die sich jeweils für Gefühle nur in einem räumlichen Sinne interessieren. Vgl. David Wellbery: Art. Stimmung. In: Ästhetische Grundbegriffe 5 (2003), S. 703–733. Auf diese Studien bezieht sich auch Scheer, sieht sie jedoch keineswegs derart kritisch wie Wellbery, sondern als beachtenswerte Neuwendungen der Gefühle; so beispielsweise als ergreifende Mächte mit kollektivem Charakter in Schmitz’ Atmosphäre. Vgl. Scheer, Art. Gefühl, S. 629–632 u. 659.

124 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Abb. 4: Diagrammatische Potentiale des Herzens

Anhand beider Belegstellen zeigt sich, dass hier nicht mehr primär von Gefühlen die Rede ist, deren Ursprung oder Vermittler das Herz darstellt, sondern dieses gewinnt selbst eine Kompetenz, die es zum Teilnehmer erzählbarer Geschehnisse macht. Dabei bleibt die zuvor dominante Sphäre des Emotionalen weiterhin präsent, da das Herz als Requisit zudem die Liebe des sich äußernden Ichs symbolisiert, die dieses gibt oder nimmt, und synekdochisch auch das Ich als Ganzes, zieht man in Betracht, dass das Lyrische Subjekt des Minnesangs nichts hat und nichts ist außer seiner Liebe im Sang.80

|| 80 Vgl. Bleumer, Walthers Geschichten, S. 92. Diese Vorstellung führt bei Bein letztlich so weit, dass sich das Singen über das Singen verselbstständigt, vgl. Thomas Bein: Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minne-Sang. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Müller, S. 67–92, hier S. 85. Detlef Lieske weist ausgehend von der Kreuzzugslyrik ebenfalls auf die besondere Künstlichkeit des Minnesangs und seiner Ich-Figuren im Vergleich zur vermeintlich realitätsnäheren Kreuzzugsdichtung hin, vgl. Lieske, Mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik, S. 77. Konkret fasst Harald Haferland das Ich des Minnesangs als referentielles Kontinuum aus genau einem Sänger und einem Minnenden, das über keine Existenz außerhalb des Singens verfügt, vgl. Harald Haferland: Minnesang als Posenrhetorik. In: Text und Handeln, hrsg. von Hausmann, S. 65–105, hier S. 72f. u. 76. Ähnlich hat schon Gerhard Hahn die Verbindung von ich wirbe und ich singe beschrieben, vgl. Hahn, Zu den Ich-Aussagen in Walthers Minnesang, S. 97.

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Die Vorstellung des das komplette Subjekt enthaltenden Herzens ist wiederum eine diagrammatisch-metaphorische, die einerseits die beiden Vorstellungsschichten des Herzens als Teil eines sozialen Subjekts und als vollständige Existenzform eines Minnesubjekts gleichzeitig oszillierend präsent hält (Metapher). Andererseits verhandelt sie im gebildeten Verhältnis beider Existenzweisen die übergeordnete Frage der Hierarchie und Vereinbarkeit unterschiedlicher Verpflichtungen dieses Ichs (Diagramm); hier am Beispiel des Verschenkens oder Tauschens des Herzens. Aufgrund der Wirkweise der Metapher, die zwei unterschiedliche Wirklichkeiten nicht nur konfliktfrei, sondern darüber hinaus produktiv neben- bzw. übereinander präsent hält, kann sich dabei ein Erkenntnisprozess in Gang setzen, der in diesem speziellen Fall räumlich organisiert ist. Ausgangspunkt dieses Erkennens ist das soziale Konstrukt des Herzens als Teil des Subjekts, das dieses der Dame geben kann (MF 207,11), wobei vorausgesetzt werden darf, dass hiermit die Liebe des Subjekts gemeint ist, die es verschenkt.81 Doch offenbar ist das Ich, solange es singt, trotzdem nicht ohne liebende Gedanken, wenn es das Herz und damit seine Liebe der Dame gegeben hat: Denn zum topischen Wissen des Minnesangs gehört auch, dass nur singen kann, wer liebt.82 Folglich scheint die Liebe des sich äußernden Subjekts selbst dann nicht abzunehmen, wenn das Herz fortgegeben wird, und auch das Ich nimmt keinen Schaden bezogen auf seine Vollständigkeit. Damit ist ein weiteres Paradox des minnenden Subjekts aufgedeckt, das tatsächlich erst versehrt wird, wenn seine Liebe nicht erwidert oder zumindest günstig aufgenommen wird, wie beispielsweise Albrecht von Johansdorf verdeutlicht: Vrowe, iuwer haz tuot mir den tôt (MF 93,24).83 Wenn das Lyrische Subjekt demnach ohne positiv besetzte Liebe sterben muss, dann sind Liebe und Herz nicht nur ein Teil seiner Existenz, sondern das Ich ist das Herz und das Herz ist das Ich. Dies stellt zum einen den minnetheoretischen Endpunkt der Überlegung dar und erklärt zum anderen, warum dieses Subjekt beim Verschenken des Herzens keinen Verlust erfährt, denn eine Fragmentierung findet demnach gar nicht statt. Diese beiden Werte der minnetheoretisch vollständigen sowie der sozial begründet anteiligen Einheit von Ich und Herz sind in der metaphorischen Verwendung des Herzens im Minnesang parallel präsent. Und das paradoxe Zutreffen beider Aussagen ist dabei genau das, was im Anstoß eines Hinterfragens sowie des folgenden Sinnbildungsprozesses kreativ wirkt und über alles hinausgeht, was nur eine der beiden Weltsichten allein bewirkt hätte. Infolgedessen ist das

|| 81 Vgl. Hans Hugo Lauer, Ludwig Hödl: Art. Herz. In: LexMA 4 (1989), Sp. 2187f., hier Sp. 2187. Demnach knüpft der mittelalterliche Blick auf das Herz an der antiken Tradition an, die das Herz ihrerseits als seelisch-geistige Lebensmitte, Sitz von Schmerz und Gemütsbewegungen betrachtete. 82 Vgl. Höfner, Interdependenzen, Interferenzen, Intertextualitäten, S. 179. 83 Vgl. weiter Ir stüende baz, daz sî mich trôste, / danne ich durch sî gelige tôt; Heinrich von Veldeke (MF 66,32). senfter waere mir der tôt, / danne daz ich ir diene vil, / und si des niht wizzen wil; Burggraf von Rietenburg (MF 19,27). Vil süeziu senftiu toeterinne, / war umbe welt ir toeten mir den lîp, / und ich iuch sô herzeclîchen minne; Heinrich von Morungen (MF 147,4).

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Diagrammatische der Relation neben dem graphischen Charakter der Verbindungen zwischen dem Ich, dem Herzen und der Dame wiederum betont. Für diese, bisher einseitige Variante des aufgegebenen Herzens lassen sich verschiedentlich weitere Beispiele vorbringen, die sowohl das willentliche Aufgeben als auch den Raub durch die Dame umfassen.84 Jener recht unilateralen Beziehung steht der Topos des Herzenstauschs gegenüber, bei dem durch das Gegengeschenk des Herzens der Dame eine doppelte Verbindung gestiftet wird, ähnlich wie beim gegenseitigen Erblicken im vorherigen Abschnitt. Der Herzenstausch führt nun eine Fülle und Nähe spendende Einheit in der Zweiheit der Minnepartner herbei, so beispielsweise umgesetzt bei Hartmann von Aue oder noch prägnanter bei Wolfram: mîn herze hete ich ir gegeben, / daz hân ich nû von ir genomen (MF 207,11) bzw. Zwei herze und ein lîp hân wir (MF 3,12). Anknüpfend an die Überlegung, die dem Verschenken des Herzens eben keinen fragmentierenden Charakter zusprach, sondern sich zur paradoxen These vom zugleich verschenkten und behaltenen Herzen zuspitzen ließ, kann davon ausgegangen werden, dass durch den Tausch neben dem semantischen Surplus der metaphorischen Anordnung sogar noch etwas hinzugewonnen wird. Dies findet auf Ebene der Diagrammatik statt: Das Ich gibt sein Herz metaphorisch der Dame und stiftet somit eine Verbindung zwischen sich und ihr. Jener ersten wird durch das Herz der Dame eine zweite Verknüpfung hinzugegeben, das das Lyrische Subjekt erhält, ohne dass dessen Verbindung zu seiner Besitzerin jemals ganz gelöst würde. Somit ist das sich äußernde Ich seiner Dame nicht nur doppelt verbunden, sondern es hat im Grunde zwei Herzen: zwei herze und ein lîp. Wurde oben in Bezug auf den Augenblick festgestellt, dass mit diesem die Phase der Entstehung der Minnebindung und die Frage nach deren ideellem Ursprung bearbeitet wird, so ergibt sich analog für den Herzenstausch das Durchdenken des Problemfelds der Individualität zwischen Zweiheit und Einheit in der Minnebeziehung. Deren Doppelbindung expliziert das zweifach geschenkte Herz graphisch und (re)präsentiert der mit einem Doppelherzen ausgestattete Leib metaphorisch. Auch im Falle dieser Strukturen, die gegenüber den anfänglichen Beobachtungen zu einer gegenständlichen Qualität des Herzens im Minnesang einigermaßen komplex geworden sind, liegt doch noch immer der Status als Requisit einer auf der histoire-Ebene angesiedelten Handlung vor. Denn aus dem handlungspraktischen Verschenken des Herzens ergeben sich alle weiteren ausgeführten, diagrammatischen und metaphorischen Implikationen. Eine gänzlich andere Funktionalisierung tritt demgegenüber in der Verwendung des Herzens als Ort hervor, deren Ursprung

|| 84 Vgl. sît hât daz herze mir benomen, daz geschach mir ê von wîben nie; Dietmar von Eist (MF 34,30). vor aller nôt dô wânde ich sîn genesen, / dô sich verlie / mîn herze ûf genâde an sie; Friedrich von Hausen (MF 46,29). Sît ich daz herze hân / verlâzen an der besten eine; Friedrich von Hausen (MF 49,21). ich hân von kinde an sî verlân / daz herze mîn und al die sinne; Friedrich von Hausen (MF 50,9).

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ebenfalls bereits im Frühen Minnesang liegt. Dort wurde das Herz zunächst eher schlicht als nicht weiter ausdifferenziertes Behältnis für das Gefühl des Lyrischen Subjekts gesehen, wofür stellvertretend nochmals Meinloh von Sevelingen ins Feld geführt sei: senelîche swaere tragen / verholne in dem herzen (MF 12,1). Diffiziler wird diese Funktionalisierung sodann beim Kreuzzeichen Hartmanns von Aue: waz touget ez ûf der wât, / der sîn an dem herzen niene hât? (MF 209,25). Bei Friedrich von Hausen und Heinrich von Morungen erreicht sie schließlich detailliert räumliche Qualität:85 Mîn herze muoz ir klûse sîn, al die wîle ich hân den lîp. sô müezen iemer alliu wîp vil ungedrungen drinne wesen, swie lîhte sî sich getroeste mîn. Friedrich von Hausen (MF 42,19) West ich, ob ez verswîget möhte sîn, ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen. der enzwei braeche mir dasz herze mîn, der möhte sî schône drinne schouwen. Heinrich von Morungen (MF 127,1)

Friedrich von Hausen knüpft mit seiner klûse gleichsam an das topisch vorhandene, in seiner Örtlichkeit bereits konventionalisiert metaphorische Denken vom Herzen als Behältnis an. Doch darüber hinaus führt er es auf ein Gebiet hinüber, das die vorangegangene, vage Vorstellung eines füllbaren Hohlraums mit Konkretisierungen ausstattet, die zu einer Remetaphorisierung als einsame Wohnstatt der Minneherrin führen, in die keine andere Dame jemals Eingang finden kann. Bei Heinrich von || 85 Es ist in diesem Zusammenhang eine interessante Überlegung, wo genau jener Raum der Dame zu verorten sei. Schließlich ist bisher schon deutlich geworden, dass das Ich und sein Herz keine einfach oder einseitig zu umreißenden Lokalitäten sind. Einen ersten Einstieg bietet die Überlegung, ob bei derjenigen Dame im Herzen eine zwar metaphorische, aber doch vollständige vorliegt, die sich im metaphorischen Herzen des Subjekts befindet, oder ob es um nichts weiter als ihr Bild geht. Vgl. dazu im Einzelnen Sebastian Neumeister: Das Bild der Geliebten im Herzen. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, hrsg. von Kasten, S. 315–330. Friedrich Ohly: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Karl Hauck zum 60. Geburtstag. Hrsg. von ders. Darmstadt 1977, S. 128–155. Nigel F. Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‚Einwohnen im Herzen‘ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. 19. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink [u. a.]. Tübingen 2008, S. 197–224. Zweifelsfrei jedoch handelt es sich um einen Raum innerhalb des sich äußernden Ichs, in den das Korrelat der Dame durch die Liebe des Subjekts gebracht wird. Denn das Herz bleibt diesem selbst dann seltsam inhärent, wenn es an die Dame gegeben wird: Liebe fühlt das Ich schließlich noch immer. Sollte die Dame also gar in einem geschenkten Herzen wohnen (obwohl dieses kombinierende Beispiel im Minnesang nicht verwendet wird), wäre sie noch immer im sich äußernden Ich. Meinolf Schumachers Einschätzung, die Metaphorik des Herzens sei nicht sonderlich ausgeprägt, kann also – schon nach nur dieser knappen Überlegung und freilich kaum überraschend – nicht zugestimmt werden, vgl. Schumacher, Sündenschmutz und Herzensreinheit, S. 190.

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Morungen klingt demgegenüber nicht die Vorstellung einer Behausung durch, sondern eher die eines Schatzkästchens oder Schreins, in dem die beinhaltete Kostbarkeit der Minnedame bestaunt werden kann. Auch diesen Funktionalisierungen des Herzens im Minnesang ist eine Narrativität eigen, doch gestaltet sich diese nicht auf der histoire-Ebene wie in der Form des Requisits oben, sondern im discours der oben beschriebenen, metaphorischen Narrationsansätze, macht man sich die Aussagen ‚das Herz ist eine Klause‘ und ‚das Herz ist ein Schrein‘ bewusst. Jene tragen mit den Anklängen eines Eremitentums und eingeschlossener Reichtümer ein weit umfassenderes Sinnpotential mit sich als die schlicht räumliche Qualität zuvor. Auffällig ist dabei, dass in Bezug auf das Herz nochmals eine besondere Verbindung von metaphorischer und histoire-Narration gesucht wird, da sich bei Friedrich von Hausen weitere Bilder und Bewegungen an die Metapher der Herzensklause angliedern, die somit entgegen dem sonst üblichen Andeutungscharakter metaphorischer Narration sogar auserzählt wird. Und auch Heinrich von Morungen verweist auf die konjunktivische Handlung des Aufbrechens seines Herzensschreins, dessen metaphorische Konstitution der Kerngedanken der Strophe MF 127,1 ist, aber auch außerhalb ihrer Ausdehnung das Denken des Autors prägt, wie zwei weitere Belege verdeutlichen: Mich wundert harte, daz ir alse zarte kan lachen der munt. ir liehten ougen diu hânt âne lougen mich senden verwunt. Diu brach alse tougen al in mîns herzen grunt. dâ wont diu guote vil sanfte gemoute. des bin ich ungesunt. (MF 141,15) Sî kan durch diu herzen brechen sam diu sunne dur daz glas. ich mac wol von schulden sprechen: „si ganzer tugende ein adamas!“ Sô ist diu liebiu vrowe mîn ein wunnebernder süezer meije, ein wolkelôser sunnen schîn. (MF 144,24)

Während die erste Strophe den Topos des Hineingelangens der Dame in das Herz des sich äußernden Ichs aufgreift und durch die Etablierung eines Herzensgrundes vertieft, so verbindet der zweite Beleg das bekannte Bildinventar mit dem Metaphernfeld des Lichts, um aus dieser Verknüpfung eine neue, lebendige Aktualisierung zu schaffen. Die Dame fällt demnach in das Herz wie Sonnenlicht durch Glas, womit nicht nur der Metapherntradition der Minneanfänge ein weiteres Glied hinzugefügt, sondern auch am zuvor ausgeführten, diagrammatischen Komplex des Hineingelangens der Dame ins Herz weitergearbeitet wird. Besonders bemerkenswert ist in diesem

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Zusammenhang, dass Heinrich von Morungen in dieser Belegstelle der Augen nicht bedarf, wenn die visuelle Komponente durch den Rückgriff auf das Licht auch dennoch mitschwingt, verglichen mit dem akustischen Schwepunkt der im vorangegangenen Abschnitt besprochenen Stelle. Ebenfalls Anteil am Komplex des Herzens als Örtlichkeit hat der Herzensacker Ulrichs von Gutenburg: Si saejet bluomen unde klê / in mînes herzen anger (MF 69,10), wobei sich der Eindruck verfestigt, dass die einzelnen Dichter der Minnesangtradition durchaus über bevorzugte Metaphernkomplexe verfügen. Denn der Genannte hatte sich einerseits auch oben bereits mit naturbezogenen Bildern des Säens, Blühens und Wachsens hervorgetan und Heinrich von Morungen andererseits scheint den Beispielen der vorangegangenen Abschnitte zufolge eine Vorliebe für Licht-, Feuer- und Sicht-Metaphern zu hegen. Walther wiederum präferiert etwa Verbindungen der Minne mit Bildern des Schusses in auffälliger Art und Weise.86 Jener fügt auch dem Bereich des Herzens als Raum einen eigenen Höhepunkt hinzu, indem er dem Eindringen ins Herz größere Aufmerksamkeit widmet, wie es bereits in Bezug auf die Augen expliziert wurde. Leitend ist dabei für Walther allerdings die Frage, wie das Subjekt im Gegenteil Einlass in das Herz des weiblichen Gegenübers finden kann, Erwiderung also zu erreichen ist: Ir herze ist rehter fröiden vol, mit liuterlîcher reinekeit gezieret wol. erdringest dû dâ dîne stat, sô lâ mich in, daz wir si mit ein ander sprechen: mir missegie, dô ich ez eine bat. (L 55,17)

Die Minne soll demnach ins Herz der Dame eingehen und dem sich äußernden Ich die Tür von innen öffnen, da es dies bisher selbst nicht zu bewerkstelligen vermochte. Infolgedessen erfährt das Herz als Raum eine neue Wendung, die dessen Eigenschaft

|| 86 Vgl. Frowe, lât mich des geniezen, / ich weiz wol, ir habt noch strâle mê. / mugent irs in ir herze schiezen, / daz ir werde mir gelîche wê? (L 40,35). Vgl. weiterhin Im wart von mir in allen gâhen / ein küssen und ein umbevâhen: / dô schôz mir in mîn herze, daz mir iemer nâhe lît, / unz ich getuon, des er mich bat (L 119,26). Das Herz kann bei Walther auf das Gesamtœuvre betrachtet einerseits dafür zuständig sein, Liebe zu empfinden (L 42,7 u. L 93,19), muss es aber nicht (L 50,1 u. L 50,19), kann sehen (L 99,20), sprechen (L 63,20), hohen muot abbilden (L 167,11 u. L 41,13), leiden (L 53,1 u. L 54,1), brechen (L 37,4), bereuen (L 6,21 u. L 37,4), die Wahrhaftigkeit des Gefühlten verbürgen (L 13,33), synekdochisch für die Schenker stehen (L 21,10) oder den innersten Kern des Menschen (L 37,24; L 72,9 u. L 96,1). Der Umstand, dass es bei Walther das die Geliebte auswählende Herz nicht gibt, erlaubt sicherlich keine grundlegenden Schlüsse, aber vielleicht doch den Hinweis auf eine im Vergleich zu den Dichtern aus Des Minnesangs Frühling und epischen Beispielen abweichende Tendenz der Funktionalisierung: Die ausgestellte Beziehung zwischen sich äußerndem Ich und dessen Herz, deren Machtverhältnisse für Walther offenbar weniger von Interesse sind als jene Macht, die das Ich in seiner Rolle als Singender ausüben kann, ist bei Walther eine andere. Vgl. dazu L 72,31f. (Sumerlatenlied), L 64,31f. (Owê, hovelîchez singen) sowie L 110,27f. (Wer kan nû ze danke singen?).

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als begehbare Lokalität der Handlung weiterspinnt. Denn Walthers Lied stellt die minnetheoretische These auf, dass das Herz einem Außen verschlossen bleibe, wenn es nicht von innen heraus geöffnet wird, wonach es nicht mit Gewalt in Besitz genommen, sondern nur sanft erobert werden kann – mithilfe einer Allianz aus der Minne und dem sich außerhalb befindlichen Subjekt des Liedes. Walther ist es zudem, der die Verbindung der Felder des Herzens und des Blicks auf verschiedene Art und Weise tiefergreifend vorantreibt, indem er zum einen den Blick ins Herz als Erkenntnis der Gefühlswelt des Gegenübers deutet – wie in Ich gesach nie houbet baz gezogen, / in ir herze kunde ich nie gesehen (L 52,31) bzw. der ime in sîn herze kan gesehen, / an des genâde suoche ich rât, / Daz er mirz rehte erscheine (L 71,19) – und zum anderen das Herz als ein mit dem Blick der Augen konkurrierendes, zwar sekundäres, aber offenbar doch überlegenes Sehorgan des Subjekts zulässt: sîn gesach mîn ouge lange nie. sint ir mînes herzen ougen bî, sô daz ich âne ougen sihe sie? Dâ ist doch ein wunder an geschehen. wer gap im daz sunder ougen, daz ez si zaller zît mac sehen? […] dâ mitte sihe ich dur mûre und ouch dur want. (L 99,20 u. L 99,27)

Der Blick des Herzens, dechiffrierbar als Gedenken, ist demnach mächtiger als der physisch primäre des sich äußernden Ichs, kann Hindernisse überwinden und so jederzeit seinen Weg zur Dame finden – vollkommen ohne Augen zu besitzen, wie Walther feinsinnig bemerkt. Doch er kombiniert in diesem Textbeispiel nicht nur die beiden Motivkomplexe Herz und Blick, sondern entwirft zudem aus dieser Kombination die Kompositmetapher des sehenden Herzens. Sie entfaltet eine narrative Qualität, die über jene des bewohnten Herzens hinausgeht, und fügt auch den beschriebenen diagrammatischen Relationen des Blicks ihren eigenen Aspekt hinzu: Indem an die Stelle des sich äußernden Ichs und seiner physischen Gegebenheiten das Herz tritt, wird nicht nur die minnespezifische Existenzweise dieses Subjekts betont, sondern die Augenblicke werden zudem durch die Herzensblicke – die liebenden Gedanken – substituiert. Infolgedessen führt Walther die Wirkungsweise der Minne vor, ohne auf wortreiche Erklärungen zurückgreifen zu müssen. Dies entspricht dem Prinzip von Metapher und Diagramm gleichermaßen. Beispielhaft für eine solche Alternative der ausufernden Explikationen sei verwiesen auf L 81,31. Doch das Aufrufen des Herzens als Örtlichkeit muss nicht zwingend mit minne und der Dame in Verbindung gebracht werden, sondern diese Verwendungen sind vielmehr als Symptome in einem größeren Kontext lesbar, der an ebenjenen Stellen umso deutlicher wird, an denen die minne zur Dame gerade fehlt. Einige Kreuzlieder bieten hierfür aussagekräftige Beispiele. So formuliert Albrecht von Johansdorf in Hinblick auf die heidnischen Verleumdungen Marias, deren Untragbarkeit Albrecht

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als eine der Begründungen für den Kreuzzug anführt: swem disiu rede niht nâhe an sîn herze vellet, / owê, war hât sich der gesellet! (MF 89,32). Auch Hartmanns bereits thematisierten Verse lassen sich als Beleg für das gleiche Phänomen verwenden: waz touget ez ûf der wât, / der sîn an dem herzen niene hât? (MF 209,25). Das Herz des Lyrischen Subjekts, aber auch das des adressierten Rezipienten, ist folglich jener Ort, der auf besonders Nahestehendes verweist,87 den Kern seiner Existenz in einem ideellen Sinne berührt. Der Hinweis von Schulz, im mittelalterlichen Denken sei das Herz nicht nur der Sitz liebender Gefühle, sondern auch der Vernunft und des Subjekts,88 fügt sich passend. Wird das Kreuzzeichen Hartmanns an jener konstituierenden Stelle getragen, dann liegt damit zum einen wiederum eine metaphorische Äußerung89 vor und zum anderen ist das Kreuz dem Ich im obigen Sinne nahe: ihm unhintergehbar und innerlich zugeordnet.90 Wenn es sich ausschließlich auf der Kleidung befindet, kann es jedoch einfach abgelegt werden. Zum Bereich der nicht auf die Minne ausgerichteten Verwendungen gehören auch die Sangspruchstrophen, die an topische Grundlagen zwar durchaus anknüpfen können, aber dennoch ihre spezifischen Ausformungen hervorbringen. So formuliert beispielsweise Walther: Marîâ clâr, vil hôhgeloptiu frowe süeze, hilf mir durch dînes kindes êre, daz ich mîne sünde gebüeze. dû fluotic fluot barmunge, tugende und aller güete, der süeze gotes geist ûz dem edeln herzen blüete: (L 36,21)

|| 87 Vgl. biblisch: ‚Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz‘; Mt 6,21. 88 Vgl. Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 39. 89 Diese Lesart wendet sich gegen die Auffassung, in einer derartigen Relation lediglich eine synekdochische Ersetzung nach dem Muster pars pro toto zu sehen. Gegen eine solche Lesart spricht, dass die Beziehung, die zwischen dem Lyrischen Subjekt und dem Herzen geknüpft wird, eine tiefere Bedeutung in sich zu tragen scheint als eine stellvertretende. Denn wäre eine solche Relation der einzige Zielpunkt der Formulierung, dann könnte im Textbeispiel Hartmanns kein Sinnzuwachs entstehen, weil Kleidung und Herz auf der gleichen Relevanzebene lägen: waz touget ez ûf der wât, / der sîn an dem herzen niene hât? (MF 209,25). 90 Dies trifft selbstverständlich beim Herzenstausch nicht zu (vgl. weiter unten), doch interessanterweise wird das Problem, das daraus entstehen könnte, einen Herzenstausch mit einem durch das Kreuzzeichen markierten Herzen zu vollziehen, nicht betrachtet. Obwohl in der Kreuzzugsdichtung Ansätze erprobt werden, die Liebe zu Gott und zur Minnedame zu harmonisieren (vgl. besonders Albrecht von Johansdorf MF 87,5 u. MF 94,15), gehen dennoch auch diese Versuche nie so weit, der Dame das gottgeweihte Herz zuzutauschen. Bemerkenswert ist diese Leerstelle auch, weil eine solche Zusammenführung aus den beiden Traditionslinien der Herzensmetapher heraus durchaus möglich scheint, um poetische Virtuosität zu demonstrieren, und im Grunde zudem eine alternative Möglichkeit des Einbezugs der Dame in die Kreuzzugsthematik beschriebe, abgesehen vom halben Lohn. Es mag mit der Ausschließlichkeit von Minnebeziehungen zusammenhängen, an der sich gerade auch die Kreuzzugsdichtung ausführlich abarbeitet.

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Hier wird auf die Metaphernfelder Licht, Wasser und Natur zurückgegriffen, um sich der nur schwer fassbaren Entität Marias anzunähern, wobei clâr, süeze, tugent, güete und das Herz ohne Weiteres auch im Minnesang verwendet werden könnten.91 Zugleich findet sich die Annahme der Metapherntheorie bestätigt, die Metapher sei das bevorzugte Mittel der Beschreibung für Gegenstände, die mit eigentlichen Worten in logischer Verknüpfung kaum bis gar nicht einzufangen sind: Gefühle wie die Minne gehören ebenso dazu wie Gott und die Sphäre des Geistlichen allgemein. Verglichen mit den Kreuzliedstrophen oben können die Sangspruchverse zum Komplex lyrischer Narration jedoch kaum etwas Neues beitragen, denn ihre Funktionsweise entspricht in dieser Hinsicht wesentlich der des Minnesangs. Der Komplex des scheidens bietet nach den obigen Ausführungen zum Verschenken und Tauschen des Herzens nochmals Gelegenheit, auf die Beziehung zwischen Herz und Ich zurückzukommen. Denn es kann erwartet werden, in der evozierten Situation des behaupteten körperlichen scheidens von der Geliebten Näheres über die vorgestellte Konstitution des Lyrischen Subjekts sowie die Hierarchisierung der einzelnen Elemente dieser Konstellation zu erkennen. Einen bevorzugten Anwendungsraum findet dieser Gedanken des bevorstehenden scheidens wieder in der Tradition der Kreuzlieder, wie bei Hartmann von Aue: Sich mac mîn lîp von der guoten wol scheiden, mîn herze, mîn wille muoz bî ir belîben. sî mac mir leben und vröide wol leiden, dâ bî alle mîne swaere vertrîben: An ir lît beide mîn liep und mîn leit. swaz si mîn wil, daz ist ir iemer bereit. wart ich ie vrô, daz schuof niht wan ir güete. got sî der ir lîp und êre behüete. (MF 215,30)

|| 91 Diese Gemeinsamkeiten führten bei Wechssler – im Rückgriff auf Schlegel – dazu, vom gemeinsamen Ursprung beider Traditionen auszugehen. Vgl. im Einzelnen Eduard Wechssler: Das Kulturproblem des Minnesangs. Studien zur Vorgeschichte der Renaissance. Bd. 1: Minnesang und Christentum. Osnabrück 1966 (= Halle an der Saale 1909), S. 219 u. 270 und ferner S. IV, 219–313 u. 434– 467 sowie August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. In: Ders. Kritische Schriften und Briefe. Bd. 5. Hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1966, S. 24. Die Ähnlichkeit der Formulierungen zwischen geistlichem und minnesanglichem Sprechen wirkt in der Tat bestechend, doch genetische Hypothesen können seit Kesting lediglich noch ein forschungsgeschichtliches Interesse beanspruchen. Vgl. im Einzelnen Peter Kesting: Maria-Frouwe. Über den Einfluß der Marienverehrung auf den Minnesang bis Walther von der Vogelweide. München 1965 (Medium aevum. 5), hier besonders S. 149. Haferland, Hohe Minne, S. 126. Christina Kreibich: Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse. Würzburg 2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. 21), S. 90 u. 227f. Jürg Stenzl: Der Klang des Hohen Liedes. Vertonungen des Canticum Canticorum vom 9. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Textbd. Würzburg 2008, S. 142.

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Konfrontiert mit der Situation, die Geliebte in einer Phase der körperlichen Trennung zurücklassen zu müssen, entscheidet sich das Ich Hartmanns dafür, seine Minnebeziehung auch aus der Entfernung fortzuführen. Ausschlaggebend für dieses Vorhaben ist das Verhältnis von Herz und Leib des Subjekts, denn während ersteres bei der Geliebten verbleibt, kann letzterer sich nach Aussage der Verse von dieser entfernen. Selbst wenn Hartmann nicht den gleichen Schluss der Freiheit und Unabhängigkeit aus diesem Initialgedanken zieht wie Friedrich von Hausen in Ich denke underwîlen (MF 51,33),92 so verdeutlicht dies dennoch bereits den relevanten Effekt einer positiven Besetzung, indem das sich äußernde Ich aus dem Verbleib des Herzens bei der Geliebten Schwermut vertreibende Gedanken zieht und seine Minne- und Tatbereitschaft äußert. Zum einen wird so die positive Konnotierungsmöglichkeit einer Trennung von Herz und Leib demonstriert, zum anderen liegt es jedoch nahe, von einem implizit mitgedachten Herzenstausch der Minnepartner auszugehen, da die Annahme eines Lyrischen Subjekts, das aus dem schlichten Zurücklassen seines Herzens derart positive Gefühle gewinnt, abwegig erscheint. Auch wenn man mit einbezieht, dass mit dem Verbleib des Herzens bei der Dame der konstitutive Teil des Minne-Ichs in Nähe zur Geliebten verweilen kann, bleibt die affirmative Deutung doch unwahrscheinlich. Folglich spielt der oben beschriebene Herzenstausch auch in Figurationen des scheidens eine unterschwellige Rolle, was besonders dann zutage tritt, wenn vergleichend herangezogen wird, wie sich das Verhältnis gestaltet, sobald er fehlt: Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden, diu mit ein ander wâren nu manige zît. der lîp wil gerne vehten an die heiden, sô hât iedoch daz herze erwelt ein wîp, Vor al der welt. daz müet mich iemer sît, daz siu ein ander niht volgent beide. mir habent diu ougen vil getân ze leide. got eine müese scheiden noch den strît. Sît ich dich, herze, niht wol mac erwenden, du wellest mich vil trûreclîchen lân, sô bite ich got, daz er dich gerouche senden an eine stat, dâ man dich welle enpfân. […] Niemen darf mir wenden daz zunstaete, ob ich die hazze, die ich dâ minnet ê. Friedrich von Hausen (MF 47,9–47,33)

Friedrich von Hausen demonstriert in diesen Ausschnitten, wie das Lyrische Subjekt einen gänzlich anderen Weg wählt, obwohl es in der gleichen äußeren Situation wie dasjenige Hartmanns im obigen Beispiel verortet ist. Denn statt aus dem ideellen Status der Beziehung zur Minneherrin, die durch die räumliche Trennung weiter erhöht

|| 92 Vgl. Abschnitt 2.3.3.

134 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

wird, Kraft und hohen muot zu schöpfen, zieht das sich äußernde Ich bei Friedrich von Hausen den Schluss, sein Herz einer Sache zu widmen, die auf mehr Gegenseitigkeit beruht. Die Folge lautet, sich von der Dame abzuwenden, die sich gegenüber dem Anerbieten des Subjekts laut Strophe vier zudem negativ gezeigt hat; es fand also wohl kein Herzenstausch statt. Da mit dem scheiden allerdings ein durch Friedrich von Hausen besonders gern und häufig zitiertes Handlungsmuster vorliegt, ist die Abwendung von der Dame und die Hinwendung zu Gott nur eine der Möglichkeiten, die dieser durchspielt. Demgegenüber ähnelt zum einen der Verlauf von MF 51,23 eher Hartmanns Beispiel, zum anderen emanzipiert sich das Ich im bereits oben diskutierten MF 52,7 von der Minnebeziehung und zum dritten kommt in MF 54,28 sogar die Minnedame als Gegenüber zu Wort. Friedrich von Hausen lässt demnach eine auf Œuvre-Ebene abgerundete Auseinandersetzung mit dem scheiden erkennen, die im einzelnen Lied jedoch nicht zwingend neue Wendungen hervorbringt. So scheint das Alleinstellungsmerkmal im Falle von MF 54,28 etwa weniger eine neue Funktionalisierung des scheidens als ebenjener Perspektivwechsel hin zur Dame zu sein. In dieser Form lässt sich der Komplex des scheidens an die obigen Ausführungen ähnlich wie das Weinen an den Augenblick angliedern: Neben seinem Status als basal topische Herausforderung an das Minnepaar stellt er auch eine Weiterentwicklung der elaborierten Betrachtungen zum Herzenstausch dar, womit sich die an betreffender Stelle aufgestellten Thesen zum diagrammatisch-narrativen Charakter jener Figurationen analog auch auf das scheiden übertragen lassen. Doch da dem scheiden jede metaphorische Anlage fremd ist, die nicht durch die Einbindung weiterer Teile von außen hineingetragen wird – wie etwa bei Albrecht von Johansdorf: Wilt aber dû ûz mînem herzen scheiden niht / […] vüere ich dich danne mit mir in gotes lant (MF 94,25) – gilt die Übertragbarkeit nicht für die metaphorisch-narrativen Ausführungen. Neben den zumeist positiven Konnotierungen des Herzens, wie sie bisher vorgestellt wurden, ist seine negative Besetzung nicht unmöglich. Dies zeigt sich in Belegstellen, in denen das sich äußernde Ich dessen Verhalten als schädlich für sich wahrnimmt. Darin liegt folglich eine innere Distanzierung des Lyrischen Subjekts vom Herzen als seiner beherrschenden Instanz vor, während rein äußerlich betrachtet Herz und Leib in diesem Falle ungeschieden bleiben – im Gegensatz zur körperlichen Distanzierung von der Geliebten beim scheiden und dem Verbleib des Herzens bei dieser, die positiv wahrgenommen worden war. Solches mag zum einen auftreten, weil das Subjekt des Liedes die Bestrebungen seines Herzens als dumm und destruktiv ablehnt oder weil es sich zum anderen durch das Handeln des Herzens nachgerade verraten fühlt und sich daher distanziert. Für beide Modi bietet Heinrich von Rugge Belegmaterial: Obe ich verbir die bloeden gir, / die noch mîn herze treit (MF 97,1) sowie Mir hât verrâten daz herze den lîp, / des was ie vlîzic der muot und die sinne (MF 101,31). Ähnlich formuliert auch Heinrich von Veldeke: Mîn tumbez herze mich verriet, / daz muoz unsanfte unde swaere / tragen

Populäre Bildbereiche der Minnelyrik | 135

daz leit, daz mir beschiht (MF 56,1). Diese Aktualisierungen beinhalten eine ähnlich schwache Form der Korrelatbildung wie die oben genannten Beispiele des Frühen Minnesangs, woraus sich ableiten lässt, dass die negative Variante des Bezugs auf das Herz keine vergleichbare Entwicklung metaphorischer und diagrammatischer Narrationsansätze herausbildet wie die positive in den vorangegangenen Darstellungen. Sie ist in der Folge ausschließlich als Ergänzung zugunsten der inhaltlichen Umfänglichkeit der Äußerungsmöglichkeiten zu betrachten, bringt formal aber nichts Neues. Diese Vielfalt der dargestellten Verwendungen des Herzens in unterschiedlichsten Kontexten zeigt nicht nur seine Relevanz im mittelalterlichen Selbstbild – ob mit religiösem oder minnezentriertem Bezug – sondern verdeutlicht zudem, was wiederholt als die Flexibilität des Topos bzw. als seine Eigenschaft beschrieben wurde, Bewegungen in der Kultur und dem menschlichen Denken aufzuzeigen.93 Daher kann das Herz in den genannten Beispielen rhetorisch-praktisch ebenso als Behältnis für eine Fülle von Assoziationen und Denkmustern angesehen werden wie es poetisch eines für die Dame ist. Die wesentlichen Eckpunkte, zwischen denen sich die Traditionslinien jenes Topos aufspannen, konnten dabei benannt werden mit erstens der vage verortenden Festschreibung des negativen oder positiven Gefühls und der staete, zweitens der Imagination einer fast figuralen Instanz mit Handlungsgewalt, die die Dame wählt oder gar nach ihr wütet (MF 92,14), drittens dem konkretisierend metaphorischen Ort der Dame und viertens dem Gegenstand, der beweglich wie trennbar vom Körper des Subjekts ist. Mindestens der letzte Fall etabliert und erprobt zudem diagrammatische Beziehungsmuster, um verschiedene kulturell relevante Fragestellungen durch versuchsweise Applikation einer Relationsstruktur zu diskutieren. Die metaphorische Qualität dieses Bildfelds des Herzens, um Weinrichs Formulierung zu verwenden,94 ist unterschiedlich stark ausgeprägt, denn freilich eignet zwar allem poetisch fundierten Sprechen vom Herzen die uneigentliche Form der Rede – als anatomisches Organ des Blutkreislaufs ist es im Minnesang schließlich nirgendwo von Interesse – aber es handelt sich daher nicht ohne Weiteres schon um eine der weltbestimmenden Metaphern Blumenbergs. Schließlich ist das Herz gerade kein Orientierungswissen vermittelnder Totalhorizont, der auf wissenschaftlich nicht zu klärende Fragen antwortet. Vielmehr gehört es zu den zahlreichen Artikulationsformen, die die unter ihnen verborgene absolute Metapher der Liebe als

|| 93 Vgl. im Einzelnen Ostheeren, Art. Topos, Sp. 693. Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, S. 157. Helmut Beumann: Der Schriftsteller und seine Kritiker im frühen Mittelalter. In: Ders. Wissenschaft vom Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze. Festschrift zum 60. Geburtstag. Köln 1972, S. 9–41, hier S. 27. Adam, Die ‚wandelunge‘, S. 15. Schmidt-Biggemann, Hallacker, Topik, S. 22f. 94 Vgl. Harald Weinrich: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld. In: Ders. Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 276–290, hier besonders S. 283.

136 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

soziokulturelles Konstrukt erahnen lassen, die Gesellschaften formt, verschiedene Bildbereiche anzieht und den Blick bildet. Dieser Blick kann zwar immer nur vom Einzelnen ausgehen, stellt in seiner kulturellen Verwurzelung und Wirkmacht jedoch kein individuelles Sehen dar, sondern vielmehr einen gesellschaftlich demonstrierten und institutionalisierten Habitus der Auseinandersetzung. Einen Prozess der Reflexion und Adaption unterläuft jene Mentalitätsbildung nun mittels der zahlreichen, im Minnesang und Minneroman ausgestellten und folglich in einem pädagogischen Sinne vermittelten Arten zu lieben wie Liebe auszudrücken, wobei auch die Inszenierung eines prekären Unwissens dem Erkenntnisgewinn dienen kann. Sigûnes halb kindliche Fragen demonstrieren dies: Minne, ist daz ein êre? maht du minne mir tiuten? ist daz ein site? kumet mir minne, wie sol ich minne getriuten? muoz ich si behalten bî den tocken? oder fliuget minne ungerne ûf hant durh die wilde? ich kan minne wol locken? (Titurel, Str. 64)

In diese scheinbar unbedarft-unverständige Verwunderung ist eine Reihe ebenjener blickbildenden Minnemetaphern eingewoben,95 die dem Rezipienten wiederum verschiedene Möglichkeiten an die Hand geben, sich über Charakter wie Wirkungsweise der Minne klar zu werden und in der Folge seine eigene Vorstellung von ihr herauszubilden. Der metaphorischen Art und Weise der Äußerungen ist es dabei zu verdanken, dass alle anteiligen Beschreibungsmöglichkeiten durchscheinend übereinander zu liegen kommen und der (suggeriert) wahre Charakter der Minne zutage tritt, sobald ein Blick durch diese verschiedenen Folien hindurch geworfen wird. An dieser Stelle wird nach den Ausführungen zur Metapher oben wiederholt deutlich, dass Blumenbergs philosophische Auslegung des Metaphernbegriffs kein Erzählwerk in nuce sein kann,96 so ertragreich die Perspektive für kulturelle Mechanismen auch sein mag. Das Herz im Metaphernkleid Ulrichs von Gutenburg, Heinrichs von Morungen oder Friedrichs von Hausen jedoch erzählt kernhaft Geschichten, da die Sprachbilder, die die Autoren entwerfen, den Rezipienten kurzzeitig vom auf der histoire-Ebene verorteten Verlauf des Gedichts wegführen, Nebenstränge bilden und folglich in einen narrativen Raum jenseits des Liedes ausgreifen. Der Herzensacker, in den die Dame Blumen sät, oder der Herzensschrein, in den sie als Kostbarkeit eingeschlossen wird und der sie aufbrechend enthüllt, verdeutlichten dies. Das Herz bildet innerhalb dieser These einen Nexus, durch den das konkrete Gedicht und seine metaphorische Nebenhandlung verbunden sind, deren

|| 95 Es entsteht also ein reizvoller Kontrast zwischen Sigûnes neugierigem Fragen und dem anhand der genutzten Metaphern aufkommenden Eindruck, dass sie eigentlich doch längst weiß, wovon sie spricht. 96 Vgl. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 195.

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Erzählbereiche hinter jenen Abzweigungen aber nicht in jedem Falle klar nach dem Prinzip ‚Anfang, Veränderung, Endzustand‘97 strukturiert sind. Eine Bezeichnung als ‚Geschichte‘ könnte folglich diskussionswürdig erscheinen, wenn sich in Anknüpfung an Emmelius eine lyrische Form des Erzählens nicht gerade durch den Mangel an einer ordnenden Auswahl des unhierarchisierten Stoffs zum einen begründen ließe sowie zum anderen über eine den singulären Sinnzusammenhang nicht als vorrangig herausarbeitende Komposition. Dies spielt der Wirkungsweise der Metapher in die Hände, die einen Großteil der durch sie nahegelegten Verbindungen und Schlüsse ihrem Rezipienten zur Umsetzung überlässt. Diese Figur, die im Abschnitt zum Ergebnisüberblick bisheriger Bemühungen einer Lyriknarratologie theoretisch erarbeitet wurde, konnte nun am Beispiel der metaphorischen Nebenstränge des Herzens in den Aktualisierungen verschiedener Minnesänger verfolgt werden. So nahm der Herzensacker, in den die Dame Blumen sät – um beim Beispiel Ulrichs von Gutenburg zu bleiben – als aufgerufenes Bild weder auf zuvor brachliegendes noch auf ein danach blühendes Erdreich oder erntereife Früchte Bezug. Er implizierte all dies jedoch in der Aussaat, die zudem in sich bereits eine histoire-Handlung darstellt. Durch die Mannigfaltigkeit solcher Öffnungspunkte, die sich zudem zwischen verschiedenen Gedichten topisch ähneln können, entsteht ein Netz von Verweisen, auf das Ostheeren98 bei seiner Explikation des Topos bereits hinweist: Der einzelne Topos kann ohne das ihn umgebende Geflecht korrelierender Topoi nicht existieren. Somit betrifft die Arbeit an einem Topos auch das Bildmaterial der verknüpften Dichtung, bleibt die Herausarbeitung des Herzens als blumenreiche Wiese nicht ohne Einfluss auf den locus amoenus, der seinerseits als Liebesort schlechthin auch auf das Bild der Liebe mitprägt, etc. An einem Faden des Toposnetzes zu ziehen, bedeutet daher bildlich gesprochen, dessen gesamtes Muster zu verändern und zwar mit jeder bildhaften Weiterentwicklung, die in die poetische Kultur einfließt, die wiederum sich somit über stetig weiterführende Rekombination und Rekonfiguration fortschreibt. Die untersuchten Zentraltugenden der Minne durchziehen demgegenüber zwar ebenfalls die betrachteten lyrischen und epischen Korpora, bilden jedoch ausschließlich aufrufend-rückgreifende Verbindungen aus und vermögen ihren Bedeutungsumfang daher nicht metaphorisch weiterzuentwickeln. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Zentraltugenden zwar durchaus am topischen Geflecht um die Minne und die höfische Gesellschaft mitarbeiten, ihr Potential zur Etablierung von Narrationsansätzen einerseits und poetischer Nähe andererseits aufgrund des Mangels an metaphorischen Wirkungsweisen jedoch begrenzt ist. Die Vielzahl der besprochenen Minnemetaphern hingegen findet ihr Fundament im topischen Fundus des Geflechts und regt ausgehend davon eine Neusemantisierung an, die dem Rezipienten

|| 97 Vgl. Abschnitt 1.2.3 zu Wolf Schmid. 98 Vgl. Ostheeren, Art. Topos, Sp. 694.

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aufgrund der poetischen Mechanismen der Metapher unmittelbar nahegeht99. Minnemetaphern bilden dabei auch deshalb eine besonders interessante Gruppe der Belegstellen, weil sie durch ihren metaphorischen Charakter nicht nur auf die Herstellung von discours-Nähe in der Unmittelbarkeit des Verstehens gerichtet sind, sondern in ihrer Thematik der stets nach Nähe verlangenden Minne diesen Anspruch in der histoire verdoppeln.

2.2.4 Zusammenfassung Es hat sich somit gezeigt, dass das bildhafte Inventar des Minnesangs nicht nur topisch wiederkehrende Anwendung findet, sondern durch ebenjene auch die sukzessive Weiterentwicklung erfährt, mit deren Hilfe es schließlich metaphorische wie diagrammatische Prozesse ausbilden kann. Als Beispiele wurden mit dem Herzen, den Augen bzw. dem Blick und den Blumen drei Betätigungsfelder der untersuchten Mechanismen vorgestellt; wobei weniger das Abschreiten einer historisch-teleologischen Entwicklungslinie als der Versuch im Mittelpunkt stand, unkomplizierte bis hoch anspruchsvolle Aktualisierungen sich voneinander abheben zu lassen. Nähe und Distanz werden auf diesem Wege in unterschiedlichem Maße und an verschiedener Stelle evoziert, was sich exemplarisch in der Funktionalisierungsvarianz zwischen den Blumen und dem Herzen als extremen Ausformungen dieses Spektrums offenbarte. Maßgeblich war hierfür die Überschneidung räumlicher Qualität zwischen den Kategorien – interpretiert auf einer Ebene der histoire – und den sie gestaltenden lyrischen Bildwerten des discours. Auch die bisher angeführten Realisierungen des Polaritätenpaars betrafen vielmehr die Äußerung als das Geäußerte: metaphorische Nähe gegenüber distanzierender Topik, Nähe stiftende Lyrik gegenüber aus der Distanz operierender Erzählung. Die folgende Betrachtung wird mit dem Kreuz- und Tagelied Gelegenheit finden, sich auch der histoire verstärkt zuzuwenden. Doch zuvor sei noch daran erinnert, dass dem Herz als metaphorischem Konstrukt nach den obigen Darlegungen eine deutlich räumlich orientierte Komponente innewohnte. Daraus resultiert – neben seiner objekthaften Relevanz in Minnekontexten, die auch histoire-seitig Nähe und Distanz dynamisieren – ein signifikantes Potential, beide Kategorien zu verhandeln. Einerseits verlangt im Minnesang das Äußerungssubjekt nach Nähe zu seiner Dame (histoire), andererseits bewirkt die metapherntheoretisch herausgestellte Durchschlagskraft dieser Trope eine undistanzierte Form des Verstehens (discours). Aber dazu kommt mit dem Herzen als Raum noch eine zusätzliche Ebene des nah-fernen Ringens. Denn in diesem Falle kann das sich äußernde Ich einen uneigentlichen discours-Raum erschaffen, in dem eine andere Annäherung der Minnepartner möglich ist als die histoire-fundierte, eigentliche. || 99 Vgl. Abschnitt 1.3.2.

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Augen und Blick können im Vergleich bloß einen nachgeordneten Rang beanspruchen, denn zwar bildeten sie über diagrammatische Beziehungen einerseits räumliche Muster heraus und waren andererseits auch nicht arm an Metaphern – aber räumlich organisierte Metaphern waren selten. Erinnert sei nur an das Eintreten der Dame durch die Augen, das schließlich doch wieder im Herzen endete. Die Blumen schließlich stellten zumeist nur einen Bestandteil des zur Minne einladenden Naturraums dar, sieht man einmal von anspruchsvolleren Figurationen wie dem Blumenbrechen ab. Verglichen mit dem Besprochenen wirken sie also zunächst recht distanzverhaftet, können aber über die Verweisfunktion des Gedenkens100 dennoch Nähe stiften zwischen Minnesubjekt und -objekt, wie bei Dietmar von Eist: ich sach dâ rôsenbluomen stân, / die manent mich der gedanke vil, die ich hin zeiner vrouwen hân (MF 34,3). Jene Nähe ist wiederum eine uneigentliche der histoire: Das Ich nähert sich nur gedanklich an. Der diagrammatische Charakter topisch-metaphorischer Konstruktionen offenbarte sich ebenfalls als unterschiedlich stark ausgeprägt, begründete aber ein zusätzliches, abweichendes Potential des lyrisch-narrativen Ansatzes, wie Augenblick und Herzenstausch verdeutlichten. Demgegenüber erschien der topische Verweischarakter der Blumen wiederum eindimensional. Dass es gerade die über Raumstrukturen operierende Diagrammatikkomponente ist, die einzelnen Narrationsanklängen des Lyrischen eine abstrakte, problemorientierte Struktur verleiht, mag in Bezug auf eine Lyriknarratologie als Frage nach dem Warum, die der nach dem Wie folgen wird, zwar erst von sekundärem, doch nicht unbegründetem Interesse sein.101 Eher implizit deutlich wurde hingegen, dass Lokalisierung allein für eine Narrativität dennoch nicht hinreichend ist, erzählt doch ein leerer Raum wie der locus amoenus kaum, wenn er nicht zugleich über Handlungsfiguren, temporal festgesetzte Umbildungen oder zusätzliche metaphorische Schichten verfügt.

|| 100 Vgl. Abschnitt 2.3.3. 101 Schließlich ist die räumliche Verortung des Betrachteten auch im Zusammenhang mit romanartigen Erzählungen grundlegend relevant. Vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin 2007, besonders S. 5f. Störmer-Caysa weist hier nicht nur auf die die Erzählung bedingende Kategorie des Raums hin, sondern auch umgekehrt auf die Grundlagen des (diegetischen) Raums in der Erzählung. Zur zwingenden Raum-Zeit-Korrelation des Erzählens und deren spezifischer Ausformung vgl. auch Michail M. Bachtin: Chronotopos. Berlin 2008 (stw. 1879). Zur Sonderform der Ekphrasis im Sinne einer Verräumlichung von Literatur vgl. Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology. 3), S. 17; zu deren Spezifik im Mittelalter besonders S. 325f.

140 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

2.3 genre objectif modifié – Erzählende Liedgattungen in neuer Perspektive Nachdem bisher die textanalytische Untersuchung auf einer Ebene angesetzt wurde, die Wort- und Satzverbindungen der einzelnen Strophen betrachtete, soll der nun folgende Untersuchungsteil mit den narrativen Liedgattungen des genre objectif auf diejenigen Ausformungen lyrischer Ansätze der Erzählung zu sprechen kommen, die zu den am frühesten wahrgenommenen der Tradition erzählender Lyrik gehören.102 Dabei ist jedoch nicht nur die ergänzende Darstellung lyrischer Narrationsmöglichkeiten Ziel der Bemühungen, sondern ebenso sehr die Prüfung der langjährig durch die Forschung eingeübten Denkmuster in Bezug auf Kreuz- und Tagelied. Letzteres kann fast als das mittelhochdeutsche genre objectif schlechthin angesehen werden, ersteres unter der Prämisse einer Objektivität zu interpretieren, fällt indes nicht schwer, wird doch gerade dem mittelhochdeutschen Kreuzlied wiederholt ein Einbruch der Realität bescheinigt. Es wird im Zuge der Forschungsgeschichte darauf zurückzukommen sein. Die leitende These der vorliegenden Studie lautet nun, dass die Subtypen Kreuz- und Tagelied, die kaum je gemeinsam untersucht wurden, durch eine spezifische Denkfigur verbunden werden, deren wesentliche Konstituenten in der histoire-seitig evozierten Nähe bzw. Distanz zwischen den Minnenden auf einer körperlichen bzw. gedanklichen Ebene bestehen. Das nah-ferne Spiel der Beziehung zwischen Ritter und Dame stellt zwar einerseits in der Hohen Minne allgemein eine der zentralen Äußerungsreferenzen dar, prägt sich im Kreuz- und Tagelied jedoch andererseits nochmals besonders aus – und zwar in zwei einander diametral entgegengesetzten Richtungen. Erwartbar wäre, dass in den Kreuzliedern überwiegend die Distanz des klassischen Minneverhältnisses thematisiert wird, weil die Notwendigkeit des Kreuzzugs räumliche Barrieren zwischen den Minnepartnern errichtet, und demgegenüber in den Tageliedern verminderte Distanz zur Sprache kommt, weil die Minneerfüllung hier nicht mehr nur Wunsch bleibt. Nähe und Distanz wären in diesem Zusammenhang vorstellbar als Enden einer Linie, die die Beziehung darstellt, sowie das konkrete Lied als Punkt auf dieser Linie und die Subtypen schließlich als Wahrscheinlichkeitsaussage über das Verhalten jenes Punktes. Doch daneben gibt es, so die These weiter, noch eine zweite Ebene, die in den Liedern stets vorhanden ist und es notwendig macht, das Bild eines liedhaften Punktes auf der Linie zwischen den Extremwerten Nähe und Distanz umzuwandeln in eine Struktur, die die komplette nah-ferne Skala auf dem Niveau eines jeden Liedes umfasst. Diese zusätzliche Ebene meint die inszenierte Innerlichkeit der Figuren; nicht psychologisch gedeutet, sondern vielmehr bezogen auf die Gegensätzlichkeit der körperlichen und geistigen, äußeren und inneren Fundierung von Aussagen. Denn in || 102 Vgl. Abschnitt 1.2.3.

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den Kreuzliedern, die vordergründig die drohende Entfernung und Trennung thematisieren, ist parallel auch eine auffällige gedankliche Anwesenheit der Dame und damit eine imaginierte, innere Nähe der Minnepartner spürbar, die über die Gedanken der Figuren realisiert wird. In den Tageliedern hingegen herrscht analog dazu zeitgleich mit der maximalen körperlichen Annäherung eine hintergründige innere Distanz der Minnepartner, die sich in der Situation der Erfüllung gedanklich doch vollständig auf die drohende Trennung fixiert zeigen. Beide Subtypen funktionalisieren demnach eine gemeinsame Kippfigur aus Nähe und Distanz einer körperlichen und gedanklichen Sphäre, worin nebenbei eine Erklärungsmöglichkeit für die wiederholt betonte Andersartigkeit der mittelhochdeutschen Kreuzlieder aufgezeigt werden kann.103 Denn diese tun sich, verglichen mit anderen volkssprachigen oder den lateinischen Beispielen dieser Subgattung, durch eine ungewöhnlich starke Betonung der Minnebeziehung und derart wenige Verweise auf geistige, theologische und historische Inhalte hervor, dass mancher Definitionsversuch zum Kreuzlied im mittelhochdeutschen Korpus nur wenig erfolgreich war. Sollten sich diese Thesen als tragfähig erweisen, wäre daraus zum einen der Schluss zu ziehen, dass die zahlreichen Versuche,104 in der Kreuzzugsdichtung den Einbruch realistischer Anforderungen in das vergeistigte Gebilde des Minnesangs zu erblicken, die Thematik vielmehr vom falschen Ende aus aufzurollen versuchen. Der Kreuzzug als historischer Hintergrund wäre dann nicht mehr Anstoß, sondern nur noch Vehikel der Äußerung, die in der beschriebenen Kippfigur gründet. Und zum anderen sind die mittelhochdeutschen Kreuzlieder dann auch keine gegenüber den theologischen Argumentationskünsten anderer Traditionen beklagenswerten Verfallsformen, sondern durch den unausgesetzten Vergleich mit diesen missverstanden worden. Stattdessen offenbart sich in Relation mit Minne- und Tageliedern die zwingende Hinwendung der Gedanken der Minnepartner auf physisch Fernes, was gedankliche Nähe in der körperlichen Distanz sowie vice versa gedankliche Distanz in der körperlichen Nähe bedeutet. Deshalb können die in der Minnelyrik auftretenden Figuren niemals zur Ruhe kommen, sondern werden stets von einer Spannung erfüllt, die sie das jeweils mangelnde Extrem suchen lässt105 und wiederum das Potential zur sich auf der histoire-Ebene des Liedes ausformenden Erzählung birgt. Der sich nun anschließenden Erprobung dieser Thesen am Material vorgreifend kann festgehalten werden, dass die Universalität der Minnebeziehung und folglich || 103 Vgl. Peter Hölzle: Die Kreuzzüge in der okzitanischen und deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts. Das Gattungsproblem ‚Kreuzlied‘ im historischen Kontext. Bd. 1: Untersuchungen. Göppingen 1980 (GAG. 278), S. 601–622. 104 Vgl. beispielsweise Detlef Lieske, Genaueres dazu im Abschnitt 2.3.1. 105 Vgl. hier im Einzelnen nochmals die Raum-Zeit-Diskussion bei Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, besonders S. 5f. Bachtin, Chronotopos. Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin 2009 (Narratologia. 22), besonders S. 119–161.

142 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

auch der minne in Kreuz- und Tagelied gerade durch deren jeweilige Schwerpunktsetzung implizit nachgewiesen wird. Somit lässt sich insbesondere die Narration auf der histoire-Ebene, die speziell das genre objectif intensiviert, dazu verwenden, dem Rezipienten eine der ureigensten Aussagen des Minnesangs mit der gleichen Innovationskraft und Exorbitanz vorzuführen, wie sie auch die immer neuen Metaphernbildungen ausstellten.106

2.3.1 Das Kreuzlied, am Beispiel von Guote liute (MF 94,15) In Bezug auf eine Forschungsgeschichte des Kreuzlieds ist zunächst und an erster Stelle zu bemerken, dass dieser mittelhochdeutsche Liedtyp ganz im Gegensatz zu den thematisch minnezentrierten Liedern der Überlieferung107 oder epischen Werken108 kaum umgehend zu Beginn der Fachgeschichte analytische Beachtung fand, obwohl es durchaus schon früh Bemühungen gab, die betreffenden Texte in Anthologien und Textsammlungen zusammenzustellen, wie bei Joseph Bédier und Pierre Aubry109 in Bezug auf altprovenzalische Kreuzzugslieder. Doch eine umfassende wissenschaftliche Bearbeitung der Lieder und der ihnen zugrunde liegenden Denkmodelle setzt mit Nachdruck erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Damit fällt sie zum einen in jene der Phasen der mediävistischen Forschung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder um eine Nationalphilologie bemüht, und bewahrt sich zum anderen ihren Nischenstatus bis heute, verglichen mit manchem Zentraltext der germanistischen Mediävistik. Je nachdem, welcher Definition des Kreuzlieds man sich anschließt, kann die Grundkonstellation dieses Typs unterschiedlich gefasst werden. Eine erste Möglichkeit zur Schwerpunktsetzung bildet die Definition wahlweise über formale oder inhaltliche Kriterien, womit die Begriffe histoire und discours einmal mehr prägend wirken. Derart kann das Kreuzlied einerseits (A) auf die appellzentrierte Darbietungsform beschränkt werden oder andererseits (B) auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Abschiedssituation, die der Kreuzzug erzwingt. Diese Grundrichtungen einer engen Definition mögen in der poetischen Realisierung zwar verbunden werden, erfordern dies jedoch nicht: Appelle und Abschied treten einzeln

|| 106 Vgl. die Abschnitte 2.2.1–3. 107 Vgl. im Einzelnen Uhland, Walther von der Vogelweide. Ferdinand Michel: Heinrich von Morungen und die Troubadours. Ein Beitrag zur Betrachtung des Verhältnisses zwischen deutschem und provenzalischem Minnesang. Strassburg 1880. 108 Vgl. im Einzelnen Adolphe Bossert: Tristan et Iseult. Poème de Gotfrit de Strasbourg comparé à d’autres poèmes sur le même sujet. Diss. masch. Paris 1865. Theodor von Hagen: Kritische Beiträge zu Gottfrieds von Strassburg Tristan. Diss. masch. Heinrichshofen 1868. 109 Vgl. Joseph Bédier, Pierre Aubry: Les Chansons de Croisade avec leurs Mélodies. Genève 1974 (= Paris 1909).

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ebenso wie in Kombination auf. Im analysierten Beispiel des folgenden Abschnitts etwa sind die Bereiche A und B gleichermaßen aktiv. Die Grundplots beider Äußerungsmöglichkeiten des Kreuzlieds gestalten sich folgendermaßen: Der appellative Modus führt rhetorisch anspruchsvoll die Argumente für eine Teilnahme am Kreuzzug aus, geht auf eventuelle Gegengründe ein und nimmt das Ich der Äußerung dabei stark zurück. Dieses lockt zwar ebenso mit himmlischem Lohn und ewigem Leben wie es mit Verdammung und sinkendem weltlichen Ansehen droht, auf die Schuldigkeit gegen Gott und die Sündhaftigkeit jedes Menschen verweist etc. – aber eine eigene Geschichte muss es dazu nicht zwingend erhalten. Im auf den Abschied zentrierten Modus hingegen ist das Ich verstärkt Teil der histoire-Welt des Liedes, denn es äußert sich nicht nur appellhaft über sie, sondern erlebte und erlebt in ihr Vorgänge, von denen es erzählt. Das Hauptanliegen seiner Äußerung ist dabei besagter Abschied von der Dame bzw. die konfliktbehaftete Unmöglichkeit, ihr und Gott gleichermaßen dienen zu können. Dies wird auch als Grundkonflikt der Kreuzzugslyrik bezeichnet. Neben der Frage, inwiefern der Inhalt des Liedes seinen Typ bestimmt, bildet die Entscheidung darüber, ob eine enge oder weite Definition vorteilhaft ist, einen zusätzlichen Punkt, der zu bedenken ist. Da diese Entscheidung von der Ausrichtung der Überlegung, die beabsichtigt wird, abhängen muss, lässt sich keine allgültige Aussage über eher exkludierende oder inkludierende Definitionen treffen. Im Zuge einer Studie, die nach großen Traditionslinien zwischen verschiedenen europäischen Sprachbereichen sucht, ist eine enge Definition zweifellos sinnvoll, was im Anschluss an die Studie von Peter Hölzle noch plausibel werden wird. Da das Korpus mittelhochdeutscher Kreuzlieder allein aber selbst dann noch ein übersichtliches ist, wenn man einen motivischen oder stichwortartigen Anklang an die Thematik des Kreuzzugs als hinreichend setzt, entscheidet sich die vorliegende Studie für einen solchen offeneren Zugang. Auf diese Art und Weise können Lieder inkludiert werden, die weitere Konstellationen und Handlungsschemata enthalten (Zweifel oder Kritik am Vorhaben des Kreuzzugs, Klage aus dem Heiligen Land, Heimreise), die den besprochenen Schwerpunkten A und B zwar zuwiderlaufen mögen, nicht aber ein Wirken lyrischer Narrative ausschließen. Auch mit dem Plädoyer für prototypisch verfahrende Gattungseinordnungen aus Teil 1 lässt sich dieses Vorgehen verbinden, wobei das Muster aus Zentrum und Peripherie, das aus der Prototypenthematik folgt, in Hinblick auf die Kreuzlieder auch deshalb nützlich ist, weil es den alten Streit der Forschungstradition um enge oder weite Definitionen mithilfe einer Veranschaulichung beilegen kann. Überführt man die erläuterten Schwerpunktsetzungen des Kreuzlieds in zwei prototypische Zentren A und B, dann lassen sich zum einen um diese beiden und zwischen ihnen die verschiedensten Realisierungen der Gattungstradition problemlos verorten, und zum anderen können selbst randständig anmutende Variationen (Neidhart, Tannhäuser) aufgenommen werden, ohne dass die Zuordnung als Kreuzlied misslich oder irreführend wird. Aus der Subgattung wird somit ein Subgattungssystem.

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Veranschaulichen lässt sich dieser Komplex an zwei zentralen Werken zum Thema. Auf der einen Seite definiert 1968 Maria Böhmer Kreuzzugsdichtung als „Dichtungen, die den Kreuzzugsgedanken in poetischer Form vertiefen oder historische Vorgänge wiedererkennen lassen, wobei Kreuzzugsepik und -lyrik verschiedenen Gesetzen folgen“110 und offenbart sich somit im Vergleich zu Peter Hölzle als Vertreterin einer weiten Definition des Untersuchungsgegenstands. Denn jener fasst seine Definition 1980 deutlich enger: Kreuzzugslieder sind mithin „Poeme […], die in der Mehrzahl ihrer Strophen und Verse mit direkten oder indirekten Appellen an ein Kollektiv der Wehrfähigen und/oder an einzelne Herrscher […] zur Kreuzfahrt aufrufen“111. Entsprechend übersichtlich wird mit nur 13 okzitanischen und fünf bis sechs deutschen Liedern112 auch Hölzles Korpus im Vergleich zu einem äußerst umfangreichen bei Böhmer. Dies hat seine Ursache auch im generisch unterschiedlichen Anspruch beider Positionen, denn Hölzle begreift die Kreuzzugslyrik als eigenes Genre, das in seiner Charakteristik und seinen Überschneidungen mit anderen Gattungen untersucht werden kann, während Böhmer die durch sie beschriebene Kreuzzugsdichtung explizit nicht als Gattung versteht, sondern als bloße Tendenz des inhaltlichen Bezugs. Diese ist als thematische Richtung im Rahmen übergeordnet formaler Gattungszuschreibungen zu verstehen wie beispielsweise der des Minnelieds bei Albrecht von Johansdorf (MF 87,29) oder der des höfischen Romans im Willehalm.113 Sie fügt sich in das zuvor angedeutete Prototypensystem, dessen Ausdehnung sich bis hinüber in epische Systeme erstreckt, als Zwischenraum bzw. Hintergrund der prototypischen Zentren ein, während Hölzles fünf bis sechs mittelhochdeutsche Lieder einen harten Kern dessen umreißen, was auf jenem Sprachgebiet in Richtung des Prototypen A möglich ist. Hölzle, der ausdrücklich den Mangel an übergreifenden Studien beklagt || 110 Maria Böhmer: Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik. Rom 1968 (Studi di Filologia Tedesca. 1), S. 5 111 Hölzle, Die Kreuzzüge in der okzitanischen und deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts, S. 623. Vor dem Erscheinen seiner umfassenden Studie bringt dieser einen kürzeren Beitrag, in dem Grundlegendes der einige Jahre später folgenden Untersuchung bereits erkennbar ist, vgl. ders.: Das Gattungsproblem ‚Kreuzlied‘ im okzitanischen und deutschen Minnesang des 12. Jahrhunderts. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Heft 2. Hrsg. von Leonard Forster, Hans-Gert Roloff. Frankfurt am Main 1976 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. 2), S. 350–361. Für eine auf das provenzalische Mittelalter konzentrierte Darstellung vgl. beispielsweise Christiane Leube: Das Kreuzzugslied. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 2: Les genres lyriques. Hrsg. von Erich Köhler. Heidelberg 1980, S. 73–82. 112 Im Einzelnen: Die hinnen varn, Albrecht von Johansdorf (MF 89,21); Si waenent, Friedrich von Hausen (MF 53,31); Dem kriuze, Hartmann von Aue (MF 209,25); der Kreuzleich Heinrichs von Rugge (MF 96,1); Durch daz ich vröide hie bevor ie gerne pflac, Reinmar (MF 180,28). 113 Aufgrund der lyrischen Ausrichtung der vorliegenden Studie wird Wolframs Roman im Folgenden trotz seiner Kreuzzugsallusionen jedoch ebenso wenig eine Rolle spielen können wie andere nicht lyrische Verarbeitungen der Kreuzzugsthematik. Vgl. dazu beispielsweise Helmut Beifuss: Die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen von Thüringen. Ein Zeugnis politischen Selbstbehauptungswillens? Eine funktionsgeschichtliche Interpretation. In: ABäG 68 (2011), S. 169–200.

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und eine solche in Gestalt seiner Untersuchung nun gerade umzusetzen versucht, gerät folglich im Versuch, den einen Mangel zu beheben, direkt in einen anderen hinein. Denn indem er sich – geleitet durch die Beispiele außerhalb des Mittelhochdeutschen – einmal auf den Prototyp A als inneren Kern der Kreuzzugslyrik festgelegt hat, kann er die Eigenarten und Spezifika der mittelhochdeutschen Texttradition nicht mehr unvoreingenommen gelten lassen und ist so gezwungen, den überwiegenden Teil der etwa bei Ulrich Müller114 verzeichneten mittelhochdeutschen Kreuzlieder auszuschließen. Die Untersuchung Hölzles bleibt dennoch ein Meilenstein der Kreuzliedforschung, zum einen aufgrund ihres unerreichten Detailreichtums und zum anderen, weil sie die genaue Betrachtung und Darlegung der Verbindungslinien zwischen provenzalischer und mittelhochdeutscher Kreuzdichtung leistet, auf die wiederholt115 nur hingewiesen worden war. Silvia Ranawake und Ingrid Hartl bearbeiten ähnliche Fragestellungen. Dass Hölzles Anspruch der Neuordnung einer Gattung, des Aussonderns von Fehlzuweisungen und des klaren Umrisses ihres tatsächlichen Bestands116 sich zumindest für die Forschung an den mittelhochdeutschen Liedern nicht durchgesetzt hat, ist indes für den Zuschnitt der vorliegenden Studie kein Verlust, sind doch für poetisch wie narratologisch übergreifende Fragestellungen ‚reine‘ Kreuzlieder ebenso interessant wie Mischformen. Nachdem damit nun ein erster Eindruck dessen vermittelt wurde, wie sich Grundplot und Definitionsfrage des mittelhochdeutschen Kreuzlieds gestalten, soll im Folgenden anhand der Forschungsgeschichte zum Thema einerseits verdeutlicht werden, welche Deutungsumschwünge die Auseinandersetzung mit diesem Liedtyp prägen, und andererseits, wo der vorliegende Zugriff an Vorarbeiten der Tradition anknüpft, um seine eigene Interpretation in Anschlag zu bringen. Den Anfang der Forschungstradition zum Thema ‚Kreuzlied‘ markiert Georg Wolfram, der 1886 mit dem historisch orientierten Blick seiner Untersuchung, in der er Verbindungen zwischen den verbürgten päpstlichen Bullen und Kreuzzugspredigten zum einen und mittelhochdeutschen Kreuzzugsliedern zum anderen aufzeigt, auch gleich ein Paradigma des folgenden Diskurses prägt.117 Diese Methode fragt

|| 114 Vgl. Kreuzzugsdichtung. Hrsg. von Ulrich Müller. Tübingen 1969 (Deutsche Texte. 9). 115 Vgl. Hermann Schneider: Art. Kreuzzugsliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 2 (1928/1929), S. 134–141, hier S. 134. Ders., Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Art. Kreuzzugsliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1 (1958), S. 885–895, hier S. 885. 116 Vgl. Hölzle, Die Kreuzzüge in der okzitanischen und deutschen Lyrik des 12. Jahrhunderts, S. 10– 13. 117 Vgl. Georg Wolfram: Kreuzpredigt und Kreuzlied. In: ZfdA 30 (1886), S. 89–132, hier S. 89 u. 110. Neben Wolfram einer der ersten Beiträger zur Thematik dürfte Ludwig Dietze sein, dessen Anspruch jedoch ein weit geringerer und weitestgehend der Beschreibung verpflichtet ist. Vgl. Ludwig Dietze: Die lyrischen Kreuzgedichte des deutschen Mittelalters. In: Programm des Gymnasiums zu

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weniger nach poetologischen Besonderheiten als nach konkreten Zuordnungen der Lieder zu bestimmten geschichtlichen Gegebenheiten, einzelnen Kreuzzügen oder dem Nachweis der Kreuzzugsteilnahme verschiedener Dichter und findet innerhalb des Forschungshochs des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Vertreter in Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert. Dessen Grundthese, nach der die wirklichkeitsnähere Forderung zur Kreuznahme innerhalb der Kreuzzugsdichtung einerseits zur Überwindung der höfischen Fiktionsdichtung und andererseits zur individuellen Vertiefung der höfischen Minneauffassung führt,118 fußt jedoch auf einigen nicht unproblematischen Annahmen. Denn warum sollte zum einen in der höfischen Dichtung und gerade im Minnesang nichts Faktuales vorliegen und zum anderen genau dieser Einfluss der Wirklichkeit nun in allem, was mit dem Kreuzzug zu tun hat, besonders gegeben sein? Man mag sich mit Harald Haferland119 zugunsten eines realen Minnesangs aussprechen oder aber vom literarischen Spiel in Minnesang wie Kreuzzugslyrik ausgehen, doch einen jähen Umschwung anzunehmen, den die historische Einflussnahme des Kreuzzugs bewirkt, scheint schwer begründbar. Die Breitenwirkung,120 die die historisch verortende Interpretation und insbesondere Wentzlaff-Eggebert dennoch entfaltet, gründet zweifellos auch in den Artikeln des Reallexikons zur Kreuzzugsliteratur. Denn nachdem Hermann Schneider den Artikel 1926 noch allein besorgt und Kreuzzugsliteratur als eine zeitgenössische Behandlung des Kreuzzugsthemas in deutscher Sprache und der Form poetischer

|| Wittenberg Ostern 1873 womit zu der öffentlichen Prüfung der Schüler am 2. April Vormittags 8 Uhr und Nachmittags 2 ½ Uhr und zur feierlichen Entlassung der Abiturienten am 3. April Nachmittags 3 Uhr ergebenst einladet Albert Rhode. Wittenberg 1873, S. 1–20. In einem ähnlichen zeitlichen Umfeld wie Wolfram, jedoch den Unterschied zwischen Kreuz- und Pilgerlied betreffend und ohne sich für minnesangartige Anklänge zu interessieren, forscht Willy Mettin, vgl. dazu Willy Mettin: Die ältesten deutschen Pilgerlieder. In: Philologische Studien. Festschrift für Eduard Sievers zum 1. Oktober 1896. Hrsg. von Karl Bohnenberger. Halle an der Saale 1896, S. 277–286. 118 Vgl. Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Ähnliche Ansichten vertritt der Autor auch in seinen anderen Beiträgen. Vgl. dazu im Einzelnen ders.: Ritterliche Lebenslehre und antike Ethik. In: DVjs 23 (1949), S. 252–273. Ders.: Kreuzzugsidee und mittelalterliches Weltbild. In: DVjs 30 (1956), S. 71–88. Ders.: Geschichtliche und dichterische Wirklichkeit in der deutschen Kreuzzugslyrik. In: Festgabe Joseph Lortz. Bd. 2: Glaube und Geschichte. Hrsg. von Erwin Iserloh, Peter Manns. Baden-Baden 1958, S. 273–286. Ders.: Wandlungen der Kreuzzugsidee in der Dichtung vom Hoch- zum Spätmittelalter. In: WW 12 (1962), S. 1–7. 119 Vgl. Haferland, Hohe Minne, S. 9. 120 Dieser Einfluss zeigt sich etwa auch in einem Beitrag Ernst von Reusners, der – chronologisch zwischen Theiss und Hölzle gelegen – danach fragt, ob die Dichter der Kreuzlieder im Kreuzzug einen Sinn sahen und folglich die poetische Zentrierung etwa bei Theiss, Ranawake oder insbesondere Schumacher (dazu unten mehr) nicht im Ansatz zeigt. Vgl. Ernst von Reusner: Kreuzzugslieder. Versuche, einen verlorenen ‚Sinn‘ wiederzufinden. In: Stauferzeit. Hrsg. von Rüdiger Krohn [u. a.]. Stuttgart 1978 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten. 1), S. 334–347.

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Darstellungen definiert,121 tritt 1958 Wentzlaff-Eggebert hinzu und verschafft mit seiner Einwirkung auf den neuen Artikel dem historisch verortenden Zugang ein breites Publikum. Dabei ist die Feder Wentzlaff-Eggeberts an verschiedenen Stellen spürbar: Zum einen fügt die neue Definition hinzu, dass die Kreuzzugsliteratur neben der Vertiefung des Kreuzzugsgedankens in poetischer Form gerade auch historische Vorgänge wiedererkennen lässt,122 zum anderen erhält der neue Artikel einen umfangreichen Exkurs in die Geschichtsdichungen der Zeit sowie deren Kreuz- und Heilsdeutungen.123 All dies wird in der erneuten Auflage ersatzlos gestrichen, in der Wolfgang Haubrichs einen von 19 auf fünf Spalten gekürzten Artikel zur Kreuzzugslyrik124 verantwortet, der auch die Typologien125 und Aufführungsvorschläge126 der vorangegangenen Artikel verwirft.127 Mit den Interpretationen Wolfgang Spiewoks, die sich im zeitlichen Umfeld Wentzlaff-Eggeberts bewegen, lässt sich indes nicht nur zeigen, dass trotz der verbreiteten Zurücknahme spekulativer Ausschmückungen die fantasievolle Imagination zu Interpretationszwecken nicht vollständig aus der Mode gekommen ist, 128 sondern auch ein anschauliches Beispiel dafür anführen, wovon oben

|| 121 Vgl. Schneider, Art. Kreuzzugsliteratur, S. 134. 122 Vgl. ders., Wentzlaff-Eggebert, Art. Kreuzzugsliteratur, S. 885. 123 Vgl. ebd., S. 886f. 124 Ein Gegengewicht in Form eines Artikels zur Kreuzzugsepik wird nicht umgesetzt. 125 Diese typologischen Bestrebungen Schneiders sowie Schneiders und Wentzlaff-Eggeberts sind kritisch zu rezipieren. So sprechen beide Artikel als erste Unterteilung der Kreuzzugsepik von den erzählenden Darstellungen historischer Kreuzfahrten gegenüber den erfundenen Kreuzzugsromanen, bemühen sich also, eine tragfähige Verbindung zwischen den historischen Ereignissen der verschiedenen Kreuzzüge und ihren Reflexionen in der Dichtung zu stiften: Doch erfunden oder nicht, die Kreuzzugsidee finde ihre reinste Ausprägung demnach in der mittelalterlichen Epik – und nicht der Lyrik. Umso überraschender ist die Streichung des Artikels in der nächsten Auflage, die mit Haubrichs Beitrag ausschließlich lyrisch fokussiert. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Art. Kreuzzugslyrik. In: RLW 2 (2007), S. 340–342. Vgl. weiterhin ausschnitthaft Manfred Kern: Art. Kreuzzugsdichtung. In: Metzler Lexikon Literatur (2007), S. 401. 126 Vgl. Schneider und Wentzlaff-Eggebert, Art. Kreuzzugsliteratur, S. 892. 127 Dass dies nicht der erste Versuch ist, spekulative Abschnitte zu tilgen, zeigt bereits der vorangegangene Artikel Wentzlaff-Eggeberts, der die folgende Passage Schneiders kürzt: „Neben ihnen [Freidank und Tannhäuser, D.R.] können wir nur Hausen, Hartmann, Hiltbolt, Neidhart und Botenlauben als sichere, Johansdorf und Rugge als wahrscheinliche, Rubin, Werner und den Fidler als mögliche Teilnehmer eines Kreuzzugs bezeichnen. Allg. ist man sich einig, daß Walther nicht im Heiligen Lande gewesen ist.“ Schneider, Art. Kreuzzugsliteratur, S. 140. 128 „Es könnte so gewesen sein: Auf einem der Schiffe, die im April des Jahres 1228 fünfhundert Ritter Friedrichs II. unter dem Befehl des Marschalls Richard Filangieri ins Heilige Land tragen und seit fünf Tagen vor Kreta von einem Sturm hin- und hergeschleudert werden, befindet sich ein junger bayrischer Ritter, den man nach dem Stammsitz seines Geschlechts den Tannhäuser nennt. Er hat erlebt, wie die Segel in Fetzen durch die Luft flogen, die Ruder brachen und das Schiff auf die Klippen der Insel zutrieb. Seitdem weiß er, daß die Seefahrt des 13. Jhs. mit noch mehr Unannehmlichkeiten verbunden sein kann, als sie harter Schiffszwieback, versalzenes Pökelfleisch, stockiges Wasser und

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mit der Phase des ‚proletarischen Walther‘ die Rede war. Denn den Erfolg päpstlicher Propaganda zugunsten des Kreuzzugs deutet Spiewok als Effekt der „Zuspitzung der Klassengegensätze in Westeuropa“ und die teils positive Deutung der Heiden als Zuneigung zu den „Klassengenossen“ 129. Mit einem Hölzle ähnelnden Korpusanspruch und einem Ansatz in der Tradition Wolframs und Wentzlaff-Eggeberts130 trägt Ingrid Hartl die historisch unmittelbare Lesart der Kreuzzugsdichtung sogar bis ins Jahr 2009. Ihr Material umfasst dazu epische und lyrische Werke in mittellateinischer, altfranzösischer, provenzalischer und mittelhochdeutscher Sprache, die thematisch sogar jene Kreuzzügen einschließen, die nicht das Heilige Land zum Ziel hatten.131 Bedingt durch ihr auf das Feindbild der Kreuzfahrer zentriertes Forschungsvorhaben,132 nimmt Hartl sich der Weltsicht innerhalb der Kreuzlieder jedoch nur wenig an, sobald diese sich nicht auf den zu besiegenden Feind richtet. Silvia Ranawake ist wie Hartl und eingangs Hölzle ebenso darum bemüht, nach den Wurzeln der mittelhochdeutschen Kreuzlyrik zu suchen. Im Gegensatz zu Hölzles provenzalischer Schwerpunktsetzung betont sie in Bezug auf Walther von der Vogelweide jedoch insbesondere den Einfluss der geistlich-lateinischen Dichtung und der Trobadorlyrik, die für Walthers Neuerungen (Herrscherappelle, Geistlichenschelte) maßgeblich sind.133 Erwähnenswert ist diese Studie auch deshalb, weil sie mit der Sangspruchdichtung im Umfeld der Kreuzzugsthematik134 einem Gebiet verstärkt Interesse

|| schimmliger Wein darstellen, und voll Sehnsucht denkt er an die schönen Tage, die er in Apulien vor Abfahrt der Flotte erleben durfte. Weil unser junger Ritter aus Tannhausen aber auch ein Dichter ist, schreibt er […] über dieses Erlebnis ein Lied.“ Wolfgang Spiewok: Die Bedeutung des Kreuzzugserlebnisses für die Entwicklung der feudalhöfischen Ideologie und die Ausformung der mittelalterlichen deutschen Literatur. Vom Dogma zur Toleranz. In: Weimarer Beiträge 9 (1963), S. 669–683, hier S. 669. Zum Tannhäuser vgl. beispielsweise weiterführend Karin Tebben: Tannhäuser. Biographie einer Legende. Göttingen 2010. Spiewok übersieht hier vollkommen einen schlicht topischen Nutzen des Schiffbruchs, wie sie im Abschnitt 1.3.1 mithilfe der Deutungen Mohrs vorgeführt wurde. Dieser äußerte sich zudem nicht nur ebenfalls zu Tannhäusers Kreuzlied, sondern auch drei Jahre vor Spiewok. 129 Spiewok, Bedeutung des Kreuzzugserlebnisses, S. 672 u. 679. 130 „Kreuzlieder sind, neben der politischen Dichtung, die einzige Gattung, die sich auf ein aktuelles Ereignis bezieht und somit bis zu einem gewissen Maße räumlich und zeitlich festlegbar wird.“ Ingrid Hartl: Das Feindbild der Kreuzzugslyrik. Das Aufeinandertreffen von Christen und Muslimen. Bern 2009 (Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie. 40), S. 7. 131 Vgl. ebd., S. 21. 132 In dieser Ausrichtung ähnelt die Studie Hartls hier der Perspektive, die Roswitha Wisniewski bereits in den 1980er Jahren einnimmt. Dazu unten mehr. 133 Vgl. Silvia Ranawake: Walther von der Vogelweide und die Trobadors. Zu den Liedern mit Kreuzzugsthematik und ihrem literarischen Umfeld. In: Archiv 236 (1999), S. 1–32, hier S. 4f. u. 9. 134 Vgl. beispielsweise auch Die Sprüche des Bruder Wernher. In: Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke. Stück 3. Teil 1. Hrsg. von Anton Emanuel Schönbach. Wien 1904 (Kaiserlichen

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schenkt, das aufgrund der Fragestellung der vorliegenden Überlegungen hier nicht weiter thematisiert wird, aber dennoch zum Subgattungssystem Kreuzzugsdichtung gehört. Doch die historisch verortende Sicht hat nicht nur die thematisierte Suche nach der realhistorischen Wahrheit in der Kreuzzugsdichtung vorangetrieben. Über Wentzlaff-Eggeberts These der individuellen Vertiefung höfischer Minneauffassungen, die die Kreuzzugsthematik demnach bewirkt, lässt sich ein weiterer Zweig der Forschung anschließen, der sich darum bemüht, über die Kreuzzugseinstellung der verschiedenen Dichter ihre jeweiligen Persönlichkeiten kontrastreich voneinander abzugrenzen. Ein erstes Beispiel hierfür bietet die Studie Hermann Ingebrands, der die Korpora fünf einflussreicher Kreuzzugsdichter untersucht, um zunächst Einblicke in das Weltbild dieser Lyriker und in einem zweiten Schritt somit auch in das der mittelalterlichen Gesellschaft allgemein gewinnen zu können.135 Aber da Ingebrand den Autor und Lyrisches Ich ineinssetzenden Blick kaum je zugunsten einer weiteren Gesellschaft auflöst, bleibt er in seinem Ringen um Abstraktion ebenso hinter den eigenen Zielen zurück wie viele andere Ansätze, die einen ähnlichen Zugriff wählen. Zu nennen wären hier etwa Ulrike Theiss, Roswitha Wisniewski sowie nochmals Maria Böhmer. Letztere prägt die Vorstellung vom Hervortreten des Individuums, das auf dem Weg von den Kreuzliedern Albrechts von Johansdorf bis zu denen Neidharts sichtbar werde.136 Dies greift Theiss auf, konzentriert sich jedoch stärker auf textliche Konkretisierungen von Ich, Zeit und Topoi, wodurch sie der Notwendigkeit entgeht, gesellschaftliche Schlüsse zu ziehen. Neben diesem Schwenk vom Individuum auf den Text ist vor allem das Drei-Stufen-Modell bestechend, das Theiss entwickelt, um die Entwicklung der untersuchten Prozesse zu veranschaulichen.137 Aus ihm resultieren jedoch auch Bedenken die weitere Übertragbarkeit des Modells betreffend. Bei den zunehmend kritischen Stimmen Neidharts und des Tannhäusers etwa lässt sich zwar von Antitraditionalismus, dem Verzicht auf einen stereotypen Konflikt zwischen Dame und Gott sowie einem eigenen Aussagewillen sprechen, wie Theiss dies als besonders || Akademie der Wissenschaften in Wien. Sitzungsberichte. 148,7), hier Nr. 2, S. 9–13 (Gregôrje, bâbest, geistlich vater). 135 Vgl. Hermann Ingebrand: Interpretationen zur Kreuzzugslyrik Friedrichs von Hausen, Albrechts von Johansdorf, Heinrichs von Rugge, Hartmanns von Aue und Walthers von der Vogelweide. Frankfurt am Main 1966, hier S. 5f. 136 Vgl. Böhmer, Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik, S. 95–97. 137 Vgl. Ulrike Theiss: Die Kreuzlieder Albrechts von Johansdorf und die anderen Kreuzlieder aus ‚Des Minnesangs Frühling‘. Diss. masch. Freiburg im Breisgau 1974, S. 329f. Die Autorin setzt ein Anfangs-, Übergangs- und Endstadium der Entwicklung hin zur textlichen Konkretisierung an, die sie über das Herausbilden der Freisetzung literarischer Topoi, Unmittelbarkeit der Ich-Aussage und Einmaligkeit der zeitlichen Darstellung beschrieben sieht. Sodann ordnet sie Friedrich von Hausen, Heinrich von Rugge und Reinmar der Anfangs-, Hartmann von Aue der Übergangs- und Albrecht von Johansdorf der Vollendungsstufe zu.

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charakteristisch für Johansdorf und die höchste Entwicklungsstufe hervorhebt, aber angesichts der vollkommen anderen Äußerungsintention ist es unstrittig, dass diese Dichter eine Verortung benötigen, die sich in einiger Entfernung zu Albrecht von Johansdorf befindet. Wisniewski schließlich wählt die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam im Mittelalter als Hintergrund einer erneuten Betrachtung des Kreuzlieds und spannt den Bogen der Untersuchung von Friedrich von Hausen bis hin zu späten Spruchdichtern wie Barthel Regenbogen. Aber da ein Fazit nach der Darstellung der einzelnen Autorpersönlichkeiten fehlt, wird der originelle Hinweis auf die Aktualität der Debatte im Zuge der andauernden Nahostkonflikte, den Wisniewski zur Legitimation anführt, nur wenig fruchtbar gemacht.138 Sprach sich die historisch verortende Sicht, wie beschrieben, dafür aus, in der Kreuzzugslyrik sowohl einen Einbruch der Realität in Form historisch-politischer Ereignisse als auch eine poetische Vertiefung in Hinblick auf Minnethematiken zu sehen, so scheint sich die folgende Forschung mit diesem Balanceakt nicht zwingend abfinden zu können. Ulrich Müller etwa schlägt die Kreuzlyrik vollständig der politischen Dichtung zu,139 die sich des Themas der Frauen lediglich bedient, nicht aber Liebesdichtung ist,140 obwohl er zum einen vom „weitgehenden Fehlen der Kreuzzugs-Realität in der mittelhochdeutschen Lyrik und Epik“141 überzeugt ist und zum anderen die Kreuzlieder an anderer Stelle142 als Beispiel für Politisches in an sich nicht-politischen Gedichten anführt. Manuel Braun betrachtet die Kreuzzugslyrik hingegen ausschließlich im Kontext des Minnesangs, der demnach über die Einarbeitung von Fremdreferenzen wie der des Kreuzzugs versucht, seine eigenen Aussagemöglichkeiten zu erweitern.143 Damit bekleidet Braun die Gegenposition zu Müller, die darüber hinaus die Fehler der historischen Kreuzliedforschung gleichsam vom anderen Ende her wiederholen muss, indem sie politische, geistliche oder anderweitige Anklänge der Kreuzlyrik für

|| 138 Vgl. Roswitha Wisniewski: Kreuzzugsdichtung. Idealität in der Wirklichkeit. Darmstadt 1984 (Impulse der Forschung. 44), S. 143. 139 Ähnlich im Prinzip auch Hartl oben. 140 Vgl. Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974 (GAG. 55/56), S. 539. An dieser Stelle nicht ausführlicher thematisiert wird ein anderer Beitrag Ulrich Müllers – zum einen, weil er trotz seiner thematischen Zentrierung auf die Kreuzlieder Neidharts lediglich Schlussfolgerungen für die Erforschung des Neidhartkorpus ableitet und wenig zum Kreuzlied allgemein; zum anderen, weil dieser Beitrag unten in Verbindung mit dem Neidhartkontext noch eine Rolle spielen wird. Vgl. ders.: Die Kreuzfahrten der Neidharte. Neue Überlegungen zur Textüberlieferung und Textexegese. In: From Symbol to Mimesis, hrsg. von Bäumel, S. 35–68. 141 Ulrich Müller: Tendenzen und Formen. Versuch über mittelhochdeutsche Kreuzzugsdichtung. In: getempert und gemischet. Festschrift für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag von seinen Tübinger Schülern. Hrsg. von ders., Franz Hundsnurscher. Göppingen 1972 (GAG. 65), S. 251–280, hier S. 267. 142 Vgl. Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, S. 539. 143 Vgl. Braun, Autonomisierungstendenzen im Minnesang vor 1200, S. 6.

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irrelevant bzw. zu einer Fremdreferenz erklärt. Ähnlich positioniert sich Christa Ortmann, die zudem die Trennung von Kreuzzugsdichtung und -wirklichkeit nochmals besonders betont144 und die Kreuzlieder vielmehr als minnesanganaloge Suche nach dem männlichen Idealverhalten liest. Dabei kann die Kreuzlyrik den Minnesang nach Ansicht der Autorin sogar insofern übertreffen, als dass die Dienstidentität des Ritters im Gottesdienst ihre Bestimmung tatsächlich erreichen kann.145 Zwar ist der Schlussfolgerung Brauns, der Minnesang habe durch die Einflüsse der Kreuzzugslyrik entscheidende Entwicklungen durchlaufen und neue Akzente setzen können, sicher beizupflichten, doch eine harmonisierende Anerkennung der Kreuzzugslyrik als Untergattung des Minnesangs, die trotz dieses untergeordneten Charakters mit eigenen Implikationen und Handlungsmustern aufwarten kann, wäre wünschenswert. Dies auch schon deshalb, weil nur so das besondere Gedankengebäude der Kreuzzugslyrik zwischen politischen, geistlichen und minnesanglichen Überlegungen korrekt gewürdigt werden kann.146

|| 144 Vgl. Christa Ortmann: Minnedienst – Gottesdienst – Herrendienst. Zur Typologie des Kreuzliedes bei Hartmann von Aue. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. 12. Anglo-German Colloquium. Frauenwörth 10.–14. September 1991. Hrsg. von Cyril Edwards [u. a.]. Tübingen 1996, S. 81–99, hier S. 82. 145 Vgl. ebd., S. 96. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Dorothea Klein, die den kreuzliedtypischen Konflikt zwischen Gottesdienst und Minnedienst auf sein Diskussionspotential für verschiedene Männlichkeitskonzepte hin befragt. Vgl. Dorothea Klein: Ritter zwischen militia Christi und Frauendienst. Männlichkeitskonzepte in den mittelhochdeutschen Kreuzliedern. In: Krieg, Helden und Antihelden in der Literatur des Mittelalters. Beiträge der II. internationalen Giornata di Studio sul Medioevo in Urbino. Hrsg. von Michael Dallapiazza [u. a.]. Göppingen 2007 (GAG. 739), S. 28–45. Das Kreuzlied ist für Ortmann somit Vehikel und Begründung, um Hartmann als Minnesänger einer neuen Art an der Grenze seiner Gattung darzustellen, denn dieser geriert sich demnach als Sänger der absoluten Minne und des absoluten Dienstes, wofür ihm das Kreuzlied als realitätsbezogene Subgattung die passende Außenperspektive bietet. Vgl. Ortmann, Minnedienst – Gottesdienst – Herrendienst, S. 99. Abgesehen davon, dass Ortmann zuvor noch dafür plädiert, dass die Realität in den Kreuzzugsliedern gerade nicht thematisch wird, diesen anscheinenden Widerspruch mit ihrem Ergebnis jedoch weder diskutiert noch auflöst, ist es zudem fraglich, inwiefern das durch die Autorin für seine feinsinnige Kunstfertigkeit gelobte Lied nach den durch sie selbst etablierten Richtlinien überhaupt noch ein Beispiel der Kreuzzugslyrik sein kann. Schließlich betont sie eingangs die konstitutive Bindung der Gattung an Minne und Minnesang und bewertet im Weiteren den Verlust ebenjener Bindung, der sich im Nicht-Bezug auf die Dame ausdrückt, im untersuchten Lied dennoch als besonders positiv. 146 Mit der theologischen Dimension des lateinischen Kreuzlieds beschäftigt sich etwa Goswin Spreckelmeyer. Für ihn sind diese Lieder in allererster Linie situationsbezogene religiöse Dichtung, die dazu genutzt wurde, eine Wirklichkeitsveränderung herbeizuführen. Indem die untersuchten Kreuzlieder demnach eine gelungene Vereinigung von Kreuzzugsidee und Wirklichkeit demonstrieren, wirkten sie sich auch auf die Wirklichkeit des Rezipienten aus: die Idee kann Fuß fassen, Fragen werden beantwortet. Dass diese Interpretation bei all ihrer historischen Versiertheit den Kreuzliedern jedoch keinerlei poetisch-abstrakte Eigenständigkeit zugesteht, ist offensichtlich. Für Spreckelmeyer sind sie ebenso geistliche Gebrauchstexte wie liturgische Lieder. Vgl. Goswin Spreckelmeyer: Das Kreuzzugslied des lateinischen Mittelalters. München 1974 (MMS. 21), S. 275–278.

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Einen gegenüber der historischen Verortung ganz neuen Zugriff bietet der rhetorische Fokus, den die Studien Rüdiger Schnells, Ferdinand Urbaneks und Meinolf Schumachers wählen. Schnell knüpft dabei implizit an die Blickrichtung Böhmers oder Theiss’ an, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beleuchteten, indem er anhand der vorgeführten Argumentationsverläufe auf das Verhältnis zwischen sprechendem Ich und angesprochenem Zuhörer schließt147 sowie epistemologische und soziale Bewegungen148 abstrahiert. Weniger auf gesellschaftliche als auf generische Beziehungen konzentriert sich demgegenüber Urbaneks Betrachtung, die den rhetorischen Zugang nutzt, um am Beispiel von Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5) die Strukturen und Codes aus Kreuzlied, Artusroman, Minnesang und Predigt herauszuarbeiten. Zwar mag das Fazit, zu dem der Autor gelangt – das Lied Hartmanns sei demnach gar kein Kreuzlied149 –, nicht unstrittig sein und die Skalierbarkeit in Hinblick auf andere Lieder sicher beschränkt. Der Beitrag Urbaneks ist aber dennoch bemerkenswert; zum einen aufgrund der originellen Funktionalisierung rhetorischer Überlegungen, zum anderen, weil damit ein nachdrücklicher Einwand gegen das noch immer andauernde Realitätscredo mancher Untersuchungen erhoben wird. Detlef Lieske beispielsweise interpretiert praktisch zeitgleich mit Urbanek die mittelhochdeutschen Kreuzlieder noch immer als Minnelyrik, in die durch den Kreuzzug die Realität einbricht,150 versucht aber einen Schritt über die historisch orientierte Perspektive früherer Arbeiten hinauszugelangen und beim Rückschluss auf historische Umstände dem Vorwurf der Spekulation zu entgehen, indem er auf linguistische Methoden verweist.151 Basal hierfür ist die Unterscheidung, die der Autor eingangs zwischen Appell und Aufruf trifft: einer konkreten gegenüber einer ungerichteten Form, die Kreuznahme als bestimmte Handlung des Rezipienten hervorzurufen. Die Problematik solch einer

|| 147 Vgl. Rüdiger Schnell: Kreuzzugslyrik. Variation der Argumentation. In: Spuren. Festschrift für Theo Schumacher. Hrsg. von Heidrun Colberg, Doris Petersen. Stuttgart 1986 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. 184), S. 21–58, hier S. 23. Als wichtigste Typen der Relationierung verzeichnet Schnell erstens die absichtliche Verknüpfung von Ich-Reflexion und Zuhörerkonstitution, zweitens die durch eine Argumentationslücke getrennte Darstellung der Modi Predigt und Selbstreflexion, drittens das Imitieren und ironische Bloßstellen von Rollen, viertens die Aufspaltung widerstreitender Positionen auf verschiedene Figurengruppen und fünftens die integrative Funktion des Ichs, das mit dem Wir des Publikums zusammenfällt. Vgl. ebd., S. 27–53. 148 So arbeitet Schnell beispielsweise das Nebeneinander zweier Weltdeutungen (religiöse und weltliche Normen) aus Hartmanns Dem kriuze (MF 209,25) heraus, zwischen denen das Kreuzlied nun zu vermitteln hat, oder das Hervortreten der Gemeinschaft bei gleichzeitigem Zurücktreten der Dame in Friedrichs von Hausen Sî darf mich des zîhen niet (MF 45,37). Vgl. ebd., S. 27 u. 48. 149 Vgl. Ferdinand Urbanek: Code- und Redestrukturen in Hartmanns Lied ‚Ich var mit iuweren hulden‘ (MF Nr. XVII). In: ZfdPh 111 (1992), S. 24–50, hier S. 24. 150 Vgl. Lieske, Mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik, S. 77. 151 Vgl. ebd., S. 64.

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Sichtweise, die zudem zu einer Gleichschaltung von Publikum und Appelladressaten gezwungen ist,152 offenbart sich im radikalen Wörtlichnehmen der Überlieferung. Die Kompetenzen der Literatur als modellbildendem System,153 Wirklichkeiten gleichermaßen zu verarbeiten und sich ihrer zu bemächtigen, geraten aus dem Blick. Ebenjene Möglichkeiten betont Meinolf Schumacher indes implizit, wenn er die Kreuzzugslyrik jenseits des Gattungsstreits neu funktionalisiert. Zu diesem Zweck leitet Schumacher aus dem Konflikt der drei abrahamitischen Religionen um das Heilige Land und der daraus resultierenden Zerstörung ab, dass die nach Palästina reisenden Kreuzfahrer dort kaum eine Erinnerung an den Messias vorfanden154 und es angesichts dieses Mangels notwendig war, das Heilige Land als Topographie literarisch neu zu erschaffen – mithilfe der Kreuzlieder. Da die vorangegangenen Abschnitte die Rolle besonders herausgestrichen haben, die die Metapher im Umfeld lyrischer Narrative und ästhetischer Prozesse spielt, verdient die Kreuzliedinterpretation Dorothea Kleins gesonderte Erwähnung. Deren Anknüpfung an die Arbeiten Friedrich Ohlys,155 dessen basale Überlegung lautet, dass das Potential der besonders subversiven Kraft des Minnediskurses sich erst in übergreifenden Phänomenen wie den Metaphern in vollem Umfang entfaltet,156 lässt sich zum einen stimmig an die obigen Überlegungen zum Herzen als Topos und Metapher angliedern. Weiterhin jedoch gesteht Klein der Metapher innerhalb des Konflikts zwischen Minnebindung und Kreuzzugsverpflichtung die Leistung der Verbildlichung widerstreitender Positionen zu,157 womit bei ihr ebenso wie in der vorliegenden Studie eine Macht der Metapher anklingt, unvereinbare Gegensätze in oszillierender Präsenz geltend zu halten. Der Kreuzzugskonflikt wird dabei zwar beileibe nicht gelöst, aber insofern gemildert, als dass die Metapher ihn in eine Ästhetik überführt, die dem Konflikt in den

|| 152 Vgl. ebd., S. 82 u. 222. 153 Vgl. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 39. 154 Vgl. Meinolf Schumacher: Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur. Walthers Palästinalied (L. 14,38) und die Funktion der europäischen Kreuzzugsdichtung. In: Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Tagung Euro-Islamischer Dialog. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal. Bielefeld 2007, S. 11–30, hier S. 24. 155 Vgl. im Einzelnen Ohly, Cor amantis non angustum. Ders.: Du bist mein, ich bin dein, du in mir, ich in dir, ich du, du ich. In: Ders. Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruhberg, Dietmar Peil. Stuttgart 1995, S. 145–176. Dazu weiterführend Burkhard Hasebrink: Ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur. In: PBB 124 (2002), S. 442–465 sowie zu Ohly Christel Meier: Zwischen historischer Semiotik und philologischer Komparatistik. Friedrich Ohlys Werk und Wirkung. In: Das Mittelalter und die Germanisten, hrsg. von Lutz, S. 63–91. 156 Vgl. Dorothea Klein: varn über mer und iedoch wesen hie. Diskursinterferenzen in der frühen mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Hrsg. von dies. [u. a.]. Wiesbaden 2000, S. 73–93, hier S. 74 u. 77. 157 Vgl. Klein, varn über mer und iedoch wesen hie, S. 89.

154 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Augen des Rezipienten seinen unangenehmen Handlungszwang nimmt. In der vorgeschlagenen metaphorischen Narration liegt diesen Eindruck Kleins weiterführend und entsprechend der These der vorliegenden Studie demnach eine Möglichkeit, mit dem Grundkonflikt der Kreuzzugslyrik zwischen Minne und Gott umzugehen, die eine Befriedigung jenseits der formal-logischen Lösung zur Verfügung stellt, die wiederum aufgrund der Dilemmastruktur des Konflikts unmöglich bleiben muss – so weit führt Klein ihre Überlegungen jedoch nicht. Ebenfalls herauszuheben sind die Beiträge Susanne Reichlins und Stefan Tomaseks, zum einen, weil es sich um die aktuellsten Arbeiten zum mittelhochdeutschen Kreuzlied handelt, zum anderen, weil sie sich wie auch die vorliegende Studie bemühen, das Kreuzlied in neue Kontexte jenseits der historischen Verortung und all deren Folgeforschungen einzubinden. Einen ersten Eindruck ihrer Betrachtungsweise vermittelt Reichlin bereits jenseits ihrer Habilitationsschrift Ästhetik der Inklusion, die die detaillierte Funktionalisierung neuer Perspektiven verspricht.158 In ihrer Studie Interferenzen und Asymmetrien betrachtet die Autorin den bekannten Konflikt der Kreuzzugslyrik zwischen Minnebindung und Gottesdienst insofern neu, als dass sie in den Interferenzen jener beiden Diskurse eine besondere Vielstimmigkeit und in der Folge ästhetische Komplexität wirksam sieht.159 Sie spricht sich damit wie auch die vorliegenden Überlegungen für eine Charakterisierung des Kreuzlieds gerade über seine vielfältigen Verknüpfungen mit geistigen, politischen und minnetheoretischen Diskursen aus, deren einseitige Betonung oder Verleugnung durch die jeweiligen Forschungstraditionen bisher kein balanciertes Bild des Kreuzlied sichtbar werden ließ. Tomasek verbindet indes ein Kreuzliedkorpus mit gendertheoretischen Thesen, womit nicht nur ein bisher gänzlich unbeachteten Anschlussgebiet dieser Lieder betreten, sondern zugleich das vermeintlich abgearbeitete Kreuzlied mithilfe eines der einflussreichsten Reizthemen der letzten Jahre neu belebt wird. Die doppelt bipolare Struktur (männlich – weiblich, klerikal – minnegebunden), unter deren Prämisse Tomasek sodann die Kreuzlieder betrachtet, bedeutet in der Tat eine neue Beschreibungs- und Ordnungsmöglichkeit dessen, was einerseits der Kreuzliedforschung wiederholt aufgefallen ist und was auch Tomasek andererseits nochmals betont: Der Kreuzzug wirkt destabilisierend und destruktiv auf die Minnebeziehung – bzw. auf die Geschlechteridentitäten des Minnesangs, um Tomaseks Formulierung zu folgen.160

|| 158 Vgl. Susanne Reichlin: Ästhetik der Inklusion. Inklusionsverfahren und Inklusionssemantiken in der mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik. Habil. Zürich 2012. Diese Studie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider noch nicht zugänglich. 159 Vgl. Reichlin, Interferenzen und Asymmetrien, S. 194f. 160 Vgl. Tomasek, Frauen- und Männerrollen in mittelhochdeutscher Kreuzzugslyrik, S. 125 u. 144.

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Neben den genannten, teils umfassenden, teils richtungsweisenden Studien haben Einzelbetrachtungen zu verschiedenen Dichtern und Kreuzliedern allzeit Konjunktur; so Günther Jungbluth, Helmut de Boor, Anka Fuss, Susanne Kirst und Manfred Günter Scholz zu Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp,161 Wolfgang Mohr zu Tannhäusers Kreuzlied,162 Karl-Friedrich Kemper und Günther Jungbluth zu Hartmanns Dem kriuze,163 Wolfgang Haubrichs zu Walthers Palästinalied und Hartmanns Dem kriuze,164 Volker Mertens zu Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp und Hartmanns Ich var mit iuweren hulden,165 Karl-Heinz Schirmer zu Albrechts von Johansdorf Die hinnen varn und Guote liute,166 Eberhard Nellmann zu Hartmanns Dem kriuze,167 Ferdinand Urbanek zu Hartmanns Ich var mit iuweren hulden,168 Christa

|| 161 Vgl. im Einzelnen Günther Jungbluth: Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden. Zu Friedrich von Hausen 47,9. In: Euphorion 47 (1953), S. 241–259. Helmut de Boor: Friedrich von Hausen. Mîn herze und mîn lîp. In: Die deutsche Lyrik – Form und Geschichte. Interpretationen vom Mittelalter bis zur Frühromantik. Hrsg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1957, S. 35–42. Anka Fuss, Susanne Kirst, Manfred Günter Scholz: Zur Sprecherkonstellation in Hausens Lied Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden. In: Euphorion 91 (1997), S. 343–362. Zu auf Friedrich von Hausen als Dichter konzentrierten Untersuchungen vgl. beispielsweise Oskar Baumgarten: Die Chronologie der Gedichte Friedrichs von Hausen. In: ZfdA 26 (1882), S. 105–145 sowie Henning Brinkmann: Friedrich von Hausen. Bad Oeynhausen 1948 (Studienbogen. 5) und David Guthrie Mowatt: Friedrich von Hûsen. Introduction, Text, Commentary and Glossary. Cambridge 1971 (Anglica Germanica Series. 2). Ähnlich Hugo Bekker: Friedrich von Hausen. Inquiries into his Poetry. Chapel Hill 1977 (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures. 87) sowie auch zu Albrecht von Johansdorf ders.: The Poetry of Albrecht von Johansdorf. Leiden 1978 (Davis Medieval Texts and Studies. 1). 162 Vgl. Mohr, Tanhusers Kreuzlied. 163 Vgl. im Einzelnen Kemper, Zum Verständnis der Metapher Kristes bluomen. Günther Jungbluth: Das dritte Kreuzlied Hartmanns. In: Euphorion 49 (1955), S. 145–162. 164 Vgl. im Einzelnen Wolfgang Haubrichs: Grund und Hintergrund in der Kreuzzugsdichtung. Argumentationsstruktur und politische Intention in Walthers Elegie und Palästinalied. In: Philologie und Geschichtswissenschaft. Demonstrationen literarischer Texte des Mittelalters. Hrsg. von Heinz Rupp. Heidelberg 1977 (medium literatur. 5), S. 12–62. Ders.: ‚Reiner muot und kiusche site‘. Argumentationsmuster und situative Differenzen in der staufischen Kreuzzugslyrik zwischen 1188/89 und 1227/28. In: Stauferzeit, hrsg. von Krohn [u. a.], S. 295–324. 165 Vgl. im Einzelnen Volker Mertens: Der ‚Heisse Sommer‘ 1187 von Trier. Ein weiterer Erklärungsversuch zu Hausen MF 47,38. In: ZfdPh 95 (1976), S. 346–356. Ders.: Kritik am Kreuzzug Kaiser Heinrichs? Zu Hartmanns 3. Kreuzlied. In: Stauferzeit, hrsg. von Krohn [u. a.], S. 325–333. 166 Vgl. im Einzelnen Karl-Heinz Schirmer: Rhetorisches im Kreuzlied Albrechts von Johansdorf. Die hinnen varn, die sagen durch got (MF 89,21). In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig, Herbert Kolb. München 1981, S. 229–253. Ders.: Albrecht von Johansdorf. Kreuz- und Liebeslied 94,15 ‚Guote liute, holt diu gâbe‘. In: Handbuch der Literatur in Bayern. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretation. Hrsg. von Albrecht Weber. Regensburg 1987, S. 79–88. 167 Vgl. Eberhard Nellmann: Saladin und die Minne. Zu Hartmanns drittem Kreuzlied. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ludger Grenzmann [u. a.]. Göttingen 1987, S. 136–148. 168 Vgl. Urbanek, Code- und Redestrukturen.

156 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Ortmann und Hedda Ragotzky zu Albrechts von Johansdorf Guote liute,169 Meinolf Schumacher zu Walthers Palästinalied170 und Stefan Tomasek zu Albrechts von Johansdorf Guote liute171. Der Versuch Rudolf K. Jansens, auch ein Lied Dessen von Kürenberg (MF 9,21) als Kreuzlied zu lesen,172 hat möglicherweise zu recht kein Echo gefunden. Zusammenfassend lässt sich für die Geschichte der Erschließung des mittelhochdeutschen Kreuzlieds festhalten, dass die Bemühungen durch mehrere Dualitäten organisiert werden. Einerseits betrifft dies die schon eingangs problematisierte enge oder weite Definition des Betrachtungsgegenstands, die bereits andererseits auf die generische Ebene verweist. Dort stellt sich die Frage, ob das Kreuzlied nun eine eigenständige Gattung oder aber nur eine inhaltliche Tendenz bildet, für deren eine Unabhängigkeit favorisierende Seite etwa Schnell und analog für die Gegenpartei Braun als beispielhafte Vertreter benannt werden können. Hieran schließt sich wiederum der Komplex um die Relation zur historischen Wirklichkeit an, denn die dem Kreuzlied direkte und potentiell rückverfolgbare Bezüge unterstellende Auffassung des Einbruchs der historischen Wirklichkeit (Lieske) spricht der Kreuzzugslyrik zwingend die Möglichkeiten einer eigenen Poetik ab, die losgelöst von jener Wirklichkeit bzw. sie aktiv umbildend verfahren könnte. Die teils konträren Einschätzungen (Müller, Braun) indizieren schon, dass es mit der Proklamation von Ausschließlichkeit nicht getan ist. Im Großen und Ganzen kann von einer Entwicklung gesprochen werden, die vom Anfang der Erforschung bei Wolfram bis zu deren gegenwärtigem Stand bei Tomasek eine Überwindung der biografistischen wie spekulativen Interpretationen (Schneider, Spiewok) und der historisch eineindeutig verortenden Praxis (Wolfram, Wentzlaff-Eggebert) beschreibt. Dabei hat gerade die historisch verortende Tradition jedoch eine Vielzahl der nachfolgenden Ansätze inspiriert, wenn solch originelle Ansätze wie die Schumachers oder Kleins auch kaum ableitbar erscheinen. Ausrichtung und Fragestellung der vorliegenden Studie gliedert sich an die oben beschriebene Dualität nachdrücklich aufseiten der eigenständigen Poetik des Kreuzlieds an. Dies wurde bereits eingangs mit der prototypischen und doppelt zentrierten Gattungsbestimmung sowie der wiederholt verdeutlichten Sonderposition des Kreuzlieds zwischen den und mittig der Bestimmungen des Minnesangs, der geistlichen

|| 169 Vgl. Christa Ortmann und Hedda Ragotzky: Das Kreuzlied. Minne und Kreuzfahrt. Albrecht von Johansdorf: Guote liute, holt diu gâbe. In: Gedichte und Interpretationen, hrsg. von Helmut Tervooren, S. 169–192. 170 Vgl. Schumacher, Die Konstituierung des ‚Heiligen Landes‘ durch die Literatur. 171 Vgl. Stefan Tomasek: Guote liute, holt die gâbe. Mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik im Deutschunterricht. In: Texte der Vormoderne im Deutschunterricht. Schnittstellen und Modelle. Hrsg. von Dieter Wrobel. Hohengehren 2013, S. 117–140. 172 Vgl. Rudolf K. Jansen: Die Anfänge des Minnesangs als politisches Zugeständnis. Ein frühes deutsches Kreuzlied. In: The German Quarterly 51 (1978), S. 320–337.

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und politischen Dichtung betont. Dabei meint die thematisierte Eigenständigkeit keine Freiheit von Bindung und Beziehungen, sondern eine Fähigkeit, souverän an Problemstellungen mitzuarbeiten, wie sie Bornscheuer in Bezug auf den Topos Potentialität nannte. Dies soll die thesenhaft vorgebrachte Denkfigur zeigen, die Tage- und Kreuzlied verbindet Nachdem nun die vorangegangene Forschung zum Kreuzlied skizziert, deren Ballungspunkte herausgearbeitet und eigene Ansätze verortet wurden, ist als Nächstes die Analyse des Textbeispiels umzusetzen, um sodann unter Einbezug des Tagelieds die postulierte Kippfigur zwischen Nähe und Distanz zu belegen. Synchron soll während der exemplarischen Betrachtung die Gelegenheit wahrgenommen werden, verschiedene Phänomene lyrischer Narration im Zusammenspiel der Liedebene zu beobachten, nachdem die vorangegangenen Abschnitte sie einerseits theoretisch sowie andererseits themenzentriert in den Blick genommen hatten. Ausgewählt wurde zu diesem Zweck Albrechts von Johansdorf Lied Guote liute (MF 94,15).173 Dies hat mehrere Gründe. Zum einen erscheint es gerade vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel, die sich um eine möglichst breite Untersuchung der Textgrundlage bemühten, sinnvoll, nun einmal ein einzelnes Lied der eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Derart kann nach den Ausführungen zur Funktionalisierungsvielfalt der untersuchten Bildbereiche des Teils 2.2.1–4 vermehrt in den Blick rücken, wie sich die verschiedenen Narrationsansätze lyrischer Werke im einzelnen Lied äußern, wie dominant sie sich jeweils zeigen und wie sie einander beeinflussen. Zweifellos wäre auch hierzu eine Ausweitung der Untersuchung wünschenswert, um nachzuweisen, in welcher Form die folgenden Beobachtungen verallgemeinerbar sind. Doch da Tiefen- und Breitenanalyse einander entgegenstehen und es vordergründig geboten wirkt, einerseits oben Genanntes zu veranschaulichen und andererseits die erste Hälfte der vorgebrachten Kippfigur anschaulich einzulösen, erscheint die Bearbeitung eines exemplarisch ausgewählten Kreuzlieds als Mittel der Wahl. Dieses Vorgehen ist umso vertretbarer, da die noch folgenden Untersuchungsteile || 173 Die Überlieferungslage dieses Liedes ist maßgeblich durch Handschrift C gewährleistet (Manessische Liederhandschrift. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848, fol. 181r), die die vier Strophen in Des Minnesangs Frühling vollständig und in ebenjener Reihenfolge tradiert, wobei die vierte Strophe nochmals bei Rubin von Rüdeger (fol. 395v) erscheint, jedoch ohne die vorangegangenen drei Albrechts und gefolgt von drei anderen. Parallel findet sich Guote liute (MF 94,15) auch in Handschrift A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg. 357, fol. 25v), allerdings unter dem Namen Gedrut, während an gleicher Stelle der Abschnitt zu Albrecht von Johansdorf (fol. 36r) das Lied nicht enthält. Stattdessen bietet A dort Mîn êrste liebe (MF 86,1) und Mich mac der tôt (MF 87,5). Handschrift B (Weingartner Liederhandschrift. Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, fol. 26r–27v) tradiert für Albrecht nur Mîne êrste liebe (MF 86,1), Ich und ein wîp (MF 87,29) in der B-Version, Swaz ich nû gesinge (MF 89,9), Die hinnen varn (MF 89,21), Ich wil gesehen (MF 90,16), Wîze, rôte rôsen (MF 90,32), die Strophen drei und vier von Wie sich minne hebt (MF 91,22) und die Einzelstrophe Saehe ich iemen (MF 91,36), nicht aber Guote liute (MF 94,15).

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einen umfänglicheren Blick in das umgebende Kreuzliedkorpus werfen werden, sodass an anderer Stelle ein Eindruck davon möglich wird, wie sich der Liedtyp jenseits des hier beispielhaft herausgegriffenen Werks gestaltet. Warum aber gerade Guote liute (MF 94,15)? Zum einen besitzt dieses Lied innerhalb der obigen Einzeluntersuchungen einen mittleren Referenzgrad, sodass es weder als erschlossen noch als abseitig gelten kann. Zum anderen bietet es einen äußerst bemerkenswerten Lösungsansatz für den bekannten Kreuzliedkonflikt. Und drittens verspricht eine Untersuchung auch deshalb interessant zu werden, weil einerseits Hölzle das Lied als seiner Definition nicht genügend verstand, andererseits Theiss Albrecht von Johansdorf jedoch in die dritte, am höchsten entwickelte Stufe ihres Modells einordnete. Da die biografistisch orientierte Forschung oben abgewiesen wurde, sollen ihre Ergebnisse sowie Lebensdaten und -umstände des Dichters an dieser Stelle gar nicht erst wiedergegeben werden. Ausführliche Versuche in dieser Richtung finden sich bei Wolfram174, Bergmann175 und Sudermann176. Zur Orientierung im Korpus mag der Hinweis genügen, dass Albrecht von Johansdorf neben Friedrich von Hausen, Hartmann von Aue und Heinrich von Rugge als einer der mittelhochdeutschen Kreuzliedklassiker angesehen wird – gegenüber der Erweiterung und Neubewertung bei Walther von der Vogelweide, Neidhart oder dem Tannhäuser – und noch vier bis fünf177 weitere Kreuzlieder seines Namens erhalten sind. Guote liute, holt die gâbe, die got, unser herre, selbe gît, der al der welte hât gewalt. dienent sînen solt, der den vil saeldehaften dort behalten lît mit vröiden iemer manecvalt. Lîdet eine wîle willeclîchen nôt vür den iemermêre wernden tôt got hât iu beide sêle und lîp gegeben. gebt ime des lîbes tôt, daz wirt deme lîbe ein iemer leben.

|| 174 Vgl. Wolfram, Kreuzpredigt und Kreuzlied, S. 111–132. 175 Vgl. Robert Bergmann: Untersuchungen zu den Liedern Albrechts von Johannsdorf [sic], Freiburg im Breisgau 1963, S. 287–294. 176 Vgl. David P. Sudermann: The Minnelieder of Albrecht von Johansdorf. Edition, Commentary, Interpretation. Göppingen 1976 (GAG. 201), S. 18. 177 Diese Unschärfe ergibt sich aus der Frage, ob man die beiden deutlich unterschiedlichen Versionen von Ich unde ein wîp (MF 87,29) als noch ein Lied oder schon als zwei einzeln zu betrachtende Lieder wahrnimmt. Zugunsten der ersteren Sichtweise lässt sich sagen, dass Anfangs- und Schlussstrophe in beiden Varianten dem Sinn nach unverändert bestehen bleiben. Andererseits aber ändert die abweichende zweite Strophe, die zudem überhaupt keine Ähnlichkeit zur ersten Variante aufweist, die Aussage des gesamten Liedes beträchtlich. Und schließlich – dies als äußerliches Argument – führt beispielsweise Des Minnesangs Frühling beide Liedvarianten einzeln.

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Minne, lâ mich vrî! du solt mich eine wîle sunder liebe lân. du hâst mir gar den sin benomen. kumst du wider bî, swenne ich die reinen gotes vart volendet hân, sô wis mir aber willekomen. Wilt aber dû ûz mînem herzen scheiden niht – daz vil lîhte unwendic doch beschiht –, vüere ich dich danne mit mir in gotes lant. sô sî er der guoten dort umb halben lôn gemant. 'Owê, sprach ein wîp, 'wie vil mir doch von liebe leides ist beschert! waz mir diu liebe leides tuot! vröidelôser lîp, wie wil du dich gebâren, swenne er hinnen vert, dur den du waere ie hôchgemuot? Wie sol ich der werlde und mîner klage geleben? dâ bedorft ich râtes zuo gegeben. kund ich mich beidenthalben nû bewarn, des wart mir nie sô nôt. ez nâhet, er wil hinnen varn.' Wol si, saelic wîp, diu mit ir wîbes güete gemachen kan, daz man si vüeret über sê. ir vil guoten lîp den sol er loben, swer ie herzeliep gewan, wande er heime tuot alsô wê, Swenne sî gedenket an sîne nôt. 'lebt mîn herzeliep oder ist er tôt,' sprichet sî, 'sô müeze sîn pflegen, dur den er süezer lîp sich dirre welte hât bewegen.'

Das Lied umfasst vier Strophen zu je zehn Versen in Kanzonenform,178 in denen vier verschiedene Äußerungsinstanzen auftreten, die sich reihum als ‚Ich‘ bezeichnen.179 || 178 Zu den an dieser Stelle nicht weiter diskutierten Feinheiten der Überlieferung und Textgenese vgl. Des Minnesangs Frühling. Bd. 3,2: Anmerkungen. 30. Auflage. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt. Neu bearbeitet von Carl von Kraus. Durch ein Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt sowie hrsg. von Hugo Moser, Helmut Tervooren. Stuttgart 1981 (= Zürich 1950), S. 235–237. 179 Im Gegensatz dazu setzt Detlef Lieske für das Lyrische Ich in Guote liute nur eine Instanz an, die sich abwechselnd aus dem Kreis der Adressaten – also der potentiellen Kreuzfahrer – aus- und in ihn einschließt. Auch für das Publikum des Liedes nimmt er teils ausschließlich adelige Männer an, die ihrer Lehenspflicht Gott gegenüber nachkommen können, teils einen erweiterten Kreis inklusive der Frauen, die dazu angehalten werden sollen, ihre Geliebten zum einen ziehen zu lassen und zum anderen der Gesellschaft zu offenbaren. In dieser Aufforderung sieht Lieske eine implizite Kritik am Minnekonzept des Hofs, das aufgrund seiner Heimlichkeitsprämisse der Konzeption des

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Ihre Wortmeldungen zum Kreuzzug werden wechselartig derart umeinander gruppiert, dass der die Kreuzzugsdichtung180 durchziehende und stets unterschiedlich gewichtete Konflikt zwischen Gottesliebe mit der resultierenden Kreuzfahrt und Minneliebe, aus der ein Verharren bei der Dame folgt, über die Dissoziation von Körper und Gedanken prototypisch gelöst wird. Auf diese Art und Weise wird Minnedienst im Gottesdienst möglich und somit gedankliche Nähe in der körperlichen Distanz.181 Dieser auf der histoire-Ebene des Liedes herausgearbeiteten Lösung geht jedoch eine Problembehandlung der Nähe-Distanz-Thematik voraus, der das evozierte Bewusstsein der dargestellten Figuren zum Vehikel dient. Dazu ergreift etwa in der ersten Strophe eine theologisch deutende Instanz das Wort, die sich zwar als Teil der Christenheit versteht (got, unser herre, MF 94,15), nicht aber als Minnender. Es ist dabei aus verschiedenen Gründen sinnvoll, zwischen der erzählenden Instanz aus Strophe drei bis vier und dieser eingangs zu Wort kommenden, predigenden Instanz zu unterscheiden. Obwohl zunächst beide den klerikalen Pol vertreten, wenn man sich auf die Schwerpunktsetzung Tomaseks einlassen möchte, zeigen beide Positionen doch einen deutlichen Unterschied in Habitus und theologischem Anspruch. Zudem demonstrieren beide Instanzen unterschiedliche Abstufungen einer Relation zum Geschehen und zur Minnebeziehung des Paars. Dies zeigt sich schon zu Beginn des Liedes, wenn die sich äußernde Instanz der Strophe eins einen größeren Figurenkreis anspricht als nur die beiden Minnenden:182

|| Sündenablasses im Kreuzzug zuwiderläuft. Als historischen Kontext veranschlagt der Autor den Hoftag Jesu Christi im März 1188, auf dem Albrecht von Johansdorf die Predigten des päpstlichen Legaten entweder selbst hörte oder zugetragen bekam sowie möglicherweise auf Friedrich von Hausen traf, möchte man Lieskes Ansichten folgen. Vgl. Lieske, Mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik, S. 84f. u. 179–183. 180 Ulrike Theiss stellt eine besondere Affinität einzelner Autoren zu den Gewichtungen von Gottes- und Frauenminne fest. So tendierten Friedrich von Hausen und Reinmar eher dazu, die Frauenminne über die Gottesminne zu stellen, Hartmann von Aue und Heinrich von Rugge jedoch gewichteten umgekehrt. Vgl. Theiss, Die Kreuzlieder, S. 329f. 181 Auch Christa Ortmann und Hedda Ragotzky heben die Versöhnung des kreuzliedtypischen Grundkonflikts bei Albrecht von Johansdorf als dessen markantestes Charakteristikum hervor. Sie finden die besondere dichterische Qualität, die Albrecht von anderen Kreuzliedautoren unterscheidet, in ebenjenem Lösungsansatz, der sich – statt einer Möglichkeit den klaren Vorzug zu geben – einen Ausweg sucht, der beide Ansprüche vereinen kann. Indem Albrecht einen Modus erarbeitet, der es erlaubt, die Anforderungen des Gottes- und Minnedienstes gleichzeitig zu erfüllen, entzieht er in der Folge dem die Kreuzzugsdichtung durchschwelenden Konflikt gleichsam die Grundlage. Vgl. Ortmann, Ragotzky, Das Kreuzlied, S. 188f. 182 Die Ansprache eines großen Figurenkreises ist bei lehrhaften Strophen mit Appellcharakter nicht selten; bekanntestes Beispiel innerhalb der mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik dürfte der Kreuzleich Heinrichs von Rugge sein (MF 96,1). Aber dennoch sprechen manche Kreuzlieder auch ausgewählteres Publikum an, so Hartmanns MF 209,37 explizit die Ritter, vgl. Nû zinsent, ritter, iuwer leben / und ouch den muot / durch in der iu dâ hât gegeben / lîp unde guot (MF 209,37), oder MF 211,20

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Guote liute, holt die gâbe; dienent sînen solt; Lîdet eine wîle willeclîchen nôt (MF 94,15). Dieser Sprecher wird so inszeniert, als ob er von der Existenz oder gar dem Leid der beiden folgenden Instanzen nichts weiß. Das Subjekt aus Strophe vier verfügt hingegen eindeutig über dieses Wissen, denn es leitet nicht nur die Rede der Dame ein, sondern gibt darüber hinaus beiden Minnepartnern Rat und verbindet auch die spätere Rede der Dame nochmals mit dem zuvor Gesprochenen. Selbst wenn dagegen gehalten werden mag, dass auch der Rat dieser Instanz in Strophe vier einigermaßen pauschal angelegt ist, lässt sich dies zum einen durch den Verweis auf die abstrahierende Form der Didaxe und zum anderen durch die enge Verbindung dieser Sprechinstanz mit der Rede der Dame am Ende der Strophe entkräften. Deren Worte können sowohl als Explikation der vorherigen Lehre der erzählenden Instanz gelesen werden als auch im Anschluss an die in Strophe drei vertretene Position der Dame oder an die des Mannes eine Strophe zuvor. Über den Bezug zu Gott ist sogar eine Bindung an die predigende Strophe eins möglich, sodass die abschließende Äußerung der Dame alle auftretenden Positionen inhaltlich zusammenführt: Eine räumliche Trennung der Minnenden für die Dauer der Kreuzfahrt hat unter der Prämisse, ein gottgefälliges Leben zu führen, zwar durchaus Vorrang, aber darüber hinaus besteht die beste Handlungsweise darin, die Minne gedanklich aufrecht zu erhalten, weil sie alle Positionen vereinigt. Neben der zweifellos theologischen Kompetenz, mit der die Lyrische Instanz der ersten Strophe von der Allmacht Gottes, den saeldehaften Kreuzfahrern (MF 94,15), dem immerwährenden Tod und dem ewigen Leben spricht, ist es auch diese außerhalb der Minne angesiedelte Identität, die den Eindruck entstehen lässt, es mit der Rolle eines ‚Predigers‘ bzw. mit einer Predigt zu tun zu haben. In diesem Modus wird einem imaginierten Publikum aus Unverständigen und Säumigen das gedankliche Konstrukt der Kreuzzugsidee dargelegt und in der Folge der geistliche Kern des Kreuzlieds betont, bevor die Rede in Strophe zwei überleitungslos in die des glücklich minnenden Ritters übergeht. Dieser führt sodann ein inneres Gespräch mit der personifizierten Minne und transferiert folglich die geistliche Perspektive in eine der Minne. Er erwartet dabei keine Antwort im Sinne eines tatsächlich stattfindenden Dialogs mit einer Personifikation,183 wie er anderweitig durchaus vorkommt.184

|| analog die Damen: Swelch vrouwe sendet lieben man / mit rehtem muote ûf diese vart, / diu koufet halben lôn dar an (MF 211,20). 183 Dies veranlasst Stefan Tomasek, die Rede des Mannes hier als inneren Monolog zu bezeichnen. Vgl. Tomasek, Guote liute, holt die gâbe, S. 123. 184 In der Minnelyrik wird die personifizierte Minne ähnlich wie Gott zumeist als angerufene Instanz genutzt, an die Gebete und Wünsche, Klagen und Gedanken gerichtet werden, vgl. dazu etwa Gottfried von Neiffen (KLD 15 I,1; KLD 15 XIV,2; KLD 15 XV,4f.; KLD 15 XXI,2; KLD 15 XXV,2; KLD 15 XLV,2; KLD 15 XLVIII,5). Ähnliche Beispiele finden sich auch bei Burkhart von Hohenfels (KLD 6 IV,3), Neidhart (SNE I R3, VII,6f.), Otto von Brandenburg mit dem Pfeil (KLD 42 V,3), Otto von Botenlauben

162 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Stattdessen stellt er vielmehr Forderungen an die Minne – lâ mich vrî! (MF 94,25) – und legt ihr seine Sicht auf bzw. mögliche Lösungen für das Problem dar, das durch seine Kreuzzugsverpflichtung entsteht: du solt mich eine wîle sunder liebe lân […] Wilt aber dû ûz mînem herzen scheiden niht […] vüere ich dich danne mit mir in gotes lant (MF 94,25). Jene umfassen entweder, mit der Entfernung von Heimat und Dame auch die Minne zurückzulassen, falls diese tatsächlich von ihm weicht, oder aber die Minne auf dem Kreuzzug mitzuführen. Infrage gestellt werden der Kreuzzug und somit die anstehende Entfernung aus dem Heimatbereich nicht. Strophe drei nimmt hauptsächlich die Äußerung einer Dame in Anspruch, die sich nach eigener Aussage aufgrund einer Kreuzzugsverpflichtung bald von ihrem Geliebten trennen muss und die sich nun fragt, was aus ihr werden soll, wenn der fortgeht, dem sie in Minne verbunden ist. Auf der drohenden Entfernung zwischen den Minnepartnern liegt also ihre Konzentration. Die Rede richtet sich – wie zuvor die des Mannes an die Minne – teilweise an den lîp (MF 94,35) der Dame, den der Mann erfreut hat und der nun jedoch leiden muss. Im Gegensatz zum männlichen Ich der vorherigen Strophe sieht das weibliche der Strophe drei aber keine Möglichkeit, die Situation zum Guten zu wenden, sondern verschreibt sich vollkommen dem bevorstehenden Leid. Neben ihm tritt in Strophe drei erstmals auch die möglicherweise als ‚Erzähler‘ zu bezeichnende Instanz auf, die der Eingangsklage der Dame (Owê, MF 94,35) durch ein nachfolgendes sprach ein wîp

|| (KLD 41 X,1), Konrad von Landeck (SMS 16 V,3), Heinrich Teschler (SMS 21 V,1–3), Ulrich von Winterstetten (KLD 59 II,4) und Walther von der Vogelweide (L 14,6). Eine durch Frau Minne erteilte Didaxe ist eher in den späteren Minnereden üblich, vgl. Jacob Klingner und Ludger Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 1: Repertorium, Berlin 2013, hier besonders die Abschnitte B 333 ‚Frau Minne warnt vor Lügen‘ (S. 507f.), B 334 ‚Frau Minne warnt vor Hochmut‘ (S. 509f.) und B 422 ‚Frau Minne weiß Rat‘ (S. 698–700). In der Epik mangelt es ebenfalls nicht an Belegen für Gespräche mit der Minne, vgl. Iwein, V. 2 971–2 980: Dô vrâgte mich vrou Minne / des ich von mînem sinne / niht geantwurten kan. Sî sprach ‚sage an, Hartman, / gihstû daz der künec Artûs / hern Îweinen vuort ze hûs / und liez sîn wîp wider varn?‘ done kund ich mich niht baz bewarn, / wan ich sagt irz vür die wârheit: / wan ez was ouch mir vür wâr geseit. Trotzdem gibt es auch in der Minnelyrik vereinzelte Verwendungen der Frau Minne, die einen gewissen Aktionsradius ausfüllen. So berichtet Frauenlob etwa von den Klagen der Frau Minne: Ir hohen vrouwen, reinen wib, iu si gesaget: / vrou minne claget / über iuch mit holdem mute / […] sie claget, daz ir nicht erkennet wenn und wa der wünne. / Sie claget an iu versumen und vergahen ouch. (Frauenlob Teil 1, Lied 5, Absatz 100). An anderer Stelle rät seine Frau Minne den Damen: wib, wiltu nern / die minne, du must dich der sprenze erwern, / vrou minne riet. / Wib, vliuch den glanzen sprenzel, / der treit der höne krenzel / in sines herzen swenzel. (Frauenlob Teil 1, Lied 6, Absatz 9) Die Lieder Frauenlobs wurden entnommen aus Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Teil 1: Einleitungen, Texte. Hrsg. von Karl Stackmann, Karl Bertau. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Folge 3. 119), S. 448 u. 466. Auch im Narzisslied Heinrichs von Morungen handelt die Minne und bringt dem Ich den Traum von seiner Dame: Minne, diu der werelde ir vröude mêret, / seht, diu brâhte in troumes wîs die vrouwen mîn, / […] / niuwen daz ein lützel was versêret / ir vil vröuden rîchez rôtez mündelîn; Heinrich von Morungen (MF 145,9).

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(MF 94,35) einiges an Unmittelbarkeit nimmt. Diese Unmittelbarkeit – eine discours-Nähe zum Rezipienten – war in den vorangegangenen Prediger- und Ritterstrophen aufgrund der unvermittelten Rede verstärkt wirksam. In Strophe vier schließlich tritt diese Instanz in der Verbreitung einer Art Kreuzzugs-Minnedidaxe deutlicher hervor, teilt sich die Strophe jedoch wieder mit der Dame, die die Schlussverse spricht. Für die histoire-basierte Verhandlung der minnetheoretischen Pole Nähe und Distanz findet sich in Strophe eins kaum Material, da diese sich ausschließlich dem Predigtgestus widmet und, weil sie auf den Einbezug einer konkurrierenden Minneliebe verzichtet, auch nichts ausbalancieren muss. Für den Prediger besteht kein Zweifel am absoluten Vorrang der Kreuzfahrt. Daher bekleidet dieser eine Position, die dem Gewissenskonflikt der Minnenden fern und den theologischen Inhalten nahe steht. Die folgende Männerstrophe nimmt eine Mittlerposition zwischen der gottesdienstzentrierten Strophe eins und der folgenden Strophe drei ein, die durch die Wortmeldung der Dame ganz im Zeichen der Minne steht. Somit greift der Autor auch in der Textgestalt die Lage der männlichen Rolle zwischen den verschiedenen Anforderungen auf. Das männliche Ich der Strophe zwei setzt sich sodann mit dem Widerstreit der Verpflichtungen auseinander, wobei der vorangegangenen Strophe insofern zugestimmt wird, als dass es keine unlösbare Problematik gibt. Denn der Ritter will sich in jedem Falle auf den Kreuzzug begeben, während ihm die beiden sich erschließenden Folgemöglichkeiten gleich lieb sind: Entweder wird die Trennung eine Entfernung mit sich anschließender Wiedervereinigung in der reinstitutionalisierten Nähe bedeuten185 oder aber die Minne wird für die Zeit des Kreuzzugs gar nicht beendet.186 Diese letzte Variante kann gegenüber der ersten dadurch aufgewertet werden, dass – indem die Minne beibehalten wird – auch für die Dame noch etwas zu gewinnen ist, nämlich der halben lôn (MF 94,25) Gottes für die durch ihren Geliebten geleistete Fahrt. Ohne eine genauer explizierende Didaxe einzufügen, deutet die Strophe so bereits an, welche der Möglichkeiten als die bessere gelten kann. Die folgende Frauenrede führt einen Status vor, der dieses Reflexionsniveau noch nicht erreicht hat, was die weibliche Instanz in ihrer Strophe nur eine äußerst einseitige Position vertreten lässt. Denn ihre Argumentation nimmt ausschließlich die Minneliebe wahr und kann so in der Perspektive der anstehenden Kreuzfahrt einzig das Leid und die räumliche Trennung registrieren. Eine derartige Minne erträgt keine räumliche Distanzierung, sondern ist auf die körperliche Nähe der Minnenden

|| 185 Vgl. Minne, lâ mich vrî! / du solt mich eine wîle sunder liebe lân / […] / Kumst du wider bî, swenne ich die reinen gotes vart volendet hân, / sô wis mir aber willekommen; (MF 94,25). 186 Vgl. Wilt aber dû ûz mînem herzen scheiden niht […] / vüere ich dich danne mit mir in gotes lant; (MF 94,25).

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angewiesen; Trennung hat für sie unweigerlich das Ende jeglicher Nähe zur Folge und damit auch allen Glücks. Entsprechend bestimmt durch die unheilvoll drohende Entfernung und das resultierende Leid stellt sich die dritte Strophe dar.187 Milderung bringt erst die Gegenrede der Strophe vier, in der die Einstellung der Dame von tiefem Leid zu noch immer trauerndem, doch assimiliertem Einlenken entwickelt wird. Dementsprechend überwiegen im ersten Teil der vierten Strophe die Ausführungen zur erhaltungsfähigen Fern-Nähe, die durch die unabhängige Instanz vorgebracht werden und der Dame darlegen, wie eine Lösung des Konflikts möglich ist. Sie werden in dieser Form dem minnetheoretischen Anteil der Kreuzliedpoetik gerecht,188 nachdem der predigtartige Teil die geistlich-theologische Fundierung leistete. Es zeigt sich, dass die zu erhaltenden Nähe als Gegengewicht zur Gemütslage der Trauer und Entfernung in der vorherigen Strophe angedeutet wird. Auf die Spitze getrieben wird dieses Konzept in der Formulierung daz man si vüere über sê (MF 95,6), in der auf engstem Raum die beiden Zustände der histoire-basierten Nähe und Entfernung zusammengebracht werden, um den Vorschlag des Liedes zur Konfliktlösung auszudrücken: die Mitnahme der Minne auf den Kreuzzug.189 Im Kontext der lyrisch-fragmentarischen Narrationsmöglichkeiten lässt sich für Albrechts Lied zum ersten festhalten, dass die Verweise auf eine Transzendenzebene in den ersten beiden Strophen stärker vertreten sind als in den letzten. Das ist insofern nicht überraschend, als dass die predigende Strophe in großem Umfang von theologischen Inhalten kündet: der Allmacht Gottes, seinem Geschenk an die Menschen in Form von Leib und Seele und dem ewigen Leben, das der Mensch durch den Tod für Gott erreichen kann. Aber auch die Männerstrophe thematisiert die Gottesfahrt, das Heilige Land als Land Gottes und seinen Lohn, während in der lediglich durch

|| 187 Vgl. wie vil mir doch von liebe leides ist beschert! / waz mir diu liebe leides tuot! / vröideloser lîp, / wie wil du dich gebâren, swenne er hinnen vart / […] / Wie sol ich der werlde und mîner klage geleben? / […] / des wart mir nie sô nôt. Ez nâhet, er wil hinnen varn; (MF 94,35). 188 Vgl. Wol sî saelic wîp, / diu mit ir wîbes güete gemachen kan, / daz man si vüere über sê. / Ir vil guoten lîp, / den sol er loben, swer ie herzelîp gewan, / wande ir heime tuot alsô wê, / Swenne sî gedenket an sîne nôt (MF 95,6). 189 Diese besondere Verbindung von varn und belîben bei Albrecht nimmt bereits Ulrich Fülleborn als besonderen Angelpunkt des Werks dieses Autors wahr und interpretiert Die hinnen varn (MF 89,21) unter dieser Prämisse. Allerdings veranschlagt er als Korrespondenz das Dialoglied Ich vant sie âne huote (MF 93,12) und nicht das Tagelied wie die vorliegende Untersuchung. Trotzdem ähnelt die angedeutete Figur derjenigen, die hier im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen wird. „Dort, im Wechsel, sind die Liebenden räumlich getrennt, reden sie einer vom andern in dritter Person, aber ihre Monologe sind harmonisch zueinander in Beziehung gebracht. Hier, im Dialoggedicht, treffen sie sich im realen Raum der Gesellschaft, und im Gespräch zwischen dem drängenden Mann und der verweigernden Frau entlädt sich die Spannung, die die Minne in der gesellschaftlichen Wirklichkeit kennzeichnet […].“ Ulrich Fülleborn: Die Motive Kreuzzug und Minne und das Gestaltungsprinzip in den Liedern Albrechts von Johansdorf. In: Euphorion 58 (1964), S. 337–374, hier S. 360.

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den Trennungsschmerz geprägten dritten Strophe kein Platz ist für Gott. Er kehrt erst in der einlenkenden, vierten Strophe als derjenige wieder, der sich zukünftig des verstorbenen Geliebten annehmen wird. Abgesehen von einer topisch verweisenden Funktion der Bezüge, mit denen sodann nach dem Vorbild der scripts und frames bei Hühn und Schönert eine zitierend-verbindende Art der Relationierung umgesetzt wird, etablieren die Verweise auf Gott eine zusätzliche Ebene außerhalb der imaginierten Realität der Lyrischen Instanzen, womit sie für diese unverfügbar und doch ein ständiger Bezugspunkt für Gedanken und Handlungen ist.

Abb. 5: Räumliches Konstrukt der Kreuzlieder

Die Überlegung aus Teil 1, dass die ausgestellten Beziehungen zur Transzendenzebene ebenso wie diejenigen zu Dritten Anteil an diagrammatischen Überlegungen haben können, lässt sich hier am Beispiel Albrechts belegen. Es entsteht der Eindruck einer Ebene der Transzendenz, die zum einen dem Zugriff der diegetischen Figuren verschlossen und zum anderen der dargestellten Welt ideell über- sowie räumlich beigeordnet ist. Darüber hinaus verbindet sie als allgegenwärtiges Ziel frommer Gedanken die beiden essentiellen Räumlichkeiten des Kreuzlieds; die Heimat und das Heilige Land. Mithilfe dieses Brückenschlags wird einerseits ein weiterer Mechanismus der Nähe etabliert, dessen Relevanz sich nicht nur auf die histoire beschränkt, denn die beschriebene Ebene steht schließlich dem Rezipienten ebenso wie den Äußerungsinstanzen des Liedes zur Bezugnahme offen. Andererseits ermöglicht er auch eine differenzierende Strukturierung von Räumlichkeit, da Gott als dem Heiligen Land stärker verbunden betrachtet werden kann, wo er menschlîchen trat, wie Walther sagt (L 15,1). Derartige Bezüge, die über den Umfang eines konkreten Liedes hinausgreifen, wurden innerhalb der theoretischen Grundlegung zur Diagrammatik in Teil 1 ebenso als deren zulässiges

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Charakteristikum herausgestellt wie die Eigenschaft, nicht selbst eine Narration darzustellen, sondern vielmehr potentiell zahlreiche Geschichten zu enthalten. Daher kann im Falle Albrechts wohl davon gesprochen werden, dass dessen Lied an derjenigen diagrammatischen Struktur mitwirkt, die eine transzendente, strukturierte Beziehung zwischen der Heimat und dem Heiligen Land der Kreuzlieder bearbeitet. In diesem Umfang hat es auch an den dem Diagramm eingefalteten, weiterführenden Narrationen Anteil. Einen ähnlichen Effekt hat der Bezug auf Figuren außerhalb des konkreten Liedgeschehens, von dessen Möglichkeit Albrechts Werk aufgrund seiner Sprechervielfalt verschiedentlich Gebrauch macht. Der Prediger etwa wendet sich zum einen an ein implizit vorhandenes Publikum, das er belehrt und auffordert, sich einen Teil der Seligkeit zu sichern. Zum anderen können auch Minne und Leib, die dem Kreuzfahrer und seiner Dame als Gesprächsadressaten dienen, als solche außerhalb des Liedes platzierte Instanzen betrachtet werden, was sich maßgeblich darin ausdrückt, dass keiner der erwähnten Adressaten innerhalb des Liedes die Gelegenheit zur Antwort erhält. Die jeweils derartig kommunizierende Instanz bringt für den das Lied wahrnehmenden Rezipienten einen Effekt hervor, der sich auf die nähere Bestimmung derjenigen Realität richtet, in der die betreffende Instanz imaginiert wird. Episch ausführlich oder stringent sukzessive geschieht dies jedoch nicht. So bildet sich etwa durch die verschiedenen Bezugnahmen des Liedes auf den lîp (MF 94,35 u. 95,6) in den Strophen drei und vier ein abstraktes Bild dieses Referenzpunktes heraus, das jedoch der Rezipient in seinem Verständnis eigenständig zusammenzufügen in der Pflicht ist. Denn es wird ihm nicht schrittweise durch das Lied vorgelegt und ausgedeutet. Es entsteht die Behauptung einer diegetischen Welt, die angeblich weit mehr umfasst als das einzelne Lied aussagt, und deren Form und Funktionalität sich der Rezipient anhand der liedintern vorgebrachten Deiktika und Aussagen interaktiv zu erschließen hat. Die Geschichte und Art der Minne, die der Kreuzfahrer pflegt, mögliche Antworten der Personifikation etc. gehören zu diesen Bereichen, die Teil der evozierten Welt sind, nicht aber Teil des konkreten Liedumfangs. Als übergeordnete diagrammatische Struktur ergibt sich in der Folge nicht einfach eine trianguläre oder dyadische Form, wie dies zuvor in Bezug auf die Zinne oder den Blick vorgeschlagen wurde, sondern eine komplexere Anordnung. In ihr fließen mehrere zentrale Punkte des Liedes zusammen: erstens die Dualität von Transzendenz und Immanenz, auf deren Mittlerposition der Prediger steht, zweitens die Dualität von Minne- und Gottesdienst, zwischen denen sich die männliche Minneinstanz befindet. Jene teilt sich zur Bewältigung des Kreuzliedkonflikts in eine körperlich-immanente und eine gedanklich-geistliche Hälfte, wobei die Zuordnungen hier interessanterweise so verkehrt werden, dass in der vermeintlichen Trennung und Auflösungsbewegung dennoch eine chiastische Balance umgesetzt ist, die Lied und Konzept gleichermaßen zusammenhält. Denn Gottes Aufgabe auf der einen Seite erhält den immanenten Körper zum Werkzeug, die geistlichen Gedanken leisten auf der anderen Seite weltlichen Minnedienst. Drittens fügt sich diese am Beispiel der

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männlichen Instanz ausgestellte Dualität von Minne und Leib, Innerem und Äußerem, zwischen deren Teilen das Ich als verbindender Faktor bestehen bleibt, auch in die andere, weibliche Instanz ein, die zudem mit dem männlichen Ich als Minnepaar eine zusätzliche Zweiheit bildet. Weiterhin vorhanden, wenn im konkreten Beispiel von Guote liute (MF 94,15) auch eher hintergründig mitschwingend, ist die Dualität des durch das Meer getrennten Hier der Heimat und des Dort (Heiliges Land). All diese Zwei- und Dreiheiten fügen und verschachteln sich zu einem größeren Gebilde, auf das die Strophen des Liedes nur ansatzweise hindeuten, in dem sich aber die Variationen und Verschiebungen, die die unterschiedlichen Kreuzlieder vornehmen, eintragen und durchspielen lassen.190 Narrativ ist dabei, wie schon mehrfach betont, nicht das Diagramm, sondern die in ihm enthaltene Möglichkeit der Erzählung, die sich in den Konkretisierungen des einzelnen Liedes realisiert. Eine solche Konkretisierung wäre etwa die Selbstteilung des Mannes in Guote liute (MF 94,15), eine weitere beispielsweise der verstorbene Herr in Hartmanns Dem kriuze (MF 209,25), mit dem der Heimatbereich auf ungewöhnliche Art und Weise näher bestimmt wird, oder die Entscheidung der Äußerungsinstanz für den Gottesdienst, die in Friedrichs von Hausen Si darf mich (MF 45,37) über die Lohnthematik begründet wird. Neben derartigen Modellen ist auch der vielfältige Umgang mit den Zeitebenen in Albrechts Lied eine mögliche Basis narrativer Ansätze, denn neben der geschilderten Gegenwart stellt dieses sowohl Zukunfts- als auch Vergangenheitsbezüge her. So konstatiert etwa der Prediger gegenwartsbezogen, dass Gott jetzt die Heilsgabe verleiht, jetzt Gewalt hat und ebenfalls jetzt Lohn bereit liegt für die Tüchtigen. Er bezieht sich aber auch auf die Vergangenheit, in der Gott den Menschen Leib und Seele geschenkt hat, und die Zukunft, in der Gott demjenigen das ewige Leben schenken wird, der ihm sein Leben geopfert haben wird. Die Appelle, die das Lyrische Subjekt dieser Strophe an die Gemeinde der unschlüssigen und säumigen Kreuzfahrer richtet, nehmen einen Status zwischen Gegenwart und Zukunft ein, da sie zwar in der Gegenwart ausgesprochen werden, wie bei holt die gâbe, dienent sînen solt, Lîdet eine wîle, gebt ime des lîbes tôt (MF 94,15), sich in ihrem Aufforderungscharakter aber auf zukünftige Handlungen der Angesprochenen beziehen. In jedem Falle führen diese Bezüge auf unterschiedliche Zeitebenen dazu, dass das Lied in seiner Rezeption nicht isoliert wahrgenommen, sondern zusätzlich zum Ausgesprochenen notwendig Weiteres imaginiert wird. Diese auf einer zeitlichen || 190 Abweichend behandeln etwa Kreuzlieder die Thematik, in denen sich das Ich zugunsten der Kreuzfahrt von seiner Geliebten abwendet, so Sî darf mich des zîhen niet (MF 45,37), Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9) und Ich was vil ungewon (MF 102,1), oder solche Kreuzlieder, in denen von Beginn an keine Dame in den Blick genommen wird, wie Si waenent (MF 53,31) oder der Kreuzleich (MF 96,1). Lieder wiederum, in denen sich das Ich bereits in der Ferne des Heiligen Lands situiert, wirken nochmals anders, so etwa die Beispiele des Neidhartkontexts in der weiteren Untersuchung oder auch das des Tannhäusers, über das Spiewok sich zuvor äußerte.

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Ordnung fußenden Verbindungen, die zwischen dem Liedinhalt und den Imaginationen entstehen, stellen ebenfalls Narrativierungsansätze dar, die in ihrem verknappten Anspielungscharakter zugleich etwas Lyrisches an sich haben: Durch die Feststellung einer der Lyrischen Instanzen, dass in der Vergangenheit bestimmte Ereignisse geschehen oder in der Zukunft zu erwarten sind – Gaben Gottes, geheime Treffen, nie da gewesenes Leid oder Ähnliches – gesellt sich zur in der Rezeption des Liedes primär imaginierten Situation, aus der heraus diese Instanz sich äußert, mindestens eine sekundär imaginierte Situation hinzu. Dies erzeugt nun die gleichen Effekte wie die zuvor genannte diegetische Welt mit ihren behaupteten Deiktika. Diese zweite Situation – die zukünftige selbstredend, aber auch die vergangene – bleibt dabei immer schemenhaft; nicht, weil eine genauere Auskunft, zumal über Vergangenes, nicht möglich wäre, sondern weil die artifizielle und verkürzende Darstellung ein Merkmal des Lyrischen ist, wie der Abschnitt zur Lyrik als Merkmalsbündel ausführte. In den restlichen drei Strophen bietet sich im Hinblick auf die Zeitebenen ein ähnliches Bild. Wenn der Versuch gewagt werden soll, die anzitierten Zeitebenen zu ordnen, dann ergibt sich am weitesten in der Vergangenheit der Raub der Stimme des Lyrischen Subjekts durch die Minne in der zweiten Strophe. Es folgen die gegenwärtige Ebene (wilt aber dû ûz mînem herzen scheiden niht, MF 94,25), die der Appelle (lâ mich vrî, du solt mich […] lân, MF 94,25), die der abgeschlossenen Zukunft (swenne ich die reinen gotes vart volendet hân) und schließlich die der offenen Zukunft (kumst du wider bî, wis mir aber willekommen, vüere ich dich danne mit mir MF 94,25). In der dritten Strophe liegen die Hochgestimmtheit des Leibes und die leichtere Not in der Vergangenheit (dur den du waere ie hôchgemuot, des wart mir nie sô nôt, MF 95,1), in der Gegenwart befinden sich das Liebesleid und der nahende Abschied, konjunktivisch das Ratbedürfnis und der Wunsch nach Rückzug191 und in der Zukunft der Abschied; in diesem Fall das Gebaren des Leibes und das fortgesetzte Leid192 der Dame. Ähnliches gilt auch für die letzte Strophe: Stets deutet das evozierte Liedgeschehen über sich hinaus und eröffnet so zusätzliche Zeiträume, innerhalb derer es sich positioniert; Zeiträume jedoch, die kaum je eine räumliche Fixierung erfahren und so immer fragmentarisch, immer vage bleiben. Diese räumliche Emphase, die der Zeitebene teils fehlen mag, ist deshalb in Guote liute jedoch nicht unauffindbar. Teils verdeutlicht sie sich schon in den obigen Ausführungen zu diagrammatischen Strukturen, wobei es sich lohnt, sie noch einmal gesondert in die Betrachtung aufzunehmen. Denn die Bewegung zwischen

|| 191 Vgl. wie vil mir doch von liebe leides ist beschert, / waz mir diu liebe leides tuot, / […] / dâ bedorft ich râtes zuo gegeben. / kund ich mich beidenthalben nû bewarn / […] ez nâhet […]; (MF 94,35). 192 Vgl. wie wil du dich gebâren, swenne er hinnen vert, / […] / wie sol ich […] geleben / […] er wil hinnen varn; (MF 94,35).

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verschiedenen Räumen kann durchaus ein Hinweis auf narrative Strukturen sein,193 wie Teil 1 ausführte. Innerhalb des Liedes Albrechts zeigen sich im Wesentlichen drei räumlich strukturierbare Ebenen: Immanenz und Transzendenz als vertikale, Heimat und Heiliges Land als horizontale sowie das Herz als spezifisch-uneigentliche Raumstruktur. Durch letzteres verdeutlicht sich zudem auch, wie häufig die ausgeführten Funktionalisierungen des Herzens auftreten und in welcher Gestalt letztendlich die Einbindung in den größeren Umfang eines Liedes erfolgt. Mit den Strophen zwei und vier sind es die männliche und die erzählende Instanz, die dem Herzen eine räumliche Qualität zuschreiben. Bei ersterer geschieht dies in Form eines Raumes, den die Minne bewohnt und den sie für die Zeit der Kreuzfahrt besser verlässt, wenn der Kreuzfahrer sie nicht im Herzen bis ins Heilige Land tragen soll; bei letzterer in Form eines Behältnisses für die Dame, die aufgrund ihres vorbildlichen Verhaltens bis ins Heilige Land geführt wird. Dabei übersteigt das Lied Albrechts die Entwicklungen des Herzens zur Räumlichkeit und deren weitere Differenzierung nochmals um eine Nuance, denn das Herz des minnenden Mannes ist in MF 94,15 nicht mehr nur Behältnis für die Geliebte, sondern wird kombiniert mit dem Aspekt der Bewegung. Auf diese Art und Weise wird aus dem Schrein eine portable Version seiner selbst; eine Art Reisereliquiar, in dem als Heiliges das Bild der Dame und die Erinnerung an sie ruhen, womit die einzigartigen Gebilde zwischen minnesanglicher und theologischer Sphäre, die die Kreuzzugslyrik hervorbringt, einmal mehr beispielhaft hervortreten. Gegenüber dieser metaphorischen Art der Raumentfaltung, die demzufolge eine Form metaphorisch-fragmentarischen Erzählens im discours hervorbringt, operieren die beiden anderen Raumsysteme auf der diegetischen Ebene des Liedes, der histoire. Der Transzendenz ist im ersten Raumsystem die Immanenz gegenübergestellt, die wiederum in das zweite Raumsystem des Hier und Dort zerfällt. Aufgrund der theologischen Implikationen ist anzunehmen, dass das Dort als Heiliges Land hierbei eine gesteigerte Verbindung zur Transzendenz besitzt. Da die überwiegende Mehrheit der mittelhochdeutschen Kreuzlieder vor dem Aufbruch zum Kreuzzug situiert ist194 und ihr Augenmerk auf dem Hier liegt, in dem der Kreuzzugskonflikt thematisiert sowie dessen Lösung verhandelt werden muss, ist das Dort als gotes lant oder hinnen stets nur in einer unscharfen Distanz vorhanden. Die räumliche Konstellation, die die Kreuzlieder entwerfen, bringt derart eine Spannung hervor, deren narrative Verarbeitung in Form der Bewegung aus dem Heimatbereich und in die Ferne nicht im konkreten Lied enthalten ist. Daraus ergibt sich, dass das Kreuzlied auf räumlicher Ebene der histoire eine Narration nicht durchführt, sondern sie potenziell impliziert; ähnlich wie dies oben bezogen auf die Diagrammatik der Fall war.

|| 193 Vgl. den Sujetbegriff bei Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 329–340. 194 Einige der seltenen Ausnahmen bieten die drei Kreuzlieder des Neidhartkontexts, vgl. Abschnitt 2.4.2, sowie das Kreuzlied des Tannhäusers, vgl. die Untersuchungen Mohrs und Spiewoks.

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Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit den Kreuzliedern vielseitige Ergebnisse und Anschlussmöglichkeiten zutage fördern kann und die Einbettung in historische Umstände des Kreuzzugs, wie sie die ältere Forschung bevorzugte, nur eine Interpretationsfacette dieser lyrischen Werke darstellt. Am Beispiel des Liedes Albrechts von Johansdorf ließ sich die Bearbeitung von Nähe und Distanz als Grundtendenzen der Minnebeziehung auf verschiedenen Ebenen zeigen, ob auf der wortwörtlichen der Figurenrede, mit der ein Einblick in die vertretene Position und Weltsicht der Lyrischen Instanzen gegeben wird, oder auf Ebene der übergeordneten Denkfigur der Nähe in der Distanz, die sich in der gedanklichen Aufrechterhaltung der Minne während des Kreuzzugs ausformt. Hierbei ist für die vorliegende Untersuchung weniger der innovative Charakter Albrechts gegenüber den anderen Kreuzzugsdichtern von Interesse als die Anbindung dieser Denkfigur an die Strukturen des Tagelieds, die sich im Folgenden zeigen wird. In Bezug auf die Narrativierungstendenzen der lyrischen Gattung konnte am Kreuzlied die Bedeutung von Verweisen auf zeitliche, räumliche und figürliche Strukturen belegt werden, mit deren Hilfe es möglich wird, den Liedinhalt in einen größeren, den Liedumfang übersteigenden Zusammenhang einzubinden. Anhand des Herzens zeigte sich zudem, dass die besprochenen metaphorischen Phänomene im exemplarischen Lied eine von den genannten raumzeitlichen Prozessen unabhängige Ebene des Narrativierungspotentials bilden. Jenes Potential ist dem raumzeitlichen zugleich unter- und überlegen, denn einerseits ist seine Äußerungsform stark verkürzt, andererseits zieht diese knappe Anstoßformulierung ausgreifende Assoziationshandlungen nach sich. Ungestört von diesen agieren zum einen die verweisenden Operationsmechanismen des Topischen nach der Art eines semantischen Netzes, das die drei exemplarischen Bildbereiche vorführten. Durch die diagrammatischen Figurationen werden zudem teils komplexe Verschachtelungen dyadischer und triadischer Systeme ins Bild gesetzt, die im Beispiel Albrechts dazu dienten, die Problematik des beispielhaften Ichs zwischen konträren Verpflichtungen graphisch einzufangen. Wie anhand der durchgeführten Analysen und Interpretationen sichtbar wurde, behindern sich diese Ebenen der Metaphorik, Topik und Diagrammatik gegenseitig nicht nur nicht, sondern werten einander in der jeweiligen Realisierung des Liedes auf; sowohl semantisch als auch in der je dazugehörigen Dichotomie von Nähe und Distanz.

2.3.2 Das Tagelied, am Beispiel von Sîne klâwen (MF 4,8) Nach dem beispielhaft besprochenen Kreuzlied und der darin histoire-seitig exemplifizierten Nähe in der Distanz, folgt nun mit der Distanz in der Nähe innerhalb des Tagelieds der Blick auf die korrespondierende Hälfte der eingangs postulierten Figur. Da das Tagelied in seiner Erforschung weder solch gegensätzliche Meinungen

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hervorgerufen hat,195 wie oben anhand des Kreuzlieds ausgeführt, noch im Kontext der provenzalischen Vorbilder einen vergleichbaren literaturgeschichtlichen Sonderstatus beanspruchen kann, soll mit seiner Einführung kürzer verfahren werden. Die befriedigende Dichte und Tiefe der Erforschung dieses Subtyps liegt wohl zum einen in der früh entdeckten und allgemein akzeptierten Verbindung zu den provenzalischen albas begründet und somit einer erhöhten Attraktivität komparatistischer Studien, die Gemeinsamkeiten und Spezifika der mittelhochdeutschen und provenzalischen Tageliedtradition beleuchteten.196 Und zum anderen bestand auch kaum je Zweifel am objektivierenden Status des Tagelieds, der in der zeitigen wie nachhaltigen Prägung des genre objectif durch Alfred Jeanroy sowie diesen rezipierend durch Glier festgestellt wurde.197 Und obwohl drittens durchaus auch Überlegungen eine Realität des Tagelieds betreffend angestellt wurden – durch Ulrich von Liechtenstein immerhin sogar zeitgenössisch198 –, in welcher beispielsweise ständischen und moralischen Verbindung zum Ritter der Wächter zu denken ist199 oder anderes mehr, zog das Tagelied dennoch keine vergleichbar starke Diskussion um Wahrheit und Dichtung nach sich wie das Kreuzlied. Ein vierter Grund für die wissenschaftliche Ausführlichkeit im Umgang mit dem Tagelied mag im klaren Umriss des Untersuchungsgegenstands gefunden werden, vergleicht man diesen mit den Definitionsschwierigkeiten des Kreuzlieds bei Hölzle und Böhmer oben. Demgegenüber ist die Grundkonstellation des Tagelieds verhältnismäßig einfach zu beschreiben, woraus sich nur ein einziges prototypisches Zentrum ergibt: Ein Minnepaar, das entgegen der gesellschaftlichen Konvention eine auch sexuell erfüllte Beziehung führt, sieht sich mit dem nahenden Abschied konfrontiert, weil durch den heraufziehenden Morgen nach durchliebter Nacht das Regime der öffentlichen Ordnung wieder übermächtig wird. Um Sanktionen zu vermeiden und somit die

|| 195 Eine erste Einführung bietet etwa Alois Wolf: Literarhistorische Aspekte der mittelalterlichen Tagelieddichtung. In: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / neuhochdeutsch. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Martina Backes. Einleitung von ders. Stuttgart 2007 (RUB. 8831), S. 11–81. 196 Vgl. dazu schon früh Karl Bartsch: Die romanischen und deutschen Tagelieder (1864). In: Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Hrsg. von ders. Freiburg im Breisgau 1883, S. 250–317 sowie weiterhin Ulf Malm: Structure and composition in the alba, aube and tageliet. In: Studia Neophilologica 67 (1995), S. 75–97. Eine der rezentesten Monographien zum Thema dürfte die Ackerschotts sein, vgl. Julia Ackerschott: Die Tagelieder Oswalds von Wolkenstein. Kommunikation, Rolle und Funktion. Trier 2013. 197 Vgl. Abschnitt 1.2.3. 198 Vgl. Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst. Theil 2. Hrsg. von Reinhold Bechstein. Leipzig 1888 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters. 7), Str. 1621–1633. 199 Vgl. etwa den Wächter als Soldaten und Kampfgefährten des Ritters oder gar als diesem ebenbürtig bei Leslie Peter Johnson: „Sîne klâwen“. An interpretation. In: Approaches to Wolfram von Eschenbach. Five essays. Hrsg. von ders., Dennis Howard Green. Bern 1978 (Mikrokosmos. 5), S. 295– 334, hier S. 316 u. 324.

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Möglichkeit zur Wiederholung des Genossenen zu schaffen, müssen die Minnenden sich trennen, bevor die sie umgebende Gesellschaft erwachen und ihren Grenzübertritt bemerken kann. Diese Trennung geht in jedem Falle mit tränenreichen Wehklagen und Liebesbeteuerungen vonstatten, teils rückt – motiviert durch die Endlichkeit der Zusammenkunft – auch die sexuelle Erfüllung nochmals in den Blick, die in zahlreichen Beispielen jedoch beendet ist, bevor das Lied einsetzt und so eher Referenzpunkt als Äußerungsgegenstand bleibt. Ebenfalls häufig, wenn auch nicht in jedem Lied, steht dem Minnepaar ein Wächter zur Seite, der aus verschiedenen Beweggründen heraus die Liebenden durch seinen Gesang vom Heraufziehen des Tages in Kenntnis setzt und zum rechtzeitigen Abschiednehmen drängt (Subtyp Wächtertagelied). Weitere Variationen jenseits des beschriebenen prototypischen Zentrums können auf die räumliche Verortung des Paares in einem definierten oder undefinierten Natur- oder Kulturraum zielen, auf die Verhandelbarkeit eines adligen Standes des Paars oder gar auf die der finalen Trennung am Morgen.200 Belegt werden sollen im Folgenden analog zum vorherigen Abschnitt sowohl die Ansätze lyrischer Narrative als auch die zweite Hälfte der Kippfigur anhand des Liedes Sîne klâwen Wolframs von Eschenbach (MF 4,8).201 Dieses Werk gehört neben den anderen vier Tageliedern Wolframs, der bereits als „master“202 jener Subgattung bezeichnet wurde, nicht nur zu den am häufigsten bearbeiteten Tageliedern des Mittelalters,203 sondern auch insgesamt zu den beliebtesten Untersuchungsgegenständen

|| 200 Vgl. Knecht und Magd als Tageliedpaar bei Steinmar (SMS 26 VIII) sowie der Tageliedritter bei Ulrich von Liechtenstein, der nicht nur die heimliche Nacht, sondern gut versteckt durch die Dame auch den darauf folgenden Tag mit der Erfüllung seiner Minneträume zubringt (KLD 58 XL). 201 Das Lied ist einzig überliefert in Handschrift G (Münchener Wolfram-Handschrift. München, Staatsbibliothek, Cgm 19, fol. 76v), die die fünf zu besprechenden Strophen ohne Absetzung der Verse und nur abgetrennt durch Stropheninitialen zeigt, wobei die Liedinitiale – obwohl eindeutig vorgesehen – ebenso fehlt, wie beim vorangehenden Den morgenblic (MF 3,1). Außer den beiden Tageliedern enthält die Handschrift Überlieferungen zu Parzival und Titurel. Handschrift A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg. 357, fol. 30v) überliefert nur Wolframs Ez ist nu tac (MF 7,41), Handschrift B (Weingartner Liederhandschrift. Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, fol. 89r–v) indes Der helden minne (MF 5,34) und Von der zinnen (MF 6,10), bevor zwei leere Blätter folgen. Handschrift C (Manessische Liederhandschrift. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848, fol. 150r–v) bietet Der helden minne (MF 5,34), Von der zinnen (MF 6,10), und Ez ist nu tac (MF 7,41). Diese Überlieferungslage ist freilich keine unproblematische, da Sîne klâwen (MF 4,8) folglich unikal in G und dort ohne den Autornamen tradiert ist. Der eindeutige Wolframkontext dieser Handschrift spricht jedoch eine deutliche Sprache. 202 Arthur Thomas Hatto: Medieval German. In: Eos. An Inquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry. Hrsg. von ders. Den Haag 1965, S. 428–472, hier S. 440. 203 Dies mag auch daran liegen, dass Sîne klâwen, wie Kühnel betont, nicht nur alle für den Subtyp konstitutiven Merkmale vereint, sondern diese auf eine ganz eigene Art und Weise variiert. Vgl. Kühnel, Das Tagelied, S. 149. Auch Jonathan Saville bezeichnet Sîne klâwen als eines der

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mittelhochdeutscher Lyrik. Das Gedicht entfaltet sich in fünf Strophen, von denen die ersten vier im Wechsel zwischen dem Wächter auf der Zinne und der heimlich minne pflegenden Dame gesprochen werden, die letzte jedoch eine vom dargestellten Geschehen und seinen Folgen distanziertere Instanz zeigt, deren Blick auf die Ereignisse das Tagelied beschließt. „Sîne klâwen durch die wolken sint geslagen, er stîget ûf mit grôzer kraft; ich sich in grâwen tegelîch, als er wil tagen: den tac, der im geselleschaft Erwenden wil, dem werden man, den ich mit sorgen în verliez. ich bringe in hinnen, ob ich kan. sîn vil manigiu tugent mich daz leisten hiez.“ ‚Wahtaer, du singest, daz mir manige vreude nimt unde mêret mîn klage. maer du bringest, der mich leider niht gezimt, immer morgens gegen dem tage. Diu solt du mir verswîgen gar. daz gebiut ich den triuwen dîn. des lôn ich dir, als ich getar, sô belîbet hie der geselle mîn.‘ „Er muoz et hinnen balde und ân sûmen sich. nu gip im urloup, süezez wîp. lâze in minnen her nâch sô verholn dich, daz er behalte êre unde den lîp. Er gap sich mîner triuwen alsô, daz ich in braehte ouch wider dan. ez ist nu tac. naht was ez dô mit drucken an brust dîn kus mir in an gewan.“ ‚Swaz dir gevalle, wahtaer, sinc und lâ den hie, der minne brâht und minne empfienc. von dînem schalle ist er und ich erschrocken ie,

|| anspruchsvollsten Tagelieder, die das deutsche Mittelalter überliefert. Vgl. Jonathan Saville: The medieval erotic Alba. Structure as Meaning. New York 1972, S. 3.

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sô ninder der morgenstern ûf gienc Ûf in, der her nâch minne ist komen, noch ninder lûhte tages lieht. du hâst in dicke mir benomen von blanken armen, und ûz herzen niht.‘ Von den blicken, die der tac tet durch diu glas, und dô wahtaere warnen sanc, si muose erschricken durch den, der dâ bî ir was. ir brüstelîn an brust si dwanc. Der rîter ellens niht vergaz; des wold in wenden wahtaers dôn: urloup nâh und nâher baz mit kusse und anders gap in minne lôn.

Auf dem anbrechenden Tag liegt dabei zu jedem Zeitpunkt der unbestrittene Hauptfokus der allgemeinen Aufmerksamkeit, der schon im Eingangsvers Sîne klâwen (MF 4,8) markiert wird und sich auch in ebenjener remetaphorisierenden Charakterisierung des Tages – dem Eingangsvers ohne Umschweife folgend – weiter zeigt, die oben erläutert wurde. Das sich äußernde Subjekt, das sich im Laufe der ersten Strophe als Wächter offenbart, unterstellt hier dem Tag nicht nur eine animalische Qualität, sondern auch einen dezidierten Willen, der gegen das Tageliedpaar gerichtet ist. Zudem betont die Wächterinstanz ihre Verbundenheit mit dem Paar, die im Gegensatz zum späteren geldgierigen Wächter bei Heinrich von Frauenberg (SMS 7 I) oder Wenzel von Böhmen (KLD 65 III) offenbar eine moralisch fundierte ist. Auch in der zweiten Strophe richtet sich der Aussagewillen des inszenierten Lyrischen Subjekts – der Dame in diesem Fall – auf den Tag, der durch den Wächtergesang angekündigt wird und der den Aufbruch des Geliebten bedeutet, wobei die Klage der Dame deutlich stärker auf die Verkündung des Tages gerichtet ist als auf diesen selbst. Dem stellt sich der Wächter in Strophe drei entgegen, indem er gleichermaßen Trost, Rat und Vernunft anbietet, da weder der Tagesanbruch noch die Notwendigkeit des Aufbruchs des Ritters verhandelbar, sondern Tatsachen sind. Doch in der folgenden Strophe vier erweist sich auch die Dame als hartnäckige Diskussionspartnerin, denn sie verleiht nochmals der Vorstellung Nachdruck, dass ein Verschweigen des Tagesanbruchs durch den Wächter auch eine Verlängerung der Erfüllungssituation bedeutet. Darüber hinaus wirft sie dem Wächter vor, sie unabhängig davon zu früh gestört zu haben. Ihre damit zusammenhängende Anklage, der Wächter habe den Geliebten zwar aus ihren Armen, nicht jedoch aus dem Herzen benomen, wird unten im Rahmen der Betrachtungen zur Nähe und Distanz noch wichtig werden. Strophe fünf schließlich ist der erzählenden Instanz und dem finalen urloup (MF 5,6) des Paares gewidmet. Auch an dieser Stelle wird der Tag nochmals explizit als Entität in die

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gezeigte Handlung aufgenommen, die durch das Fenster zu den Abschied nehmenden Liebenden hineinschaut, was in Kombination mit den eingangs thematisierten Klauen und dem kraftvollen Aufsteigen ein hinreichend beunruhigender Entwurf des Antagonisten der Liebenden sein dürfte. Zu den ersten Eindrücken der Lektüre zählt die gerade im Vergleich zum Kreuzlied auffällige Absenz von Transzendenzbezügen in MF 4,8,204 denn weder der Wächter noch die Dame oder die erzählende Instanz der letzten Strophe beziehen sich in ihren Ausführungen auf Gott oder Jenseitiges. Stattdessen scheint der Tag, von dem der Wächter in der ersten Strophe als einer dämonischen Wesenheit spricht,205 die Handlungswelt des Tagelieds als allgewaltige Gestalt zu überwölben. Da dieser Tag den drohenden und doch nötigen Abschied der Liebenden bedeutet, richten sich alle Gedanken des Paares auf ihn – wie sie analog im Kreuzlied Gott, seinen Gaben, deren Bedingungen und den resultierenden Konflikten zugewandt waren. Doch wo im Kreuzlied und darüber hinaus die Omnipotenz Gottes evident ist, bedarf die Glaubwürdigkeit einer ähnlichen Übermacht und Handlungsgewalt in Bezug auf den Tag gesonderter Bemühungen. Diese erfolgen zum einen über die zeitlichen Bezüge, die ausführlich betrachtet werden, um das Nahen des Tages abzubilden, und die folglich demonstrieren, dass gegenüber jenem Nahen kein Entrinnen möglich ist. Und zum anderen hat auch die besprochene Remetaphorisierung des konventionellen Topos durch den Wächter Anteil an der Machtdemonstration des Tages. Jene beiden Begründungsmechanismen tragen dabei zugleich insbesondere narrative Züge, wie die vorangegangenen Ausführungen zu Zeitebenen und der kernartig erzählenden Metapher zeigen konnten. Das ist insofern nicht weiter verwunderlich, da über die ermächtigende Funktion von Geschichten einige Übereinstimmung herrscht,206 zeigt die bekannte Funktionalität aber kunstvoll an unerwarteter Stelle: innerhalb einer Dichtung und in Bezug auf eine lyrische Figur.

|| 204 Bezüge auf Gott sind in Tageliedern zwar verhältnismäßig selten, allerdings keineswegs abseitig. Vgl. dazu Wolfram von Eschenbach (MF 7,41); Reinmar (MF 154,32); Otto von Botenlauben (KLD 41 III,1); den Markgrafen von Hohenburg (KLD 25 V,1); Kristan von Hamle (KLD 30 VI,3); den Burggrafen von Lienz (KLD 36 I,4); Günther von dem Forste (KLD 17 V,5); Ulrich von Winterstetten (KLD 59 XXIX,3). Es ist jedoch auffällig, dass Gott hier überwiegend als Instanz auftritt, an die Stoßgebete gerichtet werden bzw. der jemand anempfohlen wird. Ausnahmen finden sich lediglich bei Günther von dem Forste, wo Gott als Lebensspender fungiert (im wurde nie sô liebe, / sît daz in got zer werlde lie), und dem Burggrafen von Lienz, wo Gott den Kreuzzugsbezug des Tagelieds darstellt (ich hân gedingen in daz lant / dâ got vil menschlîch inne gie). 205 Vgl. Abschnitt 1.3.3. 206 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 9–12, 40 u. 45. Blumenberg beschreibt hier zunächst den Absolutismus der Wirklichkeit als angstbehafteten da ohnmächtigen Zustand des Menschen sowie seine anfangende Ermächtigung durch das Erteilen von Namen. Später weist er auf die Rolle des Mythos bei dieser Namensfindung und dessen narrativen Charakter hin: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“ (S. 40, Hervorhebung durch D.R.) Wenn Blumenberg mit dem Mythos auch einen Fall

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Bezogen auf die Möglichkeit, Narrativierungstendenzen durch den Einbezug Dritter und diagrammatisch zu realisieren, ist der Wächter nochmals eine relevante Figur. Bereits die Hälfte der Eingangsstrophe nimmt die Beschreibung des Tagesanbruchs durch diese Instanz ein, die visuell Zeuge des nahenden Tages ist und das auf diesem Wege Wahrgenommene über ihr Tagelied sogleich in etwas Akustisches verwandelt. Zum einen bedeutet das, dass der Wächter als eine der Sprechinstanzen fungiert, die aus einem beobachteten Geschehen eine selektierte, komponierte Kleinstgeschichte zusammenfügen und präsentieren. Selbst wenn festgestellt wurde, dass der narrative Gehalt lyrischer Texte mithilfe der an epischen Werken erarbeiteten Parameter nicht vollumfänglich zu bestimmen ist, lässt sich an dieser Stelle doch zeigen, dass jene Parameter in diesen Texten dennoch eine Rolle spielen können – wenn die Kategorien Schmids207 hier auch freilich nur in geringem Umfang greifen mögen. Im Wächter liegt somit ein lyrisch inszeniertes Ich vor, das für den discours über die gewichtete und gewertete Darstellung von Zustandsänderungen erzählerische Aufgaben wahrnimmt, sich auf der histoire-Ebene aber noch unabhängig von der ebenfalls erzählenden Instanz aus Strophe fünf bewegt. Weiterhin deutet das Lied des Wächters auf dessen bedeutende Position in Bezug auf die Medialität zwischen Sehen und Hören. Dazu hat Almut Schneider nahegelegt, dass der Wächter auf der Zinne als Angelpunkt im Gefüge von Sehen und Hören sowie von Innen und Außen fungiert. Wie die Dame innerhalb des Liedes auf die besondere Wirkung der Wächterstimme abstellte, die demnach Tagesanbruch bzw. Trennung herbeiführt, so schreibt auch Schneider der Stimme einen besonderen Status zu, deren umfassende sinnliche Erfahrung über den Klang nicht nur akustische, sondern auch visuelle Konnotationen beinhaltet.208 Bei diesen visuellen Konnotationen muss es sich notwendig um ausgelöste Imaginationen handeln, woraus folgt, dass der Wächter des Tagelieds einen ähnlichen Bündelungspunkt des Vorstellungsvermögens bildet, wie dies auch der Sänger in der Aufführung für sich in Anspruch nehmen kann: Beide verweben als Figuren des Dazwischen die akustisch hervorgerufenen Bilder. Teil 3 wird auf diesen ersten Punkt ebenso zurückkommen wie auf einen zweiten, der sich ergibt, setzt man mit Hartmut Bleumer alles Akustische als „Kontaktkategorie“ und visuell wahrgenommene Zeichen analog als „Distanzkategorie“ an.209

|| betrachten mag, dessen erarbeitete Eigenschaften zu speziell sind, um sie in Gänze auf jede Form von Erzählung zu übertragen, so bleibt doch der Befund, dass auch hier Ermächtigung über Erzählung erstritten wird. 207 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 4, 245 u. 256. 208 Vgl. Almut Schneider: Medialität und ‚Synästhesie‘. Zur Stimme des Wächters im spätmittelalterlichen tageliet. In: LiLi 171 (2013), S. 122–138, besonders S. 131. 209 Beide Zitate Bleumer, Das Echo des Bildes, S. 328. Auch Möckels Hinweis auf einen in der Performanz anzusiedelnden Funktionswert des Tagelieds gehört dorthin. Vgl. Sebastian Möckel: „Der süeze wehsel under zwein“. Intime Dialoge im mittelhochdeutschen Tagelied um 1200. In: Aspekte einer Sprache der Liebe, hrsg. von Münkler, S. 127–156, hier S. 132, 139 u. 154. Dieser Zweck des

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Besonders deutlich wird die Dynamik von Sehen und Hören, wenn man die Textstellen der ersten Wächterstrophe und der ersten Damenstrophe einander gegenüberstellt. Denn der Vergleich von Sîne klâwen / durch die wolken sint geslagen […] / ich sich in grâwen (MF 4,8) und Wahtaer, du singest / […] maer du bringest / […] Diu solt du mir verswîgen gar (MF 4,18) hebt hervor, dass der Wächter aus seinem Raum der Zinne – so auch in Wolframs Von der zinnen (MF 6,10) – heraus sieht und über das Gesehene spricht oder singt, wohingegen die Dame lediglich hört und antwortet. Daraus ergibt sich, dass die Zinne medial sogar den im Vergleich zur Kemenate umfänglicheren Handlungsraum bieten kann, obwohl deren Signifikanz für die Tageliedhandlung durch diese Beobachtung freilich nicht in Abrede gestellt werden soll. Schon Peter Wapnewski deutete in den 1970er Jahren die Kemenate im Gefüge der Handlungsräume nicht medial, sondern mit Fokus auf die Beziehung von Heimlichkeit und Öffentlichkeit im Lied. Eine Sonderstellung bezogen auf Raum und Medialität nimmt bei ihm stattdessen der Wächter als Figur des beständigen Dazwischen ein: „Der Wächter indes […] muß beides sehen, beides sein: […] beide Prinzipien […] in ihrer Korrelation“210. Der Wächter steht bei Wapnewski folglich nicht nur zwischen den Bereichen der Heimlichkeit und Minne einerseits und der Öffentlichkeit und Gesellschaft andererseits, sondern er ist zugleich auch Teil beider Welten, die sich in ihm somit maximal annähern. Noch interessanter für das histoire-seitige Verhältnis von Nähe und Distanz wird jedoch Wapnewskis Beobachtung zum Topos urloup, wonach dieses „Schlüsselwort zu Wolframs Tageliederlebnis […] die scheinbar paradoxe Koppelung von Entfernung […] und Nähe […]“211 verkörpert. Wenn Wapnewskis Schlussfolgerungen angesichts einiger verallgemeinernder Aussprüche212 auch behutsam zu verwenden sind, so gehen seine Beobachtungen dennoch in eine ähnliche Richtung wie die obige These einer Kippfigur, der sich auch Christian Kiening nähert. Dieser betrachtet als Quelle der außergewöhnlichen Anziehungskraft des Subtyps dessen discours-basierte „Form des Mit- und Gegeneinanders einer Sprache der Nähe und einer Sprache der Distanz“213 und findet den höchsten Ausdruckspunkt jener spannungsvoll nah-fernen Tageliedpoetik histoire-seitig – wie Wapnewski – in der Figur des Wächters, den Kiening als liminal und prekär,

|| Tagelieds besteht demnach darin, eine intime Interaktion unter den Augen der Öffentlichkeit gelingen zu lassen. Auch Möckel konstatiert ein komplexes Ineinander von Nähe und Distanz, das er jedoch eher auf der Ebene des Diskurses ausleuchtet: Tagelieder nutzen die memoriale Vergegenwärtigung und die Entzeitlichung der Tageliedsituation, um die nachträgliche Distanzierung zu verarbeiten, so Möckel. 210 Peter Wapnewski: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation. München 1972, S. 110. Gemeint sind die beiden Prinzipien der Heimlichkeit und der Öffentlichkeit. 211 Ebd., S. 106. 212 Vgl. etwa „Tagelieder sind Klagelieder, Klagelieder sind Frauenlieder […]“, ebd., S. 107. 213 Christian Kiening: Poetik des Dritten. In: Ders., Zwischen Körper und Schrift, S. 157–178, hier S. 169.

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oszillierend und fragil sowie in besonderem Maße selbstbezüglich performativ auffasst.214 Die in der Folge bei Kiening konstatierte Poetik des Dritten stellt insofern eine Neubewertung der von Wapnewski geäußerten Beobachtungen dar, als dass letzterer beim Wächter vom Aufeinandertreffen zweier Prinzipien bei deren gleichzeitiger Gültigkeit ausgeht, während ersterer den gleichen Sachverhalt als Akzentuierung eines Dritten liest, mit dem gerade die paradox-parallele Zweiheit und Einheit der Minnenden unterstrichen wird.215 Ein ähnliches Spiel zwischen Zweiheit und Dreiheit lässt sich auch in Hinblick auf die Zinne beobachten, die den medial-liminalen Überlegungen zum Wächter analog eine grenzräumliche Komponente beiordnet.216 Neben der Absenz von Transzendenzbezügen besteht ein ebenfalls globaler Eindruck des Liedes darin, dass Zeitstrukturen217 in den Wächterstrophen sowie räumliche Verweise in den Damenstrophen stärker thematisiert werden, woraus sich ergibt, dass der Wächter eine an die Zeitlichkeit der Handlungsführung intensiver geknüpfte Figur ist – bedingt wohl durch seine stark auf temporale Parameter bezogene Aufgabe. In seiner ersten Strophe stehen die zeitbezogenen Ausdrücke tegelîch, tagen und tac ausschließlich den räumlichen Verweisen în und hinnen gegenüber, doch noch deutlicher wird dieses Ungleichgewicht in der zweiten Wächterstrophe, in der die räumlichen Deiktika hinnen und wider dan in den zahlreichen zeitlichen Verweisen förmlich untergehen, die die gesteigerte Dringlichkeit des Warnens unterstreichen: balde, ân sûmen, urloup, her nâch, tac und naht. Die intensive Beziehung des Wächters zur Zeit korrespondiert nicht nur mit seiner Relevanz für akustische Phänomene, die ihrerseits wie die Lyrik eine gesonderte Beziehung zu der Zeit haben, die während ihrer Wirkung verstreicht, sondern diese Beziehung zeigt sich auch in seiner Freiheit des Umgangs mit den Zeitebenen, auf die er sich innerhalb seiner Strophen bezieht. Thomas Cramer weist darauf hin,218 dass mit einem Wechsel der Zeitebene notwendig auch ein Wechsel der Erzählebene stattfindet, weshalb sich der Eindruck verstärkt, im Wächter auf eine besonders erzählbemächtigte Instanz zu blicken. Eine dahin gehende Vermutung wurde oben bereits angesichts seiner Funktion als

|| 214 Vgl. ebd., S. 169f. 215 Vgl. ebd., S. 175. 216 Vgl. Roever, Auf der Zinne. 217 Die temporalen Gegebenheiten des Tagelieds untersucht auch Katharina Philipowski, die ebenfalls zu dem Ergebnis kommt, dass das Präsens innerhalb des Liedes und die Präsenz der Erfüllung, nach der sich Figuren wie Publikum gleichermaßen sehnen, in einem semantisch reichen Verhältnis zueinander stehen. Die innerhalb der vorliegenden Studie besonders hervorgehobene Bewegung der inneren Distanzierung des Tageliedpaars sieht sie jedoch gerade nicht. Vgl. Katharina Philipowski: Zeit und Erzählung im Tagelied. Oder: Vom Unvermögen des Präsens, Präsenz herzustellen. In: Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik, hrsg. von Bleumer, Emmelius, S. 181–214, hier S. 200. 218 Vgl. Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen. 148), S. 156.

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Wiedergabeinstanz gewichteter und gewerteter Zustandsänderungen angedeutet und erhärtet sich, da der Wächter im Gegensatz zum Minnepaar relativ unabhängig zwischen den verschiedenen temporalen Schichten des Liedes hin und her springt. Sichtbar wird dies schon in der ersten Strophe, in der gegenwärtige Geschehnisse (er stîget, ich sich, MF 4,8) neben vergangenen (sîne klâwen […] sint geslagen, den ich […] verliez, tugent mich […] leisten hiez, MF 4,8) wie zukünftigen (er wil tagen, der […] erwenden wil, ich bringe in hinnen, MF 4,8) stehen, und setzt sich auch in der zweiten Wächterstrophe fort, die wiederholt zukünftige Bezüge (er muoz balde, nu gip im urloup, lâze in […] her nâch, daz er behalte, ich braechte, MF 4,28)219 und Rückverweise in die Vergangenheit (er gap sich mîner triuwen, naht was ez, mir in an gewan, MF 4,28) einander gegenüberstellt. Die evozierte Gegenwart der Wächterfigur verengt sich allerdings auf den konkreten Punkt ez ist nu tac, womit sich die Position dieses lyrischen Beispiels als zwischen verschiedenen Zeiten, an sich aber kaum eine verstreichende Zeit enthaltend beschreiben lässt. Eine derartige, präsentische Begrenzung zeigt sich noch wesentlich deutlicher in der gesamten vorangegangenen Damenstrophe, in deren Äußerungen die Dame weder einen Blick zurück noch voraus wagt, sondern vollkommen im Jetzt aufgeht: du singest, vreude nimt, mêret mîn klage, du bringest, niht gezimt, solt du mir verschwîgen, daz gebiut ich, des lôn ich, als ich getar, sô belîbet hie (MF 4,18). Selbst die Formulierung immer morgens gegen dem tage (MF 4,18) scheint sich weniger auf konkrete Vergangenheiten zu beziehen, sondern vielmehr die allumfassende Gültigkeit dieses übermächtigen Jetzt zu betonen. Dieser Moment macht für den Wächter nur eine Markierung des Zeitstrahls aus, die hauchdünn zwischen den umfänglichen Ausdehnungen von Vergangenheit und Zukunft liegt, die er souverän ordnet. Der Moment ist für die Dame jedoch von extremer Bedeutsamkeit, weil er dem Zeitpunkt der Erfüllung zwischen den Zeiträumen der Klage entspricht, die sie wiederum vollkommen auszublenden versucht. Folglich treffen in ebendiesem Moment mit dem Wächter und der Dame nicht nur zwei lyrische Figuren mit varianter temporaler Ermächtigung aufeinander. Es begegnen sich auch zwei ungleiche Weltsichten, deren augenscheinlichster Varianzparameter die Hierarchiebildung von Ich und Zeit ist, woraus ein unterschiedliches Erzählpotential folgt. Aus der beschriebenen Gefangenschaft im Moment scheint der Wächter die Dame erst durch direkte Adressierung und die Erteilung von Handlungsanweisungen in Strophe drei befreien zu können, mit deren Hilfe er sie zwingt, ihren Klagegestus ansatzartig hinter sich zu lassen. || 219 Imperative des Wächters an die Dame werden in seiner evozierten Gegenwart ausgesprochen, deuten aber in ihrem Appellcharakter auf die Zukunft bzw. auf die in der Zukunft vorzunehmenden Handlungen der Dame. Dasselbe gilt für den Wächter und seinen Konjunktiv braechte (Str. III, V. 8). Ähnliche Ansichten zum Zukunftsaspekt des Imperativs äußert Barbara Wölfel: wahtaere und urloup. Untersuchungen zu binären Motiven in den Tageliedern Wolframs von Eschenbach. In: Spuren, hrsg. von Colberg, Petersen, S. 107–120, hier S. 112.

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Daraus ergibt sich, dass wie in Albrechts MF 94,15 oben so auch in Wolframs MF 4,8 eine Befreiung der Dame aus ihrer initialen Weltsicht zu den vorgeführten Effekten gehört. Denn in der darauffolgenden Damenstrophe kann diese sich sowohl in Bezug auf die Zukunft (swaz dir gevalle […] sinc, lâ den hie, MF 4,38) als auch auf die Vergangenheit äußern: minne brâht, minne enpfienc, der morgenstern ûf gienc, nâch minne ist komen, lûhte tages lieht, du hâst […] benomen (MF 4,38). Der Moment der Gegenwart, der in der ersten Strophe dieser Figur noch jeder vorangegangenen oder nachfolgenden Zeitlichkeit enthoben war, schrumpft in der zweiten Strophe zu einem flüchtigen Punkt zwischen glücklicher Vergangenheit und Unheil verheißender Zukunft. Infolgedessen besteht nun ein ähnliches Verhältnis, wie es zuvor die Wächterrolle demonstrierte, denn mit von dînem schalle / ist er und ich erschrocken ie (MF 4,38) ist der bedeutsame, präsentische Moment der Damenstrophe benannt, der Vergangenheit und Zukunft scheidet. Angesichts der obigen souveränen Gewalt des Wächters über die verschiedenen Zeitebenen, könnte man sich Sebastian Möckel anschließen wollen, der auf die besonders geglückte Entzeitlichung hinweist, die sich nach Meinung des Autors durch den Verzicht auf Wächterfiguren umsetzen lässt.220 Doch schon das vorgestellte Beispiel zeigt, dass die eigentümliche Jederzeitlichkeit der Tagelieder ebenfalls durch Verbindungen wie ie und ninder in Strophe vier erzeugt wird, deren Aussagewirkung wie besprochen kaum auf Vergangenheit oder Zukunft gemünzt ist. Obwohl dies lediglich am Rande der eigentlichen Betrachtung geschieht, kann Möckel jedoch mit dem Verweis auf die „Gemengelage vertrauter Beziehungen“221 zwischen den Tageliedprotagonisten eine unverhofft positive Wendung der Diskussion um den sozialen Status des Wächters und dessen Relevanz für die Handlungslogik des Liedes bewirken. Hervorzuheben ist dies auch deshalb, weil Möckel zu diesem Zweck keine Vermutungen anstellen muss, die über den Liedinhalt hinausgehen, wie Leslie Peter Johnson hingegen sie mit Selbstverständlichkeit vorbringt. Dieser stellt 1978 in einer Studie, die ihr Hauptaugenmerk auf einen realistischen Gehalt des Tagelieds richtet, die These auf, dass der Wächter, der von Johnson allgemein als kriegerischer wahrgenommen wird als von der bisherigen Forschung, ein Vertrauter des Paares ist – möglicherweise ein Soldat und Kamerad des Ritters, vielleicht sogar selbst Ritter.222 Zur Begründung dieser Annahme verweist Johnson zum einen auf die vertrauliche Anrede des du zwischen Wächter und Liebenden und zum

|| 220 Vgl. Möckel, „Der süeze wehsel under zwein“, S. 140. 221 Ebd., S. 151. 222 Vgl. Johnson, „Sîne klâwen“, S. 316–330. Die zweite Kernthese der Interpretation Johnsons lautet, dass die im Tagelied geschilderte Beziehung keinen Ehebruch, sondern lediglich eine sozial nicht erlaubte Verbindung darstellt, was er mit der auffälligen Abwesenheit des gehörnten Ehemanns begründet, der in den provenzalischen Vorgängern demgegenüber vergleichsweise häufig vorkommt. Vgl. ebd., S. 322.

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anderen auf die Prämisse einer notwendigen Realitätsnähe, die das Tagelied besitzen muss, um seine Unterhaltungsfunktion wahrnehmen zu können. Johnsons Überlegungen fügen sich damit in eine Diskussion ein, die bereits Mitte des 13. Jahrhunderts durch Ulrich von Liechtenstein in seinem Frauendienst initiiert wurde und die nach der Art und Weise fragt, auf die die Figur des Wächters für das Publikum Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Während Ulrich das Problem mit der Einführung einer Zofe löst, die demnach aufgrund der triuwe-Bindung an die Dame des Tageliedpaars vertrauenswürdiger als der Wächter ist, greift Johnson, der die Überlieferung lediglich mit Sinn füllen kann, dazu auf den ritterlichen Wächter zurück. Da der realistische Gehalt der Tagelieder die Ausrichtung der vorliegenden Studie nur insofern betrifft, als dass die vorgeschlagene Kippfigur Realismen unwahrscheinlich oder zumindest doch unwichtig erscheinen lässt, braucht dieser Ansatz nicht weiterverfolgt zu werden. Angesichts der anderen unrealistisch zu nennenden Elemente des Tagelieds, die auch mit Johnsons These weiterbestehen, ist jedoch von einem historisch-realen Ort des Tagelieds wohl ebenso wenig auszugehen wie von einem solchen der Kreuzlieder. Zu denken wäre hier etwa an die Vorstellung des für jeden diegetischen Bewohner der Tageliedwelt hörbaren Gesangs, der dennoch das geheime Wissen um die Tageliedbeziehung offenbart, oder aber die des Dialogs zwischen den Instanzen Wächter und Paar, die sich zwar an ganz unterschiedlichen Orten der inszenierten Welt aufhalten, aber dennoch völlig unproblematisch zu kommunizieren scheinen. Nach dem häufig als auffällig intim beschriebenen223 Wechsel zwischen Dame und Wächter folgt mit der fünften Strophe die Darstellung des Liedinhalts durch eine dritte Instanz, die sodann emotional unbeteiligt und durchgängig in der Vergangenheit sprechend die weiteren Geschehnisse der Handlung beschreibt: der tac tet, wahtaere warnen sanc, si muose erschricken, bî ir was, si dwanc, niht vergaz, des wold, gap in (MF 5,6). Zur erzählenden Wirkung der durch jene Instanz vorgebrachten Verse trägt maßgeblich bei, dass sich zumindest der moderne Rezipient den Effekten des epischen Präteritums224 kaum entziehen kann. Wie in der vorherigen Damenstrophe trennt auch die Instanz der Strophe fünf ihre Sinneseindrücke nach deren Ursachen; der Tag wird visuell, der Wächter demgegenüber akustisch besetzt. Durch diese Parallele in der Wahrnehmung entsteht der Eindruck einer histoire-räumlichen Nähe zu den Minnenden, der durch den vermehrte Schilderung des Minnepaars statt des Wächters oder der Vorgänge außerhalb der Kemenate noch verstärkt wird und selbst dann nicht schwindet, wenn diese erzählende Instanz ihren Aufenthaltsort nicht offenlegt. Es wirkt durch ihre Beschreibungen dennoch ganz so, als befände sie sich mit

|| 223 Vgl. beispielsweise: ebd., S. 312 sowie Möckel, „Der süeze wehsel under zwein“, S. 149. 224 Vgl. im Einzelnen Hamburger, Die Logik der Dichtung. Dies., The Timelessness of Poetry sowie die Abschnitte 1.2.1–3, wo bereits auf Hamburgers Thesen eingegangen wurde.

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dem Paar in der Kemenate und könnte diesem ebenso beim Abschied zusehen wie den durch diu glas hineinblickenden Tag. Die akustischen Eindrücke ihrer Weltwahrnehmung liest die sich äußernde Instanz dabei ebenfalls an dem ab, was sie in der Kemenate sehen kann, wie in und dô wahtaere warnen sanc, / si muose erschricken bzw. Der rîter ellens niht vergaz; / des wold in wenden wahtaers dôn (MF 5,6). In der Kombination dieses Angewiesenseins auf den Blick, der folglichen Distanz, dem Verharren im Präteritum und der Äußerungsposition dieser Instanz, die sich vermeintlich innerhalb der Räumlichkeit des Paars situiert, entsteht eine merkwürdige Zwischenposition in Hinblick auf die zentralen Parameter Nähe und Distanz. Denn während sie sich mit einer visuellen und präteritalen Fundierung der discours-Mittel der Distanz bedient, liegt die räumliche Nähe zum Paar auf der histoire-Ebene.

Abb. 6: Kippfigur der Nähe und Distanz

Daraus ist nicht nur zu folgern, dass die sprechende Instanz in Strophe fünf ebenso eine Figur des Dazwischen zu sein scheint wie Wapnewski und Kiening dies für den Wächter herausgearbeitet haben – auch die Poetik des Dritten bedarf daher wohl der Erweiterung – sondern zudem ist das Beobachtete auch für die Kippfigur von Interesse. Schließlich greift die Verstrickung einer Instanz, die nicht wirklich eine Figur der diegetischen Welt zu sein scheint, doch deutlich über die bisherige Formulierung hinaus, die von einer intensivierten gedanklichen Nähe bei körperlicher Trennung sowie gedanklichen Distanzierung bei maximaler körperlicher Nähe ausgegangen war. Die Figur erhält so mit dem betrachteten Tagelied nicht nur ihre zweite Hälfte, sondern zumindest in diesem konkreten Beispiel Wolframs auch noch einen zusätzlichen Kniff, der die discours-Ebene zur Hilfe nimmt. Diesen Bonus wird nicht jedes Tagelied in vergleichbarer Form einlösen können, aber die Kippfigur lässt sich auch bei Wolfram in der histoire nachzeichnen. Sie findet

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ihre augenfälligste Ausprägung in der spezifischen, schon früh diskutierten225 Dynamik des urloups, der sich zwar in einer großen Menge der Tagelieder verfolgen lässt,226 jedoch zu den besonderen ‚Spezialitäten‘227 Wolframs gehört. Dabei spornt insbesondere die drohende Entfernung die Liebenden morgens nochmals zu größtmöglicher Nähe an, die den drohenden Abschied aber zugleich immer schon enthält. So richten sich in der just stattfindenden körperlichen Nähe der Liebenden ihre Gedanken gelöst von den Körpern auf den zukünftigen Zustand der Trennung und damit ist selbst – oder gerade – im maximal Nähe ausdrückenden urloup geben die gedankliche Distanz der Liebenden stets präsent. In der Folge stellt sich die Trennung von Innen und Außen, Gedanken und Körper des Subjekts als eine konträr ausgeformte Gemeinsamkeit der auf diese Art und Weise chiastisch verknüpften Tage- und Kreuzlieder heraus, die daher gemeinsame Arbeit leisten am minnesanglichen Komplex der Subjektkonstitution. Der Eindruck, dass die Herzen dort, wo die Körper eins werden, einander gerade nicht mehr nah sein können, wird schon dadurch hervorgerufen, dass die Dame in Sîne klâwen die Dauer des anbrechenden Morgens, die als letzte Zeit vor dem Abschied besonders kostbar sein müsste, nicht etwa nutzt, um mit der Nähe zu ihrem Geliebten auch ihre minne zu genießen. Stattdessen verwendet sie sie darauf, mit dem Wächter zu diskutieren, ob dessen Warnen berechtigt ist. Folglich richtet sie all ihr Vermögen darauf, das körperliche Ende des Zusammenseins fernzuhalten, übersieht dabei aber, dass gerade durch die Ablenkung selbstverschuldet ein Teil jener Nähe zu ihrem Geliebten verloren geht, die sie zu konservieren sucht: nämlich die gedankliche Nähe der minne. Dieser Denkfigur folgend ist gerade das Gegenteil dessen der Fall, was die Dame in Strophe vier für sich in Anspruch nahm: du hâst in dicke mir benomen / von blanken armen, und ûz herzen niht (MF 4,38). Denn die körperliche Nähe der blanken Arme ist im Moment der Äußerung der fünften Strophe als Zustand noch intakt und wird im finalen urloup geben ebendort sogar nochmals intensiviert – aber die gedankliche Nähe der Herzen, die das Kreuzlied als Gegenprogramm zur körperlichen Trennung befürwortet und beschworen hatte, ist beendet, sobald die Dame in Strophe zwei ihre Stimme erhebt und den

|| 225 Vgl. im Einzelnen Wapnewski, Die Lyrik Wolframs, S. 106. Wölfel, wahtaere und urloup. Cyril Edwards: Von der zinnen wil ich gen. Wolfram’s peevish watchman. In: MLR 84 (1989), S. 358–366. Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 34f. 226 Vgl. Heinrich von Morungen (MF 143,22); Wolfram von Eschenbach (MF 3,1; MF 6,10 u. MF 7,41); Otto von Botenlauben (KLD 41 XIII,3); der Burggraf von Lienz (KLD 36 I,5); Günther von dem Forste (KLD 17 V,21); Ulrich von Liechtenstein (KLD 58 XXXVI,6; KLD 58 XL,7); Konrad von Würzburg (Lied 15, Str. 3); Walther von Breisach (KLD 63 II,4); Steinmar (SMS 26 VIII,2). Die Angabe zu Konrad von Würzburg bezieht sich auf Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Bd. 3: Die Klage der Kunst. Lieder, Leiche und Sprüche. 3., unveränderte Auflage. Hrsg. von Edward Schröder. Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff. Dublin 1967. 227 Vgl. Wapnewski, Die Lyrik Wolframs, S. 106 sowie Wölfel, wahtaere und urloup, S. 116.

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zukünftigen Abschied nicht nur Teil ihrer Gegenwart werden lässt, sondern deren alleinigen Inhalt. Ohne diesen Gedanken weiterzuführen, formuliert Johnson zu dieser Stelle eine ähnliche Idee: By using the word und the lady gives the paradoxical impression that not taking her lover from her heart is not merely a negative, not merely the absence of an action, but is somehow or other a positive thing which exists coextensively with his removal from her arms.228

Eine Nähe der lyrischen Figuren zueinander wäre demnach und nach der obigen These zu einem beliebigen Zeitpunkt immer nur auf einer entweder körperlichen oder aber gedanklichen Ebene möglich, und weil das Begriffspaar Nähe und Distanz an dieser Stelle in der histoire mit der Zweiheit von Körper und Gedanken verbunden wird, kippt mit der Distanzierung auf der einen Ebene die jeweils andere sofort in das korrespondierende Gegenteil der Annäherung. Am Beispiel des Tagelieds bewirkt die Entfernung des Geliebten aus den Armen der Dame – also die Distanzierung körperlicher Nähe sobald der Abschied endlich umgesetzt wurde – umgehend ein Kippen der Figur auch auf der anderen Seite, indem aus gedanklicher Distanz wieder Nähe wird und der Geliebte ins Herz der Dame zurückkehrt, sobald oder weil er ihre Arme verlassen hat. Neben der obigen Variante, bei der der Wächter sieht und die Minnenden vor allem hören sind auf der einen Seite auch Realisierungen mit einer ausschließlichen Betonung des Hörens in beiden Räumlichkeiten möglich. So richtet sich das Hauptaugenmerk in Ottos von Botenlauben Singet, vogel, singet (KLD 41 III) beispielsweise auf den parallelisierten Morgengesang der Vögel und des Wächters, der ein schlimmes Ende der verbotenen Liebesnacht verhindert. Visuelle Eindrücke des anbrechenden Tages spielen hier kaum eine Rolle. Und auf der anderen Seite haben auch primär sehende Minnende in mittelhochdeutschen Tageliedern ihren Auftritt. Wolframs von Eschenbach Ez ist nu tac (MF 7,41) etwa führt ein Tageliedpaar vor, das Morgengrauen und Tagesanbruch selbst erblickt und daraufhin zu Klage und Abschied übergeht. Die vorrangig visuelle Ausrichtung dieses Liedes gipfelt schließlich in der feinsinnigen Bemerkung der erzählenden Instanz über das urloup nehmende Paar: ob der sunnen drî mit blicke waeren, sine möhten zwischen sî geliuhten (MF 8,21). Diese Varianz der Möglichkeiten lenkt den Blick zum einen umso nachdrücklicher auf die in Sîne klâwen realisierte Medialität, widerlegt aber zum anderen nicht die Gültigkeit der übergeordneten Kippfigur. Sie findet in den Ausdrucksmöglichkeiten der akustischen und visuellen Wahrnehmung lediglich eine zusätzliche Ebene, deren Fundament jedoch die evozierte Nähe und Distanz der lyrischen Figuren zueinander auf der histoire-Ebene bildet, das wiederum etwa im tageliedrelevanten Topos des urloups auch jenseits der Werke Wolframs breite Verwendung innerhalb der Variationen erfahren hat. || 228 Johnson, „Sîne klâwen“, S. 332. Kursivsetzung im Original unterstrichen.

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Eine zu dieser Einschätzung konträre Auffassung äußert Barbara Wölfel, die in der Grundstruktur der Lieder eine anders geartete Binärkonzeption umgesetzt sieht: Die Liebe gab dem Paar beides, körperliche und geistige Einheit, eine Totalität wird proklamiert, aufgrund derer wahtaeres dôn punktuell überwunden werden kann, im Bewußtsein, dieser Liebe Zukunft zu eröffnen. […] Deshalb darf die Stelle analog zu Lied II aufgefaßt werden: körperliche und geistige Vereinigung schenkte ihnen den köstlichsten urloup, und der Preis war hoch.229

Doch in der unbestrittenen körperlichen Nähe des urloups kann die geistige Einheit, die Wölfel für ihre These in Anspruch nimmt, gerade nicht mehr vorhanden sein, weil ebenjenes erschricken (MF 5,6) und die Angst vor der bevorstehenden Trennung (Str. 2 u. 4) dem urloup die innere, gedankliche Nähe entziehen müssen. Diese Konstellation kann sich aufgrund ihrer ebenfalls binären Strukturen in das zweigeteilte Bild, das Wölfel vom Tagelied zeichnet, dabei sogar besser einpassen als die durch die Verfasserin vorgebrachte, allumfassende Vereinigung im urloup. Ähnliches gilt auch für den binären Wächter Wölfels, der zum gleichen Zeitpunkt eine Institution göttlicher Ordnung und den intimen Vertrauten des Minnepaars darstellen soll. Diese Rollen bedingen einander jedoch nach den angestellten Überlegungen ebenso sachlich wie sie sich temporal ausschließen, weshalb ihre immer neue Verbindung gerade eine der wichtigsten Aufgaben der Wächterfigur ist, wie Strophe eins exemplarisch demonstriert. Zunächst tritt der Wächter als unabhängige Ordnungsinstitution auf („Sîne klâwen / Durch die wolken sint geslagen, / er stîget ûf mit grôzer kraft; / ich sich in grâwen / tegelîch, als er wil tagen: / den tac, MF 4,8) und geht sodann in den Modus des besorgten Vertrauten über: den tac, der im geselleschaft / Erwenden wil, dem werden man, / den ich mit sorgen în verliez. / ich bringe in hinnen, ob ich kan. / sîn vil manigiu tugent mich daz leisten hiez (MF 4,8). Vielleicht wäre einzuwenden, dass der Wächter in seiner Aufgabe, die heimlich Liebenden vor ihrer Entdeckung wieder zu trennen, sowohl deren Interessen wahrnimmt, indem er so langfristig eine Wiederholung derartiger Treffen ermöglicht, als auch die der Gesellschaft, weil er wieder einen Zustand herstellt, der den Ansprüchen der Öffentlichkeit genügt. Dabei ist jedoch seine Rolle im Vorfeld des Geschehens noch weitgehend unberücksichtigt, denn nach Aussage des Liedes hat der Wächter bereits vor Tagesanbruch Kenntnis von den Vorgängen in der Kemenate: den ich mit sorgen în verliez (MF 4,8); Er gap sich mîner triuwen alsô / […] / naht was ez, dô / mit drucken an brust dîn kus mir in an gewan (MF 4,28). In dieser imaginierten Situation des Vorabends – die Wolfram im Gegensatz zum Burggrafen von Lienz noch nicht auserzählt, sondern nur impliziert – kann der Wächter wohl kaum in seiner Rolle als Instanz der öffentlichen Ordnung wahrgenommen werden, woraus wiederum folgt, dass er die beiden durch Wölfel herauspräparierten Rollen zwar in seiner lyrischen Figur vereinen mag, nicht jedoch miteinander. || 229 Wölfel, wahtaere und urloup, S. 113 u. 116.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wirksamkeit des Begriffspaars von Nähe und Distanz sich auf den weiteren Ebenen von Lied-histoire und -discours zeigt und zwar in einem Maße, das über die Erkenntnisse des Bisherigen hinausgeht. Sie stellten auf die Rolle der Polarität in Bezug auf die generische Konzeption von Lyrik und Epik sowie die Phänomene Metapher und Topos ab. Zusätzlich offenbarte sich nun während der Textanalysen die Wirksamkeit von Nähe und Distanz zum einen auf medialer Ebene, was im Teil 3 in Bezug auf die Aufführungssituation der Lieder aufgegriffen werden wird, hier aber zunächst nur auf den innerhalb des Liedes bearbeiteten Unterschied des Visuellen als Distanz evozierendem und des Akustischen als in Analogie dazu Nähe produzierendem Phänomen bezogen wurde. Zum anderen ergaben sich die auf Handlungsebene bzw. innerhalb der diegetischen Bestimmungen der Lieder behaupteten Artikulationspunkte der Nähe und Distanz, mit deren Hilfe sich die beiden Subtypen Kreuz- und Tagelied als durch eine gemeinsame Aufgabe verbunden begreifen ließen. Weiterhin wurden die theoretisch erarbeiteten Formen narrativer Andeutungen in lyrischen Texten wiederholt erprobt und belegt. Dabei erwies sich zum einen, dass zusätzlich zu den im Zuge der theoretischen Vorüberlegungen angenommenen Bezugssphären von Transzendenz und diagrammatischen Figurengeflechten ebenfalls transzendenzanaloge Strukturen und Relationen hinzugezogen werden sollten, die sich auf räumliche statt figürliche Konzepte richten, aber dennoch diagrammatische Eigenschaften besitzen. Zum anderen konnte die Einbindung auch der Topoi und Metaphern nachverfolgt werden, womit erstens nochmals metaphorische Narrationstypen und zweitens die auf Wortebene angesiedelten Betätigungsfelder der Nähe und Distanz belegt sind. Damit öffnet sich der Blick auf die als eines der Desiderate der Studie herausgestellte Struktur, die das übergeordnete, untrennbare Gegensatzpaar in unterschiedlichen Wirkzusammenhängen immer wieder findet und ineinander verschachtelt: in Wortfügungen, Topoi und Metaphern des discours, räumlichen und figürlichen Beziehungen der histoire, Gattungsbestimmungen und Aufführungslogiken – deren Darlegung Teil 3 leisten wird.

2.3.3 Erweiterungspotentiale, am Beispiel von Ich denke underwîlen (MF 51,33) Um nach der Verallgemeinerbarkeit der beobachteten Ergebnisse über Kreuz- und Tagelied hinaus zu fragen, ist es notwendig, einen Blick auf Lieder zu werfen, die keinem der beiden Subtypen zugeordnet werden. Angesichts der wie thematisiert recht übersichtlichen Korpora der Subtypen bieten sich für solch einen Versuch zahlreiche verschiedene Lieder an, deren Untersuchung je neue Aspekte einbringen würde – je nachdem, ob ein dialogreiches Lied wie Albrechts von Johansdorf MF 93,12, ein klang- und metaphernintensives wie Heinrichs von Morungen MF 122,1 oder ein Lied wie Walthers L 56,14 den Gegenstand der Betrachtung bildet, in dem verstärkt die Rolle des Sangs reflektiert und referiert wird.

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Da der folgende Abschnitt allerdings nur die Abrundung des Vorangegangenen darstellen möchte, wird er wie zuvor nur ein exemplarisches Lied herausgreifen und betrachten. Da in den bisherigen Betrachtungen wiederholt die herausgehobene Rolle deutlich wurde, die die Gedanken in Minnekontexten spielen – neben der beschriebenen Kippfigur zwischen Körper und Geist etwa auch in Walthers Herzensblicken (L 99,20) – erscheint es sinnvoll, sich einem Lied zuzuwenden, das sich mit gedanklichen Wirkmechanismen nochmals intensiv auseinandersetzt. Ein solches findet sich in MF 51,33230 Friedrichs von Hausen.231 Ich denke underwîlen, ob ich ir nâher waere, waz ich ir wolte sagen. daz kürzet mir die mîlen, swenne ich mîne swaere sô mit gedanken klage. Mich sehent manige tage die liute in der gebaerde, als ich niht sorgen habe, wan ich si alsô vertrage. Hete ich sô hôher minne mich nie underwunden, mîn möhte werden rât. ich tet ez âne sinne; des lîde ich ze allen stunden nôt, diu mir nâhe gât. Mîn staete mir nu hât daz herze alsô gebunden, daz sî ez niht scheiden lât von ir, als ez nu stât.

|| 230 Das Lied ist in den Handschriften B (Weingartner Liederhandschrift. Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1, fol. 18v) und C (Manessische Liederhandschrift. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848, fol. 118v) übereinstimmend vollständig und in der auch hier behandelten Strophenfolge enthalten. 231 Vgl. die Untersuchung verschiedener Übersetzungen dieses Liedes bei Claudia Lauer: Liebe übersetzt. Friedrichs von Hausen ‚Ich denke underwîlen‘ (MF 51,33) als (vor-)modernes Rezeptionsphänomen. In: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Hrsg. von Klaus Ridder, Steffen Patzold. Berlin 2013 (Europa im Mittelalter. 23), S. 207–230 sowie – wenn auch nicht mit lyrischem Fokus – zur besonderen Situation des Erzählens beim Reiten Alexander Lasch, Béatrice Liebig: schœne rede sunder zil. Erzählen beim Reiten in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von Ludger Lieb, Stephan Müller. Berlin 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 20 = 254), S. 69–88.

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Ez ist ein grôze wunder: die ich alre sêrste minne, die was mir ie gevê. nu müeze solhen kumber niemer man bevinden, der alsô nâhe gê. Erkennen wânde ich in ê, nu hân ich in baz bevunden: mir was dâ heime wê und hie wol drîstunt mê. Swie klein ez mich vervâhe, sô vröwe ich mich doch sêre, daz mir nieman kan erwern, ich gedenke ir nâhe, swar ich landes kêre. den trôst sol sî mir lân. Wil sîz vür guot enpfân, des vröwe ich mich iemer mêre, wan ich vür alle man ir ie was undertân.

Im Gegensatz zu den bisherigen lyrischen Werken kann für die Äußerungsinstanz in Ich denke underwîlen problemlos ein durchgängig identisches Lyrisches Subjekt angenommen werden, das sich nach eigener Aussage in einer unglücklichen, doch durch staete gekennzeichneten Minnebeziehung befindet. Über vier Strophen hinweg schildert es seine Liebe bzw. den entfernungsbedingten Kummer. Dazu inszeniert die sprechende Instanz ihre Position zunächst auf einer Reise, deren mîlen (MF 51,33) durch minnendes Gedenken erträglicher werden. Zudem verhält das Ich sich nach eigener Aussage derart korrekt, dass niemand sein Leid vermutet: Die höfische Etikette wird also gewahrt. Strophe zwei betont demgegenüber die Exorbitanz der Minne, die für das sich äußernde Ich konstitutiv wirkt und deren Ausmaß auch den resultierenden Kummer erzeugt. Weiterhin zeigt sich, dass die Minne des Subjekts nicht nur aufgrund der räumlichen Distanz problematisch, sondern zudem die Geliebte dem Ich – typisch für die Hohe Minne – auch noch gevê (MF 52,17) ist. Strophe vier leistet daraufhin einen Ansatz zur Lösung des Problems, indem das Liedsubjekt der Freude Ausdruck verleiht, die es aus der Freiheit zieht, sich jederzeit und unabhängig von äußeren Umständen in Gedanken der Geliebten annähern zu können. Zu dieser Pointe stellen die letzten vier Verse der abschließenden Strophe einen Überlegungsnachsatz dar, der hinzufügt, dass es natürlich auch erfreulich wäre, sollte die Dame das Lyrische Subjekt doch in ihre Gunst aufnehmen. Das Bemerkenswerte an MF 51,33 liegt jedoch in der unverbrüchlichen und ortsunabhängigen Freiheit der Gedanken, die das sich äußernde Ich ausarbeitet: sô vröwe ich mich doch sêre, / daz mir nieman kan / erwern, ich gedenke ir nâhe, / swar ich landes

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kêre (MF 52,27). Damit wird dem verschenkten Herzen, das auch bei Friedrich eine Rolle spielt, so in Mîn staete mir nu hât / daz herze alsô gebunden, / daz sî ez niht scheiden lât / von ir, als ez nu stât (MF 52,7), eine vergleichbar wirkmächtige Institution beigeordnet. Neben den Nähe stiftenden Gedanken werden noch verschiedene andere Wortverbindungen mit nâhe in Anschlag gebracht, die so neben der einheitlichen Äußerungsinstanz einen weiteren Zusammenhalt der Strophen erzeugen: hypothetisch-körperliches Nahesein, zweimaliges Nahegehen und gedankliches Nahesein. Die Nähe und ihre möglichen Realisierungsmodi ziehen sich folglich als gemeinsamer Bezugspunkt aller vier Strophen durch das gesamte Lied, während die Gedankenführung das Lyrische Subjekt über die Vorstellung der körperlichen Annäherung aus Strophe eins zur Freiheit der gedanklichen Annäherung in Strophe vier führt. Mithilfe des Trostes, der in den freien Gedanken liegt und den selbst die Dame dem Ich nicht entziehen kann (MF 52,27), hat das Ich so die Gedankenminne als Beziehungsform entwickelt, bei der eine körperliche Abwesenheit des Minnepartners nicht mehr Leid und Kummer bedeutet, sondern die eine anteilige, freilich entsprechend geistige Erfüllung im Gedenken realisiert. Den Prozess dieser Umstrukturierung von Denkmustern bildet Ich denke underwîlen ab. Die Gedanken fungieren dabei als ein sekundärer Raum, in dem das Subjekt sich der Dame unabhängig nähern und seinen Kummer eigenständig überwinden kann, obwohl es im primären Raum der diegetischen Welt sozialkonforme, höfisch disziplinierte Emotionen zeigt: Mich sehent manige tage / die liute in der gebaerde, / als ich niht sorgen habe, / wan ich si alsô vertrage (MF 52,1). Auch die beiden folgenden Strophen zitieren mit der Exorbitanz der Minne, der resultierenden Exorbitanz des Leids, der staete, der Bindung des Herzens an die Dame etc. mannigfaltige Topoi höfischer Attitüde. Erst in Strophe vier erfolgt die Befreiung des Ichs aus den Verstrickungen der traditionellen Minnebindung. Durch diese Befreiung kann zudem einer der klassischen Kernklagepunkte des Minnesangs – die schmerzhafte Zurückweisung – ausgehebelt werden, den auch MF 51,33 zunächst noch vorbringt: Ez ist ein grôze wunder: / die ich alre sêrste minne, / diu was mir ie gevê (MF 52,17). Für das befreite Subjekt der vierten Strophe muss es eine weit geringere Rolle spielen, ob die Dame sein Begehrten erwidert, denn es ist für die eigene Hochgestimmtheit nicht mehr auf positive Rückmeldung angewiesen, wie den trôst sol sî mir lân (MF 52,27) zeigt. Das Lyrische Subjekt befreit sich in der Folge nicht nur aus der konventionellen Konstellation klagenden Abwartens im immerfort ungelohnten Dienst für die Dame,232 sondern es bemächtigt sich qua Bewusstwerdung zugleich des Minnekerns,

|| 232 Dieser mag teils auch positiv gedeutet worden sein, vgl. dazu die beifällig-stolze Interpretation der Prüfung durch die Dame beim Burggrafen von Rietenburg (MF 19,17) oder die Strophe Rudolfs von Fenis (MF 81,22), die nicht nur das Leid selbst zur Wonne erklärt, sondern darüber hinaus in nur acht Versen die Quintessenz der Hohen Minne darlegt.

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indem es seine Hilflosigkeit233 abstreift. Diese Umwertung gleicht der Revalidierung der Sängerposition in Bezug auf die besungene Dame, die Walther gegenüber Reinmars stirbet sî, sô bin ich tôt (MF 158,21) im Sumerlatenlied vornimmt: sterbet si mich, sô ist si tôt (L 73,1). Wenn das Ich – mag es nun seine singende oder minnende Identität besonders betonen – nicht mehr auf Gunsterwerb angewiesen ist, dann verliert die Minnedame signifikant an Macht.234 Der hohe muot, der in Strophe eins noch prototypisch die höfischen Ideale restriktiv-disziplinierter Selbstbeherrschung aufrief, wird so zur Ermächtigungsstrategie. Die über die mîlen konkretisierte körperliche Distanzierung des minnenden Subjekts vom Objekt seiner Zuneigung führt in MF 51,33 somit zu einem Extrempunkt der gedanklichen Annäherung. Diese geht in ihrem Kontaktstreben so weit, alle für das Subjekt relevanten Gegenwerte der Minnedame in das Ich hineinzuverlagern, folglich das altbekannte Konzept der Minne fundamental zu hinterfragen und den Ansatz zur Neukonstituierung zu leisten.235 In dieser Ausformung war jene Idee weder in den Kreuzliedern enthalten, die gerade aus dem Gedanken räumlicher Distanzierung eine neue Tiefe und Innerlichkeit der Beziehung erarbeiteten, noch in den Tageliedern, die nach der vorgebrachten Interpretation eher die Unmöglichkeit allumfassender Erfüllung236 vorführten. So unterschiedlich Kreuz- und Tagelied die Basisbeziehung des Minnesangs auch bearbeiteten, sie artikulierten schlussendlich dennoch stets die Unterstützung traditioneller Konzepte. MF 51,33 jedoch leistet eine Gratwanderung, die erst in den letzten Versen des Liedes Abstand davon nimmt, die eingeübten Motive und Denkmodelle der Minne endgültig zu verabschieden, da auch das ermächtigte Subjekt Friedrichs mit einer erneuten Unterwerfung schließt: Wil sîz vür guot enpfân, / des vröwe ich mich iemer mêre (MF 52,27). Ich denke underwîlen findet neben den || 233 Vgl. etwa Ez stêt mir niht sô. ich enmac ez niht lâzen, / daz ich daz herze von ir iemer bekêre. / ez ist ein nôt, daz ich mich niht kan mâzen (MF 81,6). 234 Diese Überlegung findet sich bereits bei Klaus Grubmüller, der über den Rückzug ins eigene Bewusstsein des Lyrischen Ichs eine Lösung aus der Abhängigkeit von der Dame folgert, diesen Gedanken jedoch mehr auf das Verhältnis von Ich und Gesellschaft bezieht. Seinen Ausführungen zufolge ist das Bemerkenswerte an Ich denke underwîlen (MF 51,33) der Umstand, dass das Subjekt mit dem bewussten Schritt in sein Ich hinein und weg von den normierenden Konzepten der Gesellschaft seine Fähigkeit zur Weltschöpfung entdeckt und so als Individuum hervortritt. Dieses Individuum bleibt, so Grubmüller weiter, jedoch auch immer Teil der Gesellschaft, da es vom Dichter als Rolle formuliert wird, die das kollektive Wissen und Handeln des Publikums repräsentiert. Vgl. Grubmüller, Ich als Rolle, S. 390, 394 u. 399–401. 235 Vgl. den argumentativ ähnlichen Bogen über die Verinnerlichung der Dame bei Hausmann, Verlust und Wiedergewinnung der Dame, S. 170–178. Wider Erwarten keinen Bezug auf die vorgebrachten Zusammenhänge bietet Franz Josef Worstbrock: Fernliebe. Allgemeines und Besonderes zur Geschichte einer literarischen Konstanten. In: Projektion – Reflexion – Ferne, hrsg. von Glauch [u. a.], S. 137–159. 236 Sebastian Möckel arbeitet anhand verschiedener Tagelieder heraus, dass selbst die vermeintliche Erfüllung der Liebe im Vollzug des Minnelohns nicht in der Lage ist, die Leerstelle zu füllen, die im Begehren der Lieder artikuliert wird. Vgl. Möckel, „Der süeze wehsel under zwein“, S. 145.

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Ausdrucksmöglichkeiten von Kreuz- und Tagelied folglich einen dritten Weg, um die Minnebeziehung variierend neu zu gestalten, der nicht die Notwendigkeit sexueller Enthaltsamkeit oder körperlicher Anwesenheit hinterfragt, sondern die eines vom sich äußernden Ego geschiedenen Alters – um sich am Ende den just abgeklopften Richtlinien der Gattung doch ebenso wieder unterzuordnen wie das Ich der Dame: wan ich vür alle man / ir ie was undertân (MF 52,27).237 Der skandalös neu positionierte Standpunkt wird somit genutzt, um dem habitualisierten Topos der Unterwerfung einen gesteigerten Wert beizumessen und derart unter Zurschaustellung beachtlicher Virtuosität wieder in bekannte Konzepte einzuscheren – und nicht, um vollständig aus ihnen auszubrechen. Solch ein finaler Ausbruch wäre auch deshalb überraschend wie fatal, weil er schließlich nicht nur das Ende des Beziehungsfaszinosums zur Folge hätte, sondern mit ihm auch das des fortgesetzten Sangs des Subjekts und somit das Ende des Subjekts selbst.238 Und Friedrich und sein Ich fühlen sich offenbar auf ihrem Ast doch ganz wohl. Interessant für die vorliegende Untersuchung ist MF 51,33 zudem, weil die Überbrückung physischer Distanz durch gedankliche Nähe, wie sie bereits das Kreuzlied leistete, hier eine eigentümliche Steigerung erfährt. Denn die Gedanken des sich äußernden Ichs verändern, wie Klaus Grubmüller ausführt,239 dessen Welt so nachhaltig, dass die außerhalb des Ichs gelegene diegetische Realität an konstituierender Qualität für das Subjekt verliert: daz mir nieman kan / erwern (MF 52,27). Weder die liute (MF 52,1) noch die Dame oder die Distanz kommen gegen die poetische Gedankenkraft des Ichs an, das die es umgebende Welt in „gedankliche[r] Bewältigung der Distanz“240 durch eine alternative ersetzt, die sich als seine Privatschöpfung innerhalb des Ichs befindet: in ultimativer Nähe. Friedrich bearbeitet also nicht nur Fragen im Umfeld der Minnebeziehung, sondern führt im Grunde auch das dichtende Subjekt vor, ohne dies jedoch etwa wie Walther auf dessen Sangesrolle hin zu spezifizieren. Das kann in Hinblick auf mögliche Narrativierungen nicht unproblematisch sein, denn ein Zurücktreten der diegetischen Umwelt des Subjekts zugunsten der Akzentuierung seiner Innenwelt (quasi als Fiktion zweiter Ordnung) bedeutet einen Rückgang der Möglichkeiten lyrischer Narration, die oben vorgestellt wurden. Mit dem verstärkten Interesse am Inneren geht zwar nicht jede Form der Narrativierungstendenz verloren, da sowohl zeitliche Veränderungen als auch verschiedene räumliche

|| 237 ‚Ego‘ und ‚Alter‘ werden hier nicht in der Bedeutung der Systemtheorie nach Niklas Luhmann verwendet, sondern um das lyrische Subjekt von seinem Gegenüber abzugrenzen. Daher bezeichnet ‚Ego‘ auch die Äußerungsinstanz. Bei Luhmann hingegen heißt der Adressat der Mitteilung ‚Ego‘ und der Mitteilende ‚Alter‘. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 16. Auflage. Frankfurt am Main 2015 (stw. 666), S. 195–197. 238 Vgl. Abschnitt 2.2.3. 239 Vgl. Grubmüller, Ich als Rolle, S. 401. 240 Ebd., S. 396.

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Festschreibungen des Subjekts weiterhin darstellbar bleiben,241 obwohl die Kopplung von Raum und Zeit zuweilen bedenklich gelockert wird, wie die vage Position des Ichs im Raum (swer) gegenüber dessen gedanklicher Standortbestimmung (ir nâhe) in Strophe vier (MF 52,27) verdeutlicht. Aber diese schemenhaften Positionslichter bieten keinen narrativen Ansatzraum, der mit der Referenzwelt etwa in Strophe eins vergleichbar wäre, in der das sich äußernde Ich vergangene Begebenheiten verorten und berichten kann: Mich sehent manige tage / die liute in der gebaerde, / als ich niht sorgen habe, / wan ich si alsô vertrage (MF 52,1). Auch die Potentiale von Topos und Metapher erfahren in MF 51,22 erneute Funktionalisierung. Dies ist schon allein deshalb wenig verwunderlich, weil ein Lied, das derart signifikante Änderungen am gedanklichen Konzept des Minnesangs erwägt, sich durch Rückbindung an bekannte Bilder und Wendungen legitimierender Traditionsanbindung insbesondere versichern wird. Jene Anknüpfungspunkte finden sich verteilt über den ganzen Text, etwa in der Exorbitanz der Minne (Hete ich sô hôher minne / mich nie underwunden, MF 52,7)242 und einer milden Form des Wahnsinns des Subjekts, das feststellt: ich tet ez âne sinne (MF 52,7)243. Auch seine staete und die Ablehnung durch die Dame – hier formuliert als die ich alre sêrste minne, / diu was mir ie gevê (MF 52,17)244 – lassen sich aus dem topischen Gedankenkonstrukt mittelhochdeutscher Minnelyrik ableiten. Ähnliches gilt für die Ewigkeit der Minne (wan ich vür alle man / ir ie was undertân, MF 52,27)245 und die Exorbitanz des Kummers, die sich bei Friedrich folgendermaßen ausdrückt: nu müeze solhen kumber / niemer man bevinden, / der alsô nâhe gê. / Erkennen wânde ich in ê, / nu hân ich in baz bevunden: / mir was dâ heime wê / und hie wol drîstunt mê (MF 52,17)246.

|| 241 Vgl. hie (MF 52,17), dâ heime (MF 52,17), swar […] des landes (MF 52,27). 242 Das Vorhaben, die Unvergleichlichkeit der Minne auszudrücken, wird in Des Minnesangs Frühling häufig über die Verbindung mit dem Topos Tod realisiert, vgl. unser zweier scheiden müeze ich geleben niet; Der von Kürenberg (MF 7,10) sowie stirbet sî, sô bin ich tôt; Reinmar (MF 158,21). 243 Vgl. dazu in Des Minnesangs Frühling weiterhin ich kom sîn dícke in sô grôze nôt, / daz ich den liuten guoten morgen bôt / gegen der naht; Friedrich von Hausen (MF 45,37) sowie dô ich ir ougen unde munt / sach wol stên únd ir kinne, / dô wart mir daz herze enbinne / von sô süezer tumpheit wund / Daz mir wîsheit wart unkunt; Heinrich von Veldeke (MF 56,19). Vgl. zum Topos der Minnetorheit weiter Rüdiger Schnell: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica. 27), S. 32–34. 244 Vgl. dazu in Des Minnesangs Frühling weiterhin danne daz ich ir diene vil, / und si des niht wizzen wil; Burggraf von Rietenburg (MF 19,27) sowie Dô ir mîn dienest niht ze herzen gie; Hartmann von Aue (MF 205,19). 245 Vgl. dazu in Des Minnesangs Frühling weiterhin Mîn êrste liebe, der ich ie began, / diu selbe muoz an mir diu leste sîn; Albrecht von Johansdorf (MF 86,1) sowie Si ist mir liep gewest dâ her von kinde, / wan ich wart dur sî und durch anders niht geborn; Heinrich von Morungen (MF 134,25). 246 Vgl. dazu in Des Minnesangs Frühling weiterhin ich bin von liebe worden vrô: / sol ich der jâre werden alt, / daz giltet sich mit leide tûsentvalt; Hartmann von Aue (MF 218,1) sowie wie vil mir doch von liebe leides ist beschert! / waz mir diu liebe leides tuot!; Albrecht von Johansdorf (MF 94,35).

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 193

MF 51,33 bindet sich folglich einerseits in ein Netz der Topoi ein und spinnt es zugleich durch seine Umkehrung der Denkrichtung und Machtverhältnisse weiter. An der Metapher des staete-gebundenen Herzens in Strophe zwei, die im Gegensatz zum Entwurf gedanklicher Souveränität des Subjekts zugegeben nicht besonders innovativ ist, kann zudem neben der metaphorischen Kleinstnarration auch exemplarisch beobachtet werden, wie die theoretisch betrachteten Phänomene miteinander interagieren. Denn die Metapher arbeitet auf Grundlage und mithilfe der topisch verfestigten Versatzstücke basaler Bedeutung (staete als Minnetugend, das Herz als Minneobjekt; vgl. oben) eine kurzschrittige Überblendungshandlung aus (das Binden), auf der jedoch nicht zwingend das Hauptaugenmerk der jeweiligen Strophenäußerung (Exorbitanz der Minne) liegt. In diesem knappen Abschnitt, der den Umfang möglicher weiterführender Betrachtungen außerhalb des genre objectif gewiss nur skizzieren konnte, sollte somit angedeutet werden, dass das eingehender am Tage- und Kreuzlied beobachtete Verhältnis von Nähe und Distanz auch über diese Liedgattungen hinaus einen interessanten Ansatzpunkt der Überlegung bietet. Die im Teil 1 dargelegten Modi narrativer Andeutung ließen sich ebenfalls im untersuchten Minnelied MF 51,33 beobachten; wenn auch in geringerer Ausprägung als in den konkretisierenden Untergattungen des genre objectif und freilich ohne dabei Verpflichtungen zur immergleichen Art oder Umfänglichkeit ihrer Realisierung einzugehen.

2.4 Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster Bisher wurde einerseits der Griff in das prototypische Zentrum der Subgattungen Kreuz- und Tagelied versucht und andererseits der Blick hinüber in jene Bereiche der Minnelyrik gelenkt, die sich weder durch Konkretisierungen in Bezug auf erlebte Erfüllung noch auf den Kreuzzug auszeichnen. Wie am jeweiligen Untersuchungsbeispiel und insbesondere zuletzt deutlich wurde, untergraben die verschiedenen Lieder und Typen die Basisinstitution Minnesang selbst dann nicht, wenn sie Teile ihrer Setzungen und Denkmuster zeitweilig infrage stellen. Nach diesem Befund liegt es nahe, sich mit dem Neidhartkomplex in einem weiteren Schritt solchen Liedern zuzuwenden, die das Regel- und Formenwerk des Minnesangs in nochmals anderer Form an seine Grenzen führen.247 Die Neidharttradition

|| 247 Einen ähnlich günstigen Untersuchungsrahmen bietet, was die Verbindungen der Gattungen, den Metaphernreichtum und die Reflexion des Sangs angeht, sonst nur noch Walther von der Vogelweide. Seine ausführliche Untersuchung unter der gleichen Fragestellung könnte Chancen der Ergebnisabrundung bereithalten, übersteigt jedoch die Möglichkeiten des hier abgesteckten Untersuchungsrahmens, weil aufgrund seines Œuvres ebenfalls weiterführende Überlegungen zu

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bietet sich hierfür auch deshalb an, weil sie den betrachteten Subtypen je Aktualisierungen zur Seite stellt, deren Umgang mit lyrisch-narrativen Möglichkeiten nochmals im Vergleich zum Bisherigen betrachtet werden kann, denn es stellt sich natürlich die Frage, ob die Neidhartlieder aufgrund – oder doch zumindest mit – ihrer umgestalteten Diegese sowie Axiologie nicht auch alternative Erzählmodi nutzen. Plausibel ist diese Vermutung insbesondere deshalb, weil das neidharttypische Hineinwandern des Autors in die Figurationen seiner Lieder in dieser Art und Weise ein Spezifikum darstellt. Triebfeder jener Wanderbewegung dürfte – zunächst in ihrer frühwissenschaftlichen Verfestigung – vor allem die Neidhartlegende als Sonderform einer ‚biografischen Legende‘248 gewesen sein, deren akkumulative Anhäufung von Erzählinhalten nicht zuletzt die spezifisch narrationsnahe Positionierung des Neidhartkomplexes bewirkt, die sich später auch in der forschungsgeschichtlichen Erschließung durchhält. In dieser Perspektive wirkt ein narratologisch interessierter Zugang wie der vorliegende umso schlüssiger. Zur Legendenbildung tragen etwa die Berichte Cyriacus Spangenbergs bei, der im 16. Jahrhundert von einem Neidhart Fuchs berichtet, der ein Franke, Meistersänger und Bauernschreck gewesen sei sowie in Wien begraben liege,249 oder auch Johann Fuggers, der Neidhart als Wiener Hofnarren mit einem Grab am Stephansdom deutet.250

|| Sangspruch und geistlicher Dichtung nötig würden. Vgl. beispielsweise L 3,1f.; L 8,4f; L 16,36f.; L 19,5f. und L 20,16f. 248 Vgl. Boris Tomaševskij: Literatur und Biographie. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Janides [u. a.]. Stuttgart 2000 (RUB. 18058), S. 49–61. Tomaševskij beschreibt mit der ‚biographischen Legende‘ die Antwort der Autorengeneration des 18. Jahrhunderts auf den biografisch orientierten Wissenshunger ihres Publikums: „Durch den Hinblick darauf, dass ihr Leben zu einer ständigen Leinwand für ihre Werke wurde, waren sie dazu gezwungen, im Leben epische Motive zu inszenieren und sich andererseits eine künstliche biographische Legende mit einer bewussten Zusammenstellung realer und erdachter Ereignisse zu schaffen.“ Ebd., S. 52. Die Abgrenzung als Sonderform drängt sich im Falle des Neidhartkontexts zum einen auf, weil Tomaševskijs Begriff sich auf spätere Epochen bezieht, zum anderen, weil hier nicht ein einziger Autor an seiner eigenen Legende arbeitet, und drittens, weil das, was Tomaševskij unter seinem Terminus fasst, nicht auf die Ausmaße bezogen ist, in denen Neidhart als Figur seiner Welt agiert. 249 Vgl. Cyriacus Spangenberg: Von der edlen und hochberüembten Kunst der Musica (1598). In: Ders. Von der Musica und den Meistersängern. Hrsg. von Adelbert von Keller. Stuttgart 1861 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart. 62), S. 1–167, hier S. 127. 250 Vgl. Johann Jacob Fugger: Spiegel der Ehren des höchstlöblichen Kayser- und Königlichen Erzhauses Oesterreich oder ausführliche GeschichtSchrift von Desselben, und derer durch Erwählungs- Heurat- Erb- und Glücks-Fälle ihm zugewandter Kayserlichen HöchstWürde, Königreiche, Fürstentümer, Graf- und Herrschaften, Erster Ankunft, Aufnahme, Fortstammung und hoher Befreundung mit Kayser- König- Chur- und Fürstlichen Häusern; auch von Derer aus diesem Haus Erwählter Sechs Ersten Römischen Kaysere, Ihrer Nachkommen und Befreundeten, Leben und Groszthaten: mit Kays. Rudolphi I GeburtsJahr 1212 anfahend, und mit Kays. Maximiliani I TodesJahr 1519 sich endend. Erstlich vor mehr als C Jahren verfasset durch Den Wohlgebornen Herrn Johann

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Johann Christoph Gottsched versetzt den diverse Streiche spielenden Edelmann rund hundert Jahre später zwar nach Meißen, ändert sonst aber nicht viel an der Sicht Fuggers auf Neidhart, der diesen um 1290 am Hof des österreichischen Herzogs ansiedelte.251 Die Zuschreibung ‚von Riuwental‘ erfolgt wenig später erstmalig durch Johann Christoph Adelung, der indes für die Herkunftssphäre des betreffenden Geschlechts den Mainzer Raum favorisiert und statt der späteren Schwankerzählungen252 vorwiegend auf die Manessische Sammlung253 als Neidharts Wirkungsstätte verweist. Auch die Frage nach einer Einzelautorschaft (Bernhard Docen, Clemens Brentano254, Friedrich Wilhelm von der Hagen255, Wilhelm Grimm256) oder einem

|| Jacob Fugger, Herrn zu Kirchberg und Weissenborn, der Röm. Kays. und Kön. Maj. Maj. Caroli V und Ferdinand I Raht Nunmehr aber auf Röm. Kays. Maj. Allergnädigsten Befehl, Aus dem Original neu-üblicher ümgesetzet, und in richtiger Zeit-rechnung geordnet, aus alten und neuen Geschichtsschriften erweitert, in etlichen Stamm-Tafeln bis auf gegenwärtiges Jahr erstrecket, mit der vom Erzhaus abstammenden Chur- und Fürstlichen FamilienGenealogien, auch vielen Conterfäten, Figuren und Wappen-Kupfern gezieret und in sechs Bücher eingetheilet durch Sigmund von Birken, Röm. Kays. Maj. Comitem Palatinum, in der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Nürnberg 1668, S. 317. 251 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrat zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst. Oder Verzeichniß aller deutschen Trauer, Lust- und Singspiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, gesammelet und ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottscheden. 1. Theil. Leipzig 1757, S. 112. 252 Vgl. Johann Christoph Adelung: Chronologisches Verzeichnis der Dichter und Gedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte. In: Magazin für deutsche Sprache 2 (1784), S. 3–92, hier S. 28. 253 Gemeint ist die 1758 durch Bodmer und Breitinger herausgebrachte Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte, die sehr häufig dazu anregte, den dort genannten Herrn Neidhart mit der Schwankfigur des Neidhart Fuchs zu verbinden, vgl. Eckehard Simon: Neidhart von Reuental. Geschichte der Forschung und Bibliographie. Den Haag 1968 (Harvard Germanic Studies. 4), S. 6f. So kommt es auch zur Vorstellung von Neidharts angeblicher Existenz als Hofnarr und seinem Grab in Wien. Zuletzt, jedoch auf einem ganz anderen Reflexionsniveau, Katharina Philipowski: Der Autor als Schwankheld. Vom Ich im Minnesang zum Ich im ‚Neithart Fuchs‘. In: Von sich selbst erzählen, hrsg. von Glauch, dies., S. 227–262: „Hier geht der ‚Neidhart Fuchs‘ noch einen Schritt weiter [auf dem Weg zur sujethaften Ich-Erzählung, D.R.]. Er marginalisiert die Themen Minne, Dienst und Werbung völlig und baut ein Thema narrativ aus, das sich bereits in den frühen Neidhartliedern findet und durch den ‚Veilchenschwank‘ motiviert wird: die anhaltende Feindschaft zwischen Neithart und den dörpern.“ (S. 261, Kursivierung im Original). 254 Vgl. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Bd. 1. Gesammelt von Ludwig Achim von Arnim, Clemens Brentano. Heidelberg 1806, S. 103–109. 255 Dieser gibt Docens Versuche in seiner Zeitschrift heraus, vgl. Bernhard Joseph Docen: Versuch einer vollständigen Literatur der älteren, Deutschen Poesie. Von den frühesten Zeiten bis zu Anfange des XVI. Jahrhunderts. Erste Abtheilung (Das Verzeichnis sämmtlicher Dichter von 800 bis 1500 enthaltend). In: Museum für altdeutsche Literatur und Kunst 1 (1809), S. 126–234. 256 Vgl. dazu im Einzelnen August Wilhelm Schlegel: Docen’s erstes Sendschreiben über den Titurel. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur 4 (1811), S. 1097f., hier ebd. Wilhelm Grimm: Rezension zu Friedrich Wilhelm von der Hagen, Narrenbuch. In: Ders. Kleinere Schriften. Bd. 2. Hrsg. von

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Autorenkollektiv (Erduin Julius Koch257, später Ludwig Uhland und Wilhelm Wackernagel) sowie einer allegorischen Lesart des Neidhartorts Riuwental (von der Hagen258) wird zu diesem Zeitpunkt bereits aufgeworfen, doch zunächst trotz entstehender Datierungsprobleme259 zugunsten des Einzelautors und Realismus entschieden. Bis heute bildet Grimms folgender Entwurf das Grundgerüst einer Neidhartbiografie, die inzwischen freilich weithin als absichtsvolle Fiktion angenommen wird: Neidhart singt demnach am Hofe Friedrichs des Streitbaren, nimmt 1228 am Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. teil, zieht zuvor aus Bayern nach Österreich und berichtet am dortigen Hof von den Bauern.260 Uhlands Werk ist dabei für die Neidhartforschung nicht nur deshalb prägend, weil er schon früh von einem Kollektivautor ausgeht, sondern auch, weil sowohl die aus seinem Label des ‚Gegensangs‘261 resultierende Wiedergängerrolle Neidharts als auch sein Ansatz einer vergleichenden Untersuchung mit Walther von der Vogelweide262 gleichermaßen bis heute263 nachwirken. Wie sich die Linien einiger Fragestellungen und Begriffe Uhlands bis in den gegenwärtigen Forschungsbetrieb verlängern lassen, so wurzeln auch einige weitere Basalbestimmungen der Neidhartforschung bereits im 19. Jahrhundert: Die Bevorzugung der Riedegger Handschrift R, von der sich selbst die neueste Neidhartedition

|| Gustav Hinrichs. Berlin 1882, S. 52–77, hier S. 67. Gottfrieds von Straßburg: Werke. Bd. 1: Tristan und Isolde. Mit Ulrichs von Turheim Fortsetzung. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Breslau 1823, S. XIf. Gottfrieds von Straßburg: Werke. Bd. 2: Heinrichs von Friberg Fortsetzung von Gottfrieds Tristan, Gottfrieds Minnelieder. Die alten französischen, englischen, wallisischen und spanischen Gedichte von Tristan und Isolde. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Breslau 1823, S. 120– 122. 257 Vgl. Erduin Julius Koch: Compendium der Deutschen Literatur-Geschichte von der ältesten Zeit bis auf das Jahr 1781. Bd. 2. Berlin 1798, S. 53–68. 258 Vgl. hierzu die Redigierung von der Hagens zu Docens ‚Versuch einer vollständigen Literatur der älteren, Deutschen Poesie‘, dort in Anm. 40. 259 Vgl. Bernhard Joseph Docen: Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Literatur. Neuaufgefundene Denkmäler der Sprache, Poesie und Philosophie unsrer Vorfahren enthaltend. Bd. 1. München 1807, S. 94f. 260 Vgl. Grimm, Rezension zu Friedrich Wilhelm von der Hagen, Narrenbuch, S. 67f. 261 Vgl. Ludwig Uhland: Der Minnesang (1824). In: Ders. Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. 5. Hrsg. von Wilhelm Ludwig Holland [u. a.]. Stuttgart 1870, S. 113–282, hier und im Folgenden S. 249–259. 262 Vgl. Uhland, Walther von der Vogelweide, S. 71–73. 263 Vgl. Gerhard Wolf: Der ‚Gegensang‘ in seiner Aufführungssituation. In: Wechselspiele, hrsg. von Schilling, Strohschneider, S. 153–178. Vgl. Ingrid Bennewitz: Walther und Neidhart. Versuch einer Annäherung. In: Studies and new texts of the Nibelungenlied, Walther, Neidhart, Oswald, and other works in medieval German literature. In memory of Ulrich Müller II. Hrsg von Sibylle Jefferis. Göppingen 2015 (GAG. 780), S. 69–77.

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nicht ausnimmt, stammt etwa über Benecke264 von Haupt. Versuche, eine feste Neidhartbiografie zu konzipieren sowie dieser chronologisch geordnete Liedstellen zuzuordnen,265 – ein Unterfangen, das der historisch orientierten Kreuzliedforschung sehr ähnelt266 – stellt Wackernagel267 unter Lachmanns Ausdruck der ‚höfischen

|| 264 Dessen Liederbuchtheorie wird von Richard Moritz Meyer genauer für den Neidhartkomplex ausgearbeitet, kann sich jedoch nicht durchsetzen. Vgl. Georg Friedrich Benecke: Beyträge zur Kenntnis der altdeutschen Sprache und Literatur. Bd. 2. Göttingen 1832, S. 297–302. Richard Moritz Meyer: Die Reihenfolge der Lieder Neidharts von Reuental. Diss. masch. Berlin 1883, hier besonders S. 12 u. 162. 265 Vgl. Wilhelm Wackernagel: Herr Nithart (1826). In: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtet. Bd. 4: Geschichte der Dichter und ihrer Werke. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Leipzig 1838, S. 436b–442. 266 Dabei sollte allerdings in Erwägung gezogen werden, dass einige der Wackernagel zugewiesenen Äußerungen ihm tatsächlich keineswegs so eindeutig zuzuordnen sind, wie Simon in Bezug auf eine Abhandlung ausführt, die die Trennung zweier Überlieferungsschichten im Werk Neidharts favorisiert. Ihre Zuschreibung an Wackernagel durch Meyer und Brill aufgrund der anonymen Sigle 87 ist nicht nur nicht eindeutig zu verifizieren, sondern auch einigermaßen fraglich, da dieser Text sonst eine Art Korrektur zu Wackernagels vorheriger Neidhartbiografie darstellt, vgl. Simon, Neidhart von Reuental, S. 23f., hier besonders die dortige Anm. 22. 267 Dieser war zuerst für von der Hagen als Assistent tätig und folgte später Karl Lachmann nach Berlin, wie Rudolf Wackernagel darlegt, vgl. Rudolf Wackernagel: Wilhelm Wackernagel. Jugendjahre 1806–1833. Basel 1885, S. 37–40. Obwohl derartige Verstrickungen mit den thematischen Äußerungen der betreffenden Wissenschaftler sicher nicht über direkte Einwirkung verbunden sein mögen, sind sie bezüglich des von Wägenbaur so bezeichneten ‚Sozialsystems der deutschen Philologie‘, vgl. Wägenbaur, Benecke, S. 5, für diesen Abschnitt der Fachgeschichte dennoch prägend. Dafür bieten die Bemühungen der Grimms, gemeinsam mit Brentano dessen Neidharthandschrift vor von der Hagen zu ‚schützen‘, ein eindrückliches Beispiel. Vgl. Reinhold Steig: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Mit Brentanos Bildnis. Stuttgart 1914, S. 111–156. Wackernagel wirft zudem die Möglichkeit auf, dass die Neidhartlieder in einer volkstümlichen Dorfpoesie über gemeinsame Vorlagen mit altfranzösischen Pastourellen verfügten. Vgl. Altfranzösische Lieder und Leiche aus Handschriften zu Bern und Neuenburg. Mit grammatischen und litterarhistorischen Abhandlungen. Hrsg. von Wilhelm Wackernagel. Basel 1848, S. 236. Karl Marold verweist demgegenüber – aufgegriffen durch Henning Brinkmann, Willem Moll und Johanne Osterdell – auf die Vagantenlyrik als Quelle vor allem für Neidharts Natureingänge. Vgl. Karl Marold: Über die poetische Verwertung der Natur und ihrer Erscheinungen in den Vagantenliedern und im deutschen Minnesang. In: ZfdPh 23 (1890), S. 1–26, hier S. 21–26. Henning Brinkmann: Entstehungsgeschichte des Minnesangs. Halle an der Saale 1926 (DVjs Beihefte. 8), hier S. 161f. Willem Hendrik Moll: Über den Einfluß der lateinischen Vagantendichtung auf die Lyrik Walthers von der Vogelweide und die seiner Epigonen im 13. Jahrhundert. Diss. Amsterdam 1925, S. 104–108, 114f. u. 142. Johanne Osterdell: Inhaltliche und stilistische Übereinstimmungen der Lieder Neidharts von Reuental mit den Vagantenliedern der Carmina Burana. Diss. masch. Köln 1927. Die Idee stammt indes nicht genuin von Marold; Überlegungen zu Ursprüngen des Minnesangs in der lateinischen Vagantenlyrik stellt schon Ernst Martin an, bezieht sich aber nicht explizit auf Neidhart. Vgl. Ernst Martin: Die Carmina Burana und die Anfänge des deutschen Minnesangs. In: ZfdA 20 (1876), S. 49–69.

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Dorfpoesie‘268 lange vor Reinhard Bleck an.269 Die Unterscheidung des Liedguts in Sommer- und Winterlieder, die das Antlitz der elementar den Diskurs bestimmenden ATB-Ausgabe fundamental prägt, bringt Rochus von Liliencron270 noch vor Haupt in Anschlag und dessen Maskentheorie deutet – obwohl zeitgenössisch nicht allzu positiv aufgenommen271 – auf moderne Lesarten272 der Neidhartlieder voraus. Mit seiner Neidhart-Ausgabe273 begründet Moriz Haupt 1858 einen nur schwer einzuholenden Standard, der in über achtzig Prozent der edierten Lieder der Riedegger Handschrift R folgt und im Großen und Ganzen die durch Wackernagel entwickelte Biografie Neidharts stützt.274 Mit ihr wie auch mit den umfangreichen Arbeiten Albert

|| 268 Vgl. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1827, S. 182f. Zeitgleich verficht Martin Manlik weiterhin die Volksliedthese von Liliencrons. Vgl. Martin Manlik: Die volksthümlichen Grundlagen der Dichtung Neidharts von Reuenthal. In: 17. und 18. Jahresbericht des Gymnasiums zu Landskron in Böhmen. Landskron 1889, S. 1–31 sowie von Liliencron, Über Neidharts höfische Dorfpoesie, S. 78 u. 90. 269 Vgl. Reinhard Bleck: Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder als Grundlage für seine Biographie. Göppingen 1998 (GAG. 661). Ders.: Neidhart. Leben und Lieder. Göppingen 2002 (GAG. 700). 270 Vgl. Rochus von Liliencron: Über Neidharts höfische Dorfpoesie. In: ZfdA 6 (1848), S. 69–117, hier S. 90–99. 271 Vgl. ebd., S. 99–108. 272 Mit jener Maskentheorie versucht er, einige Widersprüche des damaligen Neidhartbilds auszuräumen, so etwa die Fragen, warum ein Ritter sich mit Bauern gestritten haben sollte, wenn er doch die Möglichkeit hatte, an Fürstenhöfen zu singen, oder wie die artistischen Minnestrophen mit der Schilderung dörperlicher Vorfälle zusammenpassen. Aus seinen Überlegungen leitet von Liliencron ab, dass in den Bauern der Neidhartlieder und in ihren Händeln tatsächliche Personen und Vorkommnisse aus dem höfischen Leben zu sehen sind, deren Darstellung wiederum jedoch nicht der Wirklichkeit entsprechen muss. Ebenfalls wegweisend ist der korrespondierende Gedanken von Liliencrons, auch die Trutzstrophen dem Dichter der restlichen Strophen zuzuschreiben – und nicht wie Haupt einem dichtenden Bauernpublikum. Vgl. Karl Bertau: Neidharts „Bayrische Lieder“ und Wolframs ‚Willehalm‘. In: Neidhart. Hrsg. von Horst Brunner. Darmstadt 1986 (Wege der Forschung. 556), S. 157–195, hier S. 177 bzw. Neidhart von Reuenthal. Hrsg. von Moriz Haupt. Leipzig 1858, S. 134f. Da Haupt im Anschluss an Lachmann trotzdem ein höfisches Publikum Neidharts für wahrscheinlich hält, vgl. Neidhart von Reuenthal, hrsg. von Haupt, Leipzig 1858, S. 217, ist immerhin zu fragen, wie die dichtenden Bauern Kenntnis der Lieder über sie erhalten haben sollen – ganz zu schweigen vom tiefen literarischen Verständnis, das ein Weiterdichten dieser Lieder erforderte. 273 Vgl. Neidhart von Reuenthal, hrsg. von Haupt, Leipzig 1858. Fortgeführt als Die Lieder Neidharts. 5., verbesserte Auflage. Hrsg. von Edmund Wiessner, Hanns Fischer, Paul Sappler. Mit einem Melodieanhang von Helmut Lomnitzer. Tübingen 1999 (ATB. 44). Der Zusatz ‚von Reuental‘ wird durch Wiessner gestrichen, sobald sich das Blatt mit Samuel Singer in der argumentativen Nachfolge von der Hagens zugunsten einer allegorischen statt wörtlichen Lesart der Ortsangabe wendet. Damit einher geht auch der Abstieg Neidharts vom vermeintlichen Ritter zum Unfreien und Spielmann, vgl. Paul Kluckhohn: Ministerialität und Ritterdichtung. In: ZfdA 52 (1910), S. 135–168, hier S. 154. Wilhelm Wilmanns: Über Neidharts Reihen. In: ZfdA 29 (1885), S. 64–85, hier S. 65f. 274 Vgl. Neidhart von Reuenthal, hrsg. von Haupt, Leipzig 1858, S. 104–108, 200 u. 223.

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Bielschowskys275 ist eine Forschungsperiode bzw. -richtung gekennzeichnet, die zugunsten der vollständigen und systematischen Abbildung eines vermeintlich ‚wahren Dichterlebens‘276 im Zweifel für die verschmelzende Zusammenschau von Fakten und Vorstellungen entscheidet, statt Widersprüche bestehen zu lassen.277 Die Forschung des 20. Jahrhunderts lässt jene Widersprüche zwar vermehrt zu, wird aber umso breiter und uneinheitlicher: Anton Emanuel Schönbach und Konrad Burdach sprechen sich für eine parodistische Deutung Neidharts aus,278 erst Ferdinand Schürmann jedoch kann dieser zu weitreichender Anerkennung verhelfen.279 Joseph Seemüller und Edmund Wiessner betonen das Interesse des adligen Publikums an kompositioneller Komik, epischer Bewegung und fiktivem Spiel.280 Samuel Singer bringt Mimen und Spielleute281 als Quell der Poesie in die Diskussion ein,

|| 275 Vgl. Albert Bielschowsky: Geschichte der deutschen Dorfpoesie im 13. Jahrhundert. Bd. 1: Leben und Dichten Neidharts von Reuenthal. Berlin 1890 (Acta Germanica Sonderabdruck. II, 2). 276 Vgl. Albert Bielschowsky: Vorwort. In: Goethe. Sein Leben und seine Werke. Bd. 1. Hrsg. von ders. München 1896, S. I–VII. 277 Ein weiteres, sehr anschauliches Beispiel dessen bringt Meyers These der Bauerntochter Friderûn an, die ihren Verehrer Neidhart verschmäht. Vgl. Meyer, Die Reihenfolge der Lieder Neidharts von Reuental, S. 17. Aus dieser, die Dichtungen Neidharts äußerst wörtlich nehmenden Periode stammt auch die historisch-kulturgeschichtliche Deutung seiner Lieder als Ausdruck sozialer Umschichtung und des Untergangs des Adels. (Vgl. Theodor von Karajan: Über den Leumund der Österreicher, Böhmen und Ungern in den heimischen Quellen des Mittelalters. Wien 1863 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 42), S. 447–531, hier S. 452, 457, 460 u. 466.) Währenddessen wird in der Frage des Publikums von einer Art Doppelleben Neidharts ausgegangen, der demnach die sommerlichen Tanzlieder vor dörflichem, die die Bauern verschmähenden, winterlichen Lieder jedoch vor höfischem Publikum sang. (Vgl. Hermann Schmolke: Leben und Dichten Neidharts von Reuenthal. In: Programm des Gymnasiums zu Potsdam für das Schuljahr von Ostern 1874 bis Ostern 1875. Potsdam 1875, S. 1–31, hier S. 4–9.) Unter Meyer und Wilhelm Scherer setzt sich zudem einerseits Uhlands These von der literarischen Fehde zwischen Walther und Neidhart allmählich durch und erlebt auch Beneckes Liederbuchtheorie eine Renaissance. (Vgl. Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Litteratur. Berlin 1883, S. 213f. u. 737. Meyer, Die Reihenfolge der Lieder Neidharts von Reuental, S. 162. Ders.: Alte deutsche Volksliedchen. In: ZfdA 29 (1885), S. 121–236. Ders.: Neidhart von Reuenthal. In: Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 23. Hrsg. von der Historischen Commission bei der Königlichen Academie der Wissenschaften. Berlin 1886, Sp. 395–399. Ders.: Die Neidhartlegende. In: ZfdA 31 (1887), S. 64–82.) 278 Vgl. Anton Emanuel Schönbach: Rezension zu Albert Bielschowky, Geschichte der deutschen Dorfpoesie. In: DLZ 12 (1891), Sp. 1454–1456, hier Sp. 1455. Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, S. 129f. 279 Vgl. Ferdinand Schürmann: Die Entwicklung der parodistischen Richtung bei Neidhart von Reuenthal. Beilage des Programms der Oberrealschule zu Düren. Düren 1898. 280 Vgl. Josef Seemüller: Zur Poesie Neidharts. In: Untersuchungen und Quellen zur Germanischen und Romanischen Philologie. Johann von Kelle dargebracht von seinen Kollegen und Schülern. Bd. 1. Prag 1908 (Prager deutsche Studien. 8), S. 325–338. Edmund Wiessner: Kommentar zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954, S. IX u. 260. 281 Vgl. Samuel Singer: Neidhart-Studien. Tübingen 1920, S. 8–10. Vgl. außerdem dessen Erwähnung in den Lexikonartikeln Rosenhagens. Gustav Rosenhagen: Art. Dörperliche Dichtung. In:

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während Richard Alewyn Neidharts Naturalismus282 und Franz Martini dessen Expressionismus283 betont. Frederick Goldin indes deutet allegorisch-gesellschaftlich.284 Insgesamt zeigt sich die Tendenz, Neidhart vermehrt innerhalb des Systems ‚Minnesang‘ zu betrachten, statt als dessen singulären Wiedergänger wie zuvor. Dafür lässt sich insbesondere die Studie Walter Weidmanns exemplarisch heranziehen, die die sprachlichen und thematischen Vergleiche zwischen Neidhart und der minnesängerischen Klassik auf eine breite Basis stellt.285 Daneben treiben aus zuvor geprägten Studienfeldern abgeleitete Untersuchungen die bekannten Fragen weiter voran, wenn beispielsweise einerseits Neidharts Riuwental im 20. Jahrhundert ebenso wie im vorangegangenen286 geografisch festzuschreiben versucht wird: Alban Stöckli und Theo Schumacher wirken hier maßgeblich;287 und andererseits der Ort als Herkunftsbezeichnung bei Wiessner verschwindet. Dieser Aufschwung der Trennung verschiedener Ebenen im Autor-Figuren-Konstrukt ‚Neidhart‘ hat sich jedoch auch zur Zeit Simons gegenüber der Ineinssetzung

|| Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1(1928/1929), S. 269–273. Ders.: Art. Neidhart von Reuenthal. In: VL 3 (1943), Sp. 501–510. 282 Vgl. Richard Alewyn: Naturalismus bei Neidhart von Reuental. In: ZfdPh 56 (1931), S. 37–69. 283 Vgl. Fritz Martini: Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Halle an der Saale 1944 (DVjs Beihefte. 27), S. 41–92. 284 Vgl. Frederick Goldin: Friderun’s Mirror and the Exclusion of the Knight in Neidhart von Reuental. In: Monatshefte 54 (1962), S. 354–359. Vgl. zur Spiegelmetapher weiterführend Kristina Kuhn: Art. Spiegel. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern (2008), S. 375–388 sowie zum Spiegelraub bei Neidhart Dorothee Lindemann: Studien zur Neidhart-Tradition. Untersuchungen zu den Liedern c 2, 8 und 15/16 der Berliner Handschrift c (Edition und Kommentar), zum Spiegelraubmotiv und zu den Fürst-Friedrich-Liedern. Herne 2004, S. 171–205. 285 Vgl. Walter Weidmann: Studien zur Entwicklung von Neidharts Lyrik. Basel 1947 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur. 5). Dieser nimmt aber zugleich – und auch das ist für die betreffende Forschungsperiode nicht ungewöhnlich – dennoch nicht Abstand von psychologisierenden Deutungen, vgl. Weidmanns Einschätzung Neidharts als Zerrissenem. Vgl. ebd., S. 7 u. 15. Hierher gehört auch die Herleitung der Neidhartlieder aus Mairitualen und Kulten. Vgl. im Einzelnen Arthur Thomas Hatto: The Lime-Tree and Early German. Goliard and English Lyric Poetry. In: MLR 49 (1954), S. 193–209, hier S. 205–207 u. 209. Edmund Wiessner: Berührungen zwischen Walthers und Neidharts Liedern. In: ZfdA 84 (1953), S. 241–264. 286 Vgl. im Einzelnen Wackernagel, Herr Nithart. Bleck, Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder als Grundlage für seine Biographie, S. 284–288. Dagegen verortet Friedrich Kainz Neidhart in der Oberpfalz. Vgl. Friedrich Keinz: Zur Frage nach Neidharts Heimat. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse 1887. Bd. 2. München 1888, S. 38–42. Vgl. dazu ferner im Einzelnen ders.: Beiträge zur Neidhart-Forschung. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse 1888. Bd. 2. München 1889, S. 309–326. Die Lieder Neidharts von Reuenthal. Auf Grund von M. Haupts Herstellung zeitlich gruppirt, mit Erkl. und einer Einl. von ders. Leipzig 1889. Ders.: Nachtrag zur Neidhart-Ausgabe, München 1889. 287 Vgl. im Einzelnen Alban Stöckli: Neidhart von Reuental. Ein Beitrag zur Literatur-Geschichte des Aargaus. Wohlen 1938. Theo Schumacher: Art. Reuental. In: BNF 11 (1960), S. 91–95.

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der Autorfigur mit dem sich äußernden Ich noch nicht vollständig durchgesetzt:288 „Es verbleibt uns wohl nur die resignierende Feststellung, daß Neidhart ein Berufsdichter war, über dessen Herkunft wir nichts wissen.“289 Aus heutiger Sicht konsequenter wäre es wohl zu sagen, dass es sich bei Neidhart um ein Autorenkonstrukt handelt, das sich als verarmten Ritter darstellt und über dessen Urheber wir nichts wissen. So suchen denn Jessika Warning290 sowie Edith und Horst Wenzel291 schließlich auch nach einem abstrakten historischen Autor. Diese Tendenz wird bereits deutlicher bei Heinz Thoelen, der sich schon in den 1960er Jahren zwar einerseits noch für den historischen Dichter als Sänger der Aufführung, aber bereits ebenfalls für die Trennung der Riuwentaler-Rolle und eines Kreuzzugs-Ichs vom Autor ausspricht.292 In eine ähnliche Richtung der Abstraktion bewegt

|| 288 Dies sollte auch lange Zeit noch nicht vollständig umgesetzt werden, wie die Arbeit Blecks zeigt, die ihrem Habitus und Neidhartbild nach auch durchaus ein Jahrhundert früher hätte entstehen können. Vgl. Bleck, Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder. Nicht unähnlich gestalten sich die Bemühungen Hages-Weissflogs, Bertaus, Lendles und in Ansätzen auch Tomaseks. Vgl. Elisabeth Hages-Weissflog: Zu Neidharts Sommerlied 12 und Winterlied 37. In: ZfdPh 117 (1998), S. 346–360. Bertau, Neidharts „Bayrische Lieder“ und Wolframs ‚Willehalm‘, S. 172, wo Bertau vermutet, dass es sich bei Neidhart um einen nicht-ritterlichen, erzwungenen Kreuzfahrer handelte. Dieter Lendle: Typus und Variation. Untersuchungen zu den Liedern Neidharts von Reuental. Diss. masch. Göttingen 1972, hier S. 247, der zwar zugibt, dass Neidharts Dichtung nichts Erlebtes widerspiegelt, aber trotzdem von einem Besitz des Dichters mit Namen Riuwental ausgeht. Tomas Tomasek: Die Kunst der Variation. Neidharts Lyrik am Beispiel von Sommerlied 14. In: Germanistische Mediävistik. Hrsg. von ders., Volker Honemann. Münster 1999 (Münsteraner Einführungen Germanistik. 4), S. 205–225, hier S. 220, wo Tomasek eine lateinische Schulbildung Neidharts annimmt. 289 Simon, Neidhart von Reuental, S. 78. 290 Warning geht davon aus, dass der von ihr definierte Überlieferungskern *RC/RB dichter am historischen Autor operiert als die spätere Überlieferung, was zunächst nach klassischer Archetypensuche klingt. Doch da sie ebenfalls zugesteht, dass dieser Kern nur aufgrund seiner vorgeordneten Position trotzdem noch keinen direkten Zugriff auf den Autor erlaubt, kann sie sich von diesem Verdacht zunächst befreien. Dennoch empfiehlt sie für eine mögliche Suche nach dem historischen Autor sowohl metrische wie musikalische Untersuchungen, womit klar wird, dass für sie nicht nur die Kernüberlieferung und das Kernprinzip der Dekonstruktion korpusbestimmend sind, sondern auch eine Form von Kernautor, dessen Identität sie als die eines intellektuellen Künstlers umreißt, der literarisch versiert wiederholt und variiert. Vgl. Jessika Warning: Neidharts Sommerlieder. Überlieferungsvarianz und Autoridentität. Tübingen 2007 (MTU. 132), S. 225f. u. 231f. 291 Die Autoren beschäftigen sich aus der Erkenntnis heraus, dass im Falle Neidharts die Vorstellung des Autors an den Textvarianten erstickt, mit den unterschiedlichen Neidhartbildern, die durch die jeweiligen Textzeugen entworfen werden. Da ihr Schluss lautet, dass schon das 12. Jahrhundert folglich den Autor als Diskursinstanz berücksichtigte, ist ihr Autorbegriff ein gegenüber dem historischen Autor abstrahierter. Vgl. Edith Wenzel und Horst Wenzel: Die Handschriften und der Autor. Neidharte oder Neidhart? In: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik. Festschrift für Helmut Tervooren. Hrsg. von Johannes Spicker [u. a.]. Stuttgart 2000, S. 87–102, hier S. 91 u. 98. 292 Vgl. Heinz Thoelen: Neidhart. Der Dichter und sein Publikum. Diss. masch. Köln 1969, S. 11, 25 u. 79.

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sich dergleichen die Deutung des liedinternen Boten – dazu unten mehr – als Minnesanginventar statt realistisch verwendetem Kommunikationsmittel.293 Diese Tendenz zur Ebenentrennung hat gemeinsam mit der zum Eingeständnis der blinden Flecken des Komplexes und einem mentalitätsgeschichtlich wie kulturtheoretisch fundierten Interesse294 Anteil an den entscheidenden Bewegungen des weiteren Diskurses. Aber auch die Systematisierung der Neidhartlieder, die eine eigentümliche Regelhaftigkeit aufzuweisen scheinen, obwohl sie die Sichtachsen des konventionellen Minnesangs invertieren, gehört zu den maßgeblichen Bemühungen dieses Kontexts, wofür insbesondere Kurt Ruh federführend wirkt.295 Dessen auf einer breiten Materialbasis erarbeiteten Einblicke in die vorgefertigten Rollenmuster des Neidhartkomplexes sind nicht nur für die Neidhartforschung insgesamt fundamental, weil sie für die Basaltypen von Liliencrons und Haupts (SL und WL) eine mit || 293 So sind Weidmann und Wiessner der Meinung, dass es sich bei dem von Neidhart beauftragten Boten lediglich um Minnesanginventar handelt, während Wentzlaff-Eggebert die Auffassung vertritt, Neidhart spreche hier von einem tatsächlich nach Landshut geschickten Boten. Vgl. im Einzelnen Weidmann, Studien zur Entwicklung von Neidharts Lyrik, S. 58–60. Wiessner, Kommentar zu Neidharts Liedern, S. 24. Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters, S. 398. 294 Vgl. Peters, Philologie und Texthermeneutik, S. 452 u. 454. Ebenfalls kritisch zu Versuchen des direkten Rückbezugs auf historische Realitäten äußert sich Ursula Schulze, die einen Rekurs auf mentalitätsgeschichtliche Aspekte jedoch gelten lassen will und anhand dessen zur intensiven Überprüfung der bisherigen Erkenntnisse aufruft. Vgl. Ursula Schulze: Zur Frage des Realitätsbezuges bei Neidhart. In: Neidhart, hrsg. von Brunner, S. 274–294 (= In: Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976. Hrsg. von Alfred Ebenbauer [u. a.]. Wien 1977 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie. 10), S. 197–217), hier S. 274, 291 u. 293 der Ausgabe von 1986. Vgl. zu diesen Entwicklungen auch beispielhaft Petra Giloy-Hirtz: Deformation des Minnesangs. Wandel literarischer Kommunikation und gesellschaftlicher Funktionsverlust in Neidharts Liedern. Heidelberg 1982 (Euphorion Beihefte. 19). Jürgen Schneider: Die Lieder Neidharts in ‚wort‘ und ‚wise‘ im Spätmittelalter. Das Werden einer neuen Gattung, Reflex einer gesellschaftlichen Umstrukturierung? In: Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Franz V. Spechtler. Amsterdam 1984 (Chloe. 1), S. 231–248. Jutta Goheen: Mittelalterliche Liebeslyrik von Neidhart von Reuental bis zu Oswald von Wolkenstein. Eine Stilkritik. Berlin 1984 (Philologische Studien und Quellen. 110). Victor Millet: Der Mutter-Tochter-Dialog und der Erzähler in Neidharts Sommerliedern. In: Frauenlieder. Cantigas de amigo. Internationale Kolloquien des Centro de Estudos Humanísticos der Faculdade de Letras (Universidade do Porto) und des Fachbereichs Germanistik (Freie Universität Berlin). 6.11.1988 in Berlin. 28.–30.3.1999 in Apúlia. Hrsg. von Thomas Cramer [u. a.]. Stuttgart 2000, S. 123–132. Jörn Bockmann: Translatio Neidhardi. Untersuchungen zur Konstitution der Figurenidentität in der Neidhart-Tradition. Frankfurt am Main 2001 (Mikrokosmos. 61), S. 323 u. 327. Kay Malcher: Wo der „ungevüege munt“ klagt. Dialogische Potentiale beim Übergang von Neidhart „WL 17“ zu ‚SNE I: R 32‘. In: Aspekte einer Sprache der Liebe, hrsg. von Münkler, S. 293– 316. Vgl. dazu resümierend Ursula Peters: Neidharts Dörperwelt. Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hrsg. von Martin Huber, Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 445–460. 295 Vgl. Ruh, Neidharts Lieder.

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Differentialdiagnosen verfeinerte Relektüre zur Verfügung stellen, sondern auch für die vorliegende Untersuchung, weil sie die Naturgesetze des Neidhartuniversums benennen, ohne daraus Schlüsse auf Gebiete außerhalb der diegetischen Sphäre zu ziehen, wie die tatsächliche Einstellung des Neidhart-Autors zu Bauern oder Ähnliches. Was Ruh in mit zahlreichen Belegen unterfütterten Übersichten sammelt, die sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie die Rollen des Ichs, der vrouwe, der dörper, des Sängers etc. topisch-systematisch als vorgefertigte Muster von figürlichen Verhaltensweisen verstehen, die in den Liedern miteinander ins Spiel gebracht werden – also nicht theatral, wie der Begriff unten in der Aufführungsdebatte noch zum Diskussionsgegenstand wird – dieses Inventar Ruhs also ist, was in den folgenden Betrachtungen oftmals als Neidharttopoi relationiert wird: „Der sozialen Herkunft nach ist die vrouwe immer ein Bauernmädchen. […] Die agierenden dörper […] werden fast durchwegs mit Namen genannt. […] Dörper sind im Regelfall des Sängers Rivalen.“296 Grundlegend ist indes die weiterhin parallel vorangebrachte Forschung mit vorwiegend überlieferungskritischem oder handschriftenfokussiertem Interesse297 sowie – und das ist der vorliegenden Fragestellung nach insbesondere interessant – jene, die narratologisch und performanztheoretisch perspektiviert. Narratologische Überlegungen sind dabei indes nicht so neu wie angesichts des jungen Theoriefelds der narratologischen Lyrikanalyse vielleicht zu erwarten wäre, denn Peter Bründl stellt schon in den 1970er Jahren Thesen zum Zeitgerüst der Lieder und ihrem Drängen in die Erzählung auf,298 was von Hildegard Janssen in Form ihrer Einordnung Neidharts zwischen Lyrik und Epik bestätigt299 und durch Anna Kathrin Bleuler endlich genauer untersucht wird, indem diese den Erstbefund auf oszillierende Räume und zyklische Zeiten innerhalb der Sommerlieder Neidharts || 296 Vgl. ebd., S. 121. 297 Vgl. im Einzelnen Müller, Die Kreuzfahrten der Neidharte. Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen 1995 (Bibliotheca Germanica. 32) (sowie dazu weiterführend Elisabeth Lienert: Rezension zu Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. In: IASL 24 (1999), S. 158–161 und Johannes Spicker: Rezension zu Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. In: Arbitrium 15 (1997), S. 306–309). Jan-Christian Schwarz: „derst alsô getoufet daz in niemen nennen sol“. Studien zu Vorkommen und Verwendung der Personennamen in den Neidhart-Liedern. Hildesheim 2005 (Documenta onomastica litteralia medii aevi. Reihe B. 4). Müller, Erschließungen eines Textkorpus für Forschung und Lehre. Ingrid Bennewitz: Wolfram und Neidhart. Begegnungen von „Freunden“? In: Text analyses and interpretations. In memory of Joachim Bumke. Hrsg. von Sibylle Jefferis. Göppingen 2013 (GAG. 776), S. 237–246. In einem weiteren Beitrag nimmt die Autorin auch den Forschungszweig um Walther und Neidhart nochmals auf, vgl. dazu dies., Walther und Neidhart. Vgl. weiterführend für eine Bewertung der vollendeten SNE Wachinger, Wie soll man Neidhart-Lieder edieren. 298 Vgl. Peter Bründl: unde bringe den wehsel, als ich wan, durch ir liebe ze grabe. Eine Studie zur Rolle des Sängers im Minnesang von Kaiser Heinrich bis Neidhart von Reuental. In: DVjs 44 (1970), S. 409–432, hier S. 422. 299 Vgl. Hildegard Janssen: Das sogenannte ‚genre objectif‘. Zum Problem mittelalterlicher literarischer Gattungen dargestellt an den Sommerliedern Neidharts. Göppingen 1980 (GAG. 281), S. 52 u. 72.

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zurückführt.300 Dabei ist die Studie Bleulers für die sich anschließende Betrachtung aus mehreren Gründen von Interesse – allgemein sicher, weil sie rezent und auf die Grundlagen narrativer Prozesse fixiert ist, aber ebenso sehr insbesondere, weil sie die Rolle des Präteritums als narrativen Marker unterstreicht und über die Bilanz „narrativ entfaltbare[r] bzw. entfaltete[r] Themen“301 auf eine Hintergründigkeit der Erzählstrategie in Liedern des Neidhartkontexts deutet, die auch die nachfolgende Untersuchung entdecken zu können glaubt. Zugleich erkennt Bleuler, wie angedeutet, auch die kippende Unfestigkeit der liedintern dargestellten Raumstrukturen sowie Tempuszirkel, deren Nichtlinearität eher zum Gesprächslied als zum Erzähllied – zwischen diesen beiden Positionen verortet die Autorin die Sommerlieder302 – passen will, aber Bleuler setzt diese Befunde nicht in eine auf das Erzählen der Lyrik ausgerichtete Matrix ein, sondern nutzt sie, um synchrone wie diachrone Vergleiche der Textzeugen und Überlieferungsschichten im Sommerliedkorpus anzustellen. Daher verdanken die folgenden Betrachtungen der Studie Bleulers zwar ihr erneut verstärktes raum-zeitliches Interesse, wollen diese Betrachtungsebene darüber hinaus aber nochmals zwischen der metaphorischen, topischen und – früher oder später auch – performanzinternen positionieren, weshalb Bleulers Konzentration auf raum-zeitliche Bezüge ihnen mehr Einstieg als Interpretationsfolie bietet. Im Forschungsverlauf des Neidhartkomplexes hat sich im Wesentlichen also gezeigt: Angesichts der besonderen Fluidität des Gegenstands befremden gerade solche Beiträge, die zu einer umfassenden und einheitlichen Lösung gelangen wollen. Es sei an Bleck erinnert, der – um gegen alle Textwidersprüche an seinem biografistisch fundierten Ich festhalten zu können – 1998 beispielsweise die These aufstellt,303 Neidhart sei über Jahre hinweg zwischen Landshut als seiner Wirkungsstätte und Riuwental, wo seine Frau gewohnt habe, in zwei Wegstunden hin und her gependelt. Der ergebnisoffene Umgang mit der Überlieferung und den vorgängigen Forschern hat demgegenüber gerade durch sein bescheideneres Eingeständnis nicht final zu erhellender Bereiche auf beachtliche Ergebnisse geführt. Die verschiedenen Interessenbereiche des Diskurses – Autor,304 Kulturtheorie, Überlieferung, Narratologie

|| 300 Vgl. Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters. Tübingen 2008 (MTU. 136), S. 120–141. 301 Ebd., S. 42. 302 Vgl. ebd., S. 102. 303 Vgl. Bleck, Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder, S. 284. 304 Der Autor verliert dabei im Fortgang des Fachdiskurses wohl am meisten an Interesse. Diese Bewegung kennzeichnet allerdings nicht nur den Neidhartkomplex, sondern stellt eine übergreifende Verschiebung dar, von der durch seine herausragende Quellen- und Urkundenlage allein Johannes Hadlaub ausgenommen sein mag. Vgl. hierzu die Aufarbeitung der historischen Zeugnisse zu Johannes Hadlaub bei Max Schiendorfer, so etwa Max Schiendorfer: Biographische Spuren Hadlaubs. In:

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etc. – unterliegen dabei den üblichen wissenschaftsgeschichtlichen Vorannahmen, wobei manche Trendinhalte durchaus schon weit früher erkannt wurden als ihr Trend, wie narratologische Schwerpunktsetzungen verdeutlichen. Ihnen wollen sich nun auch die folgenden Abschnitte verstärkt widmen, nachdem die vorangegangenen Ausführungen dazu dienten, zum einen einen groben Überblick über Themen und Fragen der Neidhartforschung zu geben und zum anderen die Position eines in der Erzählforschung fundierten Erkenntnisinteresses in ihr anzudeuten: Diese gestaltete sich als keineswegs so vordergründig, wie vielleicht zu vermuten gewesen wäre, zieht man in Betracht, welchen Stellenwert sowohl geographisch – also räumlich – oder aber biografisch – also zeitlich – orientierte Perspektiven einnehmen. Doch trotz des Lebensweg-Basisnarrativs bleibt die biografische Legende Neidharts als solche zumeist unreflektiert: Es erfolgen kaum im Erzählen gegründete Wortmeldungen. Dabei ist dem Neidhartkomplex wiederholt eine besondere Objektivität bzw. Realität bescheinigt worden305 und bereits ein oberflächlicher Blick in einige Lieder zeigt deren Hang zum Einbezug zusätzlicher Figuren, von denen erzählt wird, sowie verschiedener Handlungsorte, in die diese Erzählungen eingefügt werden.306 Wie schon in den obigen Abschnitten sollen im Folgenden nur einige wenige Lieder im Mittelpunkt der näheren Untersuchung stehen. Erklärte sich dies oben mit dem Exempelcharakter der vorgestellten Inhalte, so liegt der Grund für dieses Vorgehen innerhalb des Neidhartkorpus in den Liedtypen: Korrespondierend zu den obigen Abschnitten zum Kreuz- und Tagelied interessiert sich der Fortgang der Untersuchung freilich insbesondere für die Aktualisierungen dieser beiden Subtypen innerhalb Neidhart’scher Parameter. Die zu diesem Zweck herausgegriffenen Lieder stellen keineswegs Zentralpunkte307 des Neidhartkorpus dar und so strebt die nachfolgende Untersuchung auch ausdrücklich nicht nach einer Gesamtaussage über den Neidhartkomplex. Dies wirkt mit Blick auf die gründliche Untersuchung zumindest der Sommerliedüberlieferung bei Bleuler auch zum einen kaum notwendig sowie zum anderen kaum sinnvoll angesichts der Blüten, die der Wille zur allumfassenden

|| Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers. Hrsg. von ders. Zürich 1986, S. 198–207 sowie Johannes Hadlaub. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Hrsg. von ders. Göppingen 1990 (GAG. 487). 305 Vgl. oben Uhland, Burdach, Singer. 306 Das Lied von der merfart wird für all dies unten noch ein umfassendes Beispiel bieten, vgl. Abschnitt 2.4.2. 307 Dieser äußert sich wiederum schon darin, dass in der grundlegenden Ausgabe Haupts und Wiessners nur zwei der vier Textbeispiele vertreten sind; die beiden in R überlieferten Lieder nämlich, denen Haupt somit Echtheit zuspricht. Spätestens seit sich die SNE jedoch dafür einsetzte, die traditionellen Vorstellungen zur Echtheit und das daraus resultierende Zwei-Klassen-Denken in der Korpusbildung gründlich zu hinterfragen, scheint es angebracht, nicht nur diese beiden, sondern alle infrage kommenden Lieder in die Untersuchung einzubeziehen.

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Erklärung in der referierten Neidhartforschung teils trieb. Die aus den nachfolgenden Untersuchungen zu ziehenden Schlüsse richten sich also nicht auf einen Autor Neidhart, der als historisch zu bestimmende Person die überlieferten Lieder verfasst hätte, sondern auf einen Neidhartkontext, an dem mutmaßlich verschiedene Individuen zu unterschiedlichen Zeiten mitgewirkt haben. Deren historische Bestimmung wiederum ist weder möglich noch nötig, da die Institution, an die ihr Beitrag zur mittelalterlichen Literatur geknüpft ist, nicht ihre eigene Person, sondern der übergreifende Kontext ‚Neidhart‘ darstellt – oder auch die ‚Gattung GN‘, wie Jürgen Schneider308 diese besondere Überlieferungslage fasst. Damit erfolgt letztlich ein ähnlichermaßen auf ein System der dichterischen Äußerung perspektivierter Zugriff wie der Michael Titzmanns, der den Minnesang und den Neidhartkomplex als zwei Sprachsysteme ‚MS‘ und ‚N‘ interpretiert, die ausreichend distinkt sind, damit ‚N‘ Umstrukturierungen an ‚MS‘ vornehmen kann, die sich in einer Verdopplung der Antwortmöglichkeiten, Füllung von Leerstellen und einem Hinterfragen des Offenhaltens von Kategorien äußern.309 Zu betonen ist indes gegenüber der Herangehensweise Titzmanns der topische Fokus des Folgenden, der schon oben in Bezug auf Ruh hervorgehoben wurde und der den Gesichtspunkt literarischer Reihen – wie oben schon ausgeführt: nicht unbedingt chronologisch ausgerichtet – gegenüber Titzmanns Operatorenperspektive stärkt. Relevant ist Titzmanns Beitrag für das Folgende dennoch und zwar, weil er einerseits Beispielcharakter für eine strukturalistisch-systemtheoretische Untersuchung in Bezug auf den Neidhartkomplex hat und zum anderen dennoch auf die Aufführungssituation nicht eingeht, die im Teil 3 den Hauptgesichtspunkt eines systemtheoretischen Bezugs der vorliegenden Studie bilden wird. Wenn man allerdings den Minnesang oder auch den Neidhartkomplex mit Titzmanns Zugriff im Hinterkopf betrachtet, dann erschließt sich

|| 308 Vgl. Jürgen Schneider: Studien zur Thematik und Struktur der Lieder Neidharts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Forschung. Neuansätze einer Interpretation der Liedaussagen unter literatursoziologischen Aspekten. Teil I. Göppingen 1976 (GAG. 196), S. 82, 171, 176, 187 u. 315 sowie besonders S. 196. Die Praxis, Lieder Neidharts in einer eigenen Gattung zu verorten, hat Tradition. Hildegard Janssen empfiehlt Ähnliches im Rückgriff auf Bründl und Schneider. Diese beziehen sich wiederum unter anderem auf Hanns Fischer, dessen Einleitung aus den 1960er Jahren von einer „Neidhartischen Gattung“ spricht und auch der ATB-Ausgabe von 1999 noch beigegeben ist. Vgl. dazu im Einzelnen Hanns Fischer: Einleitung. In: Die Lieder Neidharts. 5., verbesserte Auflage. Hrsg. von Edmund Wiessner, Hanns Fischer, Paul Sappler. Mit einem Melodieanhang von Helmut Lomnitzer. Tübingen 1999 (ATB. 44), S. IX–XLII, für das Zitat S. XVII. Janssen, Das sogenannte ‚genre objectif‘, S. 60f. Peter Bründl: Minne und Recht bei Neidhart. Interpretationen zur Neidhartüberlieferung. München 1972, S. 14. Eine weitere Quelle dieses Ansatzes, die Schneider möglicherweise auch zu seiner formalistisch anmutenden Gattungsbezeichnung GN (bzw. G1N und G2N) inspiriert, dürfte Michael Titzmann sein, der 1971 von Neidhart als Gattung N spricht. Vgl. dazu Michael Titzmann: Die Umstrukturierung des Minnesang-Sprachsystems zum ‚offenen‘ System bei Neidhart. In: DVjs 45 (1971), S. 481–514, hier S. 481. 309 Vgl. Titzmann, Die Umstrukturierung des Minnesang-Sprachsystems, S. 499.

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vielleicht eher, was damit gemeint ist, wenn im Folgenden die Position der jeweils zu betrachtenden Lieder innerhalb ihres ‚Kontexts‘ – Titzmann würde es ‚System‘ nennen – anhand der verwendeten Elemente bestimmt werden soll; der neidharttypischen ebenso wie der tage- und kreuzliedtypischen. Damit orientiert sich diese Bestimmung ebenso an Titzmanns Vorstellung eines Systems – wenn sie seinen Begriff aufgrund der späteren Anwendung von Luhmanns Systemtheorie auch nicht übernimmt – wie an Ruhs Rollenbestimmungen oben, deren Terminologie mit derselben Begründung nicht integrierbar ist. Wie oben anhand der neidhartspezifischen Raum- und Zeitbeziehungen andere narrative Mechanismen als erwartbar dargestellt wurden, so kann auch die Ausformung der Nähe und Distanz nicht unberührt bleiben von den Variationen, die der Neidhartkontext vornimmt: zum einen, weil sich in der bisherigen Untersuchung zeigte, dass die liedintern inszenierten Raum- und Zeitverhältnisse für die auf histoire-Ebene dargestellte Nähe und Ferne maßgeblich sind; zum anderen, weil Neidhart darüber hinaus auch die vertrauten Parameter der Minnebeziehung ändert. So gerät das sich äußernde Ich hier teils zum erträumten Zielpunkt der Lüste und Wünsche der weiblichen Figuren (Gespielinnen-Dialoge), teils gestalten sich die Modi der Beziehungsaufnahme zum Objekt der Begierde wesentlich handfester als in der Hohen Minne (Flachsschwingerin in SNE I R31) und insgesamt ist der Tabubruch erlebter Erfüllung (Mutter-Tochter-Dialoge) nur um den Preis des Verlusts exklusiver Intimität zu haben. Schließlich ist die Beziehung zwischen dem vom Riuwental und seiner Angebeteten nicht mehr durch enthaltsame triuwe und sittliche Integrität beschreibbar, wie die körperliche Wehrhaftigkeit der Angebeteten und die freche Übergriffigkeit des Subjekts nur zu deutlich zeigen (SNE I R31). Erfüllte Körperlichkeit scheint folglich wie im Tagelied nur als Illusion und auf Kosten der inneren Nähe des gedenkenden Minnesangs möglich zu sein, wie sie Friedrich von Hausen etwa in Ich denke underwîlen (MF 51,33) vorführte. Soviel sei der folgenden Untersuchung der Metaphern-, Zeit- und Raumstrukturen anhand der vier Neidhartlieder c114, R12, R19 und c35 nur einführend vorausgeschickt.

2.4.1 Das Tagelied c114 Das Lied Ein tagweis ist in Verbindung mit dem Namen Neidhart als c114 unikal in Handschrift c überliefert, laut der SNE insgesamt jedoch in fünf Handschriften belegt, von denen A, E und Ux310 das Lied Walther von der Vogelweide zuschreiben, C

|| 310 Diese als ‚Wolfenbütteler Fragment‘ bekannte Pergamenthandschrift aus dem Braunschweiger Raum des 13. Jahrhunderts wird von den Herausgebern der SNE zwar verwendet, unter den Handschriftensiglen jedoch nicht geführt. Vgl. dazu aufklärend Christoph Cormeau: Einleitung. In:

208 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

hingegen Rudolf von Rothenburg. Dem schließen sich auch von der Hagen und von Kraus in ihren Ausgaben an. Die Handschrift c bietet zudem als einziger Textzeuge eine dreistrophige Version, wo die anderen Handschriften vier- und fünfstrophige Lieder in unterschiedlicher Strophenfolge geben. Diese unterscheiden sich zum Teil in einer Art und Weise vom in c überlieferten Bestand, die mit einer Abweichung „in jeder Hinsicht“311 gleichermaßen profund wie missverständlich beschrieben ist. So weicht die Liederdichter-Version des Liedes in den gemeinsamen Strophen abgesehen von ihrer veränderten Reihenfolge in einem Umfang ab, der sich zwar auf ersetzte Wörter und umgestellte Verse erstreckt, nicht aber auf eine Veränderung markanter Formulierungen oder gar des Sinns. Einen eigenen Akzent setzt das Lied hier lediglich in den zusätzlichen Strophen, was ähnlich auch für die Walther-Version gilt, die Bein als Ton 101312 führt. Im Neidhartkontext der Handschrift c zeigt sich c114 somit als dreistrophiges Lied313 mit sechs Versen je Strophe, aufgeteilt auf einen paarigen und einen kreuzenden Reim. Dieses Schema wird nur verlassen, wenn in SNE II c114, I,3 und I,5 alzeit und nimer eine sinnhafte anstelle einer klanglichen Korrespondenz bilden. Quelle der Äußerung ist eine sich schlicht als ‚Ich‘ bezeichnende Instanz und es gibt keinen Anlass, die Einheit dieser Äußerungsquelle über die drei Strophen hinweg anzuzweifeln. Als Tagelied jedoch, das c114 seiner Selbstbezeichnung nach zu sein behauptet, ist das Lied derart untypisch, dass eine Gattungszugehörigkeit aufgrund innerer Merkmale durchaus infrage gestellt werden könnte. Passenderweise findet sich allerdings in einer der Bilanzstrophen314 zu WL 30, das nicht nur in c (c90), sondern auch in R (R20) vertreten ist und folglich selbst in den Augen kritischer Forschungsgrößen wie Benecke, von Liliencron oder Haupt einiges Gewicht beanspruchen darf, der folgende Hinweis: Vier und hundert weis, die ich gesungen han / von newn die der werlt

|| Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Aufgrund der 14., von Christoph Cormeau bearbeiteten Ausgabe neu hrsg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Edition der Melodien von Horst Brunner. Berlin 2013, S. XV–XLIV, hier S. XLIIf. 311 Neidhart: Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. Bd. 2: Neidhart-Lieder der Papier-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung. Hrsg. von Ulrich Müller [u. a.]. Berlin 2007, S. 192. 312 Dieses Lied wird in der Manessischen Handschrift Rudolf von Rotenburg zugeschrieben, woraus sich bei Bein sowohl die Platzierung im Anhang als auch der Strophennachweis nach KLD statt L ergibt. Die betreffende Bezeichnung lautet dort KLD 49 XII,1–5. Zudem stellt C die hier besprochenen Strophen teils nicht nur um, sondern addiert eine vierte und fünfte. Ähnlich verfahren die Handschriften A, E und Ux, die als Autor jedoch Walther bezeichnen. Die Handschrift c allein schreibt das Lied Neidhart zu und bietet eine lediglich dreistrophige Version. 313 Ein Komplettabdruck des Liedes findet sich in Abschnitt 3.4. 314 Vgl. dazu Günther Schweikle: Neidhart. Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler. 253), S. 94.

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 209

noch niht volkumen sein, / und ein tagweis: niht mer meins gesanges ist (SNE I R20, hier die Parallelstrophe c90, XII,1–3). Und so ist es auch aufgrund der einander verhältnismäßig nahen Überlieferung beider Lieder in c ansprechend, von einem Bezug auszugehen, wenn Günther Schweikle ihn auch infrage stellt315 – Ulrich Müller316 befürwortet ihn. Diese Befürwortung lässt sich durch eine inhaltliche Überlegung stützen, die nicht ausschließt, dass das Lied dennoch durch eine die Handschrift c konstituierende Instanz lediglich in den Neidhartkontext eingebettet wurde, ohne ursprünglich für ihn – geschweige denn durch einen historischen Autor Neidhart – erdacht worden zu sein. Doch zum einen lässt sich durch eine solche Eingliederung der andernfalls offene Verweis aus c90 mit einem Objekt beschließen und zum anderen wäre somit auch für die unterschiedliche Autorzuordnung des Liedes ein Erklärungsansatz geleistet. So kann zugleich die variante Autorzuschreibung des Liedes entproblematisiert und der vorgeschlagene Autorbegriff des Neidhartkontexts weiter gestützt werden. Zudem ist c114 als Tagelied so außergewöhnlich, dass eine Einbettung in den Neidhartkontext, der sich dadurch auszeichnet, die Traditionen und Muster des Minnesangs zu hinterfragen und umzudeuten, gerade sinnvoll und schlüssig wirkt. Untypisch ist an c114 vielerlei, selbst wenn mit Ulrich Müller317 und nach den obigen Ausführungen318 nicht von einem im normativen Sinne verpflichtenden Charakter mittelalterlicher Gattungsbezeichnungen ausgegangen wird. Denn von der Tageliedsituation – dem anbrechenden Morgen nach durchliebter Nacht, an dem das Tageliedpaar sich voller Klagen trennen muss, nachdem ihm durch die Natur oder den Wächter der heraufziehende Tag angekündigt wurde319 – ist bei Neidhart320 nur wenig wahrnehmbar. Die in c114 geschilderte Situation findet zwar offenbar auch morgens statt, wie die Verse Got geb der lieben guten tag, / […] / also sprich ich alzeit / an dem morgen fru (SNE II c114, I,1–4) verdeutlichen, doch das Subjekt scheint bereits von seiner Geliebten getrennt zu sein: die ich anders nit gegrussen mag (SNE II c114, I,2); Do ich aller jungst von ir schied (SNE II c114, II,1). Nachdem Strophe eins der Beschreibung des Gedenkens und der dazugehörigen Rituale gewidmet ist, erinnert das Subjekt sich in Strophe zwei an ein vergangenes Treffen mit seiner Geliebten. Bei dieser Gelegenheit hat sie es angewiesen, weitere Lieder zu schreiben und ihr zu senden, doch dazu mangelt es der sich äußernden

|| 315 Vgl. ebd. 316 Vgl. Müller, Die Kreuzfahrten der Neidharte, hier S. 40. 317 Vgl. ebd. 318 Vgl. Abschnitt 1.1.1. 319 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 320 Gemeint ist diese Zuordnung in einem Sinne, der den Ausführungen entspricht, die zuvor in Bezug auf eine Autorinstanz dargelegt wurden. Folglich bezeichnet die Bestimmung eine Einordnung in ebenjenen Kontext, nicht aber das Wirken eines einzelnen historischen Autors, womit – zumindest im Falle Neidharts – die Rede vom Autor keine wörtliche, sondern eine übertragene ist.

210 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Instanz nun an einem geeigneten Boten. Ein nicht geringes Problem! Doch es wird nicht weiter geklagt, sondern stattdessen in Strophe drei von einer zweiten Begebenheit berichtet, die im liedinternen Zeitgeschehen nach der Trennungsszene in Strophe zwei stattgefunden haben muss. Nicht zwingend bildet sie aber auch das Ende dieses Geschehens, da in Strophe eins schließlich die Überzeitlichkeit der dort beschriebenen Gedanken und Rituale betont wurde. Hier nun berichtet das Ich von einem Pilger, der ihm von seiner Dame Nachricht gebracht hat. Diese als Antwort auf die problembehaftete Botschaftsübertragung aus Strophe zwei zu lesen, ist möglich, indes nicht zwingend. Gleichviel, die Dame befindet sich nach der Schilderung des Pilgers jedenfalls wohl und dies zu hören, erfreut auch die Äußerungsinstanz. In dieser tagweis gibt es somit keine körperlich erfüllte Liebesnacht, sondern ein einsam gedenkendes Erwachen des Subjekts, und zugleich ist auch die Zeit, auf die der Aussagewillen des Liedes gerichtet wird, nicht derart begrenzt, wie es sonst in Tageliedern üblich ist.321 Stattdessen bildet das morgendliche Besinnen der Äußerungsinstanz nur eine von drei in der Imagination des Rezipienten hervorgerufenen Begebenheiten. In der Folge kommt der das prototypische Tagelied eindeutig dominierenden Morgensituation nur ein weit geringerer Status in der Wahrnehmung des Subjekts zu. Weiterhin ist die Dame ausschließlich in der Erinnerung des Lyrischen Subjekts gegenwärtig, die Natur und selbst das Tageslicht spielen keine Rolle, es gibt keinen Wächter und kein Klagen. Die vorliegende Äußerungsinstanz setzt somit in Bezug auf das Idealbild des Tagelieds und das obige Schema von Nähe und Distanz in Kreuz- und Tagelied gleichermaßen einen Kontrapunkt.322 Doch da die Umbewertungen, die c114 an der Subgattung des Tagelieds vornimmt, mithilfe des Kreuzlieds erfolgen, ist die explizierte Kippfigur damit nicht zwingend verworfen, sondern es wird eher ein neidharttypisches Spiel mit ihr belegbar. Auf diese Art und Weise setzt der Umgang der Aktualisierung mit jener Figur deren vorgängiges Zugrundeliegen voraus. Schon Ulrich Müller323 ordnet c114 den Neidhart-Kreuzliedern zu und stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei Punkte: Zum einen äußert sich das offenbar glücklich

|| 321 Vgl. hierzu nochmals den Abschnitt 2.3.2. Die Situation des Tagelieds ist der Morgen, der die Trennung erzwingt; nicht die Nacht davor und auch nicht die weitere Verarbeitung der Trennung, die die Liebenden in ihrer Einsamkeit leisten müssen. Das Hineinnehmen der vormorgendlichen Situation wie etwa bei Ulrich von Liechtenstein, der nach dem Vorbild der serena sein Lied schon mit der abendlichen Ankunft des Ritters einsetzen lässt (KLD 58 XL), ist außergewöhnlich und selten. 322 Dieser fügt sich stimmig zur Position der Lieder Neidharts im ‚Gegensang‘, aus der heraus diese neue Geschehensräume schaffen. Vgl. Schweikle, Neidhart, S. 134. 323 Müller verbucht vier Lieder Neidharts als dem Kreuzzugsthema zugehörig: SNE I R12, SNE I R19, SNE II c35 und SNE II c114. Als thematisch fremd teilt Müller SNE II c127 ab, bei dem es sich um die vielstrophige Schilderung eines gewalttätigen Zusammentreffens zwischen Neidhart und einigen Bauern anlässlich einer Kreuzprozession handelt. Diese Unterscheidung wird im Großen und Ganzen zu stützen sein.

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 211

minnende Subjekt räumlich entfernt von seiner Geliebten – obwohl nichts explizit darauf hindeutet, dass diese Entfernung zwischen Heiligem Land und Heimat liegt – und zum anderen ist es ein Pilger, der Nachricht von der Geliebten bringt. Andere Hinweise auf einen Kreuzzugskontext fehlen jedoch ebenso wie die Masse der prototypischen Tageliedmerkmale oben, denn es gibt keine wörtlichen Bezüge auf das Heilige Land oder Jerusalem, keine Reise über das Meer, keine Abschiedsklage und keine Kampfberichte, wie sie die anderen Lieder des Neidhartkontexts noch bieten werden. Der Bezug auf Gott in Strophe eins befiehlt die Dame zwar einer transzendenten Macht an, kann aber nicht mit den Gebeten oder Appellen konkurrieren, die sonst in Kreuzliedern auftreten und durch Guote liute (MF 94,15) beispielhaft veranschaulicht wurden; Hartmanns Dem kriuze (MF 209,25) und Heinrichs von Rugge Kreuzleich (MF 96,1) könnten dazu weiterhin herangezogen werden. Die Nennung des Pilgers erweist sich als geradezu exemplarisch für die schemenhafte Art der thematischen Bezüge zum Kreuzlied in c114: Einerseits wird aus ihr kein umfänglicher funktionaler Nutzen für eine Verstärkung des Kreuzliedcharakters gezogen, andererseits aber hätte der Bote zur Erfüllung seiner Funktion im Lied kein Pilger sein müssen. Folglich zitiert c114 über diesen Kreuzzugsverweis leichthin eine ganze Subgattung an, um mit ihr sodann etwas im Zuge der (Tagelied-)Tradition gänzlich Ungewohntes zu tun – ganz so, wie es der Neidhartkontext wiederum erwarten lässt.324 Das Ergebnis dieser Kombinationen ist in c114 ein Lied, das sich der Subgattungen Tage- und Kreuzlied bedient, ohne sich ihnen dadurch zu verpflichten: Denn statt der tageliedtypischen Ausprägung der ausgeführten Kippfigur, eignet sich das Lied die Verknüpfung von körperlicher Distanz mit gedanklicher Nähe an, die als typisch für das Kreuzlied herausgestellt wurde. Zugleich aber lässt c114 den Kippmechanismus intakt, indem unweigerlich nur eine der beiden Positionen als nah und die jeweils andere als konsequent fern vorgeführt wird. Ebenso intakt bleibt die Stelle des Minnepaarvertrauten, der in c114 jedoch kein warnender Wächter ist, sondern der Pilger im räumlich entrückten Bereich des Subjekts. Er bildet als tageliedkonformer Übermittler basal relevanter Information einen weiteren Punkt, an dem sich das Spiel des Liedes mit den beiden Subgattungen ablesen lässt. Gleiches gilt drittens auch für die Funktionalisierung der Gedankenminne. Sie konzentriert sich infolge der kreuzliedartigen Aktualisierung der Kippfigur als Lösungsansatz für die Problematik körperlicher Entfernung der Liebenden zum einen auf die Nähe der Minnepartner im liebenden Gedenken – wie Strophe eins || 324 Vgl. zu Neidharts Sang als Parodie und Travestie des Hohen Sangs Schweikle, Neidhart, S. 131. Als Beispiele für solch gegensangliche Stellen lässt sich etwa auf SNE I R33 verweisen, das die Rolle des Sängers aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet und sich angesichts seiner breiten Überlieferung in sechs Handschriften offenbar einiger Beliebtheit erfreute. Weitere einschlägige Textstellen wären etwa SNE I C210 in seiner komischen Darstellung der liebestollen Alten und dem waltherähnlichen Refrain oder SNE I R56, das die möglichen Folgen des gimpelgempel thematisiert.

212 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

verdeutlichte – statt auf die tageliedtypisch körperliche Erfüllung. Zum anderen schließt das Lied an diesen Modus der Verbindungsstiftung zwischen den Liebenden weiterhin auch denjenigen an, der über den Sang des Ichs operiert. Diese Ausrichtung auf den Sang stellt einen verbindenden Topos der Minnesang- und Neidharttradition dar, deren spezifische Topoi in c114 überraschend unterschiedlich realisiert sind: Finden sich einerseits einige minnesangliche Topoi wie die weißen Hände der Dame (SNE II c114, II,5)325 und der Frauenpreis326 (SNE II c114, III), so andererseits doch keine der neidharttypischen wie etwa Tanz, Namensnennungen oder Gewalt. Unten wird dies im Kontext von c35 noch genauer ausgeführt. Der Sang aber und seine Distanz überbrückende, Nähe stiftende Funktion in der Minnebeziehung dominieren demgegenüber einen signifikanten Teil des Liedes; etwa in der Überlegung, der Dame einen Boten mit Liedern zu senden, und ihrem Wunsch, das Lyrische Subjekt möge für sie dichten und singen (SNE II c114, II,2f.). Das Lied c114 deutet folglich nicht nur das Tagelied mithilfe des Kreuzlieds um, sondern auch das Konzept der Gedankenminne (SNE II c114, I) mit dem der Sangesminne (SNE II c114, II), womit zum einen die Nähe zum Minnesang offenbar und zum anderen ein Modus der Distanzminderung eingesetzt wird, der einen neuen Grad der Geschlossenheit erreicht. Denn er verbindet sonst getrennt auftretende Techniken, wie MF 51,33 in seiner Konzentration auf die Gedankenminne vorführte und c35 in der Elaborierung des Sangs noch belegen wird. Der angesprochene Umstand einer Erweiterung der tageliedtypischen zeitlichen Festgelegtheit um weitere Szenen ist auch für die vorgestellten Ansätze zur Narrativierung beachtenswert, denn setzt man für das gesamte Lied eine einzige Äußerungssituation an, so gestaltet diese sich folgendermaßen: Im Hier und Jetzt, im nu (SNE II c114, II,3f.), das das Lied evoziert, ist das sich äußernde Ich von seiner Dame getrennt und möchte ihr Nachricht senden. Auf einer davorliegenden Zeitebene, dem do (SNE II c114, II,1), fand die Trennung der Liebenden statt, erging der Auftrag der Dame an das Subjekt, ihr fortan Lieder zu senden, und wurde dem Äußerungssubjekt durch den Pilger die Nachricht überbracht. Diese durch keine weiteren Deiktika markierte Ebene der Vergangenheit muss logisch nach der Trennung, aber noch vor der Liedäußerung liegen. In beiden Strophen (SNE II c114, IIf.) wird zunächst das in der Vergangenheit liegende Ereignis rekonstruiert und sodann auf eine Gegenwart bezogen, aus der heraus das Ich sich äußert: die [Lieder, D.R.] wolt ich ir nu senden (SNE II c114, II,3) bzw. des ist ein liebes mere, / das mir an dem herczen sanft tut (SNE II c114, III,5f.). Auf dieser Zeitebene der liedinternen Gegenwart ist auch Strophe eins anzusiedeln, die in ihrer Überzeitlichkeit allerdings nicht auf diese eine Zeit beschränkt, sondern im

|| 325 Vgl. dazu etwa KLD 20 VII, KLD 30 II, KLD 31 II, KLD 31 III, KLD 31 V, KLD 31 VII. 326 Vgl. Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (Saecula Spiritalia. 34).

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 213

Gegensatz zu den folgenden Strophen auch in Richtung einer zukünftigen Zeit geöffnet wird: also sprich ich alzeit (SNE II c114, I,3). Eine räumliche Fixierung der einzelnen Zeitpunkte bzw. -räume findet nicht statt: Die Trennung der Liebenden, die die Sendung eines Boten notwendig macht, wird nicht weiter begründet oder präzisiert, was die Vortragssituation einerseits vereinfachen dürfte, narrative Ausfaltungen andererseits jedoch erschwert – bzw. eine Möglichkeit der erzählenden Andeutung ungenutzt lässt, die in einer Ausführung der Umstände jener nur attestierten Trennung gelegen hätte. Ähnliches gilt auch für den Themenbereich des Boten, der im Rahmen der Textaussage sogar zweimal die Möglichkeit gehabt hätte, Narrativierungsansätze auszubilden, weil sich seine Funktion als Mitspieler des Subjekts sowohl auf dessen Wunsch erstreckt, Informationen in den Heimatbereich zu befördern, als auch den Erhalt von Informationen aus ebenjenem Bereich. Beide Bewegungen – die der Informationsvermittlung wie die der Figur als Informationsträger – werden durch das Lied jedoch nicht weiter konkretisiert und der erzählbare Inhalt somit in einer Art und Weise impliziert, die einerseits mehr Fragen aufwirft als beantwortet, in der Folge aber andererseits auch so arbeitet, wie es nach den vorangegangenen Ausführungen zur sublimen Hintergründigkeit lyrischer Narrationsansätze wenig überrascht. Gegenüber dieser raum-zeitlichen Möglichkeit, Ansätze einer Narration in das Lied einzuarbeiten, bleiben die anhand der anderen Kreuzlieder explizierten Transzendenzbezüge in c114 hinter etwaigen Erwartungen zurück und ebenso mangelt es auch an Metaphern. Die Formulierung das mir an dem herczen sanft tut (SNE II c114, III,6) hat bestenfalls metonymischen Charakter, möglicherweise gar nur synekdochischen, und kann so keine metaphorisch erzählenden Beziehungen ausformen. Die Figuren, auf die das Lied referiert, sind das Lyrische Subjekt, seine Dame und der Pilger, von denen aber zwei lediglich in der Rede der dritten auftreten, also vermittelt durch das sich äußernde Ich. Dies hat den Vortragseffekt, dass trotz der Verweise auf weitere Bezugsfiguren kein Konflikt zwischen der innerhalb des Liedes beschriebenen Situation und der im Vortrag gegebenen auftreten kann, weil die Präzisierungen in c114 mit einer Situation übereinstimmen, wie sie der Sänger im Vortrag erwarten kann: Ein Ich spricht für sich und vor sich. Da die Interaktionen mit weiteren Charakteren auf einer zurückliegenden Zeitebene imaginiert werden, ergibt sich aus ihrer Abwesenheit kein Problem, sondern eine Erzählmöglichkeit für das Subjekt, indem es sich eine Vergangenheit verleiht. Die Ineinssetzung mit dem Sänger ist deswegen zwar immer noch nicht obligatorisch und wird es auch in Liedern nicht werden, die sich mit dem Sang als Geschäft auseinandersetzen,327 aber sie ist bruchlos möglich. Zu dieser universalen Verwendungsmöglichkeit fügt sich auch der überzeitliche Charakter der Strophe eins, in der || 327 Vgl. etwa Walthers L 64,31f.

214 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

das Ich seiner Dame einen guten Tag wünscht und auch diese Äußerung sogleich entgrenzt: also sprich ich alzeit / an dem morgen fru / und vergiß ir nimer / an dem abent ein gute nacht darczu (SNE II c114, I,3–6). Diese zeitliche Erweiterung leistet somit nicht nur der Szenenvielfalt, sondern auch der Aufführung des Liedes einen entscheidenden Dienst. Trotz der nach Universalität strebenden Offenheit der Parameter arbeiten die Figurenrelationen von c114 an dem vorgestellten diagrammatischen Konstrukt des Kreuzlieds insofern mit, als dass sie in jene übergeordnete Struktur eine neue Variante einarbeiten. In ihr hat sich das männliche Ich bereits in die Ferne begeben und spannt aufgrund dessen seine Minnebeziehung über den Distanzmarker der Entfernung hinweg. Deshalb macht auch nicht wie zuvor der Gewissenskonflikt dieses Subjekts den Hauptbearbeitungspunkt des Liedes aus, sondern die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufrechterhaltung der Minnebeziehung über die körperliche Entfernung hinweg, für die c114 zwei entscheidende Modi vorführt und vereint: singen und gedenken. Folglich liegt mit c114 ein Lied des Neidhartkontexts vor, das zum einen eine ungewöhnliche Verbindung der beiden Subtypen des Kreuz- und Tagelieds leistet, die wesentlich raffinierter ist als vergleichbare Verknüpfungsversuche wie z. B. Ez gienc ein juncfrou minneclîch des Burggrafen von Lienz (KLD 36 I). In diesem Lied hat der Kreuzliedbezug des abschließenden Verses – demnach führt den Tageliedritter sein Weg nach erfolgtem Abschied bis ins Heilige Land – keinerlei Auswirkung auf das restliche Werk des Tagelieds. Zum anderen ist c114 auch deshalb bemerkenswert, weil es die Imagination einer Aufführungssituation zulässt, die sowohl für ein Tagelied, das sonst durch die dargelegten logischen Untiefen von einer möglichen Realität getrennt wird, ungewöhnlich unproblematisch ist als auch für ein Lied des Neidhartkontexts, wie sich im Folgenden noch verdeutlichen wird.

2.4.2 Die Kreuzlieder R12, R19 und c35 Im Anschluss an Ulrich Müller328 werden die im Folgenden betrachteten Beispiele den Kreuzliedern des Neidhartkontexts zugeordnet und Echtheitsdebatten aus den schon dargelegten Gründen nicht geführt. Geht man von einer kollektiven, varianzbasierten Textgenese aus, die sich kreativ dessen bedient, was sie an Texten, Topoi und Sinnkonstrukten vorfindet, um daraus im Neidhartkontext neue Inhalte zu schaffen, dann kann die alte Crux des ‚Autors‘ Neidhart semantisch reicher gefasst und das gesamte Liedmaterial gleichberechtigt in eine Untersuchung einbezogen werden. Eine Aussage darüber, wie weit im Zentrum der Literaturmühle ‚Neidhart‘ das jeweilige Lied steht, ist dabei über anhand der Überlieferungsbreite begründete Vermutungen

|| 328 Vgl. Müller, Die Kreuzfahrten der Neidharte, S. 43–45.

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 215

trotzdem möglich. Aber auch hier geht es um wohlbedachte Skalierung und nicht darum, Linsen aus der Asche zu lesen. Nach diesem Prinzip ist dem nach Haupts Zählung auch als SL 11 bekannten Lied R12 (Ez grunet wol diu haide) eine Position mittlerer Bedeutsamkeit zuzuweisen, denn die Überlieferung ist mit Belegen in R, C, c und M zum einen weit entfernt von einem unikalen Status und zeigt zum anderen innerhalb der Zeugen Varianz der Reihenfolge sowie des Strophenbestands. Eine Sonderstellung der Überlieferungsträger kann zweifellos die Carmina Burana Handschrift clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek München beanspruchen (M), die ausschließlich Strophe eins und zwar als mittelhochdeutschen Anhang zu vier mittellateinischen Strophen überliefert. Damit verleiht sie dem Lied ein gänzlich anderes Gepräge als die drei anderen Zeugen,329 sie wird jedoch im Weiteren keine Rolle spielen; zum einen, weil der Umfang des mittelhochdeutschen Anteils so gering ist, und zum anderen, weil diese Strophe auch in den anderen Handschriften auftritt. Die größte Überlieferungsübereinstimmung zeigt sich mit elf Strophen zwischen R und c, die die ersten sechs Strophen sogar in ungebrochener Reihenfolge bieten.330 Am Ende des Liedes fügt c noch eine zwölfte Strophe hinzu, die anderweitig nicht bezeugt ist, aber von den meisten Editoren aufgenommen wird.331 Die Handschrift C überliefert indes nur acht der elf in R verzeichneten Strophen, wobei SNE I R12, VII und IXf. aus R fehlen. Bemerkenswert ist dies, weil es sich hierbei zugleich um drei der vier Strophen handelt, die in R als Nachträge markiert sind.332 Es könnte also vermutet werden, dass R und C an dieser Stelle auf eine gemeinsame Vorlage zurückgreifen, die die vier Nachtragstrophen aus R noch nicht enthielt. Tab. 1: Übersicht über die Überlieferungslage der Strophen von R12, entnommen aus SNE I

R

C

c

M I II II [sic] IV

|| 329 Vgl. Neidhart: Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke. Bd. 3: Kommentare zur Überlieferung und Edition der Texte und Melodien in Bd. 1 und 2, Erläuterungen zur Überlieferung und Edition, Bibliographien, Diskographie, Verzeichnisse und Konkordanzen. Hrsg. von Ulrich Müller [u. a.]. Berlin 2007, S. 56f. 330 Nach Strophe sechs weicht c von R ab und bietet stattdessen IX, VII, XI, VIII, X bezogen auf die Reihenfolge von R und die in c unikale Strophe XII. 331 Vgl. SNE III, S. 55. 332 Vgl. SNE I R12, VII–X.

216 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

R

C

c

M

I

I (26)

I

V

II

II (27)

II

-

III

III (28)

III

-

IV

VI (31)

IV

-

V

VII (32)

V

-

VI

VIII (33)

VI

-

N (VII)

[36]

VIII

-

N (VIII)

V (30)

X

-

N (IX)

[34]

VII

-

N (X)

[35]

XI

-

XI

IV (29)

IX

-

-

-

XII

-

Hinsichtlich der Reihenfolge lässt sich festhalten, dass C zwar in den drei Eingangsstrophen zunächst mit R konform geht, über die Reihenfolge der nächsten fünf Strophen jedoch auch den R-Sinn verändert: Durch den Vorzug der elften R-Strophe auf Position vier in C (I, II, III, XI, VIII, IV, V, VI) wandern maßgebliche Inhalte vom Ende des Liedes in dessen Mitte: die Transformation des Subjekts in seinen eigenen Boten. Folglich verschiebt sich der Botenbezug der nun plötzlich nachgeordneten Strophen SNE I R12, VIII, IVf. und VI von einer dritten Person hin zum sich äußernden Ich. Resultat dessen ist eine interessante Mehrschichtigkeit der Bezüge, da das Lyrische Subjekt in dieser Konstruktion einerseits weiter von sich spricht, wie die Verse mir tůt vil we / sende arbeite (SNE I R12, hier die Parallelstrophe C31, VI,3f.) zeigen, andererseits aber auch den Boten adressiert, ausgedrückt in Botte, nu var gereite / zů lieben fruͥnden uber se (SNE I R12, hier die Parallelstrophe C31, VI,1f.), und somit in einem Doppelspiel zugleich sich selbst. Demgegenüber ist der Plot der R-Version schnell erzählt: Dem sommerlichen Natureingang steht ein Lyrisches Subjekt gegenüber, dessen sendiu not (SNE I R12, I,6) zur blühenden Natur in scharfem Kontrast steht. Der Grund für die Schwermut des Ichs ist die Trennung von der gůten (SNE I R12, I,7),333 die – wie sich aus den folgenden Strophen erschließt – nicht in einem Gunstentzug gründet, sondern in der räumlichen Entrückung des Subjekts zu den Walhe(n). Dort ist es nicht nur von der Geliebten, sondern auch von seinen vriunden getrennt (SNE I R12, II). In die ferne Heimat will es daraufhin einen Boten schicken (SNE I R12, III), der von der baldigen Rückkehr des sich äußernden Ichs uber se berichten (SNE I R12, IV) und die Dame gesondert des

|| 333 Laut c heißt sie Jútte (SNE I R12, hier die Parallelstrophe c27, III).

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 217

willeclichen dienst des Subjekts versichern soll (SNE I R12, V). Der hier in R fehlende Vers sechs ist in C und c übereinstimmend vorhanden und birgt somit keine Probleme. Den Verwandten schließlich soll der Bote Nachricht bringen vom Wohlbefinden des Ichs und der Lage der pilgerime (SNE I R12, VI). Ohne die vier nachgetragenen Strophen würde an dieser Stelle nur noch die Wandlung des Ichs bzw. des Liedes – denn beide Bezugnahmen sind möglich, dazu unten mehr – zu seinem eigenen Boten und der desaströse Zustand des Heers (SNE I R12, XI) geschildert werden. Durch den Nachtrag jedoch schiebt sich eine längere Überlegung zur Heimat ein, in der das Subjekt seine baldige Heimkehr (SNE I R12, VII), den Sang, den es dann zu Ehren seiner Dame noch vorbringen will (SNE I R12, VIII), und den Tanz imaginiert, der sich dazu erheben soll (SNE I R12, IX). In der letzten Strophe des Nachtrags wird der Blick zurück auf das reflektierende Ich gelenkt, dem zufolge jeder in siner pharre am besten aufgehoben und derjenige ein Narr sei, der disen ougest noch fern der Heimat verbringt (SNE I R12, X). Ez grunet wol diu haide, mit grunem loube stat der walt, der winder chalt twanch si sere bæide. diu zit hat sich verwandelot. min sendiu not mant mich an diu guͦ ten, von der ich unsanfte schayde. Gegen der wandelunge singent wol diu vogelin den vriunden min, den ich gerne sunge, des si mir alle sagten danch. uf minen sanch ahtent hie die Walhe nieht: so wol dir, diutschiu zunge! Wie gerne ich nu sande der lieben einen boten dar - nu nemt des war -, der daz dorf erchande, da ich die seneden inne lie. ia mein ich die, von der ich den muͦ t mit stæte, liebe nie gewant. Bot, nu var bereite zu lieben vriunden uber se. mit tut vil we sendiu arbeite. du solt in allen von uns sagen, in churczen tagen sehens uns mit vrouden dort, wan durch des wages praite.

218 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

Sag der meisterinne den willechlichen dienst min. si sol diu sin, die ich von herzcen minne vur alle vrowen hinne phur. […………….], e wold ich verchiesen der ich nimmer teil gewinne. Vreunden unde magen sag, daz ich mih wol gehab. vil lieber chnab, ob si dich des vrageb, wi ez umb uns pilgerime ste, so sag, wi we uns die Walhen haben getan: des muz uns hie betragen. Wirb ez endelichen, mit triwen la dir wesen gach. ich chum dar nah schire sicherliche, so ich aller baldist immer mach. den lieben tach lazz uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strichen. Solt ich mit ir nu alten, ich het noch etteslichen don uͦ f minnen lon her mit mir behalten, des tousent hercz wurden geil. gewinn ich heil gegen der wolgetanen, min gewerft sol heiles walten. Si reyen oder tanzen, si tun vil manigen weiten schrit, ich allez mit. ê wir heim geswanczen, ich sag iz bei den triwen min, wir solden sin ze Œsterich: vor dem snit so seczet man di phlanczen. Er dunchet mich ein narre, swer disen ougest hie bestat. ez wær min tot. liez er sich geharre und vuͤ r hin wider uber se, daz tut niht we. nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre.

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 219

Abgesehen von kleineren Unreinheiten, die teils in C, nicht aber in c ausgeräumt werden,334 verwendet das Lied einen doppelt umarmenden Reim, in dem vor, zwischen und nach insgesamt zwei Paarreimen je eine Zeile umarmend reimt (abbacca). Die kaum nennenswerten Bezüge auf eine geistliche Ebene, wie in lazz uns got geleben (SNE I R12, VII,7), passen zur allgemein nur marginal religiösen Ausrichtung dieses Kreuzlieds, das jenen Status durch die Kombination aus der Entfernung des Subjekts von Freunden, Dame und Heimat sowie den fragmentarischen Kreuzzugsverweisen verdient – und nicht aufgrund des bearbeiteten Konflikts zwischen Minne- und Gottesdienst335 oder Überlegungen zum gottgefälligen Verhalten336. Hinzuweisen ist für diesen Kreuzliedstatus erstens auf die ausgestellte Sehnsucht des Subjekts nach deutschsprachigen, seinen Sang würdigenden Gebieten im Gegensatz zu seinem momentanen Aufenthaltsbereich bei den Welschen (SNE I R12, II,6f.). Zweitens wäre da die Tatsache, dass das Ich sich offenbar in einer Ferne befindet, die nur uber se und durch wages praite zu erreichen ist (SNE I R12, IV,7 u. X,5), was sich mit der gängigen Bezeichnung für die Kreuzfahrt als vart uber se oder mer337 deckt. Und drittens bezeichnet das Subjekt sich und seine Mitstreiter als uns pilgerime, die von den Walhen zudem so hart angegangen wurden, dass daz her […] mer danne halbez mort sei (SNE I R12, VI,5–7 u. XI,5). Es ergibt sich also eine Kontextschnittmenge mit c114, aber auch die umfangreiche Erweiterung des dortigen Problemspektrums zum einen aufgrund der – verglichen mit den Kreuzliedern Friedrichs von Hausen oder Albrechts von Johansdorf veränderten – Situation des Subjekts, das sich mit Fremdsein, Heimweh und militärischer Niederlage konfrontiert sieht. Und zum anderen verkehrt R12 den kreuzliedtypischen Aufbruchsappell zu einem Heimkehrappell.338 Passend dazu unterscheidet R12 sehr deutlich zwischen den Positionen, die die Relationen des Räumlichen und Zeitlichen ausbilden und aus deren Konfrontation ein signifikanter Teil der Liedspannung entsteht, indem einerseits ein Hier einem Dort und andererseits ein Jetzt einem Dann sowie einem Damals gegenübergestellt wird. Das hie der Äußerung umreißt sich als Ort, an dem das Lyrische Subjekt von den Welschen Missachtung für seinen Sang erfährt (SNE I R12, II,7), schmerzlich

|| 334 Vgl. im Falle von Str. III: in R erchande – gewant, in C erkande – bewande; im Falle von Str. VII: in R endelichen – sicherliche, in c endlich – sicherleichen. 335 Besonders bei Albrecht von Johansdorf und Friedrich von Hausen, vgl. MF 47,9; MF 48,3; MF 87,29; MF 87,5 u. MF 94,15. 336 Besonders bei Hartmann von Aue und Heinrich von Rugge, vgl. MF 96,1 u. MF 209,25. 337 Vgl. dazu Albrecht von Johansdorf (MF 87,13) sowie Klein, varn über mer und iedoch wesen hie. 338 Vgl. ich chum dar nah / schire sicherliche / so ich aller baldist immer mach. / den lieben tach / lazz uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strichen; (SNE I R12, VII,3–7). Er dunchet mich ein narre, / swer disen ougest hie bestat. / ez wær min tot. / […] / nindert wær ein man baz dann da heim in siner pharre; (SNE I R12, X,1–7). Müller und Böhmer weisen darauf hin, vgl. Müller, Die Kreuzfahrten der Neidharte, S. 37. Böhmer, Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik, S. 53–75.

220 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

geschlagen wurde (SNE I R12, VI,7) und an dem keiner länger bleiben würde, der noch bei Sinn und Verstand ist (SNE I R12, X,1f.). Das dort demgegenüber bezeichnet im engsten Sinne daz dorf (SNE I R12, III,4), in dem die Geliebte wohnt, im weiteren das Gebiet der deutschen Zunge (SNE I R12, II,7) uber se (SNE I R12, IV,2) und heim ze Œsterich (SNE I R12, IX,4 u. 7).339 Hier und Jetzt sind ungeteilt, denn Brüche der Perspektive unterbleiben, während Dann und Damals sich jeweils auf das Dort richten, in dem die Freunde dem Ich für seinen Sang dankten (SNE I R12, II,4–6), es sich von der Geliebten trennte (SNE I R12, III,5–7) und in dem auch das zukünftige Wiedersehen mit den Vermissten imaginiert wird (SNE I R12, IV,6f.; VII,3–7 u. XI,6f.). Deren Fragen nach dem Ich (SNE I R12, VI,4f.), dessen Gesang für seine Dame (SNE I R12, VIII) und die Animation zum Tanz (SNE I R12, IX) illustrieren jenen Sehnsuchtsort. Sowohl von den vergangenen als auch von den zukünftigen Ereignissen spricht das Lyrische Subjekt, indem es seine Imaginationen mit dem Boten (SNE I R12, IV– VII) oder dem Publikum teilt (SNE I R12, III,3).340 Doch neben diesen konkret adressierten Abschnitten enthält R12 auch einige Strophen, deren Ausrichtung nicht so transparent ist (wie beispielsweise SNE I R12, If., VIIIf. etc.), woraus sich eine zumindest anteilige Auflösung der klaren Orientierung des Liedes und seiner Äußerungsinstanz ergibt. Denn diese scheint je nach Strophe zu sich selbst, zu einem Publikum oder zum Boten zu sprechen – der wiederum auch sie selbst meinen kann. Die Liste der Figuren ist in R12 mit dem Ich, der Dame, dem Boten, dem Heer, den Welschen, den Freunden und Verwandten, der Tanzgesellschaft und dem Publikum im Vergleich zu den bisher betrachteten Liedern ungewöhnlich lang, aber da sich weder eine vom Ich getrennte, erzählende Instanz einschaltet noch die Bezugsfiguren in Form eingefügter Redeanteile zu Wort kommen, werden sie ausschließlich durch die Augen des Subjekts wahrgenommen und eingebunden. Trotzdem lässt sich die Aufführungssituation des Liedes zunächst nicht als problemlos annehmen, denn mag das Ich über seinen Gefühlszustand ungeprüft dies oder jenes behaupten können (SNE I R12, I,6; III,7; IV,3f.; V,4 u. VI,6), so setzt es seine konkretisierten Aussagen über Sichtbarkeiten einem Realitätsabgleich aus (SNE I R12, I,1f.; II,7; VI,7; X,1f. u. XI,4f.).341 Die Grundlage hierfür ist selbstverständlich eine Auffassung, die nicht

|| 339 Die räumlichen Verweise auf die Heimat sind zahlreich, fügen dem oben Genannten jedoch keine weitere Semantik hinzu: heim ze lande (SNE I R12, VII,7); hin wider uber se (SNE I R12, X,5); da heim in siner pharre (SNE I R12, X,7). 340 Diese Stelle wird in c ebenfalls auf ein Publikum bezogen, in C jedoch auf den Boten: der neme des war (SNE I R12, hier die Parallelstrophe C28, III,3). 341 Für Lieder des Neidhartkontexts ist dies insbesondere relevant, weil sie sich durch eine dem Hof ferne textinterne Situation auszeichnen, vgl. beispielsweise SL 22 (SNE I R52) sowie WL 11 (SNE I R28). Eine Auffassung, die eine Kluft zwischen den Personalia des Liedinhalts und des Vortrags erblickt, vertritt die Mehrheit der Neidhartforscher. Eine Ausnahme bilden die biografistischen Bemühungen

Neidharts Interpretationen als Umkehr gewohnter Deutungsmuster | 221

davon ausgeht, dass die aufführungsintern aufeinander treffenden Realitäten innerhalb und außerhalb des Liedes immer schon getrennt voneinander operieren, Imagination also nicht erst durch einen künstlerischen Bruch der Deckungsgleichheit ausgelöst wird. Für den Moment342 kann zunächst festgehalten werden, dass es die klaren Adressierungen und konkreten Aussagen über die Situation außerhalb des Subjektkörpers sind, die performanztheoretische Überlegungen interessieren. Die Narrationsansätze des Liedes arbeiten maßgeblich über die Ausfaltung der Erfahrungen des Subjekts an der Oberfläche des Textes, wohingegen Formen metaphorischen Sprechens auch innerhalb der wenigen uneigentlichen Stellen nicht funktionalisiert werden. Dazu gehört zum einen die Vorstellung des Subjekts von der Kraft seines Sanges: des tousent hercz wurden geil (SNE I R12, VIII,5). Diese Aussage zum Herzen ist in der Art und Weise des hohen muot schenkenden Sanges als metonymische zu verstehen,343 während die Äußerung vor dem snit so seczet man di phlanczen (SNE I R12, IX,7) zum anderen Sprichwortcharakter hat. Dass Sprichworte rhetorisch metaphorisch-übertragend wirken können (aber nicht müssen), hat schon Aristoteles thematisiert.344 Ihr Zweck bleibt hermeneutisch jedoch ein anderer,345 wenn sie weder einer poetisch innovativen, bildhaften Sprache noch dem Effekt des Erlernens neuer Inhalte, sondern primär dazu dienen, die potentiell komplexe Situation bewältigbar zu machen, die im Moment der Äußerung des Sprichworts gegeben ist – und zwar durch den Rückverweis auf Wertungen und Urteile, die in bestimmten vorgängigen und vergleichbaren Situationen vorgenommen wurden. Sprichworte fungieren somit als angeheftete Marker, die unter mehreren Situationen eine Beziehung herstellen, auf die durch das Artikulieren des Sprichworts hingewiesen wird. So ähneln sie folglich in ihrer verfestigten sprachlichen Form, der Verankerung im kollektiven, kulturellen Wissen und der Ausrichtung auf Handlungsermächtigung eher dem Topos als der Metapher. An minnesanglichen Topoi ist R12 wiederum reich; beispielhaft sei nur verwiesen auf den Boten (SNE I R12, III–VII u. XI) und das Singen um Minnelohn (SNE I R12, VIII,2f.), hohen muot aus dem Sang (SNE I R12, VIII,5), das Altern

|| in der Nachfolge Haupts, der von der Aufführung vor einem Bauernpublikum ausgeht. Vgl. dazu nochmals Neidhart von Reuenthal., hrsg. von Haupt, Leipzig 1858, S. 134f. 342 Genaueres hierzu wird im Teil 3 folgen. 343 Neben einer Besitzer-Besitz-Beziehung der Metonymie ist es ebenso möglich, von einer Relation des pars pro toto auszugehen, was für eine Synekdoche spricht. Gleichwie handelt es sich aber um dasselbe Begriffsfeld, aus dem etwas ersetzt wird, und nicht um ein anderes, wie bei der Metapher üblich. Vgl. Abschnitt 1.3.2. 344 Vgl. hier und im Folgenden Sibylle Hallik: Sententia und proverbium. Begriffsgeschichte und Texttheorie in Antike und Mittelalter. Köln 2007 (Ordo. 9), S. 53f. 345 Zum Verhältnis von Hermeneutik und Rhetorik sowie dessen Relevanz gerade für eine auf mittelalterliche Referenzen konzentrierte Narratologie vgl. Bleumer, Historische Narratologie, S. 216 u. 236–239.

222 | Darstellung verschiedener Narrationsansätze

(SNE I R12, VIII,1), die Minne zu einer Frau vor allen anderen (SNE I R12, V,4f.) sowie die Beziehung zwischen dem Sänger und einem Vogel (SNE I R12, II,2–5).346 Der Schmerz, der aus dem Scheiden von der Geliebten hergeleitet wird (SNE I R12, I,7), ist demgegenüber eher für das Kreuzlied typisch, wie sich anhand der dominanten Häufigkeit derartiger Formulierungen bei den Kreuzliedautoren Albrecht von Johansdorf, Friedrich von Hausen und Heinrich von Rugge belegen lässt.347 Von charakteristischen Neidharttopoi indes ist – abgesehen von Sommereingang (SNE I R12, I,1–4) und Tanz (SNE I R12, IX,1f.) – wenig spürbar, da Dörperfiguren ebenso fehlen wie Eigennamen, Gewalt, Massenszenen, erotische Anspielungen und die Rolle des Subjekts als Fluchtpunkt sexueller Wünsche oder Nebenbuhler, der gegenüber der dörperlichen Konkurrenz das Nachsehen hat, etwa in SNE I R38, III oder SNE I C226, V. Wie c114 bemüht sich also auch R12 einerseits um die Anknüpfung an aus dem traditionellen Minnesang Bekanntes und andererseits um die Kontrastierung der Tradition, indem es bisher Unerwähntes einbezieht: die isolierende Fremdheit des Ichs sowie das militärische Desaster des Kreuzzugs. Daher kann R12 einerseits als Kreuzlied gelten, trägt die Subgattung andererseits jedoch weit über das hinaus, was Friedrich von Hausen und die anderen klassischen Vertreter ihr zum Inhalt gaben. Die oben explizierte Beziehung von Nähe bzw. Entfernung der liebenden Körper bzw. Gedanken bleibt dabei allerdings trotz aller Kontrastierung traditioneller Kreuzlieddenkmuster bestehen, da R12 wie Guote liute (MF 94,15) die körperliche Entfernung auf der Kreuzfahrt dazu beitragen lässt, die Gedanken des Subjekts besonders nachhaltig an dessen Geliebte zu binden (SNE I R12, I, V u. VIII). Dieser als bestehend zu denkenden Relation fügt das Neidhartlied unter Addition der Freunde und Verwandten, Heimat, Tanz und Spiel weitere Komponenten hinzu, die im prototypischen Kreuzlied noch keine Rolle spielten. Jene Einbindung von Elementen, die über den typischen Kreuzliedkonflikt des männlichen Ichs zwischen Frauendienst und Gottesdienst hinausgehen, ist die Grundlage der Interpretationen, die in den Kreuzliedern des Neidhartkomplex auf eine gesteigerte Realitätsnähe hinweisen. Diese Realität – und das scheint das hauptsächliche Missverständnis zu sein – ist aber nicht mit der historischen Realität zu verwechseln, aus der die Lieder zwar sicher Anleihen entnehmen konnten, die sie aber nicht rückverfolgbar abbilden. Besser zu beschreiben wäre die Innovation der Neidhart-Kreuzlieder – und mithin auch die Walthers, des

|| 346 Vgl. zu den einzelnen Topoi beispielsweise: für den Boten bei Meinloh von Sevelingen (MF 11,14); das Singen um Lohn bei Rudolf von Fenis (MF 80,25); hoher muot aus Sang bei Heinrich von Veldeke (MF 67,25); Alter bei Reinmar (MF 199,18); eine Frau vor allen anderen bei Friedrich von Hausen (MF 42,1); die Beziehung zwischen Sänger und Vogel bei Heinrich von Morungen (MF 132,35). 347 Vgl. zu Albrecht von Johansdorf MF 87,5; MF 91,22; MF 91,29; MF 91,8; MF 92,7; MF 92,21; MF 93,1 u. MF 94,25; zu Friedrich von Hausen MF 47,9; MF 48,3; MF 48,32; MF 50,1; MF 51,23; MF 52,7 u. MF 54,28; zu Heinrich von Rugge MF 100,12; MF 100,23; MF 102,1 u. MF 107,35.

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Tannhäusers, Rubins, Bruder Wernhers etc. – als Erweiterung der prototypisch bekannten Formensprache um eine konkretisierte diegetische Realität. Zu diesen Komponenten gehört auch der Sang, dessen Beziehungen stiftende Funktion in R12 dazu verwendet wird, zum einen Fremde und Heimat voneinander abzugrenzen und zum anderen die innere Distanz des Subjekts zum Ort seines augenblicklichen Aufenthalts auszudrücken. Zudem bindet der Gesang der zwitschernden Vögel die Natur, das Lyrische Subjekt und dessen Freunde zusammen, wie die ersten beiden Strophen ausführen: Ez grunet wol diu haide, / mit grunem loube stat der walt, / […]. // Gegen der wandelunge / singent wol diu vogelin / den vriunden min, / den ich gerne sunge (SNE I R12, I,1f. u. II,1–4). Auf ähnliche Art und Weise Beziehungen stiftend wirkt der Sang auch in Strophe acht, in der die heimatliche Zukunft wiederangeknüpfter Sozialität imaginiert wird (SNE I R12, VIII,2–5). Doch augenscheinlich liegt hier ein gegenüber c114 abweichender Modus der sanglichen Relationserzeugung vor, denn anders als dort wird der Sang in R12 nicht als räumliches Verbindungsmedium genutzt. Diese Rolle übernehmen in R12 der Bote als Überbringer von Informationen sowie das sehnsuchtsvolle Gedenken des Ichs. Dessen Sang wirkt an dieser Stelle nur sozial Distanz überbrückend, wenn er etwa die Festsituation aufwertet, ist in erster Linie jedoch Ausdruck der künstlerischen Befähigung des Subjekts und Folie der idealen Heimat, der seine Frohsinn erweckende Funktion offenbar nur entfalten kann, wenn Sänger und Publikum sich räumlich bereits in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Strophe acht imaginiert dies. Eine leichte Abänderung dieses Status präsentiert Strophe elf, indem sich das Ich als seinen eigenen Boten präsentiert: so wil ich sælbe bot sin (SNE I R12, XI,2). Ein weiterführend selbstreferentieller Bezug auf das Lied als Äußerungsmedium, das als Bote fungiert, liegt nicht nur deshalb nahe, weil damit ein Minnesangtopos bedient wird (vgl. beispielsweise MF 51,23), sondern auch, da der Zugang zum Lyrischen Subjekt auf die Ausdehnung des Liedes begrenzt ist. Das Ich mag zwar ein Dasein jenseits der Liedgrenze behaupten, wenn es sich in Form von Kleinsterzählungen eine Geschichte zuschreibt (SNE II c114, II), aber wenn es Aussagen wie die in SNE I R12, XI trifft, dann scheint es sich zugleich seines limitiert greifbaren, innertextlichen Status bewusst zu sein und sich metapoetisch darauf zu beziehen. Dieser Status des Sangs ist auch in Hinblick auf die kreuzliedspezifische Diagrammatik nicht folgenlos, denn sobald der Sang tatsächlich nur bei Anwesenheit des Lyrischen Subjekts in dessen Rolle als Sänger vor einem Publikum zum Instrument der Erzeugung von Nähe taugt, erfolgt die anreichernde Konkretisierung der diegetischen Welt in R12 auf Kosten der diffizileren Diagrammatik von c114. Jenen Verlust fängt R12 wiederum durch eine Ausweitung des Potentials auf, das den Gedanken zugeschrieben wird, schiebt es doch nachträglich eine längere Imagination des heimatlichen Frohsinns bei Musik und Tanz ein. Diese Kompensation, über die für die abstrakte Architektur des Liedes eine neue Balance gewonnen ist, wird den Strophennachtrag zumindest teils begründet haben.

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Da der Sang darüber hinaus als Distanzmarker einer inneren Fremdheit jenseits der ersehnten Heimat dient, ist die Selbsttransformierung des Boten in Strophe elf für das komplette Lied und nicht nur die Instanz des Ichs relevant. Schließlich bringt das Lied in der Imagination des schmerzlich Vermissten dieses vergegenwärtigend nahe und damit das Ich poetisch weit zügiger in die Heimat zurück als es ein Bote mithilfe überbrachter Nachrichten je könnte. In der Folge lässt sich das bloße Vorhandensein des Liedes als doppelbödiger Ausbruchsversuch aus der gnadenlos distanzierten intradiegetischen Realität deuten, dessen Logik auch in die Kreuzlieddiagrammatik eingreift. Sie gewinnt mit R12 eine Distanz überbrückende Maßnahme hinzu, deren Möglichkeit zur Aufrechterhaltung intradiegetischer Beziehungen zuvor noch nicht einbezogen wurde. Diese Lesart kann R12 diagrammatisch ein ähnliches Niveau bescheinigen wie c114, während metapoetische Effekte sogar noch deutlicher zugespitzt werden. Das Lied SNE I R19 (Chomen sint uns die liehten tage lange) gestaltet sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, sodass bei seiner Betrachtung kürzer verfahren werden kann. Die Überlieferungslage ist mit einer Erwähnung in R, C und c vergleichbar und zeigt keine größeren Ausfälle oder Umstellungen. In R und c ist das Lied mit je sieben Strophen zu fünf Versen (aabbb) vertreten, die sich der gleichen Reihenfolge unterordnen, sieht man einmal vom Tausch der Strophen sechs und sieben in c ab. Diese Strophenfolge bleibt unter Auslassung der Strophen drei und sieben (nach R-Zählung) auch in C gewahrt; der Liedtitel ändert sich indes zum wenig aufschlussreichen Ein ander wis. Aufmerksamkeit verdient dies nicht nur aufgrund der Abweichung, sondern auch, weil der Titel in c (Enhalb mers gesungen) als Hinweis auf einen Kreuzliedkontext gedeutet werden kann, noch bevor die folgenden Strophen eine Chance erhalten, dazu Stellung zu beziehen. Chomen sint uns die liehten tage lange, also sint die vogel mit gesange, di habent ein niwez vunden, daz si nie vor mangen stunden baz gesungen. Di den winder sendes herczen waren, den gestunt der mut vor drizzech jaren nie ringer danne hiwer. magd, ir nemt des mayer stiwer: zogt ab iwer! Iunge magd und alle stolze layen, ir sult iuch gen dem lieben sumer zwaien, so ist wunne in allen richen. ir sult iuch ze vrouden strichen, lat dar wichen.

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Chint, lat iu den raien wol erblanden, lœset iwer hercz ouz senden banden mit snellen sprungen ringen. ich hor von der voglin singen den walt erchlingen. Lieben boten ich heim ze lande sende, allez min trouren daz sol haben ein ende. wir nahen zu dem Reine, gern sehen die vriunde mine uns pilgereine. Bot, nu sag den chinden an der strazze, daz si niht enzurnen ouz der mazze. wir suln ein niwez priwen, dar nah si die vinger chiwen, an den triwen. Bot, nu sag dem liepgenæmen wibe, daz ze wunsche gat so wol min schibe. du sag ze Landeshute, wir leben alle in hohem muͦ te, niht unvrute.

Der Stropheninhalt gestaltet sich folgendermaßen: Nach einem Sommereingang schildert R19 über drei weitere Strophen hinweg frohes Tanzgeschehen, bei dem das Lyrische Subjekt als außenstehender Beobachter und Anweisungsgeber auftritt (SNE I R19, I,1; II,4f.; III,1f.; IV,1–3). Verankert wird es dabei in der evozierten Situation lediglich über den Vogelsang, der die ersten vier Strophen zu einer Einheit verknüpft und dem Subjekt seine einzige selbstbezügliche Äußerung ermöglicht: ich hor von der voglin singen / den walt erchlingen (SNE I R19, IV,4f.). Mit Strophe fünf treten die Kreuzzugselemente hinzu, denn das Subjekt imaginiert zunächst die Heimsendung eines Boten und den Frohsinn seiner Freunde bei der Rückkehr der pilgereine (SNE I R19, V,5), während in den folgenden beiden Strophen der Bote sodann tatsächlich beauftragt wird, zunächst den chinden an der strazze (SNE I R19, VI,1) und dann dem liepgenæmen wibe (SNE I R19, VII,1) ze Landeshute (SNE I R19, VII,3) Nachricht zu bringen. Wo R12 getragen war von der Schwermut der Fremde und den Kümmernissen des Kreuzzugs, da lenkt R19 mit der frohen Heimkehr nach bestandenen Wagnissen den Blick auf einen anderen, neuen Aspekt – obwohl unter der Prämisse einer kohärenten Strophenfolge die im Lied evozierte Äußerungssituation die Rückreise zu sein scheint, noch nicht aber der Einzug in die Heimat. Wie oben bereits ausgeführt, kann den liedinternen Aussagen nicht ungeprüft ein Aussagewert zur liedexternen Umgebung zugeschrieben werden. Dies erneut zu betonen, scheint geboten, weil R19 durch die Ausgewogenheit seiner Äußerungen insbesondere offenhält, wo der Rezipient

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sich das Liedsubjekt vorzustellen hat. Befindet es sich auf dem Kreuzzug und beschwört den heimatlichen Tanz vor seinem inneren Auge herauf oder hält es sich etwa in der Heimatsphäre auf und integriert die Kreuzzugsallusionen lediglich zu Unterhaltungs- und Variationszwecken? Dass beide Möglichkeiten ähnlich wahrscheinlich wirken, ist die Folge eines raffinierten Balanceakts. Diese kunstreiche und Folgeüberlegungen anstoßende Leerstelle trifft aber keine Aussage über die liedexterne Welt, die darüber hinausgeht, dass in ihr die Schöpfung einer solchen intradiegetischen Realität möglich ist. Diese ist in R19 wie schon in R12 reich an Bezugsfiguren wie der magd (SNE I R19, II,4) und iunge magd und alle stolze layen (SNE I R19, II,1), den Chint (SNE I R19, III,1) und vriunden (SNE I R19, V,4), den pilgereine (SNE I R19, V,5), dem Boten (SNE I R19, V–VII) und dem Weib (SNE I R19, VII,1). Sie sind indes keine Akteure, sondern bilden vielmehr Punkte in einem Bezugssystem, an die das Lyrische Subjekt seine Äußerungen und Aufforderungen adressieren kann. Solche Appelle sind in R19 enorm häufig (vgl. SNE I R19, II,4f.; III,1–5; IV,1–3; VI,1f. u. VII), weshalb die dargestellte Welt um das Subjekt (SNE I R19, I; II,1–3; IV,4f. u. V,1–5) gegenüber der Diskurssituation, in die es sich einschreibt, merklich in den Hintergrund tritt. Die einzigen intradiegetischen Weltanteile, die deutlich dargestellt werden, sind zum einen die sommerliche, klingende Natur aus Strophe eins mit dem Rückbezug auf sie in Strophe vier und zum anderen die Aussage des Lyrischen Subjekts über seine Heimkehr aus Strophe fünf. Liest man diese Äußerungen wieder mit einem Wahrheitsanspruch, der sich bis in die Realität der Rezeptionssituation erstreckt, entstehen genau jene kritischen Situationen, die die reale Anwesenheit alles Adressierten voraussetzen und im Teil 3 noch ausführlicher zur Sprache kommen werden. Doch schon jetzt lässt sich ausgehend von dieser geringen Menge präziser Aussagen über eine liedinterne Welt sagen, dass R19 im Vergleich zu R12 bedeutend weniger erzählend wirkt. Dazu trägt auch die wenig spannungsreiche zeitliche Staffelung des Liedes bei, deren Problematik sich symptomatisch in den Vagheiten des hiwer (SNE I R19, II,3) und nu (SNE I R19, VI,1 u. VII,1) zeigt und durch die Appelle des sich äußernden Ichs nicht gemildert werden kann: Das Lied situiert sich mehrheitlich in einem schemenhaften Jetzt, auf das alle zeitlichen Bezüge letztendlich wieder zurückdeuten. So haben beispielsweise die Vögel in Strophe eins nie baz gesungen (SNE I R19, I,5) als jetzt und den Sehnsucht Leidenden in Strophe zwei stand der Sinn vor drizzech jaren / nie ringer danne hiwer (SNE I R19, II,2f.). Die restlichen Zeitbezüge sind entweder präsentische Verben, wie im Falle von sint, nemt, ist, hor, sende (SNE I R19, I,2; II,4; III,3; IV,4 u. V,1), und folglich ebenfalls nicht in der Lage, Tiefenschärfe zu generieren, oder aber in Appelle verarbeitete Imperative, so zogt ab, lat […] wichen, lat […] enblanden, lœset (SNE I R19, II,5; III,5; IV,1 u. IV,2), für die Gleiches gilt. Ein vergleichbares Bild bietet sich auch, betrachtet man die räumlichen Bezeichnungen: Zwar existieren Anhaltspunkte wie in allen richen, walt, heim ze lande, wir nahen zu dem Reine, an der strazze, ze Landeshute (SNE I R19, III,3; IV,5; V,1 u. 3; VI,1

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u. VII,3), aber diese sind zum einen an sich von geringer Genauigkeit – wie in allen richen – oder werden zum anderen durch das Subjekt unklar gehalten. So ist der Raum an der strazze beispielsweise lediglich durch die Anwesenheit der chint näher bestimmt und in den Fällen von Wald und Rhein nicht klar, ob sich erstens das Lyrische Subjekt selbst in dem Wald befindet, und zweitens das nahen (SNE I R19, V,3) dann impliziert, dass sein Aufenthaltsort eben noch nicht der Rhein ist.348 Weil sich der Ort des Subjekts auf diese Art und Weise nicht festlegen lässt, fällt es schwer, auf der histoire-Ebene des Liedes eine Erzählung zu entwickeln – und da die parallel liegende Transzendenzebene in R19 fehlt, kann auch sie keine Möglichkeiten eröffnen, Ordnung und Präzision in das Raumkonzept des Liedes zu bringen. Die Ebene des uneigentlichen Sprechens als Option eines narrativen Ansatzes ist in R19 hingegen mehrfach präsent; etwa durch die Formulierungen Die den winder sendes herczen waren (SNE I R19, II,1) bzw. lœset iwer hercz ouz senden banden (SNE I R19, IV,2), die beide auf das Herz bezogen werden und eine je nach Bezugspunkt metonymische oder synekdochische Redeweise bzw. eine derjenigen Verwendungen darstellen, deren Status als Requisit hier mit der metaphorischen Vorstellung der Liebesbeziehung als Flechtwerk349 oder Netz verbunden ist. Zugleich wird mit dem gebundenen Herzen der Bereich der populären Minnesangtopoi betreten, der in Bezug auf R19 noch einiges zusätzliches Material enthält: die frühlingshaft erwachende Natur inklusive Vogelsang (SNE I R19, I), Wonne und hoher muot als Ergebnis sozialer Interaktion (SNE I R19, IIf.) sowie Klangzentrierung (SNE I R19, I u. IV), während sich im ausgelassenen Miteinander und Tanz (SNE I R19, II–IV), den Chinden an der strazze (SNE I R19, VI,1; vgl. auch SNE II c35, XIV) oder konkretisierenden Namensnennungen (SNE I R19, VII,3) verschiedene Neidharttopoi zeigen. Dazu fügt sich wenig überraschend, dass die Wahrnehmung des Rezipienten in R19 im Gegensatz zu R12 einigermaßen restlos auf den Heimatbereich gerichtet ist, für dessen Ausgestaltung große Teile des Liedes aufgewandt werden (SNE I R19, II– IV, VI u. VIII). Der Raum hingegen, aus dem die Kreuzfahrer heimkehren, wird in den auf das Kreuzzugsthema verweisenden Begriffen nur implizit thematisiert, so in pilgereine (SNE I R19, V,5). Daher tritt das diagrammatische Muster des Kreuzliedkomplexes in R19 fragmentiert zutage: Der konstitutiven Ferne beraubt, umfasst es stückwertartig nur noch den Heimatbereich und das ehemals als Trennungsraum fungierende Meer, auf dem sich das Subjekt befindet – wenn man jedenfalls dem Titel der c-Fassung glauben möchte. Doch damit ist die diagrammatische Figur nicht zerstört – mag es zunächst auch so wirken – sondern es wird vielmehr nur die logische Fortführung des übergeordneten Narrativs der Kreuzfahrt experimentell erprobt: die

|| 348 Ob der Rhein hier wie die deutsche Zunge in R12 als wortwörtliche Verortung oder als Synekdoche für das gesamte deutsche Gebiet verstanden wird, ist für diese Überlegung unerheblich. 349 Vgl. etwa der Minnen wildenære / leiten ein ander dicke / ir netze und ir stricke (Tristan, V. 11 934– 11 936)

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Rückkehr als letztes Stadium. Selbst in seiner Aufhebung der komplexen Strukturen eines in Herz und Leib geteilten Ichs etc., wie sie die Kreuzlieddichter um Friedrich von Hausen erarbeiten, kann R19 also ein Detail in die größere diagrammatische Figur einfügen, das die vorangegangenen Lieder so nicht explizierten. Die Verbindung zwischen Heiligem Land und Heimat stiftet in R19 das Liedsubjekt selbst, das sich auf der Rückreise behauptet, und nicht etwa der Sang, der gemeinsam mit dem Tanz sowie als dessen Grundlage zur Festlichkeit maßgeblich beiträgt, die das Sehnsuchtsbild des sich äußernden Ichs darstellt. Weiterhin fallen bezüglich der Ebene des uneigentlichen Sprechens die Stellen SNE I R19, VII,1f. (Bot, nu sag dem liepgenæmen wibe, / daz ze wunsche gat so wol min schibe) und II,4f. (magd, ir nemt des mayen stiwer; / zogt ab iwer) ins Auge, deren weiterführender Charakter bereits schwieriger zu erschließen ist. Wenn schibe auf das Glücksrad deutet, das sich zugunsten des Ichs dreht, weil es zu den Seinen heimkehren darf, dann liegt ein metaphorisches Potential vor. Denn zweifelsohne wird in diesem Fall der Begriff des Rades, das sich gleichförmig rund und unendlich Auf- und Abstieg verbindend um eine Nabe dreht, auf ein anderes Feld übertragen: das Geschick des Menschen, sein Leben und Gelingen. Die entstandene Metapher vom Leben als Glücksrad ist zwar konventionell zu nennen,350 birgt in sich aber das gleiche Potential zu Erzählung und Täuschung, wie oben im Rahmen der theoretischen Ausführungen zur Metapher dargelegt. Die Suggestion besteht dabei im Zwang zur zyklischen Bewegung, die impliziert, das Geschick des Menschen verlaufe in sich wiederholenden Abfolgen von Aufstieg, Höhepunkt, Abstieg und Tiefpunkt. Alternative Sichtweisen und Möglichkeiten – wie etwa ein stetiger Auf- oder Abstieg, spiralförmige Bewegungen, ein absolut ungeordnetes Chaos etc. – werden hingegen verdrängt.

|| 350 Dem Glücksrad oder auch Rota Fortunae sind als Motiv und Bezugspunkt zahlreiche Forscher durch die mittelalterliche Literatur inklusive ihrer Vorgänger- und Nachfolgeliteraturen gefolgt. Vgl. beispielhaft und keineswegs erschöpfend im Einzelnen: Alfred Doren: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. Vorträge 1922–1923. 1. Teil. Hrsg. von Fritz Saxl. Leipzig 1924, S. 71–144. Hans Walther: Rota Fortunae im lateinischen Verssprichwort des Mittelalters. In: Mittellateinisches Jahrbuch 1 (1964), S. 48–58. Iiro Kajanto: Art. Fortuna. In: Reallexikon für Antike und Christentum 8 (1972), Sp. 182–197. Michael Schilling: Rota Fortunae. Beziehungen zwischen Bild und Text in mittelalterlichen Handschriften. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. von Wolfgang Harms und Leslie Peter Johnson. Berlin 1975, S. 293–313. Helmut de Boor: Fortuna in mittelhochdeutscher Dichtung, insbesondere in der ‚Crône‘ des Heinrich von dem Türlin. In: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Ohly. Bd. 2.Hrsg. von Hans Fromm [u. a.]. München 1975, S. 311–328. Fritz Peter Knapp: Virtus und Fortuna in der ‚Krone‘. Zur Herkunft der ethischen Grundthese Heinrichs von dem Türlin. In: ZfdA 106 (1977), S. 253–265. Walter Haug: O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung. In: Fortuna. Hrsg. von ders., Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna vitrea. 15), S. 1–22. Christoph Cormeau: Fortuna und andere Mächte im Artusroman. Ebd., S. 23–33.

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Der erzählende Charakter der Metapher entfaltet sich indes im Übergang zwischen den unterschiedlichen Teilen des Bildspenders und Bildempfängers, des Rades und des Lebens, die in eins gesetzt und überblendet werden, obwohl sie zunächst so weit voneinander entfernt scheinen. Dass diese Form des Kleinstnarrativs in der durch eine behauptete Identität induzierten Imagination eines Geschehens durch den Rezipienten vorzustellen ist, dessen einzelne Teile und Abfolgen nicht sukzessive auserzählt bzw. durch einen Erzähler angeleitet oder bewertet werden, wurde bereits ebenso ausgeführt wie die Wirkungsweise der Metapher als rhetorisch eingesetzter, hermeneutisch orientierter Ausdruck, der feststellend das ansatzartige Narrativ lediglich initiiert, ohne viel Raum zur kritischen Reflexion der demonstrierten Perspektive zu lassen. Das Liedsubjekt, das zum einen erzählerartige Funktionen übernehmen kann, indem es sich beispielsweise an sein Publikum wendet und kommentiert oder rückversichert (vgl. SNE I R12, III,3), spielt zum anderen als dieser Perspektivengeber eine maßgebliche Rolle. Es zeichnet sich folglich ab, dass der lyrische Modus eines Erzählens insbesondere aufgrund der Mehrschichtigkeit seiner Sphärengestaltung bemerkenswert ist. Das Lied kann sowohl entlang der histoire-Ebene als narrativer Fortschritt erfahren werden als auch entlang seines discours, in dem sich topische Netze knüpfen und die Metaphern ihr (Über-)Blendwerk errichten. An solchen Kopplungspunkten zwischen konkreter Aktualisierung im Liedumfang und der habituell vertrauten Umgebung kann der Rezipient sich – mehr oder weniger frei – für einen Ebenenwechsel entscheiden, der den histoire-seitigen Fortgang des Gedichts in der Rezeption zugunsten abzweigender Verläufe in Gestalt der Metaphern oder Topoi unterbricht: freier im Falle des Topos, der ohne die aktive Bezugssuche des Rezipienten nicht wirken kann, weniger frei im Falle der Metapher, die suggeriert. Als Miniaturwerk im Sinne Ricœurs aufgefasst, führt die Metapher weg von der histoire-Oberfläche des Liedes, auf der die dargelegte Handlung der Subjektheimkehr sich als narratives Angebot trotzdem weiter aufhält. Die Metapher stellt diese wie Genettes351 deskriptive Pause lediglich für den Moment still, während sich der Wahrnehmungsfokus auf die Ebene des Uneigentlichen verschiebt, auf der unabhängig von der liedinternen Handlung – nicht aber ohne Bezug auf oder Relevanz für sie – metaphorische Handlungsprozesse ablaufen und Erkenntniswerte vermittelt werden. Des mayen stiwer (SNE I R19, II,4), die Maisteuer also, regt zunächst dazu an, das Gegenteil uneigentlichen Sprechens wahrzunehmen, bezeichnet sie doch höchst unpoetisch eine im Mai zu entrichtende Abgabe, für die das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) den Johannistag als Termin nennt.352 Neidhart, der Finanzexperte also? Kaum, denn R19 behandelt hier keine juristischen Inhalte, sondern verwendet den Terminus stattdessen metaphorisch in einer kontextuellen Übertragung. Nicht eine durch Recht

|| 351 Vgl. Genette, Die Erzählung, S. 71–76. 352 Vgl. Art. Maisteuer, Maiensteuer. In: DRW 9 (1992), Sp. 35f., hier Sp. 35.

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und Gesetz festgeschriebene finanzielle Abgabe ist hier gemeint, sondern eine doppelsinnige ‚Steuer‘, die bei den Mädchen der Heimatsphäre zu ‚entrichten‘ ist. Es mag an Tanz, Geschenk oder Kuss zu denken sein, aber anschreiben lassen kann man bei den Damen sicher nicht. Ausschlaggebend im metaphorischen Kontext ist vielmehr der generelle Charakter der Übertragung aus einem ökonomischen in einen minnegeprägten Bereich, denn dieser stiftet ein Gefühl der Gemeinschaft – Nähe, nochmals an ganz anderer Stelle – zwischen dem Autor und denjenigen Rezipienten, die diesen rhetorischen Kniff verstehen. Es liegt nahe, hier zugleich den Klang der Ironie zu vernehmen, doch auch wenn dies angesichts der mit etwas Unangenehmem assoziierten Natur einer Abgabe und der angenehmen eines Liebestributs nicht völlig von der Hand zu weisen ist, liegt die Ausrichtung des Ausdrucks doch auf der Übertragung, deren Gemeinschaftsstiftung verglichen mit der über Distanzierung (das Äußerungsobjekt betreffend) operierenden Ironie der primäre Effekt ist.353 Das dritte und letzte zu betrachtende Kreuzlied des Neidhartkontexts ist c35, das nicht mehr in den Pergamenthandschriften, sondern nur noch in jüngeren Papierhandschriften (c, f, s, st und w) überliefert und mit Die merfart überschrieben ist. Haupt354 übernimmt das betreffende Lied aufgrund seiner Überlieferung nicht, aber die unerreicht hohe Verbreitung dieses Liedes spricht – verglichen mit den zuvor untersuchten – doch für sich. Wie sich die somit bekundete Beliebtheit erklären lässt, wird unten noch zu thematisieren sein. Zunächst kann für die Überlieferungsgestalt festgehalten werden, dass die vierzehn Strophen des Liedes in c, f und w ohne größere Variation zu finden sind. Demgegenüber ändern die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift s und das Stockholmer Neidhartfragment st zwar weder Strophenfolge noch Sinn des Liedes, wohl aber dessen Umfang: s enthält nur die Strophen eins bis zwölf nach c, wobei der Rest des betreffenden Versobogens leer bleibt,355 und st die Strophen sieben bis vierzehn nach c. Verfolgt man diesen varianten Strophenbestand inhaltlich, ergeben sich abweichende Schwerpunktsetzungen. Die das Lied früher beendende Handschrift s verliert zwar mit den fehlenden Strophen dreizehn und vierzehn das Ende des Mutter-Tochter-Dialogs und das Resümee des Lyrischen Subjekts, kann dadurch aber den Akzent

|| 353 Zur Ironie als Distanz markierenden Tropus vgl. Bleumer, Historische Narratologie, S. 251 sowie Susanne Köbele: Ironie und Fiktion in Walthers Minnelyrik. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Internationales Mediävistisches Kolloquium Kloster Irsee 9.–12.11.2006. Hrsg. von Ursula Peters, Rainer Warning. München 2009, S. 289– 317, hier S. 297. 354 Getreu seinem Grundsatz, dass nichts außerhalb von R ohne überzeugende Beweise als echter Strophenbestand anzusehen ist (vgl. Neidharts Lieder. 2. Auflage. Hrsg. von Moriz Haupt. Neu bearbeitet von Edmund Wiessner. Leipzig 1923, S. XIII), nimmt Haupt c35 nicht in seine Neidhart-Ausgabe auf. 355 Vgl. die einleitenden Bemerkungen zu c35 in SNE II, S. 87.

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der Schlusszeile auf einen besonders eindeutigen Vers aus dem Mund der Tochter legen: ich lig dem knaben under (SNE II c35, XII,9). Die mit Strophe sieben erst später einsetzende Handschrift st unterschlägt hingegen durch den Wegfall der ersten sechs Strophen den Bezug auf die Kreuzfahrt – dies umso mehr, weil sie von Strophe sieben nach c, die in st die erste ist, mit dem ersten Vers unter Inkaufnahme der infolgedessen auftretenden Unregelmäßigkeit ebenjenen entfernt, der einen letzten Hinweis auf die Kreuzfahrt hätte geben können: Do ich kam aus der herefart (SNE II c35, VII,1). Das hat zur Folge, dass die st-Version von c35 nicht nur mit Strophe sieben, sondern darüber hinaus noch mitten im Vers beginnt und zwar mit dem durch eine Initiale markierten Wort Hieten (statt hetten nach SNE II c35, VII,2).356 Die Herausgeber der SNE vermuten als Grund hierfür eine fragmentarische Vorlage von st, doch der restlose Verlust der Kreuzzugsthematik durch die fehlenden Strophen und Verse in st ist derart auffällig, dass sich ein Eindruck des Absichtsvollen aufdrängt. Ob jedoch der Schreiber der Handschrift st die betreffenden Strophen ausließ oder sich bereits an eine zensierte Vorlage hielt, die ihrerseits aus einer unbekannten Motivation heraus die Verse tilgte, wird kaum auszumachen sein und ist für die Frage lyrischer Narrative auch unerheblich. Inhaltlich stellen vierzehn Kanzonenstrophen im Reimschema aabccbddd sich bei oberflächlicher Betrachtung als eine Art Kompendium der populärsten Inhalte der Gattung ‚Neidhart‘ dar, indem sie die meisten der für einen Neidhartkontext charakteristischen Themen und Formen aufgreifen. Der Einfachheit halber seien sie in der Reihenfolge des Auftretens in c35, nicht aber ihrer Relevanz nach genannt:357 Zum einen wird zurückgegriffen auf den gimpelgempel, hinreichend bekannt aus den SL 16 (SNE I R23, V) und 18 (SNE I R56, II) sowie den äußerst aufgeladenen Strophen SNE I C201–205 (dort Str. IV), der sich in c35 als gumpel gempel (SNE II c35, I,1) präsentiert. Weiterhin wird der Vorliebe für reichliche Namensnennungen (SNE II c35, II,3; V,1; VI,4; VII,4 u. XIV,8; vgl. dazu WL 5 [SNE I R34, II]) ebenso nachgegeben wie dem Hang zur Beschreibung der Dörper (SNE II c35, IV,7; VI,1; vgl. dazu WL 27 [SNE I R6, IV u. V]) und speziell Engelma(i)rs (SNE II c35, V,1; vgl. dazu SL 22 [SNE I R52, IV u. VI]), zur Darstellung der Kleidung der Dörper (SNE II c35, V; vgl. dazu WL 22 [SNE I R5, IV]), zur Gewaltfixierung (SNE II c35, VI,5–9 u. VII,6; vgl. dazu WL 14 [SNE I R7, VI]) und zum Sommereingang, wenn hier auch nicht zu Beginn des Liedes, sondern in den Strophen acht und neun (vgl. dazu SL 20 [SNE I R48, If.]).

|| 356 Vgl. ebd. 357 Ein Komplettabdruck des Liedes findet sich im Abschnitt 3.4.

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Daneben verwendet c35 die aus WL 4 (SNE I R33, I) bekannte, parodierend postwendende Hochstimmung (SNE II c35, VIII,1f.)358 sowie Mai- und Tanzappelle (SNE II c35, VII,9; VIII,7 u. IX,1; vgl. dazu SL 4 [SNE I C245, I–III]), einen Mutter-Tochter-Dialog (SNE II c35, X–XIII; vgl. dazu SL 18 [SNE I R56]), die Nennung Riuwentals (hier Rubental: SNE II c35, XI,4; vgl. dazu SL 21 [SNE I R51, VII]), sexuelle Explikation (SNE II c35, XII,9; vgl. dazu WL 8 [SNE I R31, II–IV]) und die liebestolle Alte (SNE II c35, XIV; vgl. dazu SL 1 [SNE I C210]). Sie tritt an dieser Stelle einigermaßen unvermittelt auf, da ihre Rolle der der restriktiven Mutter im Dialog zuvor doch stark entgegensteht. Im Prinzip werden so beinahe alle relevanten Neidharttopoi verarbeitet, abgesehen von Friderûn und ihrem Spiegel (vgl. etwa SL 22 [SNE I R52, VI]), den Trutzstrophen und ihrer wörtlichen Apostrophierung Nîtharts (vgl. etwa WL 6 [SNE I R42, VI]) oder solchen, die durch die Nutzung eines gleichwertigen Topos bereits ausgeschlossen sind: Wo ein Sommereingang das Lied eröffnet, kann beispielsweise kein Wintereingang mehr folgen. Minnesangliche Topoi erscheinen in c35 demgegenüber nur in neidharttypischer Verkehrung, wozu die plötzliche Freude beim Anblick von Blumen (SNE II c35, VIII,1f.) und der in wilden Tanz umschlagende hohe muot (vgl. MF 107,7) ebenso zählen wie der nahe Tod, der bei Neidhart durch einen nur allzu wirklichen Heidenpfeil ausgelöst wird (SNE II c35, I,5 u. III,5). Der Minnesang greift indes bekanntlich auf den Pfeil Amors zurück, der ein uneigentliches Sterben heraufbeschwört, so beispielsweise bei Hartmann von Aue: sender nôt, / diu manigen bringet ûf den tôt (MF 214,12). Laut Überschrift thematischer Rahmen für dieses Toposkonglomerat ist die Kreuzfahrt, die das Lyrische Subjekt vornehmlich in den Strophen eins bis vier schildert und aufgrund derer es mit Kaiser Friedrich über das Meer gefahren ist, um die Heiden zu bekämpfen. Siegfried Beyschlag und Horst Brunner erwägen hierfür Friedrich II. oder Friedrich IV. und korrespondierend den dritten Kreuzzug zwischen 1189 und 1192 oder aber den fünften von 1228 bis 1229 als historische Referenz.359 Weiter hat im scharfen Gefecht (SNE II c35, II,7–9) ein haidenischer pheil (SNE II c35, I,5) das sich äußernde Ich so schwer verwundet, dass es vom Felde getragen werden musste und nun um sein Leben bangt (SNE II c35, II,5 u. III,1–6). Es bedauert daraufhin seine Fahrt im Gefolge des Kaisers und hofft, dass Gott es heimgelangen lässt, wo es dann Lieder von den Dörpern singen will (SNE II c35, IV,1–4; III,8f. u. IV,5–7). Denn diese hätten angeblich ihre helle Freude am Leid des Subjekts (SNE II c35, IV,8f.), wenn sie || 358 Vgl. dazu SNE I R33, das die umgehende Hochstimmung beschreibt, die aus dem Gesang resultiert und auf jeden Ausweis der Gefühlsbildung verzichten kann: „Singe, ein guldin hun, ich gibe dir weicze“ / – schir do / ward ich vro -, / sprach si, nah der hulden ich da singe (SNE I R33, I,1–4). 359 Vgl. Herr Neidhart diesen Reihen sang. Die Texte und Melodien der Neidhartlieder mit Übersetzungen und Kommentaren. Hrsg. von Siegfried Beyschlag, Horst Brunner. Göppingen 1989 (GAG. 468), S. 324. Vgl. außerdem zum Dritten bzw. Fünften Kreuzzug Wisniewski, Kreuzzugsdichtung, S. 24–26 u. 33f.

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nur davon wüssten. Wie die zuvor betrachteten Kreuzlieder des Neidhartkontexts setzt sich folglich auch c35 zum einen mit Mühsal und Unglück des Kreuzzugs sowie zum anderen mit der Heimkehr des Lyrischen Subjekts auseinander, die c35 ebenso wie R12 und R19 imaginiert. Anders als in c114 und R12 jedoch sind die Position des Subjekts und der Verlauf der Zeitstrukturen nicht mehr ohne Weiteres zu bestimmen. Im Großen und Ganzen lassen sich im Liedgeschehen zwei Teile voneinander abgrenzen: das sich äußernde Ich in der Fremde, das besonders in den Strophen eins bis vier hervortritt, und jenes Ich im Heimatbereich (SNE II c35, VII–IX). Das bedeutet gegenüber den zuvor betrachteten Liedern insofern eine Neuerung, als dass das Subjekt in c35 nun tatsächlich in beiden Bereichen vorgeführt wird, anstatt einen der beiden nur über Imaginationen wachzuhalten. Das Ich in der ersten Position befindet sich mit Kaiser Friedrich und seinem Heer im Kampf gegen die Heiden, wurde verwundet und sehnt sich nach der Heimat (bis einschließlich SNE II c35, IV), deren törpere es sodann in lebendigen Farben auszumalen beginnt. Bis zu diesem Punkt schildert es durchgängig vergangene Ereignisse (Überfahrt, Kampf, Verwundung etc.) und nimmt auf seine gegenwärtige Lage keinen rechten Bezug, da nur Wünsche und Appelle artikuliert werden: got meinen kumer wende / und mich zu lande sende (SNE II c35, III,8f.) bzw. kom ich noch haim zu land gesundt, / so wollt ich aber singen (SNE II c35, IV,5f.). Nach dieser Überleitung zum neuen Sang folgt die Engelmar-Strophe (SNE II c35, V), in der das Liedsubjekt während der Beschreibung des Dörpers alle Bezüge auf sich unterlässt, um sodann mithilfe einer gewaltschwangeren Fehde das Kreuzzugs-Ich (SNE II c35, I–IV) und die Dörper (SNE II c35, V) zusammenzuführen. Solch eine typische Neidhartstrophe (SNE II c35, VI) könnte in ähnlicher Form in den meisten Winterliedern enthalten sein (vgl. dazu etwa WL 14 [SNE I R7, VI]). Abgesehen von wiederkehrenden Appellen und Konjunktiven (der ine die oren paiden abschnid, / wie gern ich das sehe; SNE II c35, VI,5f. bzw. so sie der teufel schende!; SNE II c35, VI,9), äußert sich das Ich in SNE II c35, VI präsentisch über sich und seine Umwelt: Doch wais ich zwen dorfknaben / […] / die zimment sich so wehe (SNE II c35, VI,1–3). In der nächsten, siebenten Strophe kehrt es tatsächlich nach Hause zurück: Do ich kam aus der herefart, / ich maint, sie hetten sich verkärt (SNE II c35, VII,1f.), findet in jener Heimat hingegen – wie es im Präteritum mitteilt – alles beim Alten vor und ruft zum sozialisierenden Frohsinn auf: emphahen wir den maien! (SNE II c35, VII,9). Die sich anschließenden Strophen acht und neun folgen den typischen Sommereingangskonventionen: Preis der erwachenden Natur und daraus resultierende Hochgestimmtheit, die zum Tanz führt. Zunächst werden in Strophe acht Präsens und Präteritum noch im Wechsel gebraucht (ersahe, zergieng, was gegenüber hat, frewet) und von einem neuerlichen Appell beschlossen (wolauf, ir stolczen maid, / und springet auf der haid / dem winter alle zu laid!; SNE II c35, VIII,7–9). Doch Strophe neun geht vollständig in die Gegenwart über (ist, leit, sein, hat, sullen, raien, sind), wofür mit dem Verzicht auf Selbstthematisierung durch das Subjekt

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bezahlt wird. An dieser Stelle schließt sich der Mutter-Tochter-Dialog an (SNE II c35, X–XIII), der abgesehen von zwei inquit-artigen Präteritaleinschüben (SNE II c35, X,1 u. XII,1) unterbrechungsfrei präsentisch und in wörtlicher Rede die Diskussion wiedergibt, die sich zwischen tanzwütiger Tochter und argwöhnisch-besorgter Mutter entspinnt. Das Ich der vorangegangenen Strophen nimmt sich auch bei dieser Gelegenheit wieder zurück. Es tritt erst in der folgenden Strophe – der vierzehnten – wieder in Erscheinung, indem es Gegenwart und Vergangenheit gegeneinander abwägend feststellt, dass es noch nie ein altes Weib gesah (SNE II c35, XIV,2), das sich wie dieses gebärdet hätte: sie fert […] empor (SNE II c35, XIV,5), sie springet (SNE II c35, XIV,7), sie und ir swester Geudte / sind paid in meinem streite (SNE II c35, XIV,8f.). Die zeitlichen Staffelungen zeigen in c35 folglich ein recht vielfältiges Gemenge, mit dem verschiedene Positionen des Ichs kombiniert werden: Im ersten Teil der Kreuzfahrtsstrophen blickt es vordergründig auf vergangene Ereignisse zurück, ohne diese jedoch stringent anzuordnen oder seine gegenwärtige Lage vergleichend näher zu erläutern. Über die ambivalente Präsenz der Imagination (SNE II c35, Vf.) dringt das Subjekt sodann auch in die Gegenwart seiner Schilderung vor (SNE II c35, VII– IX), um im Dialogteil nur noch als Gesprächsthema zwischen Mutter und Tochter präsent zu sein – immer unter der Prämisse, bei Ich und Riuwentaler von einer Forschungstradition der Ineinssetzung auszugehen. In Strophe vierzehn findet das Ich schließlich in einen Gestus hinein, der die verschiedenen Haltungen des bisherigen Liedes zusammenführt: präteritale Ausstellung des Subjekts als Geschehensteilnehmer (SNE II c35, I–IV u. VII) und präsentische Abwesenheit des Ichs auf der Handlungsebene (SNE II c35, Vf.). Strophe acht versuchte Ähnliches, doch erst am Liedende ist das Subjekt tatsächlich in der gegenwärtigen diegetischen Welt angekommen. Auf diese Art und Weise verwebt c35 mehrere Geschehenszusammenhänge, indem es Kreuzzug und Schlacht (SNE II c35, I– IV), die Narrationsansätze zu Engelmar (vgl. wurde er an der zungen geslagen, / und das sein oder kragen / muste noch die seck tragen [SNE II c35, V,7–9]) und den Dörpern Limenczun und Irrenfrid (vgl. der ine die oren paiden abschnid, / wie gern ich das sehe / […] / brant man sie durch die zendt / so sie der teufel schende! [SNE II c35, VI,5–9]) sowie den dramatischen Dialog verkettet. Die übergeordnete Ausrichtung dieses Geflechts ist diejenige auf Heimkehr (SNE II c35, VIII) und Wiedereinfügen des Riuwentalers in seine vertraute Rolle (SNE II c35, XIV). Auf der Ebene der Zeitensysteme ergibt sich dabei eine die unterschiedlichen Teile sukzessive integrierende Struktur, die zur Revision des anfänglichen Eindrucks eines simplen Aufaddierens populärer Neidharttopoi nötigt. Bezüge auf die geistliche Ebene sind in c35 selten – was für ein Kreuzlied des Neidhartkontexts wenig überraschend ist – und werden nicht mit dem Kreuzzug, sondern der heimatlichen Sphäre assoziiert: Gott soll dem Lyrischen Subjekt heimhelfen (SNE II c35, III,8) und der Teufel Limenczun und Irrenfrid geben, was sie verdienen (SNE II c35, VI,9)! So entsteht zwischen dem diegetischen Diesseits und

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seinem zugehörigen Transzendenzraum weder Interaktion noch eine mehrschichtige gedankliche Ausrichtung auf sie, denn Gott und der Teufel sind einzig dazu da, dem Ich zu seinen Wünschen zu verhelfen. Es verpflichtet sich der Transzendenz im Gegenzug aber nicht in ähnlichem Umfang (vgl. die Kreuzlieder Hartmanns von Aue und ähnliche Beispiele), sondern ist eigenständiger Akteur seiner Welt. Die Interaktionspartner des Lyrischen Subjekts gestalten sich in c35 hingegen vielfältig: Im Kreuzzugsteil treten außer dem Ich – jedoch geschildert aus dessen Perspektive –Kaiser Friedrich (SNE II c35, II,3 u. IV,1), sein Heer (SNE II c35, II,7; III,3 u. IV,1) und die Heiden auf (SNE II c35, II,4 u. 7–9). Im Dörperteil richtet sich die Aufmerksamkeit des Subjekts auf eine Figurengruppe aus Engelmair (SNE II c35, V), Limenczun (SNE II c35, VI), Irrenfrid (SNE II c35, VI) und Berrut (SNE II c35, VII), die es als feindlich ablehnt, und eine zweite aus den stolczen maid (SNE II c35, VIII,7), jungen (SNE II c35, IX,1), dem magetein (SNE II c35, X,1) und seiner fraw muter (SNE II c35, XII,4), deren Schwester Geudte (SNE II c35, XIV,8) und den kinden auf der strassen (SNE II c35, XIV,4), der es freundlich gesonnen ist. In den vorangegangenen Ausführungen wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Liedpersonal, über das das Subjekt Aussagen trifft, in der absoluten Mehrzahl der Fälle um Bezugsfiguren, nicht aber eigene Akteure handelt360. Im Falle des Mutter-Tochter-Dialogs jedoch lässt sich diese Einschätzung mit dem Rezeptionseindruck nicht vereinbaren. Dazu trägt die umfangreiche wörtliche Rede beider Figuren bei, die schiere Ausdehnung ihres Gesprächsraums – gemessen an den sonstigen Figurenbezügen des Liedes –, der Objektstatus des Ichs und das individuelle Profil, das Mutter und Tochter durch ihren jeweiligen Äußerungsstil und die narrativen Selbstzuschreibungen erhalten. So hat sich die Tochter einen edelinge erwählt, will ihm sein sporen vergelten, weist die Gegenrede der Mutter ebenso zurück wie den ersatzweise offerierten maiers sun und möchte sich lieber einmauern lassen, als dem Reuentaler seine willkommenen Wünsche abzuschlagen. Die Mutter hat ihrerseits von dem Knaben offenbar schon so einiges gehört und rät ab vom ‚Ballspiel‘, das dieser im Sinn hat, der trügerische. Neidhartuntypisch ist dieser Abschnitt allerdings nicht, zieht man zum Vergleich andere Mutter-Tochter- oder Gespielinnen-Dialoge der auch in R gründenden Überlieferung heran, etwa SL 1 (SNE I C210), SL 14 (SNE I R15), SL 15 (SNE I R22) etc. Vollends neidharttypisch ist dagegen, dass das Subjekt sich in der Regel zu den anderen männlichen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft in einem angespannten, da konkurrenzbelasteten Verhältnis befindet, das die meisten Winterlieder belegen, so beispielsweise WL 17 (SNE I R32, III) und WL 20 (SNE I R47, II). Eingeschränkt abweichend zeigen sich die sommerlichen Tanzgesellschaften, in denen das sich äußernde Ich männliche Dörper duldet, die als Partner des zweiens (vgl. SL 27 [SNE I R8, V, VII, Parallelstrophe c39, X]) und damit für das angestrebte, gelungene Maifest || 360 Vgl. den Boten oben etc.

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unerlässlich sind. Doch diese spielen auch in diesem Fall keine herausragend positive, sondern eher eine neutral unbeachtete Rolle, da das Subjekt hauptsächlich mit dem Preis der jungen Mädchen beschäftigt ist und diese – selbstverständlich – ausschließlich von ihm träumen (vgl. SL 14 [SNE I R15, V–VII]). Korrespondierend zu dieser Teilung der Figuren, deren Artikulationsübergang die Strophe vier bildet, führt c35 auch zwei getrennte Raumbereiche vor, über die die diegetische Welt geordnet ist und deren Abgrenzung kreuzliedkonform das mer (SNE II c35, II,1) leistet. Der Kreuzzugsteil des Liedes findet beinahe komplett in der haiden landt (SNE II c35, II,4) statt, teils vage regional begrenzt (SNE II c35, II,1 u. 4), teils offenbar konkret auf das Schlachtfeld bezogen (SNE II c35. II,4f. u. III,3). Lediglich die Gedanken des Subjekts richten sich aus der Kampfsituation durch die Erinnerung an positive Vergangenheiten (SNE II c35, I,1f.) oder die Hoffnung auf zukünftige Wiederkehr (SNE II c35, III,9 u. IV,5) beständig in die Heimat. Im Fall der Imagination der Beispieldörper (SNE II c35, Vf.) ist die Position des Subjekts auf Schlachtfeld oder Heimreise hingegen unklar, während Strophe sieben sich eindeutig auf seine Heimkehr bezieht (SNE II c35, VII,1). Nicht weiter konkretisiert, aber notwendig in dieser Heimatsphäre lokalisiert, sind auch die Naturorte wis (SNE II c35, VIII,3), haid (SNE II c35, VIII,8 u. IX,2) und waldt (SNE II c35, IX,5),361 an denen das Ich den tanzrelevanten Frühling abliest. Die Benennung Rubental (SNE II c35, XI,4), die im Dialog von Mutter und Tochter aufscheint, um den knab näher zu bestimmen (SNE II c35, XI,2f.), ist ebenso wie diejenige der Naturorte eine Bezeichnung ohne erhellende räumliche Anbindung an die restliche diegetische Welt. Sie ist ausschließlich funktional bestimmt. Diese Praxis ähnelt der Vorliebe für Figurennamen in den Liedern des Neidhartkontexts, die ganze Strophen füllen können (vgl. WL 4 [SNE I R33])362, den Rezipienten dabei aber gerade nicht besser ins Bild setzen, sondern mit einer Menge Information zurücklassen, die ihrerseits ratlos macht. Insgesamt scheint die Welt, in die die über Zeitstrukturen grob organisierte, behauptete Liedhandlung eingeschrieben wird, sich somit aus den beiden großen Bereichen ‚Heimat‘ und ‚Heiliges Land‘ zusammenzusetzen. Jene bestehen wiederum jeweils aus kleineren Teilbereichen (Schlachtfeld, Heide, Straße etc.), die ihrerseits zur Verortung von Geschehnissen und als deren Bühne dienen, damit ein Bericht der Vorkommnisse Tiefe gewinnt. Dazu ist es aber offenbar nicht notwendig, eine kohärente Erzählwelt zu schaffen, sondern es genügt vollauf, einen vagen, unfesten Erzählraum bzw. mehrerer Erzählräume zu schaffen, deren Verbindungen untereinander zudem zweitrangig und fakultativ sind. Da jedoch auch mittelalterliche Romane || 361 Die Straße (SNE II c35, XIV,4) ist zwar nicht uneingeschränkt als Naturort zu bezeichnen, weicht in ihrer Funktionalisierung von diesen genannten jedoch kaum ab. 362 Die betreffende Strophe vier steht nicht in den Handschriften R oder C, sondern nur in K, c und d (K3, c104 und d14). Sie wird von Haupt und Wiessner jedoch trotzdem in die Edition der Lieder Neidharts aufgenommen bzw. dort belassen, vgl. Die Lieder Neidharts, hrsg. von Wiessner [u. a.], Tübingen 1999, S. 68.

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und Erzählungen nicht dem Zwang zur gleichmäßigen Ausleuchtung ihrer Diegesewelten unterliegen, sondern Sprossräume bilden, wie Uta Störmer-Caysa zeigt,363 kann diese Praxis kaum als spezifisch lyrische Art eines erzählenden Weltentwurfs verstanden werden, sondern vielmehr in Richtung eines mittelalterlichen Erzählspezifikums, das Romane und lyrische Werke gleichermaßen aufweisen. Formen des uneigentlichen Sprechens liegen in c35 wiederholt vor und lassen sich in mehrere Gruppen ordnen. Zum ersten ist die metonymisch-synekdochische Ersetzung zu nennen, so etwa die Besitzer-Besitz-Relation in ir swerter vil sere schniten (SNE II c35, II,9), vergult sein im sein sporen (SNE II c35, X,9) und ich ie gewan den leib (SNE II c35, XIV,1). Ihr narrativer Wert wurde im ersten Untersuchungsteil als gering herausgestellt und so sollen diese Beispiele hier ebenso wenig weiterverfolgt werden wie das Herz als Behältnis für Gefühle (SNE II c35. X,4), das bereits an anderer Stelle364 ausführlich besprochen wurde. Damit ist jedoch noch kein finales Urteil über die Konventionalität von c35 gesprochen, denn dieses Lied hält im Gegenteil einige interessante Stellen bereit: Die offensichtlichste Metapher dürfte dabei in Strophe acht liegen, wo es von der Wiese der sommerlichen Natur heißt, sie trage schone klaid (SNE II c35, VIII,3). Mit dieser Übertragung aus dem einen in ein anderes Begriffsfeld (Natur-Kleidung) findet sich in c35 eine Metapher, die prototypische Überblendung, wenn auch keine nennenswerte Kühnheit für sich in Anspruch nehmen kann. Schließlich sind ähnliche Formulierungen der bekleideten Natur hinlänglich bekannt: Heinrich von Veldeke spricht von Wald und Heide, die mit ir grüener varwe kleide so manches Herz erfreuen (MF H 259 53 C) und Walther von der Vogelweide vom Mai, der die Blumen bekleidet (L 51,29). Ein zweiter Komplex liegt in der Engelmar-Strophe, denn nach Aussage des Liedsubjekts ist der betreffende Dörper derart außer sich,365 das im erkrum sein schnallen (SNE II c35, V,3). Weiterhin wünscht es sich, dass er – Engelmar – an der zungen geschlagen werden und sein kragen seck tragen soll (SNE II c35, V,7–9). Für den noch auszuführenden Bereich des Sangs ist es zunächst bemerkenswert, dass das sich äußernde Ich scheinbar deutlich mehr gegen Engelmar aufgebracht wird, weil dieser die akustische Hoheit des Reviers für sich beansprucht, und weniger infolge der Konkurrenz um die stolczen maid (SNE II c35, V,3). Doch um zunächst die Thematik der Metapher in c35 abzuschließen, ist noch einmal auf die in den Engelmar-Versen getätigten Aussagen über dessen schnallen (SNE II c35, VII,7) und Zunge zurückzukommen: Freilich wäre gerade die || 363 Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 70–76. Eine Deutung dieses Konzepts in Bezug auf den Minnesang versucht Annette Gerok-Reiter. Vgl. dazu Gerok-Reiter, Unort Minne, hier S. 84. 364 Vgl. Abschnitt 2.2.3. 365 Die Handschriften f und w bieten an dieser Stelle unverswigen statt unversunnen, dem sich auch Beyschlag und Brunner anschließen – Engelmar ist also offenbar ein lauter Zeitgenosse. Vgl. SNE III, S. 321.

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Zunge – ebenso wie oben Schwert und Sporen – zunächst auch als Metonymie lesbar, in Verbindung mit dem Umfeld des Verses, das sich auf Mündlichkeit im Wortsinn konzentriert, lässt sich an dieser Stelle jedoch noch mehr entdecken. Denn in der Kombination von ‚Zunge‘ und ‚schlagen‘ überlagern sich eine übertragene und eine wortwörtliche Lesart, deren Spiel um- und miteinander aufgrund der letztlich nicht mit Sicherheit festzulegenden Bezüge nicht zur Ruhe kommt. So kann die Zunge einerseits übertragen mit Engelmars Lautäußerung oder Sprache identifiziert werden, die als störend empfunden wird und geschlagen – im Sinne von übertroffen – werden muss, um damit endlich Schweigen herbeizuführen. Wortwörtlich wäre diese Passage andererseits aber nicht weniger als buchstäblicher Schlag auf die Zunge bzw. den Mund zu deuten und damit quasi als Vorbote der Gewalt, die in Strophe sechs ausbricht. Teil der Konzentration auf den Mund ist auch die schnalle, die auf der einen Seite abstrahierend als verächtlicher Ausdruck für das Mundwerk oder aber wörtlich als Schnabel verstanden werden kann. Der pejorative Beiklang, den auch die heute noch gängige Redensart trägt, scheint auch in diesem Neidhartlied bereits schlüssig. Aber hier ist die betreffende Stelle semantisch immer noch nicht erschöpft, denn unter Zuhilfenahme der letzten, vierzehnten Strophe kann der Schnabel366 in der Beschreibung Engelmars weiterführend im Sinne der Ineinssetzung mit einem Vogel gelesen werden. In dieser vierzehnten Strophe heißt es nämlich von dem alten Weib – Mutter oder nicht –, sie springe recht sam ein vogel empor (SNE II c35, XIV,5), wodurch unmissverständlich das Bild eines Vogels auf eine Bezugsfigur der diegetischen Welt geblendet wird. Engelmars Vogelwesen befindet sich also in Schwarmbildung. Eine Deutungsmöglichkeit dessen wäre die Stärkung einer Interpretationsposition, die davon ausgeht, dass die Äußerungen des Ichs über seine heimatliche Sphäre nur subjektgebundene Imaginationen sind – wieder kann damit noch keine Aussage über Autor oder Sänger des Werkes intendiert sein. Die eskapistische Funktion derartiger Imaginationswelten würde sich in der Tat zur Einstellung, die das Liedsubjekt gegenüber der diegetischen Kreuzzugsrealität äußert, ebenso passend fügen wie zur kritischen Auffassung, die der Neidhartkontext insgesamt gegenüber den Kreuzzugsunternehmungen vertritt. Indem das sich äußernde Ich mit den Vogelgestalten der imaginierten Dörper spielen kann, wird es ebenso zum Schöpfer seiner Privatrealität wie das Friedrichs von Hausen, wenn die Ermächtigung auch aus anderen Beweggründen wünschenswert scheint. Warum es sich außerdem gerade Vögel zur überblendenden Folie erwählt hat, ist mit Blick auf deren Rolle im klassischen Minnesang wie in den sinnenfrohen Neidhart-Sommerliedern wohl offensichtlich und bietet zudem eine Anbindungsmöglichkeit für den locus amoenus mit seinem gesamten naturhaft-friedlichen, klangvollen und unüberbietbar paradiesischen Repertoire. || 366 Die Handschrift f führt ihn sogar ausdrücklich als snabel. Vgl. ebd.

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Auf diesem Wege lassen sich c35, c114, R12 und MF 51,33 gleichermaßen als Bearbeitung der Wirkmacht von Gedanken lesen, in der sich alle räumlichen und zeitlichen Verweisstrukturen auf den Imaginationsraum des intratextuellen Subjekts beziehen. Der Status dieses Sonderraums ist nicht leicht zu bestimmen, was zweifellos auch daran liegt, dass er sich einen weiteren Schritt vom Betrachter entfernt: Ist die diegetische Welt des Liedes in eine Aufführungssituation der Performanz eingeschlossen, so umschließt die Welt der histoire-Ebene mit dem Subjekt auch dessen Gedanken. Mehr noch: Das Subjekt bindet über seinen Herrschaftsraum der Gedanken, seinen Erlebnisraum der histoire und seinen Äußerungsraum des discours alle drei Sphären zusammen. Demnach trennt aber den Rezipienten und den geäußerten Inhalt der menschlichen Vögel respektive vogelartigen Menschen auch nicht nur die Barriere zwischen innerhalb und außerhalb des Liedes befindlicher Sphäre, sondern darüber hinaus weiterhin diejenige, die die Innenwelt des sich äußernden Ichs von dessen diegetischer Außenwelt abgrenzt. Die Metapher überspringt nun all diese Entfernungen bzw. lässt sie durch ihren unwiderstehlichen Brückencharakter vergessen. Eine alternative Lesart bietet sich in den Metaphern als realitätsverändernden qua die Perzeption der Realität umbildenden Mechanismen. Mit ihnen legt das Lyrische Subjekt eine Wahrnehmungsfolie über die diegetische Welt, die diese in ihrer Aufnahme verändert und damit in einem zweiten Schritt auch die Welt des Rezipienten. Denn sie demonstriert, wie jene metaphorischen Veränderungsprozesse in beiden Welten gleichermaßen verlaufen. Im dargelegten Fall geschieht dies mithilfe einer Form, die nicht in aller Deutlichkeit behauptet, diese oder jene Figur ‚sei‘ ein Vogel, wie es die metaphorische Überblendung tut. Stattdessen weist sie den besprochenen Figuren der diegetischen Welt lediglich vogelartige Attribute zu bzw. das Subjekt behandelt seine diegetischen Mitbewohner umgehend so, als hätten sie jene Attribute. Der narrative Prozess der metaphorischen Wahrnehmungsänderung verläuft in diesem Fall vom Vogel als Bildspender zum Menschen als Bildempfänger über die kombinierte Form der Ineinssetzung. Wieder ist der Zwischenraum dieses Geschehens, dessen Anfangs- und Endzustand gegeben sind, durch den Rezipienten selbstständig zu füllen. Weiterhin fällt auf, dass die oben genannten Vogel-Überblendungen stets an Stellen auftreten, an denen Gesang relevant ist, oder mit Gesang einhergehen. So wird hinsichtlich Engelmars artikuliert, wie unversunnen bzw. unverswigen dieser ist und an seiner zungen geslagen werden soll (SNE II c35, V), und im Falle der Alten – vor der bildlichen Zusammenführung von Vogel und Mensch – durch das sich äußernde Ich geschildert, dass nie ein altes Weib pas den raien sunge / den kinden auf der strassen vor (SNE II c35, XIV,3f.). Ist auf der einen Seite die Ineinssetzung des Minnesängers mit einem vogelîn zwar beliebt und bekannt,367 so geht das Subjekt in diesem Neidhartlied doch einen Schritt weiter,

|| 367 Vgl. beispielsweise Walther L 58,21f.; L 64,31f. u. L 110,27f.

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indem seine diegetische Welt nun darüber hinaus zusätzliche Vögel erhält – von denjenigen in der Sommernatur der Strophen acht und neun noch gar nicht zu sprechen. Auch das Ich definiert sich weiterhin anteilig über seinen Sang, der dessen Berufung und den Zielpunkt aller Wünsche darstellt, verheißt er doch Frohsinn (SNE II c35, I,1f.). Aber dieser Sang ist für die übergeordnete Fragestellung der Studie nun auch deshalb relevant, weil er einerseits eine Verbindung zur Aufführungssituation des Liedes (SNE II c35, VIII,2) und andererseits eine neuerliche Möglichkeit zur unauserzählten Narration bietet, denn in ihm ist neben der performativen Komponente des Wie, die eine Verknüpfungsmöglichkeit zum Teil 3 leistet, immer auch der narrative Anteil des Was mindestens potentiell enthalten: so wollt ich aber singen / von mengem törpere (SNE II c35, IV,6f.). Erschließt sich die zweite Hälfte wohl von selbst, so verlangt der erste Teil vielleicht nach weiterer Erläuterung: Das Lied c35 dürfte das im Rahmen der vorgestellten Neidhartlieder schwierigste Beispiel für eine anzunehmende Aufführungssituation sein. Einerseits ist dies vor allem durch die unterschiedlichen räumlichen Positionen begründet, aus denen heraus das Subjekt sich äußert (vgl. SNE II c35, II gegenüber SNE II c35, VII), andererseits aber auch durch die Einmaligkeit wörtlicher Rede verschiedener Figuren, die die Aufmerksamkeit vom sich äußernden Ich der Diegese weg- und zugleich auf dasjenige der Aufführung hinlenkt (SNE II c35, X– XIII). Es wird im Rahmen des Teils III darauf zurückzukommen sein; für jetzt sei nur angemerkt, dass die Nähe, die im discours aus einem gegenseitigen Verständnis zwischen Autor und Rezipienten durch Metapher oder Ironie resultiert, in jenen Effekten der Wahrnehmungslenkung ein Gegengewicht erhält, das in der Aufführung eine Distanzierung erwirkt. Ähnliches erzeugen auch die metapoetischen Aussagen über den Sang, die aus der histoire in den discours ausgreifen. Denn wenn das Ich in Strophe vier ankündigt, es werde noch einige Lieder von Dörpern singen, sollte es je wieder heimkehren, und im direkten Anschluss von Engelmar, Limenczun und Irrenfrid singt, so bezieht es Sang auf Sang in einer Art und Weise, die zugleich Nähe und Distanz evoziert: primär Nähe im expliziten Schwinden der Entfernungen zwischen Inhalt und Artikulation der Äußerung sowie sekundär Distanz aufgrund des impliziten artifiziellen Mehraufwands, der zur Schöpfung einer solchen Figur notwendig ist. Das Lied bekennt sich somit ein Stück weit zur Künstlichkeit seiner Entstehungsparameter und versucht dennoch, über diese eine besondere Natürlichkeit in der Rezeption zu erreichen.

2.4.3 Zusammenfassung In der Untersuchung der vier Lieder des Neidhartkontexts, die Kreuzzugsallusionen enthielten, zeigten sich sehr unterschiedliche Arten und Intensitäten der Narrativierungsmöglichkeit lyrischer Texte. Gemeinsam war den Liedern c114, R12, R19 und c35 der mangelnde Bezug auf eine Transzendenzebene, der Kreuzlieder mit stärker

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didaktischem Anspruch signifikant prägt, genannt seien zum Vergleich Heinrichs von Rugge Kreuzleich (MF 96,1) oder Hartmanns von Aue Dem kriuze (MF 209,25). Die vier Neidhartlieder nutzten – ihrem gewandelten Zugriff auf das Kreuzzugsthema entsprechend – diese Möglichkeit des Bezugs auf transzendente Bereiche nicht mehr oder lediglich in Form ausrufartiger Bekräftigungen, die ebenso in Minnesangtexten vorkommen (vgl. MF 8,9; MF 13,14 u. MF 213,19) und in der Folge nicht dezidiert auf die Kreuzzugsproblematik hin gedeutet werden können. Erwartungsgemäß häufig angewendet wurde demgegenüber die Art der Narrativierung über eine histoire-Handlung bzw. den Bericht von ihr, wobei die einzelne Funktionalisierung räumlicher Ordnungen, zeitlicher Staffelungen und figürlicher Beziehungsstrukturen der Lieder sehr differierte: von keinerlei räumlicher Fixierung in c114 bis hin zu einem komplexen System in c35 sowie der klaren Trennung zwischen Jetzt, Dann und Damals in R12 gegenüber einem nur vagen Jetzt in R19. Dabei scheint weder die Position des Liedes in der Überlieferung eine Vorhersagbarkeit seiner Vielschichtigkeit zu ermöglichen (c114 – c35), noch die Komplexität respektive Schlichtheit der Strukturen des einen Bereichs die des anderen nach sich zu ziehen (R19-Figuren – R19-Zeiten). Insbesondere die präsentierten Bezugsfiguren des sich äußernden Ichs trugen innerhalb der inszenierten diegetischen Welt nachhaltig zu deren Tiefenschärfe und Lebendigkeit bei, in Hinblick worauf allerdings nicht nur die schiere Menge dieser diegetischen Einwohner relevant war (c114 wenige – R12, c35 zahlreiche), sondern auch ihre Differenzierung und Handlungsmacht. Denn c35 gewann zum einen gegenüber R12 signifikant an narrativer Ausdrucksmöglichkeit, indem es aus einer homogenen Masse heimatlicher Dörper die speziellen Figuren Engelmairs, Limenczuns etc. herauslöste und mit Eigenschaften sowie Handlungssequenzen versah. Im Vergleich hatte R12 zumeist nur Aussagen über undifferenzierte Gruppen wie das Heer, die Welschen, die Freunde getätigt. Und zum anderen konnte c35 verglichen mit den anderen untersuchten Liedern auch deshalb einen abweichenden Modus behaupten, weil es neben dem sich äußernden Ich als Perspektivengeber die Sicht von Mutter und Tochter parallelisierte. Diese ist als eigenständig gegenüber dem Liedsubjekt freilich nur inszeniert, aber auch wenn sie tatsächliche Unabhängigkeit nicht in Anspruch nehmen kann – aufgrund der alle Perspektiven verbindenden Aufführungssituation niemals können wird – trägt die Mutter-Tochter-Episode dennoch dazu bei, dem Eindruck Plastizität zu verleihen, den der Rezipient von der diegetischen Welt des Liedes und speziell vom Liedsubjekt gewinnt. Eventuelle Trutzstrophen würden ein ähnliches Verfahren intensivieren, indem sie das Lyrische Subjekt in seiner Allmachtsstellung der Information und Intonation hinterfragen und eine Vielfalt der Blickpunkte initiieren. Wie ertragreich eine solche Multiperspektivität für die narrativen Ansätze eines Liedes und dessen Interpretation allgemein sein kann, verdeutlichte oben schon Guote liute (MF 94,15). Wenn das Kreuzfahrer-Ich den Tanz der Dörper imaginiert und diese später über ebenjenes Ich reden und urteilen, dann wird im Blick auf das Gegenüber ein Spiel verschiedener

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Perspektiven mit- und umeinander eingesetzt, das eine zusätzliche Möglichkeit birgt, den Beziehungsreichtum unauserzählter Narrationen innerhalb lyrischer Texte weiter auszustellen. Auch dies fällt unter die lyrisch-narrative Mehrschichtigkeit, auf die oben bereits abgehoben wurde und die schon Müller-Zettelmann im Sinn hatte.368 Von der Metapher als weiterer Option der Erzählung in lyrischen Texten machten die vier Lieder wiederum in unterschiedlicher Intensität Gebrauch: c114 und R12 integrierten sie überhaupt nicht, während R19 und c35 eine Dichte und Kunstfertigkeit der Verwendung zeigten, die zwar nicht an die Beobachtungen vorangegangener Abschnitte heranreichte369 – erinnert sei hier nur an das Herz als Schrein und Acker –, sich aber dennoch nicht leugnen oder ignorieren lässt. In Fortführung der Herztopik zog auch im Neidhartkontext das Herz einige Formen des uneigentlichen Sprechens an, bemerkenswerterweise agierten aber gerade die interessanten Metaphern des Wiesenkleids, der Maisteuer, des Glücksrads und der menschlichen Vögel ohne dieses Hauptbetätigungsfeld metaphorischer Äußerungen. Vielmehr knüpften die erzählenden Metaphern in den untersuchten Neidhartliedern an der diegetischen Welt um das Ich an und weniger am Lyrischen Subjekt und seiner Geliebten, wie es diejenigen des Herzensgrunds oder der Pfeilblicke noch taten. Auch auf der Ebene der Metaphern ist somit in den Liedern des Neidhartkontexts die Arbeit an der Welt der Diegese spürbar, die sich schon anhand der Auseinandersetzung mit ihren Zeiten, Räumen und Bewohnern zeigte und die auch die Forschung im Vergleich zwischen Minnesangtradition und Neidhartinterpretation wiederholt betonte (Weidmann, Hatto, Wiessner). Mit der Überblendung zwischen Dörpern und Vögeln schuf c35 zudem eine Verbindung typischer Minnesang- und Neidharttopoi, die die untersuchten Lieder nicht nur in sehr unterschiedlichem Umfang prägten, sondern auch in variierenden Verhältnissen. Als ein wichtiger Bezugspunkt aller Lieder und eine Verbindung neidharttypischer mit minnesanglichen Topoi stellte sich dabei der Sang heraus, der überdies erstens das Ich in der Ferne mit seiner Geliebten (c114) oder den Freunden und Verwandten (R12) sowie das Lied mit seiner Aufführung (c35) verband. Mit ihm ergaben sich in der Folge Gelegenheiten zum metapoetischen Spiel, das Lied und Subjekt mit ihrem eigenen Status treiben konnten, und ebenfalls die Möglichkeit zur nicht auserzählten Geschichte, wie an c35 deutlich wurde. Im Großen und Ganzen konnte anhand der Kreuzlieder des Neidhartkontexts gleichermaßen Bearbeitung wie Weiterentwicklung des Tage- und Kreuzlieder verbindenden Konzepts von Nähe und Distanz nachverfolgt werden (c114, R12). Dabei || 368 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Narratologie, S. 135. 369 Und ebenso wenig können diese an die Formen metaphorischen Erzählens bei Wolfram heranreichen, vgl. Hartmut Bleumer: Autor und Metapher. Zum Begriffsproblem in der germanistischen Mediävistik – am Beispiel von Wolframs Parzival. In: Autorschaft und Autorität in den romanischen Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Susanne Friede, Michael Schwarze. Berlin 2015 (ZrP Beihefte. 390), S. 13–39.

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kam gegenüber der vorangegangenen Untersuchung eine Form der Nähe neu hinzu, die auf Grundlage des Beziehungen stiftenden Sangs herbeigeführt wird, der dem Subjekt histoire-seitig die Möglichkeit zur Anbindung an Entferntes gibt. Diese wird im folgenden Abschnitt zur Aufführung auch für den discours weiterzuverfolgen sein, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich anhand der metapoetischen Kunstfertigkeit des Sangs in c35 eine bemerkenswerte neue Beziehung zwischen der Nähe, die durch die Annäherung von Inhalt und Artikulation geschaffen wird, und der Distanz ergab, die durch den Mehraufwand an Künstlichkeit und Kunstfertigkeit entsteht. Sie gesellt sich zu den bereits angesprochenen discours-Polaritäten von Lyrik und Epik, Metapher und Topos, Hören und Sehen, die ihrerseits nicht ohne Auswirkung auf die histoire-Ebene und ihre nah-fernen Raumstrukturen sind. Das (Wächter-)Tagelied konnte dies über die Logik des Sehens und Hörens besonders verdeutlichen.

3 Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze 3.1 Situationsspaltung und Situationsverschmelzung als widerstreitende Konzepte? Dass es sich bei den Liedern des Minnesangs um Aufführungstexte handelt, gehört zum basalen Wissen über sie,1 doch die Performanz oder Performativität dieser Texte – zum begrifflichen Unterschied unten – ist nicht selbsterklärend; im Gegenteil. Dies bestätigt nicht erst der Überblick über die Forschung, der im folgenden Abschnitt zunächst chronologisch beginnend, dann aber verstärkt anhand von Problemkomplexen wie Rolle, Ritual oder Fiktionalität gegeben werden soll. Auch schon ein kurzer Blick in Handbücher und Lexika lässt erahnen, worin zumindest ein Teil der Verwerfungen gründet, die den Forschungsdiskurs kennzeichnen: Die Entfernung zur Sprechakttheorie ist kurz,2 die Verbindung zu Theater, Ritual und Fest eng.3 Manfred Pfister etwa führt beispielgebend als die Hauptbetätigungsfelder performativer Forschungen Theater und darstellende Kunst, performance art, cultural performance sowie Linguistik4 und Sprachphilosophie an,5 bevor er mit dem performative turn auf die korrespondierende Neuorientierung der Literatur- und Kulturwissenschaften verweist. Sie lenkt den Forschungsfokus gewissermaßen vom Produkt auf die Produktion, hat ihre Wurzeln jedoch – wie dies auch für die maßgeblichen Fragen der Neidhartforschung dargelegt wurde – in einer Periode der Auseinandersetzung mit literarischen Werken, die länger zurückliegt und doch von

|| 1 Vgl. im Einzelnen Kasten, Art. Minnesang, S. 604. Ulrich Barton, Rebekka Nöcker: Performativität. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik, hrsg. von Ackermann, Egerding, S. 407–452, hier S. 428–431. Vgl. weiterhin grundlegend zur Oralität die Arbeiten Paul Zumthors, im Einzelnen Paul Zumthor: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990, S. 133–142. Ders.: Körper und Performanz. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1995 (stw. 750), S. 703–713. Ders.: Art. Mündlichkeit/Oralität. In: Ästhetische Grundbegriffe 4 (2002), S. 234–256. 2 Vgl. Matthew Bell: Art. Performativity. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory (2008), S. 421f. Ute Berns: Performativity. In: Handbook of Narratology (2009), S. 370–410. 3 Vgl. Richard Bauman: Art. Performance. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory (2008), S. 419–421. 4 Vgl. dazu genauer etwa das Kapitel bei Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von ders. Frankfurt am Main 2002 (stw. 1575), S. 9–60. 5 Vgl. im Einzelnen Manfred Pfister: Art. Performance/Performativität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2013), S. 590–592, hier S. 590f. Ders.: Art. Performance/Performativität. In: Grundbegriffe der Literaturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, S. 204–207. https://doi.org/10.1515/9783110684360-004

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Pfister als wesentlich für Entstehung und Entwicklung von Performanztheorien festgehalten wird. So gehören die Überlegungen zur Darbietung des Minnesangs seit Uhlands Zei6 ten zu den grundlegenden Fragen des Forschungsdiskurses – wenn zu diesem Zeitpunkt auch häufig das Hauptaugenmerk noch auf das der Dichtung zugrunde liegende Erlebnis des Dichters und die daraus folgenden Bemühungen gerichtet ist, jene Erlebnisse aufzufinden und die überlieferten Lieder konkreten Situationen zuzuordnen. Daneben existieren Überlegungen zum Liedvortrag zwar schon früh – man erinnere sich etwa auch an die Rolle, die in der Neidhartforschung oben die Frage nach einem adligen oder bäurischen Publikum bzw. nach Mimen als Dichtungsquell spielte –, aber zumeist noch nicht im Brennpunkt eines theoriebildenden Interesses. In diesen rückt die Aufführung tatsächlich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie auch Pfister betont, in der die zuvor verbreitete Ineinssetzung des Autors mit dem sich äußernden Ich, die lange Passagen der Forschungsgeschichte bestimmte, häufig in vielstellige Konzepte aufgelöst wird.7 Die Richtung der sich anschließenden Diskussion um den performativen Status der Minnelyrik wird seinerzeit maßgeblich durch den Beitrag Hugo Kuhns beeinflusst, der – obwohl inzwischen bald eine halbe Dekade alt – noch immer Meilensteincharakter hat. 1969 stellt Kuhn fest, dass einige Strophen oder Phrasen der Minnesangtexte erst in der Aufführung ihren Sinn voll entfalten. Er zielt damit auf den Umstand, dass verschiedene Stellen, die in ihrer schriftlichen Form graduelle semantische Offenheit behalten, in der Aufführung eine konkretisierte Deutungsrichtung gewinnen. Am Beispiel des Hartmann-Liedes Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5) erläutert Kuhn den betreffenden Effekt: Während des Vortrags dieses Liedes kann demnach die religiöse Kreuzzugsthematik etwa in Form eines Kreuzzeichens mitschwingen, das an das Gewand des Sängers geheftet ist, obwohl diese Ausrichtung sich im Liedtext nicht derart explizit ausdrückt.8 Nicht zufällig ist es ein Kreuzlied, an dem sich hier die Performanzdiskussion zuallererst herausbildet, denn dieser Typus verlangt in seiner Hinwendung auf Gottesdienst, Seelenheil und Sündhaftigkeit des Menschen gesteigert nach Authentizität.9 Eine solche Authentizität kann Kuhns aufführungsintern mit

|| 6 Vgl. die Abschnitte 1.2.2, 1.2.3 und 3.3. 7 Eine Ausnahme bildet Harald Haferland, wofür sich praktisch jede seiner Arbeiten als Beleg heranziehen lässt; hier sei nur auf einige besonders prägnante Stellen verwiesen. Vgl. im Einzelnen Harald Haferland: Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs? In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Colloquium Berlin 1996. Hrsg. von Thomas Cramer, Ingrid Kasten. Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen. 154), S. 232–252, hier S. 234, 238 u. 247. Ders., Hohe Minne, S. 44, 64, 90 u. 374–376. Ders., Minnesang als Posenrhetorik, S. 65, 73 u. 75. 8 Vgl. Hugo Kuhn: Minnesang als Aufführungsform. In: Ders. Kleine Schriften. Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 182–190, hier S. 184f. 9 Abschnitt 3.3 wird dies noch ausführen.

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dem Kreuz versehener Sänger ebenso aufbieten wie sein textinternes Korrelat, das für die Aufführung insbesondere dann bedeutungsvoll ist, wenn es sich ebenfalls ausdrücklich ‚bekreuzigt‘. Ein anderes Hartmann-Lied – Dem kriuze (MF 209,25) – bringt hierfür wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele, in dem das Ich vom zeichen Christi spricht, das es hie (MF 210,11) trage. Es könnte zunächst der Eindruck entstehen, dass hier nun die Aufführungssituation eben keinen Deutungsmehrwert im von Kuhn intendierten Sinne bereithält – schließlich bestätigt ja schon der Liedtext das Vorhandensein eines angehefteten Kreuzzeichens. Es wird unten noch ausführlicher auf diese Stelle eingegangen, daher sollen vorläufig die folgenden Fragen als Anstoß genügen: Was passiert, wenn der Sänger in der Aufführung dieses Liedes gerade kein Kreuz am Gewand trägt? Und wer trifft diese Entscheidung? Mit welcher Verbindlichkeit? Die liedinternen Versuche, in der mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik um ein gesondertes Maß an Authentizität zu ringen, sind damit indes noch lange nicht erschöpft, wie der Ansatz, das Ich als bekehrten Sünder darzustellen (MF 210,11), die Einarbeitung miniaturhafter Beispielgeschichten (MF 98,28f.), Multiperspektivität (MF 94,15) oder die Konkretisierung neuer Raumbereiche (R12, R19 etc.) zeigen. Mit Kuhns Beobachtung verwandt sind zum einen einige Gedanken Helmut Tervoorens und zum anderen die ‚Situationsspaltung‘ Rainer Warnings, wobei der durch die besagte Situationsspaltung hervorgerufene Effekt nochmals weitergeht. Tervooren bezieht den Grundgedanken Kuhns präzisierend insbesondere auf die Pronomen des Minnesangs, die referenzlos bleiben, wenn der Aufführende10 sie nicht mit entsprechenden Bezugspunkten füllt.11 Für den weiteren Forschungsdiskurs prägend wird jedoch eher Tervoorens Ansatz, in den Ambiguitäten der Lieder zum einen keine mangelhaften Fehlstellen, sondern Textstrategien zur Erzeugung von Spannung und vervielfältigenden Sinnzuschreibungen zu sehen, sowie zum anderen seine

|| 10 Tervooren geht wie auch etwa Grubmüller davon aus, dass das höfische Fest der angemessene Rahmen des Minnesangs in seiner Aufführung war. Vgl. im Einzelnen Tervooren, Die ‚Aufführung‘ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik, S. 49. Grubmüller, Ich als Rolle, S. 388. Aufschlussreich ist dazu eine Überlegung von Mertens, die drei Ebenen des Hofs unterscheidet: die reale als soziales Gefüge, die performative als Rahmen für Publikum und Sänger sowie eine textliche als ausschnitthafte Thematisierung. Vgl. Volker Mertens: Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide. In: Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg. Amsterdam 1995 (ABäG. 43/44), S. 379–397, hier S. 386f. Von den intratextuell beschriebenen Aufführungssituationen des Minnesangs, die Schweikle zufolge selten genug sind, auf eine reale Verankerung zu folgern, schließt folglich zwei Ebenen kurz, die Mertens getrennt wissen will. Vgl. Schweikle, Minnesang, S. 57. 11 Vgl. hier und im Folgenden Tervooren, Die ‚Aufführung‘ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik, S. 58. Aus dieser Verantwortlichkeit des Sängers leitet Tervooren zudem die Notwendigkeit seiner besseren Erforschung ab. Dass dieses Desiderat kaum Nachhall fand, wird mindestens in der Schwierigkeit begründet sein, den Sänger als Vortragsinstitution und insbesondere sein virtuoses Handeln wissenschaftlich zu fassen zu bekommen.

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Auffassung des Minnesangs als komplexes kommunikatives Handlungsspiel. Eine Grenze dieses Kommunikationsspiels zeigt Gerhard Wolf mit dem ‚Gegensang‘ der Spätüberlieferung auf, denn jene Lieder des späten Minnesangs sind durch eine nicht zwingende Realisierung in der Aufführung gekennzeichnet,12 die sich teils aus der fortgeschrittenen Schriftlichkeit dieser Traditionsperiode und teils aus dem selbstreflexiven Charakter der betreffenden Texte ergibt: Statt über Aufführungseffekte faszinieren diese über virtuose Intertextualität, Konkretisierung und Episierung. Warnings Beitrag nun ist mit dem Kuhns augenscheinlich deshalb verwandt, weil beide der Aufführung des Liedes ein gegenüber der schriftlichen Fassung zusätzliches Bedeutungspotential zuschreiben. Über Kuhn hinaus gehen Warnings Überlegungen hingegen, weil ihr Ergebnis nicht nur eine abgeänderte Stoßrichtung der Lesarten ist, die wie bei Kuhn die Aufführung stärkt. Bei Warning gewinnen die Referenzsysteme der Text- und der Aufführungssphäre an Abgrenzung zueinander und somit auch an Konfliktpotential: Die Situationsspaltung tritt ein. Aus diesem Befund schließt Warning für mittelalterliche Aufführungslyrik auf einen Weg in die Fiktion, die genutzt wird, um gesellschaftlichen Sinn zu konstituieren.13 Der dem zugrunde liegende Fiktionalitätskontrakt formt schließlich – so Warning weiter – sowohl den fiktiven Erzähler des höfischen Romans als auch das Lyrische Ich der höfischen Lieder aus;14 eine These, die nicht nur einen in sich geschlossenen Deutungsvorschlag zu Form und Funktion der Aufführung macht, sondern auch der oben referierten Position Sablotnys einen theoretischen Ansatzpunkt zur Verfügung stellt. Im selben Zeitraum offeriert Klaus Grubmüller mit der Rolle ein alternatives Theoriekonzept, dessen Grundgedanken zwar einmal mehr bereits früheren Forschungsperioden entstammt (vgl. von Liliencrons Maskentheorie Neidharts), das aber auch einen Ausweg aus dem Referenzendilemma Warnings bietet und dazu nicht auf Fiktionen zurückgreifen muss. Denn wenn das Ich des Minnesangs mit Grubmüller als generalisierte Rolle verstanden wird, in der der Autor weder als er selbst noch für sich, sondern vielmehr für alle spricht,15 dann ist diese Rolle weder real noch fiktional, sondern zunächst einmal schlicht poetisch. Im gleichen Problemkomplex wurzeln auch die Schwierigkeiten, die Harald Haferland um die Jahrtausendwende entgegenschlagen. Dieser setzt sich mit teils provokanten Thesen für einen neu zu akzentuierenden Realitätsgehalt des Minnesangs als Abkehr von der inzwischen äußerst vielfältigen Ebenenschichtung ein.

|| 12 Vgl. hier und im Folgenden Wolf, Der ‚Gegensang‘ in seiner Aufführungssituation, S. 153–178. 13 Vgl. Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, S. 122–125. 14 Die grundlegende Bedeutsamkeit, die die gespaltenen Sprechsituationen für Warning haben, verdeutlicht sich besonders an dessen Vorschlag eines Gattungssystems, das auf ihnen fußen soll. Vgl. Warning, Der inszenierte Diskurs, S. 190–195. 15 Vgl. Grubmüller, Ich als Rolle, S. 394 u. 406.

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Doch die Ablehnung, auf die Haferland mit seinen Ansichten häufig trifft, scheint nicht nur darin begründet, dass sich die Schöpfer liebgewonnener Modelle diffiziler Unterscheidung nur ungern vorhalten lassen, ihre Werke seien überkomplex. Erschwerend hinzu kommt ein sich offenbar unterscheidendes Rollenverständnis, das vonseiten Haferlands keineswegs die Rückkehr zur romantisierenden Erlebnislyrik propagiert, die mancher Kritiker augenscheinlich drohen sieht. Zwar lehnt Haferland in der Tat den Minnesang als Rollendichtung im Sinne Günther Schweikles16 ab,17 lässt dabei und bei allen weiteren scharfen Pointierungen dieser These18 jedoch Aussagen über Gefühle als flüchtige soziale Rollen zu, die wie eine zweite Natur übergeworfen werden.19 Die entscheidende Frage ist mithin, ob Verhaltensweisen oder Gefühle, die nach dem Prinzip consuetudo est altera natura übernommen und ausagiert werden, noch gespielt oder schon Teil eines ‚tatsächlichen‘ Selbst sind – wo und wie sich Spiel und Sein also trennen lassen oder ob sie nicht nur gemeinsam die Gelegenheit bieten, poetisch-schöpferisch tätig zu werden. Schweikle beispielsweise würde sich für ein Verbleiben im Rollenspiel aussprechen, von dem ein abweichendes reales Sein zu scheiden ist, während Haferland ein solches Grenzverhalten im Minnesang bereits als realitätsgetreues Agieren interpretiert, weil die Rolle Teil des Ichs ist. Berührt wird hiervon auch der Komplex um den Publikumsbezug, in dem Haferland die Ansicht vertritt, dass der Sänger das anwesende Publikum durch seinen

|| 16 Vgl. Schweikle, Minnesang, S. 169. 17 Vgl. Haferland, Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen, S. 234 u. 241. Etwa zeitgleich hinterfragt Thomas Cramer ebenfalls den allgemeinen Konsens der Aufführungspraxis und zwar bezogen auf den gemeinhin (vgl. oben etwa Tervooren und Grubmüller) angenommenen Aufführungsort des höfischen Festes, der aufgrund der innerliterarischen Hinweise auf die private oder halbprivate, nicht aber öffentliche Rezeptionssituation von Minneliedern wohl zu hinterfragen sei. Vgl. Thomas Cramer: Wie die Minnesänger zu ihrer Rolle kamen. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 79–104, hier S. 81f., 84 u. 87. Vergleichbar argumentiert auch Frank Willaert: Minnesänger, Festgänger? In: ZfdPh 118 (1999), S. 321–335. 18 In Hohe Minne konkretisiert Haferland diese These dahingehend, dass es nach Ansicht des Autors weder für die Fiktionalität, noch für das Vorliegen eines Lyrischen Ichs, das Haferland für den Minnesang schon 1996 zurückwies (vgl. Haferland, Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen, S. 239), oder irgendeine Form von Rolle im Minnesang überzeugende Beweise gibt (vgl. Haferland, Hohe Minne, S. 44). Aus der textinternen Behauptung des Minnesangs, dass die Dame existiert und die geschilderten Gefühle echt sind, schließt Haferland somit direkt auf die textexterne Situation des Vortrags. Die sich daraus für Haferland ergebende Schlussfolgerung lautet, dass die Autoren der Minnelieder sich beim Vortrag auf sich selbst bezogen (vgl. ebd., S. 64 u. 44), weshalb bei Haferland Autor, Sänger und Vortragender zusammenfallen, sodass er notwendig auch die Situationsspaltung Warnings ablehnen muss: Denn wenn das Werben als real und nicht als fingiert wahrgenommen wird (vgl. ebd., S. 76, 89 u. 147), dann gibt es keine Veranlassung, von einem Auseinandertreten verschiedener Wahrnehmungsmöglichkeiten auszugehen. 19 Vgl. ebd., S. 213.

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Vortrag zum Handeln auffordert.20 Er gestattet dem Lied somit, über die Vortragssituation hinaus in einen aufführungsexternen Lebensraum des Publikums hineinzugreifen, wozu eine offene Konzeption der Aufführung das Fundament bildet. Die entsprechende Gegenposition bekleidet – aufbauend auf einer weit geschlosseneren Aufführungssituation – der ästhetisch ausgerichtete Ansatz Albrecht Hausmanns, die Funktionalität dieser Gesellschaftskunst im aufführungsinternen Mitvollzug des Minnesangs zu sehen und nicht in dessen Nachahmungsanweisung.21 Die Vorstellung Haferlands von der gelebten, nicht gespielten Zeremonie scheint dabei zudem auf Müllers Begriff des Pararituals hinzudeuten, dem sich Hausmann ebenfalls entgegenstellen wird und den auch Peter Strohschneider22 aufgreift. Mit der Fokusverschiebung, die Strohschneider am Anfang der 1990er Jahre vornimmt, ändert sich der Blick auf die Vortragskunst ‚Minnesang‘ insgesamt, denn er richtet sein Augenmerk weniger auf den Inhalt der Aufführung wie Warning zuvor, als vielmehr auf deren gesellschaftlichen Sinn und Nutzen. Dazu fasst er den Minnesang als Rede zur Gesellschaft auf, die als Rede an die Geliebte inszeniert wird und deren Lieder wiederum in der Aufführung zugleich eine Komplexitätsreduktion und eine Komplexitätssteigerung erfahren: erstere aufgrund der Konkretisierung in der vermittelten Rezeption, letztere durch die Vervielfältigung der Zeichenebenen.23 Einen Gegenakzent setzt wenig später Jan-Dirk Müller, dessen abweichendes Aufführungsverständnis sich bis zu Hartmut Bleumer24 fortschreibt und nach dessen Auffassung der gemeinsame Situationshorizont von Sänger und Publikum in der Vortragssituation den Bezug der Aussagen auf den präsenten, agierenden Sänger unweigerlich bewirkt – nicht jedoch in einem biografischen, sondern in einem aufführungsinternen Sinne. Obwohl Müller nicht klärt, warum etwaige Rollenstrophen keinen Widerspruch zu dieser Grenzverwischung zwischen Sprecher, Ich und Autor darstellen, ist hier die ästhetische Argumentation Bleumers doch bereits vorgeprägt. Eine konträre Position zu Warning und Strohschneider – nicht jedoch unbedingt zu Haferland – bezieht Müller auch in der Frage des Rollen- und Fiktionsstatus des Minnesangs: Er weist ihn zwar zurück, weil er selbst die Inszenierung des Ichs als Minnender und Singender nicht als Referenz auf eine imaginäre, sondern auf die

|| 20 Vgl. ebd., S. 90. 21 Vgl. Albrecht Hausmann: Die vröide und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang. In: Text und Handeln, hrsg. von ders., S. 165–184, hier S. 177. 22 Vgl. Peter Strohschneider: Tanzen und Singen. Leichs von Ulrich von Winterstetten, Heinrich von Sax sowie dem Tannhäuser und die Frage nach dem rituellen Status des Minnesangs. In: Mittelalterliche Lyrik, hrsg. von Cramer, Kasten, S. 197–231, hier S. 200. 23 Vgl. Peter Strohschneider: Aufführungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Deutscher Germanistentag 1991 in Augsburg. Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen 1993, S. 56–74, hier S. 59 u. 66. 24 Vgl. hier und im Folgenden Müller, Ir sult sprechen willekomen, S. 3.

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reale Welt verstanden wissen möchte, deutet dies aber im Rahmen einer rituellen Inszenierung. Eine solche Lesart ist insbesondere für die frühe Minnesangtradition, die Wechsel oder aber auch Neidharts Dialoge freilich nicht unproblematisch. Müller begegnet diesen Schwierigkeiten jedoch mit dem Hinweis auf die Spezifik kollektiver Geselligkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass jeder die Rolle des anderen übernehmen kann.25 Er argumentiert somit zum einen in einer ähnlichen Richtung wie Haferland mit seinen flüchtigen sozialen Rollen und der Ablehnung eines im Fiktionalen gründenden Rollenverständnisses. Und zum anderen deutet sich – sollte dies bisher noch nicht wahrnehmbar gewesen sein – spätestens hier an, dass die ausschließliche Verwendung literaturwissenschaftlicher Konzepte offenbar nicht genügt, um die Aufführungssituation des Minnesangs mit ihren komplex interagierenden Komponenten der Liedäußerung, des Sängers und Publikums sowie der zwischen diesen hin und her verweisenden Referenzsysteme einzufangen. Im Folgenden soll dazu das ‚Einfache System‘ Niklas Luhmanns in Anschlag gebracht werden, um mithilfe der Systemtheorie einen Beschreibungsversuch dessen zu wagen, was man sich als die Vortrags- und Rezeptionssituation des Minnesangs vorstellen kann. Dabei ist vorab anzumerken, dass Systemtheorie und Hermeneutik nur schwer miteinander zu vermitteln sind, weil sich die Systemtheorie primär für die Bestandteile des Systems und deren Interaktion interessiert. Die Schätze, die die Hermeneutik zu heben imstande ist, haben für die Systemtheorie keinen Wert. Speziell in Bezug auf die Minnesangaufführung liegt das daran, dass diese in den Systemäußerungen begraben liegen und jene Äußerungen für das System selbst keinen Aussagewert besitzen können, denn das Einfache System ist (noch) nicht selbstreflexiv. Allgemeiner gesprochen interessiert sich die Systemtheorie dafür, wie etwas funktioniert, und nicht dafür, was es (deshalb) bedeutet. Damit ergibt sich zum einen, dass für hermeneutische Ansätze in der Theorie der Einfachen Systeme zwar Platz ist, doch dieser Platz ist der einer Leerstelle, für die sich die Systemtheorie nicht begeistert. Zum anderen aber lässt sich ableiten, dass der Einbezug der Einfachen Systeme die Chance bietet, über ihr Funktionalitätsinteresse zugleich zu einer sowohl ausbalancierten Aufführungstheorie zu gelangen als auch zu einer, die Erklärungsansätze für Problemstellen des Diskurses anbietet, indem sie – ähnlich wie Hausmann unten – Text und Aufführung bzw. Systemäußerung und System deutlicher voneinander trennt. So wird nicht nur eine Neubewertung der Entscheidung zwischen spaltenden und verschmelzenden Prozessen möglich – zur Situationsverschmelzung gleich mehr –, sondern auch die Entschärfung weiterer schwieriger Stellen wie dem Aussagewert der Natureingänge oder Damenapostrophen. Dieser Diskurs aber ist nun zunächst – bevor es um die Einfachen Systeme gehen soll – weiter auszuleuchten. Seinen inszenierungsgerichteten Ansatz vertieft Müller || 25 Vgl. ebd., S. 4.

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wenig später im unauffälligen Rückgriff auf Erich Kleinschmidt26 dahingehend, den aus dem Alltag herausgehobenen, zeremoniellen Sprachgestus des Minnesangs im Zusammenhang mit rituellen Handlungen zu betrachten.27 Demnach sind Verse wie Ir sult sprechen willekomen (L 56,14) als Anweisungen für eine rituelle Inszenierung zu lesen,28 die nach Ansicht des Autors der Orientierung und Verhaltenssicherung dient. Diese Position lässt sich andererseits nur so lange halten, wie externe und interne Vortragssituation des Liedes sich nicht widersprechen – also keine Situationsspaltung im Sinne Warnings auftritt –, wie dies etwa bei einem unpassenden Natureingang der Fall wäre. Dass die sommerlichen Natureingänge nun aber ausschließlich im Sommer Vortragsgegenstand waren, ist nicht nur deshalb unwahrscheinlich, weil die vergleichsweise geringe Anzahl winterlicher Eingänge sonst zur Frage führen muss, was dem höfischen Publikum denn in den winterlichen Aufführungen zu Gehör gebracht wurde. Derartige Inkongruenzen zwischen Ritualbegriff und Minnesang begründen die Entscheidung Müllers, den Status des Minnesangs lediglich als einen ‚pararituellen‘ zu bezeichnen, was zur Folge hat, dass der Verfasser aufgrund der Dehnbarkeit dieses Begriffs zahlreichen eventuellen Problemen und Einwänden aus dem Weg gehen kann. Aber im vorgeschlagenen Sinne Müllers, der sich durch ein Merkmalbündel der Alltagsenthobenheit, Stereotypie, Orientierungsmöglichkeit und Wiederholung definiert, kann letztlich jede Form von Lyrik als pararituell angesehen werden,29 besonders in der zweiten, lockeren Bedeutungsform, die der Verfasser unabhängig von einer festlichen oder kultischen Inszenierung installiert. Dennoch sperrt Müller sein pararituelles Modell zunächst besonders gegen späte Vertreter des Minnesangs – ähnlich wie Wolf oben –, die das Ritual durch Auserzählung ablösen.30 Timo Reuvekamp-Felbers kritischer Hinweis, dass jedoch auch die Lieder des Frühen Sangs aufgrund ihrer Gattungsvielfalt für das Interpretationsinstrument des Pararituals nicht geeignet sind,31 zeigt hingegen, dass der Begriff des Pararituals

|| 26 Vgl. Erich Kleinschmidt: Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln. In: AKG 58 (1976), S. 35– 76. 27 Vgl. Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späten Minnesang. In: Wechselspiele, hrsg. von Schilling, Strohschneider, S. 43–76, hier S. 44. 28 Vgl. Müller, Ir sult sprechen willekomen, S. 14. 29 Dieser Gedanken findet sich auch bei Heinz Schlaffer, der ihn sogar so weit führt, alle literarischen Gattungen aus dem rituellen Sprechakt abzuleiten. Vgl. Heinz Schlaffer: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica 40 (2008), S. 21–42, hier S. 38. Mag diese These letztlich auch zu weit führen, verdeutlicht sie doch, dass die Theorie Müllers so nicht haltbar ist. 30 Vgl. Müller, Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung, S. 183. Ähnliches äußerte Wolf, vgl. Wolf, Der ‚Gegensang‘ in seiner Aufführungssituation, S. 158. 31 Vgl. Timo Reuvekamp-Felber: Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung. Die Destruktion des Authentischen in der Genese der deutschen und romanischen Lyrik. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFG-Symposion 2000. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 23), S. 377–402, hier S. 402.

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offenbar trotz seiner sehr offenen Bestimmungen nicht erlaubt, wachsende Anteile der Minnesangüberlieferung hinreichend zu bearbeiten. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn Reuvekamp-Felber Müllers Ansatz später sogar komplett widerspricht, weil er im Minnesang weder die ritualhaften Parameter eines verbindlichen Handlungsmusters der Liebe noch die kollektiver, perpetuierbarer Wahrheiten oder auch nur ein einheitlich positives Programm der Minne erblicken kann, und auf die nicht einzudämmende Gewalt der Minne verweist, die in den Liedern des Minnesangs immer wieder eine Rolle spielt und in Müllers Ritualkonzept nur schwer einen Platz findet.32 Das Paradigma des Pararituals scheint folglich je nach konkretem Umfang entweder auf praktisch keine oder prinzipiell alle Minnesangtexte zuzutreffen – für sich genommen schon ein ernster Befund, aber die Kritik ist damit noch nicht abgeschlossen. Gegen das Pararitual in der dargelegten Form stellt sich auch Albrecht Hausmann mit dem Einwand einer unbedingt notwendigen Ebenentrennung zwischen ritueller Performanz und nicht-ritueller Schriftgestalt des Textes.33 Diese beiden Ebenen des Kommunikationsspiels ‚Minnesang‘ verbindet nun bei Hausmann scharniergleich das transgressive Ethos der vröide, das einen feinsinnig verstehenden Mitvollzug des Rezipienten ermöglicht,34 wie oben schon anklang. Wenn diese Ebenentrennung Hausmanns auch die Schwierigkeit umgehen kann, Minnesangtexte und Ritualbegriff zur Deckung bringen zu müssen, indem sie das Ritual vom Text löst, lastet sie es verschiebend doch zugleich der Performanzdiskussion an – die wiederum der Autor nicht als sein Feld betrachtet. Hier greift das Konzept des Einfachen Systems. Die Gegenposition Hausmanns zu Müller erstreckt sich zudem auch auf dessen ‚performativen Selbstwiderspruch‘. Mit diesem Begriff beschreibt Müller Ende der 1990er Jahre das vornehmlich für einige Lieder Reinmars typische Phänomen einer Kontradiktion zwischen Sängeraussagen und visuellen Publikumseindrücken.35 Dennoch verwendet er hierfür nicht Warnings ‚Situationsspaltung‘, sondern prägt mit dem ‚performativen Selbstwiderspruch‘ einen eigenen Begriff, der mit einem deutlicheren Blick auf das Sprachhandeln und weniger auf die verschiedenen Ebenen der Vortragssituation Müllers ritualbasierten Ansatz nochmals profiliert. Er macht hierbei auf einen ähnlichen Gedanken aufmerksam, wie er oben schon in Bezug auf den systemtheoretischen Minnesangzugriff geäußert wurde: Da die in den Texten auffindbaren Überbleibsel der Aufführung nur vor dem Aufführungshintergrund sinnvoll werden, ist höfische Kunst allgemein nicht als autonomes ästhetisches Phänomen || 32 Vgl. Timo Reuvekamp-Felber: Kollektive Repräsentation als soziale Funktion von Minnesang? Zur Pluralität und Variabilität der Ich-Figuration in der Minnekanzone am Beispiel Friedrichs von Hausen. In: Text und Handeln, hrsg. von Hausmann, S. 203–224, hier S. 219 u. 221. 33 Vgl. Hausmann, Die vröide und ihre Zeit, S. 165, besonders die dortige Anm. 2. 34 Vgl. ebd., S. 175–177. Vgl. zu den integrativen Elementen, die dem Autor zufolge das besondere Merkmal Reinmars sind, weiterhin Hausmann, Reinmar der Alte als Autor, S. 257–278 u. 325–329. 35 Vgl. hier und im Folgenden Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 390.

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verständlich, sondern nur eingebettet in die sie umgebende „Lebenskunst“36, deren Bestandteil wiederum jenes Handeln ist, das Müller an dieser Stelle nochmals als ‚pararituell‘ bezeichnet37 – oder eben eingebettet in das Einfache System. Hausmann hält dem performativen Selbstwiderspruch nun entgegen, dass wiederum die vröide den vermeintlichen Widerspruch integrativ lösen kann, setzt man als Basis des Minnesangs den erläuterten Mitvollzug an – und dies gerade in den Liedern Reinmars.38 Die Erwiderung Müllers39 auf diese Kritik unterstellt Hausmann ein zu modernes Verständnis vom Mittelalter, das übersieht, dass sich zu dieser Zeit Individualisierungsprozesse gerade aus Normübereinstimmung und textliche wie performative Fiktionen – Minnelieder wie Frauendienst – gleichermaßen aus dem Imaginären des Minnesangs speisen.40 Indem Müller jedoch den Frauendienst der Performanz und nicht deren Äußerungsinhalt zuschlägt, verwischt er die durch Hausmann angemahnten klaren Grenzen der Minnesangebenen wieder. Und auch seine Einschätzung lyrischer Narrativität kann vor dem Hintergrund der bisherigen Erläuterungen nicht unterstützt werden: Wenn Minnelyrik eine reflektierende Dame oder einen Boten einbindet, dann entwirft sie nicht nur,41 sondern sie erzählt – lyriktypisch natürlich nur ansatzartig –, denn wie sonst sollte sie entwerfen, wenn nicht durch Bezugnahmen der histoire oder des discours? Die Entscheidung Müllers gegen lyrische Narration lässt sich indes ähnlich bewerten wie die Haferlands zur Rollenhaftigkeit des Minnesangs, denn wie dieser eine Zwischenposition zwischen Spiel und Sein einnimmt, so entspricht auch die Narration des Lyrischen zwar nicht der epischer Formate, eine unbedingte Ablehnung wäre aber irreführend.

|| 36 Ebd., S. 401. 37 Vgl. ebd., S. 403. 38 Vgl. Albrecht Hausmann: Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstitution im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi [u. a.]. Frankfurt am Main 2004 (Kultur – Wissenschaft – Literatur. 5), S. 25–43, hier S. 38f. 39 Vgl. hier und im Folgenden Jan-Dirk Müller: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Text und Handeln, hrsg. von Hausmann, S. 47–64, hier S. 56, dort Anm. 46. Vgl. weiterhin die Fortführung des Themas bei Harald Haferland: Subjektivität, Fiktion und Realität in Reinmars Frauenliedern. In: ZfdPh 125 (2006), S. 368–389. 40 Vgl. Müller, Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs, S. 53. 41 Denn so versteht es Müller, vgl. ebd., S. 58. Müllers Fiktionsbegriff des Minnesangs speist sich scheinbar trotz der Bemühung Wolfgang Isers letztlich aus der Bewertung des Sangs als einem biografisch entgegengesetzten, imaginären Selbstentwurf, dessen Sprachrohr der Sänger ist. Vgl. ebd., S. 63. Wolfgang Isers Akte des Fingierens sowie dessen Das Fiktive und das Imaginäre benötigt Müller als theoretischen Hintergrund für sein dreistelliges Fiktionsmodell, das zwischen einem Bereich des Alltagsweltlichen und des Literarischen als halbfiktionalen Zwischenraum den höfischen Frauendienst ansetzt, vgl. Müller, Die Fiktion höfischer Liebe, S. 51. Vgl. das Original bei Wolfgang Iser: Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Funktionen des Fiktiven, hrsg. von Henrich, ders., S. 121–151 sowie ders.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1991 (stw. 1101), S. 18–23.

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Die gleiche Beobachtung wie die Warnings – Minnesangtext und Minnesangaufführung sind inkongruent – führt bei Müller folglich nicht wie bei ersterem in die Individualisierung und Fiktion, sondern in die kollektive Rolle im Ritual und dessen immerwährende Dynamik paradoxer Strukturen. Auch Volker Mertens stimmt mit Müller darin überein, dass in den Texten des Minnesangs ihre Aufführung eingeschrieben ist, wendet sich aber noch intensiver dem Fiktionsbegriff zu.42 Hierzu plädiert er für eine Unterscheidungsmöglichkeit des jeweils vom Autor zu trennenden Performanz- und Text-Ichs, woraus sich ergibt, dass der Sänger innerhalb des Textes über eine Vielzahl von Ichs verfügen muss, die in der Aufführung sodann konkretisiert werden.43 Das Fiktionspotential dieser anfänglichen Ich-Vielzahl und das in der Folge entstehende Spiel mit Situationsspaltungen stellt für Mertens kein Problem, sondern im Gegenteil die besondere Faszinationskraft des Minnesangs dar. Eine solche Perspektive bietet darüber hinaus zum einen eine aussichtsreiche Erklärung für die Frage, warum der in seinen basalen Topoi derart invariante Minnesang über große Zeiträume hinweg nicht an Faszinationspotential verlor. Und zum anderen verdeutlicht sie, dass eine Sichtweise, die sich ausschließlich auf die schematische Gleichartigkeit der Lieder konzentriert, ohne den rezeptionsseitigen Mehrwert derartiger Identitätsspiele einzubeziehen, einen signifikanten Teil des Minnesangs außer Acht lässt. Unter diesem Gesichtspunkt repräsentieren die Lieder des Minnesangs über ihren bisher untersuchten Status hinaus einen Teil der Fiktionalisierungs- und Ästhetisierungsarbeit von Literatur – fiktional durch die Ich-Vielzahl und ästhetisch durch deren Spiel. Dies steht einer Lektüre der Aufführung über Luhmanns Systeme aber nicht im Weg, weil eine solche – wie sich unten noch zeigen wird – die Äußerungsinhalte der Lieder nicht systemtheoretischen Zuschnitten unterwirft. Weiterentwickelt wird die These von der Fiktionalität des Minnesangs auch durch Martin Huber, der sich für eine fingierte Performanz in spätmittelalterlichen Minnesangtexten ausspricht, zugleich aber eine Aufführung in verteilten Rollen annimmt. Der Grundstein seiner Argumentation ist dabei – ähnlich wie bei Bleumer später – die Annahme der

|| 42 Vgl. hier und im Folgenden Mertens, Autor, Text und Performanz, S. 381 u. 387. Ähnliche Auffassungen vertreten Christian Kiening, der von der eingeschriebenen Aufführung aus seinen Medialitätsbegriff entwickelt, und Mireille Schnyder, die weitere Schlüsse für eine implizierte Visualität besonders des Damenbilds zieht. Vgl. im Einzelnen Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 (2007), S. 285–352, hier S. 311. Mireille Schnyder: Minnesang (um 1200). In: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hrsg. von Cornelia Herberichs [u. a.]. Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven. 3), S. 121– 136, hier S. 122 u. 132. 43 Die explizierte Trennung zwischen Autor und Text- bzw. Performanz-Ich scheint für Mertens jedoch eine vorwiegend theoretische zu sein, wenn er an anderer Stelle feststellt, dass in der konkreten Aufführung oft der Autor der Lieder zugleich deren Vortragender gewesen ist (vgl. Mertens, Der Sänger und das Buch, S. 115).

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Fiktionalität als Phänomen der Schriftlichkeit bzw. der Verschriftlichung bei Huber. Dessen fingierte Performanz schließlich meint, dass der Text durch Rollenstrophen eine rollenverteilte Aufführung und durch redaktionelle Notizen ein diese Aufführung regieartig überwölbendes Bewusstsein vorgaukelt.44 Die begrifflichen Untiefen der Thematik sind, wie bereits anhand des Komplexes der Fiktion, Fiktionalität und Fiktivität deutlich wurde,45 dem Verständnis nicht unbedingt zuträglich und betreffen – der eingangs referierte Beitrag Pfisters vermittelte bereits einen Eindruck – auch den korrespondierenden Bereich der Performanz, performance und Performativität. James A. Schultz bemüht sich hier um Klärung, die im Einzelnen den Ansätzen bei Huber oben und Bleumer unten nicht unähnlich ist. Dazu trennt er grundlegend die performative Rolle des Liebenden von der Performanzrolle des Singenden und kennzeichnet sie im Wesentlichen dadurch, dass der Singende den Liebenden erst im Vortrag erschafft und der Liebende sodann an das Normenkonstrukt der Hohen Minne gebunden ist. Spannend wird die Ebenentrennung, die Schultz vornimmt – im Grunde der Hausmanns oder der Einfachen Systeme vergleichbar –, sobald im vortragsinternen Ausdruck eines ‚Ichs‘ performative Rolle und Performanzrolle unter Vorbehalt eines Dritten zusammenfallen. Einen positiven Effekt kann dies ebenso wie die Rollenhaftigkeit des Minnesangs, die Schultz wie Grubmüller oben als nicht theatrale, sondern spezifisch mittelalterliche liest, nur deshalb haben, weil das Publikum demnach als eines vorzustellen ist, das auf solche Aufführungseffekte nicht irritiert, sondern geübt und genüsslich mitvollziehend reagiert hat.46 Deshalb weist Schultz Warnings Situationsspaltung auch zurück, geht ähnlich wie Müller oben auf den Sonderfall der Frauen- und Botenstrophen aber nicht näher ein. Zeitgleich mit Huber und Mertens wird auch die Erforschung des Sozialsystems ‚Minnesang‘ in seiner performativen Daseinsform weiter vorangetrieben. Hatte Strohschneider zuvor Status und Adressaten der Rede fokussiert, so wendet er sich nun deren Urheber zu:47 Das textinterne Ich bestimmt er dazu einerseits als universale Referenz auf die Sangestradition sowie andererseits biografisch bezogen auf ein

|| 44 Vgl. Martin Huber: Fingierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterlicher Liedkunst. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Müller, S. 93– 106, hier besonders S. 97 u. 104. 45 Übersichtlich aufgearbeitet bei Walter Haug: Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen zwischen Faktizität und Phantasie. In: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner. Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft. 19), S. 115–131. 46 Vgl. James A. Schultz: Performance and Performativity in Minnesang. In: ZfdPh 128 (2009), S. 373–396, hier besonders S. 374, 377, 387 u. 389f. 47 Vgl. hier und im Folgenden Peter Strohschneider: ‚nu sehent, wie der singet!‘ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Müller, S. 7–30, hier S. 7–20.

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textexternes Ich oder aber drittens – und vielleicht einen Hinweis gebend für das ominöse Dritte Schultz’ – als fiktive Referenz auf eine Als-ob-Rede. Der Effekt dessen ist Strohschneider zufolge jedoch nicht – wie Warning angenommen hatte – ein Fiktionalitätskontrakt, der das Hörerkollektiv in Einzelsubjekte aufspaltet. Stattdessen ergibt sich eine Sängerrolle, die in der Performanz situativ ein Sozialgebilde schafft, in dem Spaltungserscheinungen durch Ästhetisierung sowie Ethisierung – diese wird als Moralisierung im Einfachen System wieder auftauchen – bearbeitet und aufgefangen werden. Diese Bearbeitung entspricht dabei keiner Auflösung des Dilemmas, sondern einer paradox-produktiven Aufrechterhaltung der widerstreitenden Positionen, ähnlich wie dies auch für die Metapher ausgeführt wurde. Das sich hier manifestierende Augenmerk auf der semantischen Produktivität paradoxer Konstellationen wird sich ebenso bei Bleumer wiederfinden wie die ästhetische Argumentation Müllers.48 Der Trend zu Spaltungserscheinungen auffangenden Modellen setzt sich auch in einem weiteren Beitrag Grubmüllers fort. Zwar weist dieser mit besonderem Augenmerk auf dem alten Problemfall der Frauen- und Botenstrophen die Situationsspaltung (noch) nicht vollends von der Hand,49 argumentiert aber zugunsten einer Referenz, die zur zeitweiligen Identifizierung mit Sänger und/oder Autor offengehalten wird und die Vielzahl der Ich-Aussagen im Vortrag abdeckt.50 Da diese Äußerungen nicht falsifizierbar sind und daher nicht als Einfallstor für Fiktionalität dienen können, tritt ein Schwebezustand der Zuschreibung ein, der gegenüber der ‚Situationsverschmelzung‘ bei Bleumer lediglich die Schwachstelle aufweist, sich maßgeblich von der je situationsbedingten Sichtbarkeit abhängig zu machen. Denn so wäre in jeder neuen Situation wieder zu verhandeln, ob beispielsweise ausgestellte Alterstopoi je nach ihrem augenfälligen Zutreffen als Fiktionalitätsmarker zu lesen sind oder aber auf eine Haferland’sche Rolle deuten. Diese ‚Schwachstelle‘ ist für Grubmüller ähnlich wie für Mertens oben jedoch nicht negativ besetzt, sondern das spezifische Faszinosum des Minnesangs.51 Einen weiteren Schritt auf dem durch Grubmüller gewiesenen Weg gehen 2011 Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, indem sie anknüpfend an die Beiträge

|| 48 Unabhängig von der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Diskurses vertritt Warning weiterhin seine Auffassung der Situationsspaltung und weitet sie sogar auf moderne Literatur aus (Vgl. Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München 1999, S. 158). 49 Vgl. Klaus Grubmüller: Was bedeutet Fiktionalität im Minnesang? In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, hrsg. von Peters, Warning, S. 269–287, hier S. 281f. 50 Vgl. ebd., S. 272–276. 51 Vgl. ebd., S. 276.

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Heinz Schlaffers,52 Hugo Kuhns53 und Rainer Warnings54 den Begriff der ‚Situationsverschmelzung‘ prägen. Der Schlüssel zu dieser Neuschöpfung ist der Gedanken einer ästhetisch fundierten Verbindung von Lied-Ich und Sänger-Ich – der performativen Rolle und der Performanzrolle Schultz‘ –, die durch den ritualhaft-symbolischen Charakter des Minnesangs in seiner Aufführung gestiftet wird.55 Indem das Autorengespann die ritualhafte Verkörperung der Minnesangrollen statt deren Theatralität betont, klingt zum einen Haferland nochmals an und erfährt nun auch das Problemfeld der Fiktionalität ebenjene Wendung, auf die oben schon mehrfach vorausgedeutet wurde: Demnach ist die ästhetische Erfahrung der Verschmelzung in der Vortragssituation notwendig immer eine reale, wenn sie auch auf sprachlichen Fiktionen aufbaut. Der Preis für diese elegante Neuperspektivierung sind die theoretischen Herausforderungen der Paradoxie und des Ästhetischen, die im Konzept Bleumers und Emmelius’ gegenüber der vorangegangenen Forschung eine deutlich gestärkte Position bekleiden. Im Rückgriff auf die eingangs zu diesem Abschnitt angeführte Textstelle des Kreuzzeichens, das das Ich in Dem kriuze (MF 209,25) hie trägt, lässt sich dies veranschaulichen. Warnings Situationsspaltung geht vom Auseinandertreten der im Lied geschilderten und der in der Aufführung gegebenen Situation aus, wenn das textlich behauptete Kreuzzeichen keine Referenz in der Vortragssituation findet, der Sänger also kein ebensolches auf der Brust trägt. Aus dieser konfliktbehafteten Irritation folgt nach Warning die Erkenntnis von der Fiktionalität des vorgetragenen Textes, die der Vortragssituation Einiges an Verbindlichkeit nimmt und das Publikum als homogene Menge der Zuhörenden in eine Reihe von Einzelsubjekten aufteilt. Gerade in Bezug auf ein Kreuzlied und sein gesteigertes Authentizitätsbedürfnis ist zumindest der erste Teil dieser Konsequenz prekär und auch der zweite scheint nur unproblematisch, solange man nicht bedenkt, dass die exklusive Direktbeziehung zwischen Gott und Individuum erst sola gratia möglich wird. Mit der verbindenden Kraft der Rituale und Symbole, die Bleumer und Emmelius der Minnesangaufführung zuschreiben, ist hingegen folglich nicht nur von einem konflikthaften wie distanzierenden Auseinandertreten der Ebenen zu sprechen, sondern es kommt stattdessen auch im ästhetischen Wirken der Aufführung zu einer Verschmelzung beider Ebenen im Moment der Performanz. Die Klangästhetik des vorgetragenen Sangs, der den Vers mit dînem zeichen, daz ich hie trage artikuliert,56 verbindet demnach diese beiden Positionen, die sich durch die visuelle Abwesenheit || 52 Vgl. im Einzelnen Schlaffer, Die Aneignung von Gedichten. Ders.: Orientierung in Gedichten. Text und Kontext in der Lyrik. In: Poetica 36 (2004), S. 1–24. Ders., Sprechakte der Lyrik. 53 Vgl. Kuhn, Minnesang als Aufführungsform. 54 Vgl. im Einzelnen Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. Warning, Der inszenierte Diskurs. 55 Vgl. hier und im Folgenden Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 27–30. 56 Für daz ich mir Kristes bluomen kôs, / die ich hie trage (MF 210,35) gilt dies ebenso.

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des Zeichens am Körper des Sängers im Widerspruch zueinander befinden, für den Moment der lautlichen Äußerung. Auf ästhetischer Ebene ist der Sänger in dem Moment, als er seine Stimme den Äußerungen des textgebundenen, fremden Ichs – man erinnere sich der Ich-Vielheit bei Mertens – zur Artikulation überlässt, dieses Ich der Strophen und beide Situationen verschwimmen folglich oszillierend ineinander. Dieser Prozess ähnelt dem der Metapher oben nicht nur aufgrund seiner Ästhetik, sondern auch, weil mit der Behauptung, dass das Eine das Andere ist, während es es doch augenscheinlich nicht ist, darauf hingedeutet wird, dass es es im übertragenen Sinne eben doch ist. Lässt man diese metaphorische Lesart innerhalb der Aufführung – jeder Aufführung, nach dem Ansatz der ästhetischen Situationsverschmelzung – gelten, dann ergibt sich noch einmal eine ganz andere Art der lyrischen Narration: die der Aufführungsmetapher. Diese Aufführungsmetapher tritt in Beispielen auf, die etwa Wolframs Sommereingang ähneln (MF 7,11), denn ästhetisch-emphatisch betrachtet ist es für den Moment der Äußerung durch den Sang Sommer und auch die Dame ist in ihrer Äußerung ästhetisch anwesend. Damit wird zudem nebenbei die Frage nach weiblichen Vortragenden obsolet, indem sie sich innerhalb einer Theorie der Situationsverschmelzung als zu wörtlich gedacht entpuppt. Für die Frage von Nähe und Distanz im Kontext einer Aufführungssituation ist das Phänomen der Situationsspaltung offensichtlich äußerst relevant. Schließlich ereignet sich in der Vortragssituation notwendig eine distanzierende Irritation, wenn ein Sänger vor die Anwesenden tritt und von etwas spricht oder singt, das für die Aufführungsteilnehmer aus ihren visuellen Wahrnehmungen heraus nicht zu bestätigen ist. Distanzierend wirkt diese Irritation in zweierlei Richtung, zieht man als Beispiel nochmals Hartmanns Lied Dem kriuze (MF 209,25) heran, in dem das sich äußernde Ich unter anderem von kristes bluomen spricht, die es hie trage (MF 210,35).57 Einerseits kann dies dergestalt interpretiert werden, dass der Sänger sich mit dem, was er vorträgt, nicht identifiziert,58 wenn er nicht auch tatsächlich ein Kreuz zur Schau stellt – und in einem Setting, auf das die automatisch-ästhetische Situationsverschmelzung vorerst nicht angewendet wird. Dieses Auseinandertreten der Lied- und Aufführungsebene muss für das Publikum andererseits die Freiheit bedeuten, sich ebenfalls nicht mit dem liedinternen Publikum zu identifizieren, zum Beispiel in den Versen Nû zinsent, ritter, iuwer leben / und ouch den muot / durch in der iu dâ hât gegeben / lîp unde guot (MF 209,37), sowie aus der liedinternen Gemeinschaft des Sängers mit dem Publikum herauszutreten: got helfe uns dar, / hin in den zehenden kôr (MF 211,1). Das dargestellte Ich mit seinem

|| 57 Vgl. außerdem mit dînem zeichen, daz ich hie trage (MF 210,11). 58 In Bezug auf die Aufrichtigkeitsbeteuerungen untersucht bei Haferland, Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen.

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Publikum und kreuzzugszentriertem Anliegen ist so Teil einer simultanen, fiktiven Welt,59 die durch den Sänger als Sprachrohr in die reale Welt der Aufführung inseriert wird. Der Sänger fungiert in diesem Fall als Schnittpunkt zweier paralleler Realitäten oder als Vereinigungspunkt einer gespaltenen, um in Warnings Perspektive zu bleiben. Ähnliche Effekte treten prädestiniert an verschiedenen weiteren Stellen auf, wie etwa der topisch morgendlichen Situation des Tagelieds, dem Natureingang und Jahreszeitenpreis, so beispielsweise in Ich sach boten des sumeres, / daz wâren bluomen alsô rôt (MF 14,1) oder Sine winde chalt / habent dinen grunen walt / harte iamerlich gestalt (SNE I R1, II,1–3),60 sowie den Frauen-, Boten- oder Wächterstrophen.61 Da reine Boten- oder Wächterlieder eine Ausnahmeerscheinung62 der Tradition bilden und sich derartige Allusionen auch nicht auf das genre objectif beschränken – vgl. Reinmars Si koment underwîlent her (MF 151,1), Hartmanns Ob man mit lügen die sêle nert (MF 212,37) und Wolframs Ursprinc bluomen (MF 7,11) –, ist dieser Bereich bei näherer Betrachtung dem der vorrangig problembehaftet erscheinenden Natureingänge

|| 59 Für die Problematik der Fiktionalität vgl. oben die Diskussion bei Müller, Haferland und Schultz. 60 Zum Topos des Winters in der Neidharttradition und der spezifischen Aufführung der betreffenden Lieder vgl. Harald Haferland: „Dieser Winter“ bei Neidhart. Jahreszeiten als Anlass oder Kunstprinzip? Mit Überlegungen zu Liedern in der Handschrift c. In: Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Hrsg. von Jan Standke. Heidelberg 2014 (Euphorion Beihefte. 85), S. 63–78. 61 Der Vortrag von Rollenstrophen durch mehrere Sänger oder gar weibliche Vortragende wird meistenteils kritisch betrachtet. Zur Frage weiblicher Vortragender vgl. etwa Schweikle, Minnesang, S. 129. Schweikle weist hier auf die früher und zum Teil noch heute aus der Existenz von Frauenstrophen und -liedern geschlussfolgerte, vortragende Frau hin, deren Ableitung aus dem Textmaterial dessen Fiktionalität dem Autor zufolge jedoch außer Acht lässt. Wie die Mehrheit der Forscher lehnt Schweikle weibliche Vortragende (und Dichter) ab, nennt als Beispiele für die Gegenposition aber Scherer, Naumann, Frings und Ohlenroth. Bei genauerer Prüfung der angeführten Textbelege zeigt sich jedoch, dass zumindest Frings sich keineswegs derartig äußert, sondern lediglich Texte anspricht, die Derartiges nahelegen. Ohlenroth nennt an angegebener Stelle (S. 10) Gustav Ehrismann als weiteren Verfechter dichtender Frauen, der von Schweikle hingegen nicht einbezogen wird. Vgl. im Einzelnen Wilhelm Scherer: Der Kürenberger. In: ZfdA 17 (1874), S. 561–581, hier besonders S. 577. Hans Naumann: Ritterliche Standeskultur um 1200. In: Höfische Kultur. Hrsg. von ders., Günther Müller. Halle an der Saale 1929 (DVjs Beihefte. 17), S. 3–77, hier S. 17 u. 19. Theodor Frings: Minnesinger und Troubadours. Berlin 1949 (Vorträge und Schriften der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 34), S. 32. Derk Ohlenroth: Sprechsituation und Sprecheridentität. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Sprache und Realität im frühen deutschen Minnesang. Göppingen 1974 (GAG. 96), S. 10, 69 u. 238. Gustav Ehrismann: Die Kürenberg-Literatur und die Anfänge des deutschen Minnesangs. In: GRM 15 (1927), S. 328–350, hier S. 334. Eine weitere Position gegen weibliche Vortragende verkörpert Jan-Dirk Müller. Vgl. Jan-Dirk Müller: Männliche Stimme – weibliche Stimme in Neidharts Sommerliedern. In: Ders. Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh, Armin Schulz. Tübingen 2001, S. 233–244, hier S. 233. 62 Eine Ausnahme bildet etwa Hadlaubs Lied Ich wil ein warnen singen (SMS 30 XIV). Hier spricht über die drei Strophen des Liedes hinweg ausschließlich der Wächter.

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vielleicht gar nicht so nachgeordnet, wie zunächst zu glauben wäre. All diese Elemente führen also dazu, dass – noch immer unter der Prämisse einer alleinig auftretenden Situationsspaltung – die Vortragssituation durch Distanzerfahrungen geprägt ist. Trotzdem ist auch Nähe möglich und dies auf verschiedene Arten. Die erste Möglichkeit hierzu leitet sich von Hausmanns Ansatz eines aufführungsinternen Mitvollzugs (statt einer Handlungsanweisung) ab, die der Autor an anderer Stelle um narrative Strategien zur Präsenzerzeugung ergänzt.63 Unter diesen Konzepten, die Nähe im Vortrag erzeugen sollen, hebt Hausmann die Ich-Erzählung gesondert hervor, was in eine ähnliche Richtung deutet, wie die affizierende Meditationsübung64 oben. Dort wurde bereits kurz auf die Konzepte innerer Performanz und Partizipation bewirkender Mechanismen hingewiesen, die sich Söffner zufolge beispielsweise in der Metapher, aber auch – und das ist hier schlagend – in musikalischen Vorgängen ästhetisch begründen. Die Ästhetik, die schon für Bleumers Distanz überbrückende Situationsverschmelzung maßgeblich war, ermöglicht es auf diese Art und Weise dem Rezipienten, direkt am Geschehen zu partizipieren; Nähe in der Teilnahme durch Versenkung in das Ich. Solcherart erlebt der Rezipient die Aufführung nicht als von ihm getrenntes Schauspiel zu seiner Unterhaltung – Authentizität der Rolle hin oder her –, womit auch die Frage der übereinstimmenden (Kreuz-)Zeichen irrelevant wird. Denn der Rezipient als Partizipant prüft das sich ihm darbietende Geschehen nicht auf Kohärenz. Er kann es gar nicht, weil ihm die dazu nötige Distanzierung nicht mehr zur Verfügung steht. Stattdessen bringt er sich als Teilhaber in eine soziale Situation ein, wenn diese seine Möglichkeiten eines aktiven Eingreifens in sie auch übersichtlich gestaltet.65 Zum Zweiten kann die visuelle Absenz des Kreuzzeichens bei Hartmann auch in die Uneigentlichkeit führen. Dies verweist auf die Fragen zurück, die oben bereits angerissen wurden: Was passiert, wenn der Sänger in der Aufführung dieses Liedes gerade kein Kreuz am Gewand trägt? Wer trifft diese Entscheidung? Und mit welcher Verbindlichkeit wird sie getroffen? Aufgrund der mittelalterlichen Auffassung von Individualität, aus der Müller oben auch seine Entgegnung auf die Kritik Hausmanns ableitete, und der Einstellung zum geistigen Eigentum, die sich aus jener Auffassung ergibt, ist nicht davon auszugehen, dass der Autor gewisser Strophen deren einziger Vorträger war.

|| 63 Vgl. Albrecht Hausmann: Ich oder Erzählen. Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens vom Ich im Minnesang bis Walther von der Vogelweide. In: Von sich selbst erzählen, hrsg. von Glauch, Philipowski, S. 205–226, hier S. 206f. 64 Vgl. Abschnitt 1.2.1. 65 Der Abschnitt zum Einfachen System wird dies unten noch ausführlicher demonstrieren.

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Er mag sie selbst gesungen haben, vielleicht auch als Erstinterpret, wichtiger ist an dieser Stelle aber, dass aus dem gerade Vorgebrachten auf die parallele Existenz von Nachsängern geschlossen werden kann. Ist es nun wahrscheinlich, dass diese sich an die Zeicheninterpretation hielten, die sie als Vortragsrezipienten kennengelernt hatten? Wohl kaum. Stattdessen erscheint es schlüssiger, dass auch auf die Vortragssituation(en) zutrifft, was in den vorangegangenen Abschnitten zu den Toposgeweben der Liedtradition vorgebracht wurde: Die am Kommunikationsspiel Minnesang Beteiligten erarbeiten ein umfangreiches Netz aus Verweisen, das die gesamte Tradition umhüllt. Wenn also der Sommereingang zur Winterzeit bekannt war – bekannt sein musste, wie oben hergeleitet wurde –, wie lang ist da der Weg zu einem Vortragenden, der mit dînem zeichen, daz ich hie trage (MF 210,11) auf die breite, doch leere Sängerbrust deutet? Es ist zwar kaum möglich, eine finale Entscheidung darüber zu fällen, wie die tatsächliche Aufführungspraxis sich gestaltet haben mag. Aber dennoch lässt sich als positiver Schluss formulieren, dass Hartmanns Lied seine Wortwahl derart zuspitzt,66 dass es den Vortragenden in der Aufführung zu einer Stellungnahme zwingt, ohne ihm jedoch deren Richtung vorzugeben. In der Folge liegt die primäre Deutungshoheit der Situation in jenem Falle beim Vortragenden und nicht beim Publikum, obwohl diesem eine sekundäre Deutungshoheit zukommt, wie zum einen das Lied Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9) im folgenden Abschnitt demonstrieren wird. Zum anderen lässt sich jene Sekundärsouveränität aber auch in die Aufführung von Dem kriuze (MF 209,25) inserieren. Dessen vordergründiger Performanzeffekt mag zunächst der einer oben beschriebenen Distanz durch Irritation sein, das Lied vollführt aber ebenso auch den Übergang in die Sphäre der Uneigentlichkeit. Konfrontiert mit der umrissenen Vortragssituation steht dem Rezipienten nämlich neben dem über Entfremdung zur Spaltung führenden Weg ein zweiter offen. Um diesen zu beschreiten, muss er darauf vertrauen, dass der Vortragende nicht einfach eine Rolle spielt, von deren Wahrheitsanspruch er sich mithilfe der fehlenden Zeichenreferenz distanziert, sondern dass er vielmehr über diesen Kniff auf eine zunächst unsichtbare, tieferliegende Wahrheit verweist. Dieser Erkenntnismechanismus ähnelt dem, was oben zur Metapher gesagt wurde: Irritation führt im Vertrauen auf alternative Semantik zur Einsicht. Konkret bezogen auf das Kreuzzeichen stellt sich damit die

|| 66 Ebenso ungewöhnlich wie diese deiktische Zuspitzung ist der seltene Topos des Herrentods, der als Hintergrundinformation und rhetorisches Versatzstück herangezogen wird und dessen halben Lohn das Ich Hartmanns in Strophe vier erwerben will. Er funktioniert analog zum halben Lohn der Dame, den Hartmann in Swelch vrowe (MF 211,20) expliziert, und ist auch für die Aufführungssituation insofern interessant, als dass mithilfe dieses Details je nachdem, wie sich die Situation des Herrn des Sängers und desjenigen des Hofs gestaltet, wiederum spaltende Effekte herbeigeführt werden können.

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Frage, wo dieses denn stattdessen zu finden ist, wenn das Gewand als primärer, oberflächlicher Zeichenträger keinen Zielpunkt der Referenzbehauptung bieten kann. Die Antworten, die der Rezipient – und hier wird er zum Partizipanten – auf diese Frage finden kann, sind zweifellos vielgestaltig; eine mögliche wäre freilich das Herz, das ein Kreuzzeichen trägt. Diese Lösung wird kaum überraschen, wichtig für die oben aufgeworfene Nähe-Problematik ist jedoch, dass diese Sphäre der Uneigentlichkeit, die sich auf metaphorisches oder gar geistliches Sprechen hin orientiert, verschmelzend den distanzierenden Spaltungsprozessen entgegentritt – fußend auf Ritual und Symbol, wie Bleumer und Emmelius ausführten. Dem fügen beide Forscher in eigenständigen Arbeiten noch weitere Nuancen hinzu. So stellt Emmelius in Bezug auf die besondere Struktur der lyrischen Klage fest, dass die allgemeinen Präsenzeffekte des Lyrischen im konkreten Vortrag noch verstärkt werden und in der Situationsverschmelzung die Zeit zugunsten des Raums zurücktritt.67 Dies ist die Weiterführung einer der Grundthesen der ‚Zeit der Klage‘, die besagte, dass Lyrik wie Epik über eine histoire- wie discours-Ebene verfügt und der Hauptunterschied beider Gattungsrichtungen im discours zu finden ist.68 Im speziellen Fall der Klage herrscht nun auf der histoire-Ebene die Distanz der beiden Minnepartner vor – womit eine ähnliche Konstellation wie die des Kreuzlieds beschrieben ist69 – und die Zeit bestimmt über den Raum, während auf der discours-Ebene im Klagegestus die Präsenz der Minnepartner und der Raum die Zeit dominieren. Diese Überlegungen zur Distanz und Präsenz korrespondieren den Ausführungen oben, werden aber zudem auf das Verhältnis von Raum und Zeit skaliert und zwar mit dem Ziel, die Macht des einen Teils dieser untrennbaren Dualität über den anderen zu demonstrieren. Das ist weder folgenlos noch unabweisbar. Denn zum einen liegt die unhintergehbare Abhängigkeit beider Grundorientierungen auf der Hand und zum anderen lässt sich in den betonten Machtpositionen des Raums oder der Zeit stets auch der vermeintlich unterlegene Teil des Gespanns stärken. So kann auf der histoire-Ebene auch von der besonderen Dominanz des trennenden Raums ausgegangen werden, in den sich zeitlich zu ordnende Ereignisse erst einschreiben, oder von der gesteigerten Relevanz der Zeit für den discours, da die Effekte der Situationsverschmelzung das Augenmerk schließlich gerade darauf richten, wie die verschiedenen intra- und extratextuellen Zeiten in der Aufführung ästhetisch zusammengeführt werden. Bleumer wiederum widmet sich begrifflich präzisierend nochmals dem bewegten Feld der Fiktionalität und Ästhetik. Dabei wird seine bereits referierte Trennung

|| 67 Vgl. Emmelius, Zeit der Klage, S. 224f. 68 Vgl. ebd., S. 217f. 69 Vgl. Abschnitt 2.3.1.

Situationsspaltung und Situationsverschmelzung als widerstreitende Konzepte? | 263

zwischen der ersteren als Text- und der letzteren als Performanzkategorie70 zum Ansatzpunkt weiterführender Überlegungen. Ähnlich wie oben versucht wurde, am Beispiel der metaphorischen Narrationsansätze zu veranschaulichen, wie sich die Linearität des Erzählprozesses mit dem lyrischen Widerwillen gegen geordnete Sukzession71 vereinbaren lässt, legt auch Bleumer dar, dass lineare Narration und zyklische Pararitualität in paradoxer Gleichzeitigkeit nebeneinander bestehen können. War oben die Metapher der Schlüssel zu dieser Zusammenführung, so ist es bei Bleumer das ästhetische Amalgam der Aufführungssituation, das die Ebenentrennung zwischen liedintern und liedextern hinfällig werden lässt, weil im aufführungsinternen Ausnahmemoment der Ästhetik all dies zu einem einzigen Bedeutungszusammenhang verschmilzt.72 Für den Aspekt der Nähe und Distanz sind nun auch die weiteren Begriffsbeiordnungen interessant, die Bleumer im Zuge dieser Ausführungen vornimmt, denn er gliedert – ähnlich wie beispielsweise Wolf oben – die Narrativität des späteren Minnesangs an die Fiktionalität als Textkategorie an und verfährt auch mit der Situationsspaltung gleichermaßen. Auf der anderen Seite weist er sowohl die lyrische Qualität des Minnesangs als auch die Situationsverschmelzung der Ästhetik und Performanz zu.73 Ergebnis dessen ist ein Tableau, das die gleiche Perspektive vertritt, wie sie auch hier eingenommen wurde, nur ohne dies auf die Polarität von Nähe und Distanz zu beziehen, mit der sich die vorliegende Studie dafür einsetzte, einerseits Motivinventare wie Topoi und Metaphern und andererseits die histoire-Ebene der Lieder ebenfalls in das Arrangement miteinzubeziehen. Fortführend vertritt Bleumer die These, dass durch die sich sukzessive zum Narrativen wie Fiktionalen entwickelnde Lyrik überhaupt erst Fiktionalität geboren wurde.74 Daraus müsste folgen, dass Narrativität und Fiktionalität nachgeordnete Phänomene eines vorgängig Lyrischen waren. Das würde aber auch bedeuten, dass die Situationsspaltung – der Autor ordnete sie schließlich dem Komplex um Narrativität, Text und Fiktionalität zu – ebenfalls nachgängig wäre und die auf ästhetischer Überblendung beruhende Situationsverschmelzung dem somit voran gelegen hätte

|| 70 Diese schon im gemeinsamen Beitrag mit Caroline Emmelius vertretene Ansicht, vgl. Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen, S. 27, wiederholt in Hartmut Bleumer: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit. Hrsg. von Ruth Florack, Rüdiger Singer. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit. 171), S. 51–92, hier S. 85. 71 Jüngst nochmals betont von Maximilian Benz, Christian Kiening: Die Zeit des Ichs. Experimentelle Temporalität bei Oswald von Wolkenstein. In: Von sich selbst erzählen, hrsg. von Glauch, Philipowski, S. 99–129, hier S. 100. 72 Vgl. Bleumer, Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung, S. 77f. 73 Vgl. ebd., S. 85 u. 91. 74 Vgl. ebd., S. 90.

264 | Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze

in einer Zeit des Minnesangs, in der dieser seine Narrativität noch nicht entdeckt hatte. Aus einem Blickwinkel, der die Fiktionalität schon so lange erlernt hat wie der heutige, ist es freilich schwer, eine Aussage darüber zu treffen, ob die Spaltung – die die Einsicht erfordert, dass der Vortragende gerade nicht für sich selbst spricht, sondern eine Alternativrealität erschafft – oder aber die Verschmelzung die komplexere Reflexionsleistung seitens partizipierender Rezipienten erfordern. Denn die Verschmelzung ist nicht nur durch anspruchsvolle Ästhetik geprägt, sondern auch durch fragile Endlichkeit, weshalb sie als Fundamentalmechanismus kontraintuitiv wirkt. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, es sei stattdessen für eine umgekehrte Abhängigkeit zu plädieren. Vielmehr scheinen beide Bewegungen – Spaltung und Verschmelzung – in ihrem Wirken derart fest aufeinander bezogen zu sein, dass fraglich ist, ob man hier überhaupt nach Henne oder Ei suchen sollte. Wie sich Nähe und Distanz als einander zwar entgegenarbeitende Teile einer Dualität trotzdem weder trennen noch in einem Zustand vorstellen lassen, in dem die eine schon existierte, die andere aber noch nicht, so bleibt auch die Notwendigkeit für eine Chronologie und unter anderem daraus abgeleitete Hierarchie von Situationsspaltung und Situationsverschmelzung zweifelhaft. Ziel dieses Abschnittes war es, zum einen einen Einblick in die Forschung zur Performanzsituation des Minnesangs, ihre Möglichkeiten, Kernkomplexe und Streitpunkte zu geben, wobei insbesondere herausgearbeitet werden sollte, auf welchen Gedanken die konkurrierenden Aufführungsmechanismen der Spaltung und Verschmelzung grundlegend fußen und wo im Diskurs um Fiktionalität, Rolle und Ritual sie sich verorten lassen. Dies erschien nicht nur deshalb sinnvoll, um Ort und Reichweite eigener Fortführungen besser bestimmen zu können, sondern war es in dieser Zuspitzung auf die Situationsspaltung und -verschmelzung auch deshalb, weil jene Polarität zugleich symptomatisch eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit des Forschungsdiskurses beschreibt. Obwohl nicht jeder der einzelnen Beiträge sich ausdrücklich und begrifflich für Spaltung oder Verschmelzung ausspricht, verfolgen sie doch entweder fundamental trennende oder aber verbindende Tendenzen. Diese trennende Tendenz formt sich – natürlich – in Kuhns Situationsspaltung aus, aber auch beispielsweise in Schweikles Diktum „Minnesang ist Rollendichtung“75 und Warnings Fiktionalitätsverständnis der unterschiedlichen Referenzsysteme. Wo Rolle und Fiktion trennen, führen Ritual und Ästhetik zusammen, so Müllers Theorie vom Minnesang als Pararitual, Hausmanns integrative vröide und die Situationsverschmelzung nach Bleumer und Emmelius. Haferland steht in seiner Ablehnung von Rolle und Fiktionalität zwar auch aufseiten der verbindenden Tendenz, wie etwa seine Ineinssetzung des Autors mit dem Vortragenden und dem Sänger verdeutlichte, da sein Ansatz aber weder auf Ritual noch Ästhetik, sondern auf der Annahme eines || 75 Schweikle, Minnesang, S. 218.

Das Einfache System als integratives Modell | 265

wortwörtlichen Zutreffens der liedinternen Äußerungen fußte, muss er unter den anderen Vertretern dieser Tendenz notgedrungen etwas abseitsstehen. Einfach und restlos ist die Zuordnung indes nicht. Selbst Müller ist kein klarer Vertreter einer Linie, ging er doch vom gleichzeitigen Wirken des Pararituals in der Lebenskunst und des performativen Selbstwiderspruchs in der Aufführung des Minnesangs aus; einer Spaltung somit, die erst in einem zweiten Schritt geheilt wird. Grubmüller hingegen sah das Ich als ‚Rolle für alle‘, Fiktionalität aber nur in Rollenstrophen gegeben. Die Liste der erläuterungswürdigen Positionen ließe sich fortsetzen. Zum anderen wollte der Abschnitt aber auch darlegen, dass die Basispolarität der Nähe und Distanz, die in den vorangegangenen Kapiteln schon in Form der Metaphern und Narrativierungen, in histoire und discours, auf Ebene des Liedtexts nachvollzogen wurde, im beständigen Ringen miteinander auch die Aufführungsebene prägt. Es scheint vor diesem Hintergrund keineswegs zu hoch gegriffen, im fortwährenden, vielschichtigen Spiel von Nähe und Distanz miteinander den Minnesang sich immer wieder neu verorten und beschreiben zu sehen. Eine dritte Aufgabe des letzten Abschnitts lag außerdem darin, vorausdeutend einen Eindruck davon zu vermitteln, was eine Lektüre der Minnesangaufführung mit Luhmanns Einfachen Systemen leisten kann und wo sie sich an bestehende Forschungspositionen angliedern lässt. Den Vorwegnahmen des vergangenen Abschnitts gilt es nun, Luhmanns Theorie der Einfachen Systeme einerseits als abstrakten Hintergrund beizugeben und diese andererseits nochmals konkretisierend auf den Minnesang und seine Aufführung zu beziehen.

3.2 Das Einfache System als integratives Modell Luhmanns soziologisches Theoriemodell ist dabei in der germanistischen Mediävistik nicht unbekannt: Verläuft seine Rezeption zumeist implizit, so erhält der explizite Rückgriff mit Haferland und Strohschneider Eingang in den Forschungsdiskurs.76 Letzterer extrapoliert aus der Aufführungssituation im Sinne eines Einfachen Systems beispielsweise den Status von Schrift und Text,77 wonach die Aufführung, die sich auch in die Schrifttexte der Volkssprache einschreibt, ebenjene Texte in ein „Spannungsfeld von (normativer) Maßgeblichkeit und (situationeller) Anlässlichkeit“78 führt. Obwohl für Strohschneider die Thematik des Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit weit interessanter ist als der ausschließliche Fokus auf die || 76 Vgl. im Einzelnen Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘. In: ZfdPh 116 (1997), S. 62–86, hier S. 70. Haferland, Hohe Minne, S. 336. 77 Vgl. hier und im Folgenden Strohschneider, Situationen des Textes, S. 77f. 78 Ebd., S. 78.

266 | Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze

Aufführungssituation, weist der Autor doch auf ein weiteres Erklärungspotential des Luhmann’schen Modells hin: Nachdem sich auf dessen Grundlage ergibt, dass das Gelingen ästhetischer Rede aufgrund ihres prekären Status besonders unwahrscheinlich ist, kann Strohschneider zufolge die Formiertheit und Konventionalität mittelalterlicher Texte als Reaktion auf ebendiese Unwahrscheinlichkeit gedeutet werden.79 Oben wurde bereits der Deutungsversuch unterbreitet, im Spiel mit Spaltungen und Ich-Pluralitäten eine Gegenkraft zum topisch gebundenen Minnesang zu erblicken. Strohschneiders Interpretation setzt nun insofern anders am gleichen Problem an, als dass sie keinen sekundären Ausgleich zur minnesanglichen Invarianz der Topoi sucht, sondern ebenjene Invarianz ihrerseits als absichtsvolle Reaktion deutet – und zwar auf die Unwahrscheinlichkeit eines Gelingens von Kommunikation. Ihr wirken die topischen Netze des Minnesangs gemeinsam mit anderen komplexitätsreduzierenden Schemata mittelalterlicher Lyrik entgegen. Die Metapher allerdings, die Strohschneider als eines dieser Schemata anführt,80 kann in vergleichbarer Funktion vor dem Hintergrund der obigen Abschnitte nur bedingt bestätigt werden. Sie wirkt eher zugleich komplexitätsreduzierend und -steigernd – wie Strohschneider dies für die mittelalterliche Aufführungssituation beschrieb –, denn einerseits führt sie Erkenntnis herbei und nimmt so Unsicherheit, andererseits aber erhöht sie sowohl ästhetisch als auch narrativ die Komplexität des lyrischen Werks, das sie enthält. Dazu ist ein rückhaltlos moderner Zugriff im mediävistischen Kontext der Metapher gar nicht nötig, Blacks Interaktionsansatz also nicht impliziert, um von einer poetischen Durchschlagskraft der Metapher auszugehen, die es schwierig werden lässt, Strohschneiders Metaphernbild eines kontingenz- und okkasionalitätsdrosselnden Mechanismus beizupflichten.81 Die Komplexitätsreduktion82 der Metapher ist demgegenüber nicht über eine Vereinfachung im Sinne des beredsamen Verständlichmachens hinausgehend anzusetzen, der zudem die ästhetische Schöpfungskraft83 entgegensteht. Komplexitätsreduzierend wirkt also das rhetorische Fundament der Metapher, ihr hermeneutischer Anspruch und ihr ästhetischer Modus jedoch steigern Komplexität vielmehr. Doch so prägend Strohschneiders Luhmann-geleiteter Zugriff auf den Text zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auch geworden ist; er schöpft damit noch lange nicht aus, was die Einfachen Systeme für die Minnesangaufführung leisten können. Bevor dies anhand einer konkreten Anwendung auf die mittelalterliche Vortragssituation dargelegt wird, soll nun zunächst das Theoriemodell in seiner Abstraktion beschrieben werden.

|| 79 Vgl. ebd., S. 79–82. 80 Vgl. ebd., S. 83. 81 Vgl. ebd., S. 85. 82 Vgl. hier und im Folgenden Jost, Topos und Metapher, S. 281. 83 Vgl. ebd., S. 367.

Das Einfache System als integratives Modell | 267

Niklas Luhmann unterscheidet 1972 Einfache, Intermittierende, Organisierte und Gesellschaftssysteme, stellt jedoch in besonderer Ausführlichkeit nur die Einfachen Systeme dar. Diese sind demnach in erster Linie durch die körperliche Anwesenheit ihrer Mitglieder einerseits und eine zeitliche Ausdehnung andererseits gekennzeichnet, die ausschließlich ebenjenes körperliche Zusammentreffen umfasst.84 Damit ist beschrieben, was Strohschneider als situationelle Anlässlichkeit benannte. Als Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Systemarten – Einfach, Intermittierend etc. – fungieren bei Luhmann wiederum die genannten räumlichen und zeitlichen Bestimmungen: Das Intermittierende System weicht vom Einfachen durch die Möglichkeit eines Auseinandergehens und Wiederzusammentreffens seiner Teilnehmer im dennoch gleichen Systemkontext ab, während das Gesellschaftssystem gegenüber dem Organisierten die körperliche Anwesenheit durch eine Mitgliedschaft respektive kommunikative Erreichbarkeit ersetzt.85 Anhand dieser ersten Bestimmungen wird bereits deutlich, dass es nötig ist, die einzelnen Elemente, die in der Aufführungssituation der Minnelieder zusammenkommen, nach ihrer systemischen Zugehörigkeit genauer zu trennen. Im Folgenden wird die These vertreten, dass es sich bei der Aufführungssituation des Minnesangs zwar um ein Einfaches System handelt, beim Minnesang insgesamt jedoch um ein Intermittierendes, wobei in beiden Fällen das strukturgebende Thema die Minne ist. Dies gilt es zu erklären. Notwendige wie hinreichende Bedingung für die Entstehung eines sozialen Systems ist nach Luhmann zum einen die wechselseitige Wahrnehmung seiner Teilnehmer, wie sie im Falle einer körperlichen Anwesenheit umgehend auftritt, sowie zum zweiten die daraufhin stattfindende Selektion der (Handlungs-)Möglichkeiten, die erforderlich wird, sobald neben dem Selbst weitere Subjekte einbezogen werden.86 Hintergrund dazu ist die umgehend stark anwachsende Menge möglicher Handlungen in dieser Kerngruppe der Subjekte, die weiter steigt, wenn neue Teilnehmer hinzutreten. Die innerhalb eines Systems denkbaren Handlungsmöglichkeiten stellen dabei stets eine Auswahl der überhaupt denkbaren dar, weshalb das soziale System, das Luhmann beschreibt, zwar ein einigermaßen unweigerlich entstehender Mechanismus der Interaktionsordnung ist, zugleich aber auch ein komplexitätsreduzierender. In Bezug auf die Aufführungssituation des Minnesangs könnte dies etwa bedeuten, dass der Teilnehmer im sich etablierenden System zwar ebenso wie allein und außerhalb des Systems die Möglichkeit hat, über den Ursprung der Minne nachzudenken, weil ein solches Handeln durch die Systemregeln abgedeckt wird. Er verliert systembedingt jedoch die Möglichkeit, in diesem Moment der Aufführung

|| 84 Vgl. Niklas Luhmann: Einfache Sozialsysteme. In: ZfS 1 (1972), S. 51–65, hier S. 52. 85 Vgl. ebd., S. 63. 86 Vgl. ebd., S. 52f.

268 | Die Aufführung mittelalterlich-lyrischer Texte und ihre Relevanz für narrative Ansätze

beispielsweise Herrschaftsgeschäfte auszuüben, an religiösen Praxen teilzunehmen87 oder aber sich schlicht Beschäftigungen zu widmen, für die die Abwesenheit eines wahrnehmenden Gegenübers Bedingung ist. Die Wahrnehmung ist im Einfachen System nach Luhmann auch deshalb so fundamental wichtig, weil sie zugleich Kommunikation bedeutet, da ein Teilnehmer die anderen nicht nur wahrnimmt, sondern seine Wahrnehmung im selben Moment wiederum Gegenstand der Wahrnehmung seiner Mitteilnehmer ist:88 Zu zeigen, dass etwas gesehen oder gehört wurde, ist damit keine sichernde Redundanzschleife, sondern ein Stück Information eigenen Rechts. Angewendet auf die Minnesangaufführung heißt das, dass erstens etwa der Sänger nicht nur das Publikum sieht, sondern ebenfalls wahrnimmt, dass dieses wiederum ihn sehen kann, dergleichen zweitens vice versa sowie drittens die einzelnen Teilnehmer des Publikums sich untereinander. Es entsteht ein doppelt intensiv verknüpftes, da in seinen einzelnen Seiten je bidirektionales Dreieck der gegenseitigen Wahrnehmung, das Luhmann zufolge integrativ wirkt, weil das jeweilige Selbst davon ausgehen kann, dass alles, was es wahrnimmt, auch von allen anderen Teilnehmern wahrgenommen wird. Dies könnte nun sogar auch außerhalb der Minnesangaufführung fortwirkendes Erkenntnispotential aufweisen: Schulz hat im Rückgriff auf Müller darauf hingewiesen, dass in epischen Welten die Informationen, die eine Figur einmal öffentlich geäußert hat, fortan allen Figuren zur Verfügung zu stehen scheinen – selbst, wenn manche dieser Figuren zum Zeitpunkt der Informationsäußerung nicht zugegen waren.89 Ohne diesen Punkt hier weiter vertiefen zu wollen, scheint es doch ganz so, als wäre der beschriebene Umstand vor dem Hintergrund der Einfachen Systeme nicht nur über eine abstrakte Vorstellung von Öffentlichkeit zu deuten, sondern ebenso mithilfe der integrativen Wahrnehmung, die in der Vortragssituation lyrischer wie episch erzählender Werke gegeben ist. Ihr bleibt nichts verborgen. Und dies in der erzählten Welt ebenso zutreffen zu lassen wie in der Aufführungssituation, ist poetisches Spiel. Andere Mechanismen der aufführungsinternen Integration – namentlich Symbol und Ritual – dürften durch die Luhmanns kaum behindert, sondern eher noch unterstützt werden, weil sie zusätzlich dazu beitragen, die Situation des Vortrags eng in die Muster ästhetisch vergesellschaftender Prozesse einzuweben.

|| 87 Strohschneider spricht sich zwar dafür aus, dass in Situationen ästhetischer Performanz eine Ausdifferenzierung gegen herrschaftliche und religiöse Praxen nicht letztgültig erfolgte, es ist aber dennoch davon auszugehen, dass etwa das Abhalten von Audienz oder Kriegsrat sowie ausgestellte religiöse Betätigung seitens der Teilnehmer auf das Einfache System störend wirkten. Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes, S. 78. 88 Vgl. Luhmann, Einfache Sozialsysteme, S. 54. 89 Vgl. Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 28 sowie der Originalzusammenhang bei Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 128.

Das Einfache System als integratives Modell | 269

Diese an die Wahrnehmung gekoppelte Art der Kommunikation ist der sprachlichen nach Luhmann nun einerseits überlegen, da sie schneller komplexere Inhalte vermitteln kann als die stets auf ein zeitliches Nacheinander der Inhalte angewiesene Sprache – diese Überlegung wurde im Zuge der Diagrammatik oben bereits ähnlich formuliert: Auch sie war in ihrer graphischen Kondensierung der ausformulierten Paraphrase weit voraus. Des Weiteren ist die wahrnehmende Kommunikation im Einfachen System der sprachlichen aber auch deshalb überlegen, weil sie andere Kommunikationsprozesse nicht stört – denn sie findet auf einer Parallelebene der Perzeption statt – und weder den Charakter einer Intention noch einer Handlung besitzt.90 Die Ebene der Wahrnehmungen ist somit in der Aufführungssituation als informationsreiches Grundrauschen unterhalb der sprachlichen Äußerungen, die etwa im Vortrag des Liedes bestehen, jederzeit präsent, ohne nachteilig auf den Liedvortrag einzuwirken. Stattdessen stellt sie ein Plus an Information bereit (Interesse der Rezipienten, Zustimmung etc.), das sowohl unabhängig vom Lied als auch von einem Rechtfertigungsdruck ist, da Luhmann zufolge die Handlung ebenso wie die Intentionalität der Wahrnehmung jederzeit abgestritten werden können. Dies deutet schon voraus auf die Mechanismen, mit denen das Einfache System auf Störungen reagiert, denn wenn es stets über die Möglichkeit verfügt, etwaige über wahrnehmende Kommunikation erhaltene Informationen zu ignorieren oder zu negieren, wird damit ein erster Teil der Störungspotentiale bereits vor Ausbrechen ihrer Irritationskraft abgewiesen, ohne dass Thematisierung, Moralisierung etc. zu Einsatz kommen müssten. Andererseits aber ist die Überlegenheit wahrnehmender Kommunikation, die bei Luhmann zunächst eine wesentlich visuelle zu sein scheint, nicht unbegrenzt: Ihr steht eine gewisse Unterlegenheit gegenüber der sprachlichen Kommunikation entgegen, die darin gründet, dass die wahrnehmende Kommunikation rasch an Wert und Genauigkeit verliert, sobald sich mit zunehmender Reflexivität des Systems eine erhöhte Beziehungsvielfalt ausbildet. Sie ist also nur von geringer Reichweite und zeitlicher Ausdehnung.91 Die sprachliche Kommunikation muss demgegenüber thematisch konzentriert werden,92 womit zugleich eine erneute Selektion der Möglichkeiten erfolgt, die die Komplexität des Systems weiter reduziert. Angewendet auf die Minnesangaufführung bearbeitet die sprachliche Äußerung des vorgetragenen Liedes das konkrete Thema der Minne, das nach Luhmann aufgrund dieser Äußerungen erst eine abgrenzbare Identität erhält. Zugleich aber determiniert das Thema auch die innerhalb des Systems zugelassenen Äußerungen, denn thematisch unpassenden wird durch die Sanktionierungsmöglichkeiten des Systems entgegengewirkt.93 Dass jene

|| 90 Vgl. Luhmann, Einfache Sozialsysteme, S. 54. 91 Vgl. ebd. 92 Vgl. ebd., S. 54f. 93 Vgl. ebd., S. 60–63.

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sprachlichen Äußerungen dabei stets in der Form eines zeitlichen Nacheinanders erfolgen, bedeutet im Zuge dessen sowohl eine Mitsprachemöglichkeit für alle Anwesenden als auch einen Zentralisierungseffekt, in dessen Mitte das Thema Gestalt gewinnt.94 Angewendet auf die Aufführung bedeutet dies eine zweite Ebene neben der beschriebenen der wechselseitigen, synchronen und allgerichteten Wahrnehmung, die in der einseitigen, diachronen und zentral auf das Thema Minne gerichteten, sprachlichen Äußerung des Liedvortrags besteht. Die Vorgänge beider Ebenen wirken hierbei zugleich, worin Luhmann zufolge die besondere Eigenart und Stärke der Einfachen Systeme liegt:95 Sie bezeichnen demnach ein gleichermaßen fragiles wie dynamisches Gebilde sozialer Beziehungen, dessen Thema ebenso konstitutiv wie eindeutig ist, während seine Äußerungen unterschiedlich geartet sind. Die Bewusstseinsentwicklung, die für dieses Ebenenspiel notwendig ist, dürfte für den Minnesang als sublimes, poetisch-performantes Kommunikationsspiel allgemein zur Genüge gegeben sein und nicht zwingend den Hohen Sang als gesteigerten Ausdruck der Entsagung und Sangesvirtuosität benötigen. Dies auch insbesondere deshalb, weil jene Fokusverschiebungen den Inhalt der systeminternen Äußerungen betreffen – den Liedinhalt – und nicht deren Äußerungsumgebung: die Aufführung. Eine weitere Überlegung bietet sich nach der Betrachtung der Ebenen der Wahrnehmung und der sprachlichen Kommunikation an: Wenn die Kommunikationsform der Wahrnehmungsebene derjenigen der Sprache in manchen Belangen derart überlegen ist, wie Luhmann darstellt, dann kann daraus nicht nur abgeleitet werden, dass die Vortragssituation des Minneliedes dessen Text zusätzliche Bedeutung verleiht. Darüber hinaus ist auch anzunehmen, dass das Publikum, das den Vortragenden wahrnimmt und dessen Wahrnehmung dieser wiederum perzipiert, weit mehr Relevanz innerhalb der Vortragssituation besitzt als ihm im Zuge der bisher vorgebrachten Performanztheorien des Minnesangs zugebilligt wurde. Denn deren Augenmerk lag wesentlich auf dem Sänger, seiner Stimme und Gestik. Die Verschiebung einer Narration in die Sphäre des Rezipienten, wie sie durch Bleumer sowie innerhalb der vorliegenden Studie insgesamt angeregt wurde, ist somit nicht schlicht als Schritt in einen Bereich zu interpretieren, der bequemerweise nicht durch Belege abzusichern ist und in den sodann alle nicht ausreichend präzisierbaren Problematiken elegant ausgelagert werden können. Dieser Einwand wäre schließlich leicht denkbar. Jene Verschiebung bedeutet vielmehr den theoretischen Versuch, das Gleichgewicht zwischen der Relevanz des Sängers und der des Publikums, das in der Vortragssituation als Einfachem System nach Luhmann vorhanden war, wiederherzustellen oder doch zumindest für das Publikum zu sensibilisieren. Denn die metaphorische Narration lässt sich als ein solcher Prozess auf der

|| 94 Vgl. ebd., S. 55. 95 Vgl. ebd., S. 56.

Das Einfache System als integratives Modell | 271

Wahrnehmungsebene des Rezipienten deuten, während die Metapher als dessen Anstoß ihren Ursprung unbestritten auf sprachlicher Ebene der liedhaften Systemäußerung durch den Sänger hat. Da innerhalb der Gattungsbeschreibung festgestellt wurde, dass eine Konzentration der Lyrik auf die Wahrnehmung anstelle des Wahrgenommenen unter anderem als signifikante Eigenschaft dieser Gattung angesehen werden kann, zeigt sich hier noch einmal die enge Relation zwischen Lyrik und Metapher. Neben dem Systemthema wirkt auch dessen Geschichte ordnend auf das System ein. Luhmann zufolge etabliert diese Systemgeschichte sich direkt mit der Konstitution des Themas und besteht vorwiegend in der Menge der vorgenommenen Selektionsprozesse – positiver wie negativer Art – und nicht in der bloßen Anhäufung von Fakten.96 Diese Perspektive weicht etwas von der allgemein in strenger Sukzession gegründeten Auffassung einer Geschichte im historischen Sinne ab, weil sie die einzelnen Geschehnisse, die durch Aneinanderreihung in Beziehung zueinander gebracht werden, als gefällte Entscheidungen zwischen mehreren Alternativen betrachtet, die Selektionsprozesse schließlich sind. Damit erhellt sich vielleicht auch schon, warum die Geschichte des Einfachen Systems für Luhmann weder abgeschlossen noch in eine Vergangenheit ausgelagert werden kann,97 denn die Folge von Selektionsprozessen, auf der die Geschichte gründet, ist schließlich konstitutiv für das Einfache System und kann daher nicht beendet werden, ohne das System aufzulösen. Voraussetzung für eine abschließende Verschiebung in die Vergangenheit wäre zudem die Konstitution einer objektiven, geschichtlichen Zeit – aber auch diese ist nicht möglich, wenn das Einfache System auf die unausgesetzte Anwesenheit der Systemteilnehmer angewiesen ist. Stattdessen wird die Vergangenheit in einer gegenwärtigen Form erhalten, die daher notwendig subjektiv geprägt sein muss – sowohl Subjektivität als auch Jederzeitlichkeit weisen nochmals zurück auf die Ausführungen zur Lyrik. Der gegenwärtigen Vergangenheit des Einfachen Systems stehen darüber hinaus die Zeitachsen – bzw. die Fragmente von Zeitachsen –, die innerhalb verschiedener Minnesanglieder vorgestellt werden, nicht entgegen, weil es sich bei ihnen schließlich um liedinterne Modelle handelt, die als Kommunikationsbeiträge des Einfachen Systems der Aufführung keine Aussage über Gegenwart und Vergangenheit ebenjenes Systems treffen können. Diese Zeiten liegen auf unterschiedlichen Systemebenen. Es liegt nahe, dass die Systemgeschichte ein problematischer Begriff sein muss, wenn sich die Einfachen Systeme nach Ansicht Luhmanns unter anderem gerade dadurch auszeichnen, dass sie den Anlass des körperlichen Zusammenseins der Teilnehmenden nicht zu überdauern vermögen. Unter anderem deshalb wurde oben bereits vorausdeutend für die systemisch differente Zuordnung der einzelnen

|| 96 Vgl. ebd., S. 56–58. 97 Vgl. ebd., S. 58.

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Vortragssituation und des Minnesangs allgemein plädiert. Nachdem Strohschneider sich dafür aussprach, die Formiertheit der Minnesangtexte als Hinweis auf die Bewältigungsbemühungen des prekären Status poetischer Kommunikation zu interpretieren,98 wird anhand der Problematik der Systemgeschichte nun eine zweite Deutungsmöglichkeit dieser poésie formelle99 greifbar. Denn ein Anknüpfen an das übergeordnete, Intermittierende System ‚Minnesang‘ dürfte in der immer neu als Einfaches System sich konstituierenden Aufführung durch die an Formeln und Topoi reiche Sprache der Minnesanglieder leichter fallen. Abgesehen vom Thema und der Geschichte realisiert das Einfache System Luhmann zufolge jedoch keine andersgearteten Systemstrukturen,100 wie etwa themenunabhängige Statusunterschiede der Teilnehmer oder alternative Teilsysteme. Das muss für die hierarchisch äußerst versierte mittelalterliche Gesellschaft jedoch insofern kein Problem darstellen, als dass Luhmann derartigen Differenzierungen fortgesetzte Gültigkeit innerhalb des Einfachen Systems zugesteht, sobald sie nur außerhalb dessen bereits wirksam waren.101 Deshalb würde das System etwa den Standesunterschied zwischen vortragendem Sänger und einem im Publikum hypothetisch anwesenden Fürsten nicht einebnen. Thema und Geschichte sind dennoch die maßgeblichen Kategorien für die innere Strukturierung des Systems, da sie die beiden wesentlichen Gebiete der Kompetenzdemonstration darstellen, mit der der einzelne Teilnehmer um einen vorteilhaften Platz in der inneren Hierarchie des Systems kämpft. Luhmann nennt dies die selektive Behandlung der Beteiligten,102 die durch die Kontrollmechanismen der Thematisierung und der Moralisierung unterstützt wird. Innerhalb dieser auf das Systemthema ausgerichteten Hierarchiekreise ist der Erwerb einer günstigen Position sowohl durch thematische Kenntnis und Mitarbeit als auch durch Vertrautheit mit der Systemgeschichte möglich, die aus Teilhaberperspektive einerseits mehr Wissen vermittelt, andererseits aber auch verlangt, als bei einem Außenstehenden oder Neuling des Systems.103 Die Systemhierarchie ist bei einer Anwendung des Einfachen Systems auf die Minnesangaufführung weiterhin sowohl für Fragen nach der Bedeutung der herausgehobenen Rolle des Vortragenden von Interesse als auch in Bezug auf mit Standesunterschieden operierende Formeln wie den Kaisertopos oder die Herzenskönigin. Geht man für den ersten Punkt zunächst vom Vorliegen einer Situationsverschmelzung aus, dann bildet der Vortragende in doppelter Hinsicht den Mittelpunkt des Einfachen Systems: Zum einen ist er in seiner performanten Dominanz der Brennpunkt der Aufmerksamkeit innerhalb der Aufführung und zum anderen wird er aufgrund || 98 Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes, S. 79–85. 99 Vgl. Luhmann, Einfache Sozialsysteme, S. 83. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. ebd., besonders die dortige Anm. 27. 102 Vgl. ebd., S. 60f. 103 Vgl. ebd., S. 57.

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der ästhetisch-stimmlichen Verschmelzung mit dem Text-Ich zusätzlich zum Kristallisationspunkt der Minne. Dementsprechend untergeordnet ist im Vergleich die thematische Rolle des Rezipienten, wenn dieser performanztheoretisch auch Teil eines ästhetisch gleichberechtigenden Ganzen sein mag. Betrachtet man demgegenüber die Möglichkeit einer Situationsspaltung, dann ist aufgrund der geschiedenen Ebenen des Liedes und des Vortrags das Thema im Raum der Aufführung nicht so leicht zu lokalisieren, sondern stellt lediglich abstrakt den Situationsmittelpunkt dar, während der distanziertere Sänger und der Rezipient im gleichen Umfang Anteil an dieser Auseinandersetzung haben. Aus dieser Überlegung ergibt sich weiterhin, dass die aufrichtigen Gefühle des Sängers104 nicht von Interesse sein können, weil innerhalb der Situationsverschmelzung das ästhetisch-ritualhafte Zutreffen der Äußerung vor die Instanz des Vortragenden tritt und innerhalb einer Situationsspaltung, in der der Sänger als Gefäß bzw. Instrument für das Lied dient, das Gefühl des Vortragenden gegenüber dem vorgetragenen Gefühl ohne Bedeutung ist. Für die hierarchieorientierten Topoi bedeutet dies, anzunehmen, dass sie einerseits ebenso in das Gebiet der textlichen Sphäre fallen wie die Zeitstrukturen oben und andererseits als Spiel mit dem Einbezug der außerhalb des Einfachen Systems vorliegenden Hierarchiestrukturen interpretierbar sind, die in die Äußerungen des Systems eingearbeitet werden, um Interferenzeffekte mit der thematischen Hierarchie innerhalb des Systems beobachtbar zu machen. Natürlich benötigt auch das Einfache System einen äußeren Umriss. Diese Aufgabe erfüllt die Systemgrenze, die dabei aber nicht nur den Abschluss gegen eine nicht komplexitätsreduzierte Umwelt bildet,105 sondern auch die Schwelle in einem Komplexitätsgefälle der Selektionsprozesse. Anhand der Aufführungssituation der Minnelieder lässt sich dies vorstellen als Kommunikation innerhalb des Einfachen Systems, die auf die Minnethematik konzentriert ist, zugleich aber jede andere thematische Ausrichtung ausschließt. Denn obwohl Themenwechsel möglich sind, ist es die zeitgleiche Kommunikation mehrerer Themen nicht. Dabei ist jene Grenze offenbar nicht zwingend als räumliche Barriere anzusehen, wenn Luhmann feststellt, dass etwas im Wahrnehmungsraum Anwesendes trotzdem zur Umwelt gehören kann.106 Das bedeutet für die Aufführungssituation, dass auch Subjekte anwesend sein können, die sich weder am Vortrag noch an dessen Rezeption beteiligen und damit das System dennoch nicht gefährden, solange sie nicht aktiv störend eingreifen. Abwesendes kann demgegenüber stets nur Teil der Umwelt sein. Hierfür wiederum stellt der Inhalt der in der Aufführungssituation vorgebrachten Lieder kein Hindernis dar, weil es sich genauso um den Inhalt der Kommunikationsbeiträge handelt wie im Falle der liedinternen Zeitachsen zuvor. Wird also die Dame, der Sommer oder Ähnliches

|| 104 Vgl. Haferland, Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen. 105 Vgl. Luhmann, Einfache Sozialsysteme, S. 59. 106 Vgl. ebd.

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thematisiert, das in der Aufführungssituation gegenwärtig abwesend ist – immer vorausgesetzt, dass ästhetische Verschmelzungsprozesse diese Unstimmigkeit nicht ohnehin über die Ebene der Uneigentlichkeit heilen –, dann deckt dies keine Unzulänglichkeit des Luhmann’schen Theoriemodells auf, sondern deutet vielmehr zum wiederholten Male auf den Unterschied zwischen System und Systemäußerung. Da das Augenmerk Luhmanns weniger auf das Verhältnis des textinternen und textexternen Bereichs konzentriert ist als vielmehr auf die gemeinsame Ausrichtung beider auf das Systemthema, kann die als Einfaches System interpretierte Minnesangaufführung stattdessen sowohl spaltende als auch verschmelzende Tendenzen unter der Maßgabe der kooperativen Themenbearbeitung und jenseits hierarchischer Entscheidungen integrieren. Da das Thema des Systems konstitutiv wirkt, kann das System sich für nichts interessieren, das keinen thematischen Anteil hat. Aus diesem Grund wird die Umwelt des Systems gegenüber seinem durch Themenbezug weiter strukturierten Inneren auch undifferenziert wahrgenommen.107 Die Reaktion auf Störungen bleibt jedoch möglich, unabhängig davon, aus welchem Bereich die Irritationen an das System herantreten. Denn mit den Mechanismen der Abwehr, Einflussnahme und Eindrucksverarbeitung verfügt das Einfache System sowohl über eine Möglichkeit, Provokationen aus der Umwelt entgegenzutreten, als auch innersystemische Störungen zu regulieren, indem Ein- und Austrittsprozesse sowie Thematisierung und Moralisierung Anwendung finden.108 Dabei sind alle Kontrollmechanismen dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Einfachen System ausschließlich gegen vereinzelte und langsame Störungsversuche zu Diensten sein können, denn genauso fragil wie die themenbasierte Strukturbildung und vergangenheitsunfähige Systemgeschichte sind auch die systemischen Abwehrmöglichkeiten: der Preis für die besondere Dynamik und Produktivität dieses Systemtyps, die Luhmann wiederholt betont.109 Zur Veranschaulichung der Abwehrmechanismen folgen einige Ausführungen, die sich beispielhaft auf die Thematisierung und Moralisierung beschränken. Während bei der Moralisierung das Handeln mit der sozialen Achtung und Akzeptanz des Handelnden auf eine Art und Weise direkt verknüpft wird, die für ihn letztlich keine Abweichung mehr möglich macht, stellt die Thematisierung das System vor eine Entscheidung, die als präzisierende Selektion letzter Konsequenz nur noch genau zwei Möglichkeiten zur Wahl stellt und dafür das Zerbrechen des Systems in Kauf nimmt. Somit liegt offen, dass die Thematisierung die Fortentwicklung des Systems ohne Rücksicht auf dessen mögliche Schädigung vorantreibt, während die Moralisierung es zwar unter allen Umständen erhält, dafür aber den Fortschritt bezähmt. Am konkreten Beispiel des Minnesangs wären diese Mechanismen einerseits

|| 107 Vgl. ebd., S. 55 (hier auch die dortige Anm. 13), S. 58 u. 60. 108 Vgl. ebd., S. 59–62. 109 Vgl. ebd., S. 56.

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vorstellbar als Verweise auf die rechte Art zu minnen, zu singen oder zu loben, deren Zielsetzungscharakter unhintergehbar ist und die demzufolge als moralisierende Marker fungieren können. Ähnlich dürften auch die Maßgaben der Anonymität der Dame und der Verschwiegenheit in Bezug auf gewährte Erfüllungen zu betrachten sein. Thematisierung eines als Störung empfundenen Verhaltens kann Luhmann zufolge vorgenommen werden, indem das Hauptthema kurzzeitig stillgelegt wird, um ein Fehlverhalten als Nebenthema zu verhandeln und daraufhin zum Hauptthema zurückzukehren.110 Für die Aufführungssituation des Minnesangs lässt sich dies problemlos vorstellen und könnte seinen Spiegel sogar in liedhaften Äußerungen gefunden haben, betrachtet man die berühmte Kritik Walthers111 an Reinmar. Dass diese in einer weiterentwickelten, reflexiveren Phase des Sangs stattfindet, fügt sich stimmig zu Luhmanns Ansicht, nach der ein System über eine ausgeprägtere Stabilität verfügen muss, um auf die Thematisierung zurückgreifen zu können. Passend zur angesprochenen Aufnahmefähigkeit des Luhmann’schen Modells In Bezug auf spaltende und verschmelzende Effekte, die in der alles andere dominierenden Relevanz des Themas als Ordnungsstruktur begründet wurde, gestaltet sich auch das prekäre Selbst- und Grenzbewusstsein des Einfachen Systems. Dies meint, dass die Systemteilnehmer sich zwar ihrer Identität bewusst sind,112 nicht aber der des sozialen Systems.113 Daraus resultiert nochmals dessen temporale Beschränktheit und zudem auch die mangelhafte Artikulation der Regeln und Normen, denn die Beteiligten verorten sich über ihren Bezug auf das gemeinsame Thema Minne, nicht aber über das resultierende, gemeinsame System, das selbst noch nicht Gegenstand von Wahrnehmung und Kommunikation ist. Hiermit mag erklärt werden, warum – abgesehen von solchen Spaltungsmarkern, wie sie im vorangegangenen Abschnitt bearbeitet wurden – sich in Minneliedern keine direkten Ausführungen dazu finden, in welcher Form deren Aufführung zu denken ist. Das überschaubare Wissen zu diesem Thema stammt aus anderen Quellen, wie etwa Aussagen der romanhaften Dichtung, in der von der Integration des Minnesangs als repräsentative Freizeitgestaltung des Adels die Rede ist – wenn man diese aufgrund ihres Dichtungscharakters in Hinblick auf einen

|| 110 Vgl. ebd., S. 60. 111 Vgl. Walthers L 111,22f. bezogen auf Reinmars MF 159,1. 112 Luhmanns Hinweis auf die verstärkte Betrachtung der Person gegenüber der des Systems scheint zudem nicht so sehr in Bezug auf eine in den Einfachen Systemen gesteigerte Individualität zu deuten zu sein, wie sie für mediävistische Kontexte durchaus problematisch wäre, sondern in Form einer Perspektive, die sich aus der temporalen Begrenzung des Einfachen Systems und seinem Basieren auf körperlicher Anwesenheit ergibt: Durch diese Eckpunkte konzentriert sich das Einfache System derart auf ein Hier und Jetzt, dass die Zentralisierung des Ichs das Resultat ist. 113 Luhmann, Einfache Sozialsysteme, S. 62.

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außerliterarischen Aussageanspruch sicher auch mit Vorsicht zu rezipieren hat. Doch es bleibt dabei: Das Minnelied schweigt sich aus zu seiner Inszenierung. Das Intermittierende System, das nach Luhmann die nächsthöhere Stufe sozialer Systeme darstellt, erfordert bereits die Abstraktionsleistung einer Reflexion des Selbst und des Seins. Dazu muss es nach Ansicht des Autors jedoch nicht die streng geschiedene und chronologisch folgende Stufe einer Entwicklung der Systemkomplexität darstellen, sondern kann ebenso in einem vielfältigen Verstrickungs- und Verschachtelungsverhältnis mit den anderen Systemtypen stehen.114 Daher ist es auch möglich – wie oben angeregt – davon auszugehen, dass die Minnesangaufführung nach den Maßgaben des Einfachen Systems arbeitet, während der Minnesang in Gänze ein Intermittierendes System darstellt. Auch für die Beständigkeit des Systems lässt sich dies belegen, zeichnet sich das Intermittierende System doch durch einen Systemzusammenhang aus, der über mehrere Zusammentreffen erhalten wird. Ein solcher Sinnzusammenhang ist durch die genannten Anknüpfungspunkte der Formeln und Topoi über einzelne Aufführungssituationen hinweg konservierbar. Da ein Intermittierendes System nach der Aussage Luhmanns abgesehen von seinen Weiterentwicklungen durchaus noch wie ein Einfaches System funktioniert, kann auch für den Minnesang als Intermittierendes System am konstituierenden Thema der Minne festgehalten werden. Die Variationen, die das Intermittierende System vornimmt, betreffen weniger die Funktionalität des Beschriebenen als vielmehr dessen Stabilität, die im Intermittierenden System durch die Ausbildung von Abstraktionsleistungen auf der einen Seite und eines Identitätsbewusstseins auf der anderen generiert wird.115 Auch die sich Luhmann zufolge im Intermittierenden System ausprägenden systemischen Verhaltensregeln116 legen die vorgeschlagene Lektüre nahe, denn der Minnesang – der Hohe Sang insbesondere, aber nicht nur dieser – verfügt über ein elaboriertes Normenkonstrukt, ja ergeht sich nachgerade in der virtuosen Schöpfung und Befolgung der Maximen, innerhalb derer sich das Liedsubjekt verortet und bewegt. Die aufgeführten Minnelieder sind damit systemisch doppelt bestimmt, denn sie enthalten zum einen Systemäußerungen des Einfachen Systems ‚Aufführung‘, das durch die fragile Dynamik allgerichteter Wahrnehmung etc., nicht aber durch ausdifferenzierte Verhaltensregeln bestimmt ist. Zum anderen enthalten sie jedoch auch die Systemäußerungen des Intermittierenden Systems ‚Minnesang‘, dessen Regularien sie künstlerisch ausstellen. Oder aus anderer Perspektive: Weil das Intermittierende System selbstreflexiv ist und das Einfache nicht, schließen die aufgeführten Lieder als Systemäußerungen zwar Minneregeln, aber keine Aufführungsregeln ein. Da Luhmann klargestellt hat, dass beide Systemtypen zeitgleich und verschränkt auftreten

|| 114 Vgl. ebd., S. 63. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. ebd.

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können, ist es also weder bedenklich noch unbedingt überraschend festzustellen, dass das Einfache System jeweils neue Anknüpfungen des Intermittierenden Systems umfasst; die Aufführungen des Minnesangs seine Aktualisierungen. Einigermaßen problematisch kann demgegenüber das Merkmal der kontrollierten Rekrutierung neuer Mitglieder durch die gezielte Kommunikation über deren Zulassung innerhalb des Intermittierenden Systems bewertet werden,117 da diese Prozesse anhand der überlieferten Textzeugen kaum zu belegen sind und ein Zutreffen daher offenbleiben muss. Eine im Gegenteil nur scheinbare Konfliktträchtigkeit liegt jedoch in Luhmanns These des überschießenden Potentials der Systemindividuen als Bedingung wie Gefahr für den Aufbau und die Fortsetzung des Systems.118 Dass der mittelalterliche Status des Individuums zwar kein einfacher ist, wurde oben schon angedeutet. Daraus muss aber kein unlösbares Problem entstehen, denn eine modern verfasste Individualität der Systemteilnehmer – es sei nur an die Diskussion bei Müller und Hausmann oben erinnert – ist nicht notwendig, um die Modellbildung bei Luhmann zu halten. Zu diesem Zweck reicht es aus, unter jenen Individuen die System- bzw. Aufführungsteilnehmer zu verstehen, deren Potential nicht auf einen Individuationsprozess, sondern vielmehr auf das überindividuelle System bzw. dessen Thema gerichtet ist. Strohschneider stützt dies indirekt, indem er den Begriff der ‚Situation‘, den er für seinen Beitrag in mehrfacher Hinsicht benötigt, als Kombination individuellen und kollektiven Handelns beschreibt, in die sich die mittelalterliche Kommunikation einfügt und von der sich wiederum der abstraktere Schrifttext emanzipiert:119 Auch hier schließt ein Handeln als Kollektiv, für das sich Müller oben ebenfalls einsetzte, die Gegenwart von Individuen nicht aus. Doch nicht nur, weil sich mithilfe des Luhmann’schen Modells die für die Performanz des Minnesangs relevanten Konzepte der Situationsspaltung und Situationsverschmelzung zusammenbringen lassen, verdient dieses eine Aufmerksamkeit, die über den ohnehin schon gegebenen Bekanntheitsgrad der Systemtheorie noch hinausgeht. Im Rahmen der zuvor angestellten Überlegungen ist das integrative Potential des Einfachen Systems gerade auch für den Aspekt der Nähe und Distanz relevant. Es schafft die Möglichkeit, über Situationsspaltung und Situationsverschmelzung die je zugehörigen Aspekte einer Distanzierung und Annäherung in der Aufführungssituation ohne Unvereinbarkeit oder Herrschaftsanspruch nebeneinander arbeiten zu lassen. Dadurch wird einer der Hauptkonfliktpunkte der Performanzforschung zum Minnesang befriedet: Es gilt für die Aufführung nicht, sich zwischen trennenden und verbindenden Lesarten der Lieder, Spaltung und Verschmelzung, zu entscheiden, weil

|| 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. ebd., S. 60. 119 Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes, S. 70–76.

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beide gemeinsam die Vortragssituation bestimmen und zwar in einer gegenseitigen Abhängigkeit, die ebenso unlösbar ist wie die beiden Hälften der Kippfigur aus Nähe und Distanz. Hinzu kommt außerdem, dass Luhmanns Modell – und dies sei nur am Rande bemerkt, bevor sich der folgende Abschnitt den beschriebenen Aufführungseffekten verstärkt am Beispiel widmet – sowohl ritualhafte Aspekte der Aufführung integriert als auch solche, die problematisch sind für eine Ritualfundierung. Denn nicht umsonst verwendete Müller schließlich den Hilfsterminus des Pararituals. Luhmanns Einfaches System aber nimmt sowohl die Gleichzeitigkeit von Kommunikation und Wahrnehmung in Form einer Teilhabe der Anwesenden auf als auch unbeteiligte Anwesende, geringe Abstraktionsniveaus und fehlende Reflexionsleistung.

3.3 Semantische Potentiale der Spaltungen im Tage- und Kreuzlied Da der Einbezug der Einfachen Systeme nach der vorgebrachten Thesenbildung die Situationsspaltung als Aufführungseffekt neben der Verschmelzung bestehen ließ, nachdem sie im vorherigen Abschnitt in ihrem forschungsgeschichtlichen Hervortreten beschrieben wurde, ist es sinnvoll, sich trotz der unbenommenen Wirksamkeit ästhetischer Phänomene insbesondere den Implikationen der Spaltung noch einmal genauer und am Liedbeispiel zuzuwenden. Diese Liedbeispiele dabei aus dem Bereich der Tage- und Kreuzlieder zu wählen, bietet sich nicht nur an, weil deren Aufführungskomponente bislang noch kaum betrachtet wurde, sondern liegt umso näher, da Warning die Situationsspaltung bekanntlich grundlegend an einem Kreuzlied verdeutlichte. Da beide Typen in besonderem Maße auf vorgefertigte Männer- und Frauenrollen zurückgreifen und deren Übereinstimmung mit dem Sänger in der Performanz ohne ästhetische Kniffe maximal für eines der Rollenkonzepte, nicht aber für alle verwendeten Positionen und Perspektiven erwartbar ist, verspricht es, spannend zu bleiben. Dazu lassen sich zunächst im Korpus der mittelhochdeutschen Kreuz- und Tagelieder grob drei verschiedene Textgruppen danach unterscheiden, wie umfassend die auftretenden Spaltungserscheinungen sind. Die erste und kleinste Gruppe bildet die schwierigste Position für den Sänger, denn sie stellt wechselartig-unvermittelt Figurenrede gegen Figurenrede. Ein Beispiel gibt etwa Ottos von Botenlauben Singet, vogel, singet (KLD 41 III) an die Hand. Dieses dreistrophige Tagelied verhält sich auf der histoire-Ebene äußerst konventionell, indem zunächst der Wächter warnt und weckt, dann der Ritter ein zu langes Verweilen und dessen Folgen beklagt und weder eine unabhängig erzählende Instanz noch die Dame Redeanteile erhalten. In der Vortragssituation jedoch wird das Tagelied bemerkenswert, denn das Verhältnis zwischen vortragendem Sänger und Textinhalt ist hier im Sinne eines spaltenden Spiels nur schwer zu bestimmen: Weder wird durchgängig aus nur einer

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Perspektive geschildert, wie dies noch bis zum Beginn der dritten Strophe der Fall gewesen wäre, noch lässt sich mit einer erzählenden Instanz eine Position ausmachen, die der Figurenrede übergeordnet ist. Sie könnte dem Sänger ermöglichen, quasi als Erzähler der geschilderten Begebenheit und sodann in distanzierender Wiedergabe der Rollenstrophen aufzutreten. Stattdessen treffen die Äußerungen des Wächters und des Liebenden unvermittelt aufeinander und der Bezug einer der beiden Rollen auf die Instanz des Sängers verbietet sich gerade, weil er beide Positionen vorträgt.120 ‚Singet, vogel, singet mîner frouwen, der ich sanc: ich sanc umbe alle ir êre und umbe ir werden friundes lîp. den beiden diente ich gerne: ir sô diene ich âne danc. daz triuwe ich wol erwenden, sît sich daz wunderschœne wîp eins ritters und ir êren hât bewegen. ich pflac ir her, nu müeze ir got der rîche pflegen und helfe im wol hinnen: er hât ze lange hie gelegen. Ich ziuge ez ûf der kleinen vogellîne morgensanc daz ich dir hân geleistet, ritter, swaz ich leisten sol dîm lîbe und mîner frouwen, des mich her mîn triuwe ie twanc, dazt hiute und iemer mêre bewaht bist und behüetet wol, wan daz ir zorn gen tage mir zwîvel gît. nu wecke in, frouwe, ich sing im rehte scheidens zît. nu hüet dîn selbes, ritter: grôz angest bî der liebe lît.‘ „Ich bin unsanfte erwecket, frouwe, ob ich entslâfen was, von manger vogel sange, die sich dâ fröiwent gen dem tage. ich hôrte lûte singen den wahter ûf dem palas, als er uns hât bescheiden: mit sange hôrte ich sîne klage. wie hastû, sælic wîp, mich daz verdaget, daz du niht spræche ‚ritter, wache, ich wæne ez taget!‘ nu muoz ich von dir scheiden: grôz angest mich von liebe jaget.“

Eine raffinierte Interpretationsmöglichkeit dieses Umstands verfährt ähnlich wie die einschlägige Interpretation Bleumers zum Lindenlied Walthers.121 Sie lässt sich zwar freilich nicht auf alle ähnlich gearteten Lieder übertragen, muss einem solch globalen Deutungsanspruch – angesichts der vorgebrachten Bestimmungen zum Verhältnis von System und Äußerung einerseits sowie der fortwährenden Geltung der Situationsverschmelzung andererseits – aber auch gar nicht gerecht werden. Wie im Lindenlied das Vögelchen, das alles sah und wohl getriuwe sein mag, als Chiffre für den

|| 120 Ähnlich funktionieren die Tagelieder Ich bin der der lieben libiu maere singet Kristans von Hamle (KLD 30 VI), Owê, sol aber mir iemer mê Heinrichs von Morungen (MF 143,22) und Wie sol ich den ritter Ottos von Botenlauben (KLD 41 XIII). 121 Vgl. Bleumer, Walthers Geschichten, S. 97f.

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Sänger angesehen werden kann,122 so ist dies auch im Lied Ottos denkbar. Denn in ihm bildet der Sang der Vögel das Kontinuum, das alle drei Strophen des Tagelieds liedintern ebenso zusammenbindet wie aufführungsintern der Vortrag durch den Sänger in der Performanzsituation (vgl. singet, vogel, singet, KLD 41 III,1; der kleinen vogellîne morgensanc, KLD 41 III,2; erwecket […] von manger vogel sange, KLD 41 III,3). Damit stellt der (Vogel-)Sang nicht nur den steten Rückbezugspunkt aller Äußerungen dar – die Thematisierung des Vogelsangs liegt auffälligerweise immer in den ersten Versen, meist sogar im ersten Vers der Strophe –, sondern auch insofern eine höhere Instanz, als dass der Wächter sich nach seinem eigenen Versagen als letzte Möglichkeit an die Vögel wendet, um das Schlimmste doch noch zu verhindern. Und tatsächlich sind sie es, die die Schlafenden schließlich zu wecken vermögen (KLD 41 III,1f.). Der Vortragende der Aufführung könnte an dieser Stelle also nicht nur als Rollenspieler der Wächter- und Ritterfigur positioniert werden, sondern aufgrund seiner Klanggewalt mindestens ebenso berechtigt bei den gefiederten Sängern der Diegese, denen sich Wächter- wie Ritterrolle unterordnen (müssen) – ein auf den zweiten Blick sehr selbstbewusstes Statement Ottos. Ein performanztheoretisch vergleichbares Beispiel aus dem Umfeld der Kreuzlieder stammt ebenfalls von Otto von Botenlauben. In dessen Waere Kristes lôn niht alsô süeze (KLD 41 XII) stehen sich – inhaltlich unproblematisch – wiederum die voneinander distanzierten Äußerungen zweier Figuren unvermittelt gegenüber: in diesem Falle die des Kreuzritters und seiner Geliebten. Hinweise auf die evozierte histoire-Distanz liegen im grüezen der Dame im herzen (KLD 41 III,1) und der Vergangenheitsform, die sie verwendet, um die Äußerungen ihres Partners zu markieren (KLD 41 III,2). Um den weiteren Überlegungen nicht vorzugreifen, wird ein Fazit zu diesem Lied Ottos ebenso wie zu den noch folgenden Liedgruppen zunächst bis zum Ende dieses Abschnitts noch offengelassen. Die zweite Liedergruppe enthält ebenfalls Figurenrede, die aber nicht unvermittelt geäußert, sondern durch solche Kommentare und Einschübe verbunden bzw. eingeleitet wird, die als Äußerungen einer erzählenden Instanz aufgefasst werden können. Beispiele hierfür bieten etwa die vier Tagelieder Wolframs, weiterhin Ez taget unmâzen schône Wenzels von Böhmen (KLD 65 III) oder Dietmars von Eist Slâfest du, vriedel ziere (MF 39,18). Aufseiten der Kreuzlieder finden sich hier das bereits betrachtete Lied Guote liute (MF 94,15) Albrechts von Johansdorf und Mich mac der tôt (MF 87,5) des gleichen Autors, die Typenkreuzung Ez gienc ein juncfrou minneclîch des Burggrafen von Lienz (KLD 36 I) sowie das untersuchte Lied c35 des Neidhartkontexts. Im Tagelied Wenzels wird die erste Strophe beispielsweise durch Morgengruß

|| 122 Vgl. zum Motivkomplex Sänger und Vogel weiterhin Ingrid Bennewitz: Von Nachtigallen, Krähen, Hühnern und Sängern. Überlegungen zu Aufführung und Sängerrollen im Minnesang, speziell bei Neidhart. In: Edition und Interpretation, hrsg. von Spicker [u. a.], S. 73–85.

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und Warnung einer Wächterfigur beansprucht, unterbrochen jedoch durch den Einschub sus sanc der wahter (KLD 65 III,1), der auf eine erzählende Instanz bezogen werden kann. Diese nimmt sodann in den folgenden beiden Strophen breiteren Raum ein: Daz hôrte in tougener schouwe ein êren rîche frouwe und ouch ir minnen dieb, der durch ein ouwe was ritterlîchen dar bekomen. si sprach „friunt mîner wunnen, der wahter wil niht gunnen uns liebes, wan er wolte sîn bespunnen mit miete, daz hân ich vernomen: ez ist dem tage unnâhen.“ diu frouwe stuont ûf und begunde gâhen hin zuo dem wahter eine. si sprach „nim wahter, silber golt und edel rîch gesteine, lâ mich den zarten lieben umbevahen.“ Er sprach ‚ich bin gemietet: gêt wider unde nietet iuch fröiden, wan ich wolt daz ir berietet mich: daz habt ir ûf ende brâht. ich warne iuch, swenne ez zîtet, daz er mit fröiden rîtet. swenn ich iu sage, sô hüet daz ir iht bîtet, ir lât in dar er habe gedâht.‘ si wart sâ umbevangen, er kuste ir rôten munt, ir klâren wangen. daz was der minne lêhen. lîp unde lust die liezen sich dô wênic ieman flêhen. dâ daz ergienc, dâ ist ouch mê ergangen.

Nachdem in der Aufführung somit die ersten zehn Verse des Liedes den Effekt eines Ineinanderfallens von liedinternem Ich in Wächtergestalt und der Instanz des Vortragenden verfolgten, wandelt sich dieser Eindruck mit der Inquitformel in KLD 65 III,1, spätestens jedoch durch Strophe zwei. Denn dort wird eine Diegese entworfen, in deren Aufführung der Sänger die Figuren maximal kurzfristig rollenhaft darbieten kann, während er ansonsten in vermittelnder Funktion durch die entworfene Welt führt. Da es bereits so ausführlich betrachtet wurde und daher bekannt ist, sei für die Kreuzlieder an dieser Stelle nochmals auf Guote liute (MF 94,15) verwiesen, in dem ebenfalls der Anfang des Liedes mit der Position des Sängers vereint werden kann, der sich zu einem didaktischen Appell aufschwingt. Währenddessen kommen in Strophe zwei jedoch bereits erste Zweifel auf an der Annahme einer durchgängigen Äußerungsposition und in Strophe drei schließlich erfolgt mit der Inquitformel sprach ein wîp (MF 94,35) ein definitiver Bruch.

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Trotz der sich zunächst ähnlich darstellenden Position des Sängers, die mit der gemeinsamen Einordnung der beiden Lieder Ez taget unmâzen schône (KLD 65 III) und Guote liute (MF 94,15) in Gruppe zwei der Aufführungslogik verdeutlicht werden sollte, handelt es sich doch um zwei recht unterschiedliche Varianten dieser Kategorie. Das zeigt sich auf der Textoberfläche unter anderem durch das starke Übergewicht der vorgebrachten Rede im Vergleich zur dargebotenen Handlung im Kreuzlied, dem die Darlegung intradiegetischer Vorgänge vollständig fehlt, wie sie oben für das Tagelied ausführlich zitiert wurden. Die Folge dessen ist, dass die diegetische Welt des Kreuzlieds im Wesentlichen redebasiert und durch die Figurenperspektive bestimmt bleibt, während der Sänger in der Aufführung keine erzählerartig beschreibende Rolle annehmen kann wie noch im Tagelied. Diese Tendenz zur Redebasierung verstärkt sich noch in Gruppe drei, für die es schwerfällt, ein Tagelied außer Wolframs Der helden minne (MF 5,34) zu finden, die aber an Kreuzliedern umso reicher ist. Sie zeichnet sich in der Logik von Rede und Rolle durch die unkomplizierte Möglichkeit aus, die Äußerung des Liedes dem vortragenden Sänger selbst dann zuzuschreiben, wenn auf die verschmelzenden Mechanismen des Ästhetischen verzichtet werden würde. Aus dieser Anforderung folgt, dass das Lied keine Rollenrede in Form von Frauenstrophen oder Ähnlichem enthält, keine Inquitformeln und keine Handlungsbeschreibungen aus Sicht eines Dritten. Denn im Lied anwesend ist in Äußerung und Handlung nur ein Ich, dessen Hauptanliegen Reflexion und Kommentar sind. Wolframs liedinternes Ich wird in Der helden minne (MF 5,34) folglich bei der vermeintlich freien Äußerung seiner Gedanken zum Thema Tagelied inszeniert: Die legitime, eheliche Liebe enthebt das Tagelied seines Grundproblems, der notwendigen Heimlichkeit, und ist daher als Alternative vorzuziehen. Der helden minne ir klage du sunge ie gên dem tage, Daz sûre nâch dem süezen. swer minne und wîplîch grüezen alsô empfienc, daz si sich muosen scheiden, – swaz dû dô riete in beiden, dô ûf gienc Der morgensterne, wahtaere, swîc, dâ von niht […] sinc. Swer pfliget oder ie gepflac, daz er bî lieben wîben lac, Den merkaeren unverborgen, der darf niht durch den morgen dannen streben. er mac des tages erbeiten. man darf in niht ûz leiten ûf sîn leben.

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Ein offeniu süeze wirtes wîp kan sölhe minne geben.

Wie ist dieses Statement zu bewerten? Einerseits ließe sich einwenden, dass das Liedsubjekt eigentlich nicht verstanden hat, dass das Tagelied gar nicht an einer realistischen Lösung der prekären Tageliedsituation (vgl. oben den Grundplot) interessiert ist. Stattdessen geht es ihm um die künstlerisch ansprechende und immer neue Elaborierung des übermächtigen Abschiedsschmerzes, des Ausnahmecharakters der nächtlichen Begegnung und der gesellschaftlichen Normübertretung. Wolframs Ich hat sachlich zwar Recht – natürlich ließe sich das zwischenmenschliche Leid vermeiden, wenn durch Legitimierung der Beziehung der Zwang zur Heimlichkeit entfiele – aber es übersieht auch vollkommen den poetischen Wert der Tageliedsituation, aus dem sich die Berechtigung des Tagelieds als Gattungstyp ableiten lässt. Nachdem das Ich in Der helden minne (MF 5,34) das Tagelied mit logischen Überlegungen quasi abgeschafft hat, ist man versucht, angesichts dieser Lösung sein Problem zurückzuverlangen. Denn in der Tat: Der Tageliedkonflikt ist gelöst – aber was nun? Mit der Logik des Wolfram-Ichs lässt sich sogar fortführend im Grunde der gesamte Minnesang abschaffen, denn die propagierte Ehe ist alltagsweltlich selbstverständlich auch einem Konstrukt überlegen, das aufgrund paradoxer Strukturen Erfüllung unmöglich macht. Alltagsweltlich ist hier das Schlüsselwort, auf das es ankommt. Denn eben weil die Alltagswelt nicht Betätigungsraum des Minnesangs ist, kann dieser in einer solchen Bewertung nicht annähernd eingefangen, sondern maximal oberflächlich berührt werden – und dies scheint auch der künstlerische Hintergrund des Liedes zu sein. Die Inszenierung des tumben mannes ist schließlich kein abseitiger Topos. Und gerade vonseiten Wolframs, des Meisters der Tagelieder, ist wohl kaum eine Äußerung zu erwarten, die mit Genreunkenntnis auftrumpft. Denkbar wäre allerdings das Bestreben, die Gattung nicht nur implizit durch virtuose Variation zum Höhepunkt zu führen, wie in Wolframs anderen Tageliedern geschehen, sondern auch explizit abzuschließen, nachdem diese Höhen erklommen wurden. Zum anderen mag die Gattungszugehörigkeit von Der helden minne (MF 5,34) insgesamt angezweifelt werden, da es den skizzierten Grundtyp der textinternen Situation und Handlung nicht erfüllt: kein Morgen, kein Paar, kein Abschied. Ein vergleichbares Problem trat schon bei Neidharts Tagelied c114 auf und wie dieses soll auch Der helden minne (MF 5,34) dennoch nicht aus dem Kreis der mittelhochdeutschen Tagelieder ausgeschlossen werden. Schließlich ist in einem Gattungssystem der Prototypen und Familienähnlichkeiten, für dessen Vorteilhaftigkeit argumentiert wurde, Der helden minne zweifellos in Relation zum Tagelied zu setzen, wenn es in seiner Äußerung auch eine andere Situation und einen untypischen Gestus wählt. Zwar wurde die Sonderstellung dieses Liedes auch in Bezug auf andere Systeme

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vielfach betont,123 doch scheinen seine Anziehungskräfte auf den Gattungsinhalt die der Abstoßung zu übersteigen: Es wird doch trotz aller Diskussion an betreffender Stelle immer Wolframs anderen Tageliedern beigesellt. Weit reicheres Belegmaterial findet sich indes unter den Kreuzliedern: bei Friedrich von Hausen vier Beispiele, bei Hartmann von Aue drei, bei Reinmar zwei, bei Walther vier (ganz zu schweigen von den verschiedenen Sprüchen mit Kreuzzugsthematik), bei Heinrich von Rugge eines und bei Albrecht von Johansdorf zwei.124 Aus dieser Menge an Liedern könnte auf den ersten Blick geschlussfolgert werden, dass das Kreuzlied aufgrund der augenscheinlich geringen Spannungen, die zwischen dem Sänger und dem liedintern dargestellten Ich in der Aufführung auftreten, ein Typ sein muss, der selbst innerhalb nicht-verschmelzender Lektüren insbesondere von geringen Distanzeffekten geprägt ist. Denn wenn die Liedäußerung konfliktfrei auf die Position des sie Vorbringenden bezogen werden kann, dann ist doch auch davon auszugehen, dass das Publikum kaum an direkten Bezügen, Identifizierungen und Immersion gehindert wird und also Aufführungsnähe erlebt. Doch das trifft nur teilweise zu, denn innerhalb dieser Gruppe gibt es zwei unterschiedliche Konstruktionsverfahren des Liedsubjekts, die wiederum durch differierende Einstellungen zur Nähe und Distanz gekennzeichnet sind. Einerseits kann das dargestellte Ich als Beispiel vorgeführt werden, das eine subjektive Sicht auf das Kreuzzugsthema präsentiert und so durch unmittelbaren Innerlichkeitsbezug Nähe zum Publikum aufbaut. Es entwirft sich als unmittelbar Betroffenen, der sich selbst als Beispielfläche preisgibt, wodurch eine Gemeinschaft mit den Aufführungsteilnehmern gestiftet wird. Andererseits aber kann sich die Sprechinstanz des Liedes auch eines lehrhaften Duktus bedienen, der eine Distanz zwischen Ich und Publikum aufrechterhält, indem er nur geringe Bezüge auf das Beispiel-Ich aufbaut und dieses folglich weit weniger zur Projektionsfläche einer potentiellen Fraternisierung macht als

|| 123 Vgl. Martina Backes: Kommentar. In: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch / neuhochdeutsch. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von dies. Einleitung von Alois Wolf. Stuttgart 2007 (RUB. 8831), S. 239–299, hier S. 249 sowie Bumke, Wolfram von Eschenbach, S. 35. 124 Im Einzelnen lautet die vorgeschlagene Ordnung folgendermaßen: Friedrich von Hausen mit Figurenrede: keine; Friedrich von Hausen ohne Figurenrede: Si waenent (MF 53,31), Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9), Mîn herze den gelouben hât (MF 48,3), Si darf mich (MF 45,37); Albrecht von Johansdorf mit Figurenrede: Die hinnen varn (MF 89,21), Mich mac der tôt (MF 87,5), Guote liute (MF 94,15); Albrecht von Johansdorf ohne Figurenrede: Mîn êrste liebe (MF 86,1), Ich unde ein wîp (MF 87,29); Heinrich von Rugge mit Figurenrede: Kreuzleich (MF 96,1); Heinrich von Rugge ohne Figurenrede: Ich was vil ungewon (MF 102,1); Hartmann von Aue mit Figurenrede: keine; Hartmann von Aue ohne Figurenrede: Swelch vrowe (MF 211,20), Dem kriuze (MF 209,25), Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5); Reinmar mit Figurenrede: keine; Reinmar ohne Figurenrede: Des tages (MF 181,13), Durch daz ich fröide (MF 180,28), Walther mit Figurenrede: keine; Walther ohne Figurenrede: Ouwê waz êren (L 13,5f.), Ouwê war sint verswunden (L 124,1f.), Vil süeze waere minne (L 76,22f.), Alrêrst lebe ich mir werde (L 14,38f.).

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der zuvor genannte Typ. Ein lehrhafter discours ist in seiner Abstraktion einfach weit unnahbarer als einer, in dem ein Ich konkretisierend von sich erzählt. Beispiele für diese lehrhafte Variante bieten Hartmanns Swelch vrowe (MF 211,20) oder Friedrichs von Hausen Si waenent (MF 53,31), bei denen es sich um einstrophige Lieder handelt, die den Selbstbezug des Ichs zugunsten seiner Kommentarfunktion sehr zurücknehmen. MF 53,31 gibt einen Standpunkt zu den Rittern wieder, die sich zunächst für eine Kreuzfahrt entschieden haben, dieses Versprechen aber später brechen und dafür die Pforte der Rechtschaffenden versperrt finden. Ein Ich tritt hier nur insofern in Erscheinung, als dass versichert wird: dêswâr êst der geloube mîn (MF 53,31), aber die Äußerungsinstanz formt keine diegetische Welt, erhält keine Geschichte und bleibt daher äußerst vage. Hartmanns Lied MF 211,20 geht darüber noch insofern hinaus, als dass es vollkommen ohne ein wortwörtliches Ich die Situation der Dame reflektiert. Deren Geliebter ist auf die Kreuzfahrt gegangen und sie erwirbt nun halben lôn (MF 211,20) damit, dass sie sich daheim ehrenhaft verhält und für beide betet, während ihr Geliebter für sie beide streitet. Hier stellt die Tatsache, dass die Äußerungsquelle des Liedes ebenjene lehrhafte Äußerung tätigt, den einzigen Umstand dar, der diese Quelle für den Rezipienten bestimmt. Walthers Lied Ouwê waz êren (L 13,5) behandelt zwar ein ähnliches Thema wie MF 53,31, lässt demgegenüber aber ein Ich auftreten (L 13,12), wenn es sich bisweilen auch in ein Wir einschließt (L 13,12 u. L 13,19). Das Lied setzt mit einer Reflexion über die Ritter ein, die zwar die Möglichkeiten zur Kreuzfahrt haben, aber dennoch zuhause bleiben (L 13,5). Bis zu diesem Punkt verwendet es noch keine ausdrückliche Ich-Referenz. Erst danach tritt das Subjekt auf und zwar als einer ebenjener ehrlosen Ritter, wodurch Walther die Potentiale beider Äußerungsformen verbindet: die distanzierende Objektivität didaktischen Sprechens und die Nähe einer subjektgebundenen Form, deren Verkürzung hingegen weniger Allgemeingültigkeit beanspruchen kann als die Didaxe, weil sie sich auf Subjektivität konzentriert. Einen ähnlichen Mittelweg beschreiten Heinrichs von Rugge Ich was vil ungewon (MF 102,1), Albrechts von Johansdorf Ich unde ein wîp (MF 87,29), Hartmanns Ich var mit iuweren hulden (MF 218,5) und Reinmars Durch daz ich fröide (MF 180,29). Die Liste der Lieder, die das Kreuzzugsthema bedienen, indem sie exemplarische Fälle in Form einzelner Ich-Figuren konstruieren, ist umfangreich und beinhaltet mit Ausnahme des schmalen Œuvres Heinrichs von Rugge Beispiele aus denen aller Kreuzliedautoren. Eine besondere Vorliebe für diese Praxis scheint Friedrich von Hausen zu haben, der mit Mîn herze den gelouben hât (MF 48,3), Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9) und Si darf mich (MF 45,37) gleich drei Lieder dieses Typs bereitstellt. Weitere Beispiele bieten Albrechts von Johansdorf Mîn êrste liebe (MF 86,1), Hartmanns Dem kriuze (MF 209,25), Reinmars Des tages (MF 181,13), Ez ist ein reht Hiltbolts von Schwangau (KLD 24 XVII) und Walthers Ouwê war sint verswunden (L 124,1). In Mîn herze und mîn lîp (MF 47,9) inszeniert sich etwa eine Instanz als hin und her gerissen zwischen dem Verlangen ihres Körpers auf der einen und ihres Herzens auf

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der anderen Seite, die sie sowohl in die Schlacht gegen die Heiden als auch zu Geliebten ziehen (MF 47,9).125 Dem Rezipienten werden somit sowohl ein Ich als Beispiel für die Auswirkungen der Kreuzzugsthematik auf Schicksal und Bewusstsein des Einzelnen – natürlich eines durch den Autor inszenierten Einzelnen, aber gleichwohl – als auch die Antwort eines solchen Ichs auf die betreffenden Vorgänge veranschaulichend an die Hand gegeben. Indem das Lied auf didaktische Setzungen vollkommen verzichtet, überlässt es die zu ziehenden Schlüsse restlos dem Rezipienten. Diese größere Freiheit der Rezeptionshaltung kann einerseits der Ästhetik und den verschiedenen Arten des Narrationsansatzes mehr Raum gewähren – denn wie oben ausgeführt wurde, führen diese auf lyrischem Gebiet vermehrt in die Sphäre des Rezipienten –, muss dazu aber mit der Deutungshoheit auch Verantwortung an den Rezipienten abgeben. In den lehrhaften Sprüchen steht demgegenüber die unmittelbare Aufnahme einer eindeutig vorformulierten Weisheit im Vordergrund, die durch den Rezipienten daher zwar kaum noch falsch hergeleitet werden kann, ihn im Gegenzug aber auch nicht in vergleichbarem Umfang einbezieht. Ähnlich verhält es sich mit den direkten Appellen, die einen signifikanten Teil der okzitanischen Überlieferung ausmachen, wie Hölzle zeigte, denn während der direkte Appell zwar aus seiner Absicht keinen Hehl macht, ist davon auszugehen, dass ein subjektiviertes Schicksal wie Walthers Ich, das seine Chance verpasst hat und nun kunstvoll seine Reue besingt, den tieferen Eindruck hinterlässt. Und dies umso mehr, wenn in der Vortragssituation das höfische Publikum potentiell aus kreuzzugsfähigen Rittern besteht. Die lehrhafte Leistung des Kreuzlieds ist in der Folge paradoxerweise umso größer, je weiter es sich von der didaktisch-objektiven Sprechweise entfernt und je näher es sich subjektivierend heran begibt an den Rezipienten. Der Preis für diese Leistungssteigerung ist hingegen ein Anwachsen der Unsicherheit, mit der die beabsichtigte Kommunikation gelingen kann – ein Zusammenhang, der nicht neu ist. Jost hatte oben für die metaphorische Kompetenz des Verständlichmachens im Vergleich zur topischen Ähnliches festgestellt. Die Ursache ist an beiden Fronten – der Josts und der des Kreuzlieds – die gleiche: forcierte Unsicherheit wie Überzeugungskraft wurzeln in der aktiven Teilnahme des Rezipienten und diese bewirkt auch die Nähe zum liedinternen Geschehen. Natürlich ist es zugleich prekär, sich auf die Teilnahme des Rezipienten zu verlassen, denn diese ist weder sicher noch nachprüfbar, aber wenn sie erfolgt, dann ist ihr Ergebnis für den Rezipienten unwiderstehlich. Schließlich wird er – dessen Einsicht in beiden Fällen herbeigeführt werden soll – sich kaum dem Schluss entziehen können, zu dem er selbst gelangt ist. Die Metapher ebenso wie die beispielhaft-subjektive Kreuzliedkonstruktion überlassen ihn nun der Illusion, die gezogene

|| 125 Die schwierige Stelle des sumer von Triere (IV,6) ist für die obige Fragestellung nicht essentiell. Ausführlich damit beschäftigt hat sich beispielsweise Mertens, Der ‚Heisse Sommer‘ 1187 von Trier.

Semantische Potentiale der Spaltungen im Tage- und Kreuzlied | 287

Schlussfolgerung wäre nicht von Beginn an intendiert und durch den Autor des jeweiligen lyrischen Kunstwerks determiniert gewesen. Und der Rezipient erhält statt einer externen Belehrung die innerliche Genugtuung, selbst etwas herausgefunden zu haben, das ihm – vermeintlich – gar nicht präsentiert wurde. Die aufführungslogischen Schwierigkeiten, die mit einer solchen Akzentverschiebung einhergehen können, scheinen angesichts der Menge der subjektzentrierten Lieder durch das Ergebnis gerechtfertigt worden zu sein. Und tatsächlich sind die möglichen Schwierigkeiten so lange überschaubar, wie davon ausgegangen werden kann, dass eventuell auftretende Spaltungserscheinungen in den Effekten der Situationsverschmelzung und dem Wirken der unterschiedlichen Systemebenen des Einfachen Systems wieder aufgefangen werden. Als übergreifende Tendenz der Aufführungshinweise in Kreuz- und Tagelied hat sich gezeigt, dass das Tagelied insbesondere figurenzentriert artikuliert und somit eine nur geringe Neigung zeigt, die Instanzen der liedinternen Figuren und des aufführungsinternen Sängers zusammenfallen zu lassen. Das Kreuzlied bildete hingegen einmal mehr das Gegengewicht zu dieser Position, indem es besonderen Beispielreichtum solcher Lieder bot, die dem Sänger eine exemplarische Äußerungsinstanz einschreiben –obwohl nicht vergessen werden soll, dass es immer noch mehr figurenzentrierte Kreuzlieder gibt als subjektzentrierte Tagelieder. Eine mögliche Erklärung für diesen Befund liegt schon in der durch die ältere Forschung favorisierten Funktion der Kreuzlieder als Überzeugungs- und Aufruflieder. Denn dieser persuasiven Aufgabe kann das jeweilige Kreuzlied besonders dann zuverlässig nachkommen, wenn es die Distanz zum Rezipienten, die aus dem Auseinandertreten von Ich und Sänger resultiert, auf eine Art und Weise überschreitet, die nicht auf die Unwägbarkeiten ästhetisch anspruchsvoller Praktiken angewiesen ist. Damit ist nicht gesagt, dass klanginduzierte Verschmelzungserscheinungen in diesem Szenario nicht auch greifen, aber die Subjektzentrierung der betreffenden Kreuzlieder erzeugt eine Sicherheit doppelter Performanzannäherung, die dem Genre nur nützen kann. Indem das Kreuzlied statt offener Didaxe beispielhaft die subjektive Positionierung eines textinternen Ichs vorführt, animiert es den Rezipienten in der Aufführung nachhaltiger, selbst eine Position einzunehmen. Damit dient es nicht nur der Anforderung des Nutzens, indem es die gewünschte Erkenntnis herbeiführt, sondern auf dem Weg dorthin auch der des Erfreuens, das aus dem Herausarbeiten der eigenen Position in Abgrenzung zur vorgeführten resultiert. Dies implizierten die obigen Ausführungen zur Attraktivität eigenständig gezogener Schlüsse des Rezipienten im Prinzip schon, hier zeigt es sich vielleicht nochmals konkreter, warum jene Schlüsse so schlecht abzuwehren sind: Ihre Bildung delektiert. Problematisch kann ein Ineinanderfallen der Instanzen im Kreuzlied nun auch deswegen nicht sein, weil das Bekenntnis zu Kreuz und Gottesdienst keinem Verschwiegenheitsgebot unterliegt. Es gehört im Gegenteil zum Tugendbereich höfischen Verhaltens. Das Tagelied jedoch kann es sich zum einen aufgrund seines ohnehin risikoreichen Spiels mit der Überschreitung der höfischen Konventionen zur

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Reglementierung von Sexualität nicht erlauben, den Sänger durch ein Ineinanderfallen der aufführungslogischen Positionen zu kompromittieren. Und zum anderen leistet die Äußerung des Tagelieds in jenem Spiel bereits ein Maß an Innovation, das durch die zusätzliche Semantik, die im Ineinanderfallen der einzelnen Instanzen emergiert, das Einfache System in seiner Fragilität durchaus gefährden kann. Das Sprechen über zwischenmenschliche Intimität erfordert, wie Franz-Josef Holznagel betont,126 Mechanismen der Distanzierung zur Legitimitätswahrung. Aufführungspraktische Effekte der Distanzierung, wie sie durch die Trennung der dargestellten Figurenrede von der Instanz des Sängers verwirklicht werden, eignen sich zu diesem Zweck ebenso wie die Zwischenschaltung einer als Erzähler fungierenden Stimme. Diese kann dann wieder als die des Sängers erscheinen, ohne dessen im decorum fundierte Integrität zu verletzen. Nach dem gleichen Prinzip dürfte eine durch den männlichen Sänger zu Gehör gebrachte Äußerung wie die des Mädchens im Lindenlied Walthers unproblematisch sein, weil in der Irritation Distanz erzeugt wird, obwohl jene Äußerung die Intimität in besonderem Maße in die Aufführung holt, wie in seht, wie rôt mir ist der munt (L 39,20). Hier kann die Situationsspaltung, die bisher meist als Bedrohung für eine gelungene Aufführung wahrgenommen wurde, tatsächlich als deren Wahrerin fungieren. In der Folge lassen sich die Leerdeiktika des Liedtexts als nächste Stufe deuten, auf der sich die behauptete Identität von Sänger und Ich bewähren muss, die durch die Artikulation des ich-basierten Liedes mit der Stimme des Sängers evoziert wird. Diese vokalisierende Übernahme – oder Leihgabe – ist als erste Stufe der Identifizierung eine akustisch operierende. Enthält das Lied jedoch auch Elemente, die lokal, temporal oder figural das Potential zur Situationsspaltung in sich tragen, dann wird die akustische Identifizierung auf einer zweiten, visuell basierten Stufe neu verhandelt: Der bloße Text gibt so einer Unbestimmtheit Raum, die erst der Sänger in der Aufführung jeweils unterschiedlich festschreiben kann, womit sich der Kreis zu Kuhn schließt. Für das Einfache System bedeutet das religiös ausgerichtete Zusatzmaterial des Kreuzlieds zum einen neue Wendungen und Bezüge des übergeordneten Themas der Minne und zum anderen die spürbarere Tendenz zur Moralisierung innerhalb dieses Typs. Schließlich bietet das Seelenheil als summum bonum doch ebenso einen Zielpunkt allseitigen Strebens, der von keiner Verschwiegenheitspflicht umstrickt ist, wie die Beweggründe zur Kreuznahme ein weiteres Feld für moralische Wertungen bereitstellen. Mit der Schuldigkeit gegenüber Gott oder der Pflicht, Maria gegen die Verunglimpfungen der Heiden zu verteidigen, etwa in den Versen ez [das Kreuz, D.R.] wil niht daz man sî / der werke drunder frî (MF 209,25); die heiden wellent einer rede an uns gesigen, / daz gotes muoter niht ensî ein maget (MF 89,32), seien nur zwei

|| 126 Vgl. Franz-Josef Holznagel: Die Ortslosigkeit des Sprechens im Lindenlied. Erscheint im Sammelband zur Tagung Raum und Zeit im Minnesang vom 24.–26. Februar 2016.

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Ansatzpunkte genannt. Demgegenüber zeichnet sich das Tagelied gerade durch die notwendige Distanzierung der dargestellten Welt von der Vortragssituation aus, überschreitet die Diegese doch ebenjene Grenze hin zur Erfüllung – dem aus moralischen Gründen Unaussprechlichen –, die im Vortrag zu wahren notwendig ist. Obwohl angesichts der Gattungsbezeichnung des genre objectif für die Performanzebene der Kreuz- und Tagelieder zu erwarten war, dass in den untersuchten Subtypen performative Spaltungsprozesse überwiegen, konnte dies nur teilweise bestätigt werden. Vielmehr zeigte sich nach einem näheren Blick auf die spaltenden Rollenangebote, dass zwischen verschiedenen Teilprozessen der Abgrenzung und des Ineinanderfallens der Instanzen Sänger und Ich unterschieden werden kann. Hieraus ergaben sich drei Gruppen: erstens die der mehrfach unvermittelten Figurenrede (Wechsel), zweitens die der vermittelten Figurenrede und drittens die der Äußerung aus nur einer Position. Diese Gruppen zeugen von variierender performanztheoretischer Komplexität. Denn wenn auch dem Einwand beizupflichten ist, dass jede performanztheoretische Überlegung früher oder später zum Kern des Problems zurückkehren muss – nämlich ob der Sänger das Liedsubjekt aufführend nun verkörpert oder ‚nur‘ darstellt –, bleibt die Beobachtung doch bestehen: Die Deiktika Warnings bezeichnen im Vergleich zu den Herausforderungen, die die Subgattung des Wechsels an Sänger und Publikum heranträgt, doch nur sehr begrenzte Kristallisationspunkte des Problems. Dabei wird der Raum für spaltende Effekte immer kleiner, je mehr das Lied einen dezidierten Platz für den Sänger bereitstellt, wie die Gegenüberstellung der drei Liedgruppen zeigte. Neben diesen Untersuchungsergebnissen zur Hineinnahme von Nähe und Distanz in die Aufführung, die sich auf Redeanteile des einzelnen Liedes konzentrierten, konnte außerdem auf ein System der gattungsspezifischen Bezugnahmen hingewiesen werden. Dessen Zentrierung auf die Figur im Tagelied und das Ich im Kreuzlied verdeutlichte eine übergeordnete Tendenz der Subgattungen, in der Aufführung zu unterschiedlichen Zwecken Nähe oder Distanz zu erzeugen. Zum Schluss des Abschnitts soll noch einmal auf die zuvor offengelassene Frage der Verortung des Sängers in Ottos Kreuzlied Waere Kristes lôn niht alsô süeze (KLD 41 XII) zurückgekommen werden, das singulär den Typus eines wechselartigen Kreuzlieds vertrat. Hugo Kuhn verweist im Kommentar zu diesem Lied auf den Vorschlag Karl Bartschs, es aus Gründen der tonalen Übereinstimmung mit dem dreistrophigen Ich hân erwelt mir selbe süezen kumber (KLD 41 V) zusammenzuschließen, gegen den er – Kuhn – sich jedoch mit Hinweis auf die thematische Ungleichheit der Lieder ausspricht.127 Eine solche Ungleichheit scheint bei näherer Betrachtung jedoch

|| 127 Vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Bd. 2: Kommentar. 2. Auflage. Hrsg. von Carl von Kraus. Kommentar besorgt von Hugo Kuhn. Durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978, S. 376–378, hier S. 376f. Kuhn folgt hier Angermann, vgl. Adolar Angermann: Der Wechsel in der mittelhochdeutschen Lyrik. Diss. masch. Marburg 1910, S. 135.

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oberflächlich zu sein. Zwar ist eine gewisse Differenz der Lieder in ihrer Grundstimmung nicht von der Hand zu weisen, doch diese lässt sich bezogen auf den gleichen gedanklichen Kern verstehen, da Ich hân erwelt von der Klage des Ichs angesichts des Abschieds von der Geliebten geprägt ist, während Waere Kristes lôn korrespondierend dazu die Zuneigung der Liebenden elaboriert. Grund für beides ist jedoch die erfüllte gegenseitige Minnebindung, als deren unterschiedliche Äußerungsformen die ungleichen Strophen sodann betrachtet werden können. Damit bleibt als Begründung für Kuhns zweifelnde Ablehnung lediglich die äußere Begründung bestehen, dass Otto von Botenlauben eine deutliche Vorliebe für zwei- und dreistrophige Lieder hege und folglich eine Lektüre der betreffenden Passagen in Form zweier einzelner Lieder statt eines einzigen vorzuziehen ist, das mit seiner unüblich hohen Strophenanzahl jener Autorpräferenz zuwiderläuft. Für die Positionierung des Sängers ist mit dem metrisch hingegen in der Tat naheliegenden Zusammenschluss beider Abschnitte zu einem Lied aber Einiges gewonnen. Denn in der Folge ergibt sich ein Lied, in dem vier von fünf Strophen kreuzliedkonform durch ein kohärentes Ich getragen werden, das mit dem Sänger potentiell in eins fallen kann. Die verbleibende Strophe, die sich einer solchen Überblendung widersetzt, verliert deutlich an Gewicht in dieser Lesart, die vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zur Vortragssituation auch überzeugender ist als der Vorschlag, den Kuhn alternativ anbietet. Demnach wurden die beiden Strophen des Liedes Waere Kristes lôn als Briefwechsel entworfen, den der Sänger in der Minnesangaufführung als Korrespondenz Abwesender vorträgt. Obwohl natürlich keineswegs sichergestellt werden kann, dass sich das schriftspielerische Auftreten eines derartigen Liedes nicht tatsächlich an eine abnehmende Relevanz der akustisch-ästhetischen Sängerinstitution geknüpft hat, erscheint diese Umdeutung doch der größere Eingriff zu sein, verglichen mit einer im Œuvre des Autors einmalig abweichenden Strophenzahl. Ob man sich nun für die fünfstrophige Version entscheidet – und das Lied damit faktisch aus der Gruppe der Wechsel hinaus- und in die Gruppe der Identitätssuggestionen hineinverschiebt, womit die Gruppe der Wechsel ohne ein Kreuzzugsbeispiel bleibt – oder aber auf der zweistrophigen Wechselvariante besteht, die dann einen singulären Typus darstellt: Die beiden Subgattungen Kreuz- und Tagelied haben offenbar Schwierigkeiten, in eine Positionierung des Vortragenden vorzudringen, die ihrer bevorzugten Redelogik allzu nachhaltig entgegensteht. Das Tagelied scheut jenseits ästhetischer Verschmelzungsprozesse die annähernde Identifizierung des Sängers mit dem Liedsubjekt, so Der helden minne (MF 5,34), sowie das Kreuzlied die distanzierende Differenzierung zwischen Sänger und Subjekt: Waere Kristes lôn (KLD 41 XII). Damit konnte im Anschluss an den Integrationsversuch spaltender und verschmelzender Bewegungen in der Minnesangaufführung als Einfachem System nun nochmals an verschiedenen Beispielen zum einen nachverfolgt werden, dass die Situationsspaltung als positiver Gegenspieler der ästhetischen Verschmelzung sich

Auswirkungen auf die Neidhartlieder | 291

nicht in den durch sie hervorgerufenen Problemen erschöpft. Stattdessen erwies sie sich ebenfalls – zum Teil aufgrund dessen – als Generator zusätzlicher Semantiken, die in Bezug auf die Subgattungen Kreuz- und Tagelied einen Erkenntnisgewinn ermöglichten, der ohne einen Einbezug der Aufführungssituation nicht möglich war. Analog sollen im nun sich anschließenden Abschnitt nochmals die Liedbeispiele des Neidhartkomplexes betrachtet werden, deren performanzorientierte Untersuchung sich bisher nur auf Andeutungen beschränkte.

3.4 Auswirkungen auf die Neidhartlieder Grundsätzliche Positionen der Diskussion um die Zusammenhänge von Autor, Sänger und Ich bei Neidhart wurden oben bereits artikuliert; wichtige Kernpunkte seien nochmals zusammengefasst: Im Gegensatz zu manch anderen, doch ebenso wie bei vielen mittelalterlichen Autoren existieren über einen Dichter namens Neidhart keine urkundlich gesicherten Angaben. Daher sprach sich die vorliegende Studie dafür aus, den historischen Autor – abgesehen von seiner unzweifelhaften Position als erste Quelle des Liedes – aus der Diskussion herauszulassen. Nicht nur im besonderen Fall Neidharts, für dessen Komplex aufgrund der Diversität, zeitlichen Ausdehnung und des schieren Umfangs seiner Lieder ohnehin kein einstelliges Autorenkonzept anzunehmen ist, scheint der historische Autor in Aufführungsfragen vernachlässigbar, sollte er nicht gerade zusätzlich die Position des Sängers ausgefüllt haben, wie von Elisabeth Lienert angenommen.128 Und selbst dann wird im Moment der Aufführung

|| 128 Vgl. Elisabeth Lienert: Hœrâ Walther, wie ez mir stât. Autorschaft und Sängerrolle im Minnesang bis Neidhart. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter, hrsg. von Andersen, S. 114–128, hier S. 115f. Lienert zeigt sich hier folglich als eine der wenigen Forschungspositionen nach dem Überblick Simons, die am realen Autor ein stärkeres Interesse haben als an den Fiktionalitätskonzepten des Neidhartkomplexes. Dessen Instanz schien seit den Bemühungen gegen biografistische Spekulationen durch Giloy-Hirtz, Schneider, Goheen etc. aus dem Diskurs verschwunden zu sein und findet abgesehen von Lienert als Aufführungskategorie nur selten Anwendung. Weit häufiger stehen die Binnenfiktionen der Lieder im Brennpunkt des Interesses. So erforschen etwa Christa Ortmann, Hedda Ragotzky und Christelrose Rischer das interaktive Spiel fortwährender Identifikation und Nicht-Identifikation zwischen Autor, Vortragendem und Lyrischem Ich in der Aufführung für die Neidharttexte genauer. Vgl. Christa Ortmann, Hedda Ragotzky, Christelrose Rischer: Literarisches Handeln als Medium kultureller Selbstdeutung am Beispiel von Neidharts Liedern. In: IASL 1 (1976), S. 1–29, hier S. 4 u. 10. Auch Jan-Dirk Müller lehnt anders als Lienert die direkte Referentialisierbarkeit der literarischen Inhalte auf eine Lebenswirklichkeit für den Neidhartkontext insbesondere ab, vgl. Jan-Dirk Müller: Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200, hrsg. von Kaiser, ders., S. 409–453, hier S. 415 u. 449, und vertieft diese Grundperspektive in seinen weiteren Neidhartforschungen mit Blick auf die mimetische Geste und Stimme des Sängers sowie den chaotischen Tempusgebrauch der Neidhartlieder. Vgl. ders., Männliche Stimme – weibliche Stimme, hier S. 240. Ders.: Präsens und Präsenz. Einige Beobachtungen zum Tempusgebrauch bei Neidhart. In: Zeit und

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seine Funktion als Sänger der des Autors vorgeschaltet gewesen sein, zieht man die Unweigerlichkeit und Vehemenz mit ins Kalkül, die Bleumer zufolge den ästhetischen Vorgängen in der Aufführung eigen ist. Mit dieser Abgrenzung ließen sich Fragen nach dem tatsächlichen Namen, Stand und Besitz des Autors gleichfalls aus dem Brennpunkt der Betrachtung entfernen. Zudem wurde davon ausgegangen, dass es sich bei Neidhart nicht um einen einzelnen, historischen Autor handelt, sondern um ein Autorenkonstrukt, an dem verschiedene Individuen zu unterschiedlichen Zeiten mitarbeiteten und dem weiterhin die Rollen oder Masken129 seines Liedsubjekts sukzessive eingeschrieben wurden (biografische Legendenbildung). Die als ‚Neidharte‘ überlieferten Lieder führen die Tradition des Minnesangs demnach auf eine eigene, teils vehement umdeutende Art und Weise weiter, wobei (sexuelle) Konkretisierung und Explikation einen ersten sowie die Ausweitung der bearbeiteten Räume und Figurengruppen einen zweiten Schwerpunkt bilden, wie oben dargestellt wurde. Diese für eine Aufführungssituation problematischen Entwicklungen fanden oben ein positives Gegengewicht in der Relevanz des Sangs für die Lieder des Neidhartkontexts, in denen das Lyrische Subjekt sich gern als Vorsänger oder Tanzmeister geriert. Im Folgenden sollen nun die Beobachtungen zu den Sangesaussagen, die anhand der im Teil 2 betrachteten Lieder festgestellt werden konnten, mit den Auffassungen zusammengeführt werden, die sich innerhalb des Teils III von den drei Aufführungsparametern der Situationsspaltung, Situationsverschmelzung und des Einfachen Systems entwickelten. Da in den vier Liedern R12, R19, c35 und c114 die signifikanten Neidharttopoi beinahe vollzählig vorkamen, scheint ein ausschließlicher Bezug auf sie vertretbar, obwohl auch dann wieder gelten muss, was oben bereits einschränkend angemerkt wurde: Grundsatzaussagen fallen nicht nur schon angesichts der Ausdrucksvielfalt innerhalb der Neidhartlieder schwer, sondern haben

|| Text. Philosophische, kulturanthropologische, literarhistorische und linguistische Beiträge. Hrsg. von Andreas Kablitz [u. a.]. München 2003, S. 192–207, hier S. 194, 199 u. 205. Ähnlich interessiert an Fiktionen ist auch Dorothea Klein: Der Sänger in der Fremde. Interpretation, literarhistorischer Stellenwert und Textfassungen von Neidharts Sommerlied 11. In: ZfdA 129 (2000), S. 1–30, hier S. 7, 14 u. 21. Herfried Vögel indes schiebt den Riuwentaler zwar als Sänger-Erzähler der liedinternen Sängerrolle unter, legt ihn zugleich aber als dem Publikum in der Aufführung „leibhaftig vor Augen“ stehend an. Vgl. Herfried Vögel: Erfahrung der Fremde am Hof. Eine Skizze zu Neidharts Liedern unter dem Aspekt ihrer Aufführung. In: Fremdes wahrnehmen, fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms [u. a.]. Stuttgart 1997, S. 167–176, hier S. 173f., Zitat S. 171. Innerhalb der mit Luhmann rezipierten Neidhartaufführung stellt diese Lesart des Riuwentalers nun einerseits eine Themenausformung dar, die die einzelnen Artikulationen des Intermittierenden Systems ‚Neidhart‘ in Beziehung zueinander setzt, sowie andererseits in der jeweiligen Aufführung als Einfachem System dessen Äußerungen prägt und so das System mitgestaltet. Damit ist die Beziehung der Neidhartinhalte zur Lebenswirklichkeit ungleich feiner zu fassen als bei Müller oben. 129 Vgl. Mück, Fiktiver Sänger Nîthart, S. 74 u. 77.

Auswirkungen auf die Neidhartlieder | 293

bereits wiederholt zu unrunden Neidhartinterpretationen geführt, wie die Forschungsgeschichte an betreffender Stelle zeigen konnte. Daher mögen die folgenden Beobachtungen neben ihrem Aussagewert zu den Typen Kreuz- und Tagelied im Neidhartkomplex eine gewisse Übertragbarkeit in Bezug auf andere Lieder des gleichen Überlieferungskontextes haben – dieser lässt sich aber nicht ohne Weiteres prognostizieren. Einen ersten Eindruck von den Spannungen, die die Aufführungssituation der Neidhartlieder prägen können, vermittelte beispielhaft bereits die obige Untersuchung von c35. Hier steht der vortragende Sänger vor der Herausforderung, mit dem Riuwentaler, der Mutter und der Tochter drei verschiedenen Figuren in fünf verschiedenen Situationen Leben einzuhauchen: dem Ich in der Ferne des Kreuzzugs (SNE II c35, I–IV), dem heimkehrenden Bauernfeind (SNE II c35, V–VII), dem Zeremonienmeister des Tanzes im Heimatbereich (SNE II c35, VIIIf.), Mutter und Tochter im Dialog (SNE II c35, X–XIII) und schließlich nochmals dem Riuwentaler-Ich in einem Resümee zu Tanz und Gespräch (SNE II c35, XIV). Die resultierenden Divergenzen der Vortragssituation von der im Lied evozierten und folglich spaltende Effekte artikulieren sich in c35 demnach dreifach – erstens in der behaupteten Verortung des Ichs im Heiligen Land zu Beginn, zweitens in der postulierten Natursituation der Heimatumgebung und drittens in der Figurenvielfalt des Dialogteils. Damit finden zugleich unterschiedliche Typen der Differenzwahrnehmung Anwendung, denn obwohl die ersten beiden Spaltungseffekte gegenüber dem letztgenannten als einem figürlich fundierten zunächst gleichermaßen räumlich orientiert wirken, erhält in der Frage der abweichenden Natursituation der Heimatumgebung doch auch die zeitliche Komponente Gewicht (Sommereingang). Wie schon beim Kreuz- und Tagelied mehrfach erwähnt, so ist auch hier selbstverständlich kaum über die tatsächliche Realisierung der einzelnen Aufführung zu entscheiden. Aber es kann zunächst doch festgehalten werden, dass die Neidharttexte offenbar dazu neigen, jene Punkte in vermehrtem Umfang in sich aufzunehmen, an denen die nicht ästhetisch verschmolzene Aufführungsidentität im Sinne einer Situationsspaltung prekär wird. Daneben ist die Bewegung der ritualhaft-ästhetischen Situationsverschmelzung nach dem Modell Bleumers wie immer unbenommen, denn gegen die Unweigerlichkeit der klanglichen Verschmelzungsästhetik kommt kein in Aufführungsform vorgetragenes Lied an – auch nicht die Aktualisierungen Neidharts, so innovativ sie auch sonst sein mögen. Das Einfache System greift ebenfalls beständig, weil es gleichermaßen nicht an den Liedinhalt und dessen etwaige Subversivität geknüpft ist, sondern an die Aufführungssituation, wenn auch mit Konzentration auf die Anwesenheit und Wahrnehmung der Teilnehmer und nicht mit ästhetischem Fokus wie bei Bleumer: Der systemisch-soziale Vortragsrahmen ändert sich nicht, nur weil die Systemäußerungen ihr Thema neu in den Blick nehmen. Zweifelsfrei ist der Grat zwischen Themenänderung und Systemstörung dabei schmal, wenn es etwa um die sexuellen Explikationen der Lieder geht, aber da es sich auch bei ihnen noch immer um liedhafte Äußerungen der Systemteilnehmer handelt,

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kann wohl davon ausgegangen werden, dass sie die Möglichkeiten einer geregelten Reaktion oder Sanktionierung vonseiten des Systems nicht überstiegen. Vergleichbares boten R19 (Sommereingang, Apostrophen an Boten, magd, laien, chint etc., Hören der Vögel im Wald) und R12 (Heiliges Land als evoziertes Hier, Sommereingang, Apostrophen). Daraus lässt sich ableiten, dass die Neidhartlieder mit Kreuzzugsthematik im Gegensatz zu den eben untersuchten Kreuzliedern anderer Autorenkomplexe verstärkt mit spaltenden Effekten arbeiten, was wiederum bisher als kennzeichnend für die Tagelieder herausgestellt wurde. Es entsteht der Eindruck, dass der Neidhartkomplex auch in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit von Aufführungsspaltungen gewohnte Perspektiven wieder einmal auf den Kopf stellt – wenn auch deutlich unaufdringlicher als etwa in den Umdeutungen der robusten, schlagfertigen und wollüstigen Damen oder des lautstarken, gewaltbereiten Wettstreits der männlichen Konkurrenten um die attraktivsten Mädchen. Und diesen Eindruck kann das Tagelied c114 bestätigen. Got geb der lieben guten tag, die ich anders nit gegrussen mag, also sprich ich alzeit an dem morgen fru und vergiß ir nimer an dem abent ein gute nacht darczu. Do ich aller jungst von ir schied, sie bat mich, das ich sunge und auch sandt ir lied. die wolt ich ir nu senden, west ich nu bei wem, der ir weissen henden und ir zu einem poten wolgeczeme. Mir hat ein ellender pilgraim gesagt von der frawen mein, vor ungevragt er sagt, sie wer schön und auch wolgemut. das ist ein liebes mere, das mir an dem herczen sanft tut.

Dieses dreistrophige Lied lässt die durchgängige Gleichsetzung des Sängers mit dem sich äußernden Ich zu, weil es die für die Aufführung problematische Intimität erfüllter Minne aus sich und damit auch aus der Vortragssituation heraushält und ersatzweise in einen Raum der Vergangenheit auslagert, der von der Vortragssituation ausreichend weit entfernt ist, um unproblematisch zu bleiben. Stattdessen ignoriert bzw. verschweigt c114 die für das Tagelied prototypische Handlung, dessen Topoi und Formeln und nimmt stattdessen die Selbstbezeichnung Ein tagweis ganz und gar wörtlich: ein Lied zu singen bei Tagesanbruch. Die Intimität, die für das Tagelied in der Aufführung so gefährlich war (vgl. oben etwa bei Holznagel), erscheint in c114 in

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harmloser, gezähmter Form, denn das Treffen hat in der Vergangenheit und zudem angeblich tugendreich stattgefunden. Die Form der ausagierten Beziehung, die das Liedsubjekt für sich in Anspruch nimmt, entspricht somit als liebendes Gedenken und Senden von Gedichten vollständig den höfischen Konventionen. Oben wurde schon hinreichend referiert, dass eine Gattungseinordnung unter dem Typ Tagelied für dieses Beispiel fragwürdig wirken kann, weil die typische Grundhandlung fehlt. Diese Bedenken scheinen sich nun aufgrund der ebenfalls unpassenden Aufführungseffekte zu erhärten. Doch aus dem problematischen Befund lässt sich auch eine positive Semantik bilden: Wenn es nachgerade charakteristisch für Neidhartlieder ist, Gattungsprämissen und -merkmale zu hinterfragen, wie Wolf dies neben anderen Merkmalen für den Gegensang darstellte,130 dann lässt sich folgern, dass nichts stimmiger für ein Neidhart-Tagelied ist, als eben von der üblichen Gestalt dieser Lieder abzurücken. Die Auslassung sexueller Explikation und erfüllter Minne – gleichermaßen untypisch für ein Neidhartlied und für ein Tagelied – ist für ein Neidhart-Tagelied wiederum alles andere als abwegig. Schließlich entspricht das kunstvolle Spiel mit der Grenze dessen, was an artikulierter Intimität in höfischen Kontexten eben noch zulässig ist, nun gerade dem Gattungscharakter des Tagelieds. Die Transgression ist zur Konvention geworden, so virtuos sie im Einzelfall auch gestaltet sein mag; das Gattungszentrum entspricht der Peripherie höfischer Normen. Was also könnte einem Tagelied des Neidhartkontexts, der sich permanent zu Spiegelungen und Umkehrungen motiviert sieht, näherliegen, als ins Zentrum des Normenkonstrukts zu greifen und sich so an die Gattungsperipherie des Tagelieds zu begeben? Das Ergebnis dieser neuen Ausdrucksform ist eine Verstärkung der Innerlichkeit und Zurücknahme der Konkretisierung, die eine nach innen gerichtete, sublimierende Zähmung des Tagelieds bewirkt. Damit ist c114 als Anti-Tagelied ganz eigener Prägung zu verstehen, vergleicht man es mit dem häufig als dem Anti-Tagelied herangezogenen Der helden minne (MF 5,34). Denn wo Wolfram die Thematik der heimlichen Liebe beibehält und sowohl den Äußerungsmodus zur ich-basierten Aussage als auch die Bewertung des Tagelieds zum Negativen hin ändert, da reduziert c114 den Typus stattdessen auf seinen temporalen Kern der Morgensituation und kann sein Subjekt in der Figurenidentität des Minneverstrickten belassen, ohne dafür auf die Ich-Äußerung verzichten zu müssen. Auch die Kombination aus Gattungsausweis in der Überschrift, der eine Tageliedhandlung erwarten lässt, und daraufhin dargestelltem Liedinhalt, der genau diese verweigert, lässt sich als Arbeit an der Konvention verstehen. Denn der Rezipient wird so animiert – immer vorausgesetzt die Liedüberschrift war Teil seiner Rezeption –, die Tageliedliebe und ihr hierarchisches Verhältnis zur Hohen Minne, Sinnhaftigkeit und Berechtigung der gesellschaftlichen Instanzen etc. zu reflektieren. Und dies mit

|| 130 Vgl. Wolf, Der ‚Gegensang‘ in seiner Aufführungssituation, S. 174f.

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einem höheren rezeptionsseitigen Eigenanteil als Wolframs Lied, das in lehrhaftem Duktus eine vorgefertigte Ansicht servierte. Zur Attraktivität der auf solche Art und Weise gezogenen Schlüsse und der prekären, Aufführungsnähe stiftenden Wirkung der Rezipientenreflexion mag an dieser Stelle nach dem Gesagten die folgende Feststellung genügen: Selbst wenn c114 nicht in einem Neidhartkontext entstand, sondern in diesen lediglich nachträglich inseriert wurde, was anhand der oben dargelegten Überlieferungslage schließlich nicht unwahrscheinlich wirkt, fügt es sich zu den Funktions- und Deutungsmustern des Neidhartkontexts doch so schlüssig, das eine Aussonderung vor dem Hintergrund der dargestellten Autorproblematik ‚Neidhart‘ indiskutabel ist. Der historische Autor dieses Liedes mag Walther von der Vogelweide oder Rudolf von Rothenburg sein – und dass auch dies nicht sicher ist, spricht im Grunde doch allein schon eine klare Sprache –, aber unter dieser Überschrift und in diesem Kontext ist c114 ein Neidhartlied. Ein weiterer Aspekt, von dem aufgrund seiner ästhetischen Implikationen und notwendig gegebenen Übereinstimmung mit der präsenten Aufführungssituation angenommen wurde, dass er Nähe stiften kann – Nähe hier einmal aufführungsintern durch Bleumers Ästhetik und einmal zwischen den Bereichen von Diegese und Vortrag –, war der Sang, auf den innerhalb des Liedes referiert wird. In c114 nahm das Lyrische Subjekt beispielsweise Bezug darauf, dass es von der Dame den Auftrag erhalten hat, ihr Lieder zu senden, womit der Vermutung des Rezipienten Vorschub geleistet wird, das just vorgetragene Stück könnte in einem metapoetischen Verweis über ebenjene Lieder auf sich selbst deuten. Durch nichts zu hintergehen ist daneben – wie schon mehrfach betont – der Nähe-Effekt des extradiegetischen Sangs und seiner klanglichen Unweigerlichkeit. Interessanter sind jedoch die Stellen der Interaktion zwischen extradiegetischem und intradiegetischem Sang, wie sie in c114 angedeutet, in c35, R12 und R19 jedoch ausführlicher funktionalisiert werden. Do man den gumpel gempel sanck, do stund so hoch der mein gedanck, der ist nu so gar verdorben. verfluchet muß sein die weil, mit hat ein haidenischer pheil vil grosse sorg erworben. wie gern ich freuden pfläg, ob mir nicht nahent läge ein schancz, die ist unwäge. Ich kam gefarn uber mer, do fur ein ungefuges her mit kaiser Friderichen. wir zogen in der haiden landt, ich ward geschossen so zuhandt, von dann must ich entweichen. do wir sie angeriten,

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wie vast wir mit ine striten, ir swerter vil sere schniten. Do ich so gar verczaget was und auch des schus vil kawm genas, von dann must man mich tragen. ich kam nie mer in grosser not, mir ward so nahent nie der todt bei allen meinen tagen. ich lag in dem ellende: got meinen kumer wende und mich zu lande sende. Mit kaiser Fridrichs here gefar ich werlich nimermer in solichen ungelingen, als mir ward auf der fart kundt. kom ich noch haim zu land gesundt, so wollt ich aber singen von mengem törpere, und westen sie mein swere, wie fro etlicher were. Der erst ward der Engelmair, der ist so unversunnen gar, das im erkrum sein schnallen. das ers nicht sag hie noch do, noch menger, der sein were fro, das ist es vor ine allen. wurde er an der zungen geslagen, und das sein oder kragen muste noch die seck tragen! Doch wais ich zwen dorfknaben, die enruchten, das ich wer begraben. die zimment sich so wehe, das ist Limenczun und Irrenfrid, der ine die oren paiden abschnid, wie gern ich das sehe, so hett mein sorg ein ende, brant man sie durch die zendt, so sie der teufel schende! Do ich kam aus der herefart, ich maint, sie hetten sich verkärt von irem ungelimpfen. da fand ich den von Berrut, der steckt noch in der alten haut und wolt mir slahen schrimpfen.

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las wir die törschen laien in iren dicken traien, empfahen wir den maien! Do ich ersahe die blumen schön, secht, do zergieng die swere mein. die wis hat schone klaid, das was des lieben maien plut, des frewet sich da mein gemut, mir was vil luczel laid. wolauf, ir stolczen maid, und springet auf der haid dem winter alle zu laid! Wolauf, ir jungen, es ist zeit! die haid in liechter varbe leit, zergangen sein die reifen, verswunden ist der kalte schne, der waldt hat gruns laub als ee. wir sullen zu freuden greifen und raien wol zu preis in hofenlicher weis, zergangen sind die greis. „Ich frew mich“, sprach ein magetein, „ich will den sumer frolich sein, des han ich gucz gedinge. mein hercz das ist freuden vol, zwar ich will mich gehaben wol mit einem edelinge, den han ich mir erkorn. ich acht nicht, wem es tut zorn, vergult sein im sein sporen!“ „Tochter, des hab meinen rat! ein knab sich vermessen hat, er leg dir gern wol nahen, der ist genant von Rubental. will er dir werfen seinen pal, den soltu nicht empfahen, du solt nicht mit im kosen, ja kenn ich wol sein losen: ‚wol dann mit mir nach rosen!‘“ Der tochter was die red unwerdt: „ir wolt mir hewr tun als fert, des last euch nu genugen. fraw muter, euch ward nie so zorn: ist er zu fridel mir geporn,

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es mag sich wol gefugen, muter, das ist ein wunder: verput ir mirs besunder, ich lig dem knaben under und will die rosen lassen stan, sein will der muß an mir ergan, ich will im nicht enligen.“ „kindt, des soltu nicht entun, ich rat, du nempst des maiers sun, der ritter will dich trigen.“ „was sagt ir mir von pawren? ja must ich nichcz wenn trawren, ee lies ich mich vermawren.“ Seidt das ich ie gewan den leib, so gesah ich kein altes weib, die pas den raien sunge den kinden auf der strassen vor, sie fert recht sam ein vogel empor: wie gern ich mit ir sprunge! sie springet sprung weite, sie und ir swester Geudte sind paid in meinem streite.

In c35 diente der Gesang zunächst dazu, auf der einen Seite die Heimat, auf der anderen die Bereitschaft zum Anknüpfen an das zuvor Gewesene und drittens über ihre akustische Minderwertigkeit die Dörper zu markieren, woraufhin sich das Subjekt seiner Rolle als Tanzmeister ergab und in der Resümeestrophe schließlich diese Aufgabe sogar an die tanzwütige Alte abtrat. Aufgrund der parallelen Nähe stiftenden Wirkung, über die intradiegetischer und extradiegetischer Sang verfügen, und der gleichermaßen positiven Bewertung, die beiden als höchstem Gut sozialer Interaktion in ihren jeweiligen Betätigungsräumen entgegengebracht wird, formt sich zwischen beiden Sängen eine bidirektionale Beziehung aus. Diese ist der Deutung des Sängers, der als Sprachrohr die Diegese mit der Aufführungssituation verbindet, nicht unähnlich, bringt aber weniger Reibungspotential mit sich, weil sie sich Identitätszweifeln nicht stellen muss. Ob der Sänger das Liedsubjekt jenseits ästhetischer Lektüren verkörpert, ist im Einzelfall zu diskutieren, doch für Diegese und Aufführungssituation gilt in ästhetischer Hinsicht gleichermaßen: Der Sang ist der Sang ist der Sang. Dieser dient also nicht nur dazu, in der Aufführungsrealität Sänger und Publikum mittels einer einmaligen Situativität zusammenzubinden,131 sondern zusätzlich auch die beiden Welten, deren Berührungspunkt der Sänger ist. Dabei weist der || 131 Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes, S. 71.

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intradiegetische Teil speziell im Falle von c35 und dessen unterschiedlichen Zeiten, Räumen und Figuren eine Beweglichkeit des intendierten Blicks auf, die eine Verstetigung der Identität zwischen dem sich liedintern äußernden Ich und dem Sänger der Aufführung verhindert. Anteil hieran hat insbesondere die wörtliche Rede der anderen Figuren, die die Aufmerksamkeit zusätzlich vom Liedsubjekt als Artikulationsquelle ablenkt, das sich zuvor als Kreuzfahrer und Tanzmeister darstellte. Dieser spaltende Effekt legt zugleich in gesteigertem Umfang das ästhetische Wirken jenes Sangs bloß, den der Sänger in der Aufführungssituation vorbringt. Folge dessen ist nun das paradox anmutende Resultat, dass eine an sich spaltende Erscheinung die Wirksamkeit verschmelzender Prozesse gerade enthüllt bzw. durch die Absage an nicht-ritualhaft operierende identifikatorische Ansätze die unterdessen in der Aufführung stets wirksame ästhetische Verschmelzung ausstellt. Dieses Gleichgewicht von Übereinstimmung in der Bewertung des Sangs, die nach Ähnlichkeit und Kontakt zwischen Diegese und Vortrag sucht, und Divergenz in dessen Quellenpositionierung, die diesem Kontaktstreben entgegenarbeitet, agiert analog zur bereits herausgestellten, zweischneidigen Metapoetik des Sangs. Dort wurde primär durch die Gleichsetzung der Form mit dem Inhalt Nähe über Identitäten evoziert und sekundär durch die Artifizialität dieser Figurierung Distanz ausgedrückt. Das Konstrukt, das hier soeben am Beispiel von c35 beschrieben wurde, setzt sich nun über jene Konstellation hinweg, die die Ambivalenz des Sangs allgemein im Verhältnis der Nähe aufbauenden äußeren Form seiner akustischen Unweigerlichkeit und dem über Fiktionen und Spaltungen Distanz aufrechterhaltenden Inhalt festschrieb.132 Daher wandelt sich die Arbeit der Lieder mit Kontaktstreben und Distanznahme, sobald der Sang sich vom alleinigen Hoheitsanspruch des Liedsubjekts befreit und quasi interaktiver Bestandteil der diegetischen Welt wird. Der Machtverlust an Klangkunst des Ichs, der hier mitschwingt, ist nur einer der Effekte, die dieses in den Liedern des Neidhartkomplexes vermehrt zum Spielball der diegetischen Welt geraten lassen – Trutzstrophen, Dialoge und das Überbieten durch die männlichen Dörper leisten ein Übriges. Diese Änderung der Verhältnisse beschreibt im Wesentlichen eine Dynamisierung oder Befreiung der verfestigten Form und wird über die Aufführung sodann trickreich auf den liedinternen Sang oder auf die Möglichkeiten hin erprobt, die sich daraus zur Charakterisierung von Figuren und Räumen ergeben. Speziell den letzten Punkt arbeitete R12 stärker heraus, denn in diesem Lied schien ein erheblicher Anteil der Unzufriedenheit des sich äußernden Ichs mit seiner Situation nicht aus dem Unbill der Schlacht und der Reise zu resultieren, sondern aus dem mehr als dürftigen Publikum der Welschen. Das Liedsubjekt definierte sich so nicht nur nachhaltig über seinen Sang, sondern dieser war auch das maßgebliche Mittel, um räumliche Entfernung sowie die Entfremdung des Aussagenden || 132 Vgl. Bleumer, Das Echo des Bildes, S. 328.

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auszudrücken – und sie zugleich zu überschreiten, denn der Sang wurde, wie Strophe elf herausstrich, schließlich zum Boten des Ichs, der die Verbindung zu Freunden, Verwandten und der Minneherrin herstellt. Darüber hinaus offenbarte sich dieser als machtvolles Instrument, um tousent hercz geil (SNE I R12, VIII,5) zu machen. Die Aufführungssituation des Liedes ist auf diese Art und Weise zum einen expliziter Bestandteil der diegetischen Welt und zum anderen gleichermaßen gespiegelt in die Situation außerhalb des Liedes wirksam: Die liedintern prognostizierte Wirkung des Sangs tritt aufführungsintern ein und damit nimmt die Systemäußerung Einfluss auf das Einfache System der Vortragssituation. Auch was die Rollen des sich äußernden Ichs anging, beanspruchte R12 einen besonderen Status, indem es dieses als Kreuzfahrer, Sehnenden, Tanzmeister und Lehrer inszenierte und mit ihm im Falle andauernder Identifikation auch den Sänger. Trifft dies aufgrund spaltender Effekte nicht mehr zu, dann schält sich die Instanz des Sängers gerade dort mit großer Deutlichkeit heraus, wo die Rollen und Figuren des Liedes miteinander in Konflikt geraten.133 Zusammenfassend gehen die Lieder des Neidhartkontexts folglich auch im Spiel der Instanzen mit Identität und Differenz einmal mehr einen Schritt weiter als die erwartbaren Konventionen des Minnesangs und dies im Wesentlichen durch die Addition zusätzlicher Ebenen: War in Bezug auf den Hohen Sang die leitende Frage, in welchem Verhältnis sich Sänger und Liedsubjekt befinden, wo eine Spaltung auftritt und wie mit dieser weiter umzugehen ist, so hat sich die Gemengelage im Neidhartkontext verschärft. Zum einen kommt die Abstraktion ‚Neidhart‘ hinzu, deren Verortung zwischen den Positionen des Autors, der Figur, des Ichs und des Sängers immer wieder neu zu klären ist, zum anderen wird eine globale Ausweitung der Diegeseräume und -bewohner spürbar. Und nicht zuletzt ist auch auffällig, dass die neu entdeckten Rollenmuster des Kreuzfahrers und des Begehrten, insbesondere aber des Sanglosen und des Tanzmeisters dörperlicher Festivitäten die Lösung der Lautkunst vom Hof betonen, der als Ort des Hohen Sangs zuvor kulturelle Verfeinerung versprach. Indessen unverändert bleibt im Zuge dieser Dynamisierung der Charakter der untersuchten Lieder als thematisch zentrierte Äußerungen eines sozialen Systems, deren Inhalt keine direkte Auskunft über den Systemzustand gibt. Daher muss die äußerungsinterne Abwendung von den Prämissen und Parametern des Hohen Sangs nicht zwingend eine tatsächliche Umbildung der Grundfesten des Sozialsystems bedeuten, sondern zeigt zunächst einmal nur eine Neuperspektivierung des Themas an, das das System konstituiert. Schließlich setzen sich auch die Neidhartlieder noch immer mit Minnekonstruktionen auseinander, so ideenreich sie diesen Kern auch neu einkleiden. Mit den vermehrten Ausdrucksmöglichkeiten des Subjekts durch neue

|| 133 Das Lied SNE I R19 schließlich kann weder für den Bereich des Sangs noch für die Rollenlogik weitere Erkenntnisse beisteuern und wird daher beiseitegelassen.

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Rollen und Räume nehmen auch die Anforderungen an den Sänger zu und dies umso mehr, da dieser über die Rolleninszenierungen des Ichs hinaus ebenfalls die diese verbindenden Liedteile realisieren muss. Interessant sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Tanzmeister-Strophen, in denen die Identität des Subjekts als die eines liedinternen Sängers in einer ebenfalls liedinternen Aufführung evoziert wird, die – obwohl ebenfalls durch einen Sänger in einer Vortragssituation artikuliert – mit dieser nicht zur Deckung gelangt. Vielmehr legt sie durch jene Engführung gerade offen, wie andersartig die Diegese sich zur Systemwelt verhält: lärmende Dörper, überschießende Gewalt, zügelloses Begehren, wilder Tanz. Indem so durch eine Identitätsbehauptung, die nicht tragen kann, gerade die Ungleichheit zweier Weltentwürfe betont wird, erfährt die Aufführungssituation bei Neidhart einen Nutzen, der über die Funktionalisierungen hinausgeht, die im Rahmen der Tage- und Kreuzlieder expliziert werden konnten.134 Ähnlichkeiten lassen sich indes zwischen dieser speziellen Realisierung und der Aufführungsmetapher feststellen. Sie bezeichnete, dass die ästhetisch begründete Ich-Übernahme durch den Sänger, die den Offensichtlichkeiten der Aufführungssituation zunächst widerspricht, auf einer Alternativebene dennoch zutrifft. Lyrisch narrativ wurde diese Metaphernform genannt, weil sie darauf deutet, dass im Vortrag eines lyrischen Werkes etwas (der Sänger, der Raum, die Jahreszeit) so ist, während es anders ist. Der Prozess dieser Zustandsänderung, der narrativ lesbar ist, bleibt wiederum implizit. In der Art und Weise, die im Neidhartkontext Anwendung findet, hintergeht die aufführungsinterne Identitätsbehauptung, die über die Ästhetik geleistet wird, entweder die metaphorischen Prozesse oder aber sie deutet darauf, dass die höfischen Konventionen tatsächlich dörperliche Blüten treiben. Nur genau eine dieser beiden Möglichkeiten kann zutreffen und eine muss es auch. Gleichwie, die Neidhart’schen Deutungsmuster stellen einmal mehr auf den Kopf, was als erwartbar gelten kann. Das Spiel der Neidhartlieder mit dem Aufführungscharakter minnesanglicher Texte lässt sich folglich über die vorgestellten Gruppen der Aufführungslogik (Wechsel, Vermittlung, Identität) auch nur schwer fassen, denn einerseits können für alle Typen, auf die die obigen Kategorisierungen hinweisen, Beispiele aus dem Neidhartkorpus gefunden werden, doch andererseits überschreiten gerade die Neidhartlieder die Grenzen dieser Gruppen mit Passion. Es ergibt sich somit häufig die Form eines Liedes, das in mehreren Teilbereichen je unterschiedlichen Richtlinien folgt, wie etwa c35. Und zugleich wird man dem Phänomen mit der Schlussfolgerung einer Mischform nicht gerecht, weil an dieser Stelle im Kleinen nochmals sichtbar wird, was zu Beginn in Bezug auf die Gattungslehre festgestellt wurde: Die Bewertung der transgressiven Vertreter einer Disziplin, die verschiedene Kategorien oder auch prototypische Ausrichtungen kombinieren, hebt deren vielseitigen Charakter selten als

|| 134 Die Aufführung als Einfaches System, vgl. Abschnitt 3.2, bleibt in ihrer Gültigkeit davon unberührt.

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positiv hervor und neigt dazu, die entstehenden Interferenzphänomene als Zeichen von Unkenntnis oder Unfähigkeit zu interpretieren. Anhand der beobachteten Neujustierungen, die die Neidhartlieder an den verschiedensten Stellen der untersuchten Komplexe vornehmen, deutet sich jedoch an, dass diese Lieder in der Tat keine derben Verfallserscheinungen sind, sondern in ihren Bespiegelungen des Konventionellen oftmals noch kunstvoller vorgehen, als ihr Spiegelungsobjekt.

Fazit und Ausblick Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie war ein doppeltes. Auf der einen Seite suchte sie, die vormodernen Möglichkeiten narrativer Ansätze innerhalb lyrischer Texte theoretisch an die Forschungsdiskurse sowohl des Minnesangs als auch der entstehenden Lyriknarratologie anzuschließen. Ausgehend hiervon galt es, die theoretisch erarbeiteten lyrisch-narrativen Prozesse am Beispiel zu belegen, zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen, wozu zunächst für drei exemplarische Topoi die verschiedensten Lieder der Minnesangtradition überblicksartig herangezogen wurden, bevor mit den Kreuz- und Tageliedern zwei besondere Liedtypen zur ausführlichen Analyse ihrer histoire- und discours-Ebene, ihrer Topoi und Metaphern, Zeiten, Räume und Figuren gelangten. Dem zugrunde lag – neben der Prämisse, dass die untersuchten, lyrisch verfassten Narrationsformen nicht von vornherein als weniger komplex anzusehen sind als die vergleichbaren Ausformungen epischer Werke – die Überlegung, dass die Alterität, die einen modernen Rezipienten von den mittelalterlichen Minneliedern trennt, sich aufgrund des vormodern verstärkt prozesshaften Gattungsgefüges als positiv erweist. Denn so werden ebenjene transgenerischen Vorgänge leichter beobachtbar, womit mediävistische Untersuchungen für lyrisch-narratologische Desiderate keine zusätzliche Begründungsarbeit leisten müssen, sondern stattdessen eher als besonders naheliegendes Forschungsfeld erscheinen. Auf der anderen Seite und dieses erste Vorhaben beständig durchdringend prägte die umfängliche Wirksamkeit der Polarität von Nähe und Distanz die Untersuchung, deren je voneinander nicht trennbare Äußerungen auf verschiedenen Ebenen sichtbar wurden, weshalb es naheliegt, ebendiese zur Verbindung der jeweiligen Ebenen heranzuziehen. Damit ergibt sich – ausgehend von der nah-fernen Ideologie der Hohen Minne, die Horst Wenzel1 belegt – eine Struktur, die bezogen auf histoire, discours, Gattung, Aufführung, Ästhetik und Medialität je mit einem spezifischen Aussagewillen Kontaktstreben auf der einen und Distanznahme auf der anderen Seite verhandelt, sich aber niemals aus der polaren Konstruktion löst. Aufseiten der Nähe stehen dazu die Minneerfüllung und das liebende Gedenken, Metapher, Lyrik, || 1 Vgl. Horst Wenzel: Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen Distanz in der Minnethematik. In: Liebe als Literatur, hrsg. von Krohn, S. 187–208. Für dessen sozialhistorische Deutung mag stellvertretend das Folgende stehen: „Im Typus der Hohen Minne etwa zielt die Minnebindung zwar nicht auf die Ehe, aber auch nicht eindeutig auf Liaison und Ehebruch. Zweifellos tendiert sie jedoch stets zur Aufhebung gesellschaftlich bedingter Ferne (Distanz) zwischen dem man und der frouwe, […]. Die Idee der Hohen Minne spielt derart mit einem Anspruch, der eine gesellschaftliche Aufwertung des werbenden Mannes zur Folge hätte (lôn), aber mit dieser Aufwertung zugleich das distanzsetzende Normsystem zerstörte. […] Dieses Modell ermöglicht eine Identifikation für ganz verschiedene Gruppierungen des Adels; es zielt ab auf Unterordnung isolierender Partialinteressen unter ein gesamtaristokratisches Identifikationsprogramm.“ Ebd., S. 201. https://doi.org/10.1515/9783110684360-005

Fazit und Ausblick | 305

Verschmelzung, Akustik, Mündlichkeit, Sang und Subjektivität bereit, aufseiten der Distanz demgegenüber räumliche Trennung der Liebenden, Gunstentzug und gedankliche Abwesenheit, Topos, Erzählung, Spaltung, Visualität, Schriftlichkeit und Didaxe. Dabei verhält es sich mit beiden Ausprägungen der Polarität zweifellos so, wie dies oben schon in Bezug auf das Gefüge von Raum und Zeit ausgeführt wurde: Sie sind auf einander angewiesen und lassen sich von ihrem Pendant nicht trennen, ohne die Balance beider Begriffe und damit die ausgeführte Beziehung zu zerstören. Daher kann eine Betrachtung, die versucht, die Spezifika in der Abgrenzung gegeneinander sich deutlich abheben zu lassen, immer nur selektiv wahrnehmend verfahren. Die narrative Lyrik selbst ist dafür das beste Beispiel. Wären lyrische Werke immer und ausschließlich über ihre Nähe stiftende Wirkung zu beschreiben, wie die obige Aufzählung sowie der Abschnitt zur Lyrik als Merkmalsbündel suggerieren könnten, dann wäre sowohl jede Lyriknarratologie ein sinnloses Streben als auch die Lyrik selbst in ihrer Konzentration auf Wahrnehmungen idealerweise nicht-sprachlich. Denn Sprache erzeugt über ihre Differenzierungsbemühung schon eine Distanz, wenn diese auch noch geringer ausgeprägt sein mag als in der schriftlichen Realisierung. Und dass über ein Gefühl zu sprechen nicht das gleiche ist, wie es zu haben, ist dem Minnesang – freilich nicht vorrangig im Bemühen des Ichs um die Beibehaltung seiner Gefühlsidentität, sondern um Glaubwürdigkeit vor seinem Gegenüber – als Problem nicht unbekannt: Maniger der sprichet: ‚nu sehent, wie der singet! / waere ime iht leit, er taete anders danne sô.‘ / der mac niht wizzen, waz mich leides twinget (MF 133,21).2 Aber lyrische Werke sind, das dürfte die vorliegende Studie sowohl theorie- als auch beispielzentriert gezeigt haben, immer auch interessiert an narrativem Fortschritt. Sie benötigen diesen sogar, weil ohne ihn die lyrischen Wahrnehmungsspiele ankerlos verfliegen müssten. Vom Lindenlied Walthers (L 39,11) war nun schon wiederholt die Rede, trotzdem ist der nochmalige Bezug auf diesen mediävistischen Evergreen wohl verzeihlich: Welchen Effekt hätte also das lyrisch-sprachspielerische tandaradei ohne die gebrochen bluomen, ohne die Kleinstgeschichte Ich kam gegangen / zuo der ouwe, / dô was mîn friedel komen ê. / Dâ wart ich enpfangen, / hêre frouwe, / etc.? Ähnlich anschaulich ist die stete Verbindung des Nähe- und Distanzeffektes auch an der Aufführungssituation als Einfachem System des Teils III, die die spaltenden Wirkungen der Systemäußerungen und die verschmelzenden von deren Artikulation zu verbinden wusste – auch hier intensivieren beide Performanzeffekte ihre Wirkung gegenseitig, indem sich Verschmelzungserscheinungen umso eindrücklicher offenbaren, je stärker sich zuvor die spaltende Unvereinbarkeit aufgedrängt hatte und diese wiederum in der Verschmelzung ihre eleganteste Lösung findet.

|| 2 Vgl. nochmals Haferland, Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen.

306 | Fazit und Ausblick

Eingangs stellte die Studie den Ansatz vor, die Bestimmung der Begriffe Nähe und Distanz zunächst und systematisch ebenso offenzuhalten für eine merkmalzentrierte Füllung, wie sie auch die letzten Definitionsversuche3 des Lyrischen umsetzten. Diese absichtsvolle Leerstelle, die wie der Topos auf dem Erfahrungsschatz des Rezipienten und seiner Fähigkeit fußt, weitreichende Verbindungen zu knüpfen, hat sich im Laufe der Untersuchung mit einer Vielzahl möglicher Bedeutungsinhalte des Polaritätenspiels ausgekleidet, sodass sich nun und über jenes die Möglichkeit bietet, eine die betrachteten Lieder in ihrer Gesamtheit umspannende Art der Beschreibung voranzubringen. In der alle Sphären durchziehenden Dualität der Nähe und Distanz – von der wörtlichen in Topos und Metapher, über die der innerhalb des Liedes angesiedelten Handlung der Figuren in Kreuz- und Tagelied sowie die der Performanz in Spaltung und Verschmelzung, bis hin zur ästhetischen in visuellen und akustischen Prozessen – findet sich somit eine Disparatestes zusammenführende Perspektive, die trennend wie verbindend dennoch dem Einzelnen weder Eigenständigkeit noch Berechtigung abspricht, sondern aufgrund einer Mitwirkung an der übergeordneten Struktur eher bekräftigt. In der Rezeption der Lieder Einzelaspekte wie die vorrangig akustische Fundierung dieser oder jener Figur oder aber primär spaltende Prozesse einer Aufführung zu übersehen, wird auf diese Art und Weise ebenso deutlich unwahrscheinlicher, wie sie überzubewerten. Manchem mögen die Auffassungen der Nähe und Distanz, wie sie hier angewendet wurden, zu ungenau, zu offen erscheinen und einer weiteren Suche nach anderen Verknüpfungsaspekten steht in der Tat auch nichts im Wege. Aber in der Anwendung jener Dualität ist es zunächst einmal und bis auf Weiteres möglich, einen die narrativen Möglichkeiten des Lyrischen umspannenden Horizont aufzuzeigen. Er steht der Vereinzelung der vielfältigen Ideen einer Lyriknarratologie entgegen und begreift das Lied als Artikulationsraum eines interagierenden Verbundes verschiedener Sphärenstrukturen, die jeweils durch eine nah-ferne Polarität organisiert sind. Dass hierfür unscharfe Begriffsumrisse grundlegend sind, muss vor dem Hintergrund der Familienähnlichkeit nicht negativ besetzt werden und öffnet stattdessen den Blick für den Gestaltungsreichtum des Minnesangs, der sein histoire-seitig immerfort betontes Streben des Liedsubjekts nach Kontakt entgegen der ihm gesellschaftskonform verordneten Ferne damit potenziert. Denn all die vorgestellten Ebenen, auf denen sich Ausformungen des Widerstreits von Nähe und Distanz finden, werden so integrativ lesbar als Ausweich- und Suchbewegung des Minnesangs nach einer alternativen Kontakterfahrung, die sich nicht distanzierend entzieht. Nach den bisherigen Ausführungen muss auch sie selbstverständlich ziellos bzw. unerfüllt bleiben, aber wie auch schon bei Der helden minne (MF 5,34) oben hat der Rezipient, der hieraus Obsoleszenz ableitet, Aussagewillen und Aussagemittel verwechselt. || 3 Vgl. Abschnitt 1.2.1.

Fazit und Ausblick | 307

Zudem eröffnet diese Interpretation auch dann, wenn das obige Kontaktstreben nie an sein Ziel gelangt, eine Möglichkeit, den Anspruch des Hauptansatzpunktes lyrischer Narrative besser zu umreißen, indem sie die gemeinsame Arbeit histoire- und discours-seitiger Erzählformen betont: Raum- und Zeitbezüge als zunächst offensichtlichen Modus der narrativen Andeutung kooperieren mit demjenigen der assoziativen Interaktivität einer Rezipienteninnerlichkeit, den als gesteigert lyrischen Ausdruck einer Erzählung zu greifen angesichts der genretypischen Konzentration auf Äußerungsformen nicht fernliegt. In der Folge arbeiten lyrische Fassungen des Erzählens weder histoire-lastig noch discours-exklusiv – etwa als Analogsetzung, Ordnungskonstitution, Sinnstiftung oder Perspektivierung und damit über Konturierung von Individualität vorgeschlagen durch Müller-Zettelmann4 und Culler5 – sondern ebenso unhierarchisiert in der Kombination beider Teilmechanismen, wie die lyrischen Werke selbst zur unhierarchisierten Darstellung ihrer Geschehensfolgen neigen. Begründbar ist dies nicht nur mithilfe des ohnehin untrennbar aufeinander verweisenden und angewiesenen Verhältnisses der histoire und des discours, sondern auch über die wiederholt herausgestellte Spezifik der Mehrschichtigkeit lyrischer Modi. Dass die Lieder des Minnesangs dabei dennoch nicht ohne Relevanz für alltagspraktische Fragestellungen sind – obwohl mehrfach betont wurde, dass die betreffende Aussagekraft keine wortwörtliche sein kann: durch die Opposition zur historisch-verortenden Forschung der Kreuzlieder, die Unterscheidung zwischen System und Systemäußerung nach Luhmann und die Ausführungen zur Spaltung, der erst ästhetisch entgegengearbeitet wird –, wurde über die Einbindung der Diagrammatik einzufangen versucht. Deren Bearbeitungen etwa des Minnebeginns oder der Fortführung der Beziehung (2.2.2–3) sind an sich zwar nicht lyrisch narrativ – wenn man eine solch abstrakte Vorstellung von Erzählung gegen Lutz nicht noch integrieren will –, stellen aber einen Funktionsrahmen für die Ansätze einer narrativen Lyrik bereit, der in Kombination mit den topischen Bezügen, metaphorischen Schöpfungen etc. zusätzliche semantische Angebote ermöglicht. Nachdem die vorliegende Untersuchung in einem ersten Versuch und freilich in bescheidener Ausschnitthaftigkeit vor allem die Lieder der Sammlungen Des

|| 4 Vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Narratologie, S. 131. 5 Wie bereits einleitend herausgestellt wurde, vertritt Culler eine stark an der Artikulation und Musikalität der Lyrik interessierte Position, die dazu neigt, das, was ausgesagt wird, dem, wie es ausgesagt wird, hintanzustellen, wofür illustrativ nochmals das folgende Zitat beigebracht sei: „The duration of a reading is the lyric event, which one should keep in view, perhaps especially in an academic study of poetry. […] It is important that poems are not recalled as a fact is remembered but are, as she [Susan Stewart, D.R.] says, registered as able to be recalled, to be uttered or experienced again; even if you only remember a few of their words, or sometimes, maddeningly, just a rhythm, there is the promise of an event that can be reproduced in the present of articulation.“ Culler, Theory of the Lyric, S. 353.

308 | Fazit und Ausblick

Minnesangs Frühling, der Liederdichter und der Salzburger Neidhart Edition betrachtete, wäre nun eine weiterführende Erprobung der erarbeiteten Konzepte möglich. Wie einleitend bereits angeklungen ist, scheinen sich dafür in allererster Linie die angrenzenden Bereiche mittelhochdeutscher Lyrik zu eignen, die hier aus Gründen einer unweigerlich notwendigen Begrenzung zum einen und der Minnezentrierung der Überlegungen zum anderen zunächst unbeachtet gelassen wurden: Mystik und Sangspruch. Beide Anschlussgebiete können dabei mit einigen Überschneidungen zum Untersuchten aufwarten, weshalb eine gewisse Übertragbarkeit prognostiziert werden darf, aber ebenso sehr auch mit abweichenden Perspektiven, die ihrerseits jene Übertragbarkeit begrenzen werden bzw. alternative Ergebnisse erwarten lassen. Diese geteilte Prognose erschließt sich insbesondere im Hinblick auf die histoire-seitige Wurzel der nah-fernen Problematik des Minnesangs, auf die oben so viel Wert gelegt wurde: Sie prägt weder Mystik noch Sangspruch mit vergleichbarer Dominanz, weil die Mystik zum einen zwar ein vergleichbares Streben nach Vereinigung bearbeitet, dabei aber durch keine Sozialnorm reglementiert, sondern maximal durch die unauflösbare Restimmanenz behindert wird, die dem Menschen stets anhaftet. Und für den Sangspruch zum anderen ist Minne nur noch ein Thema unter vielen: Religion, Politik, Natur, Kosmologie, Ethik, Kunst und Komik verlangen gleichermaßen ihr Recht – und ihre Verse. Dennoch – oder deshalb? – gebietet die Neugier abschließend wenigstens einige kurze Blicke. Die Mystik ist aufgrund ihrer geistlichen Thematik – etwas Ähnliches spielte oben schon in Bezug auf Mariendichtung hinein – reich an einer Metaphorik, die in ihrer ästhetischen Widersprüchlichkeit sowohl versucht, sich dem Göttlichen anzunähern als auch in der Verschmelzungsbewegung die unio mit Gott anteilig in die Immanenz zu holen. Daher ist sie für einen metaphernzentrierten Ansatz wie den hier applizierten besonders interessant. Indem mystische Texte als sich anschließendes Arbeitsfeld der vorliegenden Studie angeführt werden, soll jedoch weder der Eindruck entstehen, diese literarischen Gebilde wäre eindeutig der lyrischen Gattung zuzuordnen – denn ihre generische Anschlussfähigkeit ist vielseitig6 –, noch etwa der

|| 6 Vgl. dazu nochmals Bleumer und Emmelius: „Demgegenüber sind mystisches Denken und mystische Erfahrung grundsätzlich nicht an bestimmte Ausdrucksformen gebunden. Gerade dies begründet offenbar ihre Freiheit zum generischen Experiment […]. […] Neben das diskursiv heterogene Modell des Offenbarungstextes treten [mit der hinzukommenden Autorengruppe der Nonnen und Beginen, D.R.] insbesondere lyrisch-hymnische Formen: […] [Hadewijchs] Strofische Gedichten werden formal der höfischen Lyrik zugeordnet, weil sie Liedformen der Trobador- und Trouvère-Lyrik übernehmen. Die Mengeldichten gelten dagegen als „gereimte Briefe“ und stehen somit zwischen dem lyrischen und dem Prosawerk Hadewijchs.“ Bleumer, Emmelius, Generische Transgressionen und Interferenzen, S. 11f., dort auch weiterführende Literatur zum Thema. Vgl. zudem auch Caroline Emmelius: Mechthilds Klangpoetik. Zu den Kolonreimen im „Fließenden Licht der Gottheit“. In: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. 22. Anglo-German Colloquium Düsseldorf. Hrsg. Elizabeth Andersen [u. a.]. Berlin 2015, S. 263–286.

Fazit und Ausblick | 309

Vermutung Vorschub geleistet werden, die mystische Metaphorik läge als wissenschaftliches Untersuchungsfeld brach. Michael Egerding untersucht etwa mithilfe der oben erwähnten Interaktionstheorie – und welche der erwähnten Metaphertheorien könnte gerade der Mystik wohl besser anstehen? – spätmittelalterliche mystische Texte und liest die mystischen Metaphern sogar als Wegweiser in Richtung eines von der unio bestimmten Lebens. Denn indem die Interaktion der Metaphernteile in ihrem Aussageversuch über das Göttliche niemals zu einem finalen Resultat kommt und infolgedessen immer und immer wieder angestoßen und fortgesetzt wird, gerät die Metapher zur Lebensform.7 Damit ist aber noch keine Aussage getroffen über einen etwaigen erzählenden Charakter mystischer Werke jenseits der Metapher, die sich hier vielleicht als schwebende Selbstzuschreibung einer Geschichte wie bei Bleumer und Emmelius deuten lässt – dazu aber bedarf es eingehenderer Untersuchungen. Ein rascher Exkurs will sich also keineswegs Aussagewert anmaßen, aber doch vielleicht einen gewissen Fragewert. Im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg finden sich einerseits Passagen wie: Ich ruͤ ffe dir mit grosser gere / in ellendiger stimme, / ich beiten din mit herzen swer, / ich mag nit ruͦ wen, ich brinne / unverloͤ schen in diner heissen minne,8 die unverkennbar metaphorisch verbrämt sind und sich im Kreisen um die unio narrativ kaum voranzubewegen scheinen. Aber sie sind auch eingebettet in ein umfangreiches, ästhetisch anspruchsvolles Gebinde, das in seinen weiteren Teilen sich auf Vergangenes rückbezieht (du mir hast alles enzogen), in die Zukunft vorausdeutet (Din heimliches suͦ chen muͦ s mich vinden), appelliert (nu loͮ fe mir nit ze lange vor), Miniaturgeschichten einbindet (hette ich eines risen kraft – / dú were schiere von mir verlorn) und natürlich Einiges an Topoi zu bieten hat (Des muͦ s ich sere kranken; ich mit dir gebunden bin; Liebú tube; min munt swiget einvalteklich etc.). Eigene Überlegungen müsste eine narratologisch zentrierte Mystikstudie auch zur Rezeptionssituation und deren Implikationen anstellen, die sich mit den obigen Anmerkungen wohl nicht mehr bruchlos zusammenbringen lassen. Die Sangspruchdichtung demgegenüber lässt sich an das Vorgebrachte anschließen,9 weil sie einerseits über Schnittmengen mit der Kreuzzugsdichtung verfügt, die

|| 7 Vgl. Michael Egerding: Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik. Bd. 1: Systematische Untersuchung. Paderborn 1997, S. 231. Vgl. zur Relevanz des Klangs in mystischen Kontexten auch Caroline Emmelius: süeze stimme, süezer sang. Funktionen von stimmlichem Klang in Viten und Offenbarungen des 13. und 14. Jahrhunderts. In: LiLi 171 (2013), S. 64–85 sowie dies., Mechthilds Klangpoetik. 8 Mechthild von Magdeburg: Das Fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt am Main 2003 (BDK. 181), S. 128, V. 5–9; entnommen aus dem dortigen XXV. Von der klage der minnenden sele, wie ir got schonot und enzihet sine gabe. Von wisheit, wie dú sele vraget got, wie ir si und wa er si. Von dem boͮ mgarten, von den bluͦ men und von dem sange der megde, S. 126–135. 9 In dieser Hinsicht ist die Studie von Gabriel Viehhauser mit großer Spannung zu erwarten, die sich den Gattungsinterferenzen im meisterlichen Erzähllied insbesondere hinsichtlich einer historischen

310 | Fazit und Ausblick

bereits am Beispiel Walthers (L 10,9f., L 12,6f. u. L 13,5f.) und Bruder Wernhers (Gregôrje, bâbest, geistlich vater) angedeutet wurden, und andererseits den didaktischen Ausspruch stärker in den Blick nimmt, was sowohl im Kontext der Subjektivität aus Teil 3 als auch der Gattungsdiskussion aus Teil 1 interessant zu werden verspricht. Ohne dass dies die Stelle für einen ernstzunehmenden Versuch wäre, eine solche Übertragung auf die Sangsprüche auch nur ansatzweise umzusetzen, sei doch ein kurzer Blick über die ‚Grenze‘ erlaubt: In Walthers Strophen L 12,6 und L 34,410 tritt ein Liedsubjekt – wenn es sich überhaupt thematisiert – nur in einer lehrhaften Rolle auf und kündet sodann entweder Gottes Botschaft, die den Kaiser als inszenierten Adressaten zum Kreuzzug bewegen soll, indem es gegenseitige Hilfe zusagt oder aber es gibt in ausführlicher Rollenrede die vermeintliche Position des Papstes wieder, der mit Lust die weltliche Ordnung durcheinander bringt, um für sich einen Vorteil daraus zu ziehen. Minne spielt weder als Beweggrund für oder wider den Kreuzzug eine Rolle, noch als Zielpunkt didaktischer Auslassung; und auch die Klang- und Präsenzphänomene des Minnesangs scheinen kaum Relevanz zu besitzen. Indes Rollenrede – als Papst oder Bote – und in zeitlichen Staffelungen dargelegte Begebenheiten, an denen sodann der lehrhafte Inhalt zu demonstrieren ist, sind auffällig und die mangelnde Strophenverkettung11 der Sangspruchdichtung scheint dem in der Tat keinen Abbruch zu tun. Im Gegenteil dürfte sie die topischen Verknüpfungen eher befeuern, aber auch hier muss dieser knappe Hinweis genügen.12

|| Narratologie und deren Verhältnis zur Lyrik widmet und im Entstehen begriffen ist. Einen ersten interessanten Einblick bietet diesbezüglich ders.: Treueproben in Sangspruchtönen. Zur Ausprägung des westlichen Erzähllieds am Übergang der Gattung zur Mehrstrophigkeit. In: Sangspruchdichtung zwischen Reinmar von Zweter, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim. Hrsg. von Horst Brunner, Freimut Löser. Wiesbaden 2017 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. 21), S. 335– 348. 10 Die betreffenden Strophen werden von Theodor Nolte und Volker Schupp in ihre Sangspruchsammlung und dürfen daher wohl auch aus äußerlichen Erwägungen als Sangsprüche gelten, falls nicht schon innere – wie oben – überzeugen können. Vgl. Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Mittelhochdeutsch / neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Theodor Nolte, Volker Schupp. Stuttgart 2011 (RUB. 18733), hier S. 34–37. 11 Der Ausspruch Kurt Ruhs ist in dieser Hinsicht praktisch zum geflügelten Wort geworden: „Perlen an einer Schnur, nicht Ringe in der Kette“. Kurt Ruh: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung als gattungsgeschichtliches Problem. In: Ders. Kleine Schriften. Bd. 1, hrsg. von Mertens, S. 86–102, hier S. 96. 12 Weiteres Anschlusspotential bietet zum einen die wiederholt herausgearbeitete Macht der Gedanken im Minnesang, deren genaueres Verhältnis zur Etablierung einer individuellen Wirklichkeitsveränderung bzw. Fiktionalität ebenso einer weiterführenden Erforschung würdig ist wie die angemahnte Einbindung des Rezipienten, die aus den Betrachtungen zum Einfachen System folgte und ihrerseits weitere transdisziplinäre Bezugnahmen zu medialen und theatralen Forschungsgebieten erfordert. Da diese Transdisziplinarität jedoch das besondere Signum des gegenwärtigen Forschungsdiskurses ist, liegt darin wohl weniger ein Problem als vielmehr eine Chance.

Fazit und Ausblick | 311

Ebenso denkbar wie dezidiert wünschenswert wäre auch eine weitere Ausarbeitung zum umfassenden Status der Metapher zwischen ihrem lyrischen und ihrem narrativen Wirken, denn das Auftreten der Metapher in epischen Werken war für die vorgebrachte Thesenbildung zu weitgreifend, um zusätzlich zu den betrachteten Zusammenhängen behandelt zu werden. Das war zwar eine sinnvolle Begrenzung, fragmentiert das rhetorische wie hermeneutische, ästhetische wie transgressive Phänomen aber nichtsdestotrotz, wo eine übergreifende Untersuchung erwartbar selbst dann noch Neues beizutragen hätte, wenn zur Metapher allgemein nun wirklich kein Theoriemangel zu beklagen ist (1.3.2). Geht man aber davon aus, dass die Metapher in lyrischen Zusammenhängen als narrative Anklänge erzeugender Mechanismus lesbar ist, wie oben beschrieben, dann ist der Weg zum Umkehrschluss nicht weit: dem Effekt eines lyrischen Einsprengsels in der Umgebung romanhafter Werke. Man werfe zur oberflächlichen Verdeutlichung dieser Vermutung etwa nur einen flüchtigen Blick in den Tristan. Als Isolde Tristan-Tantris Heilung verspricht, antwortet dieser: ‚diu zunge diu gruone iemer, / daz herze ersterbe niemer, / diu wîsheit diu müeze iemer leben, / den helfelôsen helfe geben, / dîn name der müeze werden / gewirdet ûf der erden!‘ (Tristan, V. 7 797– 7 802).13 Und nicht nur die Figuren geraten bisweilen ins Dichten, wie die folgende Charakterisierung des Erzählers beweist: daz wâre insigel der minne, / mit dem sîn herze sider wart / versigelt unde vor verspart / aller der werlt gemeiner / niuwan ir al einer (Tristan, V. 7 816–7 820). Wer dies nun der Minnebeziehung der Protagonisten anlasten möchte, sei an Brangäne, daz schœne volmæne (Tristan, V. 11 086), erinnert, die keine Teilhaberin der Minne ist, und falls daraufhin der Verweis auf die Gattungsidentität des Tristan als Minneroman geboten scheint, wäre dem eine Stelle des Willehalm entgegenzuhalten, in der eine Schlachtenaufstellung beschrieben wird: man gesach den liehten sumer / in so maniger varwe nie, / swie vil der meie uns brahte ie / vremder bluomen underscheit: manec storje dort geblüemet reit (Willehalm, S. 20, V. 4–8). Wiederum ist hier nicht der geeignete Ort, um zur Thesenbildung, geschweige denn -prüfung zu schreiten, aber schon in diesem Rahmen zeigt sich, dass es mit einer Rückführung auf Minne oder Minnesang offenbar nicht getan ist – möchte man Wolfram nicht ein alle seine Arbeiten prägendes Bewusstsein als Minnedichter unterschieben. Ein Nexus zur Lyrik indes wäre hingegen sogar insofern interpretatorisch weiterführend, als dass er etwa im Falle des Willehalm den preisliedhaften Charakter der Schlachtenbeschreibung noch intensiviert. Ähnliches wird sich auch an den kunstvollen Beschreibungen von Statussymbolen wie Kleidung, Waffen oder Pferden überprüfen lassen, doch auch dies ist nicht mehr Aufgabe der vorliegenden Studie.

|| 13 Alle Unterstreichungen dieses Abschnitts durch D.R.

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Literatur Texte und Ausgaben Altfranzösische Lieder und Leiche aus Handschriften zu Bern und Neuenburg. Mit grammatischen und litterarhistorischen Abhandlungen. Hrsg. von Wilhelm Wackernagel. Basel 1848. Aristoteles: Rhetorik. 4., unveränderte Auflage. Übersetzung, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1993 (UTB. 159). Aristotle: The „Art“ of Rhetoric. With an english translation by John Henry Freese. London 1959. Aristoteles: Topik. Organon V. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Hamburg 1968 (Philosophische Bibliothek. 12). Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Teil 1: Text. Bd. 2/3: Der Sand aus den Urnen, Mohn und Gedächtnis. Hrsg. von Andreas Lohr [u. a.]. Frankfurt am Main 2003. Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Über den Redner. Lateinisch / deutsch. 4. Auflage. Übersetzt und hrsg. von Harald Merklin. Stuttgart 2001 (RUB. 6884). Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen. Hrsg. von Christine Putzo. Berlin 2015 (MTU. 143). Frauenlob (Heinrich von Meissen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Teil 1: Einleitungen, Texte. Hrsg. von Karl Stackmann, Karl Bertau. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Folge 3. 119). Johann Jacob Fugger: Spiegel der Ehren des höchstlöblichen Kayser- und Königlichen Erzhauses Oesterreich oder ausführliche GeschichtSchrift von Desselben, und derer durch Erwählungs- Heurat- Erb- und Glücks-Fälle ihm zugewandter Kayserlichen HöchstWürde, Königreiche, Fürstentümer, Graf- und Herrschaften, Erster Ankunft, Aufnahme, Fortstammung und hoher Befreundung mit Kayser- König- Chur- und Fürstlichen Häusern; auch von Derer aus diesem Haus Erwählter Sechs Ersten Römischen Kaysere, Ihrer Nachkommen und Befreundeten, Leben und Groszthaten: mit Kays. Rudolphi I GeburtsJahr 1212 anfahend, und mit Kays. Maximiliani I TodesJahr 1519 sich endend. Erstlich vor mehr als C Jahren verfasset durch Den Wohlgebornen Herrn Johann Jacob Fugger, Herrn zu Kirchberg und Weissenborn, der Röm. Kays. und Kön. Maj. Maj. Caroli V und Ferdinand I Raht Nunmehr aber auf Röm. Kays. Maj. Allergnädigsten Befehl, Aus dem Original neu-üblicher ümgesetzet, und in richtiger Zeit-rechnung geordnet, aus alten und neuen Geschichtsschriften erweitert, in etlichen Stamm-Tafeln bis auf gegenwärtiges Jahr erstrecket, mit der vom Erzhaus abstammenden Chur- und Fürstlichen FamilienGenealogien, auch vielen Conterfäten, Figuren und Wappen-Kupfern gezieret und in sechs Bücher eingetheilet durch Sigmund von Birken, Röm. Kays. Maj. Comitem Palatinum, in der Hochlöbl. Fruchtbringenden Gesellschaft den Erwachsenen. Nürnberg 1668. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Abteilung I: Sämtliche Werke. Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main 1986 (BDK. 15). Gottfried von Straßburg: Tristan. Text und kritischer Apparat. 3. Abdruck mit einem durch F. Rankes Kollationen erw. und verb. Apparat, besorgt und mit einem Nachw. vers. von Werner Schröder. Hrsg. von Karl Marold. Berlin 1969 (= Leipzig 1906). Gottfried von Straßburg: Werke. Bd. 1: Tristan und Isolde. Mit Ulrichs von Turheim Fortsetzung. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Breslau 1823. Gottfried von Straßburg: Werke. Bd. 2: Heinrichs von Friberg Fortsetzung von Gottfrieds Tristan, Gottfrieds Minnelieder. Die alten französischen, englischen, wallisischen und spanischen Gedichte von Tristan und Isolde. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Breslau 1823.

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arbeiteten Ausgabe neu hrsg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein, Edition der Melodien von Horst Brunner, Berlin 2013. Die Sprüche des Bruder Wernher. In: Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke. Stück 3. Teil 1. Hrsg. von Anton Emanuel Schönbach. Wien 1904 (Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Sitzungsberichte. 148,7). Wolfram von Eschenbach: Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von Ernst Martin. 2 Bde. Halle an der Saale 1900–1903. Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert, Stephan Fuchs-Jolie. Berlin 2003. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. 3., durchgesehene Auflage. Text nach der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. Berlin 2003. Wolfram von Eschenbach: Parzival. 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht und mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin 2003.

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Literatur | 325

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Literatur | 341

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Register Akustik 21f., 25, 89, 120, 129, 176, 178, 181f., 184, 186, 237, 288, 290, 299f., 305f. Albrecht von Johansdorf 40, 50, 97, 101, 105, 125, 130f., 134, 144, 149f., 155ff., 160, 164ff., 169f., 180, 186, 192, 219, 222, 280, 284f. Analogie 16, 18, 55, 62 Aristoteles 11f., 16, 54, 56, 62ff., 71f., 77f., 115, 221 Ästhetik 7, 16f., 19f., 23ff., 29f., 32, 34, 47, 52, 55, 58, 68ff., 81, 84, 153f., 249, 252, 254, 256ff., 260, 262ff., 266, 268, 273f., 278, 282, 286f., 290, 292f., 296, 299f., 302, 304, 306ff., 311 Aufführung 7, 23, 29ff., 33f., 38, 46ff., 52, 65, 78, 147, 176, 186, 201, 203, 206, 214, 220f., 239ff., 254f., 257ff., 273ff., 280ff., 284, 287ff., 291ff., 299f., 302, 304ff. Augen 2, 9, 60, 110, 114, 119ff., 126, 129f., 134, 138f. Autor 11, 13, 20, 25ff., 38f., 44, 48, 52, 66, 149, 194, 196, 200f., 203f., 206, 209, 214, 230, 238, 240, 245, 247, 249, 254, 256, 260, 264, 286, 291f., 296, 301 Begriff 1, 13, 15, 17ff., 57, 68, 306 Biografisierung 26, 37, 44, 156, 158, 194, 196ff., 204f., 220, 249, 253, 255, 291f. Blumen 9, 40, 60, 110ff., 117f., 120, 122, 136ff., 232, 237 Blumenberg, Hans 19, 55, 64, 67ff., 77f., 119, 135f., 175 Bornscheuer, Lothar 59, 79, 85, 157 Bote 49f., 58, 62, 202, 210ff., 216f., 220ff., 235, 253, 255f., 259, 294, 301, 310 Cicero, Marcus Tullius 54, 62f., 71 Curtius, Ernst Robert 12, 55ff., 59 Deixis 32, 166, 168, 178, 212, 261, 288f. Diagrammatik 58, 83f., 86f., 105, 126, 139, 165, 169f., 223, 269, 307 Didaxe 12, 24, 37, 52, 98f., 106, 113, 161ff., 241, 281, 285ff., 305, 310 Diegese 5f., 50, 83, 89, 96, 114, 123, 139, 165f., 168f., 182, 186, 189, 191, 194, 203, 223f.,

https://doi.org/10.1515/9783110684360-008

226, 234, 236ff., 280ff., 285, 289, 296, 299ff. discours 6, 22, 40, 43ff., 47, 50ff., 62, 65, 70, 83, 90f., 96, 104, 113f., 128, 138, 142, 163, 169, 176f., 182, 186, 229, 239f., 243, 253, 262, 265, 285, 304, 307 Dörper 100, 195, 198, 203, 222, 231ff., 240ff., 299ff. Epistemologie 64, 67ff., 71, 76, 84, 113, 152 êre 101f., 107f. Erzähler 22, 25ff., 31f., 50f., 53, 94, 162, 202, 229, 247, 279, 282, 288, 292, 311 Erzählung 32, 42, 45, 52, 67, 69, 78, 80, 82, 91, 94, 96, 101, 119f., 138ff., 167, 176, 203, 205, 227f., 237, 242, 260, 305, 307 Ez gienc ein juncfrou minneclîch 85, 88, 214, 280 Familienähnlichkeit 8, 15, 17, 20, 283, 306 Feuer 73f., 110, 121, 129 Figur 11, 29, 33f., 43, 47f., 53, 59, 83, 95f., 108f., 114, 116, 124, 139ff., 152, 160, 166, 170, 175ff., 181f., 184f., 194, 200, 205, 207, 213f., 220, 235f., 239ff., 268, 278, 280ff., 284f., 287ff., 292f., 295, 300f., 304, 306, 311 Fiktion 29, 38, 146, 191, 196, 247, 249, 253ff., 257, 264, 291f., 300 fiktional 30f., 38, 49, 52f., 244, 247f., 250, 253f., 256f., 259, 262ff., 291, 310 fiktiv 53, 199, 247, 253, 255f., 259 Flore und Blanscheflur 96, 102, 104, 109f. frame 41f., 50, 61, 96, 105, 111, 114, 165 Frauendienst 14, 32, 44, 52, 181 Friedrich von Hausen 50, 93f., 97, 101, 105, 118f., 122f., 126ff., 133f., 136, 144, 149f., 152, 155, 158, 160, 167, 187, 189ff., 207, 219, 222, 228, 238, 261, 284f. Gattung 1f., 6, 8, 11, 13f., 16, 19ff., 24, 29, 34, 39, 43, 79, 83, 88, 143ff., 206, 208f., 231, 283, 289, 295, 304, 308, 311 Gedanken 21, 50, 58, 60, 72f., 125, 130, 133, 141, 160f., 165f., 175, 183f., 187ff., 211f., 222f., 236, 239, 310

352 | Register

genre objectif 3f., 43, 45, 93, 140, 142, 171, 193, 259, 289 Geschehen 2, 23, 41f., 44, 48, 50f., 53, 81f., 160, 166, 168, 173, 176, 185, 210, 229, 234, 239, 286, 307 Geschichte 12, 14, 42, 44ff., 50ff., 59, 62, 64, 69, 78ff., 89, 114, 117, 122, 136f., 166, 175f., 223, 242, 246, 285, 305, 309 Goethe, Johann Wolfgang von 11ff., 68 Gottfried von Straßburg 14, 71, 76, 116, 122 Guote liute 155ff., 167f., 211, 222, 241, 280ff., 284

Kudrun 87

Hadlaub, Johannes 44, 204, 259 Haferland, Harald 26f., 124, 132, 146, 245, 247ff., 253, 256ff., 264f., 273, 305 Hartmann von Aue 14, 33, 40, 50, 92ff., 97f., 103, 105ff., 112f., 115, 123, 126f., 131ff., 144, 149, 151f., 155, 158, 160, 167, 192, 211, 219, 232, 235, 241, 245f., 258ff., 284f. Herz 9, 60, 72, 74f., 84, 94, 97, 100, 102, 108ff., 114, 116, 118, 120, 122ff., 153, 169f., 174, 183f., 187, 189, 193, 221, 227f., 237, 242, 262, 272, 285 Herzenstausch 9, 60, 75, 84, 125f., 131ff., 139 histoire 6, 22, 40ff., 47f., 50ff., 63, 70, 78, 82f., 89, 91f., 96, 99, 101, 104, 113f., 117, 119f., 122f., 126, 128, 136ff., 140ff., 160, 163ff., 169f., 176f., 181f., 184, 186, 207, 227, 229, 239ff., 243, 253, 262f., 265, 278, 280, 304, 306ff. Hühn, Peter 3, 5, 40ff., 45f., 52f., 61, 79, 83, 89, 96, 105, 111, 165 huote 88

Maske 33f., 198, 247, 292 Meinloh von Sevelingen 9, 40, 45, 50, 92, 103f., 113, 119, 122, 127, 222 Metapher 5, 7ff., 15f., 18f., 24, 32f., 51f., 55, 58f., 61ff., 74ff., 81ff., 88f., 96, 102, 108f., 112ff., 117, 119ff., 125, 128, 130, 132, 135ff., 142, 153, 175, 186, 192f., 207, 213, 221, 228f., 237, 239f., 242f., 256, 258, 260f., 263, 265f., 271, 286, 302, 304, 306, 308f., 311 Metonymie 62f., 81, 112f., 120, 213, 221, 227, 237f. milte 106ff. Minneroman 10, 38, 74, 109, 136, 311 Müller-Zettelmann, Eva 1f., 6, 20, 22ff., 27, 29, 32, 39ff., 66, 89, 242, 307 Mystik 308f. Mythos 19, 33, 35, 67ff., 76, 80, 175

Ich, lyrisches 25ff., 50, 53, 76, 149, 159, 176, 247, 291 Ironie 63, 98, 152, 230, 240 Iwein 33, 162 kiusche 102ff., 108f. Klang 4, 22f., 32, 46ff., 53, 78, 89, 176, 186, 227, 257, 280, 287, 293, 296, 300, 309f. Kreuzlied 6, 9, 36, 43, 92f., 105, 113, 130, 132, 140ff., 145, 148, 150, 152ff., 161, 164ff., 169ff., 175, 181, 183, 190f., 193, 197, 207, 210ff., 219, 222ff., 227, 230, 233f., 236, 240, 242, 245, 257, 262, 278, 280ff., 284ff., 294, 302, 307

Licht 19, 67, 107, 115, 117, 119, 128f., 132 locus amoenus 9, 60, 90, 110f., 137, 139, 238 lôn, Lohn 93, 104f., 131, 143, 161, 163f., 167, 189f., 221f., 261, 280, 285, 304 Lotman, Jurij M. 3, 41, 45, 85, 169 Luhmann, Niklas 7, 191, 207, 250, 254, 265ff., 292, 307 Lyriknarratologie 34, 38f., 41, 79, 89, 137, 139, 203, 305f. Lyriktheorie 1, 25, 40

Narrativität 2, 5, 7, 9, 42, 44, 47, 51, 53f., 82, 87f., 92, 101, 105, 112, 128, 139, 253, 263 Narratologie 3, 34, 39, 41, 52f., 79, 91, 137, 139, 204, 221, 304ff., 310 Neidhart 9, 34, 92, 99f., 102f., 112, 143, 147, 149f., 158, 161, 167, 169, 193ff., 214, 220, 222, 229ff., 238ff., 242, 244,245, 247, 250, 259, 280, 283, 291ff., 301f. Nietzsche, Friedrich 18, 26, 68 Pararitual 46, 92, 249, 251ff., 263ff., 278 Partonopier und Meliur 102, 104, 109 Parzival 33, 48, 66, 172 Peirce, Charles Sanders 83f., 87 performance 244, 255

Register | 353

Performanz 2, 4ff., 21, 24, 31, 38, 176, 203f., 221, 239, 244f., 252ff., 260f., 263f., 268, 270, 273, 277f., 280, 287, 289, 291, 305f. Performativität 6, 244, 255 Personifikation 33, 99, 108, 161, 166 Präsenz 14, 23, 32, 44, 46ff., 69, 120, 153, 178, 234, 260, 262, 310 Quintilian 63, 71 Reinmar 50, 92f., 97, 101, 103f., 107, 115, 118f., 144, 149, 160, 175, 190, 192, 222, 252f., 259, 275, 284f. Rhetorik 7f., 54, 56ff., 61ff., 68, 71, 105, 135, 143, 152, 221, 229, 261, 266, 311 Ricœur, Paul 5, 64ff., 70ff., 229 Ritual 2, 41, 46, 65, 92, 209, 244, 249ff., 257, 262ff., 268, 273, 278, 293, 300 Rolle 6, 9, 30f., 33, 43ff., 99, 129, 152, 161, 163, 180, 185f., 190f., 201ff., 207, 211, 223, 232, 234, 244, 247ff., 253ff., 259ff., 264f., 278ff., 289, 292, 299, 301f., 310

Synekdoche 63, 123f., 129, 131, 213, 221, 227, 237 Systemtheorie 7, 191, 207, 250, 277 Tagelied 6, 9, 21, 43f., 48, 51, 81, 85f., 89, 92f., 138, 140ff., 157, 170ff., 180ff., 184ff., 190f., 193, 205, 207ff., 214, 243, 278ff., 282ff., 287, 289ff., 294f., 304, 306 Titurel 14f., 73ff., 96, 101ff., 109, 122, 136, 172 Topos 7, 41, 46, 50, 54ff., 64, 69ff., 79ff., 83f., 88, 97, 111, 115, 118, 122, 126, 128, 135, 137, 153, 157, 175, 177, 184, 186, 191f., 212, 221, 229, 232, 243, 259, 261, 272, 283, 305f. Tristan 14, 71f., 74ff., 94, 96, 102f., 109, 116, 122, 227, 311 triuwe 9, 92ff., 100f., 107f., 122, 181, 207, 279 Ulrich von Liechtenstein 14, 38, 44, 74, 85, 171f., 181, 183, 210 urloup 81, 174, 177ff., 183ff. Vergleich 55, 62ff., 66, 72f., 76, 1201

Sang 32, 34, 44, 47, 81, 93, 119, 124, 186, 191, 193, 211ff., 217, 219ff., 228, 233, 237, 240, 242f., 251, 253, 255, 257f., 270, 275f., 280, 292, 296, 299ff., 305 Sangspruch 9, 37, 98, 103, 106, 131f., 148, 194, 308ff. Schmid, Wolf 5, 39, 41f., 44, 46, 48, 61, 64f., 78, 82, 89, 101, 137, 176 Schönert, Jörg 3, 5, 26f., 29, 31, 40f., 52f., 83, 89, 96, 105, 165 Selbstwiderspruch, performativer 30, 252f., 265 Semiotik 79 serena 85, 210 Sîne klâwen 81, 85, 172, 174, 177, 179, 183ff. staete 9, 92, 96ff., 103, 106ff., 135, 188f., 192f. Strohschneider, Peter 249, 255, 265ff., 272, 277 Susman, Margarete 27, 30

Wächter 81, 85, 171ff., 209ff., 243, 259, 278ff. Walther von der Vogelweide 9, 35ff., 39f., 45f., 48, 92, 97ff., 102f., 106, 111ff., 129ff., 147f., 155f., 158, 162, 165, 186f., 190f., 193, 196, 199, 203, 207f., 213, 222, 237, 239, 275, 279, 284ff., 288, 296, 305, 310 Wasser 108, 120, 132 Weinrich, Harald 51, 65, 74, 135 Wentzlaff-Eggebert, Friedrich-Wilhelm 146ff., 156, 202 Willehalm 94f., 144, 311 Wittgenstein, Ludwig 15ff., 19 Wolfram von Eschenbach 10, 14, 48, 73ff., 81, 85, 94, 102, 115, 126, 144, 146, 172, 175, 177, 180, 182ff., 242, 258f., 280, 282ff., 295f., 311 Zinne 81, 85ff., 90, 105, 117, 166, 173, 176ff.